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English Pages 1265 [1211] Year 2005
HUMANIORA Medizin ± Recht ± Geschichte
Adolf Laufs
Bernd-Rçdiger Kern Elmar Wadle Klaus-Peter Schroeder Christian Katzenmeier Herausgeber
HUMANIORA Medizin ± Recht ± Geschichte Festschrift fçr Adolf Laufs zum 70. Geburtstag
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Professor Dr. iur.
Professor Dr. iur.
Bernd-Rçdiger Kern
Klaus-Peter Schroeder
Universitåt Leipzig
JuS-Redaktion ± Schriftleitung
Juristenfakultåt
Postfach 110241
Lehrstuhl fçr Bçrgerliches Recht,
60037 Frankfurt/M.
Rechtsgeschichte und Arztrecht
[email protected]
Burgstraûe 27 04109 Leipzig [email protected] Professor Dr. iur.
Professor Dr. iur.
Elmar Wadle
Christian Katzenmeier
Universitåt des Saarlandes
Universitåt zu Kæln
Lehrstuhl fçr Deutsche
Professur fçr Bçrgerliches Recht
Rechtsgeschichte
und Zivilprozessrecht
und Bçrgerliches Recht
Albertus-Magnus-Platz
66123 Saarbrçcken
50923 Kæln
[email protected]
[email protected]
ISBN-10
3-540-28439-7 Springer Berlin Heidelberg New York
ISBN-13
978-3-540-28439-0 Springer Berlin Heidelberg New York
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet çber abrufbar. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschçtzt. Die dadurch begrçndeten Rechte, insbesondere die der Ûbersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfåltigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfåltigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes der Bundesrepublik Deutschland vom 9. September 1965 in der jeweils geltenden Fassung zulåssig. Sie ist grundsåtzlich vergçtungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechtsgesetzes. Springer ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media springer.de ° Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2006 Printed in Germany Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wåren und daher von jedermann benutzt werden dçrften. Umschlaggestaltung: Erich Kirchner, Heidelberg SPIN 11544012
64/3153-5 4 3 2 1 0 ± Gedruckt auf såurefreiem Papier
Vorwort Wie andere Gebräuche und Gepflogenheiten ist auch die „Festschrift-Kultur“ ins Gerede gekommen. Man mag das Für und Wider anderswo lange diskutieren – die Herausgeber dieser Festschrift sind überzeugt davon, dass sie eine der besten Möglichkeiten darstellt, einem weitsichtigen Wissenschaftler und engagierten akademischen Lehrer Dank und Anerkennung zu zollen. Jeder, der sich daran beteiligt, kann auf eine weitschweifige Laudatio verzichten und seine Wertschätzung durch die Tat bezeugen, mithin durch ein wissenschaftliches Opusculum. Auch wir, die Herausgeber, möchten diese Devise in Anspruch nehmen, wissen wir doch, dass dem Jubilar die Anerkennung durch die Tat lieber ist als die Lobrede. Gleichwohl kommen wir nicht umhin, der allgemeinen Übung zu entsprechen und Werdegang sowie Arbeitsfelder von Adolf Laufs in einem Vorwort anzusprechen. Mehr noch: Lebensdaten und wissenschaftliches Werk weisen so viele Merkmale auf, die tiefere Zusammenhänge vermuten lassen und schon deshalb nicht unerwähnt bleiben dürfen. Am 18. 11. 1935 in Tuttlingen in eine kinderreiche Arztfamilie hineingeboren, verbrachte Adolf Laufs die Schulzeit in seiner schwäbischen Heimat. Das Studium der Rechtswissenschaft begann und beschloss er in Freiburg im Breisgau. Als Student und Referendar versäumte er nicht, Stationen in Berlin bzw. in Speyer einzulegen; in Freiburg wiederum promovierte er 1961 bei Hans Thieme und nach dem Assessorexamen, das er 1963 in Stuttgart abgelegt hatte, folgte eine kurze anwaltliche Tätigkeit in Tuttlingen. Dank eines Stipendiums der Deutschen Forschungsgemeinschaft konnte sich Laufs 1968 an der Freiburger Juristenfakultät habilitieren. Ein früher Ruf führte Laufs 1969 nach Heidelberg auf den Lehrstuhl für Deutsche Rechtsgeschichte, Deutsches Privatrecht und Bürgerliches Recht; später wurde noch Medizinrecht hinzugefügt. Hier blieb er, als er Rufe an andere Universitäten erhielt, und hier übernahm er das Amt des Rektors in den Jahren 1979 bis 1983, mithin in einer immer noch unruhigen Zeit. 1984 folgte er dann doch einem Ruf Neckar aufwärts nach Tübingen; eine gewisse Distanz zur bisherigen Arbeit und die Aussicht auf neue Aufgaben mögen die Motivation geliefert haben. 1988 kehrte Laufs wieder nach Heidelberg zurück; die besondere Atmosphäre der im Gebiet der alten Kurpfalz gelegenen ehrwürdigen Universität ermöglichte neues Engagement. Auch nach der Emeritierung im Jahre 2001 fehlt es nicht an Plänen und Projekten. Die Arbeiten, die den Start in das akademische Leben eröffnet haben, zeigen bereits an, in welche Richtungen die wissenschaftlichen Interessen führen würden. Die Dissertation über „Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Rottweil 16501806“ (Stuttgart 1963) und die Habilitationsschrift über „Der Schwäbische Kreis. Studien über Einungswesen und Reichsverfassung im deutschen Südwesten zu Beginn der Neuzeit“ (Aalen 1971) greifen rechtshistorische Themen auf, die der schwäbisch-alemannischen Heimat verpflichtet sind; der Vortrag vor der Fakultät hingegen war der ärztlichen Aufklärungspflicht gewidmet, bezeugt mithin die
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Vorwort
Aufgeschlossenheit für Rechtsfragen, die in einer Familie mit zahlreichen Angehörigen ärztlicher Berufe gewiss nicht unbekannt waren. Rechts- und Verfassungsgeschichte einerseits und Arztrecht andererseits sind auch in der Folgezeit Kernbereiche der wissenschaftlichen Arbeit von Laufs geblieben. Im Laufe der Jahre kamen, wie das diesem Band beigefügte Verzeichnis zeigt, zahlreiche andere Themen hinzu. Im Rückblick sind Umfang und Vielfalt kaum noch mit wenigen Sätzen zu beschreiben; deshalb kann es hier nur darum gehen, einige Grundlinien festzuhalten. Das rechtshistorische Interesse blieb natürlich nicht auf den deutschen Südwesten beschränkt. Schon in der Anfangszeit finden sich zahlreiche Arbeiten zu Themen, die vom Mittelalter bis zur Gegenwart reichen. Zwar ist nicht zu übersehen, dass Laufs immer wieder sein besonderes Augenmerk der Geschichte des „Alten Reiches“ zugewendet hat; als Beispiel mag seine Mitarbeit an dem von mehreren Kollegen mitgetragenen Projekt „Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich“ gelten. Gleichwohl ist auch das Bestreben unverkennbar, der nachwachsenden Juristengeneration ein breites und solides historisches Grundwissen zu vermitteln. Einen viel beachteten Höhepunkt erreicht dieser eng mit der Lehrtätigkeit verknüpfte Umgang mit der Rechts- und Verfassungsgeschichte in dem erstmals 1973 erschienenen Lehrbuch „Rechtsentwicklungen in Deutschland“. Dieses Werk, das 1996 in fünfter Auflage erscheinen konnte, verknüpft in vorbildlicher Weise Gründlichkeit und Konzentration auf das Unverzichtbare. Die Gabe, komplexe Zusammenhänge überschaubar werden zu lassen, ohne ihre Problembeladenheit zu übergehen, hat Laufs auch in seinen vielen Darstellungen zum Arztrecht und nicht zuletzt zu dessen zivilrechtlichen Aspekten unter Beweis gestellt. Auch im Bereich des Medizinrechts können nur einige Titel genannt werden, die stellvertretend für viele andere stehen mögen: das 1977 in erster und 1993 in fünfter Auflage erschienene „Arztrecht“, das gemeinsam mit Wilhelm Uhlenbruck herausgegebene „Handbuch des Arztrechts“ (3. Auflage 2002) und nicht zuletzt die ebenso zahlreichen wie regelmäßigen Berichte und Kommentare zur Entwicklung des Arztrechts für die „Neue Juristische Wochenschrift“. Gleichgültig, ob es sich um eine Monografie oder „nur“ um ein „Traktätchen“ (wie Laufs gelegentlich schrieb) gehandelt hat – die Konzentration auf das Wesentliche ist immer zu spüren. Dass diese Fähigkeit auch die Arbeit im Hörsaal bestimmt hat, weiß jeder, der eine Vorlesung von Adolf Laufs besucht hat. Mit Beharrlichkeit, Eifer und Nachdruck wurde vorgetragen, was wichtig war. Die Grenzen der Vereinfachung wurden indes nie überschritten; zugleich förderten kluge Hinweise die Bereitschaft der Hörer zum Eigenstudium. Den Fächern, zu denen er sich hingezogen sah, hat Laufs auch als Herausgeber gedient. Zum Beleg nur zwei Beispiele: von 1978 bis 2000 war er Mitherausgeber der Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte und seit 1985 fungiert er als Schriftleiter der von ihm mitbegründeten Zeitschrift „Medizinrecht“. Entsprechendes gilt für die Mitarbeit in Organisationen und Institutionen. Im Vorstand der Baden-Württembergischen Kommission für geschichtliche Landeskunde arbeitete Laufs von 1978 bis 2000 mit. In der Heidelberger Akademie der
Vorwort
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Wissenschaften, deren Mitglied er seit 1976 ist, fungierte er über viele Jahre als Vorsitzender der Kommission für das Deutsche Rechtswörterbuch. Von 1990 bis 1992 bekleidete Laufs das Amt eines Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Medizinrecht. Jahrzehntelang betätigte er sich als Mitglied in der Ethikkommission bei der Landesärztekammer Stuttgart, nachdem er zuvor schon in den Ethikkommissionen der Medizinischen Fakultäten Heidelberg und Tübingen und dann wieder Heidelberg tätig war. Er war geraume Zeit, genauer bis 2002, Mitglied der Zentralen Kommission zur Wahrung ethischer Grundsätze in der Medizin mit ihren Grenzgebieten. Seit 1998 amtierte er als Mitdirektor des Gemeinsamen Instituts der Universitäten Heidelberg und Mannheim für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik. Angesichts des vielfältigen Engagements kann es niemand verwundern, wenn Adolf Laufs immer wieder Ehrungen zuteil geworden sind. Beispielhaft seien hier nur genannt: zum einen die Ehrendoktorwürde, mit welcher die Universität Montpellier 1982 die Verdienste um die Zusammenarbeit mit der Universität Heidelberg anerkannt hat; zum anderen die 1998 verliehene Ehrenmitgliedschaft der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin. Diese Festschrift kann mit derartigen Ehrbezeugungen nicht konkurrieren wollen. Sie will eher als Geste der Anerkennung verstanden werden und als Zeichen des Dankes, den Autoren und Herausgeber dem Jubilar erweisen möchten. Nicht versäumen wollen die Herausgeber auch einen Dank an den mit der Redaktion dieser Festschrift befassten Lehrstuhl von Bernd-Rüdiger Kern an der Juristenfakultät der Universität Leipzig und insbesondere an seinen Assistenten Adrian Schmidt-Recla, der aufopferungsvoll die Hauptlast trug. Bernd-Rüdiger Kern Elmar Wadle Klaus-Peter Schroeder Christian Katzenmeier
Tabula Gratulatoria
Hans Ankum, Aerdenhout Christian Armbrüster, Berlin Beate Bahner, Heidelberg Franz-Robert Bärtels, Münster Karl Otto Bergmann, Hamm Yvonne Biedermann, Niederstriegis Heike Böhm, Leipzig Alexander Brech, Dresden Gert Brüggemeier, Bremen Theodor Bühler, Zürich Ralf Clement, Schwetzingen Albrecht Cordes, Frankfurt/Main Franz-Josef Dahm, Essen Bettina Dick, Leipzig Christian Dierks, Berlin Friedrich Ebel, Berlin Udo Ebert, Jena Maike Erbsen, Sindelfingen Albin Eser, Freiburg Doerthe Fleischer, Berlin Heinz H. Flick, Pirmasens Wolfgang Gitter, Bayreuth Lukas Gschwend, St. Gallen Hans-Peter Haferkamp, Köln Simone Gräfin von Hardenberg, Göttingen Paul Harneit, Kiel Frank Hartmann, Görlitz Reto M. Hilty, München Peter Hinz, Leonberg Günter Hirsch, Karlsruhe
Armin Höland, Halle Gerhard Hohloch, Freiburg Peter Hommelhoff, Heidelberg Jörg-Dietrich Hoppe, Düren Ulrich Hübner, Köln Lars Jungemann, München Gerhard Kegel, Hillesheim Hans-Friedrich Kienzle, Köln Friedrich Klein, Weil der Stadt Diethelm Klippel, Bayreuth Hans-Georg Knothe, Greifswald Thilo Korn, Leipzig Helmut Koziol, Wien Nadja Kroha, Berlin Ulrike Laurich, München Bernd von Maydell, München Bernd Mertens, Erlangen Reinhard Mußgnug, Heidelberg Silvia Nemetschek, Wienhausen Eberhard Neumann, Ratingen Peter Oestmann, Münster Mike Peters, Hönow Rudolf Ratzel, München Gert Reinhart, Heidelberg Klaus Renziehausen, Chemnitz Fritz Rittner, Freiburg Gottfried Schiemann, Tübingen Bernd Schildt, Bochum Martin Schmidt-Kessel, Osnabrück Roman Schmidt-Radefeldt, Leipzig Susanne Schmidt-Radefeldt, Leipzig
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Tabula Gratulatoria
Ruth Schmidt-Wiegand, Marburg Jörg Schmidtke, Hannover Bernhard Schnyder, Freiburg Eltjo Schrage, Onderkerk Jochen Schulte am Esch, Hamburg Hans Hermann Seiler, Wohltorf Harald Siems, München Dietrich V. Simon, Jena Andreas Spickhoff, Regensburg Franz Staufer, Dachau Heinz-Dietrich Steinmeyer, Münster Michael Stolleis, Frankfurt/Main
Fritz Sturm, Echandens Jürgen Taeger, Oldenburg Alexander Teichmann, Aschaffenburg Andreas Thier, Zürich Klaus Ulsenheimer, München Martin Unterholzner, München Ralph Weber, Rostock Walther Weissauer, Panicale Reinhard Willvonseder, Wien Reinhard Zimmermann, Hamburg
Inhaltsverzeichnis
Vorwort…………………………………………………………………
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Rechtsgeschichte Ralph Backhaus Ethik und Recht in Cicero: de officiis 3.12.50 ff.……………………......
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Arno Buschmann Enzyklopädie und geschichtliche Rechtswissenschaft – Johann Stephan Pütters juristische Enzyklopädie und Methodologie und die Entstehung der geschichtlichen Rechtswissenschaft…………………………………
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Andreas Deutsch Zwischen deliktischer Arzthaftung und Wetterzauber – Medizinrechtliche Fragestellungen im Klagspiegel (um 1436)…………………………
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Bernhard Diestelkamp Rechtsgutachten in Prozessen vor dem Hofgericht des Königs im 14. Jahrhundert………………………………………………………………
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Christian Hattenhauer Zum falschen Arzt in Gegenwart und Rechtsgeschichte – Ein Gutachten des Hohen Rats von Holland, Seeland und Friesland aus dem Jahr 1768……………………………………………………………………...
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Martin Heckel „Zelo domus dei“? – Fragen zum Protest des Heiligen Stuhls gegen den Westfälischen Frieden…………………………………………………...
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Robert Heuser Wang Boqi (1908-1961) als Verteidiger republikchinesischer Rechtsreform……………………………………………………………………...
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Erik Jayme Johann Kaspar Bluntschli (1808-1881) und das internationale Privatrecht – Zu einem Brief Bluntschlis an den Fürsten Bibesco…………….
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Bernd-Rüdiger Kern Frühe territoriale Hofgerichtsordnungen………………………………...
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XII Inhaltsverzeichnis
Gerhard Köbler Vom Arzt im Recht zum Arztrecht……………………………………...
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Wilfried Küper „Die Sprache ist das Organ der Vernunft.“ – Ein unbekannter Text Paul Johann Anselm Feuerbachs (1755-1833)………………………………..
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Gerhard Lingelbach Heinrich Gerland – Ein Jenaer Rechtsgelehrter zwischen Republik und Diktatur…………………………………………………………………..
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Karlheinz Misera D 6.1.72: Zwei widersprüchliche Verfügungen über dieselbe Sache – Rechtsfortbildung durch den Gerichtsmagistrat…………………………
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Dorothee Mußgnug Die Achte Kurwürde…………………………………………………….
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Werner Ogris Die Zensur in der Ära Metternich……………………………………….
243
Dietmar Schanbacher Zur Rezeption und Entwicklung des rhodischen Seewurfrechts in Rom……………………………………………………………………...
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Jan Schröder Gesetzesbegriffe im Deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik……………………………………………………………………….
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Klaus-Peter Schroeder Heinrich Zöpfl (1807-1877) – Eine Heidelberger Gelehrtenkarriere mit Hindernissen……………………………………………………………..
287
Werner Schubert Preußen und das Bürgerliche Gesetzbuch……………………………….
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Eva Schumann Zur Rezeption frühmittelalterlichen Rechts im Spätmittelalter…………
337
Wolfgang Sellert „[…] der Pöbel hätte mich fast gesteinigt, wie er hörte, ich sei ein Jurist“ (J. W. v. Goethe)……………………………………………………
387
Pirmin Spieß Das Kallstadter Gerichtsprotokollbuch 1533-1563……………………...
401
Inhaltsverzeichnis
XIII
Elmar Wadle Schutz gegen Nachdruck als Aufgabe einer bundesweiten „Organisation des deutschen Buchhandels“ – Metternichs zweiter Plan einer „Bundeszunft“ und sein Scheitern…………………………………………….
431
Dietmar Willoweit Verfassungspolitisches Denken im Vorfeld des Grundgesetzes – Deutsche Geschichtsbilder und Zukunftsvisionen zwischen 1945 und 1948……………………………………………………………………...
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Recht und Kultur Christine Jung Justitia in Heidelberg – Das Denkmal des Kurfürsten Carl Theodor und die Allegorie der Gerechtigkeit………………………………………….
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Bettina Kern Julius Mosen, der politische Dichter…………………………………….
493
Michael Kilian Zwischen Hartz IV und Riesterrente: Beamtenpensionen und Rente in der schöngeistigen Literatur……………………………………………..
509
Hermann Weber Georg Heym – Dichter des Expressionismus und Jurist wider Willen….
531
Bürgerliches Recht Christian Baldus Verbraucherschutz zwischen Vertrag und Nicht-Vertrag?.......................
555
Ludwig Häsemeyer Die neue Haftungsregelung für gerichtliche Sachverständige (§ 839 a BGB) auf dem zivilprozessrechtlichen Prüfstand.......................
569
Christan Heinrich Die Generalklausel des § 242 BGB……………………………………...
585
Heinz-Peter Mansel Kollisionsrechtliche Koordinierung von dinglichem und deliktischem Rechtsgüterschutz – Normzweck und Anwendungsbereich des § 44 EGBGB………………………………………………………………….
609
Herbert Roth Rechtsformunabhängiges Grundpfandrecht……………………………..
623
XIV Inhaltsverzeichnis
Adrian Schmidt-Recla Echte, faktische, wirtschaftliche Unmöglichkeit und Wegfall der Geschäftsgrundlage – Abgrenzungsversuche nach der Schuldrechtsreform……………………………………………………………………
641
Medizinrecht Erwin Bernat Pränatale Diagnostik und Präimplantationsdiagnostik: Gibt es ein Recht auf informierte Fortpflanzung?………………………………………….
671
Rudolf Bernhardt Schutz von Leben und Gesundheit durch europäische Grundrechte – Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte………………………………………………………….
703
Anke Borsdorff Die zahnärztliche Aufklärungspflicht bei Standardheileingriffen……….
711
Reinhard Damm Informed Consent und informationelle Selbstbestimmung in der Genmedizin…………………………………………………………………..
725
Erwin Deutsch Die Aufklärung über mögliche Komplikationen durch den Impfarzt…...
753
Dieter Dölling Zur Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen...............................................
767
Gerfried Fischer Ärztliche Verhaltenspflichten und anzuwendendes Recht bei grenzüberschreitender telemedizinischer Behandlung………………………...
781
Robert Francke Die Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sowie Arzneimitteln nach dem SGB V – Rechtliche Bindung und Kontrolle…
793
Herbert Genzel Die Durchbrechung der sektoralen Grenzen bei der Erbringung von Gesundheitsleistungen durch die Reformgesetzgebung insbesondere durch das GKV-Modernisierungsgesetz 2003 – Aus der Sicht der Krankenhäuser…………………………………………………………………….
817
Dieter Hart Vertrauen, Kooperation und Organisation – Probleme der Zusammenarbeit, der Übergabe und an Schnittstellen im Arzthaftungsrecht……….
843
Inhaltsverzeichnis
XV
Thomas Hillenkamp Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug……………………………………
881
Christian Katzenmeier Verschärfung der Berufshaftung durch Beweisrecht – Der grobe Behandlungsfehler………………………………………………………….
909
Paul Kirchhof Medizin zwischen Ethik, Recht und Vorbehalt des Möglichen…………
931
Dieter Krauskopf Medizinische Versorgungszentren – ein schwieriger Akt……………….
953
Hans Lilie Zur Zukunft der Organ- und Gewebespende…………………………….
959
Hans-Dieter Lippert Die zustimmende Bewertung einer Ethikkommission bei der klinischen Prüfung von Arzneimitteln nach dem novellierten Arzneimittelgesetz und der GCP-Verordnung……………………………………………….
973
Wolfgang Lüke Probleme der Selbstständigeninsolvenz am Beispiel der Insolvenz einer Arztpraxis – Bemerkungen zu den Reformvorschlägen des Gesetzgebers………………………………………………………………………
989
Hanns Prütting Gibt es eine ärztliche Pflicht zur Fehleroffenbarung?…………………...
1009
Hans-Jürgen Rieger Aktuelle Entwicklungen im ärztlichen Werberecht unter besonderer Berücksichtigung der Klinikwerbung………………………………………
1025
Gerhard H. Schlund Der inkompetente medizinische Sachverständige und Gutachter: Möglichkeiten der Abwehr…………………………………………………...
1041
Eberhard Schmidt-Aßmann Organisationsformen des medizinischen Sachverstandes im Transplantationsrecht………………………………………………………………
1049
Hans-Ludwig Schreiber Ist der Mensch für sein Verhalten rechtlich verantwortlich?……………
1069
Brigitte Tag Gedanken zur Zulässigkeit von Sektionen………………………………
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XVI Inhaltsverzeichnis
Jochen Taupitz und Kristiane Weber-Hassemer Zur Verbindlichkeit von Patientenverfügungen…………………………
1107
Wilhelm Uhlenbruck Formulargesteuerter Medizinbetrieb – haftungsrechtliche Prävention oder Haftungsfalle?………………………………………………….......
1123
Zafer Zeytin Die ärztliche Aufklärungspflicht nach dem türkischen Recht…………...
1143
Varia Dieter Feddersen Der Antagonismus zwischen der Business Judgement Rule des Gesellschaftsrechts und der Anwendung des § 266 StGB durch Strafverfolgungsbehörden und -gerichte……………………………………………
1169
Thomas Pfeiffer Internationalprivat- und -verfahrensrechtliches zu „heimlichen“ Vaterschaftstests……………………………………………………………….
1193
Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Adolf Laufs…………………………………………………………….
1207
Autorenverzeichnis…………………………………………………..
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Rechtsgeschichte
Ethik und Recht in Cicero, de officiis 3.12.50 ff. Ralph Backhaus Die Frage nach der Prägung des Rechts durch Gebote der Ethik stellt sich in kaum einem anderen Bereich mit solcher Dringlichkeit wie im Arztrecht1, das seit mehreren Jahrzehnten zusammen mit der Rechtsgeschichte eines der Hauptarbeitsfelder des Jubilars bildet. Vielleicht finden darum die nachfolgenden Bemerkungen zu einigen Texten sein Interesse, in denen es auch um die Anforderungen geht, die Recht und Ethik an den Menschen stellen. Die Texte sind vor mehr als 2000 Jahren geschrieben worden, aber gleichwohl von unveränderter Aktualität. Ihr Autor ist Cicero, der wegen seines persönlichen Kontakts zu führenden Fachjuristen seiner Zeit2, wegen seiner Vertrautheit mit juristischen Fragestellungen als Advokat und wegen seiner Neigung zur Philosophie wie kaum ein anderer zu einem Diskurs über dieses Thema berufen ist. Die Schrift, aus der die nachfolgenden Passagen stammen, ist sein philosophisches Spätwerk de officiis3, das – verkürzt und stark vergröbernd gesagt – der Frage nach den ethischen Postulaten gewidmet ist, die ein anständiger Mensch (vir bonus) kraft der philosophia als für sich verpflichtend erfährt. Das dritte Buch dieser Abhandlung enthält eine längere Passage, in der Cicero anhand zahlreicher, teils fiktiver, teils realer Fallbeispiele aus dem Bereich des Kaufrechts die Anforderungen aufzeigt, die das Privatrecht des ersten vorchristlichen Jahrhunderts einerseits und die aus den officia ableitbaren ethischen Gebote andererseits an den Verkäufer stellen4. Im Folgenden soll zunächst gezeigt werden, dass die vom ius civile und den officia ausgehenden Verhaltensanforderungen oft, aber nicht immer verschieden hoch sind (A). Sodann soll untersucht werden, welches philosophische Konzept hinter der Lehre von den officia steht und warum sich hieraus über das ius civile hinausreichende Verhaltensgebote ergeben können (B). Schließlich sind unsere Texte daraufhin zu befragen, welchen Stellenwert Cicero den officia für die staatliche Rechtsordnung zumisst (C).
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S. dazu nur Adolf Laufs, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, § 4, Rdnr. 11: „Das Arztrecht zeigt sich danach auf die Berufsethik angewiesen und in sie eingebettet.“ Er hat bei Quintus Mucius Scaevola Rechtsunterricht erhalten, s. nur Leopold Wenger, Die Quellen des römischen Rechts, Wien 1953, S. 481, und hatte enge Beziehungen zu Servius Sulpicius Rufus, s. Franz Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, München 1988, S. 602. Es ist gegen Ende des Jahres 44 v. Chr. entstanden, s. dazu Matthias Gelzer, Cicero, Wiesbaden 1969, S. 357. Off. 3.12.50 ff.
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Ralph Backhaus
A. Verkäuferpflichten nach ius civile und kraft der officia Das Spannungsverhältnis zwischen den Pflichten, die das ius civile einerseits und die philosophia andererseits dem Verkäufer auferlegen, aber auch die Frage nach einer möglichen Konvergenz beider Pflichtenkreise zieht sich wie ein roter Faden durch die Erörterungen in off. 3.12.50 ff. Dies kann hier nur anhand von drei besonders signifikanten Fällen beispielhaft aufgezeigt werden5: I. Der Fall des Getreidehändlers (frumentarius) Der Fall, mit dem Cicero seinen Diskurs in off. 3.12.50 ff. eröffnet, ist fiktiv, zeigt aber – vielleicht gerade darum – besonders anschaulich den Konflikt zwischen Ethik und Ökonomie auf6: Off. 3.12.50: Si exempli gratia vir bonus Alexandrea Rhodum magnum frumenti numerum advexerit in Rhodiorum inopia et fame summaque annonae caritate, si idem sciat complures mercatores Alexandrea solvisse navesque in cursu frumento onustas petentes Rhodum viderit, dicturusne sit id Rhodiis an silentio suum quam plurimo venditurus? Sapientem et bonum virum fingimus; de eius deliberatione et consultatione quaerimus, qui celaturus Rhodios non sit, si id turpe iudicet, sed dubitet, an turpe non sit.
Ein Händler segelt auf seinem mit Weizen7 beladenen Schiff von Alexandria nach Rhodos, wo gerade eine Hungersnot herrscht und darum die Getreidepreise entsprechend hoch sind. Er weiß, dass noch andere Getreidehändler mit ihren Schiffen nach Rhodos unterwegs sind, kommt aber als erster dort an. Darf er den Inselbewohnern die baldige Ankunft der weiteren Schiffe verschweigen und so den Preis hoch halten, um möglichst günstig verkaufen zu können? Cicero entscheidet diese Frage zunächst nicht, sondern lässt die beiden stoischen Philosophen Diogenes von Babylon8 und Antipater von Tarsos9 einen fikti5
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Nicht behandelt werden können vor allem die (schwierigen) Fälle in off. 3.14.58 und off. 3.16.66/67. Ich werde darauf an anderer Stelle zurückkommen. Hierauf führt Maria Sara Goretti, Il problema del silenzio nella esemplificazione ciceroniana del „de officiis“: ipotesi circa la giuridicità come storica e come reale, in: Franco Pastori u. a. (Hrsg.), Studi in onore di Arnaldo Biscardi, Bd. 3, Milano 1982, S. 75 ff., treffend die Diskussion in off. 3.12.50 ff. zurück. Zwar spricht der Text hier allgemein von Getreide (frumentum). Dass es aber um Weizen ging, ergibt sich aus off. 3.12.52, wo von triticum die Rede ist. Er ist Schüler des Chrysipp und Lehrer des Panaitios, an dessen Werk Cicero in de officiis anknüpft, s. dazu unten B I. Gestorben ist er wohl vor 150 v. Chr. Näher zu ihm Max Pohlenz, Die Stoa, Bd. 1, 2. Aufl., Göttingen 1959, S. 180 ff.; Heinrich Dörrie, „Diogenes“, in: Konrad Ziegler, Walter Sontheimer (Hrsg.), Der kleine Pauly, Lexikon der Antike, Bd. 2, München 1979, Sp. 48. Auch er war bezeichnenderweise Lehrer des Panaitios und Nachfolger des Diogenes als Schulhaupt der Stoa, s. Pohlenz, Stoa, S. 180 ff.; Dörrie, „Antipater“, in: Der kleine Pauly, Bd. 1, 1979, Sp. 395.
Ethik und Recht in Cicero, de officiis 3.12.50 ff.
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ven Disput hierüber führen10, in dem Letzterer eine umfassende Aufklärung der Kaufinteressenten durch den Verkäufer als geboten ansieht11, während Diogenes eine Aufklärung nur insoweit als geboten ansieht, als das Recht den Verkäufer hierzu verpflichtet12. Hier klingt schon an, dass das ius civile in diesem Fall eine Aufklärung des Käufers nicht fordert. Noch deutlicher wird das später in off. 3.16.67, wo Cicero nochmals auf den Fall des Getreidehändlers zu sprechen kommt und ausführt, sein Schweigen könne vom ius civile nicht erfasst und damit auch nicht sanktioniert werden13. Eine Aufklärung des Käufers durch den Verkäufer über den Marktwert der Kaufsache und dessen bevorstehende Veränderungen ist also aus der Sicht Ciceros rechtlich nicht geboten. Dies steht in vollem Einklang mit der Überlieferung in den juristischen Quellen, wonach es bei Kaufgeschäften beiden Parteien erlaubt ist, unter Wert zu kaufen und über Wert zu verkaufen und sich so gegenseitig zu übervorteilen14. Der Haltung eines vir bonus entspricht ein solches Vorgehen allerdings nicht; in off. 3.13.57 heißt es dazu: Non igitur videtur nec frumentarius ille Rhodios […] celare emptores debuisse. Neque enim id est celare, quicquid reticeas, sed cum, quod tu scias, id ignorare emolumenti tui causa velis eos, quorum intersit id scire. Hoc autem celandi genus quale sit et cuius hominis, quis non videt? Certe non aperti, non simplicis, non ingenui, non iusti, non viri boni, versuti potius, obscuri, astuti, fallacis, malitiosi, callidi, veteratoris, vafri.
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Hierzu etwa Marta Sordi, I maestri greci di Tiberio Gracco e la polemica antigraccana, in: Vincenzo Giuffrè (Hrsg.), Sodalitas, Scritti in onore di Antonio Guarino, Bd. 1, Napoli 1984, S. 125, 127 f. […] omnia patefacienda, ut ne quid omnino, quod venditor norit, emptor ignoret […] […] Diogeni venditorem, quatenus iure civili constitutum sit, dicere vitia oportere, cetera sine insidiis agere et, quoniam vendat, velle quam optime vendere […] Zur juristischen Färbung der Argumentation des Diogenes zutreffend Mario Talamanca, La bona fides nei giuristi romani: „Leerformeln“ e valori dell´ordinamento, in: Il ruolo della buona fede oggetiva nell´esperienza giuridica storica e contemporanea, Bd.4, 2003, S. 1, 140 f. […] huiusmodi reticentiae iure civili comprehendi non possunt. Pomp. D. 4.4.16.4: Idem Pomponius scribit in pretio emptionis et venditionis naturaliter licere contrahentibus se circumvenire. Paul. D. 19.2.22.3: Quemadmodum in emendo et vendendo naturaliter concessum est quod pluris sit minoris emere, quod minoris sit pluris vendere et ita invicem se circumscribere […] Verfehlt ist hier die Deutung als wechselseitige Betrügereien durch Ulrich v. Lübtow, De iustitia et iure, in: ZRG Rom. Abt. 66 (1948), S. 458, 500, und von Antonio Carcaterra, Dolus bonus, dolus malus (1970), S. 201 ff.; richtig dazu Theo Mayer-Maly, Privatautonomie und Vertragsethik im Digestenrecht, in: Iura 6 (1955), S. 128, 130 f.; Andreas Wacke, Rezension Carcaterra, in: ZRG Rom. Abt. 88 (1971), S. 440, 444; eingehend ders., Circumscribere und dolus, in: ZRG Rom. Abt. 94 (1977), S. 184, 185 ff.; Cosima Möller, Freiheit und Schutz im Arbeitsrecht, Göttingen 1990, S. 31 ff.
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Ralph Backhaus
Hier wird deutlich, dass die philosophia zur Erfüllung der officia mehr verlangt als die Beachtung der Regeln der Rechtsordnung15. Zwar ist danach nicht jedes Verschweigen bestimmter Umstände im Rechtsverkehr als unlauter zu bewerten, wohl aber dann, wenn dies in der Absicht geschieht, sich hierdurch gegenüber der Gegenpartei einen Vorteil zu verschaffen (emolumenti causa). Das entspricht nicht der Haltung eines offenen, einfachen, aufrichtigen, gerechten, rechtschaffenen Menschen, sondern wird mit einer langen Liste von Negativattributen belegt16. II. Der Fall der ungesunden Häuser (aedes pestilentes) Das Gefälle, das aus Ciceros Sicht zwischen den Geboten der Ethik und des Rechts bestehen kann, offenbart ein weiterer Fall, dessen rechtliche Bewertung freilich weniger eindeutig ausfällt als soeben beim Getreidehändler: Off. 3.13.54: Vendat aedes vir bonus, propter aliqua vitia, quae ipse norit, ceteri ignorent, pestilentes sint et habeantur salubres17 […], sed hoc praeter dominum nemo sciat; quaero, si haec emptoribus venditor non dixerit aedesque vendiderit pluris multo, quam se venditurum putarit, num id iniuste aut inprobe fecerit?
Auf einem Grundstück steht ein Haus, das pestilens ist; dieser Begriff weist gerade bei Cicero auf einen Gegensatz zu saluber bzw. salubris hin und bedeutet damit so viel wie „gesundheitsschädlich“, „ungesund“18; der pointierte Vergleich pestilentes sint habeantur salubres bestätigt dies. Der Eigentümer des Grundstücks, auf dem die Häuser stehen, weiß dies und möchte sie deshalb (propter vitia) verkaufen; angesichts des hohen Alters der Regel superficies solo cedit19 ist 15
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Treffend zu den unterschiedlich hohen Anforderungen schon August Bechmann, Der Kauf nach gemeinem Recht, Bd. 1, Leipzig 1876, S. 646; Wacke, in: ZRG Rom. Abt. 94 (1977), S. 184, 200 ff.; Martin Josef Schermaier, Bona fides im römischen Vertragsrecht, in: Il ruolo della buona fede oggetiva nell´esperienza giuridica storica e contemporanea, Bd. 3, 2003, S. 387, 414 f. Ein Verkäufer, der in dieser Situation schweigt, ist verschlagen (versutus), finster (obscurus), schlau (astutus), betrügersich (fallax), bösartig (malitiosus), hinterlistig (callidus), ränkevoll (veterator) und arglistig (vafer). Der Text enthält hier noch zwei weitere Beispiele, nämlich den Verkauf von Häusern, in deren Schlafräumen sich Schlangen aufhalten (in omnibus cubiculis apparere serpentes), und den Verkauf von mit schlechtem Bauholz errichteten und darum baufälligen Häusern (sint male materiatae et ruinosae). Auf diese Fallvarianten kann hier nicht näher eingegangen werden, zumal da Cicero auf sie – anders als auf die aedes pestilentes – im weiteren Gang seiner Erörterungen nicht mehr zu sprechen kommt. S. dazu Karl Ernst Georges, Ausführliches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch, Nachdruck der 8. Aufl., Darmstadt 2003, s. v. pestilens. Im selben Sinn wird der Begriff auch von Livius und Vitruv verwendet. Sie ist wohl schon in dem Zwölf-Tafel-Satz 6.8 enthalten: „tignum iunctum aedibus vineave et concapit ne solvito“, s. dazu Bruno Schmidlin, Die römischen Rechtsregeln, Köln 1970, S. 87 ff., insbes. S. 89. S. auch zur „usucapio“ den Bericht in Gai. 2.42,
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dabei davon auszugehen, dass dies auch zu Ciceros Zeit nur durch eine Veräußerung der Grundstücke möglich war, auf denen die Gebäude belegen waren. Er weist aber den Käufer nicht auf die Gesundheitsgefahren hin, obwohl dieser hiervon nichts weiß (habeantur salubres). Dass ein solcher Verkäufer nach Ciceros Verständnis seine ethischen Verpflichtungen (officia) gegenüber dem Käufer verletzt, vermag nicht zu verwundern. Denn nicht anders als der Getreidehändler verschweigt auch er Umstände, an deren Kenntnis dem Käufer gelegen ist, um seines eigenen Gewinns willen. Darum wird er auch von Cicero explizit dem Getreidehändler gleichgestellt, der den Rhodiern die baldige Ankunft weiterer Schiffe verheimlicht; auch sein Verhalten entspricht nicht dem eines vir bonus, der die aus den officia erwachsenden Gebote beachtet: Off. 3.13.57: Non igitur videtur nec frumentarius ille Rhodios nec hic aedium venditor celare emptores debuisse. […] Hoc autem celandi genus quale sit et cuius hominis, quis non videt? Certe non […] viri boni […]
Überraschend ist dann aber die juristische Bewertung des Falles durch Cicero20. Nachdem er zunächst wiederum Diogenes und Antipater hat disputieren lassen und sodann weitere Beispielsfälle abgehandelt hat, kommt er in off. 3.16.67 im Zusammenhang mit einem dieser Fälle erneut auf den Verkauf des Getreides an die Rhodier und der aedes pestilentes zu sprechen. In beiden Fällen kann ein solches Schweigen vom ius civile21 seiner Zeit nicht erfasst und sanktioniert werden: […] frumentarius ille […] aedium pestilentium venditor tacuit. Sed huiusmodi reticentiae iure civili comprehendi non possunt […]
Wie wir oben I. gesehen haben, entspricht dieser Befund bezüglich des frumentarius der Rechtslage, die sich aus den juristischen Quellen ergibt. Hinsichtlich der aedes pestilentes scheint das anders zu sein. Die Quellen des klassischen Rechts bezeugen durchgängig eine Haftung des wissentlich einen Mangel der Kaufsache verschweigenden oder sonst arglistigen Verkäufers mit der Kaufklage (actio emp-
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mag auch die Einbeziehung der aedes in die Ersitzungsfrist für Grundstücke nicht aus dem 12-Tafel-Gesetz stammen, s. dazu Max Kaser, Römisches Privatrecht, 2. Aufl., Bd. 1, München 1971, S. 135 u. Fn. 3. Zum strengen Festhalten an diesem Grundsatz s. Johann Michael Rainer, Superficies und Stockwerkseigentum im klassischen römischen Recht, in: ZRG Rom. Abt. 106 (1989), S. 327, 356 f. S. dazu etwa die Bewertung bei Dieter Nörr, Rechtskritik in der römischen Antike, München 1974, S. 43 („kaum einsichtig“). Interessant ist die abweichende Deutung des Begriffs ius civile bei Talamanca, in: Il ruolo della buona fede, Bd. 4, 2003, S. 1, 144: Hiermit sei das herkömmliche ius civile gemeint, in das die actio empti zu Ciceros Zeit noch nicht Eingang gefunden habe. Danach hätte Cicero eine Haftung mit der actio empti außerhalb dieses ius civile – ebenso wie im Fall von off. 3.16.66 – für möglich gehalten. Das würde gut zum Fall des Verkaufs von aedes pestilentes, aber schwerlich zum Fall des Getreidehändlers passen.
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ti)22. Gerade auch im Zusammenhang mit dem Verkauf einer res pestilens wird auf die Einstandspflicht des Verkäufers hingewiesen23. Die möglichen Gründe, aus denen das ius civile der Zeit Ciceros dies anders bewertet hat, können im vorliegenden Rahmen nur angedeutet werden24: 1. Ein Hinweis hierauf ergibt sich vielleicht aus den beiden deutlich juristisch gefärbten Argumenten25, die Cicero im Rahmen des fiktiven philosophischen Disputs um die aedes pestilentes dem Kombattanten Diogenes in den Mund legt: Off. 3.13.55.: […] Num te emere coegit, qui ne hortatus quidem est? Ille, quod non placebat, proscripsit, tu quod placebat, emisti. Quod si qui proscribunt villam bonam beneque aedificatam non existimantur fefelisse, etiam si illa nec bona est nec aedificata ratione, multo minus, qui domum non laudarunt. Ubi enim iudicium emptoris est, ibi fraus venditoris quae potest esse? Sin autem dictum non omne praestandum est, quod dictum non est, id praestandum putas? 22
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Ulp. D 19.1.1.1; Mod. D 19.1.39 (wissentliches Verschweigen einer Servitut, so schon die veteres); Paul. D 19.1.4 pr.; Ulp. D 19.1.11.5; D 21.1.4.4 (wissentliches Verschweigen, dass der verkaufte Sklave ein fur, dass die als Jungfrau verkaufte Sklavin eine mulier war, dass der verkaufte Sklave mit einem vitium animi behaftet war); Pomp. D 19.1.6.8 (Arglisthaftung bei wissentlich falschem polliceri durch den Verkäufer); eod. § 9; Paul. D 19.1.45.1 (Haftung trotz Haftungsausschluss bei Wissen des Verkäufers um Rechtsmangel); Paul. D 19.1.21.1; Pap. D 19.1.41 (actio empti bei Verschweigen der Belastung des verkauften Grundstücks mit Abgaben). Ulp. D 21.1.49: Etiam in fundo vendito redhibitionem procedere nequaquam incertum est, veluti si pestilens fundus distractus sit […]. Diese Stelle wird zwar wegen des Bezugs der redhibitio auf den Verkauf eines Grundstücks meist für itp. gehalten (Giambattista Impallomeni, L´editto degli edili curuli, Padua 1955, S. 265 ff.; Peter Mader, in: ZRG Rom. Abt. 101 (1984), S. 206, 220 u. Fn. 81; Kaser, Römisches Privatrecht, Bd. 2, S. 393 Fn. 71 mwN; offen Alan Watson, Sellers’ Liability for Defects: Aedilician Edict and the Praetorian Law, in: Iura 38 (1987), S. 167, 171 Fn. 9. Doch konnte auch nach klassischem Recht außerhalb des vom ädilizischen Edikt erfassten Bereichs mit der actio empti Rückgängigmachung des Kaufes verlangt werden, und zwar gerade vom wissentlich schweigenden Verkäufer (PS 2.17.6; Ulp. D 19.1.11.5: ex empto competere actionem ad resolvendam emptionem). Bei einem solchen Verständnis ist das Fragment unbedenklich und bezeugt, dass der fundus pestilens von den Klassikern als mangelbehaftet angesehen wurde und sein Verkauf Gewährleistungsrechte des Käufers auslösen konnte. S. ferner C 4.58.4.1 (Diocl. et Max.): Idem observatur et si pestibilis fundus, id est pestibulas vel letiferas habens, ignorante emptore distractus sit: nam in hoc etiam casu per eandem actionem (s.c. redhibitoriam) eum quoque redhibendam esse. Der Bezug auf die actio redhibitoria beim Grundstücksverkauf stammt fraglos von den Kompilatoren; eine Haftung mit der actio empti im ursprünglichen Zusammenhang könnte dagegen durchaus Sinn machen. Diese schwierige Frage bedarf eingehender Untersuchung. Ich werde hierauf an anderer Stelle zurückkommen. Anders insoweit Beseler, De iure civili Tullio duce ad naturam revocando, in: BIDR 39 (1931), S. 295, 303 f., wonach Diogenes sophistisch argumentiert.
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Wenn schon der Verkäufer, der sein Haus als „gut“ (bona) oder „gut gebaut“ (bene aedificata) anpreist, für sein dictum nicht einstehen muss, dann erst recht nicht derjenige, der nur schweigt. Und wenn der Käufer die Kaufsache selbst ansehen und begutachten kann (ubi iudicium emptoris est), kann kein Betrug des Verkäufers vorliegen26. Mit dem zweiten Argument ist erkennbar auf den vielfach überlieferten Rechtssatz angespielt, dass man als Verkäufer den Käufer auf diesem bekannte und offenkundige Mängel der Kaufsache nicht hinweisen muss27; auch Cicero war dieser Topos vertraut28. Auch das erste Argument finden wir in der juristischen Literatur: Die bloße Anpreisung (nuda laus) des verkauften Sklaven als „brav“, „rechtschaffen“ (frugi, probum), „gehorsam“ (dicto audientem) oder „wohlgestaltet“ (speciosum) begründet keine Haftung des Verkäufers29. Dasselbe gilt nach Florentin für die Empfehlung, das zum Kauf angebotene Haus sei „gut gebaut“ (bene aedificata)30; die Übereinstimmung dieses Fallbeispiels mit dem des Cicerotextes belegt, dass es sich dabei um einen typischen Schulfall aus dem Rechtsunterricht handelt, und damit die juristische Prägung der von Diogenes ins Feld geführten Argumente. Die communis opinio über die Unverbindlichkeit derartiger Anpreisungen unter den Juristen musste nun aber einen Erst-Recht-Schluss nahe legen: Wenn schon das Anpreisen von nichts sagenden Eigenschaften wie 26
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Beide Argumente sind auch nicht trennscharf zu unterscheiden: Wenn der Käufer die Sache selbst betrachten und prüfen kann, liegt eine bloße Anpreisung näher, als wenn er sich auf die Angaben des Verkäufers verlassen muss, s. dazu treffend Franz Horak, Ästhetische Probleme bei den römischen Juristen, in: Iura 38 (1987), S. 155, 158. Ulp. D 19.1.1.1 (actio empti); D 21.1.1.6; eod. 14.10, Pomp. D 21.1.48.4 (actio redhibitoria oder quanti minoris). Nach Karl Heldrich, Das Verschulden beim Vertragsschluss, Leipzig 1924, S. 4 f., und Peter Stein, Fault in the Formation of Contract, Edinburgh 1957, S. 9, ist dies der Grund dafür, dass der Verkäufer von aedes pestilentes nicht haftet. So ganz deutlich off. 3.16.67: […] quoniam id vitium ignotum Sergio non fuisset, qui illas aedes vendidisset, nihil fuisse necesse dici nec eum esse deceptum, qui id, quod emerat, quo iure esset, teneret. [...] Ped.-Ulp. D 21.1.19 pr./1: Sciendum tamen est quaedam et si dixerit praestare eum (s.c. venditorem) non debere, scilicet ea, quae ad nudam laudem servi pertinent: veluti si dixerit frugi probum dicto audientem. Ut enim Pedius scribit, multum interest, commendandi servi causa quid dixerit, an vero praestaturum se promiserit quod dixit. Ebenso Flor. D 18.1.43 pr.: Ea quae commendandi causa in venditionibus dicuntur, si palam appareant, venditorem non obligant, veluti si dicat servum speciosum […]. Flor. D 18.1.43 pr. (8 inst.): […] veluti si dicat […] domum bene aedificatam […]. In der Sache übereinstimmend, doch ohne Fallbeispiele, auch Ulp. D 4.3.37. S. dazu etwa Max Kaser, Unlautere Warenanpreisungen beim römischen Kauf, in: Gerhard Frotz, Werner Ogris (Hrsg.), Festschrift Heinrich Demelius, Wien, Mainz 1973, S. 127 ff.; Wacke, in: ZRG Rom. Abt. 94 (1977), S. 184, 196 f. mwN; Lorena Manna, Actio redhibitoria e responsabilità per i vizi della cosa nell´editto de mancipiis vendundis, 1994, S. 123 ff.; Eva Jakab, Praedicere und cavere beim Marktkauf, München 1997, S. 133 f.; ferner unter Hinweis auf den Verkauf bonis condicionibus unter dem Regime des syrisch-römischen Rechtsbuchs Michael Memmer, Der „schöne“ Kauf des „guten“ Sklaven, in: ZRG Rom. Abt. 107 (1990), S. 1, 22 u. Fn. 80.
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domus bene aedificata oder aedes salubres den Verkäufer nicht haftbar machte, dann erst recht nicht das Schweigen zum Fehlen solcher Eigenschaften. 2. Dies führt unmittelbar zu einer weiteren Deutungsmöglichkeit. Cicero selbst weist darauf hin, dass die Verantwortlichkeit des Verkäufers bei der Einstandspflicht für Angaben im Rahmen einer lex mancipio dicta (nuncupatio) seit alters her, nämlich bereits im Recht des 12-Tafel-Gesetzes, anerkannt war und erst später von den Juristen auf die Einstandspflicht für (wissentliches) Schweigen erstreckt wurde31: Off. 3.16.65: Ac de iure quidem praediorum sanctum apud nos est iure civili, ut in iis vendendis vitia dicerentur, quae nota essent venditori. Nam cum ex duodecim tabulis satis esset ea praestari, quae essent lingua nuncupata, quae qui infitiatus esset, dupli poenam subiret, a iuris consultis etiam reticentiae poena est constituta32.
Offenbar ist positives Tun (dictum) als Anknüpfungspunkt einer Einstandspflicht leichter vorstellbar als Unterlassen (reticentia)33. Das scheint nicht nur in dem soeben referierten argumentum a maiore ad minus durch, das Cicero dem Diogenes 31
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Für einen Bezug dieses Textes auf eine Vertragsstrafe, den Karoly Visky, La pena convenzionale in diritto romano all´inizio del principato, in: Studi in onore di Edoardo Volterra, Bd. 2, 1971, S. 597, 602 f., vermutet, sehe ich keine Anhaltspunkte. Zu diesem Text s. etwa Raymond Monier, La garantie contre les vices cachés dans la vente romaine, Paris 1930, S. 5 ff.; ders., La notion d’eviction de vices juridiques dans la mancipation, in: Iura 5 (1954), S. 169 ff.; Max Kaser, Das altrömische ius, Göttingen 1949, S. 123; ders., „Unmittelbare Vollstreckbarkeit“ und Bürgenregreß, in: ZRG Rom. Abt. 100 (1983), S. 80, 84 ff.; Dietrich V. Simon, Begriff und Tatbestand der iniuria im altrömischen Recht, in: ZRG Rom. Abt. 82 (1965), S. 132, 149 ff. Streitig ist die in off. 3.16.65 einschlägige Klage, für eine actio auctoritatis etwa Franz Haymann, Die Haftung des Verkäufers für die Beschaffenheit der Kaufsache, Berlin 1912, S. 46 f.; für einen Bezug auf die actio de modo agri Alan Watson, The Law of Obligations in the Later Roman Republic, Oxford 1965, S. 81; Alfredo Calonge, Eviccion, Salamanca 1968, S. 89; Okko Behrends, La mancipatio nelle XII tavole, in: Iura 33 (1982), S. 46, 57 f.; Manna, Actio redhibitoria, S. 99 f.; für einen Bezug auf die actio empti Alfred Pernice, Labeo, Bd. 3, Halle 1892, S. 119 f.; Axel Hägerström, Der römische Obligationsbegriff, Uppsala 1940, Teil 2, S. 332 f.; Stein, Fault in the Formation of Contract, S. 8; Gerardo Broggini, Iudex arbiterve, Graz 1957, S. 227; Nicola Bellocci, La struttura del negozio della fiducia nell’epoca repubblicana, Milano 1979, S. 95 ff.; Riccardo Cardilli, L’obbligazione di praestare e la responsabilità contrattuale in diritto romano, Napoli 1995, S. 158 u. Fn. 139; Martin Pennitz, Das periculum rei venditae, Wien 2000, S. 173 u. Fn. 112; Nunzia Donadio, L’„actio de modo agri“ nel ricordo delle „Pauli Sententiae“, in: Index 28 (2000), S. 313, 319 ff. Noch anders Monier, Garantie, S. 5 ff. (action plus génerále, zu der die actio de modo agri einen Sonderfall darstellt). Die Bezugnahme Ciceros auf die Formel der actio empti in dem nachgeschalteten Beispielsfall (off. 3.16.66) und auf die bona fides sowie das damnum praestari weist m.E. eher auf die actio empti hin.
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in den Mund legt. In dieselbe Richtung weist die Bemerkung Ciceros in off. 3.14.58, arglistiges Vorspiegeln sei mehr zu tadeln als bloßes Verschweigen34. Die juristischen Quellen bezeugen parallele Entwicklungen, so etwa bei der Entwicklung der actio de dolo: Während noch Servius den dolus von einem Vorspiegeln durch positives Tun abhängig machte (cum aliud simulatur et aliud agitur)35, kommt einige Jahrzehnte später Labeo, dem die Späteren folgen, ohne eine solche simulatio aus36; (erst) damit ist anerkannt, dass auch bloßes Schweigen die actio de dolo auszulösen vermag. Ein ähnliches Phänomen ist im Deliktsrecht zu beobachten, wo noch die klassischen Juristen nur das positive Tun mit einer actio legis Aquiliae sanktionieren, während beim Unterlassen eine actio utilis vonnöten ist37. All dies lässt es als plausibel erscheinen, dass auch im Kaufrecht die Einstandspflicht des Verkäufers für (wissentliches) Verschweigen ungünstiger Eigenschaften der Kaufsache erst nach und nach anerkannt worden ist38, dass zu Ciceros Zeit diese Entwicklung noch im Fluss war, dass das Schweigen des Verkäufers von aedes pestilentes – vielleicht wegen der Unbestimmtheit dessen, was unter „gesundheitsschädlich“ zu verstehen ist39 – damals keinen anerkannten Haftungstat-
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Off. 3.14.58: Quod si vituperandi qui reticuerunt, quid de iis existimandum est, qui orationis vanitatem adhibuerunt? Zu den Möglichkeiten der Bedeutung von agere (im Sinn von „tun“ oder „beabsichtigen“) s. Fritz Pringsheim, Id quod actum est, in: ZRG Rom. Abt. 78 (1961), S. 1, 44 f.; Geoffrey McCormack, Aliud simulatum, aliud actum, in: ZRG Rom. Abt. 104 (1987), S. 637 ff. mit zahlreichen Nachweisen zu den unterschiedlichen Auffassungen. S. dazu D 4.3.1.2 (Ulp. 11 ad ed.): Dolum malum Servius quidem ita definit machinationem quandam alterius decipiendi causa, cum aliud simulatur et aliud agitur. Labeo autem posse et sine simulationem id agi, ut quis circumveniatur […] s. dazu Alan Watson, Actio de dolo and actiones in factum, in: ZRG Rom. Abt. 78 (1961), S. 392 ff.; Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 645; abweichend die Deutung bei Carcaterra, Dolus bonus, S. 102 ff.; ihm zustimmend Wacke, Rezension Carcaterra, in: ZRG Rom. Abt. 88 (1971), S. 440, 443 f.; zuletzt zu dieser Stelle Dieter Nörr, Probleme der Eviktionshaftung im klassischen römischen Recht, in: ZRG Rom. Abt. 121 (2004), S. 152, 176. Gai. 3.219; Ner.-Ulp. D 9.2.9.2; Ulp. D 9.2.29.7. Zu dieser Parallele auch zutreffend Okko Behrends, Das römische Gesetz unter dem Einfluss der hellenistischen Philosophie, in: Okko Behrends, Wolfgang Sellert (Hrsg.), Nomos und Gesetz, Göttingen 1995, S. 135, 209. S. dazu mit Bezug auf die Beschränkung auf iura praedii schon Gustav Hanausek, Die Haftung des Verkäufers für die Beschaffenheit der Ware, Berlin 1883, S. 43. Gegen die Annahme einer solchen Entwicklung freilich Vincenzo Arangio-Ruiz, La compravendità in diritto romano, Napoli 1956, S. 212 f. Dafür spricht, dass die Grenze von der unverbindlichen Anpreisung zur haftbar machenden Zusicherung umso eher überschritten ist, je konkreter die Angaben des Verkäufers sind, s. Ped.-Ulp. D 21.1.19 pr./1: […] Pedius scribit, multum interest, commendandi servi causa quid dixerit, an vero praestaturum se promiserit quod dixit. Plane si dixit aleatorem non esse, furem non esse, ad statuam numquam confugisse, oportet eum id praestare. Aufschlussreich ist auch die Bemerkung Ciceros in off.
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bestand erfüllte und dass daraus das Gefälle zwischen den Anforderungen der philosophia und des ius civile an den Verkäufer resultiert. III. Das Verschweigen von Mängeln (vitia) beim Grundstücksverkauf Eine Bestätigung für die soeben angestellten Vermutungen zur allmählichen Entwicklung der Einstandspflicht des Verkäufers für wissentliches Verschweigen von Eigenschaften der Kaufsache, aber auch interessante Erkenntnisse über das Verhältnis von philosophia und ius civile liefern zwei weitere Textpassagen aus off. 3.12.50 ff.: Off. 3.16.65: Ac de iure quidem praediorum sanctum apud nos est iure civili, ut in iis vendendis vitia dicerentur, quae nota essent venditori. […] Quidquid enim est in praedio vitii, id statuerunt, si venditor sciret, nisi nominatim dictum esset, praestari oportere. Off. 3.17.71: Nec vero in praediis solum ius civile ductum a natura malitiam fraudemque vindicat, sed etiam in mancipiorum venditione venditoris fraus omnis excluditur.
Mängel (vitia) des verkauften Grundstücks, die dem Verkäufer bekannt sind (si venditor sciret), darf dieser nach off. 3.16.65 dem Käufer bei Meidung einer Haftung (praestari oportere) nicht verschweigen. Der (scheinbare) Widerspruch zur fehlenden Einstandspflicht des Verkäufers von aedes pestilentes wird – wie oben dargelegt – dahin aufzulösen sein, dass die fehlende salubritas nach dem ius civile der Cicero-Zeit kein haftungsbegründendes vitium darstellte – sei es, dass sie als unverbindliche Anpreisung bewertet wurde (oben II 1), sei es, dass nur das Fehlen bestimmter, in besonderer Weise „handgreiflicher“ Eigenschaften als vitium im Rechtssinne anzusehen war (oben II 2)40; hierzu würde die Bemerkung Ciceros in
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3.17.68, die leges könnten Verschlagenheiten des Verkäufers nur insoweit erfassen, als sie mit den Händen zu greifen seien (quatenus manu tenere possunt). Möglicherweise deutet die Wendung de iure quidem praediorum darauf hin, dass nur die Belastung des verkauften Grundstücks mit Servituten zu Ciceros Zeit als ein solches vitium angesehen wurde (so Haymann, Haftung des Verkäufers, S. 47; Aldo Pezzana, Sull´actio empti come azione di garanzia per i vizi della cosa in alcuni testi di Cicerone, in: BIDR 62 (1959), S. 185 ff.; Stein, Fault in the Formation of Contract, S. 8 ff.; dagegen Heldrich, Verschulden bei Vertragsschluss, S. 4). Dafür könnte sprechen, dass gerade Servituten als iura praediorum bezeichnet werden, s. Gai 2.14; Inst. 2.3 pr. i.V.m. Gai. D 1.8.1.1; D 8.3.1 pr.; (hierzu und zu weiteren Stellen, in denen die Servitut einfach mit ius bezeichnet wird, K.F. Thormann, De iure compascendi, in: ZRG Rom. Abt. 71 (1954), S. 71, S. 108 u. Fn. 88; Elmar Bund, Begriff und Einteilung der Servituten im römischen Recht, in: ZRG Rom. Abt. 73 (1956), S. 155, 160; zweifelnd gegenüber der Klassizität des Begriffs Franz Wieacker, Textstufen klassischer Juristen, Göttingen 1975, S. 210 f.) und dass gerade in diesem Fall schon nach Ansicht der veteres anerkanntermaßen ein (Rechts-)Mangel des verkauften Grundstücks gegeben war, s. D 19.1.39. Zudem würde diese Deutung erklären, warum die Aufklärungspflicht des Verkäufers in off. 3.16.65 auf den Grundstückskauf beschränkt ist.
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off. 3.17.68 passen, das Recht könne nur solche Unredlichkeiten sanktionieren, quae manu tenere possunt. In off. 3.17.71 wird dann der Fall des Grundstücksverkaufs noch einmal aufgegriffen: Weil das ius civile hier eine Aufklärungspflicht des Verkäufers statuiert, sind Betrug und Arglist (fraus, malitia) ausgeschlossen; soweit das Privatrecht Solches zu leisten vermag, verdient es das Prädikat eines ius civile a natura deductum. Auffällig ist, dass hier das Negativattribut malitia erneut auftaucht, mit dem Cicero den Getreidehändler belegt hatte, der in Einklang mit den Postulaten des ius civile, aber entgegen den Geboten der philosophia die Rhodier über die baldige Ankunft weiterer Getreideschiffe im Unklaren lässt. Dies legt es nahe, dass seiner Ansicht nach in den Bereichen, in denen das ius civile eine solche malitia nicht zulässt (excludit), das Gefälle zwischen Recht und Ethik aufgehoben ist, weil das Recht hier den Anforderungen der philosophia gerecht wird. Dies wird sogleich noch näher auszuführen sein.
B. Das philosophische Konzept Ciceros in off. 3.12.50 ff. I. Die Anknüpfung an Panaitios Der Titel der Schrift de officiis stellt nach Ciceros Bekunden41 eine Übersetzung des griechischen Wortes „kaqÁkon“ dar, das namentlich in der Stoa eine lange Tradition hat. Nach Diogenes Laertios geht dieser Begriff auf Zenon von Kition, den Begründer der Stoa, zurück, der darunter eine an bestimmte Menschen gerichtete Forderung verstanden hatte, ihren Willen in einer Weise zu betätigen, die mit den naturgemäßen Einrichtungen in Einvernehmen steht42. Auch der Stoiker Panaitios von Rhodos43, an dessen Lehren Cicero nach eigenem Bekunden in de officiis vornehmlich anknüpft44, hat drei Bücher „perˆ toà kaq»kontoj“ verfasst. Er hat damit die Schrift de officiis ungeachtet der in jüngerer Zeit zu Recht hervorgehobenen Eigenständigkeit Ciceros45 erkennbar beeinflusst. So hat Panaitios neben die Kategorien des vollständig Richtigen („kaqÒrqwma“) und des vollständig Falschen („¡m£rqhma“) als „Mittelwerte“ das pflichtgemäße Verhalten („kaqÁkon“) und das pflichtwidrige Verhalten („par¦ tÕ kaqÁkon“) gesetzt. Cicero greift diese Differenzierung auf und unterscheidet unter ausdrücklichem Hinweis auf das griechische Vorbild zwischen einem perfectum oder rectum officium und einem medium oder
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Att. 16.14.3. Diog. Laert. 7.107. S. zu ihm Pohlenz, Stoa, S. 191 ff.; Heinrich Dörrie, „Panaitios“, in: Der kleine Pauly, Bd. 4, 1979, Sp.447. Off. 3.2.7. S. dazu Eckardt Lefèvre, Panaitios´ und Ciceros Pflichtenlehre, Stuttgart 2001, S. 9 ff. und passim, dort auch mit Nachweisen zur herkömmlichen Auffassung, die Cicero weniger Originalität zubilligt.
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commune officium46. Das perfectum officium, das auch als honestum bezeichnet wird, gibt zwar den Maßstab für jedes erstrebenswerte menschliche Verhalten vor und wird von Cicero im ersten Buch von de officiis eingehend erörtert: Alles, was honestum ist, geht danach aus vier Teilbereichen hervor; eine dieser Ausprägungen besteht im Beschützen der Gemeinschaft der Menschen (hominum societate tuenda), darin, einem Jeden das Seine zuzuteilen (tribuendo suum cuique) sowie im Einhalten von getroffenen Abmachungen (rerum contractarum fide)47. Damit sind neben Güte und Freigebigkeit (benignitas, liberalitas) auch, wie Cicero wenig später selbst ausführt, zentrale Aspekte der Gerechtigkeit (iustitia) angesprochen48. Allerdings ist das rectum officium bzw. honestum nur für den vollkommenen Weisen, nicht dagegen für normale Menschen erreichbar. An diese wenden sich darum die media officia, die immerhin Abbilder des honestum (similitudines honesti) und durch gute Veranlagung des Geistes und eifriges Lernen für viele Menschen erfüllbar sind49. Vollkommene Gerechtigkeit im Sinn eines verum officium ist darum zwar anzustreben, aber in einer von Menschen geschaffenen Rechtsordnung nicht realisierbar – ein auf die Pflichtenlehre des Panaitios zurückgehender Gedanke. Was danach als das Verhalten eines redlichen Verkäufers (vir bonus) anzusehen ist, wird durch die stoische Pflichtenlehre des Panaitios vorgegeben50. Über diese stoische Orientierung gibt Cicero am Anfang der Schrift de officiis überdies selbst freimütig Auskunft: Off. 1.2.6: Sequimur igitur hoc quidem tempore et hac in quaestione potissimum Stoicos, non ut interpretes, sed, ut solemus, e fontibus eorum iudicio arbitrioque nostro quantum quoque modo videbitur, hauriemus.
Die Darstellung soll sich hac in quaestione, nämlich beim disputare de officiis, vornehmlich (potissimum) an stoischen Vorbildern orientieren51, wobei freilich – typisch für Ciceros Eklektizismus – ein Schöpfen aus anderen Quellen nicht ausgeschlossen sein soll52. Ein Widerspruch zur skeptischen Grundeinstellung Cice46
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Off. 1.3.8; 3.3.14. Dass die Vorstellung eines solchen medium officium Ciceros Anliegen entgegenkommen musste, die Schrift zu einem Leitfaden für die Praxis zu machen, versteht sich von selbst, so treffend Lefèvre, Pflichtenlehre, S. 18. Off. 1.5.15; s. auch schon zuvor off. 1.4.11-14. Die Grundlage dieser vier Ausprägungen ist in der „o„ke…osij“-Lehre zu sehen, s. dazu näher unten II und einstweilen Lefèvre, Pflichtenlehre, S. 18. Off. 1.7.20. Off. 3.3.13/14. So auch Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 644. S. zur Orientierung Ciceros an stoischen Vorbildern und zu diesem Text auch Wolfgang Waldstein, in: Margarethe Beck-Mannagetta (Hrsg.), Der Gerechtigkeitsanspruch des Rechts, Festschrift für Theo Mayer-Maly zum 65. Geburtstag, Wien 1996, S. 1, 50 f. Deutlich wird das etwa an dem Rekurs auf die platonische Ideenlehre in off. 3.17.69; s. hierzu etwa Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 643. Zum Eklektizismus Ciceros etwa Michel Villey, in: Karl Büchner (Hrsg.), Das neue Cicerobild, Darmstadt 1971, S.
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ros53 ist das keinesfalls: Gerade die Probabilitätstheorie der skeptischen Akademie gibt ihm das Recht, stoische Positionen zu vertreten, wenn sie ihm plausibel erscheinen54. II. Die stoische Prägung von off. 3.12.50 ff. Auch in off. 3.12.50 ff. dominiert entsprechend der Ankündigung Ciceros in off. 1.2.6 stoisches Gedankengut55. Vor allem zwei Textpassagen dort machen deutlich, dass die officia letztlich in der Lehre der (mittleren) Stoa von der „Zueignung“ („o„ke…wsij“) wurzeln. Der erste dieser Texte stammt aus der Diskussion des Antipater mit Diogenes im Getreidehändler-Fall (oben A I), der zweite betrifft den Fall der öffentlichen Ausschreibung von Gebäuden (aedes) zum Verkauf: Off. 3.12.52: Exoritur Antipatri ratio ex altera parte: Quid ais? Tu, cum hominibus cosulere debeas et servire humanae societati eaque lege natus sis et ea habeas principia naturae, quibus parere et quae sequi debeas, ut utilitas tua communis sit utilitas vicissimque communis utilitas tua sit, celabis homines, quid iis adsit commoditatis et copiae? Off. 3.17.68 f.: Sic tu aedes proscribas, tabulam tamquam plagam ponas (domum propter vitia vendas)56 in eam aliquis incurrat imprudens? Hoc quamquam video prop-
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259, 261; eingehend Alain Michel, Rhetorique et philosophie dans les traités de Cicéron, in: Hildegard Temporini (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Teil I, Bd. 3, Berlin 1973, S. 139 ff., 201 ff. Ein weiterer Beleg hierfür ist die von Waldstein, in: Festschrift für Mayer-Maly zum 65. Geburtstag, S. 1, 44, aufgewiesene Parallele zu Aristoteles, Eth. Nic. V, 3 (1130 a). In diesem Sinn statt vieler Gelzer, Cicero, S. 8; Manfred Fuhrmann, Cicero und die römische Republik, München 1989, S. 42; s. auch Okko Behrends, Les „veteres“ et la nouvelle jurisprudence, in: RH 55 (1977), S. 7, 27 ff. Zweifel an der Kontinuität der Orientierung Ciceros an der skeptischen Akademie haben indes John Glucker, Cicero’s philosophical affiliations, in: John M. Dillon, A. A. Long (Hrsg.), The Question of Eclecticism, Studies in Later Greek Philosophy, Berkeley 1988, S. 34, 42, sowie Peter Steinmetz, Beobachtungen zu Ciceros philosophischem Standpunkt, in: William W. Fortenbaugh, Peter Steinmetz (Hrsg.), Cicero’s Knowledge of the Peripatos, New Brunswick, London 1989, S. 1, 20, geäußert. S. dazu Jürgen Leonhardt, Ciceros Kritik der Philosophenschulen, München 1999, S. 79, unter Hinweis auf off. 3.4.20. Zum Folgenden s. bereits Ralph Backhaus, Das Problem der „ungerechten Rechtsnorm“ in der Antike – zugleich ein Beitrag zum Stellenwert des Naturrechts in der alten Welt, in: Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Der verfasste Rechtsstaat, Festgabe für Karin Graßhof, Heidelberg 1998, S. 27, 44 ff. Diese Passage wird ganz überwiegend als Glosse angesehen, s. die Nachweise bei Johannes Platschek, Die „tabula tamquam plaga“ in Cic. off. 3.17.68, in: Index 30 (2002), S. 205, 211 Fn. 3. In der Sache dürfte der Einschub aber zutreffend sein, weil es – wie im Fall der aedes pestilentes – um ein Verhalten geht, das ethisch missbilligenswert, aber juristisch nicht verboten ist. Die abweichende Erklärung von Platschek, Index 30 (2002), S. 205, 209, der domum propter vitium vendo lesen will, erscheint wenig über-
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Ralph Backhaus ter depravationem consuetudinis neque more turpe haberi neque aut lege sanciri aut iure civili, tamen naturae lege sanctum est. Societas est enim – quod etsi saepe dictum est, dicendum est tamen saepius – latissime quidem quae pateat, omnium inter omnes […]
Die lex, von der in off. 3.12.52 die Rede ist und unter deren Geltung jeder Mensch geboren wird (eaque lege natus sis), ist die im zweiten Text explizit angesprochene lex naturae; in der Schrift de legibus hat Cicero diese lex als eine in der (menschlichen)57 Natur begründete Rechtsordnung (ius natura constitutum)58 bezeichnet, die in gleicher Weise für alle Menschen verbindlich ist59 und ohne Rücksicht auf Akzeptanz (opinio) gilt60. Folgerichtig wird darum auch in der ersten Stelle im Zusammenhang mit dieser lex auf die principia naturae hingewiesen, denen jeder Mensch gehorchen und folgen muss (quibus parere et quae sequi debeas). Diese lex naturae gebietet es, für die Mitmenschen zu sorgen und der menschlichen Gemeinschaft zu dienen (hominibus consulere, societati humanae servire). Damit ist ein Naturrechtskonzept entfaltet, das seine Wurzeln in der Lehre der (mittleren) Stoa von der „Zueignung“ („o„ke…wsij“) hat61. Der Grundtrieb des Menschen ist nach dieser Lehre auf Selbsterhaltung gerichtet, der Mensch empfindet sich als „sich selbst zugehörig“ („o„ke‹on“). Dieser Trieb schließt die Mitmenschen ein; der Mensch eignet sich also nicht nur sich selbst zu, sondern auch die anderen Menschen62. Aus der so verstandenen „o„ke…wsij“ entsteht das Gebot zur Fürsorge für den Mitmenschen und damit die Idee eines geordneten Gemeinwesens. Dieses Gemeinwesen ist freilich, weil der Mensch allen Mitmenschen zugeeignet ist, nicht nur der einzelne Staat, in dem er lebt, sondern die in off. 3.17.68 angesprochene societas omnium inter omnes63. Eben der Gedanke einer solchen
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zeugend, weil man dann, wenn der Verkäufer derartige Angaben macht, kaum mehr von einem Netz (plaga) sprechen kann, in das der Käufer ahnungslos hineinläuft (incurrat imprudens). Leg. 1.6.19: Lex est mens ratioque prudentis. Leg. 1.10.28. Zutreffend dazu Gabrio Lombardi, Diritto umano e ius gentium, in: SDHI 16 (1950), S. 254, 257. Leg 1.10.28: Itaque quaecumque est hominis definitio, una in omnis valet. Leg. 1.10.28: […] neque opinione, sed natura constitutum esse ius. Zur stoischen Provenienz der societas omnium auch Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, S. 643 f.; Wolfgang Waldstein, Mandat und operae libertorum, in: Dieter Nörr, Shigeo Nishimura (Hrsg.), Mandatum und Verwandtes, Berlin 1993, S. 339, 350 f.; Okko Behrends, Die Grundbegriffe der Romanistik, in: Index 24 (1996), S. 1, 14; ders., Die lebendige Natur eines Baumes und die menschliche Struktur eines Bauwerks, in: Quaestiones Iuris, Festschrift für Joseph Georg Wolf zum 70. Geburtstag, Berlin 2000, S. 1, 8 f. S. dazu Cic. off. 1.7.22: […] ut placet Stoicis […] homines autem hominum causa esse generatos, ut ipsi inter se aliis alii prodesse possent [...]. Im selben Sinn auch off. 3.12.53: […] esse inter homines natura coniunctam societatem. Ebenso gehört hierher die societas hominum in Cic. de finibus 4.18, s. dazu Laurens Winkel, Les origines antiques de l`appetitus societatis de Grotius, in: TR 68 (2000), S. 393, 399 f.
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societas omnium steckt hinter der Bemerkung, die lex naturae verpflichte jeden Menschen zur Fürsorge und zum Dienst an dieser menschlichen Gemeinschaft (hominibus consulere, societati humanae servire). Die „o„ke…wsij“ gebietet nun aber nicht nur Fürsorge für den Mitmenschen, sondern auch Rücksichtnahme auf ihn, und hieraus erwächst nach stoischer Vorstellung die Forderung, Gerechtigkeit zu üben64. Denn weil der Mensch nicht nur sich selbst, sondern auch seinen Mitmenschen zugeeignet ist, liegt es in seiner Natur, nicht nur sich selbst, sondern auch die menschliche Gemeinschaft zu beschützen65. Dieses tueri societatem bedeutet, wie Cicero im ersten Buch von de officiis explizit erklärt hatte, vor allem Gerechtigkeit (iustitia)66. Das Gebot, Gerechtigkeit zu üben, ist also aus der menschlichen Natur ableitbar. Indem Cicero es nun in off. 1.5.15 ff. (und an anderen Stellen) unternimmt, Grundprinzipien (fundamenta) der Gerechtigkeit zu benennen, konkretisiert er die stoische „o„ke…wsij“-Lehre und entwickelt sie zugleich fort: Solche fundamenta iustitiae sind für ihn das Gleichheitsgebot (suum cuique tribuere)67, das Verbot grundloser Schadenszufügung (ne cui quis noceat)68 und – im vorliegenden Zusammenhang besonders bedeutsam – die Treuepflicht (fides)69. Diese gebietet zum einen die Einhaltung der getroffenen Abmachungen (dictorum conventorumque constantia) und zum anderen Wahrhaftigkeit (veritas)70. Insbesondere der zweite der oben wiedergegebenen Texte (off. 3.17.68) zeigt diese Zusammenhänge deutlich auf, indem die Existenz der societas omnium als Begründung dafür benannt wird, dass man nach der lex naturae beim Versuch, ein Haus zu verkaufen, dessen Mängel schon in der öffentlichen Ausschreibung71 an64
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S. Porphyrius, de abstinentia III, 19, 2, wonach die Schüler des Zenon in der o„ke…wsij das Grundprinzip der Gerechtigkeit gesehen haben. S. zu diesem Text Laurens Winkel, Die stoische o„ke…wsij-Lehre und Ulpians Definition der Gerechtigkeit, in: ZRG Rom. Abt. 105 (1988), S. 669, 673, der plausibel Cicero, leg. 1.15.43 damit in Verbindung bringt. Zur ¢x…aals Maßstab bei der iustitia distributiva Ulrich Manthe, Beiträge zur Entwicklung des antiken Gerechtigkeitsbegriffes II: Stoische Würdigkeit und die iuris praecepta Ulpians, in: ZRG Rom. Abt. 114 (1997), S. 1 ff. Cic. off. 1.5.15: […] in hominum societate tuenda […]. Cic. off. 1.7.20. Cic. off. 1.5.15; 1.14.42; fin. 5.65; inv. 2.160; rep. 3.10. Zu all diesen Texten Waldstein, in: Festschrift Mayer-Maly zum 65. Geburtstag, S. 44 ff. Cic. off. 1.7.20, s. auch off. 1.28.99. Dieses Gebot geht auf Aristoteles zurück. S. dazu auch Dieter Nörr, Mandatum, fides, amicitia, in: Nörr/Nishimura, Mandatum und Verwandtes, S. 3, 35. Cic. off. 1.5.15; 1.7.22 und 23. Zu diesem Text und zum Zusammenhang der dort angesprochenen fides mit Rechtspflichten s. Wolfgang Waldstein, Entscheidungsgrundlagen der klassischen römischen Juristen, in: Hildegard Temporini (Hrsg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt, Teil II, Bd. 15, 1976, S. 3, 73 f. Es ist gut denkbar, dass Cicero hier pointiert vom öffentlichen Ausschreiben der Gebäude (zu einer Versteigerung? – s. dazu Georg Thielmann, Die römische Privatauktion, Berlin 1961, S. 105) spricht, um deutlich zu machen, dass bereits bei einer solchen Ausschreibung und nicht erst beim nachfolgenden Abschluss des Kaufvertrags der Verkäufer aufgrund der „lex naturae“ zur Angabe sämtlicher Mängel verpflichtet ist. Da-
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geben muss (Hoc […] naturae lege sanctum est. societas est enim […] omnium inter omnes): Eben weil der Hauseigentümer kraft der lex naturae allen Menschen zugeeignet ist, schuldet er auch allen Kaufinteressenten gegenüber fides und veritas; hiermit ist ein wissentliches Verschweigen kaufrelevanter Umstände nicht zu vereinbaren72. Die lex naturae verbietet darum, wie Cicero kurz zuvor ausgeführt hat, jeden Hinterhalt, jede Vorspiegelung, jede Täuschung73. Aus diesem Grund war auch der Verkäufer der aedes pestilentes gehalten, den Käufer über die möglichen Gesundheitsgefahren aufzuklären, durfte der frumentarius den Rhodiern die baldige Ankunft weiterer Getreideschiffe nicht verschweigen74. Und aus demselben Grund darf eine staatliche Rechtsordnung, die dem Verkäufer eine solche Aufklärungspflicht auferlegt, als ein ius civile a natura deductum bezeichnet werden75.
C. Der Stellenwert der philosophia für das staatliche Recht Damit bleibt die Frage, welche Bedeutung diesem stoisch geprägten Verhaltenskodex für die juristische Praxis zukam. Sehr dezidiert hat sich hierzu Okko Behrends geäußert: Mit den officia sei nicht mehr als eine in der Philosophie gegründete Sozialmoral formuliert worden76. Cicero argumentiere in off. 3.12.50 ff. als Vertreter der skeptisch-akademischen Kultur, deren Rechtstheorie durch die erfolgreiche Tätigkeit seines Freundes Servius Sulpicius Rufus zur Herrschaft ge-
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gegen Filippo Cancelli, L’origine del contratto consensuale di compravendità nel diritto romano, Milano 1963, 66 f., der proscribere mit vendere gleichsetzt. Zur Aufklärungspflicht des Verkäufers nach stoischer Pflichtenlehre s. auch Pohlenz, Stoa, S. 264; Wacke, in: ZRG Rom. Abt. 94 (1977), S. 184, 203. Cic. off. 3.17.68: Ratio ergo hoc postulat, ne quid insidiose, ne quid simulate, ne quid fallaciter. Diese ratio ist mit der lex naturae identisch, s. Cic. leg. 1.6.19 (lex est mens ratioque prudentis). Auf weitere einschlägige Fallbeispiele Ciceros in off. 3.12.50 ff. kann hier nicht näher eingegangen werden: So hat in off. 3.14.58 ff. der Bankier Pythius wegen mangelnder veritas gegen die lex naturae verstoßen, indem er dem Canius reiche Fischzüge vorspiegelte, mochte auch ein solches Tun durch das ius civile jener Tage noch nicht sanktioniert gewesen sein. Demgegenüber hat sich Quintus Mucius Scaevola in off. 3.15.62 im Sinn dieser Ordnung und damit als vir bonus verhalten, als er für das von ihm gekaufte Grundstück freiwillig 100.000 Sesterzen mehr, als der Verkäufer verlangt hatte, und damit das bezahlt hat, was das Grundstück objektiv wert war. Cic. off. 3.17.71, s. dazu oben A III a.E. Behrends, in: Nomos und Gesetz, S. 211; ders., Das Werk Lenels und die Kontinuität der romanistischen Fragestellungen. Zugleich ein Beitrag zur grundsätzlichen Überwindung der interpolationischen Methode, in: Index 19 (1991), S. 169, 201. Mit etwas abweichender Akzentuierung Nörr, Rechtskritik, S. 43 („wagt es nicht, die Rechtsordnung deswegen anzugreifen“), und Talamanca, in: Il ruolo della buona fede, S. 1, 149 („malinconicamente“).
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langt sei und die nur noch solche Normen als positives Recht anerkannt habe, deren Tatbestände sich auf einer unmittelbar fasslichen Ebene hielten (quatenus manu tenere possunt)77. Dieses Rechtsverständnis habe die vorangegangene, an erster Stelle durch Quintus Mucius Scaevola repräsentierte Juristengeneration abgelöst, die sich – in stoischer Tradition stehend – durch ein freieres und stärker an der bona fides orientiertes Rechtsverständnis ausgezeichnet habe78. Diesen Befunden kann ich weitgehend zustimmen, jedoch bewerte ich sie anders: Mit großer Deutlichkeit geht aus den oben A I) und A II) vorgestellten Texten hervor, dass Cicero die Postulate der lex naturae nicht als im ius civile seiner Zeit voll „umgesetzt“ ansieht. Seine Ausführungen legen – wie sogleich anhand von off. 3.17.69 näher zu zeigen ist – auch die Annahme nahe, dass Innovationen, die auf eine stärkere Berücksichtigung der bona fides hinaus laufen, oft den veteres bzw. maiores zuzuschreiben sind79; die (spärlichen) juristischen Quellen lassen ein ähnliches Bild erkennen80. Dass Cicero die officia als eine für das Privatrecht bedeutungslose Sozialmoral bewertet, lässt sich seinen Äußerungen in off. 3.12.50 ff. aber nicht entnehmen81. In die gegenteilige Richtung weist zum einen die Passage Off. 3.17.69: Societas est enim – quod etsi saepe dictum est, dicendum est tamen saepius – latissime quidem quae pateat, omnium inter omnes, interior eorum, qui eiusdem gentis sint, propior eorum, qui eiusdem civitatis. Itaque maiores aliud ius gentium, aliud ius civile esse voluerunt, quod civile, non idem continuo gentium, quod autem gentium, idem civile esse debet. Sed nos veri iuris germanaeque iustitiae solidam et expressam effigiem nullam tenemus, umbra et imaginibus utimur. Eas ipsas utinam sequeremur. Feruntur enim ex optimis naturae et veritatis exemplis.
Cicero knüpft hier an die in der „o„ke…wsij“ wurzelnde Vorstellung einer societas omnium inter omnes an82: Weil neben der beschränkten Gemeinschaft civitas83 ei77 78 79
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Behrends, in: Nomos und Gesetz, S. 224 f. Behrends, in: Nomos und Gesetz, S. 224 und passim. S. außer der sogleich zu besprechenden Textpassage off. 3.17.69 auch die an der bona fides orientierte Entscheidung des Cato in off. 3.16.66 sowie den Hinweis auf die „maiores“ in off. 3.16.67. S. etwa D 19.1.39: Rechtsmängelhaftung des die Existenz von Servituten wissentlich verschweigenden Verkäufers nach Auffassung der veteres bzw. iuris auctores, wobei freilich zweifelhaft ist, in welchem Sinn der Spätklassiker Modestin diese Begriffe gebraucht; s. zu diesem Thema kritisch Franz Horak, Wer waren die „veteres“? – Zur Terminologie der klassischen römischen Juristen, in: Georg Klingenberg (Hrsg.), Vestigia iuris romani, Graz 1992, S. 201 ff. So im Ergebnis auch Wolfgang Waldstein, Cicero, Servius und die neue Jurisprudenz, in: Iura 44 (1993), S. 85, 133 f. mit Bezug auf off. 3.17.68 ff.: „Hier wird deutlich, dass Cicero das ius naturale keineswegs als eine bloß der Sitte zuzuordnende Kategorie ansieht […]“ Dazu näher oben B II. Neben der civitas nennt Cicero hier noch die gens, die hier wohl als Zwischenschicht zwischen der civitas und der societas omnium die gens latina bezeichnen soll, so Filip-
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ne societas omnium existiert, haben die maiores (zu Recht) das ius gentium als das Recht, das (auch) die Beziehungen unter den Angehörigen der societas omnium regelt, neben das den römischen Bürgern vorbehaltene ius civile gesetzt84. Dem entspricht eine inhaltliche Parallele: Das ius gentium wird, um den Verkehr mit den Peregrinen zu ermöglichen, in weit stärkerem Maße als das ius civile vom Regime der fides beherrscht85 und ist darum, wie Cicero an anderer Stelle bereits etwas überspitzt formuliert hat86, mit der lex naturae, die in der societas omnium gilt, im Grunde identisch87. In der Folge geht Cicero dann vom Bericht über die Entwicklung des ius gentium durch die maiores zu einem rechtspolitischen Postulat über: Es muss zwar nicht jeder Rechtssatz und jedes Institut des ius civile ohne weiteres (continuo) Bestandteil des ius gentium sein (quod civile, non idem continuo gentium esse debet), weil insoweit in jeder civitas Besonderheiten bestehen können, wohl aber müssen eigentlich umgekehrt alle Sätze und Institute des ius gentium, weil sie die Beziehungen in der societas omnium regeln und der lex naturae entsprechen (fides!), ohne weiteres Bestandteil des ius civile sein (quod autem gentium, idem civile esse debet)88.
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po Gallo, Bona fides e ius gentium, in: Luigi Garofalo (Hrsg.), Il ruolo della buona fede oggetiva nell´esperienza giuridica storica e contemporanea, Bd. 2, Padua 2003, S. 115, 118; allgemeiner (Gentilverband) dagegen das Verständnis bei Max Kaser, Ius gentium, Köln 1993, S. 14. Ius civile meint hier in einem weiten Sinn das gesamte den römischen Bürgern offenstehende Recht, s. dazu Bruce Frier, The Rise of the Roman Jurists, Princeton 1985, S. 184 ff.; Kaser, Ius gentium, S. 15; Manna, Actio redhibitoria, S. 102. S. dazu schon Max Kaser, Gaius und die Klassiker, in: ZRG Rom. Abt. 70 (1953), S. 127, 152; Cancelli, origine del contratto, S. 141; Okko Behrends, Die bona fides im mandatum, in: Martin Josef Schermaier, Ars boni et aequi, Festschrift für Wolfgang Waldstein zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1993, S. 33, 51 f.; s. auch Luigi Labruna, Römisches Marktrecht und Expansionspolitik, in: Robert Feenstra (Hrsg.), Collatio iuris romani, Études dédiées a Hans Ankum à l’occasion de son 65. anniversaire, Amsterdam 1995, S. 223, 236. Off. 3.5.23: „[…] natura, id est iure gentium […]“ Zutreffend hierzu Okko Behrends, Selbstbehauptung und Vergeltung und das Gewaltverbot im geordneten bürgerlichen Zustand nach klassischem römischem Recht, in: ZRG Rom. Abt. 119 (2002), S. 44, 96 Fn. 110, 126 Fn. 162. S. auch schon dens., Institutionelles und prinzipielles Denken im römischen Privatrecht, in: ZRG Rom. Abt. 95 (1978), S. 187, 196 ff. S. auch Francisco J. Andres Santos, „Ius gentium“ en la obra de Tácito, in: Labeo 47 (2001), S. 438, 440. Zu „societas“ und „lex naturae“ auch M. Vavaro, Iuris consensus e societas in Cicerone, in: Annali Palermo 45 (1998), 445 ff. Ähnlich, aber etwas zurückhaltender die Bewertung bei Theo Mayer-Maly, Das ius gentium bei den späten Klassikern, in: Iura 34 (1983), S. 91, 100. S. zu diesem Gedankengang Behrends, in: Quaestiones Iuris, S. 1, 8; anders aber ders., Die Wissenschaftslehre im Zivilrecht des Q. Mucius Scaevola pontifex, in: Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Nachrichten der Akademie der Wissenschaften Göttingen, phil.-hist. Kl., Göttingen 1976, S. 265, 298 f., insoweit, als er den Satzteil „quod civile [...] debet“ auf die „maiores“ bezogen wissen will; doch spricht ausweislich des Textes hier Cicero.
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Die Realität sieht aber anders aus (sed nos […]): Eine gefestigte und ausgeprägte Anschauung des wahren Rechts und der unverfälschten Gerechtigkeit existiert nicht, sondern nur Schatten und Abbilder hiervon (veri iuris germanaeque iustitiae solidam et expressam effigiem nullam tenemus, umbra et imaginibus utimur). Mit diesem für den Eklektiker Cicero typischen Rekurs auf die platonische Ideenlehre soll begründet werden, warum die lex naturae das ius civile nicht umfassend, sondern nur partiell regiert89. Im Übrigen liegt es nahe, den Hinweis sed nos […]“ als pointierten Gegensatz zu der zuvor angesprochenen Leistung der veteres zu deuten, die Cicero in der Entwicklung des ius gentium gesehen hatte90; nos hätte dann – wie auch in einigen juristischen Quellen91 – die Bedeutung von „wir Heutigen“. Dann enthält der Satz allerdings eine – fatalistisch geprägte – Kritik Ciceros am Recht seiner eigenen Zeit und gerade nicht an dem der veteres92. Der Schluss von off. 3.17.69 mit der Aufforderung, das aktuelle ius civile solle sich an den dem Menschen erkennbaren Schattenbildern des wahren Rechts (umbra et imagines veri iuris) orientieren, weil sie den besten Beispielen der Natur und der Wahrheit (optima exempla naturae et veritatis) entstammten, führt diesen Gedanken fort; er ist damit ein Plädoyer für und nicht gegen ein an der lex naturae orientiertes ius civile. Das fast schon emphatische Lob der auf die fides und das bene agere bezogenen Formelbestandteile der actio fiduciae in der unmittelbar folgenden Textpassage off. 3.17.70 weist in dieselbe Richtung93. Einen noch deutlicheren Beleg für den Stellenwert, den Cicero den officia für das staatliche Recht zuweist, enthält der schon oben (A III) auszugsweise vorgestellte Text Off. 3.17.71: Quocirca astutiae tollendae sunt eaque malitia, quae vult illa quidem videri se esse prudentiam, sed abest ab ea distatque plurimum; […]. Nec vero in praediis solum ius civile ductum a natura malitiam fraudemque vindicat, sed etiam in mancipiorum venditione venditoris fraus omnis excluditur.
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Anders die Deutung von Behrends, Nomos und Gesetz, S. 135, 211 f., wonach die Wertbegriffe der alten Jurisprudenz (also die bona fides) kein bestimmtes und ausgeführtes Bild wahren Rechts (iuris germanae solidam et expressam effigiem) liefern könnten. Aber so steht es nun einmal nicht im Text: Cicero schreibt, dass seine Generation (nos, dazu sogleich im Text) nicht in der Lage sei, dieses Recht zu erkennen. So auch Lefèvre, Pflichtenlehre, S. 168; Bert Noordraven, Die Fiduzia im römischen Recht, Amsterdam 1999, S. 301. Etwas anders die Akzentuierung bei Nörr, Rechtskritik, S. 42, und Behrends, in: Index 19 (1991), S. 169, 199, die darauf abstellen, dass „wir Menschen“ (nos) nur „Schatten“ und „Bilder“ des Rechts erfassen können. Hermann Heumann, Emil Seckel, Handlexikon des römischen Rechts, Nachdruck der 10. Aufl., Graz 1958, s. v. nos, mit Nachweisen. So auch Waldstein, in: Iura 44 (1993), S. 85, 134. Dasselbe gilt für die Passage „sed huiusmodi reticentiae iure civili comprehendi non possunt“ in off. 3.16.67, s. dazu Waldstein, in: Iura 44 (1993), S. 85, 132. S. hierzu aus neuerer Zeit etwa Wojciech Dajczak, Erklärungen römischer Juristen zur Funktion der Wendung ex fide bona in Klageformeln, in RIDA 46 (1999), S. 219, 223 ff. mwN.
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Unredlichkeiten (astutiae) und Arglist (malitia) sollen möglichst aus dem ius civile eliminiert werden (tollendae sunt). Im Folgenden weist Cicero dann auf Bereiche des Privatrechts hin, in denen diese Forderung bereits erfüllt ist. Beim Grundstücksverkauf nämlich schließt das ius civile, indem es den Verkäufer zur Aufklärung des Käufers über vitia verpflichtet94, Arglist und Betrug aus95 (dazu oben A III); dasselbe gilt seiner Einschätzung nach für den Regelungsbereich des Edikts der kurulischen Ädile96. Soweit das staatliche Recht97 derartige Aufklärungspflichten statuiert, steht es mit den Anforderungen der fides und damit auch der lex naturae in Einklang und darf darum als ius civile ductum a natura bezeichnet werden98. Hier wird ganz deutlich, dass die lex naturae soweit als möglich ins ius civile rezipiert werden soll und dass nach Ciceros Einschätzung in bestimmten Bereichen der Rechtsordnung eine derartige Rezeption bereits erfolgt ist99.
D. Ausblick Die juristischen Quellen lassen erkennen, dass im ersten und zweiten Jahrhundert n. Chr. eine Einstandspflicht des Verkäufers, der wissentlich Mängel der Kaufsa94 95 96
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So bereits off. 3.16.65. Dazu näher schon oben A III. Als weiteren Beleg für eine solche „eticizzazione“ des Rechts hätte Cicero an dieser Stelle erneut (s. dazu schon off. 3.14.58 ff.) auf die Schaffung der actio de dolo und der exceptio doli hinweisen können, s. dazu Franz Horak, Etica della giurisprudenza, in: Dario Mantovani (Hrsg.), Per la storia del pensiero giuridico romano, Turin 1996, S. 163, 179. Dagegen ist das Beispiel der ädilizischen Klagen weniger prägnant, weil hier auch der gutgläubige Verkäufer zur Anzeige bestimmter Mängel verpflichtet war, wie Cicero selbst betont (qui scire debuit), s. dazu nur Giambattista Impallomeni, L’editto degli edili curuli, Padua 1955, S. 19; Kaser, Römisches Privatrecht, Bd. 1, S. 560 u. Fn. 52. Möglicherweise will Cicero hier zum Ausdruck bringen, dass das ädilizische Edikt hier dem oft vorliegenden, aber mitunter nicht beweisbaren dolus des Verkäufers einen Riegel vorschiebt (so Georg Thielmann, „Actio redhibitoria“ und zufälliger Untergang der Kaufsache, in: Studi in onore di Edoardo Volterra, Bd. 1, Mailand 1971, S. 487, 518 f.), möglicherweise hat er es hier aber auch – ebenso wie bei der Einbeziehung des furtum in den Kreis der anzeigepflichtigen Mängel (s. off. 3.17.71 gegenüber dem korrekten Referat in off. 3.23.93) – juristisch „nicht so genau genommen“; s. dazu Jakab, Praedicere und cavere, S. 132 Fn. 50. Gemeint ist hier mit ius civile das staatliche Recht in seiner Gesamtheit, also unter Einschluss des ius gentium, so richtig Herbert Wagner, Studien zur allgemeinen Rechtslehre des Gaius, Zutphen 1978, S. 130 f. In der Tendenz ebenso, aber zurückhaltender Nörr, Rechtskritik, S. 42 f. u. Fn. 200, wonach Cicero diesen Gleichklang „beifällig vermerkt“. Treffend Aldo Schiavone, Nascita della giurisprudenza, Rom 1976, S. 144 ff.; Franz Horak, Rezension Schiavone, in: ZRG Rom. Abt. 95 (1978), S. 402, 419, wonach hier aus einem moralischen Wert (fides) eine Rechtsfigur (bona fides) entsteht.
Ethik und Recht in Cicero, de officiis 3.12.50 ff.
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che dem Käufer verschwiegen hatte, von den Juristen anerkannt war100; teilweise wurde sogar noch weitergehend eine (beschränkte) Einstandspflicht auch des gutgläubigen Verkäufers für Sachmängel erwogen101. Die klassische Jurisprudenz hat also Ciceros Forderung nach mehr fides im Privatrecht umgesetzt; dass seine Schrift de officiis einen Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet hat, ist nicht fern liegend, muss aber Spekulation bleiben102. Außer Frage steht dagegen die – vom Jubilar immer wieder zu Recht betonte – Notwendigkeit, bei der Bestimmung des Inhalts und Umfangs von Rechtspflichten deren ethische Grundlagen in den Blick zu nehmen103.
100 101 102
103
S. dazu schon die Nachweise oben Fn. 22. So etwa von Julian in D 19.1.13 pr., D 18.1.45, dem die Späteren folgen. Zur Bedeutung ethisch „richtigen“ Verhaltens (und damit auch der Beschreibung solchen Verhaltens) für die Normbildung treffend Dieter Nörr, Ethik und Recht im Widerstreit, in: Martin Josef Schermaier (Hrsg.), Ars boni et aequi, Festschrift für Wolfgang Waldstein zum 65. Geburtstag, Stuttgart 1993, S. 267, 284. S. dazu aus dem reichen Schrifttum des Jubilars nur Adolf Laufs, Berufsfreiheit und Persönlichkeitsschutz im Arztrecht, 1982, passim; ders., Die künstliche Befruchtung beim Menschen, in: JZ 1986, S. 760, 770; ders., Fortpflanzungsmedizin und Arztrecht, 1992, S. 29 ff.; ders., in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 4, Rdnr. 11.
Enzyklopädie und geschichtliche Rechtswissenschaft Johann Stephan Pütters juristische Enzyklopädie und Methodologie und die Entstehung der geschichtlichen Rechtswissenschaft Arno Buschmann Juristische Enzyklopädien sind in der bisherigen Forschung zur Geschichte der Rechtswissenschaft eher stiefmütterlich behandelt worden. Soweit ersichtlich hat der Verfasser dieser Zeilen erstmals im Jahre 1969 – allerdings an für Rechtshistoriker etwas entlegener Stelle – auf diese Literaturgattung und deren Bedeutung für die Entwicklung der Rechtswissenschaft aufmerksam gemacht1. In der Folgezeit haben sich Klaus Volk, Jan Schröder, Heinz Mohnhaupt, Rainer Maria Kiesow entweder mit einzelnen Aspekten dieser Literaturgattung beschäftigt oder – wie Klaus Volk – mit einem einzelnen enzyklopädischen Werk2. Auch in der philosophiegeschichtlichen Forschung hat man begonnen, sich im Rahmen der Geschichte der Enzyklopädie der Erforschung der juristischen Enzyklopädien – wenn auch unter anderer Fragestellung – zuzuwenden. So hat Ulrich Dierse in seiner Untersuchung über die Begriffsgeschichte der Enzyklopädie den juristischen Enzyklopädien einen kurzen Abriß über deren geschichtliche Entwicklung gewidmet, ohne allerdings näher auf deren Bedeutung für die Entwicklung der Rechtswissenschaft einzugehen3. In allen diesen Untersuchungen wird – wenn auch mit unterschiedlicher Intensität – immer wieder auf Johann Stephan Pütters juristische Enzyklopädie hingewiesen. Nicht wenige Autoren sehen in ihr geradezu den „Vorreiter“ für diese wichtige Literaturgattung der Rechtswissenschaft des 18. und 19. Jahrhunderts, 1
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Arno Buschmann, Enzyklopädie und Jurisprudenz, AKG 51 (1969), S. 296 ff.; ders., Rechtsenzyklopädie, HRG IV (1986), Sp. 284 ff. Klaus Volk, Die juristische Enzyklopädie des Nikolaus Falck, Berlin, München 1970 (Schriften zur Rechtstheorie, 23), pass.; Jan Schröder, Wissenschaftstheorie und Lehre der „praktischen Jurisprudenz“ auf deutschen Universitäten an der Wende zum 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1979 (Ius Commnune, Sonderhefte 11), pass., insbes. S. 105 ff.; Heinz Mohnhaupt, Recht, Natur und Geschichte als Argument, Quelle und Autorität in deutschen Rechtsenzyklopädien des 18. und 19. Jahrhunderts, in: François Kervigan, Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Recht zwischen Natur und Geschichte, Frankfurt/M. 1997 (Ius Commune, Sonderhefte 100), S. 73 ff., insbes. S. 76 ff.; Rainer Maria Kiesow, Das Ganze lebt überhaupt nicht mehr, in: RJ 16 (1997), S. 471 ff.; Heinz Mohnhaupt, Methode und Ordnung der Rechtsdisziplinen und ihrer „Hilfswissenschaften“ in den Rechtsenzyklopädien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts, in: ZNR 21 (1999), S. 85 ff. Ulrich Dierse, Enzyklopädie, Bonn 1977 (Archiv für Begriffsgeschichte, Supplementheft 2), pass., insbes. S. 78 ff.
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Arno Buschmann
die erst mit Beginn des 20. Jahrhunderts verschwand, als sie durch die weniger anspruchsvolle Gattung der Einführung in die Rechtswissenschaft ersetzt wurde. Für manche ist Pütters Werk, das im Verhältnis zu seinen großen staatsrechtlichen Werken von eher bescheidenem Umfang ist, geradezu das Muster aller nachfolgenden Darstellungen, wobei freilich vielfach vergessen wird, daß auch Pütter nicht ohne Vorbild war4. Vorbild für ihn war kein geringerer als Leibniz, der schon Ende des 17. Jahrhunderts in seiner berühmten Reformschrift „Nova methodus discendae docendaeque iurisprudentiae“ den Entwurf einer enzyklopädischen Darstellung der Jurisprudenz veröffentlicht hatte, der allerdings zum Zeitpunkt seines Erscheinens ohne Wirkung blieb5. Was bisher nicht untersucht wurde, ist die Frage, welche Rolle die juristischen Enzyklopädien und bei diesen vor allem Pütters Schrift bei der Entstehung und Ausbildung der geschichtlichen Rechtswissenschaft am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts gespielt haben. Immerhin haben sie wesentlich dazu beigetragen, daß sich die Rechtswissenschaft ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als eine geschlossene Wissenschaft präsentierte, in der die Beschäftigung mit der Geschichte des Rechts als ein notwendiger Bestandteil der Rechtswissen-
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Auf die Bedeutung von Pütters juristischer Enzyklopädie ist in den Darstellungen zur Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft schon früh hingewiesen worden. Vgl. Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft III 1, München, Leipzig 1898 (Neudrucke Aalen 1957 u. ö.), S. 337 f. Eine ausführliche Würdigung findet sich bei Wilhelm Ebel, Der Göttinger Professor Johann Stephan Pütter aus Iserlohn, Göttingen 1975 (Göttinger Rechtswissenschaftliche Studien, Bd. 95), S. 61 ff. Zu Pütters juristischer Enzyklopädie als Grundlage des Lehrprogramms zuletzt Christoph Link, Johann Stephan Pütter, in: Fritz Loos (Hrsg.), Rechtswissenschaft in Göttingen, Göttingen 1987 (Göttinger Universitätsschriften, Bd. 6), S. 75 ff., insbes. S. 80. Zu Leibniz’ „Nova Methodus“ vgl. zuletzt Arno Buschmann, Leibniz als juristischer Reformer in Mainz 1667-1672, in: Peter Claus Hartmann (Hrsg.), Die Mainzer Kurfürsten des Hauses Schönborn als Reichserzkanzler und Landesherren, Frankfurt/M. u. a. 2002 (Mainzer Studien zur Neueren Geschichte, 10), S. 159 ff. Über Hugos Rolle bei der Entstehung der geschichtlichen Rechtswissenschaft vgl. zuletzt Arno Buschmann, Estor, Pütter, Hugo. Zur Vorgeschichte der Historischen Rechtsschule, in: Thomas Gergen (Hrsg.), Vielfalt und Einheit in der Rechtsgeschichte, Köln, Berlin, München 2004 (Annales Universitatis Saraviensis, Bd. 136), S. 74 ff., insbes. S. 93 ff. m.w.N.; zu Hugos Geschichtsverständnis des Römischen Rechts auch Okko Behrends, Gutav Hugo, in: Okko Behrends (Hrsg.), Edward Gibbons Historische Übersicht des Römischen Rechts, Göttingen 1996, S. 159 ff., insbes. S. 198 ff. Zum Ganzen nach wie vor grundlegend Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967 (2. unveränderter Nachdruck Göttingen 1996), S. 348 ff.; ferner Karl Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, hier zitiert nach der 2. Aufl., Berlin, Heidelberg, New York 1969 (Enzyklopädie der Rechts- und Staatswissenschaft, Abt. Rechtswissenschaft), S. 9 ff. Für Hugo vgl. auch Arno Buschmann, Ursprung und Grundlagen der geschichtlichen Rechtswissenschaft, Münster/Westf. 1963, pass. und Wilhelm Ebel, Gustav Hugo, Professor in Göttingen, Göttingen 1964 (Göttinger Universitätsreden, 45), pass.
Enzyklopädie und geschichtliche Rechtswissenschaft
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schaft erschien, und nicht, wie dies zuvor der Fall war, als eine unter vielen juristischen Gegenständen und Disziplinen. Was die geschichtliche Rechtswissenschaft betrifft, so wird ihre Entstehung und Ausbildung regelmäßig mit den Namen Gustav Hugo und Friedrich Carl von Savigny in Verbindung gebracht6. Hugo, so läßt sich eine verbreitete Meinung zusammenfassen, war der Vorläufer der geschichtlichen Rechtswissenschaft, auf den die methodische Grundlage der geschichtlichen Rechtswissenschaft, nämlich das Prinzip der Verbindung von systematischer und historischer Methode, zurückging, während Savigny – von dieser Grundlage ausgehend – deren Programm formulierte, es mit romantischem Geschichtsverständnis verband und zum methodologischen Credo der von ihm und Eichhorn begründeten Historischen Rechtsschule erhob, von der die gesamte Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts entscheidend bestimmt worden ist7. Tatsächlich sind die ersten Anfänge der geschichtlichen Rechtswissenschaft jedoch schon wesentlich früher zu beobachten. Längst ist in der rechtshistorischen Forschung erkannt, daß die Begriffs- und Systembildung der geschichtlichen Rechtswissenschaft nicht von dieser selbst stammt, sondern auf das Natur- und Vernunftrecht des 18. Jahrhunderts zurückgeht und auch die Hinwendung zur Geschichte des Rechts nicht erst mit der Entstehung der Historischen Rechtsschule im 19. Jahrhundert begann, sondern unter dem Einfluß der französischen Aufklärung, namentlich von Montesquieu, bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzte. Man weiß heute, daß die ersten Ansätze bereits in der sog. Göttinger Historischen Schule der Mitte des 18. Jahrhunderts nachweisbar sind, wenn auch noch nicht in jener Form und mit jener Betonung, wie sie sich später in der Historischen Rechtschule zeigen8. Stets wird in diesem Zusammenhang neben anderen
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Aus der umfangreichen Literatur über Savigny seien neben Wieackers nach wie vor wegweisender Darstellung, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 368 ff. vor allem Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., 1963, S. 467 ff. mit ausführlicher Bibliographie, Joachim Rückert, Idealismus, Jurisprudenz und Politik bei Friedrich Carl von Savigny, Ebelsbach 1984 (Münchener Universitätsschriften, Juristische Fakultät, Bd. 58), pass., Hans Hermann Jacobs, Die Begründung der geschichtlichen Rechtswissenschaft, Paderborn u. a. 1992 (Rechts- und Staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N.F., Bd. 74), pass. und Dieter Nörr, Savignys philosophische Lehrjahre, Frankfurt/M. 1994 (Ius Commnune, Sonderhefte, Bd. 127), pass. genannt. Vgl. dazu Buschmann, Enzyklopädie und Jurisprudenz, S. 311 m. N. und Dierse, Enzyklopädie, S. 52 ff., insbes. S. 58 f. und 75 ff. Pütter selbst orientierte sich bei seiner Enzyklopädie an Johann Georg Sulzers Schrift Kurzer Begriff aller Wissenschaft und anderen Theilen der Gelehrsamkeit, Frankfurt/M., Leipzig 1745, die eine Zwischenstellung zwischen der bis dahin gängigen Darstellung der Enzyklopädie und der aufklärererischen Theorie einnahm. Vgl. dazu Dierse, Enzyklopädie, S. 39 ff. Zu den Anfängen der historischen Betrachtungsweise im 18. Jahrhundert vgl. auch Carlo Antoni, Der Kampf wider die Vernunft, Stuttgart 1951, S. 179 ff. Schon vorher hatte Hans Thieme auf die Hinwendung zur Geschichte im 18. Jahrhundert aufmerksam gemacht. Thieme, Die Zeit des späten Naturrechts, in: ZRG Germ. Abt. 56 (1936), S. 202 ff.; wieder ab-
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Arno Buschmann
auch Pütters Name genannt und hierbei vor allem auf dessen juristische Enzyklopädie hingewiesen und hervorgehoben, daß diesem Werk eine wichtige Rolle bei der geschichtlichen Begründung des Rechts zukomme, auf die sich vor allem Hugo immer wieder bezogen habe9. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, diese Rolle von Pütters juristischer Enzyklopädie des Näheren zu untersuchen und eine Antwort auf die Frage zu finden, welchen Beitrag sie bei der Begründung der geschichtlichen Rechtswissenschaft tatsächlich geleistet hat. Insbesondere soll versucht werden zu klären, welcher Begriff von der Jurisprudenz in ihr entwickelt wurde, welche Stelle sie der Beschäftigung mit der Geschichte des Rechts innerhalb der Rechtswissenschaft einräumte und inwieweit vor allem die Verbindung von systematischer und historischer Methode als methodisches Grundprinzip in ihr bereits formuliert worden ist.
I. Bevor auf Pütters Enzyklopädie im einzelnen eingegangen werden kann, muß nach den Umständen gefragt werden, die zu ihrer Abfassung geführt haben. Äußerer Anlaß waren nicht Pütters Vorstellungen von einer Reform der Jurisprudenz, sondern das Verlangen des Schöpfers und ersten Kurators der Göttinger Universität, des hannoverschen Ministers Adolf Freiherr von Münchhausen, daß in allen Fakultäten, namentlich in der juristischen Fakultät, sog. „collegia praeparatoria“, also eine Art Übersichtsvorlesungen, gehalten werden, in denen sämtliche Gegenstände eines Studiums in einer geschlossenen Form behandelt und vorgetragen werden sollten. Schon bei der Gründung der Universität im Jahre 1737 hatte v. Münchhausen dies verfügt, wohl, wie Wilhelm Ebel vermutet, in Erinnerung an die Planlosigkeit seines eigenen juristischen Studiums, das noch ganz in den traditionellen Bahnen verlaufen war und dessen Anlage er als äußerst mangelhaft empfunden hatte10. Ob dies der alleinige Grund für diese Maßnahme war, ist freilich zu bezweifeln. Tatsächlich dürften sich hier nicht zuletzt auch die Ideen der Aufklärung und der enzyklopädischen Bewegung bemerkbar gemacht haben, deren Ziel in der systematischen Zusammenfassung und Darstellung allen Wissens bestand und die ab der Mitte des 18. Jahrhunderts in der französischen Enzyklopädie von D’Alembert und Diderot ihren signifikantesten Ausdruck gefunden hatten11. In Erfüllung des ministeriellen Verlangens hatte in der juristischen Fakultät zunächst Johann Jacob Schmauß, Pütters Vorgänger als Ordinarius des „ius publi-
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gedruckt in: Gesammelte Schriften, Bd. 2, Köln, Wien 1986 (Forschungen zur Neueren Privatrechtsgeschichte, Bd. 25/II), S. 633 ff. Vgl. dazu vor allem Ebel, Pütter, S. 69 ff. Ebel, Pütter, S. 41. Zur enzyklopädischen Bewegung des 18. Jahrhunderts vgl. etwa Fritz Schalk, Enzyklopädismus, in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2 (1972), Sp. 573 ff.
Enzyklopädie und geschichtliche Rechtswissenschaft
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cum“, seit 1737 eine solche Vorlesung unter dem Titel „collegium iuris praeparatorium“ gehalten, übrigens mit wenig Erfolg, wie berichtet wird. 1757 erneuerte v. Münchhausen seine Anordnung, deren Ausführung diesmal Pütter übertragen wurde. Pütter verfaßte daraufhin für die Hörer seiner Vorlesung eine kleine Schrift mit dem Titel „Entwurf einer juristischen Encyclopädie“, die er mit zwei „Zugaben“ versah, die unter anderem umfangreiche Verzeichnisse von Rechtsquellen enthielten. 10 Jahre später erweiterte er die Schrift um eine Methodologie und ließ sie unter dem Titel „Neuer Versuch einer Juristischen Encyclopädie und Methodologie“ erscheinen, wiederum versehen mit Zugaben, diesmal mit deutlich vermehrten Rechtsquellenverzeichnissen, wobei namentlich Johann Heinrich von Selchow, der bekannte Vertreter des „Ius Germanicum“, Pütter eine Fülle von Quellen benannt hatte, wie dieser selbst bekundete12. Allein das Verzeichnis der „Land- und Stadtgesetze“ war auf diese Weise auf nicht weniger als 524 Titel angewachsen. Außerdem hatte Pütter dem Ganzen auch Verzeichnisse von Erläuterungswerken zu den angeführten Quellen, ferner eine Liste von Urkunden und schließlich eine Auswahl von Titeln der wichtigsten juristischen Literatur angefügt. Pütter selbst hat dieser Schrift offensichtlich keine so große Bedeutung beigemessen, wie dies in der späteren Forschung geschehen ist. In seiner Selbstbiographie, in der er ansonsten ausführlich über seine Lehrtätigkeit und die daraus hervorgegangenen Werke berichtet, findet sich nur der kurze Hinweis, daß die Abhaltung der enzyklopädischen Lehrveranstaltungen ihm Veranlassung gegeben hätte, für seine Hörer 1757 den Entwurf einer juristischen Enzyklopädie und 1767 neuerlich den Versuch einer juristischen Enzyklopädie und Methodologie zu verfassen13. Ausführlichere Nachrichten über das Werk und die ihm zugrundeliegende Zielsetzung finden sich dagegen in der Vorrede der Ausgabe von 1767. Dort wird nicht nur berichtet, daß die erste Ausgabe in aller Eile angefertigt wurde, sondern daß die neue erweiterte Ausgabe wegen der großen Nachfrage der „angehenden Rechtsgelehrten“ unternommen und mit einer Zusammenstellung „einer juristischen Bibliothek“ – gemeint ist eine Bibliographie – und einem Verzeichnis der eigenen Schriften versehen worden sei. In dieser Vorrede benennt Pütter auch den eigentlichen Zweck seiner Enzyklopädie, nämlich „eine ganze Wissenschaft“ sowohl „in richtigen Begriffen und Grundsätzen als in der richtigen Ordnung zu fassen“, mit anderen Worten, sie als geschlossenes System von Begriffen und Prinzipien darzustellen14. Wilhelm Ebel hat aus diesem Ausspruch gefolgert, daß es Pütter vornehmlich um die richtige Ordnung innerhalb der Rechtswissenschaft gegangen sei, wie dies v. Münchhausen offenbar mit seiner Anordnung vorschwebte. Die juristischen Begriffe und Grundsätze sollten in der richtigen Ord12
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Entwurf einer Juristischen Encyclopädie, nebst etlichen Zugaben, Göttingen 1757, 110 Seiten Oktav; Neuer Versuch einer Juristischen Encyclopädie und Methodologie, nebst etlichen Zugaben, Göttingen 1767, 254 Seiten Oktav, Neudruck mit einer Einleitung von Bernhard Scherl, Hildesheim 1998 (Historia Scientiarum). Johann Stephan Pütter, Selbstbiographie, 1. Bd., Göttingen 1798, S. 211. Pütter, Neuer Versuch, Vorrede a. E.
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nung präsentiert werden, um auf diese Weise ein geordnetes juristisches Studium zu ermöglichen15. In Wirklichkeit ging Pütters Absicht jedoch wesentlich weiter. Für ihn kam es nicht nur darauf an, die verschiedenen juristischen Gegenstände und Disziplinen für den akademischen Unterricht in der richtigen Ordnung darzustellen, sondern vor allem darauf, ihren systematischen Zusammenhang sichtbar zu machen. Jeder Gegenstand und jede juristische Disziplin sollte als Teil eines Ganzen erwiesen werden, in diesem seinen systematischen Ort erhalten und danach „in der Ordnung abgehandelt“ werden, in der er „am natürlichsten anderen folget oder vorhergehet“16. Pütter geht es also nicht bloß um die richtige Ordnung , sondern um die systematische Erfassung der juristischen Gegenstände und Disziplinen in ihrer Gesamtheit. Erst in zweiter Linie galt sein Bemühen der richtigen Ordnung bei deren Behandlung im akademischen Unterricht. Der systematische Zusammenhang war für Pütter die Grundlage für die richtige Ordnung bei der Behandlung im juristischen Studium. Den ersteren darzustellen sei Aufgabe der Enzyklopädie, die richtige Ordnung bei der Behandlung der einzelnen Gegenstände im juristischen Unterricht dagegen Sache der Methodologie. Beide müßten zwar einerseits getrennt, anderseits aber aufeinander folgend dargestellt und daher auch in einer Schrift behandelt werden17. Diese Konzeption liegt vor allem der zweiten Ausgabe von Pütters Schrift zugrunde. Von ihr ist im folgenden auszugehen, nicht zuletzt, weil von dort ihre eigentliche Wirkung in der Folgezeit ausgegangen ist. Sie ist daher auch für die Antwort auf die Frage nach Pütters Beitrag bei der Entstehung und Ausbildung der geschichtlichen Rechtswissenschaft heranzuziehen, zunächst für die Begründung der überlieferten Jurisprudenz als Wissenschaft, sodann für deren Bezug zur Geschichte18.
II. Zu beginnen ist mit Pütters Begriffen von Wissenschaft und Enzyklopädie. Beide sind für Pütter grundlegend für das Verständnis von Rechtswissenschaft, aber auch von deren enzyklopädischer Darstellung. Danach ist Wissenschaft im allgemeinsten Sinne des Wortes die durch einen gemeinsamen Zweck bestimmte Verbindung von einzelnen Erkenntnissen zu einem systematischen Ganzen. Als solche bildet sie einen Teil des gesamten menschlichen Wissens, wobei wiederum einzelne Teile zu einer eigenen „Hauptwissenschaft“ verbunden werden können. 15
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Vgl. Ebel, Pütter, S. 41 ff. Etwas anders die Einschätzung bei Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft III 1, S. 337, der das hauptsächliche Ziel Pütters bei der Enzyklopädie in der sauberen Sonderung der Rechtsmassen, in der Methodologie dagegen in den Vorschlägen zur Reform des juristischen Studiums sieht. Pütter, Neuer Versuch, S. 3 f., insbes. S. 4 Pütter, Neuer Versuch, S. 1 f. Pütter, Neuer Versuch, S. 3 f.
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Alle Wissenschaften zusammen bilden ein systematisches Ganzes, mit dem „das weite Feld der Gelehrsamkeit“ ausgeschöpft wird, sofern nicht die Grenzen der menschlichen Erkenntnis überschritten werden19. Aus diesem umfassenden Begriff der Wissenschaft ergibt sich für Pütter auch der Begriff der Enzyklopädie. Enzyklopädie ist jene Wissenschaft, die sich mit der systematischen Verbindung der einzelnen Teile der Wissenschaft in ihrer Gesamtheit, aber auch einzelner Wissenschaften untereinander beschäftigt. Enzyklopädie ist demnach jene Form der Darstellung, in der die Wissenschaft als Ganzes erscheint. Pütter unterscheidet hierbei zwischen allgemeiner und besonderer Enzyklopädie. Gegenstand der ersteren ist die systematische Verbindung aller Wissenschaften schlechthin, Gegenstand der letzteren die Verbindung zwischen einzelnen durch einen gemeinsamen Zweck miteinander verbundenen Wissenschaften. Ohne Enzyklopädie gibt es für Pütter keine systematische Darstellung einer Wissenschaft. Enzyklopädie ist die äußere Erscheinungsform einer systematisch organisierten Wissenschaft. Zu den besonderen Enzyklopädien gehört die juristische Enzyklopädie. Ihr Gegenstand ist die systematische Verbindung sämtlicher Wissenschaften, die sich mit dem Recht beschäftigen, ihre Aufgabe, diese in ihrer Gesamtheit zu erfassen und systematisch darzustellen. Sämtliche juristischen Disziplinen sollen in ein systematisches Verhältnis zueinander gebracht und eine Rangordnung unter ihnen hergestellt werden. Die juristische Enzyklopädie ist demnach für Pütter jene Wissenschaft, in der das Gesamtsystem aller juristischen Gegenstände und Disziplinen entwickelt wird20. Ausgangspunkt ist hierbei, wie schon zuvor bei der Bestimmung von Wissenschaft und Enzyklopädie, wiederum der Begriff, in diesem Fall der Begriff der Rechtswissenschaft. Rechtswissenschaft ist, so lautet Pütters Definition, die Wissenschaft von Rechten und Pflichten, deren Erfüllung mit Zwangsgewalt herbeigeführt werden kann. Pflichten, bei denen keine Zwangsgewalt stattfindet, sind für ihn nicht Gegenstand der Rechtswissenschaft und gehören nicht zu deren Begriff. Sie gehören ebensowenig zum Begriff der Rechtswissenschaft wie jene, deren Erfüllung aus Gründen der Klugheit erfolgt. Die ersteren sind Gegenstand der Moral und der Moralwissenschaft, die letzteren in erster Linie Sache der „Privatoder Staatsklugheit“21. Beide haben zwar Beziehungen zur Rechtswissenschaft, sind jedoch nicht als deren Bestandteile anzusehen. Die Begriffsbestimmung als solche war nicht neu. Pütter entnahm sie der Natur- und Vernunftrechtslehre, namentlich der Lehre Christian Wolffs, den Pütter während seines Studiums in Marburg als akademischen Lehrer selbst erlebt hatte22. Dieser Begriff der Rechtswissenschaft ist für Pütter die Grundlage des enzyklopädischen Systems der juristischen Gegenstände und Disziplinen und damit der gesamten Rechtswissenschaft. Aus ihm resultiert deren systematischer Zusammenhang und deren Rangordnung, übrigens auch jener Disziplinen, die nur indi19 20 21 22
Pütter, Neuer Versuch, S. 2 ff., insbes. S. 3 f. Pütter, Neuer Versuch, S. 3. Pütter, Neuer Versuch, S. 7. Pütter, Selbstbiographie, 1. Bd., S. 28 f.
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rekt Bezug zum Recht haben. Er steht an der Spitze einer logisch-systematischen Pyramide, als die sich für Pütter der Zusammenhang der einzelnen juristischen Disziplinen darstellt. Anders als bis dahin üblich sieht Pütter die einzelnen juristischen Disziplinen, ob es sich nun um Staatsrecht, Privatrecht, Römisches Recht, einheimisches Deutsches Recht, Kanonisches Recht handelt, nicht als eigenständige Wissenschaften an, sondern als Teile einer einheitlichen systematischen Wissenschaft, deren Ordnung zugleich die Grundlage für das juristische Studium bildet. Bestimmend hierfür sind für Pütter jedoch nicht nur die Rechte und Pflichten als solche, sondern vor allem die Gründe für deren Verbindlichkeit. Es sind dies im wesentlichen zwei, nämlich einmal der Wille Gottes und zum anderen der menschliche Wille. Beide bilden die Grundlagen sowohl für die Rechtswissenschaft im Ganzen wie für die juristischen Disziplinen im einzelnen wie für deren systematischen Zusammenhang. Sie sind die obersten Grundsätze für die Rechtswissenschaft und ihr System. Für Pütter ist die Jurisprudenz in ihrer traditionellen Form damit zu einer systematischen Wissenschaft geworden, zur Rechtswissenschaft statt einer Rechtsgelehrsamkeit, wie der deutsche Ausdruck für Jurisprudenz in der zeitgenössischen Lehre und Literatur hieß. Wichtigster Grund ist zunächst der Wille Gottes im weitesten Sinne. Er liefert die Grundlage für die Verbindlichkeit aller Rechte und Pflichten schlechthin. Ohne den Willen Gottes läßt sich für Pütter keine Verbindlichkeit der Rechte und Pflichten denken. Der Wille Gottes bestimmt, was Recht und Unrecht ist. Auf ihm beruht daher für Pütter die Rechtswissenschaft in ihrer Gesamtheit und aus ihm leitet sich letztlich der systematische Zusammenhang aller juristischen Materien und Disziplinen her. Als dieser umfassende Grund ist Gottes Wille die Grundlage auch für jene wissenschaftliche Disziplin, die als die eigentliche Grundwissenschaft innerhalb der Rechtswissenschaft zu betrachten ist, nämlich für das Naturrecht. Ohne den göttlichen Willen und dessen Herrschaft sei das Naturrecht nicht denkbar, meint Pütter. Als Grundwissenschaft sei das Naturrecht zwar auch ein Teil der Philosophie, gleichwohl aber die Grundlage aller juristischen Disziplinen, weil es deren wichtigste Grundsätze enthalte. Den Begriff des Naturrechts entnimmt Pütter der Lehre Christian Wolffs. Danach ist das Naturrecht die allgemeine Wissenschaft von den Rechten und Pflichten des Menschen, zunächst in dessen Naturzustand, d. h. als Individuum, sodann in der Verbindung mit anderen Menschen, d. h. als Mitglied menschlicher Gemeinschaften, und schließlich in seiner Stellung im Staat als des Zusammenschlusses der Menschen unter einer gemeinsamen Herrschaftsgewalt zu ihrer eigenen Erhaltung und Wohlfahrt. Aus ihm ergeben sich die allgemeinen Grundsätze des Staatsrechts, d. h. das „ius publicum universale“, und des Völkerrechts, d. h. das „ius gentium universale“. Beide enthalten wiederum die allgemeinen Grundsätze des Rechts und der Rechtswissenschaft, die allen weiteren Disziplinen zugrunde liegen23. Als göttlicher Wille ist er auch die Grundlage für die Wissenschaft vom geoffenbarten göttlichen Recht, also jener Materie, die in der vernunftrechtlichen Leh23
Pütter, Neuer Versuch, S. 10 ff.
Enzyklopädie und geschichtliche Rechtswissenschaft
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re als „ius divinum positivum“ bezeichnet wurde. Sie rangiert für Pütter entsprechend der Vernunftrechtslehre direkt nach dem Naturrecht als Grundwissenschaft des Rechts. Wichtigster Bestandteil sind die Gesetze des Volkes Israel, namentlich die Mosaischen Gesetze, die wegen der Bedeutung des Volkes Israel für die Christenheit als allgemeine Gesetze und daher als allgemeingültige und schriftlich fixierte göttliche Gesetze, als „leges divinae positivae universales“ angesehen werden müssen24. Als echtes Kind der Aufklärung rechnet Pütter jedoch auch falsche oder vermeintliche göttliche Offenbarungen wie etwa den Talmud oder „heidnischgöttliche Erdichtungen“ zu den unmittelbaren Äußerungen des geoffenbarten göttlichen Willens. In einer auf lückenlose systematische Darstellung der Rechtswissenschaft angelegten juristischen Enzyklopädie dürften auch diese nicht unerwähnt bleiben und müßten zum Bestand des geoffenbarten göttlichen Rechts gerechnet werden, da auch sie als Begründung von Rechten und Pflichten dienen könnten25. Die zweite Grundlage für die allgemeine Verbindlichkeit des Rechts, der menschliche Wille, geht zwar in letzter Konsequenz auch auf den göttlichen Willen zurück, ist jedoch für Pütter ein eigener Grund26. Auf ihn läßt sich das gesamte positive Recht zurückführen. Seine Erscheinungsformen sind Willensübereinkünfte und Verträge. Das gilt vor allem für das Völkerrecht, das in seiner Gesamtheit auf solchen Übereinkünften beruht, und zwar auf Übereinkünften zwischen den einzelnen Staaten, trifft aber auch für das Staatsrecht zu, das auf einen Grundvertrag aller seiner Untertanen zurückzuführen ist, der sowohl den Zusammenschluß zu einem Staat wie die Unterwerfung unter eine einheitliche Herrschaftsgewalt regelt. Dieses „pactum fundamentale unionis et subiectionis“ ist für Pütter die eigentliche Grundlage des jeweiligen positiven Rechts in einem Staat. Pütter knüpft hier an die natur- und vernunftrechtliche Lehre von der Begründung des positiven Rechts aus dem Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag an, ohne diese weiter zu erläutern. Was für das positive Recht im Ganzen gilt, läßt sich auch für die einzelnen Gebiete und deren Disziplinen sagen. Auch sie ergeben sich für Pütter letztlich aus der vertragsmäßigen Grundlage, wobei er im einzelnen den überlieferten Begriffen folgt, die ihrerseits dem Römischen Recht entnommen sind. Danach enthält das Staatsrecht die Rechte und Pflichten des gesamten Staates gegenüber den Untertanen, das Privatrecht dagegen die der Untertanen untereinander. Was nicht den Staat im Ganzen betrifft, d. h., was nicht die Ausübung der Herrschaftsgewalt zum Inhalt hat, gehört nicht zum Staatsrecht, sondern ist Gegenstand des Privatrechts, bei dem außerdem zwischen einem theoretischen und einem prozessualen Privatrecht unterschieden werden muß. Das erstere hat die Rechte und Pflichten als solche zum Gegenstand, das zweite deren gerichtliche Erörterung, also den Prozeß27.
24 25 26 27
Pütter, Neuer Versuch, S. 11 ff. Pütter, Neuer Versuch, S. 12. Pütter, Neuer Versuch, S. 13 ff. Pütter, Neuer Versuch, S. 19 ff.
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Auch die einzelnen Rechtsgebiete innerhalb des Privatrechts folgen aus der vertragsmäßigen Grundlage des positiven Rechts, wobei Pütter nach dem Vorbild des Römischen Rechts das Strafrecht zum Privatrecht rechnet, weil auch dieses das Verhältnis der Menschen untereinander betrifft, nicht dagegen die Herrschaftsgewalt des Staates und deren Ausübung. Als Rechtsgebiete, die vom Begriff des Privatrechts mitumfaßt werden, sieht Pütter auch das Standesrecht, das Lehnsrecht, das Recht der Militärpersonen sowie das Kriegsrecht, soweit es die Einzelmenschen betrifft, an28. Für Pütter ist wichtig, daß alle Rechtsgebiete und Disziplinen des positiven Rechts nicht zusammenhanglos nebeneinander bestehen, sondern sich allesamt auf den Grundvertrag und damit auf den Willen des Menschen als gemeinsame Grundlage allen positiven Rechts zurückführen lassen. Auch die faktischen Unterschiede des positiven Rechts der einzelnen Staaten sowohl in geographischer wie in geschichtlicher Hinsicht haben für Pütter im menschlichen Willen ihren letzten Grund. Sie sind eine logische Folge der Tatsache, daß jeder Staat sein eigenes, auf dem jeweiligen eigenen Willen der Untertanen beruhendes positives Recht hat, das seinerseits geschichtlichen Veränderungen unterliegt. Die Unterschiede resultieren daher nicht nur aus der Eigenart der Willensbildung in den einzelnen Staaten, sondern vor allem aus der Verschiedenartigkeit dieser Willensbildung in den einzelnen geschichtlichen Epochen. Auch diese Unterschiede sind demnach eine unmittelbare Konsequenz aus der Tatsache, daß der menschliche Wille die Grundlage allen positiven Rechts ist29. Trotz dieser Verschiedenheit gebe es aber, so Pütter, zwischen den einzelnen positiven Rechten einen inneren Zusammenhang, der einen notwendigen Bestandteil der Wissenschaft des positiven Rechts ausmache. Dies gelte vor allem für das Römische Recht, betreffe aber auch das mosaische und das griechische, ebenso das Kanonische und das mittelalterliche Recht. Auch dieser Zusammenhang ist für Pütter eine Konsequenz aus dem Grundsatz, daß sich alle positiven Rechte aus dem menschlichen Willen ergeben30. All dies gilt vor allem für das positive Recht in „Teutschland“, d. h. im Deutschen Reich. Auch dessen Unterschiede sind für Pütter die logische Folge der Tatsache, daß jede Nation und jede Zeit ihr eigenes „willkürliches“, d. h. auf dem eigenen Willen beruhendes Recht hat. Hier ergeben sie sich vor allem aus der spezifischen Natur der deutschen „Staatsverfassung“ und deren Veränderungen. Für Pütter ist die Staatsverfassung des Deutschen Reiches zweigeteilt, nämlich in die Verfassung des Reiches als Gesamtstaat und der Einzelstaaten. Entsprechend gibt es für ihn auch zwei Rechtsgebiete, nämlich einmal das Recht des Reiches als Gesamtstaat und zum anderen das Recht der Einzelstaaten. Für das Privatrecht kommt Pütter noch die Tatsache hinzu, daß in ganz Deutschland das Römische Recht, also ein fremdes Recht gilt, das man irrtümlich für ein eigenes Recht gehalten und daher als allgemein geltendes Recht in Deutschland angenommen habe. Doch auch wenn das Römische Recht wegen seiner Vorzüge, namentlich wegen der Vollständigkeit und Gründlichkeit seiner Regelungen, vielfach allgemeine 28 29 30
Pütter, Neuer Versuch, S. 20 ff. Pütter, Neuer Versuch, S. 22 ff. Pütter, Neuer Versuch, S. 30 f.
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Anerkennung erfahren habe, gebe es doch wegen der Unterschiede der dem Römischen Recht zugrundeliegenden staatlichen Verhältnisse zahlreiche Rechtsverhältnisse in Deutschland, die sich nicht aus dem Römischen Recht, sondern nur aus dem einheimischen Deutschen Recht herleiteten. Pütter folgert daraus die Notwendigkeit, daß Römisches Recht und einheimisches Deutsches Recht sorgfältig voneinander getrennt und gesondert behandelt werden müssen, wobei das einheimische Recht der deutschen Einzelstaaten für ihn notwendig den Vorrang vor dem Römischen Recht hat, weil es auf dem eigenen Willen der Einzelstaaten und deren Untertanen beruht. Seine Anwendung könne sich nicht am Römischen Recht orientieren, sondern müsse sich auf die einheimischen deutschen Rechtsquellen stützen. Zum Bestand des positiven Rechts in Deutschland zählen für Pütter auch das Kanonische Recht, das evangelische Kirchenrecht, das partikulare und das allgemeine Lehnrecht sowie zahlreiche weitere Rechtsmaterien, von denen Pütter vor allem das Privatfürstenrecht hervorhebt. Auch eine Reihe von anderen Rechten gehören für Pütter tatsächlich und begrifflich zum Bestand des positiven Rechts, namentlich solche, die sich aus mehreren juristischen Gegenständen zusammensetzen, wie etwa das Staatskirchenrecht oder das kirchliche Privatrecht, das zum einen dem Kirchenrecht und zum anderen dem Staatsrecht bzw. dem Privatrecht zuzurechnen ist. Sie alle bilden zusammen das positive Recht im Deutschen Reich und seinen Einzelstaaten, stehen in einem systematischen Zusammenhang zur Staatsverfassung des Reiches, teils als Reichsrecht, teils als Recht der Einzelstaaten oder als Rechte, die mit diesen in Zusammenhang stehen. Ihre gemeinsame Grundlage ist für Pütter der menschliche Wille31. Zur systematischen Rechtswissenschaft gehören für Pütter auch solche Wissenschaften, die ihren Ursprung außerhalb haben, wegen ihres Bezuges zum Gegenstand des Rechts jedoch ebenfalls zur Rechtswissenschaft gerechnet werden müssen. Als besonders markantes Beispiel nennt Pütter die Auslegungskunst, die juristische Hermeneutik, die einerseits als Hermeneutik ein Teil der Philosophie ist, anderseits wegen ihrer Fokussierung auf das Recht einen unverzichtbaren Teil der Rechtswissenschaft bildet. Auch andere Disziplinen müssen als Bestandteile für die Rechtswissenschaft reklamiert werden, wenn auch nur im weiteren Sinne. Als Beispiele bezeichnet Pütter die Mathematik, die wegen der in Rechtstreitigkeiten oft vorkommenden Maße und Berechnungen zur Rechtswissenschaft gehört, ferner die Rechtsmedizin und schließlich auch die theologische Jurisprudenz, unter der Pütter das kirchliche Strafrecht versteht. Sie alle zählen zum Kreis der juristischen Disziplinen und zur juristischen Enzyklopädie32. Zur systematischen Rechtswissenschaft in Pütters Sinne gehören schließlich auch jene Wissenschaften, die sich mit den Voraussetzungen für die Ausübung des Rechts befassen. Hierzu zählt Pütter vor allem die Politik, die sich zwar auf alle Bereiche des menschlichen Lebens bezieht und nur zu einem Teil das Recht und die Rechtswissenschaft berührt, dennoch ein besonderes Gewicht für beide hat und daher ebenfalls zur Rechtswissenschaft hinzugerechnet werden muß. Größte 31 32
Pütter, Neuer Versuch, S. 26 ff. Pütter, Neuer Versuch, S. 42 ff.
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Nähe und größte Bedeutung hat naturgemäß die Justizpolitik, die daher in besonderem Maße zu den juristischen Disziplinen zu rechnen ist. Pütter unterscheidet hier zwischen einer Politik im allgemeinen und der besonderen, auf die spezifischen Bedürfnisse eines Landes abgestellten Politik. Doch nicht nur die Politik reklamiert Pütter für die Rechtswissenschaft, auch die Ökonomie, die Statistik, die Heraldik und die Archivwissenschaft gehören zu den juristischen Disziplinen im weiteren Sinne, weil diese sowohl einen direkten oder indirekten Bezug zur Politik als auch zum Recht und der Rechtswissenschaft zeigen. Bei der Ökonomie ist es die Beschäftigung mit den Ressourcen der staatlichen Tätigkeit, bei der Statistik die Kenntnis der Erfahrungstatsachen, auch solche anderer Staaten, bei der Heraldik die Kenntnis der Symbole von Herrschaft und Staat und bei der Archivwissenschaft die Beschäftigung mit der Aufbewahrung und Erschließung von Urkunden, Akten und sonstigen rechtserheblichen Gegenständen33. Schließlich gehört auch die Wissenschaft von der juristischen Praxis, d. h. die Wissenschaft von der praktischen Anwendung des Rechts auf einzelne im täglichen Leben vorkommende Fälle, sei es vor Gericht, sei es bei Beratung in einzelnen Rechtsstreitigkeiten oder sei es bei der Begutachtung von Rechtsfragen für Pütter zum Bestand der Rechtswissenschaft. Im einzelnen sind dies die Kenntnis der juristischen Sprache und Rhetorik, die Beherrschung des schriftlichen Ausdrucks und vor allem die Kenntnis und Beherrschung der Regeln, die bei der Abfassung von juristischen Schriftstücken und mündlichen Voten und Vorträgen beachtet werden müssen34. Alle diese zuletzt aufgeführten Gegenstände und Disziplinen sind für Pütter Bestandteile der Rechtswissenschaft und gehören zusammen mit dem Naturrecht und dem geoffenbarten göttlichen Recht zum Bestand der systematischen Rechtswissenschaft im umfassenden Sinne. Anders als in der überlieferten Jurisprudenz stehen diese für Pütter jedoch nicht beziehungslos nebeneinander, sondern weisen einen systematischen Zusammenhang auf, der sich aus dem Begriff der Rechtswissenschaft und dessen Grundlage ergibt und sie allesamt als Bestandteile einer einheitlichen und systematischen Wissenschaft des Rechts ausweist. Alle lassen sich auf eine gemeinsame Grundlage zurückführen, so daß auf diese Weise aus den verschiedenen juristischen Gegenständen und Disziplinen eine in sich geschlossene systematische Wissenschaft des Rechts entsteht, die durch die juristische Enzyklopädie sichtbar gemacht wird. Einer der wichtigsten Gegenstände ist hierbei die Geschichte des Rechts, insbesondere die der Staatsverfassung, aber auch der positiven Rechte im einzelnen, die einen notwendigen Bestandteil der Wissenschaft des positiven Rechts darstellen35. Für Pütter sind System und Geschichte des Rechts notwendig miteinander verbunden.
33 34 35
Pütter, Neuer Versuch, S. 45 ff. Pütter, Neuer Versuch, S. 51 ff. Pütter, Neuer Versuch, S. 23.
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III. Wie für die Enzyklopädie spielt die systematische Verbindung der Disziplinen auch für die juristische Methodologie eine entscheidende Rolle. Auch hier geht Pütter von einer Begriffsbestimmung aus, wenn auch nicht in einer so prononcierten Form wie bei der Enzyklopädie. Methodologie ist für Pütter, so lassen sich seine Ausführungen zusammenfassen, die Wissenschaft von der richtigen Ordnung in der Darstellung des systematischen Zusammenhanges der Wissenschaft, namentlich, aber nicht nur, für das Studium36. Voraussetzung sind einige Grundsätze, ohne die eine Darstellung in der richtigen, der „natürlichen Ordnung“ nicht möglich ist. Pütter entnimmt sie der naturund vernunftrechtlichen Lehre, vor allem der „demonstrativischen“ Methode der Wolff’schen Schule. An erster Stelle steht der Grundsatz, daß kein Teil der Wissenschaft behandelt werden darf, ohne daß zuvor dessen Voraussetzungen geklärt sind. Ein zweiter betrifft die Abgrenzung der einzelnen Disziplinen. Jede Disziplin bedarf der genauen Bestimmung und der Abgrenzung gegenüber anderen. Und schließlich ist es erforderlich, daß man jede dieser Disziplinen wie überhaupt das Ganze sorgfältig gliedert und „natürlich“ geordnet darstellt, mit anderen Worten, daß man systematisch von einer Disziplin zur anderen fortschreitet.37 Für die juristische Methodologie bedeutet dies, daß mit dem Naturrecht begonnen werden muß, da es als Grundwissenschaft allen Rechts keine andere Disziplin innerhalb der Rechtswissenschaft zur Voraussetzung hat. Im Rahmen des Studiums der Rechtswissenschaft wäre es allerdings nicht falsch, meint Pütter, wenn man sich am Ende des Studiums noch einmal auf die allgemeinen Begriffe und Grundsätze besinnen würde, weil dann die allgemeinen Begriffe und Grundsätze etwa des Staats- und Völkerrechts doch mit anderen Augen betrachtet werden als am Anfang38. An zweiter Stelle steht für Pütter die Politik, gemeint ist wohl die Rechtspolitik, die ebenfalls keine andere Disziplin der Rechtswissenschaft zur Voraussetzung hat. Ihre Aufgabe ist es, die Grundsätze des positiven Rechts sowohl philosophisch wie historisch zu betrachten und den „Geist der Gesetze“, wie es bei Pütter wörtlich heißt, besser sichtbar zu machen. Montesquieu wird zwar nicht ausdrücklich erwähnt, aber die Bezugnahme ist unübersehbar. Neben den allgemeinen Prinzipien des Rechts sollen auch die Beweggründe des Gesetzgebers, die diesen bei Abfassung der Gesetze und Verordnungen bestimmt haben, deutlich gemacht werden. Für Pütter ist die Politik ähnlich wie das Naturrecht eine Art Grundwissenschaft des positiven Rechts und muß daher aller Beschäftigung mit der Wissenschaft des positiven Rechts notwendig vorangehen39. Auf diese beiden Grundwissenschaften hat für Pütter die systematische Darstellung der Quellen und Inhalte des positiven Rechts zu folgen. Quellen des positiven Rechts sind Gesetze, Verordnungen und das Gewohnheitsrecht oder das Herkom36 37 38 39
Pütter, Neuer Versuch, 55 ff. Pütter, Neuer Versuch, S. 66 ff. Pütter, Neuer Versuch, S. 67 ff. Pütter, Neuer Versuch, S. 67.
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men, bei systematisch entwickeltem Recht außerdem die Analogie, hilfsweise die Begriffe und Grundsätze des Naturrechts. Die Analogie ist für Pütter ein Beispiel dafür, daß in der Rechtswissenschaft auch die philosophische Methode Anwendung findet und Recht erzeugt, indem sie Lücken in den Vorschriften der Rechtsquellen zu schließen versucht. Da Gesetze und Verordnungen zumeist nicht systematisch angelegt sind, ihre Ordnung oftmals zufällig und willkürlich erscheint, ist eine systematische Darstellung ihres Inhaltes erforderlich, um den systematischen Zusammenhang des gesamten positiven Rechts sichtbar zu machen. Dies sei, so Pütter, die Hauptaufgabe der Lehrbücher40. Wichtigste Grundlage für das positive Recht und dessen Wissenschaft ist für Pütter die Geschichte des Rechts, vor allem die „Historie des Staates“, in dem das positive Recht gilt. Ihre Schilderung muß daher aller systematischen Darstellung vorausgehen. Nur die Kenntnis der geschichtlichen Verhältnisse und der Bedingungen, unter denen das positive Recht jeweils entstanden ist, ermöglicht für Pütter dessen gründliche Kenntnis. Dazu gehört für Pütter auch die Geschichte der Gesetze im einzelnen, die ebenfalls der Behandlung des jeweiligen positiven Rechts vorausgehen muß. Überhaupt ist für Pütter die Geschichte das Fundament des positiven Rechts, zu der auch die Geschichte der gelehrten Bearbeitung des Rechts zu rechnen ist, weil diese oftmals großen Einfluß auf die Gestaltung und Anwendung des positiven Rechts ausgeübt hat. Staatsgeschichte, Staatsrechtsgeschichte und Rechtsgeschichte sind demnach für Pütter elementare Bestandteile einer Methodologie des Rechts41. Für die Rangordnung der einzelnen Disziplinen des positiven Rechts gilt für Pütter der Grundsatz, daß das Staatsrecht vor dem Privatrecht zu behandeln ist, weil dieses auf jenem beruhe. Kein Staatsrecht habe das Privatrecht zur Grundlage, wohl aber umgekehrt das Privatrecht das Staatsrecht, da jedes Privatrecht durch das Staatsrecht des Staates, in dem es gelte, bedingt sei42. Eine ähnliche Rangordnung gilt bei der Behandlung der Geschichte des Rechts. Hier hat das ältere Recht den Vorrang vor dem neueren, weil das ältere Recht die Grundlage des neueren ist. Das ältere Recht ist für Pütter die unabdingbare Voraussetzung für das spätere Recht. Bei größeren Zeiträumen müsse die Darstellung der besseren Übersicht halber notwendig in einzelne Abschnitte eingeteilt werden. Das geschichtliche Recht ist für Pütter die Grundlage für das gesamte geltende positive Recht, da jedes spätere Recht auf dem früheren Recht aufbaut. Methodologisch entscheidend ist jedoch die „unvermischte“ Behandlung eines jeden Rechts nach seinen geschichtlichen Ursprüngen. Es müsse ohne „Beimengungen“ von anderen Rechten bearbeitet werden. Nichts sei unerträglicher, meint Pütter, als wenn Quellen und Institutionen unterschiedlicher Herkunft miteinander vermengt würden. Die strenge Trennung nach historischer Abkunft ist für Pütter einer der wichtigsten Grundsätze bei der Darstellung des Rechts überhaupt43.
40 41 42 43
Pütter, Neuer Versuch, S. 69. Pütter, Neuer Versuch, S. 69 ff. Pütter, Neuer Versuch, S. 73. Pütter, Neuer Versuch, S. 74.
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Aus systematischen Gründen hat das allgemeine Recht den Vorrang vor dem besonderen Recht. Rechte, in denen allgemeine Begriffe und Grundsätze enthalten sind, gehen „billigerweise“, wie Pütter wörtlich meint, den besonderen, nur auf bestimmte Gegenstände bezogenen, vor. Auch solche, deren Verbindlichkeit sich nur auf einen Teil des Staates und seines Rechtes bezieht, sind nachrangig zu behandeln. Für Pütter folgt dies aus den allgemeinen methodischen Grundsätzen, deren Beachtung auch bei der Behandlung und Darstellung des geschichtlichen Rechts unverzichtbar ist44. Alle diese Grundsätze gelten nicht nur für die Behandlung des positiven Rechts im allgemeinen, sondern vor allem für das in Deutschland geltende positive Recht. Aus ihnen folgt, daß hier zu allererst das Römische Recht behandelt werden muß. Die Behandlung des Römischen Rechts verdient für Pütter deswegen Vorrang, weil es die meisten allgemeinen Begriffe und Grundsätze enthält, die dem in Deutschland geltenden positiven Rechts zugrunde liegen. Entgegen der allgemeinen Übung müsse es jedoch zunächst „unvermischt“ und „ganz alleine in seiner unvermischten Lauterkeit“ bearbeitet und dürfe nur „römisch“ dargestellt werden. Dies bedeutet im einzelnen, daß das Römische Recht zunächst historisch betrachtet werden muß, d. h. erst das altrömische Recht und erst danach das justinianische Recht. Auch hier muß das Staatsrecht vor dem Privatrecht bearbeitet werden, weil dieses die Grundlage für jenes ist. Der Beschäftigung mit dem geschichtlichen Staatsrecht muß die mit der Geschichte des Staates vorausgehen. Das gilt für Pütter vor allem für das justinianische Recht, weil auch hier die Geschichte des justinianischen Staates die Grundlage für das Staatsrecht bildet und dieses nur aus ihr erklärt werden kann45. Das Hauptproblem bei der Darstellung des geschichtlichen Römischen Privatrechts ist für Pütter die richtige systematische Ordnung. Die bis dahin übliche Behandlung nach dem Legalsystem, dessen systematische Schwächen unübersehbar seien, scheidet für Pütter aus. Es müsse eine neue Ordnung gefunden werden, die den geschichtlichen Stoff „in einem vollständigen Systeme“, das heißt in einer lückenlosen Systematik, ordnet. Zwar habe es schon viele Versuche in dieser Richtung gegeben, doch keine sei wirklich gelungen und habe allgemeine Anerkennung erlangen können. Daher müßten die Bemühungen weitergehen. Am Ende werde derjenige den „Preis davontragen“ und sich „ein unsterbliches Verdienst“ erwerben, der hierbei am gründlichsten zu Werke gehe46. Als Maßstab für die richtige systematische Ordnung des Römischen Privatrechts formuliert Pütter wiederum eine Anzahl von Grundsätzen, deren Befolgung zwingend notwendig ist. Pütter entnimmt sie der Systematik des Natur- und Vernunftrechts, die hier auf das Römische Privatrecht und dessen Darstellung angewandt wird. An der Spitze steht der Grundsatz, daß zwischen allgemeinen Vorschriften und Vorschriften für besondere Personengruppen oder für besondere Rechtsgeschäfte unterschieden werden muß. An zweiter Stelle steht der Satz von der Trennung des bürgerlichen Rechts vom peinlichen Recht. An dritter Stelle 44 45 46
Pütter, Neuer Versuch, S. 75 ff. Pütter, Neuer Versuch, S. 77 f. Pütter, Neuer Versuch, S. 79 ff., insbes. S. 82.
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steht der Grundsatz der Trennung des materiellen Rechts vom Prozeßrecht und der Behandlung des ersteren vor dem letzteren. Schließlich fordert Pütter, daß der gesamten Darstellung eine „allgemeine Abhandlung“ vorangestellt werde, in der die Stellung des Menschen in seinem Naturzustande wie in seiner Stellung im bürgerlichen Recht, Begriff und Arten der Sachen sowie die allgemeinen Grundsätze von Rechten und Verbindlichkeiten, also des Schuldrechts, dargestellt werden. Erst danach sind nach Pütters Auffassung die einzelnen Rechtsverhältnisse und vor allem die Rechtsgeschäfte als solche zu behandeln, und zwar nicht, wie in der Legalordnung des Römisches Rechts, geordnet nach formalen Gesichtspunkten, sondern nach ihrem inneren Gehalt und dem sich daraus ergebenden systematischen Zusammenhang47. Auf das geschichtliche Römische Recht als der Grundlage des in Deutschland geltenden gemeinen Römischen Rechts hat für Pütter die Darstellung des einheimischen Deutschen Rechts aus dessen Quellen und Geschichte zu folgen. Im Verhältnis zum Römischen Recht nimmt es für Pütter die Rolle des besonderen Rechts ein. Auch hier muß die Beschäftigung mit dem Staatsrecht an erster Stelle stehen, der wiederum die Geschichte der Staatsverfassung, d. h. die „Reichshistorie“, voranzugehen hat. Gerade die Beschäftigung mit dem Staatsrecht des Reiches macht für Pütter ein Eingehen auf dessen Geschichte notwendig, weil dessen Grundlagen im mittelalterlichen Recht zu suchen sind und daher die Voraussetzung für dessen Kenntnis bilden. Die Beschäftigung mit der „Reichshistorie“ und dem Staatsrecht wiederum ist die Grundlage für die Darstellung des einheimischen Deutschen Privatrechts, das ähnlich wie das Römische Recht „unvermischt“, d. h. „ohne Beimischung des Römischen Rechts“, also in seiner historischen Reinheit, bearbeitet und dargestellt werden muß. Grundlage sind vor allem jene Quellen, die aus der Zeit vor der Rezeption des Römischen Rechts stammen, wobei man stets darauf bedacht sein muß, Verwechslungen mit Römischem, aber auch mit dem Kanonischen Rechts zu vermeiden. In Ermangelung allgemeiner Quellen sind hierbei vor allem die Landes-, Stadt- und Familiengesetze, mit anderen Worten: die partikularen Quellen, heranzuziehen48. Auf die Darstellung des einheimischen Deutschen Privatrechts in seiner historischen Reinheit muß die des Kanonischen Rechts folgen, wobei auch hier die Geschichte des Kanonischen Rechts der systematischen Darstellung, namentlich der für das weltliche Recht maßgebenden Teile, voranzugehen hat. Hierbei ist für Pütter nicht nur zwischen dem katholischen und dem protestantischen Kirchenrecht zu unterscheiden, sondern auch zwischen Kirchenrecht und Staatskirchenrecht. Soweit es das Verhältnis der Konfessionen im Reich betrifft – Pütter spricht von Religionen –, gehört die Darstellung in das Staatsrecht, soweit es die Rechtsverhältnisse der Katholiken untereinander angeht, in das Kanonische Recht, soweit es die der Protestanten berührt, in das protestantische Kirchenrecht. Hinweise auf das protestantische Kirchenrecht im gegenwärtigen Kanonischen Recht seien
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Pütter, Neuer Versuch, S. 82 ff., insbes. S. 84. Pütter, Neuer Versuch, S. 86 f.
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ebenso fehl am Platze wie umgekehrt. Auch hier muß das jeweilige Recht „unvermischt“ behandelt werden49. Geschichtliches Römisches Recht, einheimisches Deutsches Recht und Kanonisches Recht bilden für Pütter die Grundlage für das geltende Recht und dessen Darstellung, zunächst für das Staatsrecht des Reiches und der Einzelstaaten, sodann für das gemeine Römische Recht, das einheimische Deutsche Recht und schließlich für das Kanonische Recht, wobei auch hier wiederum die verschiedenen Materien wegen der unterschiedlichen geschichtlichen Quellen deutlich voneinander abgegrenzt werden müssen. Beim System des Staatsrechts ist zunächst die deutsche Staatsverfassung im Ganzen zu behandeln, danach die Rechtsstellung des Kaisers und schließlich die Regierungsform von Kaiser und Einzelstaaten und deren Verhältnis zueinander, wobei hier vorrangig die allgemeinen Rechte und danach die besonderen Rechte zu erörtern sind. Als Grundlagen haben sowohl der Inhalt der Reichsabschiede wie der einschlägigen Landes- und Stadtrechte wie die Zeugnisse der Rechtspraxis zu dienen50. Ähnliches gilt von der Darstellung des einheimischen Deutschen Privatrechts. Wie beim Staatsrecht ist auch hier zunächst das gemeine Recht und dessen System vor dem besonderen Recht der Einzelstaaten darzustellen und auch hier dieselbe Vorgangsweise einzuhalten wie bei der Darstellung der geschichtlichen Rechte. Die allgemeinen Grundsätze haben wiederum Vorrang vor den Rechten der Personen, dem Recht der Sachen und rechtserheblichen Gegenstände, wobei auch auf die Unterschiede der einzelnen Stände geachtet werden muß. Als Quellen sind hierbei neben den Gesetzen in besonderem Umfang die Zeugnisse der Praxis heranzuziehen, die beide zusammen in reichem Maße vorhanden sind. Pütter vergißt nicht zu erwähnen, daß namentlich im akademischen Studium eine lückenlose Kenntnis des einheimischen Deutschen Privatrechts zwar wünschenswert, aber angesichts der Fülle der Quellen und unterschiedlichen Rechte nicht möglich ist. Immerhin erscheint es ihm möglich, daß wenigstens eine „Anleitung“ gegeben wird, bei der die wichtigsten Gegenstände behandelt werden51. Pütter beschließt seine Methodologie nach einigen kurzen Hinweisen auf die schon vorher erwähnten verschiedenen juristischen „Hilfswissenschaften“ mit dem Entwurf eines juristischen Studienplans, der auf den Grundsätzen und dem System seiner Enzyklopädie und Methodologie beruht. Dieser Entwurf ist gleichsam das Resümee seiner enzyklopädischen und methodologischen Überlegungen über die Rechtswissenschaft als System aller juristischen Disziplinen und deren Methode im akademischen Unterricht.
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Pütter, Neuer Versuch, S. 88 f. Pütter, Neuer Versuch, S. 92 ff. Pütter, Neuer Versuch, S. 94 f.
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IV. Fragt man nach dem Beitrag, den Pütter mit dieser Enzyklopädie und Methodologie für die Entstehung und Ausbildung der später so genannten geschichtlichen Rechtswissenschaft geleistet hat, dann ergibt sich zunächst, daß bei ihm erstmals die überlieferte Jurisprudenz als eine einheitliche und systematisch geordnete Wissenschaft des Rechts konzipiert und methodisch dargestellt ist. Zwar hatte es schon vorher Versuche gegeben, ein allgemeines System der Jurisprudenz zu entwerfen, auch und nicht zuletzt zur Reform des juristischen Studiums. Beispiele für ersteres finden sich vor allem in den Werken der juristischen Schüler Christian Wolffs. Als bekannteste mögen hier Daniel Nettelbladts „Systema elementare universae iurisprudentiae naturalis“ und sein „Systema elementare universae iurisprudentiae positiviae communis Imperii Romani Germanici“ angeführt werden, die beide erstmals im Jahre 1748 erschienen und später wiederholt aufgelegt wurden52. Die Vorschläge für eine systematische und methodische Reform des juristischen Studiums stammen von Johann Georg Estor, Johann Jacob Moser und wiederum von Daniel Nettelbladt53. Doch keinem dieser Versuche und Vorschläge lag ein Konzept zugrunde, wie dies bei Pütters Enzyklopädie und Methodologie der Fall war. Nettelbladts Absicht sowohl in seinem System wie in seinen Reformvorschlägen bestand im wesentlichen in der Einführung der demonstrativischen Methode in die Jurisprudenz mit dem Ziel, in dieser begriffliche und systematische Klarheit der Gegenstände zu erreichen54. Estor und Moser gaben in ihren Schriften neben allgemeinen Ratschlägen lediglich nützliche Hinweise für eine praktische Ordnung des juristischen Studiums. Eine enzyklopädische Darstellung sämtlicher juristischer Disziplinen und eine juristische Methodologie enthielten sie nicht55. Anders verhält es sich dagegen mit Pütters Enzyklopädie und Methodologie. Sie entwickelt sowohl eine systematisch geordnete Rechtswissenschaft wie deren Methodologie. Wichtigste Grundlage für die systematische Ordnung ist das System des Natur- und Vernunftrechts, ihr Inhalt die Jurisprudenz des Römischen Rechts, des einheimischen Deutschen Rechts und des Kanonischen Rechts und 52
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Daniel Nettelbladt, Systema elementare universae iurisprudentiae naturalis, Halle 1748, letzte (5.) Aufl., Halle 1785, Neudruck mit einer Einleitung von Bernhard Scherl, Hildesheim 1998; ders., Systema elementare universae iurisprudentiae positivae commnuis Imperii Romani Germanici, Halle 1748. Zu deren Bedeutung für die Entwicklung der juristischen Enzyklopädien vgl. Buschmann, in: AKG 51, S. 296, 308 ff. Johann Georg Estor, Einladungs-Schrift zu seinen Winter-Vorlesungen, Marburg 1742; Johann Jacob Moser, Anleitung zu dem Studio Juris, Jena 1736 u. ö.; Daniel Nettelbladt, Unvorgreiffliche Gedanken von dem heutigen Zustand der bürgerlichen und natürlichen Rechtsgelahrtheit, Halle 1749, Neudruck mit einer Einleitung von Bernhard Scherl, Hildesheim 1997. Nettelbladt, Unvorgreiffliche Gedanken, S. 27 ff. Vgl. dazu Mohnhaupt, in: ZNR 21, S. 85, 95 ff., der aus der Einbeziehung der Geschichte in die Rechtswissenschaft noch keine komplementäre Einheit folgert, wie sie später durch Savigny für die Historische Rechtschule vorgenommen worden sei.
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sowie die „Reichshistorie“ und die „Historia juris“ in der traditionellen Form. Mit dem Natur- und Vernunftrecht werden die verschiedenen juristischen Gegenstände und Disziplinen begrifflich und systematisch erfaßt, aus der vorhandenen Jurisprudenz deren Gegenstände rezipiert und systematisch verarbeitet. Von der Wolff’schen Schule übernimmt Pütter die Methode der systematischen Ordnung, allerdings weniger begriffsorientiert als Wolff und deutlich stärker an den Tatsachen ausgerichtet, d. h. „pragmatisch“, wie es in der Diktion der Zeit hieß56. Zweite wichtige Grundlage ist für Pütter die Geschichte, die für ihn im Rahmen der systematischen Rechtswissenschaft einen notwendigen Bestandteil bildet. Im Gegensatz zur herkömmlichen Jurisprudenz stehen jedoch „Reichshistorie“, „Historia iuris Romani“, „Historia iuris civilis Romani ac Germanici“ und die „Juristische Gelehrtengeschichte“ nicht mehr unverbunden nebeneinander, sondern sind mit den anderen Bestandteilen der Rechtswissenschaft systematisch verbunden und zu Elementen einer in sich geschlossenen, einheitlichen Rechtswissenschaft gemacht. Diese systematische Verbindung betrifft vor allem die Beziehung der Geschichte zum positiven Recht. Die Geschichte ist sowohl tatsächlich als systematisch mit dem positiven Recht verbunden. Das Bindeglied zwischen beiden ist die gemeinsame systematische Grundlage, nämlich der menschliche Wille. System und Geschichte sind durch diese gemeinsame Grundlage miteinander verbunden, wobei die Geschichte das tatsächliche Fundament des positiven Rechts darstellt. Für die Wissenschaft des in Deutschland geltenden Rechts bedeutet dies, daß die Kenntnis der Reichshistorie, der römischen Staatsund Rechtsgeschichte und die der Geschichte des einheimischem Deutschen Rechts Voraussetzung für die Kenntnis des geltenden positiven Rechts ist. Auf der anderen Seite bildet das aus dem Natur- und Vernunftrecht herrührende System des Rechts das systematische Fundament auch für die Darstellung des geschichtlichen Rechts. Natur- und vernunftrechtliche Systematik und Geschichte, systematische und geschichtliche Methode, sind daher nicht nur Bestandteile der systematischen Rechtswissenschaft, sondern durch die gemeinsame Grundlage methodologisch miteinander verbunden. Zwar hatte auch Nettelbladt eine systematische Verbindung zwischen der Kenntnis der Geschichte und der Kenntnis des positiven Rechts hergestellt. Auch er hatte die Kenntnis der Geschichte zur Voraussetzung für die Kenntnis des positiven Rechts, namentlich in Deutschland, erklärt. Doch im Unterschied zu Pütter beschränkte er sich darauf, deren begriffliche Beziehung zu demonstrieren, also auf „demonstrativische“ Art deren systematischen Zusammenhang zu erweisen. Für Pütter hingegen ist die Geschichte und deren Kenntnis nicht nur notwendige Voraussetzung für die Kenntnis des positiven Rechts, sondern die gesamte geschichtliche Entwicklung notwendiger Bestandteil der systematischen Rechtswissenschaft. Jeder Teil des positiven Rechts ist für ihn in die jeweilige Geschichte des Staates und des Staatsrechts, aber auch der sonstigen geschichtlichen Umstände eingebettet, muß unvermischt in seiner historischen Reinheit dargestellt und stets systematisch und zugleich historisch bearbeitet werden. 56
Zu Christian Wolffs Einfluß auf die Jurisprudenz vgl. vor allem Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 318 ff.
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Die Rechtswissenschaft beruht demnach für Pütter auf zwei Säulen, zum einen dem Natur- und Vernunftrecht und zum anderen der Rechtsgeschichte. Die eine, das Natur- und Vernunftrecht, liefert die systematischen Grundlagen des Rechts, die andere, die Rechtsgeschichte, die Kenntnis des tatsächlich vorhandenen geschichtlichen und geltenden Rechts und dessen Entwicklung. Beide gehören für Pütter systematisch und methodisch zusammen. Diese Verbindung von Systematik und Geschichte ist damit nicht nur das Merkmal für die enzyklopädische und methodologische Darstellung der Rechtswissenschaft, sondern zugleich ein Wesensmerkmal der Rechtswissenschaft selbst. Zwar stehen natur- und vernunftrechtliches System und Geschichte noch nicht „gleichberechtigt“ nebeneinander, weil die Geschichte in das System eingegliedert ist und vom System umfaßt wird. Noch dominiert das System und die Geschichte ist einstweilen nur Bestandteil, doch deutet sich bereits jene systematische und methodische Verbindung beider an, die später bei Hugo und nach ihm bei Savigny zum Grundprinzip der geschichtlichen Rechtswissenschaft erhoben wurde57.
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Zu Gleichstellung von System und Geschichte vgl. Dierse, Enzyklopädie, S. 78 f., der zu Recht auf Johann Friedrich Reitemeiers Encyclopädie und Geschichte der in Teutschland geltenden fremden und einheimischen Rechte, Göttingen 1785 verweist, in der diese Gleichstellung erstmals vollzogen wurde. Reitemeier zählte wie Hugo zu Pütters Schülern. Vgl. dazu Ebel, Pütter, S. 69 ff.; zu Reitemeiers Enzyklopädie und deren Bedeutung für die Entwicklung der geschichtlichen Rechtswissenschaft vgl. zuletzt Arno Buschmann, Enzyklopädie und Recht. Johann Friedrich Reitemeiers Enzyklopädie und Geschichte der Rechte in Deutschland, in: Gerhard Köbler (Hrsg.), Wege europäischer Rechtsgeschichte (Rechtshistorische Reihe, Bd. 60), Frankfurt/M. u. a. 1987, S. 29 ff. Belege für die Anknüpfung Savignys an diese Verbindung von System und Geschichte finden sich vor allem in seinen methodologischen Vorlesungen. Vgl. dazu Arno Buschmann, Geschichte und System, in: Gerhard Lingelbach, Heiner Lück (Hrsg.), Deutsches Recht zwischen Sachsenspiegel und Aufklärung (Rechtshistorische Reihe, Bd. 80), Frankfurt/M. u. a. 1991, S. 193 ff., zuletzt Aldo Mazzacane (Hrsg.), Friedrich Carl von Savigny, Vorlesungen über juristische Methodologie (1802-1842), (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 174), Frankfurt/M. 2004, der allerdings in seiner Einleitung auf Reitemeier nur am Rande eingeht, obwohl dessen Enzyklopädie vor allem von Hugo stets als methodisches Vorbild angesehen wurde und auch bei Savignys Marburger Methodenvorlesung erkennbar zugrundegelegt worden ist. Vgl. Buschmann, Geschichte und System, S. 218 ff. Eine zusammenfassende Würdigung der methodischen Entwicklung findet sich bei Hans Schlosser, Grundzüge der Neuren Privatrechtsgeschichte, zuletzt 9. Aufl., Heidelberg 2001, S. 144 ff., insbes. S. 149.
Zwischen deliktischer Arzthaftung und Wetterzauber Medizinrechtliche Fragestellungen im Klagspiegel (um 1436) Andreas Deutsch „Wer unnd durch wen sollen die streych unnd wunden beschauwet unnd anngesehen werden[?]/ sprich durch den artzet. Wann mann sol zĵ dem zĵflĵcht haben, der die selben kunst kann.“1 Dieses klare Bekenntnis zum ärztlichen Sachverständigen aus dem um 1436 entstandenen Klagspiegel zählt fraglos zu den ältesten medizinrechtlichen Ausführungen in einem deutschsprachigen Rechtsbuch.2 Der Klagspiegel des Schwäbisch Haller Stadtschreibers Conrad Heyden wurde zu Recht als „das älteste und umfassendste Compendium des Römischen Rechts in deutscher Sprache“ bezeichnet.3 Möglicherweise hat kein Werk an der allgemeinen (populären) Verbreitung der römischen Rechtskenntnis und dadurch an der Umbildung des ganzen Rechtslebens in Deutschland einen größeren Anteil gehabt.4 Auf die Relevanz des Klagspiegels auch für die Arztrechtsgeschichte hat der Jubilar als einer der ersten hingewiesen.5 Aber nicht allein deshalb soll es nachfolgend um medizinrechtliche Fragestellungen im Klagspiegel gehen. Schließlich vereinigen sich in diesem Thema die beiden Interessenschwerpunkte des Geehrten, die Rechtsgeschichte und das Medizinrecht, auf ungewöhnliche Weise. Zu-
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Titel 56 AT (=Ander Teil), in: Conrad Heyden, Der Richterlich Clagspiegel, ein nutzbarlicher Begriff, wie man setzen unn formieren sol nach Ordnung der Rechte ein yede Clag, Antwort, unn ußgesprochene Urtheylen gezochen auß geystlichen und weltlichen Rechten […], hrsg. von Sebastian Brant, Straßburg 1516, Bl. CXLVIII. B. Zu den Beichtsummen vgl. Adolf Laufs, Alexander Eichener, Ursprünge einer strafrechtlichen Arzthaftung. Untersuchungen zu Artikel 134 der Constitutio Criminalis Carolina; in: Erik Jayme, Adolf Laufs, Karlheinz Misera, Gert Reinhart, Rolf Serick (Hrsg.), Festschrift für Hubert Niederländer zum siebzigsten Geburtstag, Heidelberg 1991, S. 71-96. Johann August Roderich von Stintzing, Geschichte der populären Literatur des römisch-kanonischen Rechts in Deutschland am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts und im Anfang des sechzehnten Jahrhunderts, Leipzig 1867, S. 405. So bereits Heinrich Zoepfl, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1, 3. Aufl., Braunschweig 1858, S. 181. Laufs/Eichener, Ursprünge der Arzthaftung, S. 86, Fn. 65; vgl. auch Hugo Kehr, Ärztliche Kunstfehler und mißbräuchliche Heilbehandlung – eine strafrechtsdogmatische Untersuchung zu Artikel 134 der Carolina, Marburg 1972, S. 124 ff., der die aus dem Klagspiegel zitierte Stelle zur lex Aquilia allerdings teils mißversteht.
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dem verdankt der Verfasser dieser Zeilen seine jahrelange Beschäftigung mit dem Klagspiegel einer fruchtbaren Anregung des Jubilars. Der in zwei Bücher aufgeteilte Klagspiegel behandelt in seinen 237 Titeln Zivilrecht, Strafrecht und Prozeß in möglichst anschaulicher und für den unstudierten Richter, Kläger oder Schöffen verständlicher Weise. Das Buch zeichnet sich aus durch eine Vorliebe für praktische Beispiele und eine Fülle anschaulicher Details. Berührt werden die unterschiedlichsten Bereiche des täglichen Lebens. Insoweit verwundert kaum, daß auch arztrechtliche Probleme, namentlich aus dem Bereich der Arzthaftung und der ärztlichen Sachverständigentätigkeit, im Klagspiegel abgehandelt werden. Allein vom „artzt“ oder „artzet“ ist 15 Mal die Rede, in sieben Titeln wird der Arztlohn abgehandelt. Die Arznei oder das Arzneien als Hantierung des Arztes wird mehr als ein Dutzend Mal erwähnt. Krankheit, Wunden, Verletzungen und verwandte Begriffe begegnen deutlich über hundert Mal. Der Verfasser des Klagspiegels Conrad Heyden war kein Wissenschaftler sondern ein halbstudierter Praktiker, wie die große Mehrzahl der Rechtskundigen und Rechtstätigen seiner Zeit. Er hat in seinem Rechtsbuch kein eigenes Recht geschaffen, aber auch nicht (primär) das von ihm in seinem Rechtsraum vorgefundene Recht niedergeschrieben. Er übertrug vielmehr das römische Recht, wie er es bei seinem zeitweiligen Studium in Erfurt kennengelernt und durch Privatstudien vertieft hatte, in die deutsche Sprache. Seine Hauptquelle war dabei freilich nicht das Corpus iuris Iustiniani selbst, sondern die Werke der Glossatoren und Kommentatoren, so weit er sie kannte und sie ihm zugänglich waren. Seine persönliche Aufgabe lag somit in der Auswahl und Zusammenfassung des vorgefundenen, umfänglichen Materials; seine Leistung in der Reduktion der zumeist italienischen Fachdiskurse auf die wesentlichen, auch für den Alltag in Deutschland relevanten Rechtsfragen und nicht zuletzt auch in der Übersetzung der vielfältigen römischen Rechtstermini, für welche die deutsche Sprache zu dieser Zeit noch keinerlei entsprechendes Vokabular herausgebildet hatte. Gerade im Bereich der medizinrechtlichen Fragestellungen weist der Klagspiegel eine besondere Nähe zu seinen lateinischen Vorlagen auf, neben dem Corpus iuris namentlich der „Summa codicis“6 des Azo, den „Libelli iuris civilis“7 des Roffredus, dem „Tractatus des Maleficiis“8 des Gandinus und dem „Speculum
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Verwendet wurde: Azo Porcius, Summa super Codicem, Instituta, Extraordinaria; Neudruck der Ausgabe Pavia 1506; Corpus glossatorum juris civilis Bd. 2, curante Italici Historiae Instituto Taurinensis Universitatis, Torino 1966. Verwendet wurde: Roffredus Epiphanii, De libellis iuris civilis, Neudruck der Ausgabe Avignon 1500; Corpus glossatorum juris civilis, Bd. 6/1, curante Italici Historiae Instituto Taurinensis Universitatis, Torino 1968. Verwendet wurde: Albertus Gandinus, Tractatus de maleficiis, kritische Ausgabe nebst textkritischer Einleitung, Hermann U. Kantorowicz (Hrsg.) = Hermann U. Kantorowicz, Gandinus und das Strafrecht der Scholastik, Bd. 2: Die Theorie, Berlin, Leipzig 1926.
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iudiciale“9 des Durantis.10 Die zum Teil sogar annähernd wörtliche Übernahme einiger medizinrechtlicher Ausführungen aus seinen Quellen und die vergleichsweise wenigen Ergänzungen oder eigenen Zusätze in diesem Bereich sprechen dafür, daß die abgehandelten Probleme zumindest in juristischer Hinsicht eher entfernt von der Rechtspraxis des Conrad Heyden lagen. Nur spekulieren läßt sich, warum er diese teils umfänglichen Regelungen dennoch in sein Rechtsbuch aufnahm. Möglicherweise empfand er den vorgefundenen Rechtszustand als unbefriedigend. Als Gerichtsschreiber wußte er beispielsweise aus eigener Anschauung, wie unzulänglich eine Wund- und Leichenschau allein durch das Richterkollegium oder die Schöffen ausfallen konnte. Vielleicht entschied er sich ja deshalb für das klare Bekenntnis zur sachverständigen Beschau „durch den artzet“.11 Im wesentlichen lassen sich die im Klagspiegel behandelten medizinrechtlichen Fragestellungen sieben Themenfeldern zuordnen, um die es nachfolgend gehen soll: Gesundheits- und Hygienebestimmungen, Arzthaftung, Arztlohn als Teil des Schadensersatzanspruchs, der Arzt als Sachverständiger, rechtliche Präsumtionen als Ersatz für medizinische Sachverständige, rechtlicher Schutz für den Kranken und rechtliche Verantwortlichkeit aufgrund von Krankheit.
A. Allgemeine Gesundheits- und Hygienebestimmungen Da der Klagspiegel vornehmlich Zivil- und Strafrecht abhandelt, enthält er nur vereinzelt allgemeine Ausführungen zu Gesundheits- und Hygienebestimmungen, wie sie etwa in einer Polizei- oder Medizinalordnung zu finden wären. In Bezug auf die medizinischen Vorstellungen der Zeit aufschlußreich ist immerhin eine Bemerkung in Titel 24 (ET =Erstes Traktat) zur strafrechtlichen Iniurienklage. Während es nämlich nach dem Recht des Klagspiegels grundsätzlich verboten ist, jemanden mit „laster/ schand/ schmachheit oder scheltwort“ anzugehen, womit „man eim sein e[h]re oder gĵtten lewmĵt nympt oder abschneyt“,12 weshalb dem Täter im Falle einer Strafklage sogar droht, daß die Richter „ym sein haupt heissen abschlahen“13, macht das Rechtsbuch hiervon eine Ausnahme, wenn die üble Nachrede im öffentlichen Interesse erfolgt, wozu auch die Anzeige eines aussätzig Kranken gehören soll: „Als wann einer ein heimlicher kätzer w[a]ere/ oder wolt ein statt/ oder schloß/ oder dorff hingeben oder verraten/ oder einer der uffsetzig [=aussätzig] were/ wann das selbig ist ein siechtagen, davon die gesunden men9
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Verwendet wurde: Guilelmus Durantis, Speculum iuris, cum Ioan. Andreae, Baldi, reliquorumque clarissimorum i. v. doctorum visionibus hactenus addi solitis […], Frankfurt 1592. Zu weiteren Vorlagen des Klagspiegels außerhalb des medizinrechtlichen Bereichs vgl. Andreas Deutsch, Der Klagspiegel und sein Autor Conrad Heyden, Köln, Weimar, Wien 2004, insb. S. 225 ff. und 440 ff. Titel 56 (AT), Bl. CXLVIII B. Titel 23 (ET = Erstes Traktat), Bl. XI B. Titel 24 (ET), Bl. XIII.
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schen auch siech werden/ und auch deßglychen/ sollich ding zĵ offenbaren ist billichen und hat in i[h]m ein gerecht ursach/ und als sollichs nit geschicht in mĵt zĵ schmähen/ so sein sie diser clag nit pflichtig“.14 Das Problem der Ansteckung bei bestimmten Krankheiten ist dem Klagspiegler somit bereits bekannt, weshalb er anerkennt, daß bei einem solchen „offenbaren in ym selbs ein gemeyner nutz ist/ darumb ist sollichs offenbaren billichen“, vorausgesetzt, es sei „nit in schmähens mĵte geschehen... und kompt uß rechter ursach“, was freilich zu vermuten sei, denn „man mĵß den mĵt und willen in sollichem durch umbstandt und vortzeichen/ iudicia in latyn urteilen.“15 Um mögliche Krankheitserreger geht es auch in einem Formelbeispiel zur Klage „Quanto minoris“ in Titel 92 (ET). Als Beispiele für den Minderwert einer Sache werden dort unter anderem vergiftetes Gras und verdorbenes Fleisch genannt: „Herr richter ich clag eüch von R. der hatt mir siechs pferdt zĵ kaufen geben/ das hat überbeine/ und ist stetig/ oder ein buch/ oder ein gründt daruff wechßt vergifft das graß oder fleisch ist pfinnig/ oder wolffbissig gewesenn/ nun ist das selbig N. von des genanten siechtagen oder boßheit willen zehen pfundt oder minder wert/ dann wann es den siechtagen oder boßheit nit hett. Bitt etc. erkennen das er mir die genannten zehen pfundt oder pfenning wider geben sol/ und das er es thue etc.“16 Die Formel geht allerdings weitgehend auf Ausführungen von Roffredus zurück,17 der sowohl ein „equum morbosum qui habet gallas“, einen „fundum qui ducit herbam pestibulam“ und ein „carnem qui non fuit sincera“ anführt, weshalb die Beispiele keinen sicheren Rückschluß auf die deutschen Verhältnisse des 15. Jahrhunderts erlauben. Da die biologischen Ursachen einer Krankheit noch nicht erforscht waren, wurde ein plötzliches „Siechtum“ bis in die Neuzeit hinein allzu gern auch mit Zauberei in Verbindung gebracht. Obgleich der Klagspiegel mit Hexerei und Schadenzauber äußerst zurückhaltend ist, behandelt auch er in Titel 37 (AT =Ander Teil) „De maleficis et mathematicis et dictis similibus“18 die verbotenen Künste. Die Zauberei wird hierbei aber – anders als im überwiegenden Teil der zeitgenössischen Rechtsliteratur – deutlich von der Ketzerei und der Giftmischerei getrennt. Der italienischen Doktrin folgend, beachtet der Klagspiegler nämlich den im deutschsprachigen Raum lange vergessenen Unterschied zwischen Magiedelikt und der zur Tötung gehörenden Vergiftung.19 Diese Trennung von Zauberei und Vergiftung, die maßgeblich zu einer Rationalisierung der Tötungsdelikte beigetragen hat, findet sich in starker Anlehnung an den Klagspiegel in der Bambergensis
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Titel 24 (ET), Bl. XIII. Titel 24 (ET), Bl. XIII f. Titel 92 (ET), Bl. XLIII. Vgl. Roffredus, Libelli iuris civilis, „De actione quanto minoris“ (prima pars, XVII. a). Vgl. als Vorlagen zu diesem Titel insb. Azo, Summa Codicis, „De maleficis et mathematicis et ceteris similibus“ (liber nonus, S. 333), ferner C 9.18. Hierzu Siegfried Leutenbauer, Hexerei- und Zaubereidelikt in der Literatur von 1450 bis 1550; mit Hinweisen auf die Praxis im Herzogtum Bayern, Berlin 1972, S. 10.
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(Art. 131 CCB) sowie dieser folgend in der Carolina (Art. 109), Tenglers Laienspiegel und weiteren daran anlehnenden Gesetzen und Rechtsbüchern wieder.20 Die Trennung von Zauberei und Vergiftung bedeutet freilich nicht, daß die Zauberei zugleich als Wahndelikt erkannt und verworfen worden wäre, vielmehr meint der Klagspiegler, selbst ein Totschlag oder Mord21 könne mittels schwarzer Magie geschehen. Daher sollten all jene, „die das volck maleficos, zauberer nennet, und die, die sprechen, das[s] sie künden die schwartzen kunst“, getötet werden. Derartige Bestimmungen konnten sich in der Praxis insbesondere gegen die Tätigkeit der Wunderheiler und Kräuterweiber richten, deren Rezepten im Volk nicht selten eher eine magische denn eine medizinische Wirkung zugeschrieben wurde.22 Sie schützte der Klagspiegler allerdings insoweit, als der wohltätige Zauber nach seiner Ansicht straflos bleiben sollte, so heißt es am Ende von Titel 37 (AT): „Wölche aber das wetter beschwören, umb des willen, das[s] das wet[t]er der frucht, die uff dem feldt steet, nit schaden thĵ/ mit stein und kiseln, das man hagel nen[n]t, die seind nit peen sunder[n] lo[h]nes wirdig.“23 Der Klagspiegel folgt mit dieser Ausnahme seinem großen Vorbild Azo Porcius, bei dem sich dieser Satz bereits fast wörtlich findet.24 Nur eingeschränkt schließt sich dieser Strafbefreiung aber Johann von Schwarzenberg an, wenn er in der Bambergensis (Art. 131 CCB) die nichtschädliche Zauberei dem Ermessen des Richters überantwortet.25 Wie wichtig Conrad Heyden die Bekämpfung der (bösen) Zauberei war, verdeutlichen seine Ausführungen in Titel 111 (ET) zur „actio familiae erciscundae“, der Klage auf Erbteilung. Eine Teilung des Erbes sei nämlich bezüglich bestimmter verbotener Gegenstände nicht zulässig, denn „etlich sollen verbrennt werden oder zerrissen/ als böse artzney/ oder zaubereybücher.“ 26 Daher gebe es eine Klage gegen die Miterben auf Zulassung der Vernichtung von schädlicher Medizin und Zaubereibüchern. Notfalls solle der Erbe unmittelbar vom Richter verlangen, „das[s] i[h]r sollich bücher, die verbotten sein zĵ lesen/ die wir im erben gefunden haben/ heissent verbrennen/ als bücher in zauberey unnd falsch ertzney etc.“27 Als 20
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Vgl. auch Leutenbauer, Hexerei- und Zaubereidelikt, S. 10. Ferner Sönke Lorenz, Der Hexenprozeß, in: Sönke Lorenz (Hrsg.), Hexen und Hexenverfolgung im deutschen Südwesten, Katalog zur Ausstellung des Badischen Landesmuseums, Aufsatzband, Ostfildern 1994, S. 67-84, S. 70 ff. Der Klagspiegler verwendet auch hier den Begriff „manschlacht“, vgl. Titel 37, Bl. CXXXIX B. Zur Heiltätigkeit der Kräuterweiber und Wurzelkrämer etwa Hermann Peters, Der Arzt und die Heilkunst in alten Zeiten, fotomechanischer Nachdruck der 1900 erschienenen Erstausgabe, 5. Aufl., Düsseldorf, Köln 1976, S. 7 f. und 44 ff.; Bernt Karger-Decker, Geschichte der Medizin von der Antike bis zur Gegenwart, Düsseldorf 2001, S. 326 f. Titel 37 (AT), Bl. CXL. Vgl. Azo, Summa Codicis, Liber nonus, S. 333. Hierzu Silke Ackermann, „Wahrsagerei, Wahrsager“, in: Adalbert Erler u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 5. Bd., Berlin 1998, Sp. 1089-1094, hier Sp. 1092. Titel 111 (ET), Bl. LXIV B. Titel 111 (ET), Bl. LXIV. B.
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Vorlage für seine Ausführungen wählte Conrad Heyden in diesem Fall erneut die Libelli des Roffredus, namentlich das Kapitel „De actione familie herciscunde“.28 Die genannten Sätze beruhen aber fast wörtlich auf den Digesten, wo es heißt: „Mala medicamenta et venena veniunt quidem in iudicium, sed iudex omnino interponere se in his non debet: boni enim et innocentis viri officio eum fungi oportet: tantundem debebit facere et in libris improbatae lectionis, magicis forte vel his similibus, haec enim omnia protinus corrumpenda sunt.“29
B. Arzthaftung Eine für die Entstehungszeit des Rechtsbuchs unerwartet wichtige Rolle spielt die Verantwortlichkeit des Arztes im Klagspiegel. Von einer Arzthaftung im engeren Sinne kann allerdings nur zum Teil die Rede sein. Behandlungsfehler des Arztes können nämlich auf zwei Wegen sanktioniert werden, entweder über eine zivilrechtliche Haftung oder aber über eine Strafverurteilung. Weniger ausgefeilte Rechtsordnungen bevorzugen in der Regel den unkomplizierten Weg der direkten Bestrafung des Arztes. Für einen zivilrechtlichen Anspruch des Behandlungsgeschädigten sind objektivierte Maßstäbe für die Behandlungsqualität erforderlich, was – abgesehen von Extremfällen – gesetzlich oder außergesetzlich festgelegte Standards bzw. einen mehr oder weniger allgemein anerkannten Stand der Wissenschaft voraussetzt. Der Klagspiegel kennt – dem in Europa in dieser Hinsicht führenden italienischen Recht30 folgend – beide Formen der Sanktionierung. Aufgrund seiner besonderen Position als Herr über Gesundheit oder Krankheit und Tod, aber auch aufgrund der potentiellen Gefährdung der dem Arzt oftmals hilflos ausgesetzten Patienten, wird der Arzt in zahlreichen Rechtstexten – so auch im Klagspiegel – namentlich im Zusammenhang mit den Tötungsdelikten explizit erwähnt und herausgehoben behandelt. Seine strafrechtliche Verantwortlichkeit setzt dabei zum Teil schon im Vorfeld der eigentlichen Tat an. So heißt es in Titel 35 (AT) „Ad legem corneliam de siccariis“, der von Mord und Totschlag handelt: „Item der ist schuldig diß rechten/ umb des willen das[s] er ein menschen tödt/ [wer] vergifft hat gemacht/ gegeben/ bey i[h]m gehabt/ verkaufft hat […]/ er sol gestrafft werden, wölchs wesens der ertödt mensch gewesen sey.“31 Also bereits die bloße Zubereitung, der Besitz und der Verkauf eines Gifts wird dem Totschlag gleichgestellt. Daß sich diese Bestimmung nicht zuletzt gegen den Arzt richtet, 28
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Vgl. Roffredus, Libelli iuris civilis, „De actione familie herciscunde“ (quarta pars, LXVI. d), und D 10.2 „Familiae erciscundae“. D 10.2.4.1. Vgl. nur die Ausführungen bei Gandinus, Tractatus de maleficiis, insb. „De homicidiariis et eorum pena“, § 21 (in der Edition von Kantorowicz: S. 303 ff.). Aufschlußreich ferner Gotthold Bohne, Die gerichtliche Medizin im italienischen Statutarrecht des 13.16. Jahrhunderts, in: Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin, 3. Folge, 61 (1921), S. 66-86 und S. 238-252. Dies übersehen Laufs/Eichener, Ursprünge der Arzthaftung, S. 78 ff. Titel 35 (AT), Bl. CXXXVII B.
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verdeutlicht eine Parallelstelle in Titel 36 (AT) „De his qui parentes vel liberos occiderunt“ zum „Parricidium“, dem Eltern- und Verwandtenmord: „Item auch alle die, die hilff dartzĵ gethon haben seindt schuldig diß rechten unnd die selben werden herter gestrafft, dann ob sie es selber gethon hettenn […] Item der, der vergifft gekaufft hat, darumb, das[s] ers dem vatter gebe/ ist diß rechten schüldig, ob ers i[h]m wol nit geben möge. Item des[sen] bruder/ hat er sollichs gewißt/ unnd hats dem vatter nit zĵ wissen gethann/ sol verwisen werden des lands/ und der artzt getödt werden.“32 Der das Gift liefernde oder sonst mitwirkende Arzt soll in diesem Fall also sogar stärker bestraft werden, als der – zum Schutz des Vaters verpflichtete – Sohn, der nichts gegen die Tat unternimmt. Bezüglich der Bestrafung von Vatermördern und deren Beihelfern führt der Klagspiegel im Anschluß aus: „Item diß rechten peen ist also uffgesatzt/ das[s] der […] sol mit blĵtigen rĵtten geschlagen werden/ darnach soll er in ein sack geneet werden mit eim hundt/ und mit eim cappaun/ einer schlangen und affen, darnach soll er in das m[e]ere oder einen wag [=Wasserstrudel] geworffen werden. Ist aber, das[s] man deren keins het/ so sol er den wilden thieren fürgeworffen werdenn.“33 Diese Ausführungen bauen unmittelbar auf verschiedenen Stellen in der „Summa codicis“ des Azo und dem „Tractatus de maleficiis“ von Gandinus auf,34 gehen zum Teil aber wörtlich auf die Digesten zurück.35 So lauten die ersten Sätze von D 48.8.3: „Eiusdem legis corneliae de sicariis et veneficis capite quinto, qui venenum necandi hominis causa fecerit vel vendiderit vel habuerit, plectitur. Eiusdem legis poena adficitur, qui in publicum mala medicamenta vendiderit vel hominis necandi causa habuerit.“36 Und in D 48.9: „Lege pompeia de parricidiis cavetur, ut, si quis patrem […] eius legis poena adficitur, et avus, qui nepotem occiderit: et praeterea qui emit venenum ut patri daret, quamvis non potuerit dare. Frater autem eius, qui cognoverat tantum nec patri indicaverat, relegatus est et medicus supplicio affectus.“37 Noch zwei weitere medizinrechtlich relevante Spezialfälle finden sich in Titel 35 (AT) des Klagspiegels. Zum einen geht es um die Verabreichung eines Mittels zur Förderung der Schwangerschaft, welches zum Tode der Frau führt: „Nymwar gib ich einer frawen ein ertzney/ das[s] die empfahen sol/ unnd als sie die ertzney empfahen/ so ist sie gestorben/ ich sol relegiert werden fünff iar/ unnd auch der, der durch geylheit [=Übermut] ursach des tods geben hat.“38 Der Satz geht auf D 48.8.3.2 zurück, wo es gegen Ende heißt: „sed ex senatus consulto relegari iussa 32 33 34
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Titel 36 (AT), Bl. CXXXIX. B. Titel 36 (AT), Bl. CXXXIX. B. Azo, Summa Codicis, „Ad legem corneliam de siccariis“ (liber nonus, S. 332) und „De his qui parentes vel liberos occiderunt“ (liber nonus, S. 332); Gandinus, Tractatus de maleficiis, „De homicidiariis et eorum pena“, § 11 (Edition von Kantorowicz: S. 287 f.) und „De penis reorum in genere et de percussione et insultu“, § 22 (Edition von Kantorowicz: S. 226); vgl. ferner C 9.16; C 9.17; D 48.9. D 48.8.1; vgl. aber auch I 4.18.5 a. E. D 48.8.3. pr. u. 1. D 48.9.1 a. E. und D 48.9.2. Titel 35 (AT), Bl. CXXXVIII.
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est ea, quae non quidem malo animo, sed malo exemplo medicamentum ad conceptionem dedit, ex quo ea quae acceperat decesserit.“39 Azo führt das Beispiel mit folgenden Worten an: „ut ecce mulier medicamentum dedit ad conceptionem ex quo ea quae accepit decessit […]“.40 Interessanterweise sollte sowohl nach den Digesten als auch laut Azo nur eine Frau wegen Verabreichung des tödlichen Mittels bestraft werden, während von Männern gar nicht erst die Rede ist. Der Klagspiegel wählte hingegen – hiervon bewußt abweichend – die sich auch (und angesichts der damaligen Leserschaft sogar zuerst) auf Männer beziehende erste Person Singular („ich“), dachte also offenbar bei der Verabreichung von empfängnisfördernden Mitteln mehr an den (männlichen) Arzt als an die (weibliche) Hebamme. Zum anderen wird die als menschenunwürdig empfundene Kastration unter Strafe gestellt: „Item wölcher eim menschen ußschneydet/ ist schuldig diß rechten/ unnd ist das[s] die, die sollich schmacheit gelitten habenn, sollichs clagen/ der landtrichter sol sie hören/ wann es sol nyemandt ein menschnn über sein willen oder mit seim willen ußschneyden/ es sol sich auch nyemant willigklich darzĵ geben/ und wer darwider thĵt/ unnd auch der artzet, der ußgeschnitten hat/ sollen getödt werden“. 41 Diese Darstellung folgt annähernd wörtlich – nur unter Hinweglassung der ins 15. Jahrhundert nicht mehr passenden Regelungen über die Sklaven – den Digesten, wo es in D 48.8.4.2 heißt: „[…] constitutum quidem est, ne spadones fierent, eos autem, qui hoc crimine arguerentur, corneliae legis poena teneri […] plane si ipsi, qui hanc iniuriam passi sunt, proclamaverint, audire eos praeses provinciae debet, qui virilitatem amiserunt: nemo enim liberum servumve invitum sinentemve castrare debet, neve quis se sponte castrandum praebere debet. at si quis adversus edictum meum fecerit, medico quidem, qui exciderit, capitale erit, item ipsi qui se sponte excidendum praebuit.“42 Vermittelt ist die Bestimmung möglicherweise durch die ähnlich lautenden Ausführungen bei Azo,43 dessen Formulierung teils aber abweicht; im übrigen findet sich auch bei Azo noch ein Sonderrecht der Sklaven. Bemerkenswert ist der letzte Halbsatz im Klagspiegel: „die die solch messer machen, damit eim leycht ußgeschnitten würt/ und die, die ußschneyden, seind in der verdamnüß.“ 44 Auf den ersten Blick scheint er sehr gut mit D 48.8.5 übereinzustimmen: „Hi quoque, qui thlibias faciunt, ex constitutione divi hadriani ad ninnium hastam in eadem causa sunt, qua hi qui castrant.“45 Wird dieser Satz doch bei Otto/Schilling/Sintenis wie folgt übersetzt: „Auch Diejenigen, welche die Castrirmesser verfertigen, werden der Constitution des Divus Hadrianus an den Ninnius Hasta zufolge, ganz an derselben Stelle
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D 48.8.3.2. Azo, Summa Codicis, „Ad legem corneliam de siccariis“ (liber nonus, S. 332). Titel 35 (AT), Bl. CXXXVIII. D 48.8.4.2. Azo, Summa Codicis, „Ad legem corneliam de siccariis“ (liber nonus, S. 332). Titel 35 (AT), Bl. CXXXVIII. D 48.8.5.
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gehalten, wie Die selbst, welche castriren.“46 Tatsächlich aber handelt es sich bei den „Thlibiai“ um durch Quetschung verstümmelte Eunuchen,47 „thlibias facere“ meint also den Vorgang, jemanden durch Drücken zum Kastraten zu machen.48 Die fehlerhafte Übersetzung dürfte im Klagspiegel ebenso wie vermutlich auch bei Otto/Schilling/Sintenis auf eine möglicherweise absichtliche Fehldeutung des Wortes „thlibias“ bei den Glossatoren zurückgehen.49 So erklärt etwa Azo, auf den der Klagspiegler an dieser Stelle vertraut haben dürfte: „Item ipse qui se sponte occidendum praebuerit hi quoque qui tilibias faciunt, id est instrumenta quibus quis leviter castratur, in eadem causa qua et hi qui castrant.“50 Eine Kombination von strafrechtlicher Sanktion und zivilrechtlicher Wiedergutmachung verlangt der Klagspiegel in Titel 16 „Quod vi aut metus causa“51 für den Fall, daß ein Arzt seinen Patienten mit einer bewußten Falschbehandlung zu einer bestimmten Leistung zu erpressen sucht: „Item […] so mich ein augen artzt zwinget i[h]m zĵ gebenn oder geloben/ oder wil mir böse artzney geben/ solichs sol durch den richter gestrafft werden/ und zĵ vor der contract widerrüfft werden.“52 Neben die peinliche Strafe soll also eine Aufhebung des erzwungenen Vertrags treten, ferner gegebenenfalls Schadensersatz, der bis zum vierfachen des tatsächlichen Schadens umfassen soll.53 Die Ausführungen im Klagspiegel gehen in diesem Fall – jedenfalls ansatzweise – auf die Summa des Azo zurück, wo es heißt: „Idemque in medico, qui ei quem curabat intulit periculum per adversa medicamenta amittendorum oculorum ut ei venderet [a]eger possessiones suas […]“.54 Ursprünglich stammt das Beispiel mit dem absichtlich fehlbehandelnden Arzt aber aus den Digesten (D 50.13.3): „Si medicus, cui curandos suos oculos qui eis laborabat commiserat, periculum amittendorum eorum per adversa medica-
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Carl Eduard Otto, Bruno Schilling, Carl Friedrich Ferdinand Sintenis (Hrsg.), Das Corpus juris civilis in's Deutsche übersetzt von einem Vereine Rechtsgelehrter, 7 Bde., Leipzig 1831-1839, Pandect. L. XLVIII Tit.8, 5. Vgl. August Hug, „Thlibiai“, in: Georg Wissowa, Wilhelm Kroll, Karl Mittelhaus (Hrsg.), Paulys Realencyclopädie der Classischen Altertumswissenschaft, 2. Reihe, 11. HbBd., Stuttgart 1936, Sp. 294. Vgl. „Thlasias s. thlibias“, in: Hermann Heumann, Emil Seckel, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 11. Aufl., Jena 1907, S. 586; auch Theodor Mommsen, Römisches Strafrecht, Leipzig 1899, S. 637; zur Wortbedeutung aufschlußreich: D 50.16.128. Vgl. auch die Glossa ordinaria zu D 48.8.5. Azo, Summa codicis, „Ad legem corneliam de siccariis“ (liber nonus, S. 332). Vgl. als Vorlagen zu diesem Titel insb. Roffredus, Libelli iuris civilis, „de actione quod metus causa“ (prima pars, XXI. c); Azo, Summa Codicis, „De his que vi metusve causa gesta sunt“ (liber secundus, S. 38), und D 4.2. „Quod metus causa gestum erit“. S. ferner Max Kaser, Das Römische Privatrecht, 1. Bd., 2. Aufl., München 1971, § 59 III, S. 244 f. Titel 16 (ET), Bl. VII. B. Vgl. Titel 16 (ET), Bl. VII. B f. Azo, Summa Codicis, „De his que vi metusve causa gesta sunt“ (liber secundus, S. 39).
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menta inferendo compulit, ut ei possessiones suas contra fidem bonam aeger venderet: incivile factum praeses provinciae coerceat remque restitui iubeat.“55 Die zivilrechtliche Arzthaftung findet sich schließlich in Titel 157 im Ersten Traktat des Klagspiegels, der unter der Überschrift „De actione legis aquilie“56 die Schadensersatzklage nach der lex Aquilia behandelt. Dem römischen Recht folgend, erklärt der Klagspiegel diese Klage zunächst insbesondere bei Tötung oder Verletzung eines leibeigenen Menschen oder eines vierfüßigen Herdentieres für einschlägig. Zumindest ansatzweise wurde die aquilische Haftung aber bereits im klassischen römischen Recht auch auf die Verletzung freier Personen erstreckt. Diese, im nachklassischen Recht noch verstärkte Ausweitung,57 findet sich auch im Klagspiegel wieder, der die lex Aquilia ebenso als allgemeine Schadensersatzklage im Falle von Körperverletzungen und Tötungen freier Menschen auffaßt, solange diese nicht „in offenlichem streyt“,58 also einem gerichtlichen Zweikampf, erfolgten.59 Für eine Haftung nach der lex Aquilia verlangt der Klagspiegel neben der Verletzungshandlung auch Verschulden, das zumindest aus „unfleiß“, also Fahrlässigkeit bestehen müsse. Verantwortlich sei aber auch, wer durch sein Verhalten eine besondere Gefahrensituation herbeiführe, die dann zur Schädigung eines anderen führe. Zwar gelingt es dem Klagspiegler nicht, das hier bereits hervorleuchtende Abgrenzungskriterium der objektiven Sorgfaltspflichtverletzung in Worte zu fassen, immerhin stellt er aber folgende Kriterien einer Haftbarkeit auf: „Wölcher ursach geyt [=gibt] zĵm schaden, der würt gesehen den schaden selbs gethon habenn/ wo er aber alles das gethon hett, das nottürfftig was zĵ thĵn/ er ist nit schuldig.“60 Die unterschiedlichen Möglichkeiten einer Pflichtverletzung erläutert der Klagspiegel anhand der Arzthaftung: „Underweylen volget der unfleyß dem thĵn oder der that nach/ als so der artzt wol geschnitten [=operiert] hat und darnach so hat er das artzneyen underwegen gelassen [=unterlassen] oder verlassen. Underweylen so ist der unfleyß in der that/ als wo der artzet das schneyden oder ertzney nit kan/ und thĵts doch.“61 Im ersten Fall entsteht also aus der durchgeführten Operation eine Pflicht zur Nachbehandlung, deren Unterlassen haftbar macht; im zweiten Fall liegt die Pflichtverletzung bereits in der für einen Unerfahrenen unverantwortlichen Handlung selbst.62 Der Sache nach geht es also um die Abgrenzung einer Pflichtverletzung durch Unterlassen nach der Begründung einer 55 56
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D 50.13.3. Vgl. als Vorlagen zu diesem Titel insb. Roffredus, Libelli iuris civilis, „De actione directa legis aquilie“ (quarta pars, XCVI. a), Azo, Summa Codicis, „De lege aquilia“ (liber tertius, S. 88), und D 9.2 „Ad legem Aquiliam“. Kaser, Das römische Privatrecht I, § 144, III. 3, S. 622 und 2. Bd., 2. Aufl., München 1975, § 273, I. 2, S. 438; Roland Wittmann, Die Körperverletzung an Freien im klassischen römischen Recht, München 1972, S. 75 ff., insb. 82 ff. Titel 157, Bl. CII B. Ausführlich Deutsch, Klagspiegel, S. 324 ff. Titel 157 (ET), Bl. C. Titel 157 (ET), Bl. C. Dies offensichtlich mißverstanden bei Kehr, Ärztliche Kunstfehler, S. 124 f.
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Sorgfaltspflicht infolge vorangehenden Verhaltens und der in einem aktiven Tun liegenden Pflichtverletzung. Das Beispiel hat der Klagspiegel erneut der Summa des Azo entnommen, wo es heißt: „Quandocumque culpa sequit factum ut in medico qui bene secuit et postea dereliquit curationem quasique inest facto culpa ut si medicus imperite secat vel curat.“63 Die Grundgedanken fußen freilich auf den Digesten.64
C. Arztlohn als Teil eines Schadensersatzanspruchs Eine wichtige Rolle spielt im Klagspiegel der „artztlon“ als Teil des Schadensersatzes, insbesondere in Fällen deliktischer Haftung, etwa aufgrund einer Körperverletzung oder Tötung. Der römischen Rechtstradition folgend läßt der Klagspiegel keinen Ersatz von immateriellen Schäden zu, denn – so heißt es in Titel 157 zur lex Aquilia: „Item dise clag gebürt eim freyen menschen, so der gewundt ist/ nit umb der glider willen/ wann nyemand ist seiner glider herr […] Wann ein freyer mensch oder leyb/ nympt keinen wert/ das gantz erdtreych, das ist nit als gĵt als nur eines freyen menschen glid“.65 Deshalb beschränkt sich der Schadensersatz auf alle meßbaren, materiellen Schäden, wobei die Arzt- und Behandlungskosten zu einem der zentralen Posten innerhalb der Schadensersatzberechnung erwachsen, wie der Klagspiegel unter anderem in Titel 157 ausführt: „darumb so müssen wir schätzen das artztlon/ und alles das, das mit i[h]m vertzert ist worden, da man in i[h]m geartzneyt hat und sollen geschätzt werden die arbeit, die der vatter gemangelt hat und hinfür mangeln mĵß/ aber darumb, das[s] er frey ist, würt seiner glider auch der mosen [=Wundmalen] kein schatzung.“66 Die Formulierung ist offensichtlich an Roffredus angelehnt, der wie folgt formuliert: „ut veniunt preterite mercedes que dantur medicis et omnia impendia que in eius curatione facta sunt et estimatio operarum quibus caruit pater et cariturus est. libertatis autem ipsius vel membrorum vel cicatricum non fiet estimatio“.67 Die Beschränkung des Schadensersatzanspruchs auf den materiellen Schaden, namentlich Behandlungskosten und Verdienstausfall, begegnet aber noch an mehreren weiteren Stellen im Klagspiegel. So heißt es beispielsweise in Titel 23 (ET) in Bezug auf die Schadensersatzklage bei Realinjurien, worunter der Klagspiegel auch Fälle der Körperverletzung subsumiert: „Item würt dir abegeschlagen ein arm/ dein naße/ oder auge/ würt dir ungeschaffenheit nit geschätzt/ wann nyemandt ist seiner glider herre/ allein würt geschätzt die arbeit die underwegen bleybt damitt du verdienet hettest/ und das arztlon.“68 Nichts anderes gilt ferner
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Azo, Summa Codicis, „De lege aquilia“ (liber tertius, S. 88). Namentlich D 9.2.7.8 und D 9.2.8. pr. Titel 157 (ET), Bl. C. f. und CII B. Titel 157 (ET), Bl. CII B. Roffredus, „De actione directa legis aquilie“ (quarta pars, XCVII. a). Titel 23 (ET), Bl. XII B.
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laut Titel 158 „Si quadrupes pauperiem fecisse dicatur“69 für die Tierhalterhaftung, wenn ein Haustier Schaden anrichtet: „Item merck/ wo ein thier thĵt schaden eim freyen menschen/ als so es i[h]m ein aug ußschlecht oder ein arm/ so sol nit angesehen werden die unsauberkeit/ sunder allein die kostung des artzetlons und versaumnüß der arbeit.“70 Besonders ausführlich geht der Klagspiegler aber in Titel 71 „De his qui effuderunt vel deiecerunt“71 zur Schadensersatzklage gegen diejenigen, die etwas aus Häusern werfen oder schütten und damit Passanten verletzen, auf die Problematik ein: „Item würt etwas ußgossen oder geworffen, davon ein schwanger frawe oder sunst ein mensch kranck würde/ wie die kranckheit geheissen ist/ den selben menschen, es were frawe oder mann, gebürt dise clage.“72 Zunächst schreibt Conrad Heyden hier über den Umfang des Schadensersatzes: „Geschehe aber einem frey geborn menschen […] ein schade. Als ob i[h]m sein haupt were gebrochen oder eineugig würde/ oder sunst ein schaden geschehen were/ so sol der richter ynen erkennen, was billich ist/ wann er sol ansehen die zerung des krancken/ den lone des artzt/ und was er die selben weyl verdienet hette/ und was er hinfüre verdienen möcht/ were er sollichs werffens zĵ arbeiten gantz untüglichen worden, aber der masen oder ungeschaffenheit soll nit gedacht werden/ wann ein freyer leyb mag nit vergolten werden/ das cleinest glid am menschen mag nit mitt der gantzen krafft vergolten werden.“73 Heyden hat hierbei durchaus das Mißverhältnis vor Augen, daß für die Tötung eines freien Menschen, und sei er gar ein „graff/ herr oder ein ander edle[r]“, in vielen Städten pauschal 50 Gulden zu zahlen seien, wo doch „offt einer den andern L. gulden mĵß geben für ein tods pfert“. Im Falle der Tötung eines Menschen würden die 50 Gulden aber nicht „umb den wert gegeben“, sondern als Strafe, „wiewol sie clein ist gegen die sünde/ so hat es doch der rechtsetzer also gesetzt“.74 Der Schadensersatzanspruch soll somit hiervon unberührt bleiben. Wie Behandlungskosten und der Arztlohn vor Gericht geltend zu machen sind, verdeutlicht der Klagspiegel mit einem Formulierbeispiel: „Herr richter ich clag eüch von N., uß des selben hauß, darinn er wonet, ist das etc. ußgossen oder geworffen worden/ davon ich an meiner handt/ aug oder haupt etc. geschediget bin/ und hab umb sollicher beschedigung willen zweintzig pfundt verzert/ zehen pfundt dem artzt geben/ sovil schadt es mir an meiner arbeit, die ich versaumet hab/ unnd auch 69
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Vgl. den gleichnamigen Titel D 9.1; Durantis, Speculum iuris, „De iniuriis & damno dato“ (Lib. IV, part. IV), § 2, Nr. 14; und Roffredus, Libelli iuris civilis, „De actione in factum de pauperie“ (quarta pars, XCVIII. a). Titel 158 (ET), Bl. CIII B. Vgl. als Vorlagen zu diesem Titel insb. Roffredus, Libelli iuris civilis, „de actione in factum de his qui deiecerunt vel effuderunt“ (tertia pars, XLVIII. c), Durantis, Speculum iuris, „De iniuriis & damno dato“ (Lib. IV, part. IV), § 2, Nr. 25 ff.; und D 9.3 „De his, qui effuderint vel deiecerint“. Titel 71 (ET), Bl. XXXIII B. ff. Titel 71 (ET), Bl. XXXIII B. Titel 71 (ET), Bl. XXXIV. Eine ähnliche Diskussion findet sich bereits bei Roffredus, „De actione in factum de pauperie“ (quarta pars, XCVIII. b).
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schadt es mir sovil hinfür/ wann ich dauge zĵ meiner arbeit nymmer. Bitt etc. erkennen, das[s] er mir sollich summa gelts schuldig sey zĵ geben/ und das[s] er mirs gebe etc.“75 Der Anspruch verjähre für den Geschädigten nie, für seine Hinterbliebenen aber binnen Jahresfrist. Die Formel ist vermutlich angelehnt an das Speculum des Durantis, wo zur Klage „ff. de his, qui deiec. vel effud.“ ebenfalls die drei Verletzungsbeispiele „caput meum fractum est, vel manum, vel oculum amisi“76 begegnen. Ähnlich klingt zudem die Klage: „Cora, &c. conqueror de P ex cuius domo tale quid deiectum, vel effusum est; unde corpus meum laesum est; propter quam laesionem tot expensas feci, tantum medicis solui, tot operis carui,& etiam sum cariturus; quas operas estimo xx. unde ago contra eum, ut omnia praedicta mihi praestet […]“.77 Eine bemerkenswerte Ausnahme vom Anspruch auf Ersatz der Arztkosten macht Titel 157 (ET) für den Fall, daß der Behandelte unmittelbar nach Beginn der ärztlichen Tätigkeit stirbt: „Item wo ein freyer mensch ertödt würt/ alsbald das[s] i[h]m sein artzney ist geschehen/ so würt kein geschätzt/ es würt aber geschätzt die arbeit, der der vatter mangeln mĵß.“78 Die Kosten einer unwirksamen Behandlung sollten dem Schädiger offenbar nicht aufgebürdet werden.79 Als zweite wichtige Gruppe von Klagansprüchen, die auf Ersatz des Arztlohnes zielen, kennt der Klagspiegel unterschiedliche Fälle der Vertragsverletzung. So erwähnt Titel 139 (ET) „De contraria pignoraticia“80 die Klage auf Ersatz der Behandlungskosten für einen verpfändeten Leibeigenen, der erkrankt ist: „Herr richter ich clag eüch von R., der hat mir für x. pfundt, die er mir schuldig ist gewesenn, ein sollichen sein eygen menschen zĵ pfandt gesatzt/ der ward des siechtagen kranck/ in der selben kranckheit hab ich xl. ß ußgeben umb artzney. Bitt etc. erkennen, das[s] er mir schuldig sey, die selben xl. ß wider zĵ geben etc.“81 Das Klagebeispiel geht vermutlich auf verschiedene Formeln im Speculum des Durantis zurück,82 beruht aber letztlich auf D 13.7.8 pr., wo ebenfalls die Frage nach den Heilungskosten für einen verpfändeten, kranken Sklaven aufgeworfen wird.83 Ob dies zur Entstehungszeit des Klagspiegels noch in irgendeiner Weise von prak75 76 77 78 79
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Titel 71 (ET), Bl. XXXIV. Durantis, Speculum iuris, „De iniuriis & damno dato“ (Lib. IV, part. IV), § 2, Nr. 26. Durantis, Speculum iuris, „De iniuriis & damno dato“ (Lib. IV, part. IV), § 2, Nr. 26. Titel 157 (ET), Bl. CII B. Möglicherweise geht die Formulierung auch auf Durantis, Speculum iuris, „De iniuriis & damno dato“ (lib. IV, part. IV, § 2, Nr. 4) zurück: „Quid si statim obiit, nec aliques impenses sunt in medicis factae? Resp. tunc aestimabuntur operae, quibus pater cariturus est […]“. Vgl. als Vorlagen zu diesem Titel insb. Roffredus, Libelli iuris civilis, „De actione pignoraticia que datur creditori“ (quarta pars, LXXXIII. c), Azo, Summa Codicis, „De pignoribus“ (liber octavus, S. 306) und C 8.13 „De pignoribus“, worauf der Klagspiegler ausdrücklich verweist. Titel 139 (ET), Bl. XCII f. Durantis, Speculum iuris, „De pignoribus & aliis cautionibus“ (Lib. IV, part. III), vgl. dort auch die Additiones des Johannes Andreae. Hierzu ausführlich: Karl-Heinz Below, Der Arzt im römischen Recht, München 1953, S. 70 ff.
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tischer Relevanz gewesen sein kann, muß dahingestellt bleiben. Auffallend ist immerhin, daß die parallelen Klagen zum Kauf- und Mietvertrag im Klagspiegel nicht anhand von Leibeigenen sondern anhand von erkrankten Pferden dargestellt wurden, obgleich Azo und Roffredus auch bei diesen Klagen Beispiele mit Sklaven bilden. So lautet die entsprechende Formel in Titel 125 „De actione ex vendito“:84 „Herr richter ich clag eüch, das[s] ich R. zĵ kauffen geben hab ein solichs pferdt umb zweintzig pfundt/ der müntze/ unnd wann ich bereit bin dem genanten R. das pferdt zĵ übergeben. Item als ich nach sollichem kauffen und verkauffen, da dz pfert in eim solichen siechtagen gefallen was, x. pfund umb artzney ußgeben hab. Bitt etc. erkennen, das[s] er mir die xx. gulden, darumb er dz pferdt kaufft hat/ und die x. gulden, die ich zĵ artzney ußgeben hab sol widergeben und betzalen/ und das ers thue.“85 Und in Titel 137 „Contraria commodati“86 wird dem Entleiher beispielsweise eines Tieres der Anspruch auf Ersatz unerwarteter, aber notwendiger Mehrausgaben gewährt, „als für ertzney/ o[h]n speyß/ dann die speyß sollen nit wider gekert werden.“87
D. Der Arzt als Sachverständiger Dem Gerichtsverfahren nach germanisch-deutscher Rechtstradition war der Beweis durch Sachverständige ursprünglich fremd. Neben den formalen Beweismitteln des Eides, der Eideshelfer, dem Gottesurteil und später auch der Urkunde war für eine materielle Beweisführung, etwa durch einen Sachverständigen kein Platz. Zwar kannte auch das mittelalterliche deutsche Recht die Wundbeschau eines Verletzten und Toten im Wege der sogenannten „leiblichen Beweisung“, jedoch erfolgte diese Beschau zumindest ursprünglich allein durch das Gericht oder durch von diesem entsandte (fachunkundige) Boten oder Schöffen.88 Erst ab etwa 1350 lassen sich einzelne Fälle belegen, in denen das Gericht bei seinem Augenschein Wundärzte als Experten hinzuzieht, eine Veränderung, die nachweislich auf rö-
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Vgl. als Vorlagen zu diesem Titel insb. Roffredus, Libelli iuris civilis, „De actione ex vendito“ (quarta pars, LXXV. c), Azo, Summa Codicis, „De actione empti et venditi“ (liber quartus, S. 159) und „De periculo et commodo rei vendite“ (liber quartus, S. 158) und „De pactis inter emptore et venditore compositis“ (liber quartus, S. 162); D 19.1 „De actionibus empti venditi“, ferner D 21.1.31.11 f. Titel 125 (ET), Bl. LXXVII. Vgl. als Vorlagen zu diesem Titel insb. Roffredus, Libelli iuris civilis, „De contraria actione commodati“ (quarta pars, LXXXII. d), Martinus de Fano, „Liber formularii“ (Rubrik LXII.): Beispiel ist hier ein Pferd; ferner D 13.6 „Commodati vel contra“. Titel 137 (ET), Bl. XC B. Carl Gustav Homeyer (Bearb.), Der Richtsteig Landrechts nebst Cautela und Premis, Berlin 1857, S. 478; August von Kries, Der Beweis im Strafprocess des Mittelalters, Weimar 1878, S. 36.
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misch-italienische Einflüsse zurückzuführen ist.89 Damit ist freilich der entscheidende Schritt zum selbständig gutachtenden medizinischen Sachverständigen noch nicht gegangen. Denn erst mit der Rezeption des römischen Rechts und der Durchsetzung des Inquisitionsprozesses mit seinem immanenten Gebot einer Täterüberführung mittels rationaler Beweismittel, konnte sich der Sachverständigenbeweis als Beweismittel im Prozeß durchsetzen.90 Der Begriff des Sachverständigen wurde vermutlich erstmals in der Constitutio Criminalis Bambergensis (1507) verwendet,91 wonach „die wundtertzt, der sach verstendig, und ander person, die da wissen, wie sich der gestorben nach der schlacht gehalten hab, zu zeugen gebraucht werden“92 sollen. Diese Bestimmung der CCB ist deutlich an Titel 56 (AT) des Klagspiegels angelehnt,93 wo sich die Redewendung findet: „durch den artzet. Wann […] der die selben kunst kann“.94 Der Klagspiegel zählt zu den frühesten deutschsprachigen Schriften, die einen eigenständigen Sachverständigenbeweis propagieren. Nicht zufällig steht hierbei der sachverständige Arzt im Mittelpunkt. War nämlich nach römischem Recht noch der „agrimensor“ (Landvermesser) das typische Beispiel für einen Sachverständigen,95 der vom Gericht befragt wurde, änderte sich dies schlagartig mit der mittelalterlichen italienischen Rechtswissenschaft, auf die sich der Klagspiegler vornehmlich stützt. Als grundlegend kann eine Dekretale von Papst Innozenz III. (1198-1216) aus dem Jahre 1209 geltend, in der die Beiziehung sachkundiger Ärzte in einem Gerichtsverfahren angeordnet wurde.96 Für die Rechtsentwicklung wegweisend waren aber auch die beweisrechtlichen Ausführungen von Albertus Gandinus in dessen zwischen 1286 und 1300 entstandenem „Tractatus de maleficiis“. Kantorowicz97 würdigte dieses Werk als erste Monographie zum Strafrecht als eigenständiger Rechtsmaterie. Zahlreiche Handschriften und Drucke zeugen von der weiten Verbreitung der Schrift.98 Den eigenständigen Charakter des (ärztlichen) Sachverständigenbeweises erläutert Gandinus im Kapitel „De homicidiariis et eorum pena“. Conrad Heyden scheint die weitreichende Bedeutung der 89
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Ausführlich hierzu demnächst der Verfasser. Vgl. ferner Andreas Deutsch, Beweis, in: Albrecht Cordes, Heiner Lück u. a. (Hrsg.), HRG, 1. Bd., 2. Aufl., Berlin 2005; Manfred Neidert, Sachverständige, in: Erler, HRG, 4. Bd., Sp. 1251-1253, hier 1252; Udo Kornblum, Beweis, in: Erler, HRG, 1. Bd. 1, 1. Aufl., Sp. 401-408, hier 404. Enno Poppen, Die Geschichte des Sachverständigenbeweises im Strafprozeß des deutschsprachigen Raumes, Göttingen, Zürich 1984, S. 47 f. So auch Walter Hepner, Richter und Sachverständiger, Hamburg 1966, S. 27; Neidert, Sachverständige, in: Erler, HRG, 4. Bd., Sp. 1251-1253, hier 1252. Art. 173 CCB. Ausführlich bei: Deutsch, Klagspiegel, S. 580 ff., 600. Titel 56 (AT), Bl. CXLVIII B. Vgl. D 11.6 „Si mensor falsum modum dixerit“. Dekretalen Lib.V., tit.XII., c.18; zit. nach: Justus Henning Böhmer (Hrsg.), Corpus juris canonici Gregorii XIII., Halle 1747. Hermann U. Kantorowicz, Albertus Gandinus und das Strafrecht der Scholastik (2 Bde.), Heidelberg 1907 und 1926. Siehe bei Friedrich Carl von Savigny, Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, 5. Bd., Heidelberg 1850, § 168, S. 563 f.
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dortigen Ausführungen erkannt zu haben, denn er baut hinsichtlich der entscheidenden Regelungen erstaunlich getreu und fast ausschließlich auf Gandinus auf und exzerpiert mit Geschick aus den breiten Ausführungen seiner Vorlage die wichtigsten Sätze. Zunächst betont der Klagspiegler an mehreren Stellen, wie wichtig es bei Körperverletzungen und Totschlägen sei, daß alle Wunden und Schläge aufs genaueste besichtigt würden, dies gelte insbesondere dann, wenn möglicherweise nicht nur ein Täter in Betracht komme. „Es sol eins yegklichen dartzĵ gesamlet streich oder schlag angesehen werden“,99 formuliert er beispielsweise in Titel 157 (ET) und schließt sich damit Azo an, der in seiner Summa Codicis formulierte: „Ceteri vero tenentur de vulnerato nam ictus uniuscumque in hoc collectione contemplari oportet […]“.100 In Titel 35 (AT) „Ad legem corneliam de siccariis“101 heißt es etwas konkreter: „Item du solt mercken, wo einer in eim hader ertödt würt/ das[s] eins yegklichen gesameten schlag und stich sol angesehen werden in solchem“.102 Weiter unten greift er den Gedanken nochmals mit den Worten auf: „Am ersten wann in malefitzen sollen die beweysung clarer und liechter sein dann der mittag. Item in diesen rechten sol eins yegklichen schlag beschauwet werden, uff das[s] ein yegklicher nach seinem schlagen gestrafft werd.“ 103 Hinsichtlich der Frage, wer die Wunden zu beschauen hat, läßt der Klagspiegel – wie oben bereits erwähnt – keinerlei Zweifel aufkommen: „Setz, das[s] einer verwundt unnd ertödt sey von yegklichem/ unnd in sollichem ist nottürfftig, das[s] eins yegklichen streych wundenn angesehen werden. Wer unnd durch wenn sollen die streych unnd wunden beschauwet unnd anngesehen werden[?]/ sprich durch den artzet. Wann mann sol zĵ dem zĵflĵcht haben, der die selben kunst kann. Als auch gesprochenn würt von dem undergenger agrimessor in latein genant.“104 Mit dieser Aussage in Titel 56 (AT) wird der Arzt als Sachverständiger vor Gericht etabliert: Nicht mehr das Gericht selbst, auch nicht unter Beiziehung eines Wundarztes, soll die Wundbeschau durchführen, sondern allein der Arzt, weil dieser über die nötige Sachkunde verfügt. Diese wichtige Bestimmung geht nahezu wortgetreu auf Gandinus zurück, der formulierte: „Item, quis contemplabitur ictus vulnerati? Respondeo, nos hec sciemus dicto et relatione medicorum, […] Nam ad eum recurrendum est, qui habet peritiam rei, […] sicut dicitur de agrimensore“.105 99 100 101
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Titel 157 (ET), Bl. CI. Azo, Summa Codicis, „De lege aquilia“ (liber tertius, S. 89). Vgl. als Vorlagen: Azo, Summa Codicis, „Ad legem corneliam de siccariis“ (liber nonus, S. 332); Gandinus, Tractatus de maleficiis, „De homicidiariis et eorum pena“, § 11 (Edition von Kantorowicz: S. 287 f.) und „De penis reorum in genere et de percussione et insultu“, § 22 (Edition von Kantorowicz: S. 226); ferner C 9.16. Titel 35 (AT), Bl. CXXXVIII. Vgl. hierzu die Übereinstimmungen bei Gandinus, Tractatus de maleficiis, „De homicidiariis et eorum pena“, § 11 (in der Edition von Kantorowicz: S. 287). Titel 35 (AT), Bl. CXXXVIII B. Titel 56 (AT), Bl. CXLVIII B. Gandinus, Tractatus de maleficiis, „De homicidiariis et eorum pena“, § 21 a. E. (in der Edition von Kantorowicz: S. 304).
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Ganz ähnlich hatte auch Durantis in seinem „Speculum iuris“ geschrieben, den der Klagspiegler vielfach für sein Buch verwendete: „Hoc quoque notandum est, quod medico creditur de sua medicina […] item mensori de officio suo […] quia magis credendum est ei, qui de arte sua testificatur.“106 In diesem Fall diente jedoch eindeutig Gandinus als Vorlage für den Klagspiegel, denn auch der nachfolgende Satz des Gandinus findet sich annähernd wörtlich in Heydens Rechtsbuch wieder: „si duo vel tres medici de chirurgia dicant et referant aliquem vulneratum fore mortuum ex vulnere […], quod magis credatur eis quam X vel XX testibus non medicis, qui deponant, quod sit mortuus ex febre superveniente“,107 heißt es bei Gandinus. „Item uß disem rechten folgt/ das[s] mann zweyen wundt artzten, die da sprechen/ das[s] einer sey vonn sollichen wunden gestorbenn/ baß glauben sol dann zwentzig zeügenn, die do sprechen, das[s] der verwundt vom zĵkommendenn sachen selber gestorben sey“,108 hebt der Klagspiegel hervor. Diese Worte sind nicht minder bedeutend als die vorangegangenen, denn sie verdeutlichen einprägsam die herausgehobene Position des sachverständigen Arztes, dem aufgrund seiner Fachkenntnisse eine ganz andere Rolle als einem einfachen Tatzeugen zukommen soll. Erst hiermit steigt der vom Gericht um Auskunft gebetene Arzt vom bloßen Handlanger bei der „leiblichen Beweisung“ bzw. vom einfachen Zeugen mit Sachverstand auf zum Sachverständigen als eigenständigem Beweismittel. Daß der Klagspiegel diesen Sachverständigen nicht mit einem Zeugen gleichsetzt, verdeutlicht auch die – der Sache nach ebenfalls von Gandinus übernommene109 – Diskussion über die Frage, wie ein auf einer ärztlichen Falschbegutachtung aufbauendes Urteil aufgehoben werden kann: „Item setz, das[s] einer sey vonn etlichen verwundt wordenn/ unnd darnach gestorbenn/ der artzet hat gesagt, er sey von den wunden gestorben, die i[h]m Peter geschlagen hatt/ der richter hat denselben Petern verdampt als ein manschlachtigen/ der selbe Peter spricht und bringet für/ er sey nit von seiner wunden gestorben/ sunder vonn der andern wunden/ und bitt, das[s] mann andere besser meyster bringe/ unnd dieselben erkennen laß, vonn weß verwunden er ertödt sey/ unnd dieselben artztet sprechenn, er sey von der andern wundenn gestorbenn/ ob nun solch gegeben urteyl krefftig sey. Sprich sicherlich nein zĵ gleycher weyß als etlich recht sprechenn/ das[s] das urteyl, das geben worden ist durch falsch zeugen oder instrument oder brieff krafftloß ist und sol krafftloß geurteylt werden biß uff zweintzig iare.“110 Die Wiederaufnahme des Verfahrens muß hier nur deshalb diskutiert werden, weil es sich beim Sachverständigen gerade um keinen Zeugenbeweis handelte, für den im Falle der Falschaussage eine Wiederaufnahme längst anerkannt war. Eine Wiederaufnahme sollte aber „zĵ gleycher weyß“ möglich sein wie nach Entdekkung einer falschen Zeugenaussage oder einer gefälschten Urkunde. Dies zeigt, 106 107
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Durantis, Speculum iuris, „De probationibus“ (Lib. II, part. II), § 4, Nr. 26 f. Gandinus, Tractatus de maleficiis, „De homicidiariis et eorum pena“, § 21 a. E. (in der Edition von Kantorowicz: S. 304). Titel 56 (AT), Bl. CXLVIII. B. Gandinus, Tractatus de maleficiis, „De homicidiariis et eorum pena“, § 23 (in der Edition von Kantorowicz: S. 304 f.). Titel 56 (AT), Bl. CXLVIII. B.
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daß der neu aufkommende Sachverständigenbeweis als gleichartiges, aber selbständiges Beweismittel neben diese beiden klassischen Beweise treten sollte. Die bei Gandinus nur nebenbei erwähnte Notwendigkeit zweier oder dreier Ärzte für die Erbringung des vollen Beweises war nach zahlreichen italienischen Stadtrechten längst Standard, so nicht nur in Bologna, wo Gandinus wirkte, sondern beispielsweise auch in Ferrara, Mirandola und Genua, um nur einige Beispiele zu nennen.111 In Padua sah bereits eine Verordnung aus dem Jahre 1277 vor, daß die gerichtsmedizinische Wundbeschau durch mindestens zwei Ärzte zu erfolgen habe: „Potestas Paduae teneatur […] quotiens opus fuerit occasione alicuius vulnerati constrigere Gastaldiones Medicorum, ut sibi nominet, duos Medicos suae Fratulae […]“.112 Häufig war, wie auch von Gandinus gefordert, zumindest im Zweifelsfall ein dritter Experte hinzuzuziehen. Wenn der Klagspiegel hiervon abweichend die Anzahl von „zweyen wundt artzten“ genügen läßt, so beruht dies zweifellos auf der Erkenntnis, daß mehr Wundärzte im vergleichsweise wenig entwickelten Deutschland des 15. Jahrhunderts im Regelfall ohnehin nicht zur Verfügung standen. Die Zweierzahl steht zudem in prägnanter Parallele zum Grundsatz „testis unus, testis nullus“ beim Zeugenbeweis. Interessanterweise begann sich die Hinzuziehung zweier Wundärzte in Deutschland erst nach Entstehung des Klagspiegels durchzusetzen und zwar vermehrt in der Phase, als auch der Klagspiegel an Verbreitung gewann.113 Noch ein weiterer Absatz in Titel 56 (AT) des Klagspiegel verdient unsere Beachtung: Dort erläutert Conrad Heyden nämlich das Problem der Auswahl eines Sachverständigen: „Item so einer verwundet ist/ unnd der richter wil ein artzet welenn/ unnd die freundt des verwundtenn sprechenn zĵm richter/ sie wollen den artzet selber welen/ was sol herynn geschehen. Sprich/ ist, das[s] die freunndt des verwundten/ unnd des[sen], der verwundt hat/ seinnd eyntr[a]echtig, den artzet zĵ erwölenn/ so sol sich sein der richter nit underwinden. Seind sie aber nit eins/ so sol der richter welen/ deßgleychen steet auch geschriben von den vormundern, die nitt eins seindt.“114 Auch diesmal folgt der Klagspiegel weitgehend wörtlich Gandinus, der schreibt: „Item pone fore aliquem vulneratum, iudex vult eligere medicum, qui videat et contempletur vulnera, amici vero vulnerati dicunt, medicum se velle eligere. Quid fiet? Dic, quod, si amici vulnerantis et vulnerati sint in concordia, quod iudex non habet se intromittere, sed si sunt in discordia, tunc ipse iudex
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Vgl. etwa Josef Kohler, Giustiniano degli Azzi, Das Florentiner Strafrecht des XIV. Jahrhunderts, mit einem Anhang über den Strafprozess der italienischen Statuten, Mannheim, Leipzig 1909, S. 247; Bohne, Gerichtliche Medizin im italienischen Statutarrecht, S. 72; hierzu ferner demnächst ausführlich der Verfasser. Statutorum magnificae Civitatis Paduae libri sex, Venedig 1747, 2. Bd., Bl. 18. Als frühes Beispiel sei nur die „Ordnunge des statgerichts zu Wirtzburg“ aus dem Jahre 1447 angeführt: „Item es sollen nu furbas zwen gesworen wunderzt, uber ein igliche wunde zu besagen, wo man das begert“, in: Hermann Knapp (Hrsg.), Die Zenten des Hochstifts Würzburg, Bd. 1/2, Berlin 1907, S. 1274 ff., S. 1278. Titel 56 (AT), Bl. CXLVIII. B.
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eliget medicum, arg. eius quod dicitur de tutoribus Inst. de satisdatione tutorum § sin. autem […]“.115 Nur erwähnt sei noch, daß der Klagspiegel auch die Hebamme als Sachverständige anerkennt. So heißt es in Titel 78 „Si mulier ventris nomine etc.“,116 wenn eine Frau „geglaubt hat, sie sei schwanger“, dann sei maßgeblich, ob auch „die hebammen haben es dafür gehalten“. Haben die Hebammen irrtümlich eine Schwangerschaft bejaht, etwa weil die Frau „i[h]r recht zeyt nit gehabt“ oder weil sie der Frau „umb ander sach willen uffgehört“,117 dann bleibt die Frau im Recht – im konkreten Fall ist ihre Einsetzung in den Nachlaßbesitz nicht unrechtmäßig. Diese Ausführungen gehen auf Roffredus zurück, in dessen Kapitel „De actione in factum ex illo edicto. si mulier ventris no. calum. causa in pos. missa esse dicatur“ geschrieben steht: „mulier […] potest enim esse sine calumnia si forte credebat se pregnantem vel asseverabatur pregnans ab obstetricibus. puta quod forte cessaverunt menstrua et habebat dolores, habebat fastidium. Tertium si aliquo sero multum comedisset de faba. quod venter intumuit: non debuit credere se pregnantem […]“.118
E. Rechtliche Präsumtionen als Ersatz für medizinische Sachverständige Insbesondere mit dem Kognitionsverfahren, wie es das Corpus iuris festschrieb, kamen bereits im römischen Recht zahlreiche sogenannte Präsumtionen, also Beweisvermutungen, auf, nach denen ein Sachverhalt aufgrund eines logischen Rückschlusses als bewiesen galt. Der oberitalienische römisch-kanonische Prozeß des Mittelalters entwickelte hieraus ein regelrechtes System von praesumptiones, die vielfach bis ins Detail ausgefeilt waren.119 In medizinrechtlicher Hinsicht wurden derartige Beweisvermutungen insbesondere im Bereich der Zeugung und Ehelichkeit von Kindern benötigt und in diesem Zusammenhang begegnen sie auch im Klagspiegel. Das Problem liegt Conrad Heyden klar vor Augen: Die Beweisvermutung wird da gebraucht, wo ein Beweis (mit den technischen Mitteln der Zeit) nicht möglich war, so sei es namentlich „unmüglich zĵ beweysen/ das[s] der des oder des sun [=Sohn] sey/ wann zĵ sollichen wercken nympt man kein zeügen.“120 In Titel 107 zur Klage „De preiudiciali in rem per quam queritur an 115
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Vgl. Gandinus, Tractatus de maleficiis, „De homicidiariis et eorum pena“, § 21 a. E. (in der Edition von Kantorowicz: S. 304). Vgl. als Vorlagen: Roffredus, Libelli iuris civilis, „De actione in factum ex illo edicto. si mulier ventris no. calum. causa in pos. missa esse dicatur“ (tertia pars, L. c), und D 25.6 „Si mulier ventris nomine in possessione calumniae causa esse dicitur“. Titel 78 (ET), Bl. XXXVI B. Roffredus, Libelli iuris civilis, „De actione in factum ex illo edicto. si mulier ventris no. calum. causa in pos. missa esse dicatur“ (tertia pars, L. c). Vgl. Deutsch, Beweis, in: Cordes/Lück, HRG, 1. Bd., 2. Aufl. m.w.N. Titel 107 (ET), Bl. LX B.
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aliquis sit filius in potestate patris“, mit welcher der Vater sein eheliches Kind, sofern es noch in seiner Gewalt steht, von Dritten herausverlangen kann, stellt der Klagspiegel daher einige Präsumtionen auf, wann von einer (ehelichen) Vaterschaft ausgegangen werden kann und muß. Die entscheidenden Passagen finden sich unter der Klagvoraussetzung Nummer 6: „Am sechsten/ das[s] du von deim weyb nit seyst gewesen/ wann so du von deinem weyb bist gewesen unnd nun kompst/ und vindest ein kindt eins iars alt von deiner frawen geborn/ das selb kindt ist dein nit/ noch in deinem gewalt.“121 Der Text lehnt sich ganz unmittelbar an die Darstellungen von Roffredus zu dieser Klage an, wo es heißt: „Sextum quod steteris cum uxore tua: alioquin si multo tempore fuisti absens et reversus invenisti anniculum, ille non erit tuus filius nec in potestate.“122 Zur Erläuterung der Stelle fügt der Klagspiegler an: „Item merck/ es mag ein fraw von natur in dem sybendem monat nach dem und sie von dem mann beschlossen worden ist/ ein natürlich kindt geb[a]e[h]ren/ und das selb kindt mag lang leben. Item auch im achten und im neündten monat/ aber die selben kindt mögen nit lang leben/ fürter in dem zehenden so mögen die selben kindt lang leben.“123 Die Vermutung der Ehelichkeit eines Siebenmonatskindes geht auf die Digesten zurück, die sich selbst auf Hippokrates beziehen: „Septimo mense nasci perfectum partum iam receptum est propter auctoritatem doctissimi viri hippocratis: et ideo credendum est eum, qui ex iustis nuptiis septimo mense natus est, iustum filium esse.“124 Und schon die Zwölf Tafeln bejahten die eheliche Zeugung und Abstammung eines Kindes, wenn es innerhalb von zehn Monaten nach Beendigung der Ehe geboren wurde.125 Der Grundsatz der Zehnmonatsschwangerschaft begegnet aber auch in den Digesten, woraus ihn der Klagspiegler gekannt haben dürfte: „Post decem menses mortis natus non admittetur ad legitimam hereditatem.“126 Bereits gut 100 Jahre vor Entstehung des Klagspiegels wurde in Italien diskutiert, ob die Ehelichkeitsvermutung nach D. 1,5,12 wirklich unwiderleglich sein könne, wie ein von Kantorowicz127 veröffentlichter Brief aus der Zeit um 1326/34 belegt. Der Mediziner Gentile rät darin dem Juristen Cino de Pistoia, der daran zweifelte, ob die in den Digesten ausgesprochene Beweisregel den tatsächlichen Verhältnissen gerecht werde, man solle tüchtige Ärzte mit der Untersuchung und Begutachtung der Ehelichkeit betrauen: „Ergo, Domine Cyne, quando de his cadit 121 122
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Titel 107 (ET), Bl. LX B. Roffredus, Libelli iuris civilis, „De actione in rem preiudiciali. qua queritur an aliquis habeat filium in potestate“ (quarta pars, LXIII. c). Titel 107 (ET), Bl. LX B. D 1.5.12. XII Tafeln 4,4; hierzu Kaser, Das Römische Privatrecht I, § 83, S. 345. D 38.16.3.11. Hermann U. Kantorowicz, Cino di Pistoia ed il primo trattato di medicina legale, in: Archivio storico italiano 37 (1906), S. 115-122; hierzu auch die Rezension von Paul Fraenckel, in: Vierteljahrsschrift für gerichtliche Medizin und öffentliches Sanitätswesen 34 (1907), S. 109.
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questio inter iurisperitis, accipiant medicos probos, qui considerata comprexione puery nati et mulieris, poterunt dicere: sit natus ex marito vel ex fratre.“128 Eine ernsthafte Möglichkeit der Ärzte, die Vaterschaft festzustellen, gab es freilich zu dieser Zeit nicht.129 Dennoch kann das Votum des Gentile als wegweisend gelten. Bis nach Deutschland und zu Conrad Heyden war die Diskussion aber ganz offensichtlich nicht gedrungen, denn Heyden schreibt schlicht: „Item darumb sprechen die recht in dem obgemelten Titel/ das[s] man glauben sol/ das[s] die kindt wie obstat recht eekindt sein/ wann man mag sollichs nit beweysen“.130 Eine Ausnahme von dieser Ehelichkeits- und Vaterschaftsvermutung ergibt sich nach dem Klagspiegel nur dann, wenn der Mann als Vater nicht in Betracht kommt: „Item wo aber der mann so alt w[a]er/ oder solliche kranckheit h[a]et[t]/ das[s] er zĵ etlichen wercken nit geschickt w[a]er/ wiewol sein fraw bey i[h]m wonende ein kindt geb[a]e[h]re/ sollichs w[a]er nit sein“.131 Der gleiche Gedanke begegnet noch einmal in Titel 144 (ET) „De actione que oritur ex confessione“:132 Wer als Zeugungsunfähiger bekennt, er habe ein Kind gezeugt, soll demnach nämlich nicht an sein „bekennen“ gebunden sein, denn es sei nötig, „das[s] sollichs bekennen also volbracht mag werden/ wann so ich noch nit pubes [=mannbar] bin/ bekenne das[s] ich die eefrawen gehelßt hab [=Geschlechtsverkehr gehabt habe]/ sollichs bekennen schadt mir nit/ wann ich mag darumb nit verclagt und accusiert werden. Es möcht aber ein ander, der pubes were, darumb verclagt werden. Oder so ich kein hoden oder kein zagel het/ und bekennet ich het die frawen gehelßt.“133 Diese Stelle geht weitgehend wörtlich auf Roffredus zurück, bei dem es heißt: „Octavum de quo cum alio actio esse potest vel rem eam esse ideo dicitur, quia si confiteor me occidisse illum qui vivit vel dum sim impubes me commisisse adulterium vel si virga vel genitalibus carerem non preiudicat […]“.134 Ähnlich schrieb bereits Azo: „ut ecce si impubes vel genitalibus carens confiteatur se adulterium commisisse, non trucidabitur.“135
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Alberico Gentile, Tractatus magistry Gentilis de Fulgineo super lege VII0 mense ff. de statu hominum, abgedr. in: Archivio storico italiano 37 (1906), S. 122-128, S. 128. Zur Blutgruppenfeststellung als erstem Vaterschaftstest ab 1926 vgl. Heinz Schott (Hrsg.), Die Chronik der Medizin, Gütersloh 2000, S. 234. Titel 107 (ET), Bl. LX B. Titel 107 (ET), Bl. LX B. Vgl. als Vorlagen zu diesem Titel insb. Roffredus, Libelli iuris civilis, „De actione in factum vel utili que oritur ex confessione“ (quarta pars, LXXXVI. b), Azo, Summa Codicis, „De confessis“ (liber septimus, S. 287), und D 42.2 „De confessis“; s. ferner Max Kaser, Karl Hackl, Das Römische Zivilprozeßrecht, 2. Aufl., München 1996, § 37, S. 270 ff. Titel 144 (ET), Bl. XCIV B. Roffredus, Libelli iuris civilis, „De actione in factum vel utili que oritur ex confessione“ (quarta pars, LXXXVI. c). Azo, Summa Codicis, „De confessis“ (liber septimus, S. 287).
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F. Rechtlicher Schutz für den Kranken An mehreren Stellen begegnen im Klagspiegel besondere Schutzbestimmungen für Kranke und Schwache, denen bestimmte Lasten des Gesetzes nicht zugemutet werden sollen. Diese Bestimmungen stehen neben den Privilegien und Restriktionen zum Schutz etwa der Frauen und Minderjährigen, die hier ausgeklammert bleiben sollen. Aufgrund seiner für die spätere Rechtsentwicklung wegweisenden Bedeutung sei aber kurz auf das Recht der „Geisteskranken“ eingegangen, welches freilich nur am Rande mit der Fragestellung dieser Untersuchung zu tun hat, da der Klagspiegler den „furiosus“ oder „narr“ kaum als Kranken aufgefaßt haben dürfte.136 Immerhin unterscheidet der Klagspiegel, dem spätrömischen Recht folgend,137 zwischen dem dauerhaft Geisteskranken, der „nit contrahieren“ kann, und dem nur phasenweise Gestörten, der nur manchmal „tobt und mönisch ist/ wann sollichs an i[h]m [a]uffhöret, was er zĵ der gesunden zeyt thĵt/ ist gĵt, vest [=fest] und stät.“138 Ein geistig Genesener kann im übrigen auch seine eigene, in der „mönischen“ Phase vorgenommene Handlung genehmigen.139 Dem Geisteskranken gleichgestellt sind nach dem Klagspiegel die wegen Verschwendungssucht Entmündigten: „Item der geydisch [=Vergeudungssüchtige], dem die regierung seiner habe verbotten ist/ mag nit contrahieren und sich verpflichten.“140 Vom „furiosus“ unterschieden werden aber Taube und Stumme, die zwar nicht als geschäftsunfähig gelten, aber dennoch eigenständig keine Verträge abschließen dürfen, da sie Antrag und Annahme nicht verstehen können.141 Ihr Gebrechen wird im Klagspiegel ausdrücklich als Krankheit bezeichnet: „Ist der stumm und der ungehörend/ die natürlich siechtagen [=Krankheit] haben/ mögen nit contrahieren/ wann die pflichtung und obligierung geschicht durch die frag und antwurt etc. Und der, der fragt/ sol die antwurt des verheissers widerumb hören und versteen/ das mögen die stummen und ungehörenden nit thĵn/ die anders natürlich sollich siechtagen haben.“142 Sie sind damit zumindest formal besser gestellt als nach mittelalterlich-deutschem Recht, das Taube und Stumme wie Geisteskranke der Vormundschaft unterstellte.143
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Ausführlich zum Problem der Geschäftsunfähigkeit: Deutsch, Klagspiegel, S. 345 ff. Erst das nachklassische römische Recht kennt diese Unterscheidung. Vgl. Kaser, Das Römische Privatrecht I, § 65 IV., S. 278. Titel 122 (ET), Bl. LXXI B. Titel 171 (ET), Bl. CX B. Titel 122 (ET), Bl. LXXI B. Zu den römisch-rechtlichen Wurzeln dieser Auffassung: Kaser, Das Römische Privatrecht I, § 65 IV., S. 278. Titel 122 (ET), Bl. LXXI. B. Hermann Conrad, Deutsche Rechtsgeschichte, 1. Bd., 2. Aufl., Karlsruhe 1962, S. 412.
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Eine Ausnahme zugunsten der Kranken und Alten macht zunächst Titel 69 (ET) „De eo quod metus causa gestum est“:144 Diese Klage richtet sich gegen denjenigen, der eine Sache, von der er befürchtet, sie werde von ihm eingeklagt, einem anderen gibt, der „mechtig oder gar seer böß“ ist oder gegen den aufgrund von Gerichtsprivilegien nicht geklagt werden kann. Der Beklagte muß entweder die dem Berechtigten auf diese Weise entfremdete Sache verschaffen oder ihm Schadensersatz in gleicher Höhe leisten. Der Klagspiegler fügt jedoch hinzu: „Merck/ in diser empfrembdung gebürt sich argerlist und betriegung/ darumb wo einer von alters wegen/ kranckheit oder ander nottürfftiger kümmernüß wegen die habe empfrembdet, darumb das[s] er lieber [der] habe wolt mangeln, dann offt darumb kriegen/ als so er die habe umbsunst geyt/ würt er nit schuldig diser clage/ wo er aber die habe verkaufft/ verwechßlet/ oder in wölchem andern wege empfremdet, also dz des gleychen er wider neme/ sollicher list ist zĵ schelten, wann er wil die habe oder seinen wert haben, und den kriege uff ein andern bringen.“145 Diese Ausführungen beruhen auf Roffredus, der in seinen Libelli unter der Überschrift „de actione in factum descendente ex illo edicto de alienat. iudi. mu. causa facta“ das gleiche Problem abhandelt.146 Ähnlich privilegiert der sehr stark an der römischen Rechtstradition orientierte Titel 166 (ET) „De senatusconsulto sylleyano“147 die Kranken. Wie der Klagspiegel erläutert, soll das Senatusconsultum Silaniano dem Schutz des Hausherren dienen. Es verpflichtet das Hausgesinde unter Androhung der Todesstrafe, seinem Herrn und dessen Familie, wenn auf sie ein Anschlag mit dem Schwert oder auf andere nicht heimliche Weise verübt werden soll, unverzüglich zu Hilfe zu eilen. Von dieser Pflicht entschuldigt werden die Kinder, sofern sie „noch nit puberes seind/ das ist, das[s] sie noch nit ha[a]r an i[h]rer scham haben.“ Sie sollen aber zu einer Aussage gezwungen werden können. Ebenfalls „werden entschuldiget die diener, die la[h]m seind […] Item entschuldigt werden die krancken. Item die ungehörenden/ blinden/ stummen/ und furiosi/ narren/ werden entschuldigt vom schreyen/ nit von sehen haben sie anders gesehen/ der blind von sehen nit vom hören/ hat er anders den herrn hören ertödten, er solt geschrygen haben.“148
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In der Brant´schen Ausgabe von 1516 fehlt noch die lateinische Überschrift des Titels, die deutsche Betitelung ist (anders als im ältesten Druck) in den Textfluß hineingezogen. Titel 69 (ET), Bl. XXXII. Roffredus, Libelli iuris civilis, „de actione in factum descendente ex illo edicto de alienat. iudi. mu. causa facta“ (tertia pars, XLVII. a). Vgl. als Vorlagen zu diesem Titel insb. Roffredus, Libelli iuris civilis, „De senatusconsulto sillaniano“ (septima pars, CXL. b), Azo, Summa Codicis, „De his quibus ut indignis hereditates anferuntur et ad senatusconsultum silleianum“ (liber sextus, S. 239), und D 29.5 „De Senatusconsulto Silaniano et Claudiano, quorum testamenta ne aperiantur“, ferner C 6.35. Titel 166 (ET), Bl. CVI. f.
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Titel 38 (AT) mit dem verwirrenden Titel „De sepulchro violato“149 schützt die Familien von Todkranken, aber auch die trauernden Hinterbliebenen bis zu neun Tage nach dem Tod vor Schuldeintreibern und ähnlichen Belastungen unter Androhung drakonischer Strafen: „Item die/ die sünden bey denen, die in todts nöten oder kranckheit arbeyten, sollen gestrafft werden in dem dritten teyl aller irer habe/ und die [eingeforderte] schuld verloren haben/ und so vil der schuld gewesen/ den erben des geschmächten geben. Item sie werden eerloß/ ist das[s] sie in das hauß geend des sterbenden menschen/ und i[h]n oder die seinen betrüben oder bekümmern oder sein habe entzihen“.150 Selbst Titel 58 (AT) „De bonis eorum qui mortem sibi constituerunt/ vel consciverunt“,151 der sich mit den Folgen eines Selbstmordes befaßt, räumt dem Kranken eine Sonderposition ein. Denn ob der Staat das Vermögen des Selbstmörders einzieht oder dieses den Hinterbliebenen zukommt, hängt von den Motiven der Tat ab: „Merck den underscheyd, ob einer uß gewißheit der übelthat [=Offenkundigkeit eines von ihm begangenen Verbrechens] i[h]m selbs den todt ann thĵt/ oder uß einer andern ursach/ als von der ungedültdigkeit des wetagen [=Unerträglichkeit des Krankseins]/ unnd schmertzen seiner kranckheyt/ oder das[s] er sich schäm, das[s] er so vil schuldig sey/ ob pudorem [a]eris alieni/ unnd in disen casus ist es gewiß/ das[s] mann dem erben das erb nit nemen sol. Aber in dem ersten casus ist es ungewiß […]“.152 Nur wer sich wegen drohender Verurteilung umbringt, muß also damit rechnen, daß seine Hinterlassenschaft an den Fiskus fällt. Diese Regelung war für die damalige Zeit äußerst kulant, denn in der Praxis wurde häufig das Vermögen jedes Selbstmörders vom Fiskus eingezogen, ein Selbstmord aufgrund von Depressionen oder schwerer Krankheit also nicht bessergestellt. Abschließend sei noch auf das im Klagspiegel an verschiedenen Stellen erläuterte Recht auf Notwehr hingewiesen,153 das auch eine Nothilfe zugunsten Kranker und Schwacher erlaubt. Zentrale Ausführungen zur Notwehr finden sich in Titel 32 (AT), der unter der Überschrift „Ad legem iuliam de vi publica vel privata“154 die unterschiedlichen Formen von Gewaltanwendung behandelt. 149
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Vgl. als Vorlagen zu diesem Titel insb. Azo, Summa Codicis, „De sepulchro violato“ (liber nonus, S. 333), ferner C 9.19. Zu dieser Überschrift siehe auch im Ersten Traktat Titel 75 und 89. Titel 38 (AT), Bl. CXL. Vgl. als Vorlagen zu diesem Titel insb. Azo, Summa Codicis, „De bonis conscientium sibi mortem“ (liber nonus, S. 345), ferner C 9.50 „De bonis eorum, qui mortem sibi consciverunt“. Titel 58 (AT), Bl. CLI. Hierzu bereits ausführlich Heinrich Zoepfl, Beiträge zur Revision der Lehre von der Nothwehr, 2. Teil, in: Archiv des Criminalrechts (NF) 1842, S. 311-339, insb. S. 313328; Deutsch, Klagspiegel, S. 538 ff.; ferner etwa Eberhard Schmidt, Strafrechtspflege und Rezeption, in: Friedrich-Christian Schroeder (Hrsg.), Die Carolina – die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. von 1532, Darmstadt 1986, S. 82-119, hier S. 103. Vgl. als Vorlagen zu diesem Titel insb. Azo, Summa Codicis, „Ad legem iuliam de vi publica vel privata“ (liber nonus, S. 331); Gandinus, Tractatus de maleficiis, „De defensionibus a rei faciendis“, § 1-14 (Edition von Kantorowicz: S. 177 ff.); ferner C 9.12.
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Unter Verweis auf das kanonische Recht hebt der Klagspiegel hervor, es gebe unter Umständen sogar eine Pflicht, einem Angegriffenen zu Hilfe zu eilen: „die weyl es zymlich ist, ein yeglichen zĵ beschirmen den andern vor gewalt/ unnd sein hilff mit i[h]m teylen/ unnd darumb welcher es vermag und sollichs nit thĵt, der würt geschätzt, das[s] er dem gewalt tryber gunst gebe oder thü/ und auch sollichs unrechts würt er selbs teylhafftig/ auch steet in geistlichen rechten/ dise sterck ist vol gerechtigkeit, da einer seins vatters landt beschirmpt mit streyten von veinden/ oder daheym beschirmpt die krancken“.155
G. Rechtliche Verantwortlichkeit aufgrund von Krankheit Den einzigen Fall, wo eine Krankheit dem Betroffenen zum Nachteil gereicht, erwähnt der Klagspiegler im oben bereits mehrfach angesprochenen Titel 157 (ET) „De actione legis aquilie“. Eine Haftung nach der lex Aquilia soll danach auch denjenigen treffen, der aufgrund von Krankheit ein Lasttier nicht richtig führen könne, denn er handele fahrlässig, wenn er es dennoch tut: „Item diser unfleyß geet underweylen vor der that/ als das in vil weg mag declariert werden/ als in dem der ein grĵben macht an dem end da ein offener oder gemeyner weg ist/ und in dem der müller treybt sein maule daryn/ den er durch sein kranckheit oder künstlösigkeit/ oder die ungestymmigkeit des mauls oder pferdts nit gehalten möchte“.156 Auch dieses Exempel hat der Klagspiegler vermutlich dem Kapitel „De lege aquilia“ der Summa des Azo entnommen,157 obgleich freilich das Bildnis bereits in den Digesten auftaucht: „Mulionem quoque, si per imperitiam impetum mularum retinere non potuerit, si eae alienum hominem obtriverint, volgo dicitur culpae nomine teneri. Idem dicitur et si propter infirmitatem sustinere mularum impetum non potuerit: nec videtur iniquum, si infirmitas culpae adnumeretur, cum affectare quisque non debeat, in quo vel intellegit vel intellegere debet infirmitatem suam alii periculosam futuram. Idem iuris est in persona eius, qui impetum equi, quo vehebatur, propter imperitiam vel infirmitatem retinere non poterit“.158 Daß der Klagspiegler anstelle von „mulio“ (=Maultiertreiber) von einem Müller (eigentlich „molitor“) schreibt, dürfte auf einem Übersetzungsfehler beruhen, der mit der Nähe des Wortstammes von „molae“ (=Mühle) und der Unbekanntheit von Maultiertreibern nördlich der Alpen leicht zu erklären ist.
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Titel 32 (AT), Bl. CXXXVI. Titel 157 (ET), Bl. C. Azo, Summa Codicis, „De lege aquilia“ (liber tertius, S. 88). Auch dort ist vom „mulio“ (Maultiertreiber) die Rede. D 9.2.8.
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H. Schluß Wie sich gezeigt hat, geht der Klagspiegel für ein Rechtsbuch aus der Zeit um 1436 vielfach erstaunlich ausführlich auf die unterschiedlichsten Probleme des Medizinrechts ein. Schwerpunkte sind hierbei insbesondere die zivil- und strafrechtliche Haftung des (Wund-) Arztes, die Tätigkeit des Wundarztes als Sachverständiger vor Gericht und der Arztlohn als Teil eines Schadensersatzanspruchs. Aber auch mit Gesundheits- und Hygienefragen und der Sonderstellung von Kranken und Schwachen beschäftigt sich das Rechtsbuch. Anders als in anderen Themenbereichen ergeben sich bei den medizinrechtlichen Fragen im Klagspiegel keine eindeutigen Bezüge zur Alltagswelt des Verfassers Conrad Heyden, dessen Umfeld in medizinischer Hinsicht kaum hinreichend fortgeschritten war, um entsprechend ausgefeilte Problemstellungen hervorzubringen. Immerhin wohnte in Heydens unmittelbarer Nachbarschaft ein Augenarzt, was zu dieser Zeit in Deutschland noch äußerst ungewöhnlich war.159 Die Stadt verfügte ferner über mehrere Bader und Barbiere, die zugleich als Wundärzte tätig waren;160 Fälle einer Arzthaftung sind aber nicht überliefert. Eine fachkundige Oberaufsicht über die Wundärzte fehlte noch, denn einen Stadtarzt hatte die Reichsstadt, wie wohl die meisten mittelgroßen Städte, zu dieser Zeit nicht.161 Immerhin sorgte die Stadt während Conrad Heydens Ägide als Stadtschreiber dafür, daß regelmäßig fachkundige Ärzte von auswärts in die Stadt kamen.162 Sie wurden aus dem Steuersäckel bezahlt, übernahmen also wohl typische Aufgaben eines Stadtarztes, wozu etwa auch die Beratung der Stadtregierung in Seuchenund Hygienefragen gehörte. Vermutlich führten die auswärtigen Ärzte ferner Behandlungen durch, welche sich die örtlichen Wundärzte nicht zutrauten. Ob sie auch als Gutachter vor Gericht tätig waren, auf dessen Entscheidungen Conrad Heyden als Gerichtsschreiber maßgeblichen Einfluß hatte, muß angesichts der schmalen Quellenlage Spekulation bleiben. Die rechtlichen Inhalte seines Buchs entnahm Heyden allein dem römischitalienischen Recht. Die große Mehrzahl aller in den Digesten angeführten Stellen, welche die Rolle des Arztes im Hinblick auf Zivil- oder Strafrecht betreffen, finden sich im Klagspiegel verarbeitet. Aber nicht nur das Corpus iuris, sondern vor 159
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Vgl. die Beetlisten im Stadtarchiv, StAH 4/1779 (1400) bis 4/1791 (1422); ausführlich bei Deutsch, Klagspiegel, S. 217 f. Werner Münkle, Das Medizinalwesen der Reichsstadt Hall vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende der reichsstädtischen Zeit, eine Auswertung der Bader-, Barbier- und Medizinalordnungen, Ulm 1992, S. 9 ff.; Kuno Ulshöfer, Schwäbisch Haller Bader und Bäder im ausgehenden Mittelalter, in: Der Haalquell 20 (1968), S. 22-27, hier S. 22 f. Der erste (studierte) Stadtarzt wurde in Schwäbisch Hall 1486 eingestellt. Eine Liste früher Stadtarzterwähnungen in Deutschland findet sich etwa bei Georg Ludwig Kriegk, Deutsches Bürgerthum im Mittelalter, Frankfurt/M. 1868, S. 557 f.; s. auch bei Georg Ludwig von Maurer, Geschichte der Städteverfassung in Deutschland, 3. Bd., Erlangen 1870, S. 116 ff.; nicht jeder besoldete Arzt ist freilich sogleich als Stadtarzt zu bezeichnen. Vgl. die Einträge in den städtischen Steuerrechnungen StAH 4a, Nr. 1a ff.
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allem einige zentrale Schriften der Glossatorenzeit wurden als Quelle für den Klagspiegel herangezogen; im Bereich des Medizinrechts waren vor allem die Werke von Azo, Roffredus, Gandinus und Durantis von Bedeutung. Die Darstellung der dort diskutierten Rechtsfragen in einem deutschen Rechtsbuch und in deutscher Sprache war in zahlreichen Punkten völlig neu und dürfte erheblichen Einfluß auf die Rezeption – beispielsweise des (ärztlichen) Sachverständigenbeweises – gehabt haben. Die Rezeption voranzubringen war auch das ausgesprochene Ziel Conrad Heydens bei der Abfassung des Klagspiegels. Es sei nämlich nicht zu übersehen, „wie so gar thörlich […] geurteylt würt/ so die rauchen[den]/ die truncknen/ die ungele[h]rten leyen urteyln/ unnd duncken etlich me[h]r nach gunst dann nach vernunfft/ und wöllen wissen warumb einer clage/ oder sich bewere uß seiner angesicht/ oder auß alten vergangen thaten/ das doch in i[h]m selbs heimlich ist/ wann nyemandt weißt des menschen synn […] dann allein Gott. Auff sollichs ist gesatzt, das[s] der richter urteyln sol/ nach clag und antwurt und beweysung/ und nit uß versehen oder arckwon. Du verste[h]est auch wo[h]l/ d[a]z die rechten weysen [recht]sprechen, wie in den rechtbüchern geschriben steet/ darumb die [römischen] Keyser groß arbeit und fleyß gethon haben biß sie die recht gesetzt haben.“163 Der Klagspiegler will somit durch Vermittlung der kaiserlichen Rechte (gemeint ist das Corpus iuris) gegen „die kunstlosigkeit der richter (der viel in Teütschen landen seind)“164 ankämpfen. Die Gerichte sollten daher „nach der geschrifft unnd radt der gele[h]rten, die die recht wissen“,165 urteilen, aber auch „in liebe der gerechtigkeit“.166
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Titel 134 (ET), Bl. XC. Titel 16 (AT), Bl. CXXV B. Titel 12 (AT), Bl. CXIX B. Titel 20 (AT), Bl. CXXVII B.
Rechtsgutachten in Prozessen vor dem 1 Hofgericht des Königs im 14. Jahrhundert Bernhard Diestelkamp
A. Problemlage Vor dem König als Richter oder seinem Hofrichter wurde bis zum Ende des 14. Jahrhunderts nach den deutschrechtlichen Verfahrensregeln prozessiert2. Nach diesen Regeln hatte der Richter nach feststehendem Ritus das Verfahren nur zu leiten, während das Urteil vom Umstand gemäß der Rechtserfahrung der Dinggenossen gefunden wurde. In diesem System war naturgemäß kein Raum für die Anwendung des Gelehrten Rechts, da die Urteilsfinder Laien waren, die dieses weder kannten noch damit umzugehen verstanden. Deshalb verdient es besondere Aufmerksamkeit, wenn Parteien trotzdem versuchten, durch Gutachten rechtsgelehrte Argumente auch in den Rechtsdiskurs am Königshof einzuführen. Dies geschah im 14. Jahrhundert in zwei Verfahren. Beide Fälle sollen daher näher analysiert werden, um festzustellen, worauf diese Ausnahmen beruhten.
B. Die Fälle I. Mühlhausen in Thüringen Im Jahre 1357 kam es zu Auseinandersetzungen zwischen der Ballei Thüringen des Deutschen Ordens auf der einen und Ratsmeister, Rat und Bürgerschaft der Stadt Mühlhausen auf der anderen Seite. Der Landkomtur hatte bei Kaiser Karl IV. namens seines Ordens sowie der Pfarreien in der Alten und der Neuen Stadt zu Mühlhausen, die dem Orden inkorporiert waren, wegen widerrechtlicher Verletzung etlicher Artikel ihrer Pfarr-Rechte, geistlichen Freiheiten, Rechte und löblichen Gewohnheiten durch die Stadt geklagt3. Da der Kaiser keine Zeit hatte, 1
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Ich widme diesen Beitrag Adolf Laufs in Erinnerung an die Anfang der siebziger Jahre gemeinsam begründete Arbeit an der Erschließung von Quellen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, bei der ich den Part der Urkundenregesten des Königsgerichts übernommen hatte, aus denen ich nun diesen Beitrag erarbeiten konnte. Jürgen Weitzel, Dinggenossenschaft und Recht, in: Bernhard Diestelkamp, Ulrich Eisenhardt, Gunter Gudian, Adolf Laufs, Wolfgang Sellert (Hrsg.), Untersuchungen zum Rechtsverständnis im fränkisch-deutschen Mittelalter. Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 15/I+II, Köln-Wien 1985. Friedrich Battenberg, Die Zeit Karls IV. (1355 April - 1359), in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Urkundenregesten zur Tätigkeit des deutschen Königs- und Hofgerichts bis
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sich des Falles anzunehmen, übertrug er ihn am 27. Oktober 1357 seinem Kanzler, Bischof Johann von Leitomischl4. Doch weigerte sich der klagende Landkomtur aus nicht genannten Gründen, vor diesem sein Zeugnis ablegen zu müssen, weshalb der Kaiser am selben Tag seinen Geheimschreiber Rudolf, Propst von Wetzlar, beauftragte, über alle Beweisaufnahmen und Verhandlungen ein Protokoll aufzunehmen und dem Kaiser zu berichten5. Bischof Johann führte auftragsgemäß eine Beweisaufnahme durch und entschied nach Anhörung beider Parteien „mit wisem rat guter pfaffen und gelerter lute in den rechten“, daß die Stadt nach „beschribens rechtes und ouch loblicher gewonheite wegen, die redlich und mit ganczem lauffe der zite herkomen sint“, etliche Artikel über die Abhaltung von Messen durch die Pfarrer, den Umgang der Bürger mit Gebannten und das Verbot städtische Statuten zur Beschränkung gottesdienstlicher Handlungen zu erlassen, einhalten solle6. Bischof Johann war gewiß wie damals fast alle Bischöfe ein studierter Jurist und hatte zusätzlich Rechtsgelehrte zum Verfahren zugezogen. Damit unterschied sich das Verfahren vor diesem vom Kaiser delegierten Richter grundlegend von einem Prozeß am Hofgericht des Herrschers. Das zeigt auch der, wie sich herausstellen wird, nicht nur vorsorglich wegen der von der Stadt geltend gemachten exceptio fori von Bischof Johann erörterte Vorbehalt, daß der Kaiser sich nicht anmaße, über Angelegenheiten Recht zu sprechen, die vor ein geistliches Gericht gehörten7. Doch sei er als Vogt der Kirche verpflichtet, dafür zu sorgen, daß Geistliche nicht von seinen Untertanen in ihren Rechten beeinträchtigt würden. Dies waren typisch rechtsgelehrte Überlegungen, durch die die Grenzen des Vorrangs der geistlichen Gerichtsbarkeit vor jedem weltlichen Gericht so weit gezogen wurden, daß der Kaiser trotzdem in diesem Fall tätig werden durfte, obwohl es um Rechte eines Ordens und die Verletzung von Pfarr-Rechten ging. Bischof Johann hatte nämlich den Aussagen des Mühlhäuser Rates entnommen, daß der Stadtrat die angeführten Artikel verletzte hinsichtlich der Seelgeräte und des Verbots der Gemeinschaft mit den Deutschordensbrüder. Daher gebot der kaiserliche judex delegatus der Stadt bei Verlust kaiserlicher Huld, die angeführten Artikel einzuhalten und eventuelle Übertretungen an einem Sonn- oder Feiertag in beiden Kirchen zu widerrufen. Unabhängig davon bleibe es sowohl dem Landkomtur als auch dem Kaiser vorbehalten, von der Stadt wegen der Beeinträchtigung der Pfarr-Rechte Strafen und Schadensersatz einzufordern. Ebenso sei über die Kosten der Kläger separat zu entscheiden. Am selben Tag besuchte der Landkomtur den Hofkanzler in dessen Haus zu Prag cum debita solemnitate und stattete ihm dabei seinen Dank ab, worüber er ein
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1451 (URHG), Bd. 7, Mainz 1994, Nr. 296, 1357 Oktober 10. Das ergibt sich daraus, daß an diesem Tag die Stadt ihre Vollmachtsurkunde für diesen Prozeß notariell beurkunden ließ. URHG Bd. 7, Nr. 300, 1357 Oktober 27. URHG Bd. 7, Nr. 301, 1357 Oktober 27. URHG Bd. 7, Nr. 325, 1358 Januar 27, Prag. Bernhard Diestelkamp, Das privilegium fori des Klerus im Gericht des Deutschen Königs während des 13. Jahrhunderts, in: Festschrift für Hans Thieme zum 80. Geburtstag, Sigmaringen 1986, S. 109 ff.
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Notariatsinstrument aufnehmen ließ8. In dieser Urkunde wurde auch vermerkt, daß der Prokurator der Stadt dem Dank des Klägers mit lauter Stimme und in deutscher Sprache zugefügt habe: „uns gringit auch wol“. Die Anwesenheit des Beklagtenanwalts weist darauf hin, daß dieser Besuch des Komturs kaum ein bloßer Akt der Höflichkeit war, sondern in irgendeiner Weise zum Verfahrensablauf gehörte. Wohl in Reaktion auf diese Entscheidung Bischof Johanns von Leitomischl holte die Stadt Mühlhausen von Doktoren und Licenciaten beider Rechte ein Gutachten ein, in dem darauf eingegangen wurde, daß die Bürger gegen die Klage des Deutschen Ordens vor dem Kaiser die exceptio fori geltend gemacht hätten, weil die Sache vor ein geistliches Gericht gehöre9. Bischof Johann hatte dieses Problem also keineswegs ohne konkreten Anlaß in seiner Entscheidung angesprochen, auch wenn dort die Erhebung der Einrede nicht ausdrücklich genannt wurde. Der Kaiser habe gleichwohl seinen Hofkanzler als judicem delegatum eingesetzt, der trotz der Geltendmachung dieser Einrede ein Urteil gegen die Stadt Mühlhausen gefällt und nur die Entscheidung über Schäden, Kosten und Ausgaben dem Kaiser vorbehalten habe. Die Bürger hätten durchaus die Absicht gehabt, dem Spruch des Richters gehorsam zu sein, und deshalb alles veranlaßt, damit es öffentlich in der Kirche verlesen und durch ihren Stadtschreiber verkündet würde. Erst nachdem sie dann erfahren hätten, wie sie durch das Urteil ungerechterweise beschwert würden, wollten sie ihre Zustimmung zurücknehmen, indem sie dagegen klagten. Die Rechtsgelehrten erklärten, daß das so gefällte Urteil ipso jure non valere seu nullam esse. Daher brauchten die Bürger es nicht zu beachten. Der Spruch sei wegen seiner Nichtigkeit nicht einmal appellationsfähig. Abschließend stellten die Juristen aber auch fest, daß die Bürger von Mühlhausen unter keinerlei Bezeichnung die inkriminierten Vorschriften oder Statuten errichten dürften, weil diese Normen geistlichen und kirchlichen Freiheiten widersprächen. Damit hatte die Stadt Mühlhausen zwar handfeste Gründe gegen die Behandlung des Falles vor einem kaiserlichen judex delegatus und dessen Urteil an die Hand bekommen, mußte sich aber ebenso klar sagen lassen, daß sie in der Sache nicht im Recht sei. Diese vernichtende Beurteilung der Wirksamkeit des Spruchs vom 27. Januar 1358 durch die städtischen Gutachter hinderte allerdings nicht den Fortgang des Verfahrens am Kaiserhof. Die Entscheidung über die von Bischof Johann offengelassenen Fragen traf im Auftrag Karls IV. Bischof Dietrich von Minden, ein Rat des Herrschers, am 7. Mai 1358 auf der Burg zu Prag10. In diesem Verfahren beantragte der Landkomtur Friedrich von Treffurt zunächst, das kraft kaiserlicher Legitimation von Bischof Johann gefällte Urteil vom 27. Januar 1358 kraft kaiserlicher Gewalt zu verkünden und gegen die Stadt zu vollstrecken. Seine Prozeßkosten schätzte er zunächst auf 200 Mark Silbers. Zudem verlangte er, daß die Stadt Mühlhausen wegen Verletzung der Privilegien des Deutschen Ordens11 in die für 8 9 10 11
URHG Bd. 7, Nr. 326, 1358 Januar 27. URHG Bd. 7, Nr. 327, (1358 nach Januar 27). URHG Bd. 7, Nr. 350. Privileg Karls IV. für den Deutschen Orden in Mühlhausen von 1348 Januar 18 (Regesta Imperii Bd. VIII, Nr. 562) betreffend Leitung der Schulen in der Stadt und allge-
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deren Verletzung angedrohte Poen von 200 Pfund Goldes verurteilt werde. Diesem Antrag entsprach Bischof Dietrich. Nur die Prozeßkosten minderte er in diesem Urteil auf die Hälfte, also auf 100 Mark Silbers, nachdem der Landkomtur nur diese Höhe auf seinen Eid genommen hatte. Zehn Tage später bestätigte Kaiser Karl IV. die Entscheidung seines Kanzlers Bischof Johann vom 27. Januar 135812 mit dem Gebot an die Stadt Mühlhausen und ihre Amtsträger, alle erlassenen Bestimmungen auszuführen und einzuhalten bei einer Poen von 1000 Pfund Goldes. Die enorme Höhe der angedrohten Ungehorsamspoen weist darauf hin, daß dieser kaiserlichen Entscheidung eine große Bedeutung beigemessen wurde, was zusätzlich auch daraus erhellt, daß sie am selben Tag noch einmal in lateinischer Fassung beurkundet wurde13. Nach nur einigen weiteren Wochen folgte am 5. Juni 1358 die Bestätigung der Entscheidung Bischof Dietrichs von Minden vom 7. Mai am 5. Juni 1358 durch den Kaiser14. Allerdings vermochte auch diese doppelte Verstärkung durch kaiserliche Bestätigungen der von seinen delegierten Richtern erlassenen Entscheidungen den Streit nicht zu beenden. Nunmehr setzte die Stadt Mühlhausen das, was sie im Verfahren am Kaiserhof nur einredeweise geltendgemacht hatte, nämlich die Konkurrenz zur geistlichen Gerichtsbarkeit, als aktive Gegenwaffe ein, indem sie die Deutschordensbrüder zu Mühlhausen sowie die Rektoren bzw. Pfarrer der dortigen Pfarrkirchen vor Erzbischof Gerlach von Mainz als dem zuständigen judex ordinarius verklagte15. Dieser beauftragte Johannes, Scholaster des Stifts St. Johann zu Mainz, als Kommissar mit der Entscheidung. Die Stadt klagte auf Aufhebung des Interdikts, das die Ordensbrüder und die Pfarrer über die Stadt verhängt hatten, eine zweifellos und unbestreitbar vor ein geistliches Gericht gehörige Sache. In diesem Zusammenhang protestierte sie aber auch gegen die Urteile der kaiserlichen delegierten Richter, die sie nur dann anerkennen werde, wenn nachgewiesen werde, daß sie von einem zuständigen Richter erlassen worden sei servato iuris ordine aliquam rite et legitime promulgatam. Damit machte sie im Sinne des von ihr erbetenen Gutachtens geltend, daß das Urteil durch die Nichtberücksichtigung der exceptio fori null und nichtig sei. Demgegenüber hielten die Beklagten entgegen, daß die Stadt die Aufhebung des Interdikts durch Erzbischof Gerlach nur durch Verschweigen der wahren Tatsachen erlangt habe, weil dieser das Aufhebungsmandat niemals erlassen haben würde, wenn man ihm von den Übergriffen gegen die Pfarrer des Deutschen Ordens berichtet gehabt hätte, die die Ursache des Interdikts gewesen seien. Eingedenk des harschen Urteils ihrer eigenen Gutachter über die Unrechtmäßigkeit ihres Vorgehens ließ die Stadt ihren Prokurator dazu nur vorbringen, daß in dem Prozeß überhaupt erst einmal erwiesen werde müsse, ob der Rat die inkriminierten Satzungen wirklich erlassen habe und die
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meine Bestätigung der Ordensrechte in Mühlhausen von 1352 Dezember 5 (Regesta Imperii Bd. VIII Nr. 1535). URHG Bd. 7, Nr. 351, 1358 Mai 17, Bettlern. URHG Bd. 7, Nr. 352, 1358 Mai 17, Bettlern. URHG Bd. 7, Nr. 357, 1358 Juni 5, Melnik. URHG Bd. 7, Nr. 362, (1358 Juli 3 - September 15). Zum Verlauf dieses Verfahrens und zur Datierung der Urkunde: Dort Fußnote 1 und Anmerkung.
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Stadt deshalb zu Recht dem Bann anheimgefallen sei. Die städtische Obrigkeit bestritt also nicht das Vorhandensein der von den Beklagten in Anspruch genommenen Rechtstitel, was in Anbetracht der gewiß auch dem Rat bekannten Urkundenlage leichtfertig, weil schnell widerlegbar gewesen wäre, sondern leugnete deren Verletzung. Damit lag bei den Geistlichen die Beweislast für den Ausgang dieses Prozesses. Unabhängig von diesem Prozeß vor der geistlichen Gerichtsbarkeit wegen des Interdikts betrieb der Landkomtur weiter die Durchsetzung der von ihm am Kaiserhof erwirkten Urteile. Am 4. Juli 1358 ließ er in Erfurt das Urteil Bischof Dietrichs von Minden nebst dessen Bestätigung durch den Kaiser16 sowie das Urteil Bischof Johanns von Leitomischl und dessen Bestätigung17 noch einmal notariell beurkunden. Derselbe Notar nahm am 21. Juli 1358 in Mühlhausen ein Notariatsinstrument darüber auf, daß der Prokurator des Deutschen Ordens dem Pleban der Mühlhäuser Pfarrkirche St. Blasien drei Pergamenturkunden18 übergeben habe mit der Aufforderung, diese den Bürgermeistern und Ratsherren auf dem Rathaus zu verlesen, sie zuzustellen und zu verkünden19. Damit waren die letzten Schritte getan, um die am Hof erwirkten Urteile exekutieren zu können. Dies war für die Stadt trotz ihres Rechtsstandpunktes, daß die Urteile nichtig seien, eine bedrohliche Situation, auf die sie aktiv reagieren mußte. Um eine Exekution abzuwenden, wandte sie sich an den Kaiser mit der Behauptung, sie habe den kaiserlichen Urteilen gehorcht. Dieser beauftragte seinen Kanzleischreiber Konrad von Geisenheim damit, sowohl die Parteien zu verhören als auch die im Verfahren vor Bischof Dietrich von Minden beigebrachten Urkunden zu verlesen20. Am 5. Dezember 1358 kam es in (Langen-) Salza vor Konrad zu einer Verhandlung darüber, ob die Stadt den Urteilen entsprochen habe. Er ließ von jeder Partei sechs Schiedsleute wählen. Als der Landkomtur vor diesem Gremium die Vertreter der Stadt fragte, ob die Bürger den Urteilen gehorcht hätten, antworteten diese bündig, dies sei geschehen oder die Stadt würde es noch tun. Obwohl die Rechtsgelehrten in ihrem Gutachten der Stadt gesagt hatten, daß die Urteile nichtig seien und deshalb nicht befolgt werden müßten, verzichteten die Prozeßvertreter der Stadt Mühlhausen also darauf, dies geltend zu machen. Das mochte ihnen deshalb geraten erscheinen, weil im eigentlichen Prozeß die von ihnen geltend gemachte exceptio fori, auf der diese Rechtsansicht basierte, unberücksichtigt geblieben war, so daß sie kaum Hoffnung haben konnten, dies werde im Vollstreckungsverfahren anders sein. Zudem wußten sie ebenfalls aus dem Gutachten, wie schwach ihre Position in der Sache rechtlich war. Da mochte es ihnen günsti16 17 18
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URHG Bd. 7, Nr. 363, 364, 1358 Juli 4, Erfurt. URHG Bd. 7, Nr. 365, 1358 Juli 4, Erfurt. Inseriert nur die Eingangsworte des Protokolls und Eschatokolls der Urkunden Kaiser Karls IV. von 1358 Mai 17 (Nr. 351), Bischof Dietrichs von Minden von 1358 Mai 7 (Nr. 350) und Kaiser Karls IV. von 1358 Juni 3 (Nr. 357) nebst Beschreibung der Besiegelungen. URHG Bd. 7, Nr. 366, 1358 Juli 21, Mühlhausen. Die Angaben zu diesem neuen Verfahrensabschnitt entstammen einer Urkunde Markgraf Friedrichs von Meissen: URHG Bd. 7, Nr. 417 (1359 Januar/Februar?)
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ger erscheinen, nicht gegen die Rechtstitel anzugehen, sondern sich auf das Tatsächliche zurückzuziehen. Mit diesem Einwand wären die Urteile als vollstreckbare Titel gegenstandslos. Der Kläger war durch diese Wendung der Dinge offenbar überrascht und bat um Vorlage von Beweisen für die Urteilserfüllung, die die städtischen Prozeßvertreter jedoch nicht vorlegen konnten. Im Gegenzug beantragten die Mühlhäuser Gesandten, daß je zwei Schiedsleute von beiden Seiten gegebenenfalls unter Zuziehung eines Obmanns darüber entscheiden sollten, ob die Stadt die in der Entscheidung festgesetzte Poen von 200 Pfund Goldes und die Kosten von 100 Mark Silbers verwirkt habe. Damit würde indirekt über die Urteilserfüllung entschieden. Dem widersprach der Deutschordenskomtur mit dem Argument, daß niemand über ein kaiserliches Urteil Recht sprechen dürfe. Nur wenn die Stadt ausdrücklich die Erfüllung der Urteile zusichere, wolle er sich einem Schiedsverfahren über die Verwirkung der Poen und der Kosten unterwerfen. Nachdem damit der Verfahrensschachzug der Stadt gescheitert war, mußten die städtischen Vertreter kleinlaut zugestehen, daß ihre Vollmacht nicht ausreiche, verbindlich zu versichern, ob die Stadt die Urteile eingehalten habe oder nicht. Sie baten deshalb um Vertagung auf den nächsten Tag, damit sie in der Nacht nach Mühlhausen reiten könnten, um am nächsten Tag mit ausreichender Vollmacht wiederkommen zu können. Dem stimmte der Kläger zu, obwohl er der Ansicht war, daß die Mühlhäuser mit ausreichender Vollmacht schon zum 5. Dezember hätten erscheinen können und sollen. Deshalb stellte er fest, daß er dem Tag vor Meister Konrad schon jetzt Genüge getan habe. Am 6. Dezember wartete man bis zur Mittagszeit vergebens auf die Rückkehr der Mühlhäuser Bevollmächtigten. Auf die Bitte Meister Konrads blieb der Komtur bis nach dem Essen unter der Bedingung, daß Konrad ihm bestätige, daß er dem angesetzten Tag schon jetzt Genüge getan habe. Als die Mühlhäuser schließlich zur Vesperzeit ankamen, zeigten sie keinerlei Reue über die Verspätung sondern versuchten, den Spieß umzudrehen, indem sie fragten, ob der Landkomtur mit seinen Ordensbrüdern und Pfarrern gekommen sei, um dem Urteil des Kaisers gehorsam zu sein. Welche prozessuale Finte hinter dieser Frage steckte, wird nicht deutlich. Der Kläger bezeichnete sie mit Recht als seltsam und erklärte, schließlich habe er große Mühe und Kosten aufgewandt, um die Urteile zu erlangen. Deshalb werde er ihnen auch gehorsam sein. Die Mühlhäuser bejahten zwar die Frage, ob sie denn nun hinreichend bevollmächtigt seien, konnten aber keine entsprechend formulierte Vollmachtsurkunde vorweisen. Stattdessen boten sie Bürgen für den Vollzug der Urteile an. Erneut kamen sie auf ihren Antrag auf Einsetzung eines Schiedsgerichts mit dem Propst von Orla als Obmann zurück. Wie am Vortag erklärte der Landkomtur nur dann sein Einverständnis mit diesem Verfahren, wenn die städtischen Vertreter vorher die Einhaltung der Urteils zugesichert hätten, womit das Verfahren dort wieder angekommen war, wo es am Abend des Vortages beendet worden war, damit die Mühlhäuser sich ausreichende Vollmacht beschaffen könnten. Wenn die Mühlhäuser in die Stadt ritten und dort die Urteile vollzögen, sollten zwei seiner Freunde und Meister Konrad mitkommen, lautete der klägerische Gegenvorschlag. Wenn dann nachgewiesen werde, daß die Stadtobrigkeit die Pfarreien entsprechend den Urteilen bei ihren Rechten und Gewohnheiten belasse, sollten seine Freunde nicht eher die Stadt verlassen, bis sie
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für die Entscheidung über die 200 Pfund Goldes und die 100 Mark Silbers sowie über weitere gegenseitige Forderungen zusammen mit den Mühlhäusern vier Schiedsleute und einen Obmann gekürt hätten. Offenbar weil die Kläger damit auch verfahrensmäßig auf der ganzen Linie gesiegt hätten, lehnten die städtischen Vertreter dies ab. Darauf ließ der Komtur sich von seinen Freunden sowie den vom Markgrafen von Meissen entsandten zwei Adligen bestätigen, daß er sich ausreichend zu Recht erboten habe, worüber ein Notariatsinstrument aufgenommen wurde, das er auch dem Markgrafen zukommen ließ. Eine fast gleichlautende Urkunde stellten auch Graf Heinrich von Gleichen, Abt Heinrich von Volkenroda sowie Johannes, Stiftsherr zu Eisenach und Pfarrer zu Ifta, der Landvogt des Markgrafen in Thüringen, nebst genannten anderen Adligen aus21. In diese verfahrene Situation griff erneut – ungeachtet der exceptio fori – am 12. August 1359 der Kaiser ein mit der Ächtung der Stadt wegen ihres Urteilsungehorsams22. Die Acht war verbunden mit dem Verlust aller Freiheiten und Gnaden, die die Stadt von ihm und dem Reich erhalten hatte. Obwohl sich damit die Situation für die Stadt bedrohlich verschlechtert hatte, gab sie ihren hinhaltenden Widerstand gegen die ihr ungünstigen Urteile noch nicht auf, so daß sich schließlich am 4. Februar 1362 der Deutschmeister namens des Landkomturs und der Pfarrer ebenso wie die Stadt zur Beilegung ihrer Streitigkeiten auf den Kaiser verwillkürten zur Entscheidung nach Recht oder Minne23. Der Kaiser zögerte nicht lange, sondern erließ am 11. Februar 1362 in Nürnberg einen Spruch, durch den die Verhältnisse der beiden Parteien zueinander auf eine neue Grundlage gestellt werden sollten24. Von den früher aufscheinenden Streitpunkten kamen nur noch einmal die Kosten und Schäden des Deutschen Ordens zur Sprache, die für erledigt erklärt wurden. In diesem Punkt hatte sich also die Hartnäckigkeit der Stadt gelohnt. Beim bis dahin nicht erwähnten Hauptstreitpunkt, dessentwegen Mühlhausen offenbar so hartnäckig reagiert hatte, nämlich dem Erwerb von Gütern in der Stadt durch den Orden und den damit eintretenden Verlust an Steuern, wurde die alte Vertragslage hergestellt und dem Orden auferlegt, privilegienwidrig erworbene Güter wieder zu veräußern25 und vor allem wurde dem Deutschen Orden untersagt, neue Güter in der Stadt zu erwerben26. Daraufhin entließ der Kaiser die Stadt am 13. Februar 1362 aus der Acht. Mag das Handeln der Stadt Mühlhausen während der ersten Verfahrensphase vielfach nach Prozeßverschleppung ausgesehen haben, so scheint sie dafür doch gute Gründe gehabt zu haben, wenn man die ersten Urteile mit dem schließlichen Spruch des Kaisers vergleicht.
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URHG Bd. 7, Nr. 418, 1359 (Februar 6?). UHRG Bd. 7, Nr. 488, 1359 August 12. Ronald Neumann, Die Zeit Karls IV. (1360-1364), in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Urkundenregesten zur Tätigkeit des deutschen Königs- und Hofgerichts bis 1451 (UHRG), Bd. 8, Köln, Weimar, Wien 1996, Nr. 279, 280. URHG Bd. 8, Nr. 281, 1362 Februar 11, Nürnberg. URHG Bd. 8, Nr. 281, Ziff. 3, 4. Der Vollzug wird am 12. Februar 1362 zu Nürnberg vom Kaiser beurkundet: URHG Bd. 8, Nr. 283.
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Doch dies macht das Verfahren nur lokalhistorisch interessant. Rechtshistorisch geht es um die Frage, weshalb die Stadt meinen konnte, durch Einholung eines rechtsgelehrten Gutachtens in einem Verfahren im Gericht des Kaisers schlüssige Argumente bekommen zu können, obwohl dort doch nach deutschrechtlichen Verfahrensregeln verhandelt wurde. Zum einen ging es um Streitigkeiten über die Rechte von Geistlichen in der Stadt, die eigentlich vor ein geistliches Gericht gehört hätten, wo sie nach den Regeln des kanonischen Prozeßrechts entschieden worden wären. In diesem Sinne hatte die Stadt vor dem delegierten Richter des Kaisers auch die exceptio fori geltend gemacht. Zum anderen war der vom Kaiser bestimmte Richter ein Bischof, der in dieser Zeit mit hoher Wahrscheinlichkeit Jurist war und zum Verfahren auch Rechtsgelehrte zuzog. Daher mochte sich die Stadt also gute Aussichten ausgerechnet haben, mit rechtsgelehrten Argumenten gegen die Zuständigkeit des Hofgerichts das Verfahren zu ihren Gunsten beeinflussen zu können. Doch kümmerten sich die kaiserlichen Richter nicht um die exceptio fori. Vielleicht waren sie der Meinung, daß dies ein Schutzrecht für die Geistlichkeit sei, das nicht beachtet zu werden brauchte, wenn nicht die betroffenen Geistlichen sich darauf beriefen. Ausdrücklich kam der Schutzgedanke zum Ausdruck, indem der Kaiser als Vogt der Kirche vindizierte, gegen Verletzer der Rechte der Kirche vorgehen zu dürfen. In der Sache hat das Gutachten der Stadt nichts genutzt, auch wenn spürbar ist, daß die Stadt versuchte, ihr Handeln entsprechend dem erhaltenen Rat einzurichten. Das Zuständigkeitsargument war hinfällig, als die Stadt sich auf den Kaiser verwillkürte, ihn also als Schiedsrichter anerkannte. II. Metz Der zweite in dem Material auftauchende Fall eines Rechtsgutachtens in einem Verfahren vor dem königlichen Hofgericht betrifft die Stadt Metz27. Fritz Hofmann aus Nürnberg, Bürger der Stadt Frankfurt am Main, hatte am 20. August 1393 Bürgermeister, Rat und Bürgergemeinde der Stadt Metz auf den 26. September vor das Hofgericht König Wenzels laden lassen28. Die Beklagten reagierten zunächst, indem sie die Frankfurter Stadtobrigkeit ersuchten, ihren Bürger Fritz Hofmann zur Rücknahme seiner Ladung zu veranlassen29. Doch die Angeschriebenen mußten zwei Tage vor dem Hofgerichtstermin nach Metz die Vergeblichkeit ihres Bemühens melden. Doch muß der Frankfurter Rat auch weiterhin so heftig auf ihn einzuwirken versucht haben, daß Fritz Hofmann gegen Ende des Jahres 1394 sein Frankfurter Bürgerrecht aufsagte, weil er sich
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Ute Rödel, Die Zeit Wenzels (1393-1396), in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Urkundenregesten zur Tätigkeit des deutschen Königs- und Hofgerichts bis 1451 (URHG), Bd. 13, Köln, Weimar, Wien 2001, Nr. 163 (1394 um November 17/19). URHG Bd. 13, Nr. 95, 1393 August 20, Prag. Zum weiteren Verlauf dieses Streites: Anmerkung zu Nr. 95 (S. 70 f.). URHG Bd. 13, Nr. 98, 1393 September 24, Frankfurt.
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durch die Stadt nicht hinreichend unterstützt fühlte30. Er betrieb das Verfahren so intensiv, daß Graf Emicho von Leiningen als Vorsitzender des Hofgerichts zu Prag ihm die Güter der Meister, Schöffen, des Rats und der Bürgerschaft der Stadt Metz um 2000 Mark Goldes zusprach und ihm zur Durchsetzung des Urteils eine große Zahl von Schirmern bestellte31. Am 19. November 1394 teilte der Hofrichter König Wenzels, Markgraf Johann von Brandenburg, der Stadt Frankfurt am Main mit, daß über die Stadt Metz die Acht verhängt worden sei, und gebot Frankfurt die Durchsetzung des Achturteils32. Das Sach- wie das Achturteil hatte sich die Stadt Metz eingehandelt, weil sie sich auf den Prozeß überhaupt nicht eingelassen hatte. Nicht einmal eine Entschuldigung ihres Ausbleibens war dieser alten Reichsstadt die Ladung vor das Hofgericht König Wenzels wert gewesen33. Zu dieser Haltung war sie durch ein Rechtsgutachten veranlaßt worden. Nachträglich – nicht in Unterwerfung unter das Urteil, wie es ausdrücklich heißt – sondern lediglich als Einwendung hat sie mit dem Gutachten vorgebracht, daß die Ladungen sowie die Urteile null und nichtig sowie unwirksam seien, so daß die Stadt ihnen ohne Schaden ungehorsam sein durfte. Dafür berief sich die Stadt auf ihre Freiheiten und althergebrachten Immunitäten, nach denen der Römische König vor der Kaiserkrönung weder eigene noch delegierte Gerichtsbarkeit über Bürger und Einwohner der Stadt Metz ausüben dürfe. Diese müßten ihn vor der Kaiserkrönung auch nicht als ihren Herrn anerkennen oder ihm irgendwie gehorchen. Und selbst als Kaiser dürfe er über sie nur persönlich innerhalb der Mauern ihrer Stadt Gericht halten, und zwar nur in einigen, klar umrissenen Fällen. Es ist hier nicht nachzuprüfen, ob die Stadt Metz wirklich solche in dieser weitreichenden Form absolut ungewöhnlichen Privilegien besaß. Nach den Regeln des Hofgerichts wäre auch durch sie das Verhalten der Stadt auf keinen Fall zu rechtfertigen, die unter Berufung auf die so nur im Gelehrten Prozeßrecht bekannte Nichtigkeit der Ladungen nicht einmal einen Prokurator an den Hof geschickt hatte. Wenn einmal ein privilegierter Reichsstand entgegen seinen Gerichtsstandsprivilegien vor das Hofgericht geladen wurde, dann hatte er sich zunächst dem Verfahren zu stellen und beim Termin unter Vorlage seiner Privilegien die Verweisung an sein Gericht zu beantragen. Solche Fälle kamen häufiger vor, weil man am Hof nicht wußte, ob eine Ladung an einen privilegierten Reichsstand erging. Die Berufung auf eine Nichtigkeit ipso jure, die von jeder Reaktion entbinde, war nur aus dem Gelehrten Prozeßrecht abzuleiten, das jedoch am Hofgericht nicht angewendet wurde. Welchem Zweck das Gutachten hatte dienen sollen, ist nicht erkennbar. Ob die Stadtväter von Metz es für die interne Entscheidungsfindung nutzen wollten oder ob sie es als Rechtfertigungsschrift beim König gedacht hatten, ließe sich nur dann einigermaßen zuverlässig sagen, wenn der Text datiert wäre. Das ist aber nicht der Fall. Auch aus der Überlieferung lassen sich keine Schlüsse ziehen. Das Gutachten ist nur als minute überliefert ohne Aussteller oder Adressat. Auch die Pro30 31 32 33
URHG Bd. 13, Nr. 160, vor 1394 November 17/19. URHG Bd. 13, Nr. 161, 1394 November 17, Prag. URHG Bd. 13, Nr. 162, 1394 November 19, Prag. URHG Bd. 13, Nr. 163, 1394 um November 17/19.
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venienz läßt sich nicht als Indiz für die eine oder andere Lösung verwerten, weil die minute in der Akte eines Advokaten enthalten ist. Die Radikalität der in diesem Gutachten vertretenen Positionen könnte ebenso wie die daraus abgeleitete Haltung der Stadt Metz gegenüber der Hofgerichtsladung zu dem Schluß verleiten, daß Metz hätte versuchen wollen, sich der Jurisdiktion des deutschen Königs zu entziehen. Dem widerspricht jedoch der Umstand, daß Metz in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts in den Prozessen, die Reinhard Fuchs am Königshof gegen sie anstrengte, eine solche Position keineswegs einnahm34. In dieser Verfahrenskette verhielt sich die Stadt vielmehr so, wie es in solchen Fällen üblich war. Sie berief sich im Termin auf ihre Gerichtsstandsprivilegien, woraufhin der Prozeß offenbar an das Stadtgericht verwiesen wurde35. Als die Streitigkeiten jedoch später wieder aufflammten und mehrfach am Hof Sigismunds und Friedrichs III. wieder anhängig waren, spielte die Unzuständigkeit des Hofgerichts – gar mit der Verschärfung, daß dieses gegen die Stadt Metz nur innerhalb der Mauern der Stadt verhandeln dürfe – keine Rolle36. Vielmehr ließ sich Metz auf diese Verfahren ein, wie es sich für eine Reichsstadt gehörte. Daraus ergibt sich, daß die in dem Rechtsgutachten vertretenen Positionen keineswegs als Momente einer grundsätzlichen Haltung gewertet werden dürfen. Sie waren offenbar zeitgebundene Argumente gegenüber dem Hofgericht eines schwachen und abwesenden Königs, dessen Aufenthalt im Königreich Böhmen im Text mehrfach betont wurde.
C. Folgerungen Die beiden Rechtsgutachten, die im Zusammenhang mit Prozessen am Hofgericht des deutschen Königs im 14. Jahrhundert angefordert wurden, bestätigen als Ausnahmen die Regel, daß diese Form rechtsgelehrter Argumentation im Hofgerichtsprozeß fehl am Platze war. Im Falle Mühlhausen dürfte die Konkurrenz zur geistlichen Gerichtsbarkeit und die Delegation des Verfahrens an den Bischof von Leitomischl, der offenbar den Prozeß nicht nach den deutschrechtlichen Verfahrensregeln durchführte, den Ansatz für den Einsatz dieses Mittels durch die Stadt geboten haben. In der Sache hatten die Mühlhäuser mit den Argumenten des Gutachtens allerdings keinen Erfolg, weil der Hofgerichtsprozeß trotz Geltend34
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Dieser Prozeß ist vorbildlich analysiert worden von Friedrich Battenberg, Ein Folgeprozeß zum Zunftaufstand in der Reichsstadt Metz von 1403. Ein Beitrag zur Stellung und Funktion der obersten Reichsgerichte im 15. Jahrhundert, in: Bernhard Diestelkamp, Ulrich Eisenhardt, Gunter Gudian, Adolf Laufs, Wolfgang Sellert (Hrsg.), Beiträge zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Reich im 15. Jahrhundert. Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 11, Köln, Wien 1981, S. 82 ff. Battenberg, in: Diestelkamp u.a., Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit, S. 92 Anm. 34. Vgl. dazu nicht nur die Schilderung Battenbergs, in: Diestelkamp u.a., Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit, S. 92 ff., sondern auch die von diesem in Anhang publizierten Urkunden: Anm. 33, S.131 ff. Nr.1, 1417 Juni 23, bis Nr. 37 (ca. 1458).
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machung der von den Juristen erarbeiteten exceptio fori durchgeführt wurde. Ob und wie das Gutachten im Prozeß verwendet wurde, ist nicht erkennbar. Dasselbe gilt für das von der Stadt Metz angeforderte Gutachten, wo die in dem Gutachten vertretenen Rechtsansichten ebenfalls keinen Einfluß auf das Verfahren hatte. In beiden Fällen hofften die Reichsstädte, sich mit Hilfe rechtsgelehrter Argumente der Jurisdiktion des Königsgerichts entziehen zu können, aber erfolglos, wie sich gezeigt hat. Die Argumentation der Rechtsgelehrten entfaltete im Verfahren des Hofgerichts keine erkennbaren Wirkungen.
Zum falschen Arzt in Gegenwart und Rechtsgeschichte Ein Gutachten des Hohen Rats von Holland, Seeland und Friesland aus dem Jahr 17681 Christian Hattenhauer
A. Hochstapler sind immer wieder versucht, das Ansehen und das dem Arzt entgegengebrachte Vertrauen in Anspruch zu nehmen. Die Entlarvung eines falschen Arztes ist der Presse regelmäßig eine Mitteilung wert, das Interesse der Leserschaft gewiss. Die Internet-Suchmaschine „Google“ wirft bei „falscher Arzt“ mehr als 700 Treffer aus: In Italien etwa befand sich im Jahr 2003 ein bekannter römischer „Orthopäde“ auf der Flucht, der nach 20 Jahren Praxis erst durch die Anfrage eines mit einem chirurgischen Eingriff unzufriedenen Patienten aufgeflogen war2. Im März 2004 findet sich ein Bericht über die Enttarnung eines Arztes, der in Großenhain (Sachsen) sechs Monate lang praktiziert hatte3; im Juli 2004 flog ein Hamburger Arzt auf, der jahrelang Diätmittel verschrieben hatte4. Nach der Entdeckung des falschen Arztes geht es regelmäßig um straf- oder arbeitsrechtliche Folgen. Im November 2004 brachte etwa die „Ärzte Zeitung“ eine Meldung über einen Deutschen, der nach Vorlage gefälschter deutscher Examenszeugnisse ein Jahr lang in einer belgischen Gemeinschaftspraxis gearbeitet hatte und daraufhin zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt wurde. Vor dem Bundesarbeitsgericht5 ging es jüngst um die Rückzahlungsansprüche des Krankenhausträgers gegen einen falschen Arzt, der aufgrund eines gefälschten Approbationszeug1
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Der verehrte Jubilar und Vorgänger auf dem Heidelberger Lehrstuhl möge nachsichtig sein, dass den folgenden Ausführungen lediglich skizzenhafter Charakter eignet. Die Einladung zur Beteiligung an der Festschrift erfolgte zu einem Zeitpunkt, als die Last der Heidelberger Lehrveranstaltungen zu wissenschaftlicher Arbeit kaum Raum ließ. n-tv.de, Meldung vom 1. November 2003, http://www.n-tv.de/5191891.html. Sächsische Zeitung vom 23. März 2004. Der Mann hatte ein gefälschtes Diplom aus dem Jahr 1996 vorgelegt und war aufgeflogen, weil er ein Unfallprotokoll mit dem Titel „Diplom-Mediziner“ unterschrieben hatte, dieser Titel aber nur in der DDR vergeben worden war. Die Welt vom 2. Juli 2004. Urteil vom 3. November 2004 – 5 AZR 592/03 (Vorinstanz: LAG München – 2 Sa 283/03), Pressemitteilung des BAG Nr. 81/04.
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nisses siebeneinhalb Jahre im Bereich Frauenheilkunde des Klinikums der TU München tätig gewesen war. Nach Ende der Tätigkeit stellte sich der wahre Sachverhalt heraus, der Krankenhausträger focht den Arbeitsvertrag wegen arglistiger Täuschung an und forderte einen Teil der geleisteten Arbeitsvergütung, der vollen Urlaubsvergütung und der im Krankheitsfall gewährten Entgeltfortzahlung zurück. Das Bundesarbeitsgericht gab der Klage statt: Das gesetzliche Verbot der Ausübung der Heilkunde durch einen Nichtarzt habe den Zweck, Leben und Gesundheit der Patienten zu schützen, die Heilung des Mangels durch Begründung eines faktischen Arbeitsverhältnisses scheide daher aus. Bei der bereicherungsrechtlichen Rückabwicklung der gegenseitigen Leistungen sei die Rückforderung des Werts geleisteter Dienstleistungen nach § 817 BGB ausgeschlossen, da der Leistende durch die Art der Tätigkeit gegen ein gesetzliches Verbot verstoßen habe. Ein Ausschluss der Rückforderung nach Treu und Glauben sei hier nicht angemessen. Auf die Spitze getrieben hat es wohl der Bremer Postbote Gerd Uwe Postel mit seiner über 20jährigen Hochstaplerkarriere6: Als Dr. med. Dr. phil. Clemens Bartholdy war Postel Anfang der 80er Jahre in Flensburg als stellvertretender Amtsarzt, Leiter des sozialpsychiatrischen Dienstes, Hafenarzt und Leichenbeschauer tätig, verfasste Gutachten und hielt Fachvorträge. Die Zahl der Zwangseinweisungen sank während seiner Flensburger Tätigkeit um 86%, bei Beschwerden gegen seine Entscheidungen bestätigte das Landgericht den Befund. Der Schwindel flog erst auf, weil Postel sein Portemonnaie verloren hatte, in dem sich auch ein auf seinen richtigen Namen ausgestellter Ausweis befand. Das Landgericht Flensburg verurteilte Postel im Jahr 1984 wegen Missbrauchs akademischer Titel, Betruges und Urkundenfälschung zu einem Jahr Freiheitsstrafe auf Bewährung. Postel setzte seine Karriere ungerührt fort. Nach Tätigkeiten u. a. als Stabsarzt bei der Bundeswehr, als Begutachtungsarzt für Rentengutachten kehrte Postel zur Tätigkeit als Psychiater zurück – die, wie er meint, „auch eine dressierte Ziege ausüben“ könne. 1995, Postel studierte gerade katholische Theologie in München, gelang ihm sein bisheriges Meisterstück: Vom Studentenwohnheim rief er als Prof. Dr. Gert von Berg von der Psychiatrischen Universitätsklinik Münster beim Chef des Krankenhauses für Psychiatrie, Psychotherapie und Neurologie im sächsischen Zschadraß an und berichtete dem Kollegen von einem „ausnehmend tüchtigen Funktionsoberarzt Dr. Postel mit Namen, der gerade auf sozialpsychiatrischem Gebiet recht versiert ist“. Bald darauf war er unter seinem richtigen Namen von November 1995 bis Juli 1997 Oberarzt in Zschadraß, verhandelte mit dem Dresdner Sozialministerium über Leitungspositionen und verfasste Gutachten in sächsischen Schwurgerichtsverfahren. Nachdem Postel einen Massenausbruch aus dem Maßregelvollzug in Zschadraß vereitelt hatte, schlug ihn die sächsische Staatsregierung 1996 zur Ernennung als Chefarzt der forensischen Abteilung des Landeskrankenhauses für Psychiatrie und Neurologie in Arnsdorf, verbunden mit 6
Ausführlich: Gerd Postel, Doktorspiele. Geständnisse eines Hochstaplers, Frankfurt/M. 2001, Besprechung von Dietmar G. Luchmann, Mehr Schein als Sein: Psychiatrie. Hochstapler Dr. med. Dr. phil. Gerd Uwe Postel reißt Psychotherapeuten und Psychiatern die Maske kundiger Heiler herunter, in: Psychotherapie vom 10. 9. 2001.
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einer Professur, vor. Postel zog seine Bewerbung nur zurück, weil er nach einem Gespräch mit dem ärztlichen Leiter Angst vor seiner Entdeckung hatte. Enttarnt wurde er schließlich nicht etwa durch ärztliches Unvermögen, sondern deshalb, weil eine Ärztin der Klinik Besuch von ihren Eltern aus Flensburg bekam, denen der Name „Postel“ noch ein Begriff war. 1999 verurteilte ihn das Landgericht Leipzig zu vier Jahren Haft. Anfang 2001 nach zwei Dritteln der Strafe vorzeitig entlassen, veröffentlichte Postel sein Buch „Doktorspiele“7. Über einen Pfändungs- und Überweisungsbeschluss dient der Erlös der Schuldentilgung gegenüber dem Freistaat Sachsen, da Postel das unrechtmäßig erlangte Arbeitsentgelt von rund 104.000 € nebst Zinsen zurückzahlen muss. Die Zahlungen versiegen allerdings allmählich; Ende Oktober 2004 standen noch rund 84.000 Euro aus8. Mag man über diese – mittlerweile auch verfilmte9 – Köpenickiade, in der die heutige Expertengläubigkeit schlicht an die Stelle preußischer Militärgläubigkeit getreten ist, noch schmunzeln, so stimmt nachdenklich, dass Postel seine Honorare als psychiatrischer Gutachter in 23 Strafprozessen, immerhin knapp 44.000 €, wohl nicht zurückzahlen muss. Die Fehlerhaftigkeit der Gutachten wird kaum nachweisbar sein, kein einziges war seinerzeit vor Gericht zurückgewiesen oder angefochten worden. So hat denn auch das Sächsische Justizministerium zwar die Rückforderung der Honorare geprüft, bisher aber kein Verfahren eingeleitet. Die jüngst gestellte Frage nach der Zuverlässigkeit psychiatrischer Gutachten10 erscheint nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Affäre Postel drängend11.
B. Sind heutzutage an das Auftreten falscher Ärzte in der Regel straf- oder arbeitsrechtliche Fragen geknüpft, so hatte sich der Hohe Rat von Holland, Seeland und Friesland in den Jahren 1767/68 mit den doch recht anders gearteten Folgen zu beschäftigen, zu denen die Tätigkeit eines falschen Arztes in dem niederländischen Städtchen Brouwershaven (Seeland) geführt hatte. Die Sache fällt in die späte Periode der großen Zeit der niederländischen Rechtswissenschaft des 17. und 18. Jahrhunderts12, die mit der wirtschaftlichen 7 8 9 10 11
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Postel, Doktorspiele. sz-online, http://www.sz-online.de/nachrichten/artikel.asp?id=704101. „Der Unwiderstehliche. Die tausend Lügen des Gerd Postel“, Deutschland 2001. Britta Helbing, Forensische Gutachten auf dem Prüfstand, in: ZRP 2004, S. 55-56. So auch Martin Riemer, Forensische Gutachten auf dem Prüfstand, in: ZRP 2004, S. 131. Dazu Reinhard Zimmermann, Römisch-Holländisches Recht – ein Überblick, in: Robert Feenstra, Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Das römisch-holländische Recht. Fortschritte des Zivilrechts im 17. und 18. Jahrhundert, Berlin 1992, S. 9-58; ebenso Gero R. Dolezalek, Das Zivilprozeßrecht, in: Robert Feenstra, Reinhard Zimmermann (Hrsg.), Das römisch-holländische Recht, Berlin 1992, S. 59-104, dort jeweils weiterführende Hinweise.
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und kulturellen Blüte der Republik der Vereinigten Niederlande einherging. Deren Provinzen13 waren jeweils selbständige Republiken mit eigenen Organen. Höchstes gemeinsames Organ waren die Generalstände (Staten Generaal der Vereenigde Nederlanden), in denen jede Provinz eine Stimme hatte. Faktisch dominierte die Provinz Holland, auch in juristischer Hinsicht. Neben der juristischen Fakultät der Universität Leiden festigte die Autorität der holländischen Gerichte den holländischen Einfluss. Der Hof van Holland, Zeeland en Vriesland war das älteste, ausschließlich mit gelehrten Juristen besetzte Obergericht. Die Appellation ging bis zur Spaltung der nördlichen von den südlichen Niederlanden an den seit 1473 sog. „Groote Raad“ in Mecheln. Nach der Lossagung von Spanien richtete einzig Holland 1581 mit dem Hohen Rat (Hooge Raad) ein Appellationsgericht ein, dessen Jurisdiktion sich zwar lediglich Seeland (1587) unterwarf, dessen Autorität aber über Hollands und Seelands Grenzen hinausging. Dies nicht zuletzt deshalb, weil am Hohen Rat bedeutende Juristen wirkten. Im 18. Jahrhundert war der Glanz des Gerichts vor allem mit seinem Präsidenten Cornelis van Bynkershoek (1673-1743) verknüpft, der als einer der bedeutendsten niederländischen Juristen überhaupt gilt. Van Bynkershoek und seinem Nachfolger und Schwiegersohn Willem Pauw (1712-1787) verdanken wir mit der Dokumentation der Spruchtätigkeit des Hohen Rats in den „Observationes tumultuariae“ und den „Observationes tumultuariae novae“ eine Quellensammlung von unschätzbarem Wert für Einblicke in die Praxis des römisch-holländischen Rechts im 18. Jahrhundert. Rasch zusammengeschrieben und stilistisch nicht überarbeitet (tumultuarius) gab van Bynkershoek Sachverhalt, Entscheidung und Entscheidungsgründe wieder, fügte bisweilen einen eigenen Kommentar hinzu und gab Einblick in die richterliche Beratung. Letztwillig untersagte er die Publikation der „Observationes“ und vermachte sie Willem Pauw, der das Werk mit den „Observationes tumultuariae novae“ fortsetzte und das Publikationsverbot wiederholte. Die Manuskripte gerieten in Vergessenheit. Erst 1914 wurden sie durch den Leidener Professor E. M. Meijers im Magazin eines Auktionators entdeckt, wo sie nach dem Tod des letzten Nachkommens van Bynkershoeks 25 Jahre lang als unverkäuflich gelagert hatten. Die Edition der „Observationes tumultuariae (novae)“ umfasst 7 Bände. Im 2. Band der „Observationes tumultuariae novae“ Willem Pauws14 begegnet nun der falsche Arzt Sejus – wie sämtliche Beteiligten trägt er einen der üblichen römischen Blankettnamen:
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Holland, Seeland, Friesland, Utrecht, Gelderland, Groningen (Stadt und Ommelanden) und Overijsel. Drenthe war Mitglied ohne Stimmrecht. Teile von Flandern und Brabant wurden von den Generalständen für die Union verwaltet, ohne eine eigene Provinz zu bilden. Wilhelm Pauw, Observationes Tumultuariae Novae, 2. Bd., R. Feenstra, W. L. de Koning-Bey, L. E. van Kolk, H. W. van Soest (Hrsg.), Harlem 1967, Nr. 1038. Entsprechend der Edition wird auf eine Untergliederung durch Absätze verzichtet. Für die Hilfe bei der Übersetzung der altniederländischen Passagen bin ich Herrn Dr. André Janssen zu Dank verpflichtet.
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„Sejus 29 Mart. 1741 ex sententia judicum Roterodamensium ob crimen falsi virgis caesus, stigmate inustus et ad carcerem duodecennalem fuit damnatus; elapso eo tempore inde dimissus et dein per varia loca vagatus, tandem anno 1764 se recepit Brouwershaviam, quae urbecula est Zelandiae, ibique adscito alio nomine prolatoque diplomate, quo fidem faceret se Duisbergi medicorum numero fuisse adscriptum, artem medicam exercere coepit. Pietatem etiam tum moribus tum sermone prae ceteris adfectans, in honestiorum civium aedes se insinuavit. In tantum autem Cajae Sempronii, consulis istius urbis, filiae, cui ex morbo decumbenti medicinam faciebat, gratiam sibi conciliavit, ut eam impraegnaverit. Cum nihilominus pater in nuptias filiae cum homine plane ignoto consentire nollet, multa coepit jactare de familia et de opibus suis, utque dictis suis fidem adstrueret, tum epistolas amicorum, tum alia testimonia qua publica qua privata protulit. His visis in nuptias consensit pater, iisque contractis brevi post inde prognatus est filius. Non diu steterunt nuptiae, quin compertum fuerit omnia illa, quae dixi, testimonia ab ipso Sejo fuisse fabricata, ut patris consensum in nuptias extorqueret, falsum eum nomen adscivisse, falsum etiam et fictum ab eo fuisse diploma quo persuadere voluerat se Duisbergi inter medicos fuisse relatum, alias etiam innumeras falsi species ab eo commissas. Hac de causa carceri mancipatus et ex sententia judicum in Brouwershaven in pegmate laqueo circa collum pendulo publice virgis caesus et stigmate fuit inustus, condemnatus porro ad carceres perpetuos. Aliquo tempore post Ordines Zelandiae adeunt tum Caja tum pater ejus, et ajunt, Caja se fraude et dolo Seji pellectam ad nuptias cum eo ineundas; pater, eadem Seji fraude motum se, ut in nuptias consentiret, nuptias istas ex capite doli, justique erroris ab initio fuisse et adhucdum esse ipso jure nullas, petere igitur se, ut ex plenitudine potestatis id significare vellent Ordines; at cum sic ex legitime nato illegitimus fieret infans, qui ex nuptiis istis erat editus, rogant, ut Ordines legitimae prolis jura ei vellent largiri. Ordines 29 Octob. 1767 ea de re exquirunt sententiam Senatus. Quod ad priores preces, sic satis manifestum est, perperam aditos fuisse, ut vi supremae potestatis significare vellent, nuptias istas ab initio ipso jure fuisse et adhucdum esse nullas, neque enim adeundus princeps, nisi ubi remediis gratiae est opus; nuptiae vero an sint ipso jure nullae nec ne ad cognitionem judicis spectat et monstro simile est, supremam potestatem advocari, ut ex ea nullius momenti declaretur quod defenditur ipso jure esse nullum. Igitur 14 Jan. 1768 placuit responderetur Ordinibus, videri Senatui, dat de suppl. ten opzigte van dit verzoek behoorden te worden gerenvoyeert naar de ordinaris justitie. Quod ad alteras preces, recte quidem aditi erant Ordines, ut infanti ex istis nuptiis procreato legitimationem impertiri vellent, neque enim legitimationem largitur nisi princeps; dog dewijl dat verzoek zoude cesseren, ingeval bij eene regterlijke decisie het voors. huwlijk mogte worden verklaert niet te zijn ipso jure nul, en hetzelve alleen zoude te pas komen, indien’t voors. huwlijk nietig wiert verklaert, Ordinibus responsum fuit, dat het voors. laatste verzoek behoorde te worden gehouden in deliberatie en advis, totdat over de gesustineerde nulliteit van’t voors. huwlijk eene regterlijke decisie zou zijn gevallen“.
„Sejus war am 29. März 1741 durch Urteil der Rotterdamer Richter wegen Fälschungsdelikts ausgepeitscht, gebrandmarkt und zu 12 Jahren Kerker verurteilt worden. Nach Ablauf dieser Zeit von dort entlassen, trieb er sich in verschiedenen Gegenden herum, zog sich schließlich im Jahre 1764 nach Brouwershaven, ein Städtchen Seelands, zurück und begann dort nach Annahme eines anderen Namens und unter Vorlage einer Urkunde, die Glauben machte, er habe zur Ärzteschaft Duisbergs gehört, die ärztliche Kunst auszuüben. Indem er überdies anderen gegenüber Frömmigkeit sowohl in Benehmen als auch in Worten heuchelte,
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schlich er sich in die Häuser geachteter Bürger ein. Die Gunst Cajas, Tochter des Sempronius, Ratsherrn jener Stadt, der er, als sie krank im Bett lag, eine Medizin bereitet hatte, gewann er so sehr, dass er sie schwängerte. Als der Vater gleichwohl nicht in die Ehe der Tochter mit dem fast unbekannten Mann einwilligen wollte, fing er [Sejus] an, viel zu prahlen von seiner Familie und seinem Vermögen, und um seinen Worten Glauben zu verleihen, legte er sowohl Briefe von Freunden als auch andere Zeugnisse – private wie öffentliche – vor. Unter deren Eindruck willigte der Vater in die Ehe ein, und bald nach dem Eheschluss kam ein Sohn zur Welt. Die Ehe währte nicht lange, ohne dass all das, was ich erwähnt habe, in Erfahrung gebracht wurde: [nämlich] dass die Zeugnisse von Sejus selbst gemacht worden waren, um die Einwilligung des Vaters in die Ehe abzuringen, dass er sich einen falschen Namen zugelegt hatte, dass auch die Urkunde, mit der er die Überzeugung erwecken wollte, er habe zu den Ärzten Duisbergs gezählt, falsch und erfunden war und schließlich unzählige andere von ihm begangene Arten von Fälschungen. Wegen dieser Sache wurde er in den Kerker geworfen, nach dem Urteil der Richter in Brouwershaven im Block öffentlich ausgepeitscht, gebrandmarkt und dann zu dauernder Kerkerhaft verurteilt. Einige Zeit danach wenden sich sowohl Caja als auch ihr Vater an die Stände Seelands und bringen vor: Caja, dass sie durch Täuschung und List des Sejus zur Eingehung der Ehe verleitet worden sei; der Vater, dass er durch dieselbe Täuschung des Sejus veranlasst worden sei, in die Ehe einzuwilligen, dass jene Ehe wegen Arglist und Irrtums von Anfang an und immer noch ipso iure nichtig sei; er beantrage daher, die Stände wollten das kraft ihrer Machtfülle aussprechen. Weil aber so aus dem ehelich geborenen ein uneheliches Kind würde, das aus dieser Ehe hervorgegangen war, beantragen sie, die Stände möchten die Rechte ehelicher Nachkommenschaft auf es erstrecken. Die Stände verlangen am 29. Oktober 1767 in dieser Sache ein Gutachten des Senats. Was das erste Begehren angeht, so ist hinreichend offenkundig, dass sie [die Stände] zu Unrecht belangt worden sind, sie wollten kraft ihrer höchsten Macht aussprechen, diese Ehe sei von Anfang an ipso iure und immer noch nichtig. Der Herrscher ist nämlich nur zu belangen, wenn Gnadenmittel nötig sind; ob aber eine Ehe ipso iure nichtig ist, betrifft in der Tat die Untersuchung des Richters, und es kommt einer Ungeheuerlichkeit gleich, die höchste Gewalt beizurufen, damit das für ungültig erklärt werde, für das vorgebracht wird, es sei ipso iure nichtig. Daher beschloss der Senat am 14. Januar 1768, den Ständen das Gutachten zu erteilen, er sei der Ansicht, der Antragsteller sei hinsichtlich dieses Begehrens zur ordentlichen Gerichtsbarkeit zurückzuverweisen. Was das zweite Begehren angeht, so sind die Stände zu Recht belangt worden, dem aus dieser Ehe hervorgebrachten Kind die Legitimation zuzuteilen, denn nur der Herrscher kann die Legitimation erstrecken; doch weil das Begehren solange aufzuschieben sein sollte für den Fall, dass durch richterliche Entscheidung die vorstehende Ehe nicht für ipso iure nichtig erklärt werden sollte, und dasselbe allein dann ansteht, wenn die vorstehende Ehe für nichtig erklärt wird, ist den Ständen das Gutachten erteilt worden, das vorstehende letzte Begehren sei in Überlegung und Rat zu halten, bis über die vorgetragene Nichtigkeit der vorstehenden Ehe eine richterliche Entscheidung gefällt worden sei.“
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Anders als in den heutigen Fällen geht es nicht um die Rückzahlung erschlichener Honorare oder die Bestrafung; insoweit macht man mit Sejus in Brouwershaven kurzen Prozess. Caja und Sempronius beschäftigen familienrechtliche Fragen: Beide gehen auf der einen Seite von der Nichtigkeit der Ehe ipso iure aus, auf der anderen Seite soll das Kind aber ehelich werden. Sie wenden sich unmittelbar an die Stände der Provinz Seeland als den Inhabern der Landeshoheit. Diese wiederum verlangen vom Hohen Rat eine „sententia“ – kein Urteil, sondern eine „Meinung“, ein Gutachten. Der Hohe Rat wird nicht als Gericht tätig, sondern als „Rat“, als Beratungsorgan des Herrschers15. Der Hohe Rat liefert ein Beispiel für den Pragmatismus, durch den sich die niederländische Jurisprudenz des 17. und 18. Jahrhunderts auszeichnete. Ohne auf die materielle Rechtslage einzugehen, kann er sich begnügen, die Statthaftigkeit der beiden Anträge daraufhin zu prüfen, ob die Stände jeweils zuständig sind. Für die Frage der Ehenichtigkeit16 wird die Zuständigkeit verneint. Insoweit sei der Antragsteller auf den ordentlichen Rechtsweg17 zu verweisen. Der Herrscher sei lediglich in Gnadensachen zuständig18. Hinsichtlich des Antrags auf Legitimation sei zwar Zuständigkeit der Stände gegeben19, der Antrag also statthaft. Doch be15
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Nicht anders als etwa der Kaiserliche Reichshofrat in Wien, der neben dem Reichskammergericht höchstes Gericht des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation war, aber die nicht minder wichtige Aufgabe hatte, den Kaiser durch Gutachten zu beraten; Peter Moraw, Reichshofrat, in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 4. Bd., Berlin 1990, Sp. 630-638, 630. Eine durch arglistige Täuschung (dolus) herbeigeführte Ehe war mangels Konsenses (wie jedes Rechtsgeschäft) nach protestantischer Auffassung ipso iure nichtig. Die Nichtigkeit war (kirchen-)behördlich auszusprechen, die Erklärung wirkte nicht konstitutiv. Nichtigkeitsgrund war grundsätzlich auch der konsensverhindernde Irrtum (error), dies uneingeschränkt, wenn er auf der Täuschung beruhte, in anderen Fällen galten Einschränkungen, wurde etwa zwischen dem Irrtum über wesentliche (error circa substantialia) bzw. Nebenumstände (error circa accidentalia) unterschieden sowie das Verschulden des Irrenden berücksichtigt. S. näher die Abhandlung – des Lutheraners – Samuel Stryk, Tractatus de dissensu sponsalitio, cum materiis quibusdam affinibus, de nullitate matrimonii et desertione malitiosa, Wittenberg 1699, sectio V, §§ XLVII-LV (dolus) und §§ LVII-LXIV (error) – dort (§§ LI-LII) ein der juristischen Fakultät Halle vorgelegter Fall zur Nichtigkeit einer mit einem Heiratsschwindler eingegangenen Ehe. In den Niederlanden war es schon früh, zuerst 1580 in Holland und Westfriesland, aus Gründen religiöser Toleranz zur Einführung der fakultativen Zivilehe gekommen; s. Paul Mikat, Ehe, in: HRG 1, 1971, Sp. 809-833, 821 f. In der Neuzeit war das Begnadigungsrecht als Ausfluss der Landeshoheit ein Reservatrecht des Landesherrn; s. Horst Krause, Gnade, in: HRG 1, 1971, Sp. 1714-1719, 1718. Sog. legitimatio per rescriptum principis, eine Legitimation des Kindes durch nachfolgende Ehe (legitimatio per subsequens matrimonium) war bei Nichtigkeit der Ehe schließlich nicht erfolgt, zu den Formen der Legitimation unehelicher Kinder, in: Samuel Oberländer (Hrsg.), Lexicon Juridicum Romano-Teutonicum, 4. Aufl. Nürnberg 1753 (Nachdruck 2000), „legitimatio per rescriptum principis“ und „legitimatio per subsequens matrimonium“; zu letzterer auch Friedrich Merzbacher, Legitimation durch nachfolgende Ehe, in: HRG 2, 1978, Sp. 1677-1681.
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stehe nur Handlungsbedarf, wenn die Ehe ipso iure nichtig sei; insoweit sei die richterliche Entscheidung abzuwarten. Der Hohe Rat pocht hinsichtlich der Ehenichtigkeit nicht nur strikt auf die Einhaltung des ordentlichen Rechtswegs, sondern ächtet die unmittelbare Anrufung der Stände als Ungeheuerlichkeit20. Hinter dieser offenbaren Empfindlichkeit dürfte die Sorge des Gerichts vor Justizeingriffen durch landesherrlichen Machtspruch stehen. Ursprünglich hatte der Machtspruch nicht den negativen Beigeschmack eines obrigkeitlichen Willkürakts. Der absolute Herrscher handelte schließlich kraft allerhöchster Machtvollkommenheit (ex plenitudine potestatis) und konnte auch neues Recht schaffen. Vielfach war es sogar Mode, die persönliche Entscheidung des Landesherrn etwa durch Bittschriften (Suppliken) herbeizuführen21. Eben das hatte Sempronius offenbar auch im Sinn, wenn er sich ausdrücklich auf die plenitudo potestatis der Stände beruft. Dass dieses Vorgehen dem Hohen Rat als dem obersten Gericht missfällt, ist verständlich. Die Entscheidung des Hohen Rats von 1768 ist aber gleichzeitig auch vor der allgemeinen Diskussion des ausgehenden 18. Jahrhunderts um die Zulässigkeit der Kabinettsjustiz zu sehen. 20 Jahre zuvor hatte Montesquieu (1689-1755) im „De l’Esprit des lois“ (1748) gegen staatliche Willkür die Idee der Gewaltenteilung entwickelt. 16 Jahre nach unserem Fall kam es jedenfalls für das Gebiet der Zivilrechtspflege in der Gesetzgebung zur – letztlich erfolglosen – Ächtung des Machtspruchs: Auch als Reaktion auf den Eingriff Friedrichs des Großen (1712-1786) in den Müller Arnold-Prozess22 am 1. 1. 1780 nahm Carl Gottlieb Svarez (1746-1798) ein Machtspruchverbot in den Entwurf eines Allgemeinen Gesetzbuchs für die Preußischen Staaten von 1784 (Einleitung, § 6) auf. Es fand zwar in das Allgemeine Gesetzbuch für die Preußischen Staaten (AGB) von 1791 Eingang23, verhinderte aber gleichzeitig das Inkrafttreten der Kodifikation, weil es dem unter reaktionärem Einfluss stehenden Friedrich Wilhelm II. (1744-1797) verdächtig erschien. In das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 wurde kein Verbot der Machtsprüche aufgenommen. Erst die Verfassungskämpfe des 19. Jahrhunderts sicherten die Justiz in Deutschland vor Eingriffen seitens der Kabinettsjustiz.
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Ob der Hohe Rat damit auf Samuel Pufendorfs berühmte Bezeichnung des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation als „irregulare aliquod corpus et monstro simile“ (Severinus de Monzambano, De statu imperii Germanici 1667, VI, § 9) anspielt? Werner Ogris, Machtspruch, in: HRG 3, 1984, Sp. 126-128, 127. Vgl. Werner Hülle, Müller Arnold-Prozess, in: HRG 3, 1984, Sp. 726-727. § 6 Einleitung AGB: „Machtsprüche und sonstige Verfügungen der obersten Gewalt, welche in streitigen Fällen ohne rechtliche Erkenntnis erteilt worden sind, bewirken weder Rechte noch Verbindlichkeiten.“ S. näher Ogris, Machtspruch, in: HRG 3, 1984, Sp. 126-128, 127.
„Zelo domus Dei“? Fragen zum Protest des Heiligen Stuhls gegen den Westfälischen Frieden Martin Heckel Wer – wie Adolf Laufs – die große Tradition seiner Kirche und ihre Weisungen hochhält, aber als Staatsbürger den modernen Staat als Wahrer des weltlichen Rechts und seiner Freiheitsgarantien bejaht und als Gelehrter aus Leidenschaft die Rechtsentwicklung des deutschen Staates vom Alten Reichs bis in die Gegenwart verfolgt, wer sich wie er den Aporien des modernen Rechts beim Schutz des Lebens widmet und dabei unter einem Zeitgeistes leidet, der Unvereinbares unbekümmert gelten und wuchern lässt, wer mithin in dem Motto unseres Breves „Aus Eifer – im Eifer um das Haus Gottes“ gleichsam die Devise seines Lebens findet und doch mit Protestanten (sogar als Familiaren) vertraute Verbindungen pflegt, der mag in verlegener Ratlosigkeit an den Protest des Heiligen Stuhls gegen den Westfälischen Frieden denken, der damals zur allseitigen Erleichterung der gesamten gesitteten Welt von den großen Mächten geschlossen wurde 1 . – Und er steht damit nicht allein: F
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Aus Raumgründen verweise ich auf die ausführlichen Literatur- und Quellenangaben in meinen jeweils zit. Schriften, insbes. in Martin Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter, 2. Aufl., Göttingen 2001, S. 239-277 sowie in folgenden Studien: „Autonomia und Pacis Compositio. Der Augsburger Religionsfriede in der Deutung der Gegenreformation“, in: ZRG Kan. Abt. 45 (1959), S. 141-248. – „Parität“, in: ZRG Kan. Abt. 49 (1963), S. 261-420; – „Itio in partes. Zur Religionsverfassung des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation“, in: ZRG Kan. Abt. 74 (1978), S. 180-308. – „Die Krise der Religionsverfassung des Reiches und die Anfänge des Dreißigjährigen Krieges“, in: Konrad Repgen (Hrsg.), Krieg und Politik 1618-1648, Schr. d. Hist. Kollegs, Kolloquien 8, 1988, S. 107-131. – „Konfession und Reichsverfassung. Bekenntnisbildung und Bekenntnisbindung in den Freiheitsgarantien und der Verfassungsorganisation des Reichs seit der Glaubensspaltung“, aus: Paolo Prodi (Hrsg.), Glaube und Eid, Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 28, München 1993, S. 69-96. – „Die katholische Konfessionalisierung im Spiegel des Reichskirchenrechts“, in: Wolfgang Reinhard/Heinz Schilling (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung, Schriften des Vereins f. Reformationsgeschichte, Bd. 198, Gütersloh 1995, S. 184-227. – „Das Restitutionsedikt Kaiser Ferdinands II. vom 6. März 1629 – eine verlorene Alternative der Reichskirchenverfassung“, in: Gerhard Köbler, Hermann Nehlsen (Hrsg.), Wirkungen europäischer Rechtskultur. Festschrift für Karl Kroeschell, München 1997, S. 351-376. – „Zu den Anfängen der Religionsfreiheit im Konfessionellen Zeitalter“, in: Mario Ascheri u. a. (Hrsg.), Festschrift für Knut Wolfgang Nörr, Köln Wien 2003, S. 349-401, 355 ff.; – „Ius reformandi“, in: Irene Dingel u. a. (Hrsg.), Festgabe für Gottfried Seebaß, Gütersloh 2002, S. 75-126, 93 ff. – Auch in: Martin Heckel, Gesammelte Schrif-
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A. Die historische Besonderheit des Protestes von 1648 I. Offene Fragen Der beste Kenner der Vatikanischen Archive unserer Tage, überzeugter Katholik wie unser Jubilar, hat es als Ergebnis seiner tief dringenden Quellenstudien und jahrzehntelangen Überlegungen bekümmert beklagt, daß damals an der Kurie die Partei der intransigenten Scharfmacher über den ausgleichsgeneigten Kreis unter den Kardinälen siegte: Die Kurie habe „konsequente Selbstmordpolitik“ betrieben, indem sie sich an einem „Kardinalpunkt in der neueren Kirchengeschichte“ „aus dem neu geschaffenen Völkerrecht Europas und Staatsrecht Deutschlands […] selbst ausschaltete“ 2 . Das historische Urteil über den Protest in der Zunft der Historiker wie in der Öffentlichkeit scheint damit plausibel gesprochen. Gleichwohl bleiben Fragen: Was bedeutet ein Protest im rechtsgeschichtlichen Zusammenhang der frühen Neuzeit? Und ist die säkulare Einzigartigkeit dieses Protestes so zu erfassen? Was war exakt sein Inhalt? Um welche rechtliche Qualität und welche Rechtsbereiche ging es da? Wie war die Genesis seiner Entstehung? Wann reifte der Entschluß dazu? Welche Rolle spielte seine Vorgeschichte seit der Glaubensspaltung? Was waren seine Gründe, seine Ziele? Warum erging er erst zu so später, von der Entwicklung überholter Zeit? Wo liegt sein historischer Ort und Sinn in der Geschichte des Reichs und der christlichen Kirche? War dies ein Griff des Papstes nach der Weltherrschaft entgegen der Entwicklung der Kirche, der Welt, des Rechts seit dreieinhalb Jahrhunderten? F
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II. Protest – ein weitverbreitetes und vieldeutiges Institut Das Protestieren war im 16. und 17. Jahrhundert ein alltäglich und allerorten geübtes Geschehen auf allen Bereichen der Politik und des Geisteslebens im internationalen, regionalen und lokalen Rahmen. Ein Protest konnte ganz Verschiedenes bedeuten, sich auf den Ebenen der Religion und der Rechtsordnung, der Moral und Sitte, der Innen- und Außenpolitik der weltlichen und der kirchlichen Hierarchien abspielen: Er konnte die religiöse Verdammung oder die moralische Mißbil-
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ten. Staat Kirche Recht Geschichte, 1. und 2. Bd., Tübingen 1989, S. 1-82; 106-226; 636-736, 970-998; 3. Bd., Tübingen 1997, S. 230-261; 294-335; 5. Bd., Tübingen 2004, S. 81-134; 135-184; 185-207. Konrad Repgen, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Studien und Quellen, hrsg. v. Franz Bosbach und Christoph Kampmann. (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, NF., Bd. 81) Paderborn, München, Wien, Zürich 1998, XXII und 889 S. 473, 490, 517, 597 ff., einschränkend S. 614. – Dazu mein Rezensionsaufsatz „Konfessionalisierung in Koexistenznöten. Zum Augsburger Religionsfrieden, Dreißigjährigen Krieg und Westfälischen Frieden in neuerer Sicht“, in: Hist. Zeitschr. (2005), (im Druck). – Vgl. auch Fritz Dickmann, Das Problem der Gleichberechtigung der Konfessionen im Reich im 16. und 17. Jahrhundert, in: Hist. Zeitschr. 201 (1965), S. 265-305, 304 f.; ders., Der Westfälische Frieden, Münster 1959, S. 456, 458 f.
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ligung oder das politische Bedauern über verwerfliches Tun und widrige Entwicklungen bekunden, den geistlichen Widerspruch gegen fehlsame Kirchenlehren und Kirchenakte ausdrücken, aber auch eine spezifisch rechtliche Bedeutung besitzen, die wiederum höchst Unterschiedliches bezweckte und bewirkte: den Widerspruch nur in Geschäftsordnungsfragen oder in der Sache selbst, die Verwahrung gegen rechtliche Übergriffe des Gegenparts oder gegen den Anschein eines konkludenten Zustimmungs- oder Anerkennungsaktes der eigenen Seite, die Verweigerung des Rechtsgehorsams, die Ablehnung der Mitwirkung an Maßnahmen, die Ankündigung gegenwärtigen Widerstands oder künftiger Selbsthilfe, die förmliche Nichtigkeitserklärung eines Gesetzes oder Vertrages oder auch nur einzelner Teile eines normativen Gesamtaktes. III. Seine gebräuchlichen Funktionen im Rechtsleben Der Protest leistete in der frühen Neuzeit unentbehrliche Dienste der Rechtswahrung, Rechtsvollstreckung und Rechtsentwicklung. Er war ein „normales“ Rechtsinstitut von vielseitiger Verwendbarkeit 3 . Denn die Rechtsordnung war noch wenig ausgeformt in ihren Normen und Institutionen, als sich die Reichsreform im Alten Reich nach 1495 einspielte, die landesherrliche Territorialgewalt aus einer Vielzahl heterogener, einander überlappender Rechte erwuchs 4 , sich die Territorien allmählich abgrenzten und arrondierten, das Völkerrecht Europas aus dem diplomatischen Verkehr entstand und auf dem großen Westfälischen Friedenskongreß Gestalt gewann. An den vielfältigen Protestformen und -akten, die die Vertragsschließenden in den Westfälischen Friedensverhandlungen mit ganz unterschiedlichen Zielen und Wirkungen benützten, wird die Bandbreite und Variabilität des Instituts augenfällig 5 . Dem Protest als allgemeinem, weithin gebräuchlichem Rechtsinstitut eignete an sich wenig Spektakuläres, geschweige denn Revolutionäres. Proteste dienten oft weniger der Verschärfung eines Konflikts als seiner dauerhaften Überwindung durch einen neuerlichen Integrationsversuch. Wer im Rechtsgang unterlag oder in einem Gremium überstimmt wurde, erhob zunächst einmal Protest, um damit nach Möglichkeit in erneuter Verhandlungsrunde die Annäherung der Streitteile bzw. eine einvernehmliche Lösung zwischen Mehrheit und Minderheit zu erreichen. – Der Protest war so ein unverzichtbares Mittel zur Erhaltung althergebrachter Freiheiten und Rechte; die Selbständigkeit der Stände in der altständischen Gesellschaft kam durch ihn sinnfällig zum Ausdruck. – Aber zugleich diente er auch zur Befriedigung der mancherlei Reformbedürfnisse, die die Verdichtung der Lebensverhältnisse und die Ausbildung der entstehenden Territorialstaaten, die Bedürfnisse der Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch, die Expansion der internatioF
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Hans-Jürgen Becker, Protestatio, Protest, ZHF 5 (1978), S.385-412; Klaus Schlaich, Maioritas – protestatio – itio in partes – corpus Evangelicorum, in: ZRG Kan. Abt. 63 (1977), S. 264-299; ZRG Kan. Abt. 64 (1978), S. 139-179. Dietmar Willoweit, Rechtsgrundlagen der Territorialgewalt, Köln, Wien 1975. Repgen, Dreißigjähriger Krieg, S. 547 ff., 572, 583.
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nalen Handelshäuser, die Bewältigung der Bauernunruhen und die Veränderungen im Kriegswesen mit sich brachten. Die Rechtskultur war ja auf Wahrung der Tradition geeicht: Das alte Recht galt als das gute Recht. Überlebtes, depraviertes Recht schien nur durch den – protestierenden – Rückgriff auf das bessere (vermeintlich) ältere, ja das uralte Recht zu „re-formieren“. Dies entsprach auch der theologischen Sicht der Geschichte als Verfallsprozeß vom Urstand bis zum Endgericht; auch die Reform der Kirche erhofften sich viele aus ihrer Rückkehr zum Stand der Urchristenheit. Der Protest war oft der Auftakt zu Reformen, das hatte das Mühen um die Reichsreform und um die Reform der Kirche seit den Reformkonzilien gelehrt, welche die unerledigte Kirchenreform der nachfolgenden Epoche zur Bewältigung hinterlassen hatten. IV. Die neue Dimension im Kreuzfeuer der Glaubensspaltung Aber diese rechtswahrende und -reformierende Funktion des Protestes setzte voraus, daß letztlich Einigkeit über die gemeinsamen religiösen Fundamente und sozialen Grundüberzeugungen unter den Beteiligten bestand. Nur dann war ihre Einigung möglich, waren auch Einbußen rechtlich hinnehmbar und wurden nicht als schiere Gewaltakte empfunden. Diese Grundvoraussetzung aber geriet in den Religionsfragen mit der Reformation ins Wanken und zerbrach, als sich die Bekenntnisentwicklung auf Seiten der Evangelischen mit der Augsburgischen Konfession von 1530 und der Katholiken mit den Trienter Glaubensdekreten von 1563 unwiderruflich verfestigte. Die Glaubensspaltung stieß den Protest in eine neue, bisher unerhörte Dimension. Mit den konventionellen Kategorien über die Bedeutung des Protests im allgemeinen Rechtsverkehr lassen sich die großen religionsbedingten Proteste des 16. und 17. Jahrhunderts nicht erfassen. Das gilt nicht erst für den späten Protest des Heiligen Stuhls gegen den Westfälischen Frieden, sondern schon für die Protestation der Protestanten auf dem epochalen Speyrer Reichstag von 1529 gegen die katholischen Vollstreckungsmaßnahmen des Bannes und der Reichsacht über die evangelische Bewegung und ebenso für die späteren wechselseitigen Protestationen, die beide Religionsparteien auf den Reichstagen nach 1555 in ihren Gravamina gegen die (angeblichen) Verletzungen des Augsburger Religionsfriedens durch den Widerpart erhoben 6 . Mit der Glaubenseinheit war auch die Rechtseinheit des Reichs – in wesentlichen Teilen – zerbrochen, weil sie nicht nur in den kirchenrechtlichen, sondern auch in den konfessionsrelevanten Fragen des weltlichen Rechts in Zwiespalt geraten war. Aus einem allgemeinen Instrument konsensorientierten Verhandelns und vorläufig-etappenweisen Übereinkommens entwickelte sich der Protest hier zur Proklamation der scharfen Abgrenzung, dauernden Selbstbehauptung und unF
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Christoph Lehmann, De Pace Religionis Acta Publica et Originalia, Frankfurt/M. 1707, S. 79, 83, 90, 103, 117 ff., 131 ff., 135, 139, 167, 189, 218, 232, 256, 268, 287. – Heckel, Konfessionelles Zeitalter, S. 50 ff., 67 ff., 100 ff.; ders., Die Krise der Religionsverfassung, S. 107, 107 ff., 113 ff., 122 ff., 125 f., auch in: ders., Ges. Schr., 2. Bd., S. 970 ff., 977 ff., 988 ff., 991.
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überbrückbaren Konfrontation der gegensätzlichen Glaubenspositionen. Die Weichen für den Protest von 1648 wurden schon in der langen Vorgeschichte des Reichs seit der Reformation gestellt. V. Inhalt und Rechtscharakter – Die große Nichtigkeitserklärung Das berühmte Breve Zelo domus Dei Innozenz X. vom Sommer 1650 enthält einen dezidiert normativen Protestakt 7 : Das Friedenswerk von 1648 wird in seiner Form und seinem Rechtsgehalt mit denkbar schroffen Unwerturteilen verworfen und als Verstoß gegen das göttliche und menschliche Recht entlarvt, seine Rechtsungültigkeit mit neun aufeinander getürmten juristischen Argumenten festgestellt und daraufhin die Rechtsfolge seiner strikten päpstlichen Verdammung, Nichtigkeitserklärung, völligen Unverbindlichkeit mit universalen Befolgungsverboten für alle Welt in sieben sich überbietenden Spezialbegriffen ausgesprochen. Der Rechtsakt des Heiligen Stuhls erhebt damit bombastisch in schärfster Form den Anspruch auf absolute, vorbehaltlose Geltung für die gesamte katholische und nichtkatholische Welt: Er beschränkt sich keineswegs auf den Bereich der katholischen Kirchenorganisation und ihres kanonischen Kirchenrechts, sondern beansprucht Vorrang auch vor dem Recht des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, vor dem Recht der anderen kriegführenden europäischen Mächte und vor dem soeben von ihnen durch das Instrumentum Pacis besiegelten jungen Völkerrecht Europas. War damit der päpstliche Weltherrschaftsanspruch wieder aufgenommen, der einst von Gregor VII. im Dictatus papae zum Auftakt des Investiturstreits als kühne Zukunftsforderung gegen das ottonisch-salische Königskirchentum erhoben wurde, um dann von Bonifaz VIII. in der Bulle Unam Sanctam von 1302 auf dem Gipfel des mittelalterlichen Papsttums als Grundlage der abendländischen Glaubens-, Heils- und Friedensgemeinschaft proklamiert zu werden? Isoliert betrachtet könnte es so scheinen. – Andererseits: Die völlige Wirkungslosigkeit Protestes des war damals wie später evident; das mag ihn als gespenstisch wirklichkeitsfern erscheinen lassen. Die Mächte Europas, einschließlich des katholischen Kaisers und der katholischen Reichsstände, hatten die päpstliche Kassation erwartetet und diese ihrerseits vorsorglich durch die (auf den Heiligen Stuhl gemünzte) Antiprotestklausel des Westfälischen Friedens für ungültig erklärt 8 . Und nicht allein aus diesem Grund ist die Geschichte über sie hinweg geschritten. Schon im Hoch- und Spätmittelalter – nicht erst in der Reformation, wie Ranke meinte – hatte der politische Pluralismus der abendländischen Staatengesellschaft das kanonistische Konzept der päpstlichen Weltherrschaft völlig scheitern lassen. F
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Repgen, Dreißigjähriger Krieg, S. 543 ff.; ders., Die römische Kurie und der Westfälische Friede, 1. Bd., 1, Tübingen 1962, S. 529, zur Vorgeschichte vgl. S. 82 ff., 116 ff., 136 ff., 153. Art. XVII § 3 IPO; auch § 113 und § 47 IPM; Dickmann, Westfälischer Frieden, S. 337 ff, 342, 456 ff.
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B. Die Vorgeschichte des Protestes I. Zur Genesis des Breve Diese Kassation steht in auffallendem Kontrast zu den fünf ungleich weniger scharf und provozierend formulierten Protesten, die der Nuntius Fabio Chigi zuvor zwischen dem 18. 5. 1648 und 19. 2. 1649 – also längst vor der Verkündung jenes scharfen Breves – abgegeben hatte 9 . Als Vertreter des Heiligen Stuhls bei den Friedenstraktaten hatte er vorab diese Proteste gegen einzelne Friedensschlüsse zwischen den großen Mächten und dann auch allgemein gegen das Friedenswerk als Ganzes eingelegt. Sie alle enthielten freilich keine juristischen Aussagen über die bekämpften Abmachungen und Normen, sondern nur eine historischdiplomatische Darstellung des Geschehens aus der kirchlichen Perspektive und die rechtfertigende Begründung des eigenen Verhalten bei der Friedensvermittlung: Dadurch hatte sich der Nuntius entschieden vom Inhalt des Verhandlungsergebnisses distanziert, dieses moralisch kritisiert und theologisch verworfen, damit auch historisch seinen vergeblichen Widerstand dagegen vor den Zeitgenossen und aller Nachwelt öffentlich dokumentiert – wie es der katholischen Kirche ziemte, um der Strenge ihrer Glaubenslehren, der Treue zu ihrer Tradition, der Fürsorge für ihre Diener, der Loyalität ihrer Gläubigen, der Achtung der Welt und auch dem Geltungsanspruch ihres kanonischen Rechts gerecht zu werden, das durch die Friedensverträge vielfach gebrochen und beiseite geschoben wurde. Die mildere, diplomatische Art dieser früheren Proteste Chigis hat die Vermutung nahegelegt, daß die scharfe juristische Kassation durch das spätere Breve aus einem internen Ringen an der Kurie erwuchs, in dem sich schließlich die rigorose Gruppe der Kardinäle um Gasparo Mattei mit der eklatant juristischen Verschärfung bei der Abfassung des Breve durchsetzte 10 . Mattei hatte als Nuntius am Kaiserhof (1640-43) schon 1641 auf dem Regensburger Reichstag den ersten förmlichen Protest der Kurie gegen das Reichsreligionsrecht seit Beginn der Reformation eingelegt, während Chigi der kirchenrechtlichen Prinzipientreue anscheinend die diplomatische Elastizität vorgezogen habe. – Indessen war Chigi doch selbst die Schlüsselfigur: Der päpstliche Protestplan ging auf eine Initiative Chigis vom Oktober 1645 zurück. Und sie verdankte ihre entscheidenden Anstöße dem deutschen Reichskirchenrecht. Deutsche Mittelsmänner berichteten dem Nuntius von dem einstigen Protest, den der Augsburger Bischof Otto Truchseß schon 1555 gegen den Augsburger Religionsfrieden eingelegt hatte, und stimmten ihn durch ihr ungestümes Drängen auf den Protestplan ein11 . Sie machten ihn dabei vertraut mit dem Standartwerk der Dillinger Jesuiten Forer und Laymann, die in ihrer „Pacis Compositio“ von 1629 eine hochgelehrte und gewiefte Auslegung des Augsburger Religionsfriedens in stringenter katholischer Einseitigkeit entwickelt hatten. Und ein Rundschreiben, das Chigi im Mai 1649 an führende katholische PersönlichkeiF
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Repgen, Dreißigjähriger Krieg, S. 546 ff., 559 f. Repgen, Die römische Kurie und der Westfälische Friede, S. 504, 514 ff.; ders., Dreißigjähriger Krieg, S. 556 ff., 559. Repgen, Dreißigjähriger Krieg, S. 495 ff., 599 ff.
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ten Europas versandte, zeigt, daß er sich keineswegs mit seiner diplomatischer Distanzierung, ja nicht einmal mit der juristischen Kassation des Friedens begnügen wollte, sondern dem Papst sogar vorschlug, den Osnabrücker Friedensvertrag förmlich als „Häresie“ mit theologischen Zensuren zu belegen12 : Er wollte also den Kaiser und die katholischen Fürsten, die drei Jahrzehnte lang bis zur völligen militärischen und wirtschaftlichen Erschöpfung für die katholische Sache gekämpft hatten, insoweit selbst zu Ketzern erklären lassen, drang freilich damit bei der Indexkongregation und dem Hl. Offizium nicht durch. F
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II. Die Abspaltung des Reichsrechts vom kanonischen Recht seit 1555 Durch den Protest wurde blitzartig die tiefe Kluft erhellt, die die katholische Kirche und ihr Kirchenrecht einerseits scharf von den evangelischen Landeskirchen und ihren Bekenntnissen und Kirchenordnungen schied, andererseits aber auch vom Reichskirchenrecht trennte, das seit 1555 den Katholiken als Bollwerk gegen die reformatorische Bewegung diente 13 . Nur aus der Entwicklung dieses Reichskirchenrechts sind die Gründe des Protestes wie auch der späte Zeitpunkt seiner Kundgabe zu verstehen: Der Religionsfriede von 1555 trägt ein Janusgesicht, er weist ins Mittelalter und in die Moderne. Der katholischen Kirche bot er den dringend benötigten Schutz und institutionellen Rückhalt gegen die vordringenden Protestanten, aber er brachte ihr auch Bedrängnisse und entscheidende Verluste. Indem er den seit der Reichsreform 1495 aufgerichteten Reichslandfrieden auch auf die religionsbedingten Streitigkeiten aus der Reformation Luthers erstreckte, hat er die Anwendung des mittelalterlichen Ketzerrechts auf ihn und seiner Anhänger ausgesetzt bzw. aufgehoben und das Monopol der katholischen Kirche und Lehre im Reich gebrochen 14 . Den Reichsständen wurden durch seine Friedens- und Freiheitsgarantien die freie Bekenntniswahl und die religiöse und territoriale Neuordnung im Sinn der beiden großen Konfessionen eingeräumt; ihre Bekenntnisse und Kirchenordnungen waren ausdrücklich in deren Schutz einbezogen; das Kirchengut und die kirchlichen Institutionen wurden in kompliziert differenzierten Reglungen zwischen ihnen verteilt; abgestufte Spezialnormen galten für die Reichsbistümer und Reichsabteien, die Reichsstädte und Reichsritter; den Untertanen blieb nur das F
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Repgen, Dreißigjähriger Krieg, S. 610, 614. Heckel, Autonomia und Pacis Compositio, in: ZRG Kan. Abt. 45 (1959), S. 141-248, 167 ff.; ders., Die Veränderungen des kanonischen Rechts durch die Reformation und die Religionsverfassung des Alten Reiches, in: Hartmut Boockmann u. a. (Hrsg.), Recht und Verfassung im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften Göttingen, Phil.-hist. Klasse, 3. Folge, 228. Bd., Göttingen 1998, S. 25-67, 39 ff., 43 ff.; auch in: ders., Ges. Schr., 1. Bd., S. 1-82, 20 ff.; 3. Bd., S. 336-381, 351 ff., 355 ff. Heckel, Konfessionelles Zeitalter, S. 39 ff., 45 ff.,.67 ff., 114 ff.; Repgen, Dreißigjähriger Krieg, S. 275, 278; Horst Rabe, Reich und Glaubensspaltung. Deutschland 15001600, München 1989, S. 299 ff.
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Auswanderungsrecht aus religiösen Gründen garantiert. Das jahrzehntelange Ringen beider Konfessionen seit der Reichsacht gegen Luther im Wormser Edikt von 1521 hatte zum politischen Patt und zum rechtlichen Kompromiß geführt. Beide Konfessionen behaupteten sich in fortdauernder Konfrontation als machtvolle geistlich-weltliche „Religionsparteien“ und schlossen äußerlich Frieden. Seit 1555 war der Anspruch der päpstlichen Kirche auf Einheit und Einzigkeit, Universalität und Katholizität, Glaubensgehorsam und jurisdiktionelle Obödienz durch das Reichsrecht nicht mehr durchsetzbar. Die alte geistlich-weltliche Einheit von Kirche und Reich war damit aufgebrochen, die „konstantinische“ Verbundenheit der geistlichen und weltlichen Gewalt wesentlich gelockert bzw. zur Disposition der Reichssstände gestellt. Darin liegt eine folgenschwere Abkehr von der mittelalterlichen Tradition. Der konfessionelle Streit um die wahre Lehre aber ging 1555 weiter und verschärfte sich noch in den folgenden Jahrzehnten mit der Konfessionalisierung aller Lebensbereiche. Aber er wurde nun durch die politische Koexistenzordnung 1555 auf Dauer rechtlich neutralisiert. Ihr lag ein politischer Begriff von Friede, Einheit und Freiheit zugrunde, der insoweit (d. h. in entscheidenden Punkten) die überkommene religiöse Bestimmtheit des Reichsrechts abstreifte. Sie führte auf den Weg in die Moderne der säkularen, aus der kirchlichen Bindung emanzipierten Staatsgewalt und Rechtsordnung. Ihr Friede bezweckte und bewirkte nicht den religiösen Frieden, sondern die politische Friedenswahrung, spaltete also den äußeren weltlichen Frieden ab vom inneren, geistlichen Frieden zwischen den Christen (und d. h. auch zwischen den Konfessionen), der in der Kirche als der wahre Frieden mit Gott gepredigt und gesucht wurde. Ihre Einheit war eine politisch-weltliche Einheit; die alte Einheit des Reichs im gemeinsamen Glauben und Kirchenwesen wurde aufgegeben. Ihre Freiheit war die weltliche Wahlfreiheit aus dem politischen Religionsfrieden zwischen den beiden herrschenden Bekenntnissen – also zwischen dem wahren Glauben und der „Häresie“ (jeweils in der Sicht der Gegenseite); sie unterschied sich mithin zutiefst von der „Freiheit des Christenmenschen“, die nach der Lehre Luthers aus der reinen Verkündigung des Evangeliums und aus der dadurch bewirkten Rechtfertigung des Sünders sola scriptura, sola fide, sola gratia erwuchs und zum Dienst am wahren Glauben und seinem Wirken in der Welt befreite, wie ja auch nach der katholischen Lehre die wahre Freiheit nur im Glauben und in der Nachfolge Christi, in der Gemeinschaft der wahren katholischen Lehre, Kirchengewalt und Kirchenorganisation existierte und zum Heil führte. III. Der Schutz des Reichs für die evangelischen Kirchenordnungen Diese paritätische Neutralisierung und säkulare Formalisierung des Religionsrechts im Reich stand in eigenartigem Gegensatz zur strikten Bekenntnisbindung nicht nur des katholischen, sondern auch des evangelischen Kirchenrechts in den Territorien. Das neue Verständnis der Heiligen Schrift ließ hier das bekenntniswidrige Kirchenrecht in sich zusammenfallen und dann durch die evangelische Kirchenordnungen ersetzt werden. Und auch soweit man äußerlich die Terminolo-
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gie und die Institutionen des kanonischen Rechts beibehielt, wurden nun die alten Rechtsbegriffe und Rechtsformen durchweg im Sinn der evangelischen Bekenntnisschriften verstanden und vollzogen 15 : Das betraf das ius divinum und das ius humanum, Taufe und (allgemeines?) Priestertum, Papsttum und Konzil, Bischofsamt und Hochstift, Hirten- und Weihegewalt, Häresie und Bann, Pfarramt und Pfründe, Kirchengut und Schule, Orden und Spitäler, Ehe- und Erbrecht, Freiheit und Bindung, Gehorsam und Widerstand, geistlichen Gewalt und weltlichen Obrigkeit, ihre Aufgaben und ihre Grenzen, ihre Unterscheidung und ihren gegenseitiger Dienst. Dies alles wurde nun anders interpretiert, neu definiert, teilweise eliminiert und alles in allem praktiziert nach den reformatorischen Kriterien über Schöpfung und Erlösung, Gesetz und Evangelium, Gesetzlichkeit und christliche Freiheit, Rechtfertigung und Heiligung, Buße und Gnade, Glaube und Werke, Sakrament und Heil, Verkündigung und Ordnung, Kirche und Welt, Geistliches und Weltliches, die beiden Reiche und Regimente, Amt und Gemeinde, geistlichen Stand und weltlichen Beruf und über die Schutzpflichten der weltlichen Gewalt für die wahre Kirche. Als göttliches Recht blieb danach nur das ministerium verbi publicum zur Wortverkündigung, die Schlüsselgewalt, die Taufe und das Abendmahl anerkannt – nicht jedoch der Primat Petri, die apostolische Sukzession, die päpstliche Kirchen- und Weltherrschaft, die Bischofsverfassung, die Scheidung von Klerus und Laien, die Priesterweihe als sakramentaler Grund der Hierarchie und die kanonische Ausformung der Weihe- und Hirtengewalt, auf die sich das kanonische Recht gründete. Das katholische Meßopfer wich dem evangelischen Predigt- und Abendmahlsgottesdienst, das Mönchstum dem evangelischen Berufsethos, das die Bewährung des Christen im weltlichen Beruf als Gottes- und Nächstendienst verstand. Die Meßpfründen und Klöster wurden frei zur „Reformation“ für den Gemeindegottesdienst und das kirchliche Schul-, Armen- und Krankenwesen, der Überschuß wurde durch „Säkularisation“ für Zwekke des Landesausbaus, des Festungswesens u. a. m. umgewidmet. Das veränderte Verständnis des ius divinum ließ das ius humanum einstürzen, wenn und soweit es jenem widersprach. Die Mönche verließen die Klöster, statt der Messe wurde evangelisch gepredigt und das Kirchengut dafür benützt, auch ohne einen förmlichen Rechtsakt der geistlichen oder der weltlichen Obrigkeiten abzuwarten, die dann das evangelische Kirchenwesen als „Notbischöfe“ neu organisierten, woraus sich bald in theologisch unbeabsichtigter juristischer Verselbständigung der landesherrliche Summepiskopat entwickelte. Das alles vollzog sich im Schutz der neuen säkularen Friedensordnung des Reichs. F
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Das geschah in weitem Umfang, wie etwa aus der Umdeutung der potestas ecclesiastica in Art. XXVIII der Augsburgischen Konfession und der Apologia Confessionis zu ersehen ist; erst die Aufklärung meinte dies als „papistische“ Reste auszumerzen zu sollen. Vgl. Heckel, Veränderungen des kanonischen Rechts, S. 25, 30 ff., 39 f., auch in: ders., Ges. Schr., 3. Bd., S. 336, 341 ff., 351 ff.
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IV. Die rätselhafte Vermeidung des Protestes bis 1648 Der tiefe Widerspruch dieses bikonfessionellen Reichskirchenrechts zum kanonischen Recht lag offen zutage und wurde der Kurie bereits im Herbst 1555 durch ein Gutachten Kardinal Morones dargelegt. Warum hat sie nicht schon im Jahre 1555 dagegen protestiert, ja auch in den nachfolgenden friedlichen Jahrzehnten unter günstigeren Auspizien geschwiegen, bis sich das bikonfessionelle Rechtssystem im Reich und das evangelische Kirchenwesen in den Territorien nach drei Generationen unumkehrbar verfestigt hatten? Warum hat sie 1648 nicht weiterhin auf den Protest verzichtet, da die Erschöpfung der Kriegsparteien die Restauration vorreformatorischer Zustände illusorisch machte? Wie konnte sie sich durch den Protest gegen den Frieden stemmen, der den entsetzlichen Krieg beendete? Auf diese Fragen sucht die Geschichtsschreibung seit Jahrzehnten erfolglos nach einer Antwort 16 . F
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C. Die tieferen Zusammenhänge und Probleme I. Das Schutzbedürfnis – in äußerer und innerer Not und Zerrissenheit Die Gründe für dieses rätselhafte Verhalten sind vielschichtig und verwickelt. In den Anfängen der Reformation hatte die Kurie die Tiefe und Tragweite des Umbruchs zunächst lange unterschätzt. In den folgenden Jahrzehnten wurde ihr die Unvereinbarkeit des neuen Reichskirchenrechts mit dem kanonischen Recht und mit der katholischen Sicht des ius divinum zwar immer deutlicher bewußt. Aber sie war verunsichert durch die rasante Ausbreitung der evangelischen Bewegung und gelähmt durch das Versagen des Episkopats der deutschen Reichskirche, der in dieser schwersten Krise seine geistlichen Amtspflichten und Reformaufgaben fast überall versäumte und sich stattdessen den weltlichen Regentenpflichten und Lebensfreuden des Hochadels hingab. So war die römisch-katholische Kirche noch lange nach 1555 existentiell auf den äußeren Schutz des Religionsfriedens angewiesen, um sich zur inneren Erneuerung durch die katholische Reform zu sammeln und zur offensiven geistlichen Gegenwehr durch die Gegenreformation zu rüsten. Die Art und Zeit des Protestes war jedoch auch durch gewisse „vormoderne“ Wesenszüge des bikonfessionellen Reichskirchenrechts von 1555 bedingt. Sie werden allzu leicht verdrängt oder verkürzt, weil die Geschichtsschreibung sich stärker für die Wirkungen des Religionsfriedens auf die nachfolgende Periode zu 16
Repgen, Die römische Kurie und der Westfälische Friede, S. 83 ff., 87 ff.; ders., Dreißigjähriger Krieg, S. 278 ff., 281; Heinrich Lutz, Christianitas afflicta. Europa, das Reich und die päpstliche Politik im Niedergang der Hegemonie Karls V., Göttingen 1964, S. 443, 473 ff.; Fritz Dickmann, Das Problem der Gleichberechtigung der Konfessionen im Reich im 16. und 17. Jahrhundert, in: Hist. Zeitschr. 201 (1965), S. 265, 304 f.
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interessieren pflegt. Drei Momente haben sich nachhaltig auf das System des Religionsfriedens ausgewirkt: Die Idee der Einheit der Kirche Jesu Christi und das Verlangen nach Wiedervereinigung der Konfessionen in der Wahrheit, sodann die Glaubensbestimmtheit des Rechts und drittens die Notrechtsbegründung und der suspendierende Interimscharakter der weltlichen Friedensnormen. Hierbei geht es um theologisch-juristische Argumente von eminenter historischer Auswirkung, die sich nur durch die interdisziplinäre Kooperation der Historie, Jurisprudenz und Theologie erschließen. – Sie beeinflußten – vielfach unterschwellig und schwer greifbar – die Vorgeschichte und die Voraussetzungen des Religionsfriedens, seine Zielsetzung und seinen Inhalt. Aber sie haben auch seine spätere Auslegung und Anwendung bis zum Westfälischen Frieden geprägt und noch im IPO ihre Spuren hinterlassen. – Diese Momente waren bei beiden Religionsparteien zu finden und haben ihre Auseinandersetzung mit dem Gegner dauernd und intensiv bestimmt. Sie wurden freilich von beiden Seiten unterschiedlich und unterschiedlich intensiv ausgeformt, wie es ihr ungleiches Verständnis vom Wesen der Kirche und Kirchengewalt, Welt und weltlichen Gewalt mit sich brachte. II. Das Kardinalproblem der Wahrheit und Einheit des Glaubens und der Kirche Das Ringen beider Konfessionen um die Reinheit und Einheit der Lehre und Kirche Jesu Christi hat das Reichsrecht seit den Anfängen der Glaubensspaltung bis weit über 1555 hinaus umgetrieben. Die Reformatoren wollten bekanntlich keineswegs die Abspaltung und Neugründung eines protestantischen Kirchenwesens, sondern die Erhaltung und Reformation der einen universalen apostolischen katholischen Kirche, die durch die Erneuerung ihrer Verkündigung gemäß der Heiligen Schrift ihre wahren Katholizität im Sinn des reinen Evangeliums wiedererlangen sollte 17 . Die Einheit, Universalität, Exklusivität der wahren Kirche und ihrer wahren Lehre erschien beiden Konfessionen göttlich geboten und menschlich unauflöslich: sie galt beiden als iure divino unantastbar vorgegeben und der zuwiderlaufenden Verfügung durch menschliches Recht prinzipiell entrückt. Eine Kirchenspaltung konnte von beiden Konfessionen im Grunde weder als theologisch „legitim“ akzeptiert noch als juristisch „legal“ sanktioniert werden – mit diesem tieferen Vorbehalt musste ein politischer Friedensschluß mit „Häretikern“ fertig werden; er durfte die Einheit der Kirche und die Bindung ihrer Ämter und Güter an den wahren Glauben nicht verraten. Da aber die Reformation ebenso stecken blieb wie die Gegenreformation, sonderten sich doch faktisch die beiden Konfessionen in zwei konkurrierende Konfessionskirchen voneinander ab – die jedoch beide weiterhin die unauflösbare Einheit und Reinheit der Kirche verfochten und jeweils mit dem eigenen Kirchenwesen identifizierten. Beide nahmen deshalb auch alle Kirchenämter und KirchengüF
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Heckel, Veränderung des kanonischen Rechts, S. 354, auch S. 340 ff.; ders., Das Bekenntnis – ein Vexierbild des Staatskirchenrechts? In: Joachim Bohnert u. a. (Hrsg.), Festschrift für Alexander Hollerbach, Berlin 2000, S. 209-241, 220 ff.
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ter – die ja zum Dienst der einen wahren Kirche gewidmet waren und ihr gehörten – mit selbstverständlicher Konsequenz für ihren eigenen Gottes- und Kirchendienst in Gebrauch und forderten dafür den Schutz der weltlichen Gewalt, wo immer und soweit die Verhältnisse dies möglich machten. Gerade die Einheits- und Identitätsbehauptung trieb deshalb beide Seiten umso tiefer in die Trennung und dauernde Entzweiung, die alle kirchlichen und weltlichen Beziehungen erfasste und vergiftete. Die Spaltung war für jeden Christenmenschen hüben wie drüben geistlich ein Ärgernis, rechtlich ein Unding und politisch eine Gefahr; sie musste geistlich und rechtlich überwunden werden. III. Die Wiedervereinigung der Konfessionen als Verfassungsgebot Deshalb hatte die Wiedervereinigung der Konfessionen für den Religionsfrieden rechtlich einen kardinalen Rang, der auch in seinem Text deutlich zum Ausdruck kam, mögen auch moderne Augen dies leicht überlesen 18 : Sie wurde als sein Verfassungsziel beschworen, sie war die Verfassungsvoraussetzung seines Abschlusses, ein Verfassungsauftrag seines Inhalts und zugleich der Endtermin bzw. die auflösende Bedingung seiner Geltung: Mit ihrem Zustandekommen sollte er außer Kraft treten, da er – förmlich – nur zur und nur bis zur Beilegung des Glaubensstreites geschlossen wurde, weil „ohne beständigen Frieden zu Christlicher, freundlicher und endlicher Vergleichung der religion nicht wohl zu kommen“ sei (§§ 7, 9, 25 AR). Der politische Religionsfriede enthielt eine überaus fragwürdige Verfügung der weltlichen Gewalten über die kirchlichen Ämter, Güter, Wirkungsmöglichkeiten ohne die Mitwirkung, geschweige denn Zustimmung der geistlichen Gewalt. Seine Rechtsgültigkeit schien nur damit zu begründen, daß er als das einzig geeignete und existenznotwendige Mittel zur gegenwärtigen Rettung der göttlichen Wahrheit vor den Glaubensgegnern und andererseits zur künftigen Wiedervereinigung der Konfessionen verstanden (bzw. ausgegeben) werden konnte, nachdem zuvor alle früheren friedlichen und gewaltsamen Einigungsbemühungen durch Religionsgespräche, Konzilsbemühung, Reichstagsverhandlungen, katholische Reichsexekution und evangelisches Widerstandsrecht gescheitert waren. 1555 hat sich vor allem König Ferdinand für die Wiedervereinigung eingesetzt 19 . Die Reichsstände sind ihm darin mit unterschiedlichem Elan, viele mit halbem Herzen, gefolgt, weil es ihnen um die eigene Sicherheit durch Aufrichtung des politischen Friedens als nächstes, vordringlichstes Ziel ging. In der Tat bestand um 1555 noch die Möglichkeit zum Ausgleich durch Religionsgespräche der führenden Theologen, wie sie auf Ferdinands Drängen in Worms 1557 nochmals F
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Martin Heckel, Die Wiedervereinigung der Konfessionen als Ziel und Auftrag der Reichsverfassung im Heiligen Römischen Reiche deutscher Nation, in: Hans Otte u. a. (Hrsg.), Die Reunionsgespräche im Niedersachsen des 17. Jhs.; ders., Ges. Schr., 3. Bd., S.179-203, 181 ff.; ferner (in Kurzform) in: ZRG Kan. Abt. 85 (1999), S. 387400, 399; ders., Konfessionelles Zeitalter, S. 43 f. Axel Gotthard, der Augsburger Religionsfrieden, Münster 2004, S. 34, 58, 88, 93.
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aufgenommen wurden, bald aber versandeten und nach Ende des Trienter Konzils 1563 in der verschärften konfessionellen Konfrontation unmöglich wurden. – Hätte Rom schon 1555 protestiert, so wäre dies nicht nur ein Affront gegen Ferdinand und alle friedliebenden Reichsstände gewesen, sondern hätte auch als zynische Blockade der Wiedervereinigung gewirkt, die als gemeinsames Ziel durch den Religionsfrieden als Mittel erreicht werden sollte. Dies wäre dem Heiligen Stuhl übel vergolten worden, nachdem er schon früher – traumatisiert durch den Superioritätsanspruch der Reformkonzilien über den Papst im 15. Jahrhundert – die Bemühungen Karls V. um ein Konzil zur Beilegung des Religionskonflikts durchkreuzt hatte, bis es dafür zu spät gewesen war, zumal es um die geistliche Autorität Roms vor der kirchlichen Erneuerung durch das Reformpapsttum nicht gut bestellt war. Der Religionsfriede hat dabei freilich selbst kontraproduktiv gewirkt 20 . Sein Nahziel war der politische Friede, um als Fernziel die geistliche Einigung ohne Zwang und Misstrauen zu ermöglichen; die weltliche Einheit des Reichs sollte vorläufig gesichert werden, um später seine geistliche Einheit wiederzugewinnen. Aber das Nahziel hat sich rasch verselbständigt und das Fernziel letztlich ganz verdrängt. Nachdem sie sich im Schutz des politischen Friedens gesichert wussten und verschanzen konnten, haben sich beide Seiten in verschärfter theologischer Trennung und juristischer Selbstbehauptung vom Bekenntnis des Gegners abgegrenzt und dieses mit den Kanonaden ihrer Kontroverstheologie überzogen. So hat sich die Vertagung des Wiedervereinigunggebots auf unbestimmte Zeit – in paradoxer Umkehr seines Sinnes – als Garantie der Dauertrennung ausgewirkt. Das vollzog sich so rasch und reibungslos in der zunehmenden Konfessionalisierung der nächsten Jahrzehnte, daß die Wiedervereinigungsproblematik aus der juristischen Diskussion und Literatur des Alten Reichs verschwand und bis heute fast vergessen blieb. F
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IV. Verrechtlichung und kryptotheologische Interpretation Die unaufgebbare Einheit und Reinheit der Kirche blieb jedoch auch weiterhin das Leitbild beider Konfessionen, nachdem die Hoffnung auf eine einvernehmliche Glaubensvereinigung erloschen war. Sie wirkte nun gleichsam in indirekter, juristisch verschleierter Weise: Beide setzten auf die Zukunft und suchten mit allen juristischen Mitteln ihr eigenes konfessionelles Verständnis der kirchlichen Einheit und christlichen Wahrheit auf Kosten der Gegenseite durchzusetzen. Die Friedensgarantien von 1555 dienten so bis zum Westfälischen Frieden als Ausgangspositionen für das hundertjährige juristische Ringen der beiden Religionsparteien um die Erweiterung des eigenen und die Verkürzung des gegnerischen religiösen Machtbereichs im Reich. – Das Grundprinzip von 1555 war die Verrechtlichung des Konfessionskonflikts zum Zweck seiner Neutralisierung. Das beiderseitige Festhalten an ihrem Begriff kirchlicher Einheit und Reinheit ließ jedoch eine konfessionell voreingenommene, aber säkular verdeckte (kryptotheologische) Interpretation entstehen, die den gemeinsamen Religionsfriedensartikeln die eigenen 20
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konfessionellen Prinzipien unterschob und dies zugleich scheinbar neutral und bieder leugnete und verschleierte 21 . So suchte sie die Gegenseite zu übervorteilen und möglichst weit auf den Boden des eigenen konfessionellen Rechts- und Weltverständnisses herüberzuziehen, nachdem die Hoffnung auf die Rückkehr der verlorenen Brüder versiegt und die theologischen Kommunikation zwischen beiden Konfessionen abgerissen war. Die unmittelbare, offene Berufung auf theologische Argumente (also auf die evangelische Sicht der Heilige Schrift und die Confessio Augustana von 1530 bzw. auf die katholischen Dogmen und das kanonische Recht) trat in der juristischen Auseinandersetzung nach 1555 rasch zurück, da dies den Gegner nach der Bekenntnisabgrenzung in Trient nicht mehr überzeugen, sondern nur zum Widerstand und Waffengang reizen konnte; umso stärker wirkten unterschwellig die konfessionellen Ziele und Tendenzen. – Die Struktur des Religionsfriedens gab Gelegenheit zu Streit im Überfluß. Denn seine Artikel waren nicht in der Konsequenz und systematischen Stimmigkeit aufgeklärter Kodifikationen, sondern im zähen diplomatischen Ringen ausgehandelt; sie strotzen bekanntlich von Zweideutigkeiten, von Tücken und Lücken, die von den Vertragschließenden z. T. bewusst hineingebracht und unklar gelassen worden waren, um sich für die Zeit danach günstige Ausfallspositionen für den Interpretationsstreit zu sichern. Diese Methode wurde von der protestantischen Kontroversjurisprudenz auf ihren zahlreichen kleinen Universitäten ingeniös entwickelt und in der Reichspraxis imposant praktiziert, was auch die Judikatur des Reichkammergerichts beeinflusste; der Westfälische Friede ist zum guten Teil in ihren Kategorien formuliert worden 22 . Aber sie bot auch den Katholiken Chancen für die Zukunft, zumal sie sich in ihrer Bedrängnis und Sorge vor der künftigen Entwicklung selbst dringend auf den Schutz des Friedens angewiesen fühlten. Seit den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts konnten sie den Vorsprung der Protestanten in der Disziplin des deutschen Reichskirchenrechtes allmählich aufholen und ihre juristischen Positionen in der Theorie und Reichspraxis ausbauen. Darin lag ein wesentlicher Grund dafür, daß die Kurie den Religionsfrieden ohne Widerspruch hinnahm: Ein unzeitiger Protest aus Rom hätte dies alles brüsk vereitelt. – Insgesamt kämpften die Evangelischen für die Erweiterung des ius reformandi der weltlichen Reichsstände (besonders bei der Verwendung der landsässigen Kirchenämter und Kirchengüter), der Reichsstädte und Reichsritter, aber auch der Geistlichen Reichsstände und ihrer evangelischen Landstände, und für die Religionsfreiheit („Freistellung“) aller F
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Heckel, Autonomia, S. 164 ff., 167 ff.; ders., Krise der Religionsverfassung, S. 114 ff., 118 ff.; auch in : ders., Ges. Schr., 1. Bd., S. 1, 17 ff., 20 ff.; 3. Bd., S. 978 ff., 984 ff. Martin Heckel, Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, ZRG Kan. Abt. 42 (1956), S. 117-247; Kan. Abt. 43 (1957), S. 202-308. Als Buch (mit gleichem Titel), München 1968; ders., Die Religionsprozesse des Reichskammergerichts im konfessionell gespaltenen Reichskirchenrecht, in: ZRG Kan. Abt. 77 (1991), S. 283-350, 309 ff., 328 ff.; auch in: ders., Ges. Schr., 3. Bd., S. 982-440, 404 ff., 420 ff.; Dietrich Kratsch, Justiz – Religion – Politik. Das Reichskammergericht und die Klosterprozesse im ausgehenden sechzehnten Jahrhundert, Tübingen 1990.
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Untertanen im Reich 23 . Die Katholiken strebten zunächst nach möglichst weiter Erhaltung des status quo und dann nach Machterweiterung durch das kanonische Recht und ihre Mehrheitsentscheidungen in den Reichsorganen. – So führte der Konflikt der Konfessionen nicht nur zur religiösen, sondern auch zur rechtlichen Entzweiung, die sich aus der religiösen Zweckausrichtung, Begründung und Begrenzung des Rechts durch die kryptotheologische Interpretation im konträren konfessionellen Vorverständnis der beiden Religionsparteien ergab: F
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V. Die verschleierte Spaltung der Religionsverfassung Daraus erwuchs eine innere Spaltung der Religionsverfassung des Reichs, welche den äußerlich gemeinsamen Normenbestand in ein konträres katholisches und evangelisches Verfassungsverständnis (mit gewissen Gemeinsamkeiten und Übergängen) auseinanderfallen ließ und jeweils bei den strittigen Hauptpunkten des Religionsfriedens zur unüberbrückbaren Konfrontation aufbrach. Das machte die Reichsinstitutionen vom Reichstag bis zur Gerichtsbarkeit schon vor dem Dreißigjährigen Krieg nacheinander funktionsunfähig und bot jede Menge Zündstoff für den Krieg. – Nach den Waffenerfolgen Wallensteins versuchte das Restitutionsedikt Ferdinands II. vom 6. 3. 1629 die katholische Interpretation des Religionsfriedens in einigen Zentralpunkten durchzusetzen 24 . Die Protestanten erblickten darin den Auftakt zu einer umfassenden Offensive. Der Konfessionsgegensatz wurde also nicht überbrückt, sondern verschärft, aber überdeckt und „dissimuliert“. Die rechtliche Argumentation gewann dadurch einen Zug von Unaufrichtigkeit und Ungreifbarkeit; religiös begründete Rechtlichkeit verschmolz mit politischer Durchtriebenheit und juristischer Raffinesse. Die echte Sorge um das Seelenheil der armen und bedrohten Glieder der eigenen, aber auch der fremden Konfession, die man nicht dem Irrglauben und Verlust des Heils überlassen wollte, und schwere religiöse Gewissensnöte verquickten sich mit der Herrschsucht über fremde Seelen und der Habgier auf fremdes Kirchengut. – Unterschwellige Brisanz besaß dabei die Notrechtsidee: F
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VI. Begrenzter Notrechtscharakter – interimistische Ausnahmeordnung? Nur als Notrechtsordnung konnten die Katholiken den riesigen Verzicht auf ihre Kirchenämter und Kirchengüter zugunsten der „Häretiker“ und andererseits die Evangelischen den Verzicht auf die göttlich gebotene Verkündigung des wahren 23
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Mit ausf. Lit. Heckel, Zu den Anfängen der Religionsfreiheit, S. 349, 355 ff.; ders., Ius reformandi, S. 75, 93 ff. auch in: ders., Ges. Schr., 5. Bd., Tübingen 2004, S. 81-134, 87 ff.; 135-184, 152 ff. Michael Frisch, Das Restitutionsedikt Kaiser Ferdinands II. vom 6. März 1629, Tübingen 1991; Heckel, Restitutionsedikt, FS. Kroeschell, S. 351, 359; auch in: ders., Ges. Schr., 5. Bd., S. 185,193 ff.
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Evangeliums überall und für jedermann rechtfertigen 25 . Das Fundament dafür bot der allseitig anerkannte Satz der Scholastik, daß ein geringeres Übel dann und insoweit zulässig sei, als es notwendig war, um ein größeres zu vermeiden. Auf das Not-Argument hat sich schon 1555 der Religionsfriede in seinem Wortlaut und Sinn gestützt, und noch Pius XII. hat ihn im Juli 1955 bei der Jubiläumsfeier dadurch begründet. – Die Notlage war 1555 dem König Ferdinand und den Reichsständen beider Seiten offenbar und wurde von ihnen allen übereinstimmend beklagt. Ein Protest der Kurie hätte als zynische Bestreitung der Not des Reichs gewirkt und nicht nur die Situation in Deutschland gründlich verkannt, sondern auch ihre Möglichkeiten zur künftigen Überwindung der Krise verbaut: Denn eine maßgebliche katholische Interpretation hat seit den 1580er Jahren dieses Notstandsrecht mit konsequentem Scharfsinn nur als eine Art zweiter Ausnahmeverfassung während der anhaltenden Verfassungsstörung gelten lassen wollen: Nicht die Aufhebung, sondern nur die interimistische Suspension des kanonischen Rechts und des überkommenen Reichsverfassungsrechts sei durch den Religionsfrieden beschlossen worden 26 . Die Fundamente der päpstlichen und bischöflichen Jurisdiktionsgewalt und des katholischen Sakramentsrechts waren ja nach ihrer Sicht im ius divinum gegründet. Der Friede habe sie nicht – und keinesfalls auf Dauer – aufheben, sondern nur ihren Vollzug vorläufig – und jeweils nach dem Ausmaß der konkreten Notwendigkeit – aussetzen können, zumal die weltlichen Gewalten keine Kompetenz zur Änderung und Abschaffung des kirchlichen Rechts besäßen. Die spezielle Suspension der geistlichen Bischofsjurisdiktion im Religionsfrieden verwendete in der Tat eine allgemein gebrauchte zeitgenössische Rechtsfigur, die schon vor 1555 vielfältig zur Suspension des Wormser Edikts, des katholisch bestimmten Reichsabschieds von 1530, der Kammergerichtsurteile u. a. m. geführt hatte. Auch die Protestanten haben die Notrechtsargumentation im evangelischen Territorialbereich nach den Prinzipien ihrer orthodoxen Theologie und Publizistik praktiziert und dort das katholische Religionsexerzitium nur als Ausnahme, mit eingeschränkter Toleranz ohne Parität, in deutlich abgestufter Rechtsstellung und nur dann geduldet, wenn und soweit sonst der öffentliche Rechtsfriede zerrüttet werde 27 . Im Reich hingegen war ihre Lage angesichts des katholischen Übergewichts in der Reichsorganisation anfangs prekär; so mussten sie dort nach dem Wormser Edikt von 1521 zunächst interimistisch den Aufschub der Vollstreckung des katholischen Ketzerrechts erkämpfen. Auch später schien im Reich für sie die Gleichberechtigung das Maximum des Erreichbaren, um nicht von dem katholiF
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Heckel, Autonomia, S. 141, 221 ff.; auch in: ders., Ges. Schr., 1. Bd., S. 1, 60ff.; Repgen, Dreißigjähriger Krieg, S. 542, Anm. 9. Vgl. die Nachweise in: Heckel, Katholische Konfessionalisierung, S. 184, 196-215 ff., auch in: ders., Ges. Schr., 3. Bd, S. 294, 306-323. – Die Protestanten bestritten gemäß ihrer bekenntnisbetimmten Rechtsauffassung die katholischen Thesen und setzten sich in den Westfälischen Friedensverhandlungen mit schwedischer Hilfe durch. Vgl. Johannes Gerhard, Loci Theologici, tomus 6, Berolini 1868, locus 24, De magistratu politico § 200, n. 1, 3 ss.; Heckel, Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen, S. 59 ff., 164 ff.
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schen Kaiser und der Vielzahl großen und kleinen geistlichen Reichsstände majorisiert zu werden. Deshalb suchten sie die Religionsverfassung des Reichs zielstrebig zur paritätischen Dauerordnung auszubauen und haben dies nach großen Erfolgen im Jahre 1555 in der Abwehr der erstarkenden katholischen Gegenreformation dann 1648 mit schwedischer Unterstützung in unanfechtbarer Perfektion durchgesetzt. – VII. Die Ambivalenz der notbedingten Verrechtlichung Das Notstandsrecht bot zwar augenblickliche Erleichterung in schweren Kalamitäten, weil es einen Ausweg aus sonst unlösbaren rechtlichen Aporien öffnete. Aber auf längere Sicht war es in hohem Grad gefährlich. Die Fortgeltung des Notrechts hing letztlich vom Fortbestand der Notlage ab; die Stabilität der allgemeinen Normen war auf den schwankenden Grund der konkreten Fakten gebaut. Im Notrechtsargument waren die Rechtsfragen, Machtfragen und Glaubensfragen in einem sinistren Zirkel kurzgeschlossen. Auch den immer wiederholten Eiden auf den Frieden war letztlich wenig zu trauen; schließlich konnte man Gott den Herrn nicht als Helfer dafür beschwören, das Reich des Satans zu mehren und zu sichern. Wer die Macht zurückgewann, schien mit der Überwindung der Notlage auch von den Bindungen des Notrechts befreit; so konnte er sich auf das eigentliche, das wahre und höhere, letztlich unverletzbare Recht berufen, wie es gegolten hatte, bevor die Not darüber gekommen war. Das hat bis weit über 1648 hinaus die katholische Jurisprudenz und Moraltheologie in heftige interne Auseinandersetzungen um die Berechtigung und Reichweite religionsrechtlicher Konzessionen getrieben und erbitterte Entgegnungen der Protestanten provoziert. – Insgesamt bot die Verrechtlichung der Religionsfragen beiden Religionsparteien lange Zeit Frieden und Schutz, hatte aber auch doppelte negative Folgen: Sie führte zur juristischen Veräußerlichung und Verfremdung der zugrunde liegenden theologischen Anliegen, also zur „Gesetzlichkeit“ (im theologischen und juristischen Sinn) und zur Säkularisierung und Politisierung der Glaubenfragen. Und die Verrechtlichung hinderte auch den politischen Kompromiß durch juristische Starrheit und Rabulistik; sie schwächte die Integration in den Reichsorganen und erschwerte den Ausgleich in den offenen und in den reformbedürftigen Fragen der Religionsverfassung, der erst nach der allseitigen Erschöpfung durch den Krieg zustande kommen konnte.
D. Die neuen Herausforderungen 1648 I. Die Sicht der Zeitgenossen und die Bedrängnis der Stunde War nun der Protest im Jahre 1648 eine anachronistische Verstiegenheit? Inwiefern hatte sich die Lage seit 1555 geändert? Enthielt der Friede von 1648 überhaupt essentielle Neuerungen, da er doch – nach seiner offiziellen Definition in
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Art. V § 1 IPO – nur als authentische Bestätigung des Friedens von 1555 und als überfällige Lösung seiner alten Probleme gelten wollte? – Eine abgewogene Bewertung muß in der Rückschau die Sicht der Menschen damals über ihre Möglichkeiten, die Forderung des Tages seinerzeit, den Kreis der Adressaten, den Wandel der Situation in den letzten hundert Jahren und die Veränderung des Reichskirchenrechts im Jahre 1648, gegen die sich der Protest richtete, zu verstehen suchen: Die Perspektiven der Zeitgenossen ex ante und der Nachwelt heute ex post sind zu unterscheiden: Die spätere Wirkungslosigkeit des Protestes war damals noch nicht absehbar, auch wenn man sich an der Kurie kaum Illusionen über die Zukunftsaussichten seiner Realisierung hingeben konnte, da ihr die Front der Paziszenten beider Konfessionen für den Frieden derzeit geschlossen gegenüberstand. Aber niemand wußte, daß die Aufklärung vor der Tür stand und bald einen tiefen Umbruch im Verständnis des Rechts und des Staates, der Kirche und ihrer Beziehungen zur modernen Staatsgewalt mit sich brachte, der die päpstliche potestas iurisdictionis selbst in der katholisch verbliebenen Christenheit und sogar in kirchenrechtlichen Fundamentalfragen entkräftete. Die Kurie hoffte darauf, daß in der Zukunft die katholischen Prinzipien im allgemeinen Bewußtsein wie im politischen und militärischen Feld wieder die Oberhand gewinnen könnten, – daß dann mit der Notlage auch das darauf gegründete Notrecht der Zugeständnisse an die „Häresie“ entfiele und folglich das kanonische Recht (aufgrund des ius divinum in seiner katholischen Interpretation) in Kirche und Reich als die zwar derzeit suspendierte, auf Dauer aber unantastbare Kirchenrechts-Verfassung wieder ungehindert gälte. Der Zeitpunkt drängte: Jetzt mußte der Heilige Stuhl – wenn überhaupt – öffentlich Klarheit schaffen, da die großen Mächte soeben für alle Zukunft feierlich die katholischen Rechtseinbußen bestätigten und beschworen, die sie vor kurzem unter Mitwissen und diskreter Mitwirkung des Nuntius als (jetzt noch) unvermeidliche Opfer der Neuordnung Europas ausgehandelt hatten. Die Zeit drängte jetzt umso mehr, als er diese Rechtseinbußen seit Jahrzehnten ohne öffentlich zu protestieren hingenommen hatte. Und die Verwahrung dagegen war durch einen unüberhörbaren Protestakt von unmißverständlicher normativer Härte fällig, da die Antiprotestklausel des IPO alle künftigen Protestationen durch deren antezipierte Nichtigkeitserklärung bekämpfte. Weil dies auf den Papst gemünzt war, musste der Protest jeden Anschein eines konkludenten Verzichts seiner Kirche entschieden aus der Welt schaffen. II. Vordergründige Konflikte aufgrund gemeinsamer Positionen Adressaten des Protests waren eigentlich nur die katholischen Vertragsschließenden, deren Rechtsakte der Papst souverän kassierte – die Protestanten konnte der Heilige Stuhl damit ja ohnehin nicht treffen, weil sie sich seiner Herrschaft schon vor drei Generationen unter reichsrechtlichem Schutz faktisch entzogen hatten. Aber die katholischen Potentaten hatten längst mit dem Protest gerechnet und ihm durch die Antiprotestklausel ungerührt vorgebeugt. So ließ der Kaiser sich das
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Breve vom Nuntius offenbar gelassen überreichen und erläutern und dessen allgemeine Verbreitung im Druck geschehen. Beide Seiten stimmten ja in ihren tieferen Positionen durchaus überein: Beide gingen von der Notrechtsargumentation als maßgeblicher Rechtsgrundlage aus. Nur schätzten sie ihre faktischen Voraussetzungen und ihre rechtlichen Konsequenzen unterschiedlich ein, weil sie sich über das Ausmaß der eingetretenen Not und drohenden Gefahr, über die Schwere der abzuwägenden Übel, über die Eignung und den Grad von Zugeständnissen und die Erforderlichkeit der infrage kommenden Abhilfen nicht einig werden konnte. Von Rom und vom Reich aus gesehen besaßen die Dinge jeweils ein anderes Gesicht und Gewicht. Spannungen zwischen Kurie und Kaiser, Kirche und Reich waren auch in den rechtlichen Konsequenzen nicht zu vermeiden. So kam es zu heftigem Streit um den Protest zwischen den intransigenten „Maximalisten“ und den konzessionsbereiten „Prinzipalisten“ unter den katholischen Politikern und Theologen. Aber dieser hatte nicht entfernt die Schärfe und Tiefe wie in den Kämpfen zwischen der kaiserlichen und päpstlichen Partei im Investiturstreit oder wie in den Konflikten der modernen Ideologien seit der Französischen Revolution. Der päpstliche Protest mußte darum vom Kaiser und von den katholischen Reichsständen im Grunde nicht als prinzipieller Affront angesehen werden, sondern konnte ihnen auch als eine verschleierte, dissimulierte Hilfe für bessere Zeiten in der Zukunft nützlich werden, da sie sich in ihrer Notsituation jetzt nicht selbst rechtlich gegen die aufgenötigten Anmaßungen der „Häretiker“ verwahren, geschweige denn wehren konnten, nachdem sie das Waffenglück verlassen hatte und sie in der Zeit des Bewegungskrieges nach der verlorenen Schlacht von Jankau 1645 keine mobile Feldarmee mehr besaßen. Die tiefere Gemeinschaft der Ziele und Interessen zwischen ihnen wurde durch die Turbulenzen des Tages nicht zerstört. Der Protest ließ nicht den mittelalterlichen Kaiser-Papst-Konflikt wiederaufleben; weder der Papst noch der Kaiser hatten eine Szene wie damals in Canossa im Sinn. III. Die kuriale Strategie von 1555 bis 1648 im Wandel der Lage Der Umschwung der Situation im vergangenen Jahrhundert bildete den Hauptgrund, warum die Kurie erst 1648 und nicht schon 1555 protestierte. Die politische Lage und auch das Reichskirchenrecht hatten sich in der Zwischenzeit gewandelt. Das hatte die Opportunität und den Gegenstand eines Protestes nach Jahrzehnten des Schweigens verändert. Wie schon bei Abschluß des Religionsfriedens 1555 verzichtete die Kurie auch im Krisenjahr 1566 wiederum auf den Protest, als der erste Reichstag nach Abschluß des Trienter Konzils i. J. 1563 die Fortgeltung des Religionsfriedens förmlich bestätigte, ohne sich um die Glaubens- und Reformdekrete des Konzils und um die dubiose Einführung des Calvinismus in der Pfalz zu scheren – womit das Reich faktisch und rechtlich das Konzil beiseite schob, den Vorrang des Reichsrechts vor dem katholischen Kirchenrecht auf Dauer proklamierte und den
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Frieden selbst mit einem neuen Dissensproblem strapazierte 28 . – Die Kurie folgte damals und später der klugen, richtungweisenden Strategie des Kardinallegaten Commendone, vorrangig die katholische Sammlung und kirchliche Reform im Schutz des Religionsfriedens voranzubringen. Diese Rechnung ging erstaunlich erfolgreich auf. Und so konnte sich in aller Ruhe auch jene schlüssige katholische Auslegung entfalten, die in brillanter Zweckdienlichkeit den Religionsfrieden nur als Ausnahmeordnung definierte, das Wiedervereinigungsgebot allein im Sinn der Rückkehr in den Schoß der römisch-katholischen Kirche gelten ließ, die Notrechtsargumentation zur bloßer Interimsgeltung verwendete und sie auf eine restriktiv interpretierte Suspensionswirkung reduzierte. Diese ganze Konzeption hing freilich davon ab, daß ihr nicht durch die kuriale Kassation des Religionsfriedens der Boden entzogen wurde. Ihre Durchsetzung in der Reichspraxis wurde durch das Restitutionsedikt Ferdinands II. vom 6. 3. 1629 energisch in Angriff genommen. – Aber dies wurde alsbald durch die Intervention Gustav Adolfs und durch den Kriegsverlauf seither vereitelt. Und ihre juristischen Prinzipien und Argumentationslinien wurden nun eindeutig widerlegt durch die präzisierten Formulierungen des Instrumentum Pacis: F
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IV. Die normativen Neuerungen des Instrumentum Pacis Osnabrugense Das Reichskirchenrecht erfuhr 1648 wesentliche, minutiös ausgeklügelte Klarstellungen, Konkretisierungen, Verfeinerungen, Veränderungen des materiellen und insbesondere auch des Verfahrensrechts 29 . Dadurch ist es schon in seinem Wortlaut und Umfang, vor allem aber in der Sache und im Sinn zu etwas anderem geF
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Repgen, Römische Kurie und Westfälischer Friede, 1. Bd.,1, S. 68 ff., 83 ff., 87 ff., 116 ff., 122, 125, 136 ff., 142; ders., Dreißigjähriger Krieg, S. 260 ff., 278 ff. 282, 287; Heckel, Konfessionelles Zeitalter, S. 74 ff. Das war auch die Folge der kaiserlichen Verhandlungsführung bei den Westfälischen Friedenstraktaten: Zunächst suchte der Kaiser den Ausgleich mit den deutschen Reichsständen, um mit ihnen vereint gegen die beiden fremden Kronen aufzutreten; deshalb kam er den Protestanten mit erheblichen religionsrechtlichen Zugeständnissen entgegen, die sich jedoch eng an die Schweden hingen, worauf der Kaiser seine Strategie wechselte und nun die Franzosen durch dubiose Konzessionen im Elsaß zufrieden stellte. – Vgl. knapp Heckel, Konfessionelles Zeitalter, S. 198 ff.; Volker Press, Kriege und Krisen. Deutschland 1600-1715, München 1991, S. 262 ff.; im einzelnen vgl. Heckel, Parität, in: ZRG Kan. Abt. 49 (1963), S. 261, 330 ff., 336 ff., bes. S. 384 ff., 395 ff., 408 ff.; ders. „Itio in partes“, in: ZRG Kan. Abt. 74 (1978), S. 180, 186 ff., 232 ff., 291 ff.; ders., Anfänge der Religionsfreiheit, in: FS Nörr, S. 349, 354 ff., 357 ff., 366 ff., 381 ff.; ders., Ius reformandi, in: FS Seebaß, S. 75, 93 ff., 96 ff., bes. S. 110 ff., 115 ff. – Auch in: ders., Ges. Schr., 1. Bd., S. 106, 158 ff., 162 ff., bes. S. 199 ff., 207 ff., 217 ff.; 3. Bd., S. 636, 639 ff., 676 ff., 722 ff.; 5. Bd., S. 81, 86 ff., 90 ff., 99 ff., 113 ff.; 5. Bd., S. 135, 152 ff., 155 f., bes. S. 169 ff., 173 ff. – Zur späteren Interpretation des IPO aufschlußreich Bernd Mathias Kremer, Der Westfälische Friede in der Deutung der Aufklärung, Tübingen, S. 16 ff.
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worden: Die tiefe Spaltung des Verfassungsverständnisses der Religionsfriedensnormen wurde nun durch eine gemeinsam geschaffene Grundlage überwunden: Der Gegensatz zwischen der evangelischen und der katholischen Theorie und Praxis wurde durch mühevoller Klärung und Fortbildung der Spezialprobleme und ihre Generalkompensation im do ut des nach Kräften ausgeräumt. In detaillierten Bestimmungen verfügte das IPO neu über die einzelnen Reichsbistümer und Reichsabteien, die Kirchenämter, Kirchengüter, kirchlichen Gefälle, über die Kompetenzen der Reichsstände und Reichsgerichte in Religionssachen, das Reformations- und Schutzrecht der Territorialobrigkeiten, die religiöse Freiheitsrechte der Untertanen im abgestuften exercitium religionis nach dem Stand des Normaljahrs 1624. Unbestreitbar für alle Seiten galt es fortan im Sinn der exacta mutuaque aequalitas seiner Normen. Überragende Bedeutung erlangte ferner die klärende Festlegung und nähere Ausgestaltung der Organisation und des Verfahrens der Reichsinstitutionen einschließlich der Gerichtsbarkeit. Mit der Aufhebung des (bisher umstrittenen) Mehrheitsprinzips in allen Religionssachen (einschließlich der daran hängenden Profansachen) durch die Regelung der itio in partes und amicabilis compositio wurde auch die Anwendung und Fortbildung des materiellen Reichskirchenrechts entscheidend verändert. Das wurde ergänzt durch Paritätsgarantien über das künftige Verfahren bei der Wiedervereinigung der Konfessionen, das dafür nur ein beiderseitig theologisch akzeptiertes Unionskonzil, nicht ein katholisches Reform- und Kampfkonzil, zuließ. Entscheidend war der veränderte Sinn und Systemzusammenhang des Gesamtwerkes, nicht seine Einzelheiten. So wurde auch für die künftige Interpretation der Artikel, für die authentische Deklaration der „dubia“ und für die Schließung seiner „Lücken“ ein strikt einvernehmliches Verfahren vorgeschrieben. Expressis verbis ausgeschlossen war damit künftig die einseitige Entscheidung nach dem „gemeinen“ kanonischen Recht durch den Kaiser, durch seinen Hofrat und durch Majoritätsbeschlüsse in den Reichsgremien, die katholischerseits bisher beansprucht und evangelischerseits zurückgewiesen worden war. – Diese paritätische Interpretationsregel und die unverbrüchliche Dauergeltung des IPO wurden nun gemeinsam ausgehandelt und beschworen und der Friede anschließend zum Reichsfundamentalgesetz erhoben. Das bedeutete unbezweifelbar das Ende der maßgeblichen katholischen Theorie, die den Religionsfrieden zur interimistischen Notstandsordnung von minderer Rechtsqualität abstufte, welche nur den katholischen Vollzug des alten kanonischen Rechts und Reichsstaatsrechts suspendiert, nicht deren Rechtsgeltung aufgehoben habe, weshalb die Verfassung des Reichs insgesamt römisch-katholisch geblieben sei. V. Verschleierung des fundamentalen Umbruchs Auch die gelegentliche Verwendung dissimulierender Begriffe konnte den Umbruch nicht eskamotieren. Zwar wurde im Text des IPO die einvernehmliche endgültige Beseitigung der katholische Bischofsjurisdiktion über die Protestanten („penitus ablata esto“) bei der Schlußredaktion wieder als bloße Vollzugsaussetzung („penitus suspensa esto“) umbenannt, zwar sprach die Kirchengutsregelung
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nur von der Aufteilung des „Besitzes“ („possessio“), nicht des „Rechts“ am Kirchengut, zwar wurde auf das ius reformandi nur als faktische Übung, nicht als Rechtstitel Bezug genommen und auch die Wiedervereinigung wurde zwar nochmals als Endtermin des Friedens aufgeführt 30 . Aber das waren formale Formeln ohne Sachgehalt, denn die einschlägigen Reglungen wurden in voller sachlicher Übereinstimmung auf immerwährende Dauer abgeschlossen und mit der Glaubenseinigung rechnete 1648 keine Seite mehr. Diese Formulierungen sollten die Zustimmung der Katholiken zum Friedensschluß erleichtern und katholische Notrechtsargumente entkräften, die einen ausdrücklichen, „ewigen“ Verzicht auf kirchliche Rechte zugunsten der „Häretiker“ als Verstoß gegen das ius divinum für nichtig hielten. Vor allem das Erlöschen der Wiedervereinigungsidee hat den Religionsfrieden verändert, ja umgekehrt. Die Friedens- und Freiheitsgarantien waren 1555 auch als essentielles Mittel zur baldigen Vereinigung konzipiert – 1648 aber wurde sie als Instrument zur dauernden Abgrenzung und Selbstbehauptung beider Konfessionen und Religionsparteien verstanden und vollzogen. – Die Mithilfe der Obrigkeit an der Reform(ation) der universalen Kirche (sei es als notbischöflicher Dienst in evangelischer, als bracchium saeculare ecclesiae in katholischer Sicht) wandelte sich nach 1555 zum hoheitlichen ius reformandi der staatlichen Religionsherrschaft über die territoriale Partikularkirche; als solchermaßen veräußerlichte und säkularisierte Rechtsfigur wurde sie im IPO für beide Religionsparteien bestätigt und näher abgegrenzt. Auch ihre Bekenntnisse waren ursprünglich von beiden Konfessionen als allgemeingültiges Glaubenszeugnis für die eine unteilbare universale Kirche verstanden und definiert worden. Aber die allgemeine Festlegung der Konfessionsverhältnisse auf den Normaljahrs-Status von 1624 durch das IPO ließ das Bekenntnis nun seit 1648 hüben wie drüben als partikulare Staatsdoktrin und als Abgrenzungsmittel der Territorialkirchen durch den Landesherrn erscheinen und wirken. Die Abkehr vom Wiedervereinigungsziel löste die Universalität der christlichen Verkündigung und Kirche in religiöse Partikularität und Dominanz der weltlichen Gewalten auf. Der Protest der katholischen Kirche richtete sich also keineswegs mit unbegreiflicher neunzigjähriger Verspätung gegen den Religionsfrieden von 1555, sondern gegen die gravierende Entwicklung, die das Reichskirchenrecht seither durchschritten hatte und die in den Religionsartikeln des IPO unwiderruflich in „ewige“ Formen gegossen wurde. – Und überdies: F
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VI. Norm und Lage im Zusammenspiel Normen sind auf Fakten geeicht, wenn sie nicht ins Leere greifen sollen; darum ist ihre Effizienz nur im Blick auf die Fakten zu ermessen. Rechtliche Rückwirkun30
Dazu Heckel, Parität, in: ZRG Kan. Abt. 49 (1963), S. 261, 339; ders., Ius reformandi, FS Seebaß, S. 109 ff., 115 ff.; auch in: ders., Ges. Schr., 1. Bd., 165; 5. Bd., S. 135, 167 ff., 173.
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gen hatte deshalb auch die tiefgreifende Veränderung der „faktischen“ Gesamtsituation seit 1555, die im theologischen und juristischen, politischen und kirchlichen Bereich unübersehbar eingetreten war. Weil das 1555 geschaffene Reichskirchenrecht 1648 auf gewandelte Voraussetzungen traf, verschob sich auch sein Sinn und hatte andere Wirkungen zur Folge. Das gilt zumal für den Wiedervereinigungsauftrag und für die Rolle, die dem Konzil als Einigungsinstrument im Religionsfrieden zugedacht war. Um 1555 war das Trienter Konzil nur unterbrochen gewesen. Inzwischen war es zum Abschluß gekommen, aber als reichsrechtlicher Faktor ausgeschaltet worden; seit 1566 war ja der Vorrang des Reichsreligionsrechts und die reichsrechtliche Unbeachtlichkeit der Trienter Konzilsdekrete für die Protestanten besiegelt. Die Tragweite des Ereignisses wird bis heute unterschätzt. – Das bikonfessionelle Rechtssystem – das einst nicht als politischer Selbstzweck, sondern als sichere Basis zur religiösen Einigung geschaffen worden war – veränderte sich durch die theologische Vertiefung der Trennung, durch das Ende interkonfessioneller Religionsgespräche, durch die Reorganisation und Festigung der katholischen Kirche nach Trient, durch die Einführung des Calvinismus, durch den Fortgang und Abschluß der divergenten evangelischen Bekenntnisbildung bei Lutheranern und Reformierten, durch das Abreißen vieler kultureller und sozialer Verbindungen zwischen den Konfessionen, durch die fundamentale Änderung der Einheits- Freiheits- und Gleichheitsvorstellung bei den Politikern und den Juristen beider Konfessionen. Sodann: Anders als im Schicksalsjahr 1566 war die katholische Kirche 1648 nicht mehr existentiell auf den Schutz durch den Religionsfrieden angewiesen. Die protestantische Bewegung war seit langem abgeebbt und hatte ihre Faszination für Adel und Volk verloren. Die Glaubensfestigkeit des Kaisers und der katholischen Reichsstände, vor allem auch des Episkopats nach der katholischen Reform gab keinen Anlaß mehr zu Zweifeln; die Zeiten Kaiser Maximilians II. (1564-76), der sich noch einen lutherischen Hofprediger gehalten hatte, waren vorbei. – Und die Kurie wußte angesichts der allgemeinen Friedenssehnsucht und der militärischwirtschaftlichen Erschöpfung aller Seiten, daß ihr kirchlicher Protest weder den Friedensschluß der großen Mächte verhindern noch auch die Friedens- und Freiheitsgarantien der katholischen Religionspartei im Reich zum Einsturz bringen werde – die Antiprotestklausel des IPO schloß das aus, das war für sie die günstige Kehrseite der Medaille. Deshalb konnte sie sicher sein, durch ihren kirchlichen Protest keine Schuld an einer Kriegsfortsetzung auf sich zu laden. Im Fazit: Commendones Strategie für den Protestverzicht von 1566 war vom Wandel des Reichskirchenrechts und der Verhältnisse überholt. Sie drohte in konträre Folgen umzuschlagen. Die Zeit des Ausweichens und Abwartens war vorbei. Für die Kurie schlug jetzt die Stunde der unaufschiebbaren juristischen Entscheidung.
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E. Wertungsfragen I. Sinnvolle Abwägung und Entscheidung in katholischer Sicht War also der Protest des Breve „unvermeidlich“? Darüber streiten sich die Historiker bis heute mit divergenten Gründen und Hintergründen 31 . – Wir dürfen die Antwort lege artis offenlassen, hängt sie doch von der Wahl des Standpunkts und ihrer geschichtstheologischen bzw. -philosophischen Kriterien ab, die den Horizont des Historikers transzendieren. Indessen: Vom katholischen Blickwinkel 32 aus – das muß der Ansatz sein, um die Gründe der Kurie sachgerecht zu verstehen und zu werten, falls die political correctness unserer Tage das erlaubt – dürfte diese Entscheidung der Kurie 1648 freilich damals als durchaus angemessen, ja als vernünftig gelten. Wie groß war denn der Schaden, der für die Kirche und für die Welt aus dem Protest zu erwarten war? Wog er schwerer als der Verzicht darauf, in der Zukunft soviel zu retten, wie es dann möglicherweise noch zu retten gab? Wenn es nun, wie in jeder Krise, Schlimmeres zu verhüten galt: Schlimm war gewiß für Rom der Rechtsverlust an die „Häresie“; doch das war längst passiert und derzeit nicht zu ändern – daß der Protest in der Gegenwart keine Wunder wirken würde, war allseits augenfällig; das Verschweigen aber hätte auch die letzten Zukunftschancen der Kirche verspielt. – Schlimm war zwar die verstärkte Isolierung des Heiligen Stuhls in der nun neu erwachsenden Völkerrechtsgemeinschaft Europas; doch diese Völkerrechtsgemeinschaft ist nicht zu der 1648 proklamierten Solidargemeinschaft eines immerwährenden Friedens aufgeblüht, sondern blieb gerade in vielen ihrer tonangebenden Gestalten eine Ansammlung machthungriger Souveräne und „bellizistischer“ Räuber: In ihrer Gier nach fremdem Gut und fremden Untertanen hätten sie sich ohne den päpstlichen Protest kaum intensiver um die völkerrechtliche Stellung und Wirkung des Heiligen Vaters gekümmert und seine Mahnung zum Frieden als Christenpflicht der zehn Gebote kaum bußfertiger befolgt – die allgemeine Minderung des Gewichts der Kirche in der Aufklärung war auf den Umschwung des Zeitgeistes und nicht auf die normative Zuspitzung des bald verklungenen Protestes von 1648 zurückzuführen. – Viel schlimmer freilich F
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Statt anderer vgl. Repgen, Dreißigjähriger Krieg, S. 472, 490, 517, 552, 597 ff.; Fritz Dickmann, Das Problem der Gleichberechtigung der Konfessionen im Reich im 16. und 17. Jahrhundert, in: Hist. Zeitschr. 201 (1965), S. 265, 304 f.; ders., Der Westfälische Frieden, Münster 1959, S. 457 f. Eine rechtshistorische Untersuchung über den Protest von 1648 muß m. E. vorurteilslos und abgewogen die Ursachen und Wirkungen dieses Ereignisses im Verstehenshorizont der Zeitgenossen zu erforschen suchen; sie hat nicht zu befinden über Sein und Sinn, Recht und Macht des Heiligen Stuhls in der Kirche und der Welt überhaupt, wie auch immer der Autor nach den Maßstäben seiner Theologie oder Welt- und Staatsanschauung darüber persönlich denkt. – Da unsere Studie nur den Gründen der Kurie für ihren späten Protest im Breve Zelo domus Dei gilt, befasst sie sich nicht mit der Stellungnahme der Protestanten hierzu. Die Haltung ihrer Religionspartei und ihrer zeitgenössischen Theologen und Juristen zum päpstlichen Protest gegen den Westfälischen Frieden seit Hermann Conrings großen Werken wäre einer eigenen Untersuchung wert.
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wäre der Fortfall der religionsrechtlichen Freiheits- und Schutzgarantien des Reichs zugunsten der Katholiken gewesen – am schlimmsten aber die Fortführung des kriegerischen Mordens, die kein Christ, auch kein Papst, vor Gott verantworten konnte. In diesem Sinn hatten sich Kaiser Ferdinand und Kurfürst Maximilian I. von Bayern von ihren Beichtvätern und Hoftheologen mit sehr vernünftigen Notrechtsargumenten gewissenhaft überzeugen lassen; folglich wurde dieses Schlimmere schon durch die weltlichen Mächte und ihre Anti-Protest-Klausel im IPO verhütet. Weil also die Kurie dieses schlimmere Übel weder anrichten noch verhüten konnte, konnte sie ihren Protest gegen den Friedensschluß unbedenklich verantworten. So stimmte doch letztlich in der Ironie der Weltgeschichte alles in allem einigermaßen überein. – Andererseits: II. Fragwürdige Zumutbarkeit des Protest-Verzichts War ein solcher Verzicht eigentlich zumutbar? Hätte es der Heilige Stuhl widerspruchslos hinnehmen sollen, daß sich die politischen Machthaber der christlichen Welt in selbstherrlicher Komplizenschaft die (in seiner Sicht frevelhafte) Verfügung über die Kirchenämter und Kirchengüter anmaßten und sie als Schacherposten zum Aushandeln ihre politischen Machtpositionen quer durch Europa gebrauchten? Daß sie dies unter Bruch des althergebrachten kirchlichen Rechts mit schwerer Brüskierung des Hauptes der römisch-katholischen Christenheit auf ewige Zukunft als das neue Fundament des Abendlandes beschworen? Daß der Heilige Stuhl dafür die alte, seit der Christianisierung trotz aller Krisen nie prinzipiell infrage gestellte Überlieferung und Lehre von der göttlich gebotenen Verbindung der kirchlichen und weltlichen Gewalt und Schutzpflicht der Obrigkeit für die wahre Kirche und Lehre nun im Heiligen Römischen Reiche Deutscher Nation ohne Widerrede aufgeben sollte? Daß er durch sein „Schweigen angesichts des Unrechts“ – gleichsam auch selbst als Komplize – die religiösen und die rechtlichen Bedenken gegen diesen langwierigen und komplizierten Vertrag zerstreuen sollte, der bis zuletzt im Wechsel des Schlachtenglücks diktiert war von der Kriegskunst der schwedischen Generäle, der Erfahrung und Geschicklichkeit der protestantischen Juristen, der gewitzten Zähigkeit der Diplomaten, dem mißlichen Zwiespalt unter den katholischen Theologen, der Zerstrittenheit der Gegner des Kaisers, dem spanischen Staatsbankrott, den Epidemien und Mißernten in den eigenen oder in den feindlichen Landen, dem Ausmaß der Bestechung („Realdankbarkeit“) der maßgeblichen Potentaten, nachdem in Westfalen jahrelang nur im Winter „traktiert“, im Sommer aber „taktiert“ und „temporisiert“ worden war, weil die jüngsten Meldungen aus dem Kriegstheater abgewartet wurden? Eine tausendjährige Idee fällt nicht so schnell in sich zusammen wie moderne Ideologien. III. Weltherrschaftsanspruch des Papstes? Wie aber steht es mit dem Griff nach der Weltherrschaft? Geht ein „untauglicher Versuch“ dieser Art aus der Nichtigkeitserklärung des Westfälischen Friedens
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durch das Breve Zelo domus Dei hervor? – Das Gegenteil lehrt der Blick auf die Tätigkeit des Nuntius während der Friedenstraktate in Münster mit den katholischen Mächten. Es läßt klar erkennen, daß der Heiligen Stuhl damals nicht entfernt daran dachte, ihre weltlichen Streitigkeiten seiner päpstlichen Entscheidung über Krieg und Frieden zu unterwerfen, sondern sich – juristisch und diplomatisch – beschränkte auf die bescheidene Rolle der „Mediation“, d. h. auf die unparteilichen Friedensvermittlung durch einen außenstehenden Schlichter 33 . Der Protest und diese Mediation gehören zusammen und sind in ihrer gegenseitigen Beschränkung zu sehen und zu werten: Der Nuntius Fabio Chigi und der Gesandte Venedigs Alvise Contarini sollten sich als Friedensvermittler des Kongresses jeder eigenen Stellungnahme peinlich enthalten und eine streng unparteiliche Vermittlungsfunktion ausüben. In seiner Instruktion erklärte der Papst, durch den Nuntius allen katholischen Streitparteien „als Vater aller“ (padre commune) endlich zum wirklichen Frieden verhelfen zu wollen. Die Mediatoren hatten nicht einmal die Stellung eines von den Parteien zur Streitentscheidung bestellten Schiedsrichters (arbiter), wie sie sich im frühen Völkerrecht des Alberico Gentili und Hugo Grotius herausgebildet hatte. Freilich hat sich der Heilige Stuhl damals nicht beteiligt an den Vertragsverhandlungen mit den Protestanten in den kaiserlichschwedischen und den spanisch-niederländischen Traktaten zu Osnabrück, um nicht durch sein Paktieren mit der „Häresie“ über katholische Kirchenrechtsverhältnisse theologisch und juristisch dubiose Anscheinstatbestände zu schaffen. – Die päpstliche Friedensvermittlung hatte in dem europäischen Staatensystem, das sich seit dem Spätmittelalter herausbildete, bis zum Spanischen Erbfolgekrieg eine bedeutsame Funktion, von der auch die Protestanten gelegentlich Gebrauch machten. F
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F. Ausblick I. Konfessionalisierung und Säkularisierung im dialektischen Zusammenspiel Der Weg in die Moderne war noch lang und mühevoll für beide Konfessionen. Konfessionalisierung in Koexistenz mußte erst gelernt werden. Ein Kernproblem trat seit 1555 verstärkt auf: Der Westfälische Friede hatte sich allgemeiner und offener, d. h. säkularer Rechtsformen bedient, die beide Religionsparteien für ihre so unterschiedlichen religiösen Bedürfnisse benützen konnten. Konfessionalisierung und Säkularisierung standen dabei einerseits im Gegensatz, andererseits haben sie sie einander dialektisch ergänzt, ja bedingt. Die Historiographie wie die Dogmatik des Staatskirchenrechts irrt, wenn sie Säkularisierung und Konfessionalisierung als exklusive Alternative versteht. Schon seit 1555 verlor zwar das Religionsrecht des Reichs seine einseitige konfessionelle Bestimmtheit und wandelte sich zum konfessionell neutralen weltlichen Rahmen – aber es wurde nicht zur Neutralisie33
Repgen, Dreißigjähriger Krieg, S. 695 ff., 704 ff., 714.
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rung und Verweltlichung des Religiösen selbst geschaffen, sondern zum Schutz der ungestörten und unverfälschten Religionsausübung beider Konfessionen: Das offene weltliche Gefäß umschloß und schützte den geistlichen Gehalt. Das System benützte den Föderalismus zum Ausgleich im Staatskirchenrecht. Die (partiell) verweltlichte Struktur auf der Ebene des Reichs diente zur unverfremdeten Erhaltung und Entfaltung des Bekenntnisses auf der Ebene ihrer konfessionell geschlossenen Territorialstaaten. Die Säkularisierung der Rechtsformen ist eben scharf von der Säkularisierung des Religiösen selbst zu unterscheiden; letztere wurde erst nach der Aufklärung von diversen sinistren Ideologien zum Programm erhoben, welche die „konstantinische“ Einheit von Staat und Religion einerseits durch ihre scharfen Trennungsparolen bekämpften, andererseits jedoch mit ihren eingewechselten immanenten Erlösungslehren fortsetzten. Hingegen standen die säkular relativierten Rechtsformen 1555 und 1648 als Instrument im Dienst des Absoluten: Ihre Relativierung machte es möglich, daß beide Religionsparteien gleichzeitig den Absolutheitsanspruch ihres Bekenntnisses zur Geltung bringen konnten, freilich nur jeweils in ihrem eigenen territorialen Schutzbereich, der durch den Religionsfrieden abgegrenzt und zugemessen wurde. II. Die Freiheitsgarantie des religiösen Selbstverständnisses in säkularen Rahmenformen Der Schutz des religiösen Selbstverständnisses 34 vor Ein- und Übergriffen durch die fremde Konfession war seit 1555 das Kardinalproblem – und ist es bis heute geblieben, wie die Auseinandersetzung um den staatlichen Unterricht in säkularisierender Religionskunde (LER) in Brandenburg und jüngst in Berlin zeigt, wo christliche Kinder durch atheistische Lehrer über ihre Religion aufgeklärt werden sollen. Bis 1648 wurde erbittert um die Unantastbarkeit des religiösen Selbstverständnisses gekämpft, wie die genannten Auseinandersetzungen um Reformationsrecht und Religionsfreiheit, Hochstifte und Kirchengut, Konzil, Calvinismus und katholische Majorisierung eindringlich zeigen. – So erlebte das Reichs-Religionsrecht zwar schon auf der Höhe des Konfessionellen Zeitalters einen enormen theologischen Substanzverlust durch seinen Rückzug auf paritätische weltliche Rahmenformen. Aber dieser wurde wettgemacht durch die Freiheit zur exklusiven F
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Seit BVerfGE 24, 236, 247 ff. ist die zentrale Bedeutung des „religiösen Selbstverständnisses“ im „Lumpensammler-Urteil“ für das moderne Staatskirchenrecht in ständiger Rechtsprechung entfaltet worden, ohne die vergessene Vorgeschichte im alten Reich zu kennen. Vgl. Martin Heckel, Religionsfreiheit und Staatskirchenrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Peter Badura, Horst Dreier (Hrsg.), Festschrift 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2. Bd., Tübingen 2001, S. 379-420, 400 ff. – Zur Geschichte vgl. über die Abwehr von fremdkonfessionellen Übergriffen Heckel, Katholische Konfessionalisierung, S. 184, 221 ff.; ders., Anfänge der Religionsfreiheit, in: FS Nörr, S. 349, 381 ff. 383 ff.; ders. Ius reformandi, in: FS Seebaß, S. 115 ff., auch in: ders., Ges. Schr., 5. Bd., S. 303-346, 326 ff.; sowie (zur Geschichte) 3. Bd., S. 294, 330 ff.; 5. Bd., S. 81, 113 ff., 116 ff.; 5. Bd., S. 135, 173 ff.
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Ausfüllung des Rahmeninhalts nach dem religiösen Selbstverständnis der jeweils geschützten Religionspartei. Dafür hat das IPO mit der itio in partes ein wohldurchdachtes rechtliches Instrumentarium geschaffen, das die Übergriffe in die theologische Selbstbestimmung der anderen Religionspartei ausschloß. Die Säkularisierung der äußeren Rechtsform sollte die geistlichen Belange vor religiöser Vergewaltigung und säkularisierender Verfälschung („Umfunktionierung“) durch die konkurrierende Konfession und durch eine konfessionsfremde Staatsgewalt sichern. – Dieser Grundgedanke hat das deutsche Staatskirchenrecht bis zur Gegenwart richtungweisend geprägt. Offene säkulare Normen dienen zum Schutz der in ihnen geborgenen geistlichen Substanz. III. Deutschlands Sonderweg im Staatskirchenrecht – die Ausgleichsordnung Der suspekte „Sonderweg“ Deutschlands in der Geschichte ist hier zumindest licht auszumachen: Im Staatskirchenrecht des Reichs führte er nicht wie in Westeuropa in den monarchischen Absolutismus und nationalen Einheitsstaat, sondern in die gefeierte „teutsche Libertät“ und „Parität“, die sich als eine Ausgleichsordnung reichsständischer und konfessioneller Freiheit und Gleichheit entwickelte und bewährte. Sie gründete sich nicht auf Herrschaft und Machtkonzentration, sondern auf Herrschaftsbeschränkung durch Selbstbestimmungsgarantien, Gewaltenteilungs- und Konsensbildungsformen. Der Dualismus zwischen dem Kaiser und den Reichsständen und andererseits zwischen den beiden Konfessionen wurde darin über Kreuz im Gleichgewicht gehalten. Auch das hat die Entwicklung des Absolutismus im Reich verhindert und erheblich zum deutschen Föderalismus beigetragen. – Im 19. Jahrhundert sprang dann das Paritätssystem konfessioneller Freiheit und Gleichheit vom Reich auf die Territorien über. Es galt fortan für den weiten Kreis der „Religionsgesellschaften“ statt exklusiv für die beiden „Religionsparteien“ des Alten Reichs, behielt aber seine für Deutschland charakteristische Funktion als Ausgleichsordnung. Es erlebte nur wenige tiefere Störungen wie im Kulturkampf und dann im Kirchenkampf mit den national- und internationalsozialistischen Ideologien, die es kurzfristig zum Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument pervertierten, was jedoch bald durch die Rückkehr zu einer verbesserten Ausgleichsordnung überwunden wurde. Die weltlichen Verfassungen des 19. Jahrhunderts gewährleisteten durch eine (allgemeine und gleiche) weltliche Rahmenordnung die (unterschiedliche) religiöse Selbstbestimmung der Individuen und Religionsgesellschaften und die Abwehr von Übergriffen fremder Religionen und einer säkularisierenden Staatsgewalt. – IV. Die beschwerliche Akzeptanz offener staatskirchenrechtlicher Rahmenformen Die Kurie mußte sich in die neuen, offenen Rahmenbedingungen der neuen Zeit erst einleben; 1648 sah sie sich damit überfordert. Kirchliche Veränderungen er-
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fordern Zeit und mit Rücksicht auf das Kirchenvolk geduldige Behutsamkeit, das lehrt nicht nur das Erste und das Zweite Vatikanum. Als Zwischenschritt war der Protest der katholischen Kirche kaum zu überschlagen, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel setzen wollte. In der Zukunft freilich wurden die doppelkonfessionell-offenen, formalen Formen mehr und mehr bestimmend für alle Fragen des Staatskirchenrechts: für das ius reformandi, das Kirchengut, die Kirchenadvokatie und Kirchenaufsicht, die Staatskirchenhoheit, den Begriff der Religionsgesellschaft und insbesondere für die allgemeine Garantie der Religionsfreiheit und des Selbstbestimmungsrechts aller Religionsgemeinschaften einschließlich ihrer gesetzlichen Schranken und des Abbaus traditioneller Privilegien, wie hier nicht auszuspinnen ist; in allen Staatswesen mit konfessionell gemischter Bevölkerung war dies unvermeidlich. Ihre unbefangene Akzeptanz und Benützung fiel der evangelischen Seite im Konfessionellen Zeitalter leichter, weil ihre Lehre von den beiden Reichen und Regimenten und von der Beschränkung der geistlichen Gewalt auf die Verkündigung („sine vi, sed verbo“) davon nicht so weit entfernt und nicht so scharf geschieden war wie das viel stärker geschlossene katholische System. Zwei Jahrhunderte später aber waren es vor allem die katholischen Abgeordneten der Paulskirche aus dem nun preußischen Rheinland, die – in strikter Ablehnung des traditionellen Staatskirchentums, der engen Staatkirchenaufsicht und des landesherrlichen Kirchenregiments, aber nicht minder scharf in ihrer Abwehr der revolutionären Trennungsidee – ein freiheitlich offenes Staatskirchenrecht konzipierten, dessen Grundlinien in der Weimarer Verfassung und im Grundgesetz ihre Verwirklichung fanden. – Aus diesen Grundprinzipien hat sich das freiheitliche Staatskirchenrecht der Gegenwart entwickelt, das heute mit der Immigration des Islam konfrontiert ist und sich unter analogen Herausforderungen wie im Konfessionellen Zeitalter neu zu bewähren hat, wenn es weltlichen Frieden, christlich geprägte Kulturtradition und religiöse Freiheit sichern muß und sich dafür einheitlicher und gleicher säkularer Rahmenstrukturen für das geistliche Selbstverständnis heterogener Glaubensrichtungen bedient.
Wang Boqi (1908-1961) als Verteidiger republikchinesischer Rechtsreform1 Robert Heuser
A. Einleitung: Rezeption und Apologetik Die chinesischen Politiker und Beamten, die während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts – von den letzten Jahren der Regierung des Guangxu-Kaisers bis zum Beginn des ostasiatischen Krieges – das chinesische Rechtssystem reformierten, agierten in einer Umwelt, in der sie gezwungen waren, ausländisches Recht zu übernehmen, von dessen Geeignetheit für China niemand überzeugt sein konnte. Die maßgeblichen Akteure – von Shen Jiaben (1840-1913), über Wang Chonghui (1881-1958) und Hu Hanmin (1879-1936) bis Wu Jingxiong (1899-1986) – waren bemüht, die Reformen als Fortentwicklung des eigenen kulturellen Erbes zu begreifen2 oder ihnen durch Ideologisierung den Anstrich des Eigenen zu geben. Die damalige, weitgehend naturalwirtschaftliche Lebenswelt – die kulturelle Atmosphäre der Gesellschaft und die Denkstrukturen ihrer Mitglieder – war noch durch und durch von traditionellen Sozialanschauungen geprägt. Für das Recht bedeutete dies, dass die Kategorie der individuellen Freiheit, des subjektiven Rechts (quanli) als der zentralen Neuerung im modernisierten chinesischen Rechtssystem fremdartig, gar unmoralisch anmutete; die Menschen entbehrten der Fähigkeit, sie zu akzeptieren. Ob es sich nun um das Recht auf Verteidigung im Strafprozess, das Recht, gegen Behördenentscheidungen zu klagen, das Recht, Verträge gerichtlich durchzusetzen, das Erbrecht der Frauen und Töchter oder das Scheidungsrecht der Frauen handelte, sie alle waren Anfang der 1930er Jahre perfekt ausformuliertes positives Recht, law in the books, berührten die Lebenspraxis aber wenig. Zwar hat man z.B. festgestellt, dass im Shanghai des Jahres 1931 mehr als die Hälfte der 1
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Eine chinesische Version erscheint in Mi Jian (Hrsg.), Zhong-De Faxue. Xueshu lunwenji (Aufsatzsammlung zur chinesisch-deutschen Rechtswissenschaft), 2. Bd. (Falü chubanshe), Peking 2005. So suchte Shen Jiaben in seinen Throneingaben das Neue als Verbesserung oder gar Wiederaufleben von Altem darzustellen, wenn er z. B. vorschlug, daß „in conformity with the Tang law and the prevailing practice at the beginning of the present Dynasty and other countries, capital punishment may be reduced with discretion“; für die Abschaffung der Analogie führte er einen Tang-zeitlichen Beamten an, der die Analogie als willkürliche Gesetzesanwendung kritisiert hatte (vgl. M. J. Meijer, The Introduction of Modern Criminal Law in China, Batavia 1949, S. 194, 196). Der Parlamentarismus, für den man sich in den letzten Jahren der Qing-Dynastie zu interessieren begann, wurde (z.B. von Liang Qichao) in Anlehnung an das altehrwürdige Zensorat zu begreifen gesucht (vgl. etwa E-Tu Zen Sun, The Chinese Constitutional Mission of 1905-1906, in: The Journal of Modern History, vol. 24, 1952, S. 251 ff., 262 f.
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Scheidungsprozesse von Ehefrauen angestrengt wurden und zu 90% mit Scheidungsurteil endeten.3 Bekannt ist auch der Verwaltungsprozess, den Lu Xun 1925 beim Pekinger (auf der Grundlage der Verfassung von 1912 errichteten) Pingzhengyuan geführt hat, und der zu seiner Wiedereinstellung führte.4 Aber solche Beispiele können getrost als extrem singulär gewertet werden, als etwas, was in der Shanghaier oder intellektuellen Oberschicht passieren konnte, aber mit „China“ (noch) nichts zu tun hatte. Die maßgeblichen Reformer hatten eine klare Vorstellung davon, dass sie mit ihren Gesetzgebungsvorschlägen dem Bewusstsein des Volkes – seien es Bauern oder Beamte – vorauseilten. Gegen große Widerstände der orthodoxen Beamtenschaft erreichte Shen Jiaben einen ersten Schritt in der Modernisierung des Strafgesetzbuches und erstellte noch 1911 einen Entwurf vom Zivilgesetzbuch. Unter dem Präsidenten des Nanjinger Gesetzgebungsyuan (lifayuan), Hu Hanmin, wurde dieser Entwurf (nach diverser Revision) als Zivilgesetzbuch der Republik China (zhonghua minguo minfa) 1929/30 zum Gesetz. Gleichzeitig setzten die Bemühungen ein, das Gesetzgebungswerk zwar als etwas anzusehen, was unter ausländischem Druck und in Anlehnung an ausländische Vorbilder zustande gekommen war, dessen eigentliche Verwurzelung aber in der chinesischen Denk- und Sozialkultur anzusiedeln ist. Wu Jingxiong stellte 1930 zwar in trefflicher Formulierung fest, dass „das Recht des alten China als ein großes ethnologisches Dokument betrachtet werden kann, das Recht des neuen China im Wesentlichen jedoch ein Erzeugnis der Mode ist.”5 Später schwenkte er aber auf die geforderte apologetische Linie ein, indem er ausführte: „Es ist richtig, dass zahlreiche Vorschriften (des ZGB) aus modernen europäischen Gesetzbüchern übernommen wurden [...] Der chinesische Gesetzgeber hat dies jedoch nicht blindlings, sondern auswählend getan. Er hat gerade die neuen Prinzipien westlichen Rechts ausgewählt, die dem Geist der chinesischen Tradition am meisten entsprechen. Durch ein glückliches Zusammentreffen ist das chinesische ZGB zu einer Zeit entstanden, als das westliche Rechtsdenken sich seit einigen Jahrzehnten von dem extremen Individualismus des 19. Jahrhunderts hinwegentwickelt und sich zunehmend humanistischen und sozialen Positionen zugewandt hatte, Positionen, die im Geiste, wenn auch nicht in den Einzelheiten, höchst ähnlich sind, mit der der chinesischen Phi3
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Jürgen Domes, Vertagte Revolution. Die Politik der Kuomintang in China 1923-1937, Berlin 1969, S. 405. Nach Li Helin u. a. (Hrsg.), Lu Xun nianpu (Biographische Angaben zu Lu Xun), 2. Bd., Beijing 1981, S. 276. (Den Hinweis verdanke ich Prof. Raoul David Findeisen, Bochum). Falsch wiedergegeben bei Yang Yuqing, Guanyu jiefangqian de xingzheng susong („Über den Verwaltungsprozeß vor der Befreiung“), in: Faxue zazhi 1987, Nr. 6, S. 40, wo es heißt: „Der damalige Verwaltungsprozeß war nichts als betrügerische Trickserei, der Pingzhengyuan war weit davon entfernt, Lu Xun bei der Artikulation seiner Beschwerde zu helfen, den Entscheid von (Erziehungsminister) Zhang Shizhao aufzuheben und Lu Xun wieder in das Amt einzusetzen.“ “The law of Old Cathay may be regarded as a great ethnological document, but the law of New China is mainly a product of fashion”. John C. H. Wu, The Legal System of Old and New China: A Comparison, Rosenthal Lecture, Law School of Northwestern University, 1929/30.
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losophie des integrierten Individuums, das sich seinen Pflichten mehr verbunden weiß als seinen Rechten.“6
Dies entsprach der Linie, wie sie Hu Hanmin bei der Erörterung und Verabschiedung des ZGB im Lifayuan (Gesetzgebungsamt) vorgegeben und zum Ausdruck gebracht hatte. Die „Sinisierung“ geschah durch Ideologisierung, die Einbindung des ZGB in die „Drei Volkslehren“ (Sanmin-zhuyi). Er legte dar7, dass eine den Sanmin-zhuyi entsprechende Gesetzgebungstheorie nicht die Einzelperson, sondern Gesellschaft, Volk und Staat zum Ausgangspunkt nehmen muss, nicht gerenbenwei, sondern shehui-benwei, minzu-benwei und guojia-benwei. Die Gesetzgebung hat damit der Lösung der praktischen Probleme von Volksmacht (minquan), Nation (minzu) und Volkswohlfahrt (minsheng) zu dienen. Dabei ist das „Prinzip des Zusammenhangs von Rechten und Pflichten“ (quanli yiwu de yuanze) zu beachten. Hu schätzte den Gedanken Suns, dass „die Menschen sich das Dienen (fuwu) und nicht den persönlichen Gewinn (das Ergreifen, Erlangen, duoyu) zum Ziel setzen sollen.“ Hu ist der Ansicht, dass Leben, Vermögen und Interessen des Einzelnen als Teil des Lebens, Vermögens und der Interessen der Gesellschaft aufzufassen sind, so dass der Einzelne nicht beliebig verfügen darf. Was die Anerkennung von individuellen Rechten durch die Gesellschaft anbetrifft, „so können Rechte nur in dem Maße anerkannt werden wie gegenüber der Gesellschaft Pflichten erfüllt werden.“ Werden diese vernachlässigt, kann ein Recht nicht bestehen. Schließlich äußerte sich Hu zu den Abweichungen der Sanmin-zhuyi-orientierten Gesetzgebung gegenüber der Gesetzgebung des alten China und des Westens. Der Unterschied gegenüber dem alten China liege darin, dass die Gesetzgebung des alten China auf der Basis des Klansystems (jiazu) beruhte, die monarchische Autokratie schützte, die wirtschaftlichen Verhältnisse einer landwirtschaftlichen Familiengesellschaft im Blick hatte, und das Privatrecht ganz im öffentlichen Recht aufgegangen ist, während die Sanmin-zhuyi-Gesetzgebung auf der Basis der Interessen der Nation (minzu) beruht, den Bedürfnissen einer aus Landwirtschaft und Industrie bestehenden Volkswirtschaft entspricht und zwischen Privat- und öffentlichem Recht unterscheidet. Was den Unterschied gegenüber der modernen Gesetzgebung des kapitalistischen Auslands betrifft, so sei dort das Individuum Grundlage der Gesetzgebung, das Individuum Gegenstand (duixiang) des Rechts. Dem Recht ginge es nur darum, die Rechte und Freiheiten der Individuen voneinander abzugrenzen, soziale Interessen außer denen des Individuums kenne das Recht nicht. Hu ist der Ansicht, dass eine solche das Individuum zum Maßstab (benwei) nehmende Gesetzgebung (geren benwei) noch rückständiger sei als die Gesetzgebung des alten China mit ihrem Familien-Standard (jiating benwei). Daher ist seiner Ansicht nach die Sanmin-zhuyi-Gesetzgebung mit den Standards (Orientierungspunkten) Gesellschaft,
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John C. H. Wu, The Status of the Individual in the Political and Legal Tradition of Old and New China, in: Chinese Culture, vol. VIII, 1972, S. 1 ff., 23. Nach Chun Yang, „Lue Hu Hanmin zhi lifa zhuchi huodong (Zu Hu Hanmins Tätigkeit der Leitung der Gesetzgebung),” in: Faxue pinglun 2000, Nr. 6, S. 152 ff.
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Nation (Volk) und Staat als solche nicht nur der Gesetzgebung des Familismus, sondern auch der des Individualismus überlegen. Diese Rechtstheorie wandte Hu auf das ZGB an. In der Einleitung der englischen Ausgabe des „Zivilgesetzbuches der Republik China“8 führte er aus: „Das neue ZGB folgt den Prinzipien, die die moderne Rechtswissenschaft über die ganze Erde verbreitet und die eine Art universales gemeines Recht darstellen, um so die Entwicklung der internationalen Beziehungen zu erleichtern […]“. Andererseits stellte er klar: „Durch die Einbeziehung der Prinzipien der Guomindang erhält das Gesetzbuch eine spezifisch soziale Richtung. Die Tätigkeit der Bürger lenkt das Gesetzbuch dahingehend, dass sie sich als vorteilhaft für die Gemeinschaft erweist, deren Teil der Einzelne ist. Dieses Merkmal unterscheidet das neue Gesetzbuch sowohl von den individualistischen Gesetzbüchern Europas und Amerikas, als auch von den Gesetzen des Familien-Typs im alten China.“
B. Neue Ausrichtung Nach dem Zweiten Weltkrieg fand eine, wenn auch nur kurzfristige Neubewertung des Rezeptionsvorgangs statt. Nachdem 1943 die Exterritorialität aufgehoben worden war, fand man sich in der Lage, ohne Druck der Anpassung an westliche Modelle die Ergebnisse der Rechtsmodernisierung zu überdenken. Man war „souverän“, das Richtige zu tun. Darüber, was das Richtige war, gingen die Ansichten auseinander. Drei Positionen können unterschieden werden: Eine revisionistische blickte auf das, was sie als „chinesische Kultur“ begriff und betonte die Änderung des Rechts im Sinne einer Anpassung an diese Kultur. Eine opportunistische stellte fest, daß Japan und Kontinentaleuropa sich im Krieg als unterlegen erwiesen haben, weswegen China sein Rechtssystem in Richtung des angloamerikanischen Systems ändern sollte.9 Eine dritte betonte Kontinuität und gesellschaftliche Modernisierung, um dem seit der Späten Qing Geleisteten allmählich soziale Relevanz zuwachsen zu lassen. Bekannt ist die Opposition Roscoe Pounds gegen die opportunistische Position, also gegen ein Abrücken vom civil law-Modell. „The Chinese Codes are excellent“,10 stellte er 1948 als Berater der Regierung in Nanjing fest und betonte die Notwendigkeit, sie im Zuge der Anwendung allmählich zu sinisieren, denn „they are Chinese codes, to be applied to the Chinese people, to govern Chinese life.“11
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The Civil Code of the Republic of China (translated into English by Ching-Lin Hsia u.a.), Shanghai 1931. Etwa Yu Kwei, Some Judicial Problems Facing China, in: Washington Law Review, vol. 23, 1948, S. 363 ff. Roscoe Pound, Comparative Law and History as Bases for Chinese Law, in: Harvard Law Review, vol. LXI, 1948, S. 749 ff., 752. Ibid., S. 758.
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Im Folgenden soll diese auf Kontinuität ausgerichtete Position, wie sie ein chinesischer Zivilrechtler propagiert hat, näher betrachtet werden. Dazu ist es erforderlich, zunächst einen Blick auf die revisionistische Position zu werfen.
C. Die Herausforderung des Revisionismus Als die Nanjing-Regierung 1948/49 vor den Trümmern ihrer Herrschaft stand und sich nach Taiwan absetzen musste, wurden Stimmen wach, die in der Rezeption europäischen Rechts einen falschen Weg zu erkennen glaubten. Es wurde die Ansicht geäußert, dass das neue Recht nicht auf die chinesischen soziokulturellen Verhältnisse passe, insbesondere das System der subjektiven Rechte für China und seine angestammte Kultur der Pflichten ungeeignet, ja dass es selbstzerstörerisch sei. Manche Äußerungen gingen so weit, in der – auch durch das neue Recht geförderten – Zerrüttung der traditionellen Moral den Hauptgrund für den Sieg der Kommunisten zu sehen. Statt oder neben dem fremden Recht sollte der konfuzianischen Moral wieder stärker sozialkontrollierende Wirkung beigemessen werden. Ein Beispiel für diese Position ist der 1876 in Hubei geborene, 1951 in Taibei gestorbene Ju Zheng (Chü Cheng).12 Seit Tokyoter Tongmenghui-Zeiten ein Mitarbeiter Sun Yatsens und 1912 an der Ausarbeitung der „Vorläufigen Verfassung der Republik China“ (zhonghua minguo linshi yuefa) beteiligt13, war er, obwohl kein studierter Jurist, von 1932-1948 Präsident des Justizyuan (sifayuan) in der Nanjinger Nationalregierung. Die Rechts- und Justizreform hatte er durchaus unterstützt und sich besonders mit Prozessrecht und der Gerichtsorganisation befasst. In einer 1947 in Nanjing veröffentlichten Schrift forderte er jedoch einen „Umbau des chinesischen Rechts“. 14 Er führte dort aus, dass „die beinahe uneingeschränkte Rezeption des kontinentalen Rechtssystems“ in mancher Hinsicht (sprich: für die Überwindung der Exterritorialität) hilfreich gewesen sei, zu bezweifeln sei jedoch, „ob sie für das chinesische Volk von bleibendem Wert sein wird.“ Die Erfahrung, die man seit den letzten Jahren der Qing-Dynastie mit der Übernahme europäischen Rechts gemacht habe, habe gezeigt, dass „dadurch nicht alle Probleme zu unserer Zufriedenheit gelöst werden konnten.“ Es sei deshalb an der Zeit, die Angelegenheit zu überdenken und „ein Rechtssystem auf der Grundlage unserer Kultur zu errichten, um so unseren Absichten besser zu entsprechen.“ Unter den von ihm propagierten „Leitprinzipien für Chinas neues Rechtssystem“ sind hier zwei von Interesse: 1. Errichtung einer durch die Regeln der Sittlichkeit
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Biographical Dictionary of Republican China (H. Boorman, R. Howard, eds.), 1. Bd., S. 469 ff. Vgl. Chun Yang, Ju Zheng yu zhongguo jindai fazhi biange (Ju Zheng und die Umwälzung von Chinas neuzeitlichem Rechtssystem), in: Faxuejia 2000, Nr. 4, S. 47 ff. Sie erschien zuerst 1944 in Zhongguo falü zazhi, 1947, in englischer Übersetzung von Chang Chi-tai unter dem Titel „On the Reconstruction of the Chinese System of Law“, Nanking, 1947.
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(li) ergänzten Gesetzesherrschaft (fazhi) und 2. Unterordnung des Individuums unter die Interessen der Nation. Natürlich, sagt Ju, das neue Rechtssystem muss den Geist der Gesetzesherrschaft umfassen, dieser muss aber durch die Regeln der Sittlichkeit ergänzt werden. Das lijiao-System ganz aufzugeben, sei verfehlt. „Li-Normen sind ebenso gute Sozialnormen wie Religion und Brauchtum und zusammen mit dem Recht wahren sie die Interessen der Individuen wie der Gesellschaft.“ Sie zur Aufrechterhaltung der Sozialordnung heranzuziehen, sei um so naheliegender, wenn man bedenke, dass sie, nachdem sie von Konfuzius und seinen Schülern formuliert worden waren, das Denken, Fühlen und die Lebensart der Chinesen tief geprägt hatten. Er nennt die acht (konfuzianisch „geladenen“) Tugenden der Loyalität (zhong), Kindespflicht (xiao), Wohlwollen (ren), Liebe (ai), Vertrauen (xin), Gerechtigkeit (yi), Harmonie und Friede (heping). Diese Moralnormen sollen die Gesetzesnormen im Sinne einer stabilen Sozialordnung ergänzen. Dabei sollten sie sich gegen die emanzipatorische Tendenz des modernen Rechts auswirken. Dies zeigt das „Leitprinzip“ der Unterordnung des Individuums unter die Interessen der Nation, der Gesellschaft. Das neue Rechtssystem „wird keine Spur individualistischer Anschauungen aufweisen, sondern durchweg deutlich machen, dass Kollektivinteressen Privatinteressen stets vorgehen.“ Ju legt nicht dar, wie dieses Ziel erreicht werden soll: Durch neue Gesetzgebung oder durch eine radikalere gemeinschaftsorientierte Interpretation (im Sinne einer „unbegrenzten Auslegung“) als sie schon Hu Hanmin betont hatte? Wie andere Guomindang-Ideologen sieht Ju in Sun Yatsens Lehren eine Art Kontinuität verwirklicht, wie sie sich bis auf die legendären Herrschergestalten der vorhistorischen Zeit (Yao, Shun) zurückverfolgen lässt. „Daher“, so Ju, „ist es für ein Land unpassend und unpraktikabel, das Recht eines anderen Landes zu imitieren.“ Es ist dies eine historisierend-romantische Einstellung, wie sie in Deutschland unter dem Einfluss von Herder (1744-1803) von Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) vertreten worden ist. „Die rechtliche Ordnung innerhalb eines Volkes sei […] nie ein Geplantes und Erdachtes, sondern immer ein Gewachsenes und Gewordenes […]“ referiert Erik Wolf den von Herder bezogenen Grundgedanken Savignys.15
D. Wang Boqi: Kontinuität und gesellschaftlicher Wandel Gegen eine solche rezeptionskritische und konfuzianische Moral rekultivierende Haltung wandte sich ein Rechtswissenschaftler, der als einer der Begründer der chinesischen Zivilrechtswissenschaft angesehen wird, der 1961 53-jährig in Taibei verstorbene Wang Boqi. 1908 im Kreis Yixing in der Provinz Jiangsu, China, geboren, studierte er von 1927-1931 an der politikwissenschaftlichen Abteilung der Dongwu-Universität in Suzhou und erwarb 1936 nach fünfjährigem Aufent15
Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl., Tübingen 1963, S. 480.
Wang Boqi (1908-1961) als Verteidiger republikchinesischer Rechtsreform
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halt an der Sorbonne den Dr. en droit. Von 1939-1945 lehrte er an der Staatlichen Yunnan-Universität in Kunming, war danach bis 1949 im Erziehungsministerium, 1949 an der Sun Zhongshan-Universität in Guangzhou, von 1950-54 im Taibeier Erziehungsministerium und danach bis zum seinem Tode im Jahre 1961 als Professor an der Taiwan-Universität tätig.16 Wang gilt bei seinen Schülern als ein Universitätslehrer, „der nur wenig geschrieben hat, von dessen Aufsätzen aber jeder lesenswert ist.“17 Neben seinem 1957 publizierten „Allgemeinen Teil des ZGB“ (Minfa zongze) und der 1962 erschienenen Darstellung des „Allgemeinen Schuldrechts“ (Minfa zhaibian zenglun) ist aus heutiger Sicht sein wichtigstes Werk die 1956 veröffentlichte Abhandlung über „Modernes Rechtsdenken und die überkommene chinesische Kultur.“18 In der Einleitung weist er das Problem auf: „Was wir auf legislatorische Weise übernommen haben, ist ganz und gar vom Neuesten des westlichen Rechtssystems; was wir jedoch auf der Ebene des Volksbewusstseins erfassen, ist ... immer noch das alte, gar restaurierte ethische System (lijiao zhidu), wozwischen es so gut wie keine Vermittlung gibt.“19
Zur Verringerung dieses Abstandes lehnt er aber die eine der beiden denkbaren Methoden, das Recht der Moral anzupassen, ab. Diese Methode, so führt er aus, „wurde gelegentlich schon propagiert, so wenn dargelegt wurde, dass während der letzten Jahre die chinesische Gesellschaft von der Moral-Herrschaft (lizhi) zur Gesetzesherrschaft (fazhi) übergegangen sei, in den Kontakten der Menschen untereinander mehr das Gesetz (fa) als die Sittlichkeit (li) betont werde, die Menschen untereinander […] ihre Unbekümmertheit eingebüßt hätten. Da sie vergessen hätten, dass im menschlichen Umgang die li-Regeln bestimmend sein sollten, sei das Leben freudlos und sinnlos geworden, die Gesellschaft habe keinen Mittelpunkt und die Kommunistische Partei sei dadurch noch intensiver bestrebt, die traditionelle Ethik (li-yue) zu untergraben und den Geist der Geschichte zu zerstören, weshalb wir uns heute besonders um das Studium der Frage des Wiedererstehens der traditionellen Ethik bemühen sollten.“
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Angaben nach der „Personaldatei für Lehrpersonen der Staatlichen Taiwan-Universität“ (Guoli Taiwan daxue jiaoyuan lülibiao), die mir Prof. Weng Yuesheng, Taibei, zur Verfügung stellte, wofür ich ihm auch an dieser Stelle danke. So ein in Taibeier Juristenkreisen der älteren Generation verbreitetes Urteil. Seine in der Personaldatei verzeichneten Werke sind Quanli xiangdui lun (Rechterelativismus), Zhonghua shuju 1943 und Dongfang baike quanshu, minfa (Zivilrecht im Lexikon des Ostens), Dongfang shudian 1953. Hier nicht aufgeführt sind Wangs 1957 publizierte Darstellung des Allgemeinen Teils des ZGB (Minfa zongze) und Aufsätze wie Falüxingwei zhi biaodi ji mudi (Gegenstand und Zweck des Rechtsgeschäfts), Qiyue zeren yu qinquan zeren zhi jing-he (Konkurrenz und Kombination von Vertrags- und Deliktshaftung), Falüxingwei zhi wuxiao yu buchengli (Unwirksamkeit und Nichtzustandekommen von Rechtsgeschäften) u. a., alle neu herausgegeben von Zheng Yupo (Hrsg.), Faxue lunwen xuanji, Minfa zongze lunwen xuanji (Rechtswissenschaftliche Abhandlungen: Abhandlungen zum Allgemeinen Teil des Zivilrechts), Taibei 1984. Jindai falü-sichao yu zhongguo guyou wenhua, Taibei 1956. Ibid., S. 2.
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Nach dieser Ansicht, so Wangs Kommentar, „hat unsere gegenwärtige Gesellschaft deshalb keinen Mittelpunkt, kennt das menschliche Leben deshalb keine Freude und treibt die Kommunistische Partei deshalb ihr Unwesen, weil die chinesische Gesellschaft die Sünde des allmählichen Übergangs von der Moral- zur Gesetzesherrschaft begangen hat. Das heißt soviel wie das gegenwärtige Rechtssystem völlig zu verwerfen.“20
Wang Boqi propagiert den anderen Weg, den der allmählichen Anpassung der Moral an das moderne Recht. Er sieht darin eine „notwendige Tendenz“ und führt aus: „Die Gesellschaft ist im Fortschritt begriffen, und es ist völlig unmöglich, auf frühere Pfade zurückzukehren. Betrachten wir sie nur von den beiden Punkten der Gleichheit der Geschlechter und des allmählichen Zerfalls des Sippensystems (dajiazhidu), so können wir einen Aspekt ihrer Entwicklungstendenz schon erkennen.“21
Die Herder’sche/Savigny’sche Denkrichtung hält er für überholt: „Die Vorstellung der Vertreter der historischen Rechtsschule von dem allmählichen Wachsen und der Unmöglichkeit legislativer Setzung des Rechts mag für die Verhältnisse ihres Zeitalters richtig gewesen sein, für das nicht gewachsene, sondern geschaffene Recht unseres Zeitalters ist jedoch davon auszugehen, dass es im Bewusstsein des Volkes Wurzeln schlagen kann, sich entwickelt und entfaltet.“22
Wang geht von einer erzieherischen Wirkung der Gesetzgebung aus. Er ist der Ansicht, dass die moderne chinesische Gesetzgebung zwar dem gesellschaftlichen Bewusstsein „vorauseile“ (chaoqian lifa), dieses Bewusstsein aber allmählich umforme.23 Er nennt dies „Rechtserziehung“, ein Vorgang, der durchaus Ergebnisse zeige. Er führt aus: „Wenn der Gesetzgeber unsere Verhaltensnormen auch nicht schaffen kann, so hat das vom Gesetzgeber geschaffene Recht für das Volksbewusstsein doch eine äußerst inten20 21 22
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Ibid., S. 3. Ibid., S. 3. Ibid., S. 50. Die Linguistik nimmt selbst für die Sprache, analog deren Herausbildung Savigny den Rechtsbildungsprozeß begriffen hatte, nicht mehr an, daß sie „ein lebendiger Organismus ist, so wie man sich das im 19. Jahrhundert vorgestellt hat. Wir haben heute vollkommen andere Vorstellungen von Sprache. Wir verstehen Sprache als ein Medium, als eine Technik der Verständigung […]“ (so der Kölner Sprachwissenschaftler und Mediävist Karl-Heinz Göttert, in: Kölner Stadt-Anzeiger 11./12. 8. 2001, S. 37). „Frühreife“ oder „vorauseilende“ Gesetzgebung ist keine chinesische Eigenart. So sieht Anton Menger im Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 im Österreichischen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1811 „Gesetzeswerke, welche der sozialen Entwicklung ihres Volkes beträchtlich vorauseilten“, weswegen diese Gesetzgeber „den Anspruch erheben können, zu den Erziehern ihrer Nation gezählt zu werden“ (Anton Menger, Das Bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, Tübingen 1890, S. 8).
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sive aufklärerische und inspirierende Wirkung und beschleunigt so die Reifung dieses Bewusstseins.“24
Eine erste Wirkung dieser „Erziehung“ erkennt er in Folgendem: „Das Erbrecht des Ehepartners und der Töchter, die Ausübung der Rechte und Pflichten der minderjährigen Kinder durch Vater und Mutter, die Unabhängigkeit des Vermögens von Kindern – all diese Rechtsinstitute rufen, auch wenn sie bis heute und über 30 Jahre nach Inkrafttreten des Zivilgesetzbuches immer noch fremd anmuten, jedenfalls nicht mehr Ablehnung hervor. Dies macht deutlich, dass die großen Prinzipien des geltenden Rechts allmählich gesellschaftliche Akzeptanz finden können und zu Normen unseres tatsächlichen Rechts werden.“25
Er fügt hinzu: „Wenn unsere großen Kodifikationen auch großenteils anderen Ländern entstammen, so ist es doch keineswegs so, dass ein transplantiertes Gesetzessystem keine Wurzeln treiben kann. Natürlich besitzt jedes Volk eine eigenständige historische Kultur, und sein Rechtssystem kann auch nicht mit dem anderer Völker völlig identisch sein, daraus aber zu folgern, dass die verschiedenen Völker ein jeweils verschiedenes Rechtssystem haben sollten, entspricht offenbar nicht den Tatsachen.“26
Wang verweist auf Japan, auch auf Vorgänge der Rechtsrezeption anderswo. „Somit“, so resümiert er, „brauchen wir uns nicht vorzuhalten, dass unser Recht eine Imitation des Rechts anderer Staaten und nicht ein Produkt der Geschichte unserer Nation darstellt und es somit gering zu schätzen. Die Verbindungen unseres Globus werden immer enger, nirgends ist es länger möglich, eine völlig eigenständige Kultur zu bewahren.“27
Wang Boqi verleiht hier einer Einsicht Ausdruck, die auch in Deutschland erst nach dem 2. Weltkrieg zum Durchbruch gelangte. So spricht Thomas Mann 1947 in einem Artikel zum 70. Geburtstag Hermann Hesses davon, dass der „nationale Individualismus im Sterben liegt“ und „vom bloß Nationalen her kein einziges Problem mehr zu lösen ist, wo alles Vaterländische provinzielle Stickluft geworden ist.“28
24 25 26 27 28
Wang Boqi, Jindai falü-sichao yu zhongguo guyou wenhua, S. 51. Ibid., S. 51. Ibid., S. 51. Ibid., S. 52. Anni Carlsson und Volker Michels (Hrsg.), Hermann Hesse, Thomas Mann, Briefwechsel, erweiterte und überarbeitete Ausgabe, Frankfurt/M. 1999, S. 233.
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E. Bedeutung für die Gegenwart Diese Ansicht dürfte im heutigen China kaum auf Widerspruch stoßen. So weit ich sehe, wird heute eine Position des „nationalen Individualismus“ nicht vertreten. Die Ansicht, daß chinesisches Recht keine Wurzeln im Ausland haben darf, haben kann, ist nicht anzutreffen.29 In allen Rechtsbereichen ist die Orientierung am „Weltmaßstab“ spätestens seit dem WTO-Beitritt eine Selbstverständlichkeit, nicht nur im Patent-, Wettbewerbs- und Wertpapierrecht, sondern auch in Bereichen wie Strafprozess-, Persönlichkeits- und Verwaltungsrecht. Jedoch ist der von Wang Boqi benannte Konflikt zwischen traditionellem Rechtsbewusstsein und modernem (auch jetzt als „westlich“ angesehenen) Recht weiterhin existent. Ähnlich wie eine Generation vorher durch Wang Boqi wird das Problem seit den 1980er Jahren von neuem ausgedrückt, etwa wie folgt: „Der Angelpunkt des Problems liegt darin, dass wir bei der Übernahme (yinjin) von Prinzipien und Instituten des Rechts westlicher Staaten uns keineswegs auch den diesen innewohnenden Geist angeeignet (xishou) haben, d.h. das den diesen Prinzipien und Instituten zugehörige westliche Rechtsbewusstsein.“30 Angesichts dessen bleibt auch heute die von Roscoe Pound und Wang Boqi vertretene Ansicht, dem durch Gesetzgebung geschaffenen Recht durch richterliche und behördliche Anwendung sowie durch rechtsdogmatische Durchdringung allmähliche Anerkennung und Geltung zu verschaffen, die einzig vernünftige. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, „westliches Rechtsbewusstsein“ zu erzeugen31, als vielmehr darauf, zu vermeiden, dass sich das wiederholt, was ein heutiger chinesischer Autor im Hinblick auf die 1949 erfolgte Abschaffung der republikchinesischen Gesetze anmerkt: „Die im Laufe eines halben Jahrhunderts im Zuge der Rechtsmodernisierung erlangten zivilisatorischen Resultate auszuscheiden, den historischen Prozess der Rechtsmo-
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Allenfalls wird in unspezifischer Weise gefordert, „die Tradition zu berücksichtigen und die in der heutigen Zeit nützlichen Elemente der Tradition zu erschließen (fajue)“, „die Lokalität (Erdgebundenheit/bentuxing) des Rechts“ zu erkennen, was zum einen durch ausdrückliche Berücksichtigung „ziviler Gewohnheiten“ (minshi xiguan) als Rechtsquelle (minfa de yuanyuan), zum anderen durch Positivierung (inhaltliche Fixierung) ziviler Gewohnheiten im Zivilgesetzbuch zu bewerkstelligen sei. Vgl. Li Jianhua, Xu Zhongyuan, Lun minshi xiguan yu wo guo minfadian (Zivile Gewohnheiten und das chinesische Zivilgesetzbuch), in: Henan sheng zhengfa guanli ganbu xueyuan xuebao, 2004, Nr. 2, S. 22 ff. Sun Xiaoxia, Zhongshi yanjiu he xishou sifang falü yishi zhi wo jian (Meine Ansicht zu Studium und Aneignung des westlichen Rechtsbewußtseins), in: Fazhiribao 16. 11. 1988. Schon Franz Wieacker nahm als selbstverständlich an, daß die Länder (Asiens), die westeuropäisches Recht rezipiert haben, „auf die Dauer ein Recht entwickeln, das sich immer weiter von den Modellen der entsprechenden europäischen Rechtsfamilien entfernt“ (Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 513).
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dernisierung zu unterbrechen und die alten Pfade der Herrschaft durch Menschen (renzhi) erneut zu beschreiten.“32
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Fan Jinxue, Feichu Nanjing guomin zhengfu „liu fa quan shu“ zhi sikao (Überlegungen zur Abschaffung der „Sechs Codices“ der Nanjinger Nationalregierung), in: Falü kexue 2003, Nr. 4, S. 44.
Johann Kaspar Bluntschli (1808-1881) und das Internationale Privatrecht Zu einem Brief Bluntschlis an den Fürsten Bibesco Erik Jayme
I. Bluntschli in Heidelberg1 Am Haus Plöck Nr. 68 in Heidelberg findet sich gegenüber der Peterskirche eine Gedenktafel mit folgender Inschrift: Zur Erinnerung an Joh. Kaspar Bluntschli geb. 7. März 1808 in Zürich gest. 21. Oktober 1881 in Heidelberg Bewohner und Eigentümer dieses Hauses von 1868-1881
Bluntschli war einer der großen Staats- und Völkerrechtler seiner Zeit. Heidelberg war in seinem wechselvollen akademischen Leben nach Zürich und München der dritte Ort seines Wirkens. Er wurde der Nachfolger von Robert von Mohl, der 1861 aus der Universität Heidelberg ausschied und badischer Gesandter am Bundestag in Frankfurt wurde.2 Das genannte Haus hatte sein Sohn, der Architekt war, für ihn gebaut. In Heidelberg war Bluntschli als Lehrer ein Stadtereignis.3 Seine ausländischen Schüler trugen seine Ideen und seine Lehrmethoden in die Welt.4
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Wichtige Hinweise verdankt der Verfasser Frau Dr. Christiane Sakmann, Heidelberg. Michael Stolleis, Robert von Mohl, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Juristen – Ein biographisches Lexikon, München 1995, S. 434 f. Bluntschli bemerkt in seinen Denkwürdigkeiten, daß der Kaiser von Brasilien ohne Begleitung seine Vorlesung besucht habe: J. C. Bluntschli, Denkwürdiges aus meinem Leben, Bd. 3, Heidelberg (1861-1881), Nördlingen 1884, S. 400: „Heute besuchte der Kaiser von Brasilien ganz allein mein Colleg und setzte sich von 9-10 Uhr auf die Studentenbank. Die Stühle verbat er sich. Ein freundlicher alter Herr von 51 Jahren, der aber einem Sechziger ähnlich sieht.“ Es handelte sich um Kaiser Pedro II. aus dem Hause Bragança. Hans R. Guggisbert, Zum amerikanischen Nachleben J. C. Bluntschlis, in: Neue Zürcher Zeitung vom 5. Januar 1982, S. 29 f.
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Die John Hopkins University in Baltimore erwarb nach seinem Tode die Bibliothek Bluntschlis sowie große Teile seines handschriftlichen Nachlasses.5 In den letzten Jahrzehnten ist es nach einigen Würdigungen zu den Gedenktagen6 stiller um Bluntschli geworden. Erst jüngst regt sich wieder das Interesse an seinen völkerrechtlichen Theorien.7 Im Internationalen Privatrecht hatte er durch seine Zürcher Kodifikation immer einen gewissen Platz in der Geschichte des Fachs bewahrt.8 Allerdings verdient diese weniger bekannte Seite seiner wissenschaftlichen und journalistischen Tätigkeit aus aktuellen Anlässen eine Vertiefung. Seine Beteiligung als Gutachter in dem Jahrhundertfall „BauffremontBibesco“9 zeigt die enge Verbindung des Internationalen Privatrechts zum Völkerrecht, welche erst heute wieder ins Bewußtsein tritt.10
II. Völkerrecht und Internationales Privatrecht In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren Völkerrecht und Internationales Privatrecht nicht so scharf getrennt, wie es heute der Fall ist. Das Internationale Privatrecht wurde als Teil des Völkerrechts angesehen. Die beiden Fächer wurden – wenigstens in Italien – zusammen gelehrt. Das 1873 als Weltakademie gegründete „Institut de Droit International“ umfasste Völkerrecht und Internationales Privatrecht gleichermaßen. Die staatsvertragliche Vereinheitlichung der privatrechtsbezogenen Kollisionsnormen wurde zum politischen Programm, das 1893 5 6
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Guggisbert, Nachleben, in: NZZ vom 5. Januar 1982, S. 29 f. Martin Bullinger, Johann Caspar Bluntschli – zur 150. Wiederkehr seines Geburtstages, in: JZ 1958, S. 560 ff.; Dietrich Schindler, Gelehrter – Staatsmann – Gesetzesredaktor – Johann Caspar Bluntschli zu seinem 100. Todestag (21. Oktober), in: NZZ vom 21. Oktober 1981, S. 39 f.; vgl. auch das Zürcher Ausstellungsheft „Johann Caspar Bluntschli 1808-1881, Diener am Recht der Heimat, der Staaten und Völker“, Wohnmuseum Bärengasse, 25. November 1981-28. Februar 1982, und hierzu den Bericht „Ein grosser Diener an unserem Recht – J. C. Bluntschli (1808-1881) – Rechtslehrer und Politiker“, in: NZZ vom 25. November 1981, S. 49. Hierzu Betsy Röben, Johann Caspar Bluntschli und das moderne Völkerrecht 18611881, Baden-Baden 2003. Erik Jayme, Considérations historiques et actuelles sur la codification du droit international privé, in: Recueil des Cours 177 (1982-IV), S. 9 ff., 29 ff.; Kurt Siehr, Johann Caspar Bluntschli et le droit des conflits de lois dans le Code civil du Canton de Zurich de 1853/55, in: Liber Memorialis François Laurent 1810-1887, Brüssel 1989, S. 1017 ff.; Anton K. Schnyder, Heimatrecht und Internationales Privatrecht in der Schweiz – Bluntschli, in: Erik Jayme, Heinz-Peter Mansel (Hrsg.), Nation und Staat im Internationalen Privatrecht, Heidelberg 1990, S. 135 ff. Bluntschli, Deutsche Naturalisation einer separirten Französin und Wirkungen der Naturalisation – Beleuchtung einer Frage des internationalen Rechts bei Gelegenheit des Streites zwischen dem Prinzen von Bauffremont und der Fürstin Bibesco, Heidelberg 1876. Hierzu Erik Jayme, Internationales Privatrecht und Völkerrecht, Heidelberg 2003.
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zur Haager Konferenz für Internationales Privatrecht führte, einer Institution, die bis heute besteht. Zu jener Zeit beherrschten die wissenschaftlichen Vertreter des Internationalen Rechts durchaus beide Materien. Zu ihnen gehörte Johann Caspar Bluntschli (1801-1881), nach Pasquale Stanislao Mancini zweiter Präsident des „Institut de Droit International“. Zwischen den beiden international ausgerichteten Fächern bestanden und bestehen noch zwei Brücken. Die eine bildete das Fremdenrecht. Der Gedanke der Gleichbehandlung zwischen Inländern und Ausländern führte zu der Forderung, daß für Ausländer ihr Recht maßgebend sei. Mancini rückte in den Mittelpunkt der privatrechtlichen Kollisionsnorm die Person, auf welche das Recht ihrer jeweiligen Nation anzuwenden sei. Dies sah er zugleich als völkerrechtliche Pflicht an und lehnte die früher herrschende „comitas-Lehre“ ab.11 Die zweite Brücke bildete das Staatsangehörigkeitsprinzip, das sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durchsetzte und in das EGBGB unter Verdrängung des bisher geltenden Wohnsitzprinzips Eingang fand.12 Das Staatsangehörigkeitsrecht, das indirekt über die personen- und familienrechtlichen Rechtsverhältnisse befand, beruhte aber auf staats- und völkerrechtlichen Grundsätzen und beeinflusste somit automatisch auch das Internationale Privatrecht. Die Personalisierung des Internationalen Rechts führte umgekehrt dazu, daß man für den Erwerb der Staatsangehörigkeit iure sanguinis eintrat und sich gegen das „ius soli-Prinzip“ aussprach. Bezeichnend ist eine Äußerung Bluntschlis13: „Die Vorstellung, daß nicht das persönliche Verhältniß zu den Eltern, sondern das sachliche Verhältniß zu dem Geburtsorte entscheide, erniedrigt den Menschen zu einer bloßen Zubehörde zum Boden, und drückt denselben auf die Stufe der Hausthiere herab, welche als Inventarstücke der Güter angesehen werden“.
Deutlich wurde die Verflechtung der beiden Fächer in dem berühmten Fall „Bauffremont-Bibesco“, an dem Bluntschli in besonderem Maße beteiligt war.
III. Der Fall Bauffremont-Bibesco – fraus legis als Prinzip des Internationalen Privatrechts Es gehört zu den Eigentümlichkeiten des Internationalen Privatrechts, daß die Entwicklung der Allgemeinen Lehren weniger durch den Gesetzgeber als durch
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Erik Jayme, Mancini heute – Einige Betrachtungen, in: Herbert Bernstein (Hrsg.), Festschrift für Konrad Zweigert, Tübingen 1981, S. 145 ff., 146; vgl. auch Erik Jayme, Pasquale Stanislao Mancini (1817-1888) – Die Nation als Rechtsbegriff im Internationalen Privatrecht, in: JuS 1988, S. 933 ff. Vgl. Heinz-Peter Mansel, Personalstatut, Staatsangehörigkeit und Effektivität, München 1988, S. 28 ff. Bluntschli, Die Staatsangehörigkeit im internationalen Verkehr, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft XII (1870), S. 455 ff., 457.
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große Rechtsfälle bestimmt worden ist.14 Zu diesen gehört die Sache „Bauffremont-Bibesco“, welche Gegenstand einer Fülle von Gerichtsentscheidungen war und welche die kreative Phantasie der Gelehrten herausforderte.15 Der Sachverhalt war folgender16: Die belgische Comtesse de Caraman-Chimay schloß die Ehe mit dem französischen Fürsten de Bauffremont. Sie erwarb durch diese Eheschließung ipso iure die französische und verlor die belgische Staatsangehörigkeit. Die Ehe wurde auf die Klage der Ehefrau in Frankreich im Jahre 1874 gerichtlich getrennt. Die Fürstin verließ Frankreich und zog nach Deutschland. Durch Einbürgerung im Herzogtum Sachsen-Altenburg erwarb sie am 3. Mai 1875 die Staatsangehörigkeit dieses Landes und damit zugleich die Reichsangehörigkeit. Am 24. Oktober 1875 heiratete sie vor dem Standesbeamten in Berlin den rumänischen Fürsten Bibesco. Der rechtliche Hintergrund des Falles war folgender. Zu jener Zeit kannte das französische Recht die Ehescheidung nicht, während II, 1, § 734 des Preußischen Allgemeinen Landrechts bestimmte: „Wird unter catholischen Ehegatten auf eine beständige Separation von Tisch und Bette erkannt: so hat dieses alle bürgerlichen Wirkungen einer gänzlichen Ehescheidung.“
Nach französischem Recht bedeutete der Erwerb einer ausländischen den Verlust der französischen Staatsangehörigkeit. Allerdings bedurfte die verheiratete Frau zum Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit der Zustimmung des Ehemannes. Auf die Klage des ersten Ehemannes erklärte das „Tribunal civil de la Seine“ am 10. März 1876 die zweite Ehe der Fürstin sowie ihre Einbürgerung im Herzogtum Sachsen-Altenburg für nichtig.17 Der „Appellationshof de Paris“ änderte dieses Urteil nur insoweit ab, als er feststellte, daß die Einbürgerung „inoposable au mari“ sei.18 Hier zeigte sich der Einfluß des Gutachtens von Bluntschli, der mit Erfolg einen Eingriff der erstinstanzlichen Entscheidung in die völkerrechtlich garantierte Souveränität von Sachsen-Altenburg gerügt hatte.19 Bluntschli hatte allerdings auch das Argument, das französische Recht verlange für den Erwerb der
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Vgl. Erik Jayme, Berühmte Rechtsfälle des Internationalen Privatrechts – Ein Projekt der Universität Messina, in: Praxis des internationalen Privat- und Verfahrensrecht (IPRax) 2001, S. 270 f. Bluntschli, Der Fall Bauffremont-Bibesco. Zur Beleuchtung der Mängel unserer Rechtszustände, in: Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben, 21. October 1876, Nr. 43, S. 257: „Bei der bekannten Neigung vieler Juristen zu scharfsinnigen Unterscheidung und rücksichtsloser logischer Schlussfolgerung wird man sich nicht allzu sehr verwundern, wenn zwölf Juristen, die den Fall gründlich behandeln, fünfzehn verschiedene Meinungen als vollbegründet kund geben“. Darstellung unter Verwendung der Ausführungen von Bluntschli, Deutsche Naturalisation, S. 3 ff. Journal du droit international privé et de la jurisprudence comparée 4 (1877), S. 350 ff. Journal du droit international privé et de la jurisprudence comparée 4 (1877), S. 352 f. Bluntschli, Deutsche Naturalisation, S. 5 ff.
Johann Kaspar Bluntschli (1808-1881) und das Internationale Privatrecht
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ausländischen Staatsangehörigkeit die Zustimmung des Ehemannes, zurückgewiesen: „Eine deutsche Regierung kann sich, ohne die völkerrechtlichen Rücksichten zu verletzen, und ohne der Bestimmung des Reichsgesetzes zu widerstreiten, bei dem Gedanken beruhigen, daß sie lediglich die natürliche, in Deutschland anerkannte Freiheit einer solchen Frau schütze, und dieselbe ebenso aufnehmen, wie einen der Klostersperre entgangenen fremden Mönch oder eine fremde Nonne“.20
Hier waren allerdings die französischen Gerichte anderer Auffassung. Der Kassationshof – das Urteil vom 18. 3. 1878 wurde zu einem der „grands arrêts“21 – bestätigte die Entscheidung des Appellationshofs Paris aber aus einem anderen Grund, nämlich der „fraude à la loi française“. Die Einbürgerung sei lediglich zu dem Zwecke geschehen, die Unauflöslichkeit der Ehe nach französischem Recht zu umgehen. Die französischen Entscheidungen hatten ein Nachspiel in Belgien, dem ursprünglichen Heimatstaat der Fürstin. Das belgische Recht sah die Auflösung der Ehe durch die Ehescheidung vor. Dementsprechend wurden die französischen Entscheidungen, welche die Kinder erster Ehe und das in Belgien belegene Vermögen betrafen, in Belgien nicht anerkannt.22 In Belgien folgte man Bluntschli, was eine heftige Kritik von französischer Seite hervorrief.23 Es ergab sich der klassische Fall zweier „hinkender“ Ehen; die erste war in Frankreich noch wirksam, in Deutschland aber aufgelöst, während die zweite in Frankreich nichtig, in Deutschland wirksam war. Bei den „Drittstaaten“ schlug sich Belgien auf die Seite Deutschlands, während die Lage in den anderen Staaten unklar blieb und zu vielen wissenschaftlichen Auseinandersetzungen führte.24
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24
Bluntschli, Deutsche Naturalisation, S. 24. Bertrand Ancel, Yves Lequette, Les grands arrêts de la jurisprudence française de droit international privé, Paris 2001, S. 49 ff. Tribunal civil de Charleroi, 3. 1. 1880, Journal du droit international privé et de la jurisprudence comparée 7 (1880), S. 215 ff., 217: „Attendue que la défenderesse ayant acquis la nationalité dans le duché de Saxe-Altenbourg et y étant domiciliée, c’est la legislation de ce pays qui determine son état personnel et sa capacité quant au marriage“. Louis Renault, L’affaire Bauffremont devant la justice belge, in: Journal du droit international privé et de la jurisprudence comparée 7 (1880), S. 178 ff. Für eine Wirksamkeit der zweiten Ehe in der Schweiz s. Ernest Lehr, Des conséquences juridiques de la naturalisation au point de vue du divorce, in: Journal du droit international privé et de la jurisprudence comparée 4 (1877), S. 114 ff., 120.
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Der Fall Bauffremont-Bibesco schlug Wellen in der Wissenschaft25 und hatte weitreichende Folgen. Frankreich führte die Ehescheidung wieder ein.26 Das Staatsangehörigkeitsrecht wurde geändert. War früher der Erwerb einer ausländischen Staatsangehörigkeit durch die verheiratete Französin von einer Zustimmung des Mannes abhängig, so wurde dieses Erfordernis durch das Gesetz vom 9. 2. 1893 für den Fall der gerichtlichen Ehetrennung gestrichen.27 Es konsolidierte sich im übrigen die Gesetzesumgehung („fraude à la loi“) als eigenständiges Prinzip des Internationalen Privatrechts als Schranke gegenüber der inländischen Wirkung im Ausland begründeter Rechtslagen.28 Hauptbeispiel wurde der Wechsel der Staatsangehörigkeit in der Absicht, die Folgen des früheren Heimatrechts zu umgehen.29 Die „fraus legis“ trat in den romanischen Ländern neben den „ordre public“30, nach welchem eine „Rechtsnorm eines anderen Staates nicht anzuwenden (ist), wenn ihre Anwendung zu einem Ergebnis führt, das mit wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts offensichtlich unvereinbar ist“ (Art. 6 Satz 1 EGBGB). Allerdings zeigt der im folgenden abgedruckte Brief Bluntschlis, daß die Entstehung des Prinzips der „fraus legis“ im Internationalen Privatrechts selbst auf der Verfälschung einer Urkunde beruhte. Der Brief enthüllt im übrigen viel von 25
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Aus dem umfänglichen Schrifttum siehe J.-E. Labbé, Une femme mariée à un Français et judiciairement séparée de corps peut-elle se faire naturaliser en pays étranger sans l’autorisation de son mari, ou de justice?, in: Journal du droit international privé et de la jurisprudence comparée 1875, S. 409 ff.; F. de Holtzendorff, Une femme française séparée de corps peut se faire naturaliser en pays étranger, notamment en Allemagne, sans autorisation maritale, et y contracter un second mariage, in: Journal du droit international privé et de la jurisprudence comparée 3 (1876), S. 13 ff.; J.-E. Labbé, De la naturalisation et du divorce au point de vue des rapports internationaux, in: Journal du droit international privé et de la jurisprudence comparée 4 (1877), S. 5 ff. Die im Code Napoléon vorgesehene Ehescheidung wurde 1816 wieder abgeschafft und erst 1884 wieder eingeführt, Murad Ferid, Das französische Zivilrecht, Bd. 2, Frankfurt/M. 1971, S. 1254, Rdnr. 4 B 267. Henri Boeuf, E. Boutand, Résumé de droit international privé, 2. Aufl., Paris 1907, S. 38 Fn. 1. Henri Batiffol, Paul Lagarde, Droit international privé, Bd. 1, 5. Aufl., Paris 1970, S. 439 f. Als Argument spielt die Gesetzesumgehung im Zusammenhang des Erwerbs einer ausländischen Staatsangehörigkeit immer wieder eine Rolle; siehe z. B. schweiz. BG, 6. 4. 2004, Zeitschrift für Vormundschaftswesen 2004, 260: Die Vaterschaftsklage eines 1955 geborenen Sohnes gegen den Nachlaß des Vaters wäre in der Schweiz gemäß Art. 308a ZGB verwirkt; der Sohn erwirbt die israelische Staatsangehörigkeit und erlangt ein israelisches Vaterschaftsurteil, weil das israelische Recht eine solche Frist nicht kennt. Das Bundesgericht entscheidet für die Anerkennung des Urteils; Art. 70 schweiz. IPRG sehe im Sinne eines „favor recognitionis“ mehrere Anknüpfungspunkte vor, weshalb eine Gesetzesumgehung nicht vorgelegen habe. Zum Verhältnis von Gesetzesumgehung und ordre public schreiben Batiffol/Lagarde, Droit international privé, S. 444: „[…] leurs différences de structure s’opposent à une assimilation de nature“.
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dem Charakter Bluntschlis. Es ist die Zeit nach dem Krieg mit Frankreich und der Gründung des deutschen Kaiserreiches. Sein Engagement galt der gerechten Sache; die Diplomatie aber verlangte Zurückhaltung. Diese Spannung zwischen der Rechtschaffenheit des Gelehrten und dem übergeordneten Ziel einer Verständigung mit dem in seinem Nationalstolz verletzten Frankreich gibt diesem Brief einen eigenen Zauber, der über das historische Interesse an diesem Zeitdokument hinausgeht.
IV. Ein Brief Bluntschlis an den Fürsten Bibesco Als lose Beilage zu dem in der Heidelberger Universitätsbibliothek befindlichen Exemplar des Gutachtens für die Fürstin Bibesco31 findet sich ein handschriftlicher Brief32 – in vergilbter Photokopie (?) – von Bluntschli an den Fürsten Bibesco vom 1. Mai 1876 mit folgendem Wortlaut: „Euer Durchlaucht haben mein Rechtsgutachten in der Streitsache zwischen dem Prinzen von Bauffrement und der Fürstin Ihrer Gema(h)lin mit so freundlicher und wohlwollender Gesinnung aufgenommen, daß ich Euer Durchlaucht zu lebhaftem Danke verpflichtet bin. Ich habe während des Studiums der schwierigen Frage ein inneres Interesse an der Sache der Fürstin gewonnen und es ist mir, je gründlicher ich die Verhältnisse kennen lernte, um so schwerer geworden, das neueste Verfahren des Pariser Tribunals de la Seine zu begreifen. Ich habe mit Absicht vermieden, das Verhalten des Staatsanwalts und des Gerichts einer Kritik zu unterwerfen, weil ich besorgte, es mögte die nationale Eigenliebe dadurch verletzt und gereizt werden. Wäre ich Franzose, so hätte ich das gethan. Ich halte mich aber für verpflichtet, Eure Durchlaucht von einer höchst bedenklichen, diplomatischen Ungehörigkeit, welche einem Beamten der französischen Gesandtschaft in Berlin zur Last fällt und die Ehre der Botschaft selber schwer compromittiert, Kenntnis zu geben, auf die ich erst später aufmerksam geworden bin. Als Hauptaktenstück liegt dem in Paris verhandelten Prozesse die Eheschließungsurkunde von Berlin vom 24. October 1875 zu Grunde, und zwar in einer von der französischen Gesandtschaft in Berlin beglaubigten französischen Übersetzung. Dieses beglaubigte Aktenstück ist falsch. Es sind in demselben gerade die Worte des Originals, welche für den Prozeß entscheidend sind, weggelassen worden. 31 32
Bluntschli, Deutsche Naturalisation. Der – soweit ersichtlich – bisher nicht veröffentlichte Brief ist wohl von einem Sekretär geschrieben und von Bluntschli nur unterschrieben worden. Das gut lesbare Schriftstück wird hier in einer Transkription des Verfassers dieses Beitrags vorgestellt.
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Diese höchst auffallende Weglassung kann nicht ein Versehen sein; sie muß absichtlich begangen sein; und die Absicht war offenbar die, vor den französischen Gerichten eine Thatsache zu verschweigen und zu verdunkeln, welche der Sache des Fürsten Bauffremont ungünstig, der Fürstin günstig war. Es ist das die Thatsache ihres Wohnorts in Deutschland. Hatte sie keinen Wohnsitz in Deutschland, so konnte ihre Naturalisation, wie es auch geschehen ist, als bloßer Schein zur Umgehung der französischen Gesetze dargestellt und betrachtet werden. Hatte sie einen Wohnort in Deutschland, so war ihre deutsche Naturalisation ein wirklicher Rechtsakt; und dann konnte das französische Gesetz die deutsche Frau nicht hindern, in eine zweite Ehe zu treten, welche das deutsche Recht gestattete. Das mir vorliegende deutsche Actenstück lautet an der entscheidenden Stelle: ´Die Frau Marie Henriette Valentine de Riquet Gräfin de Caraman-Chimay, separirte Fürstin de Bauffremont der Person nach in gleicher Weise wie der Herr Verlobte anerkannt römisch-katholischer Religion, sechs und dreißig Jahre alt, geboren zu Schloß Ménars Departement Lois & Cher, Frankreich, wohnhaft zu Altenburg und zu Berlin, Potzdamer Platz N.° 1, Tochter seiner Durchlaucht des Herrn Joseph Riquet, Fürsten de Caraman-Chimay`.
Die amtlich beglaubigte französische Uebersetzung (abgedruckt in beiden Gutachten der Professoren Labbé und Folleville) lautet ´Et Mme Marie-Henriette Valentine de Riquet, comtesse de Caraman-Chimay, princesse séparée de Bauffremont, don’t l’identité et certifiée de la même manière que celle du future époux, de religion catholique romaine, âgée de 36 ans, née au château de Ménars, departement du Loir-et-Cher, fille de Son Altesse Mr. Joseph de Riquet, prince de Caraman Chimay`.
Die Absicht der Weglassung sowohl des Wortes Frankreich bei Nennung des Geburtsorts als des Wohnsorts in Altenburg und Berlin in der französischen Übersetzung, d. h. die Absicht einer Fälschung des Textes wird gerade dadurch offenbar, daß die beiden Weglassungen an verschiedenen Stellen zusammenstimmen und beide die Thatsache, auf die es ankommt, gleichmäßig verdunkeln. Diese Fälschung ist von so schwerem Gewicht, daß ich eben deshalb verhindert worden bin, sie in dem Gutachten öffentlich zur Sprache zu bringen. Mir scheint, die Ehre der französischen Gesandtschaft ist dabei in hohem Grade betheiligt. Wenn die ungerechte und unwürdige Verfolgung der Fürstin durch den Prinzen Bauffremont und die französischen Behörden fortgesetzt wird, so muß dieser diplomatische Scandal der Welt zur Kunde kommen. Ich habe darüber geschwiegen, um die ohnehin gereizten Leidenschaften nicht zu steigern. Aber ich ermächtige Sie ausdrücklich, meinen Brief, sei es vertrauenswürdigen Personen vertraulich mitzutheilen, sei es nötigenfalls drucken zu lassen. Dies ist aber nicht Alles. In dem Berichte des Marquis de Sayve von der französischen Gesandtschaft in Berlin, der an das französische Ministerium des Auswärtigen gerichtet ist, und über den Fall Auskunft ertheilen soll, sind, abgesehen von jenem gefälschten Aktenstück, noch andere Dinge zu rügen, welche sämmt-
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lich einem unbetheiligten unparteiischen Beurtheiler den Eindruck machen, daß der Marquis de Sayve in leidenschaftlicher und parteiischer Weise die Thatsachen entstellt hat. Ich mache auf folgende Stellen aufmerksam: 1, der Marquis schreibt: ´Un tribunal français avait prononcé la séparation du prince et de la princesse de Bauffremont, et ce jugement a été suffisant`. Die Wahrheit ist, daß nicht blos ein französisches Gericht das Tribunal de la Seine die Separation ausgesprochen hatte, sondern ebenso die Cour d’appel und daß diese Urtheile auch von dem Cassationshof anerkannt waren. Also, alle drei Instanzen waren einig. Was bedeutet dann der geringfügige Ausdruck: ´un tribunal français`? 2, In demselben Berichte wird ausgesagt, daß der Maire von Ménars im Certificat unterm 4. Oktober 1874 ausgestellt habe, des Inhalts, daß die Prinzessin von Bauffremont ´est séparée de corps et biens, qu’elle joisit33 de tous les droits civils et qu’elle est apte à les exercer`. Das ächte, wieder durch Weglassung wichtiger Worte gefälschte Zeugniß des Maire von Ménars, lautet: daß die Gräfin von Caraman Chimay, separirte Prinzessin von Bauffremont, ´jouit de tous les droits civils que la loi lui confère et qu’elle est apte à les exercer`. Der Bericht des Marquis de Sayve erweckt den Verdacht, daß der Maire von Ménars in Widerspruch mit der französischen Gesetzgebung ein falsches Zeugniß gegeben und die Prinzessin dasselbe zur Täuschung der deutschen Behörden benutzt habe. Die Unredlichkeit ist auch hier nicht bei der Fürstin und nicht bei dem Maire sondern bei dem Berichterstatter zu finden. 3, In dem Rechtsgutachten habe ich bereits die unbegründeten und beleidigenden Ausfälle gegen die herzogliche Regierung von Sachsen-Altenburg erwähnt, welcher vorgeworfen wird, daß sie auf ungenügende Urkunde für leichtsinnig geglaubt habe oder habe glauben wollen, daß die Prinzessin dispositionsfähig sei. In Wahrheit hat die Regierung von Altenburg vollständige Kenntniß von den sämmtlichen Urtheilen der französischen Gerichtshöfe und von dem ganzen Verhältniß gehabt, als sie die Naturalisation ertheilte. Ihre angebliche Reue ist eine bloße Einbildung des Berichterstatters. Weder die Altenburger Behörden noch das Berliner Standesamt sind, wie der Bericht glauben machen will, getäuscht worden. Beide habe vollständige Kenntniß aller Prozeßacten des Separationsprozesses gehabt. 4, Endlich ist auch die Bemerkung über den griechischen Popen in Dresden, daß er sich ´absolument` geweigert habe, eine Copie des Trauungsaktes zu geben, insofern unrichtig, als der Pope lediglich den Consul, der die Copie verlangte, entweder an die russische Gesandtschaft oder an den Fürsten Bibesco gewiesen hatte, als diejenigen Personen, durch deren Vermittlung allein ein derartiges Aktenstück zu erhalten sei.
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Das hier verwandte Wort „joisit“ wurde belassen, wenngleich es weiter unten „jouit“ heißt.
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Heidelberg, den 1. Mai 1876.
Euer Durchlaucht mit ausgezeichneter Hochachtung ergebener Bluntschli“
V. Ausblick Der Fall „Bauffremont-Bibesco“ geistert noch immer durch das Internationale Privat- und Verfahrensrecht. Als der portugiesische Gesetzgeber in seiner jüngsten Reform des Zivilprozessrechts das Spiegelbildprinzip bei der Anerkennung ausländischer Urteile abschaffen wollte34, wurden Stimmen laut, welche u. a. auf den Fall Bauffremont-Bibesco hinwiesen. Deshalb wurde die Erschleichung („fraude à lei“) des ausländischen Gerichtsstandes als Hinderungsgrund für die Anerkennung ausländischer Urteile eingeführt (Art. 1096 lit. c) des portugiesischen Código de Processo Civil in der Fassung von 1997).35 Ferner ist die eigentümliche Verknüpfung von Völkerrecht und Internationalem Privatrecht durch das Staatsangehörigkeitsprinzip wieder aktuell geworden. Wieder war es ein Fall, welcher eine neue Sicht der Staatsangehörigkeit im Internationalen Privatrecht einleitete.36 Belgische Behörden hatten zwei Kinder eines spanisch-belgischen Ehepaares nach belgischem Recht mit dem Namen des spanischen Vaters in das Geburtsregister eingetragen. Vergeblich hatten sich die Eltern darum bemüht, daß die Kinder einen nach spanischem Recht gebildeten Doppelnamen, der sich aus einem Bestandteil des Vaternamens und dem Namen der Mutter zusammensetzt, erhielten. Der EuGH sah dies als einen Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Art. 12 EGV und die Rechte aus der Unionsbürgerschaft (Art. 17 EGV) an. Ungleiches dürfe nicht gleich behandelt werden. Spanische Doppelstaater dürfen nicht belgischen Monostaatern gleichgestellt werden. Wieder ist es die übergreifende staats- und völkerrechtliche Bedeutung der Staatsangehörigkeit, welche Fragen des Internationalen Privatrecht beeinflusst. Bluntschlis weitgespannte Ideenwelt bildet auch heute noch eine Fundgrube für Argumente und Lösungen für grenzüberschreitende Privatrechtssachverhalte. Es ist die völkerrechtliche Sicht, welche dem Internationale Privatrecht neue Überlegungen zuführt. Hinzu tritt Bluntschlis sicheres Gefühl für ein vernünftiges Ergebnis, den richtigen Ausgleich zwischen Theorie und Praxis.
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Vgl. für das deutsche Recht § 328 Abs. 1 Nr. 1 ZPO. Acta No. 90 (17. 2. 1987), Comissão da Revisão do Código de Processo Civil, in: Boletim do Ministério da Justiça Band 417 (1992), S. 53 ff., 68. Siehe auch Christian Schindler, Durchbrechungen des Spiegelbildprinzips bei der Anerkennung ausländischer Entscheidungen unter vergleichender Berücksichtigung des portugiesischen und des brasilianischen Rechts, Aachen 2004, S. 75 ff., 82 Fn. 342. EuGH, 2. 10. 2003, IPRax 2004, S. 339; vgl. hierzu Juliana Mörsdorf-Schulte, Europäische Impulse für Namen und Status des Mehrstaaters, in: IPRax 2004, S. 315 ff.
Frühe territoriale Hofgerichtsordnungen Bernd-Rüdiger Kern
A. Einführung Bald nach seinem Amtsantritt in Heidelberg richtete sich das rechtshistorische Interesse von Adolf Laufs auf die höchste Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Folgerichtig gehört er seit 1973 zu den Herausgebern der Reihe „Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich“1. Die von ihm übernommene Aufgabe, „die gesetzlichen Grundlagen für die Tätigkeit des Reichskammergerichts […] durch eine kritische Neuedition der Reiskammergerichtsordnung (sic!) von 1548/55 […] nebst den dazugehörigen Materialien“ zu erschließen2, erledigte er – zumindest in einem bedeutenden Teilbereich – rasch. Schon 1976 erschien als Band 3 der Reihe die von ihm eingeleitete und edierte „Reichskammergerichtsordnung von 1555“. Dieses Interesse fand auch seinen Niederschlag in einer von ihm angeregten Dissertation. Im Sommersemester 1980 wurde Bettina Dick mit einer Arbeit über „Die Entwicklung des Kameralprozesses nach den Ordnungen von 1495 bis 1555“3 promoviert. Und, obwohl er sich alsbald anderen Themen zuwandte, bearbeitete er 1986 noch zwei einschlägige Stichworte für das Handwörterbuch zur Rechtsgeschichte4. Auffällig ist hingegen die Abstinenz bezüglich der höchsten Gerichtsbarkeit in den Territorien. Obwohl seine frühen rechtshistorischen Werke nicht zuletzt territoriale Themen behandeln, blieb dieser Aspekt in seinem Œuvre ausgeblendet. Als allerdings die Habilitationsschrift des Verfassers zur Veröffentlichung anstand, eröffnete Adolf Laufs ihr den Zugang zu der oben genannten Reihe5. Auch den Aufsatz „Die Appellation in Kurpfälzer und verwandten Rechtsquellen des 15. Jahrhunderts“ nahm er zur Veröffentlichung an6. 1
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Hanns Wohlgemuth, Das Urkundenwesen des deutschen Reichshofgerichts 1273-1378: eine kanzleigeschichtliche Studie, Bd. 1, Köln u. a. 1973 (zugl. Univ. Breslau., Habil. Schr. 1936). Zur Einführung in die Reihe, Bd. 1, S. VIII. Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 10, Köln u. a. 1981. Artikel „Reichskammergericht“, in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. 4 (1990), Sp. 655-662; und Artikel „Reichsreform“, in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), HRG, Bd. 4 (1990), Sp. 732-739. Bernd-Rüdiger Kern, Die Gerichtsordnungen des Kurpfälzer Landrechts von 1582 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich, Bd. 23), Köln u. a. 1991. In: ZRG Germ. Abt. 106 (1989), S. 115-142.
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Bernd-Rüdiger Kern
Einer der Gründe für diese Enthaltsamkeit mag in der Behauptung zu finden sein, daß die territorialen Hofgerichtsordnungen den Kammergerichtsordnungen nachgebildet7 und deshalb weithin für die rechtshistorische Forschung unergiebig oder doch allenfalls von nachrangigem Interesse seien. Das mag für die Mehrzahl der territorialen Ordnungen mehr oder weniger richtig sein – Zweifel seien allerdings auch insoweit angemeldet – (zumal die Appellation an das Reichskammergericht einen Instanzenzug im Territorium voraussetzte8) –, trifft hingegen für die wenigen älteren Hofgerichtsordnungen nicht zu. So stammt z. B. die Hofgerichtsordnung Württembergs aus dem Jahre 14609, die der Kurpfalz aus dem Jahre 146210 und die sächsische Oberhofgerichtsordnung aus dem Jahre 148311. Da zwei der genannten Territorien Kurfürstentümer waren, scheint es von Interesse zu sein, die übrigen Kurfürstentümer in die Untersuchung miteinzubeziehen. Ein Vergleich der territorialen Ordnungen untereinander ist bislang allenfalls in Ansätzen erfolgt. Er sei im folgenden – wenn auch auf einzelne Fragestellungen beschränkt – versucht.
B. Die Hofgerichtsordnungen der Kurfürstentümer I. Allgemein Verhältnismäßig früh erließ Preußen eine Kammergerichtsordnung. Zwar stammt der älteste überlieferte Text zu einem Ordnungsentwurf erst aus dem Jahre 151612, aber andere Quellenbelege erlauben eine Rückdatierung auf die Zeit vor 1495. Schon in einer Urkunde vom 17. März 1468 wird das „oberste Hofgericht“ des Landesherrn als „Kammergericht“ bezeichnet13. Ebenfalls aus dem Jahre 1516 stammt die Kurmainzer Hofgerichtsordnung. Anachronistisch spät wurde die böh7
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Hier seien nur Monika Rose, Das Gerichtswesen des Herzogtums Pfalz-Zweibrücken im 18. Jahrhundert (Rechtshistorische Reihe, Bd. 120), Frankfurt/M. 1994, S. 21; und Kern, Gerichtsordnungen, S. 316, genannt. Rose, Das Gerichtswesen des Herzogtums Pfalz-Zweibrücken, S. 20 f. Vgl. dazu Siegfried Frey, Das württembergische Hofgericht (1460-1618) (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B Forschungen, Bd. 113), Stuttgart 1989, S. 14-23. Vgl. dazu Kern, Gerichtsordnungen, S. 145. Text: Karl Gottlob Günther, Das Privilegium de non appellando des Kur- und Fürstlichen Hauses Sachsen, Beilage Nr. 5, Dresden, Leipzig 1788, S. 96-108. Vgl. dazu BerndRüdiger Kern, Leipzig als Stadt des Rechts, in: ZZP 1998, S. 261-274, 266; und Heiner Lück, Die kursächsische Gerichtsverfassung 1423-1550 (Forschungen zur Deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 17), Köln u. a. 1997, S. 120-127. Text bei Christian Otto Mylius (Hrsg.), Corpus Constitutionum Marchicarum, oder Königl. Preußis. und Churfürstl. Brandenburgische in der Chur- und Marck Brandenburg, auch incorporirten Landen, Bd. 2, Berlin, Halle, 1736, Sp. 1-20. Zitiert nach Eberhard Schmidt, Kammergericht und Rechtsstaat. Eine Erinnerungsschrift (Schriftenreihe der Juristischen Gesellschaft e. V. Berlin, Heft 31), Berlin 1968, S. 3.
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mische Appellationskammer erst 1548 errichtet und mit einer sehr aussagearmen Ordnung versehen14. Auch die österreichischen Hofgerichtsordnungen stammen erst aus dieser Zeit. Über die Gründe für die zeitliche Abfolge läßt sich nur spekulieren. Kurpfalz und Kursachsen waren als Reichsvikare gemäß Art. V der Goldenen Bulle von 1356 schon früh mit überregionaler Gerichtsbarkeit befaßt15. Die geistlichen Kurfürstentümer übten geistliche Gerichtsbarkeit aus, die zunächst auch für die territorialen Belange ausreichend gewesen sein mag. Böhmen hingegen konnte sich erst spät gegen die Gerichtshoheit der Stadt Prag durchsetzen, die lange Zeit eine starke Position im Verhältnis zum Landesherrn behauptete. Im folgenden sollen die Ordnungen von Kursachsen und Kurbrandenburg sowie die der Kurpfalz miteinander verglichen werden. Weitere frühe Ordnungen werden gelegentlich mitherangezogen. Der Vergleich ist freilich nicht einfach, weil die Ordnungen nicht zur gleichen Zeit erschienen sind. In den ersten 30 bis 50 Jahren der modernen Hofgerichtsbarkeit sind schnell zahlreiche Veränderungen eingetreten, die in aller Regel ihren Niederschlag entweder in Reformationen der Ordnungen fanden oder doch zumindest in Ergänzungen. So erging die zweite württembergische Ordnung schon 147516, die zweite kurpfälzische 1476-148017. Hinzukommt, daß alle Ordnungen der ersten Generation verlorengegangen sind und allenfalls aus einzelnen Vorschriften, Urteilen und den jüngeren Texten rekonstruiert werden können18. Der Vergleich wird nicht durch den Umstand erleichtert, daß die landesherrliche Gerichtsbarkeit, die auch alte Hofgerichtsbarkeit genannt wird19, weit über den hier behandelten Zeitraum hinaus zurückreicht20 und einige Abgrenzungs- und Definitionsschwierigkeiten hervorruft. Für die zitierte preußische Quelle von 1468 z. B. ist die Zuordnung nicht gesichert. Auch für Württemberg bestehen Zweifel, ob es sich vor 1514 wirklich schon um ein modernes Hofgericht handelte21.
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Instruktion auf die Räte so über den Appellationenn sitzenn sollenn; Archiv Ministerstvo vnitra v Praze, Nr. 43. Vgl. dazu Bernd-Rüdiger Kern, Die Gerichtsbarkeit der Reichsvikare, in: Friedrich Battenberg, Filippo Ranieri (Hrsg.), Geschichte der Zentraljustiz in Mitteleuropa. Festschrift für Bernhard Diestelkamp zum 65. Geburtstag, Köln u. a. 1994, S. 131-146. Vgl. dazu Frey, Das württembergische Hofgericht, S. 23-32. Kern, Gerichtsordnungen, S. 305-318. Kern, Gerichtsordnungen, S. 294-305. Vgl. dazu Carl Blell, Artikel „Hofgericht“, in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), HRG, Bd. 2 (1972), Sp. 206-209, 207. Für Sachsen vgl. Heiner Lück, Die Anfänge der kursächsischen Hofgerichte, in: Gerhard Lingelbach/Heiner Lück (Hrsg.), Deutsches Recht zwischen Sachsenspiegel und Aufklärung. Rolf Lieberwirth zum 70. Geburtstag dargebracht von Schülern, Freunden und Kollegen (Rechtshistorische Reihe, Bd. 80), Frankfurt/M. u. a. 1991, S. 53-67. Bernd-Rüdiger Kern, Rez. zu Siegfried Frey, Das württembergische Hofgericht, in: Zs für Württembergische Landesgeschichte 50 (1991), S. 473 f.
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II. Allgemeiner Regelungsgehalt und Umfang Die Hofgerichtsordnungen der drei untersuchten weltlichen Kurfürstentümer unterscheiden sich stark in inhaltlicher Hinsicht und im Aufbau. Ihr Umfang fällt sehr unterschiedlich aus, was indessen nicht lediglich bedeutet, daß einige regelungsgenauer sind als andere. Vielmehr gibt es in den Ordnungen ganze Regelungsgruppen, die in den jeweils anderen fehlen. Der unterschiedliche Aufbau mag daran liegen, daß es sich bei den überlieferten Texten nicht unbedingt um die Urfassungen handelt. Wurden Ergänzungen vorgenommen, wurden sie in der Regel an das Ende der Ordnung gesetzt, nicht in den sachlichen Zusammenhang gestellt22. Das zeigt sich insbesondere an der durchgängig, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, erfolgten Berücksichtigung der Ordnung des königlichen Kammergerichts von 147123, die für die frühen Hofgerichtsordnungen wohl bedeutsamer war als die Reichskammergerichtsordnung von 1495. Der kurpfälzischen Hofgerichtsordnung von 1462 konnte sie noch nicht zugrundeliegen. Sie wird aber auch von der sächsischen Oberhofgerichtsordnung von 1488 noch weitgehend ignoriert24, während die kurpfälzische Gerichtsordnung sie 1476-1480 nachträglich eingeführt und angehängt hat, wobei die Ordnung wesentlich verändert wurde25. Auch der preußische Entwurf von 1516 berücksichtigt die königliche Kammergerichtsordnung; die kursächsische Wittenberger Hofgerichtsordnung26 ist sogar im Aufbau stark durch diese Ordnung geprägt; die ersten neun Vorschriften des sächsischen Gesetzes folgen inhaltlich den ersten 9 §§ der kKGO von 1471. III. Einzelne Regelungsinhalte 1. Besetzung Alle drei Ordnungen enthalten Vorschriften über die Besetzung des Hofgerichts. Übereinstimmung besteht auch hinsichtlich der Teilung der Ämter in Hofrichter und Beisitzer. Wie die Person des Hofrichters und die Anzahl sowie die Herkunft der Beisitzer zu bestimmen sind, ist unterschiedlich geregelt. In der kurpfälzischen Ordnung wird der Hofrichter vom Landesherrn aus seinen Räten bestimmt (Art. 6)27, nach der sächsischen Ordnung wird einer der drei Ritter 22 23
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Vgl. für die Kurpfalz Kern, Gerichtsordnungen, S. 303. Text bei Karl Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 1. Teil, 2. Aufl., Tübingen 1913, S. 270-273. Anders Lück, Die kursächsische Gerichtsverfassung, S. 120. Vgl. dazu Kern, Gerichtsordnungen, S. 303, 306, 310, 315-318. Text: Codex Augustaeus, Bd. 2, Leipzig 1724, Sp. 1333-1346. In der Artikelzählung zeigt sich ein weiteres Problem des Vergleichs. Alle hier besprochenen Ordnungen weisen keine Einteilung in Artikel oder Paragraphen auf. Im folgenden wird daher nach einer nicht immer eindeutig vorzunehmenden nachträglichen Zählung oder nach nicht immer vorhandenen Über- oder Nebenschriften sowie nach den Seitenangaben der Quellentexte zitiert.
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„zw Hoferichter verordent“ (Art. 1)28. Ähnlich lautet die Vorschrift in Preußen, wo indessen nicht sicher ist, ob der Landesherr nicht noch selbst als Hofrichter amtete29; jedenfalls behält er sich den Anspruch vor: „Und so Wir durch Unser selbs Persohn benannt Unser Cammer Gericht als der Landes Fürst und Richter nicht besitzen werden, wollen Wir zu jederzeit einen aus den 12 Beysitzern Unsers Gefallens zu Richter an unser statt ordnen und setzen“ (Art. 1)30.
In der Kurpfalz gehören dem Gericht außer dem Hofrichter31 noch sechs ständige Beisitzer an (Art. 8)32 unter ihnen „zwen oder drey doctores“. Hinzu kommen für die Sitzungsperioden sechs weitere Räte, wohl je zur Hälfte doctores und von Adel33. Die sächsische Ordnung von 1483 sieht gleichfalls 12, die von 1488 hingegen nur neun Beisitzer vor, die preußische zwölf, wobei jeweils der Hofrichter aus ihrer Mitte genommen wird. Die Zahl neun für das Leipziger Oberhofgericht verwundert. Zwar ist diese Zahl auch sonst gebräuchlich, aber eher in den Hofgerichten kleinerer Territorien, wie z. B. im Amberger34, aber auch im württembergischen35 Hofgericht. Das Leipziger Oberhofgericht hingegen war das Gericht für ein durchaus beachtliches Territorium36. Noch mehr verwundert, daß das Wittenberger Hofgericht für nur eine Linie sowohl nach der Ordnung von 1529 (Art. 1)37 als auch nach der von 155038 zwölf Beisitzer aufwies. Die bemerkenswertesten Abweichungen hingegen gibt es bei der Bestimmung der Beisitzer. In der kurpfälzischen Ordnung wird lediglich nach gelehrten und adeligen Beisitzern unterschieden. Die sächsische Ordnung von 1488 weist eine weitere Differenzierung auf: „drey Ritter, drey Doctores, unnd drey aus der Ritterschafft“ (Art. 1)39. Die Wittenberger Ordnung von 1529 hingegen kennt nur „vier gelarte und acht von Adel“ (Art. 1)40. 28
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Günther, Das Privilegium de non appellando des Kur- und Fürstlichen Hauses Sachsen, S. 97. Das gilt weniger deutlich auch für die Kurpfalz; vgl. dazu Klaus Bender, Die Hofgerichtsordnung Kurfürst Philipps (1476-1508) für die Pfalzgrafschaft bei Rhein, Diss. jur. Mainz 1967, S. 75: „an unser statt ob wir selbs nit zu gegen sin“. Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum, Bd. 2, Sp. 3. Vgl. dazu auch Bender, Die Hofgerichtsordnung Kurfürst Philipps, S. 28-31. Bender, Die Hofgerichtsordnung Kurfürst Philipps, S. 28, 78. Die Aufteilung findet sich auch in der württembergischen Ordnung; vgl. Frey, Das württembergische Hofgericht, S. 29. Vgl. dazu Kern, Gerichtsordnungen S. 324-327. Frey, Das württembergische Hofgericht, S. 29. Die Ordnung von 1488 legt in Art. 10 ausdrücklich fest, daß „dy zwey Hofegerichte zw Dreßdenn und Eckersperge abgethann werddenn“; Günther, Das Privilegium de non appellando des Kur- und Fürstlichen Hauses Sachsen, S. 99. Codex Augustaeus, Bd. 2, Leipzig 1724, Sp. 1333-1336, 1333. Codex Augustaeus, Bd. 2, Leipzig 1724, Sp. 1337-1346, 1337. Günther, Das Privilegium de non appellando des Kur- und Fürstlichen Hauses Sachsen, S. 96 f. 1483 betrug die Anzahl noch 12 in der Aufteilung zu je vier. Codex Augustaeus, Bd. 2, Leipzig 1724, Sp. 1333.
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Diese weitere Aufteilung des Laienelements in der sächsischen Ordnung von 1488 hat die rechtshistorische Forschung bisher nicht befriedigend erklären können. Lück41 unterteilt in Ritter, doctores iuris und Angehörige des niederen Adels42, wobei jede Erklärung für die Unterscheidung von Rittern und Angehörigen des niederen Adels fehlt. Der angeführte Lösungsansatz beruht darauf, daß immer nur die Unterscheidung zwischen Laien und Gelehrten zur Erklärung herangezogen wurde, was indessen zu keinem Ergebnis führt. Insoweit dürfte der Rechtsvergleich mit Preußen und Württemberg hilfreich sein. Der preußische Entwurf nennt die Rechtsgelehrten nicht ausdrücklich, weist aber eine vergleichbare Aufteilung der Beisitzer auf wie die sächsische Ordnung von 1488: „der Wir Vier aus Unsern Räthen darzu verordnen, zween von wegen unser Prälaten, Graffen und Herrn, Vier aus der Ritterschafft, nemlich einer aus der Alten, der ander aus der Mittel, der dritte aus der Neumarck und der vierdte aus der Prigniz und zween von den Städten wegen“ (Art. 1)43.
Aus der preußischen Ordnung wird deutlich, daß es vordergründig gar nicht um die Frage der Gelehrten- und Adelsbeteiligung ging, sondern um den Einfluß des Landesherrn und der Landstände. Daß die drei Bänke der preußischen Landstände ihre Mitwirkung durchsetzen konnten, zeigt der Text deutlich. Vor diesem Hintergrund handelt es sich auch in Sachsen nicht lediglich um die Verteilung des Gewichts zwischen Juristen und adeligen Laien, sondern darüber hinaus auch noch darum, wer die Adeligen entsendet. In Sachsen sind vier Beisitzer die Vertreter des oder der Landesherrn (Ritter) und vier Beisitzer solche der Landstände (aus der Ritterschaft). Die Zuordnung der Juristen ist nicht erwähnt. Für dieses Ergebnis lassen sich noch vier weitere Gesichtspunkte anführen. Der Hofrichter wurde der Gruppe der Ritter entnommen, also den vom Landesherrn bestimmten Beisitzern, nicht unter denen aus der Ritterschaft stammenden gewählt. Daß die Juristen nicht für dieses Amt in Frage kamen, ist hingegen ständisch zu erklären. Das zeigt im Vergleich die Reichskammergerichtsordnung von 1495, die insoweit auch den Adel bevorzugt. Für die Richtigkeit spricht auch die Entwicklung des württembergischen Hofgerichts. Obwohl Württemberg über ausgeprägt starke Landstände verfügte, besetzte der Herzog sein Hofgericht zunächst ohne ihre Mitwirkung44. Gegen diese Praxis, insbesondere gegen die zu starke Berücksichtigung der Juristen, opponierten die Landstände lange vergeblich, bis es ihnen 1514 im Tübinger Nebenab-
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Lück, Die kursächsische Gerichtsverfassung, S. 120. So auch schon Adolf Lobe, Ursprung und Entwickelung der höchsten sächsischen Gerichte. Ein Beitrag zur Geschichte der sächsischen Rechtspflege, 1905, S. 29. Er gibt die Besetzung wie folgt wieder: „4 Ritter, 4 Doctores iuris und 4 vom niederen Adel (simplices nobiles)“. Für diese Formulierung führt er keinen Beleg an. Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum, Bd. 2, Sp. 3. Frey, Das württembergische Hofgericht, S. 29, 31.
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schied gelang, ihre Forderung durchzusetzen45, daß „ouch das hofgericht mit räten der landschaft besetzt werden soll“46. Sehr eindeutig fällt auch die vergleichbare Entwicklung in Wittenberg aus. Heißt es 1529 lapidar „Vier gelarte und acht von Adel“47, so lautet der Text 1550 an derselben Stelle: „Fünf Gelährte, und sieben vom Adel und der Landschafft“48. Zwischen beiden Ordnungen liegt der Übergang Wittenbergs von der ernestinischen auf die albertinische Linie. Da die Oberpfalz im Gegensatz zur Kurpfalz über ausgeprägt starke Landstände verfügte49, ist es von Interesse, wie diese Frage in der Amberger Hofgerichtsordnung von 149950 geregelt wurde. Der bemerkenswerte Befund ist der, daß die entsprechenden Vorschriften in der Amberger Hofgerichtsordnung fehlen51. Das spricht dafür, daß es zu keiner Einigung zwischen dem Landesherren und den Landständen kam und demzufolge die Regelung ausgespart blieb. Gegen dieses Ergebnis spricht auch nicht das diesbezügliche Schweigen der Reichskammergerichtsordnung von 1495. Die regionale und reichsständische Herkunft der Assessoren war im Detail geregelt, so daß für diese Problemlösung kein Raum blieb, und sich wohl auch demzufolge die Fragestellung in der Wissenschaft auf die Abgrenzung Juristen/Laien reduzierte. 2. Anzuwendendes Recht Das Eindringen der Juristen in die Hofgerichtsbarkeit wird generell für die Durchsetzung des römischen Rechts in Deutschland verantwortlich gemacht. Im folgenden soll untersucht werden, ob sich das an den untersuchten Quellentexten verifizieren läßt. Die Kurpfälzer Hofgerichtsordnung, die ja schon sehr früh einen starken Anteil an Juristen aufweist, schweigt sich zum anzuwendenden Recht aus52. Ursache dafür dürfte der Umstand sein, daß sich 1462, aber auch noch 1480, das römische Recht noch so wenig durchgesetzt hatte, daß sich die Frage gar nicht erst stellte. Die sächsische Ordnung von 1488 hingegen regelt die Frage – in einer auf die Reichskammergerichtsordnung von 1495 vorgreifenden Weise53 – zugunsten des 45 46 47 48 49 50 51
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Frey, Das württembergische Hofgericht, S. 33 f. Zitiert nach Frey, Das württembergische Hofgericht, S. 33. Art. 1; Codex Augustaeus, Bd. 2, Leipzig 1724, Sp. 1333. Art. 1; Codex Augustaeus, Bd. 2, Leipzig 1724, Sp. 1337. Vgl. dazu Kern, Gerichtsordnungen, S. 81-86. Vgl. dazu Kern, Gerichtsordnungen, S. 324-327. Vgl. dazu Bender, Die Hofgerichtsordnung Kurfürst Philipps, S. 76 Anm. 1, 78 Anm. 1 und 2. Die Ansicht Benders (Die Hofgerichtsordnung Kurfürst Philipps, S. 25f.), die Amtspflichten des Hofrichters „folgten zunächst aus dem kaiserlichen sowie dem päpstlichen Recht, und in zweiter Linie aus dem Territorialrecht der Kurpfalz“, findet keine Stütze in dem als Beleg angeführten Quellentext. Auch wird nicht deutlich, ob er materielles Recht und Prozessrecht sauber unterscheidet. Allerdings in einer selbständigen Vorschrift, nicht als Bestandteil des Eides.
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einheimischen Rechts. Die kaiserlichen Rechte kommen nur subsidiär zur Anwendung, vorrangig wohl nur als Auslegungshilfe: „Es sollenn auch alle Sachenn vor dem gerichte noch Sechßigischenn Rechtenn, wo das rechtlich und bestendigk, außgedruckt, vorsprochenn werden, wo es aber vnausgedrucket tunkel adder vnvornemlich ist, Sal es erföllunge vnd dewtunge nach gemeynenn rechtenn nehmenn.“54
Während die Wittenberger Ordnung von 1529 keine entsprechende Vorschrift kennt, findet sich 1550 eine entsprechende Lösung: „Sächsische Rechte, so fern die nicht wider GOttes Wort, und von der Christlichen Kirchen nicht abgethan seyn, sollen gehalten werden, und in welchen Fällen, das Sächsische Recht, nicht sonderlich ordnet und statuiret, sollen die gemeine geschriebene Rechte gebrauchet werden."55
Bei einer vergleichbar laienfreundlichen Besetzung kommt der Entwurf für die preußische Kammergerichtsordnung von 1516 zu einem bemerkenswert anderen Ergebnis, jedenfalls in der Grundentscheidung: „setzen Wir daß hinführo in Unserm Cammer Gericht Fürstenthum Landen und gebieten gemeine Kayserliche Recht gehalten und darnach gesprochen werden soll“56.
Dabei handelt es sich möglicherweise insbesondere um die Durchsetzung eines konkreten Erbrechtsinstituts, des gesetzlichen Erbrechts der Enkel bei vorverstorbenen Kindern, des Eintrittsrechts der Enkel57. Diese Erbfolge wird ausdrücklich in der Ordnung genannt und breit begründet und ausgeführt. Das soll geschehen „laut gemeiner geschriebenen Recht, unangesehn das Sächsischer Recht und die Gewohnheit, so bisher, in dem Lande dawieder gehalten“58.
Dafür, daß die Anwendung des römischen Rechts auf dieses eine Erbrechtsinstitut beschränkt ist, spricht der Wortlaut des Schlußartikels (Art. 57), der in völligem Widerspruch zu Art. 13 steht: „Wir wollen auch daß alle Constitution und Gewohnheit der Lande in den Erbfällen ausgenommen den Articul in Kayserl. Majest. und des Reichs Ordnung ausgedruckt und publiciret, in ihren Würden bleiben und mit dieser Unser Gerichts Ordnung nicht uffgehoben seyn soll.“59
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Art. 31; Günther, Das Privilegium de non appellando des Kur- und Fürstlichen Hauses Sachsen, S. 105. Art. 13; Codex Augustaeus, Bd. 2, Leipzig 1724, Sp. 1340. Art. 34; Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum, Bd. 2, Sp. 10. Vgl. dazu Adalbert Erler, Artikel „Eintrittsrecht“, in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), HRG, Bd. 1 (1967), Sp. 908-910. Art. 35; Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum, Bd. 2, Sp. 10. Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum, Bd. 2, Sp. 19 f.
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Für die grundsätzliche Beibehaltung des einheimischen Rechts spricht auch die sehr umfängliche Säumnisregel der Ordnung (Art. 53 „Wie man wieder die ungehorsahman handeln und procediren soll“)60, die vollinhaltlich der deutschrechtlichen rechten Gewere entspricht und den Begriff, der im 16. Jahrhundert schon ungebräuchlich zu werden begann, sieben mal verwendet61. Für die Frage der Anwendung des deutschen Rechts geben die hier berücksichtigten Quellen eine deutliche Auskunft. Je stärker die Juristenbeteiligung wird, desto stärker wird die Anerkennung des römischen Rechts. Die beiden süddeutschen Quellen beteiligen die Rechtsgelehrten zur Hälfte, in beiden Territorien findet sich auch eine deutlichere Hinwendung zum römischen Recht. In den nordund mitteldeutschen Territorien behält der Adel eine bevorrechtigte Stellung; das gilt auch für das heimische Recht. Offen bleibt allerdings, welcher Faktor der entscheidende ist. Führt die starke Heranziehung von Juristen zu einer Bevorzugung des römischen Rechts oder verlangt das Festhalten am Sächsischen Recht die Bevorzugung des Adels? Daß die Wittenberger Ordnung von 1550 das Gewicht des Juristenstandes verstärkt, ohne daß es zu einer größeren Bedeutung des römischen Rechts kommt, spricht eher dafür, daß die vollzogene Rezeption in stärkerem Maße nach Juristen in den Obergerichten verlangt. Für die sächsischen Länder ist allerdings auch zu berücksichtigen, daß hier früh das einheimische Recht in den Unterrichtsplan aufgenommen wurde62, so daß die Gleichsetzung von stärkerer Juristenbeteiligung und Bevorzugung des römischen Rechts jedenfalls für die Mitte des 16. Jahrhunderts nicht (mehr?) gilt. Hingegen kommt der ständischen Beteiligung wohl keine oder allenfalls eine geringe Bedeutung zu. Die Trennlinie zwischen stärkerer und schwächerer Anerkennung des römischen Rechts verläuft nicht zwischen den Hofgerichten, die über ständisch bestimmte Beisitzer verfügen und solchen, bei denen das nicht der Fall ist. 3. Deutschrechtliche Institute in den Gerichtsordnungen Der soeben aufgezeigte Befund wirft die Frage auf, inwieweit auch das Prozeßrecht der Hofgerichtsordnungen noch deutschrechtliche Elemente aufweist, wobei selbstverständlich die Appellation, die eine der Mitursachen für die moderne Hofgerichtsbarkeit ist63, aus dem italienisch-kanonischen Prozeßrecht stammt. Auf die Säumnisregelung im preußischen Recht wurde schon hingewiesen. Für die Kur-
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Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum, Bd. 2, Sp. 14-17. Er wird auch in Art. 46 benutzt, der von Grundstücken handelt, in denen keine Partei „in geruhsamer Wehr gesessen“; Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum, Bd. 2, Sp. 13. Vgl. dazu Bernd-Rüdiger Kern, Der deutschrechtliche Unterricht an den sächsisch-thüringischen Universitäten bis 1900, Leipziger Juristische Vorträge, Heft 30, 1997, S. 19 f. Vgl. dazu Kern, in: ZRG Germ. Abt. 106 (1989), S. 115, 136.
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pfälzer Hofgerichtsordnung gilt entfernt vergleichbares64, wohingegen allen sächsischen Ordnungen eine Regelung der Säumnis fehlt. In der Kurpfälzer Hofgerichtsordnung finden sich noch Regeln über den Fürsprecher, insbesondere die, daß er aus dem Kreis der Beisitzer genommen werden kann65. Das der solche fursprechen erlangen will zuvor globen unnd zu den heiligen swere so ferre er des nit erlassen wirt das er allen muglichen fliß getan habe ein fursprechen zu erlangen mit dem er gemeint het versorgt sin und den nit habe mogen bekommen und darin sich keiner geferden gebruch etc. so soll Ime ein fursprech uß dem Ringe folgen.
Überraschend lange hielt sich der Fürsprecher im Appellationsverfahren für die fränkischen Deutschordensgebiete. Hier findet sich der Fürsprecher noch nach 152566. Alle nach der königlichen Kammergerichtsordnung von 1471 erlassenen Ordnungen enthalten Regeln über Advokaten und Prokuratoren, das gilt auch für die geänderte Fassung der pfälzischen Hofgerichtsordnung von 1476-148067. Während die Kurpfälzer Ordnung die neuen Gerichtspersonen in einem geschlossenen Block regelt, tauchen beide in der Leipziger Oberhofgerichtsordnung von 1488 nur sporadisch, ohne umfassende Regelung auf. Ob es neben Advokaten und Prokuratoren noch den Fürsprecher gibt, wird nicht deutlich, ist aber schon deshalb unwahrscheinlich, weil der Fürsprecher ein fränkisches Rechtsinstitut ist68. Im Armenrecht werden „Advocaten unnd Reddner“ genannt69, an anderer Stelle heißt es „Reddener, adder procuratorem“70. Seltener taucht die Doppelung „procurator adder Advocat“ auf71. Jedenfalls sollte keine Partei mehr als einen Redner und zwei Advokaten haben. Auch in der Wittenberger Ordnung von 1529 wird der Procurator kurz erwähnt72, aber nicht mehr als Redner bezeichnet. Die Wittenberger Ordnung von 155073 sowie der preußische Entwurf74 enthalten breite Regelungen, was die endgültige Durchsetzung des Advokaten und des Prokurators beweist.
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Vgl. dazu Bender, Die Hofgerichtsordnung Kurfürst Philipps, S. 84 f.; und Kern, Gerichtsordnungen, S. 312 f. Vgl. dazu Kern, Gerichtsordnungen, S. 297 f. Vgl. dazu Kern, in: ZRG Germ. Abt. 106 (1989), S. 115, 131 f.; Text: § 10, S. 142. Vgl. dazu Kern, Gerichtsordnungen, S. 209-214. Vgl. dazu Kern, Gerichtsordnungen, S. 299 f. Günther, Das Privilegium de non appellando des Kur- und Fürstlichen Hauses Sachsen, S. 102 f. Günther, Das Privilegium de non appellando des Kur- und Fürstlichen Hauses Sachsen, S. 103. Günther, Das Privilegium de non appellando des Kur- und Fürstlichen Hauses Sachsen, S. 104. Codex Augustaeus, Bd. 2, Leipzig 1724, Sp. 1335. Codex Augustaeus, Bd. 2, Leipzig 1724, Sp. 1338 f. Mylius, Corpus Constitutionum Marchicarum, Bd. 2, Sp. 6 f., 9.
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Noch ein letztes Institut soll untersucht werden, die Appellation vom Hofgericht an den Landesherrn. Die Kurpfälzer Hofgerichtsordnung hat sie in ihrem Artikel 28 schlicht verboten75. Die sächsische Oberhofgerichtsordnung von 1488 hingegen erlaubt die Appellation gegen Urteile des Oberhofgerichts an den Landesherrn. Wer sich durch ein Urteil beschwert fühlt, „der mack sich deß an unß beruffen vnd appellirenn“76. Diese Berufung konnte auf zweierlei Weise vorgenommen werden, sekundär mit der Appellation nach römischen Recht „In zcehenn tagenn“77, primär hingegen durch die sächsische Urteilsschelte, „vnd sunderlichen In der gestalt, daß der beschwerte also balde das vrteil strafe vnnd vor der Bank eynn Beßers finde, Vnnd das in gerichte schreibenn lasse, mit Bethe vnnd Begehrenn, beide vrtteil an vns zwschikenn, eyns vndder on zwbecrefftenn“78.
Das ursprüngliche Recht des Umstands79 oder eines seiner Mitglieder, das Urteil durch Vorlage eines Gegenurteils zu schelten80, hatte sich auf den Beschwerten reduziert. Ansonsten hat sich die Urteilsschelte vollinhaltlich erhalten. Diese Form der Urteilsschelte findet sich auch noch in der Wittenberger Hofgerichtsordnung von 1550. Wer sich durch das Urteil beschwert fühlt, mag an den Landesherrn appellieren, „und sonderlich in der Gestalt: Daß der Beschwehrte alsbald denselben Tag, in dem das Urtheil gesprochen ist worden, das Urtheil straffe, und vor dem Hof-Gerichte ein bessers finde, und das im Gerichte schreiben lassen, Mit Bitte und Begehr, beyde Urtheil an Uns zu schicken, Eines unter ihne zu bekräfftigen“81.
Die preußische Kammergerichtsordnung erwähnt diese Möglichkeit überhaupt nicht. Die kurpfälzer Hofgerichtsordnung von 1476/1480 weist allerdings noch die Möglichkeit auf, von Urteilen des Dorfgerichts mündlich zu appellieren82
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Bender, Die Hofgerichtsordnung Kurfürst Philipps, S. 88f.; vgl. dazu auch Kern, Gerichtsordnungen, S. 312. Art. 30; Günther, Das Privilegium de non appellando des Kur- und Fürstlichen Hauses Sachsen, S. 104. Günther, Das Privilegium de non appellando des Kur- und Fürstlichen Hauses Sachsen, S. 105. Günther, Das Privilegium de non appellando des Kur- und Fürstlichen Hauses Sachsen, S. 104. Zum Umstand vgl. Jürgen Weitzel, Artikel „Umstand“, in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), HRG, Bd. 5 (1998), Sp. 437-442. Vgl. dazu Wolfgang Sellert, Artikel „Vollbort“, in: Erler/Kaufmann (Hrsg.), HRG, Bd. 5 (1998), Sp. 1023-1024. Art. 24; Codex Augustaeus, Bd. 2, Leipzig 1724, Sp. 1342 f.; Günther, Das Privilegium de non appellando des Kur- und Fürstlichen Hauses Sachsen, S. 104. Bender, Die Hofgerichtsordnung Kurfürst Philipps, S. 90 f.; vgl. dazu Kern, Gerichtsordnungen, S. 312.
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4. Zwischenergebnis Die wenigen Beispiele lassen einige vorläufige Schlüsse zu. Das für die Rezeption des römischen Rechts schon bekannte Nord-Süd-Gefälle zeigt sich auch in den frühen Hofgerichtsordnungen. Im Süden ist das Juristenelement stärker in den Hofgerichten verankert. Zugleich wird hier dem römischen Recht stärker Raum gegeben als im Norden, wo weithin das heimische, sächsische Recht anerkannt wird. In diesem Zusammenhang werden aber auch Unterschiede in den Stammesrechten deutlich. Während die kurpfälzische Hofgerichtsordnung anfangs noch den fränkischen Fürsprecher kennt, bewahren die sächsischen Ordnungen noch lange die sächsische Urteilsschelte.
C. Schluß Ausgangspunkt der Untersuchung war die Überlegung, wieweit die frühen Hofgerichtsordnungen von der Reichskammergerichtsordnung des Jahres 1495 bestimmt waren. Insoweit hat sich gezeigt, daß der prägende Einfluß schon durch die königliche Kammergerichtsordnung von 1471 erfolgte, die sich allerdings im wesentlichen auf die Einführung der Advokaten und Prokuratoren beschränkte, aber sonst nichts an neuen Regelungen brachte. Die Reichskammergerichtsordnung von 1495 hinterließ weit weniger Spuren in den schon bestehenden Ordnungen als weithin angenommen wird. Auch wenn die untersuchten Ordnungen nur wenige Übereinstimmungen aufweisen83, wird doch deutlich, daß an dem jeweiligen eigenen Profil mit einer verhältnismäßig großen Beharrungskraft festgehalten wurde. Demzufolge sollten sie von der Rechtsgeschichte in Zukunft als eigenwertiges Forschungsgebiet anerkannt und bearbeitet werden. Wie wichtig dabei die historische Rechtsvergleichung ist, hat hoffentlich dieser Beitrag gezeigt, der mehr ein Desiderat aufzeigen als beseitigen kann.
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Diese – wie z. B. der Befund, daß alle Gerichte Quatembergerichte sind und über Schreiber und Boten verfügen – blieben in der vorliegenden Untersuchung unberücksichtigt.
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A. Einleitung Wer in dem hilfreichen virtuellen Katalog der Universitätsbibliothek Karlsruhe1 den Werktitel Arztrecht sucht, wird in allen sechs deutschen Verbundkatalogen fündig. So weist etwa der Bibliotheksverbund Bayern im Februar 2004 mehr als 50 Titel nach. An der Spitze steht als Verfasser Adolf Laufs2, weshalb ihn vielleicht einige Zeilen zur Geschichte von Arzt und Recht zugleich freuen und ehren. Wer in der Gegenwart Arztrecht ganz allgemein sucht, sieht sich in der bekanntesten Suchmaschine des Internet mehr als 50000 Einträgen gegenüber3. So selbstverständlich demnach die Bezeichnung in der juristischen Fachsprache zu sein scheint, so wenig ist sie es in der Allgemeinsprache. Dementsprechend antwortet das Wörterbuch der Gegenwartssprache auf die Frage nach dem Arztrecht mit bloßem Schweigen4. Dieser Widerspruch weckt die Neugier des geschichtlich Interessierten. Zwar weiß er, dass das Wort der Schrift meist vorausgeht, sei es auch nur als unausgesprochener Gedanke. Außerdem ist ihm bewusst, dass auch die größte Sammlung angesichts der Vielfältigkeit des wirklichen Lebens kaum jemals vollständig sein kann. Aber das Wesen der geschichtlichen Betrachtung besteht gerade darin, das Vergangene im Auge zu behalten und nicht vollständig der Vergessenheit anheim zu geben. Deswegen darf auch nach dem Werden des Arztrechts gefragt werden. Ausgangspunkt muss dabei, wie schon Adolf Laufs selbst programmatisch hervorgehoben hat, der Arzt im Recht sein5. Angesichts des Alters des Rechts und der Vielzahl der Ärzte kann es an dieser Stelle nur um einige wenige, allgemeine Überlegungen gehen. Wegen ihrer Allgemeinheit können sie zum frühest möglichen Zeitpunkt beginnen. Münden müssen sie – wie alles – in der unmittelbaren Gegenwart.
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http://www.ubka.uni-karlsruhe.de/kvk.html. Adolf Laufs, Arztrecht, 1. Aufl., München 1977 (2. Aufl., 1978, 3. Aufl., 1984, 4. Aufl., 1988, 5. Aufl., 1993); ders., Berufsschutz und Persönlichkeitsschutz im Arztrecht, Heidelberg 1982; ders., Arztethik und Arztrecht, Stuttgart 1985; ders., Fortpflanzungsmedizin und Arztrecht, Berlin 1992. Für Arzt sind es mehr als 2,8 Millionen, für das englischsprachige medical law mehr als 7,8 Millionen. Vgl. http://www.dwds.de Adolf Laufs, Der Arzt im Recht, in: Dieter Medicus (Hrsg.), Festschrift für Hermann Lange, Stuttgart, Berlin, Köln 1992, S. 163.
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Sie ist zugleich der Ausgangspunkt. In ihm ist Arzt der Mensch, der nach einem Studium der Medizin die vorgeschriebenen Prüfungen bestanden hat und nach einem Praktikum approbiert ist6. Derartige Wesen gibt es in Deutschland derzeit rund 300.000, so dass statistisch gesehen etwa jeder 266. Deutsche Arzt oder Ärztin ist.
B. Vom Arzt im Recht zum Arztrecht I. Anfänge Wer sich als erster berufsmäßig hauptsächlich um die Gesundheit der Mitmenschen gesorgt und ihnen bei Krankheit durch Wissen und Können Abhilfe zu gewähren versucht hat, weiß niemand. Vermutlich werden einzelne Fälle von Erkrankungen nach dem Grundsatz von Versuch und Irrtum den Anfang gebildet haben. Erst allmählich kann daraus durch Verdichtung bei Einzelnen vermehrter Sachverstand entstanden sein. Besonders eindrucksvoll erscheint in diesem Zusammenhang die Öffnung des Schädels mit Hilfe eines geeigneten Bohrgeräts7. Sie enthält bereits alle Merkmale des bewussten helfenden Eingriffs in den Körper eines Mitmenschen. Damit verbunden sind im Kern eigentlich auch schon die wichtigsten, im späteren Recht auftauchenden Fragen. Derartige Schädeltrepanationen sind im Gegensatz zu anderen Eingriffen deswegen besonders interessant, weil sie sich unter günstigen Erhaltungsbedingungen – samt Überlebenshinweisen für Wochen bis Monate bzw. Monate bis Jahre – archäologisch über lange Zeit nachweisen lassen. Diese begegnen bereits in der Jungsteinzeit8. Sie wird mit dem Beginn von Ackerbau und Viehzucht verknüpft und von daher in das 9.-3. Jahrtausend vor Christi Geburt gesetzt, wobei in Mitteleuropa derartige Eingriffe seit 4500 v. Chr. nachweisbar sind. Die ältesten Schriften zur Heilkunst werden demgegenüber auf das frühe dritte Jahrtausend vor Christus datiert9. Der sog. Codex Hammurapi aus Mesopotamien von etwa 1700 v. Chr. bietet Falldarstellungen und eine Gebührenordnung10. Wenig später erscheint Heilkunde in altindischen Veden.
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Vgl. § 2 Bundesärzteordnung Deutschlands. Jürgen Piek u. a., Untersuchungen zur Trepanationshäufigkeit und -technik in der Jungsteinzeit, http://www-cuk.med.uni-rostock.de/nchir/docum/Neolit.doc. Vgl. Hermann Müller-Karpe, Handbuch der Vorgeschichte, 2. Aufl. München 1989, Bd. 2. Sog. Papyrus Smith. Vgl. Albert Deimel, in: Hans-Dieter Viel, Der Codex Hammurapi, 3. Aufl., Göttingen 1950.
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II. Antike 1. Für Europa werden die Griechen besonders bedeutsam. Bei ihnen kennt schon die Ilias11 Homers im Ionien des 8. vorchristlichen Jahrhunderts ein Verb iaomai mit der Bedeutung heilen12. Dazu gehört ebenfalls seit der Ilias ein Substantiv iater oder iatros. Es bezeichnet den Menschen, der durch die Tätigkeit des Heilens gekennzeichnet ist13. Die etymologische Herkunft dieser Wortgruppe ist allerdings unklar. Teilweise wird Zugehörigkeit zu der indogermanischen Wurzel *eis- heftig, ungestüm, schnell bewegen, antreiben, anregen für möglich gehalten14. Teilweise wird aber auch Anschluss an einen heiligen Ruf ia gesucht oder überhaupt fremder Ursprung nicht ausgeschlossen15. Unabhängig von der unsicheren sprachlichen Herleitung wird bei den Griechen jedenfalls die Befassung mit Krankheit und Heilung Gegenstand besonderen Wissens. Innerhalb der Philosophie werden allgemeine Grundbausteine des Lebens ermittelt. Auf ihnen fußt um 400 v. Chr. der Aufbau einer allgemeinen, auf genauer Beobachtung und Beschreibung der Krankheitsmerkmale beruhende Krankheitslehre, durch die – losgelöst von einer mythischen Ableitung von Göttern wie Apollo oder Erddämonen bzw. Göttersöhnen wie Asklepios/Äskulap – Hippokrates (Kos um 460 v. Chr. – Larissa um 370 v. Chr.) zum Begründer gesicherter, zu verantwortlichem Vorgehen verpflichteter Heilkunst wird16. 2. Wie die Griechen kennen auch die Römer durch die besondere Tätigkeit des Heilens gekennzeichnete Menschen. Bei ihnen heißt heilen mederi, der Heilende medicus und das Heilmittel medicamentum, medicina 17 oder remedium. Etymologisch gehört es zur indogermanischen Wurzel *med- messen, ermessen18.
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Vgl. Herbert Bannert, Homer, 5. Aufl., Hamburg 1992. Hjalmar Frisk, Griechisches etymologisches Wörterbuch, 2. Aufl., Bd. 1, Heidelberg 1973, S. 704. Frisk, Griechisches etymologisches Wörterbuch I, S. 705 (Arzt), vgl. die Neubildung Psych-iater. Julius Pokorny, Indogermanisches etymologisches Wörterbuch, Bd. 1,Berlin 1959, S. 299. Pokorny, Indogermanisches etymologisches Wörterbuch I, S. 300, vgl. Frisk, Griechisches etymologisches Wörterbuch I, S. 705. Vgl. Lutz-Alexander Graumann, Die Krankengeschichten der Epidemienbücher des Corpus Hippocraticum, Aachen 2000. Karl Ernst Georges, Heinrich Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch, 8. Aufl., Bd. 2, Hannover 1913, S. 838 ff. Pokorny, Indogermanisches etymologisches Wörterbuch I, S. 705 (, zu der deutsch messen gehört).
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Diese Wurzel ist mit idg. *mô, *met- etwas abstecken, messen, abmessen verwandt19. Aus dem Lateinischen sind ihr beispielsweise meditari worüber nachdenken, modus Maß, Art, Weise oder modestus maßvoll zuzurechnen20. Aus altindischen sowie in Namen enthaltenen griechischen Parallelen wird trotz des abweichenden griechischen iater ein Substantiv mit der Bedeutung klug ermessender, weiser Ratgeber (Heilkundiger) bereits für das Indogermanische erschlossen21. Nicht belegt ist medicus im Zwölftafelgesetz. Bezeugt ist es bei Plautus (250184 v. Chr.), Varro (116-27 v. Chr.) oder Cicero (106-43 v. Chr.)22. Seit Augustus scheint es den als einfachen miles eingeordneten regelrechten medicus als Militärarzt im römischen Heer gegeben zu haben23. Als Gladiatorenarzt hat dann auch (Claudius) Galenus (Galenos 129-199 n. Chr.), der letzte große Arzt der Antike, begonnen. Als Sohn eines griechischen Mathematikers und Architekten, hatte er sich mit 14 Jahren mit Philosophie und Mathematik und mit 16 Jahren mit Medizin unter anderem in Alexandria befasst. Auf Grund seiner erfolgreichen praktischen Einordnungen krankhafter Einzelerscheinungen und seiner theoretischen Verknüpfungen stieg er einerseits zum Leibarzt 24 Kaiser Marc Aurels auf und brachte andererseits die griechische Medizin in bewusster Anbindung an Hippokrates und die philosophischen Anschauungen Platons und Aristoteles’ zu einem glänzenden Abschluss25. In der Breite ist der Arzt allerdings anscheinend von so geringer Bedeutung, dass ein führendes Lexikon der Antike sich bei Arzt auf einen Verweis auf Medizin beschränken kann und diesen bei Medizin nicht zu erfüllen braucht26. Auch für das Recht scheint er von keinem großen Gewicht 27 . Im klassischen römischen Recht waren die Dienste höherer Art beispielsweise der Ärzte zwar nicht von vornherein von dem Vertragstyp locatio conductio ausgeschlossen, doch galt es für die Angehörigen der obersten Schichten als Verstoß gegen das gute Herkommen, sich gegen Entgelt zu verdingen, wenngleich das gute Herkommen andererseits dem Empfänger einer solchen Gefälligkeit die gefestigte sittliche Pflicht auferlegte, dem Leistenden eine Ehrengabe (honorarium) darzubringen28, bis diese sozialen Hemmungen gegen Übernahme von Lohnarbeit durch Angehörige füh19
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Pokorny, Indogermanisches etymologisches Wörterbuch I, S. 703 (, zu der lat. môtiri messen, abmessen gehört). Pokorny, Indogermanisches etymologisches Wörterbuch I, S. 705. Pokorny, Indogermanisches etymologisches Wörterbuch I, S. 706. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch II, S. 842. Konrat Ziegler u. a. (Hrsg.), Der Kleine Pauly, Bd. 3, Stuttgart 1975, S. 1130. Vielleicht hatte als erster Kaiser Alexander Severus (222-235) einen besoldeten medicus palatinus. In der juristischen Literatur erscheint ein archiater des Kaisers 286 n. Chr. und häufiger erst danach. Ziegler, Der Kleine Pauly II, S. 674. Ziegler, Der Kleine Pauly I, S. 631 und III, S. 1134. Max Kaser, Das römische Privatrecht, 2. Aufl., Bd. 1, München 1971, s. unter Arzt bzw. medicus. Vgl. aber im Detail Karl-Heinz Below, Der Arzt im römischen Recht, München 1953. Kaser, Das römische Privatrecht I, S. 569.
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render Schichten in der Spätantike wegfallen29. Ein Grund für die geringe Bedeutung dürfte dabei auch der Umstand sein, dass ärztliche Tätigkeit vielfach von Sklaven30 ausgeführt wurde, die nicht nur Diener, Landarbeiter und Handwerker, sondern auch Pädagogen, Bankangestellte, Musiker oder Ärzte sein konnten 31 . Selbst wenn sie dabei Erfolg hatten und zu hohem Ansehen aufstiegen, bedurfte es jedoch zu ihrer Inanspruchnahme keines Rechtsgeschäfts zwischen ihrem Herrn und ihnen. Damit war ihre Tätigkeit für das Recht kein Thema. Die lateinische Bibel belegt (zwar nicht den archiater, aber) den medicus an einem Dutzend Stellen des alten Testaments und etwa halb so vielen Stellen des neuen Testaments. Das beginnt damit, dass in der Genesis Joseph beim Tod seines Vaters Jakob seinen Arztsklaven (servis suis medicis) befiehlt, dass sie den Leichnam mit Gewürzsalben einreiben32. Nach Exodus muss bei einem Streit mit Stein und Faust der Schläger dem genesenen Opfer die Aufwendungen für die Ärzte erstatten33. Nach Paralipomenon 2 besteht bei Krankheit die Wahl, sich an Gott zu wenden oder auf die Kunst der Ärzte zu vertrauen, doch darf man bei Entscheidung für diese nicht vom Tod überrascht sein34. Nach Ecclesiasticus fällt man in die Hände des medicus und muss ihn wegen der Notwendigkeit doch ehren 35 . Nach Jesaja wird vom medicus Hilfe erwartet, doch ist er nach Jeremia nicht überall, wo man ihn bräuchte36. Im neuen Testament erklärt Jesus den Pharisäern bei der Zusammenkunft mit den Zöllnern und Steuerpächtern, dass nicht die Gesunden, sondern die Kranken den medicus brauchen37. Manche Kranke leiden unter vielen Ärzten viel, ohne dass ihnen selbst bei Aufwendung all ihrer Habe geholfen wird38. Jesus freilich heilt auch diese Krankheit.
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Kaser, Das römische Privatrecht II, S. 403. Below, Der Arzt im römischen Recht, S. 7, wonach den Kreis der Ärzte meistens Sklaven und liberti, sehr selten freigeborene Bürger und häufig (bzw. mehrmals erwähnt) peregrini bildeten und man nach einem Bericht des Plinius bis 218 v. Chr. in Rom ärztliche Hilfe vergebens gesucht haben soll. Vgl. Ziegler, Der Kleine Pauly V, S. 231; Fridolf Kudlien, Die Sklaven in der griechischen Medizin, Wiesbaden 1968. Innerhalb der Ärzte haben die Chirurgen wegen der Handwerklichkeit ihres Tuns ein verhältnismäßig geringes Ansehen. Genesis 50, 2, Praecepitque servis suis medicis, ut aromatibus condirent patrem. Exodus 21, 19, Si surrexerit, et ambulaverit foris super baculum suum, innocens erit qui percusserit, ita tamen ut operas eius et impensas in medicos restituat. 2 Paralipomenon 16, 12, Aegrotavit etiam Asa anno trigesimo nono regno suo, dolore pedum vehementissimo, et nec in infirmitate sua quaesivit Dominum, sed magis in medicorum arte confisus est. Ecclesiasticus 38, 15 und 1, vgl. auch 3 und 11. Jesaja 3, 7, Jeremia 8, 22. Matthaeus 9, 12, Non est opus valentibus medicus, sed male habentibus. Vgl. Marcus 2, 17, Non necesse habent sani medico, Lucas 5, 31, Non egent, qui sani sunt, medico. Marcus 5, 25, Et mulier, quae erat in profluvio sanguinis annis duodecim, et fuerat multa perpessa a compluribus medicis; et erogaverat omnia sua, nec quidquam profecerat, sed magis deterius habebat.
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3. Keine besondere Bezeichnung ist für Heilkundige bei den Kelten überliefert. Sie kennen zwar Druiden. Sie sind aber in erster Linie Priester, die nur zugleich Richter, Heilkundige und Sternenkundige sind39. 4. Demgegenüber hat die Philologie für die Germanen ein gemeingermanisches Wort erschlossen. Es wird zu der indogermanischen Wurzel *leg- sammeln gestellt40. Demnach ist der germanische, im Gotischen, Altnordischen, Altenglischen, Altfriesischen und Althochdeutschen noch fassbare *lôkjaz41 zunächst Sammler und danach vielleicht möglicherweise mit Hilfe des Gesammelten auch Heilender. II. Frühmittelalter In den allgemeinen Bestimmungen des Frühmittelalters ist der medicus durchaus gut vertreten42. Bei den Alemannen hat der Schwur des medicus den Wert dreier anderer Menschen43. Bei den Westgoten ist dem Verhältnis zwischen medicus und Kranken ein gesonderter Textabschnitt gewidmet44. In der alltäglichen Wirklichkeit dürfte seine Bedeutung allerdings geschwunden sein. Zwar gibt es den archiater an Königshöfen und Bischofssitzen vor allem in 39
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Vgl. Bernhard Maier, Kleines Lexikon der Namen und Wörter keltischen Ursprungs, München 2003, S. 49 -druwids Eichenkundiger. Vgl. Pokorny, Indogermanisches etymologisches Wörterbuch I, S. 658. Gerhard Köbler, Germanisches Wörterbuch, 2. Aufl., Gießen-Lahn 1982, http://www.koeblergerhard.de. http://www.koeblergerhard.de/elektronischeseindizes/liberexq.pdf (Leges Visigothorum, Leges Langobardorum, Pactus legis Salicae, Pactus Alamannorum, Lex Alamannorum, Lex Baiwariorum, Lex Saxonum, Lex Thuringorum, vgl. Concilia, Formulae, Diplomata Merovingica). Vgl. Annette Niederhellmann, Arzt und Heilkunde in den frühmittelalterlichen Leges, 1983, S. 66. Vgl. Niederhellmann, Arzt und Heilkunde in den frühmittelalterlichen Leges, S. 67. Ausführlich behandelt die Verfasserin die therapeutischen Maßnahmen (Aderlass, Starstich, Schädelverletzungen, Kauterisation, Fußprothesen), Zauber, Schwangerschaft, Abtreibung, Empfängnisverhütung, Kastration, die volkssprachigen Bezeichnungen für Teile des Kopfes und des Rumpfes (hirnschal, kebul, afful, marchzand, stockzan, huf, revo, mithridi, herthamon), für Extremitäten (briorotero, thaphano, melachano, minecleno, alachtamo, malicharde, murioth, treno, lagi), für Körpersekrete (liduwagi, rozz, wasilus) und Verletzungen (dolg, cladolg, palcprust, pulislac, trucknslac, durslegi, uuadflat, plotruns, adargrati, peinschrot, kepolsceini, inanbina ambiliciae, chicsiofrit, hrevovunt, gorovunt, ferchvunt, freobleto, gisifrit, sicti, frasito, chamin, lichauina, inchlauina, channichleora, chuldachina, alchatea, scardi) und Verletzungsfolgeerscheinungen (wlitiwam, spido, smelido, glausaugi).
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Mittelitalien und Südgallien und ist auch am Hof Karls des Großen ein ordo medicorum bezeugt, doch dürften gut geschulte Ärzte Ausnahmen gewesen sein. Unter ihnen finden sich als Erben der Antike immer wieder Juden45. Neuen allgemeineren Rückhalt gewinnt die Medizin nur in den Klöstern. Dort finden sich, wie für Sankt Gallen 820 in einem idealen Plan festgehalten, entsprechend der Benediktinerregel ein Raum für die kranken Mitbrüder und außerhalb der Klausur Räume für Laien sowie ein Ärztehaus46. Die noch bekannten geringen Reste des antiken ärztlichen Wissens werden zusammen mit volkstümlichen Kenntnissen, eingebettet in die christliche Vorstellung, dass außer dem Körper auch die Seele zu betreuen ist, von Arzt zu Arzt weitergegeben47. Innerhalb der lateinischen Literatur ist weder für die römische Literatur von Justinian bis auf Karl den Großen noch für den karolingischen „Humanismus“ und den ihm folgenden Verfall Medizinisches besonders ausgewiesen 48 . Immerhin enthalten aber die Etymologiarum sive originum libri XX Bischof Isidors von Sevilla (um 570-4. April 636) ein eigenes viertes Buch De medicina, das die Medizin auf Apollo, Äskulap und Hippokrates zurückführt und unter anderem auch die instrumenta medicorum behandelt49. Drei bzw. zwei noch vor 800 in Fulda von verschiedenen angelsächsischen Händen in eine Handschrift von Isidors De ordine creaturarum eingetragene, jetzt in Basel aufbewahrte, lateinische, altostfränkischaltbayerische bzw. altenglisch-altbayerische Rezepte mit etwa 160 bzw. 70 volkssprachigen Wörtern gelten als die ältesten Denkmale deutscher medizinischer Prosa und als die vielleicht ältesten zusammenhängenden deutschen Texte überhaupt50. In den volkssprachigen Wiedergaben des lateinischen Wortes medicus51 begegnet im Gotischen (für griechisch iatros) an allen sieben neutestamentlichen Stellen lôkeis, dem lôkinassus für griechisch therapeia bzw. lateinisch cura und lôkinon, galôkinon für griechisch therapeuein bzw. lateinisch curare (sowie configurare)
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Gerhard Baader, Arzt, in: Lexikon des Mittelalters, Bd. 1 ff., Stuttgart, Weimar 1977 ff., Sp. 1098. Vgl. Hans Reinhardt, Der St. Galler Klosterplan, St. Gallen 1952. Baader, LexMA I, Sp. 1098. Max Manitius, Geschichte der lateinischen Literatur des Mittelalters, Erster Teil, München 1911. Isidori Hispalensis episcopi etymologiarum sive originum libri XX, rec. Wallace Lindsay, Oxford 1911, IV, XI. Hans-Hugo Steinhoff, Basler Rezepte, in: Kurt Ruh u. a. (Hrsg.), Die deutsche Literatur des Mittelalters, 2. Aufl., Bd. 1, Berlin 1978, S. 628; vgl. Gerhard Köbler, Sammlung kleinerer althochdeutscher Sprachdenkmäler, Gießen-Lahn 1986, S. 113. Das schon im klassischen Latein auch medicus digitus Goldfinger bedeutet, vgl. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch II, S. 842, und deswegen althochdeutsch auch als goldfingar, Ringfinger bzw. langmar, Mittelfinger wiedergegeben werden kann, vgl. Gerhard Köbler, Lateinisch-althochdeutsches Wörterbuch, Gießen-Lahn 1996, S. 542.
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zur Seite stehen52. Im Altnordischen erscheint laeknari, im Altenglischen laece, denen altnordisch laknęn bzw. altenglisch laecnian für mederi und altenglisch laecedęm für medela, medicamen und medicamentum entsprechen 53 . Althochdeutsch findet sich zunächst lÞhhi für medicus an fünf Stellen, die alle noch in die erste Hälfte des 9. Jahrhunderts gehören54. Dieses lÞhhi ist Teil eines umfangreich bezeugten Wortfeldes. Es umfasst lÞhha Hebamme 55 , lÞhhan Arznei 56 , lÞhhanÞra Ärztin 57 , lÞhhanÞri Arzt 58 lÞhhanhafti heilsam59, lÞhhanęn heilen, gesund machen60, lÞhhanunga Arznei61, lÞhhida Arznei62, lÞhhintuom Arznei, lÞhhituom Arznei63, lÞhhituomlih heilend, mildernd und
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Lukas 5, 31, Kolosser 4, 14, Lukas 4, 23, Matthaeus 9, 12, Markus 2, 17, Markus 5, 26, Lukas 8, 43, vgl. Gerhard Köbler, Gotisches Wörterbuch, Leiden, Köln 1989, S. 359, 203, galôkinon Lukas 82, 8, 43, Römer 12, 2. Gerhard Köbler, Lateinisch-germanistisches Lexikon, 2. Aufl., Gießen 1983, S. 255. Eduard Sievers (Hrsg.), Die Murbacher Hymnen, Halle 1874, 24, 14, 4 (810-817), Elias Steinmeyer, Eduard Sievers, Die althochdeutschen Glossen, Bd. 1 ff., 1879 ff., Neudruck Dublin 1968 f., 3, 9, 46 (1. Viertel 9. Jh., inmitten von Glossen über die Körperteile hinter medius bei den Fingern) und Eduard Sievers, Tatian. Lateinisch und altdeutsch mit ausführlichem Glossar, 2. Aufl., 1892, Neudruck Paderborn 1960, 56, 4; 60, 3; 78, 4 (Fulda 830, altostfränkisch/altalemannisch). Thoma 15, 16 zu lateinisch mediatrix bzw. obstetrix (Ende 10. Jh.). Belegt bei Notker von Sankt Gallen (†1012) und dem Notkers Schriften glossierenden sog. Notkerglossator (Ekkehard IV. von Sankt Gallen, 2. Viertel 11. Jh.), vgl. Paul Piper, (Hrsg.), Die Schriften Notkers und seiner Schule, Bd. 1 ff., Freiburg 1882 f., 1, 15, 24; 1, 49, 18; 1, 43, 28; 1, 43, 2; 1, 73, 7; 1, 26, 19 bzw. 2, 275, 25, Notker-Wortschatz. Das gesamte Material zusammengetragen von Edward Sehrt, Taylor Stark, in: Edward Sehrt, Taylor Stark, Wolfram Legner, Notker-Wortschatz, Halle 1955, für lateinisch medicamen, medicina und remedium. Piper, Notker, 1, 17, 26 für lateinisch medicans, vgl. auch eine in der Handschrift Engelberg, Stiftsbibliothek 6/8 aus dem 14. Jahrhundert überlieferte Glosse phitonissa lachnera, Gerhard Köbler, Ergänzungen, Richtigstellungen, Nachträge, Teileditionen, Editionen, Nachweise zu Steinmeyers Edition: Die althochdeutschen Glossen, GießenLahn 1993, S. 7, 10. Köbler, G., Ergänzungen, S. 7, 10 phitones lachnera (Handschrift 14. Jh.). Piper, Notker, 1, 253, 8. Elias Steinmeyer, Die kleineren althochdeutschen Sprachdenkmäler, 3. Aufl., 1916, Neudrucke Dublin 1963, 1971, Steinhoff, in: Ruh, Die deutsche Literatur des Mittelalters, (8. Jahrhundert); Steinmeyer/Sievers, Glossen, 2, 272, 52 (11. Jh.?); 2, 294, 59; 3, 8, 8 (2. Hälfte 8. Jh.), Notker, 1, 44, 28 für lateinisch fomentare, temperare und mederi (sowie remedium). Notker, 2, 194, 12 für lateinisch medicina. Steinmeyer, Sprachdenkmäler, (36) 234, 39 (Benediktinerregel, um 800), Steinmeyer/Sievers, Glossen 1, 209, 4 (Abrogansglossar, um 765) für lateinisch medicamen bzw. medela. Steinmeyer/Sievers, Glossen, 2, 94, 51; 3, 303, 33; 3, 475, 26; 4, 150, 58, 59 (ab 9./10. Jh.) für lateinisch fomentum, malagma, medela, medicina bzw. 1, 150, 40; 1, 151, 40; 1,
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lÞhhunga Heilmittel, Arznei64. Es ist bereits im 8. Jahrhundert aber auch noch im 11. Jahrhundert belegt und wird anscheinend noch im 14. Jahrhundert überliefert. Umso auffälliger ist, dass lÞhhi selbst in der Mitte des 9. Jahrhunderts anscheinend rasch und vollständig durch das neue Wort arzat ersetzt wird, das erstmals in der zwischen 863 und 871 verfassten altsüdrheinfränkischen Evangeliendichtung Otfrids von Weißenburg bei der Behandlung von Lukas 8,43 erscheint65. Seine 13 weiteren Belege stammen von Notker, seinem Glossator, der Bibelglossatur M und dem wohl dem 11. Jahrhundert zuzuweisenden Summarium Heinrici66. Gemeint ist der Heilkundige einschließlich des Seelenarztes Christus, aber auch derjenige, der mit Salben und Kräutern umzugehen weiß, einschließlich des Einbalsamierers und des Gewürzkrämers67. Das althochdeutsche Wort ist durch Aufnahme von mittellateinisch archiater entstanden, das seinerseits griechisch archiatros entspricht. Es meint eigentlich keine besondere Berufsbezeichnung, sondern den Titel Erzarzt, wie er zuerst für die Hofärzte der hellenistischen, von 312 bis 64 v. Chr. in Syrien herrschenden Seleukiden in Antiochia und danach für die Ärzte der hellenistischen Städte und die Hofärzte und Stadtärzte der römischen Kaiserzeit üblich ist. Im Altostniederfränkischen scheint es als erzeteri auf 68 . Im Althochdeutschen begegnet neben arzat bei Notker noch einmal ein arzenari69 für Gott als den rector ac mediator mentium. Arzat selbst wird von Notker zusätzlich in der für Äskulap gebrauchten Zusammensetzung arzatgot verwendet 70 . Dem Apollosohn Asclepio (Äskulap)
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209, 5 (Abrogansglossar, um 765), 2, 50, 28; 2, 381, 7 für lateinisch fomentum, medicina, medicamentum und remedium. Steinmeyer/Sievers, Glossen, 2, 294, 55 (10. Jh.) bzw. 1, 209, 6 (Samanungaglossar, Ende 8. Jh.). Oskar Erdmann, Otfrids Evangelienbuch, 5. Aufl., Tübingen 1965, S. 3, 14, 11. Vgl. Elisabeth Karg-Gasterstädt, Theodor Frings, Althochdeutsches Wörterbuch, Bd. 1 ff., Berlin 1952 ff., S. 1, 667; vgl. zu Notker selbst Johannes Duft, Notker der Arzt. Klostermedizin und Mönchsarzt im frühmittelalterlichen Sankt Gallen, St. Gallen 1972. Medicus wird übertragen in Steinmeyer/Sievers, Glossen, 3, 187, 28 (idem pigmentarius), bei Notker und bei seinem Glossator. Daneben erscheint der arzat für lateinisch medicare bei Notker sowie für chirurgus (medicus qui homines incidere solet) (Steinmeyer/Sievers, Glossen, 4, 345, 27) und pigmentarius bzw. pigmentum in den Glossen (1, 582, 56 = 4, 278, 34, Ecclesiasticus 49, 1; Glossen, 2, 189, 44, Gregorii Cura pastoralis 2, 13 [10. Jh.], 2, 258, 21 Gregorii Dialogi pigmentarius salpari vel arzat [10. Jh.], 3, 142, 6 Heinrici Summarium De variis officiorum vocabulis vel operariis, pigmentarius arzat). Vgl. Karg-Gasterstädt/Frings, Althochdeutsches Wörterbuch, S. 1, 667; Gerhard Köbler, Sammlung altniederfränkischer Tradition, Gießen-Lahn 2003, S. 193 zu Psalm 87, 11 numquid mortuis facies mirabilia aut medici (ercetera) suscitabunt et confitebuntur tibi in den frühneuzeitlichen Auszügen (bzw. sog. Glossen) des Justus Lipsius aus einer verlorenen Handschrift wohl des 9. Jahrhunderts (Nr. 200 bzw. 545); vgl. auch Steinmeyer/Sievers, Glossen, 3, 387, 7 Anm. 1 erzetere valetudinarius, medicus idem (13. Jh.). Piper, Notker, 1, 283, 24 got tero menniskon muoto rihtare ioh arzenare. Piper, Notker, 1, 694, 13.
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schreibt Notker schließlich mit seiner sich auf Griechenland beziehenden Vorlage das gesamte arzetuom (arzattuom, lateinisch medicina) zu71. III. Hochmittelalter und Spätmittelalter Das noch im Frühmittelalter in das Arabische übersetzte und systematisierte medizinische Wissen der Griechen wurde in Salerno, wo anscheinend bereits eine höher als anderswo stehende Medizin im Umkreis der Kathedralschule bestand, am Beginn des Hochmittelalters in das Lateinische übersetzt und Laien gelehrt. Hieraus erwächst eine neue universitäre Ausbildung für Ärzte und auch Chirurgen. Sie ist im 12. Jahrhundert in Montpellier und seit der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in Paris nachweisbar72 und führt im Spätmittelalter zum neuen Typ des magister medicinae, doctor medicinae oder physicus. In der bekanntesten Rechtsquelle des deutschen Mittelalters, dem Sachsenspiegel Eike von Repgows schlägt sich diese Entwicklung freilich nicht nieder. Anscheinend gibt es in Sachsen zu seiner Zeit trotz zahlloser Wunden keinen für das Recht relevanten Arzt. Das umfassende Glossar Karl August Eckhardts weist ihn jedenfalls nicht besonders aus73. Dies wird wohl noch durch das Ingelheimer Recht des 15. Jahrhundert bestätigt. Für dieses nahm zwar der Bearbeiter im Register das Stichwort Arztvertrag auf74. Die entsprechende Stelle zeigt dann aber in Kirn 1409 nur einen Scherer, der einen Jungen wegen eines von einem Pferd zerschlagenen Beins zur Heilung angenommen und dafür Lohn erhalten hatte und von dem Jungen nach seiner Mündigkeit wegen fehlerhafter Leistung auf Schadensersatz in Anspruch genommen worden war75. Für die Städte lassen sich in Deutschland zwar seit 1281 besoldete Ärzte nachweisen 76 und an der 1348 in Prag gegründeten ersten Universität nördlich der Alpen besteht auch von Anfang an eine medizinische Fakultät77. Aber an der Universität ausgebildete Ärzte gab es in Deutschland bis zum 15. Jahrhundert nur 71 72
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Piper, Notker, 1, 821, 9. Baader, Arzt, LexMA I, Sp. 1099. In Paris werden die Chirurgen wegen des Chirurgieverbots für Kleriker von 1215 von den klerikalen Universitätsmedizinern allerdings in ein seit 1258 bezeugtes métier außerhalb der Universität abgedrängt. Karl August Eckhardt (Hrsg.), Das Lehnrecht des Sachsenspiegels, 2. Aufl., Göttingen 1956. Gunter Gudian, Ingelheimer Recht im 15. Jahrhundert, Aalen 1968, S. 439. Gudian, Ingelheimer Recht, S. 276. Der Oberhof stellt dabei einerseits darauf ab, ob Geld, Lohn und Speck vor der Behandlung oder nach der Behandlung entrichtet worden sind, andererseits aber bei Zahlung vor Behandlung auch darauf, ob der Scherer geheilt hat oder nicht. Vgl. auch Reinhard Zwerenz, Der Rechtswortschatz der Urteile des Ingelheimer Oberhofes, Diss. jur. Gießen 1988, S. 5. Baader, LexMA, Bd. 1, Sp. 1099. Vgl. Laetitia Boehm u. a. (Hrsg.), Hermes Handlexikon Universitäten und Hochschulen in Deutschland, Österreich und der Schweiz, Düsseldorf, Wien 1983, S. 304
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wenige78. Dementsprechend ist der Arzt auch in der mittelalterlichen Dichtung nur eine Randfigur, die in der anschließenden Arztsatire wegen ihrer Unkenntnis und Geldgier oft unter die Diebe und Mörder eingereiht wird79. Sprachlich setzt sich im Mittelhochdeutschen arzÞt mit seinen Ableitungen gegenüber lÞchen und seinen Ableitungen weitgehend durch. Zu arzÞt finden sich arzÞtbuhse Arzneibüchse, arzÞtbuoch Heilkundebuch, – obwohl Ärztinnen im Sinn der Schulmedizin im ganzen Mittelalter (trotz der heilkundigen Hildegard von Bingen) kaum bezeugt sind80 – arzÞtin Ärztin, arzÞtĄn heilend, arzÞtlich ärztlich, arzÞtlist Heilkunst, arzÞtĄe/arzedĄe Arznei, arzÞtĄen/arzedĄen heilen, behandeln, arzenĄe Arznei, Heilmittel, Heilkunde, arzetuom Heilmittel, Heilkunde und arznen heilen, behandeln. Neben lÞchen Heilmittel begegnet nur noch lÞchentuom Heilmittel81. IV. Frühe Neuzeit 1. An der Spitze der Rechtsquellen der frühen Neuzeit stehen die in vielen Städten und Ländern geschaffenen Reformationen, die das hergebrachte einheimische Recht mit dem römischen Recht zu einer neuen, besseren Einheit verschmelzen wollen. Zumindest in den bekanntesten süddeutschen Stadtrechtsreformationen von Nürnberg, Worms, Frankfurt und Freiburg im Breisgau wird dabei der Arzt nicht besonders erwähnt82. Dies erklärt sich am leichtesten daraus, dass er weder im älteren einheimischen Recht noch im römischen Recht Subjekt oder Objekt der wesentlichen allgemeinen Bestimmungen war.
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Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter, Stuttgart 1988, S. 36. Baader, LexMA I, Sp. 1100. Baader, LexMA I, Sp. 1100. Vgl. Beate Hennig, Kleines mittelhochdeutsches Wörterbuch, 4. Aufl., Tübingen 2001, S. 17 bzw. 198, Mattias Lexer, Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch, 29. Aufl., Stuttgart 1959. Die Befunde sind allerdings nicht völlig einheitlich. Bei Hennig finden sich mehr Ableitungen von arzÞt und weniger Ableitungen von lÞchen als bei Lexer. Im die deutschen Originalurkunden bis 1300 erfassenden Wörterbuch der mittelhochdeutschen Urkundensprache sind 17 Belege für arzÞt verzeichnet, die jeweils einzeln benannte Menschen zusätzlich kennzeichnen. Vgl. Bernhard Sendler, Die Rechtssprache in den süddeutschen Stadtrechtsreformationen, Frankfurt/M. 1990, S. 855; vgl. auch Wolfgang Kunkel (Hrsg.) Quellen zur neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands, Halbbd. 2, 1938, S. 392.
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2. Etwas anders scheint es sich bei den Polizeiordnungen zu verhalten. Zwar stehen auch hier die Ärzte nicht im Mittepunkt der Aufmerksamkeit. Es findet sich aber doch eine ganze Reihe von sie betreffenden obrigkeitlichen Vorschriften83. Betrachtet man beispielsweise Frankfurt am Main ein wenig näher, so zeigt sich bereits am 4. November 1501 eine Ordnung, wie sich der Stede franckenfort doctores inne der artzeny jerlichs […] die materialia inn den apoteken zubesichtigen erfordert werden halten sollen. 1584 wird eine Medicorum Taxordnung erlassen, 1616 eine Reformation oder Ernewerte Ordtnung der Statt Franckfurt am Mayn die Plege der Gesundheit betreffendt, die 1628, 1643, 1668 ausdrücklich den Medicis, Apothekern und andern angehörigen daselbsten/ auch sonsten jedermänniglich zur Nachrichtung gegeben worden ist, oder 1725 eine auch Ärzte betreffende Franckfurter Hospital-Ordnung. 1791 wird beispielsweise die Zulassung samt der dafür erforderlichen Prüfung geregelt84. Sachliches Ziel ist dabei die gute Ordnung und Polizei. Sie hat zwecks Verhinderung von Missständen und Gefahren die Einschränkung der Freiheit zur Folge. Diese allgemeine Entwicklung betrifft auch den Arzt. 3. Die Kodifikationen vom Ausgang der frühen Neuzeit streben die allumfassende Regelung an. Auch wenn das Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten dabei noch kasuistisch vorgeht, versucht es doch die Bildung allgemeiner Bestimmungen. Dementsprechend ist bei den Verträgen, wodurch (Gelder) oder Sachen für übernommene Handlungen oder Unterlassungen versprochen werden, von Ärzten nicht besonders die Rede. Hervorgehoben werden lediglich gedungene Handarbeiter und Tagelöhner einerseits und Handwerker und Künstler andererseits85. Dem folgen auch der Code civil und das Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch Österreichs. Das Bürgerliche Gesetzbuch Deutschlands und das schweizerische Zivilgesetzbuch schließen sich an. Sie alle kennen keinen besonderen Vertragstyp zwischen Arzt und Patient, der sich von anderen Dienstverträgen grundsätzlich und wesentlich unterscheidet. Dies wird auch durch das zusammenfassende deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm bestätigt. Es verändert zwar die ihm bekann83
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Vgl. Karl Härter u. a. (Hrsg.), Repertorium der Policeyordnungen der frühen Neuzeit, Bd. 1 (Deutsches Reich und geistliche Kurfürstentümer [rund 6000 Polizeiordnungen]), Frankfurt/M. 1996, 849 (Deutsches Reich 31, Köln 19, 213, 350, 725, 905, 1030, 1127, Mainz 822, 927, 1098, 1116, 2019, 2063, 2064, 2072, 2107, 2125 2174, 2175, 2177, 2180, 2182, 2221, 2259, 2307, 2367, 2369, 2432, 2472, 2599, Trier 163, 285, 232, 1338), Bd. 2 (Brandenburg/Preußen mit Nebenterritorien), 1998, 1036, Bd. 3 (Wittelsbachische Territorien), 1999, 1894, Bd. 4 (Baden und Württemberg), 2001, 1010. Härter, Repertorium der Policeyordnungen der frühen Neuzeit, Bd. 5 (Reichsstädte), 2004, 711. Hans Hattenhauer (Hrsg.), Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, Frankfurt/M. 1970, I, 11, 8.
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ten Ableitungen von Arzt der ersten Auflage von 1854 (Arztbuch, Ärztei, arzten, Arztfinger, Arztgeld, Ärztin, ärztlich, Arztlohn, Arzung) in der zweiten Auflage des Jahres 2001 ein wenig (Ärztei, Ärztekammer [1894], arzten, Ärzteschaft [1916], Arztfinger [1575], Ärztin, Arztkittel [1929], ärztlich, Arztlohn, Arztpraxis [1965]). Arztvertrag oder Arztrecht sind darin aber nicht inbegriffen86. 4. Lediglich im Strafrecht finden sich, worauf Adolf Laufs bereits nachdrücklich hingewiesen hat, zeitweise Sonderbestimmungen. Sie betreffen in der Constitutio Criminalis Carolina Karls V. von 1532 die in Art. 134 geregelte fahrlässige Tötung (uss unfleiss oder unkunst) und die vorsätzliche (willigkliche, fursetzliche) Tötung durch den Arzt, die noch gestallt unnd gelegenheit der sachenn unnd nach Rat der verstenndigen bzw. als vorsätzlicher Mord gestraft werden sollen87. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird dies für die Fahrlässigkeitstat im Landesrecht Österreichs und Württembergs noch in eingeschränkter Art und Weise fortgeführt88. Dass der Eingriff des Arztes in die körperliche Unversehrtheit des Patienten an sich eine Körperverletzung ist, ist demgegenüber nicht wirklich allgemein in Frage gestellt worden. Dass sie zu ihrer Rechtfertigung grundsätzlich der Einwilligung des Betroffenen bedarf, ebenso wenig. Daran hält auch das gegenwärtige Recht allgemein fest. V. Zwanzigstes Jahrhundert 1. Ein besonderer Arztvertrag erscheint in der Literatur, soweit ersichtlich, erstmals 1919. Dabei handelt es sich um eine von der juristischen Fakultät der Universität Tübingen angenommene Dissertation. Ihr geht es um die dogmatische Erfassung der privatrechtlichen Beziehungen zwischen dem Arzt und dem Kranken 89 . In einer Würzburger Dissertation untersuchte 1959 Siegfried Hildenbrand90 die rechtliche Natur des Vertragsverhältnisses zwischen Arzt und Patient und die am Arztvertrag beteiligten Parteien. Mit den Kassenarztverträgen der sozialen Kranken-
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Jakob Grimm, Wilhelm Grimm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, Leipzig 1854 ff., S. 577; 2. Aufl., Bd. 3, Hildesheim 1991, S. 322. Josef Kohler u. a. (Hrsg.), Die Carolina und ihre Vorgängerinnen, Bd. 1 ff., Halle 1900 ff., Neudruck 1968; Laufs, Der Arzt im Recht, S. 169; vgl. auch Karl Saueracker, Wortschatz der peinlichen Gerichtsordnung Karls V., Heidelberg 1929, 16, Leibartzt 33 (Art. 36), 49 Wundtärtzt (Art. 147, 149). Laufs, Der Arzt im Recht, S. 172, vgl. dort auch S. 173, Anm. 23. Reinhold Teufel, Der Arztvertrag, Diss. jur. Tübingen 1919. Siegfried Hildenbrand, Die rechtliche Natur des Vertragsverhältnisses zwischen Arzt und Patient und die am Arztvertrag beteiligten Parteien, Diss. jur. Würzburg 1959.
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versicherung befasste sich 1965 eine weitere Tübinger Dissertation91. Demgegenüber behandelte Eberhard Natter in seiner Berliner Dissertation besonders den Arztvertrag mit dem sozialversicherten Patienten92. 2. Arztrecht selbst erscheint vielleicht erstmals 1938. Es findet sich in dem in Düsseldorf im Verlag Schwann veröffentlichten Titel Handbuch des Arztrechts. Er stammt von Werner Liertz und Hans Pfaffrath93. Dem geht bereits eine Untersuchung über Arzt und Patient in der Rechtsprechung durch Ludwig Ebermayer im Jahre 1925 voraus. Im gleichen Jahr stellte Franz Gebhardt die für die Ärzte wichtigen gesetzlichen Vorschriften und Einrichtungen zusammen. Wenig später erörterte Paul Ritter deutsches Zahnärzterecht94. 1948 legte Steffen P. Berg eine Einführung in die gerichtliche Medizin und den gerichtlich-medizinischen Spurennachweis vor, 1952 in zweiter Auflage einen Grundriss der gerichtlichen Medizin mit Arztrecht und Versicherungsbegutachtung, der in den folgenden Jahren in immer weiteren Auflagen erschien95. Aus dem Jahr 1952 gibt es das Arztrecht in Bayern, aus dem Jahr 1954 Arztrecht und Apothekerrecht 96 . 1955 behandelte Arnold Hess das Gesetz über das Kassenarztrecht97. 91
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Dieter Klette, Die Kassenarztverträge der sozialen Krankenversicherung. Ihr geschichtlicher Werdegang mit Motiven, Diss. jur. Tübingen 1965. Eberhard Natter, Der Arztvertrag mit dem sozialversicherten Patienten, zugleich ein Beitrag zum Naturalleistungsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung, Köln u. a. 1987; vgl. weiter Antje Buddee, Der Arztvertrag nach dem SGB V, Diss. jur. Tübingen 1997; Nina Paulic, Allgemeine Geschäftsbedingungen im Arztvertrag, Aachen 2003; Jochen Lux, Kommt dem Arztvertrag Geschäftsbesorgungscharakter zu?, in: GesR 2004, S. 1, 6. Bibliographisch nur unsicher zu ermitteln war Deutsches Arztrecht. Sammlung von Gesetzen, Verordnungen, Erlassen und Entscheidungen (Loseblatt-Ausgabe), Grüner Verlag (1933-1941) im französischen Verbundkatalog ABES, im Bibliotheksverbund Bayern (ohne Jahresangabe) und im südwestdeutschen Bibliotheksverbund (19331943). Paul Ritter, Deutsches Zahnärzte-Recht für Zahnärzte, Ärzte und Juristen, Berlin 1930. Steffen P. Berg, Einführung in die gerichtliche Medizin und den gerichtlichmedizinischen Spurennachweis, München 1948; ders. Grundriß der gerichtlichen Medizin mit Arztrecht und Versicherungsbegutachtung, München 1952, 3. Aufl. 1958, 7. Aufl. 1966, 8. Aufl. 1968, 9. Aufl. 1971, 10. Aufl. 1973, später ohne Hinweis auf das Arztrecht. Bruno Kant, Arzt- und Apothekerrecht, München 1954. Vgl. weiter Georg Schulz, Arztrecht für die Praxis, 3. Aufl., Hannover 1965, vorher unter dem Titel: Der Arzt vor dem Richter. Ein Arztrecht für den Praktiker, 2. Aufl., Hannover 1962; Werner Bast, Die rechtliche Stellung des Schiedsamtes im Kassenarztrecht, Würzburg 1965; Ernst-Walter Hanack, Arzt und Recht, München 1966; Dieter Krauskopf, Das Kassenarztrecht, Bad Godesberg 1968; Helmut Narr, Ärztliches Berufsrecht, Stuttgart 1973.
Vom Arzt im Recht zum Arztrecht
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Den Durchbruch für das Arztrecht brachte dann aber erst Adolf Laufs. Er legte 1977 in der Schriftenreihe der Neuen Juristischen Wochenschrift, die seit vielen Jahren Schwerpunkthefte mit medizinisch-juristischen Beiträgen erscheinen ließ, einen Grundriss unter dem Titel Arztrecht vor. Er umfasste 110 Seiten. Gegliedert war er in zehn Kapitel. Sie betrafen Wesen und Inhalt des Arztrechts, Arztvertrag, ärztliche Hilfspflicht, Aufklärungspflicht und Einwilligung, Rechtsfragen der Transplantations- und Intensivmedizin, besondere ärztliche Eingriffe, Berufsgeheimnis und Dokumentation, Kunstfehler und Sorgfaltspflichtverletzung, Passivlegitimation und Beweislast im Arzthaftpflichtprozess und den Arzt als gerichtlichen Sachverständigen. Vorbildlich erschlossen wurde es durch ein Sachregister. Die weitere Entwicklung des Arztrechts verkörpert die Auflagenfolge dieses erfolgreichen Werkes unmittelbar. 1978 erschien die zweite Auflage mit 130 Seiten, 1984 die dritte Auflage mit 192 Seiten, 1988 die vierte Auflage mit 243 Seiten und 2001 die fünfte Auflage mit 417 Seiten. Weil auch sie für eine vollständige Behandlung der wichtigen Fragen nicht reichten, wurde dem Grundriss 1992 ein noch umfangreicheres Handbuch des Arztrechts zur Seite gestellt98. Seitdem sind weitere ähnliche Werke anderer Autoren erschienen99. Sie haben auch Österreich und die Schweiz erfasst100. Selbst der europäische Rechtsvergleich ist bereits ausgeführt101.
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Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, München 1992, 2. Aufl. 1999, 3. Aufl. 2002. Z. B. Erwin Deutsch, Arztrecht und Arzneimittelrecht, Berlin 1983, 2. Aufl. 1991, Erwin Deutsch, Andreas Spickhoff, Medizinrecht – Arztrecht, Arzneimittelrecht und Medizinprodukterecht, 3. Aufl., Berlin 1997 (Das Arztrecht gegliedert in System und Grundlagen, Ausübung des Arztberufs und Betrieb einer Klinik, Parallelberufe [Zahnarzt, Tierarzt, Psychotherapeut, Heilpraktiker, Hebamme, Heilhilfsberufe], Rechtsverhältnis zwischen Arzt und Patient [Arztvertrag und Klinikaufnahmebedingungen], Verträge der Ärzte untereinander, mit dem Krankenhausträger und Versicherungen, Einwilligung und Aufklärung, Haftung für Behandlungsfehler [Parallelberuf Zahnarzt, Tierarzt], Haftung des Klinikträgers und des übergeordneten Arztes für Personal und Maschinen, Haftungsumfang [Schaden, Kausalität, Schutzbereich] und Haftungsfolgen [Ersatz, Schmerzensgeld, Strafe], Beweis und Gutachten, Schlichtungsstellen und Gutachterkommissionen der Ärztekammern, Qualitätssicherung in der Medizin, Patientendaten, Extremsituationen, Reproduktions- und Sexualmedizin, Sonderpersonen, psychisch Kranke und Behinderte, natürliche und künstliche Körperteile, Organtransplantation, Transfusionswesen, biomedizinische Forschung, Ethik-Kommissionen, Rechtsfragen der Gentechnologie), 4. Aufl. 1999, Medizinrecht – Arztrecht, Arzneimittelrecht, Medizinprodukterecht und Transfusionsrecht, 5. Aufl. 2003; Ludwig Hofstetter, Arztrecht, Erlangen 1991; Wolfram Hirche, Arztrecht kompakt, München 1994. Thomas Radner, Das Arztrecht, Linz 1997; Heinrich Honsell, Handbuch des Arztrechts, Zürich 1994. Gerfried Fischer, Ärztliche Verantwortung im europäischen Rechtsvergleich, Köln u. a. 1999.
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C. Ausblick Blickt man von hier aus auf das Arztrecht zurück, so ist sein Werden die Geschichte eines großen, von Adolf Laufs wesentlich mitgestalteten Erfolgs. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Verdichtung, Verrechtlichung, Verwissenschaftlichung, Vergeistigung und Verweltlichung bewirken einen wirtschaftlichen Wohlstand der Menschen, der vor allem seit den Entdeckungen und Erfindungen der Neuzeit zahlreiche ungeahnte neue Möglichkeiten eröffnet, die sich mit am deutlichsten in der stark steigenden Lebenserwartung verwirklichen. Krankheit ist nicht mehr immer nur unabwendbares Schicksal, sondern kann durch Arzt und Medizin vielfach bezwungen werden. Je stärker der Arzt hilft, desto größer wird sein Anteil am Gesamtvermögen. Bei den auch in der Hilfe möglichen Fehlern will der Betroffene gern einen Ausgleich. Weil die damit verbundenen Fragen in Zukunft nicht geringer werden, wird das Arztrecht auch ohne eine einzige Sondervorschrift in den großen Kodifikationen noch erheblich an Bedeutung gewinnen. Dieser Vorgang wird schneller ablaufen als die Entwicklung von der ersten Trepanation bis heute oder vom Arzt im Recht bis zum besonderen Arztrecht. Möge das auf wenigen alten Kernfragen beruhende, in den Einzelheiten nahezu unübersehbar diffizil gewordene Arztrecht Ärzten und Patienten gleichermaßen weiterhin nützen.
„Die Sprache ist das Organ der Vernunft.“ Ein unbekannter Text Paul Johann Anselm Feuerbachs (1775-1833) Wilfried Küper
I. 1. Ganz „unbekannt“ ist der Feuerbach-Text, um den es in diesem Beitrag geht, insofern nicht, als er sogar schon einmal veröffentlicht wurde. Doch ist der sehr versteckt publizierte Text von der Feuerbach-Forschung1 – soweit ersichtlich – bisher nicht bemerkt worden2, und in diesem Sinn darf man ihn als „unbekannt“ bezeichnen. Karl von Lilienthals russische Doktorandin Raissa-Rosa Itin bedankt sich in ihrer 1913 erschienenen Heidelberger Dissertation über den „Schutz der Entwicklung des Kindes als ein Problem der Strafgesetzgebung“ bei Gustav Radbruch dafür, daß er ihr eine von Feuerbach stammende, „bis jetzt unveröffentlichte Vorarbeit zum bayrischen Strafgesetzbuch“ überlassen habe3. Sie hat diese „Vorarbeit“ unter dem Titel „Verbrechen an den Geisteskräften des Menschen“ in einem Anhang zu ihrer Dissertation publiziert4. Offenbar verfügte Radbruch noch über das handschriftliche Original aus dem Nachlaß Feuerbachs, von dem er wahrscheinlich eine Abschrift angefertigt hat. Es ist heute – ebenso wie die vermutliche Abschrift Radbruchs – nicht mehr auffindbar5. Doch gibt es keinen
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Vgl. zuletzt die Beiträge in: Rolf Gröschner, Gerhard Haney (Hrsg.), Die Bedeutung P. J. A. Feuerbachs (1775-1833) für die Gegenwart, ARSP-Beiheft 87, Stuttgart 2003. Der Band enthält auch die bisher reichhaltigste Feuerbach Bibliographie (S. 209 ff.); sie ergänzt die von Gerhard Haney, Naturrecht und positives Recht – Ausgewählte Texte von Paul Johann Anselm Feuerbach, Freiburg, Berlin 1993, S. 371 ff., zusammengestellte ausführliche Bibliographie. Ein Hinweis darauf freilich bei Wilfried Küper, Das „Verbrechen am Seelenleben“ und das „Verbrechen gegen die Geisteskräfte“, in: Heidelberger Jahrbücher XXXV (1991), S. 35 ff., S. 61, Fn. 78. Raissa-Rosa Itin, Der Schutz der Entwicklung des Kindes als ein Problem der Strafgesetzgebung, Borna, Leipzig 1913, S. 80. Itin, Schutz der Entwicklung, S. 60-62; dazu auch die – kaum erwähnenswerten – Bemerkungen S. 43 ff. Mir ist es jedenfalls nicht gelungen, das Original oder eine Abschrift Radbruchs zu ermitteln.
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Grund, an der Zuverlässigkeit der von Itin veröffentlichten Wiedergabe zu zweifeln. 2. Feuerbach schreibt über das „Verbrechen an den Geisteskräften des Menschen“:6 „Die Einteilung dieses Verbrechens kann nun von folgenden Gesichtspunkten ausgehen. Vor allen Dingen ist zu unterscheiden zwischen Handlungen, welche die Gesundheit der Geisteskräfte stören, und zwischen solchen, welche die Entwicklung oder Bildung der Geisteskräfte hindern. In der zweiten Hauptgattung dieses Verbrechens erscheinen zwei Hauptstufen: 1. Verhinderter Unterricht, soweit dieser nach unseren Sitten zur allgemeinen Bildung jedes Menschen gehört. 2. Verhinderte Entwicklung der Gemütskräfte selbst. Der nicht Unterrichtete ist unwissend, aus Unwissenheit ungeschickt, roh und gewöhnlich aus Roheit ungesittet; der Mensch von unentwickelten Geisteskräften ist ein Tier mit Menschengestalt, mit Instinkten ohne Willen, mit Sinnen ohne Verstand. Der Ununterrichtete ist ohne Mittel, um seinen Geist zu brauchen, der Unentwickelte hat die Kraft nicht, um irgend etwas als vernünftiger Geist gebrauchen zu können. Der mangelnde Unterricht kann gewöhnlich nachgeholt und ersetzt werden, lang zurückgehaltene Entwicklung der Geisteskräfte hat gewöhnlich lebenslang Dummheit und Blödsinn zur Folge, ohne daß zu späte Kunst der gleichsam schon fast eingerosteten Seele leichte Beweglichkeit und Schärfe beibringen könnte. Also ist die Handlung der ersten Stufe weit weniger strafbar als diese. Die Modifikationen beider sind wieder unendlich mannigfach. Welch ein Abstand z. B. zwischen dem, der ein zweijähriges Kind einsperrt, um es als Vieh aufwachsen zu lassen, aber nach einem Jahr entdeckt wird, und demjenigen, der es 20 Jahre lang in diesem Zustand erhalten hat. Doch muß die Dauer des Verbrechens (nicht der Folgen) berücksichtigt werden. Und wie ist dies möglich? Die Zeit der Mündigkeit ist von der Natur bestimmt zur Hauptepoche der Entwicklung und Erziehung zum Menschen. Je weiter diese Epoche hinausgeschoben ist, desto später wird er Mensch und desto mehr wird er an seinem eigentlichen menschlichen und bürgerlichen Leben verkürzt. Dieses Früher oder Später ist schwankend und relativ, aber mitten aus der Mannigfaltigkeit des Relativen der Zeitverhältnisse hebt sich eine stetige Grenze hervor, an welcher die Gesetzgebung ihre Bestimmung festzuknüpfen vermag. Diese ist die Grenze der Mündigkeit selbst, die schon bestimmt ist durch die Gesetze, oder vielmehr, wo die Gesetze ausgesprochen haben, was die Natur diktiert hat. Wenn des Menschen Bildung oder Entwicklung am Ende der Unmündigkeit noch nicht einmal angefangen hat, wenn er, betrogen um die ganze Bestimmung seines ersten Lebensalters, noch Tier ist, wo er Mensch sein könnte, wenn er bis dahin von dem gemeinsten Unterricht entfernt oder seine Vernunft in den Banden der Tierheit gefangen gehalten wurde, dann hat das Attentat an der Menschheit ein Ziel erreicht, das die Gesetzgebung auszuzeichnen die Verpflichtung hat. Zudem: Je länger die Bildung und die Entwicklung festgehalten ist, desto schwerer wird der Ersatz für die verlorenen Jahre, desto spröder ist der Geist. Ließe sich nun da6
In der folgenden Wiedergabe wurden die altertümliche Orthographie und Interpunktion korrigiert. Die Gliederung in Abschnitte und die Hervorhebungen (im Kursivdruck) entsprechen überwiegend nicht der Vorlage.
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für ein schicklicherer Moment aussuchen als die Grenze der Mündigkeit? Was in der Epoche der Natur versäumt ist, wird schwerlich die Kunst in späterer Epoche nachholen können. Daher die Unterscheidung: ob das Kind bis in sein 14. Jahr in dem Zustand der Tierheit erhalten wurde oder nicht. Fragt man: warum das Gesetz nur bei diesem Punkte stehen bleibe, warum es nicht weitergehe, nach den Stufen der Minderjährigkeit, des Mannesalters p. p. weitere Stufen der Strafbarkeit festsetze?, so antworte ich: weil, wer in dieser Lehre alles unterscheiden will, notwendig alles verwirrt und weil die Natur selbst in den Zeiten nach der Mündigkeit keine so sichtbaren, kenntlichen Stufen mehr macht. Auch ist für die Attentate, welche diese Grenze überschreiten, schon durch das Gesetz gesorgt. Wo das Verbrechen gerade auf dieser Grenze steht, fällt es in das Minimum der Strafe; wo es an Größe und Strafbarkeit diese Grenze übersteigt, liegt es in dem Kreise zwischen Minimum und Maximum (das bei verhinderter Entwicklung volle 8 Jahre beträgt). Beim Verbrechen verhinderter Entwicklung der Geisteskräfte bedarf der Gesetzgeber zur äußeren Dokumentierung seiner Existenz untrüglicher Zeichen. Dieses ist die Sprachfähigkeit. Die Sprache ist das Organ und die äußere Erscheinung der Vernunft, des Geistes. Wo die körperlichen Bedingungen zur Sprache sind und doch nicht Sprache ist, da ist Tierheit. Er spricht nicht mit dem Munde, weil seine Seele noch nicht sprechen kann.“
3. In dem berichteten Text, der allem Anschein nach eine nicht ausgearbeitete, unabgeschlossene Gedankenskizze darstellt, geht Feuerbach von einem „Verbrechen“ aus, das er sogleich in zwei Begehungsformen („Hauptgattungen“) einteilt: Er trifft eine Unterscheidung zwischen Handlungen, „welche die Gesundheit der Geisteskräfte stören“, und solchen, „welche die Entwicklung oder Bildung der Geisteskräfte hindern“. Während von der ersten Begehungsform nicht mehr weiter die Rede ist, befaßt sich Feuerbach sodann eingehend mit der zweiten „Hauptgattung“, deren beide „Hauptstufen“ er inhaltlich begründet und näher entwickelt: der „Verhinderung des Unterrichts“ und der „verhinderten Entwicklung der Gemütskräfte selbst“. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Charakterisierung der zweiten „Hauptstufe“, die einen Menschen von „unentwickelten Geisteskräften“ betrifft. Was zunächst nur wie eine rein theoretische Begründung und Systematisierung des angesprochenen Verbrechens klingt, geht alsbald über diese Intention hinaus und ist ersichtlich auf eine künftige Gesetzgebung bezogen: „Gesetzgebung“, „Gesetz“ und „Gesetzgeber“ werden zwar nicht von Anfang an und auch später nur sporadisch, gleichwohl aber so deutlich erwähnt, daß kein Zweifel möglich ist: Feuerbach versucht in seinem Exposé, jenem Verbrechen in seiner „zweiten Hauptgattung“ eine legislatorische Form, einen „gesetzlichen Tatbestand“ zu geben. Die Vermutung, daß es sich um eine Vorarbeit, eine Art Vorstudie zum späteren Bayerischen Strafgesetzbuch von 1813 – d. h. zu einem Entwurf für dieses Gesetzbuch – handelt, erscheint daher berechtigt, wenngleich die Datierung des Textes unsicher ist. Was das „Verbrechen“ betrifft, mit dem sich Feuerbach hier beschäftigt, so wirft der Text zunächst eine Reihe von Fragen auf, die vorläufig nur intuitiv formuliert werden können. Hatte jenes Verbrechen, um dessen materielle Begrün-
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dung und gesetzliche Ausgestaltung sich Feuerbach bemüht, bisher denn noch keine solche Substanz und legislative Form? Existierte überhaupt ein derartiges „Verbrechen“, dessen Existenz Feuerbach anscheinend schon voraussetzt? Oder mußte es etwa – durch Gesetzgebung – erst geschaffen werden, und war dies die Absicht Feuerbachs? Solche und ähnliche Fragen an unseren Feuerbach-Text lassen sich nur aus seinem historischen Kontext beantworten, einem Zusammenhang, dessen Rekonstruktion trotz der unsicheren Datierung des Textes bis zu einem gewissen Grad möglich ist. Dabei wird sich auch zeigen, daß die bisher intuitiv aufgeworfenen Fragen z. T. falsch oder zumindest ungenau gestellt sind. Denn einerseits „existierte“ jenes Verbrechen, als begründete Theorie, bereits mit deutlich faßbaren Konturen, und es „existierte“ andererseits wiederum nicht oder war in seiner Existenz doch höchst zweifelhaft: Die „Existenz“ des Verbrechens hing von der Anerkennung des rechtlichen Geltungsanspruchs ab, den die Verbrechenstheorie erhob.
II. 1. Der Gedanke, daß Verbrechen an „Geist“, „Vernunft“, „Gemüt“ oder „Seele“ des Menschen anzuerkennen seien, entstammt im Ursprung der Naturrechtslehre Christian Wolffs (1669-1754) und ihrer Unterscheidung zwischen Gütern der „Seele“, des „Leibes“ und des „äußeren Zustandes“7. Der bedeutende sächsische Kriminalist Carl August Tittmann (1775-1834)8, ein gleichaltriger Zeitgenosse Feuerbachs, entwickelte aus diesem Ansatz die Idee eines speziellen „Verbrechens gegen die Geisteskräfte“, eines – wie man heute sagen würde – eigenständigen Delikts, das wegen der Eigentümlichkeit und des Ranges seines Verletzungsobjekts von anderen Delikten gegen die Person substantiell zu unterscheiden sei, namentlich von Gesundheitsschädigung, Vergiftung und Freiheitsberaubung. Das Thema hat Tittmann bereits in seiner – später viel zitierten – Leipziger Dissertation beschäftigt und ihr den Titel gegeben: „De delictis in vires mentis
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Zum Folgenden näher Wilfried Küper, Das Verbrechen am Seelenleben – Feuerbach und der Fall Kaspar Hauser in strafrechtsgeschichtlicher Betrachtung, Heidelberg 1991, S. 111 ff. Auf diese Schrift sei hier wegen der weiteren Einzelheiten generell verwiesen. Vgl. auch Küper, Heidelberger Jahrbücher XXXV (1991), S. 53 ff. – Zum Ursprung bei Christian Wolff vgl. dessen „Grundsätze des Natur- und Völckerrechts“, Halle 1754, § 104 i.V.m. § 133 f. (S. 65, S. 86 f.). Zu Tittmann vgl. Ernst Landsberg, in: Roderich Stintzing, Ernst Landsberg, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft, Abt. III/2, München, Berlin 1910, Noten S. 69 ff. In das Kompendium von Gerd Kleinheyer, Jan Schröder (Hrsg.), Deutsche und Europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Aufl. Heidelberg 1996, ist der bedeutende Kriminalist leider nicht aufgenommen worden.
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humanae commissis“ (1795)9. Mit der Intention, Grundideen des Vernunftrechts im Strafrecht Geltung zu verschaffen, ging Tittmann in dieser Schrift davon aus, daß die Kräfte und Gaben der „mens humana“ für den Menschen als von der „Natur“ auf Erkenntnis angelegtes Wesen das höchste Gut nächst dem (physischen) Leben seien10. Da diese Geisteskräfte oft behindert oder ausgelöscht würden, sei deren – bisher nicht hinreichend gewährleisteter – Schutz durch eine neue Deliktsart erforderlich, eben durch ein besonderes „Verbrechen an den Geisteskräften“. Der strafrechtliche Schutz muß sich dabei gegen zwei Grundformen der geistigen Verletzung des Menschen richten11: einmal gegen Handlungen, die eine Entwicklung der Geisteskräfte von vornherein behindern oder unterdrücken, zum anderen gegen Handlungen, welche bereits entwickelte Geisteskräfte – ganz oder teilweise, vorübergehend oder dauernd – zerstören. Innerhalb der ersten Verbrechensgruppe, einem Delikt namentlich zum Schutz von Kindern, soll wiederum zu unterscheiden sein zwischen den Fällen, in denen „ein Kind ganz im Stande der Tierheit erhalten wird“, und andererseits Beeinträchtigungen, „die das Kind nur in der Dummheit erhalten und für das Leben unbrauchbar machen“. Als Beispiel für die schwerste Verletzungsform nannte Tittmann den Fall, daß „a prima infantia homo ab omni plane hominum consuetudine separatur atque sejungitur, ut neque usum sermonis, neque ullum rationis cultum possit adipisci“12. 2. Die von Tittmann in seiner Dissertation entwickelte „neue Lehre“ hätte wahrscheinlich nicht die Aufmerksamkeit gefunden, die ihr alsbald in der Literatur zuteil wurde13, wenn sie der Autor nicht in eine Reihe weiterer strafrechtlicher Werke übernommen und darin ergänzt hätte. In Tittmanns „Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des peinlichen Rechts“ (1798)14 taucht das „Verbrechen gegen die Geisteskräfte“ zunächst wieder auf, sodann in den „Grundlinien der Strafrechtswissenschaft und der deutschen Strafgesetzkunde“ 9
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Carl August Tittmann, Dissertatio de delictis in vires mentis humanae commissis, Lipsiae 1795. Die Dissertation ist wieder abgedruckt bei Johann Christian Salchow (Hrsg.), in: Archiv für Freunde der Philosophie des Rechts und der positiven Jurisprudenz, Bd. 1, 1. Stück, Jena, Leipzig 1805, S. 14 ff. Vgl. dazu auch Küper, Verbrechen am Seelenleben, S. 113 ff. m.w.N. Vgl. dazu die zusammenfassende Darstellung bei Friedhelm Krüger, Christian Daniel Erhard und sein Entwurf eines Gesetzbuches über Verbrechen und Strafen für das Königreich Sachsen, Bonn 1963, S. 103 ff. Zum Folgenden Tittmann, Dissertatio, in: Salchow, Archiv für Freunde, S. 19, 20 f. Ein Referat der Arbeit Tittmanns, in: Allgemeine Literatur-Zeitung, Bd. 3, Jena, Leipzig 1798, Nr. 233, Sp. 247 (anonyme Rezension Feuerbachs ?). Vgl. auch unten Fn. 18. Tittmann, Dissertatio, in: Salchow, Archiv für Freunde, S. 22. Zur Diskussion im Schrifttum vgl. die Nachw. bei Küper, Verbrechen am Seelenleben, S. 125 ff., 130 ff. Carl August Tittmann, Versuch über die wissenschaftliche Behandlung des peinlichen Rechts, Leipzig 1798, § 44, S. 140 f.
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(1800)15, schließlich im großen „Handbuch des gemeinen deutschen peinlichen Rechts“ (1807)16, aus dem Tittmanns „Handbuch der Strafrechtswissenschaft“ (1822)17 hervorgegangen ist. Wie sich schon an Feuerbachs Einteilung des Delikts in „zwei Hauptgattungen“ erkennen läßt – hier kehren Tittmanns Grundformen der geistigen Verletzung deutlich wieder –, bezieht sich das Exposé Feuerbachs auf diese neue Tittmann’sche Lehre, der er (in der zweiten Hauptgattung) eine gesetzliche Gestalt zu geben versucht. Die frühe Kenntnis dieser Lehre darf ohnehin bei Feuerbach vorausgesetzt werden18. Zur genaueren Beurteilung des Feuerbach-Textes ist freilich die Mitteilung weiterer – nicht aller – Details aus der Lehre Tittmanns nützlich. Dabei zeigen sich Gemeinsamkeiten, aber auch charakteristische Unterschiede im Verständnis des „Verbrechens gegen die Geisteskräfte“, soweit es die – hier allein interessierende – Störung der geistigen Entwicklung betrifft. Aufschlußreich ist zudem ein Vergleich mit den Fassungen, die diese Variante des Verbrechens bei anderen Autoren erhalten hat. In seiner Handbuch-Darstellung schlägt Tittmann für das „Verbrechen wider die Geisteskräfte“ auch die Bezeichnung „Verstandesberaubung“ oder „Noochiria“ vor19. Er sieht das „Wesen“ des Delikts darin, daß ein „angeborenes Recht“ des Menschen verletzt werde, nämlich die „ihm beiwohnende Vernunft“ als „Bedingung alles Rechtes für den Menschen“, auf deren „Dasein“ er wiederum ein Recht habe. Ein solches Verbrechen umfasse „jede Handlung, durch welche die Tätigkeit der Verstandeskräfte eines Menschen gänzlich verhindert oder zerstört 15
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Carl August Tittmann, Grundlinien der Strafrechtswissenschaft und der deutschen Strafgesetzkunde – Zum Gebrauche bei Vorlesungen, Leipzig 1800, §§ 149 ff., S. 113 ff. Carl August Tittmann, Handbuch des gemeinen deutschen Peinlichen Rechts, 1. Aufl., Teil II, Halle 1807, §§ 223 ff., S. 118 ff. Carl August Tittmann, Handbuch der Strafrechtswissenschaft und der deutschen Strafgesetzkunde, Bd. 1, 2. Aufl. (des in Fn. 16 zitierten Werkes), Halle 1822, §§ 179 ff., S. 366 ff. Schon in der ersten Ausgabe seines „Lehrbuchs des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts“, Gießen 1801, hatte Feuerbach Tittmanns Dissertation bei der Beschreibung der „Körperverletzung im engeren Sinne“ mit der Bemerkung zitiert: „Herr Tittmann zu Leipzig nimmt noch als besonderes Verbrechen die Gemüthsverletzung an. Unsre Gesetzgebung kennt sie nicht als Verbrechen, auch hat sie als solche nicht einmal Analogie mit irgend einem anderen Verbrechen.“ (S. 218, Anm. zu § 280) Spätestens seit der 4. Aufl., Gießen 1808, fehlt dieser Zusatz in Feuerbachs Lehrbuch (S. 214, Anm. zu § 244). – Die anonyme Rezension von Tittmanns „Versuch über die wissenschaftliche Behandlung“ in der Allgemeinen Literatur-Zeitung 1798, Nr. 322, Sp. 217 ff., stammt von Feuerbach; vgl. Haney, in: Gröschner/Haney, Die Bedeutung, S. 210. Vgl. zum Folgenden die Darstellung Tittmanns in der 1. Aufl. des Handbuchs des peinlichen Rechts, §§ 223 f., S. 118 ff. Sie ist identisch mit dem Text der 2. Aufl., § 179 f., S. 366 ff., und entspricht weitgehend den Ausführungen in den Vorgängerwerken. – Die Zitate des Textes sind der heutigen Orthographie und Interpunktion angepaßt worden. Hervorhebungen entsprechen größtenteils nicht dem Original. In gleicher Weise wird in dieser Studie mit älteren Texten generell verfahren.
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wird“. Dafür sei es gleichgültig, „ob hier schon wirklich ausgebildete oder noch unausgebildete Verstandesorgane verletzt werden“. Verlangt wird allerdings eine „wirkliche Verletzung (Zerstörung oder Unbrauchbarmachung) der Organe“, die „schlechterdings erfolgt sein“ muß. Dies kann auch geschehen – und damit ist speziell die Entwicklungsstörung angesprochen – „durch die Entfernung aller der sinnlichen Eindrücke, welche die Geistestätigkeit gleichsam erst erwecken und aufreizen müssen“. In Betracht kommt dafür namentlich „eine gänzliche Absonderung eines Menschen von aller menschlichen Gesellschaft“, die „in dem zartesten Kindesalter vor Erlernung der Sprache erfolgt und bis zu einer Zeit fortgesetzt wird, wo sich der Geist gleichsam verkörpert hat“. Ein Anwendungsfall sei ferner die „absichtliche Erziehung zur Stupidität“, obwohl sie „die Tätigkeit der Verstandeskräfte nur in einem geringeren Grade hindert“. Zum „Tatbestand“ des Verbrechens20 an den Geisteskräften gehöre aber stets die „Bewirkung der Verstandeslosigkeit oder des Wahnsinns bei einem Menschen“. Dabei betrifft „Verstandeslosigkeit“ nach Tittmann die Fälle, in denen „die Entwicklung des Verstandes überhaupt“ verhindert wird, im Gegensatz zum „Wahnsinn“, bei dem „der bereits entwickelte Verstand aufgehoben ist“: Verstandeslosigkeit sei derjenige Zustand eines Menschen, „in welchem er niemals die Fähigkeit zur Auffassung eines Begriffes gehabt hat“. „Im allgemeinen“ – so resümiert Tittmann – „muß die Wirkung dieses Verbrechens ein solcher krankhafter Zustand des Körpers sein, in welchem die menschliche Seele die ihr verliehenen Kräfte zu Aufnahme, Aufbewahrung, Zusammensetzung und Vergleichung der Begriffe anzuwenden außer Stand gesetzt und die Harmonie dieser Kräfte gestört ist“. In einer ausführlichen Anmerkung21 erinnert Tittmann an die „Erzählungen von Kindern, welche in der Wildnis aufgewachsen sind“: „Die Entziehung von aller Gelegenheit zu sinnlichen Eindrücken, welche die Seelenkräfte wecken müssen, weil der Mensch nur durch die Sinne Ideen bekommt, und besonders der Mangel an Übung der Sprachfähigkeit hat solche Kinder immer in der Tierheit erhalten“. Welche Wirkung die „Entziehung der menschlichen Gesellschaft“ habe, lasse sich aus dem Einfluß schließen, den „der Umgang mit gebildeten Menschen auf die Geisteskräfte hat“. Weil die Seele wie der Körper „ihre Perioden des Wachstums“ habe und es einem „Menschen von älteren Jahren“ gewöhnlich schwer werde, „etwas zu erlernen, womit sich sein Geist vorher gar nicht beschäftigt hat“, sei die Behauptung berechtigt, „daß die Stupiderhaltung eines Menschen bis zu gewisser Zeit nie wieder gut gemacht werden könne“. 3. Tittmanns Lehre von einem eigenständigen Delikt gegen die „Geisteskräfte“, das nicht zuletzt die Störung der geistigen Entwicklung umfassen sollte, zielte darauf 20
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Den „Tatbestand“ versteht Tittmann noch – i. S. des corpus delicti – als „Inbegriff aller der Umstände, welche zu dem Wesen (Begriff) der Verbrechen oder Vergehen gehören“. Vgl. Tittmann, Handbuch des peinlichen Rechts, Teil I, Halle 1806, § 39, S. 74. Tittmann, Handbuch des peinlichen Rechts, Teil II, S. 120 f., Anm. x.
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ab, ein bisher unbekanntes Verbrechen naturrechtlich zu begründen und so das positive „gemeine Recht“ jener Zeit „vernunftgemäß“ – mit unmittelbarem Geltungsanspruch – zu ergänzen22. Man wird sagen dürfen, daß diese naturrechtliche Lehre einen geradezu aufregenden Grundgedanken verfolgte: Im „Zeitalter der Vernunft“ – „warum sollten wir nicht das unsrige so nennen dürfen?“ (Feuerbach)23 – er hob Tittmann die menschliche Vernunft selbst zum Schutzobjekt eines besonderen Verbrechens der „Vernunftberaubung“. In der gemeinrechtlichen Strafrechtswissenschaft fand seine Lehre zwar einige Anhänger und viel Aufmerksamkeit24, wurde aber, soweit sie Geltung für das gemeine Recht in Anspruch nahm, fast durchweg abgelehnt, auch von Feuerbach25. Als Anhänger Tittmanns sind vor allem dessen – und Feuerbachs – Zeitgenossen Eduard Henke (1783-1869) und Johann Christian Salchow (1782-1829) hervorzuheben26, die sich bei der Beschreibung der „Entwicklungsstörung“ eng an Tittmanns Vorstellungen anlehnten. So erforderte die „Verhinderung noch unentfalteter Geisteskräfte“ nach Henke grundsätzlich eine „gänzliche und andauernde Absonderung einer Person in ihrer frühesten Jugend von aller menschlichen Gesellschaft, und zwar so lange, bis die Entwicklung der Geistesfähigkeit nicht mehr zu erwarten steht“27. Salchow sah das Wesentliche in der „Unterdrückung aller Ausbildung des menschlichen Geistes, wie z.B. durch stupide Erziehung, durch gänzliche Absonderung und Entfernung von allem menschlichen Umgang“28. 22
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Zum naturrechtlichen Geltungsanspruch bei Tittmann vgl. Tittmann, Grundlinien, § 149, S. 113. – Zu dieser „philosophisch-spekulativen“ Richtung in der Strafrechtswissenschaft des 18./19. Jahrhunderts namentlich Richard Löning, Über geschichtliche und ungeschichtliche Behandlung des deutschen Strafrechts, in: ZStW 3 (1883), S. 219 ff., 253 f. (S. 329 speziell zu Tittmann); sowie Landsberg, in: Stinzing/Landsberg, Deutsche Rechtswissenschaft, S. 69. Paul Johann Anselm Feuerbach, Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs zu einem peinlichen Gesetzbuche für die Chur-Pfalz-Bayrischen Staaten, Gießen 1804, Teil I, Einleitung S. IV. Vgl. die Hinweise bei Küper, Verbrechen am Seelenleben, S. 125 ff., S. 130 ff. Dazu näher Küper, Verbrechen am Seelenleben, S. 125 ff., 139 ff., mit weiteren Hinweisen; vgl. auch oben Fn. 18. – Feuerbach erkannte gemeinrechtlich lediglich eine „Zerrüttung des Gemütszustandes“ als Körperverletzung (Gesundheitsschädigung) an, wenn sie Folge einer „gewalttätigen Einwirkung“ ist. Er berücksichtigte außerdem die Verursachung einer „Gemütskrankheit“ bei der Vergiftung als qualifizierter Körperverletzung. Vgl. z. B. Feuerbach, Lehrbuch, 4. Aufl., 1808, §§ 244, 247 (S. 214 ff.). Zu Henke vgl. Landsberg, in: Stintzing/Landsberg, Deutsche Rechtswissenschaft, Abt. III/2, Text S. 383 f., Noten S. 155, 181. – Salchow ist in Landsbergs Geschichte der Rechtswissenschaft nicht berücksichtigt. Vgl. zu ihm F. Brümmer, in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 30, Leipzig 1890, S. 211. Salchow – Professor in Halle, Verfasser zahlreicher juristischer Bücher und Abhandlungen, auch belletristischer Literatur – verdiente es, der Vergessenheit entrissen zu werden! Eduard Henke, Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik, Teil II, Berlin, Stettin 1826, § 109, S. 132. Salchow, in: Salchow, Archiv für Freunde, S. 51. Salchow rückt hier von seinen Ausführungen in der vorangegangenen Lehrdarstellung ab, wo er eine „Zerrüttung der ver-
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1830 veröffentlichte der preußische Kriminalist Julius Friedrich Heinrich Abegg (1796-1868) eine groß angelegte Kritik der Tittmann’schen Lehre von geradezu monographischem Ausmaß29. Daran interessiert in diesem Zusammenhang nur, wie Abegg die Variante der „Entwicklungsstörung“ verstand. Er umschrieb sie folgendermaßen: Es gehe hier nicht um die „Hervorbringung einer Geisteskrankheit“, wie bei einem „Individuum von bereits mehr ausgebildeten und entwickelten Geisteskräften“, sondern darum, „daß der Möglichkeit solcher Entwicklung absichtlich Hindernisse in den Weg gelegt werden“, namentlich in der Weise, daß „durch gänzliche Entfernung eines Kindes von aller menschlichen Gesellschaft mit der Verhinderung der Erlernung der Sprache auch die damit zusammenhängende weitere geistige Ausbildung unterdrückt wird“30. Den für die Vollendung des Delikts erforderlichen Eintritt des „Erfolges“ bestimmte Abegg dabei aus der Zeitdauer der zur Verwirklichung angewandten „Mittel“ und deren irreparabler Wirkung: „wenn nämlich jene Absonderung und Verwahrlosung so lange gedauert hat, daß auch eine spätere menschliche Einwirkung und alle Kunst der Erziehung fruchtlos ist, um den Mangel früherer Ausbildung zu ersetzen“. 4. Das „Verbrechen an den Geisteskräften“ war indessen nicht nur Thema der Strafrechtsdoktrin; es war zugleich Gegenstand kodifikatorischer Bemühungen und schließlich sogar der Gesetzgebung selbst. Gallus Alois Kleinschrod (1762-1824) widmete in seinem umfangreichen „Entwurf eines peinlichen Gesetzbuches“ für Bayern (1802) dem Delikt einen ganzen Komplex umständlich-weitläufiger Vorschriften, in denen Tittmanns Lehre deutlichen Niederschlag gefunden hat31. Hier ist auch die Störung der geistigen Entwicklung von Kindern in einem gesonderten
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nünftigen Anlagen im Menschen“ verlangt hatte. Vgl. Salchow, Darstellung der Lehre von Strafen und Verbrechen nach gemeinen Rechten (usw.), Bd. 2, Jena 1805, § 228, S. 79 f. In seinem „Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts“, 3. Aufl. Halle 1823, § 190, S. 157 f., kehrt Salchow weitgehend zu seiner ursprünglichen Auffassung zurück und will die „bloße Verhinderung der Ausbildung der Verstandeskräfte“ als Verbrechen nicht mehr anerkennen, weil hierbei der „geistige Gesundheitszustand nicht gestört“ werde. Julius Friedrich Heinrich Abegg, Beiträge zur Kritik der Lehre von den s. g. Verbrechen gegen die Geisteskräfte, in: Untersuchungen aus dem Gebiete der Strafrechtswissenschaft, Breslau 1830, S. 379 ff. Vgl. dazu die Analyse bei Küper, Verbrechen am Seelenleben, S. 181 ff., 202 ff. Zu Abegg vgl. Landsberg, in: Stintzing/Landsberg, Deutsche Rechtswissenschaft, Text S. 336, S. 669 ff., Noten S. 155 f., 289 f. Kurzer Hinweis bei Kleinheyer/Schröder, Juristen aus neun Jahrhunderten, S. 463. Abegg, Beiträge, S. 411; dort auch das folgende Zitat. Gallus Alois Kleinschrod, Entwurf eines peinlichen Gesetzbuches für die kurpfalzbaierischen Staaten, München 1802, S. 164 ff. Zu Kleinschrods Entwurf Max Grünhut, Anselm v. Feuerbach und das Problem der strafrechtlichen Zurechnung, Hamburg 1922, S. 143 ff. Zu Kleinschrod allgemein: Landsberg, in: Stintzing/Landsberg, Deutsche Rechtswissenschaft, Text S. 461 ff., Noten S. 296.
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Tatbestand erfaßt. Nach § 1009 des Entwurfs soll sich wegen dieses Verbrechens strafbar machen, wer „ein Kind von der menschlichen Gesellschaft vorsätzlich und gänzlich entfernt und ihm nicht einmal die gemeinste menschliche Erziehung erteilt oder erteilen läßt“. Bemerkenswert ist, daß Feuerbach in seiner berühmt gewordenen „Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs“ (1804), in der er vor allem die Vieldeutigkeit und Unschärfe der verwendeten Begriffe rügte, diesen Tatbestand ebenso unberührt ließ wie die anderweitigen, von Kleinschrod formulierten Varianten des Verbrechens; er kritisierte lediglich die vorgesehenen Sanktionen, hatte also offenbar keine Bedenken gegen die vorgeschlagene Formulierung des Tatbestandes32. Weitere Gesetzesvorschläge legten Tittmann selbst und Christian Daniel Erhard für Sachsen vor. Nach Tittmanns Entwurf (1813)33 ist strafbar, wer „ein Kind durch vorsätzliche Absonderung von aller menschlichen Gesellschaft zur Empfängnis vernünftiger Begriffe unfähig macht“ (§ 676). Im unvollendeten Entwurf von Erhard (1816)34 ist Strafbarkeit für denjenigen vorgesehen, der „ein Kind absichtlich in einen solchen Zustand versetzt, durch welchen dessen Entwicklung zum vernünftigen Wesen gänzlich verhindert wird“ (Art. 955). Dabei sei zu berücksichtigen, ob das Kind im Tatzeitpunkt „zur geistigen Entwicklung bereits fähig war“ (Art. 956). Hierfür wird eine „Vermutung“ der geistigen Normalität aufgestellt, die durch bestimmte Krankheitssymptome widerlegt werden kann (Art. 957). Erhard beschränkt die Handlungsmodalitäten nicht, nennt aber als Anwendungsfall auch die „Entfernung von der menschlichen Gesellschaft“ (Art. 958). – Erhards Entwurf zum „Verbrechen gegen die Geisteskräfte“ wurde zwar in Sachsen ebensowenig Gesetz wie derjenige Tittmanns. Doch blieben die Entwürfe, anders als Kleinschrods Vorschläge in Bayern, nicht ganz ohne legislative Resonanz. Im Sächsischen Strafgesetzbuch von 183835 ist ihr Einfluß noch deutlich. Das Gesetz kennt zwar die Straftat gegen die „Geisteskräfte“ nicht mehr als formal eigenständiges Delikt, berücksichtigt jedoch im Kapitel „Von Verbrechen wider die Gesundheit“ in einem besonderen Titel neben der „Zerrüttung der Geisteskräfte“ auch die „Verhinderung der Entwicklung derselben“. Nach Art. 137 ist u. a. strafbar, wer absichtlich „die Ausbildung der Geisteskräfte eines Kindes unterdrückt“. Das spätere Sächsische Strafgesetzbuch von 185536 stellt dann die „geistige“ Verletzung der Körperschädigung gleich, trifft dafür aber ebenfalls eine 32 33
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Vgl. Feuerbach, Kritik, Teil II, S. 78 f., Teil III, S. 125 ff. Carl August Tittmann, Entwurf zu einem Strafgesetzbuche für das Königreich Sachsen, Bd. 1: Gesetzbuch über Verbrechen, Meißen 1813, S. 131 ff. Christian Daniel Erhard, Entwurf eines Gesetzbuches über Verbrechen und Strafen für die zum Königreiche Sachsen gehörigen Staaten, Gera/Leipzig 1816, S. 228 ff. – Zu Erhard (1759-1813) vgl. Landsberg, in: Stintzing/Landsberg, Deutsche Rechtswissenschaft, Abt. III/1, München, Leipzig 1898, Text S. 461, Noten S. 261; Krüger, Erhard, S. 18 ff. Criminalgesetzbuch für das Königreich Sachsen vom 30. März 1838, Dresden 1838, S. 110, S. 114 ff. Strafgesetzbuch für das Königreich Sachsen vom 11. August 1855, Dresden 1855, S. 177, S. 180 ff.
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spezielle Regelung. Danach ist es „als Körperverletzung zu betrachten“, wenn jemand „die Ausbildung der zu selbständigem bürgerlichen Bestehen erforderlichen Geisteskräfte eines Menschen unterdrückt“ (Art. 168).
III. Die vorangegangene Darstellung hat mit den Konturen seines historischen „Umfeldes“ gleichsam die geistige Atmosphäre nachzuzeichnen versucht, in der unser Feuerbach-Text anzusiedeln und aus der heraus er genauer zu verstehen ist. Dabei zeigt sich, wie stark Feuerbachs Exposé, bis in die Terminologie hinein, durch die Tittmann’sche Lehre vom „Verbrechen gegen die Geisteskräfte“ beeinflußt ist. Zugleich werden aber auch Besonderheiten im Verständnis und in der Ausgestaltung des Delikts erkennbar: 1. Feuerbachs Ansatz ist, wie derjenige Tittmanns und seiner Nachfolger, genuin naturrechtlich: Der Autor begründet das Verbrechen, dem er positivgesetzliche Form verleihen will, nicht aus der Tradition des gemeinen Rechts, sonders als „neues Delikt“ aus der Natur des Menschen als Vernunftwesen, das über „Geisteskräfte“ verfügt, und aus den Eigenarten des „Attentats an der Menschheit“, welches er in der Störung der geistigen Entwicklung sieht. Nicht zufällig kommt der Begriff „Natur“, bezogen auf die Menschen-Natur, im Text mehrmals ausdrücklich vor. Die „Natur“ bestimmt z. B. die „Mündigkeit“ zur „Hauptepoche“ in der Entwicklung und Erziehung zum Menschen. Was in dieser „Epoche der Natur“ versäumt wird, ist später schwerlich nachzuholen. Dabei wird „Mündigkeit“, als Ausgang aus der Kindheit, zunächst deutlich als ein Ereignis in der Entwicklung des Individuums verstanden, welches „natürlicherweise“ früher oder später eintreten kann und darüber entscheidet, wann das Individuum „vernünftiger Mensch“ wird und sein „eigentliches menschlich-bürgerliches Leben“ beginnt. In diesem, auf die naturbestimmte Entwicklung des Menschen bezogenen Sinn ist primär und prinzipiell auch die „Verkürzung“ des menschlichen Lebens gemeint, die durch das „Hinausgeschobenwerden“ – die Verzögerung – der Mündigkeit geschieht: „Je weiter diese Epoche hinausgeschoben ist, desto später wird er Mensch und desto mehr wird er an seinem eigentlichen menschlichen und bürgerlichen Leben verkürzt.“ Solches Früher oder Später ist im Entwicklungsprozeß „schwankend und relativ“, unterliegt der „Mannigfaltigkeit der Zeitverhältnisse“. Erst sekundär, im Rückgang auf diesen natürlichen Befund, wird jene Verkürzung zum verbrecherischen Eingriff: „Wenn des Menschen Bildung oder Entwicklung am Ende der Unmündigkeit noch nicht einmal angefangen hat“ und er „betrogen“ worden ist „um die ganze Bestimmung seines ersten Lebensalters“, dann liegt ein „Attentat“ an der Vernunftnatur des Menschen vor, auf das die Gesetzgebung zu reagieren hat. Das hier angesprochene „Ende der Unmündigkeit“ (Kindheit) ist
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freilich nach dem Kontext bereits die gesetzlich festgelegte „Grenze der Mündigkeit“. Doch ist in den Gesetzen nur zur Sprache gebracht, was schon „die Natur diktiert hat“, die in späterer Zeit „keine so sichtbaren, kenntlichen Stufen mehr macht“. Naturrechtliches Paradigma des geistig unentwickelten Menschen ist bei Feuerbach dessen reduzierter Status als bloßes „Tier“. Hier knüpft Feuerbach deutlich an Wendungen Tittmanns an, der schon in seiner Dissertation davon gesprochen hatte, daß „ein Kind ganz im Stande der Tierheit erhalten“ wird37, und im Handbuch diesen Topos wieder aufnimmt, wenn er von Kindern berichtet, die „immer in der Tierheit erhalten“ worden sind38. Feuerbach greift auf das Tier-Paradigma in seinem Exposé mehrfach zurück, einmal geradezu wörtlich („ob das Kind […] in dem Zustand der Tierheit erhalten wurde“), auch im Beispielsfall der Einsperrung eines Kindes, das „als Vieh aufwachsen“ soll und jahrelang „in diesem Zustand erhalten“ worden ist. Überhaupt ist der „Mensch von unentwickelten Geisteskräften“ für Feuerbach nur „ein Tier mit Menschengestalt“, ein Instinktwesen „ohne Willen“, ein Sinnenwesen „ohne Verstand“. Hat die geistige Entwicklung des Menschen am Ende der Unmündigkeit nicht einmal begonnen, weil „seine Vernunft in den Banden der Tierheit gefangen gehalten wurde“, dann ist der Betroffene „noch Tier, wo er Mensch sein könnte“. Und schließlich: Auch der Mangel an „Sprachfähigkeit“ bei einem Menschen, der nur über die „körperlichen Bedingungen zur Sprache“ verfügt, ist gleichbedeutend mit „Tierheit“, weil ihm mit der Sprache das „Organ der Vernunft“ fehlt. Dieser naturrechtliche Ansatz wird ergänzt durch gewisse empirische Aspekte: Hinweise auf „gewöhnliche Erfahrungen“ über die geistige Entwicklung des Menschen. So sei „mangelnder Unterricht“ regelmäßig nachholbar und ersetzbar. Dagegen habe die auf Dauer „zurückgehaltene Entwicklung“ der Geisteskräfte „gewöhnlich lebenslang Dummheit und Blödsinn zur Folge, ohne daß zu späte Kunst der gleichsam schon fast eingerosteten Seele leichte Beweglichkeit und Schärfe beibringen könnte“. Und ferner: „Je länger die Bildung und die Entwicklung festgehalten ist, desto spröder ist der Geist.“ Dies erinnert an Tittmanns „Erfahrungssatz“ über den „Menschen von älteren Jahren“, dem es gewöhnlich schwer werde, etwas zu lernen, womit sich sein Geist früher noch nicht beschäftigt hatte39. 2. Betrachten wir nunmehr aber genauer die Struktur des Delikts, wie es sich nach Feuerbachs Überlegungen in seiner „zweiten Hauptgattung“ – Hinderung der „Entwicklung oder Bildung der Geisteskräfte“ – darstellen soll. Dabei fällt zunächst die klare Unterscheidung zwischen den beiden „Hauptstufen“ auf: der Verhinderung des „Unterrichts“ („soweit dieser nach unseren Sitten zur allgemei37 38 39
Tittmann, oben im Text nach Fn. 11. Tittmann, oben im Text bei Fn. 21. Tittmann, oben im Text bei Fn. 21.
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nen Bildung des Menschen gehört“) und der „verhinderten Entwicklung der Gemütskräfte selbst“. Die abstufende Unterscheidung ist schon am Beginn des Textes mit der Bezugnahme auf eine Differenz zwischen „Entwicklung“ und „Bildung“ angesprochen. Sie kehrt später mehrfach wieder – wobei „Bildung“ an einer Stelle durch „Erziehung“ ersetzt ist –, am anschaulichsten dort, wo Feuerbach danach unterscheidet, ob ein Mensch „von dem gemeinsten Unterricht entfernt“ oder „seine Vernunft in den Banden der Tierheit gefangen gehalten“ worden ist. Die „Gemütskräfte“ sind, wie der weitere Text zeigt, Synonym für die „Geisteskräfte“, die Feuerbach auch anderwärts mit „Gemütskräften“ identifiziert40. Die erste „Hauptstufe“ – mit geringerer Strafbarkeit – hat ihr Vorbild in Tittmanns Variante der bloßen „Erhaltung in der Dummheit“, im Gegensatz zur gänzlichen „Erhaltung in der Tierheit“41, und wohl ebenso in der „Erziehung zur Stupidität“, welche nach Tittmann die Tätigkeit der Geisteskräfte nur „in einem geringeren Grade hindert“42. Doch klingt auch § 1009 des Kleinschrod’schen Entwurfs unüberhörbar an, wonach u. a. strafbar sein soll, wer einem Kind „nicht einmal die gemeinste menschliche Erziehung erteilt“43. Feuerbach wiederholt dies fast wörtlich, wenn er von dem Fall spricht, daß ein Mensch (Kind) bis zum Ende der Unmündigkeit „von dem gemeinsten Unterricht entfernt“ worden ist. In der Begründung für die geringere Strafbarkeit dieser Deliktsform im Verhältnis zur „verhinderten Entwicklung der Gemütskräfte“ tritt dann der Systematiker Feuerbach hervor, der nach der inneren Berechtigung dieser Differenzierung fragt. Er findet sie (verbal sekundär, aber sachlich) primär darin, daß mangelnder Unterricht dem Betroffenen nur die „Mittel“ vorenthält, „um seinen Geist zu (ge)brauchen“, während ihm bei verhinderter Entwicklung bereits die „Kraft“ fehlt, „um irgend etwas als vernünftiger Geist (überhaupt) gebrauchen zu können“. Dies zeigt sich – empirisch – darin, daß der Bildungsmangel „gewöhnlich nachgeholt und ersetzt werden“ kann, während die „zurückgehaltene Entwicklung der Geisteskräfte“ regelmäßig irreparable Folgen in Gestalt von „Dummheit und Blödsinn“ hat. Die Unterscheidung korrespondiert mit der eingangs hervorgehobenen zwischen bloßer „Unwissenheit“ (nebst ihren Folgen der „Roheit“ und „Ungesittetheit“) und dem elementaren „tierischen“ Zurückgebliebensein als Instinkt- und Sinnenwesen „ohne Willen und Verstand“. So entsteht in der ersten Hauptstufe eine Art unechtes, milderes Delikt der Entwicklungshemmung, welches die Geistes-„Kraft“ des Opfers noch nicht im Kern angreift, sondern ihm nur die Mittel zu deren Gebrauch entzieht. Im folgenden Text werden dann die beiden „Hauptstufen“ unter den Stichworten „Bildung/Erziehung“ und „Entwicklung“ so oft nebeneinander genannt, daß der Eindruck entstehen könnte, Feuerbach unterscheide sie in seinen Aussagen über die jeweilige Deliktsnatur nicht mehr und vermische sie allzu flüchtig mit40
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Paul Johann Anselm Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts, Teil II, Chemnitz 1800, S. 235, S. 237. Vgl. oben im Text nach Fn. 11. Oben im Text vor Fn. 20; vgl. auch bei Fn. 28 (Salchow). Oben im Text nach Fn. 31.
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einander. Doch zeigt die genauere Lektüre, daß dieser Eindruck trügt, wenngleich Undeutlichkeiten einzuräumen sind. Feuerbach nennt nämlich beide Deliktsformen nur dort – gleichsam in einem Atemzug – parallel, wo sie nach seiner Auffassung einheitlich zu betrachten sind. Dies gilt namentlich für das Element, das sie miteinander verbindet: die Ausrichtung des vollständigen, „vollendeten“ Delikts an der „Grenze der Mündigkeit“. Das läßt sich bis in Details des Textes hinein verfolgen. So ist die „Mündigkeit“ naturbestimmte „Hauptepoche der Entwicklung und Erziehung zum Menschen“. Hat die „Bildung oder Entwicklung“ am Ausgang der Kindheit nicht einmal angefangen, so ist das Opfer „betrogen um die ganze Bestimmung seines ersten Lebensalters“, entweder dadurch, daß es „bis dahin von dem gemeinsten Unterricht entfernt oder seine Vernunft in den Banden der Tierheit gefangen gehalten wurde“. Auch gilt für beide Hauptstufen des Delikts der empirische Begründungssatz: „Je länger die Bildung und Entwicklung festgehalten ist, desto schwerer wird der Ersatz für die verlorenen Jahre.“ Und schließlich bezieht sich Feuerbachs Weigerung, jenseits der gesetzlichen Mündigkeit noch weitere Abstufungen vorzunehmen, nur scheinbar und äußerlich allein auf die Verhinderung der „Entwicklung“ von Geisteskräften. Nach der dafür angegebenen Begründung („wer in dieser Lehre […]“; „weil die Natur selbst […]“) bezieht sie sich folgerichtig gleichermaßen auf die Verhinderung von Unterricht/Bildung. Getrennt werden die Deliktsformen andererseits in einem wesentlichen Punkt: Der Mangel an „Sprachfähigkeit“ als „untrügliches Kennzeichen“ der Verbrechensexistenz ist ausschließliches Kriterium „verhinderter Entwicklung der Geisteskräfte“, hingegen kein Merkmal der „ersten Hauptstufe“; sie besteht lediglich darin, daß ein Kind bis zur gesetzlichen Mündigkeit vom „gemeinsten Unterricht entfernt“ worden ist. 3. Angesichts der „unendlich mannigfachen Modifikationen“, in denen beide Deliktsformen verwirklicht werden können, und namentlich im Hinblick auf Unterschiede in der „Dauer“ des Verbrechens greift Feuerbach zur Bestimmung der Deliktsvollendung entschlossen auf ein zeitliches Ausgangskriterium zurück: die „Zeit der Mündigkeit“, deren Bedeutung er naturrechtlich-positivgesetzlich begründet (sie ist den Gesetzen schon von der „Natur diktiert“). Dies ist, im historischen Kontext betrachtet, das bemerkenswerteste Element des Feuerbach’schen Exposés, ja dessen eigentliche Innovation. Denn damit löst Feuerbach ein Strukturproblem der von ihm sog. „zweiten Hauptstufe“ des Verbrechens in origineller Weise: das Problem des Verhältnisses von Zeitdauer und Erfolg des deliktischen Verhaltens, das sich bei diesem „neuen“ Verbrechen zwangsläufig stellte. Er löst es zugleich durch radikale Vereinfachung der Deliktsstruktur: Soweit das Verbrechen gegen die Geisteskräfte die Störung der geistigen Entwicklung oder Bildung betraf, wurde es als ein zeitlich gestrecktes, durativ fortgesetztes Delikt („Dauerdelikt“) gedacht, dessen Wirkung („Erfolg“) erst nach Ablauf einer längeren Zeitspanne eintritt und damit die strafrechtliche „Existenz“ des Verbrechens begründet. In den bisher berichteten Deliktsentwürfen bleibt aber die
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Beziehung von „Dauer“ und „Wirkung“ in eigentümlicher Weise ambivalent44. So bestimmt Tittmann, der geistige Vater des Delikts, zwar den Erfolg deutlich und drastisch als „wirkliche Verletzung“ der „Verstandesorgane“ mit der Folge einer „Verstandeslosigkeit“, die er sogar als krankhaften Körperzustand begreift. Wann jedoch diese Wirkung im Zeitverlauf festzustellen ist, wird nur mit dem Hinweis angedeutet, daß das deliktische Verhalten – bei Tittmann die „Absonderung von aller menschlichen Gesellschaft“ – „bis zu einer Zeit fortgesetzt“ werde, zu der „sich der Geist gleichsam verkörpert hat“. Aber welcher Zeitpunkt ist dies? Henke orientiert die zeitliche Dauer mittelbar an einer negativen Entwicklungsprognose, wenn er sagt, daß die „gänzliche und andauernde“ Isolierung des Opfers „so lange“ fortgesetzt werden müsse, „bis die Entwicklung der Geistesfähigkeit nicht mehr zu erwarten steht“. Ähnlich verfährt Abegg in seiner Interpretation der Lehre Tittmanns mit der Forderung nach einer „so langen Dauer“, daß spätere menschliche Einwirkung „fruchtlos ist, um den Mangel früherer Ausbildung zu ersetzen“. Nach dieser Vorstellung entscheidet der „Erfolg“ zugleich über die „Dauer“, die zu dessen Funktion wird und damit letztlich unbestimmt bleibt. In den Gesetzentwürfen Erhards und Tittmanns sowie im späteren Sächsischen Strafgesetzbuch (1838, 1855) wird zwar – in der jeweiligen Handlungsbeschreibung – eine gewisse Dauer stets vorausgesetzt, aber nicht mehr eigens erwähnt und nur noch die Wirkung des deliktischen Verhaltens gekennzeichnet, die im Entwurf Kleinschrods (1802) sogar in der Handlungsbeschreibung aufgeht. Der Vergleich zeigt, daß Feuerbach mit der Anknüpfung des „durativen“ Vollendungsmoments an die gesetzliche „Mündigkeit“ einen eigenen, wesentlich klareren und einfacheren Weg beschreitet. Um eine möglichst klare legislative Konstruktion des neuen Verbrechens geht es ihm ersichtlich auch dort, wo er weitere „Stufen der Strafbarkeit“ je nach dem Lebensalter des Opfers ablehnt. Wenn er dabei nicht nur auf die mangelnde Notwendigkeit und die schwierige Erkennbarkeit zusätzlicher Abstufungen (in der „Natur“) verweist, sondern auch beanstandet, daß „alles verwirrt“, wer „alles unterscheiden will“, dann ist dies ein für Feuerbach als Gesetzeskritiker kennzeichnender Gedanke: die Warnung vor allzu viel Differenzierung und „Distinktion“. Ein Gesetzgeber – so hatte er in seiner Generalkritik an Kleinschrods Entwurf gesagt – „sei einfach in seinen Bestimmungen und verwickle sich nicht in spitzfindige kleinliche Distinktionen; da, wo er distinguiert, gebe er wenigstens keine Unterscheidungen, die ineinander fließen und zwischen denen der Richter in der Erfahrung keine bestimmten Grenzen ziehen kann.“45 Nach dieser Maxime verfährt Feuerbach auch bei der Be-
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Zum Folgenden vgl. oben im Text bei Fn. 19, 20 (Tittmann), 27 (Henke), 30 (Abegg), 34 (Entwurf Erhard), 33 (Entwurf Tittmann), 35, 36 (StGB Sachsen), 31 (Entwurf Kleinschrod). Feuerbach, Kritik, Teil II, S. 94. – Vgl. auch Feuerbachs unlängst wiederentdeckte „Bemerkungen über das Formelle in der Gesetzgebung und ihr Verhältniß zur Doctrin“, in: Gröschner/Haney, Die Bedeutung, S. 186 ff. (193), wo es heißt: „Je mehr der Gesetzgeber sich in das Besondere einläßt, desto mehr verliert auch sein Werk an Einfachheit, mit der Einfachheit an Klarheit, mit der Klarheit an Brauchbarkeit und wir-
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stimmung des „Erfolges“, der im Fall verhinderter Entwicklung geistiger Kräfte an der „Grenze der Mündigkeit“ festzustellen ist und die vollständige Existenz des Dauerdelikts ausweist. Er reduziert die „Komplexität“ des maßgeblichen Entwicklungsdefizits, das gewöhnlich in „lebenslanger Dummheit und Blödsinn“ bestehe, auf ein „untrügliches Zeichen“ geistiger Rückständigkeit: den Mangel des Sprachvermögens, auf den schon Tittmann als Kennzeichen einer „Erhaltung in der Tierheit“ hingewiesen hatte46. Während Tittmann eine Verletzung von „Verstandesorganen“ verlangte, die er analog körperlichen Organen dachte47, ist für Feuerbach die Fähigkeit zur Sprache das verletzte geistige „Organ“, dessen Beeinträchtigung das „tierische“ Zurückgebliebensein des Opfers anzeigt: „Die Sprache ist das Organ und die äußere Erscheinung der Vernunft, des Geistes. Wo die körperlichen Bedingungen zur Sprache sind und doch nicht Sprache ist, da ist Tierheit.“
Was freilich in Feuerbachs Entwurf fehlt, ist eine Typisierung der deliktischen Handlungsmodalität: Die seit Tittmann verbreitete Charakterisierung des verbrecherischen Verhaltens als „Absonderung von aller menschlichen Gesellschaft“ wird bei Feuerbach nicht ausdrücklich erwähnt. Es ist kaum anzunehmen, daß ihm dieses Verbrechensmerkmal entgangen sein könnte. Wenn er es gleichwohl nicht verwendet, so mag dies darauf beruhen, daß seine Skizze unvollendet geblieben ist. Vielleicht hielt er es aber auch für entbehrlich, weil er eine Bestimmung des Verbrechens nach „Dauer“ und „Erfolg“ als ausreichend betrachtete. Doch bleibt dies letztlich Spekulation.
IV. Weniger spekulativ ist der Versuch, die Unsicherheit der zeitlichen Datierung des Feuerbach-Textes zu begrenzen. Wie sich schon mehrfach gezeigt hat, sind die inhaltlichen und sprachlichen Anklänge an Kleinschrods Entwurf (1802) und vor allem an Tittmanns Handbuch-Darstellung (1807) nicht zu überhören. Dies deutet darauf hin, daß Feuerbach bei der Konzeption seines Exposés diese Texte vorgelegen haben und er dadurch angeregt worden ist. Andererseits kommt ein „Verbrechen an den Geisteskräften“ schon in Feuerbachs Entwürfen zum Bayerischen Strafgesetzbuch (1808, 1810)48 in keiner Form mehr vor, ebensowenig im
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kender Kraft.“ Dies führt Feuerbach dort weiter aus. Zur Herkunft des Textes Günter Baranowski, in: Gröschner/Haney, Die Bedeutung, S. 168 ff. Vgl. Tittmann, oben im Text bei Fn. 12, vor Fn. 19. Vgl. auch Abegg, oben im Text bei Fn. 30. Dazu Küper, Verbrechen am Seelenleben, S. 154. Entwurf eines Strafgesetzbuches, München 1808; Entwurf eines Gesetzbuches über Verbrechen und Vergehen für das Königreich Baiern, München 1810.
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späteren Strafgesetzbuch von 181349. So erscheint die Vermutung begründet, daß unser unbekannter Feuerbach-Text um das Jahr 1807 entstanden sein dürfte: eine Arbeit des etwa 32jährigen Feuerbach. Über das weitere Schicksal des „Verbrechens gegen die Geisteskräfte“ – das in der Strafrechtsgeschichte eine Episode mit bemerkenswerten Nachwirkungen blieb – ist hier nicht zu berichten50. Was Feuerbach selbst betrifft, so hat er dieses Delikt auch in seinem späteren Entwurf von 1824 nicht mehr berücksichtigt51. Doch ist er am Ende seines Lebens noch einmal zu dem Gegenstand seiner früheren Skizze zurückgekehrt, ohne sie anscheinend in Erinnerung zu haben: in einem Kapitel seines Buches über Kaspar Hauser (1832)52. Mit deutlicher Kritik an Tittmann hält er dort das bisherige Verständnis des Verbrechens für „bei weitem zu beschränkt gefaßt“, und er empfiehlt einem Gesetzgeber, der „durch Aufstellung einer solchen Gattung von Verbrechen sein System vervollständigen“ wolle, dafür „einen bei weitem höheren, freieren Standpunkt“ einzunehmen: den Standpunkt eines „Verbrechens am Seelenleben des Menschen“, welches sich nicht in „Verstandesberaubung“ erschöpfen dürfe. Warum Feuerbach nunmehr das Delikt anders sieht, was dies im einzelnen bedeuten soll53 und wie sich jenes „freier“ verstandene Verbrechen zum Inhalt des hier besprochenen Exposés verhält – das wäre freilich schon ein neues Thema.
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Strafgesetzbuch für das Königreich Baiern, München 1813; dazu näher Küper, Verbrechen am Seelenleben, S. 161 f. Eingehend dazu Küper, Verbrechen am Seelenleben, S. 181 ff., S. 217 ff., S. 231 ff. Vgl. den (unvollendeten) Entwurf Feuerbachs bei Gernot Schubert, Feuerbachs Entwurf zu einem Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern aus dem Jahre 1824, Berlin 1978, S. 233 ff. Anselm Feuerbach, Kaspar Hauser – Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen, Ansbach 1832, S. 55 ff. Dazu eingehend Küper, Verbrechen am Seelenleben, S. 100 ff., S. 144 ff., S. 210 ff., sowie in: Heidelberger Jahrbücher XXXV (1991), S. 35 ff. (S. 47 ff., S. 53 ff.).
Heinrich Gerland Ein Jenaer Rechtsgelehrter zwischen Republik und Diktatur Gerhard Lingelbach In Heinrich Gerland wirkte seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts bis zu seinem Tode resp. bis zu seiner Pensionierung an der Jenaer Universität ein Rechtsgelehrter, der mit seiner wissenschaftlichen Reputation zu den herausragenden Persönlichkeiten der Jenaer Alma mater gehört, und der sich auch durch – im Verhältnis zu seinem gesamten wissenschaftlichen Œuvre im Umfang nicht nur marginale – schöngeistig-literarische Zeugnisse auszeichnete. In dessen Lebens- und Gelehrtenschicksal brachen sich zudem die Zeitereignisse der ersten vier Jahrzehnte jenes vergangenen Säkulums: In den Gründerjahren des Kaiserreichs geboren, erlebte er den wirtschaftlichen Aufschwung einer Industrieregion, nicht zuletzt im Hause seines Schwiegervaters – des Glasindustriellen Otto Schott – in Jena recht unmittelbar. Als Offizier war er alle vier Jahre des Weltkriegs in militärische Aufgaben eingebunden, um dann nach Revolution und der Entstehung der Republik wieder auf dem Katheder tätig zu sein; zugleich wurde er politisch für die Deutsche Demokratische Partei (DDP) aktiv. Zu den in Thüringen recht früh politische Macht ausübenden Nationalsozialisten setzte er in öffentlichkeitswirksamen Reden inhaltliche Positionen, die teils von deren Anhängern willkommen interpretiert wurden, um als Hochschullehrer dennoch von jenen letztlich rüde in den Ruhestand geschickt zu werden. Im einundsiebzigsten Lebensjahr, vier Monate vor der Kapitulation Deutschlands, starb Gerland in Jena.
I. Zur Vita Heinrich Gerlands Knapp ein Jahr nach der Geburt Heinrich Gerlands am 3. April 1874 in Halle an der Saale erhielt sein Vater – Georg Gerland – eine Berufung zum Professor an die Universität nach Straßburg auf den dort neu geschaffenen Lehrstuhl für Geographie.1 Familie Gerland und damit auch Sohn Heinrich lebten nun im Elsaß; dort – in der elsässischen Universitätsstadt – verbrachte dieser die Jugendjahre und auch den größten Teil seiner Studienzeit. Eingebunden war er in die Gelehrtenfamilie
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Zur Biographie vgl. u. a. Neue deutsche Biographie, Bd. 6, S. 371 f.; zu den Würdigungen nach 1945 vgl. Eduard Kern, Heinrich Gerland (1874-1944), in: JZ 1954, S. 205; [Hellmuth] v. Weber, Heinrich Gerland, in: ZStW 66 (1954), S. 515-518.
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der Gerlands. Ursprünglich war die weitverzweigte, lutherisch konfessionierte Gerlandsche Familie im Hessischen ansässig, vor allem im Kasseler Raum.2 Heinrich Ernst Karl Balthasar – so ließen Vater und Mutter Wilhelmine (aus der Theologenfamilie Henke stammend) ihren Sohn am 5. Mai 1874 ins Hallesche Taufregister eintragen – lernte seit 1883 am Straßburger Gymnasium, legte ein Jahrzehnt später die Reifeprüfung ab, um im gleichen Jahr mit dem Jurastudium am Lebensort seiner elterlichen Familie zu beginnen, das er 1896 in Berlin abschloss; es folgte die Referendarzeit bis 1901. Dieser Bildungsabschnitt wurde unterbrochen von seinem Jahr als Einjährig-Freiwilliger (1896-97); zwei Jahre später (1899) wurde er zum Leutnant der Reserve befördert. In Straßburg wurde er im Jahre 1901 mit einer Arbeit über Geldfälschungsdelikte zum doctor iuris promoviert. 1903 wird er Assessor in Straßburg und tritt in den elsässisch-lothringischen Staatsdienst, aus dem er sich 1906 entpflichten läßt. Ein Jahr nach seiner Promotion habilitierte sich Gerland in Jena bei Richard Loening3 für das Straf- und Prozessrecht. Das Thema – und damit auch die wesentlichen Ausarbeitungen – gingen zurück auf eine preisgekrönte Schrift, die Gerland im Jahre 1898 zu einem akademischen Preisausschreiben an der Straßburger Universität verfasst hatte, seit 1902 war er somit Privatdozent. Nachdem er 1906 zum außerordentlichen Professor an der Jenaer Universität ernannt worden war, bekleidete er ab 1910 dort eine ordentliche Professur. Seit dem Herbst des gleichen Jahres war er zugleich für ein Jahrzehnt am Gemeinschaftlichen Thüringischen Oberlandesgericht zu Jena als dem höchsten Gericht der thüringisch-sächsisch-reußischen Bundesstaaten als Oberlandesgerichtsrat tä-
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Einige genealogische Anmerkungen: Ein Onkel väterlicherseits – August Werner Ernst Gerland (1838–1910), hervorgegangen aus einer Offiziersfamilie – war Historiker und Physiker. Habilitiert am berühmten physikalischen Institut in Leiden, später Professor für Physik und Elektrotechnik an der renommierten Bergakademie Clausthal im Harz, wurden technik-historische Studien das Hauptfeld seines wissenschaftlichen Wirkens. Seine schon in Leiden begonnene „Geschichte der Physik“ wie auch die „Geschichte der physikalischen Experimentierkunst“ sind ebenso bleibende Arbeiten wie der von ihm edierte wissenschaftshistorisch bedeutende Briefwechsel zwischen Leibniz und Papin (1881). Die industriegeschichtlich bedeutenden Kasseler Henschel-Werke sind sowohl mit dem Namen seines Stiefonkels als auch seines Halbbruders verbunden. Heinrich Gerlands Vetter – gleichfalls mit Namen Ernst Gerland – brachte als Gelehrter an der Frankfurter Universität bis heute beachtete Arbeiten zur Byzantinistik hervor. Gerlands Vater – Georg Cornelius Karl Gerland – betätigte sich als Komponist, Ethnologe, Geograph und Geophysiker; auf dem Gebiet der Anthropologie wurde er in Marburg promoviert. Den Gebrüdern Grimm stand er in deren Berliner Jahren sehr nahe. Dies alles als Verweis auf gleichsam polyhistorische Anlagen oder Interessen und Fähigkeiten in der Familie der Gerlands, auch wenn die Zeit jener Universalgelehrten längst vorüber war. Richard Loening (1818-1913) war seit 1882 Ordinarius für Strafrecht, Straf- und Zivilprozess an der juristischen Fakultät in Jena.
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tig. Mit Kriegsbeginn ist er als Hauptmann im Großen Kriegsquartier an der Westfront eingesetzt.4 Ein kleines, aber bezeichnendes Zeitdokument kann die schon zu jener Zeit engen Bindungen innerhalb seiner Fakultät und insbesondere zu ihm im Feld – zwischen den Zeilen auch die Haltung der Absender im zweiten Kriegsjahr zu diesen Ereignissen – belegen. Unter dem 18. Dezember 1915 schreiben die Professorenkollegen – darunter Eduard Rosenthal, Heinrich Lehmann5, Johannes Niedner6 u. a.: „Lieber Kollege Gerland, wir hatten vor einigen Wochen die Freude, sie mehrfach in Jena zu sehen. Dafür müssen wir Ihre anregende Gesellschaft in den Weihnachtstagen, […], entbehren. […] da tut jedes Zeichen der Anhänglichkeit und treuen Gedenkens gut. Auch die Fakultät möchte Ihnen durch die anliegenden Gaben ein solches Zeichen bringen. Haben Sie doch immer wert darauf gelegt, den amtlichen Fakultätsbeziehungen einen freundschaftlichen, familiären Charakter zu geben. Gerade Sie sind für unser Volk in Gesinnung und Tat vorangegangen. Entsprechend dem geistigen Charakter unserer Verbindung senden wir Ihnen in erster Linie literarische Kost. Den Tabak und die Schlackwurst müssen Sie sich selber requirieren oder von Ihrer verehrten Gattin schicken lassen. […] drücken wir Ihnen fest die Hand als Ihre treu verbundenen Kollegen.7
Aus dem Krieg zurückgekehrt, nahm Gerland zum Wintersemester 1918/19 seine Lehrtätigkeit im Straf- und Strafprozessrecht wieder auf. In den folgenden Jahren erhielt er Rufe nach den Universitäten Basel und Köln, die er ablehnte. Von seinen Kollegen in Leipzig wurde er in jener Zeit als „das Fünkchen am Saalestrand“ bezeichnet.8 Wesentlich war seine Eheschließung mit der dreizehn Jahre jüngeren Eva Schott – der Tochter des Jenaer Glasunternehmers Otto Schott – im Jahre 1906. Die Ehe blieb kinderlos. 4
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Für sein Lebensgefühl als Vierzigjähriger und seine literarischen Ambitionen soll eine Sentenz aus dem ersten Kriegsjahr stehen. Ein Gedanke, an dem er sich auch wird messen lassen müssen: „Für einen klugen Mann ist nichts unbegreiflich; er macht sich auf alles seinen Vers. Aber die Zusammenhänge sieht nur der Weise. Und während dem Klugen das Leben in allen seinen Einzelheiten klar zu sein scheint, ahnt er nichts von dessen eigentlichen Rätseln; ja, er versteht nicht, wenn sie ihm genannt werden, was sie bedeuten mögen“. – Heinrich Gerland, Vom Sinn und Gegensinn des Lebens, Jena 1914, S. 33. Heinrich Lehmann war von 1911-1917 in Jena Ordinarius für Bürgerliches Recht, Handels-, Arbeits- und Wirtschaftsrecht. Johannes Niedner (1868-1920) war von 1901 bis zu seinem Tod Professor in Jena; seit 1904 als Ordinarius für Verwaltungs- und Staatsrecht sowie Kirchenrecht. Es folgen die sieben Unterschriften der Ordinarien. Universitätsarchiv Jena (im folg.: UAJ), Bestand Gerland, Bündel 1: Briefe 1918-1927. So beschreibt ihn Günther Löwisch in seinen Erinnerungen. Günther Löwisch, Jurist in Thüringen – Sozialpolitiker in Württemberg. Erinnerungen an sieben Jahrzehnte, München 1998, S. 57.
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Am 28. Dezember 1944 verstarb er an dem Ort, an dem er mehr als dreieinhalb Jahrzehnte seines wissenschaftlichen Schaffens verbracht hatte.
II. Zu Gerlands wissenschaftlichem Wirken Vom 1. Oktober 1910 bis zu seinem Tode ist Gerland ordentlicher – seit Oktober 1939 emeritierter – Professor für Straf- und Prozessrecht, d. h. in der seltenen Kombination beider Prozessrechte, dem Straf- und dem Zivilprozessrecht. Über viele Jahre führte Gerland als Geschäftsführender Vorstand das Juristische Seminar; in den Jahren 1925–1927 war er zugleich Rektor der alma mater jenensis. In seinem wissenschaftlichen Wirken lassen sich drei Gebiete, auf denen er besonders produktiv war, ausmachen. Seine Lehrbücher, mehrere Monographien sowie viele Aufsätze belegen die Breite seines wissenschaftlichen Denkens. Einen Schwerpunkt seines wissenschaftlichen Werkes bildete die Dogmatik des geltenden Strafrechts wie auch des Strafprozessrechts. Über viele Jahre beschäftigte er sich mit neuen Entwürfen für ein revidiertes deutsches Strafgesetzbuch. Über das Strafrecht kam Gerland zur Rechtsvergleichung, dem zweiten Bereich seines wissenschaftlichen Schaffens. Seine aus subtilen Studien gewonnenen Kenntnisse zum damals noch jungen Gebiet der Rechtsvergleichung ergänzten sein Wissen und machten ihn auch von daher zu einem der Verfechter einer Strafrechtsreform. Seine Beiträge in der „Vergleichenden Darstellung des deutschen und des ausländischen Strafrechts“ bildeten mit eine Grundlage der zum Teil erst Jahrzehnte später verwirklichten Strafrechtsreformen. Über die Rechtsvergleichung wiederum kam Gerland auch zur Geschichte der angelsächsischen Gerichtsverfassung und zur Strafrechtsgeschichte. Sein drittes Tätigkeitsfeld war das Zivil- wie das Strafverfahren. Als Prozessualist erwies er sich darin als ein exzellenter Kenner der Materie. Dabei verstand Gerland das Prozessrecht stets in der Einheit von strafprozessualen wie zivilprozessualen Fragen. Von daher lag er mit nicht wenigen seiner Fachkollegen im ständigen Meinungsstreit, die eine eher enge Sicht auf die nach ihrer Auffassung notwendige strikte Trennung der Verfahrensregeln und Gerichtsbarkeiten im Kriminalverfahren von denen im eigenständigen Zivilverfahren verfochten. Dabei ging es Gerland nicht um eine Vermengung dieser beiden Verfahrensgänge als vielmehr um einen besonderen Aspekt der ganzheitlichen Sicht auf das Recht und die Rechtswissenschaft. Dieses übergreifende Denken und Wissen macht fast einen weiteren Schwerpunkt in Gerlands Schaffen aus: Die Fragen der Methoden der Rechtswissenschaft, insbesondere der Vermittlung im Rechtsunterricht. Und: Gerland war in den zwanziger Jahren ein Verfechter einer engen Verbindung von Wirtschaft und Recht, was ihn in jenen Jahren zu einem Fürsprecher einer gemeinsamen Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät machte.9 9
In Bezug auf den auf Heinrich Lehmanns Initiative zurückgehenden Verein Wirtschaft und Recht übernahm Gerland zum Zwecke des Vereins „Recht und Wirtschaft“ einen Vortrag über „Rechtsstudium im Ausland“. Vorgeschlagen dazu hatte ihn Regierungs-
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Für ihn wie für manch anderen der lange vor 1933 an der Universität Tätigen ist einerseits eine Kontinuität in den wissenschaftlichen Auffassungen typisch, die auch im Deutschen Reich in der Lehre beibehalten wird. Man könnte sagen, er verkörpert die tradierte Sichtweise, wogegen die jüngere Generation des Akademikernachwuchses viel energischer die neue Wissenschaft mit einem neuen Wissenschaftsverständnis trägt und in der Fakultät auch spürbar werden lässt. Die Forderungen, die beispielsweise auch Gerland hinsichtlich eines zu reformierenden juristischen Studiums aufstellte, mussten bzw. konnten vom Lebensalter her gar nicht mehr umgesetzt werden; dies oblag den Jüngeren, die das unter den Rahmenbedingungen und gegebenen Möglichkeiten im Dritten Reich besorgten. Sind deshalb die „Vorarbeiten“ davon loszulösen oder ergänzt das eine nicht das andere? Erst in dieser Einheit wird wohl die Existenz der Fakultät unter den nationalsozialistischen Bedingungen möglich und erklärlich. Das Recht im oben beschriebenen Sinne verlangt einerseits nach dieser tradierten Vermittlung. Dabei ist folgendes beachtlich: Je stärker das Rechtsverständnis in diesem Sinne ausgeprägt ist, umso weniger ist bei solchen Gelehrten eine rasche Anpassung an neue Auffassungen auszumachen – seien sie aus wissenschaftlichen Überlegungen entstanden oder von der Politik von außen als Forderung herangetragen. Andererseits versuchten nicht wenige, ihr über die üblichen akademischen Stufen erreichtes Lebenswerk durch Anpassung zu erhalten und gerieten zunehmend auch zu Verfechtern des Dritten Reiches. Heinrich Gerland steht – dies vorab – durchaus für den Einfluss beider Momente in seinem Wissenschaftsverständnis. Dabei liegen diesem Nachgeben verschiedene Motive und Aspekte zu Grunde. In diesem Beitrag soll vor allem sein wissenschaftliches Wirken vor 1933 in groben Zügen umrissen sein. Dazu werden zunächst aus seinem wesentlichsten Tätigkeitsfeld, dem Strafrecht, zwei seiner grundlegenden Arbeiten herausgegriffen. 1. Gerlands Lehrbuch / Grundriss zum Strafrecht Im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Wirkens Gerlands standen seine größeren Arbeiten zum Strafrecht und zum Strafprozessrecht. Im Jahre 1922 hatte er sein Lehrbuch „Deutsches Reichsstrafrecht“10 fertiggestellt, das mit gleichem Inhalt auch in der Reihe Lehrbücher und Grundrisse der Rechtswissenschaft11 erschienen
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rat Dr. Rathenau. Gerland referierte auf der Tagung des Ausschusses für Vor- und Ausbildung im Verein „Recht und Wirtschaft“ zum auch hier übergreifenden Thema: „Welchen Wert hat die Rechtsgeschichte für die Ausbildung der Studierenden in dem geltenden Rechte?“. Heinrich Gerland, Deutsches Reichsstrafrecht. Ein Lehrbuch, Berlin, Leipzig 1922, 2. Aufl. 1932. Heinrich Gerland, Deutsches Reichsstrafrecht (Grundrisse der Rechtswissenschaft, hrsg. v. Heinrich Gerland, Justus Wilhelm Hedemann, Heinrich Lehmann, Band 16), Berlin, Leipzig 1922.
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ist – herausgegeben von Gerland sowie seinem Jenenser Kollegen Hedemann und dem inzwischen nach Köln gewechselten Heinrich Lehmann12. Diesen Grundriss, der in der zweiten Auflage im Jahre 1932 auf über 730 Seiten angewachsen war, wollte Gerland als kurzgefasstes Lehrbuch verstanden wissen. Konzentriert gibt er darin den Stoff wieder, wobei er von einer regelrechten pädagogischen Ader beseelt ist. Er möchte „den Lernenden“ zu einer „höheren Betrachtungsweise zwingen“, nicht aber, ihn auf seinem Standpunkt belassen und ihn von diesem aus nur unterrichten. Er sieht in dem Grundriss ein schwierigeres Hilfsmittel als das breiter angelegte Lehrbuch. Grundsätzlich entspricht der Aufbau seines Strafrechtsgrundrisses den strukturellen Gesichtspunkten, die auch anderen Strafrechtslehrbüchern wie Grundrissen zugrunde liegen. Von besonderem Interesse für das Strafrechtsverständnis und damit für eine Analyse des Gerlandschen Verständnisses dazu sind der Allgemeine Teil, der von der stringenten geistigen Durchdringung des Stoffes – und vor allem von einem diesem entsprechenden geschichtlichen Verständnis – geprägt ist. Bereits damit ist in der konzeptionellen Anlage die erwähnte Wertetradition im Strafrecht wie im Recht generell bei ihm vorgeprägt. Bemerkenswert ist neben der Konzentration des Stoffes, auf den es Gerland ankam, dass er – nach eigener Einschätzung – „jede kritische Polemik vermieden“ habe. Nach seiner Ansicht hat sich der Leser selbst über die unterschiedlichen Ansichten zu orientieren. Da dies eine prinzipielle Haltung Gerlands war, soll sie – auch mit Blick auf die Zeit dann nach 1933 – hier explizit festgemacht sein. Nimmt man sein Vorwort hinzu, so sieht er die Aufgabe „unserer Wissenschaft und unserer Ausbildung (nicht) darin, Kontroversen aufzusuchen und zu erledigen. Immerhin ist die Möglichkeit gegeben, den einzelnen Fragen nachzugehen. Damit sind der selbständigen Arbeit des Anfängers Möglichkeiten eröffnet, die vom pädagogischen Standpunkt aus nicht unterschätzt werden sollten.“13
Ebenso vermied er in dieser Art Darstellung jede Rechtspolitik. So fehlen bei ihm die Hinweise auf die in jener Zeit in nicht gerade geringer Zahl erschienenen Entwürfe neuer strafgesetzlicher Regelungen. – Zu denen hatte er bereits selbst mit einer maßgebenden Arbeit beigetragen.14 Gerland hielt sie hier im Grundriss für schädlich, denn ein Gesetz lerne man nicht durch einzelne Hinweise kennen, die sich auf Entwürfe beziehen; dadurch würde der Anfänger im Hinblick auf das eigentliche Gesetz nur verwirrt. Nach seiner Ansicht kommt es darauf an, den Lernenden eine „gründliche, systematisch dogmatisch geschlossene Ausbildung“ zu geben. Sichtbar wird, dass Gerland großen Wert auf die juristische Methode legt.15 12 13 14
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Im Verlag Keip vor einigen Jahren als Reprint neu aufgelegt. Gerland, Deutsches Reichsstrafrecht, S. 9. Heinrich Gerland, Kritische Bemerkungen zum Allgemeinen Teil des Strafgesetzentwurfes 1919, Tübingen 1921. Nach seiner Meinung sind „unsere Juristen auf dem Gebiet des Strafrechtes längst nicht so gründlich vorgebildet […] wie auf dem des Zivilrechts. Hier muß Abhilfe geschaffen werden. Und dies könne nur geschehen, indem die Studierenden ganz anders intensiv mit den besonderen Lehren sich befassen als bisher“.
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Zweifelsohne eine auch, aber nicht nur als rechtspositivistisch zu interpretierende Methode, die für die Rechtsausbildung typisch und prägend ist. Dies korrespondiert mit seinen Arbeiten zur Reform des juristischen Studiums, wo er vor allem immer wieder darauf hinweist, dass der Jurist so ausgebildet sein muss, dass er „bei Erlaß des neuen Gesetzes völlig um(zu)lernen“ vermag, „worum er nicht herum kommt“. Nach seiner Meinung wird „immerhin übrigens auch die gründliche Ausbildung im Recht des Tages ein doppeltes über den Wechsel der Gesetzgebung hinaus verleihen: Methode der Rechtsbenutzung und Kenntnis der Fülle jener grundlegenden Begriffe, die von der jeweiligen Gesetzgebung im wesentlichen nicht berührt werden“.16
Zugleich wird in seiner gesamten Anlage des Grundrisses deutlich, dass er das Recht als angewandte Wissenschaft auffassen will. So legt er – auch das wird auf den vielen hundert Seiten deutlich – dem Anfänger ein umfangreiches Entscheidungsmaterial zum Kennenlernen des Strafrechts bei. Und er ermahnt die Studierenden: „Versäume nie, jede Entscheidung nachzuschlagen und sie solange durchzulesen, bis er (sie) versteht“. Er verlangt produktive, nicht rezeptive Arbeit von seinen Lesern. Diesen wissenschaftlichen Ansatz behält Gerland bei und dieser ist es auch, der sein Strafrechtliches Seminar17 derart anziehend und zeitlebens prägend für die Teilnehmer werden ließ. Gerland hat zwischen 1908 und 1939 regelmäßig diese besondere Form der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Rechtsfragen durchgeführt und über die Jahrzehnte hinweg damit nachhaltig auf junge Menschen gewirkt. Damit ist aber auch wieder das Ambivalente angesprochen, das der „Juristenzunft“ – sowohl in der Gesetzgebung und der Rechtsprechung als auch der diese Kunsttechnik vermittelnden Lehre – anhaftet, anhaften muss: Recht muss über den Tag hinaus wirken; dies kann es nur mit allgemeinen Begriffen, die durch Auslegung nicht nur die verschiedensten Lebenssachverhalte überhaupt, sondern auch zugleich solche über viele Generationen – und in der Zeit des 20. Jahrhunderts auch über verschiedenste Gesellschaftssysteme – hinweg zu erfassen und zu regeln vermögen. Dieses generelle Problem ist dem klugen Gerland offenbar gewesen. Von daher sind seine – hier eben nur knapp herausgegriffenen – Aussagen zur Ausbildung der jungen Eleven im Recht zu verstehen. Das entscheidendere, weil allgemeine Problem, das damit verbunden ist, bleibt die Mehr- oder gar Vieldeutigkeit, die dem Recht und seinen Normen innewohnt. Es ist Zufall und doch auch keiner, dass gerade ein so geistreicher Gelehrter wie sein damaliger Fakultätskollege Hedemann eine seiner besten Arbeiten zu eben diesem Problem verfasste. Eine Arbeit, die bis heute immer wieder zitiert wird: Die Rolle der so genannten Ge16 17
Gerland, Deutsches Reichsstrafrecht, S. 25. Die in seinem Nachlass vorhandenen Protokolle darüber sind eine Quelle besonderer Art, lassen sich doch neben den Methoden auch die Reaktionen auf jeweilige strafrechtliche Zeitfragen ausmachen. Dies setzt dann allerdings wieder den Vergleich mit anderen Rechtsgelehrten und den aktuellen Forderungen voraus, die von außen an die Wissenschaft herangetragen wurden.
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neralklauseln18. Hedemann hat diese Überlegungen am Beispiel des Zivilrechts angestellt; im Strafrecht sind diese jedoch in vielen Normen per se ebenfalls angelegt und drücken sich in einem zwar fest definierten, aber zumeist mehr oder weniger weit gespannten Strafrahmen bzw. in den möglichen weiteren Sanktionen aus, die jedoch durch die Rechtsprechung ihre konkretisierende Präzisierung erfahren. Bei der zweiten Auflage des Gerlandschen Strafrechtsgrundrisses wird deutlich, dass er auf das Lisztsche Lehrbuch19 wesentlich Bezug genommen hat. Aber ebenso spielt die Judikatur für ihn nach wie vor die entscheidende Rolle. In diesem Zusammenhang beklagt er das Notverordnungsrecht, das er zwar mit verarbeitet habe, das er aber aufgrund des ständigen Wechsels als ein sehr leidiges Gebiet ansieht. Interessant in diesem Zusammenhang die Bemerkungen: „Da, wo man nicht weiß, ob es sich um Bestimmungen von Dauer handelt, ist dies (die Gefahr, dass die Juristen bankrott zu machen gezwungen sind – G. L.) immer zum Ausdruck gebracht“20.
So verweist er darauf, dass er beim Republikschutzgesetz stets auf die zeitliche Limitierung hingewiesen habe. Eine weitere – zwar kleine, aber geistvolle – strafrechtsgeschichtlich bemerkenswerte Arbeit war Gerlands Rede bei der Übernahme des Rektorats am 25. Juni 1925. In ihr zeigt er seine Auffassung zur Verbindung von Geschichte – Strafrecht – Philosophie – Psychologie als Ausdruck seines weiten Denkens. „Die Entstehung der Strafe“ – unter diesem Thema sprach er anlässlich der jährlichen Preisverleihung in der Jenaer Aula. Dazu ist folgendes als Hintergrund anzumerken: Ein Jahr zuvor hatte ein Mineraloge, als seinerzeitiger ins Amt eingeführter Rektor über den Aufbau des Erdballs gesprochen hatte und seine Rede mit der Formel, der These geschlossen: „Erdgeschichte = wie Menschheitsgeschichte“. Da knüpfte Gerland geschickt an und entwickelte neben vielen anderen auch folgenden Gedanken, der als längeres Zitat aus dem dreiviertelstündigen Vortrag über den Ursprung des Strafens folgen soll: „Es ist beinahe auffallend, wie die Wahrheit dieser These uns sich als Endergebnis auch unserer Betrachtungen ergibt. Wie die gestaltenden, flammenden Kräfte des Erdinnern, kaum gebändigt durch eine dünne Erdkruste, heute dieselben sind wie früher, und frei geworden, wozu an sich die Möglichkeit gegeben ist, dem ganzen blühenden Lebensspiel der Oberfläche Untergang bereiten werden, so sind auch alle die Kräfte und psychischen Tatsachen im menschlichen Wesen heute noch lebendig wie damals, da sie in seinem Dasein die allein bestimmende Rolle spielten. Auch heute noch reagiert der Mensch gefühlsmäßig genau so wie in den Zeiten der Urzeit, und das einzige, was er gelernt hat, worin aber auch seine ganze Entwicklung besteht, ist, daß er weiß, 18
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Justus Wilhelm Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln – eine Gefahr für Recht und Staat, Tübingen 1929. Franz von Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, hier 25. Aufl., besorgt von Eberhard Schmidt, Berlin, Leipzig 1927. Gerland, Deutsches Reichsstrafrecht, S. 15.
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seine Gefühle zu beherrschen. Aber auch beim Menschen leben die alten Kräfte unter einer sehr dünnen, sie niederhaltenden Humusschicht der Zivilisation. Auch diese Kräfte können wieder frei werden, und in dieser Tatsache, daß der psychische Apparat des Menschen je nachdem verschieden reagiert, liegt der letzte Grund für den erstaunlichen Wechsel der Kulturverhältnisse in den Zeiten, wenn wir z. B. auf den glänzenden geistigen Aufschwung der Renaissanceperiode den furchtbaren geistigen Zusammenbruch der Nachzeit des 30jährigen Krieges mit ihren Hexenbränden und ihrem finstern Aberglauben so gänzlich unvermittelt folgen sehen. Die psychischen Voraussetzungen zum Aberglauben und damit zum Niedergang sind immer vorhanden, wie ja auch der Rachetrieb immer die Seele des Verletzten bewegen wird. Wehe dem Zeitalter, das vergessen sollte, wie man die Gefühle des Menschen paralysiert, und daß man sie paralysieren muß; wehe ihm, wenn es verlernen sollte, daß für die Entwicklung der Einzelnen wie der Gesamtheit alles ankommt auf die Tatsache des beherrschten Gefühles, daß diese Beherrschung aber ausschließlich beruht auf dem, dem wir Lehrer der Universitäten zu dienen berufen sind, auf Bildung.“21
2. Seine Kritik an der Strafrechtsreform der zwanziger Jahre Heraushebenswert ist Gerlands Eingreifen in die Diskussion zum Strafgesetzentwurf von 1919 mit einem umfangreichen Werk: „Kritische Bemerkungen zum Allgemeinen Teil des Strafgesetzentwurfes 1919“22. Im Vorwort bittet er zunächst um Unterlassen des Tadels, dass er viel Kleinarbeit geleistet habe. „In der Gesetzgebung wie auch sonst im Leben schadet sogenannte Großzügigkeit immer mehr als Genauigkeit“. – Tatsächlich analysierte er den Entwurf Stück für Stück und zerpflückte nahezu jeden Satz. Jegliche Einzelheiten würden zu weit führen, aber nur in diesen subtilen Überlegungen sind die Probleme, die der Rechtswissenschaft inne wohnen, transparent zu machen. Deshalb soll wenigstens ein Beispiel herausgegriffen sein, das zugleich elementare Fragen des Strafens, mit denen sich Gerland Zeit seines Lebens beschäftigte, beinhaltet: Das Verhältnis von Zurechnungsfähigkeit – Schuld – Rechtswidrigkeit. Hierzu kritisiert er zunächst, dass das alles unter die Überschrift Straftat gestellt ist. Dann folgt die prinzipielle Befürwortung, dass – im Gegensatz zum geltenden Recht, das im Strafrecht wie im Zivilrecht die allgemeine Begriffsbildung der Wissenschaft überließ – der Entwurf durch definitionsmäßig formulierte Begriffe eine eindeutige feste Basis für das Strafrecht der Zukunft schaffe. Die „festen“ Rechtsbegriffe sind aber gerade das, mit dem zeit- und systemübergreifend operiert werden kann. Sie sind der Moral entkleidete Termini. Sie haben damit eine gewisse „Janusköpfigkeit“ an sich: Sie sind einerseits die unverzichtbaren Werte, wie sie beispielsweise mit der Aufklärung in Strafrecht eingeführt wurden; sie sind andererseits – mit einer wechselnden Moral resp. Politik unterlegt – die „Einbruchstellen“ von Diktatoren ins Recht.
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Heinrich Gerland, Die Entstehung der Strafe. Rede, gehalten zur Feier der akademischen Preisverleihung am 20. Juni 1925, Jena 1925, S. 25. Heinrich Gerland, Kritische Bemerkungen.
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Nach Gerlands Ansicht ist es notwendig und richtig, als Grundgedanken an die Spitze zu stellen, dass nur die schuldhafte Tat bestraft wird.23 Damit erklärt er sich nachdrücklich gegen Strafrechtsauffassungen, die ein reines „Täterstrafrecht“ präferieren. Ja, fortan sollte das auch für die – die leichtere Kriminalität erfassenden – Übertretungen gelten, womit ein leidiger Streitpunkt, den das Strafrecht durchzog, beseitigt würde. Was die Erfolgshaftung angeht, so kritisierte er, dass der besonders schwere Erfolg auch dann strafverschärfend berücksichtigt werden könne/müsse, wenn dieser Erfolg nicht vom Vorsatz des Täters umfasst gewesen sei. Eine durchaus problematische Auffassung. Vermag doch eine darauf aufbauende Strafrechtslehre – wenn sie denn nachdrücklich (auch) solche Grundverständnisse vermittelt – bei den künftigen Juristen Spuren zu hinterlassen. Fragen, die hinsichtlich des Wirkens des einzelnen Wissenschaftlers und einer Fakultät zu stellen sind. Ein weiteres punktuelles Beispiel dafür liefert Gerland, wenn er vehement den Schuldbegriff schon in seiner Grunddefinition als falsch kennzeichnet: „Der Entwurf faßt die Zurechnungsfähigkeit als einen Bestandteil der Schuld auf und bestimmt diese mithin als das vorsätzliche oder fahrlässige Handeln eines Zurechnungsfähigen. Nun kann man aber in der Tat Schuld und Zurechnungsfähigkeit nicht miteinander vermengen, ohne die Schuldlehre selbst unheilvoll zu verwirren.“24
Gerland verlangt, den Schuldbegriff in seiner Reinheit wieder herzustellen und schlägt eine neue Anordnung grundlegender Paragrafen vor. Seine unmittelbare Forderung deshalb: An die Spitze gehört nach seiner Meinung die Zurechnungsfähigkeit; ihr habe sich – in der anstehenden Entwurfsgestaltung – die Lehre von der Schuld anzuschließen.25 Ein rechtspolitisch weitreichender Gedanke, der so in der NS-Zeit wohl kaum noch von jemandem hervorgehoben wurde.26 Ebenso Gerlands Briefwechsel mit Julius Nagler, wo er Ausführungen zur Rechtsangleichung Deutschlands und Österreichs macht. In diesem Brief wird Gerlands kritische Haltung zu den so genannten „Lisztianern“ deutlich, was auch ein Abrücken von bisher vertretenen grundsätzlichen strafrechtlichen Positionen erkennen lässt.27 23 24 25 26
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Vgl. § 10 Abs. 1 des Entwurfs zu einem Strafgesetzbuch von 1919. Gerland, Kritische Bemerkungen, S. 41. Es sind die §§ 10-19 des genannten Entwurfs eines neuen Reichsstrafgesetzbuchs. In diesem Zusammenhang erschließen sich manche Auffassungen erst aus den Besprechungen der Arbeiten von Fachkollegen. So äußerte Gerland im Rahmen seiner Besprechungen strafrechtlicher Arbeiten von Kollegen ein vernichtendes Urteil über eine Arbeit Erik Wolfs „Die Typen der Tatbestandsmäßigkeit“. Hinzuzuziehen wäre dazu ein ausführlicher Briefwechsel zwischen Wolf und Gerland. Hier insbesondere ein Brief Gerlands vom 19. Mai 1933, maschinenschriftlich, 2 Seiten, UAJ, Nachlass Gerland, Korrespondenz ab 1933. – (Erik Wolff [1902-1977] – Strafrechtler, Rechtsphilosoph, Rechtshistoriker, Kirchenrechtler – als Professor wirkte er zunächst in Rostock, dann in Kiel, danach in Freiburg im Breisgau.) Vgl. Gerland an Nagler aus Jena am 19. Mai 1933, Brief, maschinenschriftlich, 2 Seiten, UAJ, Nachlass Gerland, Korrespondenz ab 1933.
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Auch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten strebt Gerland die Mitwirkung der Wissenschaft an den stecken gebliebenen Strafrechtsreformen an. So führt er in einem Brief an den Strafrechtler der Frankfurter Universität Heimberger im Mai 1933 Klage darüber, dass die Hochschullehrer nicht in die weiteren Arbeiten am Strafrechtsentwurf einbezogen sind.28 Eine Kritik, die dann zu jener Zeit auf Gerlands Verhalten zu den Nationalsozialisten nicht ohne Belang gewesen sein dürfte. Er verband damit die Sorge darüber, was aus der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung (IKV), „dem erfolgreichsten europäischen Strafrechtlerverein“29, und der deutschen Strafrechtsgesellschaft werden könnte. Zugleich macht er Ausführungen zur Vorbereitung des nationalsozialistischen Juristentages und seiner ihm zugedachten Rolle, die er als „Sammelbecken für alle deutsche Organisationen auf dem Gebiete des Rechts“ entstehen sieht. Dies ist einer der Ansätze, dass Gerland es offenbar für möglich hielt, sich unter der Macht der Nationalsozialisten einzurichten.30 Deutsche Rechtswissenschaftler hatten ein gewisses Renommee im internationalen Maßstab (wieder) gewonnen. So hatte Gerland in den Wochen zwischen Dezember 1931 und Februar 1932 in einem umfänglichen Briefwechsel mit dem an der Berliner Universität tätigen Ernst Heymann31 sich zu inhaltlichen Fragen des im niederländischen Haag für den August 1932 geplanten internationalen Kongresses für vergleichende Rechtswissenschaft ausgetauscht. Auf diesem noch jungen Gebiet der Rechtsvergleichung – einem von Gerlands wissenschaftlichen Schwerpunkten – hatte die deutsche Rechtswissenschaft insgesamt eine international beachtete Stellung eingenommen. Die Jenaer Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät hatte wohlüberlegt einen erheblichen Teil der nach 1918 an sie geflossenen bibliothekarischen Mittel für die Ausstattung einer ansehnlichen rechtsvergleichenden Literatur verwendet, da hier eines der zukunftsträchtigen Rechtsgebiete lag.32 Dabei wurden folgende Schwerpunkten gesetzt: Zunächst in der Rechtsgeschichte, desweiteren in der Verbindung von Recht und Wirtschaft, ferner in der Rechtsvergleichung (hier insbesondere zu Österreich und der Schweiz) sowie Literatur zu einer notwendigen Rechtsreform.33
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Vgl. Gerland an Heimberger vom 20. Mai 1933, maschinenschriftlich, 2 Seiten, UAJ, Nachlass Gerland, Korrespondenz ab 1933. Hans Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 4. Aufl., Heidelberg 2004, S. 760. Die Mitwirkung Gerlands in wissenschaftlichen Vereinigungen, dann auch nach 1933, bleibt ein besonders zu untersuchendes Feld. Ernst Heymann war Professor für Strafrecht an der Berliner Universität. So äußerte sich Professor Lent ausführlich auf Anregung Gerlands zur Verwendung von finanziellen Zuwendungen der Zeiss-Stiftung an die Juristische Fakultät. Friedrich Lent (1882-1954) war von 1912 zunächst a.o., ab 1914 (in Nachfolge Heinrich Lehmanns) bis 1918 (Weggang nach Erlangen) Ordinarius für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Freiwillige Gerichtsbarkeit in Jena. So Lent aus Jena an Gerland, 10. Juni 1917, handschriftlich, 11 Seiten, UAJ, Nachlass Gerland, Bündel 1: Briefe 1918-1927.
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3. Gerlands Wirken für die Rechtsvergleichung Ein zweiter wissenschaftlicher Schwerpunkt, der Gerlands wissenschaftliches Wirken prägt ist der der Rechtsvergleichung. Nachdem er bereits in den Vorkriegsjahren längere Studienaufenthalte in Großbritannien hatte, sind seine rechtsvergleichenden Arbeiten zum englischen Recht von bemerkenswerter Detailgenauigkeit. Auch hier sollen drei der wesentlichen Arbeiten herausgegriffen sein. Ein fast einjähriger Studienaufenthalt in Großbritannien ließ ihn zu einem Kenner der englischen Gerichtsverfassung werden und mehrere bemerkenswerte rechtsvergleichende Arbeiten entstehen, so im Jahre 1908 die heute noch beachtete Arbeit „Die englische Gerichtsverfassung in ihrer gegenwärtigen Entwicklung und die deutsche Gerichtsreform“34. In seinen „Probleme[n] des englischen Rechtslebens“ 1929 sprach sich Gerland sogar für eine nachhaltige Übernahme des angelsächsischen Präjudiziensystems mit dem Ziel aus, die in Deutschland überbordene Streitliteratur im Interesse größerer Rechtsgewissheit einzudämmen. Am Anfang und zugleich als umfangreichstes Werk steht nicht zufällig eine systematische Darstellung zur englischen Gerichtsverfassung35, die Gerland im Jahr 1910 vorlegte. In zwei Bänden, auf über eintausend Seiten zeichnet er ein lebendiges Bild der Gerichte und ihrer Organisation im britischen Empire. Neben dem Aufbau der Gerichtsbarkeit in England werden die ordentliche Gerichtsbarkeit wie auch die Gerichte und Behörden der freiwilligen Gerichtsbarkeit und die Sondergerichte – insbesondere die Lokalgerichte und die Schiedsgerichte – detailliert analysiert, bewertet und dargestellt. Eine Arbeit, die nicht nur die Belesenheit Gerlands offenbart, sondern vor allem die Richter an den Gerichten – so sie mit britischem Recht in Berührung kamen – immer wieder zum Gerland greifen ließen. Noch heute bietet dieses Werk einen vorzüglichen Überblick über das englische Gerichtsleben, wie es sich bis ins 20. Jahrhundert hinein im englischen Teil von Großbritannien dargestellt hat und über weite Strecken noch darstellt. Es wurde nicht nur in der Rechtswissenschaft ein viel beachtetes Werk. Dibelius hat in seinem England-Handbuch36 – dieses prägte zwischen den Kriegen die Vorstellungen der Gebildeten in Deutschland über Großbritannien – Gerlands Arbeit, und nicht die Arbeit des anderen großen Kenners des englischen Rechts, MendelsohnBartholdys37, bei seiner Darstellung der englischen Rechtspflege zu Grunde gelegt. Rechtsvergleichende Arbeiten gibt es eine Reihe mehr von Gerland. – Etwas jedoch zeichnet diese alle aus: Er versucht nicht eine Methode auf einen Gegenstand anzuwenden, der dies nicht zulässt. Von daher analysiert er sehr konzise die 34
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Heinrich Gerland, Die englische Gerichtsverfassung in ihrer gegenwärtigen Entwicklung und die deutsche Gerichtsreform, Berlin 1908. Heinrich Gerland, Die englische Gerichtsverfassung. Eine systematische Darstellung, Leipzig 1910. Wilhelm Dibelius (1876-1931) hatte als Anglist bahnbrechende Arbeiten zur englischen Kulturkunde verfasst; so England, 2 Bände, Stuttgart u. a. 1923. Alfred Mendelsohn-Bartholdy, Verfassungsleben des Auslands, Leipzig, Berlin 1924.
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englische Gerichtsverfassung, aber er versucht keine Systematisierung des Rechts analog wie dies in kontinentalen Rechtsordnungen üblich ist, eine Schwäche, die vielen Arbeiten im Umgang mit „fremden“ Rechtsordnungen allzu leicht anhaftet. Auf das englische Rechtssystem passt diese Methode nicht. Anders Gerland: Er geht induktiv vor. Damit vermeidet er eine den unsystematischen englischen Rechtsverhältnissen nicht entsprechende Erfassung nach – kontinentaleuropäischen Juristen eigenen – allgemeinen Prinzipien. Folglich entsteht eine Arbeit, die ihre hohe Wertschätzung auch deshalb fand, weil sie zugleich ein Eindringen in die Denkwelt des angelsächsischen Juristen ermöglicht. Der Erforschung und Darstellung des englischen Rechts, des englischen Verfassungslebens wandte sich Gerland nach längerer Pause dann Ende der zwanziger Jahre erneut wieder zu. Aber: „Ausgangspunkt und Ziel“ seiner Arbeit sah er nun „vielmehr im deutschen Recht und seiner Entwicklung“. Dahinter stehen seine politischen Erfahrungen und Schlussfolgerungen, die auf den Wissenschaftler Gerland verändernd wirkten. Ein Beispiel: Seiner Ansicht nach war das das englische Staatsleben beherrschende Prinzip des Parlamentarismus nicht einfach formal auf deutsche Verhältnisse – bzw. kontinentaleuropäische überhaupt – zu übertragen, wie er es mit dem Weimarer Staatsorganisationssystem jedoch übernommen zu sehen glaubte. Aufgabe der wissenschaftlichen Kritik sei es, zu erforschen, unter welchen Bedingungen das Prinzip in dem Land, in dem es seine höchste Blüte entfaltet hat, durchgeführt wird. In eben diesem Sinne äußerte er sich nun auch zur richterlichen Unabhängigkeit; zur allgemeinen Justizaufsicht des Parlaments und über die Mittel und Methoden zur Ausübung dieser Kontrollfunktion. 4. Seine Forderung nach einer Reform der Juristenausbildung Zu seinen bleibenden Überlegungen und Aussagen zählen auch – als dritter Bereich, der Gerlands Schaffen und Wirken ausmachte – die zur Juristenausbildung und den Fragen des juristischen Studiums. Er setzte sich – ausgestattet mit der Erfahrung des engagierten Lehrers und dem gründlichen Wissen um Lehrinhalte und Methoden – nachhaltig für eine Reform der juristischen Ausbildung ein. Seine Jenaer Antrittsvorlesung 1910 hatte dies bereits zum Gegenstand, und sein Buch aus dem Jahre 1930 „Die Problematik der gegenwärtigen Reformlage im Rechtsstudium“ ist noch heute lesenswert. Ein entscheidender Gedanke von ihm dabei war der von der „Rechtswissenschaft als einer lebendigen sozialen Macht und einer praktischen Wissenschaft“. Hier deuten sich bereits wieder gewandelte Auffassungen an. Recht als sozial determiniertes Phänomen zu begreifen, war zwar nicht völlig neu, aber für die übergroße Zahl der Rechtsgelehrten war eine solche Denkweise schlicht „Ketzerei“. So hatte Gerland das Problem der Notwendigkeit eines reformierten Studiums in seiner Vielschichtigkeit erkannt, d. h. für ihn steht nicht Vordergründiges an, sondern die Frage nach den Ursachen. So schreibt er:
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Gerhard Lingelbach „Die historische Methode als solche wird und muß eben stets die Methode der reinen Wissenschaft bleiben38, als Methode der Praxis ist sie ihrem eigenen Wesen nach unmöglich.“39
Die 1911 geschrieben Ausführungen sind zu einem großen Teil noch heute lesenswert, da es nach wie vor als Problem stehende Aufgaben sind. Ein Gedanke, der erkennen lässt, wie Gerland die Rechtsordnung und die damit verbundene Ausbildungssystem durchdrungen hat, zeigt folgende Überlegung: Die – bis heute die Rechtsausbildung berührende Trennung von Theorie und Praxis ist für ihn vor allem dort gegeben, wo bis 1900 das Gemeine Recht galt, so dass Preußen nie über den Unfleiß der Studierenden habe klagen müssen. Nachdrücklich spricht er sich für die einheitliche Ausbildung des Juristenstandes aus und befürwortet das Zwischenexamen nachhaltig. Nach Gerlands Auffassung muss jeder Studierende einmal eine wissenschaftliche Arbeit anfertigen, denn: „Es kommt nur darauf an, daß der Kandidat den Nachweis liefert, daß er ein Problem monographisch durch die Literatur verfolgen, mithin Literatur verwerten kann.“
Und ein letztes dazu: „Die mündliche Prüfung zu vertiefen und damit schwieriger zu gestalten, ist und bleibt eine der wichtigsten Aufgaben. Denn wollen wir das Repetitorenwesen an seiner Wurzel angreifen, so müssen wir die Prüfung so gestalten, daß der Repetitor nicht für sie vorbereiten kann40. Und das können wir.“41
Noch während der letzten Kriegstage – der militärischen Beschaffungsaufgaben ist er überdrüssig – plant Gerland dann für die akademische Tätigkeit nach dem Kriegsende. Er sieht wieder viele Studenten an den Universitäten und schlägt vor, die Zahl der Dozenten zu vergrößern. An Eduard Rosenthal schreibt er Mitte Oktober aus Berlin: „Ich würde Ihnen sehr dankbar sein, wenn die Fakultät mich unmittelbar aber energisch reklamieren würde. Was soll ich noch hier in Berlin. Meine Tätigkeit ist doch so gut
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Gerland in der von ihm eingefügten Fußnote: „Ich lasse dahingestellt, ob sie hier die allein richtige ist.“ Das lag nicht an der Inferiorität damaliger Wissenschaft, die man ernsthaft doch wirklich nicht behaupten kann, sondern an der Tatsache, dass der Praktiker die meisten Arbeiten der Rechtslehrer überhaupt nicht gebrauchen konnte. Gerland dazu in einer von ihm eingefügten Fußnote dieses Abschnittes: „Das Verhältnis von Referendar- und Doktorprüfung bildet ein Problem für sich. Der jetzige Zustand, wonach die letztere in vielen Fällen nur eine Doublette der ersteren ist, ist kein sehr erfreulicher. Zu der Frage bringen interessantes Material die mehr erwähnten Gutachten der österreichischen Universitäten zur Reform des Rechtsunterrichts von 1887“. Gerland, Die Reform des juristischen Studiums, Bonn 1911, S. 179.
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wie abgeschlossen in dem Moment, wo es für uns nicht mehr darauf ankommt, aus dem Auslande Bereifung aufzukaufen“42.
Eine immer wieder von Gerland erhobene Forderung soll in diesen Zusammenhang mit der Ausbildung der jungen Generation gestellt sein, obgleich die Ambivalenz der damit verbundenen Ziele ihn auch zur Zielscheibe von Kritik machte. Es erklärt aber mit den Wandel in Gerlands Auffassungen nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. In den zwanziger Jahren stritt er nachhaltig für die körperliche Ertüchtigung der jungen Leute. Auch hier kommt das nationale Pathos zum Ausdruck. So, wenn er zum Beispiel an den Besitzer einer Sägemühle nahe bei Jena (Tröbnitz bei Roda) im August 1925 schrieb: „Unter die drückenden Vorschriften des Friedensvertrages von Versailles dürfte zweifellos zu rechnen sein, wonach unserm Volke die Wehrpflicht genommen ist. Beruhte doch auf ihr die Entwicklung unserer Jugend, […]. Ist das Turnen obligatorisch für sämtliche deutsche Studierende, so muß die Universität in die Lage dazu versetzt werden. […]“43
Hintergrund war die aufwändige Errichtung einer Universitäts- und Landessportanstalt, die von der sozialdemokratischen Presse seinerzeit attackiert und wohl in diesem Zusammenhang erstmals pejorativ als „Muskelkirche“ apostrophiert wurde.
III. Gerlands politische Tätigkeit Bereits seit 1912 hatte sich Gerland politisch bestätigt: So erhielt er Vollmacht vom Nationalliberalen Reichsverein Jena zur Vertretung des ReichstagsWahlkreises Jena-Neustadt auf dem Vertretertag der Nationalliberalen Partei in Berlin am 12. Mai 1912.44 Nachdem er im Ersten Weltkrieg Offizier im Großen Hauptquartier der deutschen Armee war, beteiligte er sich im Herbst 1918 an der Gründung der Deutschen Demokratischen Partei (DDP)45, zeitweise war er deren stellvertretender Vorsitzender. 42
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Gerland aus Berlin an Rosenthal am 16. Okt. 1918; maschinenschriftlich, 2 Seiten sowie am 26. Oktober 1918; maschinenschriftlich, 3 Seiten, beides in: UAJ, Nachlass Gerland, Bündel 1: Briefe 1918-1927. Geschichte der Universität Jena 1548/1558-1958, hrsg. v. Max Steinmetz, Bd. 2, Jena 1962, S. 567. UAJ, Nachlass Gerland, handschriftliche Bestätigung unter Jena, 10. Mai 1912, 1 Blatt. So berichtet er Anfang November 1918 aus Berlin an Eduard Rosenthal, dass er am Vortag in den Vorstand der Deutschen Demokratischen Partei gewählt wurde (Brief an Rosenthal vom 5. November 1918, maschinenschriftlich, 3 Seiten) und zwei Monate danach ausführlich über seinen Wahlkampf (Reden-Rundreise), der ihn noch dem linken Lager zugeneigt erkennen lässt, wenn er schreibt: „Ich stand und stehe auf dem Standpunkt, daß es bei diesen Wahlen lediglich auf die Mitläufer der Sozialdemokratie
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1924 zog er als Abgeordneter für Thüringen in den Deutschen Reichstag ein, trat jedoch im gleichen Jahr aus der DDP aus. In Parlamentsreden schlug sich das kurze Intermezzo in Berlin nicht nennenswert nieder. Mit vielen bedeutenden Gelehrten, aber auch maßgebenden Politikern und Männern der Wirtschaft stand er seit den ersten Jahren der Weimarer Republik in regem Kontakt.46 Seine Briefwechsel sind in jeder Hinsicht lesenswert; die Adressenliste ergibt eine stattliche Position namhafter Geister seiner Zeit.47 So z. B. mit Botho Graef, Reinhard Frank, Justus Wilhelm Hedemann, Eduard Rosenthal, Karl Korsch, Rudolf Eucken, Rudolf Sohm, Danz, Mittermaier, Franz Jerusalem, Franz Beyerle, Guido Kisch, Stier-Somlo, Hermann Kantorowicz und Franz Zitelmann, um nur einige zu nennen. Besonders eng waren seine Beziehungen zu Hedemann, mit dem er schon früh eine Du-Beziehung pflegte. Mit Rudolf Stammler tauschte er sich über viele philosophische und rechtsphilosophische Fragen aus und führte mit ihm zudem über viele Jahre Fernschach-Partien48. Vieles in Gerlands Haltung zur Weimarer Republik und zum parlamentarischen System, die nicht wenige der Intellektuellen mit ihm teilten, resultierte aus den mit dem Versailler Vertrag verknüpften Folgen für Deutschland49. Als ein Beispiel dafür sollen Äußerungen stehen, die Gerland in den ersten Jahren der Weimarer Republik im Zusammenhang mit den Fragen der künftigen Bildung der Jugend anstellte. Positionen, die er dann auch immer wieder in Briefen an Freunde und Kollegen hervorhob. Es sind wohldurchdachte Positionen, die auch seine Vorausschau zu Fernwirkungen der Politik der seinerzeitigen Siegermächte einschlossen. Da in diesen Überlegungen Ursachen für die sich im Laufe der Weimarer Republik wandelnden Positionen bei Gerland zur Demokratie liegen, sollen diese als Zeitdokument etwas ausführlicher dargestellt sein. Am deutlichsten werden sie in einer Denkschrift, die er im Frühjahr des Jahres 1919 verfasste: „Die akademische Jugend und die Demokratie“.50 Hierin nahm Gerland – inzwischen Mitglied der DDP – explizit Bezug auf das Problem Jugend und rechtsstehende Parteien. Die Tatsache, „[d]aß sich unsere Jugend, namentlich aber der akademische Nachwuchs zum großen Teil, soweit er politisch Farbe bekannt hat, den rechtsstehenden Parteien angeschlossen hat“, bringt Gerland zu der
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ankommt. Was rechts von uns steht, wählt unter allen Umständen bürgerlich, was links von uns steht, müssen wir gewinnen“. Ausdrücklich erklärt er sich gegen ein Wahlbündnis mit der Deutschnationalen Volkspartei, aber für eine Zusammenarbeit mit dem Zentrum; Gerland an Rosenthal am 4. Januar 1919, maschinenschriftlich, 4 Seiten, UAJ, Nachlass Gerland, Briefwechsel 1918-1925. Seine Briefwechsel füllen mehrere Ordner – er fertigte zumeist Durchschriften seiner Korrespondenz; vgl. den Nachlass Gerland im Universitätsarchiv Jena. Ca. 2000 solcher Dokumente befinden sich im Jenaer Archiv. Auf ca. 250 Karten sind die Spielzüge erhalten. So verfasste sein unmittelbarer Fachkollege, der Zivilprozessualist MendelsohnBartoldy, einen für diesen Wissenschaftler ungewöhnlichen, weil nur politisch angelegten Aufsatz: „Die ‚Sanktionen’ des Vertrages von Versailles“, in: Festgabe für Otto Liebmann, Berlin 1920, S. 167-189. Heinrich Gerland, Die akademische Jugend und die Demokratie (= Flugschriften der Wochenschrift „Das Demokratische Deutschland“, Heft 7), Berlin 1919.
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Feststellung, dass man dies nicht nur beklagen dürfe, sondern, wenn man zur Veränderung der Verhältnisse „die Jugend im weitestem Umfange für unsere Ideen gewinnen (will) […] man besser (tut), den Gründen dieser Erscheinung nachzugehen, und eventuelle Fehler, die vielleicht auf unserer Seite gemacht sind, offen einzugestehen, damit sie in Zukunft vermieden werden.“51
In dieser Denkschrift kommt auch erstmals der tragende Gedanke zum Ausdruck, der Gerland offenkundig immer beherrschte: Das sich weiter oder wieder ausprägende starke nationale Element im Zusammenhang mit den Folgen des Versailler Vertrags, wofür auch Gerlands Herkunft und seine Prägung im Kaiserreich mit stehen dürfte. Bei der Frage, wie die Jugend zu gewinnen sei, kommt er auf die Fehler zu sprechen und sieht einen entscheidenden darin, „daß man zu Zeiten der Gründung unserer Partei (DDP – G.L.) das Gewicht zu sehr auf die völkerverbindende Seite des demokratischen Gedankens gelegt hat. Es ist das im besten Wissen geschehen. Man hat an Ideen geglaubt und hat durch sie auf die Menschheit für unser Vaterland wirken wollen. D i e E n t t ä u s c h u n g e n s i n d n i c h t a u s g e b l i e b e n . Denn die Antwort der feindlichen Demokratien auf die von uns ausgestreckte Hand war der Frieden von Versailles, dessen Verbrechen mir mindestens ebenso groß zu sein scheint, wie das Verbrechen des Krieges.“
Seine Schlussfolgerung daraus: „Auch wir müssen das nationale Moment als a u s s c h l a g g e b e n d e n Faktor in der Politik immer von neuem betonen. National und sozial sind ja in Wahrheit gar keine Gegensätze.“52
Und auch zu einer zweiten Ursache für die Rechtstendenzen – den immensen wirtschaftlichen Problemen, mit denen die junge Republik und der größte Teil der Bevölkerung zu ringen hat – nimmt er Stellung: „D e n n o h n e M a t e r i a l i s m u s t r e i b t s i c h h e u t e k e i n e P o l i t i k . […] Das, worauf es also ankommt, ist, die materialistischen Tendenzen unserer Zeit durch Hineintragen des nationalen Momentes zu idealisieren, d. h. ihnen dadurch den ideellen Gehalt zu geben, daß man die wirtschaftliche Frage vom Einzelnen und seinen Interessen loslöst und sie ebenfalls nur unter dem Gesichtspunkt der Gesamtheit der Nation behandelt.“ 53
Kritische Ausführungen zum Völkerbund und zum Versailler Vertrag sind in jenen Jahren immer wieder in den Briefen Gerlands zu finden; so im Juli 1920 an
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Bis hier alles Gerland, Die akademische Jugend und die Demokratie, S. 1. Gerland, Die akademische Jugend und die Demokratie, S. 4/5. Sämtliche nachfolgende gesperrten Hervorhebungen entsprechen dem Original. Gerland, Die akademische Jugend und die Demokratie, S. 5/6.
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Moritz Liepmann54 in Hamburg, wo er einen Rechtsgedanken und eine politische Entscheidung gleichsam antizipierend auf die knappste Formel bringt: „Erpressung ist nie rechtsverpflichtend“55. Prägend für Gerland waren auch die Auseinandersetzungen mit links orientierten Auffassungen. Mit solchen war er nicht zuletzt durch den regen Austausch mit Karl Korsch56 in Berührung gekommen. Korsch gehörte zu von Gerland ausgewählten sieben Studenten seines ersten Strafrechtlichen Seminars im Jahr 190857. Diese Verbindung pflegte Gerland bis in die Mitte der zwanziger Jahre – der Zeit, als Korsch für kurze Zeit zur Fakultät gehörte. Mit ihm stritt er über politische Fragen, vor allem über dessen marxistische Positionen. Zu einem Aufsatz Korschs von Anfang April 1919: „Was ist Sozialisierung?“ bezog Gerland ausführlich Stellung58. Trotz gegensätzlicher Positionen setzte sich Gerland zu dieser Zeit nachdrücklich für die Bestrebungen Korschs ein, sich in Jena zu habilitieren.59 Ein ihn mit prägendes Erlebnis erfuhr Gerland im Hause seines Schwiegervaters, Otto Schott. Anfang des Jahres 1919 hatte dieser unter dem Druck der Arbeiter auf seine persönliche Rechtsstellung im Werk verzichtet, sich aus der Firma zurückgezogen und war von der Firma ausgezahlt worden. Aber: Die 3 Millionen Reichsmark Buchwert waren nach der exorbitanten Großen Inflation auf einen
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Moritz Liepmann (1869-1928), Jurist, Promotion in Jena 1896; einer der ersten Teilnehmer an Franz von Liszts Seminar; bei diesem habilitiert, Lehrstuhl für Strafrecht, Rechtsphilosophie, Völkerrecht in Kiel, seit 1919 in Hamburg. Liepmann gehört zu den namhaften Strafrechtlern des 20. Jahrhunderts, die für ein liberales Strafrecht eintraten. Sein Ziel waren weitgehende Objektivierung der Strafbarkeitsvoraussetzungen und Erschwerung der subjektiven Voraussetzungen beim Strafen; er war jeglicher Gegner eines Gesinnungsstrafrechts. Damit standen Liepmanns Auffassungen in schroffem Gegensatz zu den von nationalsozialistischen Strafrechtlern vertretenen Positionen, so zum Beispiel Georg Dahm aus der sogenannten Kieler Schule. Zu Liepmann vgl. Neue Deutsche Biographie, Bd. 10, S. 534/535. Zum prinzipiellen Wirken Georg Dahms in dieser Hinsicht vgl. Hans Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 3. Aufl., Heidelberg 1999, S. 706/707. Brief Gerlands aus Jena an M. Liepmann in Hamburg, 8. Juli 1920, maschinenschriftlich, 2 Seiten, UAJ, Nachlass Gerland, Bündel 1: Briefe 1918-1927. Karl Korsch (1886-1961) war nach seiner Habilitation in Jena dort 1923 zum Professor an der Rechts- und Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät berufen, aber mit Übernahme eines Amtes als Justizminister in der thüringischen Regierung im Jahr darauf – offenbar auch auf Grund seiner marxistischen Positionen – wieder abberufen worden. Protokoll der ersten Sitzung des Strafrechtlichen Seminars, UAJ, Nachlass Gerland, Bündel 5. Brief Gerlands an Korsch vom 2. April 1919, 3 Seiten, UAJ, Nachlass Gerland, Bündel 1: Briefe 1918-1927. Brief Gerlands an Korsch vom 28. März 1919, maschinenschriftlich, 3 Seiten, UAJ, Nachlass Gerland, Bündel 1: Briefe 1918-1927.
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Bruchteil entwertet. 60 Otto Schott erwog deshalb, Aufwertungsansprüche geltend zu machen.61 Auf ein weiteres Ereignis, das für den Wandel in der politischen Haltung Gerlands mit prägend gewesen sein könnte, soll abschließend aufmerksam gemacht sein. Anfang der dreißiger Jahre strebte die Sozialdemokratische Partei eine Universitätsreform an. Gegen diese Bestrebungen wandte er sich nachdrücklich und wusste sich eins mit vielen seiner Fachkollegen wie der Professorenschaft darüber hinaus. Ziel dieser von den Sozialdemokraten in Preußen beabsichtigten Universitätsreform war es, dass die ordentlichen Professoren künftighin auch zu versetzen sein sollten, „und zwar im gegebenen Fall auch in ein anderes Amt“. Ferner, dass die Habilitation abgeschafft werden und der Einfluss der Fakultäten auf die Besetzung eines Lehrstuhls ausgeschlossen sein sollte; vielmehr die feste Anstellung vom Ermessen der Regierung abhängen würde.62 Gewiss darf man diese Auseinandersetzungen nicht überbewerten, aber sie sind als Bausteine zu einem zunehmenden Abrücken von der die Weimarer Republik mitbestimmenden Politik auch nicht ohne Belang.
IV. Zu Gerlands Wirken in der Zeit des Nationalsozialismus Der Literatur und der Musik widmete sich Gerland bekanntermaßen mit Begeisterung. Warum sollte er, der gebildete Ästhet, keinen Vortrag zum Verhältnis des zu dieser Zeit bereits als Namenspatron der Universität angedachten einstigen Professors der alma mater – Friedrich Schiller – zum Recht halten? Im Gegenteil, er schien geradezu dafür prädestiniert. Für die jährlich stattfindende akademische Reichsgründungsfeier am 18. Januar 1933 war Professor Dr. Gerland, seinerzeit Vorstand des Juristischen Seminars, als Redner angekündigt. Sein Thema: „Schiller und das Recht“.63 Entstanden ist wohl mit eine der besten, aber zugleich auch umstrittensten, weil ambivalenten Reden in jenen Jahren. Dieser geistvolle Vortrag lässt Gerlands Kenntnis der Arbeiten des großen Dichters auf der einen Seite wie den inneren Verbund gerade 60
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Vgl. Jörn Eckert, Privatrecht und Staatsbankrott, in: Gerhard Lingelbach (Hrsg.), Staatsfinanzen – Staatsverschuldung – Staatsbankrotte in der europäischen Staaten- und Rechtsgeschichte, Weimar 2000, S. 87-106. Im Herbst 1925 bat Gerland deshalb einen befreundeten Berliner Rechtsanwalt (A. Wolff) um eine Rechtsauskunft, die den daraus resultierenden Streit zwischen seinem Schwiegervater, Dr. Otto Schott, und der Carl Zeiss Stiftung betrifft. Vgl. Brief Gerlands an Rechtsanwalt A. Wolff, Berlin, Jena, 11. November 1925, maschinenschriftlich, 3 Seiten, UAJ, Nachlass Gerland, Bündel 1: Briefe 1918-1927. Vgl. Schreiben Gerlands an Jügler vom 20. Oktober 1931, UAJ, Nachlass Gerland, Bündel 4, Korrespondenz zur Ausbildung der Juristen 1928. Heinrich Gerland, Schiller und das Recht, Rede bei der von der Universität veranstalteten Feier des Jahrestages der Gründung des deutschen Reiches, gehalten am 18. Januar 1933, Jena 1933.
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mit der Geisteshaltung des Dichters von „Wilhelm Tell“ und dem „Fiesco“ auf der anderen Seite erkennen. Anders hingegen sein Aufsatz über „Schiller und die Revolution“64 ein Jahr später. Einerseits dürften die darin enthaltenen oder hinein interpretierbaren Gedanken zum rigiden Umgang der nationalsozialistischen Amtsträger mit dem Rechtsprofessor Gerland beigetragen haben. Wie diese Vorträge andererseits stets zu Deutungen über ihn als einem Anhänger nationalsozialistischer Bestrebungen Anlass gaben. – Waren die vorangegangenen Angriffe auf ihn vielleicht auch der Grund für eine angepasste Rede, die dann umgekehrt vereinseitigt herausgegriffen wird? Den Höhepunkt seiner Rede im Januar 1933 – knapp zwei Wochen vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten – bildete der Vergleich – wohlgemerkt Vergleich, nicht Gleichsetzung – des Schillerschen Liberalismus mit dem nationalsozialistischen Führer- und Volksgedanken. Wer genau hinhörte, konnte auch merken, dass Gerland alle die Probleme ansprach, die mit einer Negierung individueller Freiheiten verbunden waren, hätte diese Tendenz also durchaus als Gefahr verstehen können. Die Presseberichterstattung jener Zeit lässt dies erkennen. Nicht Liberalismus und Nationalsozialismus ständen sich heute gegenüber, es gebe nur die Differenzierung Individualismus oder Kollektivismus – so habe es Gerland ausgedrückt. Ungewollt, weil der Berichterstatter der Jenaischen Zeitung sich in seiner Wiedergabe sehr eng an Gerlands Text orientierte, oder gewollt interpretierend, da jener die von Gerland implizierten Inhalte auch adäquat vermitteln wollte? – Die Antwort wird wohl letztlich nicht mehr zu finden sein. Für die letztere Lesart sprach im Jena jener Zeit einiges – geschickt darlegt als die – mit emphatischem Lob bedachte „große Rede“ des nicht zuletzt auch auf Grund seines geistigkulturellen Wirkens in der gebildeten Öffentlichkeit der Stadt bekannten Heinrich Gerland.65 Gewiss eine Ambivalenz, die in Gerlands Äußerungen zu den neuen Machthabern fortan auch zu finden ist. Gerland vermochte mit solchen Sätzen allerdings offensichtlich auch Auffassungen im Lehrkörper der Rechts- und Wirtschaftwissenschaftlichen Fakultät sowie eines Teils der Studentenschaft der Jenaer Universität zu entsprechen. – Gewollt, ungewollt, leichtfertig, opportun? Nimmt man seine national-liberale Haltung, dann sind ihm Entwicklungen der vorangegangenen Jahre durchaus nicht entgangen, und er setzte auf eine starke Nation. Als einstigem Mitglied der DDP war allerdings mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten auch ihm ab Frühjahr 1933 jegliche politische Tätigkeit untersagt; jedoch hatte er sich zu dieser Zeit aus der aktiven Politik ohnehin längst zurückgezogen. Zunächst ist bei Gerland – und hier trifft er sich unausgesprochen mit anderen Kollegen innerhalb und außerhalb der Fakultät – eine reservierte Haltung zum Nationalsozialismus auszumachen. So schreibt Gerland an Nagler am 25. Mai 1933: 64
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Heinrich Gerland, Schiller und die Revolution (= Sonderdruck Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Band 28, Heft 2), Berlin 1937. Gerland war lange Jahre Vorsitzender der Akademischen Konzertkommission zu Jena und beeinflusste das Musikleben in Jena. Vieles erschließt sich aus dem Briefwechsel mit Botho Graef.
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„Stehe wie Sie auf dem Standpunkt, daß wir unter keinen Umständen irgendwie nach außen den Eindruck erwecken sollten, als ob wir uns an die nationalsozialistische Bewegung anbiedern wollten.“
Seit dem Frühjahr 1933 stand als eine Frage die Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Organisationen. So wandte sich Eduard Kohlrausch als Vorsitzender der deutschen Landesgruppe der IKV am 24. Mai 1933 an die Mitglieder seines Vorstandes, wozu auch Gerland gehörte. Da dieses Schreiben eine gewisse Schlüsselfunktion in der Haltung der Rechtswissenschaft im Allgemeinen hat wie mit der hierzu erfolgten Antwort Gerlands auch dessen Position zu den sich abzeichnenden Entwicklungen offenkundig wird, soll der Konflikt an Hand eines Briefes des IKV-Vorsitzenden wieder gegeben sein. Kohlrausch eröffnete darin als eine von drei Varianten des Verhaltens der deutschen Gruppe der IKV: „Eine dritte Möglichkeit ist, uns in die neue Entwicklung einzuschalten und unsre Ziele zu verfolgen, soweit dies von der heute gegebenen politischen Lage aus möglich ist. Dies entspräche unsrem in Frankfurt gefaßten Beschluß. Ich selber habe die dort angenommene These gemeinschaftlich mit Graf Gleispach eingebracht und habe sowohl in meinem Frankfurter Referat wie in meiner Berliner Rektoratsrede zu zeigen versucht, daß unsre Forderungen gerade von der heutigen Staatsauffassung aus viel zeitgemäßer sind, als es zugegeben zu werden pflegt. Ich bin also für den dritten Weg“.66
In seiner Antwort vom 30. Mai 1933 spricht sich Gerland für die angebotene Kohlrausch’sche Entscheidung aus.67 Hintergrund dieser Überlegungen und im Austausch mit anderen Kollegen besprochenen Fragen wiederum war, dass die NS-Regierung inzwischen den Gedanken einer Strafrechtsreform wieder aufgegriffen hatte. So schreibt Gerland an Nagler am 17. Mai 1933: „[…] Wie aber auch die Dinge liegen mögen, schaden kann es nichts, wenn wir aus unserem gegenwärtigen Schlaf aufwachen und in einer sofort einzuberufenen Versammlung energisch für gewisse Gedanken und eine Mitwirkung der Theoretiker an der Reformarbeit eintreten würden.“68
Wissenschaftlicher Ehrgeiz, auch weiterhin an Gesetzgebungsprojekten beteiligt zu sein, dürfte auf die Haltung in diesen Fragen bei vielen – wohl auch bei Gerland – einen Einfluss gehabt haben. Siegte bei Gerland über eine mögliche Skepsis gegenüber den Nationalsozialisten das Streben, von den Veränderungen in der Rechtslandschaft nicht ausgeschlossen sein zu wollen?
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Vgl. Rundschreiben Kohlrauschs an alle Vorstandsmitglieder der Deutschen Landesgruppe der Internationalen Kriminalistischen Vereinigung, datiert unter dem 24. Mai 1933, maschinenschriftlich, 4 Seiten, UAJ, Nachlass Gerland, Korrespondenz ab 1933. Vgl. Schreiben Gerlands an Kohlrausch vom 30. Mai 1933, maschinenschriftlich, 2 Seiten, UAJ, Nachlass Gerland, Korrespondenz ab 1933. Brief Gerlands an Nagler vom 17. Mai 1933, UAJ, Nachlass Gerland, Korrespondenz ab 1933.
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Hier trifft er sich wohl mit der Haltung seines Fakultätskollegen Justus Wilhelm Hedemann. Dieser hatte mit seinem Ruf an die Akademie für Deutsches Recht und der Aufgabe der Ausarbeitung eines Volksgesetzbuchs die Hoffnung verbunden, eines seiner Ziele – u. a. jenes, auf das er bereits in seiner Rektoratsrede 1919 in Jena69 verwiesen hatte – zu erreichen. Die einstige enge Beziehung zwischen den beiden war da jedoch längst abgekühlt, so dass Briefen zu dieser Frage nichts zu entnehmen ist. Über Gerlands Vorlesungen liegen keine Mitschriften oder Nachschriften von seinen Hörern vor. Insofern lässt sich über diese Inhalte seiner Lehre nichts sagen. Einen großen Fundus stellen indes die Protokolle seines strafrechtlichen Seminars dar.70 Unbestritten gehörte er zu den auch rhetorisch begabten Hochschullehrern, vermochte die Zuhörer zu fesseln. Mit seinen Seminaren verstand er es, besonders kluge Studenten für das wissenschaftliche Arbeiten zu begeistern und diese zu kreativer Arbeit mit wissenschaftlichen Ergebnissen zu führen. Seit dem Jahr 1908 bot er ein vielbeachtetes Strafrechtsseminar an. Seine Lehrgegenstände waren auch im Dritten Reich vor allem das Strafrecht; er blieb bei seinen schon in der Weimarer Republik ausgewiesenen Vorlesungsund Übungsangeboten. Auch inhaltlich bot er dabei die aus dem Jahrzehnt zuvor gewohnte dogmatische Strafrechtsvermittlung an. Inwieweit dabei die von den Nationalsozialisten vorgenommenen grundlegenden Strafrechtsänderungen besonders Gewicht erhalten haben – oder ob gelegentlich kritisch-abwägende Töne einflossen –, ist aus den Äußerungen von Zeitzeugen nicht auszumachen. Betont wird immer wieder, dass diese Vorlesungen wegen der klaren Art seines Vortrags, gewiss aber auch wegen seiner Erfahrungen stark besucht waren. Auch die in den bekannten Strafrechtlichen Seminaren behandelten Themen bewegten sich im Rahmen der tradierten Strafrechtsdogmatik.71 Im Juli 1938 kam es zu einer Festsitzung anlässlich des dreißigjährigen Bestehens des Seminars von Gerland.72 Das Protokoll dieser Feier weist etwa zwanzig Wissenschaftler, darunter Prinz von Sachsen-Meiningen, Cartellieri, Lange, Jerusalem, Heldrich als Dekan, aus.73 Die Reminiszenz beschreibt noch einmal die Rolle, die dieses Seminar für ihre Teilnehmer und damit für die Ausstrahlung der Rechtswissenschaftlichen Fakultät einst hatte. Über den Inhalt des Festvortrags
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Justus Wilhelm Hedemann, Das bürgerliche Recht und die neue Zeit, Jena 1919. Protokolle des strafrechtlichen Seminars von Gerland, UAJ, Nachlass Gerland, gesonderter Bestand. Vgl. Protokolle des strafrechtlichen Seminars von Gerland, UAJ, Nachlass Gerland, besonderer Bestand. Das letzte Protokoll datiert vom 10. November 1938. Gerland teilt mit, dass er infolge seines Gesundheitszustandes (bevorstehende Operation) in diesem Semester das Seminar nicht leiten könne. Die Protokolle des Strafrechtlichen Seminars umfassen insgesamt 4 Bände mit fast eintausend Blatt handschriftlicher Protokolle (gebunden), UAJ, Nachlass Gerland. Protokolle des strafrechtlichen Seminars von Gerland, UAJ, Nachlass Gerland, maschinenschriftliches Protokoll, S. 250 a-d.
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unter dem Titel „Die Rechtsprechung des Volkes als Rechtsquelle im 19. und 20. Jahrhundert“74 ist nichts überliefert. Aufgrund seiner politischen Haltung wurde Gerland nach Vollendung seines 65. Lebensjahres emeritiert, im Vorlesungsverzeichnis zwar noch geführt, ohne jedoch noch Vorlesungen halten zu dürfen. Mit seiner Emeritierung zum Wintersemester 1939 wurde ihm jegliche Vorlesungstätigkeit untersagt. Der Vermerk im Vorlesungsverzeichnis ab dem Wintersemester 1939/40: „Keine Lehrveranstaltungen.“75 Die Achtung, die Heinrich Gerland von vielen seiner Schüler entgegengebracht wurde, zeigen sich auch in den zahlreichen Dankschreiben, die ihn noch lange nach seiner Emeritierung erreichten.
V. Der Poet Heinrich Gerland Wenn es auch eine knappe Darstellung zu Gerland bleiben muss, so soll doch noch auf dessen schöngeistige Lebensader verwiesen sein. Heinrich Gerland hat eine ganze Reihe von Arbeiten hinterlassen, die seine kulturvolle Lebensart ausmachten. So hat er Gedichte verfasst, die in selbständigen Werken erschienen sind. Ein wenig bekannter Gedichtband macht ihn als Poet mit Lyrik zu Natur und Historie ebenso interessant wie ein Bändchen über Sinn und Gegensinn des Lebens mit Gedanken und Sprüchen aus dem Jahre 1914. Hervorhebenswert sind seine Neigungen zur Musik – sein „Requiem von Mozart“ (1938) ist zugleich auch ein Ausdruck humanistischer Herkunft. Seine erste poetische Arbeit – Alma. Gesänge von Heinrich Gerland, verfasst in Straßburg 1896 – lässt er im Jahr 1906 in Jena erstmals drucken.76 In gehobener Sprache, angelehnt an antike bzw. klassische Werke, bringt Gerland hierin auch seine Maximen zum Ausdruck – insbesondere sind das für ihn Liebe, Treue, Fleiß, Pflichterfüllung und Streben nach Harmonie. Unverkennbar sind dabei Elemente der Romantik mit märchenhaften Bildern vom Zauber der Natur wie der Faszination der Gestalt von Schlössern verknüpft; sind Wesen wie Nixen und Feen mit Träumen und dem Gedanken an den Tod verwoben. Diese literarisch-poetischen Werke bilden in Sprache und Inhalt einen abschließend anzumerkenden Kontrast zur beruflichen Tätigkeit Gerlands, zu seinen wissenschaftlichen Werken und zu seinem politischen Wirken. 77 Von seinen Sentenzen – von ihm unter der Rubrik Wissenschaft vermerkt – soll eine abschließend herausgegriffen sein:
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Volksblatt vom 5. Juli 1938, S. 3. Gerland wird aber noch bis zum Wintersemester 1944/1945 als Professor im Lehrkörperverzeichnis geführt unter der Rubrik: „Von den amtlichen Pflichten entbunden“. Das poetische Werk besteht aus 92 gebundenen Seiten Schreibmaschinenkopie. Archiviert in UAJ unter Ms. Prov. o. 72; wogegen vom weiteren literarischen Schaffen nichts archiviert, wohl aber gedruckt ist.
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Gerhard Lingelbach „Eine jede Ansicht hat Recht und Unrecht. Beide zu scheiden, ist die oft so schwere Aufgabe der Wissenschaft, die mithin nie schlechtweg verneinen darf“.78
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Gerland, Vom Sinn und Gegensinn des Lebens, S. 94.
D 6. 1. 72: Zwei widersprüchliche Verfügungen über dieselbe Sache Rechtsfortbildung durch den Gerichtsmagistrat Karlheinz Misera Ulpianus libro sexto decimo ad edictum Si a Titio fundum emeris Sempronii et tibi traditus sit pretio soluto, deinde Titius Sempronio heres extiterit et eundem alii vendiderit et tradiderit, aequius est, ut tu potior sis. nam si ipse venditor eam rem a te peteret, exceptione eum summoveres. et si ipse possideret et tu peteres, adversus exceptionem dominii replicatione utereris. Ulpian im 16. Buch seines Ediktskommentars Wenn du von Titius ein Grundstück des Sempronius gekauft hast und dir das Grundstück gegen Entrichtung des Kaufpreises übergeben worden ist, dann Titius aber Erbe des Sempronius geworden ist und Titius dieses Grundstück einem anderen verkauft und übergeben hat, dann ist es billiger, daß du stärker bist (daß du bei einer Klage zwischen dir und dem alius obsiegst). Denn auch wenn der Verkäufer selbst diese Sache (das Grundstück) von dir herausverlangen würde, würdest du ihn mit einer Einrede zurückschlagen (könntest du dich gegen diese Klage mit einer Einrede erfolgreich verteidigen); und wenn er selbst es in Besitz hätte und du es herausverlangtest, könntest du die Einrede des Eigentums mit einer Replik zurückschlagen.
A. I. Person und Werk des Verfassers Domitius Ulpianus gehört der Spätklassik an. Er war ein Schüler des Papinian, stammt aus Tyros in Syrien. Er war adsessor des praefectus praetorio Papinian und hat dem kaiserlichen consilium angehört. Im Jahre 222 wurde er selbst Praetorianerpraefekt; bei einem Praetorianeraufstand 223 wurde er ermordet. Die Spätklassik hat das gesamte klassische Schaffen gesammelt und geordnet. Ulpian hat zahlreiche Schriften hinterlassen. Seine Hauptwerke sind Kommentare ad edictum (83 Bücher) und ad Sabinum (51 Bücher, unvollendet). Von Ulpian stammt fast ein Drittel der Ausschnitte aus den Werken der Juristen in den Digesten. II. Literarischer locus des Fragments Bei Justinian findet sich das Fragment in Titel 1 des 6. Buches der Digesten unter der Titelrubrik de rei vindicatione, bei Ulpian im 16. Buch seines Ediktskommen-
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tars, der u. a. auch von der rei vindicatio handelt: Also ist der Zusammenhang der gleiche.
B. Das Fragment und seine Probleme I. Überblick Im Fragment geht es um die Veräußerung eines fundus. Die Begründung der Entscheidung ist sehr allgemein gehalten. Bei einem Herausgabeverlangen ist eine exceptio ohne Benennung angesprochen; beim Besitz des Verkäufers ist von einer exceptio dominii die Rede, aber nicht die konkrete Klage des tu (T), bei der Replik des T liest man nichts von der konkreten Replik des T. II. Der fundus und seine Übereignung 1. Ein fundus italicus, um den es offensichtlich geht, gehört zu den res mancipi. Er bedarf deshalb zu seiner Übereignung der mancipatio (oder der in iure cessio), eines umständlichen Formalaktes. Die Praxis nimmt im Laufe der Zeit davon Abschied und begnügt sich mit der formlosen traditio. Der Gerichtsmagistrat folgt dieser Vereinfachung allmählich. Er hat nicht die Möglichkeit zu dekretieren, daß die bloße Übergabe zufolge eines Kaufs (oder einer anderen anerkannten causa) anstelle der mancipatio das Eigentum nach ius civile ausreicht. Vielmehr hilft er mit seinen Mitteln, nämlich denen des Prozesses: Er gewährt dem Erwerber die exceptio rei venditae et traditae, die Einrede der verkauften und übergebenen Sache, oder die exceptio doli, die Einrede der Arglist1. Damit kann der Erwerber die rei vindicatio zurückschlagen: Der Praetor macht damit den, der formlos erwirbt, stärker als den Eigentümer nach ius civile. Die Stellung des Erwerbers wird auch als honorarrechtlicher, vornehmlich als bonitarischer Eigentümer bezeichnet, weil er die Sache in K, in seinem Vermögen hat. Sollte der Eigentümer nach ius civile die res mancipi wiedererlangt haben, so gewährt der Gerichtsmagistrat dem bonitarischen Eigentümer die actio Publiciana2. Diese hat eine fiktizische Formel, in der die Ersitzungsfrist (Grundstücke zwei Jahre, andere Sachen ein Jahr) als schon abgelaufen fingiert wird. Dem Erwerber gegenüber hat der Veräußerer die Einrede des Eigentums nach ius civile (exceptio dominii)3, da eine mancipatio nicht vorgenommen worden ist; der Erwerber kann diese Einrede aber mit der Replik der res vendita et tradita oder der Replik der Arglist zurückschlagen. Die1
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S. nur die eine Parallelstelle zu D 6. 1. 72, Iul.-Ulp. D 44. 4. 4. 32 exceptio in factum comparata vel doli mali. Ausdrücklich benannt u.a. auch in der anderen Parallelstelle zu D 6. 1. 72, Iul.-Pomp. D 21. 3. 2. Oder, wie in D 44. 4. 4. 32 exceptio, „si non suus esset“.
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ses uns kompliziert erscheinende Verfahren haben die Römer offensichtlich mühelos gehandhabt. Ein solches Verfahren ist darin begründet, daß die Fortbildung des Rechts (in vorklassischer und klassischer Zeit) dem Gerichtsmagistrat oblag, zumeist nicht durch Gesetzgebung erfolgte. 2. Der Sachverhalt unseres Fragments weist Besonderheiten auf: Titius veräußert das Grundstück als Nichtberechtigter. Diese Veräußerung ist unwirksam, weil es einen gutgläubigen Erwerb im römischen Recht nicht gibt. Später wird Titius Eigentümer durch Erbgang. Eine Heilung (Konvaleszenz) der Unwirksamkeit kennt das römische Recht nur ausnahmsweise. In der konkreten Situation erwirbt Titius zufolge seiner Erbenstellung zwar das Eigentum; aber der Erwerber T erwirbt jetzt nur praetorisches (bonitarisches) Eigentum4. 3. Damit sind zwei Gründe für ein bonitarisches Eigentum des T gegeben. Die Argumentation in unserem Fragment stützt sich jedoch nur auf die anfangs (unter II. 1) genannte exceptio rei venditae et traditae pp. Die Probleme und ihre Lösungen sind beim zweiten Grund aber keine anderen. III. Die Argumentation in D 6. 1. 72 Das Auffällige in dem Fragment ist, daß für die Rechtsposition des T gegenüber alius mit der Position des T gegenüber Titius argumentiert wird: T ist der Stärkere gegenüber Titius, weil er bonitarisches Eigentum erlangt hat. Das zeigen die beiden Fälle Herausverlangen des fundus vom besitzenden T und Herausverlangen des Grundstücks durch T, sollte Titius nachträglich wieder in Besitz des Grundstückes gelangt sein. Der Praetor hat damit den T stärker gemacht als den Eigentümer nach ius civile Titius. Die Folgerung, die nach dem ductus des Fragments zu ziehen ist: Also ist T auch der Stärkere im Verhältnis T zu alius, obwohl Titius das Grundstück an alius manzipiert hat5.
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Max Kaser, Rolf Knütel, Römisches Privatrecht, 17. Aufl., München 2003, § 9, Rdnr. 5 mit Lit., s. insbesondere Andreas Wacke, Die Konvaleszenz der Verfügung eines Nichtberechtigten, in: ZRG Rom. Abt. 114, S. 197 ff. [S. 208 und passim]. Zum bonitarischen Eigentum s. oben. Im Text ist zwar die Rede von einer traditio – „et eundem alii vendiderit et tradiderit“: Dies beruht aber auf einer Überarbeitung durch die Kompilatoren. Justinian hat die mancipatio durch das formlose Geschäft ersetzen lassen. Eine mancipatio muß im ursprünglichen Text gestanden haben. Der bezieht sich nämlich auch auf den Fall, daß T im Besitz des Grundstücks war, und eine mancipatio setzt einen Besitz des zu manzipierenden Grundstücks nicht voraus.
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Also hat Titius zwar noch sein Eigentum nach ius civile an alius förmlich übertragen, doch dieses Eigentum war „leer“ und stand nur noch auf dem Papier, um Bilder zu gebrauchen. Denn Titius hatte schon durch die traditio an T verfügt, und der Praetor sieht diese Verfügung als rechtens an. Also hat Titius als Nichtberechtigter an alius verfügt. So heißt es bezüglich der Veräußerung an alius in Iul.-Ulp. D 44. 4. 4. 32 […] eum fundum rursus vendidisse, quem in bonis non habuit, Titius hat dieses Grundstück an einen weiteren veräußert, das er nicht mehr in seinem Vermögen hatte. Damit steht fest: T ist nicht nur gegenüber alius der Stärkere, sondern gegenüber jedem Dritten. Aequius, es ist billiger, heißt es deshalb, weil es sich um eine Rechtsfortbildung durch den Gerichtsmagistrat entgegen dem Eigentum nach ius civile handelt. Das bonitarische Eigentum hat sich damit gegenüber dem quiritischen durchgesetzt. Der Praetor kann zwar das quiritische Eigentum nicht aus der Welt schaffen; er kann es aber mit seinen Mitteln des Zivilprozesses zugunsten des bonitarischen Eigentums umschiffen.
Die Achte Kurwürde Dorothee Mußgnug Adolf Laufs hat im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte das Entscheidende zu den alten Erzämtern zusammengetragen. Hier soll über die Veränderungen gesprochen werden, die sich bei Kurwürden und Erzämtern im 17. und 18. Jahrhundert vollzogen. Die Goldene Bulle galt seit ihrer Verkündung 1356 als lex fundamentalis imperii. Nach ihrer Ordnung waren allein sieben namentlich genannte Kurfürsten berechtigt, den deutschen König zu wählen. Karl IV. (1346-1355) entschied damit zugunsten des kurpfälzischen Kurfürsten, obgleich eigentlich unter den Wittelsbacher Linien 1329 die Alternation der Kurwürde vereinbart worden war. Seit 1591 führte jedoch der bayerische Herzog Wilhelm V. (1579-1597) wenigstens den eigentlich Kurfürsten vorbehaltenen Titel „Durchlaucht“, der ihm den ersten Platz auf der Reichsfürstenbank sicherte. 1620 billigte Kaiser Ferdinand II. (1619-1637) seinem Schwager Herzog Maximilian von Bayern (1597-1651) darüber hinaus auch das kurfürstliche Privilegium de non appellando illimitatum zu (16. Mai 1620).1 Es fehlte zu der Zeit nicht an Gutachten, die die Münchner Ansprüche belegten: Bereits Maximilians Vorfahren hätten „eifrig und stark der kurfürstl. dignitet als ihrem von rechts wegen zuestehenden hochen Clainot nachgetrachtet […] von dem Vorteil für den ‚Catholicismo’ abgesehen“.2 Die endgültige Durchsetzung des aus bayerischer Sicht alten Anspruchs ergab sich, als Ferdinand II. nach dem Ausbruch der böhmischen Unruhen am 8. Oktober 1619 den sog. Münchener Vertrag abschloß. Für die darin zugesagte militärische Hilfe bedankte sich der Kaiser mit dem mündlich gegebenen Versprechen, Maximilian die pfälzische Kur zu übertragen. 1621 bestritt Ferdinand, diese Zusage aus freien Stücken gegeben zu haben. Er wiederholte 1622 gegenüber seinem spanischen Schwager König
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Dokumente zur Geschichte von Staat und Gesellschaft in Bayern (Abk.: Dokumente), Abt. 1, Bd. 3, Teil 2, München 1992, S. 880-882. Dieter Albrecht, Maximilian I. von Bayern, München 1998, S. 482-483. Zum ganzen auch Jürgen Steiner, Die pfälzische Kurwürde während des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648), Speyer 1985; in beiden Darstellungen umfangreiche weiterführende Literaturangaben. Bereits 1615 ließ Maximilian I. seine Ahnen mit Kurhut zeichnen; Anton Dürrwächter, Christoph Gewold, Freiburg 1904, S. 66. Auf eine ganze Anzahl von Propagandaschriften wird hingewiesen in: Wittelsbach und Bayern. Um Glaube und Reich. Kurfürst Maximilian, Bd. 2/2, München 1980, S. 355-359. Gutachten des Geheimen Sekretärs Gewold, abgedr. in: Briefe und Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges. Neue Folge: Die Politik Maximilians von Bayern und seiner Verbündeten 1618-1651 (Abk.: BuA), NF 1, 1 (Januar 1618-Dezember 1620), bearb. von Georg Franz, München, Wien 1966, S. 249 mit Anm. 1.
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Philipp III. (1598-1621), er habe „mit Intervention dero Königl. Gesandten die Kur-Pfalz dem Herzog aus Bayern zugesagt“.3 Auf der Sitzung des Thronrats am 29. Januar 1621 verkündete der Kaiser die Reichsacht über Kfst. Friedrich V. (1610-1632). Die Kurwürde verlieh er Maximilian am 22. September 1621 mit der Begründung: Kfst. Friedrich, „der gruntseulen nicht die geringste“, habe sich „verleiten“ lassen, den Landfrieden zu verletzen und den Lehnspflichten zu wider zu handeln. Nachdem der in Acht und Oberacht geraten sei, verleihe der Kaiser nach reiflicher Beratung „rechten wissen, auch volkommenheit keyserlicher macht“ Maximilian und seinen Erben den „Titel, wurde, Ambt und Gerechtikeit eines Churfürsten und Ertztrugsessen“. Zugleich gebot er allen, Maximilian „solche Churfürstliche dignitet“ zukommen zu lassen. In dem beigefügten Begleitschreiben befahl Ferdinand jedoch, den „lehenbrief in höchster gehaimb […] zuehalten“, bis der Kfst. von Sachsen und der König von Spanien „weittern nodtwendige hülflaistung“ zugesagt hätten.4 Einen Monat später fielen die Papiere, die dem in den Generalstaaten stationierten Erzherzog zur Information dienen sollten, in die Hände der Unierten und wurden als „Cancellaria Hispanica“ propagandistisch ausgewertet und im März 1622 publiziert. Ferdinand II. konnte von seinen Zusagen nicht mehr abrücken. König Philipp III. (1598-1621) hatte sich zwar bereit erklärt, durch ein Eingreifen in der Unterpfalz Unionstruppen zu binden. Spanien verfolgte jedoch zu der Zeit seine eigenen Ziele. 1621 lief der mit den Generalstaaten geschlossene Waffenstillstand aus, dem König mußte aus diesem Grunde vor allem an einer Verständigung mit England liegen. Deshalb war er bereit, Rücksicht auf die Verpflichtungen und Bindungen zu nehmen, die König Jakob I. (1603-1625) seinem Schwiegersohn Friedrich V. schuldete. Wiederholt forderte der spanische Staatsrat den Kaiser auf, die Kurfrage offen zu halten, denn die ganze Pfalzfrage könne am besten im großen Zusammenhang gelöst werden.5 Vielfältige Varianten einer Restitution, Heirats- oder Erziehungspläne für die Kinder des Pfalzgrafen kamen zwischen England und Spanien zu Sprache. Grundton aller Überlegungen im spanischen Staatsrat war, eine Standeserhöhung des bayerischen Herzogs werde zum Umsturz („revolución“) und Untergang von ganz Deutschland führen, „wo man einen grausam und langen Krieg entzünden“ werde.6 Der Mainzer Erzbischof
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BuA NF 1, 1 (wie Anm. 2), S. 250. Inwieweit der spanische Gesandten Oñate aus eigenen Stücken oder auf Grund einer Weisung gehandelt hatte, bleibt unklar; vgl. Dieter Albrecht, Die deutsche Politik Papst Gregors XV., München 1956, S. 16. Dokumente (wie Anm. 1), S. 912-916. Khevenhiller, damals Gesandter am spanischen Hof, betonte in einem Bericht an den Kaiser vom 17. Mai 1622, man hege unterschiedliche Ansichten zur Translation, „der maisten mainung“ gehe jedoch dahin, der Kaiser solle „die Kur declarieren und alsdann vom übrigen accordo reden lassen“. Werde England und die Pfalz vor die vollzogene Kurübertragung gestellt, könne sich Spanien „der unwissenheit halber entschuldigen und besser zu mitler des übrigen tractats sich gebrauchen lassen“, BuA NF 1, 2 (Januar 1621-Dezember 1622), bearb. von Arno Duch, 1970, S. 529 Anm. 1. Über die spanisch-englischen Beziehungen berichtet ausführlich Franz Christoph von Khevenhiller, Annales Ferdinandei Bd. 9, Leipzig 1724, Sp. 1780, 1784; dazu die Dar-
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warnte vor einem „unvorgreiflichen Discurs“. Wenn Bayern die Kur übertragen und den Kindern und Agnaten alle Hoffnung abgeschnitten werde, so werden England und alle weltlichen Kurfürsten und Fürsten „mit gesampten zutun“ es bestreiten, denn England sei seiner Nepoten, die Kurfürsten und Fürsten der „Konsequenzen“ halber daran interessiert.7 Ungeachtet aller Einwände verlieh Kaiser Ferdinand am 24. Februar 1623 in Regensburg „vermittelts […] uns als Römischen Kaiser zustehenden Rechtens“8 Maximilian in öffentlicher Zeremonie die Kurwürde. Die Investitur Maximilians als „Kurfürst von Bayern“9 verlief nicht allzu prächtig.10 Auf die kaiserliche Einladung erschienen lediglich die Kurfürsten von Mainz11 und Köln (Maximilians Bruder), obgleich „Ihre Kayserl Maj, da sie (= die Abwesenden) gegenwärtig gewesen wären, selbsten hierüber gerne communiciret, auch solches gewünschet hätten“. Ferdinand betonte, es sei „niehmals“ seine „Intension, Wille und Meynung gewesen, hiermit weder der Churfürstl. Praeeminenz, noch ihrer Königl. Capitulation, der güldenen Bulle oder andern ReichsConstitutionibus im geringsten etwas zu derogiren oder zuwider zu handeln“ oder „iemand hierdurch sein gebührendes Recht zu benehmen, oder abzuschneiden“.12 Die englischen Minister waren jedoch nach der Investitur sehr „turbiert“.13 Die Pfalzfrage wurde mit dieser Investitur noch schwieriger. Nach dem Regensburger Fürstentag war nicht zu erwarten, daß Maximilian seine neue Würde abtreten, oder daß der Kaiser die Kurwürde einem, wie Khevenhiller formulierte (7. September 1623), „aus der catholischen hend reißen und in
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stellung von Eberhard Straub, Pax et Imperium, Paderborn, München 1980, S. 163-204, Zitat S. 176. Aufzeichnung des Kurfürsten von Mainz, 10. Februar 1623, in: BuA NF 2,1 (1623, 1624) bearb. von Walter Goetz, 1907, S. 17/18 Anm. 2. Formulierung z. B. in Ferdinands Schreiben an den Kurfürsten von Mainz, 31. August 1622, in: BuA NF 1, 2 (wie Anm. 5), S. 547. Kurz nach seinem Kurversprechen hatte Kaiser Ferdinand in einer „Hauptinstruktion“ (2. März 1621) festgehalten, trotz Maximilians Behauptung sei Bayern als „das rechte Kurland“ noch nicht „ausfindig“ gemacht. Deshalb „wölle“ der Kurfürst „zu ewigen Zeiten der Kur halber an die Lande der unteren Pfalz die wenigste Ansprach nit haben noch ichtwas daselbsten suechen oder begeren“, BuA NF 1, 2 (wie Anm. 5), S. 151. Vgl. die Abbildung bei Khevenhiller, Annales Ferdinandei, Bd. 9 (wie Anm. 6), nach Sp. 1624. Auch der spanische Gesandte, der vorgeschlagen hatte, Maximilian die Kur „por via de administracion o investidura limitada“ zu verleihen, war der Zeremonie ferngeblieben; Zitat aus dem Bericht der Infantin Isabel an Philipp III. vom 7. März 1623, zit. bei Moriz Ritter, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Gegenreformation und des Dreißigjährigen Krieges (1555-1648), Bd. 3, Stuttgart 1908, S. 187 Anm. 2. Der kursächsische Gesandte gab in seinem Bericht vom 16./26. Februar 1623 weiter, „bei werendem actu“ habe „der curf. von Mainz sich etlich mal im kopf gekrazt und gar unlustig erzeiget; es hat auch der herzog in Baiern bei beschehener danksagung ganz forchtsamb geret“, BuA NF 2, 1 (wie Anm. 7), S. 44/45. Khevenhiller, Annales, Bd. 10, Leipzig 1724, Sp. 62 und 59. Die offizielle Urkunde und die erweiterte „geheime Versicherung“ des Kaisers abgedr. in: Dokumente (wie Anm. 1), S. 932-938, kommentiert in: BuA NF 1, 2 (wie Anm. 5), S. 374. Bericht vom 19. April 1623, in: BuA NF 2,1 (wie Anm. 7), S. 101 Anm. 1.
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rachen des Calvinismi stecken“ werde. In dieser Lage schlugen die Engländer folgende Lösung vor: Pfalzgraf Friedrich solle wieder eingesetzt oder wenigstens zur „Administration seines Sohns zugelassen“, seine Kinder am kaiserlichen Hof erzogen und der älteste Sohn mit einer Tochter des Kaisers verheiratet werden. „Wann dies beschähe, so würden alsdenn beyde Könige, in Spanien und Engelland, bey Ihrer Kayserl. Maj. und dem Churfürstl. Collegio anhalten, damit Ihro Churfürstl. Durchl. in Bayern zu dem Achten Churfürstenthume für sich und seine Erben erhoben werden möchte“.14 Schon im Jahr zuvor war davon die Rede gewesen, eine neue achte Kur einzuführen. Nach einem Bericht des Wiener Nuntius vom 2. Juli 1622 hatte Maximilian folgende Überlegungen angestellt: Sollte der Regensburger Fürstentag nicht oder nicht so bald zustande kommen, wollte er auf einem Deputiertentag katholischer Fürsten15 öffentlich mit der Kurwürde belehnt werden. Sollte auch das mißlingen, war er dem Bericht zufolge zur Alternation in der Kur mit der Pfalz oder zur Annahme einer achten bayerischen Kur bereit. Da die Kurie grundsätzlich ihre Zustimmung und Mitwirkung bei der Einsetzung deutscher Kuren beanspruchte, bat der Nuntius um Weisung aus Rom. Die Antwort lautete recht pragmatisch: Die Deutschen wollten derzeit von der Überordnung des Papstes nichts wissen; wenn sie untereinander zur Errichtung einer achten Kur entschlossen seien, würden sie nach der „autorità“ der Kurie nicht fragen. Es sei deshalb nicht ratsam, eine Sache zu fördern, bei der die kirchlichen Rechte nicht anerkannt würden.16 Selbst wenn Maximilian 1622 wirklich mit der 8. Stelle im Kurkollegium zufrieden gewesen wäre, in der Folgezeit lehnte er diesen letzten Rang für sich immer ab. Als Maximilian 1623 ein Wechsel unter den Wittelsbacher Linien in der Kurwürde vorgeschlagen wurde, erklärte er am 30. Januar 1624: eine Alternation werde sich schwerlich durchführen lassen. Er stimmte jedoch zu, daß für die Pfalz,
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Khevenhiller, Annales Bd. 10 (wie Anm. 12), Sp. 94; Khevenhillers Bericht aus Spanien vom 7. September 1623, in: BuA NF 2, 1 (wie Anm. 7), S. 309/310. Am 23. November 1623 berichtete Khevenhiller dem Kaiser nochmals vom englischen Vorschlag: wenn Friedrichs Restitution bewilligt werde, wolle England den Pfalzgrafen zur völligen Unterwerfung und zur Bewilligung der freien katholischen Religionsausübung veranlassen. Bayern solle dafür die 8. Kur erblich erhalten; in: BuA NF 2, 1, S. 389. Im Dezember 1623 sprach der umtriebige Kapuziner Hyazinth von Casale (della Rota) wahrscheinlich in Maximilians Auftrag gegenüber König Jakob nochmals vom Plan einer neuen Kurwürde, doch der englische König reagierte nur verärgert; Elmar Weiß, Die Unterstützung Friedrichs V. von der Pfalz durch Jakob I. und Karl I. von England im Dreißigjährigen Krieg (1618-1632), Stuttgart 1966, S. 62. Über die diplomatische Mission von Rubens in London, vgl. Otto von Simson, Peter Paul Rubens (1577-1640). Humanist, Maler und Diplomat, Mainz 1966, S. 307-320. Vgl. dazu Maximilians Pläne vom 27. Oktober 1622 zum Treffen der Ligastände, in: BuA NF 2, 1 (wie Anm. 7), S. 48 Anm. 2. Auf die erste Weisung vom 20. August folgte ein weiterer Brief mit dem gleichen Tenor am 3. September 1622: Man dürfe sich nicht auf das neue achte Elektorat einlassen, um die Autorität der Kurie nicht aufs Spiel zu setzen; alle Zitate bei: Dieter Albrecht, Der Hl. Stuhl und die Kurübertragung von 1622, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 34 (1954), S. 244-246.
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nicht für Bayern, eine achte Kur geschaffen werde.17 Er hoffte, daß es „nach so langen und vielen ansehnlichen Deliberationen, sowohl von Churfürsten und Ständen des Reichs, als ausländischen höchsten und hohen Potentaten, für nothwendig erachteten würklichen Translation der Chur und Dero erlangten Investitur“ bleiben („zu lassen und zu erhalten“) werde. „Da man je ohne ein neue Chur in den Pfälzischen Sachen nicht fortkommen könte […] so erfordert je die Billichkeit selbst, daß Ihre Kayserl. Maj. und welche es zu befördern und darzu zu helffen vermeynen, vielmehr den Pfalzgrafen zu der achten Chur-Stelle erheben“. Maximilian war sich sicher, daß „darbey etwa sich auch Mittel zeigen möchten, wie denen von Ihrer Maj. inserirten difficultäten der goldenen Bulle halber zu remediren seyn möchten“.18 Auf dem Mühlhausener Kurfürstentag 1627 erreichte Maximilian sein Ziel, um Alternierungsvorschläge brauchte er sich nicht mehr ernstlich zu sorgen. Damit war das Pfalzproblem jedoch nicht gelöst, denn die Achterklärung konnte sich nur auf Friedrich, aber nicht auf seine Kinder beziehen. Maximilians Oberhofmeister empfahl deshalb am 4. Januar 1627: Das Mittel „des octavi electoris (sei) das beste, richtigste und bestens zuo practicieren“. Das werde dem Pfalzgrafen und seinen Anhängern am „ehesten annehmlich“ und es gebe auch hinsichtlich „der paritet der votorum, der underbrechung der gulden bull und der obiection des interesse der cur- und firstlichen heiser“ geringere Schwierigkeit.19 Die Verhandlungen über eine mögliche Restitution des Pfalzgrafen kamen zunächst nicht weiter. Vielmehr bestätigte der Prager Friede vom 30. Mai 1635 Maximilian in seiner Würde: „Dieweil aber weltkündig, es auch das hochlöbl. kfl. collegium zu Mühlhausen anno 1627 also befunden, daß der proscribirte pfaltzgraff Friderich alles des unheils […] ein haubtanfänger und ursacher […], alß soll es bei demjenigen, so ihre ksl. Mt. wegen derselben chur und lande für ihre kfl. dt. in Bayern […] angeordnet allerdings verbleiben“.20 Maximilians Ansicht nach war die Pfalzfrage nun „viam facti et iuris“ geregelt.21 18 Jahre nach dem Ausbruch der ursprünglich „böhmischen Unruhen“ hatten sich die Bedingungen der handelnden Personen geändert. Kurfürst Friedrich V. war am 29. November 1632 gestorben, sein Sohn Karl Ludwig (1617-1680) seit 1633 volljährig. Der bislang kinderlose Maximilian heiratete in zweiter Ehe Maria Anna (geb. 1610, gest. 1665), die Tochter Ferdinands II., und erhielt am 31. Oktober 1636 mit Ferdinand Maria (1651-1679) einen erbberechtigten Sohn. Vor allem aber wollte der Kaiser seinen Sohn „vivente imperatore“ zum König wählen lassen. Diese Wahl bestimmte Ferdinands Politik, auch wenn der Reichs17 18 19
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BuA NF 2, 1 (wie Anm. 7), S. 390/391 Anm. 1. Maximilian vermutete (13. Februar 1624), der Vorschlag sei „aus Spanien entsprungen“; ebenda, S. 425 Anm 1. Maximilians Schreiben an Kaiser Ferdinand, Khevenhiller, Annales Bd. 10 (wie Anm. 12), Sp. 425/427; der Entwurf in: BuA NF 2, 1 (wie Anm. 7), S. 424/425. Der Oberhofmeister fuhr fort: Man habe sogar „ohne Ursache“ dem Bethlen Gabor die achte Kurwürde angeboten. Johann Graf zu Zollern an Maximilian, in: BuA NF 2, 3 (1626. 1627), bearb. von Walter Goetz, 1942, S. 390. Dokumente (wie Anm. 1), S. 1085. Zit. bei Heiner Haan, Der Regensburger Kurfürstentag von 1636/1637, Münster 1967, S. 78.
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hofrat in seinem Gutachten (12. August 1636) die Gefahr beschrieb, daß der Kaiser „propter potentiam domus Bavaricae“ im Reich allzu nachgiebig erscheinen werde.22 Zur Wahl berief er 1635 die Kurfürsten nach Regensburg. Maximilian nahm am 22. Dezember 1636 erstmals in seiner neuen Würde als Kurfürst im Regensburger Dom an der Krönung Ferdinands III. teil. Für die Reichsfürsten standen allerdings die Friedensverhandlungen und damit die Rücksichtnahme auf den englischen König im Vordergrund. König Karl (1625-1649) hoffte, daß sein Neffe Karl Ludwig bald wieder in den Kreis der Kurfürsten aufgenommen und restituiert werde und ließ dazu in Regensburg verschiedene Vorschläge unterbreiten. Er hielt es einerseits für möglich, daß die Kurwürde zunächst bei Maximilian und seinem „nechstgeborenen jungen prinz verbleiben und erst hernach alteriert“ werden könne, sprach aber andererseits auch wieder davon, daß die Pfalzfrage mit einer neuen achten Kur zu lösen sei. Zu solchen Plänen meinte der kaiserliche Geheimrat Maximilian Graf von Trauttmansdorff (1584-1650), eine achte Kur „zu bewilligen […] sey (weder) bey dem Kayser noch denen heren churfürsten allein, sondern (stehe) bey denen samtlichen standen deß reichs“. Nach dem Bericht des bayerischen Vizekanzlers kam es Trauttmansdorff zunächst darauf an, daß dem englischen Gesandten „nur iez und alhir die hoffnung gemacht werde, daß eß Ihrer Kayserlichen Mayestät und den herrn churfürsten nit zuwider sondern bey nechstkünfftigen gemainen reichsversamblung proponieren wolten, der Engelländische gesandte möchte sich darmit auch für dismal contentiren, und der könig in Engellandt abgehalten werden, sich noch nit zu deß reichsfeinden zu schlagen“.23 Maximilian nahm 1636 die englischen Vorschläge offenbar nicht allzu ernst, sondern vermutete, der Gesandte habe sie „nur auß dem Kopff […] herfürgesuocht“.24 Der englische Gesandte mußte Regensburg verlassen, ohne daß irgendwelche Abmachungen für Karl Ludwig getroffen worden waren. Erst vor dem Beginn der Verhandlungen in Münster und Osnabrück dachte man wieder ernsthaft über die neue, achte Kur nach. Noch 1643 war der Kaiser aber nicht bereit, auf einem Friedenskongreß darüber zu verhandeln, „dann diß ein sach were, so von Eur Kayserlichen Mayestät und dem churfürstlichen collegio dependieren thet, damit auch außländische potentaten nichts zu schaffen heten“. Die kaiserlichen Gesandten wollten deshalb auch gegenüber den französischen Gesprächspartnern klargestellt wissen, „das dises sachen seyen, so die leges fundamentales imperii beruehren theten und kheinesweegs stattfinden möchten“.25 Unter dem Vorbehalt, daß die Vorschläge vor den „keyserlichen Hof“ und nicht zu den Verhandlungen in Westfalen gehörten, sprachen im März/April 1645 bayerische Gesandte inoffiziell mit Franzosen über die Errichtung einer achten Kur. 22 23 24 25
Zit. bei Haan, Kurfürstentag (wie Anm. 21), S. 91. Bericht des bayerischen Vizekanzlers vom 12. November 1636, zit bei Haan, Kurfürstentag (wie Anm. 21), S. 237 und 241 Anm. 77. Haan, Kurfürstentag (wie Anm. 21), S. 243 Anm. 87. Bericht der Bevollmächtigten an Ferdinand III., Münster 17. Dezember 1643, Acta Pacis Westphalicae (APW alle Bände Münster) II A Bd. 1, Kaiserliche Korrespondenzen (1643-1644), bearb. von Wilhelm Engels, 1969, S. 172/173.
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Sie waren bereit, falls Frankreich eine fünfte Kurstimme für Bayern und eine achte für die Pfalz befürworte, territorialen Zugeständnissen im Elsaß zuzustimmen.26 Im Mai 1645 wollte Maximilian mit einem kaiserlichen Gesandten allgemeine Fragen wie Winterquartiere, Zeremoniell der kurfürstlichen Gesandten und „Particularinteresse“ wie die Errichtung der achten Kur klären, da man nun nicht mehr damit rechnen dürfe, die Pfalzgrafen ganz aus dem Kurkolleg fernhalten zu können.27 Maximilian unterrichtete Ferdinand III. (24. Mai 1645): „Französische alß Schwedische plenipotentiarii“ seien angewiesen, „die Pfelzische sachen […] mit in die tractaten zu ziechen“. Die Franzosen sähen auch „khein bessers mitl zu ersinen und zu practiciren, alß der octavus electoratus“.28 Zunächst instruierte der Kaiser (15. August 1645) den Reichsvizekanzler: Die Kurwürde solle bei Maximilian und seinem Sohn bleiben, danach solle sie alternieren, denn das sei der Errichtung einer neuen Kur vorzuziehen. Falls die bayerischen Vorschläge zur achten Kurwürde überhaupt zur Sprache kommen müßten, so solle eine neunte Kur für das Erzherzogtum gefordert werden.29 In der Geheiminstruktion für Trauttmansdorff (16. Oktober 1645) formulierte der Kaiser noch vorsichtiger: Da durch die Pfalzfrage der Krieg ausgelöst worden sei, müsse sie „notwendig bei disen tractaten verglichen werden“. „Die dignitet belangendt mueß in allweg auf der alternatio beharret et nisi ad extremum nicht davon gewichen werden, endtlich aber, wan khein anders zu erhalten und auch die curfirsten und die stendt darin consentiren und es vor guet achten wurden, khan auch in octavum electorem gewilliget werden, doch wirdt dabei zu tentiren sein, ut et nonus ex nostra domo fiat. Endtlich aber, wan es nicht zu erhalten, wirdt auch davon zu weichen sein.“30 Kaiser Ferdinand III. taktierte in der Pfalzfrage hinhaltend, zur neuen Kur brachte er teils Bedenken wegen der Goldenen Bulle, teils wegen der notwendigen päpstlichen Einwilligung vor. Am liebsten wollte er sie überhaupt nicht auf dem Kongreß verhandeln. Maximilian dagegen drängte und erklärte, die Gegenseite werde sich nicht lange hinhalten lassen, sondern wolle das Problem bald abschließend mit der neuen Kur regeln, zudem werde so eine katholische Mehrheit im Kurkollegium gesichert.31 Der kaiserliche Gesandte Trauttmansdorff versicherte, „das Eur Kayserliche Mayestät neben befürderung des fridenß“ sich das Wohl „Churbayerns“ angelegen sein lassen werde. „Es werde aber gleichwol bey introducirung einer solchen neuerung an oppositionibus nicht ermangeln. Es werde des ganzen reichs consensus darzu exquirirt.“32 Noch im November 1645 wies Ferdi26
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Gerhard Immler, Kurfürst Maximilian und der Westfälische Friedenskongreß. Die bayerische auswärtige Politik von 1644 bis zum Ulmer Waffenstillstand, Münster 1992, S. 93-93. Immler, Maximilian, S. 167, 169. Immler, Maximilian, S. 197 Anm. 2. Immler, Maximilian, S. 171. APW I Bd. 1, Instruktionen, bearb. von Fritz Dickmann, Hans Wagner u. a., Münster 1962, S. 443. Die einzelnen Argumentationen bei Immler, Maximilian (wie Anm. 26), S. 188-210. Bericht von Trauttmansdorff an Ferdinand III. (28. Oktober 1645) über sein Gespräch mit dem Bayerischen Geheimenrath Mändl, in: APW II A Bd. 2 (1644-1645) bearb. Wilhelm Engel, Karsten Ruppert, 1976, S. 543. Trauttmansdorff wies darauf hin, „Ihr
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nand III. seine Gesandten zurecht, weil „de octavo electoratu […] ohne unsern befehl von euch proponirt“.33 Ende des Jahres willigte auch der Kaiser in die Errichtung einer achten Kurwürde ein, falls wirklich keine Hoffnung auf „Totalexklusion“ des Pfalzgrafen bestehe, bis dahin sollten die Pläne geheim bleiben.34 Am 29. Dezember 1645 überreichte der Geheime Rat sein Gutachten dem Kaiser: Es sei zwar bedenklich, daß das Haus Wittelsbach durch die Einführung der achten Kur in den Besitz dreier Kurstimmen gelange, doch sei es zur Zeit für den Kaiser politisch viel zu gefährlich, sich den bayerischen Wünschen entgegenzustellen, zumal allgemein und besonders im Kurkolleg in der achten Kur eine akzeptable Lösung gesehen werde. Ferdinand III. folgte und ließ Maximilian wissen: Kaiser und Kurfürsten sollen versuchen, das Kurkolleg in seiner jetzigen Form zu erhalten. Wenn aber die Mediatoren oder die Kurfürsten die achte Kur vorschlagen, werde sich Ihre Kaiserliche Majestät dem nicht widersetzen.35 Über die Verhandlungen mit den Schweden, die noch immer auf völliger Restitution Karl Ludwigs beharrten, berichtete Trauttmansdorff Ferdinand III: „bin ich auff Ewer Kayserlicher Mayestät allergnedigstem befelch, welcher mich auff kein alternativam, sondern allein endtlichen und auf den eusseristen fahl ad octavum electoratum verwiese, bestanden“.36 Im Juli 1646 gestand der schwedische Gesandte jedenfalls in Bezug auf die Kurwürde zu: „wann der electoratus octavus von gemeinen ständen approbiert, wurden auch die cronen wenig darwider zu reden haben“.37 Kurz darauf wollten die Schweden diese Erklärung nicht mehr als Einverständnis anerkennen, denn „der octavus electoratus geraichte dem hauß Pfaltz mehr zu einer ewigen macul als zu einem contento, sei wider die Gulden Bull und nit zu veranttworteten, daß man solche sanctionem publicam mutirn soll“.38 Trauttmansdorff bereitete im März 1647 die ständischen Beratungen vor: „16. huius deliberabitur negotium octavi electoratus in omnibus tribus Imperii collegiis, secundet Deus negotium“.39 „Österreichischen Theils“40 brachte man vor, es
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heyligkeit möchten auch vermeinen, das ohne iren consens man ein solches werkh nicht disponiren khöne. Disses alleß erfordere vil zeit.“ Ferdinand III., 13. November 1645, in: APW II A Bd. 2 (wie Anm. 32), S. 571. 28. Dezember 1645, zit. bei Immler, Maximilian (wie Anm. 26), S. 209. Gutachten des Geheimen Rats vom 23. Dezember 1645 und Kaiserlicher Bescheid an Mändl vom 28. Dezember 1645 in: APW II A Bd. 3 (1645-1646), bearb. von Karsten Ruppert, 1985, S. 91. APW II A Bd. 4 (Die kaiserlichen Korrespondenzen 1646), bearb. von Hubert Salm, Brigitte Wübbeke-Pflüger, 2001, S. 297. Bericht von Trauttmansdorff an Ferdinand III., 17. Juli 1646, in: APW II A Bd. 4 (wie Anm. 36), S. 449, wegen anderer Punkte (Oberpfalz, Bergstraße) meldete er weitere Vorbehalte an. 7. Juli 1646, Diarium Volmar, in: APW III C Bd. 2/1 (Diarium Volmar, 1643-1647), bearb. von Joachim Foerster, Roswitha Philippe, 1984, S. 661. Trauttmansdorff an Ferdinand III., 11. März 1647, in: APW II A Bd. 5 (Kaiserliche Korrespondenzen, 1646-1647), bearb. von Antje Oschmann, 1993, S. 610; dazu auch das ausführliche Protokoll über das Gespräch zwischen den kaiserlichen und schwedischen Gesandten in Osnabrück am 2. März 1647; ibid., S. 587-588.
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sei zwar schwer, wider die hergebrachte Ordnung den Octavum Electoratum einzuführen. „So wird man auch mit denen Legibus und deren Herkommen in etwas dispensieren und von demselben communi consensu abweichen müssen“, denn die von Kaiser, Kurfürsten und Ständen „aufgerichtet“ Goldene Bulle könne auch durch sie geändert werden „urgente & necessitate & ne tota Respublica pereat“.41 Zur Begründung ergänzte der Bischof von Hildesheim: In der „Churfürstlichen Dignität qua talis“ gebe es keine „Praeeminenz“, es seien alle „gleicher Dignität“. Doch die Natur gebe „von sich“, daß „in einem Collegio & inter plures […] collegas, ein Anfang und Ende seyn müsse“, was aber, wie das brandenburgische Beispiel zeige, der „Dignität und Würde das geringste nicht entzogen“.42 Einig waren sich alle in der „Quaestio An“. Die „Quaestio quomodo“ sei nicht so leicht zu beantworten, „weil die Cronen dieser Sachen sich so starck teilhaftig machen, […] mochte gar leicht an statt des Friedens die Continuation des Krieges verursacht werden“. Es solle darüber weiterverhandelt und als „punctum Gravaminum“ zurückgesetzt werden.43 Wenn man allerdings mit dieser Beratung fortfahre,44 bleibe ungewiß, „ob die Cronen dasjenige, was man dergestalt consultire und schließe, auch genehm halten möchten: da dann auf den wiedrigen Fall das Reich nichts anders ausrichten, als odia und invidias auf sich laden, auch Chur-Fürsten und Ständen schimpflich seyn würde, wann sie hernach ex post facto ihre Meynung ändern solten“. Doch Österreich beharrte darauf, es solle jetzt „circa Quaestionem An?“ lediglich „abstractivè, affirmativè“ entschieden werden. Der Hessen Darmstädtische Gesandte war ganz zuversichtlich, daß „der locus neque magis neque minus attribuire“ sich leicht erörtern lasse. Er sehe nicht, „warum der liebe Friede, der numeri wegen“ noch länger aufgehalten werden solle. Im „Conclusum“ hieß es, die Mehrheit werde „um des lieben Friedens willen“ bei der „Quaestio An? und Octavum Electoratum in genere (& abstractivè)“ keine Bedenken oder „Difficultäten“ vorbringen. „Wie aber derselbe einzuführen; was deme für ein Principatus mit zugeben, […] wäre solches alles der Kayserlichen Majestät, wie auch beyder Cronen anwesenden Herren Plenipotentiariis und den Partibus Interessatis selbsten […] zu überlassen“.45 Ähnlich argumentierten die anwesenden Kurfürsten. Kurköln begründete seine Zustimmung: „Belangend die gnad, ob nemblich der octavus electoratus in favo40 41 42
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Österreich mußte zugleich erreichen, daß durch die Überlassung der Oberpfalz seine Kriegsschuld von 13 Millionen Gulden getilgt wurde. Beratungs-Protokoll bei Johann Gottfried von Meiern, Acta pacis Westphalicae publica, Bd. 4, Hannover 1735, S. 367-383; Zitat S. 367. Meiern, Acta publica, Bd. 4 (wie Anm. 41), S. 372. Pfalz-Neuburg gab nochmals zu Protokoll, daß das Recht der Nachkommen Kfst. Friedrichs V. erhalten bleiben müsse. Die „churfürstliche Dignität von den Landen zu separiren“ und das Land zu teilen, sei der „Güldenen Bulle ausdrücklich zu wider“; ibid., S. 393. So Sachsen-Altenburg, in: Meiern, Acta publica, Bd. 4 (wie Anm. 41), S. 375. Das Directorium „interloquendo“ warf ein, es gehe jetzt nur um die „Quaestionem an? ratione Octavi Electoratus“; ibid., S. 377. So Braunschweig-Lüneburg-Celle, in: Meiern, Acta publica, Bd. 4 (wie Anm. 41), S. 377. Meiern, Acta Publica, Bd. 4 (wie Anm. 41), S. 383.
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rem Pfaltz einzuführen, scheine zwar bedencklich, daß wider den inhalt der güldenen bull, welche so lange zeit hero verbündlich gehalten worden, einige newerung gemacht werden solle. Man seye aber anietzo leider im reich in solchem stand begrieffen, daß man nit so genaw uff daß herkommen alß die noth zu sehen; und gleichwie die löbliche vorfahren bey auffrichtung der güldenen bull uf des reichs wohlfahrt geziehlet, so befinden sie auch nit, warumb nit ietzo auch solches geschehen könne oder solle und auß waß ursachen vielmehr uff daß herkommen alß daßjenige zu sehen, so zu widerpringung des so lang gewünschten friedens dienlich. Und nachdemahln Ihre Kayserliche Mayestät davorhielten, daß dießes ein rechtes mittel zum frieden seye, der mehrere theil der außwertigen cronen ihro auch hierinnen beyfall geben, so sehen sie auch nit, wie Ihrer Kayserlichen Mayestät auß handen zu gehen, sondern seye Ihrer Kayßerlichen Mayestät sorgfalt zu errreichung des friedens pillig mit danck zu acceptiren.“46 Am 31. März 1647 verabschiedeten die in Münster und Osnabrück versammelten Stände ihr „Reichsgutachten in der Chur-Pfältzischen Sache“.47 Der Kaiser unterstrich in seiner Resolution, „daß ohne Erledigung dieser Pfältzischen Differentien kein beständiger Fried im Römischen Reiche zu hoffen“ sei. Um die Befriedigung aller zu erreichen, müsse der „Octavus Electoratus“ eingeführt werden.48 Die Stände stimmten dem zu, denn sie wüßten „aus was vor erhebliche Ursachen“ die Änderungen der Chur-Dignität vorgenommen worden seien. Seit zwanzig Jahren befinde sich „Ihro Churfürstliche Durchlaucht“ Maximilian nun in „würcklicher Possession dieser Chur-Dignität“, er sei im ganzen Römischen Reich „auch (von) fast allen auswärtigen Potentaten“ als Kurfürst geachtet worden, habe dem kurfürstlichen Kollegium beigewohnt und insbesondere an der Wahl Ferdinand III. teilgenommen. Einigen Ständen sei jedoch „zu Gemüth gangen“, daß in der von den Kaisern beschworenen Goldenen Bulle sieben Kurfürsten festgelegt seien, eine Zahl, die zudem „ob rationes mysticas“ bestätigt worden sei. Doch nun „heist es billig“: „Salus Imperii suprema lex esto“. Auch die Goldene Bulle habe Veränderungen erfahren: „consequenter“ sei „dasjenige, was auf eine Zeit gesetzet und beschlossen worden, […] da die Noth und Nutzbarkeit des Heil. Römischen Reichs es also erfordert, gar wohl aufzuheben“. „Zur gütlichen Hinlegung dieser Sachen“ hätten „Ihro Kayserliche Majestät und der fremden Cronen, als vornehmsten Actoren bey diesen Tractaten […] kein besser noch sicherer Expediens ergriffen werden können.“ Im „Conclusum“ kamen die Stände zum Schluß, „daß zwar die Quaestio An? de constituendo novo Electoratu? in genere et abstractive, in Betrachtung des damahligen seltsamen Zustandes im Deutschen Reich ihre Richtigkeit hätte“. Das „Quomodo?“ aber sei mit anderen Gravamina noch zu klären.49
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Stellungnahme Kurkölns am 17. März 1647, in: APW III A Bd. 1/1 (Beratungen der kurfürstlichen Kurie, 1645-1647), bearb. von Winfried Becker, 1984, S. 736/737. Meiern, Acta publica, Bd. 4 (wie Anm. 41), S. 395-399. Die „Auctio numeri“ sei nicht „perpetua & immutabilis“, denn falls „der Octavus extinguiret“ könne wieder auf sieben Kurfürsten zurückgegangen werden. Meiern, Acta publica, Bd. 4 (wie Anm. 41), S. 367.
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Karl Ludwig protestierte gegen das Reichsgutachten als „Pfalz-Graf bey Rhein, des Heiligen Römischen ReichsErtz-Truchsess und Churfürst, Hertzog in Bayern“.50 Er bestand auf seinen „eigenen Rechten“, die er nach der Goldenen Bulle als rechtmäßiger Erbe seines Vaters antreten könne. Wie Maximilian seine bisherige unangefochtene Teilnahme an „Reichshandlungen“ anführte, um die Legitimität seiner Stellung zu unterstreichen, so bezog sich Karl Ludwig auch auf die ihm gezollte Anerkennung in den „vor Ihro churfürstliche Durchlauchten und Dero gantzes Hauß“ erworbenen „Pass-Briefe“ und untermauerte damit seine Ansprüche.51 Doch die Friedensverträge wurden abgefaßt (24. Oktober 1648). Sie verwiesen Karl Ludwig auf die achte, dem Rang nach letzte Kurwürde und beschränkten sein Territorium auf die Unterpfalz,52 unter der Voraussetzung, daß er sich dem Kaiser unterwerfe und seinen Verzicht ausdrücklich ausspreche (IPO IV 14/IPM § 22). Es erging an ihn, tituliert als „Ew. Churfürstliche Durchlaucht“, am 8. November 1648 ein Schreiben der in Nürnberg versammelten Reichsstände, in dem er gebeten wurde, „auf beständige Fried und Ruhe […] bedacht (zu) seyn […], auch nicht dafür halten wollen, daß Ew. Churfürstliche Durchlauchten sich in acceptirung des Frieden-Schlusses aufhalten, sondern denselben amore Pacis […] auf- und annehmen“.53 Karl Ludwig, damals in London, stimmte grundsätzlich den Verträgen zu, behielt sich aber alle Rechte vor. „Carl Ludwig von Gottes Gnaden Pfaltzgraff bey Rhein, deß Heil. Röm. Reichs Ertz-Truchseß und churfürst“ nehme „amore pacis“ den Friedensschluß an. Er habe aber noch keine Ausfertigung „in forma authentica“ gesehen. Das überschickte „Extract“ erscheine ihm „zimlich uncorrect und an etlichen Orten etwas obscur zu seyn“, manche „Restitution“ könnte dadurch „gehemmt“ werden. „Dieweil unser und unsers Chur-Hauses Sache dabey
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Meiern, Acta publica, Bd. 4 (wie Anm. 41), S. 405-407. Der Kurfürst von Brandenburg billigte zwar die Einrichtung der achten Kur, doch plädierte er dafür, den Rang und die mit der Kur verbundenen Ämter alternieren zu lassen; Meiern, Acta publica, Bd. 4 (wie Anm. 41), S. 405. Zum geplanten Kölner Kongreß erhielten die Gesandten Karl Ludwigs am 7. September 1639 einen Paß; Kathrin Bierther, Der Regensburger Reichstag von 1649/1641, Kallmütz 1971, S. 219 Anm. 365. Am 16. Juni 1641 hatte der Kaiser für die geplanten Friedensverhandlungen einen Paß ausgestellt, mit dem Titel: „Carlo Ludovico Com. Palatino“. Bierther verweist noch auf ein Formular vom 21. Januar 1641, ibid., S. 222 Anm. 388; zum ganzen Problem ausführlich: Anja Victorine Hartmann, Von Regensburg nach Hamburg. Die diplomatischen Beziehungen zwischen dem französischen König und dem Kaiser vom Regensburger Vertrag (13. Oktober 1630) bis zum Hamburger Präliminarfrieden (25. Dezember 1641), Münster 1998, S. 504. IPO IV 5/IPM § 13, kritische Textausgabe in: APW III B 1 (Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden, Bd. 1 Urkunden), bearb. Antje Oschmann, 1998, S. 100. Pütter verwies darauf, daß es nach kaiserlichen Entwürfen „octavus et ultimus electoratus“ heißen sollte, vielleicht wie er (1795 !) anmerkte, um „Absichten auf eine neunte Chur“ vorzubeugen; Stephan Pütter, Geist des Westphälischen Friedens nach dem innern Gehalte und wahren Zusammenhange der darin verhandelten Gegenstände, Göttingen 1795, S. 271. Meiern, Acta publica, Bd. 6, Hannover 1736, S. 673.
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in so schlechte Consideration gezogen worden“, erwarte er „protestando“ eine „bessere Conjunction“.54 Die Zuteilung eines „passenden“ Erzamtes machte einen Teil der verfassungsrechtlichen Einordnung in das Reichsgefüge aus. Solange sie nicht geklärt war, gab Karl Ludwig die alte Kurwürde nicht auf. Am 1. September 1649 hinterlegte er beim Erzkanzler in Mainz einen „Schein“ und erklärte: „von deßwegen, daß Wir von Ihrer Kayserlichen Majestät mit einem andern Ertz-Amt, Titul und Wapen noch nicht versehen seyn“ werde er den Titel eines Erztruchsessen „auch noch gegenwärtig“ gebrauchen. Er verspreche jedoch „vestiglich und bey Unsern Churfürstlichen Worten, daß so bald höchstgedachte Römisch-Kayserliche Majestät Uns ein anders der Churfürstlichen Würdigkeit gemässes Ertz-Amt, Titul, Wapen, und was dem anhängig, werden allergnädigst conferirt haben, Wir Uns alsdann des jetzigen Ertz-Truchsessen Tituls und Wapens begeben, und nach solcher Zeit denselben nicht mehr führen noch gebrauchen“.55 Karl Ludwig unterzeichnete deshalb im September 1649 die Friedensverträge von Münster und Osnabrück als „archidapifer“.56 Ständische Abgeordnete reisten nach München und „bewogen“ Maximilian diesem „Provisional-Mittel“ eines „Interim-Gebrauchs“ zu „consentiren“. Die in Nürnberg anwesenden Abgeordneten baten den Kaiser darum,57 Karl Ludwig, einen „würcklichen Mit-Chur-Fürsten des Reichs“ mit „einem gewissen reputirlichen Chur-Fürstlichen Ertz Amt“, dem „Reichs-Ertz-Schatzmeister-Amt und einem Schlüssel pro insigni Electorali in dem Wapen“ zu versehen.58 Ihm kämen dann, „welchen Fall der Allmächtige lang verhüten wolle“, bei einer Krönung als „Actus und Exercitium officii Electoralis in solenni Curia & electione Regis Romanorum“ die beiden ersten „Auswürffe“ goldener und silberner Münzen zu. Die Reichsstände drängten, diese „Richtigmachung“ auf Grund ihres Gutachtens noch vor dem nächsten Reichstag zu vollziehen. Alle befänden das für „rathsam, gut und dem Heiligen Römischen Reich nützlich, reputirlich und nothwendig“. Ferdinand III. unterstrich zwar, daß „diß eine Sache, so zu denen gegenwärtigen Exauctorations- und Evacuations Tractaten […] nicht eigentlich gehörig“, doch er erklärte sich damit einverstanden, wenn „zuvorhero alles andere
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Johann Philipp Abelinus, Matthäus Merian (Hrsg.), Theatrum Europaeum, Bd. 6, Frankfurt 1652, S. 607. Meiern, Acta Pacis Executionis, Bd. 1, Leipzig, Göttingen 1736, S. 273. Das Erzkanzleramt stellte darüber einen „Depositen-Schein“ aus; ebenda, S. 273/274. Erst im Juni 1652 fertigte er die Urkunden mit dem Titel „archithesaurarius“ aus, APW III B 1, 1 (wie Anm. 52), S. 207, 208. Vorstellung an Ihro Kayserliche Majestät von den Reichs-Ständen das neue Ertz Amt vor Chur-Pfaltz betreffend; Nürnberg 11. November 1649, in: Meiern, Acta Pacis Executionis, Bd. 1 (wie Anm. 55), S. 703-706. Möglicherweise dachten die Reichsstände an den Schlüssel zum „Heiltumsschrein“, in dem die Reichsreliquien aufbewahrt wurden; Abb. der in Nürnberg verbliebenen, ursprünglich an einer Kette aufgehängten Truhe und des „Versperrs“ in: Heinrich Pleticha, Des Reiches Glanz. Reichskleinodien und Kaiserkrönungen im Spiegel der deutschen Geschichte, Freiburg, Basel, Wien 1989, S. 145.
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in puncto Amnestiae & Gravaminum […] seine Richtigkeit habe“.59 Am 23. August 1650 ersuchten die Abgeordneten in Nürnberg den Kaiser nochmals, die neue Kurwürde zu verleihen, denn „die Ertheilung des Ertz-Schatz-MeisterAmts und Schlüssels im Wappen pro Insigni Electorali für Chur-Pfaltz (hafftet) allein an Eurer Kayserlichen Majestät cathegorischer Resolution“. Die Verleihung der „Lehns-Consession“ und des „Diploma Investiturae“ bedürfe keiner „fernern Solennität“. Denn der bayerische Kurfürst, der „Amore Pacis dem Reich zum besten ad Tempus gutwillig nachgegeben“, müsse „ohne Nachtheil, Abbruch und Schaden“ bleiben.60 Auf dies drängende Schreiben reagierte der Kaiser augenblicklich und sehr ungehalten, „in harten Terminis“: Die Antwort komme ihm „billich befremdlich und unverhofft“ vor, er habe „wohl Ursach guten Fug und Macht“, ein solches Schreiben „Euch wiederum zurück zu schicken“. An die ohne sein Vorwissen geschlossenen „facti alieni“ sei er nicht gebunden. Die Nürnberger Gesandten hätten ihm selbst eine ganze Reihe Erzämter zur Auswahl vorgeschlagen. Er sei bereit, ein solches Erzamt aus „Kayserlicher Mildigkeit und Gnade zu conferiren“. Aber ohne weiteres werde er dieses „Kleinod“ nicht „hinausgeben“. Es sei noch nicht einmal klar, ob Kurpfalz mit diesem Vorschlag einverstanden sei. Das kaiserliche Schreiben schloß mit der Aufforderung „Unser damit hinfüro gänzlich zu verschonen“.61 Nach langwierigen Verhandlungen in Wien erzielten der bayerische und der pfälzische62 Abgeordnete am 22. November/2. Dezember 1651 eine Einigung, das „Praedikat“ des Ertz-Schatzmeisters wurde „inserirt“.63 Am 5. August 1652 übergab Ferdinand III. (1636-1657) in Prag dem „gevollmächtigten Gewaltstraeger“ Karl Ludwigs, des „heyl. Röm. Reichs Ertz-Schatzmeister und Churfürst“ den „Lehen-Brieff […] über die Achte chur-Würde“.64 Darauf folgte Karl Ludwig im Oktober 1652 Ferdinands Einladung nach Prag, wo ihm die vollen protokollarischen Ehren zuteil wurden.65 Unklar blieb lange, welche Insignien zum neuen Erzamt gehörten. Die Wertschätzung solcher wappen-relevanten „Stücke“ hing davon ab, wie nahe sie mit 59 60 61 62
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Schreiben vom 9. Januar 1650, in: Johann Gottfried Meiern, Acta Pacis Executionis Publica […], Bd. 2, Leipzig, Göttingen 1737, S. 110. Meiern, Acta Executionis, Bd. 2 (wie Anm. 59), S. 723-726. Kaiserliche Resolution vom 16. September 1650, in: Meiern, Acta Executionis, Bd. 2 (wie Anm. 59), S. 726-735. Karl Ludwigs Gesandter mußte mit so beschränkten Mitteln auskommen, daß er den Kaiser darum bat, ihm keine feierlichen, sondern nur „schlichte“ Audienzen zu gewähren, andernfalls könne er dem Kaiser nicht würdig entgegentreten; Karl Hauck, Karl Ludwig. Kurfürst von der Pfalz (1617-1680), Leipzig 1903, S. 96. Theatrum Europaeum, Bd. 7, Frankfurt 1685, S. 10. Die eigentlichen Probleme lagen in den oberpfälzischen Religionsgravamina und der Räumung Frankenthals; dazu im einzelnen Antje Oschmann, Der Nürnberger Exekutionstag 1649-1650. Das Ende des Dreißigjährigen Krieges in Deutschland, Münster 1991, S. 270-273; Albrecht, Maximilian (wie Anm. 1), S. 1090-1093. Johann Christian Lünig, Des Teutschen Reichs-Archivs, pars specialis, continuatio II, Leipzig 1712, S. 86-87. Dafür „verehrte“ Mieg dem Kaiser „ein güldene Kette, 300 Reichsthaler werth“; Theatrum Europaeum, Bd. 7 (wie Anm. 63), S. 286. Theatrum Europaeum, Bd. 7 (wie Anm. 63), S. 287.
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dem Kaiser bei der Krönung in Berührung kamen. Karl Ludwig erreichte bei Ferdinand III., daß sein Erzamt nicht wie von den Reichsständen geplant mit einem „Schlüssel“, sondern mit der „Krone“ verbunden wurde. Der kurbrandenburgische Gesandte beim Regensburger Reichstag und Augsburger Wahltag hatte schon am 23. Mai 1653 seinem Kurfürsten gemeldet, „ChurPfalz ist hier bei I. Kais. Maj. in großer Vertraulichkeit; erhält fast, was er suchet“.66 Kurze Zeit später berichtete der Brandenburger über das Wahlkonklave, in dem die letzten Unklarheiten beseitigt werden sollten. Dazu gehörte die „Streitigkeit“ „über die Insignie, die Churpfalz zu tragen haben will bei feierlichen Gelegenheiten“. „Der Kaiser soll die Absicht haben, für die 8te Kur künftig die Krone zu designiren“.67 Der Kaiser „verwilligte“ acht Tage vor der Krönung Ferdinands IV. Karl Ludwig die Reichskrone „pro insigni Electorali und zu Gebrauch in dem Wappen“.68 An der Krönung Ferdinands IV. (1653-1654) in Regensburg nahm Karl Ludwig erstmals als Reichs Erzschatzmeister teil. Er hatte sogar die Krone „so zu solchem Ende von neuem verfertigen“ lassen.69 Wegen seiner Insignien geriet der kurpfälzische Kurfürst in Konkurrenz zum Kurfürsten von Brandenburg, der als Erzkämmerer für die Aufbewahrung der Reichsinsignien verantwortlich war. Noch während der Krönungsfeier kam es zum Konflikt mit dem kurbrandenburgischen Gesandten.70 In einer umständlich ausgeklügelten Folge sollte die Krone während des Krönungszeremoniells weitergereicht werden.71 Als Ferdinand IV. beim Beginn der Eucharistiefeier die Krone zum Gebet ablegen wollte, nahm Kurfürst Karl Ludwig sie in die Hand, um sie seinem Erbschatzmeister auf ein Kissen zu
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Urkunden und Actenstücke zur Geschichte des Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, Politische Verhandlungen Bd. 3, hg. v. Bernhard Erdmannsdörffer, Berlin 1872, S. 236. Bericht vom 24. Mai/3. Juni 1653 in: Urkunden und Actenstücke, Bd. 3 (wie Anm. 66), S. 242. Das kaiserliche Dekret vom 10. Juni 1653 zitiert bei Lundorp, Acta Publica, Bd. 7, Frankfurt 1669, S. 364; erwähnt auch bei: Helga Reuter-Pettenberg, Bedeutungswandel der Römischen Königskrönung in der Neuzeit, Diss. Köln 1963, S. 91. Johann Gottfried Meiern, Acta Comitialia Ratisbonensia Publica […] 1653 und 1654, Bd. 1, Leipzig 1738, S. 206. Eine Beschreibung aus den Krönungsakten zit. bei ReuterPettenberg (wie Anm. 68), S. 92 Anm. 4; ausführlich dazu Georg Johannes Kugler, Die Reichskrone, 2. Aufl., München 1986, S. 119-123. Von Karl Ludwig wird berichtet, daß er an seinem Regensburger Quartier auch die Reichskrone unter seinen Insignien anbringen ließ; Johann Ludwig Klüber, Über Einführung, Rang, Erzämter, Titel, Wappenzeichen und Wartschilde der neuen Kurfürsten, Erlangen 1803, S. 64. Der kurbrandenburgische Gesandte trat bereits bei der kaiserlichen Audienz selbstbewußt hervor. Der Kaiser hatte ihn während seiner Rede daran „erinnert“, daß er „sich bedecken sollte“. Er „that“ das dann auch, „und ungefehr drey Vaterunser lang bedeckt stund, hernach aber das Haupt wieder entblöste und den Rest seiner Rede also zu Ende brachte“; Johann Christian Lünig, Theatrum Ceremoniale, Bd. 1, Leipzig 1719, S. 1158. Der Kurpfälzer trug die Krone zum Altar, die Bischöfe von Regensburg und Eichstätt übergaben sie den Erzbischöfen von Mainz und Trier, die beide dem König gemeinsam die Krone aufsetzten; Lünig, Theatrum Ceremoniale, Bd. 1 (wie Anm. 70), S. 1156.
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legen.72 Sofort kam der kurbrandenburgische Gesandte heran und protestierte, da das bisher das Amt des Erbkämmerers73 gewesen sei.74 „Nach gethaner Relation“ nahm die Eucharistie ihren Fortgang, „Ihre Majestät aber knieten hernach und verrichteten ihr Gebet“.75 Zu den Verrichtungen des Erzschatzmeisters gehörte es, auf dem Ritt zwischen Dom und Rathaus Gold- und Silbermünzen auszuwerfen.76 1653 scheute jedoch sein Pferd in der großen Volksmenge „und (es fiel) mit Ihrer Durchlaucht, wiewohl ohne dero Verletzung, auf die Seite“. Karl Ludwig ritt weiter zum Rathaus und „half“ das „Banquet (zu) zieren“.77 Kurbayern blieb dem Krönungsmahl allerdings fern, da der gegenüberliegende kurpfälzische Tisch nach Ansicht der kurbayerischen Gesandten näher bei der königlichen Tafel stand als der ihrige, was dem achten letzten Rang der Kurpfalz nicht entspreche.78 Um künftige Streitigkeiten während der Krönungsfeierlichkeiten zu vermeiden, bestätigte das Kurfürstenkolleg im November 1653 die im kaiserlichen Dekret zugestandene Insignie der Reichskrone, zugleich sollten aber in einem „Gutachten“ die „davon dependirenden Functionen“ festgeschrieben werden: der pfälzische Kurfürst mußte „jederzeit ultimo loco“ die Krone beim Einzug in die Kirche dem König vorantragen,79 die verschiedenen Übergaben der Krone während der Zeremonie wurden verbindlich geregelt. Wenn beim Auszug aus der Kirche der König die Krone selbst trug, sollte der Kurfürst „eine andere jedoch der obbemelten Kayserlichen quoad formam ganz ähnliche Cron bey den andern Insignis vortragen“.80 Die übrigen „Dignitäten, Würdigkeit und Nutzen“ wollte sich der Kurfürst „per modum reservationis“ vorbehalten. Die Kurfürsten baten den Kaiser,
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In Lünigs Bericht heißt es: vor dem Eucharistie-Gebet gingen der pfälzische Kurfürst und der kurbrandenburgische Gesandte zum König, um ihm die Krone abzunehmen und „fiengen sich schon an deßwegen zu zancken; allein die darzwischen kommende Kayserliche Ministri remonstrirten, daß solches zu thun keinem von beyden, sondern vor diesesmahl Chur-Trier allein zukäme; also musten es beyde dabey bewenden lassen“; Theatrum Ceremoniale, Bd. 1 (wie Anm. 70), S. 1159. Der Erbkämmerer, Graf von Hohenzollern, nahm sein Lehen vom Kurfürsten von Brandenburg: alles was er „vornahm“ wurde „dergestalt regardiret, als wenn er solches als ein Mandatarius des Churfürsten gethan hätte“; Lünig, Theatrum Ceremoniale, Bd. 1 (wie Anm. 70), S. 1159. Der Graf erklärte später, er habe „umb Confusion und Weiterung bey dem vorseyenden actu Coronationis zu vermeiden (alles) geschehen lassen müssen“; Lundorp, Acta Publica, Bd. 7 (wie Anm. 68), S. 50. Lünig, Theatrum Ceremoniale, Bd. 1 (wie Anm. 70), S. 1156. Vor 1653 hatten das die königlichen Herolde übernommen. Lünig, Theatrum Ceremoniale, Bd. 1 (wie Anm. 70), S. 1157. „Schema des gehaltenen Königs-Mahls“, in: Meiern, Acta Comitialia, Bd. 1 (wie Anm. 69), S. 209. Nach Kugler (wie Anm. 69), S. 118 konnte es sich dabei nur um die Nachbildung handeln, da vor der Krönung die geistlichen Kurfürsten die Reichskrone übernommen hatten. Weitere „Functions-Festlegungen“ betrafen z.B. das Auswerfen der Gold- und Silbermünzen, die Handreichungen für den König beim Händewaschen nach dem Mahl.
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über diese Abmachungen ein „ordentliches Diploma den nechsten verfertigen und außfolgen zu lassen“.81 Das Recht zur Ausübung des an der alten pfälzischen Kurwürde hängenden Reichsvikariats blieb zwischen den Wittelsbacher Linien ungeklärt. Den Alleinvertretungsansprüchen der einen Seite widersprach die andere umgehend.82 Getreu der Devise: „iuvet prudentia sortem“ erreichte Karl Ludwig die Rückkehr in den Kreis der Kurfürsten.83 1676 ließ er sich im vollen Kurhabit malen mit der Reichskrone in der bloßen rechten Hand.84 Mit der Schaffung einer achten Kur war der Bann gebrochen. Die vor 1648 erwogenen Kurwürden für österreichische Erzherzöge oder den schwedischen König kamen zwar nicht zustande. Aber Herzog Ernst August von Braunschweig Lüneburg (1679-1698) setzte alle ihm zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel ein, er ließ rechtliche Herleitungen und Propagandaschriften abfassen und nutzte die politischen Konstellationen, um sich zunächst innerhalb des Hauses, dann aber auch im Reich durchzusetzen und die neunte Kur für sich und seine Nachkommen zu sichern.85 Kaiser Leopold (1658-1705) hatte zwar Ernst August in einem „Kurtrakt“ die Kurwürde zugesagt und vollzog am 19. Dezember 1692 auch die Beleh81
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Lundorp, Acta Publica, Bd. 7 (wie Anm. 68), S. 364-366. Karl Ludwig setzte durch, daß er künftig die Krone in Händen tragen dürfe und nicht auf einem Kissen – „allermaßen Churbayern den Reichsapfel auch nicht auf einem Küßen, sondern in der Handt trägt“; Reuter-Plettenberg (wie Anm. 68), S. 92 Anm. 1. In dem zur Krönung Leopolds I. erschienenen Diarium (1658) wurde der prächtige Einzug Karl Ludwigs und die Ausübung aller Erzämter festgehalten. Aus dem Bild, das die „Erklärung zum König“ festhält, hält Karl Ludwig die Krone in der Hand; Beschreibung und Abbildung Aller Königl. Und Churfürstl. Einzüge, Wahl- und Crönungsacta […], Frankfurt 1658, unfoliert. Als der bayerische Gesandte auf dem Regensburger Reichstag 1655 eine „anzügliche Schrift“ verlas, „verdroß“ dies Karl Ludwig „ungemein“. Er vergaß alle „Umstände“, „ergriff das Dintenfaß und (schmiß) solches dem lesenden Gesandten nach dem Gesicht“; Johann Michael von Loen, Novemviratus, Oder: Kurtzer Entwurff von der Macht, Hoheit, Würde und Gerechtigkeit der Neun hohen Chur-Häuser des Heil. Römischen Reichs, Frankfurt 1741, S. 58; Johann Jacob Moser, Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 2: Von dem Römischen Kayser, Römischen König, und denen Reichs-Vicarien, Frankfurt 1767, S. 151/152. Devise auf der 1661 geschlagenen Medaille; Abb. in: Annelise Stemper, Die Medaillen der Pfalzgrafen und Kurfürsten bei Rhein, Worms 1997, Bd. 1, Nr. 218, S. 229. Dort auch die Abbildung und Kommentierung eines unter Karl Ludwig geprägten aber undatierten Gnadenpfennigs mit dem Bild eines sich nach dem „Nordstern“ richtenden pfälzischen Staatsschiffs, Nr. 214, S. 224. Gemälde von Johann Baptist de Ruell (1634-1685), im Kurpfälzischen Museum, Heidelberg. Ob es sich dabei um die Aachener oder die von Karl Ludwig gefertigte Krone handelte, bleibt unklar. Ausführliche Darstellungen bieten: Frieda Freiin von Esebeck, Die Begründung der hannoverschen Kurwürde, Hildesheim, Leipzig 1935; Georg Schnath, Geschichte Hannovers im Zeitalter der neunten Kur und der englischen Sukzession 1674-1714, Bd. 3, Hildesheim 1978 und Bernd Roeck, Reichssystem und Reichsherkommen. Die Diskussion über die Staatlichkeit des Reiches in der politischen Publizistik des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1984, S. 134-136.
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nung.86 Dem Braunschweiger wollte er das Reichserzbanneramt zugestehen, doch wegen des württembergischen Einspruchs wurde „von dem Ertz-Amt abstrahirt“.87 Die Anerkennung aller Reichsstände erreichte er nicht.88 Leopold gewährte wohl dem nachfolgenden Georg Ludwig (1698-1727) am 9. Januar 1699 „extra collegialiter“ eine Wiederbelehnung.89 Doch der Kaiser verlangte vor der Aufnahme Hannovers in das Kurkolleg die „Readmission“ Böhmens. In der Kurpfalz regierte nun die katholische, dem Haus Habsburg vielfach verbundene Linie Pfalz-Neuburg und verhalf den Katholiken im Kurkollegium zu einer sicheren Mehrheit, die nicht ohne weiteres preisgegeben werden sollte. Braunschweig gewann zur Unterstützung seiner Kurpläne die auswärtigen Mächte Schweden, Holland und natürlich England. Ungeklärt blieb wiederum das zur Kur gehörige „anständige“ Erzamt.90 Mit der Verhängung der Reichsacht über Kfst. Max Emanuel (1679-1726) und seinen Bruder den Ebf. von Köln, 1702 im Reichshofrat beschlossen, 1706 verkündet, änderte sich die Lage. Der Pfälzer Kfst. Johann Wilhelm (1658-1716) ergriff sofort die Möglichkeit, wiederum die alte Kurstelle und das Erzamt des Reichstruchseß (samt Oberpfalz) einzunehmen.91 Kursachsen wollte bei dieser Aktion jedoch seine Position im Kurkolleg gesichert sehen: Es wollte „bey Seinem Dritten Ort unter denen weltlichen Chur-Fürsten unbeeinträchtigt verbleiben“.92 Das kursächsische Reichsvikariat wurde ausdrücklich anerkannt. Nach dem Votum des Reichshofrats wurde Johann Wilhelm am 23. Juli 1708 wieder mit 86
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Die Bereitstellung hannoverscher Truppen gegen die Türken bildete 1692 ein schlagkräftiges Argument, ebenso die Truppenverstärkung 1701 für die Dauer des Reichskrieges gegen Frankreich. Der Reichsvizekanzler merkte allerdings an: zwar sei das Kurwerk auch ein „publicum negotium“, aber gegenüber der großen Politik nun fast ein „privatum quid“, Schnath (wie Anm. 85), S. 172. So Mosers Formulierung in seinem Teutschen Staatsrecht, Bd. 6, 2. Aufl., Frankfurt, Leipzig 1752, S. 91. Die Versendung der Traueranzeigen bereitete seinem Sohn Georg Ludwig erhebliche protokollarische Probleme; Schnath (wie Anm. 85), S. 153. Die Urkunde wurde zwei Jahre später gegen 21.000 Gulden an die Beteiligten (einschl. Ehefrau) ausgehändigt; Schnath (wie Anm. 85), S. 159. Gegen das 1693 zugesprochene Reichserzbanneramt erhob Württemberg sofort Protest, da das die Rechte seines Bannerträgeramts schmälere. Gebilligt im kurfürstlichen Collegialgutachten vom 2. Mai 1707, in: Johann Joseph Pachner von Eggenstorff, Vollständige Sammlung aller […] Reichs-Schlüsse, Bd. 3, Regensburg 1776, S. 252. Im November 1706 erkundigte sich der preußische König bei England und Hannover, ob sie bereit seien, die kurpfälzische Restitution anzuerkennen; Franz Feldmeier, Die Ächtung des Kurfürsten Max Emanuel von Bayern und die Übertragung der Oberpfalz mit der fünften Kur an Kurpfalz (1702-1708), in: Oberbayerisches Archiv für vaterländische Geschichte, Bd. 58, 1913, S. 243. Kurpfalz sicherte zu, es sei keineswegs gemeint, „Chur-Sachsen zu präjudiciren, sondern nur dasjenige zu gewinnen und zu gebrauchen, was seine Vorfahren […] vermöge der güldenen Bull, Reichs-Abschiden, Verfassung des Reichs und rechtmäßigen Herkommens zu thun und zu gebrauchen befugt gewesen und gethan oder gebraucht haben“; Johann Jacob Moser, Teutsches Staatsrecht, Teil 32: Satifications-, Compensations- und Liquidationswesen, Leipzig, Ebersdorff 1747, S. 595.
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dem Erztruchseßamt beliehen und der „alt-väterliche Platz und Stimme wieder eingeraumt“.93 Am 30. Juni 1708 billigten alle Beteiligten die ausgehandelten Kompromisse in einem Reichsschluß:94 Böhmen wurde ins Kurkolleg admittiert, Kurpfalz rückte in seine alte Kurstelle,95 Braunschweig nahm nicht das neunte, sondern das für Kurpfalz geschaffene achte Elektorat ein.96 Am 3. April 1710 erging das kaiserliche CommissionsDekret, in dem unter Bezug auf das „verglichene ReichsConclusum“ Braunschweig nach „allbereit erlangter Chur-Würde“ das „Reichs Erz-Schatzmeister-Amt, wie solches das Churhauß Pfalz vorhero innen gehabt, als ein Reichs-Erz-Amt beyzulegen, allergnädigst geruhen“.97 Am 12. April 1710 wurde die Belehnung auch vollzogen.98 Die Verhängung der Reichsacht bedeutete wohl den „mors civilis“ – jedoch nicht ein „Absterben“ der Linie, wie sie einen Wechsel im kurfürstlichen Amt begründete. Deshalb sicherte Kfst. Georg Ludwig von Braunschweig dem kurpfälzischen Kurfürsten im einem Revers vom 16. August 1708 zu:99 „Daß im Fall die künfftige Zeiten für das Heil. Röm. Reich und gemeine Wesen also unglückselig und unverhofft ausschlagen, daß einer vom Hause Bayern in seine vorige Stelle restituiret werden und des Herrn Chur-Fürsten zu Pfalz Lbden […] alten Sitz und achte Stelle im Chur-Fürstlichen Collegio hinwiederum einzunehmen genöthiget seyn würden“, erklärte und „revisirte“ der Braunschweiger „feyerlichst und verbindlichst“, daß er „auf obangeregte unglückliche Begebenheit, so der Allerhöchste verhüten wolle,“ die achte Kurstelle dem Heidelberger wieder überlassen werde. Die Krönung Karls VI. (1711-1740) am 22. Dezember 1711 wäre die erste (und einzige) Gelegenheit für Kurbraunschweig gewesen, sein neu erlangtes Kuramt in vollem Umfang auszuüben. Doch während der Reichserztruchseß Johann Wilhelm seinem Schwager assistierte, einschließlich des für ihn obligaten Bratenabschnei-
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Kfst. Johann Wilhelm ließ 1708 einen Dukaten prägen, auf dessen Rückseite der Reichsapfel mit der Umschrift: „redit unde venit“ wiedergegeben war. Noch stolzer auf einer ebenfalls 1708 ausgegebenen Medaille: der Reichsapfel erschien auf dem Segel des kurpfälzischen Staatsschiffs; Stemper (wie Anm. 83), Abb. 126, S. 407 und Nr. 390, S. 400. Pachner, Sammlung, Bd. 3 (wie Anm. 91), S. 320-323. Johann Wilhelm mahnte vor allem, endlich die schon lange zugesagte Belehnung mit der Oberpfalz zu vollziehen; Prinz Eugen, der sehr auf die pfälzischen Truppen wartete, ersuchte seinerseits angesichts der großen militärischen Notlage um dringende Beschleunigung; Feldmeier (wie Anm. 91), S. 266. Ausdrücklich beschlossen vom Kurkolleg am 13. Januar 1710; Pachner, Sammlung, Bd. 3 (wie Anm. 91), S. 410/411 mit der Begründung: wegen der vortrefflichen vielen Dienste, „auch zu des teutschen Vaterlands beständig hegender Liebe“. Pachner, Sammlung, Bd. 3 (wie Anm. 91), S. 422 und Theatrum Europaeum, Bd. 19, Frankfurt 1723, S. 41. Die kaiserliche Verleihungsurkunde war jedoch beim Tod Josefs I. noch nicht ausgefertigt; gegen erhebliche Zahlungen lieh sich das Kanzleipersonal bei der verwitweten Kaiserin den Faksimile-Stempel aus und drückte ihn auf die Urkunde; Schnath, Geschichte Hannovers im Zeitalter der neunten Kur (wie Anm. 85), S. 431/432. Johann Jacob Moser, Teutsches Staatrecht, Teil 32 (wie Anm. 92), S. 596/597.
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dens, ließ sich der Kurfürst von Braunschweig vertreten.100 In dem „Projekt einer beständigen Wahlkapitulation“ verpflichteten die Reichsstände 1711 den „Eligendus“ „ohne Comitial-Bewilligung keine neuen Churen mehr einzuführen“. Der Wechsel in der achten Kurwürde wurde 1714 notwendig, als nach den Friedensschlüssen von Rastatt und Baaden Bayern wieder in das Kurkolleg aufgenommen wurde. Kurbraunschweig mußte die Rangänderung hinnehmen, weigerte sich aber die Würde eines Reicherzschatzmeisters abzulegen, bevor ihm ein „convenables“ und „anständiges“ Erzamt zugewiesen war.101 Am 31. März 1719 erging ein kaiserliches Dekret an die Reichsstände, für den „Kfst. von Braunschweig und den König in GroßBritannien“ ein neues Erzamt zu suchen.102 Die Frage wurde nicht gelöst, sondern „man bediente sich beiderseits des gewöhnlichen Mittels derer Pro- & und Reprotestationen“.103 Für die folgenden Krönungen kam es zu keiner Entscheidung: Bei der Wahl des bayerischen Kurfürsten zum deutschen König (1742) erübrigte sich eine Klärung. 1745 waren zur Wahl Franz I. die Wahlgesandten beider Kurfürsten von Frankfurt nach Hanau „weggezogen“, an der Krönungszeremonie nahm der Kurfürst von Braunschweig alleine teil, „ohne einige Consequenz“. Wie seine Vorgänger mußte noch Joseph II. 1765 in seiner Wahlkapitulation104 zusichern (Art. 3 § 5), daß sofort nach seinem Regierungsantritt der Kurfürst von Braunschweig mit einem „convenablen und anständigen Erz Amt zu versehen“ sei.105 Moser resümierte 1768: „Da nun des Kaysers Franzens 100
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Darstellung und genaue Beschreibung in: Vollständiges Diarium alles dessen, was vor, in und nach denen […] Wahl- und Crönungs-Solennitaeten […] Caroli VI. […] passiret ist, Frankfurt 1712. Verschiedene Vorschläge für ein Reichserzamt bei Moser, Teutsches Staatsrecht, Bd. 6 (wie Anm. 87), S. 93. Pachner, Sammlung, Bd. 4, Regensburg 1777 (wie Anm. 91), S. 1-2; ähnlich am 10. Oktober 1727, ibid., S. 266-267. So Johann Jacob Moser, Einleitung in das Churfürstlich-Pfälzische Staats-Recht, Frankfurt, Leipzig 1762, S. 139. Moser zitiert 1767 aus einem „Traktat“: Die Wahlkapitulation sei „unter Anstifftung von Frankreich“ ein Instrument geworden, um sich von kaiserlichen Gesetzen loszubinden, der „davor gepriesene Triumph der neu-erfundenen Ständischen Souveränität“. Moser schließt: „Ich glaube, der Verfasser habe gar nicht ganz unrecht: Aber er seye zu weit gegangen“. Er berichtet auch von dem ihm (während der Krönung Franz I.) zugetragenen Gerücht: Karl VI. habe vor seiner Krönung (1711) dem Ebf. von Mainz geklagt, die Wahlkapitulation „seye so scharff, er könne sie nicht beschwören, denn er könne sie nicht halten: darauf habe der Chur-Fürst Ihme geantwortet: Wann Euer Majestät sie nicht halten können; so wird der liebe GOtt es auch nicht von Inen fordern; Schwören Sie getrost!“ Moser, Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 2 (wie Anm. 82), S. 184-185 und 188; wiederholt bei Benjamin Ferdinand Mohl, Ist es rathsam den deutschen Kayser in der Neuen Wahl-Capitulation noch mehr einzuschränken als er es jezt schon ist? und welche Veränderungen sind bei der Wahl-Capitulation überhaupt zu treffen? Frankfurt, Leipzig 1790, S. 7. Johann Jacob Moser, Betrachtungen über die Wahlcapitulation Kayser Joseph II, Frankfurt 1777, S. 120-121. Nach Gundling einigten sich die beiden Kurfürsten darauf, daß „bey sich ereignender Gelegenheit“ Kurpfalz das Erzschatzmeisteramt „ohne alle Hinderung würcklich exerciren möchte, Hannover aber so lange den Titul und das Wappen führen“ solle, bis ein neues Erzamt ausfindig gemacht sei; Nicolaus Hieronymus Gund-
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Majestät dises Geschäffte nicht zu Stande gebracht haben; so stehet die Erörterung desselbigen bei dem Reichs-Convent noch bevor“.106 Das „Geschäft“ war auch deshalb schwieriger geworden, weil die Vorschläge, die dem Kurfürsten von Braunschweig unterbreitet wurden, auch dem König von Groß-Britannien gefallen mußten. Als die Reichsstände sich auf das Erz-Stallmeister Amt verständigt hatten, widersprach Kursachsen, da diese Funktionen zu dem von ihm bestellten Reichs-ErbMarschallamt gehörten. Kurbraunschweig folgerte daraus: Dem König von Groß-Britannien müsse der „Vorschlag um so bedencklicher vorkommen, als Er Sich nicht mit einem Stück oder Theil eines Ertz-Amtes würde vergnügen lassen können, und es nicht angehe, per Majora einem sein Jus singulare abzuvotiren“.107 Der Streit um die Ausübung des Reichsschatzmeisteramts erledigte sich erst, als die Wittelsbacher in der sog. Hausunion 1724 die Nachfolge untereinander klärten und damit feststand, daß Karl Theodor (1742-1799) nach dem „Absterben“ des Hauses Bayern auch die Nachfolge als Reichserztruchseß antreten werde. Am 10. Februar 1778 bestätigte das Kurkolleg den „Eintritt“ von Kurpfalz in die „fünfte Churstelle“, den „Rucktritt Sr. Churfst. Durchl. zu Pfalz in die alte Pfälzische Kur, und das damit verknüpfte Erztruchsessenamt“. Da Kurpfalz damit „die achte Churstelle für beständig verlassen haben“, folge man „billigem Triebe“ und erhebe „Sr. Königl. Großbrittannischen Majestät als Churfürsten zu Braunschweig-Lüneburg“ zum „Vorstand über das Erzschatzmeisteramt und denselben anklebenden Reichsinsigni“. Kurpfalz begebe sich des „fürgedauerten Widerspruchs […] anmit auf das feyerlichste“.108 Kurbraunschweig konnte sich deshalb nach 1778 des mit der achten Kurwürde verbundenen Erzschatzmeisteramts „ohne Widerspruch“ bedienen. „Bey der Reichsversammlung“, so versichert der Zeitzeuge Moser, sei „deßwegen nichts vorgekommen“.109 Bewerbungen und „Anregungen“ für neue Kuren gab es bald wieder. Frankreich setzte sich seit 1724 für Württemberg ein, 1784/85 forderte Katharina II. (1762-1796), in ihrer Stellung als „Garantiemacht“ für das Deutsche Reich, Kuren für Württemberg und Hessen-Kassel. Um die Wahl Josephs II. (1764-1790) nicht
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ling, Ausführlicher Discours über den vormaligen und itzigen Zustand der teutschen Churfürsten-Staaten, Teil 5, Frankfurt 1750, S. 61. Johann Jacob Moser, Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 4/1: Von Teutschen ReichsTagsGeschäfften, Frankfurt 1768, S. 235/236. Moser, Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 2 (wie Anm. 82), S. 472. Europäische Staats-Cantzley, 48, 1726, S. 340-345. Zu Karl Theodors Anspruch auf die Rechte beider Kurländer als „Pfalz-Bayern“ vgl. Hans Rall, Kurbayern in der letzten Epoche der alten Reichsverfassung 1745-1801, München 1952, S. 90-95. Johann Jacob Moser, Zusäze zu seinem neuen teutschen Staatsrecht, Bd. 1, Teil 1, Frankfurt, Leipzig 1781, S. 62; Moser beschreibt auch die in den Collegien nun erforderliche neue Sitzordnung, ibid., S. 101. Zu den „neu-vorgeschlagenen Erzämtern“ entstand eine ganze Reihe von Traktaten, darunter: Giovanni von Memmingen, Gedanken von Wieder-Herstellung der im heil. Röm. Reich im Verfall gerathenen Marine, als einem dienlichen Mittel des wieder einzuführenden ehmaligen Erz-Amtes eines obersten Reichs-Admirals, Jena 1754; zit. bei Moser, Neues teutsches Staatsrecht Bd. 2 (wie Anm. 82), S. 421.
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zu beschweren, wurden alle Monita ausgeklammert, d. h. auch die Kurgesuche nicht behandelt.110 Doch die „alternierenden“ Häuser Baden, Württemberg und Hessen-Kassel, die wechselweise dem Fürstenrat vorsaßen, nahmen alle ihre Verhandlungsmöglichkeiten in Preußen, Frankreich und dem vielfach verschwägerten Rußland wahr, und setzten 1803 ihre gewünschten Kuren durch.111 Die Errichtung der Kuren galt als „Comitial-Angelegenheit“, die Belehnung mit dem Erzamt geschah durch den Kaiser. Damit begann wiederum die Suche nach Erzämtern, von Johann Ludwig Klüber spöttisch kommentiert. Er meinte, die Erfindung drei bis vier neuer Erzämter werde manchen in Schwierigkeiten setzen. „Wohlan, die Ehre beflügle ihren Muth! Mit dädalischer Kunst werden sie in die Irrgänge des Alterthunms sich wagen, und mit promethischer Schlauheit die heiligen Namen entwenden, die unter die Gestirne des teutschen Firmamentes versetzt, publicistisch-ewig auch den Namen des glücklichen Erfinders verewigen werden“.112 Der prunkvollen Krönungszeremonie 1742 für den Wittelsbacher Karl VII. standen die nachfolgenden Habsburger nicht nach. Doch sie paßten die gewohnten Formen ihren Bedürfnissen an; Franz I. zog mit seiner Hauskrone in die Kirche ein,113 Maria Theresia (Königin von Ungarn 1741-1780) verzichtete auf eine Mitkrönung und trug die böhmische Wenzelskrone. Franz I. trug 1746 bei der Krönung seines Sohnes selbst die Krone Rudolfs II. und ein Duplikat des Aachener Krönungsmantels, der gerade gekrönte König Joseph II. (1764-1790) die Aachener Krone und den kaiserlichen Mantel.114 Die Kurfürsten, abgesehen vom Mainzer Erzbischof, traten selbst dabei nicht mehr in Erscheinung. Moser meinte, nach 1711 seien ihnen die Wahlkonferenzen „zu langweilig und zu lästig (geworden), und Sie kommen nun gar nicht mehr zu
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Ludolf Pelizaeus, Die Frage neuer Kurwürden am Ende des Alten Reiches 1778-1803, in: Historisches Jahrbuch Bd. 121, 2001, S. 165; Ludolf Pelizaeus, Der Aufstieg Württembergs und Hessens zur Kurwürde 1692-1803, Frankfurt, Berlin 2000 mit weiterführender Literatur. § 31 des Reichsdeputationshauptschlusses vom 25. Februar 1803. Die Erhebungen von Würzburg und Salzburg sollten die katholischen Stimmen verstärken. Mecklenburgs Kurwunsch scheiterte; Niklot Beste-Benthen, Mecklenburgs Verhältnis zu Kaiser und Reich vom Ende des Siebenjährigen Krieges bis zum Ausgang des alten Reiches (1763 bis 1806), in: Jahrbücher des Vereins für mecklenburgische Geschichte und Altertumskunde 90, 1926, S. 305-307. Klüber, Über Einführung, Rang, Erzämter, Titel, Wappenzeichen und Wartschilde (wie Anm. 69), S. 22-23. Unter den seriöseren neu vorgeschlagenen Erzämtern wies er auf die „Erfindung“ hin, in die Krönungszeremonie einen Ring als Reichsinsignie einzuführen. „Als Symbol der Verlobung des Kaisers mit dem Staate, zwischen welchem und ihm, von nun an eine unveränderliche Einheit des Zweckes, sonach des Willens, der Kraftäusserung und des Interesse herrschen soll, wäre jene Handlung gewiß eine der edelsten und bedeutungsvollesten“; ibid., S. 38. Nach dem Krönungs-Diarium hatte er „die kayserl. Haus-Crone […] mit an den Ort der Crönung gebracht“; die Darstellung aller Insignien in: Vollstaendiges Diarium von der Erwehlung des […] Herrn Franciscus …, Frankfurt 1746, S. 128-130. Dazu im einzelnen Kugler, Die Reichskrone (wie Anm. 69) mit zahlreichen Abbildungen.
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den Conferentien“.115 Die statt ihrer handelnden Gesandten nahmen im Zeremoniell fast den gleichen Rang wie sie selbst ein, Unterschiede ergaben sich vor allem gegenüber anwesenden Kurfürsten, z. B. in der Anzahl der Treppenstufen, auf denen man sich entgegenzukommen hatte, oder bei der Auffahrt in der Anzahl der leer vorausfahrenden Kutschen etc. In jedem Fall mußten sie die von ihrem Kurfürsten beanspruchten Rechte behaupten, wie das der kurbrandenburgische Gesandte bei der Krönung Ferdinands IV. demonstrierte. Die Errichtung einer achten Kurwürde entsprach nicht dem Reichsherkommen. Ihr fehlte damit eine der wesentlichen Grundlagen kurfürstlicher legitimer Herrschaft. „Auswärtige Cronen“ hatten diese Lösung erstmals zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges vorgeschlagen und übten bis 1803 Druck auf die Schaffung weiterer Kurstellen aus. Reichsschlüsse und Reichsgutachten bestätigten die Neuschöpfungen. Ihren endgültigen verfassungsrechtlichen Rang erhielten sie aber sichtbar erst durch das vom Kaiser zugewiesene und den Reichsständen akzeptierten Kuramt. Die nicht zu überschätzende Bedeutung des höfischen Zeremoniells macht das deutlich. Zeremonialfragen waren Verfassungsfragen.116 Die bis 1803 fortgeführte Suche nach Erzämtern, so befremdlich sie heute wirkt, zeigt das über die Jahrhunderte. 1792 empfahl ein Mainzer, trotz der Sparzwänge an den Krönungsritualien festzuhalten, damit „deutsche Staatsrechtslehrer“ später nicht vorwerfen könnten, „für künftige Vergessenheit […] den ersten Anlaß gegeben zu haben“ – wogegen im selben Jahr ein Wiener Zeitgenosse die Reichsversammlungen mit einem „politischen Kaffeehaus“ verglich.117 Johann Jacob Moser war bestens mit dem Macht legitimierenden Reichsherkommen vertraut118 und bemühte sich 1766, seine Entstehung und seinen Gebrauch ausführlich zu erläutern. Er kam zu dem Schluß: Reichsherkommen hänge nicht allein vom Alter ab, „je öfter (ein zu einem Reichsherkommen sich qualificirender Fall) geschehe, desto eher entstehe daraus ein Reichsherkommen“.119 Der Verfasser des Diariums zur Wahl und Krönung Leopolds II. merkte 115 116
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Moser, Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 2, (wie Anm. 82), S. 131. Barbara Stollberg-Rilinger, Die zeremonielle Inszenierung des Reiches, oder: Was leistet der kulturalistische Ansatz für die Reichsverfassungsgeschichte, in: Mathias Schnettger, Imperium Romanum – Irregulare Corpus – Teutscher Reichs-Staat. Das Alte Reich im Verständnis der Zeitgenossen und der Historiographie, Mainz 2002, S. 233246; zur Stellung der Kurfürsten Axel Gotthard, Säulen des Reiches. Die Kurfürsten im frühneuzeitlichen Reichsverband, 2 Bde. Husum 1999. Zitat bei: Christian Hattenhauer, Wahl und Krönung Franz II. AD 1792, Frankfurt, Berlin […] 1995, S. 15, 17. Adolf Laufs, Johann Jakob Moser – Staatsrechtslehrer und Landschaftskonsulent, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik, Politik, Naturrecht, 2. Aufl., Frankfurt 1987, S. 284-293; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1 (1600-1800), München 1988, S. 258-267. Johann Jacob Moser, Neues teutsches Staatsrecht, Bd. 1: Von Teutschland und dessen Staats-Verfassung überhaupt. Nach denen Reichs-Gesetzen und dem ReichsHerkommen, wie auch aus denen Teutschen Staats-Rechts-Lehrern, und eigener Erfahrung; Mit beygefügten Nachrichten von allen dahin einschlagenden offentlichen und wichtigen neuesten Staats-Geschäften, sodann denen besten, oder doch neuesten, und ihrer Art einigen, Schriften davon, Stuttgart 1766, 24. Kapitel, S. 491-517, Zitat S. 506.
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1791 jedoch an: „Der Patriarch der Staatsrechtslehrer, der seel. Herr Staatsrath Moser, läßt fast immer nur das Herkommen entscheiden; […] (heute gilt), der, so zu einem Endzwecke verpflichtet ist, (muß) auch wohl berechtigt seyn, die erforderlichen Mittel zu gebrauchen.“120 Die Bedeutung, die die Kurfürsten ihren Erzämtern als dem sichtbaren Ausdruck ihres herausragenden Standes beilegten, kommt in der Abfolge ihrer Titulatur deutlich zum Ausdruck. Das Erzamt wurde unmittelbar nach dem Namen aufgeführt, noch vor der Benennung als Kurfürst.121 Im Laufe des 18. Jahrhunderts erwarben die Kurfürsten von Brandenburg, Sachsen und Hannover Königstitel zu außerhalb des Reichsverbandes liegenden Territorien. Daß diese Ränge nun vor dem Kurfürstentitel geführt wurden, verstand sich von selbst – es war aber zugleich sinnfällig für die politischen Gegebenheiten im Deutschen Reich. Als Karl Ludwig sich bei der Einführung der achten Kur nicht auf Reichsherkommen berufen konnte, bestand er auf der „anständigen“ Ergänzung seiner Kurwürde. Mit der Zuteilung des Erzamts gliederte er sich in das Reichssystem sichtbar ein. Die pfälzischen Kurfürsten ließen lieber ein Wappenfeld leer, als daß sie eine von ihnen nicht akzeptierte Reichsinsignie darin abbildeten.122 Im Laufe des 18. Jahrhunderts wurden die Zeremonien zwar noch vollzogen, doch ihr legitimierender Charakter schwand. Im „moderno imperii statu“123 des Reichsystems besaßen sie unter den zu Großmächten heranwachsenden Reichsständen kein großes politisches Gewicht mehr. Der Papst hatte seinen Anspruch gegenüber dem Heiligen Römischen Reich bereits 1648 aufgegeben. Moser beklagte 1773 „von dem Band, darinn (die Reichsstände) mit dem Kayser und Reich stehen, (ist) wenig oder gar nichts zu beobachten“.124 Er nimmt damit Pütters Deutung des Reichs als eines „zusammengesetzten Staatskörpers, dessen einzelne Theile […] nur noch ihren Zusammenhang unter dem Kaiser […]. behalten haben“ vorweg.125 Wenn Friedrich der Große in seinem „Assoziationstractat“ 1785 „zur constitutionsmäßigen Erhaltung des deutschen Reichssystems“ aufrief, legte er bei gleicher Wort120 121
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Vollständiges Diarium der Römisch-königlichen Wahl und Ksl. Krönung […] Leopold II., Frankfurt 1791, S. 265. Z. B. die von Karl Ludwig 1633 gebrauchte Titulatur als des „Durchleuchtigsten“ Carl Ludwig „Pfalzgrav bey Rhein, deß Heyligen Römischen Reichs Ertztruchsäss und Churfürst, Hertzog in Bayern sc“; verwendet in dem „Manifest und Außschreiben“ an alle Reichsstände, um seine Ansprüche zu untermauern. Gundling, Ausführlicher Discours (wie Anm. 105), S. 63. Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1806, München 1999, S. 195. Johann Jacob Moser, Von der Landeshoheit derer Teutschen Reichsstände überhaupt, Nach denen Reichs-Gesezen und dem Reichs-Herkommen, wie auch aus denen Teutschen Staats-Rechts-Lehrern, und eigener Erfahrung; Mit beygefügter Nachricht von allen dahin einschlagenden öffentlichen und wichtigen neuesten Staats-Geschäfften, so dann denen besten, oder doch neuesten, und in ihrer Art einigen Schrifften davon, Frankfurt 1773, S. 40. Johann Stephan Pütter, Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs, 2. Theil 1558-1740, 3. Aufl., Göttingen 1798, S. 159. Zu Pütter: Stolleis, Geschichte des öffentlichen Recht in Deutschland (wie Anm. 118), S. 312-316.
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wahl doch ein völlig anderes „Reichssystem“ zu Grunde.126 Die zahlreichen Schriften und Diskussionen zur Reichsreform beherrschten nun die zeitgenössische publizistische Literatur.127 Nach 1803 sollte der Reichstag Rang und Erzämter bestimmen.128 Doch die neu geschaffenen Kurwürden blieben von ebenso kurzer Dauer wie das von Kaiser Franz II. geschaffene kaiserliche Wappen, auf dem die Reichskrone über der österreichischen Hauskrone plaziert war.129 Diesen Wandel macht die Geschichte der für die Erzämter so unverzichtbaren Reichsinsignien deutlich. Die meisten Reichsinsignien wurden nach 1796 ausgelagert und landeten schließlich wie andere importierte Waren im Wiener „Mauthaus“ (= Zollhaus). An ihren Verbleib erinnerte man sich erst 1818.130
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Dazu im Gesamtzusammenhang zuletzt: Johannes Kunisch, Friedrich der Große, 2. Aufl., München, 2004, S. 518-523. Umfassend: Wolfgang Burgdorf, Reichskonstitution und Nation. Verfassungsreformprojekte für das Heilige Römische Reich deutscher Nation im politischen Schrifttum von 1648 bis 1806, Mainz 1998; dazu Burgdorfs Referat: Das Reformpotential der Reichsverfassung im späten 18. Jahrhundert auf dem Deutschen Rechtshistorikertag in Bonn 2004. Zeitlich führt weiter: Gerhard Schuck, Rheinbundpatriotismus und politische Öffentlichkeit zwischen Aufklärung und Frühliberalismus, Stuttgart 1994. Karl Härter, Reichstag und Revolution 1789-1806. Die Auseinandersetzung des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg mit den Auswirkungen der Französischen Revolution auf das Alte Reich, Göttingen 1992, S. 613. Klüber meinte 1803, die Erinnerung an den bisher damit gemachten Unfug werde kein „überlegtes Stillschweigen“ bewirken, „das erneuerte Schauspiel: ‚neue, noch nicht gesehene Reichs-Erzämter’ (wird) der Mitwelt nicht entgehen“; Klüber, Über Einführung, Rang, Erzämter, Titel, Wappenzeichen und Wartschilde (wie Anm. 69), S. 10. Das Wappen galt 1804-1806, Kugler, Die Reichskrone (wie Anm. 69), Abb. 38. Kugler, Die Reichskrone (wie Anm. 69), S. 128.
Die Zensur in der Ära Metternich Werner Ogris*
A. Das geistig-politische Klima I. Wer von der Ära Metternich in Österreich spricht, meint im künstlerischkulturellen Bereich die Epoche des Biedermeier, im politisch staatsrechtlichen Bereich die Zeit des bürokratischen Absolutismus und damit den vormärzlichen Polizeistaat samt der mit ihm notwendig einhergehenden Zensur. Tatsächlich herrschte damals ein System der Beschränkung auf geistig-politischem Felde. Der Staat war weit entfernt von der liberalen Idee einer Geistes- und Pressefreiheit. Gerade und vor allem Eingriffe in diese persönlichen Rechte galten als Unrecht, das mit dem Vordringen liberalen Gedankenguts und mit dem Erstarken eines allgemeinen Fortschrittsglaubens besonders vom wirtschaftlich aufstrebenden Bürgertum mehr und mehr als unerträglich empfunden wurde. II. Heftig und polemisch daher die Kritik von Zeitgenossen und Nachfahren an den Zuständen im vormärzlichen Österreich! Man sprach von der geistigen „Stickluft des Metternichschen Systems“ oder meinte gar, dieses wolle durch Abschottung gegenüber dem Auslande, gegenüber dem deutschsprachigen zumal, eine Art „europäisches China“ schaffen. Das Schimpfen auf die Zensur und die Zensoren gehörte demnach zum guten Ton in den bürgerlichen Salons und in den diversen geselligen Zirkeln. Viele Schriftsteller, denen die Zustände in der Heimat nicht passten, wanderten aus – und setzten vom Ausland aus ihre Angriffe und ihre Schmähungen gegen das verhasste österreichische System fort. Ein Paradebeispiel dafür ist Karl Postl, der 1823 aus politischen Gründen in die USA emigriert war und unter dem Pseudonym Charles Sealsfield in seinen „Sketches“ Austria as it is hart mit dem System Metternich im Allgemeinen und mit der Zensur im Besonderen ins Gericht ging. „A more fettered being than an Austrian author surely never existed. […] He must not be liberal – nor philosophical – nor humorous – in short, *
Leicht überarbeitete Fassung eines Beitrags, der am 26. Juni 2004 vom Norddeutschen Rundfunk (NDR Kultur) in der Sendung Prisma Musik: „Ein musikalischer Themenabend – Die Ära Metternich“ gesendet wurde. Die Vortragsform wurde im Wesentlichen beibehalten, daher auf die Dokumentierung der Einzelheiten verzichtet. Vgl. jedoch die Literaturhinweise im Anhang. Die vorliegende Veröffentlichung erfolgt mit Genehmigung des NDR Kultur.
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he must be nothing at all. […] What would have become of Shakespeare had he been doomed to live and to write in Austria?” Natürlich wurde das Pamphlet in der Monarchie sofort verboten, doch dürfte es seine Wirkung dennoch nicht verfehlt haben. Ähnlich verhält es sich mit späteren Autoren. Sie übernahmen, oft ziemlich unkritisch, die früheren Urteile und ließen an Polizei und Zensur des Vormärz kein gutes Haar. Mit Recht?
B. Vorgeschichte I. Die Zensur im Sinne einer staatlichen Inhaltskontrolle von Veröffentlichungen oder von zur Veröffentlichung bestimmten Presseerzeugnissen ist selbstverständlich nicht erst eine „Erfindung“ der Ära Metternich. Sie findet sich spätestens seit dem Siegeszug des Buchdrucks, also etwa ab dem Beginn der Neuzeit, im Alten Reich sowie in praktisch allen geistlichen und weltlichen Territorien mit den Ziel, unerwünschtes und/oder als gefährlich empfundenes Gedankengut zu unterdrücken. Als solches galten vor allem Angriffe auf die Kirche, den Staat, den Regenten. Bald, und dies vor allem in der Zeit der Aufklärung, trat als weiteres Element der Erziehungsgedanke hinzu. Wie viele seiner Zeitgenossen – Goethe zum Beispiel – hatte daher auch Joseph von Sonnenfels, der „Herold der österreichischen Aufklärung“, gegen eine Zensur der Bücher und Theater nichts einzuwenden. Im Gegenteil: Sie erschien ihm als eine der „notwendigeren Polizeianstalten, weil nichts fähiger ist den Lastern zu wehren, als wenn die Freiheit, alles, was der Religion, dem Staate, den Sitten und einer guten Denkungsart entgegen ist, zu schreiben und Schriften dieser Art zu lesen, begrenzet wird“. II. Ganz in diesem Sinne hat in Österreich die Bücher- und Theaterzensur schon unter Maria Theresia eine umfassende, wenn auch noch nicht systematische Regelung erfahren. Ihr Sohn und Nachfolger, Josef II., hat die Vorgaben seiner Mutter in mehrfacher, besonders in organisatorischer Hinsicht geändert und mit mehr oder weniger Erfolg umgestaltet; dass er Zensurfreiheit gewährt hat oder hatte gewähren wollen, ist allerdings ein Märchen, das erst später von den Liberalen in die Welt gesetzt wurde. Sie wollten auf dem angeblich so lichten Hintergrund der josefinischen Zeit die vormärzlichen Zustände in umso düstereren Farben darstellen.
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III. Unter Franz II./I. kam eine Aufhebung oder zumindest Lockerung der Zensur keinesfalls in Betracht. Stand der Kaiser doch geradezu unter Schock durch die Ereignisse und Unruhen der Französischen Revolution und dann der Napoleonischen Kriege und Wirren. Nicht ganz ohne Grund befürchtete man am Wiener Hof Auswirkungen der teilweise recht radikalen Aufklärungsliteratur auf die durch Josefs Reformen ohnehin schon erregte Bevölkerung der Monarchia Austriaca. In dieser Situation nun sahen Kaiser Franz und seine Paladine in Polizei und Zensur wesentliche Stützen der legitimen Herrschermacht. Es ging darum, die Bürger politisch niederzuhalten und sie gleichzeitig vor allen systemfeindlichen Gedanken zu bewahren. Das Ruhebedürfnis, das sich nach der stürmischen „Franzosenzeit“ in weiten Kreisen geltend machte, kam dieser Zielsetzung des „Metternichschen Systems“ durchaus entgegen – zumindest anfänglich.
C. Die Zensoren I. Eine Untersuchung über die österreichische Zensur im Vormärz aus dem Jahre 1959 nennt als prominenteste Zensoren: erstens Kaiser Franz; zweitens seinen Außenminister ab 1809 und ab 1821 Staatskanzler Metternich; drittens den Präsidenten der Obersten Polizei- und Zensurhofstelle Sedlnitzky. Das mag auf den ersten Blick seltsam klingen, erscheint aber bei näherer Betrachtung insofern als gerechtfertigt, als die Mitglieder dieses Triumvirats das vormärzliche Polizei- und Zensursystem nicht nur im Allgemeinen prägten und verantworteten, sondern auch in Einzelfällen Zensurentscheidungen trafen. II. Von Kaiser Franz ist bekannt, dass er in seinem Horror vor Umsturzgedanken, in seiner daraus resultierenden Angst vor Veränderungen und in seinem Misstrauen gegenüber Allem und Jedem dazu neigte, möglichst viele Staatsgeschäfte an sich zu ziehen. Er betrachtete, so hat man später gesagt, „den Staat als ein Fideikommiss, das er zu verwalten hatte – wobei ihm allerdings der Kaiser vor das Vaterland, der Hof vor den Staat ging“. Gegnern seiner Alleinherrschaft oder seiner Staatsauffassung vom Gottesgnadentum trat er mit unnachsichtiger Härte entgegen. Darüber kann auch seine unbestreitbare Volkstümlichkeit nicht hinwegtäuschen. Vor allem dachte er nicht daran, ein Recht der Untertanen auf freie geistige Entwicklung anzuerkennen. Das zeigt sich deutlich in allen seinen Zensurentscheidungen, sei es in allgemeinen Fragen, sei es in konkreten Einzelfällen. Meist entschied er im Zweifel für die strengere Lösung. Alle Anekdoten über den Kaiser, die davon berichten, dass er die Zensur blöd fände; dass er ein Theaterstück
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rasch besuchen wolle, ehe es verboten würde; dass er wider Willen von Jahr zu Jahr liberaler werde, sind daher bestenfalls gut erfunden, der Sache nach aber läppischer Klatsch. III. Für Metternich wie für Napoleon war die Zensur „ein Recht, die Manifestation von Ideen zu hindern, die den Frieden des Staates, seine Interessen und seine gute Ordnung verwirren“. Wenn der Staatskanzler auch nicht offiziell Chef der Zensur war, so beherrschte er sie doch in großen und wesentlichen Teilen. Im Prinzip konnte sie ihm nicht umfangreich genug sein. Den „politischen Professoren“, die in der Zeit der Verfassungskämpfe zunächst führend waren, trat er mit Verachtung entgegen. Wie sein Kaiser so war auch der Fürst bei konkreten Entscheidungen oft strenger als die Zensurhofstelle. Einmal hielt er eine Schrift über das österreichische Eherecht sieben Jahre lang zurück (bis in Leipzig eine Veröffentlichung ohne österreichische Erlaubnis erfolgte). Mehrfach verlangte er Rügen an Zensoren wegen zu großer Nachsichtigkeit. Die Staatskanzlei besaß eine eigene Zensurabteilung und musste in allen wichtigen Fragen, besonders in solchen mit Auslandsbezug und bei staatspolitischen Schriften, zu Rate gezogen werden. Mehrfach ist auch des Fürsten persönliches Eingreifen nachweisbar; und wenn er nicht selbst auftrat, so konnte er sich auf seine rechte Hand, Friedrich von Gentz, verlassen. Bei beiden gaben oft weniger rechtliche als vielmehr politische Erwägungen den Ausschlag. IV. Chef der Polizei- und Zensurhofstelle und damit formell Leiter der Zensur war von 1817 bis 1848 Franz von Sedlnitzky. Den Liberalen war sein Ressort und damit er selbst aus tiefstem Herzen verhasst. Sie schufen sich in ihm ein Feindbild, dem man unter anderem Faulheit, Mangel an Bildung, viel Borniertheit und – bestenfalls – „eine gewisse bürgerlich-österreichische Rechtlichkeit“ nachsagte. Solche Verunglimpfungen sind mit Vorsicht zu genießen, zumal sie in der Mehrzahl von Personen stammten, die mit der Zensur mehr oder weniger schlechte Erfahrungen gemacht hatten. In Wahrheit war Sedlnitzky um korrekte Anwendung und Durchführung der Zensurbestimmungen bemüht. Dass dies nicht stets zur Zufriedenheit aller Beteiligten oder gar der Betroffenen geschehen konnte, liegt auf der Hand. V. Ebenso versteht es sich von selbst, dass die von der obersten Staatsebene vorgegebenen Grundsätze und Entscheidungen nicht ohne Auswirkungen auf die Amtsführung der „eigentlichen“ Zensoren bleiben konnten, zumal diese einer rigorosen
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Dienstaufsicht unterlagen. Über Mangel an Kritik, Häme und Spott von Seiten der „hohen und niederen Schriftsteller“ konnten sie sich wahrlich nicht beklagen. Am bekanntesten sind wohl die Worte Nestroys in seiner Parodie „Freiheit in Krähwinkel“ 1848: „Der Zensor ist ein menschgewordener Bleistift oder ein bleistiftgewordener Mensch, ein fleischgewordener Strich über die Erzeugnisse des Geistes, ein Krokodil, das an den Ufern des Ideenstromes lagert und den darin schwimmenden Literaten die Köpfe abbeißt.“ Nun ja, so etwas kam im Jahre 1848 gut an, und das Publikum stürmte die Vorstellungen. Nach der 36. Aufführung am 4. Oktober 1848 wurde die „Posse mit Musik“, am Vorabend der Oktoberrevolution, verboten. VI. Genüsslich warf man den „Zensurhofräten“ Kleinlichkeit, Bösartigkeit, mangelnde Bildung und fehlende Sprachkenntnisse vor. Nichts von alledem trifft zu, jedenfalls nicht in dieser Verallgemeinerung. Manche der Zensoren waren selbst Literaten, wie etwa Joseph Schreyvogel, der Reformer des Hofburgtheaters, oder Joseph Mayrhofer, der den Text zu vielen Schubert-Liedern schrieb. Wissenschaftliche Arbeiten wurden meist von Professoren, theologische Schriften von Geistlichen zensuriert. Freilich ist zuzugeben, dass die Zensoren oft ängstlich, ja überängstlich agierten und im Zweifelsfall eher ein damnatur aussprachen, als einen Rüffel von oben wegen zu großer Milde zu riskieren. Von der anderen Seite her waren sie nicht selten der viel berufenen Deutsucht des Publikums ausgesetzt und mehr oder weniger geschickten Versuchen, sie hinters Licht zu führen oder gar zu provozieren. Auch die Buchhändler waren, darin darf man sich keiner Illusion hingeben, nicht durchwegs von der Obrigkeit verfolgte Unschuldslämmer. Es war also gewiss nicht leicht, als Zensor von „zweckloser Rigorosität“ ebenso weit entfernt zu bleiben wie von „dienstschädlicher Nachsicht“.
D. Rechtsgrundlage(n) I. Rechtliche Grundlage der vormärzlichen Zensur war die „Vorschrift für die Leitung des Censurwesens und für das Benehmen der Censoren“ vom 14. September 1810, neben der allerdings viele ältere Vorschriften, manche davon sogar noch aus theresianisch-josefinischer Zeit, bestehen blieben. Das Edikt war kein Gesetz im modernen Sinne, sondern „lediglich“ eine Richtschnur für die Zensoren. Es wurde daher auch nicht kundgemacht, sondern den Behörden intern mitgeteilt. In der Folge trat eine Fülle von Hofdekreten, Rundschreiben und Ähnlichem hinzu, die das Zensurrecht zu einem fast undurchdringlichen Dickicht wachsen ließen.
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II. Äußerlich gibt die Vorschrift von 1810 sich liberal. In pathetischen Worten verheißt die – möglicherweise von Gentz verfasste – Präambel: „Kein Lichtstrahl, er komme, woher er wolle, soll in Hinkunft unbeachtet und unerkannt in der Monarchie bleiben oder seiner möglichen nützlichen Wirksamkeit entzogen werden; aber mit vorsichtiger Hand sollen auch Herz und Kopf der Unmündigen vor den verderblichen Ausgeburten einer scheußlichen Phantasie, vor dem giftigen Hauche selbstsüchtiger Verführer und vor den gefährlichen Hirngespinsten verschrobener Köpfe gesichert werden.“ Wer allerdings das Zensuredikt als Signal einer neuen Ära verstand, sah sich bald in seinen Erwartungen getäuscht. Die scheinbaren Erleichterungen zu Beginn der Ära Metternich waren nicht viel mehr als eine kurzlebige Folge der Franzosenjahre. Geistes- und Meinungsfreiheit waren und blieben kein Anliegen der Staatsführung. In der Praxis wurden die Zügel bald wieder straff angezogen. So soll angeblich 1812 der Ruf, den die österreichische Zensur im Inlande wie im Auslande „genoss“, wieder gleich schlecht gewesen sein wie früher. „Ein Werk“, so sagte man, „welches von der Zensur zugelassen war, hatte die Vermutung für sich, ein schlechtes Werk zu sein.“ III. Inhaltlich hält das Edikt im Prinzip an einer umfassenden Vorzensur fest, die – ganz im Sinne Fouchés und Metternichs – schon das „Verspritzen von Gift“ verhindern sollte. Damit wurde den Zensurbehörden eine Riesenarbeit aufgebürdet, da jedes Druckerzeugnis zu prüfen war. Die Folge war eine Langsamkeit des Verfahrens, die den Zensurgegnern immer wieder große Angriffsflächen bot. Allerdings war dieses Verfahren nur bei inländischen Werken anwendbar, während bei ausländischen Büchern, sofern nicht die Verleger die österreichische Zensur in Anspruch nahmen, nur das repressive Verfahren in Betracht kam. Bei diesem waren jeweils nur einzelne Werke zu verfolgen.
E. Zwecke und Umfang der Zensur I. Was die Zensurzwecke betrifft, so lässt sich feststellen, dass man alles zu verhindern suchte, was den Staat, die Religion und die guten Sitten schädigen konnte. Der Staat umfasste den Herrscher und sein Haus, aber auch seine Mitarbeiter. Kritik an landesfürstlichen Gesetzen und Verordnungen war verboten, ebenso Schriften, die das Staatssystem des Gottesgnadentums in Frage stellten, also etwa die Volkssouveränität priesen oder nach einer Verfassung/Constitution riefen. Im Bereich Religion schützte man die positiven Bekenntnisse, insbesondere die katholische Staatsreligion. Das ging so weit, dass kirchliche Dinge nicht auf die
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Bühne gebracht werden durften, wohl um Verunglimpfung und Profanierung zu verhindern. Protestantische Werk wurden strenger als katholische, hebräische mit unverhohlenem Misstrauen behandelt. Religionsschwärmerische Schriften waren selbstverständlich verboten. Unter Verstöße gegen die guten Sitten fielen die erotische Literatur, auch etwa Boccaccio und Casanova, dann zeichnerische Obszönitäten, anzügliche Bemerkungen in Theaterstücken und auf Plakaten. Darüber hinaus bemühte man sich ganz allgemein um den guten Geschmack: man milderte Ausdrücke, korrigierte misslungene Darstellungen und verbot Bilder bestimmter Personen wie etwa jenes eines verurteilten Raubmörders. II. Ihrem Umfange nach war die österreichische Zensur im Prinzip allumfassend. Alles Geschriebene oder Gedruckte, aber auch jede Abbildung und jedes Kunstwerk, Zeichnungen jeder Art waren der Zensur vorzulegen. Diese prüfte also nicht nur Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, sondern auch einzelne Blättchen, Formulare, Visitenkarten, Etiketten, Spielkarten; ferner Dedikationen, mit Text versehene Musikalien, Kupferstiche, Lithographien, Landkarten, Prospekte; Geschäftsschilder, Überschriften an Häusern und Gewölben, selbst Grabinschriften. Besonders skeptisch war man gegenüber Almanachen, Jahr- und Taschenbüchern sowie Kalendern, die meist in unteren Schichten ihre Abnehmer fanden und bedenkliche Artikel sowie unpassenden Bildschmuck enthalten und/oder den Aberglauben fördern konnten. Ähnliches gilt für Ringe, Busennadeln, Manschettenknöpfe oder Pfeifenköpfe; sie konnten ja als Abzeichen einer Geheimgesellschaft fungieren. Ein besonderes Zirkular der Polizeihofstelle von 1821 regelte die Vorlage von Stoffen und sonstigen Fabrikaten und Manufakturen, auf denen sich Zeichnungen befanden. Für die Überwachung von Vorlesungen und Theateraufführungen bestanden besondere Vorschriften.
F. Organisation und Verfahren I. Joseph von Sonnenfels hatte zwar seinerzeit in seinen „Grundsätzen der Polizey“ gemeint, dass die Organisation der Zensur gleichgültig sei; doch ist klar, dass das Gegenteil der Fall ist. Tatsächlich hat die Regierung dem Aufbau und dem Verfahren der Zensur große Aufmerksamkeit gewidmet. Entscheidend war, dass die Zensur durch Kaiser Franz im Jahre 1801 der Polizei zugewiesen wurde. Zentrale und oberste Behörde war daher von 1801 bis 1848 die Polizei- und Zensurhofstelle, an deren Spitze ab 1817 Joseph Graf Sedlnitzky stand. Unter ihren vier Departements war das letzte für die Zensur zuständig. Ihm unterstand das Bücherrevisionsamt, das nach außen hin in Erscheinung tretende Element der Zensurorganisation. Hier wurden die Manuskripte aus dem Inland und die gedruckten Schriften
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aus dem Ausland eingereicht; hier wurde nach bereits bestehenden Listen eine Sortierung nach bekannten erlaubten, nach bekannten verbotenen und nach unbekannten Schriften durchgeführt und letztere den Zensoren zugewiesen; hier hatten Autoren, Buchdrucker und Händler ihre Bücher und Manuskripte nach erfolgter Zensur wieder abzuholen. Solche Ämter bestanden bis 1848 in allen Ländern der Monarchie. II. Die Zensur erfolgte durch mindestens zwei Zensoren, die unabhängig voneinander urteilen sollten. Wichen ihre Meinungen erheblich voneinander ab, wurde noch ein dritter Zensor bestellt, oder es entschied der Präsident. Weitere Verzögerungen ergaben sich daraus, dass in vielen Fällen zur ordentlichen Zensur noch eine besondere Fachzensur hinzukam. So mussten staatsrechtliche und politische Schriften der Haus-, Hof- und Staatskanzlei vorgelegt werden; Werke für den Schulgebrauch der Studienhofkommission; militärische Schriften dem Hofkriegsrat; in das „Montanistikum“ einschlagende Schriften der obersten Münzkammer; usw. III. Für das Urteil des Zensors waren durch Edikt oder Gewohnheit bestimmte Formeln festgelegt. Sie lauteten bei gedruckten Werken: Admittitur: die Schrift darf öffentlich verkauft und in Zeitungen öffentlich angekündigt werden; Transeat: eine Schrift, welche nicht ganz zum allgemeinen Umlauf, aber auch nicht zu einer strengeren Beschränkung geeignet ist. Sie darf zwar öffentlich verkauft, aber nicht in den Zeitungen angekündigt werden; Erga schedam: erhalten jene Schriften, in welchen „die Anstößigkeiten das Gute und Gemeinnützige überwiegen und welche ohne Gefahr nur Geschäftsmännern und den Wissenschaften geweihten Menschen gegen Reverse von der Polizeyhofstelle bewilligt werden können“; dabei ist unter „Scheda“ ein persönlicher, nicht übertragbarer Erlaubnisschein zum Erwerb eines bestimmten Werkes zu verstehen; Damnatur „schließlich ist als der höchste Grad des Verbotes nur solchen Schriften vorbehalten, welche den Staat oder die Sittlichkeit untergraben“.
Für Manuskripte galten folgende Formeln: Admittitur: wird zugelassen; oder Non admittitur: wird nicht zugelassen; Admittitur omissis deletis: vor Drucklegung sind bestimmte anstößige Stellen zu entfernen; Admittitur correctis corrigendis: vor Drucklegung sind einzelne Stellen abzuändern; Toleratur: die Schrift darf zwar gedruckt, aber nicht in Zeitungen angezeigt werden; Admittitur absque loco impressionis: die Schrift darf zwar gedruckt werden,
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aber keinen oder nur einen fingierten oder zumindest keinen inländischen Verlagsort enthalten. Das Publikum sollte aus der Tatsache, dass das Werk das Imprimatur erhalten hatte, nicht schließen (können), dass es die Billigung der österreichischen Regierung hätte; Typum non meretur: die Schrift enthält zwar nichts Verbotenes, ist aber von so schlechter Qualität, dass sie den Druck nicht verdient.
IV. Die Zensurentscheidungen wurden nicht begründet, so dass der Autor theoretisch oft nicht einmal wusste, aus welchen Gründen die Zensur sein Werk verworfen hatte. Aus den internen Akten aber lassen sich etwa folgende Schwerpunkte der Zensurarbeit erkennen. Zunächst einmal war die österreichische Zensur, wie die Formel typum non meretur erkennen lässt, nicht nur polizeilich-politischer Natur, sondern auch eine Kontrolle in qualitativer Hinsicht. Ihr fiel daher eine beträchtliche Menge minderwertiger Literatur zu Opfer wie beispielsweise Räuber- und Rittergeschichten und seichte Romane, „welche einzig um Liebeleien als ihre ewige Achse sich drehen oder die Einbildungskraft mit Hirngespinsten füllen“. Auch Kupferstiche, Steindrucke oder Zeichnungen konnten nicht nur wegen ihres Inhalts, sondern auch wegen mangelhafter Ausführung verworfen werden. V. Streng hielt man die Theater, die einen wichtigen Faktor im biedermeierlichen Leben darstellten. Was man der gebildeten Schicht zu lesen erlaubte, galt als für öffentliche Aufführungen oft nicht geeignet – oder zumindest nicht ohne vorhergehende schwerwiegende Eingriffe in den Text. In anderen Bereichen jedoch hielt man sich damit zurück. Dass die Zensoren ihnen vorgelegte Werke oft aus Boshaftigkeit, Rachsucht, Dummheit oder Besserwisserei umgeschrieben, die Intentionen des Autors bewusst verändert oder sogar ins Gegenteil verkehrt hätten, lässt sich in dieser Allgemeinheit nicht behaupten. Gelegentliche Ausnahmen mögen diese Regel bestätigen. VI. Mit Argusaugen wachte die Zensur, aus nahe liegenden Gründen, über Zeitungen und Zeitschriften sowie Flugschriften. Großzügiger war man in der Regel bei umfangreicheren Werken, von denen man annehmen durfte, dass sie schon wegen ihres höheren Preises keine allzu große Verbreitung finden würden. Das Gleiche gilt im Allgemeinen für wissenschaftliche Werke wie Quelleneditionen, Welt- und Literaturgeschichten, sofern sie sich nicht mit der „Zeitgeschichte“ befassten. Die „Klassiker“ waren in Gesamtausgaben – hohe Kosten meist nur erga schedam erhältlich. Goethes „Reineke“ wurde ob der satirischen Zeichnungen Kaulbachs nur beschränkt zugelassen, eine Jugendausgabe vollständig verboten. Bei Werken
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in Englisch drückte man eher ein Auge zu als bei solchen in Französisch oder Italienisch, wohl wegen der unterschiedlich eingeschätzten Fremdsprachenkenntnisse. Die Liste ließe sich fortsetzen. Betreiben wir stattdessen eine kleine Blütenlese aus der Arbeit der Zensoren.
G. Beispiele I. Seine erste unangenehme Erfahrung mit der Zensur machte Franz Grillparzer im Jahre 1819. In seinem auf einer Italienreise entstandenen Gedicht „Die Ruinen des Campo vaccino in Rom“ forderte er die Entfernung eines Kreuzes, das Papst Pius II. zum Gedenken an die christlichen Märtyrer im Kolosseum hatte errichten lassen: Nehmt es weg, dies heil’ge Zeichen! Alle Welt gehört ja dir; Übrall, nur bei diesen Leichen, Übrall stehe, nur nicht hier!
Der Zensor Schreyvogel erteilte das Imprimatur, und das Werk ging in Druck. Als es kurz darauf im Almanach „Aglaja“ erschien, war die Aufregung bei Hofe und in der Staatskanzlei groß, auch und wohl vor allem aus außenpolitischen Rücksichten. Nach einigem Hin und Her musste das Gedicht aus dem Band herausgerissen und dieser neu gebunden werden. Graf Sedlnitzky wurde durch ein Allerhöchstes Handschreiben beauftragt, den Zensursünder zur Verantwortung aufzufordern. Doch gab es keine ernsten Konsequenzen; die „Geschichte mit dem Papst“ blieb auf sich beruhen. Sie hatte allerdings, wie Grillparzer in seiner Selbstbiographie berichtet, eine überraschende und für die Wirksamkeit oder besser: Unwirksamkeit der Zensur bezeichnende Nebenwirkung. Noch ehe die Wiener Zensoren ihren Fehler ausbessern konnten, waren etwa 400 unverstümmelte Exemplare ins Ausland gelangt. Diese nun ließen „Liebhaber verbotener Schriften und des Skandals überhaupt mit großen Kosten wieder zurückbringen“. II. Bekannt, aber meist unrichtig wiedergegeben ist die Zensurgeschichte um Grillparzers „König Ottokar“. Das Trauerspiel war im November 1823 der Hofstelle zur Zensur eingereicht worden, die das Stück am 21. Dezember der Staatskanzlei zur Stellungnahme zuleitete. Von dort kam es bereits am Silvestertag mit einer negativen Stellungnahme zurück, der sich die Hofstelle anschloss. Dementsprechend fertigte sie am 21. Januar ein Aufführungsverbot aus. Drei Tage später fragte der Kaiser nach den Gründen des Verbots. Sedlnitzky rechtfertigte sich am
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28. Januar. Er wies einmal auf die greifbaren Bezüge zur Gegenwart hin (Napoleon und Luise) und dann auf den „heftigen Kontrast, in welchem die Österreicher und Steiermärker gegenüber denen überall mit ungünstigen Farben geschilderten Böhmen hier vorgeführt werden“. Dies könne „zu gehässigen Deutungen unwillkommenen Anlass geben“. Gleichzeitig übergab der Graf das Manuskript dem Kaiser, der sich mit seiner Entscheidung bis in den Spätherbst Zeit ließ. Dann sprach er eine Aufführungserlaubnis aus, ohne diese allerdings seinen Hofstellen mitzuteilen. Die Premiere fand am 19. Februar 1825 statt, der Druck des Stückes wurde wenig später ohne Schwierigkeiten gestattet. Wie Recht die Zensurhofstelle mit ihrer ursprünglichen Einschätzung hatte, zeigen die heftigen Proteste von tschechischer Seite, die in dem Drama eine Darstellung der Unterdrückung Böhmens durch die Deutschen erblickte. Verdrossen notierte Grillparzer im Februar 1825 in seinem Tagebuch: „Aufführung des Trauerspiels Ottokar: Wer sich unter die volksthümliche Kleie mischt, dem geschieht recht, wenn ihn die patriotischen Schweine fressen.“ Das Existenzproblem der Habsburgermonarchie, die Nationalitätenfrage, kündigte sich an. Es hat naturgemäß auch im Bereich der Zensur seinen Niederschlag gefunden. III. Schließlich sei noch eine dritte Geschichte aus dem Jahre 1828 um und mit Grillparzer erwähnt, jener mysteriöse Versuch des Kaisers nämlich, ihm das Stück „Ein treuer Diener seines Herrn“ abzukaufen. Die Auftragsarbeit aus Anlass der Krönung der Kaiserin Charlotte, der vierten Frau des Kaisers, zur Königin von Ungarn hatte die Zensur ungehindert passiert und in Anwesenheit des ganzen Hofes eine heftig akklamierte Uraufführung erlebt. Was Franz bewog, diesen ungewöhnlichen Schritt eines Ankaufs zu setzen, ist unklar; er wirft jedenfalls ein ziemlich schiefes Licht auf die Allerhöchste Einstellung zum geistigen Eigentum. IV. Für erhebliches Aufsehen im Inland wie im Ausland sorgte 1829 die Zensurierung des Manuskripts „Oesterreichs Einfluß auf Deutschland und Europa seit der Reformation bis zu den Revolutionen unserer Tage“ des Historikers Julius Franz Schneller. Niemand geringerer als Friedrich von Gentz hatte sich höchstpersönlich des Werkes angenommen und es reichlich mit Zensurnoten versehen, die sich allerdings keineswegs auf „Staatsnotwendigkeiten“ beschränkten, sondern auch Stilfragen betrafen. Gentz fügte nicht selten ein „sehr überflüssig“, ein „zu hämisch“ oder ein „gehört nicht hierher“ ein. Schneller rächte sich auf seine Weise: Er sandte das Manuskript, so wie es war, an den Verlag Frankh in Stuttgart, der es mit den Gentzschen Glossen veröffentlichte und auf diese Weise die österreichische Zensur der Lächerlichkeit preis gab.
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V. Einmal ließ man von französischen Dosen die Embleme entfernen, weil sie die Umschrift Liberté enthielten. Daraufhin verweigerte der Triestiner Kaufmann, für den sie bestimmt waren, die Annahme. Statt die Ware zurückzusenden, vernichtete man sie. Österreich musste schließlich, nach Einschreiten des französischen Gesandten, Schadenersatz leisten. Die Angst vor Kosten findet sich auch bei der Beschlagnahme von Büchern. Man hätte sie gerne vertilgt, unterließ es aber, um nicht Ersatzforderungen der Verleger heraufzubeschwören. VI. 1847 wurde der englische Punch wegen seiner gehässigen Karikaturen auf den Kaiser verboten und beschlagnahmt. Brockhausens „Conversationslexikon der Gegenwart“ wurde zunächst verboten, weil man auf den Verleger ohnehin nicht gut zu sprechen war – er hatte der Zensur Einiges aufzulösen gegeben – und die zahlreichen Schedengesuche eine weite Verbreitung erwarten ließen. Schließlich erkannte die Hofstelle im Einvernehmen mit der Staatskanzlei auf erga schedam. Doch genug der Beispiele. Zurück zur Eingangsfrage: Verdienen Zensoren und Zensur die vernichtende Kritik, die ihnen von Zeitgenossen und Nachwelt zuteil wurde?
H. Polizeistaat und Verfassungskampf I. Nun, was die Zensoren angeht, gewiss nicht. Selbstverständlich hat es auch unter ihnen vereinzelt schwarze Schafe gegeben. Einer hat einmal sogar die Ungeschicklichkeit oder Dreistigkeit begangen, sein eigenes Werk zu zensurieren. Er wurde prompt gefeuert. Doch sonst ist von Malversationen, Bestechung, Missbrauch der amtlichen Stellung und persönlicher Gehässigkeit kaum etwas zu hören. Und ganz gewiss ist es nicht gerechtfertigt, die Zensurbeamten als ungebildete Halbidioten hinzustellen, die ihr Mütchen an wehrlosen Schriftstellern und Künstlern kühlten. Solche Charakterisierungen kamen zwar beim Publikum gut an, entsprechen aber nicht der Wirklichkeit. Es war ja auch nicht der Zensor, den man treffen wollte, sondern das System, dem er diente: Er war nur der Sack, der die Prügel bezog, während man in Wahrheit den Esel treffen wollte: die ungeliebte und nach und nach zutiefst verhasste Zensur.
Die Zensur in der Ära Metternich
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II. Die Zensur im vormärzlichen Österreich war allumfassend und wohl auch ziemlich effektiv, wenngleich man sich erstaunlich viele Bücher legal und noch viele mehr illegal beschaffen konnte, wenn man wollte und über die entsprechenden Beziehungen und Mittel verfügte. Auch berichten Reisende, dass man allenthalben verbotene Schriften sehen und offene Worte hören konnte. Das mag sein; doch wird ein Urteil über jene Zeit auch die zahlreichen Kontrollen und Polizeimaßnahmen in Betracht ziehen müssen, die neben der Zensur bestanden wie Spitzelwesen, Gewerberecht, Zollrecht, Briefinterzepte in den berüchtigten „schwarzen Kabinetten“ und anderes mehr. Addiert man dies zu einem Gesamtbild, dann darf man wohl ohne Vorbehalt sagen, dass der Geistesdruck enorm, das System der Beschränkungen weit verzweigt, gut organisiert und „flächendeckend“ war. Insofern kann man, wenn man will, von einem Metternichschen Polizeistaat sprechen, der freilich meilenweit „von einer förmlichen Bewirtschaftung der Gedanken und Gefühle“ entfernt war, wie sie von den modernen totalitären Staaten angestrebt und zum Teil durchexerziert wurde. III. In den rund vier Jahrzehnten der Ära Metternich haben sowohl Polizei- und Zensurwesen auf der einen Seite als auch die Oppositionsbewegung auf der Gegenseite markante Veränderungen im geistig-politischen Bereich durchlaufen. Dementsprechend hat auch die Auseinandersetzung zwischen den beiden Lagern nach und nach einen anderen Stil, einen schärferen Charakter angenommen. Während sich um die Zeit des Wiener Kongresses in Deutschland „eine unruhige Bewegung und Gärung der Gemüter einstellte, die auch Pressfreiheit einforderte“, war in Österreich von solchen Forderungen zunächst kaum etwas zu hören. Das Zensuredikt von 1810 war im Grunde auf staatstreue Schriftsteller zugeschnitten, die Auseinandersetzung mit ihnen vollzog sich vorwiegend im geistig-künstlerischen Bereich. Das änderte sich schlagartig, als das politische Klima in Europa sich änderte. Man denke an den Sieg der Liberalen in England; an den Abfall Südamerikas von Spanien; an den Befreiungskampf der Griechen; und besonders an die französische Julirevolution von 1830, die das romantische Zeitalter zu einem jähen Ende brachte. Nun drang liberales und radikales Gedankengut mit Macht in das Bewusstsein breiterer Bevölkerungsschichten ein. Der Glaube an Fortschritt durch Freiheit und Bildung wurde zur Weltanschauung des Bürgertums, dem Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit als Lebensfragen galten. Damit geriet auch die Zensurfrage vom geistigen ins politische Feld, wurde sie zu einem wesentlichen Teil des Verfassungskampfes. Er wurde, besonders seit dem Beginn der Vierzigerjahre, von beiden Seiten mit rasch zunehmender Erbitterung und Schärfe geführt. Versuche der Opposition, der Buchhändler zumal, aber auch liberaler Professoren und Literaten, die Regierung zu einem Kurswechsel zu bewegen, wurden vom Staatskanzler in der Form hinhaltend beantwortet, in der Sache glattweg abgeschmettert. So kam es, wie es kommen musste: Am 14. März 1848, 24 Stunden
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nach dem Rücktritt Metternichs, fiel mit dem „Fürsten von Mitternacht“ auch die Zensur. Literatur Die Entwicklung im Reich und in Österreich besonders seit dem Wormser Edikt gegen Luther nunmehr ausführlich und übersichtlich bei: Thomas Olechowski, Die Entwicklung des Preßrechts in Österreich bis 1918. Ein Beitrag zur österreichischen Medienrechtsgeschichte, Wien 2004. Für das obige Thema besonders wichtig und ergiebig das Zweite Kapitel: Aufgeklärter Absolutismus und Vormärz, S. 87-202; reiche Literaturund Quellenangaben S. 677 ff. Eine kurze, aber inhaltsreiche und im Urteil ausgewogene Darstellung bietet Julius Marx, Die österreichische Zensur im Vormärz (= Österreich Archiv), Wien 1959. In der Beurteilung nicht immer vorurteilsfrei, doch reich an Material: Adolph Wiesner, Denkwürdigkeiten der Oesterreichischen Zensur vom Zeitalter der Reformazion bis auf die Gegenwart, Stuttgart 1847. Die Ära Metternich ab S. 213. Zu den einzelnen Personen jener Zeit vgl. für Kurzinformationen und Literatur: Ernst Bruckmüller (Hrsg.), Personenlexikon Oesterreich, Wien 2001. Vgl. allgemein die Artikel „Vormärz“ und „Zensur“ im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 5. Bd., Berlin, 1998, Spalten 1046-1048 und 1655-1663, jeweils mit Literaturangaben. Grillparzers Tagebucheintrag zur Zensur findet sich bei: August Sauer, Reinhold Backmann (Hrsg.), Franz Grillparzer, Sämtliche Werke, Bd. II/8: Tagebücher und literarische Skizzenhefte, 1822 bis Mitte 1830, Wien 1916, besonders S. 294 ff. Vgl. ferner folgende Internet-Adressen: Zensurordnung 1781: http://www.univie.ac.at/medienrechtsgeschichte/Zensurordnung1781.html Zensurordnung 1795: http://www.univie.ac.at/medienrechtsgeschichte/Zensurordnung1795.html Zensurordnung 1810: http://www.univie.ac.at/medienrechtsgeschichte/Zensurvorschrift1810.html Pressgesetz 1848: http://www.univie.ac.at/medienrechtsgeschichte/Pressgesetz1848.html Amtliche Verbotslisten der k. k. Bücherzensur 1832-46: http://www.literature.at/webinterface/library/COLLECTION_V01?objid=802 Projekt „Zensur in Österreich 1795-1848“ des Instituts für Vergleichende Literaturwissenschaft der Universität Wien und des Instituts für Germanistik der Universität Innsbruck: http://zensur.literature.at
Zur Rezeption und Entwicklung des rhodischen Seewurfrechts in Rom Dietmar Schanbacher
A. Rechtsrezeptionen Rechtsrezeptionen sind rechtsgeschichtlich und, allgemeiner, kulturgeschichtlich bedeutsame Erscheinungen. Rechtsrezeption meint die Aufnahme von fremdem Recht1. Weltgeschichtlichen Rang hat die Rezeption des römischen Rechts erlangt2; für manche ist sie ‚die Rezeption’ schlechthin3. Die Einschätzung des damit gemeinten Vorgangs hat allerdings in der Geschichte geschwankt. Daß das Aufkommen des römischen Rechts in Deutschland eine Rezeption sei, ist nicht immer so gesehen worden. Zunächst hatte die Idee der translatio imperii ein Rezeptionsbewußtsein überhaupt ausgeschlossen4. Später und bis zum Beginn des 17. Jh. war man der Meinung, die Geltung des römischen Rechts in Deutschland beruhe auf einer ausdrücklichen Anordnung Kaiser Lothars III. von Süpplingenburg vom Jahre 1137 (sog. Lotharische Legende). Man nahm also eine Rezeption wahr, welche man zeitlich in das 12. Jh. setzte und sachlich als Aufnahme des römischen Rechts im ganzen (‚in complexu’) auffaßte. Durch Hermann Conring (1606-1681) verschoben sich der zeitliche Ansatz und die sachliche Charakterisierung der Rezeption. Conring setzte die Rezeption erst im 15. Jh. an und charakterisierte sie als einen Prozeß eines allmählichen Eindringens (‚sensim magis magisque irrepsisse’) der römischen Rechtssätze (‚Jura Romana’), der sich unter dem Einfluß der gelehrten Juristen und gewohnheitsrechtlich vollzog5. Diese Darstellung prägt das 1
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Zum Begriff der Rezeption Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 124 ff.; Hans Kiefner, Art. Rezeption (privatrechtlich), in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, 4. Bd., Berlin 1990, Sp. 970 ff.; Dieter Giesen, Rezeption fremder Rechte, HRG IV, Sp. 995 ff.; Dietmar Schanbacher, Rezeption, juristische, in: Joachim Ritter, Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, 8. Bd., 1992, Sp. 1004 ff. S. Adolf Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Aufl., Berlin New York 1996, S. 45 ff. Hans Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte. Rechtsentwicklungen im europäischen Kontext, 9. Aufl. Heidelberg, 2001, S. 4; Bernd Schildt, Die Rezeption des römischen Rechts, in: Jura 2003, S. 450. Schanbacher, Rezeption, juristische, Historisches Wörterbuch der Philosophie, 8. Bd., Sp. 1004 f. Hermann Conring, De origine juris Germanici liber unus, 4. Aufl., Helmestadii 1695, cap. 32 f., S. 194 ff., 205 ff.
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Bild von der Rezeption des römischen Rechts bis heute6. Neben die Rezeption des römischen Rechts, ‚die Rezeption’, tritt eine Vielzahl anderer Rechtsrezeptionen, die sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten ereignet haben7. So wurden um die Mitte des 5. Jh. v. Chr. von den Römern Bestimmungen griechischer Stadtrechte in das Zwölftafelgesetz aufgenommen8, eine Rezeption, die allerdings als solche insoweit als abgeschwächt erscheint, als jene Bestimmungen, obgleich Bestandteil des Zwölftafelgesetzes, noch dem griechischen Recht zugerechnet worden sind. So berichtet der Hochklassiker Pomponius, durch die Dezemvirn sollten von griechischen Städten Gesetze erbeten werden und der Staat auf Gesetze gegründet werden, und diese habe man auf elfenbeinerne Tafeln geschrieben und sie vor der Rednerbühne auf dem Forum aufgestellt9. Der Hochklassiker Gaius sagt von einer Zwölftafelbestimmung, sie sei ersichtlich aus den Gesetzen Solons übertragen worden10. Zu einer anderen Zwölftafelbestimmung bemerkt Gaius hingegen, sie sei nach dem Vorbild des solonischen Gesetzes verfaßt worden11. Eigenartig ist aus rezeptionstheoretischer Sicht die Anordnung des Kaisers Antoninus Pius im Prozeß des Eudaimon von Nikomedia, es solle im vorliegenden Fall nach dem rhodischen Gesetz über das Seewesen geurteilt werden, soweit dem nicht römisches Recht entgegenstehe12. Das rhodische Seegesetz wird hier noch als solches benannt, obgleich seine Bestimmung über den Seewurf und ähnliches längst nach Rom rezipiert worden ist13. Man hat so fast den Eindruck eines ‚schwankenden’ Rezeptionsbewußtseins. Gelegentlich mag zweifelhaft sein, ob es sich wirklich um eine Rezeption handelt oder nicht vielmehr um voneinander unabhängige Parallelentwicklungen14. Ein Ereignis, an dessen Rezeptionscharakter jedoch nicht zu zweifeln ist, ist die Aufnahme des rhodischen Seewurfrechts in Rom15. Gegenstand und Ablauf dieser 6
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Gerd Kleinheyer, Jan Schröder (Hrsg.), Deutsche und europäische Juristen aus neun Jahrhunderten, 4. Aufl., Heidelberg 1996, S. 101. Leopold Wenger, Die Quellen des römischen Rechts, Wien 1953 (Neudruck Goldbach 2000), S. 11. Wenger, Die Quellen des römischen Rechts, S. 36471, 366; Rafael Taubenschlag, Der Einfluss der Provinzialrechte auf das römische Privatrecht, Opera minora, 1. Bd., Warschau 1959 (aus 1933), S. 421, 4222; Wieacker, Römische Rechtsgeschichte, 1. Bd., München 1988, S. 30180 f. Pomp. lb. sg. ench., D 1. 2. 2. 4: […] placuit publica auctoritate decem constitui viros, per quos peterentur leges a Graecis civitatibus et civitas fundaretur legibus: quas in tabulas eboreas perscriptas pro rostris composuerunt […]. Gai. 4 ad leg. XII tab., D 47. 22. 4: […] sed haec lex videtur ex lege Solonis tralata esse […]. Gai. 4 ad leg. XII tab., D 10. 1. 13: […] quod ad exemplum quodammodo eius legis scriptum est, quam Athenis Solonem dicitur tulisse […]. Vol. Maec. ex lege Rhodia, D 14. 2. 9: […] 'Antwn‹noj eŒpen EÙda…moni: […] tù nÒmJ tîn `Rod…wn kr…nesΟw tù nautikù, ™n oŒj m»tij tîn ¹metšrwn aàtù nÒmoj ™nantioàtai. […] Näher unter B. Wenger, Die Quellen des römischen Rechts, S. 10 ff. Taubenschlag, Der Einfluss der Provinzialrechte auf das römische Privatrecht, S. 421, 428. A. A. Francesco De Martino, Scritti di diritto romano, vol. 2, Roma 1982 (aus
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Rezeption sind allerdings bis heute umstritten16. Soweit ersichtlich hat bei dieser Rezeption der spätrepublikanische Jurist Servius Sulpicius Rufus (cos. 51 v. Chr.)17 seine Hand im Spiel gehabt18.
B. Rezeption und Entwicklung des rhodischen Seewurfrechts in Rom Paul. 34 ad ed., D. 14. 2. 2 pr.: Si laborante nave iactus factus est, amissarum mercium domini, si merces vehendas locaverant, ex locato cum magistro navis agere debent: is deinde cum reliquis, quorum merces salvae sunt, ex conducto, ut detrimentum pro portione communicetur, agere potest. Servius quidem respondit ex locato agere cum magistro navis debere, ut ceterorum vectorum merces retineat, donec portionem damni praestent. immo etsi retineat merces magister, ultro ex locato habiturus est actionem cum vectoribus: quid enim si vectores sint, qui nullas sarcinas habeant? plane commodius est, si sint, retinere eas. at si non totam navem conduxerit, ex conducto aget, sicut vectores, qui loca in navem conduxerunt: aequissimum enim est commune detrimentum fieri eorum, qui propter amissas res aliorum consecuti sunt, ut merces suas salvas haberent.
Heftige Stürme waren und sind auf dem Mittelmeer nichts Außergewöhnliches. Schauerlich ist der Sturm, in den Aeneas und seine Gefährten nach ihrer Abfahrt von Sizilien geraten19. Die plautinische Komödie Rudens setzt ein, nachdem das Schiff des meineidigen Kupplers Labrax in einem Seesturm vor der Küste bei Kyrene untergegangen ist20. Bedrohlich ist die Lage, in der sich der Apostel Paulus und seine Mitreisenden auf ihrer Fahrt nach Rom über Tage hinweg befinden21.
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1937/1938), S. 72 ff. (gegen Rezeption, für Parallelentwicklung). De Martino hält es für ausgeschlossen, daß man sich in Rom auf ein fremdes Recht als Rechtsquelle berufen hat („Singolare e contrario allo spirito della città antica“ [S. 74 f.]; „assurdità“ [S. 75]; „gravi ragioni dedotte dallo spirito stesso della civitas“ [S. 76]; „già in sé assurdo, dato lo spirito che domina il mondo chiuso della città antica“ [S. 79]). Und doch ist es so. Der ausgreifenden Interpolationenkritik De Martinos (S. 74 ff.) wird heute niemand mehr folgen wollen (vgl. jedoch Attila Pókecz Kovács, Les problèmes du ‚iactus’ et de la ‚contributio’ dans la pratique de la lex Rhodia, in: Orsolya Márta Péter u. a. (Hrsg.), A bonis bona discere, Festgabe für János Zlinszky zum 70. Geburtstag, Miskolc 1998, S. 171, 185). Nach heute herrschender Ansicht sind Usancen der hellenistischen Seeschiffahrt rezipiert worden; s. hernach unter B. S. Wolfgang Kunkel, Die römischen Juristen. Herkunft und soziale Stellung, 2. Aufl., Graz 1967 (unveränderter Neudruck Köln 2001), S. 25. Hans Kreller, Lex Rhodia. Untersuchungen zur Quellengeschichte des römischen Seerechts, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 285: Das Serviusresponsum (sogl.) sei der entscheidende Akt in dem Prozeß der Rezeption des rhodischen Havereirechts in Rom gewesen. Vergil, Aeneis 1, 102 ff. Plautus, Rudens 1 ff. Apg. 27, 14 ff.
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Man mag sich nun einmal vorstellen: Um die Mitte des 1. Jh. v. Chr. ist ein mit Waren mehrerer Händler beladenes Schiff auf dem Mittelmeer unterwegs. Die See geht hoch. Das Schiff gerät in Seenot. Man leichtert das Schiff. Aufgrund eines gemeinsamen Beschlusses aller Beteiligten22 werden die Waren eines der Händler (A) etwa insgesamt über Bord geworfen; die Waren eines weiteren Händlers (B) etwa zu einem – kleineren – Teil; die Waren eines dritten Händlers hingegen (C) bleiben erhalten. Schließlich flaut der Sturm ab. Das Schiff gelangt wohlbehalten in den Zielhafen, etwa nach Ostia. Händler C geht nun daran, seine Waren abzuladen und wegzubringen. Der Schiffer ist unschlüssig. Die anderen Händler, A und B, haben Zweifel. Denn auf ihre Kosten sind die Waren von C (und übrigens auch das Schiff) erhalten geblieben. Man wendet sich also an einen der bedeutenden Juristen der Zeit um Rat, es ist Servius Sulpicius Rufus, und erhält von ihm folgende Auskunft: Sie (A, B) müßten aus dem Frachtvertrag, mit der actio locati, gegen den Schiffer klagen, daß dieser die Waren der übrigen Reisenden (C) zurückbehalte, bis sie ihren Anteil am Schaden (portio damni) leisten. A und B wenden sich demgemäß an den Prätor – sind sie Nichtrömer, etwa Phönizier oder Griechen, an den Fremdenprätor – und beantragen die Erteilung der actio locati gegen den Schiffer. Die Klagen werden erteilt. Man begibt sich nun zum Richter. Dieser ist angewiesen, festzustellen, was wegen dieser Angelegenheit der Beklagte, nämlich der Schiffer, dem jeweiligen Kläger, A und B, zu geben, zu tun verpflichtet ist nach Treu und Glauben (quidquid ob eam rem Numerium Negidium Aulo Agerio dare facere oportet ex fide bona). Diese sehr allgemeine Anweisung des Klagformulars ist durch den Bescheid des Servius bereits näher gedeutet worden: Danach ist der Schiffer gehalten, die Waren der übrigen Reisenden zurückzubehalten, bis diese ihren Anteil am Schaden leisten. Die Klage der geschädigten Händler (A, B) geht also auf Zurückbehaltung der Waren der durch den Seewurf begünstigten Händler (C). Indem der Schiffer die Waren des C zurückbehält, bis dieser seinen Schadensanteil leistet, erfüllt er, wozu er nach der actio locati nach Treu und Glauben gegenüber A und B gehalten ist und kann nicht verurteilt werden. A und B erhalten von dem Schadensanteil, den C an den Schiffer leistet, die ihnen jeweils zustehenden Anteile. Damit ist der Schaden unter den Händlern geteilt. Zwischen Geschädigtenklage und Zurückbehaltung besteht ersichtlich ein besonderer, nämlich begründender Zusammenhang. Die geschädigten Händler müssen, sagt Servius, gegen den Schiffer auf Zurückbehaltung klagen (Servius quidem respondit ex locato agere cum magistro navis debere, ut ceterorum vectorum merces retineat, donec portionem damni praestent); dies nicht nur um die Schadens22
Wie nach Dem. 35.11: […] plÁn ™kbolÁj, ¿n ¨n oƒ sÚmploi yhfis£menoi koinÍ ™kb£lwntai […]. koinÍ ergänzt yhfis£menoi. Anders Ugo Enrico Paoli, Studi di diritto attico, Firenze 1930, S. 82 (™kb£lwntai [Sinn?]). De Martino, Scritti di diritto romano 2, S. 82 f. meint, in Rom sei das anders gewesen. Doch wie hätte Paul. 2 sent., D 14. 2. 1 sagen können omnium contributione sarciatur quod pro omnibus datum est? (dazu De Martino, Scritti di diritto romano II, S. 102: […]). Daß alle Mitreisenden mitwirkten, zeigt auch Apg. 27, 14.18-21.38. Anders jedoch Levin Goldschmidt, Lex Rhodia und Agermanament, in: ZHR 35 (1889), S. 37, 69.
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teilung anzustoßen, sondern auch um die Zurückbehaltung selbst angesichts der auf Herausgabe gerichteten actio locati der begünstigten Händler zu begründen. Der Schiffer muß auf die Zurückbehaltung verklagt werden nicht nur, damit er zurückbehält, sondern auch, damit er zurückbehalten kann. Ohne die erhobene Geschädigtenklage hätte die Zurückbehaltung der Waren der begünstigten Händler nicht dem entsprochen, wozu der Schiffer nach der bona fides-Klausel der actio locati diesen gegenüber gehalten sein sollte. Das Serviusresponsum enthält damit nicht nur eine Deutung der bona fides-Klausel der Geschädigtenklage, sondern zugleich auch eine Deutung der bona fides-Klausel der Begünstigtenklage. Der begründende Zusammenhang besteht zwischen den Geschädigtenklagen in ihrer Gesamtheit und der Zurückbehaltung; alle geschädigten Händler müssen klagen, damit der Schiffer die Waren der begünstigten Händler zurückbehalten kann (Servius quidem respondit ex locato agere cum magistro navis debere [sc. amissarum mercium domini]). Was auf diese Weise, angestoßen durch das Responsum des Servius, über die actio locati der geschädigten Händler und der begünstigten Händler und deren bona fides-Klausel umgesetzt worden ist, ist die Anordnung des rhodischen Seerechts (der ‚lex Rhodia’), daß, wenn zur Leichterung des Schiffes ein Seewurf von Waren erfolgt, durch Beitrag aller auszugleichen ist, was für alle gegeben wurde23. Bei dieser Anordnung handelt es sich wohl nicht nur um ‚Usancen der hellenistischen Seeschiffahrt’24, vielmehr um einen in einem rhodischen Gesetz niedergelegten Grundsatz25. 23
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Paul. 2 sent., D 14. 2. 1 : Lege Rhodia cavetur, ut si levandae navis gratia iactus mercium factus est, omnium contributione sarciatur quod pro omnibus datum est; PS 2. 7. 1 Ad legem Rhodiam : Levandae navis gratia iactus cum mercium factus est, omnium intributione sarciatur, quod pro omnibus datum est. – Was in einer solchen Lage geopfert wird und demgemäß unter den Beteiligten auszugleichen ist, wird später als ‚große Haverei’ bezeichnet; s. § 700 HGB. Der Ausdruck ‚Haverei’ stammt aus dem Arabischen; s. Hermann Kellenbenz, Art. Haverei, in: Erler/Kaufmann, HRG, 2. Bd., Berlin 1978, Sp. 2. So jedoch viele; s. Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 337 ff.; Fritz Schulz, Prinzipien des römischen Rechts, München 1934, S. 87; Wieacker, Iactus in tributum nave salva venit (D 14. 2. 4 pr.). Exegesen zur Lex Rhodia de iactu, Studi in memoria di Emilio Albertario, vol. 1, Milano 1953, S. 513, 515; ders., Römische Rechtsgeschichte I, S. 349 mit22; Max Kaser, Das Römische Privatrecht, 1. Bd., 2. Aufl., München 1971, S. 572; Max Kaser, Rolf Knütel, Römisches Privatrecht, 17. Aufl., München 2003, § 43 Rdnr. 31, S. 283; Reinhard Zimmermann, The Law of Obligations. Roman Foundations of the Civilian Tradition, Kenwyn, München 1990 (Neudruck 1993), S. 407 f.; Ingo Reichard, Die Frage des Drittschadensersatzes im klassischen römischen Recht, Wien u. a. 1993, S. 138 f., 140, 141; Eike Ullmann, Der Verlust von Fracht und Schiff, in: Willi Erdmann u. a. (Hrsg.), Festschrift für Henning Piper, München 1996, S. 1049, 1052 ff. Unentschieden Goldschmidt, in: ZHR 35 (1889) S. 37, 49. Zurückhaltend Michail I. Rostovtzeff, Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der hellenistischen Welt, 2. Bd., Darmstadt 1955 (Neudruck 1998), S. 538, 543 f. Davon ist Christian Friedrich Glück, Ausführliche Erläuterung der Pandekten 14, 2. Aufl., Erlangen 1843, S. 199 ff. ausgegangen. So auch noch A. Berger, Iactus, in: RE
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Rhodos war, wie der Historiker und Geograph Strabo berichtet, wegen seiner gesetzlichen Ordnung und seiner Fürsorge für die staatliche Einrichtung und das Seewesen berühmt26. Der Kirchenlehrer Tertullian setzt in seiner Polemik gegen den aus Sinope in der Provinz Pontus stammenden Markion einer imaginären lex Pontica die wirkliche lex Rhodia entgegen27. Isidor von Sevilla spricht in seinen Etymologiae (Origines) davon, daß es rhodische Gesetze über den Seehandel gebe, die nach der Insel Rhodos benannt seien, auf welcher seit alters Handel getrieben werde28. Die griechische Überlieferung weiß von einer ganzen Reihe rhodischer Gesetze29, darunter allerdings, wie es scheint, von keinem gerade über den Seewurf (der NÒmoj `Rod…wn NautikÒj aus dem 7./8. Jh. n. Chr., der u. a. eine Regelung des Seewurfrechts enthält [III, 9.38], zählt nicht). Der Seewurf selbst kommt in den Quellen vor, wenn auch vereinzelt. In der Seedarlehensurkunde der Lakritosrede des Demosthenes wird die Rückzahlung des Darlehens zugesagt ‚unter Abzug des Seewurfs, den die Reisenden aufgrund eines gemeinsamen Beschlusses hinauswerfen und dessen, was sie an Feinde zahlen’ (pl¾n ™kbolÁj, ¿n ¨n o„ sÚmploi yhfis£menoi koinÍ ™kb£lwntai, kaˆ ¥n ti polem…oij ¢pote…swsin)30. Aus ei-
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9,1 (1914), Sp. 546.24-39; Encyclopedic Dictionary of Roman Law, Philadelphia 1953 (Neudruck 1980), s. v. Lex Rhodia de iactu, S. 558. Strabo 14,2,4 Οaumast¾ dè kaˆ ¹ eÙnom…a kaˆ ¹ ™pimšleia prÒj te t¾n ¥llhn polite…an kaˆ t¾n perˆ t¦ nautik£; s. Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 261. Tertullian, adv. Marc. 3, 6: Scilicet nauclero illi non quidem Rhodia lex, sed Pontica caverat, errare Iudaeos in Christum suum non potuisse. Isidor, orig. 5, 17; die Stelle findet sich auch im Decretum Gratiani, c. 8 Dist. II, vgl. Emil Friedberg, Corpus Juris Canonici, 1. Bd., Leipzig 1879 (Neudruck Graz 1955), S. 4. Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 262 ff. Dem. 35.10-13 (vor 340 v. Chr.: Signe Isager, Mogens Herman Hansen, Aspects of Athenian Society in the Fourth Century B.C., Odense 1975, S. 164 f.). Man sieht darin ein Zeugnis dafür, daß im Athen des 4. Jh. v. Chr. die große Haverei bekannt war: Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 26312 (264), 344. So auch Paoli, Studi di diritto attico, S. 83 (™kbol»: „la quota di risarcimento pagata o dovuta dal commerciante“). So auch Gerhard Thür, Sachverfolgung und Diebstahl in den griechischen Poleis, in: Symposion 1999, Köln u. a. 2003, S. 57, 6951; ders., in: Ulrich Manthe (Hrsg.), Die Rechtskulturen der Antike vom Alten Orient bis zum Römischen Reich, München 2003, S. 191, 21839, 332: Den Betrag, den ein mitreisender Kaufmann im Rahmen der Aufteilung des Verlustes zahlen muß, könne er bei Rückzahlung des Seedarlehens seinem Kreditgeber in Rechnung stellen. So wird jener Satz auf den Darlehensnehmer als durch den Seewurf Begünstigten bezogen. Würde man ihn hingegen auf den Darlehensnehmer als durch den Seewurf Geschädigten beziehen – was womöglich näherliegt – würde er dagegen besagen: Von der Darlehensrückzahlung in Abzug zu bringen ist der Schaden an geworfenen Gütern selbst. Das Risiko des Seewurfs wird auf den Darlehensgeber verlagert. Ansonsten würde es den Darlehensnehmer treffen. Dies würde wiederum darauf hindeuten, daß es zu der Zeit in Athen eine Verteilung des Schadens durch Seewurf nicht gegeben hat. So scheinen die Passage Isager/Hansen zu verstehen (Aspects of Athenian Society, S. 211 bei 92: „[…] the lender is to sustain the loss, both if the entire mortgaged cargo is lost and if a portion of this cargo is lost by shipwreck or is sacri-
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nem Komödienfragment des Diphilos von Sinope, der wohl um 340 v. Chr. nach Athen kam31, geht hervor, daß der Schiffer Sturmschäden an Mast und Ruder sowie die Verluste wegen Seewurfs nach Rettung des Schiffes unter die Mitreisenden aufteilen konnte32. Bemerkenswert ist, was der Sprecher über den Seewurf, den der Schiffer angesichts des vollaufenden Schiffes vollzieht, äußert: ‚Nichts Liebliches tut dieser, doch soviel dem Gesetz zuliebe’ (oÙden ¹dšwj poie‹ g¦r oátoj, ¢ll' Óson nÒmou c£rin33). Damit wäre wohl für das Ende des 4. Jh. v. Chr. ein Gesetz über den Seewurf nachgewiesen. War es ein rhodisches Gesetz? Das liegt nahe. Usancen, Gewohnheiten hätte man auch schwerlich als lex bezeichnet34. Selbst Gewohnheitsrecht wird, als mos, der lex gegenübergestellt35. So wird man, trotz der mangelhaften Überlieferung36, ein rhodisches Gesetz über den Seewurf für wahrscheinlich halten. Die Anordnung des rhodischen Gesetzes über die Verteilung des Schadens nach einem Seewurf war Servius bekannt; er hat übrigens, zusammen mit Cicero, auf Rhodos Rhetorik studiert37. Auf seine Anregung hin kam der rhodische Grundsatz beim Seefrachtvertrag in der actio locati der geschädigten und auch der be-
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ficed in the interests of the common safety“ und Christopher Carey, Trials From Classical Athens, London, New York 1997, S. 153: „[…] except for jettison which is made on a collective vote of those on board or any payments made to enemy forces);“ wohl auch so De Martino, Wirtschaftsgeschichte des alten Rom, 2. Aufl. München 1991, S. 152 („[…] ohne Abschläge, außer bei Seewurf, dem alle Mitreisenden zugestimmt haben oder bei Verlusten durch Feindeshand“). Th. Gelzer, Diphilos, in: Lexikon der Alten Welt, Zürich München 1964 (Nachdruck Augsburg 1994), Sp. 760. Diphilos, Zographos Fr. 42 (Kassel/Austin V, 1986) 10-17; Thür, in: Symposion 1999, S. 57, 6951. Der Text findet sich auch bei Walter Ashburner, NOMOS RODIWN NAUTIKOS. The Rhodian Sea-Law, Oxford 1909 (Neudruck Aalen 1976), S. CCLXVII. Z. 13/4. Paul. 2 sent., D 14. 2. 1; PS 2. 7. 1. Bezeichnenderweise wird von seiten der Usancentheorie angenommen, die Bezugnahme auf die lex Rhodia sei in der erstgenannten Stelle interpoliert, in der zweitgenannten aber nachklassisch; Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 337 f.; vgl. Zimmermann, The Law of Obligations, S. 408: „the so-called lex Rhodia de iactu“; zustimmend Ullmann, in: Erdmann u. a., Festschrift für H. Piper, S. 1049, 105217. Im Sinne Krellers, jedoch zu seinen Zwecken (s. o., Fn. 15) De Martino, Scritti di diritto romano II, S. 76 f. Schanbacher, ius und mos: Zum Verhältnis rechtlicher und sozialer Normen, in: Maximilian Braun u. a. (Hrsg.), Moribus antiquis res stat Romana. Römische Werte und römische Literatur im 3. und 2. Jh. v. Chr., München, Leipzig 2000, S. 353 ff. Diese bildet den Haupteinwand gegen ein rhodisches Seewurfgesetz; s. Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 339 ff., 344; Reichard, Die Frage des Drittschadensersatzes, S. 13931. Cic. Brut. 41, 151; s. Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 269 ; Manfred Fuhrmann, Cicero und die römische Republik, München, Zürich 1992, S. 55. Ein rhodisches Gesetz anderen Inhalts hat Cicero in seiner Schrift de inventione verarbeitet, Cic. de inv. 2, 32, 98.
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günstigten Händler, in deren bona fides-Klausel, zum Ansatz38. Der Schiffer war nach Treu und Glauben gehalten und befugt, die Ware der durch den Seewurf begünstigten Händler solange zurückzubehalten, bis diese ihren Schadensanteil leisteten. Dieses Verfahren zielte auf eine verhältnismäßige Verteilung des Schadens hin, wie sie zuteilender Gerechtigkeit (iustitia distributiva)39 entsprach40. An die bona fides-Klausel der actio locati ließ sich insofern bestens anknüpfen, trug diese doch schon von sich aus den Gedanken der zuteilenden Gerechtigkeit in sich41. So gab die Jurisprudenz im 1. Jh. v. Chr. den Anstoß zur Rezeption des rhodischen Grundsatzes in Rom. Prätor und Iudex rezipierten diesen in das Recht des Seefrachtvertrages, in die actio locati der geschädigten und begünstigten Händler, in deren bona fides-Klausel. So war die Lage, als hernach Augustus und Antoninus Pius in Einzelfällen die Geltung des ‚rhodischen Gesetzes über das Seewesen’ bekräftigten42. Antoninus Pius tat dies allerdings in einem Fall, der dem Fall des 38
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Bernhard Windscheid, Theodor Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, 2. Bd., 9. Aufl., Frankfurt/M. 1906 (Neudruck Aalen 1984), S. 7683; Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 285. Stoisch: ™pist»mh ¢ponemhtik¾ tÁj ¢x…aj ˜k£stw: StVF III 262; s. Schanbacher, Rezension zu A. Schiavone, Giuristi e nobili nella Roma repubblicana. Il secolo della rivoluzione scientifica nel pensiero giuridico antico, Roma, Bari 1987, in: Gnomon 61 (1989) S. 212, 215 m.23. Anklänge bei Paul. 34 ad ed., D 14. 2. 2 pr. i. f.: aequissimum enim est commune detrimentum fieri eorum, qui propter amissas res aliorum consecuti sunt, ut merces suas salvas haberent; Paul. 34 ad ed., D 14. 2. 2. 2: […] iacturae summam pro rerum pretio distribui oportet. Hermog. 2 iur. epit., D 14. 2. 5 pr., 1 spricht von der aequitas collationis consortii und der aequitas contributionis (die zugelassen wird oder nicht); s. Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 2745 (aequitas als rechtsbildendes Prinzip). Anders Heinrich Honsell, Quod interest im bonae-fidei-iudicium. Studien zum römischen Schadensersatzrecht, München 1969, S. 147 (‚Gedanke der Risikogemeinschaft’); Reichard, Die Frage des Drittschadensersatzes, S. 132; Dimitrios G. Letsios, NÒmoj `Rod…wn NautikÒj. Das Seegesetz der Rhodier. Untersuchungen zu Seerecht und Handelsschiffahrt in Byzanz, Rhodos 1996, S. 164 f., 168534 (‚Billigkeit’); H. Wagner, Die lex Rhodia de iactu, in: RIDA3 44 (1997), S. 357, 363 (‚Billigkeit’, ‚Gefahrengemeinschaft’). – Auch spätere Erweiterungen der Schadensteilungsregel sind vom Gedanken der zuteilenden Gerechtigkeit getragen; Callistr. 2 quaest., D 14. 2. 4. 1 (Sabinus aeque respondit). Quintus Mucius bei Cic. de off. 3. 17. 70; s. Schanbacher, in: Gnomon 61 (1989) S. 212, 215 m.26. Fragwürdig relativierend zur bona fides Reichard, Die Frage des Drittschadensersatzes, S. 139 f. – Stellte der Seewurf einen Vertragsbruch dar (Zimmermann, The Law of Obligations, S. 408)? Wohl kaum, zumal man unter den Beteiligten darüber Beschluß zu fassen pflegte; vgl. Dem. 35, 11. Vol. Maec. ex lege Rhodia (s. Detlef Liebs, in: Reinhart Herzog, Peter Lebrecht Schmidt (Hrsg.), Handbuch der lateinischen Literatur der Antike, Bd. 4 (hrsgg. v. Klaus Sallmann): Die Literatur des Umbruches, München 1997, S. 132 f.), D 14. 2. 9: 'Ax…wsij EÙda…monoj Nikomhdšwj prÕj 'Antwn‹non basilša: KÚrie basileà 'Antwn‹ne, naufr£gion poi»santej ™n tÍ 'Ital…v (Ikar…v: Iac. Gothofredus) dihrp£ghmen ØpÕ tîn dhmos…wn tîn t¦j Kukl£daj n»souj o„koÚntwn. 'Antwn‹noj e‹pen EÙda…moni: ™gë mšn toà
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Seewurfs nur ähnlich war. Eudaimon von Nikomedia und seine Mitreisenden hatten bei der Insel Ikaria Schiffbruch erlitten und waren von auf den Kykladen hausenden Leuten (sie werden als dhmÒsioi bezeichnet) ausgeraubt worden. Es war wohl so, daß Eudaimon die geraubten Güter freigekauft hatte und nun von seinen Mitreisenden anteiligen Ersatz verlangte43. Antoninus Pius verwies in seinem Dekret auf das rhodische Seegesetz (nÒmoj `Rod…wn nautikÒj), nach welchem in diesem Falle zu entscheiden sei, soweit nicht römisches Recht entgegenstehe. Naheliegend ist hierbei an das rhodische Gesetz über den Seewurf gedacht, welches, wie es scheint, neben dem Seewurf als ‚Hauptfall’ auch als ‚Nebenfall’ den Freikauf von Piraten geregelt haben wird44. Im Ausgangsfall ist der Schiffer nach dem Responsum des Servius aufgrund der actio locati der geschädigten Händler (A, B) und deren bona fides-Klausel gehalten, die Waren der begünstigten Händler (C) solange zurückzubehalten, bis diese ihre Anteile am Schaden leisten. Die Klage der geschädigten Händler (A, B) geht also auf Zurückbehaltung der Waren der durch den Seewurf begünstigten Händler (C). Indem der Schiffer die Waren des C zurückbehält, erfüllt er, wozu er, nach Servius, aufgrund der actio locati gehalten ist, und kann nicht verurteilt werden. Leistet C seinen Schadensanteil, und nehmen A und B davon die ihnen zustehenden Beträge entgegen, ist der Schaden unter den Händlern geteilt. Wie aber, wenn C nicht leistet, nicht leisten kann oder nicht leisten will? Wen trifft das Risiko der Zahlungsunfähigkeit oder Zahlungsunwilligkeit eines Begünstigten? Es trifft nicht den Schiffer, der, indem er zurückbehält, alles tut, wozu er aufgrund der actio locati der Geschädigten gehalten ist; er kann nicht verurteilt werden. Doch der Vollzug der Schadensteilung ist unterbrochen; Zurückbehaltung bedeutet nicht Verwertung (dem Schiffer steht nicht etwa ein Pfandrecht an der Ladung zu). Die Geschädigten erhalten nicht, was ihnen gebührt. Sie sind es, die jenes Ri-
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kÒsmou kÚrioj, Ð de nÒmoj tÁj Οal£sshj. tù nÒmУ tîn `Rod…wn krinšsΟw tù nautikù, ™n o‹j m»tij tîn ¹metšrwn aÙtù nÒmoj ™nantioàtai. toàto de aÙtÕ kaˆ Ð ΟeiÒtatoj AÜgoustoj œkrinen. Die merkwürdigen Worte, mit denen der Kaiser beginnt ™gë mšn toà kÒsmou kÚrioj, Ð de nÒmoj tÁj Οal£sshj, scheinen eine feine Selbstironie zu enthalten: Wenger, Die Quellen des römischen Rechts, S. 698. Anders Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 360 ff. (Zusatz Tribonians). A. A. (u. a.) Gianfranco Purpura, Il regolamento doganale di Cauno e la Lex Rhodia in D 14, 2, 9, in: APal. 38 (1985) S. 271, 301 ff. (dhmosiwnîn statt dhmos…wn? Beschlagnahme durch Steuerpächter) [doch wäre ein solcher Vorgang kaum als ‚Raub’ bezeichnet worden; Eudaimon: […] dihrp£ghmen […]. Es fällt auf, daß diese beiden Fälle (Seewurf, Piraten) auch in der Seedarlehensurkunde der Lakritosrede des Demosthenes (Dem. 35, 10-13) aufeinanderfolgen. Es fällt weiter auf, daß sie auch in der Kommentierung des Paulus aufeinanderfolgen, Paul. 34 ad ed., D 14. 2. 2 pr. (Seewurf); 3 (Piraten). Und schließlich fällt auf, daß sich die Aufnahme der Schadensteilung in beiden Fällen mit dem Namen von Servius verbindet (Paul. cit). Die Schadensteilungsregel wird hernach in charakteristischer Weise, im Wege der Fiktion (tamquam si iactura facta esset) auf den Fall der Verladung zu Leichterungszwecken angesichts zu flachen Gewässers erstreckt, Callistr. 2 quaest., D 14. 2. 4 pr.
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siko trifft45. Es war sicherlich dieser Mangel des servianischen Verfahrens, der dazu geführt hat, daß man es nochmals überdachte. Man kam schließlich dahin, die Verpflichtung des Schiffers aus der actio locati, zu geben und zu tun nach Treu und Glauben (quidquid dare facere oportet ex fide bona) nicht mehr dahin zu verstehen, der Schiffer müsse die Waren der übrigen Reisenden zurückbehalten, bis diese ihren Anteil am Schaden leisteten (wie nach Servius); vielmehr verstand man sie nunmehr dahin, der Schiffer müsse gegen die übrigen Händler, deren Waren erhalten geblieben waren, seinerseits aus dem Frachtvertrag, mit der actio conducti, auf anteilige Schadensbeteiligung klagen (is deinde cum reliquis, quorum merces salvae sunt, ex conducto, ut detrimentum pro portione communicetur, agere potest)46. Damit war der Mangel des servianischen Verfahrens behoben. Die Geschädigtenklage zwang jetzt den Schiffer zur Klage gegen die Begünstigten. Die Schifferklage aber erreichte, anders als die bisherige Zurückbehaltung, auch Zahlungsunwillige; Zahlungsunfähige erreichte sie zwar nicht, doch konnte der Ausfall eines Begünstigten auf die übrigen umgelegt werden: der Schiffer selbst trug am Ausfall nicht mit47. Jedenfalls war so das Risiko der Zahlungsunwilligkeit und Zahlungsunfähigkeit eines Begünstigten den Geschädigten abgenommen; das Risiko der Zahlungsunwilligkeit war schlechthin beseitigt; das Risiko der Zahlungsunfähigkeit immerhin auch der Begünstigtenseite mit zugewiesen (was allerdings nicht half, wenn es nur einen Begünstigten gab). Zwischen Geschädigtenklage und Schifferklage besteht ersichtlich ein besonderer, nämlich begründender Zusammenhang48. Die geschädigten Händler müssen, so sagt Paulus, aufgrund des Frachtvertrages gegen den Schiffer klagen (ex locato cum magistro navis agere debent). Die Klage der geschädigten Händler richtet sich auf Erhebung der Schifferklage gegen die Begünstigten und Abführung der eingeklagten Beträge. Das steht zwar nicht da, ergibt sich jedoch indirekt aus Paul. 34 ad ed., D. 14. 2. 2. 7, wo dies als Klageinhalt für den Fall einer Rückabwicklung der vollzogenen Schadensteilung angegeben wird (Si res quae iactae sunt apparuerint, exoneratur collatio: quod si iam contributio facta sit, tunc hi qui solverint agent ex locato cum magistro, ut is ex conducto experiatur et quod exegerit reddat). Das Ziel, die Begünstigten zur Leistung der ihrerseits geschuldeten Be45
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Daß die Zurückbehaltung ein ‚insolvenzsicheres Mittel’ gewesen sei (so Reichard, Die Frage des Drittschadensersatzes, S. 138) kann man daher kaum sagen. Vergleichbare Fälle nach Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 2786: Ulp. 32 ad ed., D 19. 1. 13. 30; Lab. 5 post. a Iav. epit., D 19. 2. 60. 5. Paul. 34 ad ed., D 14. 2. 2. 6; es geht um die Verteilung des Insolvenzschadens. Anders Reichard, Die Frage des Drittschadensersatzes, S. 135 f., 138 (Vollstreckungskosten). So auch Reichard, Die Frage des Drittschadensersatzes, S. 137 (vergleicht die Schifferklage mit einem verhaltenen Anspruch). Der Schiffer handelt im Interesse der Geschädigten; deren Interesse muß sich in einer Klage artikulieren. Man hat den Schiffer treffend als ‚Liquidator’ bezeichnet, so Goldschmidt, in: ZHR 35 (1889), S. 37, 49 und Berger, in: RE 9,1, Sp. 549.40-52, das Schadensteilungsverfahren als ‚Drittschadensersatz’, so Wieacker, in: Studi in memoria di Emilio Albertario I, S. 513, 517 oder als ‚Schadensersatz im Drittinteresse’, so Reichard, Die Frage des Drittschadensersatzes, S. 135 f., 138, 141 f.
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träge zu zwingen und was geleistet wird an die Geschädigten abzuführen, teilt die neue Lösung mit der Vorläuferlösung des Servius. Die geschädigten Händler müssen klagen, nicht nur um die Schadensteilung anzustoßen, sondern auch um die Schifferklage selbst zu begründen. Der Schiffer muß verklagt werden, nicht nur damit er selbst klagt, sondern damit er selbst auch klagen kann (is deinde cum reliquis, quorum merces salvae sunt, ex conducto agere potest)49. Ohne die erhobenen Geschädigtenklagen hätte die Schifferklage nicht dem entsprochen, wozu der Schiffer nach der bona fides-Klausel der actio locati den begünstigten Händler gegenüber gehalten und ihnen gegenüber nach der bona fides-Klausel seiner actio conducti befugt sein sollte. Wiederum ging es nicht nur um eine Deutung der bona fides-Klausel der Geschädigtenklage; vielmehr ging es auch um eine Deutung der bona fides-Klausel der Begünstigtenklage und der Schifferklage, die sich gegen die Begünstigten richtete50. Der begründende Zusammenhang besteht zwischen den Geschädigtenklagen in ihrer Gesamtheit und der Schifferklage; alle Geschädigten müssen klagen, damit der Schiffer gegen die Begünstigten klagen kann (ex locato cum magistro navis agere debent […]). In der Praxis wird der Prätor in einem Zuge die Klagen der Geschädigten gegen den Schiffer und die Klagen des Schiffers gegen die Begünstigten erteilt haben; und er wird für alle Verfahren einund denselben Richter bestimmt haben. Denn was jeder Einzelne zu leisten oder zu empfangen hatte, konnte nur mit Rücksicht auf alle anderen ermittelt werden51. Vor allem war man auf den Schiffer angewiesen52. Die Geschädigtenklagen zwangen nunmehr den Schiffer, die Begünstigten auszuklagen und das Erhaltene an die Geschädigten abzuführen. Die bloße Zurückbehaltung reichte nicht mehr aus53. Allerdings mag der Schiffer weiterhin nach alter dem servianischen Verfahren verbundener Gepflogenheit die Waren der Begünstigten zurückbehalten haben. Dagegen war nichts einzuwenden. Wenn der Schiffer aber nur dies tat, sich also auf die Zurückbehaltung beschränkte, half ihm dies nicht mehr aus der Haftung gegenüber den Geschädigtenklagen heraus. Er stand vielmehr nach jener Seite hin weiter unter Druck. Der actio locati der Geschädigten genügte die bloße Zurückbehaltung nicht mehr. ‚Fürwahr’, sagt Paulus, ‚auch wenn der Schiffer die Waren zurückbehält, ist er nach jener Seite hin der Klage
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Diesen Zusammenhang macht die Ausdrucksweise […] debent […] deinde […] potest deutlich. Anders Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 277 f.: Man müsse klagen um zu seinem Geld zu kommen. Der Schiffer mußte also nicht in Vorlage gehen. Von ‚Schadloshaltung durch einen Regreßanspruch’ – so Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 278 – oder von einem ‚Rückgriff’ – so Honsell, Quod interest im bonae-fidei-iudicium, S. 147 und Reichard, Die Frage des Drittschadensersatzes, S. 135 – wird man daher nicht sprechen können. Zur ‚ratio legis Rhodiae’ s. unten C. Das zeigt das Fragment aus Diphilos’ Zographos, Fr. 42 (Kassel/Austin V, 1986) 10-17. A. A. anscheinend Zimmermann, The Law of Obligations, S. 408148; Reichard, Die Frage des Drittschadensersatzes, S. 135, 138 (Klage oder Zurückbehaltung).
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der Reisenden aus dem Frachtvertrag ausgesetzt’ (immo54 etsi retineat55 merces magister, ultro56 ex locato habiturus est57 actionem cum vectoribus). Paulus spricht hier von den Klagen der geschädigten Händler gegen den Schiffer. Das wird vielfach anders gesehen. Der Text spreche, so wird gesagt, von den Klagen des Schiffers gegen die begünstigten Händler58. Dies mag auf den ersten Blick naheliegen, führt jedoch in Schwierigkeiten. Die Klage des Schiffers gegen die begünstigten Händler ist nämlich nicht die actio locati, sondern die actio conducti59. Die Versuche, die man unternommen hat, um diese ‚Unstimmigkeit’ zu beheben60 oder hinwegzudeuten61, sind unerfreulich und mühsam. Immo weist auf einen Gegensatz hin; etsi verweist auf ein mögliches jedoch überwindliches Hindernis. Auch so gesehen: Paulus spreche von der Klage des Schiffers gegen die Begünstigten, bestünde zwar ein Gegensatz. Doch wäre die Zurückbehaltung kein mögliches, jedoch überwindliches Hindernis für die Schifferklage gegen die Begünstigten. Was diese behindern könnte, jedoch letztlich doch nicht behindern würde, wäre vielmehr gerade, die Waren der Begünstigten nicht zurückzubehalten. Denn in der Herausgabe könnte man einen Rechtsverzicht seitens des Schiffers sehen. Also fehlt im immo-Satz die Verneinung (non)?! So dachte vielleicht ein spätantiker oder mittelalterlicher Leser, der sich infolgedessen veranlaßt sah, (am Rande des Textes oder zwischen den Zeilen?) die Verneinung (non) beizufügen. Dadurch wurde im weiteren die Überlieferung der Basiliken und der Vulgata bestimmt. Es wird sich einerseits um eine byzantinische Konjektur handeln, andererseits um ei54
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Immo: Paulus benutzt das Wort öfter, um den eigenen Abstand zu einer anderen Ansicht auszudrücken; vgl. Lab. 1 pith. a Paulo epit., D 14. 2. 10 (mit 3 kritischen Anmerkungen des Paulus, die alle mit dem Wort immo eingeleitet werden). So F La und Theodor Mommsen in der editio maior. Dieser Lesart folgen Cujaz, Observationes et emendationes, Opera omnia, Tom. III, Lutetiae Parisiorum 1658 (Neudruck Goldbach 1996), S. 62C; Glück, Erläuterungen 14, S. 228. Anders PbVbLbU, welche non retineat haben, und B, welche m¾ krat»sei haben (Bas. 53. 3. 1 [BT 2448.10]). Dieser Lesart folgen Paul Krüger in der editio minor und die neuere Literatur; s. Reichard, Die Frage des Drittschadensersatzes, S. 131, 132, 1339. Schon Mommsen hatte konjiziert non retineat (editio maior I S. 419 Anm. 2). Ultro: nach der anderen Seite hin (sic!), Georges, Handwörterbuch I, s. v. ultro, Sp. 3288. Abw. Hermann Gottlieb Heumann, Emil Seckel, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 9. Aufl., Jena 1907, S. 600: Auf der anderen Seite, seinerseits; so auch Reichard, Die Frage des Drittschadensersatzes, S. 13416. Anders Cujaz, Observationes et emendationes, Opera omnia, Tom. III, S. 62C, 63A: „Ultro autem, id est, prior […]”; Glück, Erläuterungen 14, S. 22991 f.: „überdem“. Das Futur habiturus est ist kein Problem. Ein Bezug zur Schifferklage (Reichard, Die Frage des Drittschadensersatzes, S. 137) besteht nicht. Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 279 f.; Reichard, Die Frage des Drittschadensersatzes, S. 132, 134, 137; Pókecz Kovács, in: Festgabe für J. Zlinszky, S. 171, 184 f. Vgl. Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 280 („Das ist für den aufmerksamen Leser eine erhebliche Störung“). Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 276, 280 nimmt eine nachklassische Glosse an (weitere Argumente: das ‚mehrdeutige ultro’, das ‚unschöne Futurum habiturus est’). Reichard, Die Frage des Drittschadensersatzes, S. 1324, 134.
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ne mittelalterlich-italienische. Die erste Fassung des Codex S (S1) mag noch wie F gelesen haben (etsi retineat). Der Bearbeiter des Codex S (Irnerius?62) fügte jedoch (eher am Rand als zwischen den Zeilen63) als zu ergänzendes Wort non hinzu64. Darauf deutet die lectio primitiva von L hin (La etsi retineat). Erst auf den zweiten Blick bemerkte der Schreiber von L die Ergänzung (in seiner Vorlage? in S2?) und trug sie in seinem Text nach (Lb etsi non retineat)65. Dagegen nahmen die (gemeinsam arbeitenden66) Schreiber von P und V das non sofort in den Text auf, doch verschrieben sie sich bei retineat (PaVa etsi non retineamus; dieses Versehen mag, wie viele andere in P und V, an der leicht fehldeutbaren langobardischen Minuskel gelegen haben67). Man war sich der Abweichung von F bewußt. Dies zeigt die in U anzutreffende Bemerkung non est hoc non pi[sae]68. Ähnliche Hinweise finden sich auch in einer Bamberger Handschrift sowie bei Accursius69. 62
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So Hermann U. Kantorowicz, Über die Entstehung der Digestenvulgata. Ergänzungen zu Mommsen, Weimar 1910, S. 29, 88 ff. Skeptisch Hermann Lange, Römisches Recht im Mittelalter, 1. Bd.: Die Glossatoren, München 1997, S. 69, 157. Irnerius hat seine Glossen sowohl interlinear als auch marginal gesetzt; s. Lange, Römisches Recht im Mittelalter I, S. 160. Wurde die Interlinearglosse für rein grammatische, die Marginalglosse für sachliche Ergänzungen bevorzugt? (so Friedrich Carl v. Savigny, Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, 4. Bd., 2. Aufl., Heidelberg 1850 [Neudruck Bad Homburg 1961], S. 29; vgl. Lange, Römisches Recht im Mittelalter I, S. 160 [verneinend]). Ähnlich hat Irnerius zu D 43. 24. 5. 1 das Wort non ergänzt, wie eine spätere Glosse (des Hugolinus? [so v. Savigny, Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter, 3. Bd., 2. Aufl. Heidelberg 1834 [Neudruck Bad Homburg 1961] S. 755) in Xa bezeugt: Istud non aditum est a domino Y[rnerio] (s. v. Savigny, Geschichte des römischen Rechts im Mittelalter III, S. 755; Mommsen, editio maior II, S. 603 Anm. zu Z. 33 und Kantorowicz, Über die Entstehung der Digestenvulgata, S. 23 f.) sowie eine Glosse in einer Metzer Handschrift: Quidam dicunt hoc non a Guarnerio additum (s. v. Savigny, Mommsen und Kantorowicz a. O.). Ob es sich um eine der zahlreichen Konjekturen des Irnerius handelt oder um das Ergebnis einer Vergleichung des Codex Pisanus ist str. (für ersteres Kantorowicz a. O., für letzteres Mommsen a. O.). Die Sigle des Irnerius (Y) ist mißverstanden und auf Justinian bezogen worden in einer früheren Glosse zu D 43. 24. 5. 1 in Xa: Y. Istud non est additum a domino Iustiniano (s. Kantorowicz a. O.). Ein Vorgang, ähnlich dem, der sich bei der Herstellung von P ereignet hat, als der Schreiber bei D 17. 1. 49 die in S wohl eher als Marginal- denn als Interlinearnotiz eingefügten (s. Mommsen, editio maior I, S. 494 Anm. zu Z. 10; abw. Kantorowicz, Über die Entstehung der Digestenvulgata S. 66 f. [als Marginal- oder Interlinearnotiz]) Worte eum non teneri, sed contra mandati zunächst übersehen hatte und erst bemerkte, als er schon mit dem folgenden Wort begonnen hatte (agere; er hatte ag geschrieben, was er jetzt durchstrich); s. Mommsen, Kantorowicz. a. O. Kantorowicz, Über die Entstehung der Digestenvulgata S. 68. P und V enthalten eine Vielzahl solcher Versehen, von welchen L hingegen frei ist; s. Mommsen, Praefatio zur editio maior, S. LXV f. (fast frei); Kantorowicz, Über die Entstehung der Digestenvulgata S. 32 f., 69 (völlig frei). S. Mommsen, editio maior I, S. 419 Anm. zu Z. 11. S. v. Savigny, Geschichte des Römischen Rechts im Mittelalter III, S. 725.
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Der folgende Gedanke: Wie soll in Fällen von Reisenden verfahren werden, die kein Gepäck haben? (quid enim si vectores sint, qui nullas sarcinas habeant?70) leitet schon zur ‘Gegenkonstellation’ der Schiffsplatz- und Schiffsraummiete über. Der Gedanke an solche Reisenden spricht gegen die alte Zurückbehaltungslösung. Der darauffolgende Gedanke: Etwa vorhandenes Gepäck wird man einfacher zurückbehalten (plane commodius est, si sint, retinere eas71), anerkennt den bleibenden praktischen Wert der Zurückbehaltungslösung72. War die Ausgangskonstellation die eines Frachtvertrages, bei dem die Händler die Rolle von locatores innehatten, der Schiffer die Rolle eines conductor73, folgt nun die Konstellation der Schiffsplatz- und Schiffsraummiete, mit vertauschten Rollen der Beteiligten: jetzt sind die Reisenden oder Händler conductores, der Schiffer ist locator74. Demgemäß klagt jetzt ein Geschädigter gegen den Schiffer mit der actio conducti (at si non totam navem conduxerit, ex conducto aget, sicut vectores, qui loca in navem conduxerunt75). Der Schiffer klagt weiter, je nachdem, mit der actio conducti oder der actio locati76.
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Von Paulus; s. Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 280 f. Von Paulus; a. A. Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 281 (nachklassische Glosse oder justinianische Beifügung). WohlPaulus; zu weitgehend Reichard, Die Frage S. 138, der Von s. Kreller,meint in: ZHR 85 (1921), S. 257,des 280Drittschadensersatzes, f. Schiffer sei zu Klage und Zurückbehaltung verpflichtet gewesen. Der plane commodiVon Paulus; a. A. Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 281 (nachklassische Glosse oder us-Satz schließt das aus. justinianische Beifügung). Serv. (?)/Alf. 5 dig. a meint Paulo Reichard, epit., D 19. 2. Frage 31: In des navem Saufeii […]; Ulp. 32 ed.,der D Wohl zu weitgehend Die Drittschadensersatzes, S. ad 138, 19. 2. 13. 1: Si navicularius onus Minturnas vehendum conduxerit […]. Schiffer sei zu Klage und Zurückbehaltung verpflichtet gewesen. Der plane commodiOb im Einzelfall Frachtvertrag oder Schiffsraummiete vorlag, konnte zweifelhaft sein; us-Satz schließt das aus. Pap. 8(?)/Alf. quaest.,5Ddig. 19.a5.Paulo 1. 1 (Ausweg Labeos: civilis Saufeii actio in[…]; factum). Serv. epit., D 19. 2. 31:eine In navem Ulp. 32 ad ed., D Man2. hat dem Ausdruckonus in navem conduxerunt Anstoß genommen; 19. 13. an 1: Si navicularius Minturnas vehendum conduxerit […]. s. Kreller, in: ZHRim85Einzelfall (1921), S. 257, 283 (unbedeutende grammatische Härte; Schreibfehler?); ReiOb Frachtvertrag oder Schiffsraummiete vorlag, konnte zweifelhaft sein; chard, Die Frage des 5. Drittschadensersatzes, 131,civilis 133 („grammatisch Pap. 8 quaest., D 19. 1. 1 (Ausweg Labeos:S.eine actio in factum).unhaltbar“; das Stückhat sicut […] conduxerunt soll zu streichen sein). Doch könnte die WenMan an vectores dem Ausdruck in navem conduxerunt Anstoß genommen; s. Kreller, in: dung 85 in navem Gräzismus sein; vgl. den Härte; griechischen VerwahrungsZHR (1921),conduxerunt S. 257, 283 ein (unbedeutende grammatische Schreibfehler?); ReivertragDie bei Frage Paul. 4des resp., D 16. 3. 26. 1: (”Elabon e„j lÒgon parakataΟ»khj t¦ chard, Drittschadensersatzes, S. 131,kaˆ 133œcw („grammatisch unhaltbar“; das progegrammšna toà ¢rgur…ou dhn£ria mÚriasoll […] ‚Ich nahmsein). und habe die Verwahrung Stück sicut vectores […] conduxerunt zu– streichen Dochinkönnte die Wendie vorgenannten 10.000 Silberdenare […]’).sein; vgl. den griechischen Verwahrungsdung in navem conduxerunt ein Gräzismus Der Gedankengang der Stelle sich als schlüssig. in allen Teilen vertrag bei Paul. 4 resp., D 16.erweist 3. 26. 1: (”Elabon kaˆ œcwDer e„j Text lÒgonkann parakataΟ»khj t¦ als klassisch gelten. – Ganz anders jedoch De Martino, Scritti di diritto II, S. progegrammšna toà ¢rgur…ou dhn£ria mÚria […] – ‚Ich nahm und habe in dieromano Verwahrung 82, vorgenannten 97 ff.: („[…] il10.000 pr. […] è talmente […]’). assurdo e intricato, che non si può attribuire solo die Silberdenare a Triboniano […]“ (S. und erweist weiter: sich „Il testo è indubbiamente corrotto (S.Teilen 98). Der Gedankengang der82) Stelle als schlüssig. Der Text kann […]“ in allen als klassisch gelten. – Ganz anders jedoch De Martino, Scritti di diritto romano II, S. 82, 97 ff.: („[…] il pr. […] è talmente assurdo e intricato, che non si può attribuire solo a Triboniano […]“ (S. 82) und weiter: „Il testo è indubbiamente corrotto […]“ (S. 98).
Zur Rezeption und Entwicklung des rhodischen Seewurfrechts in Rom
271
C. ‚Ratio legis Rhodiae’77 Nach Servius mußte und konnte der Schiffer die Waren der durch den Seewurf begünstigten Händler auf die Klagen der geschädigten Händler hin zurückbehalten, bis diese ihren Schadensanteil leisteten (Servius quidem respondit ex locato agere cum magistro navis debere, ut ceterorum vectorum merces retineat, donec portionem damni praestent). Später, nach Paulus, mußte und konnte der von den geschädigten Händlern verklagte Schiffer selbst gegen die begünstigten Händler auf eine Schadensbeteiligung, die ihrem Ladungsanteil entsprach, klagen (amissarum mercium domini, si merces vehendas locaverant, ex locato cum magistro navis agere debent: is deinde cum reliquis, quorum merces salvae sunt, ex conducto, ut detrimentum pro portione communicetur, agere potest). Servius spricht vom Schadensanteil, den die begünstigten Händler leisten müßten (portio damni), Paulus von der Schadensbeteiligung entsprechend den Anteilen an der Ladung (detrimentum pro portione communicari). Die in Paul. 34 ad ed., D. 14. 2. 2. 2 auffallend neben dem sonst in indirekter Rede gehaltenen Text in direkter Rede gestellte Frage et quae portio praestanda est? meint den – allseits – zu leistenden Schadensanteil. Die dazugehörige, wiederum auffallend neben dem sonst in indirekter Rede gehaltenen Text in direkter Rede stehende Antwort iacturae summam pro rerum pretio distribui oportet verweist, noch sehr allgemein, auf den Sachwert als Maßstab78. Begrifflich sind portio (Schadensanteil) und portio (Ladungsanteil) zu trennen. Tatsächlich hängt beides eng zusammen. Denn wieviel an Schadensanteil jeweils zu leisten ist, hängt vom jeweiligen Ladungsanteil ab. Im Ausgangsfall befinden sich etwa die Händler A, B, C mit Waren im Werte von 10.000, 20.000 und 30.000 (Denaren) im Schiff. Die Waren des Händlers A im Wert von 10.000 sind insgesamt über Bord geworfen worden; von den Waren des Händlers B im Wert von 20.000 ist es ein Teil im Wert von 8.000; die Waren des Händlers C sind hingegen erhalten geblieben (das Schiff selbst mag, wie in Paul. 34 ad ed., D. 14. 2. 2 pr., außer Betracht bleiben). Der Schaden von 18.000 soll nun im Verhältnis der Ladungsanteile verteilt werden. Maßgebend ist der Wert der Sachen. Die Ladungsanteile ABC stehen zueinander im Verhältnis 1:2:3. Auf A entfällt somit vom Schaden 1/6, auf B 1/3, auf C 1/2. A trägt 3.000, B 6.000, C 9.000 am Schaden mit. A sollte demgemäß 7.000 davonbringen, B 14.000, C 21.000 (‚Soll-Lage’). A hat jedoch nichts mehr, B nur noch 12.000; C hat hingegen noch alles (‚Ist-Lage’). A muß demnach 7.000 bekommen, B 2.000; C hingegen muß 9.000 leisten (Ausgleich). Der Ausgleich vollzieht sich so, daß auf die Klage der geschädigten Händler A und B hin der Schiffer C in Anspruch 77
78
Die Berechnung des Schadensausgleichs: rationem haberi (Callistr. 2 quaest. [s. Liebs, Handbuch der lat. Lit. der Antike, S. 213], D 14. 2. 4 pr. [2 mal der Ausdruck]; eod. 4. 1 [2 mal der Ausdruck]). S. Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 310 ff.: § 2 fällt aus dem Rahmen. Ist die Passage ein ‚selbständiges Erzeugnis der klassischen Quästionenliteratur’ (so Kreller, S. 313)? Oder hat Paulus etwa selbst das Stück bei einer Überarbeitung seines Ediktkommentars eingefügt? Und in dieses wiederum die in direkter Rede gefaßten Stücke? Sollte der neue, in § 4 verwendete Begriff der portio (Schadensanteil) vorbereitet werden?
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Dietmar Schanbacher
nimmt; dieser leistet an den Schiffer 9.000, von welchen der Schiffer an A 7.000, an B 2.000 abführt. Maßgeblich ist allerdings hinsichtlich der verlorenen Sachen der Einkaufswert, hinsichtlich der geretteten der Verkaufswert; so nunmehr differenzierend Paul. 34 ad ed., D 14. 2. 2. 479. Bei Annahme von Einkaufswerten für die verlorenen Waren von A und B (10.000 und 8.000) und von Verkaufswerten für die geretteten Waren von B (22.000; bei einem Einkaufswert von 12.000) und C (50.000; bei einem Einkaufswert von 30.000) stehen die Ladungsanteile ABC zueinander im Verhältnis 1:3:5. Auf A entfällt somit vom Schaden 1/9, auf B 1/3; auf C entfallen 5/9 des Schadens. A trägt 2.000, B 6.000, C 10.000 am Schaden mit. A sollte demgemäß 8.000 davonbringen, B 24.000, C 40.000 (‚Soll-Lage’). A hat jedoch nichts mehr, B nur noch 22.000; C hat hingegen noch alles (50.000) [‚Ist-Lage’]. A muß demnach 8.000 erhalten, B 2.000; C muß 10.000 leisten (Ausgleich). Der Ausgleich vollzieht sich so, daß auf die Klage der geschädigten Händler A und B hin der Schiffer C in Anspruch nimmt; dieser leistet an den Schiffer 10.000, von welchen der Schiffer an A 8.000, an B 2.000 abführt80. 79
Paul. 34 ad ed., D 14. 2. 2. 4: Portio autem pro aestimatione rerum quae salvae sunt et earum quae amissae sunt praestari solet, nec ad rem pertinet, si hae quae amissae sunt pluris veniri poterunt, quoniam detrimenti, non lucri fit praestatio. sed in his rebus, quarum nomine conferendum est, aestimatio debet haberi non quanti emptae sint, sed quanti venire possunt. Paulus löst damit auch die Frage des Ansatzes erhaltener, jedoch auf See verschlechterter Waren; hier mochte der Verkaufswert gelegentlich unter dem Einkaufswert gelegen haben. Callistrat erwägt hingegen verschiedene Lösungen; Callistr. 2 quaest., D 14. 2. 4. 2 ([1] defendendum: Ansatz pretio praesente; [2] illa sententia nobis distinguentibus: nach den Ursachen der Verschlechterung: besteht ein Zusammenhang mit dem Seewurf? [3] distinctio suptilior adhibenda: es soll danach unterschieden werden, ob die Verschlechterung größer ist oder der Schadensanteil, ist dieser größer, soll die Verschlechterung vom Schadensanteil abgezogen werden, ist er kleiner, soll nicht nur der Schadensanteil entfallen, vielmehr der Betroffene noch etwas zu beanspruchen haben: so Callistrat unter Berufung auf Papirius Fronto [s. Liebs, Handbuch der lat. Lit. der Antike, S. 123]). – A. A. Kreller, in: ZHR 85 (1921), S. 257, 314 ff. (die Unterscheidung sei unklassisch; Paulus habe nur eine Berücksichtigung gewisser subjektiver Interessen des Geschädigten untersagt). Zu einer doppelten Bewertung einer Größe in der Formel (‚mathematisches Taschenspielerkunststück’) [Kreller, S. 316] kommt es nicht (s. unten Fn. 80).
80
Ausgleichsformel: xA
aA
(aA sA)a ; x bezeichnet den gesuchten (positiven as
oder negativen) Ausgleichsbetrag; xA: des Beteiligten A; a bezeichnet (‚amissae’) den Wert der verlorenen Waren, s (‚salvae’) den Wert der geretteten; aA und sA: des A; a und s ohne Zusatz bezeichnen den Wert aller verlorenen bzw. geretteten Waren. Für a ist nach Paul. 34 ad ed., D 14. 2. 2. 4 der Einkaufswert einzusetzen; für s der Verkaufswert. So ist etwa xA
10.000
10.000 18.000 90.000
8.000 . – Anders wollen Kreller,
in: ZHR 85 (1921), S. 257, 314 ff.; Honsell, Quod interest im bonae-fidei-iudicium, S. 14729 und wieder: Ut omnium contributione sarciatur quod pro omnibus datum est. Die Kontribution nach der Lex Rhodia de iactu, in: Martin Schermaier u. a. (Hrsg.), Ars bo-
Zur Rezeption und Entwicklung des rhodischen Seewurfrechts in Rom
273
ni et aequi. Festschrift für W. Waldstein, Stuttgart 1993, S. 141, 147, den ‚Beitrag der geretteten Waren’ (c bzw. x) ermitteln, mithilfe der Formel
c
as (Kreller) bzw. as
as c s bzw. (Honsell); die Grundlage bildet die Verhältnisgleichung as ac a x s . Diese Rechnung führt jedoch nur zu einem Teilerfolg (im Ausgangsfall ax a
x
ergibt sich ein Beitrag der geretteten Waren von 14,4).
Gesetzesbegriffe im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik Jan Schröder Wenn von der Geschichte des Gesetzesbegriffs im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert die Rede ist, dann denkt man meistens an die staatsrechtliche Theorie des Gesetzes, namentlich an die von Paul Laband erfundene Unterscheidung von Gesetz im materiellen und im formellen Sinne. Die nach wie vor bedeutendste einschlägige Monographie widmet sich denn auch gerade diesem Thema1. In Wirklichkeit ist aber die staatsrechtliche Diskussion nur ein Ausschnitt aus der Geschichte des Gesetzesbegriffs zwischen 1871 und 1932. Aus rechtstheoretischem Blickwinkel (unten B II) und aus der Sicht nicht-staatsrechtlicher Rechtsdisziplinen (unten B III) stellten sich die Dinge anders dar, als in der staatsrechtlichen Theorie (unten B I). Gar nicht erfaßt sie den Gesetzesbegriff im allgemeineren Kontext des Rechtsbegriffes, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts auffällig verändert (unten A). Ich versuche im Folgenden eine kleine Skizze.
A. Der Gesetzesbegriff im Kontext des Rechtsbegriffs2 Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts dominiert in Deutschland der Rechts- und Gesetzesbegriff der historischen Rechtsschule. Danach ist es „der in allen Einzelnen gemeinschaftlich lebende und wirkende Volksgeist, der das positive Recht erzeugt“3, „Recht“ daher „eine gemeinsame Überzeugung der in rechtlicher Gemeinschaft Stehenden“4. Das Gesetz kann also nicht einfach Wille des Gesetzgebers sein, sondern nur ein Ausdruck der gemeinsamen Rechtsüberzeugung: der 1
2
3 4
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus (1958), 2. Aufl., Berlin 1981. Eine Darstellung der im Folgenden unter A. geschilderten Entwicklung ist mir nicht bekannt. Zur Begriffsgeschichte siehe sonst Werner Krawietz, Gesetz (I.), in: Joachim Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974, Sp. 480493; Rolf Grawert, Gesetz, in: Otto Brunner u. a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 863-922. Vgl. weiterhin die historischen Teile der Abhandlungen von Gerd Roellecke, Der Begriff des positiven Gesetzes und das Grundgesetz, Mainz 1969, und Christian Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes. Ein Beitrag zum juristischen Gesetzesbegriff, Baden-Baden 1970, die aber mehr in staatsrechtlichsystematischem Interesse geschrieben sind. Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, Berlin 1840, S. 14. Georg Friedrich Puchta, Pandekten, 5. Aufl., besorgt von Adolf August Friedrich Rudorff, Leipzig 1850, § 10, S. 17.
276
Jan Schröder
Gesetzgeber ist ein „Organ des Volksrechts“5 und spricht lediglich „das schon vorhandene Volksrecht“ aus6. Nach 1850 tritt allmählich ein neuer, willensbezogener Rechtsbegriff in den Vordergrund. Rudolf von Jhering erklärt 1865 im dritten Teil seines „Geist des römischen Rechts“, die „Bezeichnung des Rechts im objektiven Sinn als des ‚allgemeinen Willens’“ gebe „in formaler Beziehung das Wesen desselben in einer Weise wieder, wie sie nicht kürzer und treffender gedacht werden kann“7. Nach 1871 verbreitet sich dieser Begriff mehr und mehr. Zwar hält eine Reihe von Autoren noch an der alten Vorstellung vom Recht als Volksüberzeugung fest8, aber sie gerät gegenüber der neuen Willenstheorie in die Minderheit. Die meisten halten das Recht jetzt nicht mehr für eine gemeinschaftliche Überzeugung, sondern für „erklärten Gemeinwillen“ (Karl Binding), „Willen der Gemeinschaft“ (Eduard Hölder), „allgemeinen Willen“ (Heinrich Dernburg), „erklärten Willen der Gesamtheit“ (Philipp Heck)9 oder einfach für Staatswillen, wie Paul Laband und Hans Kelsen10. Andere Autoren stellen nicht auf den Willen, sondern auf das fer5 6
7 8
9
10
v. Savigny, System I, S. 39, 50. v. Savigny, System I, S. 39; Georg Friedrich Puchta, Cursus der Institutionen, Bd. 1 (1841), 9. Aufl., besorgt von Paul Krüger, Leipzig 1881, § 14, S. 19 (es wird „erwartet, daß der Gesetzgeber wirklich die gemeinsame Überzeugung der Nation […] ausspreche“). Rudolph von Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, 3. Teil, 1. Abteilung (1865), 3. Aufl., Leipzig 1877, S. 318. Vor allem Bernhard Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, 9. Aufl., bearb. von Theodor Kipp, Frankfurt/M. 1906, S. 78: „letzte Quelle alles positiven Rechts ist die Vernunft der Völker“; Otto Gierke, Deutsches Privatrecht, Bd. 1, Leipzig 1895, S. 113 zum Rechtsbegriff: „Rechtssätze aber sind Normen, die nach der erklärten Ueberzeugung einer Gemeinschaft das freie menschliche Wollen äußerlich in unbedingter Weise bestimmen sollen“. In zeitlicher Reihenfolge: August Thon, Rechtsnorm und subjectives Recht, Weimar 1878, S. 1 (wie Jhering, auf den er sich beruft); Adolf Merkel, Juristische Encyclopädie, Berlin und Leipzig 1885, S. 27 („Willensäußerungen“); Karl Binding, Handbuch des Strafrechts, Bd. 1, Leipzig 1885, S. 197; Eduard Hölder, Pandekten. Allgemeine Lehre, Freiburg i. Br. 1891, S. 18; Heinrich Dernburg, Pandekten, Bd. 1, 5. Aufl., Berlin 1896, S. 43; Ernst Rudolf Bierling, Juristische Prinzipienlehre, Bd. 1, Freiburg i. Br. und Leipzig 1894, S. 19 (Recht enthält „Normen“), 29 (eine „Norm ist Ausdruck eines Wollens, das seine Vollziehung von anderen erwartet“); Carl Crome, System des Deutschen Bürgerlichen Rechts, Bd. 1, Einleitung und Allgemeiner Teil, Tübingen und Leipzig 1900, S. 77 („Willensäußerungen der Gemeinschaft, welcher der Einzelne angehört“); Rudolf Stammler, Theorie der Rechtswissenschaft, Halle 1911, S. 109 („unverletzbar selbstherrlich verbindendes Wollen“); Ludwig Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, Bd. 1, 1. Abteilung, Einleitung, Allgemeiner Teil, Marburg 1911, § 30 vor I, S. 71 („die auf dem Willen einer Gemeinschaft beruhende, schlechthin verbindliche Ordnung menschlichen Zusammenlebens“); Philipp Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1914, S. 13 (zum Gesetz); Gustav Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 4. Aufl., Leipzig 1919, S. 2 f. („ein Wollen und Sollen“, „ein Wollen, dessen Absicht es ist, ein Sollen zu begründen“). Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 2, 4. Aufl., Tübingen und Leipzig 1901, § 57 III, S. 69 f. (es gibt kein Gewohnheitsrecht gegen den Staatswillen);
Gesetzesbegriffe im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik
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tige Recht, die Norm ab11. Aber auch sie betrachten die Norm offenbar wiederum als Willenserzeugnis, wenn auch nicht nur, wie die Anhänger der „Imperativtheorie“12, als Ge- oder Verbot. 1911 faßt Ludwig Enneccerus zusammen, „die neuere Zeit“ führe das Recht nicht mehr auf die Rechtsüberzeugung, sondern „auf den allgemeinen Willen zurück, der zwar durch das Rechtsbewußtsein, noch mehr aber durch Gedanken der Zweckmäßigkeit und des Fortschritts bestimmt wird“13. Damit mußte sich auch der Gesetzesbegriff verändern und das Gesetz vom Abbild der Volksüberzeugung zum Produkt des gemeinschaftlichen Willens werden. Das Gesetz ist nun „Wille des Staats“ (Jhering)14 eine „Äußerung des Staatswillens“15,
11
12
13 14 15
Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre (1911), unveränderter Nachdruck Tübingen 1923, S. 101. Thon, Rechtsnorm, S. 3 („begrifflich liegt doch in jedem Rechtssatze ein Imperativ […] oder, wie wir heute zu sagen pflegen, eine Norm“); Bierling, Prinzipienlehre I, S. 19; Friedrich Endemann, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts, 9. Aufl., Berlin 1903, § 7.1, S. 22-24 („Normen“ im Sinne von „norma agendi“, „Befehle“); Heck, Gesetzesauslegung, S. 14 (Gebote); Felix Somló, Juristische Grundlehre, Leipzig 1917, S. 55, 62 („genus proximum“ ist die Norm, „der Begriff der Rechtsnorm, als einer empirischen Norm [sc. setzt] den Begriff des Willens voraus“); Justus Wilhelm Hedemann, Einführung in die Rechtswissenschaft, Berlin und Leipzig 1919, S. 42 (Rechtsordnung als „Kraft […] in Gestalt von Befehlen“); Richard Schmidt, Einführung in die Rechtswissenschaft, 2. Aufl., Leipzig 1923, S. 10 (Rechtssätze sind Normen, „ihrem Wesen nach Befehle, Imperative“). Dazu gehören vornehmlich Rudolph von Jhering, Der Zweck im Recht, Bd. 1, Leipzig 1877, S. 337 („bedingter Imperativ“); Thon, Rechtsnorm, S. 3; Bierling, Prinzipienlehre, S. 27-29; Heck, Gesetzesauslegung, S. 14 f. Ganz abweichend vor allem Ernst Zitelmann, Irrtum und Rechtsgeschäft, Leipzig 1879, S. 204 (etwas anders dann ders., Ausschluss der Widerrechtlichkeit, in: AcP 99 [1906], S. 1 ff., 4 Anm. 3); Kelsen, Hauptprobleme, S. 210-212, die in den Normen Urteile sehen. Andere Autoren anerkennen außer Ge- und Verbot jedenfalls noch gewährende oder versprechende Normen: Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts I, § 27 II, S. 62 f. zu Anm. 10, 11; Somló, Grundlehre, S. 214. Die Willenstheorie des Rechts wird aber auch von den Gegnern der Imperativtheorie nicht in Frage gestellt, s. zu Enneccerus, Kelsen und Somló die Nachweise in Fn. 9-11. Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts I, § 21 II, S. 51. Rudolph von Jhering, Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung, Bd. 1 (1852), 4. Aufl., Leipzig 1878, S. 216. So Paul Laband, Das Budgetrecht nach den Bestimmungen der Preussischen Verfassungs-Urkunde unter Berücksichtigung der Verfassung des Norddeutschen Bundes, Berlin 1871, S. 3. Siehe auch Oskar Bülow, Gesetz und Richteramt, Leipzig 1885, S. 6 („von der Staatsgewalt erlassene Rechtswillenserklärung“); Georg Jellinek, Gesetz und Verordnung. Staatsrechtliche Untersuchungen auf rechtsgeschichtlicher und rechtsvergleichender Grundlage, Freiburg i. Br. 1887, S. 231 („Willensäußerungen des Staates“); Albert Haenel, Das Gesetz im formellen und materiellen Sinne (= ders., Studien zum deutschen Staatsrechte, Bd. 2, Heft 2), Leipzig 1888, S. 275 („Gesetz ist diejenige Form des Staatswillens, welche ausschließlich für die Erzeugung von objektivem Rechte, für die Schaffung von Rechtssätzen bestimmt und geeignet ist“); Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), unveränderte 6. Aufl., Berlin 1983, S. 146 (Gesetz im politischen Sinn „ist konkreter Wille und Befehl und ein Akt der Souveränität“).
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Jan Schröder
„ausdrücklich gesetzter“ Wille einer Gemeinschaft16 im Gegensatz zum Gewohnheitsrecht. In dieser Entwicklung liegt nicht nur eine harmlose Begriffsverschiebung gegenüber der historischen Schule, sondern eine prinzipielle Neuerung. In Savignys und Puchtas Theorie hatte der Volksgeist, die gemeinsame Rechtsüberzeugung, die innere Vernünftigkeit und Gerechtigkeit des Rechts gewährleistet. „Iustitia“ war für Puchta eben gerade der Rechtssinn17, das Rechtsbewußtsein des Volkes, das dem Recht und dem Gesetz seine organische Einheit und Vernünftigkeit gab18. Von diesen idealistischen Vorstellungen bleibt in der „Willenstheorie“ des späten 19. Jahrhunderts nichts mehr übrig. Sie hat auch sonst kein Vorbild in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rechtstheorie. Zwar ist es richtig, daß es eine Willenstheorie des Gesetzes schon seit dem Mittelalter gab19. Vor dem 19. Jahrhundert war aber das Gesetz niemals ausschließlich auf den Willen des menschlichen Gesetzgebers zurückgeführt worden. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts herrschte ein Gesetzesbegriff, der neben dem Willen auch die Vernünftigkeit des Gesetzes enthielt20. Im späten 17. Jahrhundert setzte sich dann zwar die Vorstellung durch, daß das positive menschliche Gesetz nichts anderes sei als das Gebot oder der Wille des Souveräns21. Aber neben dem positiven Gesetz stand als subsidiäre Rechtsquelle bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts immer noch das (rechtliche) Naturgesetz, das auf Gott bzw. auf der Vernunft beruhte22. Erst im 16
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So Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts I, § 29 II, S. 68; auch Binding, Handbuch I, S. 200 („ausdrückliche Erklärung des Rechtswillens“); Hölder, Pandekten, S. 29; Ferdinand Regelsberger, Pandekten, Leipzig 1893, S. 90 („aus einem Willensakt hervor“ gehende „Rechtssetzung der Staatsgewalt“); Heck, Gesetzesauslegung, S. 13. Puchta, Institutionen I, S. 16 Anm. a. Der „Rechtssinn“ ist aber auch das, was das Recht erzeugt (S. 18), deckt sich also mit der Volksüberzeugung. Siehe dazu Puchta, Institutionen I, S. 21; Friedrich Carl v. Savigny, Über den Zweck dieser Zeitschrift, in: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 1 (1815), S. 1 ff., 6: „mit innerer Notwendigkeit gegebener Stoff“. Zum Folgenden Jan Schröder, Recht als Wissenschaft. Geschichte der juristischen Methode vom Humanismus bis zur historischen Schule (1500-1850), München 2001, S. 7 ff., 97 ff. Thomas von Aquin, Summa theologica II 1, quaest. 90, art. 4 „quaedam rationis ordinatio ad bonum commune, ab eo qui curam communitatis habet, promulgata“ (eine Anordnung der Vernunft zum gemeinen Wohl, erlassen von demjenigen, der die Sorge für die Gemeinschaft hat); Hugo Donellus, Commentarii de iure civili, 1589, lib. 1, cap. 5, §§ 1, 6 (allgemeine Anordnung, die befiehlt oder erlaubt was richtig ist, „richtig“ ist das an sich Gerechte und das jeweils Zweckmäßige). Samuel Pufendorf, De officio hominis et civis juxta legem naturalem libri duo, 1673, lib. 2, cap. 12, § 1 (Dekrete des obersten Herrschers); Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, 1. Teil, Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, 2. Aufl., Königsberg 1798, S. 44: „das positive Recht, was aus dem Willen eines Gesetzgebers hervorgeht“. Christian Wolff, Institutiones juris naturae et gentium, Halle 1750, § 39 (das natürliche Gesetz hat seinen zureichenden Grund im Wesen des Menschen und der Dinge, das positive hängt vom Willen eines vernünftigen Wesens ab); Adam Friedrich Glafey, Grund-Sätze der Bürgerlichen Rechts-Gelehrsamkeit, Leipzig 1720, S. 10 (was „aus dem Licht der Vernunfft sich ergiebt“). Zum Ganzen Jan Schröder, „Gesetz“ und „Naturgesetz“ in der frühen Neuzeit, Stuttgart 2004, S. 15 ff., 26 ff.
Gesetzesbegriffe im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik
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späten 19. Jahrhundert also, nach der Beseitigung des Naturrechts als Rechtsquelle und des Idealismus der historischen Schule, etabliert sich in Deutschland ein rein empirischer, nicht mehr vernunft- oder gerechtigkeitsbezogener Gesetzesbegriff. An sich ist es keine neue Erkenntnis, daß erst im 19. Jahrhundert der „Rechtspositivismus“ (ein Wort, das man angesichts seiner verwirrenden Mehrdeutigkeit vielleicht besser vermeiden sollte) aufkommt23. Ich halte es aber für wichtig, daß sich dieser Vorgang anhand der Entwicklung der obersten Begriffe des Rechts auch exakt verfolgen läßt.
B. Andere Gesetzesbegriffe I. Der staatsrechtliche Gesetzesbegriff Während der willensorientierte Gesetzesbegriff ein neues Verständnis des Rechts überhaupt anzeigt, spiegelt der staatsrechtliche Gesetzesbegriff eine neue politisch-verfassungsrechtliche Situation wider. Im Laufe des 19. Jahrhunderts hatten die deutschen Einzelstaaten geschriebene Verfassungen mit Volksvertretungen bekommen. Seit der Gründung des Kaiserreichs 1871 gab es eine solche Verfassung auch für ganz Deutschland. Da die Volksvertretungen gemeinsam mit den Monarchen (bzw. im Reich mit dem Bundesrat, dem Corpus der regierenden Landesfürsten) zur Gesetzgebung befugt waren, stellte sich die Frage, wie man die Gesetze dieser parlamentarisch-monarchischen Legislative von der exekutiven Gesetz- oder Verordnungsgebung abzugrenzen hatte, die allein in den Händen der Monarchen lag24. Da regelmäßig auch die Feststellung des Haushalts durch Gesetz erfolgen mußte und damit der Legislative zugewiesen war, mußte auch geklärt werden, wie sich dieser Legislativakt zur sonstigen Gesetzgebung verhielt. In seiner berühmten Schrift über das „Budgetrecht nach den Bestimmungen der Preussischen Verfassungs-Urkunde“ von 1871 löst Paul Laband diese Probleme bekanntlich mit einer doppelten Unterscheidung: Es gibt Gesetze im formellen und im materiellen Sinne. Die nur formellen stellen lediglich die „Übereinstimmung der Krone und des Landtages“, also die Beschlußfassung der Legislative in einer bestimmten Frage fest25, z. B. bei der Aufstellung des Haushaltsplans, und enthalten keine Rechtssätze. Die materiellen (die zugleich formelle sind, wenn sie 23
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Siehe nur etwa Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 430 ff., 458 ff.; Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, München 1992, S. 276 ff.; Walter Ott, Der Rechtspositivismus, 2. Aufl., Berlin 1992, S. 32 ff. mit im einzelnen sehr unterschiedlichen Vorstellungen. Zur vor-Labandschen Lehre s. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 65 ff., 126 ff. Laband, Budgetrecht, Berlin 1871, S. 5. S. auch Paul Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches II, S. 56 („geschriebenes Recht, welches unter Zustimmung der Volksvertretung entstanden ist“). Zu Labands Gesetzesbegriff s. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 226 ff.; Roellecke, Der Begriff des positiven Gesetzes, 158 ff.; Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, S. 80 ff.
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von der Legislative ausgehen) sind „Äußerung(en) des Staatswillens“, die einen Rechtssatz enthalten26. Kein Rechtssatz sollen aber insbesondere solche Regeln sein, die nicht „in irgendeiner Beziehung die Rechtssphäre des Einzelnen oder der staatlichen Gemeinschaft betreffen“27, also auch nicht der Haushaltsplan. Die konservativ-monarchische Tendenz dieser Lehre zeigt sich in ihren beiden wichtigsten Konsequenzen: Einerseits wird die Bedeutung des Etats heruntergespielt. Er erscheint als nur „formaler“ Akt, dessen materielle Grundlage wie die Anordnung von Steuern, die Verpflichtung zur Zahlung von Gehältern usw. außerhalb seiner liegen, so daß im Notfall (wie im preußischen Verfassungskonflikt28) auch einmal auf ihn verzichtet werden kann29. Andererseits entzieht Labands enge Fassung des Rechtssatzbegriffs der Legislative alle Regelungen, die nicht die Rechtssphäre der Einzelnen oder der staatlichen Gemeinschaft betreffen, innerstaatliche Akte wie Beamten- und Disziplinarrecht, Aufnahme von Anleihen, Subventionen, Dotationen usw., wenn die Verfassung sie dem Parlament nicht besonders zuweist. Anders als bei dem oben (A.) behandelten Gesetzesbegriff geht es im Staatsrecht also nicht um das zeitgenössische Verständnis des Rechts überhaupt, sondern um eine Abgrenzung von Legislative und Exekutive. Die primär politischverfassungsrechtliche Bedeutung dieses Gesetzesbegriffs wird auch in der weiteren Entwicklung deutlich. Labands Lehre hat sich bekanntlich behauptet30, ihre beiden wohl schärfsten Kritiker waren aber bezeichnenderweise ein linksliberaler und ein sozialdemokratischer Autor. Der bedeutendster Gegner im Kaiserreich ist Albert Haenel, Professor in Königsberg und Kiel und Reichstagsabgeordneter für die Fortschrittspartei31. In der Weimarer Republik war bis 1927 „eine Opposition […] in der Literatur der Reichsverfassung nicht vorhanden“32. Bei der Staats26 27
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Laband, Budgetrecht, S. 3; ders., Das Staatsrecht des Deutschen Reiches II, S. 1 („rechtsverbindliche Anordnung eines Rechtssatzes“). Laband, Budgetrecht, S. 12.; ders., Das Staatsrecht des Deutschen Reiches II, S. 168 („Abgrenzung der Befugnisse und Pflichten der einzelnen Subjekte gegeneinander“, wobei der Staat als ein Subjekt aufgefaßt wird). Ebenso z. B. Jellinek, Gesetz und Verordnung, S. 240. Dazu Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, 2. Aufl., Stuttgart etc. 1978, S. 305 ff.; Hans-Christof Kraus, Ursprung und Genese der Lückentheorie im preußischen Verfassungskonflikt, in: Der Staat 29 (1990), S. 209-234; Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts II, S. 298 m. w. N. Anm. 127, 342. Laband, Budgetrecht, S. 81. Dazu Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 242 ff. Haenel, Das Gesetz im formellen und materiellen Sinne, S. 119, 172, 275 und öfter (gegen nur „formelle“ Gesetze); S. 189, 246, 254, 314 (auch Verwaltungsvorschriften, Haushalt, Beamtenernennungen etc. sind Rechtssätze). Dazu Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 282 ff. (zu weiteren Kritikern der Lehre vom doppelten Gesetzesbegriff im Kaiserreich 296 ff.); Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, S. 101-103. Hermann Heller: Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 4, Berlin und Leipzig 1928, S. 98-135 (99, als einziger Gegner wird Fritz Stier-Somlo genannt). Zur Staatsrechtslehrertagung 1927 siehe Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts III, München 1999, S. 192 f.
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rechtslehrertagung 1927 und später tritt dann aber der Sozialdemokrat Hermann Heller als scharfer Kritiker von Labands Unterscheidung zwischen formellem und materiellem Gesetz und zwischen Rechtssatz und Nicht-Rechtssatz auf: sie gehöre „dem Gedankenkreis eines höchst primitiven Konstitutionalismus an, in welchem dem Untertan nur Freiheit und Eigentum seiner privatesten Sphäre bedeutsam waren. Sobald er seine Freiheit auch politisch verstand, war mit jenen Rechtssatzformeln nichts anzufangen“33. Auch Heller konnte sich aber gegen die herrschende Meinung nicht durchsetzen34. II. Der Gesetzesbegriff in der Normentheorie (Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung) Ein dritter Gesetzesbegriff begegnet in der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung, die nach Vorbereitung durch Ernst Rudolf Bierling35 und Adolf Merkl36 ihren repräsentativen Ausdruck in Hans Kelsens „Reine(r) Rechtslehre“ von 1934 findet37. In der Stufenbaulehre bündeln sich die rechtstheoretischen und verfassungsgeschichtlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts. Jedenfalls vier Voraussetzungen werden gemacht, die zum Teil überhaupt erst nach 1870 gegeben waren: (1) Die oberste Stufe des Normensystems, die fingierte „Grundnorm“ setzt ein empirisch-positivistisches Rechtsverständnis voraus, demzufolge das positive Recht (wie erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) nicht mehr naturrechtlich oder historisch-idealistisch gerechtfertigt werden kann. (2) Weiterhin ist die Unterscheidung von Verfassung, einfachem Gesetz und Verordnung nur dann sinnvoll, wenn eine Normenhierarchie besteht, in der die jeweils höhere Norm das Verfahren für die Erzeugung und „in verschiedenem Grade“38 auch den Inhalt der nächstniedrigeren Norm regelt. Eine solche Normenhierarchie konnte es im Absolutismus des 18. Jahrhunderts aber noch nicht geben, in dem die gesamte Rechtserzeugung in den Händen des Monarchen lag, sondern erst nach dem Übergang 33
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Heller, Der Begriff des Gesetzes, S. 111. Zum Rechtssatzbegriff, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 4, Berlin und Leipzig 1928, 118 f., gegen das „bloß formelle“ Gesetz 134. Kritik an der Labandschen Lehre äußert bei der gleichen Veranstaltung auch der Korreferent Max Wenzel, Der Begriff des Gesetzes in der Reichsverfassung (Gesetz und Recht), in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, Heft 4, Berlin und Leipzig 1928, S. 136-167. Zu Hellers Lehre s. auch Roellecke, Der Begriff des positiven Gesetzes, S. 189-201; Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, S. 104-107. S. die sozusagen abschließende Darstellung von Richard Thoma, Die Funktionen der Staatsgewalt, I. Grundbegriffe und Grundsätze, in: Gerhard Anschütz, Richard Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. 2, Tübingen 1932, § 71, S. 108 ff. und dort die Nachweise S. 124 Anm. 36. Zu Thomas Gesetzesbegriff Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, S. 95-97. Bierling, Prinzipienlehre, besonders I, S. 107 ff., II (Tübingen 1898), S. 117 ff., 198 ff. Adolf Merkl, Die Lehre vom Wesen der Rechtskraft, entwickelt aus dem Rechtsbegriff, Leipzig und Wien 1923, S. 181 ff. Hans Kelsen, Reine Rechtslehre, Wien 1934, S. 73 ff. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 74.
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zum konstitutionellen Staat des 19. Jahrhunderts. (3) Die Einbeziehung von „konkreten“ rechtsgeschäftlichen Normen in den Stufenbau des objektiven Rechts steht wiederum unter zwei Bedingungen: Erstens muß sich die subjektive „Normsetzungsbefugnis“ vom objektiven Recht ableiten. Das war nach der naturrechtlichen Lehre bis zu Kant noch nicht der Fall, vielmehr wurden die subjektiven Rechte als vorstaatliche Gegebenheiten betrachtet, über die der Staat zwar in gewissem Umfang disponieren kann, die er aber nicht selbst schafft39. Erst im 19. Jahrhundert war die Herrschaft des objektiven über das subjektive Recht weitgehend anerkannt40. Zweitens muß das subjektive dem objektiven Recht auch strukturell entsprechen. Sah man im objektiven Recht „Normen“ und in diesen lediglich Imperative, dann mußte man auch die subjektiven Rechte als Imperative, also als Ansprüche oder jedenfalls als Anwartschaften auf Ansprüche konstruieren. Ein solches Verständnis des subjektiven Rechts war aber bis 1878 nirgends zu finden, vielmehr herrschte die Savigny-Puchta’sche Vorstellung vom Recht als Willensmacht, das außer den Ansprüchen gegen andere auch bloße Befugnisse, wie das Genießendürfen und das Verfügenkönnen umfaßte41. Erst August Thon reduziert 1878 das subjektive Recht auf Ansprüche oder Anwartschaften auf Ansprüche42, Ernst Rudolf Bierling übernimmt 1883 diese Vorstellung43 und baut sie 1894 und 1898 in sein Schema der Rechtsnormen verschiedener Ordnung ein44. Durchgesetzt hat sich diese Verengung des Begriffs des subjektiven Rechts allerdings nicht45. (4) Schließlich mußte man auch dazu bereit sein, Verwaltungsakt 39
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S. etwa Gottfried Achenwall, Johann Stephan Pütter, Elementa iuris naturae (1750, neu hrsg. und übers. von Jan Schröder, Frankfurt/M. 1995), §§ 235 ff., 262 ff., 332 ff. (angeborene und erworbene Rechte), §§ 670, 672 (der Staat kann über diese Rechte disponieren); Kant, Metaphysik der Sitten I, S. 80 ff., 97 ff. sieht gleichfalls den Rechtserwerb als vorstaatlich an, wenn er im Naturzustand auch nur provisorisch und erst im Staat wirklich gesichert ist (72 ff.), ein Verzicht auf die „ganze Freiheit” ist auch im staatlichen Zustand ausgeschlossen (117). Reste der naturrechtlichen Vorstellungen finden sich noch bei Dernburg, Pandekten I, S. 88 und Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 252 mit Anm. 3. Die Auffassung, daß subjektive Rechte nur insoweit bestehen können, als die objektive Rechtsordnung sie gewährleistet, scheint im späten 19. Jahrhundert aber ganz herrschend gewesen zu sein, vgl. das Stintzing-Zitat bei Sibylle Hofer, Freiheit ohne Grenzen? Privatrechtstheoretische Diskussionen im 19. Jahrhundert, Tübingen 2001, S. 186 f. und die weiteren Nachweise dort S. 187 ff. v. Savigny, System I, S. 333; Puchta, Pandekten, § 29, S. 44 („eine rechtliche Macht über den Gegenstand“). Thon, Rechtsnorm und subjektives Recht, S. 218. Ernst Rudolf Bierling, Zur Kritik der juristischen Grundbegriffe, 2. Teil, Gotha 1883, S. 49 ff. Bierling, Prinzipienlehre. Vgl. auch schon Oskar Bülow, Dispositives Civilprozeßrecht und die verbindliche Kraft der Rechtsordnung, in: AcP 64 (1881), S. 1-109 (88 f. Anm.: der individuelle Wille ist ein „zur Rechtsnormirung bevollmächtigtes und mitwirkendes Organ des objectiven Rechts“), dazu S. Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, S. 202. Vgl. nur etwa Ludwig Raiser, Der Stand der Lehre vom subjektiven Recht im Deutschen Zivilrecht, in: JZ 1961, S. 465-473, 465.
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und Richterspruch als Erzeugung „konkreter“ und nicht nur als Anwendung abstrakter Normen anzuerkennen. Den Weg dazu hatte Oskar Bülow 1885 mit seiner berühmten Rede über „Gesetz und Richteramt“ gebahnt, wonach das Gesetz „nur der Entwurf einer zukünftigen, erwünschten Rechtsordnung“ ist und der Staat erst „mit den richterlichen Rechtsbestimmungen […]“ sein „letztes Wort“ spricht46. Welche Phänomene im Stufenbau des Rechts man „Gesetz“ nennt, ist zwar bis zu einem gewissen Grade beliebig. Aber es wäre wohl verwirrend und traditionswidrig gewesen, Rechtsnormen jeder Stufe, von der Verfassung bis zum Rechtsgeschäft und Richterspruch als „Gesetze“ zu bezeichnen. Der Gesetzesbegriff konnte in der Stufenbaulehre also nicht die Aufgabe haben, das Wesen des (geschriebenen) Rechts überhaupt (oben A) zu erfassen. Ebenso wenig konnte man ohne weiteres die staatsrechtliche Begriffsbildung übernehmen. Der Begriff des „nur formellen“ Gesetzes ohne Rechtsnormcharakter (oben B I) ist in der Stufenbaulehre funktionslos, denn das System des positiven Rechts besteht auf jeder Stufe, sei es die der legislativen, der rechtsgeschäftlichen, der exekutiven oder der richterlichen Normgebung, nur aus Rechtsnormen und niemals aus NichtRechtssätzen. Dementsprechend verzichten die Anhänger der Stufenbaulehre denn auch auf den Begriff des nur formellen Gesetzes oder halten ihn überhaupt für verfehlt. So erklärt Ernst Rudolf Bierling, er habe sich „bis jetzt noch nicht (sc. davon) zu überzeugen vermocht“, „dass es formelle Gesetze gebe, die überhaupt keine Normensetzung zum Inhalt hätten“47. Felix Somló bezeichnet den Ausdruck „formales Gesetz“ als „irreführend“, „denn es ist ein Nicht-Recht, es sind Sätze, die […] aus irgend einem Grunde zwischen Rechtsnormen eingestreut worden sind“48. Hans Kelsen nennt die Bezeichnung „Gesetz im formellen Sinn“ „vieldeutig“49. Es wäre „richtiger, statt von Gesetz im formellen und materiellen Sinne von Gesetzesform und Gesetzesinhalt zu sprechen“. Denn „um objektiv als Rechtsakt gedeutet zu werden“, ist es „nicht nur erforderlich […], daß der Akt in einem bestimmten Verfahren gesetzt werde, sondern auch, daß der Akt einen bestimmten subjektiven Sinn habe“ gemäß „der mit der Grundnorm vorausgesetzten Definition des Rechts“50. Und der, der Kelsen-Schule nahestehende Alf Ross, erklärt 1929 kurz, es falle „die übliche Unterscheidung zwischen Gesetz im formellen und im materiellen Sinne als rechtstheoretisch bedeutungslos dahin“51. Im übrigen folgen die Anhänger der Stufenbaulehre in der Regel der Tradition und verstehen das Gesetz als von der Legislative gesetzte Rechtsnorm, so daß das Gesetz im Stufenbau der Rechtsnormen zwischen Verfassung und Rechtsverord46 47 48 49 50 51
Bülow, Gesetz und Richteramt, S. 3, 7. Bierling, Prinzipienlehre II, S. 189 f. Somló, Grundlehre, S. 184. Kelsen, Reine Rechtslehre, S. 77. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960, S. 54. Dazu Roellecke, Der Begriff des positiven Gesetzes, S. 115. Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen. Ein Beitrag zur Theorie des positiven Rechts auf Grundlage dogmenhistorischer Untersuchungen, Leipzig und Wien 1929, S. 380. In der für die Stufenbau-Theorie wichtigen „Lehre von der Rechtskraft“ Adolf Merkls kommt der Begriff des Gesetzes im nur-formellen Sinn, soweit ich sehe, überhaupt nicht vor, vgl. vor allem S. 202 f., 212 f.
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nung steht: Gesetz ist eine „generelle Rechtsnorm in Gesetzesform“52. Aus der Stufenbauperspektive war es dann aber vielleicht noch konsequenter, das Gesetz ausschließlich durch seine Position im Stufenbau zu definieren, wie es Alf Ross tut: Gesetz ist so betrachtet „die Rechtsstufe, die sich unmittelbar auf die Verfassung gründet“, „Inbegriff der Normengruppe, die zu einer Ordnungsklasse gehören, die um 1 größer ist, als die der Verfassung“53. III. Der Gesetzesbegriff im Zivilrecht Noch weniger als die Rechtstheorie konnten die einzelnen Rechtsdisziplinen (außerhalb des Staatsrechts) mit dem Begriff des formellen Gesetzes anfangen. Die folgende Übersicht beschränkt sich auf einige wichtige Lehrwerke des Zivilrechts und der Einführungsliteratur: Geschriebene Quellen des Zivilrechts sind förmliche Gesetze, aber zuweilen auch Rechtsverordnungen54. „Nur formelle“ Gesetze kommen also hier, wie in der Stufenbaulehre, gar nicht in Betracht, aber auch nicht nur formell-materielle Gesetze. Die für das Zivilrecht maßgebende Definition des geschriebenen Rechts muß somit ganz im Sinne des (nur) materiellen Gesetzesbegriffs ausfallen. „Gesetz“ im Zivilrecht ist alles irgendwie „vom Staate gesetzte(s) Recht“, „Ausspruch des Staates, daß etwas Recht sein soll“, „Rechtssetzung des Staates“55. Gierke, Windscheid/Kipp und andere bemerken, daß ihr zivilrechtlicher Gesetzesbegriff sich (nur) mit dem staatsrechtlichen Begriff des materiellen Gesetzes decke56, und Friedrich Endemann betont ausdrücklich, daß „für das Recht des BGB“ der staats-
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Kelsen, Reine Rechtslehre, 1. Aufl., S. 77. Eine Stufenfolge von „Verfassung... Gesetz... Verordnung... Rechtsgeschäft“ hat auch Merkl, Die Lehre vom Wesen der Rechtskraft, S. 213, 287; ebenso legt Bierling, Prinzipienlehre II, S. 192 f., 198 einen formell-materiellen Gesetzesbegriff zu Grunde. Mehrere Gesetzesbegriffe dagegen bei Somló, Grundlehre, S. 348. Ross, Theorie der Rechtsquellen, S. 376 f. Wie etwa die kaiserliche Verordnung vom 27. 3. 1899 betreffend die Hauptmängel und Gewährfristen beim Viehhandel (RGBl. S. 219). In der Reihenfolge der Zitate: Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 128; Windscheid/Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, § 14, S. 72; Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts I, § 29 II 1 a, S. 68. In der Sache ebenso Otto Stobbe, Handbuch des Deutschen Privatrechts, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 1882, § 18, S. 122 (das „von der Staatsgewalt“ „ausdrücklich gesetzte und verkündigte Recht“); Regelsberger, Pandekten, S. 90 („Rechtsetzung der Staatsgewalt“); Dernburg, Pandekten I, § 23, S. 53 („das vom Staate gesetzte Recht“); Endemann, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, S. 30 („das von der verfassungsmäßig berufenen Staatsgewalt gesetzte Recht“); Johannes Biermann, Bürgerliches Recht, Bd. 1, Berlin 1908, S. 15 („staatliche Rechtsetzung“). Gierke, Deutsches Privatrecht I, S. 129; Windscheid/Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts, § 14, S. 72 Anm. 1 (Zusatz von Kipp). Auch Stobbe, Handbuch des Deutschen Privatrechts I, § 18 I 1, S. 124 (der aber fälschlich Verordnungen nicht als Gesetze im materiellen Sinne ansieht); Enneccerus, Lehrbuch des Bürgerlichen Rechts I, § 32 vor 1 und 4, S. 78 f.
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rechtliche Begriff des formellen Gesetzes „ohne Bedeutung“ sei57. Einige Autoren bedienen sich nicht einmal der staatsrechtlichen Terminologie und sprechen bei förmlichen Gesetzen von Gesetzen im „engeren“ und bei Verordnungen von Gesetzen im „weiteren“ Sinne58. Auch die Einführungsliteratur geht häufig nicht59 oder nur am Rande60 auf den staatsrechtlichen Gesetzesbegriff ein. Insgesamt ergibt sich der Eindruck, daß man in der Unterscheidung von Gesetz im formellen und im materiellen Sinne eine spezifisch staatsrechtliche Begriffsbildung sieht, die für das sonstige Recht nur mit Einschränkungen verwendbar ist.
C. Zusammenfassung Im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik existieren mindestens vier Gesetzesbegriffe nebeneinander. Im Kontext des allgemeinen Rechtsbegriffs ist Gesetz eine ausdrückliche Willensäußerung der Rechtsgemeinschaft. Im Staatsrecht wird die Lehre Paul Labands herrschend, nach der zwischen formellem (von der Legislative gesetztem) und materiellem Gesetz (jede Rechtsnorm) zu unterscheiden ist. Die rechtstheoretische Stufenbaulehre versteht unter Gesetz eine Rechtsnorm, die eine Stufe unter der Verfassung rangiert. Und im Zivilrecht ist Gesetz jeder geschriebene Rechtssatz. Die Begriffe spiegeln die rechtstheoretischen und politischen Gegebenheiten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts wider: Den Übergang vom naturrechtlichen und historischen Idealismus zu einem empirisch-positivistischen Rechtsverständnis, dem in seiner striktesten Fassung positives Recht aller Art als ein homogener Stufenbau von generellen und „konkreten“ Normen erscheint, und den Übergang vom Absolutismus zum gewaltenteilenden parlamentarischen Verfassungsstaat.
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Endemann, Lehrbuch des bürgerlichen Rechts, S. 30 Anm. 3. Biermann, Bürgerliches Recht I, 15 Anm. 1 sagt, „auf das Gesetz ‚in nur formellem Sinne’ braucht hier nicht eingegangen zu werden“; Regelsberger, Pandekten, S. 92 Anm. 7 läßt die Frage, ob es Gesetze im formellen Sinn gibt, offen. Regelsberger, Pandekten, S. 92; Karl Gareis, Rechtsenzyklopädie und Methodologie als Einleitung in die Rechtswissenschaft, 5. Aufl., mit Zusätzen von Leopold Wenger, Gießen 1920, S. 56 f. Die staatsrechtliche Unterscheidung kommt überhaupt nicht vor bei Hölder, Pandekten, S. 27 ff. Nicht gefunden habe ich die Unterscheidung zwischen formellem und materiellem Gesetz bei Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft; Otto Fischer, Einführung in die Wissenschaft von Recht und Staat. Für Gebildete aller Berufe, München 1920; Josef Kohler, Einführung in die Rechtswissenschaft, 6. Aufl. von Paul Oertmann und Richard Honig, Leipzig 1929. Bei Richard Schmidt, Einführung in die Rechtswissenschaft, kommt er erst im staatsrechtlichen Teil vor (S. 132); Hedemann, Einführung in die Rechtswissenschaft, S. 50 ff. geht nur beiläufig (53) auf das formelle Gesetz ein.
Heinrich Zöpfl (1807-1877) Eine Heidelberger Gelehrtenkarriere mit Hindernissen Klaus-Peter Schroeder
A. Querelen um die Nachfolge Karl Salomo Zachariaes von Lingenthal Am 27. März 1843 war in Heidelberg der über die Grenzen der Universitätsstadt hinaus bekannte Lehrer des Staats- und Kirchenrechts Karl Salomo Zachariae von Lingenthal im Alter von 73 Jahren verstorben. Merkwürdig berührt es, dass er sich testamentarisch die Teilnahme seiner Fakultätskollegen an der Beerdigung verbat. Vor dem Hintergrund, dass Zachariae zu den kuriosesten Persönlichkeiten zählte, die auf der bunten Schaubühne der Neckarstadt ihre Vorstellung gegeben hatten, mag man diese Verfügung seinem eigentümlichen Naturell zuschreiben.1 Im völligen Gegensatz zu dem mehr berüchtigten als berühmten Heidelberger Rechtsprofessor Karl Eduard Morstadt (1792-1850)2 lebte jedoch Zachariae in einem zwar distanzierten, aber auskömmlichen Verhältnis mit seinen übrigen Fakultätskollegen. Welche immense Wertschätzung er unter ihnen genoss, beweist deutlich ihre mühselige und schwierige Suche nach einem geeigneten Nachfolger: „Geheimer Rath Zachariae von Lingenthal repräsentierte in unserer Facultät die Fächer des allgemeinen und deutschen Staatsrechts, des Völkerrechts, des Naturrechts, des Lehnrechts und des Kirchenrechts. Einen Mann zu finden, der in all diesen Disciplinen die Stelle des Verstorbenen würdig einzunehmen und so die durch diesen Todesfall 1
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Die Persönlichkeit Zachariaes schildert Georg Weber, Heidelberger Erinnerungen, Stuttgart 1886, S. 170 ff.- Ausführlich zu seinem Leben und Werk Klaus-Peter Schroeder, „Aut Caesar, aut nihil“ – Der Heidelberger Rechtsprofessor Karl Salomo Zachariae von Lingenthal (1769-1843), in: Heinz-Peter Mansel (Hrsg.), Festschrift für Erik Jayme zum 70. Geburtstag, Bd. 2, München 2004, S.1735 ff. Zu Morstadt vgl. Georg Jellinek, Die Staatsrechtslehre und ihre Vertreter, in: Fritz Schöll (Hrsg.), Heidelberger Professoren aus dem 19. Jahrhundert – Festschrift der Universität zur Zentenarfeier ihrer Erneuerung durch Karl Friedrich, 1. Bd., Heidelberg 1903, S. 267 ff.; Wilfried Küper, Einige Nachrichten über den berüchtigten Heidelberger Professor Karl Eduard Morstadt (1792-1850), in: ders. (Hrsg.), Heidelberger Strafrechtslehrer im 19. und 20. Jahrhundert, Heidelberg 1986, S. 117 ff. – Detailreich zu Leben und Werk Karl Eduard Morstadts Hans Scherrer, Art. Morstadt, Karl Eduard, in: Historische Commission bei der königlichen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Allgemeine Deutsche Biographie, 22. Bd., Berlin 1970 (Nachdruck), S. 329 ff.; Weber, Erinnerungen, S. 229 ff.
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Klaus-Peter Schroeder herbeigeführte schmerzliche Lücke ganz und vollständig zu füllen im Stande wäre, ist unmöglich“.3
Bereits ein Jahr vor dem Tode Zachariaes, im April 1842, hatten sich die verantwortlichen Beamten im Karlsruher Ministerium des Inneren den Kopf darüber zerbrochen, welche Persönlichkeit ihn gegebenenfalls ersetzen könne: „Das hohe Alter […] und insbesondere der Umstand, daß die Kräfte desselben [sc. Zachariae] in jüngster Zeit sehr abgenommen haben, er immer hinfälliger wird und fast mit Gewißheit vorausgesehen werden kann, daß er in kurzer Zeit nicht mehr im Stande seyn wird, Vorlesungen zu halten, macht es nothwendig, jetzt schon an den Ersatz für ihn um so mehr zu denken, als die Gelehrten, welche sich an die Seite des Geheimen Raths Zachariae stellen können, selten sind, und daher die Berufung eines ausgezeichneten Gelehrten, welche schon von der Erhaltung des guten Rufs, in welchem seit einer langen Reihe von Jahren die Universität Heidelberg steht, dictirt ist, mit Schwierigkeiten mancher Art verbunden ist. Wir halten jedenfalls die Berufung eines ausgezeichneten Gelehrten an die Stelle des Geheimen Raths Zachariae geboten […]“.4
Ungewöhnlich war dieser Vorstoß des Ministeriums gewiss, denn es entsprach keineswegs akademischer Etikette, so lange noch ein Lehrstuhlinhaber auf dem Katheder stand, über dessen Nachfolger zu sinnieren. Anlass für die Karlsruher Initiative gab aber das Verhalten des Freiburger Rechtsprofessors Leopold August Warnkönig.5 Warnkönig, seit 1836 Nachfolger Rottecks auf dessen Lehrstuhl, strebte mit allen Mitteln den Wechsel nach Heidelberg an;6 in der Neckarstadt hoffte er, einen „größeren und kräftigeren Wirkungskreise“ vorzufinden.7 Unverfroren schlug er daher den zuständigen Karlsruher Beamten in einem Schreiben vom 5. 12. 1841 vor, Heinrich Zöpfl für das Fach Kriminalrecht nach Freiburg 3 4
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Schreiben vom 10. 5. 1843 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 235/3117 fol. 111 f.). Generallandesarchiv Karlsruhe, 235/3117 fol. 98. – Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, dass Zachariae mit seinen konservativen, bisweilen reaktionären Ansichten auch am Karlsruher Hof ein gern gesehener Gast war : „Bei dem Großherzog Ludwig stand nur ein Heidelberger Professor in Gunst und Ansehen – Karl Salomon Zachariae“, so Weber, Erinnerungen, S. 170. Zu Warnkönig vgl. Gisela Wild, Leopold August Warnkönig. 1794-1866. Ein Rechtslehrer zwischen Naturrecht und historischer Rechtsschule und ein Vermittler deutschen Geistes in Westeuropa, Karlsruhe 1961; Friedrich v. Weech, Art. Warnkönig, in: Friedrich v. Weech (Hrsg.), Badische Biographien, 2. Ausgabe, 2. Theil, Karlsruhe 1881, S. 425 f.; v. Schulte, Art. Warnkönig, in: Allgemeine Deutsche Biographie, 41. Bd., Berlin 1971 (Nachdruck), S. 177 f.; Julius Federer, Beiträge zur Geschichte des Badischen Landrechts, in: Karl Siegfried Bader (Hrsg.), Baden im 19. und 20. Jahrhundert – Verfassungs- und verwaltungsgeschichtliche Studien, Karlsruhe 1947, S. 165 ff. v. Schulte, in: Allgemeine Deutsche Biographie, S. 177 ff., teilt mit, dass Warnkönig für eine kurze Zeitspanne (1817) als Privatdozent in Heidelberg gelehrt habe, ein Befund, der sich jedoch nicht nachweisen lässt (vgl. nur die gründliche Studie von Petra Emundts-Trill, Die Privatdozenten und Extraordinarien der Universität Heidelberg 1803-1860, Frankfurt/M. 1997). – Zu Warnkönig als Mitbegründer der belgischen und französischen Rechtsgeschichte vgl. insb. Federer, in: Bader, Baden, S. 165. Zit. nach Wild, Warnkönig, S. 35.
Heinrich Zöpfl (1807-1877)
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und ihn – Warnkönig – „im Tausch“ nach Heidelberg zu versetzen; ohne längeres Nachdenken lehnte die Heidelberger Fakultät, vorgewarnt von den Freiburger Kollegen, dieses Ansinnen unter dem 25. 1. 1842 schroff ab. Sie sah sich aber nunmehr aufgefordert, eigene Aktivitäten zu entfalten, um das Heft hinsichtlich einer Nachfolge Zachariaes in den Händen zu behalten. Daher unterbreitete man dem Innenministerium den Vorschlag, „Geheimen Hofrath Professor Albrecht zu Leipzig […] als Professor des Staats- Lehen und Kirchen Rechts“ zu berufen; ohne größere Debatten stimmte Karlsruhe am 12. 5. 1842 zu8. Auf Bitten des federführenden Innenministeriums unternahm es Karl Adolf Vangerow in seiner Eigenschaft als Dekan bei Professor Wilhelm Eduard Albrecht nachzufragen, „ob und unter welchen Bedingungen er bereit sey, einen Ruf nach Heidelberg anzunehmen.“9 In der Tat wäre der Leipziger Rechtsgelehrte ein „Aushängeschild“ für die Universität gewesen. Seine 1828 erschienene Monographie „Die Gewere als Grundlage des älteren deutschen Sachenrechts“ zählt zu den bahnbrechenden germanistischen Abhandlungen aus der Zeit der historischen Rechtsschule. Erhebliches Aufsehen erregte in der Gelehrtenwelt aber seine epochemachende Besprechung der „Grundsätze des heutigen deutschen Staatsrechts“ Romeo Maurenbrechers;10 bekannt wurde er der größeren Öffentlichkeit als einer der „Göttinger Sieben“, welche 1837 ihr Amt durch einen spektakulären Akt der hannoverschen Regierung verloren hatten. Vangerows Vorstoß bei Albrecht verlief – wie nicht anders zu erwarten stand – ergebnislos; nach Karlsruhe berichtete er völlig desillusioniert Ende Juni 1842, „daß der Versuch, Albrecht für Heidelberg zu gewinnen, gänzlich gescheitert ist“.11 Eine Anfrage bei Robert Mohl in Tübingen – wie von Karl Joseph Anton Mittermaier angeregt – hielt er für nur wenig Erfolg versprechend, stand dieser doch unmittelbar vor einer ausgedehnten Studienreise nach Italien, wo „er gegen 4 Monate zu verweilen gedenkt“.12 Parallel zu den erheblichen Schwierigkeiten, einen adäquaten Ersatz für Zachariae zu gewinnen, musste sich die Fakultät auf Ersuchen des engeren akademischen Senats zu der Absicht des Innenministeriums äußern, „die beiden Professoren Morstadt und Zoepfl zur Ernennung als ordentliche Professoren höchsten Orts unterthänigst in Antrag zu bringen“.13 Mit Verve lehnte die juristische Fakultät 8
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Generallandesarchiv Karlsruhe, 235/3117 fol. 99; teilweise abweichende Zeitangaben bei Hermann Weisert, Die Verfassung der Universität Heidelberg im 19. Jahrhundert, in: Ruperto-Carola, 85. Bd. (1992), S. 99 ff., 105. Albrecht (1800-1876) war Nachfolger Eichhorns in Göttingen (1829); 1840 folgte er dem Ruf als Professor für deutsches Recht an die Leipziger Juristenfakultät (vgl. zu ihm Herbert Schönebaum, Art. Albrecht, in: Historische Kommission bei der Baye-rischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Neue Deutsche Biographie, 1. Bd., Berlin 1953, S. 185 f.). Vgl. Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, 2. Bd., München 1992, S. 90 f. Schreiben vom 25. 6. 1842 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 235/3117 fol. 103). Schreiben vom 25. 6. 1842 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 235/3117 fol. 103). Reskript des Innenministeriums vom 1. 4. 1842 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 235/3117 fol. 101).
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dieses Vorhaben ab: „Dagegen sind wir einstimmig der Meinung, daß die mehrerwähnten beiden außerordentlichen Professoren sich bis jetzt noch nicht zu ordentlichen Professoren der ersten Klasse oder zur Theilnahme an den Sitzungen der Facultät qualificirt haben“.14 Hartnäckig hielt man an der seit 1821 geübten Praxis fest, zwischen zwei „Arten von ordentlichen Professoren“ zu unterscheiden: „Erstens solche, die alle Rechte eines ordentlichen Professors haben und zweitens solche, denen nur gewisse Rechte eines ordentlichen Professors zustehen, die also namentlich von dem Rechte ausgeschlossen sind, an den Sitzungen der Facultät z. B. was Doctor-Examina betrifft, theil zu nehmen“.15 Den Hintergrund für diese Differenzierung bildete die Vorschrift Art. III Nr. 23 des 13. Organisationsedikts vom 13. 5. 1803, nach welcher die Zahl der ordentlichen Nominallehrstühle auf fünf festgelegt war, was durch die Ministerialverfügung vom 10. 3. 1823 noch einmal ausdrücklich bestätigt wurde. 16 Sie bildeten die sog. „Promotionsfakultät“, die mit den Professoren der „ersten Klasse“ besetzt war.17 Als zum Entsetzen der Fakultät Großherzog Ludwig am 11. 10. 1821 die außerordentlichen Professoren Georg Friedrich Walch, Daniel Heinrich Willy und Sigmund Zimmern zu Ordinarien ernannte, lehnte sie einmütig deren Aufnahme in die Promotionsfakultät ab. Nach dem Tode Johann Caspar Genslers 1821, dessen Lehrstuhl nicht mehr besetzt wurde, verengte sich die Fakultät gar auf die „ungesetzliche“ Zahl von vier Ordinarien „pleno jure“.18 Zwar blieb auch Morstadt und Zöpfl nach ihrer am 4. 11. 1842 erfolgten Ernennung zu ordentlichen Professoren der Eintritt in die Examensfakultät verwehrt, sie konnten aber – abgesehen von den einträg-
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Unter dem 30. 4. 1842 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/3117 fol. 101). Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/3117 fol. 101 ff. „Die Regierung hat sich aber vorbehalten, auch mehr Mitglieder zu ernennen; diese überzähligen Mitglieder sollen alle Rechte der übrigen ordentlichen Professoren haben, nur sollen sie nicht nothwendig auch an den durch die Fakultät vorzunehmenden Prüfungen als welches Recht im Allgemeinen den Nominalprofessoren allein zusteht, theil nehmen, jedoch hat sich die Regierung auch in dieser Beziehung vorbehalten, nach Gutfinden Ausnahmen eintreten zu lassen“ (Generallandesarchiv Karlsruhe, 235/3117 fol. 102); in einer Anmerkung unter dem 6. 6. 1842 heißt es: „Wenn die Berufung Albrechts realisiert wird, so sind fünf ordentliche Professoren angestellt und die Professoren Morstadt und Zöpfl sind dann überzählig“ (Generallandesarchiv Karlsruhe, 235/3117 fol. 102). – Die Bestimmungen des 13. Organisationsedikts sind leicht zugänglich bei Georg Jellinek (Hrsg.), Gesetze und Verordnungen der Universität Heidelberg, Heidelberg 1908, S. 3 ff. Vgl. hierzu insbesondere den Erlaß zur Festsetzung der Zahl der Lehrstühle vom 9. 4 1823: „Bey künftigen Anstellungen sollen die Lehrstühle […] durch bestimmte sogenannte Nominal-Professoren besetzt werden, so daß dieselben zwar die Pflicht haben, für das ihnen anvertraute Lehramt zu sorgen, keineswegs aber berechtigt sind, andere Lehrer von dem Lesen über dieselben Fächer oder gewisse Theile daraus abzuhalten“ (Universitätsarchiv Heidelberg – UAH –, H-II-111/16 fol. 102 f.) und Hermann Weisert, Verfassung der Universität Heidelberg im 19. Jahrhundert, in: Ruperto-Carola, 83./84. Bd. (1991), S. 121 ff., 127 ff. S. nur Weisert, in: Ruperto-Carola, 83./84. Bd. (1991), S. 121 ff., 128.
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lichen Promotionsprüfungen – an den übrigen Fakultätsgeschäften teilnehmen.19 Gescheitert war damit die Fakultät mit ihrem Vorhaben, „Morstadt und Zoepfl blos als ordentliche Professoren der zweiten Klasse in Antrag zu bringen, also das Recht, an den Sitzungen der Facultät theil zu nehmen, bei der Beförderung der beiden Professoren ausdrücklich auszunehmen“.20 Übergangen hatte man in Karlsruhe gleichfalls die abwertende Anmerkung der Fakultät, dass sich „Professor Zoepfl (wenn wir auch den Eifer desselben, da er fast über alle Theile der Rechtswissenschaft Vorlesungen gehalten hat, ein günstiges Zeugnis nicht versagen wollen,) hat sich dennoch nicht einen Anspruch erworben, in die Facultät als Mitglied mit allen Rechten der ordentlichen Professoren erster Klasse aufgenommen zu werden“.21 Ausschlaggebend für die wohlwollende Haltung des Ministeriums gegenüber Zöpfl war das Bemühen der Universität Jena, ihn für die Salana zu gewinnen; aufmerksam hatte man dies in Karlsruhe Anfang Juni 1841 notiert und ihm sein Verbleiben an der Heidelberger alma mater bei Gelegenheit der Ernennung zum ordentlichen Professor (2. Klasse) mit einer Anhebung des Salärs auf 900 fl. honoriert.22 Nach dem Tode Zachariaes am 27. 3. 1843 sah Zöpfl den Augenblick gekommen, sich offiziell um dessen Nachfolge zu bewerben. In einer Eingabe an das Innenministerium vom 10.4.1843 bat er „um die Uebertragung einer Nominalprofessur und Aufnahme in die Promotionsfakultät“.23 Schon lange hatte man auch in Karlsruhe erwogen, Zöpfl den Lehrstuhl Zachariaes anzuvertrauen, da es nach dessen Ableben schwierig sein werde, „sofort einen ausgezeichneteren Ersatzmann zu finden, als Professor Zoepfl zu seyn scheint.“24 Die Fakultät unter ihrem Dekan Vangerow nahm dies zum Anlass, dem Karlsruher Ministerium ihre Vorstellungen über eine Besetzung des verwaisten Lehrstuhls ausführlichst vorzutragen: Als nahezu unmöglich sah man es an, „einen Mann zu finden“, der die gesamte Breite des Lehrangebots von Zachariae abzudecken vermag. Von größter Bedeutung sei es aber, jemanden zu gewinnen, der wenigstens in den „Hauptfächern“ Staats- und Kirchenrecht „Ausgezeichnetes“ leistet – von Zoepfl könne man dies nicht sagen. Erneut rekurrierte man auf Albrecht aus Leipzig, der „doch als Lehrer des Staats- und Kirchenrechts einen so ausgezeichneten Namen (sc. 19
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„Seine Königliche Hoheit der Großherzog haben auf den unterthänigsten Vortrag Ihres Ministeriums des Innern vom 29. August […] die ausserordentlichen Professoren Dr. Morstadt und Dr. Zöpfl zu Heidelberg zu ordentlichen Professoren mit der im § 3. der Verordnung vom 10. März 1823 erwähnten Einschränkung: daß sie zur Zeit keinen Theil an der von der Facultät vorzunehmenden Prüfungen zu nehmen haben, huldreichst zu ernennen“ (Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/3117 fol. 108). Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/3117 fol. 101 f. Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/3117 fol. 101 f. Vgl. Schreiben vom 8. 6. 1841: „[…] geht die Großherzoglich Sachsen Weimarische Regierung mit der Absicht um, an den Professor Dr. Heinrich Zöpfl zu Heidelberg einen Ruf nach Jena ergehen zu lassen“ (Generallandesarchiv Karlsruhe, 205/590); Weisert, in: Ruperto-Carola, 85. Bd. (1992), S. 99 ff., 105. Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/3117 fol. 110. Zit. nach einem undatierten, an Staatsminister Freiherr von Blittersdorff gerichteten Schreiben (Generallandesarchiv Karlsruhe, 205/90).
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besitzt), daß wir in seiner Berufung den genügendsten Ersatz für den großen erlittenen Verlust zu finden hoffen dürften“. Man sollte – trotz seiner früheren Absage – noch einmal Kontakt mit ihm aufnehmen, da sich „die Umstände wesentlich durch den Tod des Geheimenrath Zachariae von Lingenthal geändert haben“.25 Ferner benannte man „Geheimen Oberrevisionsrath“ August Wilhelm Heffter aus Berlin, freilich machte man sich wenig Hoffnungen, ihn gewinnen zu können, da seine Stellung in der preussischen Hauptstadt „unseres Wissens derartig ist, daß er sehr wahrscheinlich jeden Ruf an eine andere Universität entschieden ablehnen wird“.26 Die dritte Position innerhalb der fakultätsinternen „Wunschliste“ nimmt Andreas Ludwig Jakob Michelsen ein, Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Jena: „Dieses sind die Männer, die wir dem hohen Ministerium empfehlen zu können glauben, wenn Hochdasselbe Willens sein sollte, einen Mann zu berufen, der die beiden vom verstorbenen Geheimrath Zachariae von Lingenthal vorgetragenen Hauptfächer zu vertreten bestimmt ist“.
Da aber die Wahrscheinlichkeit gering war, dass nur einer von ihnen dem Ruf nach Heidelberg folgt, führt die Fakultät weitere Kandidaten auf, wobei sie zu erwägen gibt, „ob es nicht wünschenswerth sein dürfte, zwei Berufungen, die eine für Staats-, die andere für Kirchen-Recht, vorzunehmen“: benannt werden der Göttinger Staatsrechtslehrer Heinrich Albert Zachariae27, Professor Robert Mohl in Tübingen, die Kirchenrechtler Heinrich Friedrich Jacobson (Königsberg) und Aemilius Ludwig Richter, ordentlicher Professor in Marburg: „Sollte nun aber weder ein Mann berufen werden können, der die beiden Fächer, das Staats- und Kirchen-Recht vereinigt repräsentirt, noch auf eine Berufung zweier Gelehrter für diese beiden verschiedenen Fächer thunlich sein […] so würde nichts übrig bleiben, als eines dieser beiden Fächer durch Kräfte, die sich schon gegenwärtig in der Facultät vorfinden, als genügend vertreten anzunehmen, und für das andere Fach durch Berufung eines auswärtigen Gelehrten Vorsorge zu treffen“.28
Erst in diesem Zusammenhang erwähnt die Fakultät ihr Mitglied Heinrich Zoepfl, „der seit einer Reihe von Jahren vor zahlreichen und immer mehr anwachsenden Auditorien über allgemeines sowohl wie über deutsches Staatsrecht regelmäßige Vorträge hält und der auch ein Lehrbuch über Staatsrecht geschrieben hat, welches
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Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/3117 fol. 112. Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/3117 fol. 112. Zu der weitverzweigten Gelehrtenfamilie Zachariae vgl. Dagmar Bandemer, Heinrich Albert Zachariae – Rechtsdenken zwischen Restauration und Reformation, Frankfurt/M. 1985, S. 1 ff. Bei den Beratungen innerhalb des Engeren Senats über die Nachfolge Zachariaes wurde nachdrücklich darauf hingewiesen, dass „das hohe Ministerium möge auch noch Rücksicht nehmen auf die bedeutende Zahl der aus allen Theilen von Deutschland in diesem Semester angekommenen juristischen Studierenden und auf die nächsten Bedürfnisse derselben.“ (Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/3117 fol. 110 f.).
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in kurzer Zeit zum zweitenmale abgedruckt werden musste“.29 Darüber hinaus könne durch eigene Fakultätsmitglieder sowohl das Gebiet des katholischen (Professor Franz Eugen Roßhirt) wie auch des protestantischen Kirchenrechts (Professor Eduard Morstadt, Privatdozenten Robert Sachsse und Ludwig Frey) abgedeckt werden: „Ob nun nach dieser Sachlage die Vocation eines Publicisten oder eines protestantischen Kanonisten am wünschenswerthesten sei, das müssen wir […] dem Ermessen des hohen Ministeriums überlassen“.
Taktisch klug agierend war die Fakultät damit dem Gesuch Zöpfls ausgewichen, ihm die Nominalprofessur Zachariaes zu übertragen. Nunmehr – so Vangerow als Dekan der Fakultät in seiner ausführlichen Stellungnahme –, hänge alles davon ab, „welches die Entschließungen des hohen Ministeriums in betreff der verschiedenen von uns gemachten Vorschläge sein und welchen Erfolg diese Entschließungen haben werden. Erst dann ist die Bestimmung der Fächer möglich, welche als Nominalfächer dem Professor Zoepfl zuzuweisen sein dürften, und erst dann kann auch die Facultät ihre Ansicht darüber feststellen, ob Professor Zoepfl zur Theilnahme an den Facultäts Prüfungen vorzuschlagen sein möchte, denn darin sind wir durchaus einverstanden, daß die statutenmäßige Zahl von fünf Mitgliedern der Promotions Facultät ohne wesentliche Inkonvenienzien und Nachtheile nicht überschritten werden dürfte“30.
Der ungeliebte „Schwarze Peter“ lag nun wieder in den Händen der Karlsruher Ministerialbürokratie, die sich redlich darum bemühte, einen der genannten Kandidaten für Heidelberg zu gewinnen. Sämtliche „Anläufe“ verliefen jedoch ergebnislos: Albrecht dachte nicht daran, Leipzig zu verlassen, der Berliner Heffter war für Baden mit einem Salär in Höhe von 4200 fl. viel zu kostspielig. Zöpfl aber hatte vor wenigen Wochen einen Ruf nach Dorpat erhalten und bat mit gestärktem Selbstbewusstsein erneut um Übertragung der Nominalfächer, Zulassung zu den Fakultätsprüfungen, Erteilung des Hofratstitels und um eine Erhöhung seiner Bezüge auf 1200 fl.31 Nunmehr zeigte sich das – ohnehin ihm zuneigende – Ministerium grundsätzlich dazu bereit, Zöpfl die staatsrechtlichen Fächer zu übertragen und für das Kirchenrecht einen „evangelischen Lehrer“ in Gestalt des Berliner „Professor extraordinarius designatus“ Friedrich Wilhelm Röstell zu gewinnen. Ein kluger Schachzug Karlsruhes gegenüber der Zöpfl negativ eingestellten Fakultät bildete die nochmalige Anfrage bei Heffter, ob er sich nicht doch dazu entschließen könne, die „Lehrkanzel Zachariaes“ zu übernehmen; aber Heffter lehnte endgültig das Heidelberger Angebot ab.32 Handlungsbedarf war nun geboten. Wiederum ging die Initiative vom Ministerium aus, das unter dem 2. 1. 1844 der Fakultät den Vorschlag unterbreitete, Zöpfl von den Kollegs über badisches Recht 29 30 31 32
Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/3117 fol. 115. Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/3117 fol. 116. Vgl. Weisert, in: Ruperto-Carola, 85. Bd. (1992), S. 99 ff., 105. Ministerium des Innern vom 1. 8. 1843 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/3117 fol. 118).
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zu entbinden und ihm in der Nachfolge Zachariaes „das allgemeine und deutsche Staatsrecht, das Naturrecht, die deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, das Völkerrecht und das Lehenrecht“ zu übertragen; auch Morstadt vergaß man nicht, ihm sollte das Kirchenrecht gleichfalls als Nominalfach überantwortet werden.33 Aber bei der Fakultät stieß man erneut auf Granit. Von keiner Schwäche angekränkelt erklärten Mittermaier, Vangerow und Roßhirt im Namen der Fakultät: „Vorerst können sie den Gedanken nicht unterdrücken, daß es höchst bedenklich wäre, wenn die Stelle eines so ausgezeichneten Rechtslehrers, wie der verstorbene Geheime Rath Zachariae war, nicht durch eine neue, die Intelligenz der Facultät erhebende Kraft ersetzt werden sollte. Die Facultät ist um einen bedeutenden Namen ärmer, und es kömmt nicht darauf an, daß die einzelnen Fächer gelesen werden, als vielmehr darauf, daß in jedem einzelnen Fache an unserer von ganz Deutschland, ja auch von anderen Ländern besuchten Facultät durch Genialität und Gründlichkeit, Uebung und Fähigkeit sogar in der Concurrenz mehrerer Lehrer in diesen oft verschiedenartig vertheilten Kräften der Unterricht ertheilt werde“.34
Letztlich kehrte man aber wieder auf die alte Vorschlagsliste zurück: Mohl, Albrecht und Michelsen. Freilich wusste man aus den bereits vergeblich unternommenen Anläufen, dass keiner unter ihnen an Heidelberg interessiert ist; daher wurde einmütig beschlossen, dem Karlsruher Ministerium eine weitere, nach Meinung der drei Fakultätsmitglieder äußerst attraktive Perspektive zu eröffnen: „Sehnlich“ wünsche die Fakultät, „daß ihr und dem staatsrechtlich-politischen Studium, welches auf diese Weise in seiner früheren Blüthe erhalten werden dürfte, von einer anderen Seite Rechnung getragen werde. Die Facultät erlaubt sich daher den Vorschlag zu machen, den Professor Dahlmann in Bonn, welcher daselbst mit entschiedenem Beifall die Politik und die Geschichte der Staatswissenschaften vorträgt, in die philosophische Facultät zu berufen, weil gerade diese Berufung der juristischen Facultät von großem Nutzen seyn würde.“35 Sollte er die Vocation an die Philosophische Fakultät annehmen, so würde man es sich „gerne gefallen lassen, daß sowohl Professor Morstadt wie Professor Zoepfl in die Examinations Facultät aufgenommen werden.“ Der Protest der Philosophischen Fakultät über diese Anmaßung, welche „gegen die bisherige Praxis“ sei, ließ nicht lange auf sich warten. Offen bezichtigte man die Juristenfakultät, sich rechtswidrig verhalten und die Ehre ihrer philosophischen Kollegen schwer gekränkt zu haben. Mit fadenscheinigen Argumenten versuchte Dekan Roßhirt die Vorwürfe auszuräumen. Er verwies darauf, dass die Philosophische Fakultät „die Bestimmung hat, allen anderen Fakultäten aus ihrer allgemeinen Bedeutung behilflich zu sein. Wie billig aber die juristische Fakultät in ihrer speciellen Richtung ist, beweist allein der Umstand, daß sie Angehörigen der philosophischen Facultät sogar unter dem Titel Rechtswissenschaften Ankündigungen zu machen erlaubt“. Sie
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S. insb. Weisert, in: Ruperto-Carola, 85. Bd. (1992), S. 99 ff., 105 f. Beschluß der Heidelberger Juristen Facultät vom 21. 1. 1844 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/3117 fol. 133 ff.). Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/3117 fol. 135.
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habe daher keinerlei Ursache, „der Juristenfakultät auf direktem oder indirektem Wege Vorwürfe zu machen.“ Vehement sträubte man sich aber weiterhin, den beiden Professoren Zöpfl und Morstadt ein „besonderes Nominalfach“ zu übertragen, damit „dem hohen Ministerium jede Ergänzung und Berufung für die Zukunft frey bleibe“. Karlsruhe war aber der Querelen um die Besetzung der Lehrkanzel von Zachariae endgültig überdrüssig. Ohne Rücksichtnahme auf die Fakultät „geruhte gnädigst“ der Großherzog am 25. 4. 1844, dem „Professor Zöpfl das allgemeine und deutsche Staatsrecht, das Naturrecht, die deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, das Völkerrecht und das Lehenrecht als Nominalfächer mit dem Anfügen zuzuweisen, daß er künftighin an den von der juristischen Facultät vorzunehmenden Prüfungen Antheil zu nehmen habe“.36 Gleichzeitig befreite man Zöpfl von der Verpflichtung, „Vorträge über das badische Recht“ zu halten und gewährte ihm außerdem eine Zulage in Höhe von 300 fl., so dass sich vom 1. April an sein Salär auf insgesamt 1200 fl. jährlich belief. Ihren vernünftigen und für Heinrich Zöpfl schließlich befriedigenden Abschluss hatte damit eine scheinbar „unendliche Geschichte“ gefunden. Nunmehr war er vollberechtigtes Mitglied der weltweit hoch angesehenen Heidelberger Juristenfakultät, zu deren Ruhm er gleichfalls beitragen sollte.
B. Studium, Promotion und Habilitation Ende Mai 1828 erreicht das badische Innenministerium die „unterthänigste Bitte des Dr. der Rechte Heinrich Zöpfl“, ihn als Privatdozent an der großherzoglichen Universität Heidelberg „anzunehmen“. Aus dem beigefügten Lebenslauf ergibt sich, dass er am 6. 4. 1807 in Bamberg als Sohn des Gerichtsrats Johann Baptist Zöpfl und seiner Ehefrau Catharina geboren wurde.37 Mit der Ernennung des Vaters zum Oberappellationsrat übersiedelte die Familie in die bayerische Residenzstadt München, um dann aber nach seiner Pensionierung wieder in die altberühmte Bischofsstadt an der Regnitz zurückzukehren. Hier besuchte Heinrich Zöpfl das königliche Gymnasium, welches ihm ein glänzendes Abgangszeugnis ausstellt; seine Lehrer bescheinigen Zöpfl „für vorzüglich würdig […] zum Uebertritt an ein Lyceum oder an eine Universität“.38 Zunächst studierte er auf dem Bamberger Lyceum im Wintersemester 1823/24 Philosophie, bezog im April 1824 die Königlich-bayerische Universität Würzburg, um sich im Fach Rechtswissenschaft einzuschreiben. Weniger als einhundert Jurastudenten zählte damals die Fakultät, deren 36
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Generallandesarchiv Karlsruhe, 233/3117 fol. 153. – Zu Dahlmann und den Göttinger Sieben vgl. Adalbert Erler, Art. Göttinger Sieben, in: ders./Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, 1. Bd., Berlin 1971, Sp. 1773 ff. Vgl. die Angaben bei Dagmar Drüll, Heidelberger Gelehrtenlexikon 1803-1932, Heidelberg 1986, S. 311 f.; Hermann Strauch, Art. Zoepfl, in: Friedrich v. Weech (Hrsg.), Badische Biographien, 4. Theil, Karlsruhe 1891, S. 207 ff.; Arthur Kleinschmidt, Art. Heinrich Zoepfl, in: Illustrirte Zeitung Nr. 1780, Leipzig 11. 8. 1877, S. 108 ff. Unter dem 13. 9. 1823 (Universitätsbibliothek Heidelberg – UBH –, Heid.Hs. 1924).
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Lehrkörper chronisch unterbesetzt war.39 Trotz miserabler Studienbedingungen verblieb Zöpfl in Würzburg bis zu seiner am 28. 8. 1827 erfolgten Promotion zum „Doktor beider Rechte […] nach vorgängigem schriftlichen und mündlichen Examen durch öffentliche Vertheidigung von Thesen“ und der Ausarbeitung einer Dissertation zu dem Thema „Vergleichung der römischen Tutel und Cura mit der heutigen Vormundschaft über Unmündige und Minderjährige“.40 Kurz danach immatrikulierte sich Zöpfl für das Wintersemester 1827/28 an der Hohen Schule zu Heidelberg; er belegte Vorlesungen bei Thibaut, Zachariae und Mittermaier, die nur wenige Jahre später zu seinen Fakultätskollegen zählen sollten.41 Zunächst aber musste das badische Innenministerium seinem Gesuch entsprechen, „an der großherzoglichen Universität Heidelberg Privat-Vorlesungen halten zu dürfen“.42 Bereit war er ebenso, „alle Bedingungen zu erfüllen, an welche die Annahme als Privatdocent […] geknüpft ist“.43 Dies fiel ihm umso leichter, als er von den zuständigen bayerischen Behörden „zu den Verrichtungen des Militair-Dienstes“ als gänzlich ungeeignet befunden wurde und man ihn „aus der Militairpflichtigkeit völlig“ entlassen hatte.44 In Karlsruhe trug man keine Bedenken, der Bitte Zöpfls zu entsprechen; auch die Heidelberger Fakultät und der Engere akademische Senat befürworteten sein Vorhaben.45 Bereits am 17. 8. 1828 konnte er sich mit der Untersuchung über die „Tutela mulierum germanica“ habilitieren.46 Nicht zu erwarten stand, dass er bis zu seinem Tode im Jahre 1877, also über einen Zeitraum von nahezu 50 Jahre hinweg, der Ruperto-Carola zu Heidelberg in Treue verbunden blieb.
C. Das Purgatorium eines Heidelberger Rechtsgelehrten Ganze zehn Jahre nach seiner Habilitation wird Zöpfl am 8. 11. 1838 endlich zum „Professor Extraordinarius“ ernannt;47 zwei Jahre später konnte er glücklich be39 40
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Vgl. Andreas Röpke, Die Würzburger Juristenfakultät von 1815 bis 1914, Würzburg 2001, S. 95, 107 f. Die Arbeit erschien im Druck 1828 zu Bamberg. – Als Einleitung der Defension trug Zöpfl im juristischen Hörsaal der Würzburger Universität ein Referat zu dem Thema „Gibt es ein Begnadigungsrecht?“ vor (UBH, Heid.Hs. 1941). Vgl. in diesem Zusammenhang sein an das badische Innenministerium gerichtete Schreiben vom 26. 5. 1828 (UAH, PA 2492). Vgl. Schreiben vom 26. 5. 1828 (UAH, PA 2492). Schreiben vom 26. 5. 1828 (UAH, PA 2492). Interessant sind die Angaben in dem „Entlassungsschein“ vom 29. 7. 1828 : „Grösse: 6 Schuh; Gesicht: voll; Gesichtsfarbe: gesund; Körperbau: untersetzt“ (UBH, Heid. Hs. 1924). Vgl. Generallandesarchiv Karlsruhe, 205/590 (31. 5. und 17. 6. 1828). S. hierzu die Statuten der Universität Heidelberg vom 9. 12. 1805, Kap. IV: „Über die Habilitation der Privat-Lehrer, deren Pflichten und Rechte.“ Vgl. auch das Schreiben vom 12. 6. 1836 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 205/590): „Es sind bereits acht Jahre verflossen, seit ich in die Zahl der hiesigen Privatdocenten aufgenommen worden bin. Sollte ich nicht so glücklich sein, von hochpreislichem
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richten, dass er am Samstag, dem 13. 6. 1840, „um 11 Uhr in der Aula seine Antrittsrede gehalten“ habe.48 Überwältigend ist die Fülle des Kanons juristischer Disziplinen, den Zöpfl von dem Beginn seiner Lehrtätigkeit an im Rahmen von Vorlesungen zu bewältigen suchte: Rechtsenzyklopädie, Kirchenrecht, preußisches Zivilprozessrecht, Strafrecht, allgemeines und deutsches Staatsrecht, Lehenrecht, Rechtsphilosophie und Völkerrecht. Schon im Sommersemester 1833 hatte er auf ausdrücklichen Wunsch der Fakultät auch den „Vortrag der deutschen Reichs- und Rechtsgeschichte, welcher für die inländischen Studenten als so genanntes Zwangscollegium vorgeschrieben ist“, übernommen.49 Damit war für die Vorlesung „Deutsche Rechtsgeschichte“ in Heidelberg besser gesorgt als auf manchen anderen Hochschulen.50 Vergebens bat er darum, ihm die „bedeutenden Kosten für die Anschaffung der nothwendigen Literatur bei der bekannten Unvollständigkeit der Universitäts-Bibliothek in diesem Fache“ zu ersetzen;51 das zuständige badische Innenministerium sah sich jedoch „nicht bewogen, dem von der Fakultät unterstützten Gesuch“ zu entsprechen.52 Wenige Jahre später – Ende 1837 – aber forderte das Karlsruher Ministerium die Heidelberger Juristische Fakultät auf, „geeignete Vorschläge“ hinsichtlich einer Vorlesung über das badische Landrecht zu unterbreiten und sich gleichfalls „darüber auszusprechen, ob nicht dieses Fach sogleich oder unter angemessener Zeitbestimmung zur gehörigen Vorbereitung dem Dr. Zöpfl nebst der deutschen Staats- und Rechtsgeschichte als weiteres Nominalfach unter seiner Ernennung zum Professor extraordinarius und unter Verwilligung eines entsprechenden, hierher gleichfalls in Vorschlag zu bringenden Extraordinariatsgehaltes zu übertragen sei“.53 Einen letztlich befriedigenden Beschluss hätten damit die langen Jahre des Privatdozentendaseins mit ihren kärglichen Einnahmen aus den Kolle-
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Staatsministerium nach dem Verlaufe einer solchen fortwährenden und ausschließlich der Ausbildung zum akademischen Lehrfache gewidmeten Zeit […] und der Verleihung des Characters eines außerordentlichen Professors würdig geachtet zu werden, so muß ich nicht ohne Grund befürchten, daß die Zurückweisung meines unterthänigsten Gesuchs für meine Zukunft von nachtheiliger Einwirkung sein möchte, da nicht leicht eine deutsche Hochschule bei vorkommenden Erledigungen einen Privatdocenten zu berufen sich bestimmen wird, indem bei Berufungen doch vorzüglich Rücksicht auf die äußere Anerkennung genommen zu werden pflegt, welche ein academischer Lehrer bereits durch die Regierung der Hochschule, an welche er sich auszubilden strebte, erhalten hat.“ – Erneut trug er sein Anliegen unter dem 20. 5. 1837 vor (Generallandesarchiv Karlsruhe, 205/90). UBH, Heid. Hs. 1924. Vgl. Schreiben vom 20. 8. 1833 (UAH, PA 2492). S. nur Erich Döhring, Geschichte der Christian-Albrechts-Universität Kiel 1665-1965, 3. Bd., Teil 1: Geschichte der juristischen Fakultät 1665-1965, Neumünster 1965, S. 145. Schreiben vom 20. 8. 1833 (UAH, PA 2492). – Zöpfl weist nachdrücklich daraufhin, dass die „eingegangenen Collegiengelder“ nicht ausreichen, um die Beschaffungskosten zu decken, da sich „viele Gratisten unter den Zuhörern befinden.“ Unter dem 6. 9. 1833 (UAH, PA 2492). Unter dem 24. 11. 1837 (UAH, PA 2492).
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giengeldern gefunden.54 Aber noch verschloss sich die Mehrheit der Fakultät unter ihrem Dekan Roßhirt gegenüber dem Karlsruher Ansinnen. Ausschlaggebend für die professorale Karriere waren Erfolge in der Lehrtätigkeit und herausragende wissenschaftliche Publikationen. Rigoros hatte bereits 1823 die Heidelberger Juristische Fakultät erklärt, dass ein Extraordinariat nur an solche Personen vergeben werden könne, „von welchen man bereits mit genügender Gewissheit das Urteil zu fällen vermag, daß sie dereinst würdige Mitglieder des Collegii der ordentlichen Professoren seyn werden“.55 Hinsichtlich des konkreten Vorhabens des Karlsruher Innenministeriums gab man zu bedenken, dass schon bisher – „immer im Sommersemester“ – spezielle Vorlesungen über „badisches Recht“ den Studierenden „unter der allgemeinen Stellung des Code“ angeboten werden. Wenn man aber eine besondere Lehrkanzel für dieses Gebiet an der Universität einrichten wolle, so würden „akademische Einführungen“ in das badische Verfassungs- und Verwaltungsrecht, in die neue Prozessordnung und in die „Anwendung des Staatsrechts“ weitaus sinnvoller sein.56 Gleichzeitig wies die Fakultät darauf hin, dass „die Landrechte in Deutschland gewöhnlich dem Privatstudium, nach einer auf der Universität gegebenen allgemeinen Einleitung, überlassen werden“; zu verkennen sei aber nicht, dass bei einer intensiveren akademischen Beschäftigung mit jenem Rechtsgebiet auch der „ächt wissenschaftliche Geist in der Anwendung auf das unmittelbar practische Recht“ vermittelt werde. Ausfüllen könne aber eine solche Lehrstelle nur ein Dozent, „der seines Stoffes Meister ist“. Denkbar ungeeignet sei daher „der Dr. Zoepfl“, da er „weder Studien im Code gemacht noch Gelegenheit gehabt hat, mit der Gesetzgebung und Praxis des Landes auf irgend eine Art bekannt zu werden“. Seine Fortsetzung findet das überaus negative Votum der Fakultät auch hinsichtlich der Eignung Zöpfls als Lehrer der deutschen Staats- und Rechtsgeschichte: „Dr. Zoepfl lehrt zwar schon lange Zeit; allein er hat, da er fast alle Fächer der Rechtswissenschaft zum Gegenstande des öffentlichen Unterrichts genommen, weder als Lehrer noch als Schriftsteller sich gehörig exhibiren können, auch überhaupt Zeichen eines ausgezeichneten Talentes weder als Lehrer noch als Schriftsteller bisher gegeben.“
In diesem Zusammenhang erinnert man daran, dass eine Aufwertung der deutschen Staats- und Rechtsgeschichte zu einem Nominalfach völlig überflüssig sei, „einestheils weil diese Wissenschaft gleichsam als integrirender Theil anderer Wissenschaften erscheint, namentlich des germanischen Staats- und Privatrechts, und auch schon den Haupttheil der encyclopädischen Darstellung der Rechtswissenschaft bildet, anderentheils aber, weil man sonst noch viele andere ähnliche 54
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„Ich habe mich daher in die Nothwendigkeit versetzt gesehen, vier Privatissima, deren Übernahme ich bereits zugesagt und deren Honorare in Ermangelung eines Gehaltes aus der Staats- oder Universitäts- oder einer anderen öffentlichen Kasse für mich und meine Familie die vorzüglichste Subsitenzquelle bilden, aufzugeben“ (unter dem 20. 5. 1837, Generallandesarchiv Karlsruhe, 205/590). UAH, H II 111-16, fol. 131. Vgl. den Beschluß der Heidelberger „Juristen Facultaet“ vom 5. 12. 1837 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 235/3117 fol. 71 ff.).
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Nominalfächer aufstellen müßte, z.B. römische Staats- und Rechtsgeschichte, juristische Hermeneutik u.s.w.“. Eine gänzlich andere Auffassung als die Mehrheit der Fakultätsmitglieder vertrat jedoch der über die engen Grenzen Heidelbergs hinweg bekannte Rechtslehrer Carl Joseph Anton Mittermaier, damals gleichzeitig Prorektor der Universität. In seinem separat den einschlägigen Akten beigefügten „Sondervotum“ befürwortete er lebhaft die Einrichtung eines besonderen Lehrstuhls für badisches Recht. Durchaus denkbar erschien es ihm, Zöpfl damit zu betrauen, besitzt er doch nach der Überzeugung Mittermaiers „eine große Gewandtheit, germanistische und römisch-rechtliche Vorkenntniße, praktischen Sinn und rastlosen Eifer, um bald das Fach tüchtig befruchten zu können“.57 Gleichfalls befürwortet Mittermaier die Institutionalisierung der Vorlesung „Deutsche Rechtsgeschichte“ als eigenständiges Nominalfach; er selbst hatte als einer der ersten in Deutschland an der Landshuter Universität dieses Fach betreut und wusste daher, „was zu leisten ist“.58 In der Nachfolge Carl Friedrich Eichhorns, Begründer einer selbstständigen deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, ist es Mittermaier, der sich nachhaltig für die Eigenständigkeit jenes Faches einsetzt. Seine programmatische „Einleitung in das Studium der Geschichte des germanischen Rechts“ war 1812, also nur vier Jahre nach Eichhorns epochemachender Schrift „Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte“ erschienen. Vorbehaltlos hebt er „die Notwendigkeit einer eigenen Behandlung der germanischen Rechtsgeschichte“ hervor.59 Mit großer Einfühlungsgabe und taktisch geschickt agierend, tritt Mittermaier vor diesem Hintergrund wiederum für den jungen Rechtsgelehrten Zöpfl, dessen Arbeitseifer als außerordentlicher Beisitzer innerhalb des Spruchkollegiums der Heidelberger Juristenfakultät er bestens kennt und schätzt, ein: „Was die Eigenschaften des Dr. Zöpfl betrifft, so weiß ich wohl, daß er bisher vielerlei getrieben hat, aber das ist eben das Unglück junger Männer auf Universitäten, die als Docenten, wenn sie nicht in glückliche Verhältnisse kommen, ihre Kräfte zersplittern müssen und sich nicht so ausbilden können, als es der Fall wäre, wenn sie sich concentrieren könnten“.
Mittermaier jedoch belässt es nicht bei allgemeinen, zweifellos sympathisch anmutenden Aussagen, sondern weist die übrigen Fakultätsmitglieder auf ein Werk aus der Feder Zöpfls hin, welches bei ihren Äußerungen über dessen Person und wissenschaftliche Leistungen völlig unberücksichtigt blieb: „Zöpfls deutsche Rechtsgeschichte ist ein buch, das ich durchaus nicht classisch nenne, das aber von selbständigem Studium (z. B. in bezug auf Rechtsbücher und ihren Zu57 58
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„Besondere Abstimmung des G.R. Mittermaier in Bezug auf das Ministerialreskript vom 24. 11. 1837“ (Generallandesarchiv Karlsruhe, 235/3117 fol. 73). Im Sommersemester 1824 kündigte Mittermaier eine Vorlesung zur Deutschen Rechtsgeschichte „nach eigenem Grundrisse mit Hinweisung auf Eichhorns Rechtsgeschichte und Mittermaiers Grundätze des deutschen Privatrechts“ an. S. hierzu insb. Götz Landwehr, Karl Joseph Anton Mittermaier (1787-1867), in: Küper, Heidelberger Strafrechtslehrer, S. 80 ff.
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Klaus-Peter Schroeder sammenhang), von Gewandtheit des Verfaßers […] zeugniß gibt, so daß ich überzeugt bin, daß Zöpfl, wenn er in eine günstigere Lage kommt und nicht so sauer sein Brod verdienen muß, etwas Tüchtiges als Schriftsteller leisten kann“.60
In der Tat war das 1834-1836 zu Heidelberg in zwei Bänden erschienene Lehrbuch „Deutsche Staats- und Rechts-Geschichte“ keine innovative Leistung Zöpfls, sondern folgte in weiten Strecken Eichhorns genialer Darstellung, die binnen kurzem zu einem „Markstein der wissenschaftlichen Entwicklung“ (Landsberg) geworden war. Seit dem Erscheinen dieses Werkes (1808) wurde die „Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte“ zunehmend als autonomes Fach auf sämtlichen deutschen Universitäten regelmäßig vorgetragen. Der Aufschwung der Rechtsgeschichte und ihre Etablierung als akademisches Unterrichtsfach geht sicherlich auch auf die „Historische Rechtsschule“ zurück. Nicht zu vergessen ist aber die gleichzeitige Hinwendung der rechtshistorisch interessierten Juristen zu Fragestellungen und Methodologie der aufblühenden Altertumswissenschaften, welche das Gebiet der Rechtsgeschichte nachhaltig beeinflussten. Seit 1817 findet sich die „Rechtsgeschichte“ regelmäßig im Vorlesungskatalog der Universität Heidelberg. Im Sommersemester 1820 liest Friedrich Cropp „Deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte“ nach Eichhorns Werk. Im Wintersemester 1821/22 wird das Fach gar von vier Dozenten gleichzeitig angeboten (und zwar von den Privatdozenten Sylvester Jordan, Philipp Jacob Wild, Karl Joseph Weber und Karl Eduard Morstadt). Erstmals im Sommersemester 1829 liest Zöpfl ausweislich des Vorlesungsverzeichnisses über römisches und deutsches Privatrecht wie auch über Rechtsgeschichte. Neben den Privatdozenten Georg August Muncke und Philipp Anton Bertram kündigt er im Sommersemester 1834 ein Kolleg zur deutschen Rechtsgeschichte „nach eigenem, im Lauf des Sommerkurses erscheinenden Lehrbuche“ an. 1836 ist es dann soweit: Zöpfl bietet nunmehr die „Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte in freien Vorträgen nach seinem Lehrbuche […] 4 mal wöchentlich in zu bestimmenden Stunden“ an.61 Bereits in der zweiten Auflage (Stuttgart 1844-1847) entfernt sich Zöpfl von dem richtungsweisenden Werk Eichhorns, der das Bewusstsein dafür geschärft hatte, dass das Recht aus den „Entwicklungsverhältnissen und Kulturzusammenhängen einer Nation“ hervorgeht.62 Nunmehr unterscheidet Zöpfl zwischen politischer Geschichte (Bd. 1) und Rechtsgeschichte (Bd. 2). Endgültig wird in der 3. Auflage aus dem Jahre 1858 die „synchronistische“, in Epochen gegliederte Darstellung der Geschichte der deutschen politischen und staatsrechtlichen Entwicklung aufgegeben und die „Deutsche Rechtsgeschichte“ auf die Historie der Rechtsquellen und der privatrechtlichen Rechtsinstitute verengt.63 60 61 62
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Vgl. Generallandesarchiv Karlsruhe, 235/3117 fol. 73. Vgl. die „Zusammenstellung der Vorlesungen, welche vom Sommersemester 1804 bis 1886 […] angekündigt worden sind“, Heidelberg 1886. Vgl. Wolfgang Sellert, Karl Friedrich Eichhorn – „Vater der deutschen Rechtsgeschichte“, in: JuS 1981, S. 799 ff.; Gerhard Dilcher, Art. Eichhorn, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Juristen – Ein biographisches Lexikon, München 2001, S. 195 f. Fortgeführt in der 4. Auflage von 1871/72, die in einem photomechanischen Nachdruck wieder leicht greifbar ist.
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Aufgrund des positiven Votums Mittermaiers sah man in Karlruhe keinen Grund mehr, die Ernennung Zöpfls zum außerordentlichen Professor weiter hinaus zu zögern. Unter dem 8. November 1838 „geruht Seine Königliche Hoheit“, dem „bisherigen Privatdozenten Dr. jur. Heinrich Zoepfl den Charakter als außerordentlicher Professor zu ertheilen“. Zugleich trägt man ihm auf, „in Gemäßheit der hiesigen Universitäts Statuten binnen einem halben Jahre a dato entweder eine lateinische Antrittsrede öffentlich in aula academia zu halten oder ein lateinisch geschriebenes Programm durch den Druck bekannt zu machen“.64 Aber erst zwei Jahre später findet Zöpfl die notwendige Muße zur Ausarbeitung seiner Antrittsrede. Offen war aber immer noch die Frage der definitiven Einrichtung und – gegebenenfalls – Besetzung einer Lehrkanzel für Badisches Landrecht. Unbeirrt hielt man in Karlsruhe weiterhin daran fest, „einen eigenen Lehrer des badischen Rechts anzustellen“. Schon lange bildeten Vorlesungen über das „französische Recht in Vergleichung mit dem römischen Recht“ einen integralen Bestandteil des Heidelberger Vorlesungsprogramms; so las Zachariae über französisches Zivilrecht „nach der Reihenfolge der Artikel“ wie auch Roßhirt „nach der Ordnung des Code“. Großen Wert legten die zuständigen Ministerialbeamten aber darauf, dass die künftigen badischen Rechtspraktiker ebenso eingeführt werden in das Rechtsgebiet, welches ihren alltäglichen Umgang künftighin bestimmt:65 das badische Landrecht. Nicht zu Unrecht betonte man in Heidelberg, „daß der Lehrer in einem solchen, dem Leben zunächst zugewandten Fache, schon eine lange Zeit auf die Entwicklung desselben aufmerksam gewesen und gleichsam das Recht der Gegenwart durch irgend eine Art von Thätigkeit mit eingelebt habe“.66 Unmissverständlich hatte Franz Eugen Roßhirt, damals Dekan der Fakultät, in einer temperamentvollen Abhandlung mit dem Titel „Über das Studium und die Anwendung des badischen Landrechts“67 betont, dass der junge Jurist auf der Universität im guten Detail nur seine Pandekten studieren könne, die Landrechte jedoch dem praktischen Leben gehörten. Daher solle ein Studiosus in Baden nur „cursorisch und nach der Legalordnung über sein Landrecht weggeführt werden, in dem besonderen Zwecke, (a) ihm zu zeigen, wie dasselbe im Gegensatze französischer Einrichtungen und Institute auf deutsche berechnet, (b) welche Zusätze in den einzelnen Lehren gemacht sind, (c) welche Verordnungen und neuere badische Gesetze eingreifen, (d) welche Hilfsmittel in zweifelhaften Punkten anzuwenden sind“.68 Es kam – gerade im Hinblick auf Heidelberg, das sich ohnehin nie als bloße Landesuniversität verstand – noch ein spezieller Gesichtspunkt hinzu: als eine Hochschule, die von einer außerordentlich großen Zahl „ausländischer“ Stu64 65
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UAH, PA 2492. S. hierzu insb. Karl H. Neumayer, Die wissenschaftliche Behandlung des kodifizierten französischen Zivilrechts bis zur Dritten Republik, in: Helmut Coing, Walter Wilhelm (Hrsg.), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, 1. Bd., Frankfurt/M. 1974, S. 173 ff., 202 ff. So das Gutachten der Heidelberger Juristenfakultät vom 5. 12. 1837 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 235/3117 fol. 72). In: Zeitschrift für Civil- und Criminalrecht 3 (1839), S. 386. In: Zeitschrift für Civil- und Criminalrecht 3 (1839), S. 387 f.
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dierender besucht wurde, wäre es geradezu töricht gewesen, den akademischen Unterricht schwerpunktmäßig am badischen Landesrecht auszurichten. Fast die Hälfte aller Heidelberger Studenten bildeten die Juristen, welche aus allen Teilen Deutschlands in der kleinen Gelehrtenmetropole zusammenströmten, um hier die Größen der Jurisprudenz zu erleben. Schon aus diesem Grund musste Deutschlands damals berühmteste rechtswissenschaftliche Fakultät darauf achten, ein „gesamtdeutsches“ Lehrprogramm auch den Studierenden anzubieten, die nicht aus Baden kamen. Ruf und Attraktivität der Ruperto-Carola beruhten insbesondere auf den illustren Namen der Pandektisten, die hier lehrten. Denn das Kernstück der juristischen Ausbildung war während des gesamten 19. Jahrhunderts bis zum Inkrafttreten des BGB die große Pandektenvorlesung.69 Aber in Heidelberg wusste man ebenso gut wie an der Freiburger Schwesteruniversität, dass die Kenntnis des römischen Rechts ein systematisches Studium des Landesrechts nicht zu ersetzen vermag. Anton von Stabel, der als Justizminister das Studium des Badischen Landrechts besonders förderte, resümiert: „Ohne Verbindung mit dem geltenden Recht gehe der große Nutzen verloren, den das Studium des gemeinen Rechts gewähren könne. Das Alte werde vergessen, das Neue nicht gelernt, bei der veränderten Form Gleiches und Ungleiches nicht erkannt und der wissenschaftliche Geist durch Handwerksarbeit und Formelkrämerei verdrängt“.70
Immer stärker trat das badische Landrecht an den Universitäten Freiburg und Heidelberg in den Vordergrund, so dass man den Plan einer besonderen Lehrkanzel für dieses Rechtsgebiet nicht aufgab und weiter verfolgte. Stand auch das Ministerium dem abschätzigen Urteil der Juristenfakultät über die fachliche Eignung Zöpfls kritisch gegenüber, so konnte es doch nicht einfach übergangen werden. Im Auftrag von Staatsrat Nebenius wurden ein Jahr später – 1839 – mit einzelnen Mitgliedern der juristischen Fakultät Gespräche geführt; zur eigenen Überraschung erfuhr man nunmehr, dass Zöpfl ein „ausgezeichneter Germanist“ und es ihm „ein Leichtes“ sei, „sich zu den Vorlesungen über badisches Recht vorzubereiten“. Dennoch hielt man es weiterhin für unangemessen, „ihm jetzt schon die Professur des Landrechts förmlich und definitiv zu übertragen […], weil er noch keine besonderen Studien darin gemacht hat“. Nicht länger aber sträubte man sich gegen eine angemessen Erhöhung seines Salärs, da Zöpfl „in der neueren Zeit durch einige Broschüren literarischen Ruf erworben habe und eine Anerkennung durch eine Besoldung wohl verdiene“.71 Dieser Meinungsumschwung innerhalb der Fakultät war für das Ministerium ausreichender Grund, dem „außerordentlichen Professor Dr. Zoepfl zu Heidelberg eine vom 1. November d. J. anfangende, aus der Universitäts Casse zu schöpfende Besoldung von Fünfhundert Gulden unter der Verbindlichkeit, Vorlesungen über das badische
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Vgl. Wolfgang Kunkel, Die Heidelberger Pandektenprofessur im 19. Jahrhundert, in: Ruperto-Carola, 5. Bd. (1953), S. 36 ff. Zit. nach Federer, in: Bader, Baden, S. 81 ff., 173 f. „Die Besetzung der Lehrkanzel des badischen Landrechts […] betr.“ vom 1. 10. 1839 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 235/ 3117 fol. 75 f.).
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Landrecht und den badischen Civilproceß zu halten, huldreichst zu ertheilen.“72 Gewissenhaft erfüllte Zöpfl diese Verpflichtung bis zu seiner 1844 erfolgten offiziellen Bestallung als Nachfolger Karl Salomo Zachariaes; gleichzeitig „befreite“ man ihn „von den Vorträgen über badisches Recht“.73 Deutlich sichtbar wird bei den Vorgängen um die Person Zöpfls, dass die Universität sich in dem Augenblick wieder auf die eigenen Kräfte besann, als die finanziellen Mittel des badischen Staates offensichtlich nicht ausreichten, um berühmte auswärtige Rechtsgelehrte zu gewinnen. In einzelnen Fällen scheute man aus opportunistischen Gründen ebensowenig davor zurück, verdienten Fakultätskollegen ihre fachliche Qualifikation abzusprechen. Weitaus einsichtiger und flexibler reagierte der Karlsruher Hof, da die dortigen Ministerialbeamten mit dem Berufungsdilemma angesichts der angespannten Haushaltslage des Landes ständig konfrontiert waren. Zwischenzeitlich konnte Zöpfl seine wissenschaftliche Reputation mit einer Reihe von gelehrten Abhandlungen bedeutend steigern. Nicht nur in Jena und Dorpat war man auf ihn aufmerksam geworden,74 sondern auch in München; im März 1847 erhielt er einen ehrenvollen Ruf an die bayerische LudwigMaximilian-Universität.75 Obgleich ihm 1600 fl. und späterhin gar 2000 fl. geboten wurden, hielt er unbeirrt an Heidelberg fest; in Karlsruhe konnte man sich jedoch nur dazu bequemen, sein Salär um 200 fl. auf nunmehr 1400 fl. zu erhöhen,76 da „es nun auch nicht von solchem Werthe ist, den Hofrath Zöpfl der Universität Heidelberg zu erhalten.“77 Wenige Jahre später erhielt er im Dezember 1850 ein Angebot aus Würzburg.78 Zöpfl drohte, diesen Ruf anzunehmen, falls man ihn nicht mit Mohl gehaltsmäßig gleichstelle.79 Aber erneut gab er sich mit einer bescheidenen Zulage in Höhe von 400 Gulden zufrieden, wobei das Ministerium gegenüber dem 1845 zum Hofrat ernannten Zöpfl gleichzeitig den Wunsch aussprach, „daß er künftig wieder Vorlesungen über Kirchenrecht, welche als ein 72 73 74
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7. 11. 1839 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 235/3117 fol. 77). Erlaß des Ministeriums des Innern vom 30. 4. 1844 (UAH, PA 2492). Vgl. das Schreiben Zöpfls vom 8. 5. 1843: „Auf die mir gemachten Anträge, eine Professur in Dorpat anzunehmen, gedenke ich […] aus dem Grunde nicht einzugehen, da meine Frau das dortige Klima schwerlich ertragen würde.“ (Generallandesarchiv Karlsruhe, 205/590). Vgl. das Schreiben Zöpfls vom 2. 5. 1847 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 205/590). Aufgrund der angespannten finanziellen Situation sah sich Karlsruhe nicht in der Lage, die erbetene Gehaltszulage in Höhe von 600 fl. zu bewilligen (Schreiben vom 5. 4. und 7. 5. 1847, Generallandesarchiv Karlsruhe, 76/9863). Unter dem 4. 5. 1847 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 205/590). Dieser angebliche Ruf (vgl. unten Fn. 79) ist nicht erwähnt bei Röpke, Juristenfakultät, S. 107; er weist jedoch darauf hin, dass Zöpfl sich 1832 – wenn auch vergeblich – um eine Professur an der Würzburger Juristenfakultät bewarb. Vgl. Schreiben Zöpfls vom 13. 12. 1850 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 205/90); die ablehnende Haltung Karlsruhes gegenüber Zöpfls Forderungen erklärt sich daraus, daß man in der Anfrage Würzburgs „überhaupt nichts näheres“ fand, „was als eine Berufung betrachtet werden könne.“ (unter dem 7. 1. 1851, Generallandesarchiv Karlsruhe, 205/590).
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dringendes Bedürfniß bezeichnet werden, halten möge“.80 Erfolgreich setzte sich Zöpfl gegenüber diesem Ansinnen zur Wehr; trotz seines immensen Fleißes sah er sich nicht in der Lage, nach dem Tode Morstadts im Januar 1850 – neben den eigenen Kollegs – auch noch dessen Vorlesungen zum allgemeinen und deutschen Staatsrecht und das Fach Kirchenrecht zu übernehmen.81 Auffallend rasch lenkte das Ministerium ein und kam auf seine Bitte nicht mehr zurück. Kontinuierlich erfolgten nunmehr die – bescheidenen – Gehaltssteigerungen: 1872 wurden ihm 2600 fl. ausgezahlt; nach Einführung der Markwährung 1875 erhielt er 4800 und außerdem 660 Mark Wohnungsgeld.82
D. Eifriges Mitglied des Spruchkollegiums der Heidelberger Juristenfakultät und begehrter Rechtsgutachter Nahezu von Beginn seiner akademischen Karriere an beteiligte sich Heinrich Zöpfl an der Spruchpraxis der Heidelberger Juristenfakultät.83 Mit seinem Eintritt in das Spruchkollegium Ende des Jahres 1831 waren zwar die Personalsorgen Mittermaiers, der den Vorsitz führte, nicht behoben, aber doch wenigstens vermindert worden.84 Denn nachdem sich Zachariae von der Mitarbeit zurückgezogen hatte und Ende 1831 Thibaut mit Rücksicht auf sein Alter ausgetreten war, lag nahezu die gesamte Arbeitslast auf den Schultern Mittermaiers. Als einziger ordentlicher Professor, überhäuft mit Vorlesungsverpflichtungen und Gesetzgebungsarbeiten, konnte er bei der Arbeit im Spruchkollegium nur auf meist unbekannte Privatdozenten zurückgreifen. In der personellen Notlage des Jahres 1827 sah man sich sogar dazu gezwungen, einen seit Jahren im Studium der Akten ausgewiesenen Privatdozenten zum ordentlichen Mitglied mit entscheidender Stimme zu ernennen.85 Eine Entspannung ergab sich erst, nachdem Roßhirt und auch Zachariae wieder in das Spruchkollegium im Frühjahr 1834 eingetreten waren. Zöpfl bewährte sich bei der praktischen Arbeit mit den Spruchakten aus den unterschiedlichsten Rechtsgebieten, von denen er durchschnittlich zehn in jedem Jahr übernahm, zur vollsten Zufriedenheit Mittermaiers. Aber auch er als Vorsitzender konnte die Spannungen nicht verhindern, welche durch die Aufnahme 80 81 82 83 84
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Ministerium des Innern vom 21. 2. 1851 (UAH, PA 2492). Vgl. Schreiben Zöpfls vom 12. 3. 1851 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 205/ 590). Vgl. nur Weisert, in: Ruperto-Carola, 85. Bd. (1992), S. 99 ff., 106. Ausführlich hierzu Antonius Jammers, Die Heidelberger Juristenfakultät im neunzehnten Jahrhundert als Spruchkollegium, Heidelberg 1964, S. 43 ff. Unter dem 14. 8. 1831 berichtet Mittermaier, daß Zöpfl „die zur Aufnahme in das Spruchcollegium erforderliche Proberelation erstattet und darin so viel Kenntnisse und Gewandtheit bewährt hat, daß man den Antrag zu stellen sich veranlaßt fühle, daß das hohe Ministerium den Dr. Zöpfl als ausserordentlichen Beisitzer des Spruchcollegiums aufzunehmen belieben wolle“ (Generallandesarchiv Karlsruhe, 205/590); am 21. 11. 1831 wird dem Gesuch stattgegeben. Jammers, Juristenfakultät, S. 45.
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Vangerows – Nachfolger Thibauts auf dem berühmten Pandektenlehrstuhl – in das Kollegium 1841 entstanden. Zöpfl sah sich dadurch provoziert, dass ein jüngerer, in der Spruchpraxis völlig unerfahrener Kollege ordentliches Mitglied wurde. Der von ihm erhobene Protest richtete sich keineswegs gegen Vangerow selbst, wohl aber betrachtete er das Vorgehen als eine Missachtung seiner eigenen Person. Denn da er immer noch nicht zum ordentlichen Professor ernannt worden war, kam ihm lediglich die Stellung eines außerordentlichen Beisitzers zu. Um auf das Karlsruher Ministerium Druck auszuüben, verzichtete er auf weitere Mitarbeit im Spruchkollegium. Nachdem Zöpfl zwei Jahre später endlich sein Ziel mit der Bestallung zum Ordinarius erreicht hatte, trat er im November 1842 als ordentlicher Beisitzer wieder in das Gremium ein.86 Auf seine Mitarbeit legte man deshalb besonderen Wert, da er im Spruchkollegium nach dem Tod Zachariaes als einziger das Fach Staatsrechts vertrat.87 Beträchtliches Ansehen genoss er als gesuchter Fachmann auf dem Gebiet des hochkomplexen Privatfürstenrechts mit seinen „aus der Rumpelkammer des heiligen römischen Reiches stammenden Geheimnissen“ (Georg Jellinek), gegen das der allseits unbeliebte Kollege Morstadt gehässige „polemisch-humoristische Leuchtkugeln“ abfeuerte88. Zöpfls Biograph Strauch aber bezeichnete ihn neben Johann Jakob Moser als den „größten und autoritativsten Kenner dieses Rechtszweigs“.89 Trotz des Untergangs des Alten Reiches lebte das Privatfürstenrecht als Standesrecht des hohen Adels fort.90 Art. XIV der Deutschen Bundesakte vom 8. 6. 1815 gewährleistete u. a. die Standesqualität der fürstlichen und gräflichen Häuser, das Recht der Ebenbürtigkeit und die Aufrechterhaltung der nach „den Grundsätzen der früheren deutschen Verfassung […] noch bestehenden Familienverträge“; eine Rechtsnorm, die von den Staaten des Deutschen Bundes in den nachfolgenden Jahren durch Verfassungsbestimmungen oder besondere Gesetze in innerstaatliches Recht umgesetzt wurde. Gerne wurde Zöpfl bei den damit verbundenen Streitfragen als juristischer Konsulent von zahlreichen Dynastengeschlechtern und Adelsfamilien herangezogen91, verfocht er doch die absolute Unantastbarkeit der „erworbenen“ familien-, erb- und eigentumsrechtlichen Gerechtsame des hohen Adels.92 Zu seiner Klientel zählten u. a. das badische, hessische und oldenburgische Fürstenhaus, ferner die Stadt Frankfurt sowie Bischöfe und Erzbischöfe. Beeindruckend ist die immense Zahl an gedruckten und handschrift86 87 88
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Jammers, Juristenfakultät, S. 58. Robert von Mohl, der 1847 nach Heidelberg berufen wurde, war nie Beisitzer im Spruchkollegium der Juristenfakultät, vgl. nur Jammers, Juristenfakultät, S. 59. Der vollständige Titel der 1847 zu Heidelberg veröffentlichten Schrift lautet: „Polemisch-historische Leuchtkugeln in das deutsche Privatfürstenrecht oder humoristische Bekämpfung von Heffter`s Irrlehren über Gewissensehe, heimliche Ehe und Mantelkindserbrecht“. In: Friedrich v. Weech (Hrsg.), Badische Biographien, 4. Theil, Karlsruhe 1891, S. 208. Zum Privatfürstenrecht vgl. Dietmar Willoweit, Art. Privatfürstenrecht, in: Erler/Kaufmann, Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, 3. Bd., Berlin 1984, Sp. 1966 ff. Jammers, Juristenfakultät, S. 59 f.; Weber, Erinnerungen, S. 238. S. Strauch, in: v. Weech, Badische Biographien, S. 208.
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lichen Gutachten, welche in der Heidelberger Universitätsbibliothek bis zum heutigen Tag – teilweise in viele Sprachen übersetzt – aufbewahrt werden.93 Das „Bunt der Themata“ reicht vom Erbjungfernrecht im Gräflich von Bothmer`schen Familienfideicommiss94 über „Missheirathen in den deutschen regierenden Fürstenhäusern“95 bis hin zu den 1866 erschienen Beiträgen zur „Kritik des Rechtsgutachtens des Kronsyndikats bezüglich der Herzogthümer Schleswig, Holstein und Lauenburg“. Stellung bezog er gleichfalls zu den Aufsehen erregenden Bentinckschen Sukzessionsauseinandersetzungen; der umständliche Titel der Studie lautet: „Ueber hohen Adel und Ebenbürtigkeit nach dem deutschen Reichsstaatsrecht und dem deutschen Bundesrecht überhaupt und mit Rücksicht auf den gräflich Bentinck`schen Rechtsstreit insbesondere“96. Mit Bravour, wenn auch nicht mit dauerhaftem Erfolg verfocht er auf der publizistischen Bühne einzelne Privilegien der mediatisierten Familien in seiner 1867 erschienen Abhandlung „Neueste Angriffe auf die staatsrechtliche Stellung der deutschen Standesherrn“97. Bemerkenswert ist ein Gutachten für die spanische Königsfamilie, erstattet vor dem Hintergrund des Carlistenkriegs auf der iberischen Halbinsel. Während die Carlisten behaupteten, Ferdinand VII. habe gegen alles Recht das Erbfolgegesetz von 1713 aufgehoben und die Pragmatische Sanction vom 29. 3. 1830 erlassen, traten die sogenannten „Isabellinos“ für eine Restitution des altkastilischen Erbfolgerechts ein. Ihrer Ansicht schloss sich Zöpfl in der 1839 veröffentlichten, sogleich in die französische Diplomatensprache übersetzten Abhandlung „Die spanische Successionsfrage“ an, in der er scharfsinnig für die Interessen Isabellas II. eintrat.98 Auf den Dankesbeweis musste der Heidelberger Rechtsexperte nicht lange warten: Königinregentin Maria Christine zeichnete Zöpfl noch im gleichen Jahr mit dem prächtigen Ritterkreuz des Ordens Isabellas der Katholischen aus.99 Neben diesen Gunstbezeugungen flossen in seine Schatulle teils beträchtliche Honorare für die unterschiedlichsten Rechtsgutachten. Wie schon bei seinem „großen“ Vorgänger Zachariae waren sie auch für Zöpfl „eine Quelle ebensowohl
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UBH, Heid.Hs. 1924-1944. Zusammen mit dem Rostocker Juristen Ferdinand Kämmerer, veröffentlicht in Heidelberg bei Oßwald 1837. Stuttgart 1853 (das Gutachten betrifft insbesondere das Oldenburger Haus mit seinen verschiedenen Linien). Ausführlich hierzu Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, 1. Bd., 2. Aufl., Stuttgart 1975, S. 776 ff. Vgl. hierzu insb. Heinz Gollwitzer, Die Standesherren – Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815-1918, 2. Aufl., Göttingen 1964, S. 278 ff. Ein spanischer Staatsmann wurde nach Heidelberg in dieser Angelegenheit abgeordnet, welcher Zöpfl das Material für das begehrte Rechtsgutachten zur Verfügung stellte, vgl. Weber, Erinnerungen, S. 238. Vgl. den Beitrag von Arthur Kleinschmidt in der „Illustrirte[n] Zeitung“ vom 11. 8. 1871 (Leipzig), S. 108 ff. – Aufgrund dieses Gutachtens hieß er fortan in den studentischen Kreisen Heidelbergs „Don Zopelio“, vgl. Eugen von Jagemann, Fünfundsiebzig Jahre des Erlebens und Erfahrens [1849-1924], Heidelberg 1925, S. 28.
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des Ruhmes als des Reichthums“, die ihm eine auskömmliche Lebensgestaltung ermöglichten.100
E. Der wissenschaftliche Schriftsteller Trotz eines immensen Vorlesungsprogramms in den ersten Jahren seiner Privatdozentenzeit, das nahezu sämtliche juristische Disziplinen umfasste, fand Zöpfl noch die notwendige Muße für wissenschaftliche Abhandlungen. 1830 publizierte er die Untersuchung über die „Regierungsvormundschaft im Verhältniß zur Landesverfassung“, 1832 folgte die Schrift „Ueber akademische Gerichtsbarkeit und Studentenvereine“101 wie auch die Herausgabe von vier Heften des „Mikrokosmos. Eine polemische Zeitschrift für Staatskunst und Staatsrechtswissenschaft“.102 Seinen eigentlichen Ruhm begründete er aber mit dem 1836 in erster Auflage vorgelegten, hier bereits näher besprochenen Lehrbuch „Deutsche Staats- und RechtsGeschichte“, ein Fach, das mehr und mehr zu seiner Domäne wurde. Einen „Ausflug“ in die Rechtspolitik unternahm er 1839 mit seiner „Denkschrift über die Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Todesstrafe und deren Abschaffung“.103 Dem Gebiet der „amoenitates juris“ zuzuordnen sind die antiquarischen Arbeiten über „Das alte bamberger Recht als Quelle der Carolina“104 und „Die peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karl’s V. nebst der bamberger und der brandenburgischen Halsgerichtsordnung, sämmtlich nach den ältesten Drucken und mit den Projecten der peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karl’s V. von den Jahren 1521 und 1529, beide zum ersten mal vollständig nach Handschriften herausgegeben“.105 Noch kurz vor seinem Tod besorgte er mit großer Sorgfalt eine synoptische Darstellung der genannten Rechtsbücher.106 1856 erschien Zöpfls Untersuchung zu einem Weistum aus dem Anfang des 9. Jahrhunderts mit dem Titel „Die Ewna Chamavorum, ein Beitrag zur Kritik und Erläuterung ihres Textes“;107 eine Studie, die ihm in der Fachwelt heftige Kritik und den Vorwurf des Dilettantismus einbrachte.108 100 101 102
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So Robert Mohl, Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften. In Monographien dargestellt, 2. Bd., Erlangen 1856, S. 519 f. Beide Abhandlungen wurden in Heidelberg publiziert. Weitere Hefte sind nicht erschienen bzw. nicht bekannt; allgemein Gerald Anders, Diethelm Klippel, Die juristischen Zeitschriften im 19. Jahrhundert, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Juristische Zeitschriften – Die neuen Medien des 18.-20. Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1999, S. 41 ff. Heidelberg bei Winter 1839; vgl. hierzu Karl von Lilienthal, in: Heidelberger Professoren, S. 240. Heidelberg 1839. Heidelberg 1842. Heidelberg 1876. Heidelberg 1856. Vgl. nur Robert von Mohl, Lebens-Erinnerungen, 1. Bd., Stuttgart, Leipzig 1902, S. 232: „Und er hatte auch so viel Verstand, sich von einem Felde zurückzuziehen, auf welches ihn seine Eitelkeit verlockt hatte, auf welchem aber nicht zu Hause zu sein ihm
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Erstaunlich ist seine große Belesenheit, die ihren breiten Niederschlag in dem drei Bände umfassenden Werk „Alterthümer des deutschen Reichs und Rechts“ fand; mit behaglicher Betulichkeit, aber auch in berührender Naivität zeichnet in diesem Rahmen Zöpfl eine Reihe von Miniaturbildern aus dem deutschen Rechtsleben der Vergangenheit nach;109 seine Ausführungen zu der bis heute umstrittenen Bedeutung der Rolandssäulen sind noch immer lesenswert.110 Bewundernswürdig ist seine ausgedehnte archivalische Forschertätigkeit, deren Ergebnis das „Glossarium germanicum, anglosaxonicum et latinum medii aevi“ darstellt; alphabetisch geordnet umfasste Zöpfls „juristisches Gedächtnis“ 217 Kartons, in denen zahlreiche Nachweisungen über den Sinn mittelalterlicher rechtswissenschaftlicher termini technici aufgenommen sind;111 mit seinem Sammeln und Einordnen exzerpierten Belegmaterials nahm er bereits die Aufgabe des 1894 initiierten, 1896/97 als Unternehmen der damaligen Preußischen Akademie der Wissenschaften begründeten und seit Ende des 19. Jahrhunderts in Heidelberg beheimateten „Deutschen Rechtswörterbuchs“ vorweg.112 Angeregt von seinen Vorlesungen über das badische Landrecht verfasste Zöpfl eine bemerkenswerte Studie „Ueber das germanische Element im Code Napoléon“.113 Sie bildete das wissenschaftliche Ergebnis eines längeren Studienaufenthalts in Paris, der gleichfalls die herausragende Stellung Heidelbergs – hingewiesen sei nur auf Mittermaier, Thibaut und Zachariae – im Rahmen des deutschfranzösischen rechtswissenschaftlichen Austauschs Mitte des 19. Jahrhunderts unterstreicht.114 Mit großer Sachkenntnis verfolgt er die historischen Wurzeln einzelner Grundsätze und Institute des Code civil um nachzuweisen, dass sie auf älterem deutschen Recht (Sachsenspiegel, Schwabenspiegel) beruhen.115 Gleich-
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sehr eindringlich nachgewiesen worden war, nämlich von Untersuchungen über frühmittelalterliche Rechtsinstitute.“ Leipzig 1860-1863. – Nach Weber formulierte Rudolf Heinze – seit 1873 als Nachfolger Emil Herrmanns ordentlicher Professor in Heidelberg – in seiner Gedächtnisrede am Grabe Zöpfls über die „Rechtsaltertümer“: sie „[…] treten in ihrer Naturtreue und Fremdartigkeit uns gegenüber wie aus der Erstarrung vergessener Zeiten durch Zauberwort wieder in das Leben gerufene Gebilde“, Weber, Erinnerungen, S. 237. Vgl. nur Dieter Pötschke, in: ders. (Hrsg.), Rolande, Kaiser und Recht, Berlin 1999, S. 11 ff. Die badische Regierung erwarb diesen „Schatz“ für die Heidelberger Universitätsbibliothek, vgl. Strauch , in: v. Weech, Badische Biographien, S. 209. Vgl. Annemarie Lindig, Das „Deutsche Rechtswörterbuch“, in: JuS 1986, S. 922 ff. In: Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft 5 (1840), S. 110132; vgl. in diesem Zusammenhang ebenso Federer, in: Bader, Baden, S. 120, 157, 164. S. insb. Olivier Motte, Die „Kritische Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes“ und die französische Rechtswissenschaft ihrer Zeit, in: Reiner Schulze (Hrsg.), Rheinisches Recht und Europäische Rechtsgeschichte, Berlin 1998, S. 111 ff., 118 m. Anm. 61; Levin Goldschmidt, Rechtsstudium und Prüfungsordnung. Ein Beitrag zur Preußischen und Deutschen Rechtsgeschichte, Stuttgart 1887, S. 74 f. Vorbereitet wurde diese Untersuchung durch seine Abhandlung über „Neue Ausgaben germanischer Rechtsbücher“, welche 1840 in den „Heidelberger Jahrbücher[n] der Literatur“ erschien (33. Bd., S. 120-139) und die Einleitung aus seiner Feder zu den
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zeitig geht es ihm um die Widerlegung des oft erhobenen Vorwurfs, das auf der Grundlage des Code civil beruhende badische Landrecht sei ein fremdes, „ungermanisches“ Recht: „[…] als wäre durch dasselbe dem Volksleben ein antinationales Element eingeimpft worden, welches dem Zurückführen auf eine wahrhaft deutsche und gemeinsame Gesetzgebung, der Wiedervereinigung Deutschlands durch sein Recht, wie es bereits durch seine merkantilistischen Interessen vereinigt ist, feindlich widerstreben würde“.116 Mag seine Studie auch in vielen Punkten überholt und methodisch fragwürdig erscheinen, so liest man doch – nach den Katastrophen des 20. Jahrhunderts117 – den Schlussabsatz aus Zöpfls Feder mit großer Nachdenklichkeit: „Die Zeiten, wo die Nationalität der europäischen Völker gegenseitig bedroht erscheinen konnte, sind, wie wir hoffen, für immer vorüber. Man hat, wie es scheint, angefangen zu erkennen, daß es etwas Höheres gibt, als das Herrschen eines Volkes über das andere – nämlich ein friedliches Bestehen nach dem Gesetze der Rechtsgleichheit! Möge sich die Überzeugung befestigen, daß es für die Nationen noch einen edleren Kampf zu kämpfen gilt, als den der Waffen – den Wettkampf um die Palme der Civilisation, der Kunst und Wissenschaft“.118
Neben dem französischen Recht galt sein Interesse aber auch dem englischen Rechtskreis. In der von seinen Fakultätskollegen Mittermaier und Zachariae herausgegebenen „Kritische[n] Zeitschrift für Rechtswissenschaft und Gesetzgebung des Auslandes“ veröffentlichte er kleinere Artikel über die Ergebnisse rechtsgeschichtlicher Forschungen in England.119 In den Anfangsjahren seiner Dozentenlaufbahn legte Zöpfl den staatsrechtlichen Vorlesungen zunächst das berühmte Lehrbuch „Oeffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten“ Johann Ludwig Klübers zugrunde.120 Aus diesen Kollegs erwuchsen späterhin die „Grundsätze des allgemeinen und konstitutionell-monarchischen Staatsrechts in Deutschland, nebst einem Abrisse des Bundesrechts“, eine durchaus konventionelle, aber doch höchst nützliche Zustandsbeschreibung des Bundes- und des gemeinen Länderstaatsrechts.121 Zöpfl
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„Controversen des französischen Civilrechts, nach Boileux und Poncelet von W. Thilo bearbeitet“ (Stuttgart 1841). In: Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft 5 (1840), S. 131. Vgl. hierzu die Vornotiz in dem Beitrag „Ein Jahrhundert wird besichtigt – Rechtsentwicklungen in Deutschland: 1900 bis 1999“ (JuS 2000, S. 1 ff.) von Adolf Laufs: „Die großen Erwartungen, mit denen wohl die meisten Deutschen das 20. Jahrhundert begrüßten, erfüllten sich nicht. Zwei Weltkriege und zwei Diktaturen enttäuschten sie; von drei Revolutionen führte eine geradewegs in den Abgrund. Nach den Katastrophen: geduldiger Wiederaufbau des Rechtsstaats und am Ende begründete Hoffnungen auf mehr Frieden und Gerechtigkeit im nächsten Jahrhundert.“ In: Zeitschrift für deutsches Recht und deutsche Rechtswissenschaft 5 (1840), S. 132. Bd. 14 (1842), S. 339-353; zu der „Kritischen Zeitschrift“ vgl. Motte, in: Schulze, Rheinisches Recht, S. 111 ff., 119 ff. 4. Auflage, Frankfurt/M. 1840; siehe zu diesem Werk insb. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, S. 83 ff. Heidelberg 1841.
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ging es nicht darum, zu den großen Fragen seiner Zeit Stellung zu beziehen, sondern er wollte lediglich eine neutrale Bestandsaufnahme des innerhalb des Deutschen Bundes geltenden öffentlichen Rechts dem interessierten Publikum vorlegen.122 Jede neue Auflage nutzte er, um das Buch weiter anzureichern und informativer auszugestalten. Zur Freude des Verlegers verdrängte es allmählich das bis dahin führende Klübersche Werk zu der staatenbündischen Epoche; 1863 erschien sein Lehrbuch in 5. Auflage unter dem bezeichnenden Titel „Grundsätze des gemeinen deutschen Staatsrechts mit besonderer Rücksicht auf das Allgemeine Staatsrecht und auf die neuesten Zeitverhältnisse“.123 Das Schwergewicht liegt nunmehr – im Gegensatz zu den Vorauflagen – auf dem positiven Staatsrecht der einzelnen Partikularstaaten des Deutschen Bundes, während das allgemeine deutsche Staatsrecht in den Hintergrund rückt.124 Georg Jellinek ist beizupflichten, der dieses Werk als ein „unentbehrliches Hülfsmittel“ nachdrücklich jedem anempfiehlt, „der ein Interesse daran hat, den früheren Rechtszustand und die auf ihm fußenden Anschauungen kennen zu lernen.“125 Seine Ergänzung findet es in dem umfänglichen Quellenwerk Guido von Meyers „Corpus iuris confoederationis Germanicae oder Staatsakten für Geschichte und öffentliches Recht des Deutschen Bundes“, dessen dritte Auflage ebenso Zöpfl besorgte.126
F. Politisches und Universitäres Umschlungen von einer schwarzrotgoldenen Binde und angetan mit einem gewaltigen Schleppsäbel begrüßte in den unruhigen Tagen des Jahres 1848 Professor Heinrich Zöpfl den ersten Studenten aus Österreich mit „höchst freisinnigen Reden“ vom Katheder der Aula herab.127 Trotz seiner Beschäftigung mit dem reaktionären Privatfürstenrecht galt Zöpfl als ein Mann mit liberaler Gesinnung, welcher sich noch in den ersten Monaten nach der Pariser Februarrevolution für eine Neugestaltung Deutschlands unter der Führung Österreichs eingesetzt hatte. Nicht gänzlich unbeachtet blieb seine unter den Eindrücken der Beratungen der Frankfurter Nationalversammlung verfasste Abhandlung „Bundes-Reform, deutsches
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Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, S. 92 ff. Erster und Zweiter Theil, Leipzig 1863; vgl. hierzu ebenso Ernst Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, Berlin 1958, S. 119. – Zu Zöpfls voluntativem Staatsbegriff vgl. Barbara Weigle, Die Staatsrechtslehrer an der Universität Heidelberg – Lebensbilder und Forschungsbeiträge, Frankfurt/M. 1986, S. 119 ff. Vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, S. 324: „Zöpfl blieb jedoch den Veränderungen des Staatsrechts auf den Fersen“. In: Heidelberger Professoren, S. 269. Reprint der 3. Auflage 1858-1869, Aalen 1978. Vgl. die Schilderung dieser Ereignisse bei Weber, Erinnerungen, S. 235 f.; Robert von Mohl (Lebens-Erinnerungen, S. 231) vermutet in dem Gebaren Zöpfls den Versuch eines „raschen Anlauf[s] zu Beliebtheit bei den Massen.“
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Parlament und Bundesgericht. Ein Vorschlag in ernster Zeit“128; in dieser 52 Seiten umfassenden „Kampfschrift“ forderte er eine Umgestaltung, nicht aber eine Auflösung des Bundestags im konstitutionellen Sinn. Mit seiner 1853 publizierten Untersuchung „Die Demokratie in Deutschland“ greift Zöpfl noch einmal in das aktuelle Tagesgeschehen ein.129 In Auseinandersetzung mit Gottfried Gervinus und dessen „Einleitung in die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts“ sieht er die bedeutsamsten Ziele der gescheiterten Revolution von 1848/49 – individuelle Gleichheit und Freiheit – als verwirklicht an: „Der wesentliche Zweck der Bewegung, in so weit er auf individuelle Freiheit und Gleichheit gerichtet war, ist erreicht worden, wenn gleich nicht in einheitlicher Form für ganz Deutschland, sondern in jener partikularistischen Form, welche nun einmal von dem Schicksale als diejenige bestimmt zu sein scheint, in der Deutschland seine nationalen Ideen geschichtlich entwickeln soll.“130
Im Gegensatz zu den enttäuschten Liberalen war für Zöpfl, der nach 1848/49 immer stärker der reaktionären Seite zuneigte, Deutschland nur vorstellbar im Rahmen der Verfassung des Deutschen Bundes; eine engere völkerrechtliche Verbindung erschien ihm unmöglich. Mit einer Reihe wissenschaftlicher Abhandlungen begleitete er den Weg des Bundestags bis zu dessen Untergang im Jahr 1866, mit dem gleichzeitig sein vieljähriges Lehr- und Forschungsobjekt erlosch: „Seine Ideale waren vor seinen Augen der Vergänglichkeit verfallen.“131 Voller Misstrauen beobachte Zöpfl daher die Gründung des zweiten Deutschen Reiches unter einem protestantischen Kaiser.132 Ablehnend stand er dem leitenden Staatsmann dieser Epoche, Fürst von Bismarck, gegenüber. Als Süddeutscher, geprägt seit den Jugendjahren von dem ausgeglichenen Katholizismus bayerischer Provenienz, galt seine ganze Liebe Österreich, der alten Präsidialmacht des Deutschen Bundes. Bereits als Abgeordneter der Ersten Kammer der Landstände Badens im Erfurter Unionsparlament, das am 20. 3. 1850 eröffnet wurde,133 gehörte er der ultrakonservativen Fraktion „Schlehdorn“ unter Führung des Berliner Juraprofessors Friedrich Julius Stahl an. Letztlich scheiterte aber am Widerstand des katholischen Österreichs auch dieser eigentümlich Versuch des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV., über den schwachen Balken der Union von oben her die Einheit Deutschlands im Rahmen eines Bundesstaats zu erreichen. Am Ende stand 128 129 130 131 132
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Heidelberg bei Winter 1848. Erschienen zu Stuttgart bei Adolph Krabbe. 1848, S. 52; Weigle, Staatsrechtslehrer, S. 52 f. So Jellinek, in: Heidelberger Professoren, S. 268. „Schließlich ist Zöpfl der entschiedenste Anhänger des Deutschen Bundes und des Frankfurter Bundestages geworden, die dadurch gegebene [Ordnung] erschien ihm als die normale Gestaltung des staatlichen deutschen Lebens, so dass er den Umwälzungen von 1866 keinerlei Verständnis, geschweige denn Zuneigung mehr entgegenzubringen vermochte“ (Roderich von Stintzing, Ernst Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, Teil III/2, 1910, Noten 239); s. ebenso Strauch, in: v. Weech , Badische Biographien, S. 210. Zum Erfurter Unionsparlament s. Gerhard Lingelbach, in: Thüringer Landtag (Hrsg.), 150 Jahre Erfurter Unionsparlament (1850-2000), Weimar 2000, S. 130 ff.
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die Wiederherstellung jener Ordnung des Deutschen Bundes, die 1815 auf dem Wiener Kongress geschaffen worden war und deren jahrzehntelanger Stillstand zur Revolution von 1848/49 geführt hatte.134 In den für die Heidelberger Universität schwierigen Zeiten des revolutionären Protestes bekleidete Zöpfl von Ostern 1849 bis 1850 das Amt des Prorektors.135 Allmählich normalisierte sich unter seiner Ägide der Vorlesungsbetrieb wieder, der nach dem Fortgang mancher Professoren während der Wochen des Aufstandes fast zum Erliegen gekommen war.136 Bis Ende 1850 blieb Heidelberg jedoch – einst Hauptquartier der badischen Revolution – von preußischen Truppenverbänden besetzt. Erst nach ihrem Abzug erwachten Kunst und Kommerz wieder, das öffentliche Leben aber verstummte und zog sich in die engen Grenzen der Kleinstaaten zurück. Die Stunde der Reaktion war nunmehr gekommen: Wenige Monate nach Zöpfls Prorektorat wird der Hochverratsprozess gegen Georg Gervinus eröffnet und der Philosophiedozent Kuno Fischer vom Lehramt entsetzt; wegen revolutionärer Umtriebe waren zuvor schon die Privatdozenten in der Juristischen Fakultät Alexander Friedländer und Heinrich Bernhard Oppenheim aus der Dozentenliste gestrichen worden.137 Merkwürdig, ja zynisch berührt daher die 1853 getroffene Feststellung Zöpfls, „daß keine Besorgnis mehr Platz greifen kann, als würde die Staatsgewalt das Gewährte je mehr einseitig zurücknehmen zu können.“138 Rasch hatte sich Zöpfl dem Zeitgeist der nun folgenden reaktionärkonservativen Epoche angeschlossen, dem er dann ebenso als Abgeordneter der Universität in der Ersten Kammer der Landstände huldigte.139 Aber in Heidelberg geriet er mit seinen ultrakonservativen Ansichten immer stärker in die Isolation. Denn trotz des Aderlasses Anfang der fünfziger Jahre wetterten die neu berufenen liberalen Heidelberger Professoren, welche das politische Forum der Neckarstadt beherrschten, offen gegen den in Misskredit geratenen Deutschen Bundestag und propagierten mit ebenso großen Einsatz wie Nachdruck den Gedanken der nationalen Einheit unter Preußens Führung. Nicht ohne Bitternis schreibt Zöpfl nach Karlsruhe: „Meine Stellung an der Universität Heidelberg hat in neuerer Zeit, theils durch die Berufung von v. Mohl, noch mehr durch die politische Richtung, welche der größere Theil meiner Collegen, namentlich meiner Altersgenossen eingeschlagen hat, und von denen 134 135
136 137 138 139
Vgl. Weber, Erinnerungen, S. 234 f. Vgl. in diesem Zusammenhang die Schilderung Webers (Erinnerungen, S. 234) des Empfangs der von dem Frankfurter Friedenskongress zurückkehrenden Teilnehmer durch Prorektor Zöpfl. Vgl. Herbert Derwein, Heidelberg im Vormärz und in der Revolution 1848/49, Heidelberg 1958, S. 101 ff. S. nur Eike Wolgast, Die Universität Heidelberg 1386-1986, Heidelberg 1986, S. 101. So Zöpfl, in: Die Demokratie in Deutschland, S. 53. Vgl. in diesem Zusammenhang nur das abschätzige Urteil v. Mohls über die politischen Wandlungen Zöpfls: „Besser wurde natürlich nichts dadurch gemacht, daß er dem öffentlichen Urteile durch eine lächerliche Aufgeblasenheit entgegentreten zu können glaubte, welche bei seiner falstaffähnlichen Erscheinung sich besonders komisch ausnahm“ (Lebens-Erinnerungen, S. 231 f.).
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ich mich umso mehr entferne, als ich hier Gelegenheit nehme, die Regierung nach meinen Kräften zu unterstützen, – sehr vieles an ihrer früheren Annehmlichkeit verloren.“140
Mit unverkennbarer Resignation bezeichnete der österreichische Gesandte am badischen Hof zu Karlsruhe die Rechtsgelehrten Konrad Eugen Roßhirt und Heinrich Zöpfl als „Überbleibsel einer besseren Zeit.“141
G. Ausklang Sechsmal bekleidete Zöpfl während seiner langen Heidelberger Jahre das undankbare Amt des Dekans.142 Unermüdlich bestieg er bis kurz vor seinem Tod das Katheder, um in gut besuchten Kollegs den Studenten in die Grundlagen der Jurisprudenz einzuführen. Frühmorgens um sechs Uhr begannen während des Sommersemesters die Vorlesungen, denen ein Diktat zu Grunde lag, das er mit den Hörern besprach und erläuterte; ebenso wenig versäumte es Zöpfl, mit bisweilen „derben“ Späßen ihre rasch erlahmende Aufmerksamkeit wieder aufzufrischen.143 Ein früherer Hörer berichtet: „Ohne je das Detail zu vernachlässigen, betrachtete er die Rechtsbegriffe von dem freien Standpunkt eines Denkers, nie von dem eines einseitigen Pedanten […] Zöpfl blieb jung und frisch mit seinen Schülern, fand bei ihnen neue Anregung und neuen Reiz.“144
Vorangegangen waren dem Tagewerk im Auditorium bereits drei bis vier Stunden angestrengter wissenschaftlicher Beschäftigung mit den unterschiedlichsten rechtswissenschaftlichen Themen. Im gesellschaftlichem Umgang, dem er große Aufmerksamkeit widmete, wird Zöpfl als eine „gutmütige, menschenfreundliche Seele“ geschildert.145 Humorvoll reagierte er auf die Begrüßung eines ehemaligen Zuhörers – „Sie haben sich gar nicht verändert, Herr Hofrat“ – mit den Worten: „Ich und das Heidelberger Faß bleiben immer dieselben!“ Und als ein titelsüchtiger Kollege sich in die ausgelegte Essensliste mit dem Zusatz „Ritter“ einschrieb, konterte er mit der Notiz „Professor Zöpfl, Fußgänger“.146 Eine glückliche Ehe verband ihn seit 1832 mit Anna Leo aus Bamberg. Als Vater von vier Töchtern führte er ein gastliches Haus, in dem „insbesondere die edle Musika allseitig gepflegt“ wurde; Zöpfl selbst strich hierbei das Violoncello „mit seltener Meisterschaft“. 1874 verlieh ihm sein Landesherr den Titel eines Geheimen Hofrats und 140 141 142 143 144 145 146
Schreiben vom 13. 12. 1850 (Generallandesarchiv Karlsruhe, 205/590). Zit. nach Wolgast, Universität Heidelberg, S. 102. 1845, 1851, 1856, 1862/63, 1864, 1867/68, 1873/74, vgl. die Angaben bei Drüll , Gelehrtenlexikon, S. 312. Vgl. nur Strauch, in: v. Weech, Badische Biographien, S. 210. So Kleinschmidt, Illustrirte Zeitung, S. 108; vgl. v. Jagemann, Fünfundsiebzig Jahre, S. 28: „Zöpfls Staatsrecht schätzte ich wegen seiner klaren und positiven Diktion.“ S. Weber, Erinnerungen, S. 236. S. v. Jagemann, Fünfundsiebzig Jahre, S. 28.
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bei Gelegenheit des großherzoglichen Regierungsjubiläums im April 1877 den eines Geheimrats 2. Klasse.147 Wenige Wochen später verstarb er am 4. Juli. Auf die Feierlichkeiten, welche die Fakultät anlässlich seines goldenen Doktorjubiläums Ende August bereits vorbereitet hatte, musste man daher verzichten. Sein ehemaliger Schüler und späterer Biograph Strauch stellt resümierend fest, dass Zöpfls Schicksal „insofern ein tragisches gewesen ist“, als er „durch Erziehung, Umgebung und Glauben veranlaßt worden war, die Partei der Vergangenheit zu ergreifen“.148 Zutreffend erscheint gleichfalls die Würdigung des wissenschaftlichen Werks Zöpfls durch seinen Fakultätskollegen Rudolf Heinze: „Was er geleistet und geschaffen hat, das hat der treue Arbeiter mit glücklicher Anlage bei gesundem Sinn und unübertrefflicher Ordnungsliebe zustande gebracht durch unermüdliche, redliche Thätigkeit und Anstrengung.“149
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v. Jagemann, Fünfundsiebzig Jahre, berichtet: „Zöpfl stand damals zu liberalen Ministern im Gegensatz, die ihn nicht graduierten. Eines Tags fuhr er geradenwegs zum Großherzog in die Audienz, dessen Regierung er in den 50er Jahren eine Stütze gewesen, um sich zu beschweren, und erhielt dann auch schnell hintereinander in kurzen Etappen die Patente als Geheimer Hofrat und als Geheimer Rat“ (S. 28). In: v. Weech, Badische Biographien, S. 211. Zit. nach Weber, Erinnerungen, S. 237.
Preußen und das Bürgerliche Gesetzbuch Werner Schubert Die Bundesstaaten haben durch die von ihnen benannten Kommissionsmitglieder und durch ihre Kritiken am 1. und 2. BGB-Entwurf einen ihren privatrechtlichen Traditionen entsprechenden Beitrag zum BGB geleistet, den sie mit dem Absterben der Partikularrechtsordnungen in dieser sachkundigen Weise später nicht mehr erbringen konnten. Während für Baden, Bayern und Mecklenburg neuere Untersuchungen über ihre Stellungnahmen zu den BGB-Entwürfen vorliegen1, fehlt bislang eine Darstellung der Einflüsse Preußens und des ALR auf die neue Kodifikation. Adolf Laufs hat sich schon früh mit der Entstehungsgeschichte des BGB befasst2 und mehrere Arbeiten zu dieser Thematik angeregt, insbesondere die Bahn brechende Studie von Peter Kögler, Arbeiterbewegung und Vereinsrecht. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des BGB (1974)3. Laufs sei deshalb der folgende Beitrag über die Auseinandersetzung Preußens, der juristischen Großmacht des Deutschen Reiches zumindest bis 1900, gewidmet.
A. Die Einsetzung und die Arbeiten der 1. BGB-Kommission Preußen trat erst am 09. 12. 1871 im Ausschuss des Bundesrates für Verfassung und Justizwesen offen für die von den Nationalliberalen gewünschte Ausdehnung der Reichskompetenz auf das gesamte bürgerliche Recht ein4. Vorher hatte sich der Justizminister Leonhardt mit dem Gedanken getragen, in seinem Ministerium den Entwurf zu einem preußischen BGB durch Franz Förster, von 1868 bis 1874 im Ministerium für die liberale und gesamtdeutsche Reformgesetzgebung zuständig, ausarbeiten zu lassen, diesen Plan jedoch nach dem Dezember 1871 nicht mehr weiter verfolgt. Die Mittelstaaten (Bayern, Sachsen und Württemberg) stimmten der Verfassungsänderung erst am 04. 12. 1873 zu unter der Voraussetzung, dass der BGB-Entwurf durch eine Kommission und nicht durch einen ein1
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Vgl. Karlheinz Muscheler, Die Rolle Badens in der Entstehungsgeschichte des BGB, Berlin 1993; Werner Schubert, Bayern und das BGB, Ebelsbach 1980; ders., Mecklenburg und das BGB, in: Jörn Eckert, Kjell A. Modéer, Geschichte und Perspektiven des Rechts im Ostseeraum, Frankfurt/M. 2003, S. 305 ff. Adolf Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 1. Aufl., Berlin, New York 1973, S. 224 ff. Vgl. auch die unter Laufs entstandenen Diss. iur. Heidelberg von Ursula Bähr, Die berufsständischen Sonderinteressen und das BGB, 1972, und Dietmar Brandt, Die politischen Parteien und die Vorlage des BGB im Reichstag, 1975. Hierzu und zum folgenden Werner Schubert, Preußens Pläne zur Vereinheitlichung des Zivilrechts nach der Reichsgründung, in: ZRG Germ. Abt. 96 (1979), S. 243 ff.
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zigen Juristen, der nur aus Preußen hätte kommen können (Förster oder Friedberg), ausgearbeitet wurde5. Auch die Beratungsgrundlage sollte, so der Vorschlag der Vorkommission 1874, durch Einzelredaktoren in Form von Teilentwürfen aufgestellt werden. In den Beratungen dürfte Preußen für einen Hauptredaktor eingetreten sein, hatte sich aber mit diesem Vorschlag gegenüber den Vertretern der Mittelstaaten nicht durchsetzen können. Preußen konnte jedoch dann bei der Aufstellung der 1. Kommission erreichen, dass vier der elf Mitglieder unmittelbar aus Preußen kamen6 und außerdem ein weiteres Mitglied, Derscheid, der zwar dem Justizdienst von Elsass-Lothringen angehörte, jedoch aus der preußischen Justiz kam. Noch wichtiger war, dass Preußen mit Eduard Pape, der über ein Jahrzehnt Gesetzgebungsreferent im preußischen Justizministerium gewesen war, den Vorsitzenden stellte, der bei Stimmengleichheit in der Kommission das doppelte Stimmrecht hatte, das vor allem dann bedeutsam war, wenn ein nichtpreußisches Mitglied fehlte. Am bedeutsamsten war, dass nach dem Vorschlag Papes die rechtspolitisch wichtigsten Materien, das Sachen- und das Familienrecht, in die Hände gesetzgeberisch erfahrener preußischer Juristen – Johow und Planck – gelegt wurden. In der Folgezeit „kümmerte“ sich Preußen nicht unmittelbar um die Arbeiten der Kommission7. Allerdings konnte es mit dem 1. BGB-Entwurf durchaus zufrieden sein, da die von ihm benannten Kommissionsmitglieder sich als glänzende Juristen und damit als die besten Vertreter der Interessen Preußens erwiesen hatten. Demgegenüber war das Gewicht der süddeutschen Mitglieder (Schmitt, Kübel, Gebhard und Roth) erheblich geringer. Zwar leistete auch Schmitt als Erbrechtsredaktor hervorragende Arbeit, hatte aber Schwierigkeiten, die ihm aus München übermittelten Wünsche seiner Staatsregierung in der Kommission durchzusetzen8. Neben den beiden preußischen Redaktoren war auch Kurlbaum als Kenner des ALR als Antragsteller sehr aktiv. Überragend war der Einfluss Papes auf die Kommissionsarbeiten. Pape nahm weitgehend die Aufgaben eines Hauptreferenten wahr und beeinflusste auf diese Weise die Fassung des E I maßgeblich mit9. Er hielt meist die einleitenden Vorträge, sonderte die Streitfragen aus und fasste das Ergebnis der Abstimmungen zusammen. Nicht selten unterbrach er die Sitzungen, um Vorschläge zur Verbesserung widersprüchlicher Mehrheitsentscheidungen auszuarbeiten. Die Fassungen der Vorschriften nach Maßgabe der Kommissionsbeschlüsse entwarf er meist noch am Sitzungstage und beriet diese Fassungen später eingehend mit der Redaktionskommission. Er ließ während der gesamten Beratungen Wortregis5
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Hans Schulte-Nölke, Das Reichsjustizamt und die Entstehung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, Frankfurt/M. 1995, S. 27 ff.; Werner Schubert, in: Horst Heinrich Jakobs, Werner Schubert, Die Beratung des BGB. Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB, Berlin 1978, S. 27 ff. Nämlich Johow, Kurlbaum, Pape und Planck (zur Biographie R. Jahnel, in: Jakobs/Schubert, Materialien, S. 72 ff.). Schubert, in: Jakobs/Schubert, Materialien, S. 49 Fn. 102. Hierzu Werner Schubert, Bayern und das BGB, Ebelsbach 1980, S. 18 f.; Schubert, in: Jakobs/Schubert, Materialien, S. 49 f. Hierzu Friedrich Neubauer, in: ADB 52 (1906), S. 750 ff.
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ter führen, um eine einheitliche Ausdrucksweise zu erreichen. Insgesamt entsprach der E I in weiten Teilen den preußischen Interessen, wie die spätere Stellungnahme Preußens zu den Grundfragen der Vorlage zeigen sollte.
B. Die Vorbereitung der zweiten Lesung des BGB-Entwurfs Der weitere Gang der Kodifikationsarbeiten lag nach der Fertigstellung des E I in den Händen des Reichsjustizamts (RJA)10 und nicht mehr, wie noch 1873/74, in denen des Bundesrates und des preußischen Justizministeriums. Allerdings wurden auch nach 1888 das preuß. JM und das Staatsministerium (StM) mit den wichtigsten Schritten Preußens befasst, so am 13. 10. 1890 mit der Einsetzung der 2. BGB-Kommission11. Die preußischen Justizministerialakten zum BGB zeigen, dass sich das Ministerium zunächst so gut wie gar nicht mit dem Entwurf inhaltlich auseinandergesetzt hat. Überliefert sind lediglich fünf Kurzprotokolle über die Beratungen des Familienrechts im Ministerium mit Stölzel12 als Referenten. Diese Beratungen13 betrafen im übrigen nur wenige Einzelvorschriften vor allem des Verlöbnis-, Eheschließungs-, Ehescheidungs- und Güterrechts. Nicht feststellen lässt sich, welche Juristen außer Stölzel an den Beratungen teilgenommen haben und ob diese nach den ersten fünf Sitzungen weitergeführt worden sind. Erst nachdem das RJA über den Reichskanzler die Bundesregierungen am 27. 06. 1889 aufgefordert hatte14, zu 68 Grundfragen Stellung zu nehmen, kam es ab Herbst 1889 zu umfassenderen Beratungen im JM über den E I, obwohl der Justizminister Schelling das vom RJA vorgeschlagene Verfahren nicht in jeder Beziehung für förderlich hielt. Die OLG-Präsidenten wurden noch im August 1889 gebeten, Richter aus ihrem Amtsbezirk zu benennen15, die geeignet waren, durch ihre Mitarbeit an den Beratungen des Ministeriums über die 68 Fragen des Reichskanzlers teilzunehmen. Diese Juristen sollten vor allem die bisher bekannt gewordenen Kritiken am BGB zusammenstellen und Vorschläge zur Beantwortung der jeweiligen Fragen unterbreiten. Zu diesem Zweck wurden sukzessive nach Berlin abgeordnet für den Allgemeinen Teil des E I Landrichter Foerster (Brieg) und OLG-Rat Planck (Kiel), für das Schuldrecht OLG-Rat Förster (Köln), OLG-Rat Winchenbach (Stettin) und Landrichter Detmold (Celle), für das Sachenrecht OLG-Rat Klein (Köln) sowie erneut Planck und Foerster, für das Fami10 11
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Schulte-Nölke, Reichsjustizamt, S. 143 ff. Protokoll der Staatsministerialsitzung bei Schubert, in: Jakobs/Schubert, Materialien, S. 339 f. Über Adolf Stölzel (1831-1919) Rolf Lieberwirth, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte, 4. Bd., 1990, Sp. 2006 ff. Kurzprotokoll über die Sitzungen vom 09., 16., 23., 30. 11. und 07. 12. 1888 im Geh. StA Berlin-Dahlem, Rep. 84 a/11773, Bl. 385 ff. Hierzu Schubert, in: Jakobs/Schubert, Materialien, S. 329 ff. Zum folgenden Geh. StA Berlin-Dahlem, Rep. 84 a/11774 f.
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lienrecht OLG-Rat Remelé (Köln), Kammergerichtsrat Schultzenstein und OLGRat Fabricius (Celle) und für das Erbrecht OLG-Rat Winchenbach sowie OLGRat Vierhaus (Kassel). Die Ausarbeitungen dieser Juristen sind in den Ministerialakten überliefert16, während Protokolle über die Beratungen im Ministerium wohl nicht geführt worden sind. Als Beispiel für eine solche Ausarbeitung sei auf das Exposé des Stettiner OLG-Rats und späteren RG-Senatspräsidenten Winchenbach17 hingewiesen. Winchenbach schlug vor18, dem § 218 (Unbeschränktheit des Umfangs des Schadensersatzes, insbesondere Unerheblichkeit, ob der Schaden vorauszusehen war) nicht zuzustimmen: „Vielmehr ist jedenfalls da, wo eine Verschuldung des Bethätigers die Grundlage der Ersatzverbindlichkeit bildet, eine Abstufung dieser Ersatzverbindlichkeit dem Umfange nach zuzulassen und dem Richter die Befugnis beizulegen, den Umfang der Ersatzverbindlichkeit unter Berücksichtigung der in Betracht kommenden Umstände und des Grades der Verschuldung nach seinem Ermessen zu bestimmen.“
§ 220 des Entwurfs sollte entfallen. Auch § 219 E I war dahin abzuändern, „dass dem Gläubiger das Wahlrecht einzuräumen ist, entweder Wiederherstellung des früheren Zustandes oder Geldentschädigung zu fordern, dass aber, wenn der Gläubiger die Geldentschädigung wählt, dem Schuldner zu gestatten ist, sich von diesem Anspruch durch Naturalrestitution insoweit zu befreien, als diese für den Gläubiger den Umständen nach gleichwerthig ist.“ Das endgültige Gutachten des JM ging dagegen auf Zustimmung zu den §§ 218-220 E I19. Aus den Akten des JM ergibt sich nicht, wer von den Beamten des Ministeriums regelmäßig an den Beratungen, die unter der Leitung von Schelling gestanden haben dürften, teilgenommen hat. Zumindest dürfte auch hier wieder Stölzel neben Eichholz20 führend gewesen sein. Stölzel dürfte auch auf die Endredaktion der Mitte 1891 als Manuskript gedruckten „Bemerkungen des Königlich Preußischen Justizministers“ über die vom Reichskanzler hervorgehobenen 68 Punkte Einfluss gehabt haben. Hierfür spricht, dass insbesondere der Abschnitt zum Familienrecht – dieses bildete das Spezialgebiet von Stölzel – besonders sorgfältig mit rechtshistorischen Rückblicken abgefasst ist.
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Geh. StA Berlin-Dahlem, Rep. 84 a/11845-11849 (nach Büchern des BGB geordnet). Heinrich Hermann Winchenbach (1837-1929): 1874 Kreisgerichtsrat, 1879 LG-Rat, 1884 OLG-Rat, 1891 Rat am RG, 1902-1910 Senatspräsident am RG. Das folgende Zitat nach der Akte des Geh. StA Berlin-Dahlem, Rep. 84 a/11846. Zum Entwurf eines BGB für das Deutsche Reich. Bemerkungen des Kgl. Preußischen Justizministers über die in dem Rundschreiben des Reichskanzlers vom 27. Juni 1889 hervorgehobenen Punkte. Als Manuskript gedruckt (im Folgenden zit. als: Bem.), Berlin 1891, S. 46. Eichholz war später Mitglied der 2. BGB-Kommission (Jahnel, in: Jakobs/Schubert, Materialien, S. 98).
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C. Die „Bemerkungen“ des preußischen Justizministers von 1891 Die „Bemerkungen“ (Bem.) umfassen die Antworten auf die 68 Fragen des Reichskanzlers. Im Folgenden soll auf die Abschnitte besonders eingegangen werden, die sich mit rechtspolitisch und rechtsdogmatisch wichtigen Materien befassen. Nicht berücksichtigt wurden die für Preußen sehr bedeutsame Frage der Anlegung des Mündelvermögens21, die heute von nur noch untergeordneter Bedeutung ist, und die primär rechtstechnische Frage der Ausgestaltung der Erbenhaftung22. Die Stellungnahmen sind in der Weise aufgebaut, dass zunächst eventuelle, genau formulierte Änderungsvorschläge mitgeteilt werden, denen eine präzise Begründung folgt. Diese setzt sich vor allem mit den „Motiven“ zum E I auseinander. In seltenen Fällen wie im Mobiliarsachenrecht gehen die Bem. auch auf den Vorentwurf ein. Hervorzuheben ist, dass durchgehend auch das für Rheinpreußen maßgebende französische Recht mit berücksichtigt ist. Den Bem. kam es nicht in erster Linie auf die rechtsdogmatische Ausgestaltung einer Regelung, sondern vornehmlich darauf an, ob die Gestaltung des Entwurfs den praktischen Bedürfnissen und dem in der Bevölkerung verwurzelten Rechtsbewusstsein entsprach. Wenn häufiger vom „deutschen Rechtsbewusstsein“, „deutscher Art und Sitte“23 und von der „nationalen Rechtsentwicklung“ die Rede ist, so ist dies kaum als Ausdruck nationalistischer Enge zu sehen als vielmehr als Mittel der Abwehr von als überholt angesehenen Positionen des gemeinen Rechts. Insgesamt verfolgten die Bem. wirtschaftsliberale und gleichzeitig sozialkonservative Ziele. Dem steht nicht entgegen, dass für das Eherecht eine Lockerung des Eheanfechtungs- und Ehenichtigkeitsrechts gewünscht wurde. Hierdurch sollte im Anschluss an das preußisch-protestantische Eherecht ein Ventil erhalten bleiben gegenüber dem allein auf dem Verschuldensprinzip aufgebauten Ehescheidungsrecht24.
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Hierzu Bem., S. 295 ff.; §§ 1806-181 ff. (hierzu die Quellen bei Jakobs/Schubert, Beratung des BGB, Familienrecht II, 1989, S. 895 ff.). Ausführlich hierzu Bem., S. 350-387 (mit Gegenentwurf). – Die Ausgleichspflicht der Miterben sollte nicht, wie nach E I § 2157, auf den Fall der gesetzlichen Erbfolge beschränkt sein, sondern auch bei einer Verfügung von Todes wegen eintreten (Bem., S. 387 ff.). Bem., S. 325. Die „Bemerkungen“ ergingen im Namen des Justizministers, nicht der Staatsregierung, wie diese am 26. 07. 1890 beschloss (Geh. StA Berlin-Dahlem, Rep. 84 a/11775). – Justizminister war vom 31. 01. 1889 bis 13. 11. 1894 Hermann v. Schelling, vom 13. 11. 1894 bis 20. 11. 1905 Karl Hermann Schönstedt. Schelling war von 1879 bis Anfang 1889 Staatssekretär des RJA, das erst unter seinem Nachfolger Oehlschläger die Überarbeitung des E I in die Hand nahm (hierzu Schulte-Nölke, Reichsjustizamt, S. 143 ff.).
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I. Entmündigung wegen Trunksucht25 Entsprechend dem Wunsch der überwiegenden Kritik befürwortete auch Preußen die Möglichkeit einer Entmündigung wegen Trunksucht in einer den Vorschlägen des Innenministeriums26 angelehnten Fassung: „Eine Person, welche durch übermäßigen und gewohnheitsmäßigen Genuss geistiger Getränke in einen Zustand gerathen ist, in welchem sie zur Besorgung ihrer Angelegenheiten nicht mehr fähig ist, kann wegen Trunksucht entmündigt werden. – Hört der im ersten Absatze bezeichnete Zustand in Folge eingetretener Besserung auf, so ist die Entmündigung wieder aufzuheben.“ Für diese Regelung sprach nach den Bem. die durch die Trunksucht veranlasste Zerrüttung der ökonomischen Verhältnisse des Trunksüchtigen und insbesondere „dessen Unfähigkeit zur Erfüllung der ihm gegen seine Angehörigen obliegenden sittlichen Pflichten“, was schwere Schäden für seine Familie „mit Nothwendigkeit“ zur Folge habe27. II. Vereinsrecht28 Nach § 42 E I bestimmte sich die juristische Persönlichkeit eines Personenvereins und deren Verlust „in Ermangelung besonderer reichsgesetzlicher Vorschriften nach den Landesgesetzen des Ortes, an welchem der Personenverein seinen Sitz hat“. Diese Regelung wurde in den Bem. gebilligt29. Voraussetzung für eine Fortbildung des Körperschaftsrechts (Normativsystem) sei, dass zuvor das öffentliche Vereinsrecht „überhaupt so gestaltet würde, dass den Gefahren, welche dem Gemeinwohl aus einer Entfaltung der Vereine erwachsen können, jederzeit begegnet werden könnte“30. Auch die Vorkommission des RJA hielt an der Regelung des § 42 E I fest31, erarbeitete aber gleichzeitig Eventualvorschläge für den Fall, dass die Mehrheit der 2. Kommission für reichsgesetzliche Normen zur Entstehung und Endigung von Vereinen stimmte. Diese Vorschläge sahen vor, dass der Verwaltungsbehörde gegen die Eintragung ein Einspruch zustand, wenn der Verein nach dem öffentlichen Vereinsrecht unerlaubt war oder verboten werden konnte oder wenn er einen „politischen, sozialpolitischen oder religiösen Zweck“ verfolgte. Der Einspruch konnte im Verwaltungsstreitverfahren angefochten werden (vgl. §§ 58, 59 E II rev.) Für diese Regelung votierte die Mehrheit der 2. Kommission. 25 26 27 28
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Bem., S. 5 ff. Dieser Entmündigungsgrund wurde in § 6 BGB aufgenommen. Vgl. Geh. StA Berlin-Dahlem, Rep. 84 a/11775. Zur Entstehung des BGB-Vereinsrechts vgl. bei Peter Kögler, Arbeiterbewegung und Vereinsrecht, Berlin 1974, und Thomas Vormbaum, Die Rechtsfähigkeit der Vereine im 19. Jh., Berlin 1976. In der Akte des Geh. StA Berlin-Dahlem, Rep. 84 a/11775 finden sich Stellungnahmen von Räten des Innenministers zum Vereinsrecht des E I. Bem., S. 16. Hierzu die Quellen bei Jakobs/Schubert, Beratung des BGB, Allgemeiner Teil, 1985, S. 142 ff.
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Das StM fand sich mit dieser Regelung nicht ab und verlangte auch die Möglichkeit eines Einspruchs und Auflösungsrechts für Schul- und Erziehungsvereine sowie die Möglichkeit, die Entscheidung der Verwaltungsgerichte auszuschließen32. Die BGB-Kommission des Reichstags wollte das Einspruchsrecht der Verwaltung ganz beseitigen. Der Kompromiss zwischen dem RJA und den Parteien sah die Wiederherstellung der von der 2. Kommission beschlossenen Fassung vor, der auch Preußen im Interesse des Zustandekommens des BGB schließlich zustimmte33. III. Formerfordernisse im Grundstücksrecht Für Preußen war die Form des § 313 BGB nur akzeptabel, wenn gleichzeitig bei fehlender Beurkundung eine Heilung des obligatorischen Vertrags möglich war. Preußen setzte gegenüber Bayern 1895 im Bundesrat durch34, dass diese Möglichkeit erhalten blieb. – Der E II rev. sah für die Auflassung wahlweise die Zuständigkeit des Grundbuchamts, des Gerichts oder des Notars vor, was auf einem Antrag Bayerns beruhte. Demgegenüber hielt Preußen die ausschließliche Zuständigkeit des Grundbuchamtes für unverzichtbar. Der Bundesrat änderte deshalb den Entwurf dahin ab35, dass die Auflassung bei gleichzeitiger Anwesenheit beider Teile nur vor dem Grundbuchamt sollte erklärt werden können. Gleichzeitig kam man Bayern im Einführungsgesetz dadurch entgegen, dass durch die Landesgesetzgebung die ausschließliche Zuständigkeit der Notare für die Beurkundung nach § 313 BGB und die fakultative Zuständigkeit der Notare für die Auflassung begründet werden konnte. IV. Rücktrittsrecht bei Nichterfüllung gegenseitiger Verträge Interessant ist, dass Preußen ausdrücklich ein allgemeines Rücktrittsrecht, wie es Art. 1138 C. c. enthielt, ablehnte mit der Begründung, dieses stelle eine erhebliche Gefährdung des Verkehrs dar und würde für Deutschland eine „entschiedene Neuerung“ bedeuten36. Zwei Jahre nach Inkrafttreten des BGB kreierte jedoch das Reichsgericht bei Schlechterfüllung von Sukzessivlieferungsverträgen unter dem Stichwort der „positiven Vertragsverletzung“ ein solches Rücktrittsrecht offen32
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Den Beratungen im StM war eine ausführliche Votierung des Vereinsrechts des E II durch die Fachminister vorangegangen (Voten bei Jakobs/Schubert, Beratung, Allgemeiner Teil, S. 1327 ff.). Hierzu das StM-Prot. Vom 4.6.1896 bei Schubert, in: Jakobs/Schubert, Materialien, S. 410 ff. Hierzu Jakobs/Schubert, Beratung, Schuldrecht I, S. 412 ff., 1978. Hierzu Jakobs/Schubert, Beratung, Sachenrecht I, 1985, S. 550 ff.; hierzu auch Schubert, in: Jakobs/Schubert, Materialien, S. 26 ff. Die heutige Rechtslage entspricht dem, was Bayern 1896 durchsetzen wollte (vgl. §§ 925, 925 a BGB n. F.). Bem., S. 75.
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sichtlich in Anlehnung an das rheinisch-französische Recht, das allerdings im Urteil nicht erwähnt wurde37. V. Mietrecht Wie ein Großteil der Kritik wünschte auch Preußen unter Hinweis insbesondere auf die Regelung im ALR, C. c. und im Bad. LR die Übernahme des Grundsatzes „Kauf bricht nicht Miete“38, dem die 2. Kommission mit der von Preußen gewünschten Ausgestaltung dieses Grundsatzes folgte. Die theoretischen Bedenken der 1. Kommission – so die Bem. – dürften den Gesetzgeber nicht davon abhalten, dem praktischen Bedürfnis gerecht zu werden, auch wenn das entgegen gesetzte Prinzip besser in das System des Grundbuchrechts des Entwurfs passe. Dagegen billigte Preußen die Formfreiheit der Miet- und Pachtverträge über Grundstücke39. Die Zulässigkeit von Untermiete und Unterpacht ohne Zustimmung des Vermieters wurde abgelehnt; stattdessen verlangte Preußen die Übernahme der Regelung des ALR (Erfordernis der Genehmigung durch den Vermieter; Kündigungsrecht des Mieters bei grundloser Verweigerung), ein Wunsch, dem die 2. Kommission nachkam40. VI. Besitzrecht Preußen erstellte zum Besitzschutz einen Gegenentwurf41, der in wesentlichen Teilen von der 2. Kommission berücksichtigt wurde. Fallen gelassen wurde die vom Entwurf getroffene Unterscheidung zwischen Besitz und Inhabung, vielmehr 37
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Hierzu Hans Peter Glöckner, in: Ulrich Falk, Heinz Mohnhaupt (Hrsg.), Das BGB und seine Richter, Frankfurt/M. 2000, S. 155 ff. – Zum allgemeinen Schuldrecht wünschte Preußen noch, dem Richter die Herabsetzung einer unverhältnismäßig hohen Vertragsstrafe zu ermöglichen (Bem., S. 70 f.). Dagegen sollten Vorschriften gegen Ausbeutung des Schuldners bei Abzahlungsgeschäften, Möbelleihverträgen, Viehverstellungen usw. nicht aufgenommen werden (vgl. hierzu das 1894 ergangene Abzahlungsgesetz). Hierzu Tilman Repgen, Die soziale Aufgabe des Privatrechts. Eine Grundfrage in Wissenschaft und Kodifikation am Ende des 19. Jahrhunderts, Tübingen 2001, S. 234 ff. und Werner Schubert, Vom preußischen Mietrecht zum Mietrecht des BGB – Normengeschichte und frühe Rechtsprechung des Reichsgerichts, in: Joachim Jickeli, Peter Kreuz, Dieter Reuter (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Jürgen Sonnenschein, Berlin 2003, S. 11 ff. Demgegenüber beschloss die 2. Kommission die Aufnahme der (nicht sehr gelungenen) Formvorschrift des § 566 BGB (hierzu Schubert, in: Gedächtnisschrift Sonnenschein, S. 38 ff.). Vgl. § 549 BGB (heute § 540 n. F.); hierzu Schubert, in: Gedächtnisschrift Sonnenschein, S. 28 ff. Bem., S. 146 ff.; zum folgenden auch Werner Schubert, Die Entstehung der Vorschriften des BGB über Besitz und Eigentumsübertragung. Ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des BGB, Berlin 1966, S. 73 ff.
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sollte jedes in Betracht kommende Besitzverhältnis „Besitz“ genannt und die „besondere Art der Bedeutung des Besitzes nach Grund und Willensrichtung da, wo es nöthig ist, durch geeignete Zusätze“ kenntlich gemacht werden42. Wegweisend war der Vorschlag zu einem § 799 a: „Uebt Jemand die thatsächliche Gewalt über eine Sache für einen Anderen in dem Haushalte, dem landwirthschaftlichen Betriebe, dem Erwerbsgeschäfte desselben oder in einem ähnlichen Abhängigkeitsverhältniß aus, so gilt nur dieser Andere als Besitzer“43, aus dem § 855 BGB hervorging. Nach Meinung der Bem. war die Gestaltung des Besitzschutzes nur eine Frage der Zweckmäßigkeit, bei der „nur die Rücksicht auf die Bedürfnisse des Verkehrslebens in Betracht kommen darf“44. VII. Abstraktionsgrundsatz Ausführlich rechtfertigte Preußen – auch gegenüber den Kritikern aus dem Gebiet des ALR45 – diesen Grundsatz. Für das JM ging es lediglich darum, „ob die abstrakte Gestaltung des Entwurfs den praktischen Bedürfnissen des sachenrechtlichen Verkehrs genügt, und ob durch die Einführung des dinglichen Vertrags gegenüber dem bestehenden Rechtszustande Vortheile erreicht werden, oder ob vielmehr deren Nachteile zu befürchten sind, welche schwerer wiegen, als die erwarteten Vortheile“46. Einen Vorzug der Abstraktion sah Preußen in der Steigerung der Beleihungsfähigkeit von Grundstücken. Die Befürchtungen, die man in Preußen an die Einführung der abstrakten Auflassung geknüpft habe, waren nach Meinung des JM nicht eingetreten, das insoweit von einer Überschätzung der Bedeutung des Besitztitels sprach47. Als Verbesserung gegenüber dem preuß. Recht wurde der spätere § 142 Abs. 2 BGB angesehen (Schlechtgläubigkeit des Dritterwerbers bei Kenntnis des Anfechtungsgrundes). VIII. Vormerkung für obligatorische Ansprüche Nach dem in Deutschland überwiegend geltenden Recht waren Vormerkungen für persönliche Ansprüche auf Einräumung von Rechten an einem Grundstück möglich, insbesondere nach dem preuß. EEG von 187248. Dies hatte auch Johow in seinem Teilentwurf berücksichtigt, wie die Bem. ausdrücklich hervorheben, damit jedoch keinen Erfolg gehabt. Preußen verlangte zur zweiten Lesung die Zulassung der Vormerkung für obligatorische Ansprüche im Sinne des preußischen Rechts,
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Bem., S. 145. Bem., S. 146. Bem., S. 155. Schubert, in: Gedächtnisschrift Sonnenschein, S. 121 f., 155 f. Bem., S. 166. Bem., S. 168. Preuß. Gesetz-Sammlung 1872, S. 433 ff.
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ein Wunsch, dem die 2. Kommission in Anlehnung an das preuß. Grundstücksrecht nachkam. IX. Gutglaubenserwerb Im preußischen Recht war der gutgläubige Erwerb auf entgeltliche Geschäfte beschränkt (§§ 9 u. 28 EEG). Der JM schlug deshalb vor, das gleiche auch für das BGB vorzusehen. Die Argumente der Motive, dass die Billigkeit gegen den durch den unentgeltlichen Erwerb Verletzten zu einer großen Unbilligkeit gegen den Erwerber führen könne, ließ man nicht gelten. Auch der Berechtigte könne einen unerwarteten Schaden erleiden. Das Argument der Gefährdung der Sicherheit des Verkehrs ließ Preußen nicht gelten. Die 2. Kommission entschied jedoch gegen die Bitte Preußens, kam dieser jedoch mit einem Bereicherungsanspruch gegen den Dritterwerber entgegen (§ 816 Abs. 1 S. 2 BGB). X. Pfandrecht an Grundstücken49 Der E I sah vier verschiedene Formen der Kapitalbelastung von Grundstücken vor: Die Buch- und die Briefhypothek, die Sicherungshypothek sowie die Grundschuld. Dieses System stellte bereits einen Kompromiss zwischen den preußischen Belangen und dem Wunsch Bayerns dar, das als alleinige Form des Grundpfandrechts die akzessorische Buchhypothek durchsetzen wollte. Die Bem. billigten das System des E I und lehnten sowohl die Abschaffung der Grundschuld als auch die Beseitigung der Buchhypothek ab, die nach preußischer Ansicht allerdings nicht unbedenklich war. Entscheidend hierfür war, dass nach den Motiven50 in großen Gebieten des Reichs der Hypothekenverkehr immer noch durch das Grundbuch vermittelt werde und sich ein Bedürfnis, hieran etwas zu ändern, bisher nicht herausgestellt habe51. In den Beratungen der 2. Kommission konnte Bayern (vertreten durch Jacubezky) seinen Wunsch nach Abschaffung der Briefhypothek nicht durchsetzen52. Unter ausdrücklicher Befürwortung des Kommissionsvorsitzenden Küntzel wurde die Wirksamkeit der Zession einer Briefhypothek nicht mehr von der Beglaubigung der Abtretungserklärung abhängig gemacht. Im JA des Bundesrates hatte Bayern mit dem erneuten Vorstoß auf Abschaffung der Briefhypothek ebenfalls keinen Erfolg, nachdem Nieberding darauf hingewiesen hatte53, das Hypothekenrecht des Entwurfs „bedeute für Preußen einen unzweifelhaften Rückschritt. Für die Zustimmung Preußens sei aber der 49
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Zur Entwicklung des preuß. Grundpfandrechts Stephan Buchholz, Abstraktionsprinzip und Immobiliarrecht. Zur Geschichte der Auflassung und der Grundschuld, Frankfurt/M. 1978, S. 266 ff. Motive, Bd. III, S. 617 Bem., S. 217. Schubert, Bayern, S. 39 f. Schubert, Bayern, S. 40.
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politische Grund ausschlaggebend gewesen, dass die Herstellung der Rechtseinheit auf andrem Wege nicht zu erreichen sein würde. Er gebe zu, dass manche Staaten durch die Annahme des Entwurfs ein Opfer bringen, aber auch Preußen bringe ein Opfer durch den Uebergang von seinem eigenen einfachen Systeme zu dem verwickelten Systeme des Entwurfs.“ XI. Verlöbnisrecht54 Nach § 1227 E I sollte durch das Verlöbnis eine Verbindlichkeit der Verlobten zur Schließung der Ehe nicht begründet werden. Statt dessen sollte im Anschluss an § 778 CPO bestimmt werden, dass eine Klage auf Schließung der Ehe nicht stattfindet, mithin dem Verlöbnisvertrag nicht jede Wirksamkeit versagt werden sollte. Die Entschädigungspflicht, die der Entwurf als „eigenthümliche gesetzliche Obligation“55 behandle, sollte nunmehr zu einer prinzipalen werden. Die Wirksamkeit des Verlöbnisses sollte in Anlehnung an das preußische Nichtehelichengesetz vom 24. 04. 185456 davon abhängig sein, dass es öffentlich oder Verwandten oder Bekannten kundgegeben oder in gerichtlicher oder notarieller Form erklärt worden war. Für die Verlobung eines Minderjährigen war die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters vorzusehen. Das Versprechen einer Konventionalstrafe sollte unwirksam sei. Die 2. Kommission kam den Wünschen Preußens weitgehend entgegen, ließ allerdings im § 1300 BGB einen Deflorationsanspruch zu, den Preußen für nicht empfehlenswert hielt. XII. Nichtigkeit, Anfechtbarkeit der Ehe Im E I war Ehebruch als ein aufschiebendes Ehehindernis vorgesehen. Preußen dagegen wünschte, den Ehebruch als trennendes Ehehindernis auszugestalten, was dann durch § 1328 BGB erfolgte. Das im BGB enthaltene (aufschiebende) Ehehindernis der Geschlechtsgemeinschaft (§ 1310 Abs. 2 BGB) geht u. a. auf einen 54
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Hierzu Bem., S. 232 ff. – Ähnliche Wünsche wie das JM meldete auch der Kultusminister an (Schreiben vom 1.8.1890 an das JM; Geh. StA Berlin-Dahlem, Rep. 84 a/11775): Klage für die geschwängerte Braut auf Ausstattung, Eheverbot der Geschlechtsgemeinschaft, Berücksichtigung des error qualitatis bei der Eheanfechtung, Ehescheidung wegen Geisteskrankheit, – Die erste JM-Kommission unter Stölzel regte Ende 1888 folgende weitere Änderungen an: Notwendigkeit der vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung der Einwilligung des gesetzlichen Vertreters in die Eheschließung nach § 1232 E I; Wegfall der Rechenschaftspflicht der Frau gegenüber dem Mann nach Auftragsrecht (§ 1278 E I) und Wegfall der Klagemöglichkeit der Ehefrau bei § 1319 Abs. 2 E I, da die sittliche Seite des ehelichen Verhältnisses wie im ALR im Vordergrund stehen solle. Bem., S. 233. GS 1854, S. 193 ff.; hierzu auch Stephan Buchholz, Eherecht zwischen Staat und Kirche. Preußische Reformversuche in den Jahren 1854 bis 1861, Frankfurt/M. 1981, S. 19 ff.
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Wunsch des preußischen Kultusministers zurück, den Struckmann in die 2. Kommission einbrachte57. – Nach dem E I war eine Eheschließung nicht anfechtbar wegen eines Irrtums über wesentliche Eigenschaften des Partners. Als Abhilfe war die Anfechtbarkeit wegen Betrugs vorgesehen. Als ein solcher war nach § 1259 E I im Sinne einer Fiktion „insbesondere anzusehen“, wenn dem Eheschließenden „solche persönlichen Eigenschaften oder Verhältnisse des anderen Theiles von diesem verhehlt sind, welche ihn bei verständiger Würdigung des Zweckes der Ehe von der Eheschließung abhalten mussten und von welchen zugleich vorauszusehen war, dass sie ihn, wenn er sie gekannt hätte, von der Eheschließung abgehalten haben würden“. Auch wenn dieser Gedanke des Entwurfs nach den Bem. zu billigen war, so würde es doch „nach der Natur derjenigen Mängel, welche in dieser Beziehung am Häufigsten in Frage kommen werden (Impotenz, ansteckende Krankheit, Schwangerschaft), oft schwierig sein, demjenigen Theile [gegenüber], welcher an diesen Mängeln leidet, den Nachweis zu führen, dass er dieselben wissentlich“ verschwiegen habe58. Vielmehr sollte die Ehe auch dann anfechtbar sein, wenn „einer der Eheschließenden sich im Irrthum über solche persönlichen Eigenschaften […] des anderen Theils befand, welche ihn bei verständiger Würdigung des Zwecks der Ehe von der Eheschließung abhalten mussten, und von welchen zugleich anzunehmen ist, dass sie ihn, wenn er sie gekannt hätte, von der Eheschließung abgehalten haben würden“. Auch diesem Wunsch kam die 2. Kommission nach. Ferner wurde im BGB die Möglichkeit, dass formungültige Ehen vorkamen, eingeschränkt. XIII. Stellung der Ehefrau Die Bem. billigten, dass nach dem Entwurf die Ehefrau die volle Geschäftsfähigkeit besitzen sollte. Dies erforderten die „Entwickelung der wirthschaftlichen Verhältnisse, die Theilnahme der Frau an denselben und die Gestaltung ihrer sozialen Stellung im modernen Leben“59. Gebilligt wurde auch die Ablehnung eines güterrechtlichen Regionalsystems und damit die Schaffung eines einheitlichen ehelichen Güterrechts. Nicht beanstandet wurde auch, dass als gesetzlicher Güterstand die Verwaltungsgemeinschaft vorgesehen war. Als „eine in das praktische Leben eingreifende Neuerung, welche mit der bisherigen Rechtsentwickelung in Widerspruch steht und tief empfunden werden würde, zudem aber auch erheblichen praktischen Bedenken begegnet“, bezeichneten die Bem. jedoch die Einschränkung der Verfügungsbefugnis des Mannes über die zum Ehegut gehörenden Mobilien. Mit Ausnahme von verbrauchbaren Sachen sollte der Ehemann ohne Einwilligung seiner Frau über ihre zum Ehegut gehörigen Gegenstände nicht verfügen dürfen. Nach Meinung der Bem. musste dies zu einer „bedenklichen Gefährdung der Rechtssicherheit“ führen. Die Auffassung des Eheguts „als eines
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Jakobs/Schubert, Beratung, Familienrecht I, S. 76 (vgl. § 1310 Abs. 2 BGB a. F.). Bem., S. 238. Bem., S. 245.
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für den Ehemann durchaus fremden Vermögenskomplexes“ entspreche nicht den nach der Verwaltungsgemeinschaft eintretenden Verhältnissen: „Mit der Bestimmung des Frauenguts als eines den Zwecken der Ehe dienenden Eheguts hört dasselbe auf, für den Ehemann ,fremdes Gut’ zu sein; insbesondere beruht nicht nur das Nutzungs-, sondern auch das Verwaltungsrecht des Ehemannes auf seiner eheherrlichen Gewalt und seiner Stellung als Haupt der ehelichen Genossenschaft“60.
Der Ehemann sollte deshalb befugt sein, „innerhalb der ordnungsmäßigen Verwaltung über die zum Ehegute gehörigen Gegenstände zu verfügen“ (Bem., S. 252), mit Ausnahme von Grundstücksrechten. Die 2. Kommission kam diesem Wunsch teilweise, insbesondere für Geld, nach, während der Reichstag die im E II gewährte freie Verfügung über bestimmte Forderungen der Frau wieder einschränkte. XIV. Ehescheidungsrecht Preußen wünschte, die „Scheidung wegen Geisteskrankheit zuzulassen, wenn die Geisteskrankheit unheilbar und so hochgradig ist, dass durch sie die geistige Gemeinschaft der Ehegatten dauernd ausgeschlossen wird“61. Die Bemerkungen wiesen darauf hin, dass, entgegen dem Vorschlag von Savigny von 1843/44, der damalige Prinz von Preußen, der spätere Kaiser Wilhelm I. sich dafür ausgesprochen habe, das ALR in diesem Punkt unverändert zu lassen62, ein Standpunkt, an dem die Staatsregierung auch in den Gesetzesvorlagen von 1859/60 festgehalten habe63. Wie stark das Bedürfnis des Trennungsgrundes der Ehescheidung sich zeigte, ergab sich nach den Bem. daraus, dass etwa in der Provinz SchleswigHolstein „während der Jahre 1879 bis 1888 die nach dortigem Rechte zulässige Scheidung durch den Landesherrn in 26 Fällen wegen Geisteskrankheit und nur in einem Falle aus einem anderen Grunde bewilligt ist“64. Als Fassung für den genannten Scheidungsgrund schlug Preußen vor: „Ein Ehegatte kann die Scheidung verlangen, wenn der andere Ehegatte unheilbar geisteskrank ist, und die Krankheit einen solchen Grad erreicht hat, dass die geistige Gemeinschaft unter den Ehegatten dauernd ausgeschlossen ist. – Die Erhebung der Klage auf Scheidung ist erst nach Ablauf eines Jahres seit Entmündigung des geisteskranken Ehegatten zulässig.“65 60 61 62
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Bem., S. 254. Bem., S. 261. Hierzu Werner Schubert, in: Werner Schubert, Jürgen Regge, Gesetzesrevision, Abt. II Bd. 6, Vaduz 1987, S. XLIV ff., Quellenteil S. 615 ff. Hierzu Werner Schubert, Die preußischen Regierungsinitiativen zur Reform des Ehescheidungs- und Eheschließungsrechts in der Nachmärzzeit (1854-1861), in: ZRG Kan. Abt. 101 (1984), S. 301 ff. Bem., S. 263. Bem., S. 261.
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Die 2. Kommission erkannte die Berechtigung des preußischen Wunsches an, erhöhte jedoch die Wartefrist auf drei Jahre. Die BGB-Reichstagskommission lehnte jedoch diesen Scheidungsgrund mit 12 gegen 8 Stimmen ab. Erst der Reichstag stellte in 3. Lesung die Fassung des E II wieder her. XV. Stellung der Geschwister Nach § 1480 E I sollten Geschwister entsprechend der Regelung im ALR untereinander unterhaltspflichtig sein (Gewährung des notdürftigen Unterhalts). Nach Meinung der Bem. war dem zu folgen, da dies auf einer „Anerkennung des Familienzusammenhanges“ beruhte, „wie er unter Geschwistern vorhanden sein soll und deshalb mit Recht vom Gesetze betont wird“66. Dieser Zusammenhang sei in gegenwärtiger Zeit bereits mehr als erwünscht gelockert; das Gesetz dürfe jedoch nicht die Hand zu noch weiterer Lockerung bieten. Mögliche Härten sollten dadurch gemildert werden, dass bei Fehlen der Würdigkeit die ohnehin beschränkte Unterhaltspflicht wegfallen sollte (entsprechend den Fällen des § 2001 Nr. 1-6 E I). Die 2. Kommission lehnte entgegen dem preußischen Wunsch, der jedoch nicht weiter verfolgt wurde, die Unterhaltspflicht der Geschwister untereinander ab. – Trotz der Regelung des § 1480 E I sah die Vorlage keine Pflichtteilsberechtigung der Geschwister untereinander vor. Dies entsprach dem im größeren Teil Deutschlands geltenden Recht, insbesondere auch dem ALR. Das „beschränkte Pflichttheilsrecht der Geschwister im gemeinen Recht“ sei „ein nur aus geschichtlichen Gründen erklärbarer, in mehrfachen Beziehungen von den sonstigen Pflichtteilsberechtigungen verschiedener Ueberrest einer römischen Rechtseinrichtung, deren Grundgedanken dem heutigen Rechtsbewusstsein völlig fremd geworden“ seien67. Das Pflichtteilsrecht sei eine „Einengung“ der vom Entwurf grundsätzlich anerkannten Verfügungsfreiheit: „Daher ist es nicht weiter auszudehnen, als nach den herrschenden Volksanschauungen die gewichtigsten Pietätsrücksichten zwischen Gliedern derselben Familie reichen“68. Nach den heutigen Verhältnissen gehe in der Regel von mehreren Geschwistern jedes seinen eigenen Lebensweg. XVI. Nichtehelichenrecht Voll gebilligt wurden die restriktiven Bestimmungen des Nichtehelichenrechts. Insbesondere verteidigten die Bem. die durch das Gesetz vom 24. 04. 185469 eingeführte exceptio plurium. Unmittelbar für die Ausschließung der Einrede spreche zwar „das Interesse des Kindes, welches nicht deshalb der Gefahr des Verderbens 66 67 68 69
Bem., S. 275. Bem., S. 331. Bem., S. 330. GS 1854, S. 193 ff.
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ausgesetzt werden darf, weil seine Mutter sich mit mehreren Männern abgegeben hat. Die Zahl derjenigen Kinder, deren Anspruche die Einrede mit berechtigtem oder unberechtigtem Erfolge entgegengesetzt wird, ist nicht gering.“ Auch gegenüber den betroffenen Männern läge in der Nichtzulassung der exceptio plurium „keine Härte“. Ihnen „falle stets eine Unsittlichkeit zur Last, unter welcher sie leiden mögen“70. Die Zulassung der Einrede näherte sich nach den Bem. dem Prinzip des französischen Rechts (Art. 340 C. c.; Verbot der Nachforschung nach dem nichtehelichen Vater): „Sonach stimmt der Entwurf in der Behandlung der exceptio plurium mit dem bestehenden Rechtszustand in Preußen überein. Wenn auch keine durchschlagenden Gründe für die Zulassung der exceptio plurium vorhanden sind, so mangeln doch ebenso durchschlagende Gründe für die Nichtzulassung. Unter diesen Umständen empfiehlt sich die Beibehaltung des bisherigen Rechtszustandes“71. Gebilligt wurde auch die Beschränkung des Unterhaltsanspruchs des nichtehelichen Kindes bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres, da die „uneheliche Erzeugung der ehelichen nicht zu sehr gleich gestellt“ werden solle72. Entgegen dem E I sollte allerdings der Vater von seiner Unterhaltspflicht für die Vergangenheit nicht frei werden (so dann § 1711 BGB a. F.). XVII. Begrenzung des gesetzlichen Erbrechts Der E I berief auch die entferntesten Linien zur Erbfolge, was in der Kritik auf erheblichen Widerstand stieß. Für die Regelung des E I sprach nach den Bem. keiner der Gründe, aus denen der Erbanspruch der Verwandten hergeleitet zu werden pflege: „Insbesondere lässt sich die Erbberechtigung von Verwandten entfernter Linien weder auf die Familienbande und die Familienzugehörigkeit stützen, noch auf den muthmaßlichen Willen des Erblassers zurückführen.“73
Preußen schlug vor, dass eine Beerbung über die vierte Linie hinaus nicht stattfinden sollte. Die 2. Kommission wollte die gesetzliche Erbfolge mit der fünften Ordnung abschließen, was in der BGB-Reichstagskommission auf Ablehnung stieß, welche wieder die unbegrenzte Erbfolge zuließ. Das StM beschloss am 04. 06. 1896, diese Änderung zuzugestehen. Nach Nieberding waren für den Reichstag bestimmend gewesen die „Abneigung gegen das Erbrecht des Fiskus und die principielle Auffassung, dass man nichts dazu thun dürfe, um die Zusammengehörigkeit des Familienkreises zu erschüttern“74. Der Finanzminister Miquel meinte, dass, wenn große Parteien Bedenken hätten, weil sie in der Bestimmung 70 71 72 73 74
Bem., S. 289 f. Bem. S. 290. Bem. S. 291. Bem., S. 322. Zitiert nach der Abschrift des Prot. In der Akte des Geh. StA Berlin-Dahlem, Rep. 84 a/11835, S. 18 des Protokolls.
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„einen Angriff auf die Familie und deren Erbrecht erblickten“, man hier nachgeben könne. XVIII. Gemeinschaftliches Testament Diese Testamentsform war im E I nicht vorgesehen, obwohl sie in den Gebieten des gemeinen Rechts und des ALR „in allgemeiner Uebung“ war75. Die „ungeheure Lebenskraft dieser Rechtssitte“ habe sich insbesondere in den gemeinrechtlichen Gebieten bewährt, „wo die gemeinschaftlichen Testamente mit der Missgunst einer auf das römische Recht gestützten, ihnen feindlichen Lehre zu kämpfen hatten“. Die letztwillige Verfügung über das beiderseitige Vermögen bilde „nach allgemeiner Volksüberzeugung eine Angelegenheit, die nur in vollkommenem Einverständnisse befriedigend geordnet werden kann. Dies tritt namentlich darin zu Tage, dass häufig in einem gemeinschaftlichen Testamente durch eine einheitliche Verfügung beider Ehegatten dem Überlebenden für dessen Lebenszeit Besitz und Genuss des Vermögens des zuerst versterbenden gesichert wird und für die Zeit nach dem Tode beider über das beiderseitige Vermögen wie über eine Einheit Anordnungen getroffen werden“76. Die Abschaffung des gemeinschaftlichen Testaments würde nur dann als gerechtfertigt angesehen werden können, wenn die „schwerwiegendsten Rücksichten einen Eingriff“ in die „tief verwurzelte Rechtssitte gebieterisch forderten“77. Das gemeinschaftliche Testament sollte nach den Bem. in Übereinstimmung mit der preußischen Rechtspraxis geregelt werden, insbesondere mit folgender Maßgabe: „Hat in einem gemeinschaftlichen Testamente der eine Ehegatte eine Verfügung getroffen, deren Bestehen die Voraussetzungen bildete, durch welche der andere Ehegatte zu einer von ihm in dem Testamente getroffenen Verfügung bestimmt worden ist, so hat die Ungültigkeit oder die Aufhebung der ersteren Verfügung die Unwirksamkeit der letzteren Verfügung zur Folge. – Hat der überlebende Ehegatte die ihm zu einem gemeinschaftlichen Testamente gemachte Zuwendung angenommen, so ist die Aufhebung einer von ihm in dem Testamente getroffenen Verfügung, deren Bestehen die Voraussetzung bildete, durch welche der andere Ehegatte zu der Zuwendung zu Gunsten des überlebenden Ehegatten bestimmt worden ist, unwirksam, es sei denn, dass der Bedachte sich gegenüber dem überlebenden Ehegatten eine Handlung hat zu Schulden kommen lassen, welche im Verhältnisse der Ehegatten zu den Abkömmlingen die Entziehung des Pflichtteils rechtfertigen würde. – Hat ein Ehegatte den anderen Ehegatten oder Verwandten desselben bedacht, so ist im Zweifel anzunehmen, dass er dazu durch die Voraussetzung des Bestehens der Zuwendung bestimmt ist, durch welche der andere Ehegatte ihn oder seine Verwandten bedacht hat.“
75 76 77
Bem., S. 308. Bem., S. 309. Bem., S. 308.
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Eine ausführlichere – wenn auch immer noch nicht vollständige – Regelung hat die 2. Kommission in den Entwurf übernommen78. XIX. Handschriftliches Testament Wie sich aus der Stellungnahme zum gemeinschaftlichen Testament ergibt, lehnte Preußen das holographische Testament ab79. Nachdem die BGB-Reichstags-kommission diese Testamentsform in das BGB eingefügt hatte, befasste sich das StM am 04. 06. 1896 mit dem handschriftlichen Testament. Nach Nieberding konnte dieses nur beseitigt werden80, „wenn es gelinge, im Centrum einige landrechtliche Herren zu dem Standpunkte der Vorlage zu bekehren“. Dieser Versuch biete wenig Aussicht und sei insofern bedenklich, „als wir mit der Bereitwilligkeit aller Elemente für das Zustandekommen des Gesetzbuchs zu rechnen hätten und uns hiernach scheuen müssten, eine Bestimmung zu beseitigen, die im Westen allgemeine Sympathien genieße“81. Seit Anfang des Jahrhunderts gelte in den rheinischen Gebieten diese Testamentsform, ohne dass Klagen dagegen aufgetreten seien. Dagegen bezeichnete der Finanzminister Miquel diese Testamentsform als bedenklich „im Hinblick auf den Bildungsgrad in den östlichen Provinzen und die Möglichkeit der Einwirkung dritter Personen auf die Begünstigung eines der Kinder. Auch sei diese Testamentsform allen deutschen Rechtsgrundsätzen entgegen, wie dies schon der Sachsenspiegel ausspreche. Ihm erscheine das öffentliche Testament als eine hochweise Bestimmung, da dasselbe gerade Schutz gegen 78
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Eine dem § 2269 BGB (Berliner Testament) entsprechende Regelung lehnte Preußen ab: „Für die in gemeinschaftlichen Testamenten häufig vorkommende Anordnung, daß Eheleute sich gegenseitig zu Erben einsetzen und zugleich über das Schicksal ihres beiderseitigen Vermögens nach dem Tode des Letztlebenden verfügen, sind mehrfach empfohlene besondere Vorschriften gleichfalls nicht erforderlich. Es darf erwartet werden, daß Wissenschaft und Praxis, wie bisher, in Anwendung allgemeiner erbrechtlicher Grundsätze für die aus einer solchen Anordnung entspringenden Rechtsfragen, insbesondere hinsichtlich der Rechtsverhältnisse nach dem Tode des einen Ehegatten, eine befriedigende Lösung finden werden.“ (Bem., S. 315). Die Lücken, welche die BGB-Regelung zum gemeinschaftlichen Testament aufwies, füllte das RG entsprechend der preuß. Judikatur aus der Zeit vor 1900 aus (hierzu Mischa A. Färber, Das gemeinschaftliche Testament in der höchstrichterlichen Rechtsprechung zum Preuß. ALR und zum BGB, Frankfurt/M. 1997). Der E I sah nur das notarielle/gerichtliche Testament vor. Preußen billigte dies, wünschte aber die Möglichkeit handschriftl. Testamente für bestimmte Anordnungen. In dieser Form sollten u. a. getroffen werden können Bestimmungen, „durch welche dem Ehegatten oder den Abkömmlingen des Erblassers Zuwendungen gemacht, oder Anordnungen für die Auseinandersetzung dieser Personen, insbesondere für die Art der Theilung, getroffen werden.“ Eine solche Regelung sollte nach den Bem., S. 316, der „Erhaltung des Friedens in der Familie“ dienen. StM-Protokoll vom 04. 06. 1896, Geh. StA Berlin-Dahlem, Rep. 84 a/11835, S. 19-21 des Protokolls; hieraus auch die folgenden Zitate. D. h. der im Gebiet des franz. Rechts geltende Art. 970 C. c.
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Erbschleicherei gewähre. Bestehe das holographische Testament auch in gewissen Theilen Deutschlands, so beseitige das seine Bedenken nicht. In den protestantischen Landestheilen des Westens habe man dasselbe nicht. Nur in den katholischen Gebieten bestehe es in Folge einer Konzession Napoleons gegenüber der Geistlichkeit. Das Gegengewicht der Verwandten falle bei dieser Testamentsform weg. Er würde es als bedenklich erachten, diese Form anzunehmen“. „Ganz unbedenklich“ war die Testamentsform für den Staatsminister Marschall:82 „Für sie spreche die Billigkeit und das Interesse der Geheimhaltung. Im Allgemeinen gelte das holographische Testament in Baden als ein Mittel gegen Erbschleicherei, er glaube aber auch nicht, dass bei der Geistlichkeit das öffentliche Testament mehr Sympathien genieße.“ Das StM beschloss auf den Rat Nieberdings hin, gegen das holographische Testament „nur mäßigen Widerstand“ zu leisten, der dann auch keinen Erfolg hatte. XX. Erbengemeinschaft Nach § 2051 S. 2 E I sollten bei Vorhandensein von Miterben die einzelnen Rechte und Verbindlichkeiten kraft Gesetzes auf die Erben „nach Verhältniß der Erbtheile“ übergehen, so dass die Aktiva und Passiva des Nachlasses grundsätzlich entsprechend geteilt waren und eine Gemeinschaft überhaupt nicht bestand. Statt dessen sollte nach den Bem. entsprechend dem ALR folgende Regelung eintreten, dass „1. für die Schulden bis zur Erbtheilung ungetheilte Haftung stattfindet und die Miterben verpflichtet sind, die Nachlassverbindlichkeiten vor der Erbtheilung, bei Vermeidung der Haftung als Gesammtschuldner zu berichtigen oder sicher zu stellen, den Miterben jedoch freizulassen, diese Haftung durch Aufforderung der Gläubiger zur Angabe ihrer Ansprüche, für die unbekannt gebliebenen Forderungen auszuschließen, sowie 2. unter den Miterben bis zur Erbtheilung eine Gemeinschaft zur gesammten Hand eintritt, jedoch mit der Maßgabe, dass hinsichtlich der Verwaltung und Nutzung die Grundsätze der einfachen Gemeinschaft entsprechende Anwendung finden, jeder Miterbe verpflichtet ist, zu einer behufs der ordnungsmäßigen Erledigung einer gemeinschaftlichen Angelegenheit erforderlichen Maßregel mitzuwirken, und jedem Miterben die Befugniß zusteht, vorsorgliche Maßnahmen selbständig zu veranlassen.“83
Nach preußischer Ansicht hatte die Regelung des E I für die Gläubiger wie auch für die Miterben selbst „bedeutende, und zwar überwiegende, Unzuträglichkeiten“ zur Folge. Insbesondere könnten die Miterben, aber auch die Gläubiger durch die Selbständigkeit jedes Miterben in der Verfügung erheblichen Schaden erleiden, 82
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Adolf Freiherr Marschall v. Bieberstein (1842-1912) kam aus dem badischen Justizdienst, 1883 Gesandter Badens in Berlin, 1890 bis 1897 Staatssekretär des Ausw. Amts, 1894 bis 1897 preuß. Staatsminister ohne Geschäftsbereich (Hartwin v. Spenkuch, Die Protokolle des Preuß. Staatsministeriums 1817-1934/38, Bd. 8, Hildesheim 2003, S. 590). Bem., S. 335 f.
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gegen den die möglichen vorsorglichen Maßregeln (Arrest, einstweilige Verfügung) keinen hinreichenden Schutz böten. Die 2. Kommission kam diesem Wunsch nach und gestaltete die Erbengemeinschaft wie auch die Gesellschaft und die Gütergemeinschaft nach dem Prinzip der gesamten Hand aus84.
D. Die 2. BGB-Kommission sowie die Beratungen im Bundesrat und Reichstag Auch die 2. Kommission war so zusammengesetzt, dass die preußischen Juristen maßgebenden Einfluss auf die Kommissionsarbeit nehmen konnten. Die Kommissionsmitglieder Küntzel und Eichholz kamen aus dem preußischen Justizministerium und waren schon aufgrund ihrer Teilnahme an den JM-Beratungen mit den preußischen Wünschen bestens vertraut. Küntzel wurde zudem im Mai 1893 Vorsitzender der Kommission und konnte damit einen wesentlichen Teil der Beratungen mitbestimmen. Ferner kann auch Planck, Generalreferent der Kommission, der preußischen Fraktion grundsätzlich zugerechnet werden, zumal er schon an den Beratungen der Vorkommission des RJA teilgenommen hatte und später als Kommissar des Reichskanzlers den Verhandlungen des Reichstags beiwohnte. Auch Struckmann und besonders Achilles (Kommissar der Reichsregierung in der 2. Kommission), der für das Sachenrecht, das ZVG und die Grundbuchordnung85 zuständig war, gehörten der Vorkommission an und vertraten weitgehend die preußischen Regelungen. Allerdings bedeutete dies nicht, dass die genannten Juristen nicht auch gegenüber dem preußischen Recht eigene Akzente setzten86. Jedoch dürften sie die für Preußen unverzichtbaren Positionen nicht aufs Spiel gesetzt haben. Dies gilt auch für Nieberding, seit 1893 Staatssekretär des RJA, dem der zügige Fortgang der Arbeiten am BGB und dessen schnelle Verabschiedung im Bundesrat und Reichstag in erster Linie zu verdanken ist. Zwar konfrontierte Nieberding Preußen mit dem Vorschlag, die Beratungen des Bundesrates auf Punkte zu beschränken, die „von hervorragender wirthschaftlicher und sozialpolitischer Bedeutung sind oder besondere Interessen des einzelnen Landesgebie-
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Hierzu unter eingehender Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte Thomas Wächter, Die Aufnahme der Gesamthandsgemeinschaften in das BGB, Ebelsbach 2002, S. 100 ff. – Im übrigen erklärte sich Preußen einverstanden mit der Beseitigung des Vindikationslegats (Bem., S. 302 ff.), dem Ausschluss der Großeltern vom Pflichtteilsrecht (Bem., S. 331) und dem Erbschaftserwerb kraft Gesetzes (Bem., S. 331 ff.). Zu den maßgebenden Arbeiten von Achilles an der GBO und an dem ZVG vgl. die Einleitungen von Schubert, in: Jakobs/Schubert, Beratung des BGB, Grundbuchordnung, 1982 und Schubert, Gesetz über die Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung, 1983. Insbesondere in sozialpolitischen Fragen (hierzu Schulte-Nölke, Reichsjustizamt, S. 312 ff.).
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tes berühren“87. Jedoch erklärte sich das StM in der Sitzung vom 06. 02. 1894, an der auch Nieberding teilnahm, hiermit einverstanden. In der Folgezeit nahmen die Fachminister, vor allem aber das JM, in zum Teil ausführlichen Voten und abschließend, nach den Büchern des Entwurfs getrennt, das StM88, an deren Sitzungen89 insoweit Nieberding und oft auch Küntzel teilnahmen, zu eventuellen preußischen Wünschen für das BGB Stellung. Besonders ausführlich votierten die Minister und das StM zum Vereinsrecht, zu dem Preußen im Bundesrat zwei Änderungen zu seinen Gunsten durchsetzen konnte. Anträge Bayerns zur Änderung des Schadensersatzrechts, des Immobiliarsachen-, Ehe- und Erbrechts konnte Preußen im JA des Bundesrates mit Erfolg abwehren90. Weitere Maßnahmen Preußens dienten Anfang 1896 der Abwehr des Versuchs der preußischen Konservativen, die obligatorische durch die fakultative Zivilehe zu ersetzen91. Den von Nieberding mit den Nationalliberalen, der Reichspartei und dem Zentrum ausgehandelten Kompromiss, der die Annahme des BGB durch den Reichstag sicherstellen sollte, billigte das StM am 04. 06. 189692. Preußen verzichtete in diesem Zusammenhang darauf, zwei bisher als unannehmbar geltenden Forderungen des Parlaments entgegenzutreten. Einmal verzichtete es auf das Einspruchsrecht gegen Erziehungs- und Unterrichtsvereine und gestand einmal die Verfolgung des Einspruchs durch die Verwaltungsgerichte, zum anderen die Zulässigkeit der Trennung von Tisch und Bett zu. Auch an der Übernahme des holographischen Testaments durch den Reichstag ließ Preußen das BGB nicht scheitern.
E. Zusammenfassung Das BGB ist gesetzestechnisch und inhaltlich überwiegend von preußischen Juristen und vom modernen preußischen Recht geprägt93. Dies gilt insbesondere für das Immobiliarsachen- und das Familienrecht, bei dem sich die von Savigny 1842-1844 durchgesetzten Leitlinien des Eherechts und das Vormundschaftsrecht von 1875 durchsetzten. Noch stärker als das BGB sind das IPR, die Grundbuchordnung und vor allem das Zwangsversteigerungsgesetz vom preußischen Recht 87
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Schreiben des Reichskanzlers (Nieberding) an alle Bundesregierungen 19. 12. 1893 (Schubert, in: Jakobs/Schubert, Materialien, S. 60 f.). Hierzu Geh. StA Berlin-Dahlem, Rep. 84 a/11832 ff. Die Sitzungen des StM sind nachgewiesen in Spenkuch, Protokolle (in den dazugehörigen Microfiches die handschriftlichen Protokolle). Hierzu die einzelnen Bände der „Beratung des BGB“ von Jakobs/ Schubert, Abschnitte über die Beratungen im Bundesrat. Hierzu die Protokolle des StM bei Schubert, in: Jakobs/Schubert, Materialien, S. 396 ff. Hierzu das Protokoll des StAM bei Schubert, in: Jakobs/Schubert, Materialien, S. 410. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das preuß. JM im Gegensatz zu Teilen der Richterschaft, eine besondere Anhänglichkeit an das ALR gehabt hätte. Inwieweit dies auch für die Richter zutrifft, die mit der Vorbereitung der Stellungnahme zu den Fragen des Reichskanzlers befasst waren, gilt, kann erst eine Auswertung ihrer Voten ergeben.
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bestimmt. Für die Vermittlung der preußischen Wünsche trugen vor allem die einprägsam redigierten „Bemerkungen“ des JM zu den Fragen des Reichskanzlers bei. Sie können als die rechtspolitisch bedeutsamste und einflussreichste regierungsamtliche Stellungnahme eines Bundesstaates zum 1. BGB-Entwurf gelten. Lediglich Mecklenburg legte eine ähnlich breite Denkschrift zum Entwurf vor94, die aber in wichtigen Fragen nicht die Mehrheitsmeinung traf. Wenn auch das Gesetzgebungsverfahren seit Ende der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts fast ganz in den Händen des RJA lag95, so bedeutete dies keineswegs, dass dadurch die inhaltliche Einflussnahme Preußens auf das BGB ausgeschaltet oder erheblich verringert war. Die Zusammensetzung der Kommissionen und die Stellung Nieberdings, auch wenn beide in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht eine eigene Linie verfolgen konnten, gewährleistete insgesamt, dass die preußischen Belange in den grundlegenden Fragen des Sachen- und Familienrechts mitbedacht und berücksichtigt wurden. Dies dürfte für den preußischen Justizminister Schelling maßgebend dafür gewesen sein, dem RJA in Verfahrensfragen und in Fragen von untergeordneter rechtspolitischer und rechtsdogmatischer Bedeutung freie Hand zu lassen. Erst der Reichstag nötigte Preußen im Interesse der Verabschiedung des BGB zur Aufgabe einiger weniger, bisher als unverzichtbar geltender Positionen. Die Verlierer der Emanzipation des RJA gegenüber dem Bundesrat und den Landesjustizverwaltungen waren die mittleren und kleineren Bundesstaaten. Selbst Bayern konnte im Bundesrat gegenüber Preußen fast keinen seiner Anträge zur Änderung des Sachen- und Eherechts durchsetzen. Das BGB bedeutet auch nicht das Ende der engen Verbindung des RJA mit dem preußischen Justizministerium und der preußischen Rechtspolitik. So waren die preußischen Ministerien an der Vorbereitung des Entwurfs zu der ersten größeren BGB-Novelle von 1915 in ausgedehntem Maße beteiligt96. Auch die Rechtsprechung zum BGB stellt für zahlreiche Rechtsgebiete ganz überwiegend eine Fortführung der Judikatur der preußischen Gerichte und des Reichsgerichts zum ALR vor 1900 dar, beispielsweise für das Mietrecht97, das Immobiliarsachenrecht und das gemeinschaftliche Testament98. Auch bot das von der 2. Kommission dem preußischen Recht angepasste Mietrecht kaum Anlass, von der bisherigen Judika-
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Hierzu Schubert, Mecklenburg, S. 313 ff. Für das Eherecht stellte Mecklenburg ähnliche Forderungen wie Preußen. Schulte-Nölke, Reichsjusitzamt, S. 143 ff., 350 ff. Gesetz zur Einschränkung der Verfügungen über Miet- und Pachtzinsforderungen vom 08. 06. 1915 (RGBl. 1915, S. 327). Zur Entstehung dieser Novelle vgl. die Akte im Geh. StA Berlin-Dahlem, Rep. 84 a/434-436; die Vorbereitung des Entwurfs erfolgte durch Besprechungen des RJA mit den anderen Reichsressorts und den an der Vorlage interessierten preuß. Ministerien. Hierzu Schubert, in: Gedächtnisschrift Sonnenschein, S. 11 ff.: (Etwa in der Judikatur zu § 544 BGB a. F. (§ 569 n. F.); hierzu Schubert, in: Gedächtnisschrift Sonnenschein, S. 25 ff.; zu § 638 BGB a. F. Schubert, in: Falk/Mohnhaupt, Das BGB und seine Richter, S. 293 ff. Hierzu Färber, Gemeinschaftliches Testament.
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tur abzuweichen. Selbst dort, wo das BGB vom preußischen Recht abwich, waren die Unterschiede gegenüber der Zeit bis 1900 gering.
Zur Rezeption frühmittelalterlichen Rechts im Spätmittelalter Eva Schumann
A. Einführung Die Vorstellung, dass es ein germanisches „Urrecht“1 gegeben habe, das sich in seinen Grundzügen weitgehend unverändert bei den einzelnen Stämmen trotz Völkerwanderung und Konfrontation mit der römischen Rechtskultur kraft mündlicher Tradition bis zur ersten Aufzeichnungswelle im Frühmittelalter erhalten und auch danach bis zur Rezeption des römischen Rechts an der Schwelle zur Neuzeit fremden Einflüssen Stand gehalten habe, gilt heute als überholt.2 Gleichzeitig fehlen aber neue Erklärungsansätze dafür, warum sich in den mittelalterlichen Rechten trotz großer zeitlicher und räumlicher Distanzen deutliche Parallelen finden. Denn diese oft überraschenden Gemeinsamkeiten haben dazu beigetragen, dass fast alle namhaften Vertreter der deutschen Rechtsgeschichte seit Mitte des 19. Jh. über Jahrzehnte der Idee eines gemeingermanischen Rechtssystems folgten und ihre Kraft darin investierten, sämtliche zwischen 500 und 1500 vom westgotischen Spanien bis nach Skandinavien aufgezeichneten Rechtstexte in dieses „System“ einzusortieren.3
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So Karl v. Amira, Grundriß des Germanischen Rechts, 3. Aufl., Straßburg 1913, S. 1. Etwa Karl Kroeschell, Dt. Rechtsgeschichte, Bd. 1, 11. Aufl., Opladen, Wiesbaden 1999, S. 25. So verweist etwa Wilhelm Eduard Wilda, Das Strafrecht der Germanen, Halle 1842 im Vorwort (XI) darauf, dass die Rechte der germanischen Stämme, „die allmälig die Länder Europa’s von den Küsten Afrika’s bis in die nordischen Regionen des fast unvergänglichen Eises hin, staatengründend bevölkerten, ... in einer oft überraschenden Uebereinstimmung ... geblieben“ seien. Diesen Gesichtspunkt hebt Wilda nochmals in seiner Einleitung, S. 3 f. hervor: „Bei den verschiedenen Stämmen des germanischen Volkes finden wir aber in verschiedenen, oft durch mehrere Jahrhunderte getrennten Zeiträumen dieselben Grundzüge der Rechtsverfassung oft bis zu einer in den auffallendsten Einzelheiten überraschenden Uebereinstimmung wieder ... .“ Die Konstruktion eines gemeingermanischen Strafrechts auf fast 1000 Seiten hat Wilda nach eigenem Bekunden immerhin sieben Jahre gekostet (Vorwort, XIV f.). Vgl. auch v. Amira, Grundriß des Germanischen Rechts, S. 1: „Aus allen diesen Tatsachen ergeben sich zwei methodologische Sätze: 1. die Erkenntnis des germanischen Rechts in der historischen Zeit ist nur aus der Geschichte aller germanischen Sonderrechte zu gewinnen; 2. die vor aller Geschichte liegenden Ausgangspunkte der Sonderentwicklung, das germanische ‚Urrecht’, von dessen Verständnis das der Sonderentwicklung selbst großenteils
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Wenn wir aber nicht der These von einem „Urrecht“, von Bewahrung und Kontinuität folgen wollen, dann müssen wir für die Frage, wie diese Gemeinsamkeiten und Parallelen innerhalb der mittelalterlichen europäischen Rechtskultur entstanden sein könnten, nach anderen Antworten suchen. Die folgende Untersuchung will hierzu einen Beitrag leisten und versteht sich als Anregung zu einer Diskussion über das Verständnis von Recht im Mittelalter.
B. Rezeption frühmittelalterlichen Rechts in den Rechtsbüchern Die Rezeption einzelner Bestimmungen der sog. Volksrechte4 in den Rechtsbüchern des Spätmittelalters wird im Schrifttum kaum noch thematisiert,5 teilweise sogar ausdrücklich verneint. So heißt es etwa bei Gerhard Theuerkauf in seiner Arbeit zum sächsischen Recht zwischen dem 8. und 16. Jh.: „Für den Sachsenspiegel ist allem Anschein nach die Lex Saxonum nicht benutzt worden.“6 Und weiter: „Auch der Schwabenspiegel hat wahrscheinlich nicht an Rechtsaufzeichnungen der karolingischen (oder merowingischen) Zeit angeknüpft.“7 Zumindest letzteres lässt sich eindeutig widerlegen: der Verfasser des Schwabenspiegels (Swsp.) hat etwa 30 Bestimmungen – teilweise wörtlich – aus der Lex Baiuvario-
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abhängt, können wir nur auf dem Weg vergleichender Durchforschung aller Sonderrechte rekonstruieren.“ Der Begriff „Volksrechte“ erfasst ebenso wie die Bezeichnungen „Stammesrechte“, „Germanenrechte“, „Leges (barbarorum)“ nicht vollständig den Charakter der Quellen. Zur Problematik vgl. Ruth Schmidt-Wiegand, Art. Leges, in: Hoops RGA 18, 2. Aufl., Berlin 2001, S. 195 f. Seit einiger Zeit wird der Begriff „Volksrechte“ wieder häufiger gebraucht; so hat sich vor kurzem Peter Landau, Die Lex Thuringorum – Karls des Großen Gesetz für die Thüringer, in: ZRG Germ. Abt. 118 (2001), S. 23, 26, Fn. 15 mit guten Gründen dafür ausgesprochen, dass „die germanistischen Rechtshistoriker ... zum Terminus ‚Volksrechte’ zurückkehren“ sollten. Zu nennen sind zuletzt in den 1950er Jahren Hermann Rennefahrt, Nachwirkungen des Rechts der Karolingerzeit, namentlich in den Gebieten der heutigen Schweiz, in: Heinrich Büttner (Hrsg.), Aus Verfassungs- und Landesgeschichte: Festschrift zum 70. Geburtstag von Theodor Mayer, Bd. I, Lindau u.a. 1954, S. 81, 86 ff.; Ernst Klebel, Zu den Quellen des Schwabenspiegels, in: Wilhelm Wegener (Hrsg.), Festschrift für Karl Gottfried Hugelmann, Aalen 1959, S. 273, 287 ff. Gerhard Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium Iuris, Rechtsaufzeichnung und Rechtsbewusstsein in Norddeutschland vom 8. bis zum 16. Jahrhundert, Köln u.a. 1968, S. 99. Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium Iuris, S. 99, Fn. 6. Vgl. auch Dietlinde Munzel, Die Innsbrucker Handschrift des Kleinen Kaiserrechtes, Aalen 1974, S. 25 im Zusammenhang mit den Verweisen Hermann Ernst Endemanns (Das Keyserrecht nach der Handschrift von 1372, 1846) auf Parallelstellen zwischen dem Frankenspiegel und den Volksrechten: „Seine Belege sind jedoch nur beschränkt verwendungsfähig, weil er sie keiner zeitlichen Begrenzung unterwirft und sogar die Germanenrechte heranzieht.“
Zur Rezeption frühmittelalterlichen Rechts im Spätmittelalter
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rum (LBai.) und der Lex Alamannorum (LAlam.) übernommen;8 zahlreiche weitere Regelungen sind inhaltlich den Volksrechten oder Kapitularien entlehnt.9 Dass dieser Umstand in der neueren Literatur kaum noch zur Kenntnis genommen wird, mag auch daran liegen, dass der Schwabenspiegel in der rechtshistorischen Forschung im Vergleich zum Sachsenspiegel (Ssp.) nach wie vor eine eher untergeordnete Rolle spielt.10 Für den Sachsenspiegel ist der Nachweis einer Rezeption frühmittelalterlichen Rechts deutlich schwerer zu erbringen. Immerhin gibt es erstaunliche Parallelen, allerdings kaum wörtliche Übereinstimmungen, wobei dies nicht nur für die Volksrechte, sondern auch für andere denkbare Vorlagen gilt,11 wie bereits Winfried Trusen festgestellt hat: „Bei anderen angenommenen literarischen Quellen zeigt sich ein ähnliches Bild. Überall finden wir Anklänge, kaum irgendwo eine wissenschaftlich exakt nachweisbare größere Übernahme.“12 Dies könnte aber auch daran liegen, dass Eike von Repgow seine Vorlagen freier verarbeitet hat, als die Verfasser anderer Rechtsbücher. Die Idee, dass auch der Sachsenspiegel – zu8
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Swsp. Ldr. 323 = LAlam. 1-2, LBai. I 1-2 (Vergabungen an die Kirche); Swsp. Ldr. 324 = LAlam. 89 (Erbe des Neugeborenen); Swsp. Ldr. 325 = LAlam. 55 (Erbe der Schwestern); Swsp. Ldr. 326 = LAlam. 64 (Verwunden eines Pferdes); Swsp. Ldr. 327 = LAlam. 83 (gepfändetes Vieh); Swsp. Ldr. 329 = LAlam. 3 (Kirchenasyl); Swsp. Ldr. 330 = LAlam. 4 (Entehrung der Kirche); Swsp. Ldr. 331 = LAlam. 5-6 (Kirchendiebstahl); Swsp. Ldr. 333-337, 339-342, 344-345 = LBai. XX 1-5, 7-10, XXI 1-4 (Bußen der Hunde und Vögel); Swsp. Ldr. 365 = LBai. XXII 8 (Bienen); Swsp. Ldr. 366 = LBai. XXII 1 (Obstbäume); Swsp. Ldr. 375 VI = LAlam. 40 (Verwandtenmord). Vgl. auch Swsp. Ldr. 332 mit LBai. IX 15, 16 (gestohlenes Gut). Zu den Kapitularien vgl. Rennefahrt, in: Festschrift für Theodor Mayer I, S. 81 ff. mwN. Vgl. auch Karl Kroeschell, Recht und Rechtsbegriff im 12. Jh., in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, Berlin 1995, S. 277, 279: „Schließlich sind auch dem Verfasser des Schwabenspiegels wie schon des Deutschenspiegels die Leges Alamannorum und Baiwariorum ebenso bekannt gewesen wie die Kapitularien.“ So auch Harald Rainer Derschka (Hrsg.), Der Schwabenspiegel, München 2002, S. 6 f.; Winfried Trusen, Die Rechtsspiegel und das Kaiserrecht, in: ZRG Germ. Abt. 102 (1985), S. 12, 59. So nimmt etwa Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium Iuris, S. 135-165 eine starke Orientierung an theologisch-kanonischen Vorlagen an; kritisch dazu Karl Kroeschell, Rechtsaufzeichnung und Rechtswirklichkeit, Das Beispiel des Sachsenspiegels, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 419, 439 f., Fn. 126. Vgl. auch Alexander Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow, Paderborn u.a. 1984, S. 197 ff., 211 ff., 222 ff. Trusen, in: ZRG Germ. Abt. 102 (1985), S. 16. Vgl. weiter S. 14 f.: „Schon bei seiner Kenntnis kanonistischer Auffassungen, die man nicht ableugnen kann, ist es sehr zweifelhaft, ob Eike das Decretum Gratiani und die Compilationes antiquae direkt benutzt hat.“ Und unter Berufung auf Kisch (S. 15, Fn. 12): „Die Übersetzung nehme den Charakter einer freien Aneignung unter Umformung des biblischen Gedankengutes an. Im ganzen handele es sich um eine freie Behandlung des biblischen Materials.“ Vgl. weiter Sten Gagnér, Sachsenspiegel und speculum ecclesiae, in: Niederdeutsche Mitteilungen 3 (1947), S. 82 ff.
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mindest in Teilen – eine Kompilation sein könnte, ist freilich nicht neu, sondern wurde bereits Mitte des 19. Jh. von Heinrich Zoepfl vertreten. Zoepfl ging für Schwaben- und Sachsenspiegel ganz selbstverständlich davon aus, „daß keiner der beiden Spiegel in seiner gegenwärtigen Gestalt etwas anderes (sei), als eine Compilation“.13 I. Lex Baiuvariorum – Schwabenspiegel – Eisenacher Rechtsbuch Während die Übernahme von LBai. XX, XXI (Bußen der Hunde und Vögel) in den Schwabenspiegel bekannt ist, wurde die Verarbeitung dieser Bestimmungen im Eisenacher Rechtsbuch bislang nicht zur Kenntnis genommen. Darüber hinaus gelangten Auszüge dieser Textstelle vermutlich über den Schwabenspiegel in einige Handschriften des Frankenspiegels.14 Da LBai. XX, XXI aus salfränkischem und alemannischem Recht geschöpft sind, verläuft die Rezeption dieser Textstellen vom Pactus legis Salicae (um 500) und der Lex Alamannorum (um 725) zur Lex Baiuvariorum (um 740), von dort zum Schwabenspiegel (um 1275), weiter in Auszügen zum Frankenspiegel (1. Hälfte 14. Jh.) und schließlich zum Eisenacher Rechtsbuch (um 1387). 1. Lex Baiuvariorum Bei der Lex Baiuvariorum handelt es sich wahrscheinlich um eine Privatarbeit aus dem Umfeld der Kirche, die um 740 entstanden ist.15 Für zwei Drittel der etwa 270 Kapitel der bayerischen Lex lassen sich Vorlagen (überwiegend andere Volks13
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Heinrich Zoepfl, Dt. Rechtsgeschichte, 3. Aufl., Stuttgart 1858, S. 128. Dazu auch Derschka, Schwabenspiegel, S. 7 f. Frankenspiegel, 4. Buch, c. 25: Wer eynen leydhund stilt oder sleht zu tode, der sol seinem hern da eynen also gutten geben und sechs schilling dortzu. Wer eynen driphunt stilt oder schlecht, der sal im eynen also gutten geben und dry schilling dortzu: und wer eynen spürhund stylt oder schlecht ze tode, der sol im eynen also gutten geben und sechs schilling dortzu. Vur eynen leppen hunt sol man gelten eynen also gutten und sechs schilling dortzu, dasselbe sol man ouch tun fur die iaghunde. Das rechte satzte der heylig konigk karly, herre uber alle andere herren, under ander rechte die hie var in disem buch beschriben sint. (zit. nach der Ausgabe von Hermann Ernst Endemann, Das Keyserrecht nach der Handschrift von 1372, Cassel 1846). Nach wie vor sind sowohl die Datierung der Lex (einheitliche Entstehung um 740 oder stufenweise Entstehung zwischen dem 6. und 8. Jh.) als auch die sonstigen Umstände der Entstehung (Privatarbeit oder Auftragsarbeit) umstritten. Einen Überblick über den Meinungsstand geben Harald Siems, Art. Lex Baiuvariorum, in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur dt. Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 1978, Sp. 1887 ff.; Isabella Fastrich-Sutty, Die Rezeption des westgotischen Rechts in der Lex Baiuvariorum, Köln u.a. 2001, S. 17 ff.; Peter Landau, Die Lex Baiuvariorum, Entstehungszeit, Entstehungsort und Charakter von Bayerns ältester Rechts- und Geschichtsquelle, Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München Phil.-hist. Kl. 2004/3, S. 5 ff. mwN.
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rechte, insb. westgotisches, salfränkisches, alemannisches und langobardisches Recht) erkennen.16 In weiten Teilen stellt die Lex Baiuvariorum somit eine Kompilation dar,17 wobei die Redaktoren ihre Vorlagen nicht einfach abschrieben, sondern sich bemühten, diese miteinander in Einklang zu bringen, Widersprüche zu beseitigen und Lücken zu schließen.18 LBai. XX und XXI handeln von Bußen der Hunde (De canibus et eorum conpositione) und der Habichte (De accipitribus), die für die Tötung oder den Diebstahl der einzeln aufgeführten Tiere (Jagd-, Wind-, Hirten- und Hofhunde sowie Habichte, Sperber und zahme Singvögel) zu zahlen sind (Anhang Tabelle 1). Beide Titel kombinieren und ergänzen Bestimmungen des Pactus legis Salicae (PSal. VI 1-4 De furtis canum und PSal. VII 1-4, 7 De furtis avium) und der Lex Alamannorum (LAlam. LXXVIII 1-6 De canibus siusibus und LAlam. XCVI 1).19 2. Schwabenspiegel Der Schwabenspiegel entstand wahrscheinlich um 1275 im Augsburger Franziskanerkloster und lässt sich im Gegensatz zum Sachsenspiegel keiner namentlich bekannten Person zuordnen; möglicherweise waren mehrere rechtskundige Personen an der Abfassung beteiligt.20 Die Hauptquelle ist der Sachsenspiegel (vermittelt über den Deutschenspiegel); es werden aber auch Reichsgesetze, römisches und kanonisches Recht, religiöse Quellen sowie einzelne Kapitularien und Volksrechte, insbesondere die Lex Baiuvariorum und die Lex Alamannorum verarbeitet.21 Ausdrücklich gibt der Verfasser in Swsp. Ldr. 1b als Grundlage seines Werks das geschriebene Recht (römisches, kaiserliches und kanonisches Recht) an: In diesem Buch stünde nur solches Land- und Lehnrecht, das mit Recht in Rom bestimmt worden sei, sich aus dem Recht Karls ableite oder aus den Büchern 16
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Die Parallelstellen ergeben sich aus der Edition von Ernst v. Schwind, Lex Baiwariorum, in: Monumenta Germaniae Historica, LL nat. Germ. V-2, Hannover 1926. Eine Übersicht über die Parallelstellen findet sich bei Fastrich-Sutty, Die Rezeption des westgotischen Rechts in der Lex Baiuvariorum, S. 41-48. So schon Konrad Beyerle (Hrsg.), Die Lex Baiuvariorum, München 1926, XXXVIII („Die Lb. ist eine Rechtskompilation für den Bayernstamm und als solche ein seltsames Mischrecht“). Dazu Fastrich-Sutty, Die Rezeption des westgotischen Rechts in der Lex Baiuvariorum, S. 290; Harald Siems, Handel und Wucher im Spiegel frühmittelalterlicher Rechtsquellen, in: Monumenta Germaniae Historica, Schriften, Bd. 35, 1992, S. 108. Dazu umfassend Eva Schumann, Entstehung und Fortwirkung der Lex Baiuvariorum, in: Gerhard Dilcher (Hrsg.), Leges – Gentes – Regna, Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur (erscheint 2005). Dafür spricht Swsp. Ldr. 73a: Die meister sprechent also die ditz lantreht bvch gemachet habent . dvrch der kvnege liebe . vnd den livten zenvtze ... . Dazu Harald Rainer Derschka, Die münzrechtlichen Bestimmungen des Schwabenspiegels, ihre Quellen und ihr Umfeld, in: ZRG Germ. Abt. 120 (2003), S. 91 f.; Klebel, in: Festschrift für Karl Gottfried Hugelmann, S. 280 ff.; Zoepfl, Dt. Rechtsgeschichte, S. 148, Fn. 22.
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der Dekrete und Dekretalen, denn darin fände man alles Recht, dessen das geistliche und weltliche Gericht bedürfe.22 Auch in einzelnen Artikeln finden sich Hinweise auf die verarbeiteten Quellen, vor allem auf Karl d. Gr.23, aber auch auf Dekretalen24 und römisches Recht25. An einigen Stellen lässt sich die kaiserliche Autorität der Vorlagen auch unmittelbar dem Text entnehmen, so etwa in Swsp. Ldr. 363b (Wir gebieten bi keiserlichem gewalte . allen den rihtern die in dem lande . oder in den steten sint . daz ...).26 In diesem Zusammenhang weist Trusen darauf hin, dass sich „in den Jahren 12501270 ... die Auffassung, im Sachsenspiegel liege, jedenfalls weitgehend, Kaiserrecht vor, verfestigt (habe) und ... zu einer selbstverständlichen Annahme geworden“ sei.27 Nur so sei zu verstehen, „daß zur Grundlage des neuen Rechtsbuches jenes auf Konstantin und besonders auf Karl d. Gr. zurückgehende Sachsenrecht genommen wird, daß man sich eine oberdeutsche Sachsenspiegelübersetzung beschafft und, von ihr ausgehend, auch anderes Kaiserrecht mit einbezieht, das Karl d. Gr. und seine Nachfolger gesetzt haben, aber auch solches, das auf den großen kaiserlichen Gesetzgeber Justinian zurückgeht“.28 22
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Swsp. Ldr. 1b: ... vnd also stet och an disem bvche . deheiner slahte lantreht noh lehenrecht . vnd och deheiner slahte vrteile wan ez mit rehte von romscher phahte . vnd von Karls rehte her chomen ist . vnd vz den bvchen decret vnd decretal . wan in den selben bvchen vindet man elliv div reht . der geistliches gerihte vnd weltliches gerihte bedarf . aber ditz bvch daz seit nit wan von weltlichem gerihte . vnd darvmbe haizet ditz bvch daz lantreht bvh . vnd daz elliv div reht div an disem bvche sint . daz div vber alliv lantreht vnd gewer sint . nah gesribenem rehte . an etwas nah der gvten gewonheit . als wir hernah wol gesagen. Dazu auch Hermann Krause, Kaiserrecht und Rezeption, AbhAk Heidelberg, Phil.-hist. Kl. 1952/1, S. 90 ff. mit Hinweis darauf, dass zahlreiche Handschriften den Swsp. als Rechtsbuch Karls d. Gr. ausweisen. Etwa Swsp. Ldr. 32, 51, 118, 313a, 326, 331, 343, 360, 361, 364. So Swsp. Ldr. 262: ... Vnde ist daz sich ein ivde tovffet . er mag mit rehte sin gut vnde sin erbe wol han . daz erlovbet in div geschrift wol . div da heizzet decretalis . vnd ander gesetzede vber ivden ... . Vgl. dazu Zoepfl, Dt. Rechtsgeschichte, S. 150, Fn. 41. Etwa Swsp. Ldr. 72: ... Lex esencia impedit libertatem... . Gemeint ist die Lex Aelia Sentia, wobei sich diese Stelle auf Inst. I, 6, 4 bezieht. Weiter Swsp. Ldr. 358 (Wir gebieten bi vnserem gewalte allen herren ... daz ...) und Swsp. Ldr. 364 I (... Wir verbieten allen den die in vnserem riche sint daz ...). Vgl. auch Swsp. Ldr. 56 (... Die keiser vnd die kvnige hant ditz reht gesetzet). Dazu Trusen, in: ZRG Germ. Abt. 102 (1985), S. 45; Rennefahrt, in: Festschrift für Theodor Mayer I, S. 81 f. Trusen, in: ZRG Germ. Abt. 102 (1985), S. 28 mwN. Insb. weist Trusen (S. 28 f.) darauf hin, dass bereits in der 2. Hälfte des 13. Jh. der Sachsenspiegel als von Karl d. Gr. bestätigtes Privileg ausgewiesen wurde. Auch der studierte Jurist Johann v. Buch hielt das Landrecht des Sachsenspiegels für ein Privileg Karls. Dazu Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 447, 452; Krause, Kaiserrecht und Rezeption, S. 87 f. Trusen, in: ZRG Germ. Abt. 102 (1985), S. 40. An einigen Stellen wird die Berufung auf Karl d. Gr. in den Text eingeschoben, obwohl der Einschub in der Vorlage (Sachsenspiegel) fehlt, so etwa in Swsp. Ldr. 118: Die tvschen kiesent den kivnig . daz er-
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Besonders deutlich ist dieser Gedanke im Deutschenspiegel, der Vorlage des Schwabenspiegels, formuliert. Im Gegensatz zur Vorrede des Sachsenspiegels (Diz recht en habe ich selbir nicht erdacht, ez haben von aldere an uns gebracht, unse guten vorevaren) heißt es im Deutschenspiegel: Ditz recht han ich niht erdacht. Ez habent die chunige an vns pracht. mit weiser maister lere.29 Im Frankenspiegel (1. Hälfte 14. Jh.) beginnt – entsprechend der Ankündigung in der Vorrede30 – fast jede einzelne Regelung mit der Berufung auf geschriebenes Reichsrecht oder kaiserliche Satzung (sint in dez riches rechte stet geschrieben; auch hat der kaiser anderswo gesatzt ... etc.).31 Der Schwabenspiegel grenzt darüber hinaus in Swsp. Ldr. 44 Rechtsgewohnheiten vom geschriebenen Recht ab: Gut sei eine Gewohnheit dann, wenn sie recht und beständig ist und weder dem geistlichen Recht noch der menschlichen Zucht widerspreche;32 eine gute Gewohnheit sei genauso gut wie das geschriebene Recht.33 Nach den Vorstellungen des Verfassers des Schwabenspiegels müssen
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warp in der kivnig karle alse diz buch seit. Abgesehen von dem hervorgehobenen Einschub stimmt der Text mit Ssp. Ldr. III 52 § 1 überein. Deutschenspiegel, hrsg. v. Karl August Eckhardt, Bibliotheca Rerum Historicarum, Bd. 3, Aalen 1971, S. 224. Dazu Trusen, in: ZRG Germ. Abt. 102 (1985), S. 39 f., 44. Frankenspiegel Vorrede (nach Endemann, Das Keyserrecht nach der Handschrift von 1372): Sint von ziten ... do wart der keiser zu rate mit den wisen meistern, wie er recht gemecht und auch gericht, damite daz die werlt worde fridebere, und auch durch daz daz der bosen lute ubeltat und arglist an den guten luten icht vorgang hette, davon daz riche sere beflecket worde. und satzt alsolich recht, als hernach geschriben stet, und gebot daz zu halden von siner keiserlichen gewalt und bi dez riches hulden uber alle die werlt. Dazu Munzel, Die Innsbrucker Handschrift des Kleinen Kaiserrechtes, S. 24 f., 37 f. mwN. Dieses Verständnis vom Kaiserrecht führte schließlich dazu, dass „das römisch verstandene Kaiserrecht und das einheimische Recht ... nicht als Gegensatz empfunden (werden), sondern nur als verschiedene Erscheinungsformen der einheitlichen Rechtsordnung“, so Krause, Kaiserrecht und Rezeption, S. 95. Entsprechendes gilt für die berühmte Sachsenspiegelstelle über die Unfreiheit (Ssp. Ldr. III 42 § 6): Auch nach Eike von Repgows Verständnis soll die „unrechte Gewohnheit“ kein Recht sein. Insgesamt finden sich im Schwabenspiegel (ebenso wie im Sachsenspiegel) nur wenige Regelungen, die auf Gewohnheitsrecht verweisen, etwa Swsp. Ldr. 1: ... Etwa ist reht vnd gewonheit daz ... . So ist etwa sitte daz ... ; Swsp. Ldr. 168a: ... daz hant in die lvte ze einer gewonheit genomen . daz sol erbe gut sin. Gut gewonheit wider sprichet diz bvch nvt ... . Im Zusammenhang mit der Zahlung von Bußen an Kläger oder Richter ist „Gewohnheit“ im Sinne von Ortsüblichkeit zu verstehen, so in Swsp. Ldr. 98, 107, 121a, 139 a, 195, 213, 358 (die Höhe der Buße soll sich nach den ortsüblichen Gepflogenheiten richten); ähnlich auch in Ssp. Ldr. III 73 § 3 (so muzen se irme herren de versnegelt geben, daz sint dri schillinge unde etswa me nach des landes wonheit). Zur consuetudo als Synonym für Ortsüblichkeit vgl. auch Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 296. Swsp. Ldr. 44: Von guter gewonheit suln wir hie sprechen . Swa gut gewonheit ist die ist gut . vnd reht . wan div da reht ist div ist och gut . Daz ist gut gewonheit . vnd rehtiv gewonheit . div wider geistlichem reht niht ist . vnd div wider den menschelichen zvhten
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somit Gewohnheiten bestimmte Anforderungen erfüllen, um auf eine Stufe mit geschriebenem Recht gestellt zu werden, während das geschriebene Recht ohne weitere Voraussetzungen bereits aus der schriftlichen Niederlegung legitimiert ist. Aufgrund des kompilatorischen Charakters des Schwabenspiegels überrascht dies allerdings nicht, denn die meisten Bestimmungen lassen sich auf schriftliche Vorlagen zurückführen.34 Insgesamt ist daher Trusen zuzustimmen, dass es „keineswegs die Absicht des oder der Verfasser (gewesen sei), hier nur schwäbisches Recht aufzuzeichnen. Wie schon im Deutschenspiegel, der niemals selbständige Bedeutung erlangte und eine vorläufige Redaktionsform darstell(e), (habe) auch bei diesem Werk die Absicht (vorgelegen), übergreifendes für alle Deutschen verbindliches Recht zur Darstellung zu bringen.“35
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niht ist . noch wider der selicheit nit ist der eren . vnd des landes gutiv gewonheit . Gutiv gewonheit ist als gut . als gesriben reht . daz bewaret disiv srift. Auffällig sind hier die Parallelen zum Prolog der Lex Baiuvariorum, der ebenfalls einen längeren Text zum Verhältnis von geschriebenem Recht und Gewohnheitsrecht enthält, wobei nach dem Prolog ebenso wie in Swsp. Ldr. 44 das ungeschriebene Recht mit der lex scripta nur dann auf eine Stufe gestellt wird, wenn es sich um eine beständige und gute Gewohnheit handelt. Vgl. dazu auch Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 294 f.; Udo Wolter, Die „consuetudo“ im kanonischen Recht bis zum Ende des 13. Jh., in: Gerhard Dilcher, Heiner Lück, Reiner Schulze, Elmar Wadle, Jürgen Weitzel, Udo Wolter (Hrsg.), Gewohnheitsrecht und Rechtsgewohnheiten im Mittelalter, Berlin 1992, S. 87 ff., insb. S. 100 f. Vgl. Friedrich Leonhard Anton Frhr. v. Lassberg, Der Schwabenspiegel nach einer Handschrift vom Jahr 1287, Neudruck Aalen 1972, hrsg. v. Karl August Eckhardt, Synopsis, 226–259. Nicht immer lässt sich dabei feststellen, ob die Parallelen auf Kontinuität oder auf Rezeption beruhen. Dies gilt insb. für die Regelungen, die spezifisch alemannisches Recht enthalten, etwa für den Nesteleid oder die Einteilung der Freien in drei Gruppen. Zum Nesteleid vgl. LAlam. LIV 3 und Swsp. Ldr. 20. Die Einteilung der Freien in drei Gruppen findet sich im Pactus Alamannorum II 36-38 (primus Alamannus – medianus Alamannus – baro de minoflidis) und noch in Lex Burgundionum II 2 (optimates nobiles – mediocres – minores personae), nicht hingegen in den anderen Volksrechten und auch nicht mehr in der Lex Alamannorum. In Swsp. Vorwort (h) werden die Fürsten und diejenigen Freien, die andere Freie als Lehnsmannen haben, die sog. sempar vrien unterschieden von den mittel vrien, die die Lehnsmannen der sempar vrien sind und von der dritten Gruppe, den freien lantsaezen. Diese Gruppen werden noch erwähnt in Swsp. Ldr. 70, 123. Trusen, in: ZRG Germ. Abt. 102 (1985), S. 58 f. So heißt es im Gegensatz zum Ssp. (spigel der sachsen sal diz buch sin genant, wenne der sachsen recht ist hir an bekant) in der Reimvorrede des Deutschenspiegels, Bibliotheca Rerum Historicarum III, S. 225: Wie ditz buch ist genant. Spiegel allr teutzher levte. Trusen, S. 59 empfiehlt daher, den Schwabenspiegel entsprechend den zeitgenössischen Bezeichnungen, etwa „Kaiserliches Land- und Lehnrechtsbuch“, umzubenennen. Entsprechendes fordert Munzel, Die Innsbrucker Handschrift des Kleinen Kaiserrechtes, S. 27 f. für den Frankenspiegel, der in der überwiegenden Zahl der Handschriften schlicht als Keyserrecht bezeichnet wird.
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3. Eisenacher Rechtsbuch Das aus drei Büchern bestehende Eisenacher Rechtsbuch wurde von dem Stadtschreiber Johannes Rothe36 rund ein Jahrhundert nach Aufzeichnung des Schwabenspiegels um 1384-1387 verfasst.37 Ebenso wie der Schwabenspiegel stellt das Eisenacher Rechtsbuch eine Kompilation dar, dessen Hauptquelle das Meißener Rechtsbuch (auch Rechtsbuch nach Distinktionen genannt)38 ist, daneben Sachsenspiegel nebst Glosse, Schwabenspiegel, römisches und kanonisches Recht, Eisenacher Gerichtsläufe und das Stadtrecht des Landgrafen Albrecht von 1283.39 Das in einer Handschrift überlieferte Eisenacher Rechtsbuch blieb auf den lokalen Raum beschränkt, obwohl Eisenach im Spätmittelalter Oberhof für die Landgrafschaft Thüringen war.40 Um 1500 wurde das Eisenacher Rechtsbuch einer romanisierenden Bearbeitung durch den Stadtschreiber Johannes Purgoldt unterzogen.41 4. Verarbeitung der Lex Baiuvariorum im Schwabenspiegel und im Eisenacher Rechtsbuch Sowohl der Schwabenspiegel als auch das Eisenacher Rechtsbuch übernahmen LBai. XX, XXI (Anhang Tabelle 1). Dabei sind Swsp. Ldr. 333-342, 344-345 teilweise wörtlich LBai. XX 1-10, XXI 1-6 entlehnt. Eisenacher Rechtsbuch III 113, 114 orientieren sich wiederum an Swsp. Ldr. 333-338, 342, 344-345; an eini36
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Johannes Rothe war nach eigenen Angaben Priester, Kaplan des Bischofs, Vikar der Liebfrauenkirche, Stadtschreiber, Domherr und Schulmeister des Marienstifts in Eisenach. Er wurde um 1350-1360 in Kreuzburg an der Werra geboren; er starb am 5. Mai 1434. Dazu insgesamt Peter Rondi (Hrsg.), Eisenacher Rechtsbuch, Germanenrechte NF, Abt. Stadtrechtsbücher, Bd. 3, Weimar 1950, XII, XXXI ff. Dazu Rondi, Eisenacher Rechtsbuch, XXIX f. Das in der Mark Meißen zwischen 1358 und 1387 entstandene Meißener Rechtsbuch ist das am weitesten verbreitete Stadtrechtsbuch Deutschlands; es ist in nahezu 100 Handschriften – teilweise fragmentarisch – überliefert. Dazu Ulrich-Dieter Oppitz, Dt. Rechtsbücher des Mittelalters, Bd. 1, Köln u. a. 1990, S. 55 ff. Rondi, Eisenacher Rechtsbuch, XXV f. Aus dem Meißener Rechtsbuch übernimmt Rothe die Bezeichnungen Kaiserrecht, Kaiserweichbild (Stadtrecht der Reichsstadt Goslar), Landrecht (Sachsenspiegel), Weichbildrecht (Recht der Städte im Geltungsgebiet des Sachsenspiegels), Stadtrecht (Recht der Stadt Eisenach), göttliches Recht (Bibel), geistliches Recht (Corpus iuris canonici). Dazu Rondi, XXVI-XXVIII; Friedrich Ortloff (Hrsg.), Das Rechtsbuch Johannes Purgoldts, Sammlung dt. Rechtsquellen, Bd. 2, 1860, Neudruck Aalen 1967, S. 2 ff. So Anna Hedwig Benna, Art. Eisenacher Rechtsbuch, in: HRG I, 1971, Sp. 914. Johannes Purgoldt wird 1490 als Stadtschreiber von Eisenach erwähnt. Sein Rechtsbuch besteht aus zehn Büchern; die ersten vier Bücher enthalten überwiegend bürgerliches Recht, die Bücher 5-8 Prozeßrecht (Schöffenrecht) und die beiden letzten Bücher städtisches Verfassungsrecht. Dazu Benna, Art. Eisenacher Rechtsbuch, HRG I, Sp. 914 f.; Ortloff, Das Rechtsbuch des Johannes Purgoldt, S. 1 ff. Zum Verhältnis von Meißener Rechtsbuch und den Eisenacher Rechtsbüchern vgl. Krause, Kaiserrecht und Rezeption, S. 110 ff.
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gen Stellen ist jedoch das Eisenacher Rechtsbuch stärker als der Schwabenspiegel an den Text der Lex Baiuvariorum angelehnt. So fehlt etwa in Swsp. Ldr. 333 die in LBai. XX 1 enthaltene Beweisregel; diese ist vielmehr der Beweisregel in Swsp. Ldr. 334 angefügt, während sich im Eisenacher Rechtsbuch III 113 die Beweisregeln in der gleichen Reihenfolge wie in LBai. XX 1-2 und somit abweichend von Swsp. Ldr. 333, 334 finden (Tabelle 1, Nr. 1, 2). Eine weitere Abweichung des Eisenacher Rechtsbuchs vom Schwabenspiegel besteht darin, dass die Beweisregel in LBai. XX 2 aut cum sacramentale iuret in beiden Rechtsbüchern unterschiedlich übersetzt ist. So wird in Swsp. Ldr. 334 die Übersetzung vnde wil er swern daz er vnschuldig si daz tvt er wol mit einem biderben manne gewählt, während es im Eisenacher Rechtsbuch III 113 heißt: ist her unschuldig, her tud sin recht davor alleyne (Tabelle 1, Nr. 2). Außerdem fehlen im Eisenacher Rechtsbuch die in Swsp. Ldr. 342 (am Ende) und in Swsp. Ldr. 343 enthaltenen Zusätze, die beide auch nicht in der Lex Baiuvariorum enthalten sind (Tabelle 1, Nr. 10, 11).42 Weiterhin beschreibt der Schwabenspiegel in sämtlichen Artikeln auf der Tatbestandsseite sowohl den Diebstahl als auch die Tötung eines Hundes (bzw. Vogels), während die Vorlage nur einmal beide Tatbestände (LBai. XX 1) nennt, zweimal nur den Diebstahl erwähnt (LBai. XX 2, 3) und überwiegend von der Tötung (LBai. XX 4, 7-10, XXI 1, 4) handelt. Hingegen übernimmt das Eisenacher Rechtsbuch (III 113, 114) den Tatbestand des Diebstahls nicht aus dem Schwabenspiegel, sondern nennt als Tatbestand nur das Töten oder Verderben eines Hundes (bzw. Vogels), ist also auch hier stärker als der Schwabenspiegel an die Lex Baiuvariorum angelehnt. Schließlich enthält das Eisenacher Rechtsbuch im Anschluss an III 113, 114 zwei Bestimmungen aus LBai. XXII über Obstgärten und Bienen, die zwar auch Aufnahme in den Schwabenspiegel gefunden haben, jedoch an anderer Stelle (Anhang Tabelle 2). Dabei orientiert sich das Eisenacher Rechtsbuch inhaltlich an Swsp. Ldr. 365, 366, ordnet aber die Bestimmungen in der gleichen Reihenfolge wie die Lex Baiuvariorum an. Auch Bestimmungen aus anderen Volksrechten wurden im Eisenacher Rechtsbuch nicht in gleicher Weise wie im Schwabenspiegel verarbeitet, wie der Vergleich von LAlam. IV-VI (Handschriften der Textklasse B aus dem Ende des 8. Jh.) mit Swsp. Ldr. 330, 331 und Eisenacher Rechtsbuch III 110, 5 belegt (Anhang Tabelle 3). Ganz deutlich orientieren sich Swsp. Ldr. 330 und 331 in Aufbau und einigen Details an LAlam. IV-VI. Allerdings sieht Swsp. Ldr. 331 nicht nur eine Buße an die Kirche in Höhe von 36 Schillingen, sondern auch eine Buße
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In Swsp. Ldr. 342 (am Ende) wurde keine neue Regelung aufgenommen, sondern nur die Beweisregeln, die in den vorangegangenen Artikeln enthalten sind, erläutert bzw. erweitert. Swsp. Ldr. 343 enthält eine eigenständige Regelung, die in dieser kurzen Form in der Lex Baiuvariorum fehlt (vgl. die ausführlichen Regelungen De vitiatis animalibus et eorum conpositione in LBai. XIV, insb. LBai. XIV 4-6), sich aber in anderen Volksrechten ähnlich knapp geregelt findet, so etwa in Lex Visigothorum VIII 4, 13, Edictum Rothari (EdRoth.) 337.
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an den Pfarrer dieser Kirche in Höhe von 18 Schillingen vor.43 Im Vergleich zum Eisenacher Rechtsbuch III 110, 5 fällt auf, dass dessen Rechtsfolge weder LAlam. V noch Swsp. Ldr. 331 entspricht, während der Tatbestand des Eisenacher Rechtsbuchs stärker an LAlam. V als an Swsp. Ldr. 331 angelehnt ist. Denn in Swsp. Ldr. 331 ist nicht die Rede davon, dass in der Kirche das Gut eines anderen gestohlen wird, vielmehr geht es um den Diebstahl von Kirchengut. LAlam. V schützt hingegen Gut, das der Kirche anvertraut wurde, und setzt zugunsten des bestohlenen Dritten eine Buße fest (homini, cuius fuerant, sicut lex habet, ita solvat). Im Eisenacher Rechtsbuch III 110, 5 findet sich dieser Gedanke wieder, wenn es dort heißt, dass der Dieb dreifach gelten soll und zwar eyn teil deme, dez ez gewest ist (Tabelle 3, Nr. 2). 5. Belege für die Herkunft der rezipierten Textstellen Interessant ist schließlich die in beiden Rechtsbüchern enthaltene Berufung auf Karl d. Gr. Während sich der Schwabenspiegel auch an einigen anderen Stellen auf Karl als Gesetzgeber beruft (Swsp. Ldr. 32, 51, 118, 313a, 326, 331, 343, 360, 361, 364), fehlt in Swsp. Ldr. 366 (im Gegensatz zum Eisenacher Rechtsbuch III 115) dieser Hinweis (Tabelle 2, Nr. 3) und in Swsp. Ldr. 331 wird (im Gegensatz zum Eisenacher Rechtsbuch III 110, 5) die Regelung nicht nur Karl, sondern auch Papst Leo III. zugeschrieben (Tabelle 3, Nr. 2-3).44 Im Allgemeinen werden Berufungen auf Karl d. Gr. als Gesetzgeber, die sich auch in anderen Rechtstexten des Spätmittelalters finden (insb. Ssp. Textus Prologi: unde ouch kristene koninge gesat haben, Constantin unde Karl, an den noch Sachsen lant sines rechtes zut), vom Schrifttum als Fehlzuweisungen eingeordnet oder damit kommentiert, dass Karl als legendärer Gesetzgeber dem jeweiligen Text Autorität verleihen sollte.45 43
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In den überlieferten Handschriften der Lex Alamannorum wird die an die Kirche zu zahlende Buße entweder mit 18 oder 36 Schillingen ausgewiesen (Nachweise in der Lehmann’schen Schwabenspiegelausgabe zu LAlam. V). Möglicherweise hat der Verfasser des Schwabenspiegels zwei unterschiedliche Handschriften der Lex Alamannorum benutzt. Vgl. aber auch Swsp. Ldr. 82. Regelmäßig findet sich im Eisenacher Rechtsbuch die Berufung auf Karl d. Gr. nur dann, wenn es sich um eine Stelle handelt, die tatsächlich auf ein Volksrecht zurückgeht. Dabei berief sich Johannes Rothe teilweise auch dann auf Karl, wenn ein entsprechender Hinweis im Schwabenspiegel fehlt. Rothe übernahm somit nicht ungeprüft die im Schwabenspiegel enthaltenen Zuordnungen. Auch dies könnte dafür sprechen, dass Rothe die Lex Baiuvariorum neben dem Schwabenspiegel als Vorlage benutzt hat. So etwa Munzel, Die Innsbrucker Handschrift des Kleinen Kaiserrechtes, S. 31 zur Berufung auf Karl d. Gr. im Frankenspiegel. Vgl. dies., Das Verfahrensrecht des Kleinen Kaiserrechtes, in: Jost Hausmann/Thomas Krause (Hrsg.), Zur Erhaltung guter Ordnung – Beiträge zur Geschichte von Recht und Justiz, Festschrift für Wolfgang Sellert, Köln u.a. 2000, S. 85, 90 f. Der Frankenspiegel bezeichnet sich als keyserrechte, wobei etwa ein Sechstel der überlieferten Handschriften hinzufügen als it konink karle liss machen zu vreden unde zu nutz allen luden. Dazu dies., Sachsenspiegel, Kaiserrecht, König Karls Recht?, in: Hans Höfinghoff/Werner Peters/Wolfgang Schild/Timothy Sodmann
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Ohne Zweifel war die Legende von Karl d. Gr. als Gesetzgeber weit verbreitet46 und unbestritten wurden Rechtstexte durch die Berufung auf Karl „mit dem Nimbus kaiserlicher Autorität legalisiert“.47 Dies schließt aber nicht aus, dass der Bezug noch aus einem anderen Grund hergestellt wurde. Immerhin stammen die in den Rechtsbüchern verarbeiteten Kapitularien überwiegend aus der Karolingerzeit, meist sogar aus der Zeit Karls d. Gr.48 Weiterhin wurden unter Karl d. Gr. die Lex Baiuvariorum ergänzende Kapitularien erlassen,49 so dass die vermutlich als Privatarbeit um 740 entstandene Lex Baiuvariorum nachträglich reichsrechtlich autorisiert wurde.50 Schließlich berichtet Einhard in der Vita Karoli (c. 29), dass Karl d. Gr. die bereits vorhandenen Rechte der Franken überarbeiten und die bislang nur mündlich tradierten Rechte der Sachsen, Thüringer und Friesen erstmals aufzeichnen ließ; auch die Lorscher Annalen bezeugen das Engagement Karls d. Gr., die Rechte seines Reiches aufzeichnen bzw. überarbeiten zu lassen.51 Demzufolge wird im Schrifttum vertreten, dass es sich bei den um 800 hergestellten
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(Hrsg.), Alles was Recht war – Rechtsliteratur und literarisches Recht, Festschrift für Ruth Schmidt-Wiegand, Essen 1996, S. 98 ff. Nachweise bei Trusen, in: ZRG Germ. Abt. 102 (1985), S. 18 ff. Trusen, in: ZRG Germ. Abt. 102 (1985), S. 35. Zahlreiche weitere Nachweise bei Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 306 f. Vgl. auch Derschka, in: ZRG Germ. Abt. 120 (2003), S. 117; Krause, Kaiserrecht und Rezeption, S. 87 ff. Vgl. nur die Nachweise bei Rennefahrt, in: Festschrift für Theodor Mayer I, S. 81 ff. Als Beispiel sei hier Swsp. Ldr. 364 genannt: Der selige vnd der heilige keiser karle sprichet aber hie also . Ez sol nieman deheinen zol nemen wan der von alter har ist komen mit rehte . die min ane vnd min vater kvnig pipin gesetzet hant . die welle wir stete han . vnd wellen ouch fvrbaz deheine me setzen . vnde swer si hat gesetzet . die nehmen wir abe ... . In der Lassberg’schen Schwabenspiegelausgabe findet sich hierzu die Anmerkung, dass diese Satzung nicht von Karl stamme, sondern eine wörtliche Übersetzung eines Kapitulars seines Sohnes Ludwig I. darstelle. Dies ist zwar richtig, jedoch heißt es auch schon in den Kapitularien Karls d. Gr. De teloneis qui iam antea forbanniti fuerunt, nemo tolat nisi ibi ubi antiquo tempore fuerunt, worauf v. Lassberg unter Angabe der Fundstelle selbst hinweist. Somit lässt sich die wesentliche Aussage der zitierten Schwabenspiegelstelle (Ez sol nieman deheinen zol nemen wan der von alter har ist komen mit rehte) eben auch Karl zuordnen. Capitula ad legem Baiwariorum addita und Capitulare Baiwaricum, beide um 800 (Capitularia Regum Francorum I, hrsg. von Alfred Boretius, MGH, Leges II-1, Hannover 1883, Nr. 68 und 69, S. 157 ff.). Eine Sammelhandschrift (Vatikan, BAV, Reg. lat. 991), die wahrscheinlich in der Aachener Kanzlei Ludwig des Frommen oder einem hofnahen Skriptorium im 2. Viertel des 9. Jh. hergestellt wurde, enthält beispielsweise folgende Rechtstexte in der angegebenen Reihenfolge: Lex Ribuaria, Lex Salica, Lex Alamannorum, Lex Baiuvariorum, Capitula ad legem Baiuvariorum addita, Epitome Aegidii der Lex Romana Visigothorum. Dazu Hubert Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta, Überlieferung und Traditionszusammenhang der fränkischen Herrschererlasse, MGH Hilfsmittel, Bd. 15, 1995, S. 838 ff. Dazu auch Ruth Schmidt-Wiegand, Art. Leges, in: Hoops RGA 18, S. 195, 197.
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Emendata-Fassungen der Lex Baiuvariorum und Lex Alamannorum um autorisierte Fassungen der Kanzlei Karls d. Gr. handelt.52 Die in Sammelhandschriften regelmäßig zusammen mit fränkischem Recht überlieferten Rechte der Alemannen und Bayern53 durften daher durchaus mit einer gewissen Berechtigung Karl d. Gr. zugeschrieben werden.54 Daher mag bei der Rezeption frühmittelalterlicher Texte im Spätmittelalter das Motiv für einen Hinweis auf Karl d. Gr. in erster Linie darin bestanden haben, die Herkunft der Quelle zu belegen, ebenso wie sich auch entsprechende Hinweise auf die Digesten oder Institutionen finden. Entscheidender als die Richtigkeit des Herkunftsnachweises ist aber ohnehin, dass im Spätmittelalter das rezipierte Recht allein durch die Rückführung auf Karl d. Gr. oder Justinian Gültigkeit beanspruchen konnte. Denn die Verfasser der Rechtsbücher beriefen sich auch für das aus karolingischer Zeit stammende Recht keineswegs auf Kontinuität, vielmehr scheint es ihnen genügt zu haben, dass sie von den vorliegenden, Jahrhunderte alten Rechtstexten annehmen durften, dass diese auf kaiserlicher Legitimation (Karls oder Justinians) beruhten. II. Verarbeitung der Volksrechte im Sachsenspiegel? Im Gegensatz zu den bislang behandelten Rechtsbüchern stellt sich beim Sachsenspiegel zunächst die Frage, in welchem Maße eine Übereinstimmung mit einer denkbaren Vorlage bestehen muss, damit eine Rezeption angenommen werden kann. So geht etwa Trusen davon aus, „daß Eike im eigentlichen Sinne nicht literarisch, sondern im wesentlichen aus dem Gedächtnis gearbeitet“ habe. Allerdings stellt Trusen auch hohe Anforderungen an die Übernahme aus einer schriftlichen Vorlage: „Wenn man bestimmte direkte literarische Vorlagen für den Sachsen52
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Dazu Clausdieter Schott, Art. Lex Alamannorum, in: HRG II, 1978, Sp. 1879 f.; Harald Siems, Art. Lex Baiuvariorum, in: HRG II, 1978, Sp. 1887 ff. Bei 26 von 28 aus dem 8. und 9. Jh. stammenden Handschriften, die den Text der Lex Alamannorum enthalten, handelt es sich um Sammelhandschriften, in denen alemannisches Recht mit fränkischem Recht (Lex Salica, Lex Ribuaria und/oder Kapitularien) verbunden wurde; lediglich zwei frühe Handschriften aus der Zeit um bzw. kurz nach 800 enthalten nur die Lex Alamannorum. Bei der Lex Baiuvariorum ergibt sich für die aus dem 9. Jh. überlieferten zwölf Handschriften ein ähnlicher Befund. Lediglich zwei aus dem Beginn des 9. Jh. stammende Handschriften enthalten neben der Lex Baiuvariorum kein fränkisches Recht, während in zehn von zwölf Handschriften die Lex Baiuvariorum mit fränkischem Recht kombiniert wurde. Ein großer Teil dieser Handschriften stammt zudem aus fränkischen Skriptorien. Diese Angaben beruhen auf einer Auszählung der bei Gero Dolezalek, Verzeichnis der Handschriften zum römischen Recht bis 1600, Bd. 1-2, Frankfurt/M. 1972 und Hubert Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta aufgeführten Handschriften. So auch Rennefahrt, in: Festschrift für Theodor Mayer I, S. 86: „Die Volksrechte, die Karl der Große, nach Einhards Bericht, gesammelt hat, galten im Mittelalter weitgehend als sein Werk.“ Vgl. aber auch Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow, S. 172 f.
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spiegel annehmen will, dann reicht eine gedankliche Ähnlichkeit nicht aus; sondern es muß eine genaue wörtliche Übereinstimmung hinzukommen, besonders bei Gedanken, die sehr allgemein gehalten sind.“55 Gerade das Arbeiten mit mehreren Vorlagen kann aber den Verfasser eines neuen Rechtstextes zu einem sehr freien Umgang mit den Vorlagen anregen. Daher ist zunächst zu fragen, ob es überhaupt Anhaltspunkte für eine Rezeption frühmittelalterlicher Texte im Sachsenspiegel gibt, die für eine freie Verarbeitung von schriftlichen Vorlagen sprechen könnten. 1. Lex Baiuvariorum und Lex Alamannorum Der Sachsenspiegel regelt inhaltlich in ähnlicher Weise wie die Lex Baiuvariorum den Diebstahl von Hunden und Vögeln (Ssp. Ldr. III 47 § 2): Singende vogele unde grimmende vogele unde winde unde hetzehunde unde bracken mag man wol gelden mit eime irme gelichen, der also gut sie, ab man ez geweren tar uffe den heiligen. Mit grimmende vogele sind Stoßvögel, die ihre Klauen zum Fang krümmen, gemeint, also Habichte, Falken und Sperber; bracken stehen für Spür-, d.h. Jagdhunde. Damit zählt Ssp. Ldr. III 47 § 2 fast alle Hunde- und Vogelarten auf, die in LBai. XX und XXI genannt sind, lediglich der Hirten- und der Hofhund fehlen. Diese beiden hat Eike von Repgow jedoch keineswegs vergessen, vielmehr werden der schaferode und der hovewart zusammen mit anderen Haus- und Nutztieren in einer der folgenden Bestimmungen (Ssp. Ldr. III 51 § 1 Von vogele unde tiere wergelde) aufgeführt. Ebenso wie die Lex Baiuvariorum sieht auch Ssp. Ldr. III 47 § 2 als Unrechtsausgleich vor, dass der Täter dem Besitzer des gestohlenen Tieres ein gleichwertiges Tier als Ersatz geben muss (allerdings fehlt die in der Lex Baiuvariorum vorgesehene zusätzliche Buße). Sollte Eike von Repgow die bayerische Lex als Vorlage benutzt haben, dann ist es ihm im Gegensatz zum Verfasser des Schwabenspiegels gelungen, die umständlich gefassten Regelungsinhalte von LBai. XX, XXI kurz und knapp zusammenzufassen und die wesentlichen Inhalte (Tatbestände, Rechtsfolgen und Beweisregeln) in einer Bestimmung wiederzugeben. Für eine Verarbeitung der süddeutschen Volksrechte könnte auch die folgende Bestimmung sprechen. Ssp. Ldr. III 48 § 4 (Belemet abir ein man einen hunt adir totet her in, durch daz her en bizen wil adir daz her sin vie bizit uf der strazen ader uf deme velde, her blibit ez ane wandel, geweret herz uf den heiligen, daz her im anders nicht gesturen konde) erinnert stark an LAlam. LXXVIII 6 (Et si ipse canis eum per vestimentum adpraehenderit, et eum quasi nolens percusserit, et mortuus fuerit, iuret, ut per invidiam non fecisset, nisi ad defendendum); Tatbestand, Rechtsfolge und Beweisregel stimmen weithin überein.56
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Trusen, in: ZRG Germ. Abt. 102 (1985), S. 16. Ähnliche Regelungen finden sich aber auch in anderen Volksrechten, so etwa in LBai. XX 10 und in EdRoth. 330, 331.
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2. Leges Langobardorum Selbst zum langobardischen Recht aus der Mitte des 7. Jh. (Edictum Rothari, um 643) lassen sich Bezüge nachweisen (Anhang Tabelle 4). Auch wenn bei den angeführten Textstellen kaum wörtliche Übereinstimmungen bestehen, so enthält doch jede der zitierten Sachsenspiegelstellen zwei verschiedene Regelungsgegenstände, die jeweils auch in einer Norm oder in zwei aufeinander folgenden Normen des langobardischen Rechts vorhanden sind. In EdRoth. 167 geht es ebenso wie in Ssp. Ldr. I § 12 um die Aufteilung des Gutes unter Brüdern bei gemeinsamem Haushalt, wobei die Sachsenspiegelstelle weiter gefasst ist (Tabelle 4, Nr. 1). Der Wortlaut zu Beginn der beiden Bestimmungen ist aber fast identisch. Beide Regelungen gehen im Grundsatz davon aus, dass das von einem Bruder erworbene Gut Bestandteil des Gesamtguts wird, das später zu gleichen Teilen aufgeteilt wird. Das Edikt Rotharis nennt davon zwei Ausnahmen, nämlich das während königlicher Gefolgschaft erworbene Gut sowie das durch gairethinx (d.h. durch eine besondere Rechtshandlung) zugewandte Gut. Beides findet sich im Sachsenspiegel nicht, wobei allerdings Eike mit dem frühmittelalterlichen langobardischen Institut des gairethinx kaum etwas hätte anfangen können. Als zweiter Regelungsgegenstand tritt in beiden Texten eine Ausnahmeregelung für das der Ehefrau eines Bruders zustehende Gut hinzu. Ssp. Ldr. II 40 § 1 zählt nicht nur nahezu dieselben Tiere (Hund, Pferd, Ochse) wie EdRoth. 326 auf, sondern ordnet ebenso wie das Edikt sowohl die Zahlung eines Wergeldes im Fall der Tötung als auch die Besserung des Schadens im Fall einer sonstigen Verletzung an.57 In beiden Fällen ist der Herr des Tieres aber nur dann für den Unrechtsausgleich verantwortlich, wenn das Tier in seiner Obhut war. Hat er es hingegen einem Dritten überlassen (nach EdRoth. 327 entliehen oder vermietet bzw. nach Ssp. Ldr. II 40 § 4 einem Knecht zur Verfügung gestellt), so haftet der Dritte (Tabelle 4, Nr. 2). Auch hier sind Tatbestände und Rechtsfolgen im Wesentlichen identisch, die Abfolge der Regelungen ist die gleiche und einzelne Passagen stimmen fast wörtlich überein. Ssp. Ldr. II 47 § 1 und EdRoth. 344, 345 regeln jeweils das Treiben von Vieh auf eines anderen Mannes Feld (Tabelle 4, Nr. 3). Nach beiden Rechten ist nicht nur der angerichtete Schaden auszugleichen, sondern auch eine Buße zu zahlen (iHv insgesamt drei Schillingen bzw. einem Schilling pro Tier). Ssp. Ldr. II 47 § 2 ergänzt diesen Tatbestand ebenso wie EdRoth. 346 für den Fall, dass der Geschädigte das Vieh gepfändet hat. Nach beiden Bestimmungen soll der Schaden nach dem Spruch der Nachbarn (ut damnum quod arbitratum fuerit conponatur, aut fabula, quae inter vicinûs est) bzw. der Bauern (den schaden sal her gelden … nach der bure kore) erstattet werden. Wenngleich im Detail einige Abweichungen bestehen, so lassen sich doch deutliche Parallelen bei den Tatbeständen und Rechtsfolgen sowie in der Abfolge der Regelungen erkennen.
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Dabei steht der erste Satzteil von Ssp. Ldr. II 40 § 1 (Wes hunt adir ber adir phert adir ochse ader welcherhande vie ez si ...) näher an EdRoth. 327 (Si quis ... caballum aut bovem aut canem aut quolibet animalem habuerit …) als an EdRoth. 326.
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Schließlich behandeln Ssp. Ldr. II 46 §§ 1, 2, 4 ebenso wie EdRoth. 354-356 die Arbeit auf einem fremden Feld (Tabelle 4, Nr. 4). In EdRoth. 354 und Ssp. Ldr. II 46 §§ 1, 2 geht es darum, dass jemand fremdes Land besät, entweder, weil er glaubt, aufgrund eines Pachtverhältnisses dazu berechtigt zu sein (Ssp. Ldr. II 46 § 1), oder obwohl er weiß, dass er dazu nicht berechtigt ist (EdRoth. 354, Ssp. Ldr. II 46 § 2). In dieser zweiten Variante heißt es im Edikt Rotharis und im Sachsenspiegel, dass er seine Arbeit und seine Saat verlieren soll (EdRoth. 354: perdat opera et frugis; Ssp. Ldr. II 46 § 2: der verluset sine arbeit unde sine sat dar an). Wer aber ein schon bestelltes fremdes Feld umpflügt, der soll den Schaden und zusätzlich (für die Anmaßung) eine Buße zahlen (EdRoth. 355, 356, Ssp. Ldr. II 46 § 4). Insgesamt lassen die angeführten vier Beispiele zahlreiche Gemeinsamkeiten zwischen dem Sachsenspiegel und dem Edikt Rotharis erkennen (wobei Ssp. Ldr. II 40, 46, 47 ebenso wie EdRoth. 326, 327, 344-346, 354-356 auch jeweils einem Abschnitt zuzuordnen sind). Dies spricht freilich nicht zwingend für eine Rezeption, denn auch andere Gründe (etwa die naheliegende Lösung für vergleichbare Probleme) sind in Betracht zu ziehen. Eine Rezeption des frühmittelalterlichen langobardischen Rechts im spätmittelalterlichen Sachsen scheint auf den ersten Blick sogar eher fern zu liegen, wenngleich die Leges Langobardorum als einziges frühmittelalterliches Recht noch zu Lebzeiten Eikes – in Form der Lombarda – in Norditalien in Gebrauch waren. Dennoch hätte man eher eine Rezeption aus dem frühmittelalterlichen sächsischen Recht erwarten dürfen. Daher finden sich auch in der Literatur regelmäßig nur Untersuchungen dazu, ob Eike die Lex Saxonum (LSax.) sowie die von Karl d. Gr. für Sachsen erlassenen Kapitularien benutzt haben könnte,58 wobei dies im Ergebnis durchgängig verneint wird.59
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Zur Capitulatio de partibus Saxoniae (782/785), zum Capitulare Saxonicum (797) und zur Lex Saxonum (802) vgl. Ruth Schmidt-Wiegand, Art. Lex Saxonum, HRG II, 1978, Sp. 1962 ff.; Heiner Lück, Art. Lex Saxonum, in: Hoops RGA 18, 2. Aufl. 2001, S. 332 ff.; Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium Iuris, S. 38 ff. Auf Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium Iuris, S. 99 wurde schon hingewiesen. Eher ablehnend auch Trusen, in: ZRG Germ. Abt. 102 (1985), S. 23: „Gewiß mögen damals noch blasse Erinnerungen an die alte Lex Saxonum, die 785 von Karl erlassene Capitulatio de partibus Saxoniae mit ihren drastischen Strafbestimmungen und deren Milderung durch das auf dem Reichstag zu Aachen 797 beschlossene Capitulare Saxonicum vorhanden gewesen sein. Das spätere sächsische Gewohnheitsrecht war jedoch wenig davon geprägt. Es entwickelte sich seit dem Frieden von Salz 803 eigenständig, wenn auch zunächst unter starkem Einfluß des fränkischen Rechts.“ Nach Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 279 ist der Sachsenspiegel „das beste Zeugnis für den Untergang der autoritativen Geltung der Leges“; weiter schreibt er: „Von der Lex Saxonum scheint Eike von Repgow nichts mehr zu wissen ... .“
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3. Lex Saxonum Allerdings gibt es im Sachsenspiegel an mehreren Stellen auch Bezüge zur Lex Saxonum (um 802).60 So wird in LSax. 1 die Buße eines Adligen mit 30 Schillingen festgesetzt (De ictu nobilis 30 solidos, vel si negat tertia manu iuret), ebenso wie nach Ssp. Ldr. III 45 § 1 die Buße der Fürsten, Freiherren und Schöffenbarfreien, die alle dem höchsten Stand zuzurechnen sind, 30 Schillinge beträgt. Aus LSax. 14 ergibt sich, dass das Wergeld eines Adligen 1440 Schillinge beträgt, während nach LSax. 11 für das Ausschlagen eines Auges, das Abschlagen eines Ohres, das Abschneiden der Nase, einer Hand, eines Fußes oder der Hoden 720 Schillinge, d.h. das halbe Wergeld zu zahlen ist. Entsprechend bestimmt Ssp. Ldr. II 16 § 5: Deme munt, nase, ougen, zunge, oren, des mannes gemechte, hende adir vuze gelemet wirt, unde sal man im besseren, man bessert ez mit eime halben wergelde. Im Anschluss daran heißt es in Ssp. Ldr. II 16 § 6, dass jeder Finger und jeder Zeh seine besondere Buße habe, wobei diese im zweiten Satzteil für alle Finger und Zehen auf den zehnten Teil des Wergeldes festgesetzt wird (Itlich vinger unde ze haben ire sunderlichen buze, nach deme daz in an deme wergelde geburt sin zende teil). In LSax. 13 sind hingegen für das Abschlagen eines jeden einzelnen Fingers oder Zehs tatsächlich besondere Bußen festgesetzt, die etwa 1/8, 1/9 oder 1/12 eines Wergeldes betragen und damit im Mittel etwa dem zehnten Teil des Wergeldes entsprechen (mit Ausnahme des Daumens, für den ¼ Wergeld zu zahlen ist). LSax. 11, 13 und Ssp. Ldr. II 16 §§ 5, 6 stimmen somit in Tatbeständen, Rechtsfolgen und Abfolge weitgehend überein. Auch hier könnte Eike (ebenso wie in Ssp. Ldr. III 47 § 2 im Verhältnis zu LBai. XX, XXI) umständliche Regelungen deutlich vereinfacht und ohne wesentliche Änderung ihres Gehalts zusammengefasst haben. Schließlich verläuft in LSax. 34-36 ebenso wie in Ssp. Ldr. II 13 § 1 die Grenze zwischen dem todeswürdigen großen Diebstahl und dem durch Geld ablösbaren kleinen Diebstahl bei drei Schillingen.61 In erster Linie verarbeitet Ssp. Ldr. II 13
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Vgl. etwa LSax. 25 – Ssp. Ldr. III 84 § 2; LSax. 62 – Ssp. Ldr. I 52 § 1. LSax. 34: Qui bovem quadrimum, qui duos solidos valet, nocte furto abstulerit, capite puniatur. [Wer ein vierjähriges Rind, das 2 Schillinge wert ist, bei Nacht dieblich wegnimmt, werde mit dem Tode bestraft.] LSax. 35: Qui in re qualicumque vel interdiu vel noctu trium solidorum precium furto abstulerit, capite puniatur. [Wer irgendeine Sache im Wert von 3 Schillingen tagsüber oder bei Nacht dieblich wegnimmt, werde mit dem Tode bestraft.] LSax. 36: Quicquid vel uno denario minus tribus solidis quislibet furto abstulerit, novies conponat, quod abstulit; ... . [Was irgendjemand nur um einen Pfennig geringwertiger als 3 Schillinge dieblich wegnimmt, büße er neunfach, weil er es wegnahm, ... .] Leges Saxonum, hrsg. von Karl Frhr. v. Richthofen, Karl Friedrich Frhr. v. Richthofen, MGH, LL V, 1875; Übersetzung nach Karl August Eckhardt, Die Gesetze des Karolingerreiches 714-911, Bd. 3: Sachsen, Thüringer, Chamaven und Friesen, Germanenrechte, Texte und Übersetzungen, Weimar 1934.
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aber den Sächsischen Landfrieden von 1221, wobei sich anhand der Übernahme dieser Quelle die Arbeitsweise Eikes gut nachvollziehen lässt.62 4. Frieden Heinrichs (VII.) für Sachsen Ssp. Ldr. II 13 §§ 1, 4-5, II 16 § 2, II 66 und 68 gehen auf c. 1-5, 7-9 des Friedens Heinrichs (VII.) für Sachsen von 1221 zurück (Anhang Tabelle 5).63 Da c. 8 des Friedens eine völlig unzureichende Regelung zum Diebstahl enthält (indem nur ein ganz bestimmter Spezialfall geregelt wird), könnte sich Eike zusätzlich der Lex Saxonum bedient haben. Ebenso wie dort wird im Sachsenspiegel nur der kleine Diebstahl bei Tage privilegiert, während für den Nachtdiebstahl auch unterhalb der Drei-Schilling-Grenze die Todesstrafe vorgesehen ist.64 Darüber hinaus belegt die Verarbeitung des Landfriedens Heinrichs (VII.), wie frei Eike mit seinen Vorlagen umging, worauf auch schon Karl Kroeschell und vor ihm Ferdinand Frensdorff hingewiesen haben.65 Teile des Friedens Heinrichs 62
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Bei Ssp. Ldr. II 13 handelt es sich um die zentrale Regelung zu den Todesstrafen, die von Kroeschell, Dt. Rechtsgeschichte I, S. 199 f. als Beleg für die Herausbildung eines selbständigen, von den Frieden losgelösten Strafrechts herangezogen wird. Heinrich (VII.), Sohn Kaiser Friedrichs II. und von 1220 bis 1235 deutscher König, erneuerte im Jahre 1224 mit der sog. Treuga Heinrici den sächsischen Landfrieden von 1221 und setzte ihn (mit Ergänzungen und Änderungen) vermutlich für das gesamte Reich in Kraft. Dazu A. Buschmann, Art. Treuga Heinrici, in: HRG V, 1998, Sp. 338 ff. Im Sachsenspiegel wurden möglicherweise beide Frieden berücksichtigt; dazu Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 436 f. Im einzelnen ergeben sich folgende Tatbestände und Rechtsfolgen: (1) Tatbestand: Diebstahl am Tage, Diebesgut hat einen Wert von weniger als drei Schillingen; Rechtsfolge: LSax. 36: Neunfache Buße & Friedensgeld; Ssp. Ldr. II 13 § 1: Strafe an Haut und Haar, Ablösesumme drei Schillinge. (2) Tatbestand: Diebstahl am Tage, Diebesgut hat einen Wert von mindestens drei Schillingen; Rechtsfolge: LSax. 35: Todesstrafe; Ssp. Ldr. II 13 § 1: Todesstrafe (Hängen). (3) Tatbestand: Diebstahl in der Nacht, unabhängig vom Wert des Diebesguts (bzw. Wert von mindestens zwei Schillingen); Rechtsfolge: LSax. 34: Todesstrafe; Ssp. Ldr. II 13 § 1: Todesstrafe. Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 437: „Hier interessiert uns jedoch nicht das Problem der Vorlage, sondern die Frage, wie Eike mit ihr umgegangen ist. ... Einmal läßt Eike alles weg, was in seiner Vorlage darauf hindeutet, daß der Frieden nur auf bestimmte Zeit beschworen wird. Damit werden die übernommenen Sätze zum ‚Bestand des allgemein und immer geltenden Rechts’. Bei den Friedensbruchstrafen wird dies noch dadurch betont, daß sie an eine ganz andere Stelle des Sachsenspiegels gerückt werden und ohne Zusammenhang mit dem Friedensrecht als dauerhafte Strafrechtsordnung auftreten. Zum anderen aber übergeht Eike die Fehde mit Stillschweigen. ... Alles dies läßt Eike weg; offenbar will er von einer erlaubten Fehde nichts wissen! Es ist ganz deutlich, daß auch hier eine bestimmte Rechtsüberzeugung am Werke ist.“ Vgl. weiter Ferdinand Frensdorff, Beiträge zur Geschichte und Erklärung der dt. Rechtsbücher, AbhAk Göttingen, Phil.-hist. Kl. 1921, S. 131, 147 f. Auch Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium Iuris, S. 164 f. führt Beispiele für den selbständigen Umgang Eikes mit denkbaren Vorlagen an.
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(VII.) übernahm Eike nicht, insbesondere ließ er die zeitliche Befristung des Friedens (c. 24) auf zwei Jahre weg; andere Regelungen löste Eike aus ihrem Zusammenhang und verarbeitete sie mal mehr, mal weniger frei.66 Weiterhin änderte er die einleitenden Worte des Landfriedens ab, die von den sonst üblichen Schwurformeln abweichen (Hec est forma pacis antique, quam dominus imperator precepit renovari). Der sächsische Landfrieden von 1221 geht in Teilen auf den Frieden Friedrich Barbarossas aus dem Jahre 1179 zurück, der sich wiederum als Erneuerung des alten, von Karl d. Gr. errichteten Friedens ausgibt (pacem antiquam a predecessore nostro Karolo divo augusto institutam, renovavimus ipsam).67 Friedrich trat hier als „selbstherrlicher Gesetzgeber“ auf, der seine „kaiserliche Autorität durch den Bezug auf Karl den Großen“ noch verstärkte.68 Elmar Wadle führt diese ungewöhnliche Art der Friedensaufrichtung („reiner Herrscherbefehl“) auf römisch-rechtliche Einflüsse, Kontakte Friedrichs zur italienischen Jurisprudenz und die Rezeption antiken Gedankenguts zurück. In Italien wurde diese Form der Friedensaufrichtung nicht als ungewöhnlich empfunden, während die als beschworene Einigungen errichteten Frieden aus italienischer Sicht als typisch deutsches Verfahren betrachtet wurden.69 Vermutlich mißfiel auch Eike der Herrscherbefehl zu Beginn des Friedens, denn bei ihm beginnt die Friedenssatzung entgegen der Vorlage mit der Zustimmung der Ritter des Landes (Ssp. Ldr. II 66 § 1: Nu vernemet den alden vride, den die keiserliche gewalt bestetiget hat deme lande zu Sachsen mit der guten knechte wilkore von dem lande). Schließlich verarbeitete Eike die inhaltlich zusammenhängenden c. 1-5, 7-9 des Landfriedens an ganz verschiedenen Stellen (Ssp. Ldr. II 13 §§ 1, 4, 5, II 16 § 2, II 66 §§ 1, 2, II 68, vielleicht noch III 64 §§ 4, 6). Er riss Zusammenhängendes auseinander und kombinierte es in anderer Art und Weise, etwa wenn in Ssp. Ldr. II 13 § 4 Mörder (genannt in c. 9 des Landfriedens) ebenso wie diejenigen, die einen Pflug oder Mühlen (be-)rauben, Kirchen oder Kirchhöfe niederbrennen (der Schutz dieser Gegenstände/Einrichtungen findet sich in c. 2 des Landfriedens), mit dem Rad bestraft werden (Strafe wieder aus c. 9 des Landfriedens). Außerdem ergänzte er die Regelungen teilweise um weitere Tatbestände, so in Ssp. Ldr. II 13 § 4 um Verrat, in II 13 § 5 um Ehebruch und in II 13 § 7 um Verbrechen gegen die Kirche. Fast alle von Eike hinzugefügten Straftatbestände und die dafür vorgesehenen Todesstrafen finden sich bereits in den Kapitularien Karls d. Gr. für Sach66
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Etwa c. 11 = Ssp. Ldr. II 70; c. 14 = Ssp. Ldr. II 67; c. 15 = Ssp. Ldr. II 71 § 2; c. 20 = Ssp. Ldr. II 69; c. 21 = Ssp. Ldr. II 71 § 3. Rheinfränkischer Landfriede Friedrichs I. 1179, Quellensammlung zur Geschichte der Dt. Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, bearb. von Karl Zeumer, Sigmaringen 1904, Nr. 14. Dazu auch Elmar Wadle, Frühe dt. Landfrieden, in: Hubert Mordek (Hrsg.), Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters, Sigmaringen 1986, S. 71, 86 ff. Wadle, Frühe dt. Landfrieden, S. 88. Wadle, Frühe dt. Landfrieden, S. 88 f. Als Beleg führt Wadle eine Nachricht zum Reichstag von Roncaglia 1158 an, in der es über die deutsche Friedeneinung heißt: Ex hinc pactum pacis instituit, secundum quod principes Alamanniae facere consuerunt.
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sen. Dies gilt etwa für das in Ssp. Ldr. II 13 § 4 genannte Niederbrennen einer Kirche, das auch in c. 3 der Capitulatio de partibus Saxoniae von 782/785 enthalten ist. Dies gilt weiter für die in Ssp. Ldr. II 13 § 7 genannte Ungläubigkeit und Zauberei sowie für den in Ssp. Ldr. II 13 § 4 genannten Verrat; beide Taten werden auch schon nach c. 8-11 der Capitulatio mit dem Tode bestraft. 5. Kontinuität oder Rezeption? Nun liegt bei den Gemeinsamkeiten zwischen dem Sachsenspiegel und dem frühmittelalterlichen sächsischen Recht der Gedanke an Kontinuität zunächst nahe. Dies würde allerdings voraussetzen, dass die Sachsen das Recht Karls d. Gr. angenommen und dieses über Jahrhunderte mündlich tradiert hätten. Denn bei der Capitulatio de partibus Saxoniae von 782/785 handelt es sich nicht um aufgezeichnetes sächsisches Gewohnheitsrecht, sondern um Besatzungsrecht, das Karl den unterworfenen Sachsen diktierte (Capitula haec de partibus Saxoniae constituta sunt). Das grausame Strafrecht der Capitulatio wurde durch das Capitulare Saxonicum von 797, an dessen Abfassung die Sachsen beteiligt waren, deutlich abgemildert, wobei an die Stelle der Todesstrafen nun meist die fränkische Bannbuße iHv 60 Schillingen trat. Nach Theuerkauf verlor daher die Capitulatio durch das Capitulare von 797 und schließlich nochmals durch die Lex Saxonum von 802 „mindestens teilweise ihre Geltung“.70 Warum aber sollten die Sachsen ein besonders grausames Besatzungsrecht, das nicht ihren Rechtsgewohnheiten entsprach, sondern als Herrscherbefehl Karls d. Gr. in einer ganz bestimmten Situation (Eingliederung der neu eroberten Gebiete in das Reich und Durchsetzung des Christentums gegen den teilweise erbitterten Widerstand der Sachsen) erlassen worden war, und das nach der endgültigen Unterwerfung Sachsens in Teilen wieder aufgehoben und durch mildere Bestimmungen ersetzt worden war, in mündlicher Tradition bis ins 13. Jh. bewahrt haben? Würde statt dieser nur schwer nachvollziehbaren Kontinuität eine Rezeption einzelner Todesstrafen aus dem frühmittelalterlichen Recht nicht viel besser ins Bild einer Zeit passen, in der peinliche Strafen seit den hochmittelalterlichen Frieden mehr und mehr zunehmen, in der sich allmählich ein peinliches Strafrecht entwikkelt, in der Karl d. Gr. als legendärer Gesetzgeber verklärt wird und in der sich eine Zuwendung zur antiken Vorstellung von der kaiserlichen Rechtsetzungsbefugnis bereits abzeichnet? Erst recht gelten diese Überlegungen für die aus ganz anderen Rechtskreisen wie Süddeutschland oder Norditalien stammenden frühmittelalterlichen Rechte. Zwar sind die dargelegten Parallelen zum frühmittelalterlichen bayerischen, alemannischen, langobardischen und sächsischen Recht nicht so stark, dass eine Verarbeitung der Volksrechte im Sachsenspiegel zwingend erscheint. Auf der anderen Seite belegt das Beispiel der freien Verarbeitung des sächsischen Landfriedens, dass Eike es verstand, seine Vorlagen in das Gesamtwerk einzupassen, ins-
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Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium Iuris, S. 53; zum Verhältnis von Capitulatio de partibus Saxoniae und Capitulare Saxonicum, S. 39 ff.
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besondere sie umzustellen und so zu erweitern, dass der Eindruck von Systematik und Vollständigkeit entstand. Voraussetzung für die These einer freien Verarbeitung der Volksrechte wäre aber weiterhin, dass in Eikes Lebensraum zu Beginn des 13. Jh. nicht nur Handschriften mit sächsischem Recht,71 sondern auch Handschriften mit anderen frühmittelalterlichen Rechtstexten vorhanden waren. 6. Überlieferte Handschriften mit frühmittelalterlichem Recht Die Lex Saxonum ist nur in zwei Handschriften aus dem 10. Jh. überliefert,72 wobei beide Handschriften nicht voneinander abhängen und auch nicht die Grundlage der im 16. Jh. von Herold und du Tillet veröffentlichten Drucke bilden.73 Bei der älteren der beiden Handschriften handelt es sich um eine der bedeutendsten spätkarolingischen Sammelhandschriften, die um 900 im ostfränkischen Reich entstanden ist und außer der Lex Saxonum weitere fünf Volksrechte (Lex Salica, Lex Ribuaria, Lex Alamannorum, Lex Baiuvariorum, Lex Burgundionum), Kapitularien Karls d. Gr. und Ludwigs des Frommen sowie die Lex Romana Visigothorum und fragmentarisch die Lex Romana Burgundionum enhält.74 Die jüngere der beiden Handschriften stammt aus der Regierungszeit Ottos I., vermutlich aus dem Kloster Corvey (um 950), und enthält neben der Lex Saxonum auch das Capitulare Saxonicum und Teile der Lex Thuringorum sowie Kapitularien von Ludwig dem Frommen.75 Diese Handschrift wurde noch im 12. Jh. ergänzt, insbesondere wurde als Inhalt Leges Saxonum auf dem ersten Blatt vermerkt; im Text des Kapitulars finden sich ebenfalls Verbesserungen aus dieser Zeit. Weitere Verbesserungen und Glossen wurden dann nochmals im 15. Jh. hinzugefügt.76
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Dabei geht es nicht um Kontinuität, auf die etwa Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium Iuris, S. 331 abstellt, wenn er schreibt: „Abschriften der Lex Saxonum sind nur bis ins 10. Jahrhundert, in die Zeit Ottos I. nachzuweisen. Im 12. Jahrhundert schwindet endgültig der Nährboden, auf dem die Überlieferung der Lex Saxonum gedeihen konnte. Die Epoche der Lex Saxonum verstrahlt also, bevor die Epoche des Sachsenspiegels aufgeht.“ Er verkennt dabei, dass Rezeption mit einer einzigen erhaltenen Handschrift möglich ist, wofür das beste Beispiel die Wiederentdeckung einer Handschrift der Digesten im 11. Jh. in Italien ist. Zu diesen Handschriften vgl. Lück, Art. Lex Saxonum, in: Hoops RGA 18, S. 333; Claudius Frhr. v. Schwerin, Zu den Leges Saxonum, in: ZRG Germ. Abt. 33 (1912), S. 390 ff.; Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium Iuris, S. 67 ff. Dazu Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium Iuris, S. 68 f. Zu dieser Handschrift vgl. Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta, S. 226 ff. Zu dieser Handschrift vgl. Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta, S. 378 ff.; Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium Iuris, S. 69 ff. Nach Theuerkauf, S. 94 präsentiert sich diese Handschrift als eine „Mischung karolingischottonischer Kontinuität und sächsischer Eigenständigkeit“. Dazu im einzelnen Theuerkauf, Lex, Speculum, Compendium Iuris, S. 96 f.
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Das Interesse an den Volksrechten beschränkte sich – auch nördlich der Alpen77 – nicht nur auf ein Bewahren der frühmittelalterlichen Handschriften, vielmehr wurden die Handschriften im Hochmittelalter und vereinzelt noch im Spätmittelalter abgeschrieben und teilweise sogar in überarbeiteter Form neu zusammengestellt.78 So ist eine Handschrift aus dem 13. Jh. aus dem süddeutschen Raum (Aldersbach) überliefert, die neben der Lex Baiuvariorum eine Zusammenstellung derjenigen Regelungen aus der Lex Alamannorum enthält, die in der bayerischen Lex fehlen (sog. Epitome legis Alamannorum); im 15. Jahrhundert wurde diese Handschrift nochmals abgeschrieben.79 Die mühsame Gegenüberstellung zweier Rechtstexte erscheint aber nur dann sinnvoll, wenn an der Nutzung beider Rechtstexte ein Interesse bestand, weil sich durch die Gegenüberstellung die künftige Arbeit mit den Texten erleichtern ließ. Vermutlich in Mainz (oder Fulda) wurde um das Jahr 1000 noch eine Abschrift des berühmten Liber legum des Lupus v. Ferrières80 gefertigt. Lupus hatte um 836 im Auftrag des fränkischen Markgrafen Eberhard v. Friaul,81 einem Schwiegersohn Ludwigs des Frommen, das salfränkische und langobardische Recht systema-
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Südlich der Alpen bestand ohnehin eine ununterbrochene Rechtstradition vom Früh- bis zum Spätmittelalter. So blieb in Norditalien das langobardische Recht in weiterentwickelter Form (Liber Papiensis, Lombarda) über Jahrhunderte in praktischer Anwendung, wurde glossiert und kommentiert und war Grundlage des Unterrichts in der Rechtsschule von Pavia. Dazu Gerhard Dilcher, Art. Langobardisches Recht, in: HRG II, 1978, Sp. 1607, 1614 ff. Das westgotische Recht wurde zwar nicht bearbeitet, war aber noch im Hochmittelalter in Gebrauch; bis ins 12. Jh. gab es in Westeuropa keine lex scripta, die so häufig zitiert wurde, wie der Liber Iudiciorum (= Lex Visigothorum Reccesvindiana). Dazu Hermann Nehlsen, Art. Lex Visigothorum, in: HRG II, 1978, Sp. 1966, 1977. Zu den im deutschsprachigen Raum überlieferten Handschriften der Volksrechte vgl. Gerhard Köbler, Vorstufen der Rechtswissenschaft im mittelalterlichen Deutschland, in: ZRG Germ. Abt. 100 (1983), S. 75, 77 ff., 88 ff., 117. Aldersbach, 13. Jh.: München, BaySB, Clm. 2621; Passau, 15. Jh.: München, BaySB, Clm. 11029. Dazu Raymund Kottje, Die Lex Baiuvariorum – das Recht der Baiern, in: Hubert Mordek (Hrsg.), Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters, Sigmaringen 1986, S. 9, 20; Karl August Eckhardt (Hrsg.), Leges Alamannorum I, Germanenrechte NF, 1958, S. 16. Vgl. auch Köbler, in: ZRG Germ. Abt. 100 (1983), S. 89. Lupus wurde um 805 als Sohn eines bayerischen Vaters und einer westfränkischen Mutter geboren. Er trat zunächst in das Kloster Ferrières ein und war von 828-836 in Fulda, wo vermutlich der Liber Legum entstanden ist. Dazu Karl Heinrich Rexroth, Volkssprache und werdendes Volksbewußtsein im ostfränkischen Reich, in: Helmut Beumann, Werner Schröder (Hrsg.), Aspekte der Nationenbildung im Mittelalter, Sigmaringen 1978, S. 275, 282 ff. Markgraf Eberhard v. Friaul hatte Besitztümer am Niederrhein und in Alemannien, was sein Interesse an einem Sammelcodex mit fränkischem, alemannischem und langobardischem Recht erklären könnte. Zu ihm vgl. Eduard Hlawitschka, Franken, Alemannen, Bayern und Burgunder in Oberitalien (774-962), Freiburg (i.Br.) 1960, S. 56, 62.
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tisiert, weitere Leges redigiert und die Kapitularien nach Herrschern geordnet.82 Die heute noch erhaltene Abschrift enthält fast alle wichtigen frühmittelalterlichen Rechtstexte (Kapitularien, Lex Salica und Leges Langobardorum in systematischer Fassung, Lex Ribuaria, Lex Alamannorum und Lex Baiuvariorum in der Redaktion des Lupus sowie römisches Recht in Gestalt der Lex Romana Visigothorum).83 Nach Hubert Mordek liegt hier „fraglos eine der bedeutendsten Rechtskompilationen des Frühmittelalters vor ..., deren Urheber in einer sich wandelnden Zeit noch einmal das alte weltliche Recht zu einem eindrucksvollen Ganzen zusammenfassen wollte“.84 Da die Leges ganz überwiegend in Sammelhandschriften überliefert wurden,85 dürften Eike, wenn er ein Volksrecht als Vorlage hatte, mit sehr großer Wahrscheinlichkeit weitere frühmittelalterliche Rechtstexte zur Verfügung gestanden haben. Mit der These der Benutzung einer (oder mehrerer) Sammelhandschrift(en) ließe sich auch erklären, warum zahlreiche Stellen im Sachsenspiegel vertraut erscheinen und sich Bezüge zu den Volksrechten und Kapitularien, aber auch zum römischen und kanonischen Recht finden. Denn etliche im deutschsprachigen Raum – auch noch nach der Jahrtausendwende – gefertigten Sammelhandschriften enthalten neben Volksrechten und Kapitularien auch kirchliche Rechtstexte, römisches Recht und Exzerpte aus der von Isidor von Sevilla (ca. 560-636) im frühen 7. Jh. verfassten Enzyklopädie Origines seu Etymologiae.86 Zu Recht begreift da82
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Dieser Sammelcodex ist zwar nicht mehr erhalten, wohl aber zwei Abschriften (außer der genannten Handschrift aus Mainz noch eine aus Oberitalien stammende Handschrift). Dazu Harald Siems, Textbearbeitung und Umgang mit Rechtstexten im Frühmittelalter, in: ders./Karin Nehlsen-v.Stryk/Dieter Strauch (Hrsg.), Recht im frühmittelalterlichen Gallien, Köln u.a. 1995, S. 28, 51 ff.; Walter Pohl, Werkstätte der Erinnerung, Montecassino und die Gestaltung der langobardischen Vergangenheit, Wien u.a. 2001, S. 122 ff.; Hubert Mordek, Kapitularien und Schriftlichkeit, in: Rudolf Schieffer (Hrsg.), Schriftkultur und Reichsverwaltung unter den Karolingern, Opladen 1996, S. 34, 47 ff., 55 f.; Christoph H. F. Meyer, Auf der Suche nach dem lombardischen Strafrecht, in: Hans Schlosser/Dietmar Willoweit (Hrsg.), Neue Wege strafrechtsgeschichtlicher Forschung, Köln u.a. 1999, S. 341, 375 ff. Dazu Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta, S. 131-149. Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta, S. 131. Dazu auch Köbler, in: ZRG Germ. Abt. 100 (1983), 92. Etwa Süddeutschland, 12. Jh. (München, BaySB, Lat. 5260 und 3519): LBai., Synoden von Dingolfing (um 770) und Neuching (um 771), Kapitularien, EdRoth. 180, 179, 178; Süddeutschland, 11. Jh. (München, BaySB, Lat. 4460): Prolog LBai., LAlam., Kapitularien, Exzerpt der Epitome Aegidii; Süddeutschland, 11. Jh. (Stuttgart, Württ.LB, iur. 4o 134): LAlam., Kapitularien, Isidor Etym. V 15, Exzerpt Epitome Aegidii, Justinian Nov. 5, Epitome Iuliani (c. 488-490, 492-493). Einzelnen Sammelhandschriften wurden noch im Spätmittelalter Teile hinzugefügt (etwa München, BaySB. Lat. 4460). Dazu insgesamt Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta, S. 284 ff., 308 ff., 314 ff., 724 ff. Zur Verbreitung der Epitome Aegidii (einer verkürzenden Bearbeitung der Lex Romana Visigothorum) vgl. Detlef Liebs, Römische Jurisprudenz in Gallien (2. bis 8. Jh.), Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen, NF Bd. 38, Berlin 2002, S. 111, 221 ff. Zur Verbreitung von Sammelhandschriften mit mehreren
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her Mordek diese, im 11. und 12. Jh. hergestellten Sammelhandschriften als Zeugnis für „die Attraktivität des alten Rechts noch im Hochmittelalter“.87 Dies bedeutet allerdings nicht, dass die Volksrechte allgemein bekannt waren und als geltendes Recht angewandt wurden. Vielmehr gab es eine kleine Schicht von Fachleuten – Rechtskundige, zu denen auch Männer wie Eike gezählt haben könnten –, die sich bis zur Zeit der Rechtsbücher für die Volksrechte interessierten, die Handschriften abschrieben, auf diese Weise die darin enthaltenen Rechtstexte verbreiteten und vereinzelt sogar die frühmittelalterlichen Rechtstexte bearbeiteten und neu zusammenstellten. 7. Zusammenfassung Für die Verarbeitung frühmittelalterlicher Rechtstexte im Sachsenspiegel sprechen somit folgende Gesichtspunkte: 1. Es bestehen zu mehreren frühmittelalterlichen Rechtstexten deutliche Parallelen; 2. Die Rezeption frühmittelalterlichen Rechts ist – wie das Beispiel des Schwabenspiegels zeigt – bereits für das 13. Jh. belegt; 3. Das Fehlen wörtlicher Übernahmen im Sachsenspiegel spricht nicht zwingend gegen eine Übernahme, denn Eike verarbeitete auch andere Vorlagen – wie den Sächsischen Landfrieden – sehr frei; 4. Sammelhandschriften mit frühmittelalterlichem Recht waren im 13. Jh. nicht nur in zahlreichen Klöstern vorhanden, vielmehr waren sie auch in Gebrauch, wobei die Gründe für die Beschäftigung mit frühmittelalterlichen Rechtstexten im Spätmittelalter noch zu klären wären.
C. Folgerungen aus den Rezeptionsvorgängen I. Im Hinblick auf den Charakter der Arbeiten Die meisten Rechtsbücher weisen die Quellen, aus denen ihre Verfasser schöpften, aus (so etwa Schwabenspiegel, Meißener Rechtsbuch, Eisenacher Rechtsbuch, Rechtsbuch des Johannes Purgoldt). Dabei lässt sich durchaus eine Entwicklung beobachten. Während der Sachsenspiegel im Prolog Konstantin und Karl d. Gr. lediglich erwähnt und im Text ganz vereinzelt (etwa Ssp. Ldr. I 18) auf Karl verweist, beschreibt Swsp. Ldr. 1b schon ausführlicher seine Quellen und gibt in einigen Artikeln die Vorlagen genau an. Im Meißener Rechtsbuch und im Eisenacher Rechtsbuch aus der 2. Hälfte des 14. Jh. finden sich bereits vermehrt diese
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Volksrechten, Kapitularien und römischem Recht im deutschsprachigen Raum vgl. auch Köbler, in: ZRG Germ. Abt. 100 (1983), S. 87 ff. Köbler, S. 91 weist u.a. darauf hin, dass in Mainz und Fulda neben fränkischem Recht auch die Lex Alamannorum, die Lex Baiuvariorum und die Leges Langobardorum vorhanden waren und dass im sächsischen Corvey nicht nur sächsisches Recht, sondern auch fränkisches, alemannisches und thüringisches Recht aufbewahrt wurde. Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta, S. 309.
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Angaben am Ende einzelner Bestimmungen oder Abschnitte.88 Schließlich wird im Rechtsbuch des Johannes Purgoldt (um 1500) am Anfang oder Ende fast jeder Regelung die Herkunft der entsprechenden Stelle angegeben.89 Dadurch erscheinen die Rechtsbücher schon der äußeren Form nach nicht als Gesetze, sondern als „Recht“ vermittelnde und erläuternde Lehrbücher,90 die ihren Rechtsstoff aus verschiedenen Quellen beziehen, diese teilweise als gut oder schlecht bewerten91 oder aber nur die unterschiedlichen Regelungsinhalte der herangezogenen Rechtsquellen kommentarlos gegenüberstellen.92 Als Beispiel für eine solche Gegenüberstellung mehrerer Rechte sei hier eine Stelle über das Erbrecht der nichtehelichen Kinder aus dem Meißener Rechtsbuch I 47, 7 genannt: Nempt eyner eyn wip, adder eyn wip eynen man zcu der ee, dy vor uneeliche kinder haben, unde gewonnen sy sint der zcith mit enander keyne kinder, sterbet or eyn, daz lebenige erste kinth mag an des toten erbegute nicht gehaben wenne sine lipczucht; noch keyserrecht. Had abir dy frouwe sint ekinder mit om gehabt, so en haben dy kinder, dy unelich sinth geborn vormals, an deme erbegute nicht wen den sesten teyl eyns kindes 88 89
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Dazu Krause, Kaiserrecht und Rezeption, S. 110 f. mit zahlreichen Nachweisen. Etwa Rechtsbuch Johannes Purgoldts I 29 Dit stehet geschribin Institut. III libro, titulo VI.; I 32 Dit ist lantrecht, witpildisrecht unnd der statrecht; I 33 Dit ist der stadt recht unnd gut gemeyn recht; I 60 Diss ist das beschriebene recht unndt steht Institut. libro IV. titulo primo, unnd ist witpildesrecht, landtrecht, und dorzeu der stadt recht, unndt eyn guth gemeyne recht; I 86 Dith ist geistlich und ouch wertlich recht; I 90 Dith ist das geistliche recht und steth ex. de conversione ad fidem; I 95 In decret. d. XXVII. q. V. usw. Etwa Eisenacher Rechtsbuch I 1: Sundirlichin sullit ir merkin und wissin eyn icliche gebord in erin rechten. Im zweiten Kapitel heißt es weiter: Vord sult ir merkin, daz ... . Besonders deutlich aber der Beginn von I 5: 1. Zcu grossir undirwisunge der vorgeschrebin geborte, wi di mogin gevolgin zcu erbegange, wan di aldin lantrechtisbuchir und di aldin wigbildisbuchir und di gemeynen rechtbuchir alle zcu korcz habin daz recht uzgetragin eynfeldigin luthin und darumme ist nod den eynfeldigin, daz man en in dem rechtin stamme erbegang baz bewise, alz ir hi vornemit. In den folgenden Absätzen heißt es dann mehrfach: Wisse, daz ..., Merke daz ..., Wysse ouch, daz ..., Ouch saltu merkin, ... . Vgl. weiter Rechtsbuch des Johannes Purgoldt I 19: Dryerley sippeschafft vindet man in den rechtbuchern ...; I 27 am Ende: ... Diesse usslegunge vonn der sippezcal wiesset also uss das lantrecht undt witpildesrecht ....; I 96 am Ende: .... Dit leredt der meister Raymundus. Etwa Rechtsbuch des Johannes Purgoldt IV 24 am Ende: Dit ist der stat recht unnd gut recht. Vgl. weiter die berühmte Stelle über die Entstehung der Unfreiheit in Ssp. Ldr. III 42; dazu und zu Eikes Kritik am geltenden Recht auch Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 439 f. Etwa Eisenacher Rechtsbuch I 86: Eyn iczlich inkommen man mag wol in witpilde erbe und eygin enphayn, der nicht rechtelocz ist, und ist recht noch stadrechte also, daz er rechtir phlege dovone thu. Daz abir in lantrechte noch in keisirsrechte nicht; da enphet eyn iczlich man erbe und eygin noch siner gebort und behelt doch sin recht; I 88 1. Nu is nod, daz wir kuntlichin uzscheidin, waz erbe ist und zcu erbe gehort in lantrechte und zcu witpilde. Czu erbe gehort ... . Dit ist noch lantrechte. 2. Abir noch unsir stadrechte gehorin zcu erbe alle unbewegeliche guthe, also ... .
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Eva Schumann noch bebestlicheme rechte, also hyvor gerurt ist. Abir in allem wicpilde und lantrechte volget den unelichen kinden nicht, noch da man gibt dritteil.
In der zweiten Alternative werden dem Nutzer des Meißener Rechtsbuchs drei unterschiedliche Regelungen über das Erbrecht nichtehelicher Kinder geboten: päpstliches Recht (das auf den Novellen Justinians beruht)93 mit einer Erbberechtigung in Höhe eines Sechstels, der Ausschluss vom Erbe nach Weichbild- und Landrecht sowie ein Erbrecht in Höhe eines Drittels, das der Verfasser des Meißener Rechtsbuchs aber ablehnt (noch da man gibt dritteil).94 Im Übrigen bleibt aber völlig offen, welche der Regelungen zur praktischen Anwendung im Einzelfall gelangen soll.95 Deutlich zeigt sich der Lehrbuchcharakter auch im Eisenacher Rechtsbuch I 34. Hier setzt sich der Verfasser Johannes Rothe mit der offenbar schon damals schwer verständlichen Stelle Ssp. Ldr. II 30 über die Vergabung von Todes wegen auseinander. Rothe gibt zunächst eine historische Einführung, dann folgt eine Auseinandersetzung mit den scheinbar widersprüchlichen Rechtssätzen und schließlich bietet er eine Interpretation, mit der sich die Widersprüche auflösen lassen.96 Das Ganze ist im Stil eines Lehrbuchs oder Kommentars verfasst; inte93
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Nov. XVIII 5. Hierbei handelt es sich um eine frühe Rezeption römischen Rechts im sächsischen Rechtskreis. Das Erbrecht in Höhe eines Drittels war im süddeutschen Raum verbreitet; so noch Freiburger Stadtrecht von 1520 (III 8, 2: so volgt denselben ledigen kinden der dritteil von sinem gut und die zwenteil fallen an die andern sipfründ des abgestorbnen). Eine Beteiligung der natürlichen Söhne in Höhe eines Drittels am Erbe des Vaters sah auch schon EdRoth. 154 vor. Diese Bestimmung des Meißener Rechtsbuchs übernahm um 1500 das Rechtsbuch des Johannes Purgoldt I 107, während das Eisenacher Rechtsbuch I 1, 6 (um 1387) die Kinder von naturlich unelich gebord noch vom Erbe ausschloss, jedoch die Zuwendung von Fahrnis gestattete (di kindir di enhabin keynen teil an eris vatir guthin an den erbe, adir varinde habe mogen en di eldirn zcufugen von gnaden) und in I 24, 2 die römischrechtliche Zuwendung in Höhe eines Sechstels als päpstliches, kaiserliches und Weichbildrecht auswies (alz sal iclichir ouch den naturlichin kindirn ... reichin daz sechste teil von bebistlichin, keiserlichin und witpildis rechte). Auch hier sind die unterschiedlichen Regelungen kommentarlos nebeneinander gestellt. Eisenacher Rechtsbuch I 34: In dessim stucke werdit sere gerurt keisirrecht, daz do heissit „De adopcionibus“, do also geschrebin sted, daz eyn iclichir mochte wilkorin und kisin eme selbin zcu sone adir zcu tochtir, wen her wolde; und di warin in siner gewalt, und beerbete si mit sime guthe. Dit waz zcu gnadin gethan den, di keyne kindir hatten, und ouch den, di er kindir yn striten verlorn hatten. Sint wart dit also gemeyne, daz eyn iclichir zcu erbin kocz und saczte zcu sime erbe, wen her wolde. Dit begonde sich wandiln in eyn obil, wan etzliche luthe vorgaben also al er gud, und lissin ere erbin umme brod gehin, davon quam grocz zcweitracht, haz und mord. Dit quam do vor den keiser, der richte dit recht du baz uz und satzte, dass man di kindir bi phlicht lassin solde; daz waz den derten teil eris vatirs gud. Und daz vindit man noch an mangin steten, do ez also beschrebin sted. Und daz ist nu abir alliz abegelegit. Uf dit recht ginge vel rechtis und vel vewornes, wan daz buch allez umme. Desse vewornheid habin di
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ressant ist aber vor allem, dass Rothe rund 150 Jahre nach Aufzeichnung des Sachsenspiegels schreibt, die Sachsen hätten mit Ssp. Ldr. II 30 das verworrene Kaiserrecht abgeschafft, und als Argument für die Gültigkeit der Vergabung von Todes wegen anführt: Ja, wan daz lantrecht sagit ez. Nach Rothes Darstellung enthält Ssp. Ldr. II 30 somit kein seit Generationen mündlich tradiertes Gewohnheitsrecht, sondern neu geschaffenes Recht, dessen Geltungsgrund darin besteht, dass es geschrieben ist.97 Der Verfasser des Schwabenspiegels weist sein Werk sogar ausdrücklich als Buch aus, das denjenigen, die im Gericht auftreten, „Recht“ lehren will: vnd dar vmbe wil man an disem bvche leren . alle die gerihtes phlegen svln . wie si zerehte svln rihten ... vnd swer och anders rihtet . wan alz dis buch leret . der sol wizzen daz got wil zornlichen vber in rihten andem ivngsten tage (Swsp. Vorwort c). Danach ist Recht nicht das überkommene Gewohnheitsrecht, sondern das, was alz dies buch leret, und zwar auch dann, wenn es sich um rezipierte Regelungen aus der Zeit Karls d. Gr., aus dem römischen oder kanonischen Recht handelt (so Swsp. Ldr. 1b); die Aufzeichnung des geltenden Rechts, insb. des schwäbischen Gewohnheitsrechts, war hingegen nicht das Anliegen des Verfassers. Für den Frankenspiegel gelangt Munzel zu einer ähnlichen Einschätzung: „Bei der Abfassung des Rechtsbuches lag dem Autor weniger an der Aufzeichnung von Gesetzen als vielmehr daran, eine Art Lehrbuch zu verfassen.“ 98 Doch lässt sich dieser Befund auch für den Sachsenspiegel feststellen? Immerhin behauptet Eike von Repgow in der Vorrede, das von den Vorfahren überlieferte Recht aufzuzeichnen.99 Nach Kroeschell ist die Berufung auf die mores maiorum auch eine Rezeption oder – wie er schreibt – „ein Echo der antiken und kirchlichen Vorstellung von der longa et rationabilis consuetudo“.100 Im Übrigen
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sachsin abegelegit und haldin es alsus, daz er erbe von gelobede adir von kore nymant genemen mag, wan noch der sippe; ouch segit ez, ez sulle sin vor gerichte gestetigit. Hir mochte eyner fragin, wi daz geschen sulle. Ab man daz gezeugin mochte, daz dicz gelobede vor gerichte geschen were, daz eyner sin erbe genemen mochte, mochte her ez danne genemen? Ja, wan daz lantrecht sagit ez. Hir wedir ist doch daz recht, daz do spricht: waz eyn man dem andirn gebin wel, daz sal her bynnen jare und tage vordirn, adir di gabe enthilffit nicht. Dit sal man wol undirscheide, so vindit man, daz ez nicht enzcweitreid, und daz vornemen also: varinde habe mag eyner vorgebe, diwile her gesunt ist; erbe sal man rumen bynnen jare und tage; eygin sal man mit erbin gelobidin lassin. Desse drierley gabe meynit dit buch, do geschrebin stet, daz ez vor gerichte sulle gestetigit si; daz ist also vel gesprochin, dass desse gabe vor gerichte geschen si, alz si von rechte geschen sal. Dazu auch Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 455 f. Munzel, Die Innsbrucker Handschrift des Kleinen Kaiserrechtes, S. 37. Ssp. Vorrede, Vers 151-153: Diz recht en habe ich selbir nicht erdacht,/ez haben von aldere an uns gebracht/ Unse guten vorevaren. Zur Vorrede insgesamt Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow, S. 63 ff. mwN. Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 439. Zur consuetudo vgl. auch ders., S. 303 ff. Vgl. weiter Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow, S. 125 ff. Allerdings ließe sich auch an eine Rezeption aus
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steht in der Vorrede und im Schlusswort (Ssp. Lnr. 78 §§ 2, 3) ein anderer Gedanke im Vordergrund, nämlich die Auseinandersetzung mit anderen Rechtslehren und die Anpreisung der eigenen Lehre. In diesem Zusammenhang dient die Berufung auf die Überlieferung der Vorfahren dazu, der Rechtslehre Eikes Autorität zu verschaffen, ihr insbesondere gegenüber anderen Lehren ein größeres Gewicht zu geben.101 Immer wieder nennt Eike in der Vorrede als Zweck seines Werkes die Unterweisung anderer im Recht; kaum ein anderer Begriff wird so häufig gebraucht wie lere, oft sogar mine lere.102 Neben seiner Lehre lässt er nur das eigene Rechtsbewusstsein des Lesers und den Rat weiser Leute gelten. Ausdrücklich rät er den Nutzern seines Buches, bei Missfallen seiner Lehre andere weise Leute zu befragen, wenn sich von diesen dat rechtere irvaren lasse.103 Er betont in diesem Zusammenhang, dass er nur seine eigene Rechtskenntnis und sein eigenes Rechtsverständnis vermitteln könne, und daher – nicht nur bei Lücken104– die Heranziehung anderer Lehren zu empfehlen sei.105 Auch rechnet Eike mit Opposition und damit,
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dem Prolog der Lex Baiuvariorum (der wiederum auf Isidor v. Sevilla zurückgeht) sowie an eine unmittelbare Rezeption aus der Enzyklopädie Origenes seu Etymologiae (Abschnitt V De legibus et temporibus) des hispano-romanischen Bischofs Isidor v. Sevilla (ca. 560-636) denken. Auch Gratian hat 1140 aus dem Werk Isidors geschöpft. An möglichen Vorlagen dürfte es demnach zu Beginn des 13. Jh. nicht gefehlt haben. Vgl. auch Wolter, Die „consuetudo“ im kanonischen Recht, S. 100 ff.; Ignor, S. 225 f. Dies bestätigt eine weitere Stelle, in der das überlieferte Recht als rechte rede dem ausgedachten und neu geschaffenen Recht anderer Rechtslehrer gegenübergestellt wird, vor deren Rat Eike nachdrücklich warnt (Ssp. Vorrede, Vers 36-44: diz recht han von alder zit/Unse vorderen her gebracht,/des her nicht kan gedenken./Wenne selbin hat herz im erdacht/unde wil uch mete schenken/Nu merke man den man dabi,/der nuwe recht ufbrengen wil./Wie recht daz her selbin si,/so en kann her nicht schaden vil.) Vgl. weiter die Warnung vor denen, die das Falsche lehren und dadurch das Übel vermehren: En klene werret me dar an,/des ek gebeteren nene kan:/Of ist en errere leret,/ovel dar van gemeret/Unde grote sunde (Ssp. Vorrede, Vers 103-107, hier zitiert nach der Sachsenspiegelausgabe von Clausdieter Schott, 3. Aufl., Berlin 1996). Dazu auch Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow, S. 78, 90 ff.; Rolf Lieberwirth, Eike von Repchow und der Sachsenspiegel, SBAk Leipzig, Phil.-hist. Kl. 122/4, Berlin 1982, S. 28. Etwa Ssp. Vorrede, Vers 31, 62, 91, 133 jeweils mine lere. Vgl. weiter Vers 5-8. Ssp. Vorrede, Vers 206 (hier zitiert nach der Sachsenspiegelausgabe von Clausdieter Schott). Dazu auch Frensdorff, Beiträge zur Geschichte und Erklärung der dt. Rechtsbücher, S. 135 ff.; Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow, S. 178. Ssp. Vorrede, Vers 141-147. Ssp. Vorrede, Vers 195-211: Wer an disem buche/rede adir vrage suche,/Ab im dar an icht missehage,/Des en tu her zuhant keine klage/Unde wege de sache an sime sinne/nach dem ende unde nach dem beginne/Unde ervrage sich mit wisen luten,/die im de warheit kunnen beduten/Unde die ouch haben den sete,/daz se recht sin da mete./Ab her ane in dan/daz recht ervaren kan,/Ich rate im, daz her albalde/sich dar an gehalde,/Wen vil (wizer) lute leren, die ez an gut keren,/Ez bezzer den min eines si ... . Dabei
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dass nicht alle seine Lehre annehmen werden. Sein Buch werde wohl nie den Benutzer finden, dem der gesamte Inhalt behage.106 Dass seine Lehre einigen missfällt und Widerspruch herausfordern könnte, sieht er allerdings eher sportlich: Wem min lere missevilt,/der spreche ouch an mich, waz her kan./Mancher wenet ein meister sin/binnen sinem krenge,/der kume were ein meisterlin,/life her mit mir de lenge.107 Darüber hinaus zieht er die Möglichkeit in Betracht, die eigene Lehre zu ändern, wenngleich er im Ergebnis davon absieht.108 Mit der Vorstellung, dass Eike nur sächsisches Gewohnheitsrecht, so wie er es täglich vor Gericht erfahren hat, aufgezeichnet hat, lassen sich diese Aussagen kaum vereinbaren. Denn wenn das im Sachsenspiegel enthaltene Recht mündlich tradiertes Gewohnheitsrecht, täglich praktiziert und den Menschen gegenwärtig gewesen wäre, warum hätte Eike es dann für nötig befunden, auf verschiedene Lehren (bessere und schlechtere) hinzuweisen, seine gegenüber den anderen anzupreisen (Einklang mit Gottes Wille, kaiserliche Autorität, Auftrag des Grafen Hoyer von Falkenstein, tradiertes Recht der Vorfahren, jahrelange Erprobung, zahlreiche Anhänger), und warum hätte er mit Opposition rechnen müssen?109 All das deutet vielmehr auf eine große Rechtsunsicherheit hin,110 die dem Bild vom guten alten, mündlich tradierten, in täglicher Übung stehenden und allgemein bekannten Recht des Mittelalters widerspricht.111
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stellt er seine Lehre nicht über die anderer weiser Leute, sondern sieht sein Verdienst darin, dass er als erster de lute gemeine/groz unde kleine/Rechtes brechte in kunde,/nach deme her sich verstunde (Vers 215-218). Ssp. Vorrede, Vers 67-68: Min buch ne horte ni der man/deme ez al behaite wol. Ssp. Vorrede, Vers 91-96. Dass Eike von seiner Arbeit überzeugt war, zeigt sich auch an anderen Stellen der Vorrede, so etwa Vers 97-99: Got hat di sachsen wol bedacht,/sint diz buch ist vore bracht/Den luten al gemeine. Vgl. auch Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eikes von Repgow, S. 182. Ssp. Vorrede, Vers 57-64: Ja zweient mit mir manche stunt,/die sich versinnen aller best,/So ist mir doch de warheit kunt/unde wirt min volge groz zu lest./Solde ich nach manches mannes ger/verwandelen mine lere,/so hette ich lute vil biz her/betrogen alzu sere. Auch Trusen, in: ZRG Germ. Abt. 102 (1985), S. 35 findet „es erstaunlich, daß die eigenen Rechte weitaus mit dem Nimbus kaiserlicher Autorität legalisiert werden.“ Er erklärt dies damit, dass „hier doch der Einfluss der neuen Rechtswissenschaft zu spüren (sei), auch wenn man sie sonst noch wenig akzeptiert“. Vgl. weiter Frensdorff, Beiträge zur Geschichte und Erklärung der dt. Rechtsbücher, S. 144: „Die Vorreden sind captationes benevolentiae im besten Sinne. Eike legt seine Arbeit seinen Landsleuten zur Annahme vor, sucht sie für sie zu gewinnen. Er setzt ihnen die Eigenschaften seines Buches auseinander, zeigt die Gerechtigkeit seines Inhalts und seine Herkunft aus ihrem alten überlieferten Rechte ...“. So auch Frensdorff, Beiträge zur Geschichte und Erklärung der dt. Rechtsbücher, S. 132: „Die Zeit litt unter einem großen Mangel an gesichertem Recht.“ Ähnlich Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 298: „Eine herkömmliche germanisch-deutsche Vorstellung vom unveränderlichen, guten alten Recht ist nicht zu erkennen.“
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Die Leistung Eikes liegt möglicherweise nicht im Schritt von der Mündlichkeit zur Schriftlichkeit, sondern in der Schaffung eines großartigen Werkes, das Rechtsgewohnheiten mit rezipiertem Rechtsgut zusammenführte und als einheitliche Lehre auswies. Die aufgezeichneten sächsischen Rechtsgewohnheiten müssen wir dann als Bestandteil eines umfassenderen Werks begreifen, das auch frühmittelalterliches, römisches und kanonisches Recht enthält, soweit dieses mit den Rechtsvorstellungen der Zeit übereinstimmte und von Eike für gut und recht befunden wurde. Auf diese Weise schuf Eike mit dem Sachsenspiegel weniger ein Abbild der Rechtswirklichkeit, als vielmehr ein Vorbild für diese. Rechtsbücher stellen somit nicht nur eine „umfassende Aufzeichnung des geltenden Rechts durch eine Privatperson“ dar.112 Bei ihnen handelt es sich auch nicht nur „um ein Gewebe von Gewohnheiten, hergebrachten Rechten, Privilegien und Gerichtsgebräuchen, das sich zu einer neuen Art von objektivem Recht verdichtet“.113 Denn sie ordnen nicht nur das bereits vorhandene mündlich oder vereinzelt auch schon schriftlich überlieferte Recht eines Stammes, einer Region, eines Landes oder einer Stadt, vielmehr müssen wir sie als Rechtssammlungen definieren, die aus ganz unterschiedlichen Quellen schöpfen und eine Mischung aus aufgezeichnetem Gewohnheitsrecht, verarbeiteten zeitgenössischen Rechtsquellen und rezipiertem Rechtsgut darstellen. II. Im Hinblick auf die Geltungskraft der Privatarbeiten Die Verarbeitung von Rechtstexten kann in zweifacher Weise neues Recht hervorbringen oder zumindest das geltende Recht verändern: Erstens stellt die wörtliche Übernahme einer „fremden“ Rechtsregel, d.h. einer aus einer anderen Region oder einer anderen Zeit stammenden Regelung, dort wo sie Aufnahme findet, neues Recht dar.114 Zweitens können durch die Kombination mehrerer Rechtstexte, aber auch durch das Ausscheiden bestimmter Textstellen oder durch ein Umstellen der Texte neue Regelungsinhalte entstehen. Als Beispiel sei hier auf die Trennung zwischen begrenzter Friedenssatzung und dauerhaftem Strafrecht in Ssp. Ldr. II 112
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Gerhard Köbler, „Rechtsbuch“, Lexikon der europäischen Rechtsgeschichte, München 1997, S. 472. Einschränkend Adolf Laufs, Rechtsentwicklungen in Deutschland, 5. Aufl., Berlin u. a. 1996, S. 6 f., wonach Eike den Sachsenspiegel mit dem Ziel verfasste, „das überlieferte Recht seines Stammes und darüber hinaus das Recht schlechthin als Bestandteil der christlichen Wertordnung schriftlich niederzulegen und festzuhalten“. Vgl. aber auch Lieberwirth, Eike von Repchow und der Sachsenspiegel, S. 35. Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 301. Zu diesem Ergebnis kommt auch Derschka, in: ZRG Germ. Abt. 120 (2003), S. 101 ff. in einer Untersuchung über das Münzrecht des Schwabenspiegels. Derschka, S. 101 weist darauf hin, dass der Schwabenspiegel zu zahlreichen Rechtsquellen der Zeit und Region im Widerspruch steht, indem er u. a. auch Kapitularien aus dem 9. Jh. rezipiert. Am Ende (S. 125) heißt es: „Es ist nicht zu verkennen, dass der Autor des Schwabenspiegels hier den Boden der positiven Rechtsordnung verlässt, ohne dies im Rekurs auf die von ihm genannten Rechtsquellen zu begründen. Damit schafft der Schwabenspiegler, seinen Bekundungen zum Trotz, selbst Recht.“
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13 und II 66 verwiesen, die die Entwicklung eines von den Frieden losgelösten Strafrechts begünstigt haben dürfte. In welchem Verhältnis stand aber dieses so gewonnene Schriftrecht zur Rechtswirklichkeit und wie erlangte es Geltungskraft? Warum wurden die Rechtsbücher trotz ihres Lehrbuchcharakters schon bald wie Gesetze angewandt und warum konnten rechtsgelehrte oder rechtskundige Privatpersonen die Funktionen von Gesetzgebern einnehmen? Zunächst lassen sich zwei Entwicklungen beobachten, die zu tiefgreifenden Veränderungen der Rechtskultur im Spätmittelalter führen: Zum einen das zunehmende Bedürfnis nach gesichertem und jederzeit verfügbarem Recht, d.h. nach geschriebenem Recht für die Praxis, zum anderen das Interesse an geschriebenen Rechtstexten im Zuge der Verwissenschaftlichung von Recht, wobei beide Vorgänge in Wechselwirkung zueinander stehen. Es ist kein Zufall, dass die Rechtsbücher schon bald wie Gesetze angewandt wurden, vielmehr wurden sie hergestellt, um das Bedürfnis nach einem gesicherten Bestand von Recht zum Zwecke der Rechtsanwendung zu stillen. So wird in Swsp. Ldr. 44 ausdrücklich aus Gründen der Rechtssicherheit die schriftliche Fixierung von Recht gefordert (vnd wern div reht alliv gesriben daz wer dar vmbe gvt . daz man ir deste minder vergeze). Gleichzeitig wird dem Umstand, dass an der Abfassung des Schriftrechts „weise Leute“ beteiligt waren, besondere Bedeutung zugemessen und der Rat bzw. die Billigung weiser Leute auf eine Stufe mit dem Willen des Königs oder des Fürsten gesetzt: Daz heizet bvrger reht . swa ein iegelich stat ir selber setzet zerehte mit ir kvniges . oder mit ir fvrsten willen . vnd nach wiser livte rate ... Swer div reht in den steten machen wil . der sol si wisen livten fvr legen . vnd gevallet si den so svln si stete sin. Noch in anderen Artikeln des Schwabenspiegels wird die Rechtsetzungsmacht des Herrschers nicht nur von der Zustimmung der Fürsten, sondern auch vom Rat der „weisen Leute“ bzw. „Meister“ abhängig gemacht. So ergänzt etwa Swsp. Ldr. 248 die aus der bereits besprochenen Sachsenspiegelstelle über die Frieden übernommenen Einleitungsworte folgendermaßen: Nv vernement den andren vride den der keiserliche gewalt gesetzet vnde gestetet hat mit williger kvr . in allen den landen . der fvrsten vnd der meister . vnd ander wise lvte. Danach folgt mit geringfügigen Abweichungen der Text aus Ssp. Ldr. II 66 § 1.115 Auch an verschiedenen anderen Stellen verweist der Schwabenspiegel auf den Rat „weiser Leute“ oder „Meister“ im Recht; beide werden sowohl mit der konkreten Rechtsanwendung in der Praxis als auch mit der Abfassung von Rechten in Zusammenhang gebracht. So handelt der gesamte Swsp. Ldr. 88 von Ratgebern, ihrer Entlohnung und ihrer Haftung bei falscher Rechtsauskunft,116 und an mehre-
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Vgl. weiter Swsp. Ldr. 245 (wa von die frouwen vormunt müzzen han): … Do nam der kvnig die gewonheit abe . mit der fvrsten rate . ze einem hove . vnd mit wiser meister lere … . Swsp. Ldr. 88: Nv svln wir sprechen von den rat geben . vnd ist ein man also wise . daz er den lvten guten rat geben kan ... . Nach Swsp. Ldr. 98b soll die Höhe der Buße für eine Wunde nach dem Rat weiser Leute erfolgen (… Vnde ist daz ein man . einem man
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ren Stellen werden „Meister“ erwähnt, die Landrechte gemacht haben, insb. im Zusammenhang mit rezipiertem römischen Recht.117 Aber auch die Verfasser des Schwabenspiegels bezeichnen sich selbst in Swsp. Ldr. 73a als „Meister“ (Die meister sprechent also die ditz lantreht bvch gemachet habent . dvrch der kvnege liebe . vnd den livten zenvtze). Schließlich werden in Swsp. Ldr. 3a den vngelerte livte die rehten maistern gegenübergestellt. Wie bereits erwähnt führen auch der Deutschen- und der Frankenspiegel ihr Recht auf die Lehre weiser meister zurück und könnten damit – ebenso wie der Schwabenspiegel – studierte Juristen meinen. Die Verarbeitung römischen und kanonischen Rechts im Schwabenspiegel spricht zumindest dafür, dass die Meister, die ditz lantreht bvch gemachet habent, sich auch in diesen Rechten hervorragend auskannten. Darüber hinaus zeugt es von nicht unerheblichem Selbstbewusstsein, die mit der Zusammenstellung der Texte verbundenen Mühen auf sich zu nehmen; offenbar hatten die Verfasser der Rechtsbücher an der Verbindlichkeit ihrer Rechtssammlungen keine Zweifel.118 Auch Eike, der in der Vorrede die Lehren und den Rat weiser Leute erwähnt, sieht sich im Vergleich zu anderen als Meister an (Mancher wenet ein meister sin/binnen sinem krenge,/der kume were ein meisterlin,/life her mit mir de lenge).119 Auch wenn Eike kein studierter Jurist war, so nahm er doch für sich in Anspruch, andere im Recht unterweisen zu können und unter den „Rechtslehrern“ ein Meister zu sein, wozu praktische Rechtskenntnisse, wie sie durch langjährige Tätigkeit am Gericht erworben werden können, kaum ausreichend erscheinen. Nach der sächsischen Weltchronik (2. Hälfte des 13. Jh.) musste ein „Meister der Rechte“ wenigstens über Kenntnisse im Schriftrecht verfügen, denn dort wird über
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eine wunden büzzen sol . div ist alse hie vor gesprochen ist die sol man büzzen nach wiser livte rate. …). Etwa Swsp. Ldr. 6 (von burcschaft): … wan daz ein maister sprichet der heizet adrianus . der hat der lantrehte vil gemachet . der selbe sprichet also … (diese Stelle bezieht sich auf eine epistula divi Hadriani aus Inst. III, 20, 4); Swsp. Ldr. 68a, b (wie ein eigen wip vri wirt): … des vragen wir einen meister von lantrehte der heizet Marzellus . der half den kvngen vil gvter lantrehte machen . der sprichet also ... (dies bezieht sich auf Dig. I, 5, 5). Weiterhin könnte sich Swsp. Ldr. 73a auf Inst. I, 8, 2 beziehen. Vgl. auch Swsp. Ldr. 148 (Erbe der Töchter) und Swsp. Ldr. 170c (Eid) im Zusammenhang mit der Auslegung des Alten Testaments. Vgl. auch Frensdorff, Beiträge zur Geschichte und Erklärung der dt. Rechtsbücher, S. 131 f.: „Mit dem 13. Jahrhundert tritt eine neue Gattung von Rechtsquellen in das deutsche Recht ein. Von Privaten ausgehende Aufzeichnungen rechtlichen Inhalts beanspruchen für die Normen, die sie aufstellen, dieselbe Geltung, welche den Rechtssätzen gewohnheitsrechtlichen oder gesetzlichen Ursprungs beiwohnt, und erstreben eine Rechtsreform durch Einführung geschriebenen Rechts.“ Vgl. weiter Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, 2. Aufl., München 2001, S. 318 f. unter Berufung auf Gratian: „Schriftform bedeutete für ihn volle Rechtsverbindlichkeit. Wer das zusammenstellte, hatte also fast die Funktion eines Gesetzgebers, auch wenn er ein Privatmann war.“ Ssp. Vorrede, Vers 93-96.
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Papst Clemens IV. (1265-68) berichtet, dass er also clug in rechtsbuchern gewesen sei, das er ein meister der rechte hiez.120 Auch wenn wir über die Herkunft und den Umfang von Eikes Rechtskenntnissen nur wenig wissen, sein Ziel war es jedenfalls, mit dem Spiegel sein eigenes Wissen an des – lateinischen – Lesens und Schreibens kundige und an Rechtsfragen interessierte Zeitgenossen weiterzugeben.121 Er habe sichere Beweise dafür, dass der Wissenskundige, wenn er andere Menschen lehrt, sein eigenes Wissen dadurch vergrößere.122 Auch hierin liegt ein Stück Rezeption, wenngleich die Art der Rechtsunterweisung an den Rechtsunterricht südlich der Alpen bei weitem nicht heranreicht, aber die Weitervermittlung von Recht und die damit verbundene Verbreitung im Ergebnis kaum minder erfolgreich war.123 So verwies bereits wenige Jahrzehnte nach Aufzeichnung des Sachsenspiegels der Verfasser der sächsischen Weltchronik auf den van Repegouwe rat, so wie man sich auch auf die Lehrmeinungen der berühmten italienischen Juristen berief.124
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Zit. nach Frensdorff, Beiträge zur Geschichte und Erklärung der dt. Rechtsbücher, S. 132, Fn. 2. Vgl. Ssp. Vorrede, Vers 9-16: Wer mine rede nicht vernemit,/Wil her min buch beschelden san,/So tut her daz im missezemit;/ wen wer so swimmen nicht en kan,/wil her deme wazzere wizen daz,/so iz her unversunnen./Si lernen daz si lesen baz,/daz siez vernemen kunnen. Vgl. weiter Frensdorff, Beiträge zur Geschichte und Erklärung der dt. Rechtsbücher, S. 132 mit Hinweis auf Ssp. Lnr. 1 (Swie lenrecht kunnen wille, die volge disses buches lere): „’kunnen’ ist mehr als kennen, ist können, sich auf die Rechtsanwendung verstehen“. Deutlicher ist dies im Swsp. Vorwort c) formuliert: vnd dar vmbe wil man an disem bvche leren . alle die gerihtes phlegen svln . wie si zerehte svln rihten. Entsprechend heißt es im Schlusswort (Swsp. Lnr. 159): Hie hat ditz lehenreht bvch ein ende . vnd ich han elliv div reht zende braht . div von lehenreht gesin mvgen . ... Ditz bvch ist gewizenen lvten vnd wisen lvten gvt vor zelesenne . wan die kvnnen ez versten . vnd verkernt ez niht . unverstandenen lvten vnd vnwisen lvten ist ez niht so gvt . wan si verstent sich niht des an dem bvche stet ... . Ssp. Vorrede, Vers 168-172: nach warem orkunde/So ist uns wissentlich,/daz der man kunsten rich,/So her andere lute leret,/daz sin kunst da von meret. Die Verbreitung und Bearbeitung der Rechtsbücher in Deutschland bewirkte ebenso wie der Rechtsunterricht in Italien, dass eine im Recht gebildete Schicht entstand, die ihre Rechtskenntnis nicht mehr auf mündliche Tradition und praktische Übung, sondern auch auf die über den Einzelfall hinausgehende Beschäftigung mit Schriftrecht gründete. Auch Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 308 sieht die rechtshistorische Bedeutung des 12. Jh. „in einer Wandlung des einheimischen Rechtsdenkens“, die er auf die neue und vertiefte Begegnung mit der Rechtskultur der späten Antike zurückführt. Nachweis bei Karl Zeumer, Die Sächsische Weltchronik, ein Werk Eikes von Repgow, in: Festschrift für Heinrich Brunner, Weimar 1910, S. 135, 167. Vgl. auch Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 450 f.: „Für die Frage, wie man den Sachsenspiegel in der Rechtspraxis des 14. und 15. Jahrhunderts benutzt hat, sind demnach vor allem die Gutachten und Schiedssprüche aufschlussreich, und sie zeigen etwas sehr Bemerkenswertes: der Sachsenspiegel wird in diesen offenbar von
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Mit der Verschriftlichung ist die Verwissenschaftlichung von Recht in Deutschland aufs Engste verwoben, denn die einzelnen Stufen dieser Entwicklung gehen fließend ineinander über: das Bedürfnis der Praxis nach schriftlichem Recht, das Interesse an der Rationalisierung der Rechtsanwendung und der Weitervermittlung von Recht und schließlich die von der konkreten Anwendung losgelöste Beschäftigung mit Recht.125 Bereits der Charakter der Rechtsbücher (Kompilation auf der Grundlage verschiedener Vorlagen, Sammlungen von Recht, umfassende Behandlung eines Rechtsstoffes, Bemühen um Systematik, Stil eines Lehrbuchs oder Kommentars) ist im Ansatz wissenschaftlicher Natur. Daher überrascht es auch nicht, dass sich von Anfang an gelehrte Juristen mit ihnen beschäftigen. Der Verfasser des Hamburger Ordeelbook von 1270, ein studierter Jurist, übernahm ganze Partien aus dem vermehrten Sachsenspiegel, insbesondere solche, die auf römisches Recht zurückgehen.126 Weitere studierte Juristen, die den Sachsenspiegel wissenschaftlich bearbeiteten, traten hinzu, von denen der berühmteste Anfang des 14. Jh. Johann von Buch ist.127 Zu Recht stellt Kroeschell in diesem Zusammenhang fest: „Es ist die Luft von geistlichen Gerichten und Gelehrtenstuben, die einen hier anweht, von Ratskanzleien und von Bettelordenklöstern. Sieht man im Sachsenspiegel nur die volkstümliche Aufzeichnung ritterlich-bäuerlichen Gewohnheitsrechts, so muss einem dieses Milieu sehr fremdartig erscheinen!“128 Anknüpfend an Kroeschells Arbeiten beurteilt auch Trusen die weitreichende Wirkung des Sachsenspiegels seit dem 14. Jh. als ein Reproduktionsprodukt. Seine umfassende Geltung habe er durch die spätere Aufnahme in das Recht der Städte und durch die Anerkennung verschiedener Landesherren erfahren, wobei die Zurückführung auf angebliches Kaiserrecht diesen Vorgang unterstützt habe.129 Träger der Verbreitung waren dabei auch – vielleicht sogar in erster Linie – die im römischen und kanonischen Recht ausgebildeten Juristen, die offenbar problemlos mit ihm arbeiten und auch seine Wurzeln mühelos ausmachen konnten.130 So schrieb der gelehrte Jurist Nikolaus Wurm im 14. Jh. über den Sachsen-
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studierten Juristen formulierten Texten regelrecht allegiert, also ganz genauso angeführt und zitiert wie die Quellen des gemeinen kanonischen und römischen Rechts.“ Auch Trusen, in: ZRG Germ. Abt. 102 (1985), S. 12 beschreibt diese neue Periode der „Rationalisierung, Verwissenschaftlichung und schriftliche(n) Fixierung des Rechts in Deutschland“ als einheitliche Entwicklung. So Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 444 mit Hinweis darauf, dass diese Stellen über das Ordeelbook auch ins bremische Stadtrecht von 1303 gelangten. Vgl. die Nachweise bei Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 445 ff.; Ignor, Über das allgemeine Rechtsdenken Eike von Repgows, S. 27 ff. Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 445. Trusen, in: ZRG Germ. Abt. 102 (1985), S. 37 f. Vgl. dazu auch Kroeschell, in: ders., Studien zum frühen und mittelalterlichen dt. Recht, S. 455 f.
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spiegel: der blumen stam ist her Ecke von Repkow, di wurczil abir sint leges daz sint keiserrecht u. canones daz sint geistliche recht.131
D. Ergebnisse 1. Die spätmittelalterlichen Rechtsbücher stellen Rechtssammlungen dar, die auch rezipiertes frühmittelalterliches Recht enthalten. Die Auswahl aus den Vorlagen erfolgte dabei nach Kriterien, die es erlaubten, auch Texte zu verarbeiten, die aus zeitlich oder räumlich weit entfernt liegenden Rechtskreisen stammten. Dies schließt keineswegs aus, dass die eigene Rechtskultur, insbesondere die mündlich tradierten Rechtsgewohnheiten, die Grundlage bildete und die rezipierten Regelungen an diese angepasst bzw. in diese eingefügt wurden. Es erklärt aber die Rezeption zahlreicher frühmittelalterlicher Regelungen (Lex Baiuvariorum, Lex Alamannorum, Kapitularien) im Schwabenspiegel, ebenso die meines Erachtens wahrscheinliche Verarbeitung mehrerer Volksrechte im Sachsenspiegel sowie die Rezeption des Schwabenspiegels und vermutlich auch der Lex Baiuvariorum im Eisenacher Rechtsbuch. Neben der kontinuierlichen Fortentwicklung frühmittelalterlicher Rechtsinstitute (unabhängig von der lex scripta) durch praktischen Gebrauch, lassen sich somit Rezeptionsvorgänge als weitere Transportwege für Recht vom Früh- zum Spätmittelalter erkennen. Diese Vorgänge auf der Grundlage von Schriftrecht sind von vornherein nur einer Gruppe rechtskundiger Spezialisten eröffnet, die mit Rechtstexten arbeiten, die zu diesem Zeitpunkt nicht in praktischem Gebrauch, jedoch den Spezialisten vertraut sind. Die zahlreichen Gemeinsamkeiten und Parallelen innerhalb der europäischen Rechtskultur beruhen daher auch auf der unbefangenen Rezeption von Rechten, die zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort entstanden sind. 2. In Deutschland beginnt mit den Rechtsbüchern die erste Stufe einer wissenschaftlichen Rechtspraxis. Die Rechtsbücher sind kein Abbild der Rechtswirklichkeit, sondern in erster Linie deren Vorbild; sie wenden sich an „weise Leute“, die bereits Vorkenntnisse im Recht besitzen und diese vertiefen wollen. Dass sich die Rechtsbücher gegenüber der oralen Rechtskultur durchsetzen können, liegt daher nicht in erster Linie an der deutschen Sprache, sondern vor allem daran, dass sie eine über den Einzelfall hinausgehende Sammlung von Recht bieten und damit nicht nur Bedürfnisse der Praxis befriedigen, sondern auch als Arbeitsmaterialien für die gelehrten Juristen taugen. Die Geltungskraft, die Gleichstellung mit Gesetzen und die Verbreitung der Rechtsbücher in weiten Teilen Europas stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit der Bearbeitung und Weiterentwicklung der Rechtsbücher durch studierte Juristen. Insofern bestehen – wenn auch auf ganz
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Zit. nach Carl Gustav Homeyer, Der Richtsteig Landrechts, Berlin 1857, S. 340.
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anderem Niveau – durchaus Parallelen zur Rechtswissenschaft in Italien und ihrem Einfluss auf die Entwicklung des Rechts in Europa.132 3. Schließlich ist die Verarbeitung von schriftlichen Rechtsquellen aus anderen Zeiten oder Regionen ein Vorgang, der sich das ganze Mittelalter hindurch, verstärkt aber seit dem Beginn des Spätmittelalters beobachten lässt und dessen Höhepunkt mit der Rezeption des römischen Rechts an der Wende zur Neuzeit erreicht ist. „Recht“ wird dabei als ein Gut verstanden, das durch Rezeption angenommen und durch Rechtsmitteilung weitergegeben werden kann. Dabei handelt es sich um ganz bewusste Vorgänge, d.h. um eine Auswahl nach praktischen Erwägungen mit dem Ziel, einen besseren Rechtszustand zu schaffen. In dieser Weise wird schließlich auch das römische Recht in den Stadt- und Landrechtsreformationen aufgenommen, wie abschließend ein Beispiel aus dem von Ulrich Zasius 1520 verfassten Freiburger Stadtrecht belegen soll. Zasius, studierter Jurist und Kenner des einheimischen Rechts,133 unterschied im Freiburger Stadtrecht III 8, 1 entgegen dem römischen Recht und unter Berücksichtigung der Freiburger Gewohnheiten zwei Gruppen nichtehelicher Kinder (und wiewol die gemeinen recht solcher uneelichen kind halb ander teilung, dann hienach gesetzt würt, halten möchten, so haben wir doch in solchem fall diser statt Friburg louf und gewonheit bedacht und teilent deshalben die uneelichen kind in zwen underschid): die vom Vater anerkannten ledige naturliche kinder und unflatskinder, die im Ehebruch, in Blutschande oder von Geistlichen gezeugt wurden. Erstere haben nach III 8, 2 ein subsidiäres gesetzliches Erbrecht in Höhe von einem Drittel am Gut des Vaters, wenn dieser ohne Testament und ohne eheliche Familie, Eltern, Großeltern und Geschwister verstorben war. Sind Erben vorhanden, so sollen die Kinder von den Erben bis zu irn iaren erzogen und ernert werden, damit sy zu hantwerken oder anderer fürsehung gefürdert und nit in schentlich unerber wesen kommen müssen. Beides wird den unflatskindern nicht zugebilligt, jedoch sind nach III 8, 9 vatter und mutter uß naturs ordnung schuldig, dieselben kind, alldiewil sy under irn iaren sind, von hungers not zu erneren. Außerdem übertrug Zasius das römischrechtliche subsidiäre Erbrecht der Konkubinatskinder in Höhe eines Sechstels (aus den Novellen Justinians) auf die unflatskinder für den Fall, dass der Erblasser keine Verwandten bis ins vierte Glied hinterließ, und betonte dabei, dass dies nur aus Gütigkeit geschehe (wir habent aber
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Nur so lässt sich auch der Erfolg einer im Vergleich zum Sachsenspiegel weniger kreativen Kompilation, wie sie der Schwabenspiegel darstellt, erklären. Trusen, in: ZRG Germ. Abt. 102 (1985), S. 59, der die weitgehend negative Bewertung des Schwabenspiegels in der Forschung beklagt und diese auf die Auffassung zurückführt, dass „kein eigentlich deutschrechtliches Werk, sondern eine von einem klerikalen Verfasser zusammengestellte Arbeit hierokratischen Charakters“ vorliege, weist zu Recht darauf hin, dass wir nicht in dieser Weise als Richter auftreten dürfen: „Da das Rechtsbuch eine so große Verbreitung und Wirkung im Spätmittelalter gehabt hat, besaßen die damaligen Zeitgenossen offenbar einen anderen Maßstab der Bewertung.“ Ähnlich Derschka, in: ZRG Germ. Abt. 120 (2003), S. 92. Zu Zasius vgl. Gudrun Sturm, Art. Zasius, Udalricus, HRG V, 1998, Sp. 1612 ff.
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uß gütigkeit inen so vil zugelassen: ... so mögen dieselben unflatskinder den sechsten teil desselben guts nemen, das übrig gefelt an die wyter sipp).134 Zasius vermischte somit einheimisches Recht mit einem römischrechtlichen Institut (Nov. XVIII 5), das er zudem auf einen ganz anderen Anwendungsfall übertrug, wobei er zusätzlich noch dessen Voraussetzungen abänderte; das ganze garnierte er mit naturrechtlichen Erwägungen und christlichen Barmherzigkeitsvorstellungen. Die praktische Rezeption ist hier weniger Rezeption als vor allem praktisch; sie zeigt, was Rezeption bedeutet: Aus den zur Verfügung stehenden Rechtstexten und Rechtskenntnissen wird beliebig geschöpft, wobei im Einzelfall statt einer bewussten Entscheidung für die Übernahme auch der Zufall (Art und Umfang der vorhandenen Textvorlagen, Rechtskenntnisse des Verfassers usw.) ausschlaggebend sein kann. Am Ende dieses Vorgangs steht ein durch kreative Rechtsschöpfung gewonnenes neues Recht, dessen Bestandteile sich aus tradiertem Gewohnheitsrecht, zielgerichteter Rechtsfortbildung und rezipiertem Rechtsgut zusammensetzen. Erfolgreich ist dieses „Mischrecht“ dort, wo sich die vorhandenen Probleme angemessen und vernünftig mit ihm lösen lassen, wobei der Erfolg des rezipierten Rechts auch darin liegen dürfte, dass ein – zu einer anderen Zeit oder an einem anderen Ort – bereits bewährtes Recht übernommen wird.
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Freiburger Stadtrecht, hrsg. v. Wolfgang Kunkel, Quellen zur Neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands, Bd. 1, Weimar 1936.
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„[…] der Pöbel hätte mich fast gesteinigt, wie er hörte, ich sei ein Jurist“, (J. W. v. Goethe)* Wolfgang Sellert
I. Einleitung Der Titel meines Beitrages stammt aus Goethes Drama „Götz v. Berlichingen“, 1. Akt. Schauplatz ist der bischöfliche Palast zu Bamberg. Als dort im Speisesaal der Nachtisch aufgetragen wird, fragt der Bischof einen seiner Gäste, ob „jetzt viele Deutsche von Adel zu Bologna“ studieren. Der angesprochene Doktor beider Rechte Olearius bejaht diese Frage und fügt hinzu, daß dort die Adligen alles daran setzten, um mit einem erfolgreichen Jurastudium „ihre angeborene Würde […] [zu] erhöhen“, während die Bürgerlichen „einen rühmlichen Fleiß“ anwendeten, um „durch Talente den Mangel der Geburt zu ersetzen“. Den Deutschen, so fährt Olearius fort, gelte die „Bewunderung der ganzen [bologneser] Akademie“, und es würden demnächst „einige von den ältesten und geschicktesten als Doctores zurückkommen“ und die ersten Stellen am kaiserlichen Hof einnehmen. Der Bischof erkundigt sich daraufhin nach der Bedeutung des Justinianischen Corpus iuris civilis. Olearius antwortet, daß „man es wohl ein Buch aller Bücher nennen“ möchte; „eine Sammlung aller Gesetze; bei jedem Fall der Urteilsspruch bereit; und was ja noch abgängig oder dunkel“ wäre, ersetzten die Glossen, „womit die gelehrtesten Männer das vortrefflichste Werk geschmückt“ hätten. Als der Bischof erfährt, daß Olearius aus Frankfurt am Main stammt, möchte er wissen, weshalb dort die gelehrten Juristen „nicht wohl angeschrieben“ seien. Er sei, antwortet Olearius, in dieser Stadt gewesen, um seines „Vaters Erbschaft abzuholen“ und als der Pöbel hörte, er sei ein Jurist, hätte man ihn fast gesteinigt. Das komme daher, daß der in Frankfurt hoch angesehene Schöffenstuhl mit lauter Leuten besetzt sei, die der römischen Rechte unkundig seien. In Frankfurt glaube man nämlich, es sei genug, „durch Alter und Erfahrung sich eine genaue Kenntnis des inneren und äußeren Zustandes der Stadt zu erwerben“. Deswegen würden die Bürger nach altem Herkommen und wenig Statuten […] gerichtet“. Das aber sei nicht gut, weil das Leben der Menschen kurz sei und „in einer Generation nicht alle Casus“ vorkämen. Demgegenüber enthalte das Corpus iuris Rechtsfälle „von vielen Jahrhunderten“. Ein solches Buch mit unveränderlichen Gesetzen brauche man aber, weil „der Wille und die Meinung der Menschen schwankend“ seien. So deuchte dem einen „heute das recht, was der andere morgen“ mißbillige, weswegen die „Verwirrung und Ungerechtigkeit unvermeidlich“ sei. Diese Einsicht fehle aber dem „Pöbel […], der, so gierig er [auch] auf Neuigkeiten“ sei, das Neue *
Es handelt sich bei meinem Beitrag um den leicht veränderten Text meiner Abschiedsvorlesung, die ich am 13. Februar 2002 in Göttingen gehalten habe.
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höchst „verabscheue, das ihn aus seinem Gleise leiten“ wolle. So hielten sie „den Juristen so arg, als einen Verwirrer des Staates“ und einen „Beutelschneider“ und seien „wie rasend, wenn einer sich dort niederzulassen“ gedenke. Goethe greift in dieser Szene eine empfindliche Seite des juristischen Berufsstandes auf. Es geht um Juristen- und Urteilsschelte. Diese richtet sich einerseits gegen die ungelehrten Schöffen des Frankfurter Oberhofs, weil sie Recht nach Herkommen und Gutdünken sprächen. Und sie richtet sich andererseits gegen den im römischen Recht gelehrten Juristen, der vom Pöbel als „Verwirrer“ der überkommenen Ordnung und als Beutelschneider angegriffen wird. Nun wäre die Szene im Bamberger Bischofspalast insoweit nicht weiter bemerkenswert, als Juristen und ihre Kunst noch nie populär, geschweige denn beliebt gewesen sind. So hat Goethe vom „Gesetz und Rechte“ als einer sich ewig forterbenden „Krankheit“ gesprochen. Alexis de Tocqueville war noch 1836 der Meinung, „daß sich in allen zivilisierten Ländern neben einem Despoten, der befiehlt, fast immer ein Rechtsgelehrter befindet, der dessen willkürliche und unzusammenhängende Willensakte in eine Ordnung und Übereinstimmung bringt“. Bis heute werden die Auslegungskünste der Juristen angegriffen und das Goethewort auf sie bezogen: „Im Auslegen seid frisch und munter! Legt ihr’s nicht aus, so legt was unter!“ Auch vergeht kaum ein Tag, an dem nicht Gerichtsurteile gescholten, Normsetzungen angegriffen und Juristen als „Winkeladvokaten“, „Rechtsverdreher“ oder weltfremde „Formalisten“ angefeindet werden. Der Dialog zwischen dem Bischof und Olearius weckt jedoch insoweit unser rechtshistorisches Interesse, als Goethe hier möglicherweise historische Ursachen für die bis in die Gegenwart andauernden Vorbehalte gegenüber Juristen zur Sprache bringt. So ist in der Tat wiederholt behauptet worden, daß dem gemeinen Mann durch die mit der Rechtsschule zu Bologna im 12. Jh. begonnene Rezeption des römischen Rechts in Deutschland das ihm vertraute einheimische Recht der weisen und erfahrenen Schöffen gewaltsam genommen worden sei. Als Kaiser und Landesherren schließlich um die Wende zum 16. Jh., also in der Zeit des Reichsritters Götz v. Berlichingen, dazu übergegangen seien, das deutsche Gewohnheitsrecht aus der Gerichtspraxis völlig zu verdrängen, sei es zu einer tiefen und bis heute spürbaren Entfremdung zwischen Volksrecht und Juristenrecht gekommen. War es aber wirklich so, wie man noch 1963 bei Georg Dahm lesen konnte, daß „das Volk, […] der einfache Mann“ das rezipierte Recht „nicht mehr als sein Recht“ empfand und daher aufbegehrte? Hat man es vielleicht sogar, wie der Germanist Otto v. Gierke annahm, mit einem einmütigen national motivierten Widerstand der einheimischen Bevölkerung zu tun? Hatte also der Pöbel unter Bevorzugung des einheimischen Rechts gegen den gelehrten Juristen Front gemacht? Und hat sich dieser Unwille derart tief in die Gemüter der Deutschen eingegraben, daß er noch bis in die Gegenwart Wirkungen zeigt?
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II. Rezeption als Ursache für die Entfremdung von Volk und Recht Begeben wir uns, wie der Jurist Goethe, dem „die Geschichte des Rechts und dessen Herankommen aus den früh’sten Zuständen […] von jeher der Gegenstand“ seiner „angelegentlichsten Betrachtungen“ war, auf die Suche nach der historischen Wahrheit, so müssen wir zunächst einmal feststellen, daß es nur wenige, vor allem aus den Bauernkriegen stammende Zeugnisse gibt, aus denen auf einen Widerstand des Volkes gegen das fremde Recht geschlossen werden könnte. So waren es die Wortführer der aufständischen Bauern, die sich in den zwanziger Jahren des 16. Jh. darüber beschwerten, daß durch die Doktores „dem gemeinen Mann zu verderblichem Nachteil und Schaden […] in alten Gebräuchen und Gewohnheiten bei Städten und Dörfern […] viel Zerrüttungen geschehen“ seien. Aus diesen und weiteren einschlägigen Quellen läßt sich jedoch kein Widerstand des Volkes gegen das fremde Recht als solches herleiten. Denn zum einen haben sich die Bauern in ihren Prozessen vor dem Reichskammergericht auch gern auf römisches Recht berufen, wenn es ihnen zum Vorteil gereichte. Zum andern richtete sich der Protest der Bauernführer primär gegen die neuartige Machtpolitik der Landesfürsten, die im Begriff waren, ohne Rücksicht auf alte Besitzstände mit geschulten Fachjuristen einen einheitlich organisierten und verwalteten Machtstaat zu etablieren. Einer der Parteigänger der Bauern, der Schlettstadter Humanist Jakob Wimpfeling, erklärte daher, daß nach „der verabscheuungswürdigen Lehre der neuen Rechtsgelehrten […] der Fürst im Lande alles […], das Volk aber nichts“ sein soll. „Das Volk“, so fährt er fort, „soll nur gehorchen und Steuern zahlen und Dienste verrichten, und obendrein nicht bloß dem Fürsten gehorchen, sondern auch seinen rechtsgelehrten Beamten, die sich als die eigentlichen Herren des Landes aufzuspielen beginnen“. Und drittens spricht gegen die These vom Widerstand des Volkes, daß sich auch der Adel gegen diese Modernisierung des Staatswesens gewehrt hat. Denn er sollte nun von den gelehrten Juristen aus den ihm bis dahin am Hofe der Landesfürsten und anderswo vorbehaltenen Ämtern verdrängt werden. Schließlich und endlich waren diese Reformmaßnahmen von relativ begrenzter Dauer, so daß von ihnen keine bis in die Gegenwart anhaltende Entfremdung zwischen Volk und Recht ausgegangen sein kann.
III. Der falsche Umgang mit dem römischen Recht als Wurzel für die Entfremdung von Volk und Recht Die historischen und möglicherweise in der Rezeption wurzelnden Ursachen für eine Entfremdung von Volk und Recht könnten demgegenüber in einer ganz anders gearteten Kritik zu suchen sein, die lange vor den Bauernkriegen mit der Entstehung des juristischen Berufsstandes einsetzte und diesen auf Dauer gegenüber jedermann in Mißkredit gebracht haben könnte.
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Eines dieser als Echo des Volkes deutbaren frühen Zeugnisse ist das Carmen satiricum des Nicolaus von Bibra, der selbst um 1260 in Padua die Rechte studiert hatte. In seiner Dichtung verspottete er den gelehrten Rechtsbeistand des Erfurter Stadtrates Heinrich von Kirchberg als habgierigen und rabulistischen Rechtsverdreher. Um 1300 nahm der Dichter Hugo von Trimberg († nach 1313) die Juristen in seinem Lehrgedicht „Der Renner“ aufs Korn. Die Habgier der Juristen, so meinte er, führe dazu, daß sie sich allzu oft auf die Seite der Reichen und Mächtigen stellten und das Recht der Armen beugten. Ihre Mittel dazu seien überspitzte Formalismen, Entstellungen der Wahrheit und endlose Verschleppungen der Prozesse. Nicht selten, so Trimberg, benutzten Advokaten ihr Fachwissen und ihre methodischen Fähigkeiten dazu, um den nicht wohl gelehrten […] Richtern in den Gaumen zu greifen und ihnen derart den Sinn zu verkehren, daß sie nach ihnen müssen gehn. Weil alle diese Verhaltensweisen nicht den christlichen Tugenden entsprachen, ließ der Notar und Stadtschreiber Johannes von Saaz, bekannt auch unter dem Namen Johannes v. Tepls, in seinem um 1400 entstandenen Prosadialog „Der Ackermann aus Böhmen“ den Tod sagen: Jura, wandelbares und widersprüchiges Recht, und Juriste, der gewissenlos criste, hilft da nicht mit rechtes und unrechtes fursprechung, mit seinen krummen urteilen! Auch Sebastian Brant (1457-1521) war einer von jenen Dichterjuristen, die das zeitgenössische Rechtswesen kritisch unter die Lupe nahmen. Sein 1494 entstandenes Werk, das „Narrenschiff“, ist mit einem Holzschnitt Albrecht Dürers geschmückt, auf dem ein Narr der mit Hecheln traktierten Justitia die Augen verbindet, so daß sie weder das Schwert gezielt führen noch sehen kann, wohin sich die Waage der Gerechtigkeit neigt. Nicht zu vergessen ist schließlich der Nürnberger Poet Hans Sachs (14941576), der in seinen Dichtungen wiederholt den falschen juristen wegen seiner Spitzfindigkeiten und Beutelschneidereien an den Pranger stellte. Einem gelehrten Advokaten legte er die Verse in den Mund: Ich procurir vor dem Gericht, Vnd offt ein böse sach verficht, Durch Loic, falsche list vnd renck, Durch auffzug, auffsatz vnd einklenck, Darmit ichs Recht auffziehen thu: Schlecht aber zuletzt vnglück zu, Daß mein Partey ligt vnterm gaul, Hab ich doch offt gefüllt beutl vnd maul.
Ähnlich bemängelte Philipp Melanchthon (1497-1560), daß bei „dieser Stumpfheit der Richter […] die fadesten Rabulisten als Advokaten in die Gerichtsstätten“ eindringen und „aus einem Prozesse den anderen“ herleiten, ihre Klienten schinden und „die unwissenden Richter mit immer neuen Kniffen zum Spott“ machen. Auch wenn man von den Richtern des 1495 gegründeten Reichskammergerichts nicht behaupten konnte, sie seien „unwissend“, so wurde doch auch an diesem Gericht die lange Dauer der Prozesse gerügt. Spöttisch wurde behauptet, daß die Richter dort von den auf dem Dachboden des Gerichts an Schnüren hängenden
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Akten nur jeweils diejenigen bearbeiten würden, die zu Boden fielen, weil die Schnüre entweder morsch oder von Mäusen durchgebissen worden waren. Bekanntlich hat auch der Reformator Martin Luther den lebensfremden juristischen Formalismus, die Gewinnsucht der Juristen und die lange Dauer der gelehrten Prozesse kritisiert. So sprach er, ein Wortspiel benutzend, von den „Jurgisten“, also den Verdrehern des Rechts. Die Advokaten beschimpfte er in grobianischer Manier als „Zungendrescher“, „Leuteschinder“ und böse Christen, die vor Gericht einer ungerechten Sache mit Winkelzügen Aufschub verschafften. Luther meinte, daß ein Jurist, der das höchste und schärfste Recht, so wie es in den Lehrbüchern stünde, durchsetzen wolle, die Wirklichkeit verfehle. Deswegen sei ein Jurist, „der nicht mehr als ein Jurist“ sei, „ein arm Ding“; und seinem neu geborenen Söhnchen drohte er: „Wenn Du sollst ein Jurist werden, so wollt ich Dich an ein Galgen hängen“. Die Angriffe richteten sich wiederholt auch gegen die ausgeuferten Kommentierungen des römischen Rechts, wie sie seit dem 12. Jh. von den Glossatoren und Postglossatoren praktiziert wurden. So mußte die um 1250 entstandene Glossa ordinaria des Accursius († um 1260) mit ihren mehr als 96.000 in Latein verfaßten Glossen jedem Rechtssuchenden als ein abschreckendes juristisches Dickicht erscheinen, aus dem es kein Entrinnen gab. Erfreute sich doch die accursische Glosse bei den Gerichten höchster Wertschätzung. Das wird noch im 16. Jh. durch die sprichwörtliche Wendung Quidquid non agnoscit glossa, non agnoscit curia belegt. Gleiches mußte für die umfänglichen und überall anerkannten Kommentare der Postglossatoren gelten, die wie hauptsächlich Bartolus und Baldus mit ihren Interpretationen des römischen Rechts den Weg zu einer vielfach als lebensfremd empfundenen Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz ebneten. Namhafte Humanisten sahen in den Glossierungen der Doctores eine Verfälschung der Texte des Corpus iuris civilis und behaupteten, wie Ulrich Zasius (1461-1535): Veritas enim iuris ex textibus, non ex Doctorum auctoritate eruitur. Auch wenn sich diese Kritik weniger gegen Unzulänglichkeiten der juristischen Praxis, sondern mehr gegen die dem Humanistenideal widersprechende juristische Scholastik richtete, so konnte sie doch auch als Protest gegen die stets des Mißbrauchs verdächtigte juristische Methodik mit ihren Formalismen, Dogmatismen, spitzfindigen Quästionen und weitläufigen Deduktionen gedeutet werden. In diesem Sinne hat François Rabelais († 1553) in seinem berühmten Werk „Gargantua und Pantagruel“ voller Spott und Satire geschrieben, daß es sich die Richter, denen der Kopf vor lauter Gelehrsamkeit zu platzen drohe, angelegen sein ließen, „so viel [man] nur immer“ könne, [das] pro und contra“ abzuwägen. Was „leicht und einfach zu entscheiden war, [sei] auf diese Weise durch alberne, widersinnige Rechtsanwendungen, durch die abgeschmackten Ansichten eines Accursius, Baldus, Bartolus […] und ähnlich alter Schafsköpfe, die ganz und gar nichts von den Pandekten verstanden“ hätten, dunkel geworden. Deswegen seien in einem Prozeß alle diese Schriftsätze, „Protokolle, Eingaben, Repliken, Bescheide und wie das Teufelszeug sonst heiße nichts als Rechtsverdrehungen und Verschleppungen“, die der Teufel holen möge. Der berühmte Humanist Erasmus von Rotterdam hatte von den Rechtsgelehrten in seinem „Lob der Torheit“ 1509 gesagt, daß sie „in einem Atem […] eine Men-
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ge Gesetze“ zusammenschmieren. „Ohne sich darum zu kümmern“, ob ihre Kommentierungen dieser Gesetze „zu irgend etwas taugen, häufen [sie] Glossen auf Glossen und Meinungen auf Meinungen und machen dadurch, daß ihre Wissenschaft die schwerste von allen zu sein scheint“. Und der Lehrer des römischen Rechts Thomas Murner (1475-1537) reimte: Es heißt ein volck zu teutsch Juristen Wie sind mir das so seltzam Christen! Das Recht thun sie so spitzig biegen Und kündens wo man will hin siegen […] Wiewol das recht ist wol beschrieben, Ja wer die Glos darin aussblieben
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang auch die aus dem frühen 16. Jh. stammende Chronik des Simon Grunau. Dort ist von einem Bauernsohn die Rede, der in Bologna die Rechte studiert hatte und nun als doctor in beden rechtenn nach Hause zu seinem Vater kommt. Als der Vater sieht, wie sein Sohn einen glossierten Rechtstext liest, fragt er ihn, was doch in seinen buechern bedeutte die grobe schrifft und die cleine mit den rotten buchstaben. Daraufhin antwortet der Sohn, daß die grobe schrifft […] der text des rechtens unnd die wahrheit nach der gerechtigkeit sei. Die kleine Schrift, also die Glosse, sei dagegen die bescheisserey. In Abwesenheit des Sohnes nimmt daraufhin der vatter eine schere unnd gehet über die buecher seines sons, unnd wo er fant cleine schrifft, die schnitt er alle weck. Zornig stellt ihn der Sohn zur Rede. Der Vater verteidigt sich mit den Worten, er habe den Sohn studieren lassen, damit er die wahrheit unnd die gerechtigkeit und nicht viel glose und bescheisserey lernen solle. Aus diesen Beispielen, denen noch viele weitere hinzugefügt werden könnten, wird deutlich, daß mit der Kritik an bestimmten Praktiken der gelehrten Juristen nicht das fremde Recht als solches angegriffen wurde. Man unterschied daher zwischen den guten Juristen, die ihr Handwerk de lege artis ausübten sowie den unredlichen oder nur halbstudierten Juristen, die ihre Rechtskenntnisse entweder falsch anwendeten oder mißbrauchten. Letztere nannte Hugo von Trimberg, in Anspielung auf den Verräter Judas Ischariot, Judisten und reimte: Judisten süln niht tiurre werden, Juristen [dagegen] werdent herren ûf erden. Auch Luther, dessen Stellung zu den Juristen durchaus ambivalent war, hatte nach eigener Einlassung mit seinen herben Äußerungen nur die unredlichen Juristen kritisieren wollen, im übrigen aber die Rechtswissenschaft als eine „feine Kunst“ und den Juristenberuf als „ein köstlich göttlich Amt“ bezeichnet, wenn er von ehrlichen, aufrichtigen und frommen Juristen ausgeübt werde. Allein dadurch, daß das römische Recht mit der Rezeption seine Heimat in Deutschland gefunden hatte, ist folglich keine Entfremdung zwischen Volk und Recht eingetreten. Anderenfalls hätte man ein Loblied auf das dem Volk vertraute alte deutsche Gewohnheitsrecht erwartet. Das war jedoch nicht der Fall. So wurde schon in dem unter Kaiser Friedrich II. ergangenen Mainzer Landfrieden von 1235 bemängelt, daß die Gerichtsverfahren in Deutschland nach Gutdünken und nicht nach gesatztem, d. h. nach römisch-kanonischen Recht geführt würden. Angegrif-
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fen wurde vor allem der übertriebene Formalismus, also die „Silbenstecherei“ des altdeutschen Rechtsgangs. So sah sich der Verfasser des Sachsenspiegels, Eike von Repgow zu einer Regelung in seinem Rechtsbuch veranlaßt, wonach niemand deswegen seinen Rechtsstreit verlieren dürfe, weil er sich in der Verhandlung vor dem Lehngericht die Nase putzt, sich schneuzt, spuckt, gähnt, hustet, niest oder weil er Fliegen, Mücken oder Bremsen schicklich von sich scheucht. Dieses zweifelhafte Formelwesen müsse, so 1433 der Kardinal Nikolaus von Kues, abgeschafft werden, weil „nur zu oft […] hinterlistige Fürsprecher ein Urteil zu erlangen wüßten, wonach die armen Leute mit ihrem schlichten Sinn die Form verletzt hätten und daher sachfällig seien“. Johann v. Buch, ein dem sächsischen Recht gegenüber aufgeschlossener Jurist, meinte 1330, die Lehren des Sachsenspiegels seien derart unklar, daß viele schuldige Leute frei gekommen, dagegen Unschuldige verurteilt worden wären, weil die richtere nicht […] wisten, wie sy richten scholden […] nach des Sassen spegels lere. Im Klagspiegel wurden 1425 die kunstlosigkeyt und falschen vrteil[e] der ungelehrten Richter gerügt, derer sie sich schammen sollten. 35 Jahre später bedauerte der Elsässer Kanonist Peter v. Andlau (†1480), daß man vielerorts nach einem ungewissen Gewohnheitsrecht lebe und die Richter dasjenige für rechtsverbindlich erklärten, was ihnen nach ihrem Gutdünken als richtig erscheine. Anschaulich wird diese Kritik durch einen Holzschnitt aus der Constitutio Criminalis Bambergensis von 1507 unterstrichen. Dort werden Richter mit verbundenen Augen und Narrenkappen dargestellt, weil sie ungelehrt sind und Auff bös gewohnheit vrteyl geben, Die dem rechten widerstreben.
IV. Die Rezeption als Nationalunglück Obwohl es in Deutschland weder einen Widerstand gegen das römische Recht als solches, noch ein deutliches Verlangen nach dem einheimischen deutschen Recht gab, haben die juristischen Germanisten im 19. Jh., wie August Ludwig Reyscher, auf der Suche nach nationaler Identität die Ansicht vertreten, daß durch die praktische Rezeption des 16. Jh. der Gleichklang von Recht und „Volksleben“ in Deutschland zerstört worden sei. Georg Beseler sah darin sogar ein von den gelehrten Juristen „verschuldetes Nationalunglück“. Nun könnte man die Ansicht vertreten, daß die Rezeption für Deutschland jedenfalls insoweit ein „Nationalunglück“ gewesen sei und eine Entfremdung zwischen Volk und Recht bewirkt habe, als sich die kritisierten juristischen Praktiken überhaupt erst mit der Übernahme des gelehrten Rechts, der Verschriftlichung des bis dahin mündlichen Rechtswesens und der Einführung des Lateins als Rechtssprache gezeigt haben. Richtig ist zunächst, daß ein gelehrtes Recht immer auch anfällig für rabulistische Fehldeutungen, Mißbräuche und Fehlanwendungen ist. So gibt es ohne Zweifel mißglückte Gesetze, Fehlurteile und juristische Irrlehren. Schwerer wiegt demgegenüber aber, wie schon im 13. Jh. richtig erkannt wurde, daß ein ungelehrtes, nur dem gesprochenen Wort verpflichtetes Honoratiorenrecht rational unkontrol-
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lierbar, willkürlich und daher unberechenbar ist. Insoweit war die Rezeption für Deutschland eher ein Glücksfall. Denn das deutsche Rechtswesen hat wie das übrige Europa von der hoch entwickelten römischen Rechtskultur profitiert. Die Wissenschafts- und Rechtssprache des Latein bestimmte wie in anderen europäischen Kulturen die Präzision des juristischen Denkens. Der Weg führte in Deutschland, so Franz Wieacker, vom rational nicht nachvollziehbaren, auf sozialer Autorität beruhenden Schöffenspruch zum überprüfbaren, auf gesicherter materieller Grundlage in einem geordneten Verfahren gewonnenen Urteil. So ist es der gelehrten Rechtsprechung des oft zu unrecht gescholtenen Reichskammergerichts, aber auch – wie wir neuerdings durch umfangreiche Aktenerschließungen wissen – der Tätigkeit des kaiserlichen Reichshofrats zu verdanken, daß nicht nur die Fehde zurückgedrängt und der Friede im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gefördert werden konnten, sondern auch Hunderttausenden von Prozeßparteien ein intellektuell nachvollziehbares Recht zuteil wurde. Darüber hinaus ist es den Methoden des gelehrten Rechts zu verdanken, daß große Teile des deutschen und besonders des alten sächsischen Rechts durch wissenschaftliche Weiterentwicklung überleben konnten. Selbst die großen preußischen Naturrechtskodifikationen, durch die nach einer Instruktion Friedrichs d. Großen von 1746 das „ungewisse“ und confuse lateinische Recht ausgeschlossen und dem teutschen Recht der Vorzug gegeben werden sollte, wären ohne die Methoden des gelehrten Rechts nicht denkbar gewesen, zumal § 57 der Einleitung zum Preußischen Allgemeinen Landrecht von 1794 bestimmte, daß dessen Vorschriften nach den Grundsätzen des „gemeinen Rechts“ auszulegen seien. Und schließlich hat erst das gelehrte Recht nicht nur die Voraussetzungen für den modernen Rechtsstaat, sondern um die Wende zum 20. Jh. mit dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) ein differenziertes, freiheitliches sowie in sich geschlossenes und insoweit für jedermann Gerechtigkeit gewährendes Privatrechtssystem auf höchstem juristischen Niveau geschaffen, das noch heute – hoffentlich auch nach dem soeben in Kraft getretenen „Schuldrechtsmodernisierungsgesetz“ – die Bewunderung und Anerkennung vieler ausländischer Staaten findet.
V. Die Diskrepanz zwischen juristischem Laien- und Sachverstand Wenn gleichwohl das BGB für weltfremd erklärt wurde, weil es, wie Otto v. Gierke behauptet hatte, der „Gedankenwerkstätte einer vom germanischen Rechtsgeiste in der Tiefe unberührten romanischen Doktrin“ entstamme und sich „mit jedem seiner Sätze“ nur „an den gelehrten Juristen“ wende, aber nicht „zum deutschen Volke“ spreche, so kann man sich auch heute noch diesem Urteil nicht ganz verschließen. Dabei geht es nicht mehr um nationalpolitische Identitätsprobleme, also um die Frage, ob mit der Rezeption eine Entfremdung zwischen Volk und Recht bewirkt worden sei, sondern darum, daß es mit der Verwissenschaftlichung des deutschen Rechtswesens zwangsläufig – wie in allen anderen Wissenschaften auch – zu
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einem Spannungsverhältnis zwischen Sach- und Laienverstand, zwischen gefühlsmäßiger und intellektueller Rechtsauffassung gekommen ist. Denn hier allein sind die Ursachen dafür zu suchen, warum den Juristen und ihren Künsten bis heute Weltfremdheit, Unverständlichkeit ihrer Fachsprache, übertriebener Formalismus, mangelnde Nähe zum Leben der Bürger und rabulistische Argumentationen angekreidet werden. Das hängt damit zusammen, daß es dem juristischen Laien nach wie vor nicht gelingt, allein mit dem gesunden Menschenverstand das gelehrte und wissenschaftlich durchgebildete Recht zu begreifen. Der Laie setzt sich vielmehr eigene Wertmaßstäbe. Recht erscheint ihm daher als dasjenige, was sein Gewissen als billig und gerecht empfindet. Für ihn ist folglich bei der Beurteilung eines Rechtsfalles in erster Linie das „Subjektiv-Menschliche“ und nicht, wie für den Juristen, „das Objektiv-Typische“ maßgebend. Der Jurist muß aber, so Gustav Radbruch, in der Lage sein, „alles Persönliche nach Kräften auszuschalten“, um einer am geltenden Gesetz orientierten überindividualistischen Rechtsanschauung Raum zu geben. Dazu bedarf es eines gründlichen Rechtsstudiums, das einem jungen, bisher in Gesinnungsaufsätzen geübten Studierenden nicht leicht fällt. So beklagte schon der frühromantische Jurastudent Wilhelm Heinrich Wackenroder (17731798), daß man in der Jurisprudenz „seinen kalten Verstand brauchen“ müsse, „wo Herzen gegeneinander stoßen“; und der Dichter Friedrich Hebbel (18131863), der 1836 in Heidelberg ein Rechtsstudium aufgenommen hatte, war der Ansicht, daß ein „jahrelanges Versenken in das Positive, wie es die Jurisprudenz fordere, […] einen Menschen, der Erfahrungen über das Höchste gesammelt habe, innerlich ertöten“ müsse. Der junge Jurist Goethe hatte wohl Ähnliches empfunden, als er im Werther schrieb, daß die Gesetze zwar von großem Nutzen für die bürgerliche Gesellschaft seien, aber „das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstören!“ Dort, wo es also zwischen dem Rechtsgefühl des Laien und dem juristischen Sachverstand zu Kollisionen kommt, entsteht Mißtrauen und Unwille gegen den methodisch geschulten Fachmann. Nun wäre es allerdings ein verhängnisvoller Irrweg, wollte man, wie der Chefjurist der Nationalsozialisten, Carl Schmitt, die Lehren und Entscheidungen eines, so Schmitt, „Typ[s] des Juristen“, der infolge der Rezeption des römischen Rechts „bis in jedes Atom seiner Existenz hinein […] umgebogen“ worden sei, zwar für juristisch richtig, aber dennoch für falsch halten, weil sie dem sog. gesunden Rechtsempfinden des Volkes widersprächen. Trotzdem sollte das Recht, wie der schon zitierte Germanist Reyscher gesagt hat, „soviel als möglich [das] Gemeingut aller“ sein, d. h., die Kluft zwischen dem gelehrten Recht und dem irrationalen Rechtsgefühl der Bürger sollte nicht unnötig tief werden. Dazu kommt es aber, ungeachtet einer Beteiligung juristischer Laien an der Gerichtsbarkeit, durch die Verwendung einer für die Allgemeinheit oft wenig verständlichen Fachsprache sowie durch eine praxisferne und auf die Spitze getriebene Begriffs- und Konstruktionsjurisprudenz. Gemeint ist der, um es kurz und scherzhaft mit den Worten R. v. Jherings zu sagen, „juristische Begriffshimmel“, also das „Reich der abstrakten Gedanken und Begriffe, die [sich] unabhängig von der realen Welt, auf dem Wege der logischen generatio aequivoca, […] aus sich selber herausgebildet haben, und darum jede Berührung mit der irdischen
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Welt scheuen“. Daraus resultieren gelegentlich Gesetze, Rechtsgutachten und Gerichtsurteile, in deren Vordergrund isoliert die juristisch-technische Bewältigung steht, ohne sonderliche Rücksicht auf wirtschaftliche und soziale Verantwortlichkeiten, und nicht selten auch ohne Gespür dafür, daß das Recht mit der historisch gewachsenen Kultur eines Volkes auf das engste verwoben ist. Das, was 1909 übertrieben und provozierend in der Deutschen Richterzeitung zu lesen war, enthält noch immer ein Körnchen Wahrheit. Es heißt dort: „Die Richter können nicht anders als schlecht urteilen, weil sie eben das Leben nicht kennen, weil sie […] juristische Haarspalterei üben, weil ihr Schreibtisch ihre Welt ist. Sie wissen nichts […] von den stillen und lauten Kämpfen um Religion, Sittlichkeit, Weltanschauung, […] nichts von Kunst [und] nichts von Literatur, […] – sie kennen nur ihre Paragraphen, und selbst diese legen sie nicht richtig aus“. Und 1912 erschien in der Juristen-Zeitung anonym ein spöttischer Artikel, worin der Reichstag aufgefordert wurde, ein „Gesetz gegen die Weltfremdheit der Richter“ zu verabschieden. Auch wenn heute unser Rechtswesen weitaus besser ist als sein Ruf, auch wenn dieses Rechtswesen vor allem durch das überragende Ansehen des Bundesverfassungsgerichts ein in der deutschen Rechtsgeschichte bisher unerreicht hohes Niveau erreicht hat, sollte ein Jurist von Format nach wie vor in der Lage sein, über die Mauern seiner engeren Profession zu blicken. Er sollte, wie es in einer Schrift Martin Luthers heißt, geschriebene recht[e] vnter der vernunfft hallten, daraus sie doch gequollen sind, als aus dem rechten brunne[n], vn[d] nit den brun an seyne flosslin bynden, vnd die vernunfft mit buchstaben gefangen furen. Vernünftiges juristisches Handeln setzt aber nicht nur gute Rechtskenntnisse, Methodensicherheit und Rechtspraxis, sondern auch eine über die Anforderungen des „PISA-Leistungstests“ hinaus gehende Allgemeinbildung sowie vor allem die Fähigkeit des Juristen voraus, sein Fachgebiet als Teil eines umfassenderen rechtskulturellen Prozesses zu begreifen. Denn das Recht ist keine Natur-, sondern eine in den Rechtstraditionen und im Wertebewußtsein der Bevölkerung wurzelnde Kulturerscheinung. Die jetzt angestrebte europäische Rechtseinheit verlangt folglich über das Technische und Nützliche hinaus nicht nur eine Absicherung in der eigenen, sondern auch in der gemeinsamen Rechtskultur. Und diese „Europäische Rechtskultur“ besteht ja, wie kürzlich der Wiener Rechtshistoriker Werner Ogris treffend gesagt hat, nicht allein aus „den viele Tausende von Seiten umfassenden Normen der EU, sondern in historisch gewachsenen Werten und Elementen“. Von diesen aber muß man etwas wissen, wenn man dem neuen Recht die Akzeptanz der Bürger und eine dauerhafte Grundlage verschaffen will. Versteht man daher mit Gustav Radbruch unter Rechtswissenschaft mehr als nur „jene Richtung […], die aus dem gesetzten Recht mit rein intellektuellen Mitteln ohne eigene Wertung die Antwort auf jede juristische Frage finden zu können meint”, dann wäre es ein folgenschwerer Fehler, die Geschichte des Rechts, die – man denke nur an die Rechtsprechung des Reichskammergerichts und des Reichshofrats – immer auch eine europäische ist, und alle anderen Grundlagenfächer wie Rechtsphilosophie oder Rechtssoziologie im Jurastudium zu vernachlässigen. Die Gefahr dafür ist heute freilich in einer wenig bildungsbewußten [Spaß-] Gesellschaft groß. Sie ist bereits mit der Einführung eines juristischen, auf die Fächer
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des geltenden Rechts konzentrierten Kurzstudiums, das nach acht Semestern mit dem sog. „Freischuß“ abgeschlossen werden kann, sichtbar geworden. Und sie besteht neuerdings, nachdem die Kultusbürokratie dazu übergegangen ist, die deutschen Universitäten zu Wirtschafts- und Wettbewerbsunternehmen umzugestalten, die primär dem ökonomischen Nutzen verpflichtet sein sollen. Denn Märkte gibt es nur für die Fächer der angewandten Naturwissenschaften, für Technik, für Informatik und allenfalls für bestimmte Gebiete der Wirtschaftswissenschaften. Demgegenüber bestehen die Produkte der geisteswissenschaftlichen Fächer überwiegend in Büchern und Zeitschriftenartikeln, für die es keinen Markt gibt, sondern deren Drucklegung der Subventionierung bedarf.
VI. Schlußbetrachtung Die Rechtshistoriker sollten sich daher in der Überzeugung, daß die Rechtsgeschichte im Verbund mit den anderen juristischen Grundlagenfächern überpositive Wertmaßstäbe vermittelt, daß die Rechtsgeschichte das rechtskulturelle Bewußtsein und Gewissen schärft, daß die Rechtsgeschichte die notwendige Distanz zur kritischen Beurteilung des geltenden Rechts schafft, daß die Rechtsgeschichte ein Gegengewicht zu einer positivistisch-dogmatischen Rechtsdoktrin bildet und insoweit dazu beitragen kann, den oft gescholtenen technokratischen Juristentypus zu verhindern und sie sollten sich ferner in der Gewißheit, daß eine „gesellschaftspolitisch verantwortungsbewußte Verwertung der fachspezifischen Kenntnisse nur dann zu“ erwarten „ist, wenn diese Kenntnisse in eine durch historische Forschung vermittelte Einsicht in die Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen von Recht [und von Unrecht] eingebettet sind“, weiterhin mit besonderem Nachdruck dafür einsetzen, daß ihr Fach im Kanon der juristischen Disziplinen erhalten bleibt. Denn letztlich geht es nicht nur um den fachmännisch ausgebildeten, sondern auch um den gebildeten, weitsichtigen und verantwortlich denkenden Juristen, der das Vertrauen der Bürger genießt und daher keine Juristenschelte zu befürchten braucht. Literatur Peter von Andlau, Libellus de Cesarea monarchia, Buch 2, Tit. 16, in: ZRG, Germ. Abt., 13 (1892), S. 163-209 Georg v. Below, Die Ursachen der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland (= Historische Bibliothek, 19. Bd.), München 1905 (Neudruck Aalen 1964) Peter Bender, Die Rezeption des römischen Rechts im Urteil der deutschen Rechtswissenschaft (= Rechtshistorische Reihe, 8. Bd.), Frankfurt/M./Bern/Las Vegas 1979 Nicolai de Bibera, Occulti Erfordensis Carmen satiricum, in: Theobald Fischer (Hrsg.), Erfurter Denkmäler (= Geschichtsquellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete), 1. Bd., Halle 1870; dort auch zur Person H. von Kirchbergs S. 160-172; Übersetzung v. Albrecht Rienäcker, in: Jahrbuch der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, Neue Folge, 7. Bd., Erfurt 1873, S. 1-101
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Wolfgang Sellert Helmut Conring, Römisches Recht in Deutschland (= Ius Romanum Medii Aevi, Pars V, 6), Mailand 1964 Georg Dahm, Deutsches Recht, 2. Aufl., Stuttgart 1963 Bernd Diestelkamp, „Rezeption und Römisches Recht“, in: Axel Görlitz (Hrsg.), Handlexikon zur Rechtswissenschaft, München 1972, S. 371-379 D. H. Dove, Die Unpopularität des Juristenstandes in Deutschland in: Deutsche Juristenzeitung (DJZ) 1902, S. 12 f. Wilhelm Ebel, Recht und Form, in: Probleme der deutschen Rechtsgeschichte, Göttingen 1978, S. 257-279 Johann Eckermann, Gustav Moldenhauer (Hrsg.), Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens, Bd. 2, 1828-1832, Leipzig 1884, Gespräch v. 6. April 1829 Gustav Ehrismann (Hrsg.), Der Renner von Hugo von Trimberg (= Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 247), Bd. 1, Tübingen 1908 Hans Erich Feine, Vom Fortleben des römischen Rechts in der Kirche, in: ZRG, Kan. Abt., 73 (1956), S. 1-24 Otto Franklin, Beiträge zur Geschichte der Reception des römischen Rechts in Deutschland, Hannover 1863 Günther Franz, Der deutsche Bauernkrieg, 11. Aufl., Darmstadt 1977 Johannes Fried (Hrsg.), Schulen und Studium im sozialen Wandel des hohen Mittelalters (= Vorträge und Forschungen, hrsg. v. Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte, 30. Bd.), Sigmaringen 1986 Johannes Fried, Die Entstehung des Juristenstandes im 12. Jahrhundert. Zur sozialen Stellung und politischen Bedeutung gelehrter Juristen in Bologna und Modena (= Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, 21. Bd.), Köln, Wien 1974 Erich Genzmer, Hugo von Trimberg und die Juristen, in: L’Europa e il diritto Romano. Studi in memoria di Paolo Koschaker, hrsg. v. A. Giuffrè, 1. Bd., Mailand 1954 Erich Genzmer, Kleriker als Berufsjuristen im späten Mittelalter, in: Etudes Le Bras II, 1965, S. 1207 ff. Dieter Giesen, „Rezeption fremder Rechte, in: Adalbert Erler u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 4. Bd., Berlin 1990, Sp. 995-1004 Louis Leonor Hammerich, Günther Jungbluth (Hrsg.), Der Ackermann aus Böhmen, 1. Bd., Kopenhagen 1951 Maximilian Herberger, „Juristen böse Christen“, in: A. Erler u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 2. Bd., Berlin 1978, Sp. 481-484 Ernst Hirsch, Die Rezeption fremden Rechts als sozialer Prozeß, in: Otto Strammer, Karl Thalheim (Hrsg.), Festgabe für F. Bülow zum 70. Geburtstag, Berlin 1960 Rudolf von Jhering, Geist des römischen Rechts, 1. Bd., 6. Aufl., Leipzig 1907 (Neudruck Aalen 1968) Adelbert von Keller, Edmund Götze (Hrsg.), Hans Sachs (= Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart, Bd. 201) Bd. 22, Tübingen 1894 Hans Kiefner, „Rezeption (privatrechtlich)“, in: A. Erler u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 4. Bd., Berlin 1990, Sp. 975-984 Bernhard Koehler, „Klagspiegel“, in: A. Erler u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 2. Bd., Berlin 1978, Sp. 855-857 Bernhard Koehler, „Laienspiegel“, in: A. Erler u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), 2. Bd., Berlin 1978, Sp. 1357-1361 Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, 4. Aufl., München, Berlin 1966 Hermann Krause, Kaiserrecht und Rezeption (= Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Klasse, 1. Abhandlung), Heidelberg 1952
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Wolfgang Sellert Roderich von Stintzing, Das Sprichwort „Juristen böse Christen“ in seinen geschichtlichen Bedeutungen, Bonn 1875 Otto Stobbe, Geschichte der deutschen Rechtsquellen, 2. Bd., Braunschweig 1864 Michael Stolleis, „Rezeption, öffentlichrechtlich“, in: A. Erler u. a. (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. 4, Berlin 1990, Sp. 984-995 Adolf Stölzel, Die Entwicklung des gelehrten Richtertums in den deutschen Territorien, 1. Bd., Stuttgart 1872 (Neudruck 1964), S. 1 Alexis de Tocqueville, Die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in Frankreich vor und nach 1789, in: Das Zeitalter der Gleichheit, Stuttgart 1954 Winfried Trusen, Anfänge des gelehrten Rechts in Deutschland (= Johannes Bärmann (Hrsg.), Recht und Geschichte, Bd. 1), Wiesbaden 1962 Paul Vinogradoff, Roman law in medieval Europe, 3. Aufl., Oxford 1928 (Neudruck Hildesheim 1961) Max Weber, Rechtssoziologie, 2. Aufl., Neuwied am Rhein, Berlin 1967 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., Göttingen 1967, S. 97203 Franz Wieacker, Zum heutigen Stand der Rezeptionsforschung, in: Erich Fries (Hrsg.), Festschrift für Joseph Klein, Göttingen 1967 Udo Wolter, Ius canonicum in iure civili (= Helmut Coing, Hans Thieme (Hrsg.), Forschungen zur neueren Privatrechtsgeschichte, 23. Bd.), Köln 1975 Eugen Wohlhaupter, Dichterjuristen, 3. Bd., Tübingen 1957.
Das Kallstadter Gerichtsprotokollbuch 1533-1563 Pirmin Spieß
A. Einleitung Als jüngste ihrer Veröffentlichungen legt die Stiftung zur Förderung der pfälzischen Geschichtsforschung1 das „Kallstadter Gerichtsprotokollbuch 1533-1563 bearbeitet von Hans-Helmut Görtz“ vor.2 Die Quelle selbst umfaßt 192 Textseiten. Der Bearbeiter hat mit einer sehr ausführlichen und eingehenden Einleitung von 80 Seiten und ausgiebigen Registern von 123 Seiten den Text weitgehend und mustergültig erschlossen, die grundsätzlich spröde und oft schwer leserliche Quelle damit zugänglich und verwertbar gemacht. Bei dem Kallstadter Gericht handelt sich um ein Dorfgericht, das ausschließlich zivilrechtliche Materien und Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit sowie Ehren- und Bagatelldelikte bearbeitete und zum leiningischen Territorium mit dem Verwaltungsmittelpunkt Hardenburg, später Bad Dürkheim, gehörte, und die beiden Nachbardörfer Ungstein und Pfeffingen mitumfaßte. Die Vorstellung dieses Dorfgerichtsbuches erscheint als Beitrag zu den prozeßgeschichtlichen Forschungen des Jubilars deshalb reizvoll, weil auf unterer erstinstanzlicher dorfgerichtlicher Ebene Prozesse greifbar werden, die es in die prozessuale Entwicklung einzuordnen gilt. Kallstadt hat nichts mit dem Reich3 zu tun noch mit den jüngeren pfälzischen Gerichtsordnungen des Jahres 1582,4 da allein bislang ununtersuchtes leiningisches Recht Geltung für die drei Dörfer in dem angesprochenen Zeitraum beanspruchen darf.5
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Die Stiftung wurde am 12. Dezember 1979 gegründet mit Sitz in Neustadt an der Weinstraße; bislang hat sie nach einer angemessenen Konsolidierungsphase ein Dutzend Publikationen vorgelegt. Stiftung zur Förderung der pfälzischen Geschichtsforschung, Reihe A: Pfälzische Geschichtsquellen Bd. 6, Neustadt an der Weinstraße 2005, LXXX, 328 S. Dem Band voraus geht ein Gerichtsprokollbuch der Jahre 1489-1532 und es folgt für die Zeit danach ein Gerichtsprotokollbuch der Jahre 1563-1740. Vgl. hierzu Adolf Laufs, Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 3), Köln, Wien 1976. Vgl. hierzu Bernd-Rüdiger Kern, Die Gerichtsordnungen des Kurpfälzer Landrechts von 1582 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 23), Köln, Wien 1991. Vgl. Ingo Toussaint, Die Grafen von Leiningen. Studien zur leiningischen Genealogie und Territorialgeschichte bis zur Teilung von 1317/18, Sigmaringen 1982; ders., die Grafschaften Leiningen im Mittelalter (1237-1467); Die Grafschaften Leiningen in der
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Pirmin Spieß
B. Eine Kallstadter Gerichtsordnung? Eine Prozeßordnung des Territoriums Leiningen ist bislang nicht bekannt. Das vorliegende Gerichtsprotokollbuch enthält auch keinerlei Normen für prozessuales oder materielles Recht. Im zeitlich anschließenden Gerichtsprotokollbuch 15631740 indes wird auf der Innenseite des Einbanddeckels eine „Gerichtsordnung Calstatt“ mitgeteilt,6 die folgenden Wortlaut hat: Item whan einer apellirt und seine acta umb das gericht begert umb costen, so soll der apellant dem gericht sein imbs geben und nach der zeit sein belonung, den somer tag anfangen uff Maria verkhundigung [25. März] bis sant Michaelis [29. September] iij albus und nachvolgens den wintertag ij albus und den gantzen tag costen, den halben tag den halben costen und soll sich der appellant mit den schreibe[rn] vertragen.7 Item wehr ettwas in dem gerichts buch begert zu suchen, ist dem gericht ij batzen [schuldig]. Item welcher ein Kuntschaft wille inschreiben, der gleichen ettwas will loßen lesen, ist jedes zwen batzen. Item welcher eine Einkintschaft aufgeschrieben wiell haben oder aber ein thalung8 oder abkauf, der soll sich mit dem gericht auch aller völligkeit vertragen. Item ein urtheil cost ij batzen, davon gebürt dem schulthißen ij d[enar]. Item ein clag cost iiij d; dem gericht ij d, dem schulthißen ij d. Item ein insatzung zwen batzen und zuerkhennen zwen batzen und dem büetel sein belonung, davon gebürt dem schulthißen iiij d. Item ein jeder, der seine rechte tag heist vor gericht, dem gericht ij d und dem schulthißen ij d. Item einem fürsprechen vj d, ob schon gleich wol die pharteien einen anderen mit in brechten, soll ehr nit desto weniger dem geschwornen fürsprechen die vj d geben. Item dem schulthißen gebürt von einer khundschaft – sie werde ingesschrieben oder nit – ij d und dem gericht ij d.
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Neuzeit, in: Willi Alter, Pfalzatlas, Bd. 1: Karten, Nr. 67 und 68 (vorl. Nr. 88 und 89) und Bd. 2: Text, S. 1056-1107, Speyer 1975 und 1977. Diese Nachricht verdanke ich der freundlichen Mitteilung von Herrn Dr. Hans-Helmut Görtz, der diesen Band ebenfalls bearbeitet und für die Drucklegung vorbereitet. D. h. dass der Appellant den Betrag, den die Schreiber als Lohn erhalten, mit ihnen auszuhandeln hatte. Zahlung? Mehr Sinn ergibt die Auslegung „theilung“ i. S. v. Erbteilung oder Grundstücksteilung.
Das Kallstadter Gerichtsprotokollbuch 1533-1563
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Diese Gerichtsordnung verdient ihren Namen nicht! „Gebührenordnung“ sollte sie sich nennen, da sie die Beträge ansetzt, die bei den verschiedenen Inanspruchnahmen des Gerichts zu zahlen sind. Immerhin finden sich auf diese Weise die Materien angeführt, mit denen sich das Kallstadter Gericht beschäftigt. Das sind: die Appellation, Zeugenaussagen, Einkindschaften, Erbteilungen, Kaufgeschäfte, Einsetzungen bei Grundpfandgeschäften, Festsetzen der „rechten tage“ (Gerichtstermine). Darüberhinaus werden Gerichtspersonen erwähnt wie Schultheiß, Büttel und Fürsprecher. Bei der Gebührenverteilung kam dem Schultheiß in etwa die gleiche Summe zu wie dem (übrigen) Gericht. Die Datierung der Gerichtsordnung muß offen bleiben. Warum ihre schriftliche Aufzeichnung – neue Gebührensätze? – erfolgte, mag dahinstehen. Dennoch wird mit ihr alter Gebrauch und Herkommen aufgezeichnet oder fortgedacht worden sein, so daß durchaus eine Kontinuität zu dem untersuchten Gerichtsprotokoll nicht ferne liegen wird. Es finden sich in dem Gerichtsprotokollbuch vielfältige Streitgegenstände, die überwiegend bürgerlichrechtliche Materien betreffen und Dinge behandeln, wie sie in einer bäuerlich strukturierten Gesellschaft anfallen können. Görtz hat die Streitgegenstände aller Prozesse samt Parteien zusammengestellt9 und ein eigenes Register „Streitgegenstände“ gefertigt.10 In den 30 Jahren, über die das Gerichtsprotokollbuch reicht, wurden 395 Prozesse geführt und 119 andere Einträge getätigt.11 Es dominieren die zivilen Streitigkeiten wie Forderungen, Schadensersatz, Eigentums- und Nachbarschaftsstreitigkeiten, erbrechtliche Probleme, Grenzstreitigkeiten im Dorf/den Dörfern und in der Gemarkung; es gab auch einseitige Anfragen bei Gericht um Klärung oder Beurteilung der Rechtslage, sog. „Weisungen“ und „freie urtel“; Zwischenurteile über den Fortgang des Verfahrens, Zulassung der Appellation, daneben begegneten auch die Ehre einer Person betreffende Prozesse über Schelt- und Schmähworte, geringe Körperverletzungen; schließlich gab es ein Verfahren über eine Einung.12 Delikte, die als „Frevel“ bezeichnet wurden, gehören entweder vor die leiningische Herrschaft oder wurden vom Kallstadter Gericht selbst entschieden. Kriterium für diese duale Verfahrensweise dürfte die Frage des schadensersatzrechtlichen Anteils und des strafrechtlichen Anteils am Frevel sein. Im Jahre 1538 urteilte das Gericht selbst über den Frevel, der
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Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. XVII-LII. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 318-321. Hierzu und zum folgenden: Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. XVI. Eingetragen wurden aber nicht allein Kurzprotokolle der gerichtlichen Verhandlungen, sondern auch Akte der freiwilligen Gerichtsbarkeit, 24 Ehe- und Einkindschaftsverträge, 10 Testamente/Erbverträge, 8 Übereignungen, 6 Kaufverträge, 4 Werschaftsleistungen, 8 Güterverpfändungen, 30 Pfandeinsetzungen in Güter, 5 Pfandablösungen, 17 Weisungen, 7 sonstige rechtliche Vorgänge; vgl. die Liste aller „sachen“ ebenda S. XVII-XLII. Es handelte sich um eine Waldeinung, Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 123, 18 ff. Der Einungsfrage wird hier nicht nachgegangen. In Kallstadt gab es Dorfmeister – ihre Kompetenz in Einungsfragen bleibt ununtersucht; es könnte möglicherweise ein Rechtsmittel gegen ihre „Rechtsfindung“ an das Dorfgericht geben.
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„erlegt“ werden muß samt den Gerichtskosten.13 1539 verhielt sich das Gericht bezüglich des Schadens ebenso, verwies aber wegen des darin enthaltenen Unrechtsanteils – es ging um einen umgehauenen Apfelbaum – an den Leininger Grafen.14
C. Präzedenzien Wird das prozessuale Geschehen Kallstadts, wie es in dem Gerichtsprotokollbuch zum Ausdruck kommt, gesichtet, so verweist der Text an einer einzigen Stelle auf die kaiserlichen Rechte und die leiningische Ordnung; die Passage steht im Zusammenhang mit der Appellation.15 Es wird gerichtlich die Zulässigkeit der Appellation gerechtfertigt (Jahr 1563). Andere Bezüge erscheinen nicht. Daher muß nach weiteren Zusammenhängen der prozeßgeschichtlichen Entwicklung gesucht werden. Der Prozeßverlauf des Kallstadter Gerichts läßt sich mit dem aus dem Stadtgericht Neustadt bekannten16 – auch andernorts17 auftretenden – Merkvers des Verfahrens kennzeichnen: Erstlich18 den beclagten cityer darnach dein clag formlich bring fyr dem beclagten geben werd mit füg uf sein begeren abschrifft und schüb denn krieg befest schweer fur geverde positz artickel mach von wird vermittelst des eidts bring die fyr daruf heyß anttwortt geben dir so die verneynt bitt dir zulon 13 14 15
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Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 26, 27 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 35, 26 ff. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 187, 21 f.: „dieweil formlich appelliren in kaißerlichen rechten, auch nach ordnung deß wolgebornen unsers gnedigen hern heilsamlich versehen unnd den beschwerten vergunt, das dem appellanten die appellation billich soll zugeloßen werden.“ Pirmin Spieß, Verfassungsentwicklung der Stadt Neustadt an der Weinstraße von den Anfängen bis zur französischen Revolution (Veröffentlichungen zur Geschichte von Stadt und Kreis Neustadt an der Weinstraße, Bd. 6), Speyer 1970, S. 159. C[arl] Blell, Der Oberhof der Freien Reichsstadt Speyer, in: Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag, Aalen 1976, S. 261. Übernommen von Kern, Gerichtsordnungen, S. 184 f. Von da bei Steffen Welker, Zweierlei Zivilprozesse. Der Einfluss der kurpfälzischen Untergerichtsordnung von 1582 auf die Gerichtsverfassung und das Gerichtsverfahren des Stadtgerichts Alzey (Südwestdeutsche Schriften), Mannheim 2005 (im Druck), Diss. Frankfurt. Überschrieben ist der Merkvers aus dem Neustadter Gerichtsprotokollband mit: „Ein kurtzer bericht wie inn recht procediert soll werden merck dieß nach volgentt reymen: nichtigkeit zuvermeyden“; Spieß, Verfassungsentwicklung, S. 159 Fn. 58.
Das Kallstadter Gerichtsprotokollbuch 1533-1563
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ein zeit dein bewerung zuthün doch on uberfluß protestier brieff und instrument nit verlür der zeugen sag laß offen recht inredde du beclagter ußsprecht in ir persone unnd in ir sage uff das was noitt yeder furtrage demnach beschließ zu recht gantz wol daruf der richter urteiln sol nach clag antwortt und zeugen sage davon man appelliren mag dan hat der erst rechtsstantt ein ende Gott alle krige zum frieden wende Amen.
Der Kallstadter Prozeßgang kann bereits als rezipierter Prozeß, wie er an den Rechtsfakultäten gelehrt wurde, charakterisiert werden. Im Jahre 1386 wurde die Universität Heidelberg gegründet, zwar zunächst ohne Juristenfakultät, doch wurde die Gründung der Fakultät bald nachgeholt. Es trat der Fachjurist zunehmend in Erscheinung und damit setzte die Phase der intensiven Auseinandersetzung mit dem fremden Recht, dem römischen und dem kirchlichen Recht ein. Die Rezeption des Verfahrensrechts hat den kanonischen Prozeß zum Vorbild, der der Rezeption des römischen materiellen Rechts gegenüber Vorrang beanspruchen darf.19 Vorbild für die Rezeption des Prozeßrechts könnte die Speyerer (kanonische) Prozeßordnung von 1260 sein,20 die neuerdings in einer handlichen Übersetzung von Friedmann vorliegt.21 Die Speyerer Prozeßordnung hat sehr große Verbreitung erfahren. Die fortgeschriebene Handschriftenliste Riedners hat 102 Handschriften ergeben22, 23 und zeigt damit das sehr weite Verbreitungsgebiet des kanonischen Prozeßrechts an, das auch beim weltlichen Richter Anklang fand und sich im profanen Prozeß durchsetzte. Später ist die Speyerer Prozeßordnung mehrmals gedruckt worden. 19
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Knut Wolfgang Nörr, Die Literatur zum gemeinen Zivilprozeß, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, Bd.1: Mittelalter (1100-1500). Die gelehrten Rechte und die Gesetzgebung (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte), München 1973, S. 383-397, hierzu S. 383 ff. Ediert von Otto Riedner, Die geistlichen Gerichtshöfe zu Speier im Mittelalter (Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Sektion für Rechts- und Sozialwissenschaft, H. 26), Bd. 2: Texte, Paderborn 1915, S. 3-48 Nr. 1: Das Speierer Lehrbuch des kanonischen Zivilprozesses [Ordo Iudiciarius Antequam sive Ordo Iudiciarius Spirensis]. Andreas Urban Friedmann, Die Speyerer Prozeßordnung [12. August 1260], in: Pirmin Spieß (Hrsg.) Palatia Historica. Festschrift für Ludwig Anton Doll zum 75. Geburtstag (Quellen und Abhandlungen zur mittelrheinischen Kirchengeschichte Bd. 75), Mainz 1994, S. 139-154. Pirmin Spieß, Ordo iudiciarius antequam, in: Spieß (Hrsg.), Palatia Historica. Festschrift für Ludwig Anton Doll, S. 162-200. Edition eines späteren Drucks Spieß, Ordo iudiciarius antequam, S. 214-226.
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Eine Drucklegung hat Peter Drach in Speyer zwischen 1477 und 1481 bewerkstelligt. Diese – mit der Prozeßordnung von 1260 im wesentlichen gleichlautende – Version liegt ebenfalls ediert vor.24 Einen Einfluß auf die leiningische Rechtsentwicklung legt schon der enge politische Bezug der Grafschaft zum Bistum nahe. Mehrere Leininger besetzten den speyerischen Bischofsstuhl. Im 13. Jh. amtierte Heinrich von Leiningen als Bischof von Speyer und als Reichskanzler.25 Im folgenden soll daher der Gerichtsprotokollband mit dem Verfahrensverlauf des Speyerer Prozesses verglichen und mit aller Vorsicht eine rezipierte Anwendung erfragt werden.
D. Gerichtstag und -ort Der Gerichtstag wird auch Jahrgeding genannt. Es wird Jahrgeding gehalten oder Jahrgericht,26 einmal nennt er sich Jahrgedingstag.27 Das Gericht in Kallstadt28 tagte jeweils an Dienstagen. Es gab jährlich drei ungebotene, d. h. festliegende Gerichtstermine:29 Dienstag nach Dreikönig – Dienstag nach St. Georg – Dienstag nach St. Bartholomäus. Kleine Ausnahmen wie der Ausfall eines Gerichtstermins (vor allem im Januar) mögen mit dem fehlenden Bedarf an diesen Tagen zusammenhängen. Diese drei ungebotenen Dinge lagen im wesentlichen schon im Weistum von Kallstadt, Ungstein und Pfeffingen des Jahres 1417 fest.30 Von den Dienstagsterminen gab es nur drei Abweichungen; insgesamt fanden 153 Gerichtstage31 in 30 Jahren statt, also wurden jährlich durchschnittlich fünf Sitzungen abgehalten. Hinzukamen die Aftergerichte, die an die Dingtage angehängt wurden zur Erledigung des angefallenen Prozeßstoffes, und die ungebotenen Dinge, d. s. die erkauften Gerichtstage. Wer mit seinem Begehren nicht bis zu dem nächsten ordentlichen Gerichtstag warten wollte oder
24 25
26 27 28
29
30
31
Spieß, Ordo iudiciarius antequam, S. 214-226, Kommentierung S. 201-213. Hans v. Malottki, Heinrich von Leiningen. Bischof von Speyer und Reichskanzler. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Reichskanzlei und des Bistums Speyer im 13. Jahrhundert (Münchener Historische Studien. Abteilung Geschichtliche Hilfswissenschaften 14), Kallmünz/Opf. 1977. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 286 mit allen Nachweisen. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 119, 13: 1552 April 26. Ursprünglich befand sich der Gerichtssitz in Pfeffingen, seit wohl 1489 dauerhaft in Kallstadt: Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. LXV und Ernst Merk, Heimatbuch des Edelweindorfes Kallstadt, Kallstadt 1952, S. 46. Zum Ganzen eingehend Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. LXIX-LXXII mit Auflistung aller Gerichtstage (Jahrgedinge) und teils ausführliche Stellungnahmen in der Einleitung. Merk, Kallstadt, S. 34 ff.: § 1 des Weistums. 1417 teilten sich die Grafen von Homburg und Leiningen die Ortsherrschaft über die drei Dörfer. Zur Ortsgeschichte Merk, Kallstadt, S. 17 ff., 22 ff. und Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. LXV ff. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. XVII ff.
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konnte, konnte sich einen Tag außerhalb der üblichen Ordnung wünschen, mußte dafür allerdings die Gerichtskosten aufbringen. Der Gerichtsort ist im Gerichtsprotokollbuch nicht überliefert. Merk meint, bis 1449 sei das Gericht an der Brücke nach Pfeffingen in unmittelbarer Nähe des Spielberges gehalten worden.32 Für das 16. Jh. kann das nicht mehr gelten; das Gericht wird in einem überdachten Raum mit eventuell offenen Seiten oder in einem Haus, dem Gemeindehaus oder Gerichtshaus, getagt haben.
E. Personen des Prozesses Die Akteure des Prozesses bilden die Parteien und der Richter, wobei noch ein oder zwei Prozeßvertreter hinzukommen konnten, sowie die Zeugen. Für die Führung des Protokolles bedurfte es eines Schreibers und eines Gerichtsboten, der die Anordnungen des Gerichtes ausführte. I. Der Kläger Kläger ist derjenige, der den Prozeß betreibt, um von einem anderen etwas zu erlangen. Der Kläger muß die Initiative ergreifen, sonst kann kein Verfahren zustandekommen. Er spricht den anderen, den Forderungsgegner, an, ist der Ansprecher, der Frager. So begegnen formelhafte Wendungen ‚nach Ansprach’ – das Wort kann sich sprachlich in Anspruch wandeln –, ‚nach Anspruch und Antwort’, ‚Anspruch und Begehren’, ‚Anspruch und Klage’.33 Da (private) Fehde und Selbsthilfe wegen der institutionalisierten staatlichen Gemeinschaft ausgeschlossen waren, mußte und konnte sich der Kläger der Hilfe des Gerichts bedienen, um sein Begehren durchzusetzen und zu vollstrecken. II. Der Beklagte Der Beklagte wurde auch „Antworter“ genannt. Auf ihn zielte der Kläger ab. Der angesprochene Beklagte34 war zur Reaktion verpflichtet; er konnte das Begehren des Klägers bejahen oder verneinen, aber eine Stellungnahme mußte er abgeben. Der Beklagte mußte sich einlassen, vor Gericht die Sache auszutragen. Das ist der Fortschritt eines jeden Gerichtszwangs. Es kommt ein Dialog in Gang zwischen Kläger und Beklagtem vor den Augen und unter Aufsicht des Richters, des Gerichts. Der Beklagte mußte grundsätzlich hinter dem „Richterstab“ des Kallstadter Gerichts sitzen.35 32 33
34 35
Merk, Kallstadt, S. 31, 45. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 321 stellt die Paarformeln zusammen. Die Nachweise für Kläger/Klägerin füllen im Register fast zwei Spalten, S. 288-289. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 259 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 136, 25 f.
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Auswärtige – Beklagte, aber auch Kläger – waren wohl wegen der Aufbringung der Gerichtskosten bzw. der Kosten für den (obsiegenden) Gegner gehalten, zur Sicherheit einen Bürgen zu stellen. Die andernorts übliche Kaution kannte das Kallstadter Gericht nicht. Das Erfordernis der Bürgschaft konnte ersetzt werden durch das Handgelübde der Klägerin (Gertraut), das an Eides statt abgegeben werden konnte.36 Die Bürgschaft konnte durch eine „Versicherung an Eides statt“ substituiert werden. III. Der Schultheiß Der Schultheiß saß dem Gericht vor, er war der Richter. „Der Richter hat gehört und weist zu recht“, „der Richter hat vernommen und weist zu recht“, „der Richter hat verstanden und spricht zu recht“, „der Richter hat verstanden und weist zu recht“.37 Der Schultheiß war, wie Görtz nachweisen kann,38 ein ausgebildeter Jurist. Die Schultheißenliste lautet39, 40 vor 1520 – 1531: von 1531 – 1545: vor 1551 – 1562: von 1562 –
Jeck Fiseler Caspar von Herrenburg gen. Baumann Cuntz Ebel Niclaß Mantel Wolff Ott Gabriel Baumann.
Für die Schultheißen Wolff Ott und Gabriel Baumann weist Görtz ein rechtswissenschaftliches Studium an der Universität Heidelberg für 1536 und 1551 nach. Er vermutet auch für Caspar von Herrenburg gen. Baumann ein juristisches Studium.41 Mit den gelehrten Richtern Hand in Hand ging die Ablösung der Vorstellung, daß der Richter nur das Verfahren leitet, die Hegungsformeln spricht, das Urteil von den Umstehenden, den Schöffen erfragt und das Urteil dann verkündet. Der gelehrte Richter kann als dominus litis bezeichnet werden, der mehr als die Laien rechtliches Verständnis und Denkweisen, rechtliche Begründungen beherrscht und formuliert. Der juristische Fachmann beschränkte seine Fähigkeiten nicht auf die Versammlungsleitung. Er stimmte mit ab, beredete mit den Schöffen die Rechtslage und war an der Urteilsfindung beteiligt. Die gelehrten Richter
36 37 38 39 40 41
Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 113, 23 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 326 geht den Formeln sorgfältig nach. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. LXVIII. So Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. LXVIII. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 136, 25 f.; 113, 17 ff.; 60, 25. Vgl. Gerhard Buchda, Art. Gelehrte Richter, in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 1. Aufl., Berlin 1971, Sp. 1477-1481; instruktiv Heinz Lieberich, Art. Gelehrte Räte, in: Erler/Kaufmann, HRG1 I (1971), Sp. 1474-1477.
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fanden sich zuerst in den geistlichen Gerichten42 und wurden dann auch in den weltlichen Gerichten zur Regel. 1551 wird Barth Becker als Unterschultheiß43 erwähnt und Peter Schramm,44 so daß es auch Unterschultheißen in Kallstadt gab. IV. Die Schöffen Sie bildeten zusammen mit dem Schultheißen das Gericht. Von 12 Schöffen, die dem Schultheißen „beigegeben waren“, berichtet Merk.45 Die Zusammensetzung des Gerichts wird ausdrücklich an keiner Stelle des Gerichtsprotokollbuchs mitgeteilt. Indes werden anläßlich einer Gerichtssitzung am 22. April 1561 alle Gerichtspersonen aufgezählt:46 Wolf Ott, Schultheiß und 11 Gerichtsschöffen: Jost Motz, Peter Schram, Best Fißler, Frantz Baißler, Hans Baur, Johannes Scheffer, Jacob Kintzen, Peter Schlauditz, Hanrich Heidloff, Peter Furster, Alban Bart.
Es konnte – bei einer Regelzahl von 12 Schöffen – durchaus eine Stelle vakant sein. Im Gerichtsprotokollbuch findet sich eine Passage, welche die Annahme eines Gerichtsschöffen wiedergibt und damit ersichtlich macht, wie die Schöffen zu ihrem Amt kamen: „Uff diesen tag ist Kappes Hanß zu einem gericht scheffen angenomen mit synen gelubd und yden gethan wie sich das geburt nach ordenung hie zu Kalnstadt.“47
Der Schöffe wurde aus den Gemeindsleuten oder gar aus den Amtspersonen der Gemeinde, gezogen, da er dort bereits seine Autorität hatte nachweisen können.48 So war Peter Schram auch Dorfmeister in Kallstadt.49 Görtz kann die Gerichtsleute bis auf einen den drei Ortschaften zuordnen; zwei kamen aus Kallstadt, sechs aus Pfeffingen und zwei aus Ungstein. Nach Merk besetzt Kallstadt vier Schöffenstühle.50 Den Schultheißen stellte Kallstadt, wobei auffälligerweise unter den Gerichtsschöffen der Schultheiß von Ungstein – Jost Motz – aufgeführt wird. Die (einzelnen) Orte – jedenfalls Ungstein und Kallstadt – haben noch Gerichtsfunk-tionen behalten. Im Weistum von 1417 wird die Zahl sieben für das Gericht über einen Festgenommenen genannt: 7 Schöffen und 14 Hübner, „der sollent me sin und nit 42 43 44 45 46 47 48 49
50
Buchda, Art. Gelehrte Richter, in: Erler/Kaufmann, HRG1 I (1971), Sp. 1478. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 114, 21 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 144, 21 und 182, 28 f. (für das Jahr 1558). Merk, Kallstadt, S. 42. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 171 Z. 30 ff. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 73, 22 f.: 1544 August 26. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 236 und S. 243 führt weitere Schöffen an. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 24, Fn. 3 (1560 März 12): Schramm ist in Personalunion Schöffe, Dorfmeister und Unterschultheiß. Merk, Kallstadt, S. 42.
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minner“.51 Einerseits handelt es sich im Weistum um ein Strafgericht, andererseits unterscheidet die Quelle Schöffen und Bauern, immerhin aber nennt das Weistum eine Mindestzahl von Schöffen, die nicht ohne weiteres verallgemeinert werden darf für unsere späte Zeit, in der die Zahl der Richter vermehrt wurde. Andererseits muß wohl nicht bei jedem Gerichtstag das Gericht vollständig versammelt sein. 1544 Mai 6 tagte beispielsweise das Gericht mit dem Schultheißen und 3 Schöffen.52 V. Der Anwalt Beide Parteien konnten einen privatrechtlichen Vertreter vor Gericht bevollmächtigen, einen Prozeßvertreter bestellen. Seit der 2. Hälfte des 15. Jh. hat sich der Parteivertreter als Grundelement im Zivilprozeß durchgesetzt.53 Da der Pfarrer von Großbockenheim den Abt zu Otterberg anwaltschaftlich (1549) vertrat,54 ist wohl davon auszugehen, daß jedermann eine Partei, hier den Kläger, zu vertreten befugt war. Anwälte kommen insbesondere bei auswärtigen und geistlichen Parteien vor. Klöster und Stifte wie das St. Martinsstift in Kaiserslautern,55 das Domstift in Speyer56 oder prozeßführende Adelige (z. B. Junker Werner von Zeiskam,57 Nagel von Dirmstein,58 Friedrich von Dalberg59) ließen sich ebenso vertreten – meist von ihren Amtsträgern – wie Juden oder Frauen, die sich vertreten lassen mußten, oder ein Stiefenkel; es konnten auch Vormünder auftreten (mompar). Unter den Anwälten gab es Berufsanwälte. So vertraten Jakob Beckelhaub oder Konrad Hoffmann eine ganze Reihe von Parteien. Zwischen 1551 und 1563 trat Beckelhaub 58 mal vor Gericht auf, sei es auf seiten des Klägers, sei es auf seiten des Beklagten, verschiedentlich wohl auch in eigener Sache. Die Nichterwähnung seiner Partei im Protkollbuch könnte indes auch darauf zurückzuführen sein, daß Beckelhaub wohl gerichtsbekannt agierte. Ein Bernhard Beckelhaub amtierte 1541 als Kammerbote am Reichskammergericht in Speyer, der 1558 von burgundischen Truppen ermordet wurde.60 Ob zwischen beiden ein Verwandtschaftsverhältnis bestand, muß offen bleiben. Konrad Hoffmann vertrat anwaltschaftlich Hans von
51 52 53
54 55 56 57 58 59 60
Merk, Kallstadt, S. 35 = Weistum § 4. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 68, 17 f. Gerhard Buchda, Albrecht Cordes, Art. Anwalt, in: Albrecht Cordes, Heiner Lück (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, 2. Aufl., Berlin 2005, Sp. 255-263. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 101, 15. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 109, 12 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 183, 15. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 113, 1 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 10, 28; 11, 7. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 123, 37. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 110 Fn. 1.
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Schriesheim und Caspar Becker aus Ladenburg gegen den Kallstadter Schultheißen Caspar Baumann.61 VI. Der Fürsprecher62 An einer Stelle begegnet das Wort Fürsprecher, an einer der „Vorsprecher“ und an einer dritten Stelle der synonym gebrauchte procurator. Mit letzterem ist der procurator von Kloster Höningen63 gemeint; er scheidet daher aus der Betrachtung aus. Der Fürsprecher kann als Vorgänger des Anwalts bezeichnet werden, indem er der Partei seine Hilfe vor Gericht bietet. Er paßt mehr in das formstrenge Verfahren des Spätmittelalters, als in das zu Kallstadt des 16. Jh., wo eine Partei den Fürsprecher reden ließ, dessen Worte sie dann billigen oder verwerfen und dann richtig stellen konnte.64 „Jost von Weilach hot loßen reden mit seinem vorsprech vor schulthes und scheffen“ (1549 August 27)65
lautet die Quelle. Folglich kannte ihn das Kallstadter Gericht noch und die oben angeführte (undatierte) Gerichtsordnung wies den Fürsprecher (noch) aus. Die Erwähnung in der Gerichtsordnung legt den Schluß nahe, daß es in Kallstadt einen amtlichen Fürsprecher gab. Da er als „geschworener“ Fürsprecher bezeichnet wird, heißt dies, daß er von Amts wegen den Parteien seine Hilfe anbot. Er schien eine Monopolstellung zu haben, da die Parteien – auch wenn sie einen anderen Fürsprecher mitbrachten –, dennoch 6 Denar dem geschworenen Fürsprecher zu entrichten hatten. Genetisch gesehen mag das Institut des Fürsprechers im 16. Jh. aber im Niedergang begriffen gewesen sein. Eine andere – eher exzeptionelle Stelle – kennt den Fürsprecher. In Sachen Hanß Vogt, Kläger, gegen Anthes Ebertzheimer, Beklagter, hat der Schultheiß „gut macht, vom richter uff zu stehen bey sein schwager, do mit sein schwager ein geschworn fursprechen zu nehmen, oder ein ander der im sein wordt thw, forther gescheen so vil recht ist.“66
1538 August 27 amtierte Schultheiß Caspar von Herrenburg gen. Baumann (bis 1545). Der Schultheiß konnte danach seinen Gerichtsvorsitz aufgeben, um selbst einer Partei vor seinen Schranken67 zum Recht zu verhelfen oder einen anderen 61 62 63 64
65 66 67
Z. B. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 60, 16 f. Er kommt in der Speyerer Prozeßordnung nicht vor. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 168, 22. Hierzu H. Winterberg, Art. Fürsprecher, in: Erler/Kaufmann, HRG1 I (1971), Sp. 13331337. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 101, 22. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 29, 9-13. Hierzu Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. LXXV Fn. 32: Stange hat sich im englischen Recht erhalten in bar = Stange. Der Anwalt, der vor Gericht auftritt, heißt barrister.
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suchen, der seinem Schwager half. Er konnte Rechtsbeistand leisten.68 Für diesen Fall konnte sich der Richter aus Befangenheitsgründen zurückziehen und einen anderen Schöffen dann zum Richter für die Zeit seiner Abwesenheit vom Gerichtsvorsitz bestellen. Die Hilfe im Prozeß für eine Partei überrascht dennoch, ist aber nicht außerhalb der Rechtsentwicklung: der Fürsprecher war kein Prozeßvertreter, sondern er sprach nur an Stelle der Partei. Zur Minderung der Prozeßgefahr verlangte die Partei nach einem Fürsprecher, der ihr vom Gericht gegeben wurde, doch nur für einen Gerichtstag, für eine Verhandlung. Er begleitete nicht den Prozeß als Ganzen. Er war kein spezifischer Parteimann, sondern half nur das Recht zu finden. Häufig übernahm ein Schöffe diese Aufgabe, „indem er vorübergehend die Gerichtsbank verläßt und an die Seite einer Partei tritt“.69 Kallstadt bietet ein Beispiel für diese Hilfefunktion allerdings nicht durch einen Schöffen, sondern den Schultheißen selbst, jedenfalls im Falle verwandtschaftlicher Beziehungen. VII. Die Zeugen Zeuge kann grundsätzlich jedermann sein.70 Der Zeuge bekundete Tatsachen. Eine Textstelle berichtet von dem Zeugnisverweigerungsrecht aus verwandtschaftlichen Gründen; „dieweyl der beklagte Jost Motz als nechster gesipter und frundt ist nit schuldig zugeben“;71 er muß nicht aussagen. Im vorliegenden Fall, in dem der Beklagte das Zeugnis verweigern darf, könnte es sich auch um eine Parteivernehmung handeln. Zudem stellte das Gericht seine Meinung unter den Vorbehalt abweichender Beurteilung durch den Landesherrn oder seinen Amtmann.72 VIII. Der Gerichtsschreiber Über den Gerichtsschreiber selbst macht das Protokollbuch keine Angabe. Namentlich ist also keiner bekannt. Der Protokollant schrieb entweder den Inhalt schon während der Gerichtsverhandlung ins Reine oder aber – wahrscheinlicher – er vermerkte sich die wesentlichen Dinge während des Verlaufs der Verhandlung, um sie dann danach in Ruhe in das Buch einzuschreiben. Görtz unterscheidet für die 30 Jahre 30 Schreiberhände73 und bildet die Schriftproben ab. Wenn Görtz feststellt, daß von 1533 bis 1545 die Schreiberhände ständig wechseln, aber von dann an bis 1563 im wesentlichen nur eine Hand protokollierte, dann ist überlegenswert, ob nicht ab diesem Zeitpunkt (1545) ein fest besoldeter Schreiber einge68 69 70
71 72 73
So Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. LXXVI. So wörtlich Buchda/Cordes, Art. Anwalt, in: Cordes/Lück, HRG2 I (2005), Sp. 256. Friedmann, Speyerer Prozeßordnung, S. 149 ff. Kap. XII; Spieß, Ordo iudiciarius antequam, S. 222 ff., cap. XII. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 64, 35-66, 1. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 65, 3 f. (1543 Mai 22). Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. LII mit anschließenden Kopien der Schriftproben.
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stellt wurde, während davor Schreibkundige der drei Dörfer wie Lehrer oder Amtsbedienstete einspringen und abwechselnd den Protokolldienst (wie ein Urkundsbeamter) versahen. IX. Der Büttel An einer einzigen Stelle wird der Büttel genannt,74 der die Ladung überbracht hat. Er ist der Gerichtsbote: „durch des geschwornen gerichts butel.“
F. Der Verlauf des Prozesses Das prozessuale Verfahren nahm seinen Anfang mit der Ladung, es folgen Kriegsbefestigung, Einreichen der Klage, Eid für Gefährde, Zeugenvernehmung, Beweiswürdigung und Urteil, Berufung. I. Die Ladung Der Richter lud den Beklagten vor. Wenn ihn Friedmann „Verklagten“ nennt, dann deshalb, weil seine Vorlage ihn als reus ausweist. Dies mag mit dem genetischen Zusammenhang von Straf- und Zivilprozeß zusammenhängen; in Kallstadt weist das Protokollbuch nur Zivilprozesse auf. Laden (citatio) ist das Herbeirufen einer Person zu oder vor Gericht.75 Mit der Ladung wurde der Prozeß bei Gericht anhängig, die Sache wurde rechtshängig. Die Ladung wurde vom Richter, also von Amtswegen vorgenommen. Der Büttel gebot dem Beklagten, vor Gericht zu erscheinen: „ins recht gebieten“,76 „gebieten lassen wie recht ist“,77 „geboten durch den Büttel78: „dieweil ime der putel bej guter tag zeit gepotten unnd ein creutz an die thur gemacht, das der beclagt dem cleger gerichtlich antwort zugeben schuldig sej.“79
Der Büttel (Bote, Ladungsbote, Gerichtsbote) hinterließ ein Zeichen seiner amtlichen Tätigkeit, er machte die Ladung publik, in dem er ein Kreuz an die Tür
74 75
76 77 78 79
Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 147, 35. Friedmann, Speyerer Prozeßordnung, S. 141 § 13; Spieß, Ordo iudiciarius antequam, S. 217 § 13. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 127, 28 und S. 130, 6 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 38, 34 und S. 136, 25 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 147, 35; 177, 8. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 177, 8 ff.
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malte oder schnitzte. Im Staatsarchiv Darmstadt wird ein Holzsplitter aufbewahrt, den der Büttel aus der Tür oder dem Tor des Geladenen herausgeschnitten hatte.80 Der Beklagte war verpflichtet zu erscheinen (Erscheinungspflicht); andernfalls erwuchsen ihm Nachteile. „Dieweil Hans Baum gebotten ist durch des geschwornen gerichts butel und nit erscheint, das er bilich den tag costen zu erlegen schuldig“.81
Er mußte die Gerichtskosten für den Tag, zu dem er (vor)geladen war, zahlen. Zudem gewährte die – notfalls nachzuweisende Ladung – dem Beklagten rechtliches Gehör. Die Ladung82 hatte mehrmals zu erfolgen oder mehrmals auf die eine Weise.83 Die Ladung mußte vorgenommen werden durch dreimalige Verkündigung mit je 14tägiger Frist oder effizienter durch eine peremptorische Ladung, d. h. beim ersten Antreffen wurde der Beklagte dreimal vorgeladen. Einwendungen gegen die Ladung, es sei Feiertag, ein anderes Gericht sei zuständig etc., waren möglich. Für Nichterscheinen gab es für den Beklagten nur zwei Entschuldigungsgründe, Krankheit und Herrendienst. Diese Gründe nennt auch die angezogene Stelle: „er brecht dan bey, das er durch hern oder leibs not nit hett kinnen erscheinen.“84 II. Die Klage Klage war ein Vortrag oder ein Schreiben des Klägers, das den Namen des Richters, des Klägers und des Beklagten enthielt und den Forderungsgrund angab.85 War die Klage schriftlich verfaßt, hatte der Kläger sie dem Richter einzureichen, der Richter stellte sie dem Beklagten zu, ließ sie ihm aushändigen. Der Beklagte hatte angemessene (20 Tage?) Zeit Bedenkzeit, ob er die Klage annehmen oder dagegen angehen wollte. Der Beklagte mußte wissen dürfen, was ihm vorgehalten wurde.86 Vor der Schriftlichkeit des Prozesses konnte die Klage auch mündlich vorgebracht werden. Zwei Stellen des Jahres 1544 weisen darauf hin:
80 81 82
83
84 85
86
Nach freundlicher Mitteilung von Friedrich Battenberg anläßlich eines Archivbesuchs. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 147, 34 ff. Vgl. Wolfgang Sellert, Art. Ladung, in: Erler/Kaufmann, HRG1 II (1978), Sp. 13361350. Friedmann, Speyerer Prozeßordnung, S. 141 § 14; Spieß, Ordo iudiciarius antequam, S. 217 § 14. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 147, 36 f. Friedmann, Speyerer Prozeßordnung, S. 144 §§ 31-34; Spieß, Ordo iudiciarius antequam, S. 219 §§ 31-34. Vgl. Winfried Trusen, Art. Klage, Kläger (kanonisches Recht), in: LexMA V (1999), Sp. 1190 und Jürgen Weitzel, Art. Klage, Kläger (germanisches und deutsches Recht), LexMA V (1999), Sp. 1190 f.
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„Uff ansproch Hansen von Schrießen [Schrießheim] und Casparn von Leyedenburgk [Ladenburg]“ Brüder als Kläger gegen den Schultheißen von Kallstadt, Caspar Baumann, Beklagten, „ob die klage und antwurt mit schrifften inzulegen, erkhent das gericht mit recht, das sie bey geprauch und altem herkhomen zu bleyben, es wers dan sach, das sie durch unsern gnedigen hern als oberhern wytter under richt wyrden“.87
Zur Entscheidung stand die Frage der Schriftlichkeit oder Mündlichkeit von Klage und Antwort. Das Gericht sagte nicht ausdrücklich, ob sie schriftlich oder mündlich zu erfolgen hatte, aber es verwies auf den (alten) Gebrauch und das Herkommen. Das kann nur bedeuten: mündliche Klage und Antwort genügten. Das Prinzip der Mündlichkeit scheint bei der Herleitung des Verfahrensrechts in einfachen überschaubaren örtlichen Verhältnissen das Hergebrachte zu sein. Schriftlichkeit kam erst mit dem gelehrten (kanonischen) Prozeß auf. Zudem wird aus dem Verweis auf die mögliche weitere Unterrichtung durch den Herrn, d. h. den Grafen von Leiningen, die erforderliche Schriftlichkeit gefolgert werden müssen, da dieser in Hardenburg oder Bad Dürkheim so weit entfernt war, daß die schriftliche Fixierung erforderlich schien. Ist diese Folgerung richtig, dann konnte also in Kallstadt um die Mitte des 16. Jh. die Klage (noch) mündlich vorgetragen werden. Eine weitere Stelle in demselben Verfahren scheint diese Auffassung zu bestätigen; die Passage stammt ebenfalls aus dem Jahre 1544, wonach das Gericht in der beschriebenen Sache kein Urteil abzufassen, zu fällen, gedachte: „dieweyl der richter urtheil zu verfaßenn nit bedacht, so erkhennt daß gericht zu recht, daß bede partheyen ire clagen unndt antwortten schrifftlich sollenn inlegen, unndt ziehen daßelbig ann oberhoffe.“88
Damit herrscht im Rückschluß auf die erste Stelle Klarheit: die Klage war mündlich eingereicht und das Gericht wollte keine Weiterung und kein Urteil geben (weil vermutlich der Schultheiß der Beklagte war) und verwies die Parteien an den Ober-hof. Dort aber waren Klage und Antwort(en) schriftlich einzureichen. Noch im Jahre 1555 wird Mündlichkeit als Grundprinzip des Verfahrens in einem anderen Fall greifbar. Die Parteien hatten die Schriftsätze (Abschrift der Klageartikel vor dem Richter publiziert) vorgelegt. Kläger war Konrad Hoffmann und Beklagter Christoph Baumann. Baumann weigerte sich des Lesens nicht. Hierzu entschied das Gericht, dann solle Konrad Hoffman auf seine Selbstkosten lesen lassen.89 Der Kläger war durchaus des Lesens kundig, weigerte sich aber die (neue) Schriftlichkeit zu akzeptieren. Dann sollte er, so das Gericht, sich auf seine Kosten die Antwort, die Einlassung des Beklagten, vorlesen lassen. In einem anderen Prozeßtermin vom selben Tag zwischen denselben Prozeßgegnern entschied das Gericht:
87 88 89
Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 73, 25 ff. und 74, 1 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 77, 11 ff. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 141, 34 f.: „so bilich Cunrat Hoffman uff sein selbs costen loßen leisen.“
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Pirmin Spieß „In sachen zwuschen Stoffel Baumann eins theils und antworter Cunrat Hoffman andertheils hatt der richter ir beide furtrag [Vortrag] verstanden und weiß zu recht, das Stoffel Baumann bilich muntlich antwort von Cunrat Hoffman annemen soll, dieweil bis her nie gebrauch gewesen, in federn zu reden.“90
In Federn zu reden, heißt schreiben mit Federkiel.91 Das Gericht verwies auf die bisherige Übung, den „Gebrauch“ und bemüht zur Begründung „billig“, i. S. von recht und billig (recht, gerecht), der Billigkeit entsprechend. Ergo liegt in Kallstadt in der Mitte des 16. Jh. die Grenze zwischen bisheriger Mündlichkeit und beginnender Schriftlichkeit! Das Gericht entschied weiter zur Verlesung der Klageartikel: sie sind mit ja oder nein zu beantworten und Konrad Hoffman sei schuldig, die Klageartikel lesen zu lassen; der Beklagte mußte insoweit die Schriftlichkeit akzeptieren.92 III. Die Streitbefestigung Die Streitbefestigung, die sog. litis contestatio, wird auch Kriegsbefestigung genannt.93 Der Prozeß nennt sich heute Rechtsstreit. Die Parteien haben Streit, tragen ihre Streitigkeiten aus, die auch martialisch als Krieg bezeichnet werden können. Entsprechend wurden Mitstreiter als Kriegsverwandte94 oder Mitkriegsverwandte95 bezeichnet. Bereits mit der Ladung geraten die Parteien in einen „stillen“ Kriegszustand, „der jederzeit in offenen Kampf umschlagen kann.“96 Die Parteien befestigten ihren Streit, manifestierten ihn, zurrten ihre Positionen fest, konnten danach nicht mehr von dem festgelegten Standpunkt abweichen. Die Parteien waren ernst entschlossen, die Klage durchzuführen. Nach Ablauf der Bedenkzeit fanden sich die Parteien erneut vor Gericht ein; die Streitbefestigung war die erste Vorbringung des Streitfalles vor dem zuständigen Richter. Zugeben des Beklagten oder Leugnen des Beklagten bedeutete die Befestigung des Streites. Alle Einreden mußte der Beklagte vorbringen, sonst wurde er nicht mehr damit gehört. „Dweil bede theil litem contestirt“ haben;97 „der cleger den krieck befestigt“;98 „dieweil der beklagt den krieg befestiget“.99 Es konnte zum Fortgang des Prozesses gerichtlichem Ermessen nach genügen, daß die eine Partei den Krieg befestigte. 90 91 92 93
94 95
96 97 98 99
Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 142, 1-4. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. LXXVI. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 142, 24-32. Friedmann, Speyerer Prozeß, S. 145 Kap. VIII; Spieß, Ordo iudiciarius antequam, S. 219 cap. VIII. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 19, 12 f., 24. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 6, 6; 16, 7; 74, 21 ff.; 79, 8, 12; 105, 14; 121, 35; 190, 18, 27, 33. So Sellert, Art. Ladung, in: Erler/Kaufmann, HRG1 II (1978), Sp. 1336. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 51, 38 f. (1541 August 30). Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 40 f. (1540 Januar 27). Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 40, 31.
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IV. Der Gefährdeeid oder Kalumnieneid100 Er war unmittelbar nach der Streitbefestigung zu leisten und er war ein promissorischer Eid: „In sachen zwuschen Christoffel Bauman cleger an einem gegen und wider Conrat Hoffman beclagter andertheils, betreffen ein eid fur geverd, hatt der richter verstanden: dieweil der kriegk befestig[t], erkent der richter mit recht, das der cleger und der beclagt als bald den eid für geverd thun soln noch vermog der rechten, als dan wan das geschicht, wellen die parthej in recht fur farn, sol gehort werden und forther geschehen was recht sein wurdt.“101
Der Richter konnte nach seinem Ermessen von dem Erfordernis der Eidesleistung absehen. Der Sinn des Gefährdeeids102 bestand darin, daß die Parteien calumnia meiden sollten; er diente der Vermeidung unredlicher Prozeßführung. Calumnia ist die falsche Forderung oder Klage, der Eid ist der Schwur bona fide und sine dolo, guten Glaubens und ohne Arg soll der Kläger klagen bzw. der Beklagte sich verantworten. Die Parteien schwörten, gerechte Klage- bzw. Weigerungsgründe zu haben. Fünf Punkte machten den Gefährdeeid aus: Streit sei gerecht – Klage wahr – Bestechung liege nicht vor – keine falsche Aussage – keine Prozeßverschleppung. Leistete der Kläger den Eid nicht, konnte die Klage nicht weiterverfolgt werden: „In irungen zwuschen Jacob Beckelhaub cleger an einem unnd Philips Wars beclagter andertheils, betreffen ein eid vor gefer, hat der richter verstanden und weiß zu recht, das Philip Warß den eid vor gefer uff diese clag zuthun nit schuldig“.103
Leistete der Beklagte den Eid nicht (oder wurde er ihm versagt), dann wurde er als der Klage überführt angesehen. V. Aussagen und Einlassungen der Parteien Jetzt erfolgten die Befragung des Klägers und des Beklagten nach Sachverhalt und Begründung. Die Parteien ließen sich zur Sache ein. Klagartikel104 (Positionsartikel) wurden durchgesprochen. Was ist der rechtliche Grund der Klage, wie Kauf, Erbschaft, ist die Forderung bezahlt oder nicht.105 Die Anwälte der Parteien hatten, 100 101 102
103 104 105
Hierzu Sellert, Art. Kalumnieneid, in: Erler/Kaufmann, HRG1 II (1978), Sp. 566-570. Görtz, Gerichtsprotkollbuch, S. 145, 3 ff.; 142, 27. Friedmann, Speyerer Prozeßordnung, S. 146 Kap. IX; Spieß, Ordo iudiciarius antequam, S. 220 cap. IX. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 185, 28-30. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 17, 1; 141, 4; 146, 6. Friedmann, Speyerer Prozeß, S. 147 f. Kap. X; Spieß, Ordo iudiciarius antequam, S. 221 f. cap. X.
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falls welche bestellt waren, die Fragen zu formulieren. Was der Beklagte zugestand, gilt als bewiesen, wurde als bewiesen angesehen. Bei Leugnen ging der Prozeß in die Beweisstation. Die Beweislast lag bei der Partei, welche ihr günstige Tatsachen behauptete, die aber von der Gegenseite bestritten wurden. Der Grundsatz wird nicht ausdrücklich formuliert, ergibt sich aber aus dem Protokollgeschehen. VI. Der Beweis Mit dem Beweis (probatio) einer Behauptung mußte die Partei das Vertrauen des Richters zu einem umstrittenen Sachverhalt herstellen.106 Es gab 6 Beweisarten:107 durch offensichtlichen Sachverhalt und durch körperliche Untersuchung, durch den Ruf (fama), durch eidliche Aussage, durch Zeugen, durch Urkunden, durch Vermutung.
In Kallstadt wurde der Zeugenbeweis,108 auch „Kundschaft führen“109 genannt, häufig gebraucht. Das Gericht erließ das Beweisurteil, nach dem der Zeuge/die Zeugen zu hören ist/sind. „Annsproch und antwort Ziliocks Kauben von Wachenhem cleger an einem und entwort Bechtels Wolff der jung andertheils, hat das gericht ir beide furtrag und recht satzung wol verstanden und erkent zu recht, das dem cleger die kuntschafft bilich zugeloßen werden soll,“110 „das gericht hat gehört und erkennt zu recht.“111
Der Zeugenbeweis konnte schriftlich sein,112 mußte es aber nicht. Die Gerichtsordnung spricht von „khundschaft,“ „sie werde ingeschrieben oder nicht“. Auch im Wege der Amtshilfe konnten Zeugen aussagen und ihre Aussage verwertet werden. Das beanspruchte Gericht stellte über die Vernehmung einen Kompaßbrief aus.113 106
107 108
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110 111
112 113
Friedmann, Speyerer Prozeß, S. 148 f. Kap. XI; Spieß, Ordo iudiciarius antequam, S. 222 cap. XI. Friedmann, Speyerer Prozeß, S. 148 § 51. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 50, 16; 65, 36; 71, 2; 98, 38; 105, 15; 122, 1; 181, 13, 18. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 13, 25; 32, 13; 64, 17; 71, 29; 76, 5; 77, 23, 26; 81, 28; 82, 10; 167, 18 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 34, 31-34. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 10, 13 f.; 35, 33 f.; 51, 37 f.; 52, 9 f.; 54, 7 f.; 57, 20 f., 33; 75, 8 f.; 78, 7 ff. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 149, 16 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 148, 5 f.
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Der Augenschein (offensichtlicher Sachverhalt) wurde oft vorgenommen, da Dörfer und Felder dem Gericht übersichtlich die Möglichkeit bieten, sich durch eigene Wahrnehmung seine eigene Überzeugung zu bilden. „… hat das gericht besichtigen und uff dem augen schein gewesen, erkent ein erbar gericht mit recht“.114 „… ist der richter uff den augen schein gewesen“;115 „erkennen und sprechen wir zu recht noch aller besichttigung und augen schein“.116
Auch der Urkundenbeweis erfreute sich reger Übung. Verschreibung,117 „briff und schein“118, sowie das „Bed buch“, in dem die Grundsteuer eingetragen wurde, wurden angezogen.119 Die Beweiswürdigung schloß sich an das Beweiserbringen an. VII. Das Urteil – ein Beispiel Das Urteil beendete das Verfahren oder führte es als Zwischenschritt (Zwischenurteil) weiter.120 Entscheidungen des Gerichts mochten auch – modern ausgedrückt – als „Beschluß“ oder „Verfügung“ des Gerichts benannt sein. Um die Vielfalt und Buntheit eines Prozesses mit seinen zahlreichen Entscheidungen zu veranschaulichen, sei ein Prozeß herausgegriffen, bei dem sich versierte Juristen und hartnäckige Parteien nichts schenkten: 1. Schritt Christoph Baumann – möglicherweise aus der Schultheißenfamilie Baumann – und Konrad Hoffmann – der Anwalt – führen gegeneinander einen Rechtsstreit. Baumann klagt gegen Hoffmann eine „abschrifft betreffen“121 am 1556 Juni 9. Der Richter weist zu recht, daß der Kläger „die abschrifft der clag artickel unnd rechten tag biß zum nechsten gericht dem beclagten schuldig zuzu loßen.“122
Baumann muß die Abschrift der Klageartikel durch den Beklagten erlauben.
114 115 116 117
118 119 120
121 122
Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 101, 2 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 103, 25. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 103, 31. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 45, 26, 32; 57, 3; 73, 18; 146, 18; 149, 34; 150, 30; 172, 20. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 126, 16 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 46, 35 f.; 75, 18 f. (Morgenbedbuch). Hierzu Friedmann, Speyerer Prozeßordnung, S. 152 f. Kap. XIV; Spieß, Ordo iudiciarius antequam, S. 225 cap. XIV. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 141, 6 ff. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 141, 8 f.
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2. Schritt Am nächsten von Hoffmann erkauften Gerichtstag123 erhebt Hoffmann Klage gegen Baumann, der in Freinsheim wohnt, wegen einer Bürgschaft. Da Baumann ein Auswärtiger ist, muß er Sicherheit stellen in Form einer Bürgschaft. Das Gericht weist zu recht: Baumann muß dem Hoffmann einen Bürgen stellen: „hatt der richter verstanden und weist zu recht: dieweil Stoffel Bauman nit hinder dißen richter stab seßhafftig, sol er bilich dem cleger ein burck ins recht stellen.“124
3. Schritt Konrad Hoffmann und seine Kriegsverwandten – ob dies die Bürgen, die er gestellt hat, sein können? – fordert betr. Lesens der Klageartikel, „hatt der richter clag und antwort gehort und weisen zu rechtt“. Weil auch Konrad Hoffmann eine Abschrift der Klageartikel eingereicht und vor dem Richter publiziert hat und auch der Kläger Baumann sie zu lesen sich nicht weigert, soll auch Hoffmann auf seine Kosten lesen lassen.125 4. Schritt An demselben, zweiten und von Hoffmann erkauften Gerichtstag, urteilt das Gericht, daß Baumann die mündliche Antwort von Konrad Hoffmann annehmen soll, „dieweil biß her nie gebrauch gewesen, in federn zu reden“.126
123
124 125 126
Dieser Termin fiel seltsamerweise auch auf Dienstag, den 9. Juni. Zwei Gerichtstermine unter derselben Tagesangabe bedürfen der Erklärung, Görtz, Gerichtsprotkollbuch, S. 140 und 141: Gerichts tag gehalten uff Dinstag noch Corporis Christij anno LVI. Da Fronleichnam im Jahre 1556 auf Donnerstag nach Trinitatis (d. i. der 4. Juni) fiel, ist der Dienstag danach mit 9. Juni richtig bezeichnet. Der andere Termin am selben Tag wird überschrieben: Gekaufft gericht uff Dinstag nach Medardj anno LVI. Medard wird am 8. Juni begangen. Da der 8. Juni auf einen Montag fällt, ist auch dieser Termin mit 9. Juni zutreffend beschrieben. Nun ist es aber so gut wie ausgeschlossen, daß dem Gerichtsschreiber solche lapidare Fehler unterlaufen. Ein näheres Hinsehen erhellt, daß die ganze Zeile des ersten Termins – am Rande eingetragen – vielleicht nachgetragen ist (Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 140 Fn. h). Da kann der Fehler liegen. Der Eintrag am Rande wurde vielleicht irrig gesetzt. Entfiele der Termin ganz, dann hätte die erste gerichtliche Auseinandersetzung der Parteien bereits am 12. Mai 1556 begonnen. Warum sollte Hoffmann auch einen Gerichtstermin kaufen, wo doch an diesem Tag regulär Gericht gehalten wird? Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 141, 18-21. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 141, 30-35. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 142, 1-4. Das Formerfordernis der Schriftlichkeit wurde bei der Klage diskutiert.
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5. Schritt In der Sache Baumann gegen Hoffmann wegen „eid fur gefer und clag artickel zu leßen zu loßen und zuvor antwort mit ja oder nein“
weist der Richter zu recht, daß Baumann den Hoffmann die Klageartikel lesen lassen und mit ja oder nein antworten soll, wie sich auch Hoffmann erboten hat, dies zu tun. Daher soll Hoffmann den Gefährdeeid nicht zu leisten schuldig sein.127 6. Schritt [geht doch rasch!] Die Parteien streiten weiter um die Ablegung des Gefährdeeids: „hatt der richter verstanden: dieweil der kriegk mit nit gesten befestigt[t], erkent der richter mit recht, das der cleger [Baumann] und der beclagt [Hoffman] als bald den eid für geverd thun soln noch vermog der rechten, als dan wan das geschichte, wellen die parthej in recht fur farn, sol gehort werden und forther geschehen was recht sein wurdt.“128
7. Schritt 1557 Januar 12 streiten die Parteien um die Tageskosten. „… hot der richter verstanden: dieweil beide parthej vormolß uff die clag artickel darzu und darvon zuthun haben gehapt, so erkent der richter mit recht, das der cleger [Baumann] uff dis mol kein tag cost schuldig zu erlegen.“129
8. Schritt In demselben Rechtsstreit: „betreffen die kuntschafft zu eroffnen, hot der richter vernumen und weisen wir zu recht, das die kuntschafft sollen bilich geleßen werden. Will dan Conrat biß zum nechsten gericht kuntschafft furen, sol gehort werden, forther gescheen was recht sein wurdt.“130
Die Zeugenaussagen, d. h. das Beweisergebnis, soll offengelegt werden und falls Hoffmann will, kann er weitere Zeugen vorbringen.
127 128 129 130
Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 142, 26-32 (1556 August 4). Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 145, 3-8 (1556 August 25). Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 146, 4-7. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 149, 7-11 (1557 Mai 18).
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9. Schritt Die Parteien streiten um die Kosten für einen Tag: „… hat der richter ir forderung verstanden, so weisen wir zu recht: dieweil sich Conrat Hoffman berufft, schrifftlichen kuntschafftt bey sitzende gericht dar thun sol etc, als dan wa[n] das geschicht, so sol er den tag costen nit schuldig sein zu erlegen.“131
Das Gericht trifft eine feststellende Entscheidung für die Zukunft. 10. Schritt Auf demselben Gerichtstag entscheidet das Gericht in Sachen Baumann gegen Hoffmann: „dieweil Conrat Hoffman dilation biß zum nechsten gericht, sich der inbrocht ernewerung zu erlernen, begert, das im bilich zu geloßten werden sol sampt begert der abschrifft.“132
Der Betreff wird nicht mitgeteilt; ob es sich bei der Erneuerung um das Schriftlichkeitserfordernis handelt? 11. Schritt In Sachen Baumann gegen Hoffmann wegen der Tagkosten: „hat der richter verstanden und weist zu recht, das Conrat Hoffman dem Stoffel Bauman den tag costen nit schuldig zu erlegen, dieweil Conrat Hoffman dem vorigen urtel ein genug gethun hott mit etlich verschreibung.“133
Hoffmann hat zwar nicht bezahlt, aber eine Verpfändung vorgenommen und damit seine Schuld erfüllt. 12. Schritt In Sachen Baumann gegen Hoffmann eine „dilation [Aufschub, Verschiebung] betreffen, hot der richter ir beide furtrag wol verstanden und weist zu recht, das Stoffel Bawman nitt schuldig, die dilation zu zu loßen, dieweil er vormolß dilation begert hat laut des vorgesprochene urtel und auch alle ingelagt artickel ein abschrifft hat.“134
131 132 133 134
Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 149, 14-18 (1557 August 31). Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 149, 25-29 (1557 August 31). Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 149, 30-34 (1557 August 31). Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 150, 23-27 (1558 Januar 11).
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13. Schritt In Sachen Baumann gegen Hoffmann geht es – erstmals – um einen Acker. Es könnte sich um die „Verschreibung“, ein Pfandgeschäft handeln, das im 11. Schritt angesprochen wurde. „hat der richter clag und antwort, auch etlich kuntschafft und verschreibung verlesen, auch seiner eigen erkentnus zu guter moßen verstanden, so sprechen und weisen wir zu recht, das Conrat Hoffman uff diß mol nit gnugsam bey brocht hab, den strettigen flecken in der Wurmbser stroß belangen.“135
14. Schritt Hoffmann will den Prozeß vor den Grafen von Leiningen bringen: „Conrat Hoffman heist sein rechten tag gegen Stoffel Bawman vor unsern gnedigen hern hier zwuschen nechsten gerichts tag.“136
15. und (vorläufig) letzter Schritt Die Parteien Baumann und Hoffmann streiten um die „abhei[sh]hung vor unsern gnedigen hern von Leyningen, hatt der richter ir forderung gnugsam verstanden, so weißen und sprechen wir zu recht, das Stoffel Bawman bilich die abheischung hinder unsern gnedigen hern von Leyningen zuzuloßen schuldig ist.“137
Baumann wird verurteilt, mit der Berufung des Beklagten an den Grafen von Leiningen einverstanden zu sein. Die 15 Schritte zeigen die notwendige Vielfalt des Prozeßverfahrens und auch die Befugnis des Gerichts, das Verfahren in festen Händen zu halten. Der Prozeß dauert von 1556 bis 1558. Allerdings können an einem Gerichtstag mehrere Entscheidungen gefällt werden. So werden am letzten Verhandlungstag allein vier gerichtliche Schritte unternommen und drei Urteile in derselben Sache gesprochen. Das Verfahren zeigt auch die verschlungenen Pfade auf, welche die Parteien gehen können. Das materielle Recht kann leider nicht genügend aufgehellt werden, weil die Eintragungen in das Protokollbuch dafür zu wenig hergeben.
135 136 137
Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 150, 28-32 (1558 Januar 11). Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 151, 7 f. (1558 Januar 11). Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 151, 9-13 (1558 Januar 11).
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IIV. Der Oberhof138 Oberhof meint grundsätzlich ein höheres Gericht, dem mehr Autorität zukommt als dem anfragenden Gericht. Der Rat des höheren Gerichts wird grundsätzlich als eigenes Urteil verkündet.139 Der Oberhof wird als Rechtsbelehrungs- und Rechtsauskunftsstelle bezeichnet.140 1529 wird nach Merk der Oberhof Kallstadt erstmals erwähnt.141, 142 Wegen der Bedeutung der Frage, ob das Kallstadter Gericht Oberhof war oder nicht, werden alle Oberhofurteile angezogen. Einmal wird der Oberhof erwähnt, ohne daß es sich um ein Oberhofurteil handelt: so urteilt das Gericht, „dieweyl der richter urtheil zu verfaßenn nit bedacht, so erkhennt daß gericht zu recht, daß bede partheyen ire clagen unndt antwortten schrifftlich sollenn inlegen, unndt ziehen daßelbig ann oberhoffe.“143
Dagegen wird in zwölf Stellen des Kallstadter Gerichtsprotokollbuchs eine Beziehung des Kallstadter Gerichts zum Oberhof angesprochen und der Bezug daher im Praesens dargestellt. 1. Gerichtstage 1533 Februar bis Mai In der Sache zwischen Creutzhennen von Hessheim und Wolf Müller von Lambsheim fällt nach dem Weisenheimer Urteil erster Instanz, mit dem durchaus, wie Görtz144 meint, Weisenheim am Sand gemeint sein wird, das Kallstadter Gericht fünf Urteile im Jahre 1533 am 11. Februar, 6. Mai und 17. Mai. Nur im ersten Urteil bezeichnet sich das Gericht als Oberhof, allerdings ausdrücklich und präzise: „erkennen wir in crafft unsers oberhoffs, das der appellant Wolff Müller inn den nechsten dreyhen Gerichtstag nocheinander fallend billich erscheinen soll, noch überlüfferung der acten.“145 138 139
140
141
142 143 144 145
Die Speyerer Prozeßordnung kennt einen Oberhof nicht. Vgl. Weitzel, Art. Oberhof, in: LexMA VI (1999), Sp. 1331 f.; Dieter Werkmüller, in: Erler/Kaufmann, HRG1 III (1985), Sp. 1134-1146. Das „Ausheischen“ ist wohl keine, wie Werkmüller, in: Erler/Kaufmann, HRG1 III (1985)Sp. 1140 meint, Ingelheimer Besonderheit. Heischen bedeutet fordern, verlangen, betteln. Vgl. Adalbert Erler, Der Oberhof zu Neustadt an der Weinstraße. 2 Bde. (Frankfurter Wissenschaftliche Beiträge. Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Reihe, Bde. 23 und 24), Frankfurt/M. 1968 und 1971. Im Stadtarchiv Neustadt harren noch weitere Oberhofurteile der Edition. Merk, Kallstadt, S. 45. Als Quelle gibt Merk das Kallstadter Gerichtsprotokollbuch von 1489 an. Der Oberhof habe bis zum Ausbruch der französischen Revolution bestanden. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. LXXVII f. handelt den Oberhof ab. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 77, 12 ff. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. LXXVII. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 1, 7.
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Mit dem anderen Urteil „weist das Gericht“,146 daß Wolf Müller im Falle seines Nichterscheinens die Tageskosten zu erbringen hat, es sei denn, es hindere ihn Herrendienst oder Krankheit. Im dritten Urteil „spricht“ das Gericht „zum rechten“,147 das vorhergehende Urteil wiederholend, daß Wolff Müller mit seinen Entschuldigungsgründen gehört werden soll, falls er sie „bey bestes gericht“148 (bestes Gericht = bestehendes (?) = tagendes = sitzendes Gericht) beibringt. Im vierten Urteil „spricht“ das Gericht „zum rechten“,149 Wolff Müller solle dem Creutzhennen auf seine Klage Rede und Antwort stehen. Im fünften Urteil zwischen denselben Parteien „weist“ das Gericht „zu recht“,150 daß dem Wolff Müller die Abheischung an den gräflichen Amtmann, erlaubt – „vergunt“ sein soll. Die Berufung wurde zugelassen. Das Gericht erlaubt es, das Verfahren aus dem bisherigen Gerichtsstab, der bisherigen Gerichtszuständigkeit, herauszunehmen. Zuständig für die Berufung ist der leiningische Amtmann auf Hardenburg. 2. Gerichtstag 1535 April 27 In dem Prozeß zwischen Klaus Futtersack, Schultheiß in Erpolzheim,151 und Jeck Zwilling aus Herxheim urteilt das Gericht: „wyßen wir auß vorroidt unßers oberhoiffs zu Kalstadt“.152
Das Kallstadter Gericht bezieht sich nur auf den Rat des Oberhofs in dieser Sache. 3. Gerichtstag 1536 April 25 Vergleichbar formuliert auch das nächste Urteil. In Sachen Sechenhansen von Kleinkarlbach gegen Christman Mathes Kleinkarlbach „weist“ das Gericht „mit vor roith unsers oberhoiffs zu Kalstadt“.153 4. Gerichtstag 1536 November 14 Ebenfalls vergleichbar in der Formulierung lautet das nächste Oberhofurteil: in der Sache Clauß Miller gegen den Schultheißen von Kallstadt Caspar Herrenburg gen. Baumann „wisen wir uf vorrodt unsers oberhofs zu recht“154 146 147 148 149 150 151 152 153 154
Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 1, 27. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 2, 9. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 2, 9. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 2, 26. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 2, 31. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. XXVII. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 9, 8. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 14, 23. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 18, 24.
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Bei dem Urteil wird am Rand vermerkt: „Hof urtheyl“.155 Es wird der Oberhof mit „Hof“ bezeichnet. 5. Gerichtstag 1540 November 2 Auch in der Sache Ziliox Kaub namens seiner Hausfrau Agnes gegen Wolff Bechetelff den jungen namens seiner Hausfrau Eva „erckent ein erbar gericht auß furrad ihres oberhoffs“.156 Diese Fassung legt es ebenfalls nahe, daß der Rat von einem anderen Gericht, das Kallstadt gegenüber als Oberhof fungiert, geholt wird. 6. Gerichtstag 1541 April 26 [1. Urteil] In derselben Sache spricht das Gericht das „Endurteil“ mit Randvermerk: „Hofurteil“ und formuliert: „erkent ein erbar gericht uß furath ihres oberhoffs“.157 Die Auseinandersetzung mit diesem Text könnte einen Zusammenhang zwischen Oberhof und Hofgericht des Herrn nahelegen und auf eine Identität beider Gerichts schließen lassen. 7. Gerichtstag 1541 April 26 [letztes Urteil] In Sachen Konrad Hoffmann als Anwalt Hansen Beckers von Schriesheim und Caspar Beckers von Ladenburg gegen den Kallstadter Schultheißen Caspar Baumann „erkenth ein erbar gericht auß furrothe ihres oberhove“.158 Auch dieses Urteil enthält den Randvermerk „Hofurteil“, meinend: „vom Hof Oberhof kommend“ oder vom Hof des Grafen von Leiningen kommend? 8. Gerichtstag 1542 Juni 13 In derselben Sache „haben ein erbar gericht alhie zu Calstat mit vor rathe ihres oberhoffs … zu recht erkent.“159 Dieses Urteil weist in Überschrift und Randvermerk „Ratsurteil“ aus und meint damit den Vor-Rat, den das Gericht vor Urteilsfällung eingeholt hat. 9. Gerichtstag 1544 August 26 Mit Randvermerk „Roth urteyl“ in der Sache Johan von Saarbockenheim, Propst des Hofes von Kleinbockenheim, gegen Ewalt Schneiders Witwe „sprechen wyr
155 156 157 158 159
Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 18, 21. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 46, 14. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 48, 26-32. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 50, 31. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 60 f., 2 f.
Das Kallstadter Gerichtsprotokollbuch 1533-1563
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auß vorroidt unsers oberhoiffs zu recht:“160 Gegen dieses Urteil wird appelliert; gegen Oberhofurteile ist demnach die Berufung zulässig. 10. Gerichtstag 1545 August 25 In der Sache der klagenden Brüder Hans und Caspar Becker gegen den Kallstadter Schultheißen Caspar Baumann wegen einer Grundstücksgrenze „ist durch ein erbar gericht zu Callstatt noch und uff clag, anttwort, vorhorung, geleister kuntschaffft, gethanem rechtsatz, genomen bedacht unndt gehaptem rath ihres oberhoffs mit urtheyl zu rechtt erkhannt unnd gesprochen,“161 –
daß Baumann Unrecht hat. Dagegen wird von dem beschwerten Beklagten Appellation eingelegt. 11. Gerichtstag 1550 August 26 Im Prozeß des Kaiserslauterer St. Martinsstifts, anwaltlich vertreten von Wolf Linscher, gegen die Witwe Anna Muterstat wird die Klage abgewiesen: „… hat der richter clag und antwort, auch verhorter kuntschafft und auß vor roth unsers oberhoff wol vernumen, so sprechen und weißen wir zu recht“.162
12. Gerichtstag 1552 September 6 Der Rechtsstreit dreht sich um wiederfällige Güter. Konrad Becker aus Ungstein klagt namens seiner Frau erfolglos gegen Barbara Gaus zu Ungstein. „Roth urthel: […] nach clag, antwurt, sampt andern schrifftlichen furbringens, und daßelbigen vleißigen erwegung erkennen und sprechen schulthes und schoffen auß vorrath ihres oberhofs“.163
Insgesamt liegt damit nur ein einziger Nachweis vor (in dem ersten Urteil), daß das Kallstadter Gericht als Oberhof fungiert. Das wäre jedenfalls dann zutreffend, wenn „in craft unsers oberhofs“ meint „in unserer Autorität als Oberhof“. Es wäre unrichtig, wenn „in craft“ nur das Vertretungsverhältnis, „aus Vollmacht unseres Oberhofs“ anzeigen würde. Alle anderen Urteile verweisen nur auf den vor dem Urteilsspruch eingeholten Rat des Oberhofs. Dabei wird eine Unterscheidung des Rates „unseres Oberhofs“ und des Rates „ihres Oberhofs“ getroffen, über deren Bedeutung nur spekuliert werden kann. Mit Oberhof kann das beim Landesherrn angesiedelte höchste Gericht gemeint sein; das wäre eine Vorstufe zum Hofge-
160 161 162 163
Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 76, 6. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 83, 25 ff. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 109, 16 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 119, 24 f.
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richt, der Appellationsinstanz.164 Der Übergang vom Oberhof zum Hofgericht kann fließend sein.165 Die alternative Vorstellung ist die, daß der Oberhof auch in Kallstadt lokalisiert sein kann und das vollbesetzte Gericht meint im Gegensatz zu dem Dorfgericht, das auch mit geringerer Besetzung amtieren kann. Werkmüller erwähnt diese Möglichkeit ausdrücklich, die Mehrzahl der als Oberhof tätigen Schöffengerichte waren danach zugleich erstinstanzliches Stadt- oder Dorfgericht.166 Die Anzahl der Schöffen konnte dann bei der Oberhoftätigkeit erweitert werden. Da aber Kallstadt als Oberhof nur ein einziges Mal vorkommt und regelmäßig nur das Ratholen beim Oberhof erwähnt wird, zudem die Gerichtsordnung den Oberhof in ihrer Gebührenfestsetzung nicht erwähnt, muß davon ausgegangen werden, daß Kallstadt keinen Oberhof besaß und es sich bei der einmaligen Tätigkeit bei der fließenden gerichtsverfassungsrechtlichen Entwicklung beim Aufbau eines Obergerichts der Grafschaft Leiningen um einen Einzelfall handelte. Andererseits kennt Kallstadt auch die Appellation gegen das Urteil, das trotz vorherigem Rat vom Oberhof gefällt wird; die geht wohl an den Herrn.167 IX. Die Appellation Die Berufung (Appellation) war rechtlich zulässig und wurde dem Beschwerten mit Verweis auf die kaiserlichen rechte (vermutlich die Reichskammergerichtsordnung) und nach „ordnung“168 „unsers gnedigen Heren“, des Grafen von Leiningen, ermöglicht. Die Appellation verletzt in ihrem Ansatz die Autorität des Erstgerichts und setzt sich daher erst allmählich durch.169 Das Rechtsmittel mußte vom Spruchrichter ausdrücklich zugelassen werden, dann erst trat der Devolutiveffekt ein. Ausheischen meint das Wegrufen der Sache, von dem Gericht der Rechtshängigkeit weg an eine andere Instanz.170 Heischen kann als Interpretation von appellare angesehen werden und bedeutet heißen. Auch abheischen171 und ausheischen gibt es, die das Wegnehmen einer Sache betonen, substantiviert begegnet die Abheischung.172 Von der Ausstellung eines Entlaßbriefes (Apostel-
164 165 166 167 168 169 170
171 172
Das kurpfälzische Hofgericht in Heidelberg wird erstmals im Jahre 1462 erwähnt. Blell, Art. Hofgericht, in: Erler/Kaufmann, HRG1 II (1978), Sp. 206-209. Werkmüller, Art. Oberhof, in: Erler/Kaufmann, HRG1 III (1985), Sp. 1138. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 76, 10. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 187, 21 f. Vgl. Weitzel, Art. Appellation, in: Cordes/Lück, HRG2 I (2005), Sp. 268-271. Auch in seinem Beitrag für die 2. Auflage des HRG (2. Lieferung 2005) zu eng Dieter Werkmüller im Artikel Ausheischen, wenn er Ausheischen als das Ziehen an den Oberhof interpretiert. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 159, 3; 174, 12. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 2, 31; 126, 25; 151, 12 f.; 145, 11, 13; 151, 12 f.; 164, 19; 164, 14 ff.; 169, 14; 166, 30; 186, 6.
Das Kallstadter Gerichtsprotokollbuch 1533-1563
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brief), mit dem der Erstrichter den ordnungsgemäßen Abschluß der ersten Instanz bescheinigt, ist in Kallstadt nirgends die Rede.173 Die Appellation bedurfte der Spontanität des Betroffenen, der das Rechtsmittel möglichst unverzüglich einlegen mußte, um der Verwirkung durch Zeitablauf zu entkommen. „Jorg Briff appelirt uff das frey urtel in zwei ure nach mittag wie recht mit unverwendetem fuß zum erst, zum andern und zum dritten, uff den tag wie obstett.“, d. i. auf 11. Januar 1547.174
Der beschwerte Kläger hatte seinen Fuß noch nicht gebraucht, nicht „verwendet“ und auf der Stelle nach der Urteilsverkündung Berufung eingelegt. Das sofortige Fußstampfen zeigte am besten sein Betroffensein, seine Empörung und die Echtheit seines Empfindens.175 Neben der spontanen Reaktion wurde Deutlichkeit des rechtlichen Vorgangs verlangt, dreimal mußte der Beschwerte die Einlegung des Rechtsmittels kundtun, um alle Zweifel an der deutlichen Kundbarmachung zu beseitigen. Diese Präzision fehlte in einem anderen Fall: In Sachen des Abtes zu Otterberg, der anwaltschaftlich vertreten wird von dem Pfarrer zu Großbockenheim gegen Hans Rodel verwarf das Gericht die Zulassung der Appellation: „dieweil die apelation nit gescheen ist mit onverwentem fuß noch ordnu[n]g und gebrauch, so sol [es] bey dem vorigen urtel pleiben, forter mocht der beclagt mit einem offenen notary apeliern.“176
Die versäumte rechtzeitige Appellation war trotz der Nichtzulassung durch das Gericht noch nicht aus der Welt – oder ist gemeint, beim nächsten Mal? – dem Beschwerten blieb möglicherweise die Möglichkeit, die Appellation durch einen Notar einlegen zu lassen, vermutlich bei dem Obergericht. Ob dies zum Erfolg verhalf, mag dahinstehen, zeigt aber doch eine (beginnende) Abkehr von der Spontanität hin zur Frist. Die Speyerer Prozeßordnung kennt die 10 Tagesfrist für die Berufung.177 Die Berufung ging an das leiningische Hofgericht,178 das 1541 noch mit dem Namen des Hofrichters angeführt wird: „for den wolegeborn hern hern Engelhar-
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178
F. Merzbacher, Art. Apostelbrief, in: Erler/Kaufmann, HRG1 I (1971), Sp. 195 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 92, 3 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 142, 24 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 101, 18 ff. (1549 27. August). Friedmann, Speyerer Prozeßordnung, S. 153 § 87 und Kap. XV; Spieß, Ordo iudiciarius antequam, S. 225 f. cap. XV und Kommentierung S. 212. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 164, 32 f. (1560 28. Mai).
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ten (Graf von Leiningen gestorben 1553179) irer genaden rethe und hofrichter“,180 und 1560 über einen festen Sitz in Dürkheim verfügte.181 Der Appellant hatte dem Gericht seinen „Imbs“, die Zehrkosten, zu entrichten und die Gerichtsgebühr, „sein belonung“. Sie betrug bei ganztätiger Inanspruchnahme des Gerichts182 im Sommer 3 Albus, im Winter 2 Albus, bei halbtätiger Inanspruchnahme die Hälfte der Kosten. Zudem hatte sich der Berufungskläger mit dem Gerichtsschreiber „zu vertragen“, d. h. sich gebührenrechtlich mit ihm zu einigen, die Gebühr frei auszuhandeln je nach der angefallenen Arbeit. Erstmals begegnet die Appellation in Kallstadt im ersten Urteil 1533; doch konnte dort von der Erstinstanz zum Oberhof Kallstadt appelliert werden. Eine Appellation zum Hofgericht bei Festigung des Instanzenzuges mit Rechtsmitteln mit Suspensiv- und Devolutiveffekt liegt für das Jahr 1541 vor183 oder 1563 Mai 11: hier fungiert das Gericht als Appellationsinstanz, ohne daß vom Oberhof die Rede ist. Auch dieses Urteil stellt ein Unikat dar. Es folgen kontinuierlich Appellationen, vor allem ab 1546,184 1547185 bis 1563 an den Herrn.186
G. Zusammenfassung Das Kallstadter Gerichtsprotokollbuch 1533-1563 gibt Einblick in den schon vorhandenen gelehrten Prozeß, den man im 16. Jh. bei der dörflichen Gerichtsbarkeit nicht vermuten würde. Das Verfahren entspricht der rezipierten, für das profane Recht angewandte Speyerer Prozeßordnung, der ordo iudiciarius antequam oder iudiciarius spirensis. Die werdende Schriftlichkeit, der noch vorkommende Fürsprecher und der Oberhofzug mögen als Relikte des vor dem gelehrten Verfahrensrecht liegenden Prozeßrechts anzusehen sein. Das neue Ziel, Appellationsinstanz zu werden, hat das Gericht nur einmal erlebt. Viele Fragen müssen offenbleiben. Insgesamt scheint der Kallstadter (profane) Zivilprozeß der Speyerer Ordnung für das geistliche Verfahren, wie sie 1260 schon formuliert vorlag, zu folgen.
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Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. LXVI. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 51, 24 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 161, 16: „vor dem loblichen hoffrichter zu Durckhem.“ Wie es in der Gerichtsordnung Kalstadt heißt, die ca. 10 Gebühreneinträge enthält, sonst keinerlei Verfahrensvorschriften ausweist, und auf der Innenseite des vorderen Deckels des Gerichtsprotokollbuchs 1563-1740 abgedruckt ist, so Hans-Helmut Görtz, Das Kallstadter Gerichtsprotokollbuch 1563-1740 (Schriftenreihe A der Stiftung zur Förderung der pfälzischen Geschichtsforschung), Neustadt an der Weinstraße 2006 (im Druck). Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 51, 23-25. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 91, 22 ff. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 92, 3 f. Görtz, Gerichtsprotokollbuch, S. 187, 18 ff.
Schutz gegen Nachdruck als Aufgabe einer bundesweiten „Organisation des deutschen Buchhandels“ – Metternichs zweiter Plan einer „Bundeszunft“ und sein Scheitern Elmar Wadle
A. Die Ergebnisse der Wiener Ministerialkonferenzen sind im Schlussprotokoll vom 12. Juni 1834 niedergelegt1. Zwei dieser geheimen „Sechzig Artikel“ befassen sich mit den aktuellen Problemen des Nachdruckschutzes, und zwar in folgender Weise: „Art. 36: Die Regierungen vereinbaren sich dahin, dass der Nachdruck im Umfang des ganzen Bundesgebietes zu verbieten, und das schriftstellerische Eigenthum nach gleichförmigen Grundsätzen festzustellen und zu schützen sey. Art. 37: Es soll am Bundestage eine Commission ernannt werden, um in Erwägung zu ziehen, inwiefern über die Organisation des deutschen Buchhandels ein Uebereinkommen sämmtlicher Bundesglieder zu treffen sey. Zu diesem Ende werden die Regierungen geachtete Buchhändler ihrer Staaten über diesen Gegenstand vernehmen, und die Ergebnisse dieser Begutachtung an die Bundestagskommission gelangen lassen.“
Der erste der beiden Artikel bestätigte das bereits im Bundesbeschluss von 1832 vorausgesetzte und von der Bundesakte (Art. 18 d) angestrebte allgemeine Verbot; zugleich modifizierte er die älteren Vorgaben, da nur noch von „gleichförmigen 1
Aus der reichen Literatur zu den Wiener Konferenzen von 1834 seien hier nur genannt: Friedrich von Weech (Hrsg.), Correspondencen und Actenstücke zur Geschichte der Ministerconferenzen von Carlsbad und Wien in den Jahren 1819, 1820 und 1834, Leipzig 1865, S. 119-296; Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. II: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830-1850, 2. Aufl., Stuttgart 1975, S. 173 ff., bes. S. 182; Ralf Zerback (Bearb.), Reformpläne und Repressionspolitik 1830-1834 (Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes Abt. II, 1), München 2003 (bes. S. XXXIX ff.). Das Zitat folgt der Ausgabe von Ernst-Rudolf Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I: Deutsche Verfassungsdokumente 1803-1850, 3. Aufl., Stuttgart 1978, S. 137-149 (Nr. 47), hier S. 143. Sonstige Ausgaben der „Sechzig Artikel“ bei von Weech (Hrsg.), Korrespondenzen, S. 281-296; Hans Pelger, Das Schlußprotokoll der Wiener Ministerialkonferenzen von 1834 und seine Veröffentlichungen 1843-1848, in: Archiv für Sozialgeschichte 23 (1983), S. 439-472; hier S. 452 ff.; Elisabeth Droß (Hrsg.), Quellen zur Ära Metternich (Freiherr v. SteinGedächtnisausgabe Bd. XXIII a), Darmstadt 1999, S. 221-237; Zerback, Reformpläne, S. 552-576.
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Grundsätzen“ die Rede ist und nicht mehr von „gleichförmigen Verfügungen“. Diese Entscheidung trug wesentlich dazu bei, dass Preußen 1837 sein fortschrittliches „Gesetz zum Schutze des Eigenthums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung“ erlassen und damit einen Mindeststandard für den Bundesbeschluss vom November desselben Jahres vorweisen konnte. Diese Zusammenhänge sind weitgehend erforscht2. Für den zweiten der beiden zitierten Artikel gilt dies nicht in gleicher Weise3. Dennoch kann ein Zusammenhang mit der Problematik des Nachdruckverbots deutlich markiert werden, wenn man die Vorgeschichte anhand der Wiener Beratungen genauer betrachtet (B.). Das weitere Schicksal des Konzepts kann aus den Verhandlungen in der Bundesversammlung (C.) und in deren Umfeld (D.) erschlossen werden; dabei wird auch verständlich, warum die 1834 angeregte „Organisation des deutschen Buchhandels“ nicht zustande kommen konnte.
B. I. Am 26. März 1834 legte Fürst Metternich der Wiener Konferenz ein Schriftstück vor, das von den Frankfurter Buchhändlern Jügel und Brönner stammte und über den Präsidialgesandten von Münch an den Staatskanzler vermittelt worden war. Das Dokument, das den Titel „Entwurf zu einem Regulativ für den literarischen Rechtszustand“4 trägt, wurde von Metternich gegen Ende der zweiten Plenarsit-
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Die ältere Literatur zusammenfassend: Ludwig Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht. Die Entstehung des Urheberrechts in Deutschland bis 1845, Göttingen (jetzt Baden-Baden) 1995, bes. S. 203 ff.; Elmar Wadle, Der Weg zum gesetzlichen Schutz des geistigen und gewerblichen Schaffens. Die deutsche Entwicklung im 19. Jahrhundert, in: Friedrich Karl Beier, Alfons Kraft, Gerhard Schricker, Elmar Wadle (Hrsg.), Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht in Deutschland. Festschrift zum hundertjährigen Bestehen der Deutschen Vereinigung für Gewerblichen Rechtsschutz und Urheberrecht und ihrer Zeitschrift, 2 Bde., Weinheim 1991, hier 1. Bd., S. 93-183. Im Übrigen vgl. man die einschlägigen Aufsätze, in: Elmar Wadle, Geistiges Eigentum. Bausteine zur Rechtsgeschichte, 1. Bd., Weinheim 1996, 2. Bd., München 2003; insbesondere in Geistiges Eigentum I: „Das preußische Urheberrechtsgesetz von 1837 im Spiegel seiner Vorgeschichte“ und „Der Bundesbeschluß vom 9. November 1837 gegen den Nachdruck. Das Ergebnis einer Kontroverse aus preußischer Sicht“, sowie Geistiges Eigentum II: „Die Berliner Grundzüge eines Gesetzentwurfes zum Urheberschutz. Ein gescheiterter Versuch im Deutschen Bund (1833/34)“. Einige der grundsätzlichen Aspekte sind angesprochen bei: Elmar Wadle, Das Junktim zwischen Zensur und Nachdruckschutz und dessen Aufhebung im Jahre 1834, in: Wadle, Geistiges Eigentum II, S. 241-256 (S. 247 f. Fn. 20: Hinweise zur Überlieferung). Der Frankfurter Entwurf eines „Regulativs“ ist vielfach im Aktenmaterial überliefert und mehrfach abgedruckt worden. Nähere Nachweise bereits bei Wadle, Das Junktim zwischen Zensur und Nachdruckschutz, S. 249 ff. (bes. Fn. 22). Das Dokument ist be-
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zung vorgestellt. Nach dem offiziellen Protokoll5 sagte er, ihm sei der Entwurf „mit der Bitte zugesendet worden, selben der hier versammelten Conferenz zur Prüfung und Genehmigung vorzulegen“. Es folgte laut Protokoll eine kurze Stellungnahme des Staatskanzlers: „Die Tendenz des Antrags der Bittsteller gehe dahin, den gesammten rechtlichen Buchhandel Deutschlands in eine, einer gewissen Controlle unterworfene, und dagegen besonderer Rechte, namentlich des Schutzes gegen den Nachdruck genießende Corporation zu vereinigen. Nach seiner, des Herren Fürsten Ansicht, sey die Sache wohl werth, von den Regierungen in Erwägung gezogen zu werden; denn es scheine sich hiermit ein ausreichendes Mittel darzubieten, dem soliden Buchhandel Unterstützung gegen die Eingriffe des Schlechten zu gewähren; ersteren, und die mit ihm in Verbindung stehenden Schriftsteller durch ihr Interesse an die Sache der Ordnung zu knüpfen; den schlechten und Winkelbuchhandel hingegen mit um so größerem Fuge der ganzen Strenge der Gesetzgebung anheim zu geben.“
Das Protokoll fährt dann fort: „Ein Auszug aus dem gedachten Regulativ ward hierauf verlesen; und nachdem sich der Herr Minister Ancillon insbesondere sowohl, als sämmtliche übrige Herren Minister für das Beachtungswerthe des Gegenstandes ausgesprochen hatten, beschlossen, die Eingabe der Frankfurter Buchhändler der 4ten Commission über die Preßfrage zur Erörterung und Benützung bei dem von ihr zu erstattenden Vortrage zuzuweisen.“
II. Wer das Frankfurter Papier verfasst hat, ist nicht genau zu ermitteln; es mag von den beiden Buchhändlern Jügel und Brönner formuliert worden sein, könnte aber auch mit anderen Initiativen aus Buchhändlerkreisen zusammenhängen6. Die Tatsache, dass die Vorschläge über den österreichischen Präsidialgesandten an Metternich gelangt sind, darf man als Indiz dafür werten, dass auch er die Hand im Spiel gehabt hat.
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reits bei von Weech, Correspondencen (Fn. 1), S. 217-221 publiziert. Ihm folgt der Abdruck im Anhang zu diesem Beitrag. Als Nachweis zum Protokoll sei hier verwiesen auf folgende Bestände: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz Berlin (künftig: GSTA PK), III. Hauptabteilung (künftig: HA) Außenministerium (2.4.1.) I. Abt. Nr. 1795-1802/1; Bayerisches Hauptstaatsarchiv München (künftig: BayHStA), Außenministerium (künftig: MA) Nr. 11041110; Badisches Generallandesarchiv Karlsruhe (künftig: GLAK), Abt. 48 Nr. 1567, 1573. Zum Verlauf der Konferenz insgesamt vgl. man Wadle, Das Junktim zwischen Zensur und Nachdruckschutz, S. 247 ff., (Fn. 20: Hinweis auf ein Exemplar des Protokolls im Bestand „Deutscher Bund“ (DB 1) des Bundesarchivs Koblenz (früher Außenstelle Frankfurt/M.) – Die Zitate im nachfolgenden Text sind entnommen aus GLAK 48 Nr. 1573. Zu Jügel und Brönner ausführliche Hinweise bei Zerback, Reformpläne, S. 593 Fn. 19 u. 20.
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Metternich hatte sich umgehend für das Papier interessiert. Er schickte die Frankfurter Eingabe schon Ende Februar 1834 an Trautmandorff, den österreichischen Gesandten in Berlin, und vermerkte dabei7: „Die anliegende Arbeit ist eine von Frankfurter Buchhändlern, als das Ergebniß ihrer Erfahrungen und Wünsche, in Bezug auf die Festsetzung eines gemeingiltigen litterarischen Rechtszustandes in Deutschland, zugesendet worden. Sie haben mich gebeten, die in dem Aufsatze niedergelegten Ideen als Materialien, bei den die Presse betreffenden Verhandlungen der Ministerial-Conferenz benutzen zu lassen.“
Bereits bei dieser Gelegenheit betonte Metternich, der Entwurf scheine „in der That manches Beachtenswerthe zu enthalten“, und fügte hinzu: „Der Gegenstand ist wichtig, und die Seite von welcher aus er in dem fraglichen Aufsätze behandelt wird, theilweise neu, sonach beides Grund genug um zu dem Wunsche zu berechtigen, dass ihm die allseitige Erwägung und Beleuchtung zu Theil werde.“
Metternich war gut informiert, als er diese Bemerkung machte. Die Idee, den Nachdruckschutz mit der Organisation von Anbietern zu verbinden, lag in der Luft8. In den Jahren 1829/1830 hatte es mehrere Versuche gegeben, das Problem des Nachdrucks mit Hilfe einer besseren Organisation der Buchhändler und Verleger anzugehen. Die Berliner Buchhändler beantragten 1829, ihrem Verein, der auch der Bekämpfung des Nachdrucks dienen sollte, die Rechte einer Korporation zu verleihen9. Gegen die ablehnenden Bescheide der zuständigen Ministerien wandten sie sich 1830 in einer Rekurseingabe an den König; die Sache wurde im Staatsrat beraten und letztlich abschlägig beschieden. Im nämlichen Zeitraum (Mai 1830) fassten die auswärtigen Mitglieder des 1825 gestifteten Leipziger Börsenvereins den Beschluss, dass jedes neue Mitglied sich nicht nur der Börsenordnung unterwerfen, sondern auch verpflichten musste, „sich des Nachdrucks und des Nachdruckvertriebes zu enthalten“. Jeden, der „sich
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GSTA PK III. HA (2.4.1.) Abt. I Nr. 8954 (1) vol. XI. Zu den älteren Ansätzen vgl. man die Hinweise bei Elmar Wadle, Metternichs erster Vorschlag zur Organisation des Deutschen Buchhandels und der Schutz gegen Nachdruck, in: Peter Thorau, Sabine Penth, Rüdiger Fuchs (Hrsg.), Regionen Europas – Europa der Regionen. Festschrift für Kurt-Ulrich Jäschke zum 75. Geburtstag, Köln 2003, S. 231-245. Zum Vereinswesen allgemein und der Buch- und Musikalienhändler insb. vgl. jetzt: Friedemann Kawohl, Urheberrecht der Musik in Preußen (1820-1840). Quellen und Abhandlungen zur Geschichte des Musikverlagswesens, 2. Bd., Tutzing 2005, S. 153 ff., bes. S. 159 ff. Das Gesuch datiert v. 12. Mai 1829; Vorgänge dazu in: GSTA PK I. HA Rep. 90 (Staatsministerium) Tit. 28 Nr. 91 Bd. 1; Tit. 80 Bd. 1.
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in einem Staat, in welchem der Nachdruck verboten ist, damit nachweislich befasst“, sollte mit dem Ausschluss aus dem Verein bestraft werden10. Vergleichbare Ziele verfolgten durch gemeinsame Absprachen anlässlich der Ostermessen 1829 und 1830 die an der Leipziger Messe beteiligten Musikhandlungen; sie schlossen Abkommen gegen den Nachdruck11. Auch die Kunsthändler gründeten 1831 während der Ostermesse eine Gesellschaft, in deren (zunächst vorläufiger) Satzung die Sicherung des Eigentums gegen jede Nachbildung verankert war12. Diese Pläne lehnten sich an ältere Konzepte an, beschränkten sich allerdings strenger, als dies zuvor geschehen war, auf die Probleme des Nachdrucks; eine Verquickung mit Zensur und obrigkeitlicher Kontrolle suchten sie zu vermeiden. Metternich hingegen hatte schon früh ältere Pläne für sein Ziel einer strengeren Kontrolle genutzt und 1820 einen ersten Plan vorgelegt, der erfolglos geblieben war13. In der Situation des Jahres 1834, die einerseits durch die Organisationsvorschläge der Händler und andererseits durch den festen Willen führender Politiker zur Verschärfung von Zensur und obrigkeitlicher Kontrolle geprägt war, musste der Vorschlag der Frankfurter Buchhändler sehr willkommen sein. Dass Metternich die Eingabe gelegen kam, ergibt sich vor allem aus der inhaltlichen Nähe zu jenem älteren Projekt aus der Feder Adam Müllers. Auch das Frankfurter Papier, dessen Entwurf siebzehn Paragraphen umfasst, sieht eine bundesweite Organisation vor und verknüpft dabei den Schutz gegen Nachdruck mit der Zensur. Schutz sollte nur solchen Buchhändlern zustehen, die sich bei der jeweils zuständigen Landesbehörde „immatrikuliren und dadurch ihre Befugnis als berechtigter Buchhändler bestätigen ...“ lassen (§ 1). Die auf diese Weise bestätigten Buchhandlungen sollten „die Corporation der deutschen Buchhändler“ bilden und Mitglieder der Leipziger Buchhandels-Börse werden (§ 2); anderen Personen sollte das Recht, „eine Verlags- oder Sortiments-Handlung zu betreiben“ nicht zustehen (§§ 3 u. 4). Die bei immatrikulierten Verlegern erscheinenden Werke sollten Schutz gegen Nachdruck genießen (§ 5). Überdies sollte jeder Buchhändler 10
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Vgl. dazu das Protokoll der Verhandlung v. 9. Mai 1830, in: GSTA PK III. HA (2.4.1.) M Abt. I Nr. 8952; dazu s. noch: Friedrich Johannes Fromann, Geschichte des BörsenVereins der Deutschen Buchhändler, Leipzig 1875, S. 8 ff., 33 ff., bes. S. 34. Die Abkommen von 1829 und 1830 sind enthalten in: GSTA PK III. HA (2.4.1.) Nr. 18104 Bl. 295-297; abgedruckt in: Der Musikalien-Nachdruck in rechtlicher und staatspolizeilicher Beziehung, in: Caecilia, Eine Zeitschrift für die musikalische Welt, hg. von einem Vereine von Gelehrten, Kunstverständigen und Künstlern, 13. Bd., Mainz, Paris, Antwerpen 1831, S. 90-106. „Protocoll über die Beratung der zur Ostermesse 1831 in Leipzig anwesenden Herren Kunsthändler für eine nähere Vereinigung unter sich“, v. 7. Mai 1831, nebst Beilage „Vorläufig anerkannte Grundlagen zu dem Verein der deutschen Kunsthandlungen“; vgl. GSTA PK III. HA (2.4.1.) Nr. 18104 fol. 295-297. Dazu ausführlich Wadle, Metternichs erster Vorschlag. Zum Geschehen in den 1820er Jahren viele Einzelheiten bei: Ludwig Gieseke, Günther Heinrich Berg und der Frankfurter Urheberrechtsentwurf von 1819, in: Archiv für Urheber-, Film-, Funk- und Theaterrecht 138 (1999), S. 117-151, Elmar Wadle, Das Scheitern des Frankfurter Urheberrechtsentwurfes von 1819. Näheres zur Haltung einzelner deutscher Bundesstaaten s. dort S. 153-181; dieser Beitrag auch in: Wadle, Geistiges Eigentum II, S. 221-239.
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„verbunden“ sein, „außer der Beobachtung der in Beziehung auf Preßfreiheit bestehenden gesetzlichen Bestimmungen“ auf alle bei ihm erscheinenden Werke nebst „der Jahreszahl der Publikation auch seine Firma beizusetzen“ (§ 6). Jeder Verleger sollte zudem verpflichtet sein, der zuständigen Behörde „vor Ausgabe des Werkes zwei Exemplare abzuliefern und dagegen eine Bescheinigung zu empfangen“; diese Bescheinigung sollte ihm das Recht geben, einen entsprechenden Vermerk in den Buchtitel aufzunehmen, der „einem Privilegium gegen den Nachdruck gleichzuachten ist, und in allen deutschen Bundesstaaten gleichen Schutz genießt“ (§ 7). Die nicht deponierten Werke sollten keinerlei Schutz genießen und konfisziert werden können (§ 8). Alle Verhaltensmaßregeln waren strafbewehrt, der Nachdruck sollte sogar mit der Streichung aus der Matrikel geahndet werden (§ 9). Die restlichen Paragraphen enthielten Übergangsvorschriften und Bestimmungen technischen Charakters. Vergleicht man diese Organisation mit jener Adam Müllers, so zeigen sich einige Unterschiede, insbesondere bezüglich der Kompetenz der Landesbehörden und bei der Ersetzung der Bekanntgabe von Neuerscheinungen in einem zentralen Journal durch den Sichtvermerk. Das Grundprinzip ist aber dasselbe: Niemand sollte drucken dürfen, den nicht eine Regierung anerkannt hatte, und kein Werk sollte geschützt sein, das nicht vor der Ausgabe angemeldet und mit einem Sichtvermerk versehen war; die Zensur hatte es in der Hand, den Schutz gegen Nachdruck zu versagen; wer sich ihr nicht beugte, bekam auch kein „schriftstellerisches Privateigentum“ (§ 5). Dass Metternich dem Frankfurter Papier eine große Bedeutung zugemessen hat, wird von anderer Seite bestätigt. Der bayerische Bevollmächtigte, der Bundestagsgesandte von Mieg, berichtete nach München14: „Der Herr Fürst schien Wichtigkeit auf diese Erscheinung zu legen, weil er darin einen Weg zu finden hofft, auf die Unterdrückung des Preßunfugs durch thätige Betheiligung der rechtlichen Buchhändler selbst hinzuwirken. Die Sache eignet sich nach meiner Ansicht zur Bundes-Versammlung, wo bereits eine Commission mit Anträgen zur Regulirung des Buchhandels beschäftigt ist. Auch sind die Vorschläge großentheils nicht neu; an der Leipziger Buchhändler-Börse schon oft besprochen worden, aber an der niedrigen Gewinnsucht der Einen und der sträflichen Bestrebungen der anderen gescheitert.“
III. Im weiteren Verlauf der Konferenz bestätigte sich die Politik, die Metternich mit dem Frankfurter Vorschlag verfolgte. Zunächst freilich bekam das Papier Konkurrenz. Im Protokoll15 der nächsten, der dritten Plenarsitzung (31. März) ist ein weiteres einschlägiges Dokument erwähnt:
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Bericht v. 27. März 1834, BayHStA MA II 1107. Zum Folgenden vgl. man die Nachweise bei Wadle, Das Junktim zwischen Zensur und Nachdruckschutz, S. 249 ff.
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„Schließlich ward eine von dem Herrn Minister von Minkwitz übergebene Denkschrift der Deputation des Buchhandels zu Leipzig, die Verhältnisse des deutschen Buchhandels betreffend der 4ten Commission (über die Preßfrage) als in den Bereich ihrer Verhandlungen gehörig zugewiesen.“
Dieses sächsische Dokument ist uns (noch) nicht bekannt16. In den Verhandlungen der vierten Kommission mag es einen gewissen Einfluss gehabt haben; zum offiziellen Bestandteil des Protokolls wurde es allerdings nicht. Der von Metternich favorisierte Frankfurter Plan ist gemeinsam mit dem sächsischen Papier an die vierte Kommission weitergeleitet worden, die sich mit der Pressezensur, einem der zentralen Probleme der Konferenz, zu befassen hatte17. In der 7. Plenarsitzung am 30. April erstattete die Kommission ihren Bericht und formulierte ihre Vorschläge in zehn noch nicht nummerierten Artikeln. Neun dieser Artikel befassten sich mit Presse und Zensur, der zehnte lautete folgendermaßen: „Die Regierungen stimmen in der Ansicht überein, dass der Nachdruck im Umfange des ganzen Bundesgebiets gesetzlich zu verbieten und das schriftstellerische Eigenthum nach denselben Grundsätzen festzustellen und zu schützen sey, und dass damit auf eine zweckmäßige Weise bundesgesetzliche Bestimmungen über die, von Seiten einiger Buchhändler in Antrag gebrachte Organisation des deutschen Buchhandels in Verbindung gebracht werden können. Es wird zu dem Ende verabredet, daß nachdem die Regierungen den in ihren Staaten ansäßigen geachteten Buchhändlern Gelegenheit gegeben haben werden, sich über den Inhalt dieser Anträge näher zu äußern, eine Commission an Bundestage ernannt werden soll, um diese Angelegenheit zu prüfen und sie in möglichst kurzer Frist ihrem Ziel zuzuführen.“
Die Beratung über diese Vorlage beschäftigte die siebte (30. April) und achte (3. Mai) Sitzung. Die Artikel zur Presse und zum Nachdruck wurden dabei neu gestaltet. Der zehnte Artikel wurde in zwei Bestimmungen aufgespaltet. Der neue Artikel 10 lautete nunmehr: „Die Regierungen vereinbaren sich dahin, dass der Nachdruck im Umfange des ganzen Bundesgebietes zu verbieten und das schriftstellerische Eigenthum nach gleichförmigen Grundsätzen festzustellen und zu schützen sey.“
Aus dem Rest des alten Artikels 10 wurde ein neuer Artikel 11 gebildet. Er lautete nun: „Die Regierungen werden den in ihren Staaten ansässigen, geachteten Buchhändlern Gelegenheit geben, sich über den Inhalt der von einigen Frankfurter Buchhändlern wegen Organisation des deutschen Buchhandels gemachten Anträge zu äußern und hierauf 16 17
Näheres dazu bei Wadle, Das Junktim zwischen Zensur und Nachdruckschutz, S. 251 mit Fn. 24. Bei Wadle, Das Junktim zwischen Zensur und Nachdruckschutz, S. 248 ff. näheres zu den Abläufen.
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Elmar Wadle in Erwägung zu ziehen, inwiefern über diesen Gegenstand bundesgesetzliche Bestimmungen festgesetzt werden sollen. Zu diesem Ende wird eine Commission am Bundestage ernannt werden, um diese Angelegenheit zu prüfen, und in möglichst kurzer Zeit ihrem Ziel zuzuführen.“
Später wurden die Artikel neu geordnet; in der Schlussredaktion während der zwölften Sitzung (7. Juni) wurde dies abgesegnet. Artikel 10 behielt seinen Wortlaut. Artikel 11 wurde geändert und hatte nun folgende Gestalt: „Es soll am Bundestage eine Commission ernannt werden, um in Erwägung zu ziehen, in wie fern er über die Organisation des deutschen Buchhandels ein Uebereinkommen sämmtlicher Bundesglieder zu treffen sey. Zu diesem Ende werden die Regierungen geachtete Buchhändler ihrer Staaten über diesen Gegenstand vernehmen, und die Ergebnisse dieser Begutachtung an die Bundestags-Commission gelangen lassen.“
Die eigentliche Bedeutung dieser Artikel wird durch eine Passage im Protokoll der entscheidenden achten Sitzung (3. Mai) markiert: „Da in dem Art. 11 auf die, bereits in dem Protocolle der 2ten Sitzung erwähnte Eingabe Frankfurter Buchhändler, ein Regulativ für den deutschen Buchhandel betreffend, Bezug genommen, auch den Regierungen anheimgegeben ist, über selbes die Stimmen achtbarer Buchhändler ihres Landes zu vernehmen, so ward beschloßen, diese Eingabe dem Protokoll ... beizulegen; und es übernahm es insbesondere Hr. Baron v. Minkwitz, zu veranlassen, daß die Vorsteher der Buchhändler-Börse von Leipzig sich über den Gegenstand gutächtlich zu äußern aufgefordert werden.“
IV. Die beiden Artikel 36 und 37 bedeuteten letztlich zweierlei: Zum einen bestand jetzt schon eine Verpflichtung, den Nachdruck zu verbieten und das Recht der Schriftsteller nach „gleichförmigen Grundsätzen“ zu schützen. Zum anderen sollte das Frankfurter Papier, das sich Metternich zu Eigen gemacht hatte, den Verhandlungen am Bundestag zugrunde gelegt werden. Der Hinweis auf die Frankfurter Buchhändler ist zwar aus dem Text der Beschlüsse verschwunden, durch die Vorlage an die Bundesversammlung behielt ihr Plan freilich sein Gewicht: Er sollte der eigentliche Gegenstand weiterer Verhandlungen sein.
C. I. Die „Sechzig Artikel“ lieferten unterschiedlich zugeschnittene Vorgaben für die künftige Arbeit der Bundesversammlung. In unserem Zusammenhang ist von besonderer Bedeutung, dass die einzelnen Materien auf Artikelgruppen unterschied-
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licher Größe verteilt und dadurch zugleich voneinander getrennt worden sind. Damit war der Ablauf der Beratungen in Frankfurt bereits vorstrukturiert. An anderer Stelle konnte schon gezeigt werden, dass die säuberliche Scheidung der Artikel zur Kontrolle der Presse von jenen Bestimmungen, die sich mit den Fragen des Nachdrucks und der Buchhändlerorganisation befassen, entscheidend dazu beigetragen hat, dass das traditionelle Junktim von Zensur und Nachdruckschutz aufgegeben werden konnte18. Das Nebeneinander von Nachdruckverbot (Art. 36) und Buchhändlerorganisation (Art. 37) scheint zwar noch an dieses Junktim zu erinnern; die der Bundesversammlung erteilten Aufträge weisen jedoch deutlich in eine andere Richtung. Das in Artikel 36 enthaltene Versprechen, den Nachdruck allgemein zu verbieten und gleichförmige Grundsätze dazu aufzustellen, steht neben dem Auftrag des Artikels 37, die Organisation des deutschen Buchhandels zu „erwägen“. Dies führte dazu, dass auch diese beiden Materien getrennt voneinander beraten werden mussten. II. Die inoffiziellen Verhandlungen in Frankfurt sind zwar in aller Regel schwer zu rekonstruieren, da man dabei vor allem auf die Berichte der Bundestagsgesandten an ihre Regierungen angewiesen ist; in Einzelfällen jedoch liefert auch der zentrale Aktenbestand der Bundesversammlung deutliche Hinweise. Zu unserem Themenkreis gibt es derartige „Fingerzeige“. Fast gleichzeitig mit dem Abschluss der Verhandlungen in Wien legte der badische Gesandte, Freiherr von Blittersdorff, in seiner Eigenschaft als Mitglied der schon 1832 eingesetzten Kommission einen ausführlichen „Comissionsvortrag über den Büchernachdruck“ nebst einer „Uebersicht der Gesetzgebung über den Nachdruck in den einzelnen Bundesstaaten“ und einem „Commissionsgutachten“ vor; diese Schriftstücke wurden am 23. Juni und 4. Juli 1834 durch den preußischen Gesandten von Nagler in Umlauf gesetzt19. Blittersdorffs Konzept einer Vorlage geht auf eine längere interne Diskussion zurück; an ihr hatte sich vor allem der preußische Gesandte intensiv mit einem eigenen, im Berliner Außenministerium formulierten Gesetzentwurf beteiligt, konnte sich aber letztlich nicht durchsetzen20. Die Mehrheit wolle, so der Gutachtenentwurf Blittersdorffs, an dem „wahrhaft bundesgemäße(n) Grundsatz der vollsten Reciprocität zwischen allen Bundesstaaten“, mithin am Bundesbeschluss von 1832 festhalten; diese „von der Königlich-Preußischen Regierung angeregte Idee“ sei „eine sehr glückliche“ gewesen. Nun könne es nur noch um „einige ergänzende Bestimmungen“ gehen; diese sollten ein „allgemeines Verbot des Nachdrucks“ enthalten und „Grundsätze formulieren, damit bei den erforderlichen Gesetzen und Verordnungen eine „möglichste Gleichförmigkeit“ zu erzielen sei. 18 19 20
Wadle, Das Junktim zwischen Zensur und Nachdruckschutz, passim. Bundesarchiv Koblenz DB 1/304. Dazu Einzelheiten bei Wadle, Berliner Grundzüge eines Gesetzentwurfes zum Urheberschutz, in: Wadle, Geistiges Eigentum II.
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Einer solchen Abkehr von der Vision der Bundesakte, deren Artikel 18 d „gleichförmige Verfügungen“ gefordert hatte, widersprach der sächsische Gesandte beim internen Umlauf nicht direkt; in seinem Votum vom 24. Juni 1834 schlug er zwar zahlreiche Verbesserungen vor, verwies aber klar auf die Wiener Verhandlungen: „Nur dann kann dazu gerathen werden, einen Vortrag an die Bundesversammlung zu bringen, wenn man sicher ist, daß nicht über den nämlichen Gegenstand Beschlüsse bei dem Minister-Congreß in Wien gefaßt worden sind.“
Dass diese Intervention des sächsischen Gesandten den Fortgang der Beratungen in der Bundestagskommission zum Nachdruckschutz beeinträchtigt hat, ergibt sich auch aus einem späteren Bericht des preußischen Gesandten; am 15. Dezember 1834 schreibt Nagler rückblickend21: Mitte des Jahres seien die Verhandlungen an einem Punkt angelangt gewesen, „welcher eine baldige Erledigung der Sache offen ließ, da indem der Referent im Ausschusse, der Großh. Badische Gesandte Frhrr. v. Blittersdorff bereits mit der Ausarbeitung eines in Antrag zu bringenden mit den diesseitigen Ansichten wesentlich übereinstimmenden Beschlusses beschäftigt war, als der K. Sächsische Gesandte von Manteuffel, welcher Bedenken dagegen hegt, den Umstand, daß die Sache auch bei den Conferenzen in Wien zur Sprache gebracht worden sei, brauchte, um im Ausschusse zu bevorworten, daß erst noch das Resultat der in Wien gepflogenen Verhandlungen abgewartet werden möchte, weshalb auch die weitere Berathung des Ausschusses ausgesetzt wurde.“
III. Die Wiener Beschlüsse gaben der Diskussion in der Bundesversammlung eine neue Richtung vor, denn die Frage nach einer Organisation, die Nachdruckschutz und Kontrolle wieder in traditioneller Weise verknüpfen wollte, musste beantwortet sein, bevor man auf dem seit 1819 eingeschlagenen Weg weitergehen konnte. So kann es nicht verwundern, dass Art. 37 zuerst von der Bundesversammlung aufgegriffen wurde. Am 4. Dezember 1834 war er Gegenstand einer offiziellen Sitzung22. Der Präsidialgesandte, von Münch, veranlasste die Wahl einer aus fünf Mitgliedern und zwei Stellvertretern bestehenden Kommission; ein besonderer Beschluss legte außerdem das weitere Procedere fest: „1. Die aus den Herren Gesandten von Österreich, Preußen, Bayern, Königreich Sachsen und Baden als Mitgliedern, dann den Herren Gesandten von Würtemberg und der freien Stadt Frankfurt als Stellvertretern bestehende Commission wird ersucht, in Erwägung zu ziehen und zu begutachten, inwiefern über die Organisation des Deutschen Buchhandels ein Uebereinkommen unter sämmtlichen Bundesgliedern zu treffen sey. 21 22
GSTA PK I. HA Rep. 75 A Nr. 590 und III. HA (2.4.1.) Abt. I 8954. Protokolle der deutschen Bundesversammlung 1816-1848 (künftig: ProtBV), hier 1834, § 597.
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2. Die höchsten und hohen Regierungen werden ersucht, geachtete Buchhändler ihrer Staaten über diesen Gegenstand zu vernehmen und die Ergebnisse dieser Vernehmung an die Bundestags-Commission gelangen zu lassen.“
IV. Am schnellsten reagierte das Königreich Sachsen. Bereits am 16. Januar 1835 konnte der Gesandte, Freiherr von Manteuffel, seinen „Herren Mit-Commissarien“ die „Vorschläge“ überreichen, die auch im Mittelpunkt des offiziellen Berichts in der Bundestagssitzung vom 29. Januar 1935 standen23. Es handelte sich um eine vom „Verein der Buchhändlerbörse in Leipzig“ veranlasste „Druckschrift“; sie trägt den Titel „Vorschläge zur Feststellung des literarischen Rechtszustandes in den Staaten des Deutschen Bundes“24. Der Gesandte würdigte laut Protokoll diese Druckschrift ausführlich und kennzeichnete ihre Entstehung: „Diese Arbeit umfaßt zwei verwandte Gegenstände, nämlich Grundsätze über das schriftstellerische Eigenthum, um den Nachdruck zu hindern, und Bestimmungen über die Einrichtung des deutschen Buchhandels. Beide werden zu berücksichtigen seyn, um den Rechtszustand des literarischen Verkehrs in Deutschland zu ordnen. Jene Vorschläge wurden durch die an den Verein der Buchhändlerbörse in Leipzig ergangene Aufforderung, sich über den Frankfurter Entwurf eines Regulativs für den deutschen Buchhandel gutachtlich zu äussern, veranlaßt und sind zunächst als das Resultat dieser Begutachtung anzusehen. Dieselben haben aber zugleich um deßwillen einen ganz besonderen Werth, weil hierdurch schon dasjenige im Wesentlichen geleistet worden ist, was nach dem obangezogenen Bundesbeschlusse ad 2 geschehen soll. Nach letzerm werden nämlich die höchsten und hohen Regierungen ersucht, geachtete Buchhändler ihrer Staaten über die Organisation des deutschen Buchhandels vernehmen und die Ergebnisse dieser Vernehmung an die Bundestags-Commission gelangen zu lassen. Die in der Druckschrift zusammen gestellten Vorschläge enthalten aber bereits den Ausdruck der gemeinschaftlich und gegenseitig wohl erwogenen Ansicht der angesehensten Geschäftsmänner des Buch- und Kunst-Handels aus allen deutschen Staaten, welche dabei wiederum nicht ihrer eigenen individuellen Meinung gefolgt sind, sondern die schriftlich eingezogenen Vota von beinahe 300 deutschen Buchhändlern zu Rathe gezogen haben. Die Bearbeitung erfolgte nämlich unter Leitung des Königlichen Regierungscommissärs in Leipzig, durch einen Redactionsausschuß, welcher durch Wahl nach Stimmenmehrheit sämmtlicher deutschen Buch-, Kunst- und MusikalienHändler constituirt worden war.“
23
24
ProtBV 35 § 60 (hieraus sind die im Text enthaltenen Zitate entnommen). Das Schreiben v. 16. Januar „an die Herren Mitkommissarien“ nebst Anlagen ist genannt im ergänzenden Schreiben v. 29. Januar; letzteres mit zahlreichen Anlagen zur Vorgeschichte der Vorschläge, in: Bundesarchiv Koblenz DB 1/37 und als Abschrift in GLAK 49/360 und 236/5745. Die „Vorschläge“ nebst „Motiven“ sind im Druck überliefert in: DB 1/307 fol. 10381061. – Zu den sächsischen Papieren vgl. man auch Fromann, Geschichte des BörsenVereins, S. 35 ff.
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Für den Inhalt fand der Gesandte besonders lobende Worte: „Aus der Tendenz des ganzen ergibt sich deutlich, daß die Verfasser sich durchaus fern gehalten haben, von aller Neuerungssucht, von phantastischen und unausführbaren Ideen, so wie von dem Streben, sich durch die vorgeschlagenen Einrichtungen irgend einen, mit den bestehenden Verfassungen und Staatsverhältnissen unvereinbaren Einfluß zu verschaffen, oder den deutschen Buchhandel und die Literatur der Aufsicht der Regierungen zu entziehen. Vielmehr hat dabei der Geist der Achtung für Gesetze, Verfassung und für das Ansehen der Regierungen, so wie das Streben vorgewaltet, Ordnung und Schutz für das Eigenthum, kurz das was in Deutschland wirklich gemangelt hat, e i n e n g e r e g e l t e n R e c h t s z u s t a n d d e s l i t e r a r i s c h e n V e r k e h r s , herzustellen.“
Zusätzlich überreichte er mehrere Dokumente, die Ordnung der Buchhändlerbörse, einen notariell beglaubigten Auftrag an ein Redaktionskomitee und schließlich einen Aufsatz zu den Vorschlägen überhaupt. Der Gesandte versäumte nicht, auf die Schnelligkeit der sächsischen Reaktion hinzuweisen25: „Wenn die Königliche Regierung sich beeilt hat, dem von sämmtlichen Bundesregierungen durch Beschluß der 42. vorjährigen Sitzung ergangenen Ersuchen zu entsprechen und die bereits an sie gelangten Schriften geachteter deutscher Buchhändler vorzulegen, so fand sie sich hierzu nicht nur im gemeinschaftlichen Interesse des Bundes, sondern auch noch insbesondere durch die Lage des Landes, als des Mittelpuncts des deutschen Buchhandels, aufgefordert.“
Dass Sachsen so schnell auf den Beschluss vom 4. Dezember reagieren konnte, hatte seine guten Gründe. Den Beschluss der Wiener Konferenz hatte man sofort umgesetzt. Schon am 6. Mai hatte die Regierung die Vorsteher des Börsenvereins zur Stellungnahme aufgefordert. Da die Ostermesse bereits beendet war, hatte der Vorstand eine schriftliche Umfrage in ganz Deutschland gestartet. Aus den Stellungnahmen hatte ein Redaktionsausschuss gemeinsam mit dem Regierungskommissar die neuen „Vorschläge“ erarbeitet. Ohne hier auf die Einzelheiten dieser Leipziger Denkschrift und des mitgelieferten Gesetzentwurfs eingehen zu können, sei doch festgehalten, dass Sachsen und der Börsenverein auf die von Metternich favorisierte Frankfurter Vorlage grundsätzlich positiv reagiert haben. Die neuen Vorschläge, so heißt es im „Aufsatz“, das dem Schreiben vom 29. Januar 1855 beigefügt ist, scheinen „vielleicht formell und äußerlich ein neues Produkt zu seyn“; sie enthielten jedoch „materiell nur die Begutachtung des ‚Frankfurter Entwurfs‘ in einer übersichtlichen Redaktion“26. Es sieht so aus, als habe von Manteuffel die Ähnlichkeit der beiden Entwürfe nicht unerheblich übertrieben. In einem Aufsatz, den er dem an die „Mitcommissarien“ gerichteten Schreiben vom 29. Januar 1835 beigelegt hat, wurden in neun Punkten die Besonderheiten der Leipziger „Vorschläge“ zusammengestellt27: Sie 25 26 27
ProtBV 1835 § 60; die zuvor genannten Dokumente im Bundesarchiv DB 1/37. Bundesarchiv Koblenz DB 1/37 (Abschrift). Bundesarchiv Koblenz DB 1/37 (Abschrift).
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betreffen zwei Drittel der insgesamt 60 Paragraphen. Überdies hebt der Vorstand der „Deutschen Buchhändlerbörse“ zu Leipzig in seiner „Überreichungsschrift“ an den sächsischen „Regierungs-Commissär“ vom 26. Oktober 1834 ausdrücklich folgendes fest28: „Darin, daß wir mit gänzlicher Übergehung aller Bestimmungen, welche in das Polizeigebiet der Regierungen eingreifen, und uns streng an die Lösung der Aufgabe gehalten haben, welche uns von E. H. Ministerium gestellt war, glauben wir die hohe Verordnung richtig aufgefaßt zu haben, und es stellt sich zugleich die Weglassung der Bestimmungen des Regulativs, welche die Feststellung des literarischen Rechtszustandes und die Organisation des Buchhandels überschritten, als eine nothwendige Folge davon dar.“
Die Leipziger Vorschläge vermieden damit jedes Junktim von Nachdruckschutz und Zensur und beschränkten sich auf die Verbindung von Organisation und Schutz gegen Nachdruck. Man orientierte sich demnach am hergebrachten Leipziger Modell des Nachdruckschutzes und schwächte die im Frankfurter Regulativ intendierte Idee „einer über ganz Deutschland sich verbreitenden Zunft“29 ab. Gleichwohl ist nicht zu verkennen, dass die Intervention Sachsens die zuvor Erfolg versprechenden Verhandlungen am Bundestag erheblich dadurch verzögert hat, dass Dresden an der Verknüpfung von Nachdruckschutz und Bundeshändlerorganisation festzuhalten suchte. V. In der Folgezeit gingen noch einige andere Voten bei der Bundestagskommission ein30. Sachsen-Weimar, das Fürstentum Lippe, Lübeck und Hamburg begnügten sich damit, die Stellungnahmen einzelner Buchhändler einzureichen. Die beiden Mecklenburg wiesen darauf hin, dass sie über keinen nennenswerten Buchhandel verfügten. Nur Frankfurt und Hannover legten ausführlichere Voten vor. VI. Der Frankfurter Senat äußerte in einem relativ knapp gehaltenen Schriftstück vom 29. April 183631 Kritik am Entwurf des „Regulativs“ und lobte die Verbesserungen der Leipziger „Vorschläge“; man kritisierte das vorgesehene Verbot des Selbstverlags, die eingeschränkte Zulassung zum Buchhandelsgeschäft und vor allem die
28 29 30 31
Bundesarchiv Koblenz DB 1/37 (Abschrift). So der bei Anm. 26 genannte „Aufsatz“. Bundesarchiv Koblenz DB 1/37. Bundesarchiv Koblenz DB 1/37.
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Elmar Wadle „zu stiftende große geschlossene Zunft, welche die Literatur ganz unter Botmäßigkeit bringen und den Rechten der Autoren gefährlich werden kann […]“
Auch die beigefügten ausführlicheren „Bemerkungen“ der „Sachverständigen“ setzten sich kritisch mit den „Vorschlägen“ auseinander; das „Leipziger Comite“ habe „sich […] von zu engherzigen Grundsätzen leiten lassen und, indem es versucht hat den Autoren und Verlegern Alles zu erhalten, hat es ein System aufgestellt, das, wollte man sich streng an dessen Gränzen halten, das Interesse aller opfern würde um die Vortheile einiger zu wahren.“
Im Einzelnen richten sich die Einwände etwa gegen die vorgesehene Schutzdauer, eine „Lebensfrage“ des ganzen Schutzes; gegen die Gleichstellung von Kunstwerken und Literatur; gegen die Beschränkung von Übersetzungen; gegen die dauerhafte Abhängigkeit von der Leipziger Börse, die durch die Eintragungspflicht „zu einer Art Puissance erhoben“ würde, „die wir nicht zugestehen können, da die erste Gewalt überall der Staatsbehörde gehört“; die geplante Organisation könne „der freyen Bewegung des Handels hinderlich in den Weg treten“ und könne zum „Staat im Staate“ werden. VII. Auch Hannover sah viele Nachteile; die Regierung lehnte in ihrem Votum32 sowohl das Frankfurter „Regulativ“ als auch die Leipziger „Vorschläge“ ab. Die entscheidenden Argumente sind in einem Satz zusammengefasst: „In beiden Entwürfen herrscht unverkennbar die Absicht vor, dem Buchhandel den Charakter eines zunftmäßigen Gewerbes zu ertheilen, und dabei dem Buchhändler Börsen-Vereine zu Leipzig eine Art von Oberaufsicht, das Recht einer keiner weiteren Controle unterliegenden oberen Leitung beizulegen.“
Hannover beschränkt sich allerdings nicht darauf, seine „erheblichen Bedenken“ zu formulieren gegen jeden Versuch, „den Buchhandel für ganz Deutschland in die Klasse eines zünftigen Gewerbes zu versetzen“. Er solle vielmehr „nach dem Prinzip der möglichsten Freiheit des Verkehrs geordnet und festgestellt werden“. Die dazu erforderlichen Bestimmungen wurden in einem eigenen Entwurf niedergelegt33.
32
33
Bundesarchiv Koblenz DB 1/37. – Ein bekanntes Detail sei noch festgehalten: Der sächsische Gesandte, der bei der Vorlage des Votums aus Hannover seinen Kollegen vertreten musste, versäumte in seinem Anschreiben an die Mitglieder der Kommission nicht, die an den Leipziger Vorschlägen geäußerte Kritik seinerseits zu kritisieren. Dieser Entwurf bedarf noch einer näheren Untersuchung, auf die hier verzichtet werden muss.
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VIII. Im Plenum der Bundesversammlung selbst wurde über das Frankfurter „Regulativ“ nicht mehr verhandelt, jedenfalls nicht offiziell. Der von Metternich unterstützte Plan ließ sich nicht realisieren. Über die Gründe erfahren wir wiederum aus den Berichten des badischen Gesandten einige Einzelheiten34. Sachsens Vorgehen sei bei den anderen Gesandten auf erheblichen Widerstand gestoßen, nicht zuletzt deshalb, weil Dresden meinte, dass die Leipziger Denkschrift „gewissermaßen bereits dasjenige enthalte, was der […] Bundesbeschluß sämtlichen Bundesregierungen aufgebe, indem über die anliegenden von dem Börsenverein in Leipzig ausgearbeiteten Vorschläge die geachtetsten Buchhändler aus allen Bundesstaaten vernommen worden seyen, und sich damit einverstanden erklärt hätten.“
Der Präsidialgesandte von Münch habe sich gegen eine solche Vereinnahmung gewehrt, es handle sich bei den Vorschlägen nur um „[…] die individuelle Ansicht der Buchhändler des Königreichs Sachsen […], keineswegs aber auch die der Buchhändler anderer Bundesstaaten, indem keine Regierung es sich werde nehmen lassen, ihre eigenen Unterthanen zu vernehmen, und der Bundesversammlung die ihr gutdünkenden Mittheilungen über die in Vorschlag zu bringenden gemeinsamen Maaßregeln in Betreff des deutschen Buchhandels zu machen. Abgesehen hiervon verdiene bemerkt zu werden, dass von circa 800 in Deutschland bestehenden Buchhandlungen nur ungefähr 130 sich mit den Vorschlägen des Leipziger Börsenvereins, etliche 80 hingegen mit den Vorschlägen der Frankfurter Buchhändler […] einverstanden erklärt, während 600 Buchhandlungen gar nicht abgestimmt hätten, die aber von dem Börsenverein in Leipzig als seiner Ansicht beitretend angesehen worden seien. Der Börsenverein habe sich hierdurch eine Gewalt angemaßt, die keineswegs gebilligt werden könne. Ferner habe der Verein in seine Vorschläge eine Menge Dinge aufgenommen, die nicht hinein gehörten, und viel zu weit führen würden.“
Als der sächsische Gesandte die Vorschläge verteidigte, habe er, der badische Vertreter, vermittelnd eingegriffen und bemerkt, „[…] daß man es den Leipziger Buchhändlern nicht verargen könne, wenn sie den Buchhandel in Leipzig mehr und mehr zu concentriren und sich die Hauptleitung der Geschäfte zu sichern suchten, aber so wenig als man sämmtlichen Buchhändlern verargen könne, wenn sie ihr Gewerbe in die Form einer Zunft zu bringen und sich ein allgemeines Monopol zu verschaffen bemüht seyen […]. Dies hindere aber nicht, dass die übrigen Regierungen ihre Ansichten ebenfalls geltend machten und ihr Interesse verfolgten, weshalb man dann auch die Anlage als die Ansicht der Buchhändler des Königreichs Sachsen enthaltend unbedenklich an den fraglichen Bundestagsausschuß gehen lassen könne, in der Erwartung, daß auch die übrigen Regierungen die Verordnungen ihrer Buchhändler eben dahin würden gelangen lassen.“
34
Das Folgende nach GLAK 49, 360 und 236/5745. Herangezogen sind vor allem die Berichte (Abschriften bzw. Konzepte) v. 30. Januar und 27. März 1835.
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Diesem Vorschlag Blittersdorffs ist die Versammlung durch den Beschluss vom 4. Dezember 1834 dann auch gefolgt35. Seiner Regierung gegenüber äußerte er sich skeptisch über den Sinn des Leipziger Papiers36: „Die den Sächsischen Vorschlägen in der Bundesversammlung zu Theil gewordene Aufnahme gibt nur wenig Hoffnung, daß man zu einer gemeinsamen Organisation des deutschen Buchhandels werde gelangen können. Eine solche Organisation ist ohne eine im höheren Interesse des Staates geleitete Beaufsichtigung und ohne die Wahrung der Rechte der Schriftsteller und des lesenden Publicums nicht gedenkbar, und gerade hierbey müßen sich Collisionen zeigen, die schwer und nicht unmöglich auszugleichen seyn werden.“
IX. Der weitere Gang der Dinge ließ klar werden, dass weder das Frankfurter Papier noch die Leipziger Vorschläge eine Chance auf Realisierung hatten. Der badische Gesandte schrieb schon am 27. März 183537 an seine Regierung: „Der Gesandte zweifelt indessen stets noch, dass die Bundesregierungen geneigt seyn werden darauf einzugehen, und glaubt, dass man zuletzt jederzeit wieder darauf zurückkommen werde, das zur Vervollständigung der früher gefaßten Beschlüsse, noch einige allgemeinere Bestimmungen hinsichtlich des Verbots des Nachdrucks, und der Dauer des Verlagsrechts anzunehmen, alles übrige aber den Bundesregierungen zu überlassen sey.“
Kurze Zeit danach, am 2. April 1835, beantragte der Präsidialgesandte38, den Artikel 36 des Wiener Konferenzprotokolls zum Bundesbeschluss zu erheben und damit das Ersuchen an die Regierungen zu verbinden, anzuzeigen, was sie zur Erfüllung der in Wien getroffenen Vereinbarung bzw. zur Ausführung „dieses durch vorstehenden Beschluß angesprochenen Verbots des Nachdrucks bereits verfügt haben oder noch zu verfügen beabsichtigen“. Bevor der Antrag angenommen wurde, gab es eine „ziemlich umständliche Diskussion“ wie der badische Gesandte berichtet39. Durch ihn erfahren wir, dass „von verschiedenen Seiten, insbesondere von den Gesandten von Preußen, Königreich Sachsen, Württemberg und Holstein geäußert wurde, dass vor allen Dingen erforderlich sey, sich über die von den Regierungen zum Schutze des schriftstellerischen Eigenthums zu handhabenden gleichförmigen Grundsätze zu vereinbaren, und dass es nicht genüge, ganz einfach das Verbot des Nachdrucks durch Bundesbeschluss auszusprechen, weil dieses Verbot ohne eine dasselbe näher bestimmende Gesetz keine Anwendung finden könne.“ 35 36 37 38 39
ProtBV 1834 § 60 vgl. auch Anm. 25. GLAK 49, 360 und 236/5745. GLAK 49, 360 und 236/5745. ProtBV 1835 § 140. Bericht v. 3. April 1835 in: GLAK 49, 360.
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Auch in dieser Situation trug von Blittersdorff zur Annäherung der Standpunkte bei, indem er klarmachte, dass ein solcher Beschluss einzelne Staaten, die noch das Privilegiensystem handhabten, veranlassen könnte, ein allgemeines gesetzliches Verbot des Nachdrucks zu erlassen, um dadurch die 1832 beschlossene Gegenseitigkeit mit Leben zu erfüllen. Es sei darüber hinaus sinnvoll, gleichförmige Grundsätze zum Schutz des schriftstellerischen Eigentums zu benennen, die dann im Wege der Partikulargesetzgebung umgesetzt werden könnten. Andere Gesandte waren erheblich skeptischer. Nagler, der Repräsentant Preußens, meinte am 31. Mai 183540, mithin gut einen Monat nach dem neuerlichen Bundesbeschluss, durch die Diskussion um die Organisation sei „die schon so lange beabsichtigte Unterdrückung des Nachdrucks dem Ziel in der That nur wenig näher gerückt, ja vielleicht mehr davon entfernt worden.“
Naglers Einschätzung der Lage war zu pessimistisch, denn der Beschluss vom 2. April hat einen Weg eröffnet, der nach langen Verhandlungen schließlich zu dem für die weitere Geschichte des Urheberrechts so wichtigen Bundesbeschluss von 1837 geführt hat. Auf den Frankfurter Plan eines „Regulativs“ oder die Leipziger „Vorschläge“ kam man auf der Ebene des Deutschen Bundes nicht mehr zurück.
D. Wollte man die Gründe im Einzelnen erörtern, die zur Ablehnung des Frankfurter Planes geführt haben, so müsste man in den Ministerialakten aller Bundesstaaten nachforschen. Dass dies den hier zur Verfügung stehenden Rahmen sprengen würde, steht außer Frage. Es erscheint deshalb sinnvoll, sich auf einige Beobachtungen anhand der Akten in Berlin, Karlsruhe und München zu beschränken. I. Das preußische Außenministerium war – wie bereits erwähnt41 – schon Ende Februar/Anfang März 1834, also vor dem Beginn der Wiener Konferenz, von Metternich über den Regulativentwurf unterrichtet worden. Als es am 22. März den Entwurf an drei andere Ministerien weiterleitete42, schreibt das Ministerium, es hätten „mehrere Buchhandlungen Deutschlands den gegenwärtigen Augenblick, wahrscheinlich mit Rücksicht auf die zur Zeit in Wien Statt findenden Berathungen deutscher Cabinete, als günstig erscheinen lassen, ihre Ansichten darüber: wie die Grundsätze über das literarische Eigenthum in Deutschland am angemessensten regulirt werden könnte,
40 41 42
GSTA PK I. HA Rep. 75 A Nr. 590 und III. HA (2.4.1.) Abt. I 8954. Vgl. GSTA PK III. HA (2.4.1.) Abt. I Nr. 8954 (1) vol. XI. Die folgenden Zitate nach GSTA PK III. HA Abt. I 8954 (2.4.1.).
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Elmar Wadle in einem Entwurf zu einem diesfälligen Regulativ zusammen zu fassen und dieses einigen der größeren Bundes-Regierungen einzureichen.“
Die „Grundidee der gemachten Vorschläge, eine Corporation des deutschen Buchhändler-Vereins zu bilden“, sei zwar nicht neu, sondern „öfter schon als das wirksamste Mittel zur Steuerung des Nachdrucks zur Sprache gekommen“. Bislang sei es allerdings daran gescheitert, dass es kein allgemeines Nachdruckverbot gebe. Dann wird zugestanden, dass die Nachdruckfrage auch anders gelöst werden könne; gleichwohl sprächen für eine Corporation nach Ansicht des Außenministeriums andere Gründe: „Eine besonders unter den gegenwärtigen Zeitumständen vorzugsweise Beachtung verdienende Rücksicht, von der aus sich jener Vorschlag bevorworten ließe, möchte vielmehr die sein: dass eine der gleichen Corporation schon von ihrem eigenen Interesse aus die Nothwendigkeit erkennen werde, sich den Bundes-Regierungen, durch deren gemeinsamen Beschluß sie ins Leben gerufen worden, und in deren vereintem Schutze sie ihre Fortdauer nur allein gesichert sehen kann, möglichst anzuschließen, zu diesem Behufe unter ihren Mitgliedern, auch was den Betrieb ihres Geschäftes betrifft, einen dem Rufe und der bestehenden Ordnung zugewendeten Geist zu wecken und zu pflegen, und dadurch jenem eine ihrer Natur nach sicheren Garantie gegen den Mißbrauch der Presse zu gewähren, als den bisherigen Erfahrungen nach in noch so strengen Repressiv-, oder noch so sorgfältigen geordneten Präventiv-Maaßregeln gefunden werden kann.“
Allerdings sah das Außenministerium auch, dass der Entwurf „einen, wenn auch modifizierten Zunftzwang keineswegs ganz verkennen“ lasse, gleichwohl solle man den Vorschlag prüfen. Die erste Antwort kam aus dem Ministerium des Innern und der Polizei. Der Minister, Freiherr von Brenn, schrieb, „[…] daß ich eine Vereinigung der Buchhändler Deutschlands in einer, die Entfaltung der öffentlichen Ruhe zugewandten Richtung für sehr wünschenswerth halte, daß ich aber diese Richtung in dem vorliegenden Entwurfe vermisse, und von meinem Standpunkte aus die Stiftung eines Vereins deutscher Buchhändler in der durch jenen Entwurf angedeuteten Richtung nicht unterstützen kann, da nicht allein zur Sicherung literarischen Eigentums durch die preußische Gesetzgebung schon mehr geschehen ist, als erreicht werden würde, wenn das entworfene Regulativ die Bestätigung sämtlicher Bundesregierungen erhalten möchte, sondern auch mehrere Bestimmungen des letzteren […] mit den diesseits schon bestehenden Vorschriften nicht zu vereinigen sein würden.“
Die Antwort des Finanzministeriums datiert vom 5. April. Das Ministerium meint, für Buchhandel und Fiskus sei es am besten, wenn „man dessen freieste Bewegung selbst mit mindest möglicher Rücksicht auf das so genannte literarische Eigenthum gestatten wolle“. Das Verbot des Nachdrucks könne man auf „anderem Wege als durch die Errichtung einer Reichszunft der Buchhändler“ erreichen, namentlich durch weitere Bemühungen im Bundestag. Dann heißt es weiter:
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„Jene andere Zwecke aber angehend, welche man durch die Errichtung der allgemeinen deutschen Buchhändlercorporation erzielen will; so beruht deren Verwirklichung auf der Voraussetzung, dass das neu erschaffene Organ derjenigen Macht dankbar und dienstbar bleiben werde, welche es ins Leben hat treten lassen. Die Geschichte aller Zeiten liefert der Beispiele genug von der Trüglichkeit solcher Voraussetzungen. Ganz abgesehen von der politischen Seite der Sache zweifle ich gar nicht, dass auch die in den Ansprüchen auf monopolistische Begünstigung und möglichster Beschränkung des Gewerbes in der Personenzahl der Betreiber die neue Corporation in ihren Bestrebungen dem Vorbild der älteren Schwestern ähneln werde, und lassen sich Andeutungen hierauf bereits in dem vorgelegten Entwurfe deutlich genug wahrnehmen.“
Das „Kultusministerium“, also das Ministerium für geistliche und öffentliche Unterrichtsangelegenheiten, trug am 3. Juli seine „Hauptbedenken“ vor: Sie richteten sich gegen die Übertragung von Kompetenzen an die Bundesversammlung, gegen die Bevorzugung Leipzigs und gegen die Benachteiligung der Schriftsteller. Das für die Gewerbepolitik zuständige Ministerium des Innern für Gewerbe und Handel unter von Schuckmann formulierte schließlich am 15. April die schärfste Ablehnung: „Nach meinem Dafürhalten ist es mit der bestehenden organischen Einrichtung der Deutschen Bundesversammlung ganz unverträglich, derselben die Privat-Interessen einer einzelnen Klasse von Gewerbetreibenden in den zum Bunde gehörigen Staaten, zum besonderen Schutze anzuvertrauen, und zu diesem Zwecke nach dem Inhalte jenes Regulativs die deutschen Buchhändler in eine privilegierte Corporation zu vereinigen, wie solche zur Zeit der Reichs-Verfassung nicht einmal für irgend einen Gewerbzweig unter den Fesseln des Zunftzwanges bestanden hat. Auch würde selbst dann, wenn die Deutsche Bundesversammlung zur Wahrnehmung der Interessen eines HandelsVereins berufen und geeignet wäre, aus staatspolitischen Gründen widerrathen werden müssen, eine Institution zu begründen, welche nach dem vorliegenden Plane, die ohnehin auf anderem Wege zu bewirkende Verhinderung des Nachdrucks und des ProzeßUnfugs als Zweck nur im Schilde führt, in der That aber durch die projectirten Bestimmungen über die Rechte der Schriftsteller, mithin über die Rechte dritter Personen, die Gesetzgebung der Bundesstaaten in ihrer Entwicklung und im Fortschreiten hemmt.“
Im Übrigen verwies das Ministerium auf die beabsichtigte Revision des Allgemeinen Landrechts und die Notwendigkeit, die preußische Gesetzgebung nicht zu fesseln. Dann kommt das Ministerium ins Grundsätzliche: „Im allgemeinen Gewerbe-Interesse aber habe ich bereits im Jahre 1829 den Antrag der hiesigen Buchhändler, auf Vereinigung derselben in eine Corporation zurückgewiesen, und auf die demnächst darüber stattgefundene Staats-Ministerial-Verhandlungen haben des Königs Majestät mittels allerhöchster Kabinettsorder vom 15. Januar 1832 die diesseitige zurückweisende Verfügung zu bestätigen geruht. Es kann also, wenn im Einverständnisse mit dem königlichen Ministerium der Unterrichts- usw. Angelegenheiten wie geschehen, die Bildung einer Gewerbe-Corporation der preußischen Buchhändler nicht zuträglich gehalten worden ist, noch weniger der Corporations-Vereinigung der Buchhändler in ganz Deutschland das Wort geredet werden, und ich glaube daher für jetzt auf eine Prüfung der einzelnen Bestimmungen des in Rede stehenden sogenannten
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Elmar Wadle Regulativs mich nicht einlaßen sondern ohne Weiteres dem Antrage mich entschieden entgegen erklären zu dürfen.“
Daraufhin beschloss man in Berlin, die Angelegenheit bis zur Rückkehr des in Wien weilenden Ministers ruhen zu lassen. Sie wurde im Außenministerium erst sehr viel später wieder aufgenommen. Nachdem die Bundesversammlung beschlossen hatte, die einzelnen Regierungen sollten „geachtete Buchhändler“ über den Regulativ-Entwurf anhören, lud das Außenministerium am 19. 2. 1835 die Herren Reimer, Parthey, Duncker, Ensslin und Müller zu einer Besprechung ein. Dabei dürften die Buchhändler jedoch kaum von den bereits vorliegenden Ansichten abgewichen sein, die der Börsenverein in seiner Stellungnahme niedergelegt hatte. An der negativen Haltung Berlins änderte sich durch diese Vorgänge nichts mehr. II. In Karlsruhe reagierte man ebenso wie in anderen Hauptstädten früh auf den Vorstoß Metternichs43. Reitzenstein, der Bevollmächtigte in Wien, übersandte am 8. Mai 1834 das Frankfurter Papier und vermerkte dabei, dass die Absicht bestehe, den Regierungen eine „Vernehmung der Stimmen achtbarer Buchhändler ihres Landes“ zu empfehlen. Das Staatsministerium veranlasste umgehend (15. Mai) das Innenministerium zu einer Stellungnahme; dies wiederum bezog sich in seinem Votum (30. Juni) auf seine älteren kritischen Äußerungen zu den 1833 von Blittersdorff übermittelten preußischen „Grundzügen“44 und fügte noch einige grundsätzliche Bemerkungen hinzu: „Da es sich hier um keine, - in dem allgemeinen Zwecke des Deutschen Bundes begründete Anordnung, sondern im Sinne des § 7 der Bundesacte um ein jus singulorum handelt, und da eben deswegen in § 18. litt. d kein allgemeines Bundesgesetz über den Bücher-Nachdruck, sondern nur ‚die Abfassung gleichförmiger Verfügungen’ über denselben zugesichert ist, - da es ferner bekanntermaaßen nicht in dem Interesse der kleineren Staaten liegen kann, den Kreis der Bundesgesetzgebung zu erweitern und dadurch die Souveränitaet der einzelnen Staaten zu beschränken, so dürfte es in jeder Beziehung räthlich sein, die in anliegendem Entwurfe enthaltenen Bestimmungen nicht in der Form eines wirklichen Bundes-Gesetzes zu verkünden, sondern sich darüber nur in der Art zu vereinigen, daß jede Regierung nach den verabredeten Grundzügen ein besonderes Landesgesetz erlassen werde. Jedenfalls sind wir der Meinung, daß es der vorgeschlagenen Bestimmungen über den Buchhandel nicht bedürfe, indem in der Deutschen Bundesacte nicht von der Regulirung des Buchhandels, sondern nur von dem Nachdruck die Rede ist. Soweit es sich vom [sic!] dem Mißbrauch der Presse handelt, so bestehen bereits Bundes-Vorschriften und sie sind jedenfalls nicht der Gegenstand des vorliegenden Entwurfs. In anderer Beziehung aber, eignet sich die Regulirung des Buchhandels ebenso 43 44
GLAK 233, 27608. Vgl. die in Anm. 2 angeführte Literatur.
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wenig zu einer bundesgesetzlichen Bestimmung, als jene eines jeden anderen Gewerbes, und da auch in der Bundesacte kein Titel und überhaupt kein Anlaß zu solchen Bestimmungen liegt, so wäre eine Vereinbarung darüber nur unter denselben verfassungsmäßigen Bedingungen und Formen, wie bei anderen Staatsverträgen, möglich.“
Im Übrigen beschränkt sich das Votum auf jene Paragraphen des Regulativentwurfs, die sich mit dem Buchhandelsgeschäft und dem Nachdruck befassen; die meisten seien überflüssig, da in Baden schon vorhanden, anregend oder ergänzungsbedürftig. Diese ablehnende Haltung setzte sich in Karlsruhe allgemein durch, nachdem das Schlussprotokoll und mit ihm die Art. 36 und 37 feststanden. Bereits ein Vermerk vom 3. August, der am 6. September ergänzt wurde, macht deutlich, dass das Außenministerium die Meinung des Innenministers teilte: „Die Grundabsicht des Entwurfs geht dahin, eine Corporation deutscher Buchhändler zu bilden, und denen, die ihr angehören, ausschließlich nicht nur die bundesmäßige Garantie gegen Nachdruck, sondern auch die Befugnis zum Buchhandel zu geben. Die Prüfung der einzelnen Bedingungen, unter welchen dieses geschehen soll, wird es noch klar machen, wie eng dies alles mit dem Privatrechte, u. mit den Polizeigesetzen jedes einzelnen Bundesstaats zusammenhängt. Alle diese Privatrechte und Polizeigesetze müßten also der Bundesgesetzgebung hingegeben werden, – und dabei würde es sich zeigen, daß es nicht allein nicht rathsam ist, die Souveränität der einzelnen Staaten in dieser Weise zu beschränken, sondern daß es auch nicht ausführbar ist, weil das meiste als Gegenstand der Gesetzgebung nicht allein die Übereinstimmung der Fürsten, sondern auch die Beistimmung der Landstände erforderte, u. außerdem bei dem Zusammenhange mit dem Gewerbswesen, mit der Strafgesetzgebung u.s.w. jedes einzelnen Staates eine völlige Übereinstimmung nicht erwarten ließe.“
Besonders scharf wird die Absicht gegeißelt, eine bundesweite Zunft zu etablieren: „Mit Recht wird dagegen bemerkt, daß nicht einzusehen sei, warum es eine Leipziger Börse, u. eines Buchhändlervereins bedürfe, den Buchhandel zu treiben. Eine gute Richtung der Presse wird dadurch nicht bewirkt, da hierüber die Einzelnen eine Verbindlichkeit nicht übernehmen, dazu auch kaum im Stande sind. Die große deutsche Zunft wird aber, wie jede Zunft, am Ende ihren Vortheil besser besorgen, als den des Publikums. Zudem greift es in die Partikulargesetzgebung ein, den Betrieb des Gewerbes von besonderen Qualifikationen oder von einer Immatrikulirung abhängig zu machen, was in den Ländern des Überrheins wo noch die Patente gelten, damit kaum vereinbar wäre. Eine Bekanntmachung derjenigen, die Buchhändlerrecht haben, ist an sich Privatsache – in keinem Falle von so bedeutendem Interesse, um Gegenstand eines Bundesgesetzes zu werden.“
Nach alledem stand für die badische Regierung die Ablehnung des Frankfurter Projekts schon fest, bevor der Bundesbeschluss zur Organisationsfrage (4. Dezember) gefasst wurde. Als der Bundestagsgesandte Ende Januar 1835 die sächsischen Vorschläge nach Karlsruhe übersandte, veranlasste das Innenministerium zwar noch am 17.
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Mai die von der Bundesversammlung gewünschte Befragung von Buchhändlern; demgemäß wurden die Stadtämter in Karlsruhe, Heidelberg und Freiburg angewiesen. An der Politik Karlsruhes hat dies aber nichts mehr geändert. Mittlerweile war im Bundestag bereits der Beschluss vom 2. April zu Art. 36 gefasst worden. III. Die bayerische Regierung brauchte erheblich länger, um eine Antwort auf den Bundesbeschluss vom 4. Dezember zu finden45. Erst nachdem das Innenministerium mit Hilfe der Kreisregierungen die Buchhändler hatte befragen lassen, gelangte man in München zu einem bestimmten Ergebnis. Am 16. Januar 1836 konnte das Innenministerium Bericht erstatten und seine eigene Bewertung formulieren. Da mittlerweile auch schon der Bundesbeschluss vom 2. April 1835 gefasst worden war, schied man alle Vorschläge aus, die „auf den Nachdruck und auf die Sicherung des schriftstellerischen Eigenthums Bezug“ hatten, und beschränkte sich auf den „Gesichtspunkt der Gewerbs-Ordnung“. Darüber hinaus wählte das Ministerium nur einige für die Vereinbarung im Bund geeignete Aspekte aus, um skeptisch anmerken zu können, dass es zweifelhaft sei, ihretwegen einen Bundesbeschluss zu fassen. Auf erhebliche Bedenken stießen vor allem die Pläne einer „allgemeinen Buchhändler-Matrikel“, einer generellen Anmeldepflicht für alle Verlagswerke und erst recht die Schaffung einer Korporation: „Eine Anordnung durch Bundesbeschluß würde den Character der Maasregel in vielen Beziehungen verändern, und dem dadurch anerkannten Verein der Buchhändler eine Stellung, dem Bunde und den einzelnen Landes-Regierung gegen über, geben, woraus wenigstens für die letzteren Inconvenienzien von mancherley Art entspringen könnten“.
Noch weitere Gründe wurden vorgebracht: Zum einen der Wunsch, in Nürnberg eine eigene Buchhändlermesse zu begründen und zum anderen die Erwartung, dass die Registrierungspflicht für Bücher erfolglos bleiben werde. Da das Außenministerium seine Bedenken am 28. Januar 1836 noch schärfer formulierte, stand das Ergebnis der internen Willensbildung im Wesentlichen fest. In der gemeinsamen Vorlage an den König vom 24. April lauten die zentralen Sätze: „In der Hauptsache hat sich im Benehmen mit dem eben erwähnten Staatsministerium herausgestellt, a) daß einige der besagten Vorschläge den souveränen Regierungen sehr präjudizierlich seyen und gewissermaaßen eine von den Landes-Regierungen eximierte, durch ganz Deutschland verbundene Corporation des Standes der Buch- und Kunsthändler constituiren würde, um solche unmittelbar unter die Bundesversammlung zu stellen.
45
BayHStA MA 1868.
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b) einige Maaßregeln würden hingegen von der Beschaffenheit seyn, daß sie den Schutz der Landespolizei-Gewalt für Kunst und Wissenschaft billig in Anspruch nehmen, und unbeschadet der Landesgesetzgebung als allgemeine Maximen der BundesRegierungen zu empfehlen wären.“
Die Anweisung an den bayrischen Bundestagsgesandten war unmissverständlich: Er hatte „1. Die bey der Bundesversammlung vorgekommenen, der Souveränität des Monarchen von Bayern präjudizirlichen Vorschläge unumwunden abzulehnen, 2. und nur jene der Landespolizeigewalt entsprechenden Schutzmaasregeln anzuempfehlen, welche unbeschadet der Landesgesetzgebung für den Schutz der Kunst und Wissenschaft als allgemeine Maximen in Anspruch zu nehmen sind.“
IV. Der Blick in die Akten der drei Regierungen lässt deutlich werden, dass diese teils übereinstimmende, teils unterschiedliche Gründe hatten, jede Organisation des Deutschen Buchhandels abzulehnen, die sich an dem Frankfurter „Regulativ“ oder an den Leipziger „Vorschlägen“ orientieren würde. Die „Organisation“ war weder mit liberaler Wirtschaftspolitik noch mit den gewohnten Souveränitätsvorbehalten gegenüber dem Deutschen Bund zu vereinbaren. Die Pläne einer „Bundeszunft“ verschwanden endgültig aus der Diskussion. Preußen forcierte die anstehenden Verhandlungen zur Ausführung des Artikels 36 der Wiener Beschlüsse und damit die Bemühungen um die „gemeinsamen Grundsätze“. Die übrigen Regierungen folgten mehr oder weniger schnell diesem Weg, der letztlich im bereits mehrfach erwähnten Bundesbeschluss vom 9. November 1837 endete.
E. Anhang Entwurf zu einem Regulativ für den literarischen Rechtszustand (Abdruck nach der Ausgabe von Weechs, vgl. Fn. 4): In Erwägung, daß die Feststellung der literarischen Eigenthumsrechte in Deutschland und die hierzu erforderliche Organisation des deutschen Buchhandels ein längst gefühltes Bedürfniß ist, dessen Abhilfe von den wohlthätigsten Folgen für die allgemeine und wissenschaftliche Cultur, die deutsche Presse und den literarischen Verkehr überhaupt sein wird; in Erwägung ferner, daß der Buchhandel in Folge der Censur, der Bücherverbote und der Ertheilung von Concessionen für Buchhandel und Buchdruckereien als ein mehr oder weniger vom Staate abhängiges Institut zu betrachten ist, dessen freie Bewegung den gesetzlichen Bestimmungen mehr unterworfen ist wie ein jeder anderer Handel, – sind sämmtliche Staaten des deutschen Bundes dahin übereingekommen, den Buchhandel unter ihren besonderen und speziellen Schutz zu nehmen, und zu dem Ende nachstehende
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gesetzliche Bestimmungen aufzustellen, zu deren Festhaltung jeder deutsche immatriculirte Buchhändler berechtigt sein soll, seinen Recurs an die Intercession des Bundestags zunehmen, im Falle einer Uebertretung des gegenwärtigen Regulativs, oder einer Justizverzögerung oder Verweigerung in einem Bundesstaate. 1. Sämmtliche in den deutschen Bundesstaaten wohnende und zur Betreibung einer Verlags- oder Sortimentsbuchhandlung Berechtigte sind gehalten, sich binnen sechs Monaten, von der Publication des gegenwärtigen Regulativs an gerechnet, bei den von ihren resp. Regierungen dazu bestellten Behörden immatriculiren und dadurch ihre Befugniß als berechtigte Buchhändler bestätigen zu lassen. 2. Die auf diese Weise bestätigten Buchhandlungen, gleichwie die späterhin immatriculirten, bilden die Corporation des deutschen Buchhändlervereins, werden Mitglieder der in Leipzig bestehenden Buchhändlerbörse, und haben sich bei dem Vorstand derselben als berechtigte Buchhändler einschreiben zu lassen. 3. Niemand kann in diesen Verein aufgenommen und zur Betreibung einer Buchhandlung künftig berechtigt werden, als Solche, welche dieses Geschäft in der üblichen Lehrzeit praktisch erlernt und bei ihrem Etablissement Zeugnisse ihres Wohlverhaltens sowie Beweise beibringen, daß sie nicht ganz ohne verhältnismäßige Geldmittel sind. 4. Außer den auf obige Weise immatriculirten Buchhandlungen ist Niemand, weß Standes und Gewerbes er auch sein möge, befugt, eine Verlags- oder Sortimentsbuchhandlung zu betreiben, und namentlich steht dieses nicht zu: 1) Den Buchdruckereien und Leihbibliotheken, im Falle keine berechtigte Buchhandlung damit verbunden ist; 2) Den Autoren, welche ihre Werke selbst drucken lassen, wegen deren Debit sie sich mit einer Buchhandlung vereinen müssen; 3) Den Antiquaren, welche sich alles Verlags- und Sortimentshandels zu enthalten und einzig auf den Handel mit alten, gebundenen und gebrauchten Büchern zu beschränken haben; 4) Den Buchbindern, die auf ihr Gewerbe angewiesen sind und denen nur der Verkauf von gebundenen Bibeln, Gesang- und solchen Büchern erlaubt ist, welche in den Elementarschulen auf dem Lande eingeführt sind, und 5) Den Hausirern, denen der Verkauf von Büchern gänzlich untersagt ist, bei Strafe von fünfzig Thalern oder zwanzigfachen Werthe des betreffenden Gegenstandes für jeden überwiesenen Fall, welcher obigen Bestimmungen entgegen ist. 5. Der Nachdruck sämmtlicher in Deutschland im Verlag oder in Commission bei immatriculirten Buchhändlern erschienenen und außer den Bestimmungen des § 12. liegenden, so wie aller künftig erscheinenden Werke ist gänzlich und für immer untersagt und das schriftstellerische Privateigenthum von dem gegenwärtigen Augenblick an unter den besondern, gegenseitigen Schutz sowohl sämmtlicher Regierungen als auch des deutschen Bundes gestellt. Der Nachdruck aller im Ausland erscheinenden Werke ist dagegen erlaubt und
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steht einem jeden immatriculirten Buchhändler frei, insofern nicht Landesgesetze, Bestimmungen des deutschen Bundes oder der Bundesversammlung, oder Staats- und rechtsgültige Privatverträge demselben entgegen sind. Jeder Buchhändler ist verbunden, außer der Beobachtung der in Beziehung auf Preßfreiheit bestehenden gesetzlichen Bestimmungen, auf alle Werke, die bei ihm, von den Publicationen dieses Regulativs an, erscheinen, oder deren Debit er von einem Autor oder Selbstverleger für seine Rechnung und Verbindlichkeiten übernimmt, benebst der Jahreszahl der Publication, auch seine Firma beizusetzen, bei Strafe, im Unterlassungsfalle sein ohne Angabe der rechtmäßigen Firma erschienenes Werk der Confiscation ausgesetzt zu sehen. Von jedem Werke, welches von jetzt an in den deutschen Bundesstaaten erscheint, ist der Verleger gehalten, an die ihm von seiner Regierung bestimmte Behörde, vor Ausgabe des Werks, zwei Exemplare abzuliefern und dagegen eine Bescheinigung zu empfangen, die ihm von der Behörde bei Ueberlieferung ohne weitre Rücksicht auf den Inhalt des Werks, in welcher Beziehung es bei den bestehenden Gesetzen sein Verwenden hat, ausgefertigt werden muß. Diese Bescheinigung giebt ihm das Recht, auf dem Titel seines Werks oder auf dessen Kehrseite die Bemerkung „d epon ir t“ oder „ge s e tzmä ß ig h in t er leg t “ zu drucken, welches einem Privilegium gegen den Nachdruck gleich zu achten ist, und in allen deutschen Bundesstaaten gleichen Schutz genießt. Alle Werke, welche nicht deponirt werden, stehen außer dem Schutz des obigen Privilegiums und können auf keine in diesem Regulativ bestimmten Rechte Anspruch machen; jedes Werk aber, welches unter dieser Aegide erscheint, ohne wirklich deponirt zu sein, ist der Strafe der Confiscation unterworfen. Nur immatriculirte Buchhändler können auf diese Weise ihre Verlagswerke deponiren, und jede Deposition, die nicht von einem solchen ausgeht, wird von der dazu bestellten Behörde nicht angenommen und als ungültig betrachtet. Jeder Buchhändler, welcher des Nachdrucks eines solchen deponirten Werkes überführt wird, ist seiner Matrikel auf Lebenszeit verlustig, wird unter öffentlicher Bekanntmachung als Mitglied des Buchhändlervereins gestrichen und ist seiner Börsenrechte beraubt. Auch ist der von ihm veranstaltete Nachdruck der Confiscation unterworfen und der Originalverleger berechtigt, auf Entschädigung zu klagen. – Dagegen ist Der Verkauf aller bis zur Publication dieses Regulativs veranstalteten Nachdrücke noch auf die Dauer von fünf Jahren in allen deutschen Bundesstaaten erlaubt; nach Ablauf dieser Frist aber gänzlich und dergestalt untersagt, daß ein jeder Buchhändler, welcher des Verkaufs eines solchen verfallenen Nachdrucks überführt ist, in eine Strafe von fünfzig Thalern oder zwanzigfachem Werthe des verkauften Gegenstandes für jeden einzelnen Fall zu Gunsten des rechtmäßigen Verlegers versetzt wird. Der oben bezeichnete Nachdruck darf jedoch während diesen fünf Jahren nicht auf die Leipziger Buchhändlermesse gebracht und dort in Masse debitirt werden; eben so wenig darf während der anberaumten Frist von fünf Jahren der zusammengegangene Vorrath eines Nachdrucks neu aufgelegt werden, bei Strafe der Confiscation der veranstalte-
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ten Auflage und des doppelten Werthersatzes der etwa schon verkauften Exemplare, zu Gunsten des rechtmäßigen Verlegers. Da nun auf diese Weise der fernere ungesetzliche Nachdruck gänzlich verboten und der Debit der bis daher noch bestehenden Vorräthe beschränkt worden ist, so treten dagegen folgende gesetzliche Bestimmungen ein, nämlich: Von dem Augenblick an, wo gegenwärtiges Regulativ in Kraft tritt, sind die sämmtlichen Werke aller vor zwanzig Jahren verstorbenen Autoren als Gemeineigenthum zu betrachten, und es steht deren Wiederauflage unter Beobachtung der Pressgesetze, jedem immatriculirten Buchhändler frei. Dasselbe gilt von allen ohne Angabe des Autors erschienenen, oder von mehreren Verfassern redigirten Werken, von denen in den letztverflossenen zwanzig Jahren von dem Datum der gegenwärtigen Bestimmung zurückgerechnet, keine neue Auflage erschienen ist; dasselbe gilt von allen commentirten oder bereicherten neuen Auflagen älterer Schriften, desgleichen von deutschen Uebersetzungen, in fremden, alten oder neuen Sprachen erschienener Werke. Alle Buchhandlungen, welche von diesem ihnen zustehenden Rechte des Wiederabdrucks älterer Werke Gebrauch machen wollen, sind gehalten, solche Unternehmungen spätestens zwei Monate vor deren Herausgabe in dem von dem Vorstand des Buchhändlervereins zu diesem Behuf redigirten Blatte öffentlich bekannt zu machen, um dem ursprünglichen Verleger oder den Erben des verstorbenen Autors Zeit zu lassen, bei dem genannten Vorstand oder bei der den Abdruck beabsichtigenden Buchhandlung Widerspruch einzulegen, und sofern dieser nicht beachtet werden sollte, Recurs an die geeignete Behörde zu nehmen. Im Fall einer Uebertretung dieser Vorschrift haftet der Verleger des neuen Abdrucks dem Urverleger oder den Erben des Autors für allen Schaden, und ist ein solcher in dem obigen Blatte nicht angekündigter Wiederabdruck als ein Nachdruck zu behandeln. Ein jeder solcher neu veranstalteter Abdruck muß, gleich einem neuen Verlagswerke, bei der betreffenden Behörde zu zwei Exemplaren gegen Bescheinigung deponirt und auf dem Titel oder dessen Kehrseite gesetzt werden: „n eu v er anstalteter depon ir ter W ied erabd ruck “ oder „n euer ges e t zm äß ig h i n t er leg t er A b d r u ck “, wodurch der neue Abdruck, wenn seiner Erscheinung sonst keine rechtsgültigen Hindernisse entgegenstehen, den Stempel der Rechtmäßigkeit erhält. Alle Werke, welche ohne diese Formalität wieder aufgelegt werden, sind als Nachdruck anzusehen und als solcher zu behandeln. Die oben in § 12 und 13 ausgesprochenen Bestimmungen bleiben, sobald sie in Kraft getreten, während drei Jahren unverändert, und ohne in ihrer Wirkung mit der Zeit fortzuschreiten, stehen, um dem Buchhandel Zeit zu lassen, seine künftigen Einrichtungen darnach zu modeln; nach Ablauf dieser drei Jahre aber würde obiges Gesetz als fortwirkend anzusehen sein, dergestalt also, daß, wenn z.B. dasselbe vom 1. Juli 1834 publicirt würde, alle Werke, welche bis zum 1. Juli 1834 den obigen Bestimmungen unterlägen, freies Eigenthum würden – aber erst 1837 dürfte man anfangen die Werke wieder aufzulegen, welche 1815, 1816 und 1817 dem Gesetze verfallen sind, und dann schritte
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dasselbe erst in dem ursprünglich ausgesprochenen Sinne mit jedem Jahre fort. 17. Gegenwärtiger Entwurf eines Regulativs soll zur nächsten Leipziger Buchhändlermesse dem Vorstand der Buchhändlerbörse übergeben und von demselben sämmtlichen anwesenden Buchhändlern zur Discussion vorgelegt werden, worauf er, mit allen Erörterungen begleitet, spätestens binnen zwei Monaten vom Tage des Empfangs, an die hohe deutsche Bundesversammlung gehen und von dieser sodann mit Berücksichtigung der vorliegenden Materialien als Grundbestimmung zur Feststellung der literarischen Eigenthumsrechte in Deutschland definitiv festgestellt und in Kraft gesetzt werden soll.
Verfassungspolitisches Denken im Vorfeld des Grundgesetzes Deutsche Geschichtsbilder und Zukunftsvisionen zwischen 1945 und 1948 Dietmar Willoweit
A. Einführung: Das Thema und die Quellen Die realpolitischen Bedingungen der Entstehung des Grundgesetzes seit der Londoner Sechsmächtekonferenz in der ersten Jahreshälfte 1948 mit dem Verfassungsauftrag der Alliierten in den „Frankfurter Dokumenten“, den widerstrebenden Beratungen der westdeutschen Ministerpräsidenten und schließlich der Tätigkeit des Parlamentarischen Rates seit dem 1.September 1948 sind bekannt. Was sich schwieriger rekonstruieren läßt, sind die mentalen Bedingungen der Verfassungsgebung, also die verfassungspolitischen Vorstellungen und Ziele der Deutschen seit 1945. Es ist zu vermuten, daß diese Anfänge des verfassungspolitischen Denkens nicht ohne weiteres deckungsgleich sind mit der Auslegungsgeschichte des Grundgesetzes und seiner historischen Deutung seit 1949. Der nackte Verfassungstext, den der Parlamentarische Rat am 8. Mai 1949 verabschiedet hat, konnte in verschiedener Weise zum Leben erweckt werden. Das in Deutschland vorhandene staatstheoretische Potential tritt seit dem Sommer 1945 zunächst in einzelnen Druckschriften, dann in den nach und nach gegründeten kulturpolitischen Zeitschriften allmählich bruchstückhaft in Erscheinung. Die folgenden Darlegungen beruhen auf einer umfassenden Durchsicht und ausgewählten Lektüre von Zeitschriften wie „Frankfurter Hefte“, „Gegenwart“, „Neues Abendland“, „Deutsche Rundschau“, „Merkur“ und vergleichbaren Druckwerken. Dabei ergaben sich erstaunliche Übereinstimmungen, so daß für die meisten hier mitgeteilten Beobachtungen weitere Belege benannt werden könnten. Angesichts der Fülle der vorhandenen Texte, vor allem auch vieler vergessener, selbständig publizierter Kleinschriften, kam eine andere als exemplarische Arbeitsweise nicht in Frage. Es handelt sich also um eine erste Bestandsaufnahme, die sich allein auf die Quellentexte konzentriert und diese erschließen möchte, auf eine Diskussion des wissenschaftlichen Schrifttums zur unmittelbaren Nachkriegszeit also verzichtet. Der Stoff soll in zwei Abschnitten grob gegliedert werden. Der erste ist überschrieben „Die Stunde Null“ und versucht, die Wahrnehmung der damaligen Gegenwart und die Beurteilung der deutschen Vergangenheit zu beschreiben. Der zweite Abschnitt ist dem „Projekt Zukunft“ gewidmet und schildert die in die öffentliche Diskussion eingeführten verfassungspolitischen Vorschläge. Abschlie-
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Dietmar Willoweit
ßend wird über die Fragen nachzudenken sein, die sich aus diesem Aspekt des „Wiederaufbaus“ ergeben.
B. Die Stunde Null I. Wahrnehmungen und Stellungnahmen der Zeitgenossen Einige Zitate mögen zunächst eine Ahnung vermitteln, in welcher Atmosphäre die Deutschen im Sommer und Herbst 1945 allmählich wieder zu sich kamen. Zu den frühesten Zeugnissen gehört eine Rede des von den Amerikanern eingesetzten Würzburger Regierungspräsidenten, des früheren Reichsministers Adam Stegerwald, die dieser am 21. August 1945 vor Vertretern der Religionsgemeinschaften, unter denen auch die jüdische Gemeinde wieder vertreten war, der Wirtschaft und Landwirtschaft, der Gewerkschaften, Jugend, Frauen usw. in Gegenwart der örtlichen Militärregierung gehalten hat. Stegerwald sieht sich zunächst veranlaßt, auf die Tatsache einzugehen, daß „in den letzten Wochen […] die Reinigung des deutschen Lebens vom Nationalsozialismus starke Spannung und Erregungen hervorgerufen [hat]
und er fährt fort: „Daß eine gründliche Reinigung des deutschen Lebens vorgenommen werden muß, darüber gibt es keine Meinungsverschiedenheit und kann es eine solche nicht geben […] Zugegeben wird auch von der Militärregierung, daß bei Entlassungen größere Härten und Ungerechtigkeiten vorkommen […] [aber] die Militärregierung hat für ihr Verhalten natürlich auch ihre Gründe. Sie sagt: Ihr müßt euch vorstellen, daß die bekanntgewordenen Vorgänge in den Konzentrationslagern in der Welt eine ungeheure Empörung ausgelöst haben. Ich stand diesen Verlautbarungen am Rundfunk während des Krieges und nachher lange Zeit skeptisch gegenüber. Unterdessen habe ich mit vielen Menschen, die aus dem Konzentrationslager kamen […] geredet […] Ein christlicher Gewerkschaftssekretär saß sieben Jahre in Buchenwald und in zwei anderen kleinen Konzentrationslagern. Ich frug ihn: Wie viele Menschen sind in den Konzentrationslagern, in denen Sie waren, umgekommen oder umgebracht worden? Nach längerem Überlegen sagte er: Zwischen 50000 und 60000. Ich fragte weiter: Wie viele waren davon Ausländer? Und erhielt zur Antwort: Zwischen 75 und 90%. Wenn ich diese Angaben auf alle Konzentrationslager umrechne, dann sind mehrere hunderttausend Menschen, meist Ausländer, in den Konzentrationslagern gestorben oder umgebracht worden. Wenn man solche Dinge erfährt, dann muß man sich als Deutscher tatsächlich schämen, daß wir solche Massenmörder, solche Scheusale, solche Verbrecher in unserem Lande hatten.“1
Obwohl sich Stegerwald – in einem Lande fast ohne Medien und Kommunikationsmöglichkeiten – um Aufklärung bemüht, ist ihm das wirkliche Ausmaß des 1
Adam Stegerwald, Wo stehen wir?, Würzburg 1945, S. 4 ff.
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mörderischen Geschehens offenbar noch nicht bekannt. Dafür muß er sich mit der Rechthaberei noch immer selbstbewußter Nationalsozialisten herumschlagen. Wenige Wochen später ist auf einer Gründungsversammlung der Christlich Sozialen Union in Bamberg von der „Gleichgültigkeit“ die Rede, „mit der weiteste Volkskreise den sich immer mehr anhäufenden Verbrechen der nationalsozialistischen Führer zusahen oder in der Ausführung unterstützten“. Dennoch dürfe man sich „Gedanken über den Wiederaufbau Deutschlands machen“, weil „nach unserer Meinung Gott unser deutsches Volk zwar für durch seine Glieder begangene Freveltaten gezüchtigt hat“, es aber nicht seinem Willen entspreche, „unser deutsches Volk und Vaterland gänzlich vom Erdboden zu vertilgen“.2
Nicht nur die äußere, heute kaum noch vorstellbare Notlage, gerade auch die moralische Dimension der deutschen Katastrophe zwang dazu, sich mit dem eigenen Schicksal, mit Vergangenheit und Zukunft in diesem Lande, auseinanderzusetzen. Bei Karl Jaspers klingt es im ersten Heft der „Wandlung“ im November 1945 nicht sehr viel anders: „Wir haben fast alles verloren: Staat, Wirtschaft, die gesicherten Bedingungen unseres physischen Daseins, und schlimmer noch als das: die giltigen uns alle verbindenden Normen, die moralische Würde, das einigende Selbstbewußtsein als Volk […] Wir sind innerlich und äußerlich verwandelt in zwölf Jahren. Wir stehen in weiterer Verwandlung, die noch unabsehbar ist.“3
Das Motiv, alles werde nun anders als bisher, bezieht seine Überzeugungskraft aus dem völligen Untergang der deutschen Staatsgewalt. Benno Reifenberg schreibt im Januar 1946 zum Jahrestag der nationalsozialistischen Machtübernahme: „Aus den Fackelzügen dieses 30. Januar ist […] binnen dreizehn Jahren die totale Ohnmacht der ganzen Nation erwachsen“, nachdem sich „zwischen Macht und Recht ein Abgrund“ aufgetan hatte.4
Niemand wird diesen Autoren vorwerfen können, sie seien nicht bereit gewesen, sich der Vergangenheit zu stellen, sondern bemüht, diese zu verdrängen. Wer sich jetzt wieder zu Wort meldete, hatte das Dritte Reich geduckt, in Haft oder im Exil überleben müssen. Nun offen über das Hitlerregime reden zu können, hatte zweifellos auch etwas Befreiendes an sich und wurde von vielen dieser politischen Intellektuellen, die in der Regel schon vor 1933 am öffentlichen Leben teilgenommen hatten, auch aus erzieherischen Gründen für notwendig gehalten. Immer wieder klingt an, es sei die Jugend gewesen, die sich von Hitler habe begeistern lassen und nun enttäuscht und mißtrauisch jedem politischen System gegenüberstehe. Ludwig Bergsträsser, von den Amerikanern in Darmstadt als Regierungs2
3 4
Gerhard Kroll, Bamberger Denkschrift zur Schaffung einer politischen Einheitsfront aller Christen Deutschlands. Als Manuskript gedruckt, o. O. o. J. (1945), S. 5. Karl Jaspers, Geleitwort, in: Die Wandlung, November 1945, S. 3. Benno Reifenberg, Vom Fundament der Demokratie, in: Die Gegenwart, Nr. 2/3, Januar 1946, S. 12.
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präsident eingesetzt, später Politologe in Freiburg, hat in mehreren Reden vor jungen Menschen Aufklärungsarbeit zu leisten versucht. Darin finden sich so treffende Sätze wie diese: „Das Wesentliche am Nationalsozialismus war doch wohl, daß er seine Unmöglichkeit für eine Wirklichkeit hielt […] Wer so Politik macht, der versteht die Politik nicht. Durch die Politik der Illusionen und ‚Nicht-Wirklichkeit’ geht es uns allen so schlecht […].“5
Orientierung an der Wirklichkeit bot die Geschichte vor dem Hitlerregime. Daß diese Möglichkeit genutzt werden mußte, hatte schon Jaspers in seinem Geleitwort zur „Wandlung“ gesehen: „Wir wollen in öffentlicher Diskussion uns der Bindungen bewußt werden, aus denen wir leben. Einer der möglichen Wege dahin ist die Geschichte […]. Für uns zunächst in dem Jahrtausend deutscher Geschichte, dann der abendländischen Geschichte, schließlich aber der Menschheitsgeschichte im ganzen […]. Was und wie wir erinnern, und was wir darin als Anspruch gelten lassen, das wird mitentscheiden über das, was aus uns wird. Dort finden wir den Grund der Geschichte, dem wir gehorsam sein wollen – ‚einen anderen Grund kann niemand legen, als der von Anfang gelegt ist’.“6
Seit jeher hat die Menschheit normative Maßstäbe der Geschichte entnommen. So notwendig dies auch nach 1945 gewesen ist – in gesellschaftlichem Einvernehmen konnte es nicht geschehen. II. Kritik an der deutschen Vergangenheit Das verfassungspolitische Denken der ersten Nachkriegsjahre war untrennbar mit historischen Reflexionen über die deutsche Geschichte verbunden. Man könnte vom Versuch einer umfassenden Vergangenheitsbewältigung sprechen, wenn dieses später erfundene Wort nicht gerade auf die zwölf Jahre der Hitlerdiktatur bezogen würde. Deren Ungeheuerlichkeiten aber waren entweder aus persönlichem Erleben noch präsent oder aus jeder Zeitung zu entnehmen. Sich darüber zu verständigen schien weniger wichtig als eine Antwort auf die Frage, wie das alles hatte geschehen können. Daher konnte es nicht ausbleiben, daß die deutsche Geschichte harter Kritik unterzogen wurde. Drei Ebenen eines solchen geschichtskritischen Denkens lassen sich unterscheiden: Kritik an der Weimarer Republik, Kritik an autoritären staatlichen Traditionen Deutschlands, endlich auch Kritik an
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Ludwig Bergsträsser, Der Weg der Jugend in unserer Zeit (Reden vom 27. Juli und 15. September 1946), Offenbach 1947 (Schriftenreihe Schule und Erziehung, Heft 4), S. 16, 24. Die einstige Begeisterung der Jugend für Hitler klingt bei mehreren Autoren an, vgl. etwa noch Reifenberg, in: Die Gegenwart, Nr. 2/3, Januar 1946, S. 14; Clemens Münster, Abbau der nationalen Souveränität, in: Frankfurter Hefte, August 1946, S. 2. Jaspers, Geleitwort, in: Die Wandlung, November 1945, S. 5.
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epochal wirksamen Kräften der Zerstörung, die schon seit dem Ende des Mittelalters jenen Weg gebahnt haben sollen, den Hitler dann beschritten hat. Das Thema „Weimarer Republik“ steht vorerst noch nicht im Vordergrund. Wo es jedoch zur Sprache kommt, ist die Kritik so gut wie einhellig und massiv, zum Beispiel im Mai 1946 in den Frankfurter Heften: „Wohl alle kritischen Betrachter der Entwicklung der Weimarer Republik sind sich darin einig, daß die Einführung des Verhältniswahlsystems den Untergang entscheidend begünstigt hat. Man macht diesem Wahlsystem mit Recht den Vorwurf, daß es das Band zwischen Abgeordneten und Volk zerschnitt, daß es nicht die Persönlichkeit der Repräsentanten, sondern Parole und Propaganda in den Vordergrund der politischen Entscheidung des Wählers schob, daß es eine einseitige Parteiherrschaft förderte, indem es die Auswahl der Kandidaten der Kontrolle durch das Volk entzog und sie ausschließlich in die Hände der Parteibürokratie gab, daß es dadurch die Parteigegensätze übermäßig verschärfte, die Parteien zu bloßen Interessenvertretungen machte, einer Unzahl von Splitterparteien zum Leben verhalf und die politische Atmosphäre vergiftete.“7
Zwischen diesem Befund und dem Erfolg der Nationalsozialisten soll ein direkter Zusammenhang bestehen. In einem Beitrag für die „Wandlung“ heißt es etwa: „Bei der Beurteilung des Werts oder Unwerts des parlamentarischen Regierungssystems bei uns muß man von der elementaren Tatsache ausgehen, daß dieses System unter der Weimarer Verfassung in Reich und Ländern mit einem völligen Mißerfolg geendet, daß es sich mit seinen Folgen als der wirksamste Schrittmacher des Nationalsozialismus erwiesen hat […].“8
Das klingt wie eine Stellungnahme aus den Kreisen des ehemaligen deutschen Widerstandes. Der Parlamentarismus erschien ein für allemal diskreditiert und die Überzeugung aus der Zwischenkriegszeit, er befinde sich überall in Europa in einer tiefen Krise – ausgenommen den spezifischen Sonderfall Großbritannien –, lebte fort. Andererseits ist in dem gesamten, von unseren Quellen erfaßten politischen Spektrum der Glaube weit verbreitet, daß es die autoritär geprägte Geschichte der deutschen Staatlichkeit gewesen sei, die folgerichtig zu einem System wie dem Hitlers geführt habe. Schon Stegerwald hielt Hitlers Festakt in der Garnisonskirche von Potsdam nicht nur für eine wirksame politische Inszenierung: „Mit Friedrich dem Großen nahm Preußen seinen Aufstieg zur Großmacht. Aus dieser Großmacht ist das bismarcksche Reich von 1871 gebildet und gestaltet worden […]. Der Staat Friedrichs des Großen war ein ausgesprochener Soldatenstaat, von dem auch 7
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Günther Willms, Die deutschen Landesverfassungen, in: Frankfurter Hefte, August 1946, S. 22 f. Subtiler Helene Wessel, Von der Weimarer Republik zum demokratischen Volksstaat, o. O. 1946, S. 8 ff.; dies., Der Weg der deutschen Demokratie, o. O. 1946, S. 7. Ottmar Bühler, Die geistige Lage des neuen deutschen Landes-Parlamentarismus, in: Die Wandlung, Juli 1948, S. 334 ff., 337.
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Dietmar Willoweit das spätere bismarcksche Reich sein Gepräge bekommen hat. In dem friderizianischen Staat wurde die Staats-Omnipotenz Mittelpunkt des öffentlichen politischen Lebens und Denkens. Diese Staatsallmacht wurde gegenüber der Freiheit des Einzelmenschen auch in der Philosophie und Geschichte vergeistigt.“9
Von der den Deutschen „seit Jahrhunderten eingepflanzten Untertanengesinnung“, von den „sehr ausgeprägten Standes- oder Kastenansichten“ der deutschen Beamten, von „Staatsvergottung“ und vom „rückständigen deutschen Polizeistaat“ war fortan immer wieder die Rede. Wortführer des politischen Katholizismus haben mit dieser Kritik an die habsburgisch-großdeutsche Reichstradition angeknüpft: „So waren die Feldzüge Friedrichs des Großen […] Beginn des Kampfes der undeutsch-preußisch-zentralistischen Staatsauffassung gegen die im christlichen Naturrecht wurzelnde föderalistische Reichsidee […]“, und später hatte „das Preußentum […] richtig erkannt, daß die volle Verwirklichung seiner staats- und machtpolitischen Ideen durch den Mann aus Braunau erfolgen soll, daß […] der Nationalsozialismus nichts anderes sein würde als die Vollendung des Preußentums.“10
Selbst für den nachdenklichen Eugen Kogon steht fest, daß der „zentralistische Nationalstaat […], mag er auch vorübergehend, wie jedes wuchernde Gebilde, zu blühen scheinen […] am Ende ohne Kräfte, die dem Verfall entgegenwirken, stirbt: Kampffeld aller gegen alle, Beute der Diktatur.“11
Die Vergangenheitskritik aus dem katholischen Lager – und darüber hinaus – packt nicht selten aber noch härter zu. Die im September 1945 entstandene Bamberger Denkschrift, die die Gleichgültigkeit gegenüber den nationalsozialistischen Willkürakten und deren Unterstützung angeprangert hatte, erklärte sich über die Gründe in folgender Weise: „Hätten nicht lange, bevor der Nationalsozialismus zur Macht kam, der geistige Materialismus und Nihilismus ihm den Weg bereitet, nie hätte das geschehen können, was geschehen ist. Der Materialismus der Neuzeit in seinen vielfältigen Formen von der Aufklärung über den Empirismus, Positivismus, Marxismus, Darwinismus u. a. war der Wegbahner des Nationalsozialismus, indem er für seine verwerflichen Methoden die wichtigste Voraussetzung schuf, nämlich die Existenz Gottes leugnete […]. Es bedurfte nur des Mannes, der mit dämonischer Gewalt diese Gegebenheit auszubeuten entschlossen war, und der Vernichtungsweg nationalsozialistischer Gewaltpolitik konnte
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Stegerwald, Wo stehen wir?, S. 19. Vgl. auch Bernhard Guttmann, Verfassungen, in: Die Gegenwart, Mai 1946, S. 11; ders., Metamorphosen des Staates, ebd. Mai 1947, S. 12 ff.; Johannes v. Elmenau, Geschichte, Volkscharakter und Demokratie, in: Deutsche Rundschau, September 1948, S. 191 ff. Josef M. Graf von Soden-Fraunhofen, in: Neues Abendland, November 1946, S. 6 f. Zur „Wiederbelebung des alten Reichsbegriffes“ vgl. auch E. Schmittmann, Der deutsche Reichsgedanke, in: Neues Abendland, August 1946, S. 23 ff. Eugen Kogon, Demokratie und Föderalismus, in: Frankfurter Hefte, September 1946, S. 66 ff., 67.
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seinen Lauf nehmen. Die Diktatur allein ermöglichte die restlose Ausnutzung aller zerstörenden Kräfte, die Voraussetzungen selbst waren jedoch längst vorher gegeben.“12
Seit März 1946 verstand sich das „Neue Abendland“ als Sprachrohr solcher Anklagen. Im programmatischen Einleitungsartikel heißt es, „daß die Zerstörung des abendländischen Universalismus bereits begonnen hat in der Sucht der Ratio, Dinge zu erklären, die nur glaubensmäßig zu sehen und zu finden sind […]. Die Auswirkung dieses Rationalismus aber ist die Trennung von Wissen und Glauben mit allen ihren Konsequenzen, die im Verlauf der europäischen Geistesgeschichte eingetreten sind: der Trennung von Welt und Gott im Deismus, der Trennung von Moral und Religion in der autonomen Ethik, der Trennung von Wirtschaft und Moral im Liberalismus und schließlich der Trennung von Macht und Recht bei Hegel, Treitschke und Nietzsche […].“13
„Zerfallen“ ist daher nicht nur das Dritte Reich: „[…] In und mit ihm ist etwas zerstört worden, das sich nicht erst seit 1933 gebildet hatte. Zerbrochen ist eine Staats- und Völkerlehre, der eine falsche Sicht vom Menschen überhaupt zugrunde lag, eine Auffassung vom Menschen, die sich im immer mehr um sich greifenden Positivismus und Materialismus seit dem vorigen Jahrhundert zeigt. Nach dessen Meinung ist ja der Mensch vollkommen autonom. Er gibt sich selbst das Gesetz, das er will […]. Er kennt keine Bindung […].14
Auch für Eugen Kogon hat „[…] das Zeitalter des Individualismus […] seine Höhepunkte längst überschritten, wenn wir auch immer erst noch im Abschnitt der Liquidation stehen.“15
Diese fundamental ansetzende Kulturkritik blieb nicht auf katholische Kreise beschränkt. Rudolf Pechel etwa, ein hervorragender Kopf des inneren Widerstandes und ehemaliger KZ-Häftling, schrieb im Oktober 1947 in seiner wiederbegründeten „Deutschen Rundschau“: „Man irrte auf der bürgerlichen Seite, als man die Wissenschaft als Religionsersatz wählte, das Kausalgesetz als Gott anbetete und die klare, kalte Vernunft des liberalen Menschen für eine stärkere moralische Verpflichtung hielt, als das Gebot christlicher Menschenliebe.“16
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Kroll, Bamberger Denkschrift, S. 5 f. Johann Wilhelm Naumann, Neues Abendland, in: Neues Abendland, März 1946, S. 1 ff. Georg Pick, Weltbild und Staatsgedanke, in: Neues Abendland, Februar 1947, S. 13. Kogon, in: Frankfurter Hefte, September 1946, S. 67. Vgl. auch Wessel, Der Weg der deutschen Demokratie, S. 8 ff. Rudolf Pechel, Gefahren der Demokratie, in: Deutsche Rundschau, Oktober 1947, S. 1 ff., 3.
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Dietmar Willoweit
Das Gefühl, etwas in der deutschen und vielleicht überhaupt in der neueren europäischen Geschichte müsse völlig falsch gelaufen sein, da die Gewaltherrschaft Hitlers möglich geworden war, ist in den ersten Jahren nach dem Kriege weit verbreitet. So erklärt es sich auch, daß die Ideen, Entwürfe, Vorschläge für den Staat der Zukunft versuchen, dauerhaft gültige Prinzipien aufzufinden. Die verfassungspolitische Diskussion in den Jahren vor der Beratung des Grundgesetzes handelt von einer neuen Ordnung, die zugleich auch eine Reform der Gesellschaft umfassen soll. Diese neue Ordnung wird gedacht sub specie aeternitatis, als eine objektiv richtige, zugleich als die notwendige Antwort der Deutschen, ja der Menschheit auf die Verbrechen Hitlers und das in Europa entstandene Chaos.
C. Das Projekt Zukunft I. Die neue Ordnung Es geht um die folgenden Themen: Demokratie, Föderalismus, Sozialismus und Naturrecht, um die Parteien, das Wahlrecht und die zweite Kammer. Als intakte, vom kriminellen Wahnsinn Hitlers im Kern unberührte kulturelle Rahmenbedingungen spielen das Christentum und die Traditionen Europas eine dominierende Rolle. Daneben steht das Bekenntnis zur Freiheit, die für alles, was nun zu erörtern sein wird, eine in der Regel stillschweigend mitgedachte Voraussetzung darstellt. Das wichtigste Thema der Diskussion über die neue Ordnung ist sie nicht. Was ist Demokratie? Und: Welches ist die richtige Form der Demokratie für Deutschland? Unsere Autoren sind allesamt keine politischen Anfänger. Sie haben nicht nur die Weimarer Republik kennengelernt, sondern wissen natürlich auch über die unterschiedlichen demokratischen Systeme Großbritanniens, der Vereinigten Staaten und Frankreichs Bescheid. Da jedes Volk aber an die Bedingungen seiner eigenen Geschichte gebunden sei, könne man nicht einfach übernehmen, was sich anderswo bewährt habe. Diese noch im Geiste der Romantik und Historischen Schule erlernte Überzeugung schien die politische Wirklichkeit zu bestätigen: Wer wollte empfehlen, die noch aus den Zeiten des Absolutismus herrührende Machtfülle des amerikanischen Präsidenten in Deutschland nachzuahmen oder den aussichtslosen Versuch zu unternehmen, das nicht einmal in einer Verfassungsurkunde fixierte parlamentarische System der Briten einfach zu kopieren? Und wie sich die französische Republik nach dem Kriege entwickeln würde, war nicht vorauszusehen. Schon aus diesen Gründen mußten eigene Lösungen gefunden werden. Unüberhörbar schwingt in den zahlreichen Erörterungen des Themas „Demokratie“ das Mißtrauen mit, das Debakel der Weimarer Republik könne sich wiederholen, weil sich das parlamentarische System auch außerhalb Deutschlands als nicht krisensicher erwiesen habe:
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„Inwieweit außerhalb des Parlamentarismus oder neben ihm die Demokratie noch andere Formen bilden könnte, das Volk aktiv am staatlichen Leben zu beteiligen, darüber wird in allen Ländern Europas jetzt nachgedacht“,17
schrieb im Januar 1946 Benno Reifenberg. Adam Stegerwald hatte in seiner Rede einige Monate zuvor die Frage aufgeworfen, ob sich das deutsche Volk und die deutsche Jugend jetzt „für eine gemäßigte und geordnete Demokratie entscheiden“ wollten.18 Die Vorsicht dieser Wortwahl spiegelt nicht nur die noch lebendige Indoktrinierung der Bevölkerung durch den Nationalsozialismus wider, sondern auch die Furcht vor den Gefahren demokratischer Praxis. Daher glauben die deutschen Publizisten der unmittelbaren Nachkriegszeit ganz überwiegend, daß Demokratie mehr sein muß als ein Abstimmungsmechanismus. Die angebotenen Formeln, mit denen der Demokratiebegriff materiell aufgefüllt und als sozialer Wert charakterisiert werden sollte, sind unterschiedlicher Art, aber dennoch miteinander verwandt. Hören wir noch einmal Adam Stegerwald zu: „Demokratie ist kameradschaftlicher Verkehr von Mensch zu Mensch. Demokratie ist Bekämpfung der Ich-Sucht. Demokratie ist Bekämpfung des Einzelegoismus und des Gruppenegoismus. Demokratie ist, individuelle Freiheit und Gemeinschaftsbewußtsein glücklich miteinander zu vermählen. Demokratie ist, aus unanständigen anständige Menschen zu machen […].“19
Die bloße Pluralität der Meinungen, die als politische Alternativen miteinander im Wettstreit liegen, liegt unseren Autoren als Tatbestandsmerkmal der Demokratie so fern, daß sie auf diesen Aspekt kaum jemals zu sprechen kommen. Das mindeste, was verlangt wird, ist die Zusammenarbeit im Interesse des Gemeinwohls. Meist gehen die Forderungen aber weit darüber hinaus. So meint Kogon: „[…] Demokratie […] ist ein kunstvoller Organismus, nicht ein Schema, ist Ausdruck ausgewogener Zuständigkeits- und Machtverhältnisse, nicht ein Wohlfahrts- oder Termitenstaat. Ihr Ziel ist die gegliederte Ordnung der aufeinander abgestimmten natürlichen Kräfte des Volkes, das aus Persönlichkeiten im vollen kulturellen Sinne bestehen soll, nicht die Herrschaft einer Klasse […] oder eines Machtgötzen, sei es das Kapital,
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Reifenberg, in: Die Gegenwart, Nr. 2/3, Januar 1946, S. 14. Vgl. auch Rudolf Nadolny, Demokratie – aber welche?, in: Deutsche Rundschau, Juni 1946, S. 193 ff.; Jürgen von Kempski, Betrachtungen zur deutschen Verfassungsfrage, in: Der Merkur, Heft 3 1948, S. 376: „Der Parlamentarismus Westeuropas ist kein Muster mehr, da er selbst von Krise in Krise gerät […]“, ferner ebd. S. 383 ff. Stegerwald, Wo stehen wir?, S. 21. Stegerwald, Wo stehen wir?, S. 24. Vgl. auch Wessel, Der Weg der deutschen Demokratie, S. 7: „Einer wahren Demokratie ist auch ein irrationaler, ein innerer Gefühlswert eigen. Aus diesen Gefühlswerten wächst ein Volk zu einer Nation […]“; Willms, in: Frankfurter Hefte, August 1946, S. 23: Die „echte Demokratie“ besteht „in der freien Zusammenarbeit aller für das gemeinsame Beste.“
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Dietmar Willoweit eine Partei, ein System von Ideen […]. Sie ist die lebendige politische Solidarität der Staatsbürger […].“20
Der Sozialdemokrat Carlo Schmid ist von dieser Position nicht allzu weit entfernt, wenn er voraussagt: „[…] die Parteien […] werden […] versuchen, sich miteinander zu vertragen, d. h. in den praktischen Fragen, die die politische Lage jeden Tag neu stellt, zu Vereinbarungen zu kommen, die ein Leben im Zusammenhang überhaupt erst möglich machen.“21
Ernst Reuter, ein anderer führender Sozialdemokrat jener Jahre und später Regierender Bürgermeister von Berlin, setzt für die solidarische demokratische Gesellschaft der Zukunft nur die Akzente etwas anders: „Die Demokratisierung Deutschlands erfordert ein kühnes und radikales Bekenntnis zur weitgehenden Selbstverwaltung in den Gemeinden und zur restlosen Überwindung des aus der absolutistischen Zeit […] stammenden Präfektensystems in Form von Regierungspräsidenten und Landräten, die nur als Befehlsempfänger oberer Instanzen fungieren.“22
Der liberale Dolf Sternberger, langjähriger Redakteur der „Frankfurter Zeitung“ und später akademischer Lehrer der politischen Wissenschaft an der Universität Heidelberg, versteigt sich gar zu der Annahme, es lasse sich „die Natur des Parlaments […] in gewisser Weise mit der Natur der Ehe vergleichen. Wie hier die Freiheit der Geschlechter, so wird dort die Freiheit der Abgeordneten und Fraktionen gebunden durch einen Geist der Treue […]“ usw. Der Nationalsozialismus lehre, daß der Weg „von der formalen Demokratie zur substantiellen Demokratie […] von den Menschenrechten zu den Menschenpflichten und zur menschlichen Sitte“ führe.23
Das „Neue Abendland“ stellt seinen Lesern die Demokratie als „personale Volksordnung“ in Abwehr von „Kollektivismus“ und „Vermassung“ vor24 und selbst Rudolf Pechel möchte die Demokratie „im Ewigen“ verankert wissen.25 Auch Ernst Friedländer denkt im Januar 1947 in der „Zeit“ laut darüber nach, daß „politische Parteien […] von den Vätern der Demokratie gar nicht vorgesehen“ waren, so daß unter dem Volk auch verstanden werden könne „eine qualitativ reich gegliederte Gemeinschaft, in der der Mensch mit seiner vollen Würde deutlich sichtbar bleibt, in der er aber durch zahlreiche Bindungen, nicht nur an das Volk selbst, 20 21
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Kogon, in: Frankfurter Hefte, September 1946, S. 74. Carlo Schmid, Weg und Ziel der Sozialdemokratie (1945), in: ders., Politik als geistige Aufgabe, Bern 1973, S. 17. Ernst Reuter, Grundsätze und Ziele der Sozialdemokratie, Berlin 1947, S. 12. Dolf Sternberger, Herrschaft der Freiheit, in: Die Wandlung, Juli 1946, S. 556 ff., 570. E. Schmittmann, Demokratie als personale Volksordnung, in: Neues Abendland, März 1947, S. 1. Pechel, in: Deutsche Rundschau, Oktober 1947, S. 1 ff.
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sondern auch an Familie, Gemeinde, Landesheimat und Berufsstand, vielerlei Rechte und Pflichten hat.“26 Wenn daher der Würzburger Staatsrechtler Georg Laforet fürchtet, der Satz, alle staatliche Gewalt gehe vom Volke aus, könne im Sinne einer „Entsittlichung des Staates“ mißverstanden werden, dann spricht er nur aus, was in diesen Jahren viele bewegt.27 Demokratie ist daher gefährlich und zu beschränken. Auch Karl Jaspers setzt sich in seinen auf Kant gegründeten „Thesen über politische Freiheit“ im Sommer 1946 mit diesem Problem auseinander: „Es muß etwas geben, was auch einer Entscheidung durch Wahlen entzogen bleibt. Dadurch soll verhindert werden, daß durch demokratische Mittel die Demokratie vernichtet wird, daß durch Freiheit die Freiheit aufgehoben wird. Nicht abstrakte absolute Geltung demokratischer Techniken, daher auch nicht die mechanische Mehrheit an sich sind in jedem Fall der verläßliche Weg zum Ausdruck des dauernden, eigentlichen Volkswillens. Wenn diese demokratischen Techniken auch zumeist gültig sind, so bedarf es doch einer Einschränkung dort, aber auch nur dort, wo die Menschenrechte und die Freiheit selbst bedroht sind.“28
Dieses Anliegen, ein sozialethisches Minimum der Gesellschaft zu sichern, steht auch hinter den Vorschlägen, in irgendeiner Weise ständische Elemente in die Verfassung einzubauen. Überlegungen dieser Art, denen schon im deutschen Widerstand eine erhebliche Bedeutung zukam, treten allerdings rasch in den Hintergrund. Breit ausgemalt und weltfremd finden sie sich noch in der Bamberger Denkschrift29 und später noch hier und da im „Neuen Abendland“. Die Anhänger dieses Denkens, etwa der scharfsinnige Georg Laforet, mußten indessen selbst einsehen, daß die von ihnen vertretenen naturrechtlichen Prinzipien Spielraum für unterschiedliche Verfassungsmodelle boten30, also auch für konsequentere Formen der parlamentarischen Demokratie, die von den Besatzungsmächten offenkundig favorisiert wurde. Die Paradoxie, auf demokratischem Wege eine demokratische 26
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Ernst Friedländer, Deutsche Demokratie, in: Die Zeit, 16. Januar 1947. Vgl. auch Reifenberg, in: Die Gegenwart, Nr. 2/3, Januar 1946, S. 13: Die „Massen […], das Nichtzusammenhängende“, „Rohstoff“ autoritärer Systeme, stehe im Gegensatz „zu den Organismen, bei denen sich das Verschiedene, das Vielfältige zum Ganzen, das heißt zum Lebendigen vereinigt hat.“ Ferner v. Kempski, in: Der Merkur, Heft 3 1948, S. 386. Georg Laforet, Das „Volk“ als Verfassungsgeber, in: Neues Abendland, Juni 1946, S. 1 ff., 4. Karl Jaspers, Thesen über politische Freiheit, in: Die Wandlung, Juni 1946, S. 460 ff., 464. Kroll, Bamberger Denkschrift, S. 13, 16 ff. Vgl. auch Ernst Wilhelm Meyer, Braucht Deutschland eine Zweite Kammer?, in: Die Wandlung, Oktober 1948, S. 552 ff., 557 ff.; Heinrich Kipp, Verfassungsschutz, in: Neues Abendland, Dezember 1948, S. 369 ff., 371. Georg Laforet, Naturrecht und Verfassungsrecht, in: Neues Abendland, März 1947, S. 33 ff.
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Verfassung unter den Bedingungen eines Besatzungsregimes schaffen zu sollen, wird häufiger zur Sprache gebracht.31 Sie hat Enthusiasmus in der Verfassungsdiskussion nicht aufkommen lassen, zumal man vorerst nur an Länderverfassungen arbeitete und die deutsche Frage ungelöst im Raum stand. In einem Punkte freilich waren sich fast alle Teilnehmer an der verfassungspolitischen Diskussion der Jahre 1945 bis 1948 einig. Dem beherrschenden Einfluß der Parteien, der als verhängnisvoll empfunden wurde, sollte ein Ende bereitet werden. Als geeignetes Mittel dafür galt das Mehrheitswahlsystem. „Es war den Parteien nicht an der Wiege gesungen worden, daß sie dorthin gelangen mußten, wo sie 1930 standen und wo sie auch heute wiederauferstanden sind. Daß Parteibürokratien unter den nun einmal gegebenen Umständen nicht entbehrt werden können, wird niemand leugnen. Aber gegen die Bürokratien […] muß der Magna Charta der Demokratie: dem Recht auf unmittelbare Führerwahl, endlich Geltung verschafft werden“32,
heißt es 1947 im „Merkur“. Wenn es ein Thema gab, das Emotionen weckte und Polemik provozierte, dann dieses. Von menschlichen Nullen auf den Listen des Verhältniswahlsystems ist die Rede und vom Desinteresse der Parteileitungen, selbständige Persönlichkeiten in die Parlamente zu bringen. Aber, so beharrte Dolf Sternberger, „wir wollen und können nur Personen wählen […] und diese werden sich dann innerhalb der parlamentarischen Körperschaft gruppieren; wir können aber, wenn Freiheit sich bilden und wenn Freiheit herrschen soll, nicht umgekehrt verfahren und Körperschaften wählen, welche ihrerseits Personen entsenden.“33
Die Demokratie sollte durch das Prinzip der Repräsentation der Wähler eines Wahlkreises zu wahrem Leben erweckt werden. Denn „in den Augen eines Anhängers des Verhältniswahlsystems stellt sich die Demokratie […] als ein Kampfplatz von Interessengruppen und scharf sich sondernder Parteien und Weltanschauungen dar […] – konsequent weitergedacht, leitet sie zum totalitären Ein-
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Richard Tüngel, Verfrühte Beschlüsse, in: Die Zeit, 28. November 1946; Gerhard Albrecht, Bemerkungen zur Verfassungsfrage, in: Deutsche Rundschau, November 1946, S. 104 ff.; Friedländer, in: Die Zeit, 16. Januar 1947; Pechel, in: Deutsche Rundschau, Oktober 1947, S. 1. Jürgen von Kempski, Das Wahlrecht im Rahmen der Verfassungsfrage, in: Der Merkur, 1947 Heft 4, S. 528 ff., 536. Vgl. auch Alfred Weber, Bürokratie und Freiheit, in: Die Wandlung, Dezember 1946, S. 1033 ff., 1047; Robert Haerdter, Die Parteien und die deutsche Demokratie, in: Die Gegenwart, Mai 1948, S. 7 ff. – Die Notwendigkeit der Parteien betonen vornehmlich deren Repräsentanten, vgl. Carlo Schmid, Politik als geistige Aufgabe, S. 14 ff.; Wessel, Der Weg der deutschen Demokratie, S. 6; Guttmann, in: Die Gegenwart, Mai 1946, S. 12. Sternberger, in: Die Wandlung, Juli 1946, S. 570.
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parteienstaat hin. Wie gänzlich unterscheidet sich davon jene echte Demokratie, deren Wesen in der freien Zusammenarbeit aller für das gemeine Beste besteht!“34
Auch Karl Jaspers möchte daher „eine aristokratische Schicht, die ständig aus der Gesamtbevölkerung nach Leistung, Verdienst, Erfolg ergänzt wird […] eine politische Elite […] [als] Bedingung einer freien Demokratie“35
Wahre Demokratie schien in den Augen vieler, vor allem süddeutscher und rheinischer Autoren, nur gesichert im Rahmen eines föderativen Verfassungssystems. Katholische Politiker hielten den Föderalismus geradezu für eine gottgewollte Verfassungsform, wie zum Beispiel Adolf Süsterhenn, der im August 1947 eine Tagung des Bundes Deutscher Föderalisten unter anderem mit den folgenden Bemerkungen einleitete: „Der Föderalismus ist das einzige politische und gesellschaftliche System, welches das in der göttlichen Schöpfungsordnung, im Sein des Menschen und des ihn umgebenden Kosmos verankerte Naturrecht zum Baugesetz und Organisationsprinzip des menschlichen Gemeinschaftslebens erhebt.“36
Wie ein roter Faden zieht sich das Thema Föderalismus durch die Hefte der Zeitschrift „Neues Abendland“. Als charakteristisches Beispiel kann das folgende Zitat dienen: „Das föderative Lebensprinzip bedeutet ja nichts anderes, als daß die Rechte des einzelnen, der kleineren Gemeinschaften wie Familie, Stamm, Gemeinde oder Genossen34
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Willms, in: Frankfurter Hefte, August 1946, S. 23 und passim. Vgl. auch Friedrich M. Reifferscheidt, Die Partei, in: Deutsche Rundschau, März 1947, S. 190 ff., 191: Die „alten deutschen Parteien […] sind der freien Konkurrenz im Grunde ihrer Parteivorstandsseelen nicht sonderlich gewogen und liebäugeln bei jeder Gelegenheit mit dem Monopol.“ Jaspers, in: Die Wandlung, Juni 1946, S. 462. Vgl. auch Emil Franzel, Zur Verfassung des Deutschen Bundes, in: Neues Abendland, September 1948, S. 257 ff., 259: „Das Ausleseprinzip, mit dem wir arbeiten, ist das der politischen Parteien; es ist ein verkehrtes Prinzip, denn es schafft keine Auslese der Besten […]“ Ferner Bühler, in: Die Wandlung, Juli 1948, S. 337 ff.; Anonym, Die Kunst regiert zu werden, in: Die Gegenwart, Juli 1948, S. 7 f. – Kritisch zur Kritik am Verhältniswahlrecht Reuter, Grundsätze und Ziele der Sozialdemokratie, S. 12. Adolf Süsterhenn, Föderalismus als Rechtsprinzip, in: ders., Schriften zum Natur-, Staats- und Verfassungsrecht, hrsg. von Peter Bucher, Mainz 1991, S. 32 ff., 33. Vgl. auch Albrecht, in: Deutsche Rundschau, November 1946, S. 107; Pick, in: Neues Abendland, Februar 1947, S. 15 f.; Ernst Friedländer, Föderalismus und Zentralismus, in: Die Zeit, 2. Januar 1947; Hans Nawiasky, Probleme einer deutschen Gesamtstaatsverfassung, in: Frankfurter Hefte, März 1948, S. 216 ff. In demselben Sinne, aber pragmatischer Carlo Schmid, Gliederung und Einheit, in: Die Gegenwart, August 1948, S. 15 ff.
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Dietmar Willoweit schaft mit dem Recht des größeren Ganzen in einen harmonischen Ausgleich gebracht wird […]“37
Immer wieder bemühen diese Autoren die Metapher vom „gesunden“, „gegliederten“ Organismus, um die Harmonie der „Einheit in der Vielheit“ zu beschreiben. Die Anziehungskraft der föderalistischen Idee erstreckt sich aber über den Katholizismus hinaus auf weitere bürgerliche Kreise, weil das Prinzip des Föderalismus als unverzichtbarer Freiheitsgarant verstanden wird. Die Genossenschaftslehre Otto von Gierkes, die dem deutschen Rechtsdenken eine besondere Begabung für freie Genossenschaftsbildung bescheinigt hatte, schien zu beweisen, daß hierzulande der Verfassungsaufbau immer nur von unten nach oben vor sich gehen könne, wenn es nicht zu furchtbaren machtpolitischen Exzessen kommen soll.38 An kritischen Reserven gegenüber dieser Euphorie in Sachen Föderalismus hat es freilich niemals gefehlt. Gegnerschaft formiert sich vor allem in Norddeutschland, in der Gestalt des CDU-Politikers Jakob Kaiser39 und in der dortigen Sozialdemokratie.40 Aber die Gegner befinden sich unverkennbar in der Defensive. Ihr wichtigstes Argument, übertriebener Föderalismus bedrohe die nationale Einheit, lief ins Leere, weil sich abzeichnete, daß die Einheit der Nation aus ganz anderen Gründen schwer gefährdet war und mutmaßlich zerbrechen würde. Daß das Restdeutschland der westlichen Zonen aber in einem Bundesstaat organisiert werden mußte, erwies sich angesichts der politischen Lage, vor allem wegen des Wiederaufbaus deutscher Staatlichkeit von den Ländern her, als selbstverständlich – ganz abgesehen von den Forderungen der Alliierten gerade zu dieser Frage. Demokratie, Föderalismus und – Sozialismus. Dies ist das vollständige Programm, wie es die große Mehrheit der politischen Publizistik in der unmittelbaren Nachkriegszeit vertrat. Für die Sozialdemokraten verstand es sich von selbst, daß eine „sozialistische Wirtschaft“ mit „planmäßiger Lenkung und Leitung“ und Vollsozialisierung wichtiger Industrien einzuführen war: „Es ist eine Selbstverständlichkeit, daß der demokratische Lebensstil eines Volkes auch zu demokratischen Formen der Wirtschaft führen muß […]“41
Die Überzeugung, daß die Zukunft dem Sozialismus gehöre, war aber auch in den Gründerkreisen der Christlichen Demokraten nicht nur weit verbreitet, sondern 37
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Georg Pick, Weltbild und Staatsgedanke, in: Neues Abendland, Februar 1947, S. 13 ff., 15. Vgl. auch Kogon, in: Frankfurter Hefte, September 1946, S. 75 f.; F. A. Kramer, Die geistigen Grundlagen des Föderalismus, in: Hochland, Januar 1948, S. 216 ff. v. Kempski, in: Der Merkur, Heft 3 1948, S. 377. Jakob Kaiser, Um Deutschlands Schicksal (16. Juni 1946), in: Jakob Kaiser. Gewerkschafter und Patriot. Eine Werkauswahl, hrsg. und eingeleitet von Tilman Mayer, Köln 1988, S. 250 ff., 259. Reuter, Grundsätze und Ziele der Sozialdemokratie, S. 11, 13; Walter Menzel, Zur deutschen Verfassung, in: Die Zeit, 17. April 1947. Vgl. auch Weber, in: Die Wandlung, Dezember 1946, S. 1043 ff.; Ernst Brödner, Föderalismus?, in: Deutsche Rundschau, Februar 1948, S. 97 ff. Reuter, Grundsätze und Ziele der Sozialdemokratie, S. 14.
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zeigte hier auch eine ganz spezifische Dynamik. Eine „klare Abkehr vom Wirtschaftsliberalismus“ sei zu vollziehen, heißt es schon in der Bamberger Denkschrift: „Der Liberalismus alter Prägung ist tot und wird auch nicht wieder entstehen. Es ist dies heute keine Frage der Politik mehr, sondern das Ergebnis internationaler wissenschaftlicher Forschungen. Ein System völlig freier Wirtschaft kann der periodisch auftretenden Wirtschaftskrisen nicht Herr werden […]. Der Grundgedanke unserer christlichen Wirtschaftsordnung ist der einer ständischen Selbstverwaltung aller Wirtschaftsglieder unter staatlicher Leitung.“42
Wortreich hat sich zu diesen Fragen mit einer etwas anderen Perspektive Jakob Kaiser in Berlin geäußert: „[…] Die Zeit der bürgerlichen Ordnung ist vorbei […]. Die Auseinandersetzung mit dem sterbenden bürgerlichen Zeitalter ist da […]. Mir scheint […] für Deutschland die große Aufgabe gegeben, im Ringen der europäischen Nation die Synthese zwischen östlichen und westlichen Ideen zu finden, zugleich aber suchen wir unseren eigenen Weg zu gehen zu neuer sozialer Gestaltung […]. Unser Sozialismus ist ein Sozialismus aus christlicher Verantwortung. Christliche Verantwortung setzt die unabänderliche Bedeutung und Würde der Persönlichkeit voraus […]. Was die Wirtschafts- und Sozialordnung des christlichen Sozialismus angeht, so will er im Gegensatz zur kapitalistischen Wirtschaft alles Wirtschaften einzig und allein dem Menschen untergeordnet wissen […].“43
Zahlreiche Artikel zum Eigentumsbegriff der christlichen Soziallehre und zu den Forderungen des Naturrechts erschienen.44 Eugen Kogon publizierte im September 1947 eine umfassende Abhandlung über den „Weg zu einem Sozialismus der Freiheit in Deutschland“. Darin wird der Gefahr eines unfruchtbaren „bürokratischen Staatssozialismus“ das Konzept einer sozialistischen Politik der „Vielfalt, Mannigfaltigkeit, Veränderlichkeit der Formen und Methoden“45 entgegengesetzt. Dieser „dritte Weg“, wie man später gesagt hätte, ging im wesentlichen von einer 42
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Kroll, Bamberger Denkschrift, S. 27. Vgl. auch Wessel, Der Weg der deutschen Demokratie, S. 11 f.; Klaus-Peter Schulz, Sozialismus und Gegenwart, in: Deutsche Rundschau, Mai 1946, S. 128 ff., 135: „[…] Christentum und Sozialismus […] müssen in brüderlichem Bewußtsein für ein Ziel wirken […]“ Jakob Kaiser, Christlicher Sozialismus und Einheit (14. Februar 1946), in: Jakob Kaiser. Gewerkschafter und Patriot, S. 212 ff., 217 ff. Fedor Stepun, Die Pflicht zum Eigentum und das Recht der Enteignung, in: Hochland, November 1946, S. 20 ff.; Emil Franzel, Form und Geist des Rechtsstaates, in: Neues Abendland, Januar 1947, S. 5 ff.; Emil Böhmer, Das ewige Recht, in: Deutsche Rundschau, April 1947, S. 7 ff.; Otto Veit, Die geistesgeschichtliche Situation des Naturrechts, in: Der Merkur, 1947 Heft 3, S. 390 ff.; Clemens Bauer, Naturrecht und christliche Weltgestaltung, in: Hochland, März 1948, S. 472 ff.; Arthur Fridolin Utz, Wiederentdeckung des christlichen Eigentumsbegriffs, in: Hochland, März 1948, S. 415 ff. Eugen Kogon, Der Weg zu einem Sozialismus der Freiheit in Deutschland, in: Frankfurter Hefte, September 1947, S. 877 ff., 879 f.
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genossenschaftlichen Strukturierung des Produktionskapitals aus. Die individuelle Freiheit und die ökonomischen Belange des Gemeinwesens sollten ineinandergreifen: „Die sozialistische Wirtschaft ist […] der vielgestaltige Ausdruck eines Grundsatzes: daß der einzelne in der Gemeinschaft lebt und wirkt und in seinen materiellen Voraussetzungen von dieser abhängt. Die Freiheit der Persönlichkeit ist zwar das Ziel, die Wirtschaft aber vorwiegend eine Aufgabe der Gemeinschaft.“46
Auch für diese Programmatik gilt, daß Vorbehalte nur sehr zögernd geäußert wurden. Konservative Politiker stießen sich am Begriff des Sozialismus, mußten aber einräumen, daß die erhobenen Forderungen die Lehre der päpstlichen Sozialenzykliken nicht verletzten. Es gab überraschende Übereinstimmungen in jenen Jahren. Der eigenwillige Heidelberger Soziologe Alfred Weber, jüngerer Bruder Max Webers, näherte sich den Positionen des christlichen Sozialismus, als er vor der freiheitsgefährdenden „Allbürokratie“ warnte, die eine zentrale Planwirtschaft im Sinne des klassischen Sozialismus zur Folge haben müsse.47 Man kann dieser verfassungspolitischen Diskussion sicher manches vorwerfen. Vor allem, daß sie nicht realpolitisch am wirklich Machbaren ausgerichtet war und ferner ihre Fehleinschätzung des tatsächlichen Entwicklungsstandes der Gesellschaft. Deren Säkularisierungsgrad und fortgeschrittenen Individualismus mit dem zugehörigen Pluralismus an Ideen und Interessen haben die meisten Autoren verkannt. Nicht gerechtfertigt erscheint mir dagegen der pauschale Vorwurf eines restaurativen Konservativismus, wie er heute gerne erhoben wird. Die große Mehrzahl dieser Autoren hatte durchaus erkannt, daß etwas geschehen mußte für die Reorganisation von Staat und Gesellschaft, wollte die Staats- und Gesellschaftsordnung der Zwischenkriegszeit oder gar der wilhelminischen Ära nicht restaurieren, sondern Veränderung im Sinne einer Erneuerung. II. Das Bekenntnis zur Freiheit Trotz der intensiven Appelle, eine nicht nur formale, sondern wahre, föderalistische und sozialistische Demokratie zu schaffen, fehlte es nicht an Autoren, denen bewußt war, daß auch in Zukunft kein Weg an der Freiheitsphilosophie Immanuel Kants vorbeiführen würde. Diese Texte überzeugen auch heute noch durch ihre Nüchternheit, Logik und Offenheit gegenüber der Zukunft. Im Wintersemester 1945/46, als die Universitäten unter äußerst ärmlichen Verhältnissen wieder ihre Tore öffneten und ein meist notdürftiges Lehrprogramm anboten, verkündete in Marburg der Philosoph Julius Ebbinghaus einen bemerkenswerten kleinen Katechismus über Recht und Staat. Er versuchte nicht nur, Grundbegriffe zu klären, sondern auch einen Beitrag zur Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus
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Kogon, in: Frankfurter Hefte, September 1947, S. 881. Weber, in: Die Wandlung, Dezember 1946, S. 1033 ff., 1043.
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zu leisten. Die Bibel, die diesem Katechismus zugrunde liegt, ist Kants Metaphysik der Sitten: „Artikel 1: […] Der Staat ist die Vereinigung einer Menge von Menschen zum Schutze der Rechte eines jeden von ihnen. Artikel 2: […] Recht ist die äußere Freiheit eines jeden, sofern sie mit der aller anderen in einer Übereinstimmung nach Gesetzen steht. Artikel 3: Das Recht der Menschen darf daher nicht mit ihren Interessen verwechselt werden. Es garantiert ihnen nicht die Befriedigung ihrer Bedürfnisse, sondern die Freiheit, zu deren Befriedigung das zu tun, was ihnen beliebt, sofern sie dies Belieben allgemeinen Gesetzen unterwerfen. Artikel 4: Dieser Rechtsbegriff ist so wenig individualistisch oder asozial, als er vielmehr offenkundig die Bedingung der Möglichkeit einer jeden Gemeinschaft unter Menschen enthält.“48
In den folgenden Artikeln legt Ebbinghaus dar, daß aus den genannten Gründen der Staatsgewalt Gehorsam zu leisten ist, sofern nicht „der Staat Befehle gibt, durch die Menschen grundsätzlich als rechtlos behandelt werden.“ In diesem Falle ist die „Pflicht zum Ungehorsam […] eine unbedingte […], von der der Mensch auch nicht durch Gefahr für Leib und Leben befreit werden kann.“49 Diese Sätze wurden einem jungen Publikum vorgetragen, das die Entrechtung von Menschen real erlebt und noch vor wenigen Monaten Hitlers Kriegsmaschine auch in längst aussichtsloser Lage nicht zuletzt deshalb Gehorsam geleistet hatte, weil man dem Irrglauben anhing, Pflichterfüllung gegenüber dem Staat sei höchste moralische Norm und daher Befehl eben Befehl. Kant, der vor 1933 nicht nur zu einem Schulphilosophen unter anderen heruntergeredet, sondern dessen Pflichtethik verfälscht und mißbraucht worden war, bot Schlüssel zum Verständnis der Vergangenheit wie der Zukunft. Auch Karl Jaspers hat in seinen schon erwähnten „Thesen über politische Freiheit“ ein konsequent kantianisches Konzept vorgelegt, das von der Freiheit des einzelnen Menschen ausgeht und über die Erläuterung von „Rechtsstaat“ und „Demokratie“ zu einem Politikverständnis gelangt, das von dem der organologisch-genossenschaftlich, christlich und sozialistisch orientierten Publizistik erheblich abweicht: „Die Politik ist auf Zwecke der Daseinsordnung gerichtet als Grundlage, nicht als Endziel menschlichen Lebens. Daher ist […] ein Merkmal des Zustandes politischer Freiheit […] die Trennung von Politik und Weltanschauung. Im Maße wachsender Freiheit werden religiöse, konfessionelle, weltanschauliche Kämpfe aus der Politik ausgeschieden.“50
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Julius Ebbinghaus, Zu Deutschlands Schicksalswende, Frankfurt/M. 1946, S. 63 ff., 80 f. Ebbinghaus, Zu Deutschlands Schicksalswende, S.81 (Artikel 7 und 8). Jaspers, in: Die Wandlung, Juni 1946, S. 463. Vgl. auch Bergsträsser, Der Weg der Jugend in unserer Zeit, S. 10 (Rede vom 8. Mai 1946); Sternberger, in: Die Wandlung, Juli 1946, S. 556 ff., 567 f.; Reuter, Grundsätze und Ziele der Sozialdemokratie, S. 7 ff.
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Es muß hier dahinstehen, ob nicht auch Jaspers auf seinem Denkwege einer uneinholbaren Utopie nachjagte. Doch er gelangte folgerichtig zu einer viel größeren Toleranz gegenüber dem Phänomen der politischen Parteien, als es sich sonst in dieser Zeit beobachten läßt. Auch der sozialdemokratische Rechtspolitiker Adolf Arndt gehört mit seiner heftigen Kritik an Gustav Radbruchs Wendung zum Naturrecht zu jenen, die erkannt hatten, daß die Offenheit der Rechtsordnung Bedingung einer freiheitlichen Gesellschaft ist.51 Aber eine breite liberale Opposition gegenüber den von allen Seiten erhobenen Forderungen nach einer wahren, föderalistischen und christlichen und zugleich oder auch nur sozialistischen Demokratie ist in der deutschen Publizistik jener Jahre kaum auszumachen. Sie thematisiert auch erstaunlich selten die Idee der Menschenrechte und deren einzelne Ausprägungen. Teils möchte man sie auf eine neue, soziale Basis stellen52, teils werden sie strikt naturrechtlich interpretiert.53
D. Rückblick auf eine Baustelle deutscher Staatlichkeit Die sich nach der Lektüre dieser Texte aufdrängenden Fragen können hier nur angedeutet, nicht wirklich beantwortet werden. Relativ leicht fällt eine Metakritik damaliger Kritiken deutscher Vergangenheit. Schwieriger ist die Beantwortung der Frage, warum die Reformideen der unmittelbaren Nachkriegszeit scheinbar nur einen begrenzten Einfluß auf das Verfassungsrecht der bald darauf gegründeten Bundesrepublik hatten. Und schließlich kann der moderne Leser der Überlegung kaum ausweichen, ob nicht manches Bedenken jener Zeit berechtigt war und erneute Aufmerksamkeit verdient. Die Klagen über angebliche Fehlentwicklungen der deutschen und europäischen Geschichte, als da sind Rationalismus, Empirismus, Individualismus, Säkularisierung und ähnliche Erscheinungen erwecken heute den Eindruck, als haben sich die alten, noch in der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg verwurzelten Eliten ein letztes Mal gegen einen weltgeschichtlichen, bis heute andauernden Trend aufgebäumt. Aber auch die Kritik an der Weimarer Republik, vor allem an ihrem Wahlsystem, entpuppt sich bei näherem Hinsehen nur als eine Rechtfertigungsstrategie. Es entspricht keineswegs den Tatsachen, daß die Verhältniswahl eine ungeheuerliche, stabile Regierungsbildungen verhindernde Parteienzersplitterung zur Folge gehabt und daher Hitlers Machtergreifung entscheidend gefördert habe. In fast allen Reichstagen von 1920 bis 1930 wären große Mitte-Links-Koalitionen von der SPD bis zur Deutschen Volkspartei oder bürgerliche Mitte-RechtsKoalitionen von den Linksliberalen bis zur Deutsch-Nationalen Volkspartei theoretisch möglich gewesen. Daß die Verhältnisse so nicht beschaffen waren, hatte 51 52 53
Adolf Arndt, Die Krise des Rechts, in: Die Wandlung, September 1948, S. 421ff. Robert Haerdter, Die neuen Menschenrechte, in: Die Gegenwart, Januar 1947, S. 7 ff. Georg Laforet, Die Grenzen der Staatsgewalt, in: Neues Abendland, November 1946, S. 8 ff.; Ferdinand Kirnberger, Grenzen der Menschenrechte?, in: Frankfurter Hefte, Juli 1947, S. 638 f.
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seinen Grund in der weltanschaulichen Bindung und programmatischen Starrheit der deutschen Parteien, die ihre Koalitionsunfähigkeit nach sich zog und sich auch noch für den hier untersuchten Zeitraum belegen läßt.54 Weil die Kritik an der deutschen Vergangenheit von der politischen Verantwortung für das Hitlerregime entlastete, deshalb bezog man auch gleich wirkliche oder vermeintliche Entartungen der deutschen Geschichte mit ein. Aus Preußentum, Militarismus, Untertanengeist, autoritärem Beamtentum und so weiter ließ sich ein Schreckensszenarium basteln, das bis heute seine Wirkung tut. Man könnte auch eine andere deutsche Geschichte erzählen, mit einem tragischen Grundton, in dem dann freilich das Debakel am Ende der Weimarer Republik mit der Verantwortlichkeit der damaligen Politiker in grellerem Licht erscheinen würde. Die in der untersuchten Publizistik zu Tage getretenen Vorstellungen einer erneuerten Rechts- und Gesellschaftsordnung sind fast durchgehend solche „bürgerlicher“ Herkunft. In diesem politischen Lager war das Bedürfnis nach einer neuen politischen Vision am stärksten, so daß man von einem konservativen Reformdenken sprechen könnte. Dessen Anliegen war nicht lediglich eine Verfassung im Sinne eines formalen Regelwerks für den Widerstreit und Ausgleich unterschiedlicher politischer Positionen. Staat und Gesellschaft sollten vielmehr wahren Prinzipien gemäß, richtig und – soweit absehbar – endgültig geordnet werden. Die Sozialdemokratie verfügte ja längst über eine solche Programmatik. Sie beobachtete daher die bürgerlichen Reformbestrebungen mit unverhohlenem Mißtrauen.55 Auch diese zielten jetzt auf ein gleichsam „ganzheitliches“, den gesamten Sozialkörper einschließlich seiner Ökonomie berücksichtigendes Verfassungsmodell – man ist versucht zu sagen: nach den „Ideen von 1945“. Davon findet sich im Grundgesetz durchaus einiges wieder. Sicher gehört der föderalistische Staatsaufbau und Artikel 1 des Grundgesetzes dazu, aber wohl auch die „Wesensgehaltsgarantie“ für die Grundrechte in Artikel 19 Absatz II und die „Ewigkeitsklausel“ in Artikel 79 Absatz III des Grundgesetzes. Anderes dagegen fiel geräuschlos unter den Tisch. Die euphorische Beschwörung einer „wahren“, dem gemeinen Besten dienenden Demokratie hat kaum Spuren hinterlassen, gar nicht zu reden von der Forderung nach Einführung der Mehrheitswahl und Beschränkung der Parteienmacht, von Ständewesen und Sozialismus. Die Gründe für die festzustellende Differenz zwischen den verfassungspolitischen Leitbildern der unmittelbaren Nachkriegszeit und der Verfassungsgebung des Parlamentarischen Rates aufzuklären, würde den Rahmen der vorliegenden kleinen Studie sprengen. Über den Einfluß der Alliierten wäre etwas zu sagen und über die durch den riesigen Konsumgüterbedarf ausgelöste wirtschaftliche Eigendynamik, über das politische Augenmaß Adenauers und die Weitsicht Erhards, vielleicht auch über die Wirklichkeitsferne mancher Reformvorstellungen. Vor allem aber ist zu bedenken, daß die verfassungspolitischen Reflexionen im Vorfeld des Grundgesetzes noch einem 54
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Wessel, Der Weg der deutschen Demokratie, S.4; Reuter, Grundsätze und Ziele der Sozialdemokratie, S. 4 ff. Carlo Schmid, Politik als geistige Aufgabe, S. 25; Reuter, Grundsätze und Ziele der Sozialdemokratie, S. 5; Arndt, in: Die Wandlung, September 1948, S. 422 f. Vgl. auch Jaspers, in: Die Wandlung, Juni 1946, S. 463.
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einigen Deutschland galten. Die Tatsache, daß seit dem Herbst 1948 Beratungen über die Verfassung eines deutschen Teilstaates stattfanden56, mußte eine große Ernüchterung zur Folge haben. Für ein vorläufiges Grundgesetz waren die Gedanken über den staatlichen Neubeginn in Deutschland gerade nicht geeignet und bestimmt gewesen. Ob das Gedankengut der ersten Nachkriegsjahre nur als Abgesang einer damals zu Ende gegangenen Epoche zu verstehen ist oder auch Hinweise zu geben vermag für die Beurteilung der gegenwärtigen Verfassungslage in der Bundesrepublik, muß der Leser selbst entscheiden. Respekt verdient jedenfalls der Ernst, mit dem die Autoren jener Zeit um die Prinzipien der staatlichen Ordnung rangen. Diese Aufgabe aber läßt sich auch für die Zukunft auf Dauer nicht durch die Suche nach nur pragmatischen Lösungen ersetzen.
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Auf die reichhaltige Literatur zur Wiederherstellung deutscher Verfassungsstrukturen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und zur Entstehung des Grundgesetzes kann hier nur exemplarisch hingewiesen werden. Die folgenden Titel aus neuerer Zeit bieten weitere Nachweise: Michael F. Feldkamp, Der Parlamentarische Rat 1948-1949, Göttingen 1998; Friedrich Karl Fromme, Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz, 3. Auflage, Berlin 1999; Karlheinz Niclauß, Der Weg zum Grundgesetz. Demokratiegründung in Westdeutschland 1945-1949, Paderborn 1998; Heinrich Wilms, Ausländische Einwirkungen auf die Entstehung des Grundgesetzes, Stuttgart 1999; Dietmar Willoweit, Deutsche Verfassungsgeschichte, 5. Auflage, München 2005, S. 401 ff., 420 ff.
Recht und Kultur
Justitia in Heidelberg Das Denkmal des Kurfürsten Carl Theodor und die Allegorie der Gerechtigkeit Christine Jung Es war im November des Jahres 1788, als der kurpfälzische Hofbildhauer Franz Conrad Linck seinen Entwurf für ein neues Brückendenkmal präsentierte: „Dieses stück“, schrieb er in seinem Angebot an die Stadt Heidelberg, „stellt die glückliche Pfalz vor unter der weisen Regierung unseres geliebtesten Kurfürsten und wird nach gnädigst aprobirtem Modell ausgeführt“1. Rund zwei Jahre später wurde das Kunstwerk vollendet und auf der Neckarbrücke errichtet. Entstanden war ein klassizistisches Monument zu Ehren des regierenden Kurfürsten, das ein allegorisches Bildprogramm mit einer eindrucksvollen Darstellung der Justitia offenbarte. Ein Denkmal für „Carl Theodor“, so ist es in der Inschrift zu lesen und in den Sinnbildern zu sehen, „dem Beschützer von Frömmigkeit und Gerechtigkeit, dem Förderer der Landwirtschaft und des Handels, dem Freund der Musen“2.
A. Franz Conrad Linck am Hofe des Kurfürsten Wie aber kam es zur Entstehung der weithin sichtbaren Monumente auf der Neckarbrücke? Welche Bedeutung haben die Allegorien im Allgemeinen und die Personifikation der Justitia im Besonderen? Und wer war der Künstler jener hoch aufragenden kurfürstlichen Denkmäler von Heidelberg? Franz Conrad Linck ist der Bildhauer und Modelleur, der diese Kunstwerke sowie eine Vielzahl an großplastischen Arbeiten, Dekorationen und Modellen im kurpfälzischen Raum des 18. Jahrhunderts geschaffen hat3. Geboren am 16. Dezember 1730 in Speyer, ging er zunächst in die Lehre des Vaters, des Bildhauers Johann Georg Linck, bevor er sich um 1750 auf Wanderschaft begab. Nach einem Aufenthalt in Würzburg folgten Jahre der Lehr- und Studienzeiten, zunächst als Schüler von Jacob Schletterer an der Wiener Kunstakademie und anschließend als Gehilfe von Georg Franz Ebenhecht in Berlin4. Seine große künstlerische Karriere begann im Jahre 1762, 1
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Akkord-Vorschlag vom 15. 11. 1788, zit. in: Maria Christiane Werhahn, Der kurpfälzische Hofbildhauer Franz Conrad Linck (1730-1793), Neuss 1999, S. 424. Inschrift am Minerva-Denkmal, zit. in: Werhahn, Linck, S. 325. Zur Biografie des Künstlers s. Werhahn, Linck, S. 15 ff.; Helmut Prückner, Der Kurfürst und die Göttin der Künste, in: ders. (Hrsg.), Die alte Brücke in Heidelberg 17881988, Heidelberg 1988, S. 81; Ulrich Thieme, Felix Becker (Begr.), Hans Vollmer (Hrsg.), Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler, 23. Bd., Leipzig 1929, S. 234. Werhahn, Linck, S. 16 f.
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als der Bildhauer von Kurfürst Carl Theodor an die Frankenthaler Porzellanfabrik, eine der bedeutendsten Manufakturen des 18. Jahrhunderts, berufen wurde5. Hier entwarf der Künstler, der 1763 den Titel eines Hofbildhauers erhielt, ein vielseitiges Repertoire an spätbarocken Modellen angefangen von mythologischen und allegorischen Figuren über Puttendarstellungen bis hin zu kurfürstlichen Porträts. Dann „machte [er] sich selbst aus einem formator der frankenthaler Porzellanfabrik zu einem höhern Bildhauer“ bemerkte der Hofbibliothekar Carl Theodor von Traitteur über seinen weiteren künstlerischen Werdegang und fügte mit deutlich kritischen Worten hinzu: „Er konnte nicht zeichnen und nicht hauen, wenn er aus kleinen [Dar]stellungen besonders Kindergruppen, worin er aber vortreflich war, heraus gieng“6. Die künstlerische Bedeutung von Linck beruhte demnach vor allem auf seinen kleinplastischen Werken, den Porzellanfiguren und Kleinporträts. Er war einer der herausragendsten deutschen Modelleure des 18. Jahrhunderts7, ein Meister auf dem vielfältigen Gebiet der Allegorie. Aber auch seine großplastischen Werke zeigten ein „hohes künstlerisches Können“ und waren „für die Kunstentwicklung der Pfalz von Bedeutung“8, vor allem seitdem Linck 1766 die Frankenthaler Manufaktur verlassen und an den kurfürstlichen Hof von Carl Theodor in Mannheim gezogen war. Dort zählte er zu dem großen Kreis in- und ausländischer Künstler, die mit der Ausstattung der kurpfälzischen Residenzen beauftragt waren9. Kurfürst Carl Theodor, ein großer Förderer der Künste und Wissenschaften, hatte sich in Mannheim, Schwetzingen, Benrath und Düsseldorf prachtvolle Schloss- und Gartenanlagen errichten lassen und zahlreiche Architekten, Bildhauer oder Maler beschäftigt. Einer der bekanntesten Künstler am kurfürstlichen Hofe war der Bildhauer Peter Anton von Verschaffelt, dessen klassizistisches Werk einen großen Einfluss auf die Kunst von Linck ausübte. Gemeinsam arbeiteten sie viele Jahre im Schwetzinger Schlossgarten, unter anderem am Giebelrelief des Minervatempels, am Apollotempel und an der plastischen Dekoration des Badhauses10. Doch mit dem Tode des Kurfürsten Max III. Joseph von Bayern hatte nicht nur die höfische Präsenz von Carl Theodor in der Kurpfalz ein Ende, sondern auch die weitere künstlerische Ausgestaltung seiner Residenzen. Der Kurfürst trat in den Jahren 1777/1778 die Regierungsnachfolge in Bayern an und siedelte nach München über. Einige Künstler folgten an seinen bayerischen Hof, andere blieben in der Kurpfalz, um die in Angriff genommenen Projekte zu voll-
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S. u. a. Franz Swoboda, Frankenthaler Porzellan, in: Jörg Bahns (Hrsg.), Carl Theodor und Elisabeth Auguste, Höfische Kunst und Kultur in der Kurpfalz, Heidelberg 1979, S. 26 ff. Zit. in: Werhahn, Linck, S. 23. Vgl. Thieme/Becker, Lexikon der bildenden Künstler, S. 234. S. Werhahn, Linck, S. 405. Zur höfischen Kunst und Kultur unter Carl Theodor s. v. a. Bahns, Carl Theodor und Elisabeth Auguste. Vgl. auch Alfred Wieczorek, Hansjörg Probst, Wieland Koenig (Hrsg.), Lebenslust und Frömmigkeit – Kurfürst Carl Theodor (1724-1799) zwischen Barock und Aufklärung, 2 Bde., Regensburg 1999. S. auch den Werkkatalog der Arbeiten von Franz Conrad Linck, in: Werhahn, Linck.
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enden oder neue Arbeiten zu beginnen11. Zu ihnen gehörte der spätere Professor an der Mannheimer Zeichnungsakademie, Franz Conrad Linck, der darüber hinaus für private Auftraggeber tätig war und verschiedene Skulpturen, Porträts, Gartenplastiken oder Grabmäler anfertigte12.
B. Carl-Theodor-Brücke in Heidelberg Franz Conrad Lincks bedeutendstes und zugleich letztes Werk findet sich auf einem viel gerühmten Baudenkmal, das besonders eng mit dem Kurfürsten und seinem Namen verbunden ist. Es handelt sich um die so genannte Alte Brücke oder Carl-Theodor-Brücke zu Heidelberg, die nach der Zerstörung des Vorgängerbaues durch das Eishochwasser von 1784 errichtet worden war. Bereits im 13. Jahrhundert wurde an ihrer Stelle erstmals eine Brücke erwähnt, es folgten weitere sieben Holzbauten, bis in den Jahren 1786-1788 die erste Steinbrücke im Auftrage des Kurfürsten entstand: „Zu wünschen wäre, daß keine gedeckte Brücke mehr gebauet würde, um dem Auge die stolze Aussicht, welche man von der Brücke hinauf und hinunterwärts hat, besser zu gönnen“13, forderte E. F. Deurer im Jahre 1784, als die Planungen für den neuen Brückenbau begannen. Nur wenige Jahre später war die auf acht Pfeilern gegründete Brücke vollendet, die mit ihren neun symmetrisch angeordneten Tonnengewölben den Neckar überspannt. Bis heute prägt sie das Heidelberger Stadtbild mit seinem hoch aufragenden Schloss und steht – vor allem wegen ihrer harmonischen, symmetrischen Gestaltung und landschaftlichen Situation – immer wieder im Mittelpunkt künstlerischer Darstellungen und literarischer Beschreibungen. So notierte bereits Johann Wolfgang von Goethe neun Jahre nach ihrer Vollendung: „Die Brücke zeigt sich von hier aus in einer Schönheit, wie vielleicht keine Brücke der Welt; durch die Bogen sieht man den Neckar nach den flachen Rheingegenden fließen und über ihr die lichtblauen Gebirge jenseits des Rheins in der Ferne“14. Überragt wird die viel gepriesene Neckarbrücke von den weithin sichtbaren Silhouetten zweier Denkmäler15, errichtet von Franz Conrad Linck im Auftrag der Stadt Heidelberg zum Dank für den Bau der Brücke und zu Ehren des Kurfürsten. Auf der einen Seite, am Eingang der Altstadt, erhebt sich das Denkmal von Carl Theodor, auf der anderen Seite das Standbild der Göttin Minerva, die sich beide – nach der kritischen Meinung von Goethe – „um einen Bogen weiter nach der Mit11 12 13
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Werhahn, Linck, S. 29. Werhahn, Linck, S. 21. Zit. in: Markus Weis, Die Alte Brücke als Baudenkmal, in: Prückner, Die alte Brücke in Heidelberg, S. 70. Zit. in: Werhahn, Linck, S. 307. Vgl. auch die Dichtungen von Gottfried Keller und Friedrich Hölderlin, in: Günter Heinemann, Heidelberg, 3. Aufl., Heidelberg 1996, S. 79 ff. Auf der Alten Brücke stehen heute Kopien der Denkmäler, während die Originale im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg aufbewahrt werden.
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te zu, wo sie am Anfang der horizontalen Brücke, um so viel höher, sich viel besser und freier in der Luft zeigen würden“16.
C. Carl-Theodor-Denkmal
Abb. 1. Franz Conrad Linck, Carl-Theodor-Denkmal, Carl-Theodor-Brücke, Heidelberg
Am 9. April 1788 wurde „das von dem Professor der Zeichnungsakademie, Linck, sehr künstlich in Stein verfertigte Bildnis des Kuhrfürsten an dem Eingang der Heidelberger Brücke auf ein Piedestal, um welches die 4 Flüsse, Rhein, Donau, Necker und Mosel liegen, aufgestellt“17. Noch vor der Eröffnung der Brücke war 16 17
Zit. in: Werhahn, Linck, S. 307. Kurpfälzischer Geschichtskalender 1789, S. 219 f., zit. in: Werhahn, Linck, S. 311.
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die monumentale Statue des Kurfürsten Carl Theodor aus gelbem Sandstein platziert worden. Sie zeigt den Kurfürsten in absolutistischer Herrscherpose, auf dem Haupt eine Allongeperücke, bekleidet mit einer Rüstung, einem Mantel und dem Feldherrnstab in der ausgestreckten Rechten. Seinen Blick richtet er in die Ferne über das Karlstor hinweg zum Heidelberger Schloss. Um ihn herum lagern die vier weiblichen und männlichen Personifikationen der Flüsse, die mitunter auch als Donau, Mosel, Rhein und Isar gedeutet werden und damit auf die Vereinigung von Pfalz und Bayern verweisen sollen18. Am reich profilierten Postament finden sich das Wappen von Pfalz-Bayern sowie das Pfalz-Bayern-Relief als weitere Zeichen des Zusammenschlusses der Jahrhunderte lang getrennten Erblande. An den Nebenseiten des Sockels erheben sich das Universitätsrelief zum 400-jährigen Bestehen der Heidelberger Universität und das Jubiläumsrelief zum 50-jährigen Regierungsjubiläum des Kurfürsten.
D. Minerva-Denkmal Bei der Besichtigung der neu erbauten Brücke und seines Denkmales äußerte der Kurfürst im Jahre 1788 die Ansicht, dass „auf die andere seite auf dem schon dann wirklich erbauten pfeiler ein gegenbildnüß gesezet werde: der eben gegenwärtig geweßene hofbildhauer herr Linck eröffnete hierauf; wie daß er hierzu einen gesonderten gedanken habe, und ein Modell zu fertigen das Erbietnus seye, welches ihme dann auch von Ihro churfürstl. durchl. zugestanden worden ist“19. Zwei Jahre später war es soweit, und über dem zweiten Pfeiler der Brücke am Neuenheimer Ufer wurde das zehn Fuß hoch aufragende Monument errichtet, das „in der nemligen höe und breite auch ganz in der Form des schon stehenden verfertiget ist nur die figuren und pasrioloefs machen das unterscheidende aus“20. Die Rede ist von dem Denkmal der römischen Göttin Minerva, die auf reliefgeschmücktem Postament von vier allegorischen Figuren umgeben wird. Gemäß ihrer antiken Bedeutung trägt sie eine kriegerische Kleidung mit miederartigem Panzer, einem über die Arme gelegten, herab fallenden Mantel und einem Federbuschhelm. In der Rechten hält sie den Speer als ein Sinnbild ihrer Weisheit, der Kraft und Schnelligkeit des Geistes21. Gleichzeitig stützt sie sich auf den Gorgonenschild mit dem Antlitz der schlangenhaarigen Medusa, dem Furcht erregenden Symbol der Abschreckung. Zu den Füßen sitzt das Tier der Minerva, die Eule, ein weiteres Sinnbild von Weisheit und Wachsamkeit.
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Prückner, Kurfürst, in: ders., Die alte Brücke in Heidelberg, S. 85 f. Zit. in: Werhahn, Linck, S. 306. Franz Conrad Linck, Akkord-Vorschlag vom 15. 11. 1788, zit. in: Werhahn, Linck, S. 424. Zur Deutung s. Cesare Ripa, Iconologia, Rom 1603, Hildesheim, New York 1970, S. 54 f. Vgl. dazu Iris Marzik, Das Bildprogramm der Galleria Farnese in Rom, Berlin 1986, S. 61.
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Abb. 2. Franz Conrad Linck, Minerva-Denkmal, Carl-Theodor-Brücke, Heidelberg
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Mit dieser monumentalen Darstellung wird die römische Göttin Minerva weithin sichtbar als Göttin der Wissenschaften und Künste, aber auch des Krieges und darüber hinaus als Hüterin der Stadttore gekennzeichnet22. Im übertragenen Sinne zeugt sie von der Weisheit als Ursprung des Wissens, die von einem guten Kriegsführer verlangt wird, und deutet damit gleichzeitig auf den Herrscher hin23. Mehr noch: Sie ist hier sogar als persönliche Schutzgöttin des Kurfürsten anzusehen, in der Art, wie sie nicht nur am Bibliotheksbau des Mannheimer Schlosses, sondern ebenso am Minerva-Tempel im Schwetzinger Schlossgarten zu finden ist. Wie aus der Inschrift an der Frontseite des Sockels hervorgeht, wird der Kurfürst Carl Theodor als Beschützer von Frömmigkeit und Gerechtigkeit, als Förderer der Landwirtschaft und des Handels und als Freund der Musen verehrt. Doch nicht nur die Inschrift, sondern vor allem die versammelten Allegorien und Reliefs am Postament verweisen auf seine Tugenden und auf die von ihm besonders geförderten Künste und Wissenschaften: die Musik, Astronomie, Bildhauerei, Malerei und Architektur. Nach Norden, in Richtung Altstadt, lagert vor dem Himmels- und Erdkunderelief die Allegorie der Frömmigkeit, Pietas, als „frey geschäzte Gottes verehrung“24, in Gestalt einer weiblichen Figur mit einem das Haupt bedeckenden Schleier, einem Kreuz und dem aufgeschlagenen Buch. Merkur, der Gott des Handels und des Gewerbes, der Götterbote und Freund der Musen, befindet sich in ebenfalls lagernder Haltung vor dem Musikrelief und deutet mit seinem Flügelhelm, den Warenballen und dem Füllhorn auf „die in den Pfälzischen landen florirende Handlung“25. Daneben liegt Ceres, die weibliche Allegorie des Ackerbaues auf Ährenbündeln, die mit einem Ährenkranz auf dem Haupt, einem reich gefüllten Füllhorn und der Pflugschar den „in der Pfalz aufs höchste gebrachte(n) Ackerbau“ verkörpert26. Sie lagert vor der rechten Sockelseite, an der das Relief der Bildhauerei und der Malerei mit den beiden Putten im Künstleratelier angebracht ist.
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Benjamin Hederich, Gründliches mythologisches Lexikon, (Original 1770) Darmstadt 1967, S. 1626. Vgl. Marzik, Galleria Farnese, S. 61. S. auch Wolfram Prinz, Schloss Chambord und die Villa Rotonda in Vicenza, Berlin 1980, S. 49 ff. Franz Conrad Linck, Akkord-Vorschlag vom 15. 11. 1788, zit. in: Werhahn, Linck, S. 424. Franz Conrad Linck, Akkord-Vorschlag vom 15. 11. 1788, zit. in: Werhahn, Linck, S. 424. Franz Conrad Linck, Akkord-Vorschlag vom 15. 11. 1788, zit. in: Werhahn, Linck, S. 424.
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E. Justitia und das Goldene Zeitalter
Abb. 3. Franz Conrad Linck, Justitia, Carl-Theodor-Brücke, Heidelberg
„Gerechtig Keit und Weisheit mit einem schwertd und waag in Handten, sie lehnet sich auf ihre bücher. Und auf ihrer Stirne prangt ein Stern“27: An prominenter Stelle des Denkmales, gleichsam hervorgehoben durch ihre Position zu Füßen der Göttin der Weisheit, Minerva, lagert vor dem Architekturrelief eine der bedeutendsten Tugenden seit der Antike: Justitia, die Personifikation der Gerechtigkeit, erscheint hier mit dem Hinweis auf die Weisheit28 in weiblicher Gestalt vor der Front des Postamentes. In entspannter, gelöster Haltung liegt sie auf felsigem 27
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Franz Conrad Linck, Akkord-Vorschlag vom 15. 11. 1788, zit. in: Werhahn, Linck, S. 424. Da die Allegorie im Wesentlichen die Attribute der Justitia trägt, liegt die Betonung der Darstellung auf der Personifikation der Gerechtigkeit, während die in der Inschrift genannte Weisheit außerdem im Bildnis der Minerva und ihren Attributen verkörpert wird.
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Untergrund und blickt mit weit nach rechts gewandtem Haupt in Richtung Altstadt. Dabei ist sie mit einem langen, faltenreichen und in der Taille gegürteten Gewand sowie einem Umhang mit Kapuze bekleidet, der vor der Brust mit einer Brosche geschlossen ist. Ihr Haar ist kunstvoll frisiert, die welligen Strähnen sind im Nacken zusammengebunden und fallen von dort in langen Locken herab. Schon der antike Autor Aulus Gellius berichtet im 2. Jahrhundert nach Christi, dass die Allegorie der Gerechtigkeit „von jungfräulicher Schönheit und Gestalt, von strengem […] Anblick, mit scharfen Augenlichtern“ gewesen sein soll – und auch auf der Heidelberger Brücke zeugt sie von einer wachsamen und hoheitsvollen Erscheinung, von einem nachdenklichen Wesen oder von der „Würde einer gewissen Traurigkeit, die weder befangen noch herausfordernd ist, sondern Ehrfurcht gebietet“29. Zu dieser eindrucksvollen Erscheinung einer Justitia kommt die ausdrucksvolle Ausstattung mit Attributen: So lehnt sich die Allegorie der Gerechtigkeit mit ihrem rechten Unterarm auf vier übereinander liegende Folianten. Das heißt, sie lagert auf den Büchern des Gesetzes oder des geschriebenen Rechtes, die als Symbole von Rechtssicherheit und Rechtsgelehrsamkeit anzusehen sind. Mit ihren Füßen scheint sie einen zugeschnürten Geldbeutel wegzuschieben, der auf die belohnende, nicht käufliche Gerechtigkeit hinweisen kann. Neben diesen eher selten anzutreffenden Symbolen ist die Heidelberger Justitia mit zwei weiteren charakteristischen Attributen ausgestattet. In ihrer linken Hand hielt sie ursprünglich ein Schwert, das heute zwar nicht mehr erhalten ist, damals jedoch – den Äußerungen des Künstlers zufolge – dort angebracht war. Hierbei handelt es sich um das uralte Rechtszeichen von Macht, Herrschaft und Urteilsgewalt, das ausschließliche Gerichtsbarkeit und allgemeine Friedenspflicht sowie Sühne für begangenes Unrecht bedeuten kann30. Ebenso wie das Schwert ein bildliches Zeichen für die Strafe ist, gehört die Waage zu den frühen Symbolen von Recht und Gerechtigkeit. Seit dem Altertum ist sie ein Mittel des Gewichtsvergleiches, ein Symbol der Gleichwertigkeit oder des Herstellens eines Ausgleiches31. Zumeist wird sie in erhobener Haltung mit ausgependelten Waagschalen als Hinweis auf die von Justitia hergestellte Gleichwertigkeit oder auf das Abwägen von Gut und Böse abgebildet. Eine am Boden liegende Waage mit schlaff hängenden Schnüren, wie sie auf der Heidelberger Brücke zu sehen ist, erscheint dagegen nur selten und ist hauptsächlich auf Grabdenkmälern und Epitaphien zu finden. Dort symbolisiert sie das „Ende des Suchens nach Gerechtigkeit auf Erden und das Ende der Notwendigkeit oder der Macht der irdischen Gerechtigkeit“32. Welche Bedeutung diese Darstellung einer herabhängenden Waage haben könnte und warum sie in diesem Zusammenhang in der rechten und nicht in der linken Hand gehalten
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Nach einer Überlieferung des Philosophen Chrysippus, zit. in: Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., Göttingen 1959, S. 89. S. auch Vincenzo Cartari, Vere e Nove Imagini, Padua 1615, New York, London 1979, S. 412. Otto Rudolf Kissel, Die Justitia, 2. Aufl., München 1997, S. 106. Vgl. Kissel, Justitia, S. 95. Kissel, Justitia, S. 100 f.
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wird33 – auf diese Fragen gibt möglicherweise das letzte ihrer heute nicht mehr erhaltenen Attribute einen weiteren Hinweis: „Auf ihrer Stirne prangt ein Stern“, schrieb der Künstler über ein Symbol, das an diesem Denkmal auf eine besondere Bedeutung der Justitia und darüber hinaus verweisen könnte. Denn der Stern ist nicht nur Zeichen für den Himmelskörper oder für das Licht von oben, er kann zudem das Göttliche oder einzelne Gottheiten symbolisieren. In diesem Sinne erscheint er als Attribut von Heiligen und vor allem von Planetengottheiten, die mit einem Stern auf der Stirn dargestellt werden, wenn sie in einem kosmologischen oder astrologischen Kontext vorkommen34. Auch die Justitia kann, wie in antiken Quellen dargelegt, in einem kosmischen Zusammenhang erscheinen35. So berichtet der griechische Autor Arat im 3. vorchristlichen Jahrhundert von der Verstirnung der Jungfrau und bezieht sich damit auf den antiken Weltaltermythos nach Hesiod: Arats Dichtung „Phainomena“ zufolge verweilte die Göttin der Gerechtigkeit – hier Dike genannt – im Goldenen Zeitalter noch dauerhaft unter den Menschen. Sie entzog sich ihnen bereits zeitweise im Silbernen Zeitalter, bis sie wegen des „Verfalls“ der Menschheit im Ehernen Zeitalter die Erde endgültig verließ, in den Himmel aufstieg und dort als Sternbild der Jungfrau ihren Platz einnahm36. „Von ihr heißt es, sie habe ihren Sitz am gestirnten Firmament und gehe dahin vor den Augen des hellen Arctophylax, dort, wo ein Zwischenraum die Waage und die Glieder des strahlenden Löwen trennt und die Gestirne in zweifachem Bogen scheidet“, schrieb im 16. Jahrhundert ein Autor namens Pierre Coustau über die Allegorie der Justitia und zeigte sie in dem beigefügten Emblem mit Schwert und Waage auf einer Wolke zwischen den Sternen37. Immer wieder wird die astrale Gerechtigkeit in diesen Textillustrationen oder Bilderzyklen als Jungfrau mit einer Ähre und dem Caduceus wiedergegeben; oftmals präsentiert sie sich mit dem Schwert und der Waage in den Himmel auffliegend oder auf einer Wolke thronend38. Und auch in Heidelberg scheint die Allegorie der Justitia mit ihren kosmischen Attributen auf diese Verbindung hinzudeuten. Sowohl der Stern auf ihrer Stirn wie die herabhängende 33
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Auf nahezu allen bildlichen Darstellungen der Justitia trägt sie das Schwert in ihrer rechten und die Waage in der linken Hand. S. Kissel, Justitia, S. 106. S. Lexikon der Kunst, Bd. VII, Leipzig 1994, S. 48; James Hall, Dictionary of Subjects and Symbols in Art, London 1991, S. 289. Vgl. auch Kissel, Justitia, S. 21 f., der auf Parallelen und Identifizierungen zwischen Gerechtigkeit und Astronomie verweist und als Beispiel eine von Martin Schaffner 1533 angefertigte Tischplatte mit astrologisch-tellurisch und ethischen Allegorien nennt. Aratos, Phainomena, 96 ff., in: Aratos, übersetzt und eingeleitet von Albert Schott, München 1958, S. 28 f. Pierre Coustau, Le Pegme de Pierre Coustau, Lyon 1555, New York/London 1979, S. 12 f., hier zit. nach: Arthur Henkel, Albrecht Schöne (Hrsg.), Emblemata, Stuttgart 1967/1996, Sp. 1556. S. Wolfgang Pleister, Wolfgang Schild (Hrsg.), Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst, Köln 1988, S. 18. Vgl. auch Mechthild Haffner, Ein antiker Sternbilderzyklus und seine Tradierung in Handschriften vom Frühen Mittelalter bis zum Humanismus, Hildesheim, Zürich, New York 1997, S. 40 f.
Justitia in Heidelberg
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Waage in der Hand könnten sie als astrale Gerechtigkeit auszeichnen und auf den antiken Sternenmythos anspielen. Das heißt: auf einen kosmologischen Kontext am Denkmal für den Kurfürsten Carl Theodor, der sich bekanntlich für die Astronomie im Besonderen interessierte und ihre wissenschaftliche Erforschung großzügig unterstützte39. Seinen bildlichen Ausdruck findet dieses Interessensgebiet außerdem am Minerva-Denkmal selbst in dem oben genannten Astronomierelief mit der Allegorie der Himmels- und Erdkunde. Doch nicht nur die Justitia und ihre Attribute, sondern der gesamte ikonografische Zusammenhang des Minerva-Denkmales verweisen auf eine Deutung des Monumentes im Sinne des Weltaltermythos – in der Art, wie es beispielsweise auf dem Gemäldezyklus von Jacopo Zucchi aus dem 16. Jahrhundert zum Ausdruck kommt40. Dort folgt auf das paradiesische Bild des Goldenen Zeitalters das von der Justitia beherrschte Silberne Zeitalter mit den Tugenden „Handels- und Gewerbefleiß“, „Caritas“ und „fromme Ehrfurcht“. Abgelöst wird dieses Menschengeschlecht von dem so genannten Eisernen Zeitalter, in dem sich die Götter Merkur, Ceres und Justitia bereits im Himmel um den Thron von Jupiter und Juno versammelt haben. Auf der untersten Thronstufe stehen die Worte cuique suum als Hinweis auf die austeilende Gerechtigkeit, der bedeutendsten Tugend eines gerechten Herrschers41. Wie in der Bilderfolge des Jacopo Zucchi, finden sich um den Sockel der Heidelberger Minerva-Statue dieselben Göttergestalten wieder, ergänzt um die Pietas. Hier wie dort können sie die Vorstellung von der guten und gerechten Herrschaft verkörpern als Voraussetzung für das Leben in einer Goldenen Zeit, für das Blühen des Landes in den von den Allegorien personifizierten Bereichen42. In Heidelberg präsentieren Justitia und Pietas den Herrscher als „Beschützer von Frömmigkeit und Gerechtigkeit“43, während in Ceres und Merkur der in „der Pfalz aufs höchste gebrachte Ackerbau“ und die in den „Pfälzischen landen florirende(n) Handlung“ zu sehen sind44. Mit diesen Worten hatte der Künstler selbst eine Deutung seines Werkes vorgegeben und auf eine glückliche, gerechte Herrschaft verwiesen – auch wenn oder gerade weil am Ende des 18. Jahrhunderts eher von einem Rückblick auf diese vergangenen „goldenen“ Zeiten der kurfürstlichen Anwesenheit in der Pfalz die Rede sein konnte45. So erscheint das monu39
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Carl Theodor ließ in Mannheim eine Sternwarte errichten und beschäftigte einen Hofastronomen. S. Kai Budde, Die naturwissenschaftlichen Interessen des Kurfürsten, in: Wieczorek/Probst/Koenig, Lebenslust und Frömmigkeit, Bd. 1,1, S. 365. Die Bilderserie befindet sich in den Uffizien in Florenz. S. Pleister/Schild, Recht und Gerechtigkeit, S. 18 f. S. Thomas Puttfarken, Golden Age and Justice in sixteenth-century florentine political thought and imagery: Observations on three pictures by Jacopo Zucchi, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes, Vol. 34, 1980, S. 140 f.; vgl. Pleister/Schild, Recht und Gerechtigkeit, S. 19. S. auch Pleister/Schild, Recht und Gerechtigkeit, S. 19. Vgl. die Inschrift am Minerva-Denkmal, zit. in: Werhahn, Linck, S. 325. Franz Conrad Linck, Akkord-Vorschlag vom 15. 11. 1788, zit. in: Werhahn, Linck, S. 424. Vgl. auch Prückner, Kurfürst, in: ders., Die alte Brücke in Heidelberg, S. 92.
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mentale Kunstwerk auf der Heidelberger Brücke nicht nur als eine glorifizierte Darstellung kurfürstlicher Macht und Größe, sondern vielmehr als ein Andenken an die kurpfälzische Blütezeit von Kunst und Wissenschaften, von Handel und Gewerbe, von Landwirtschaft und Frömmigkeit. Zum einen ist es die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters unter dem Kurfürsten, die schon das leitende Thema der künstlerischen Dekoration in der Gartenanlage des Schwetzinger Schlosses bildete46. Andererseits ist es aber auch die Erinnerung an diese „Glanzzeit“, an diese „Kulturblüte“ oder „Sternstunden“ in der Kurpfalz47, die hier immer wieder anklingt und nicht zuletzt in der Allegorie der Justitia bildlich zum Ausdruck kommt. In diesem Sinne wurde dem Kurfürsten Carl Theodor bereits zu Lebzeiten ein vielschichtiges „Denkmal“ gesetzt. Es ist eine symbolische Darstellung seines öffentlichen Werkes und Wirkens, die sich auf mehreren Ebenen betrachten lässt: Als eine absolutistische Präsentation der kurfürstlichen Macht und Größe, als eine Allegorie auf das kurpfälzische Goldene Zeitalter oder aber als eine Erinnerung an die – ehemals – „glückliche Pfalz […] unter der weisen Regierung unseres geliebtesten Kurfürsten“48.
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S. Jörg Gamer, Bemerkungen zum Garten der kurfürstlich pfälzischen Sommerresidenz Schwetzingen, in: Bahns, Carl Theodor und Elisabeth Auguste, S. 22. Vgl. auch Hansjörg Probst, Carl Theodors Bedeutung, in: Wieczorek/Probst/Koenig, Lebenslust und Frömmigkeit, Bd. 1, 1, S. 10. Franz Conrad Linck, Akkord-Vorschlag vom 15. 11. 1788, zit. in: Werhahn, Linck, S. 424.
Julius Mosen, der politische Dichter Bettina Kern
A. Einleitung Julius Mosen ist der Nachwelt in erster Linie als Heimatdichter bekannt. Für seine Zeitgenossen war er dagegen ein politischer Dichter, der sich in seinen heute weitgehend vergessenen Werken mit den Problemen seiner Gegenwart auseinandersetzte1. Er vertrat die Ansicht, die Kunst sollte im Dienst der politischen Tagesfragen stehen2, sollte gesellschaftliche Veränderungen ohne Gewaltanwendung bewirken. Mosen gehörte zum liberalen Bürgertum, lehnte radikale Ansichten wie den Kommunismus ab3. Mit seinen dramatischen Werken wollte Mosen die Entstehung eines deutschen Nationalstaates befördern4. Ebenso wie Immermann und Grabbe bemühte er sich um eine Wiederbelebung und Weiterentwicklung des Dramas. Mosen schrieb nicht nur eigene Werke, sondern war auch als Dramaturg in Oldenburg in dieser Richtung tätig. Mosens Weltanschauung, die sich auch in seinen Werken niederschlug, ist von Hegels Philosophie beeinflußt5. Schwierig ist die literarische Einordnung Mosens. Mosen steht am Übergang Romantik/Junges Deutschland6. In etlichen seiner Werke zeigt er eine Hinwendung zur Romantik, wie sich zum Beispiel aus der Wahl des Titels „Die blaue Blume“ für eine seiner Novellen ergibt. Mit Hilfe seiner historischen Tragödien wollte er geschichtsphilosophische Erkenntnisse deutlich machen und verbreiten und die Entstehung eines deutschen Nationalstaates befördern7. Damit entsprach seine Einstellung der des „Jungen Deutschland“, einer literarischen Schule, die um 1835 aufkam8. Das Junge Deutschland versuchte, 1 2
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Dieter Seidel, Julius Mosen. Leben und Werk, Lappersdorf 2003, S. 7, 8. Julius Mosen, Brief an Stahr vom 10. Febr. 1845, in: Ludwig Geiger, Aus Adolf Stahrs Nachlaß, Briefe von Stahr, Oldenburg 1908, S. 104; Karl Besse, Julius Mosen, Theorie der Tragödie, Münster 1915, S. 67. Mosen, Brief an Stahr vom 30. Okt. 1842, in: Geiger, Briefe von Stahr, S. 38 und Mosen, Brief an Stahr vom 15. Jan. 1843, in: Geiger, Briefe von Stahr, S. 55; Seidel, Mosen, S. 259, 260. Julius Mosen, Ueber die Tragödie, in: Theater, Stuttgart, Tübingen 1842, S. XXII, XXIV. Werner Mahrholz, Julius Mosens Prosa, Weimar 1912, S. 46-50; Seidel, Mosen, S. 178; Harri Müller, Julius Mosen als Dramatiker, in: Mosen-Blätter Nr. 4, Marieney 1999, S. 26. Mahrholz, Prosa, S. 89, 112; Seidel, Mosen, S. 178, 179. Mosen, Ueber die Tragödie, S. XX, XXII, XXIV; Besse, Theorie der Tragödie, S. 52, 73. Mahrholz, Prosa, S. 57.
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durch literarische Werke sowie durch Veröffentlichungen in Zeitungen Einfluß auf die öffentliche Meinung zu nehmen. Die Kunst sollte im Dienst der politischen Tagesfragen stehen9. Damit sollten gesellschaftliche Veränderungen ohne Gewaltanwendung bewirkt werden. Mosen hielt es für Recht und Pflicht des Dichters, einen geschichtlich großen Charakter auch geschichtlich treu darzustellen10, das heißt, er sollte sich an die historischen Tatsachen halten. Der Schriftsteller sollte nach Mosens Ansicht einen historischen Stoff wählen, der Parallelen zur Gegenwart aufweise11. Auch der Roman „Der Congreß von Verona“ entspricht den Vorstellungen des Jungen Deutschlands12. Im Prolog zu Otto III. heißt es: „Denn in der Kunst, im allerfrei’sten Dasein, Verklärt die Vorzeit sich mit ihren Helden, Daß wir im innersten Gemüt zugleich Mit Ihnen leben, wie mit Zeitgenossen, Und größer werden in der großen Tat, Die wir begreifen und vollbringen lernen. So mag sich hier die Gegenwart erkennen Im Zauberspiegel der Vergangenheit“13.
Ähnlich äußert Mosen sich im Prolog zu Johann von Österreich: „[…] Und so beginnt im farbigen Gedicht Als buntes Spiel die Lehre der Geschichte!“14.
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Besse, Theorie der Tragödie, S. 67. Besse, Theorie der Tragödie, S. 54. Besse, Theorie der Tragödie, S. 59. Mahrholz, Prosa, S. 65, 67. Julius Mosen, Kaiser Otto III., Prolog, in: Sämmtliche Werke, 2. Aufl., Bd. 2, Leipzig 1880, S. 286. Julius Mosen, Johann von Österreich, Prolog, in: Sämmtliche Werke, 2. Aufl., Bd. 3, Leipzig 1880, S. 274.
Julius Mosen, der politische Dichter
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B. Mosens Lebensweg Julius Mosen (eigentlich Moses15) wurde am 8. Juli 1803 in Marieney16, das im sächsischen Vogtland zwischen Oelsnitz und Klingenthal liegt, geboren17. Sein Vater war der Schullehrer und Kantor Johann Gottlob Moses (1878-1823), seine Mutter Sophia Magdalena Enigklein aus Oelsnitz18. Julius war das älteste von sechs Kindern19. Nach der Gymnasialzeit in Plauen (1817-1822)20 nahm Mosen das Studium der Rechte in Jena auf, das er bereits 1824, nach dem Tode des Vaters, abbrach. Mosen war Mitglied der Burschenschaft Germania21. Trotz Auflösung der Burschenschaft im Jahre 1819 und erneuten Verbotes 1822 bestand zu Mosens Studienzeit die Burschenschaft fort22. Am 18. Januar 1824 wurde das fünfzigjährige Jubiläum Herzog Karl-Augusts als Rektor der Universität Jena gefeiert. Aus diesem Anlaß schrieb Mosen ein von Goethe preisgekröntes Festgedicht23. Für dieses sowie für die Herausgabe der lyrischen Dichtungen Kosegartens erhielt er Honorare, die ihm von 1824-1826 einen Aufenthalt in Italien ermöglichten24. Er reiste streckenweise gemeinsam mit August Kluge, der einen Teil der Reisekosten trug25. Während Mosen nach Hause zurückkehrte, begab sich 15
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Schon zu Lebzeiten von Mosen wurde darüber gestritten, ob er jüdische Vorfahren hatte, ob die Familie Moses um 1560 zum Christentum übergetreten sei. Daß sich bei den Vorfahren Mosens ein zum Christentum übergetretener Jude befand, wurde in einem Aufsatz aus dem Jahre 1938 bestritten (Rudolf Falk, Die arische Abstammung des Dichters Julius Mosen, Mitteilungen des Vereins für vogtländische Geschichte und Altertumskunde zu Plauen i. V., Beilage zur 41. Jahresschrift, Plauen 1938). 1844 erfolgte die amtliche Namensänderung in Mosen (Werner Hernla, Das vogtländische Umfeld von Julius Mosen, in: Mosen-Blätter Nr. 5, 1999, S. 3; Seidel, Mosen, S. 345). Marieney ist heute Ortsteil von Mühlental. Brockhaus, Conversations-Lexikon, 12. Aufl., Bd. 10, Leipzig 1878 Seidel, Mosen, S. 14; Fred Frank Stapf, Julius Mosen. Der Vogtländer Dichter des Andreas-Hofer-Liedes, 2. Aufl., Lappersdorf bei Regensburg 2001, S. 11; Detlev Storz, Julius Mosen und Deutschlands vergessene Freiheit, in: Burschenschaftliche Blätter, 2001, S. 104-109, 104. Seidel, Mosen, S. 14. Seidel, Mosen, S. 35, 55. Seidel, Mosen, S. 61; Stapf, Julius Mosen, S. 33/34; Reinhard Mosen, Biographie von Julius Mosen, in: Julius Mosen, Sämmtliche Werke, Bd. 6, Leipzig 1880, S. 323-339, S. 325. Seidel, Mosen, S. 63; Max Steinmetz (Hrsg.), Geschichte der Universität Jena 1548/58 bis 1958, Bd. 1: Darstellung, Jena 1958, S. 371, 372. Andreas Raithel, Julius Mosen – ein vergessener Deutscher Dichter?, in: Carl Forberger, Mosen-Büchlein, Plauen 1999, S. 5-9, 6; Seidel, Mosen, S. 73; Storz, in: Burschenschaftliche Blätter, S. 104; Fritz Welsch, Julius Mosen. 8. Juli 1853, in: Museumsreihe des Museums Plauen, Heft 2, 1952, S. 17. Brockhaus, Conversations-Lexikon, Bd. 10; Lexikon deutschsprachiger Schriftsteller, Leipzig 1987. Seidel, Mosen, S. 80.
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Kluge nach Ägypten26. Nach seiner Italienfahrt setzte Mosen ab Frühjahr 1827 sein Jurastudium in Leipzig fort27. Er war bereits seit Mai 1825 in Leipzig immatrikuliert28, um dem Erfordernis Genüge zu tun, vor dem Examen zwei Jahre an einer sächsischen Landesuniversität studiert zu haben29. Trotz eines kleinen Honorars, das Mosen für die Veröffentlichung von in Italien gesammelten Märchen erhielt, ging es ihm finanziell sehr schlecht30. Im Februar 1828 schloß Mosen sein Studium ab und erhielt von der Universität Leipzig die Zulassung zum Advokaten und zum Notar31. Er arbeitete zunächst bei dem Advokaten Erdmann Schweinitz, einem Freund seines Vaters, in Markneukirchen32. Dort zählte der Schankwirt und Ratskämmerer Ephraim Schatz zu seinen Freunden. Auch zu dessen Schwester Christiane Wilhelmine hatte Mosen enge Beziehungen. Als diese ein Kind erwartete, verließ er Markneukirchen und ging im Herbst 1830 nach Leipzig, weil er sich zu diesem Zeitpunkt nicht durch eine Eheschließung binden wollte33. Mosens 1831 geborene Tochter Mathilde führte bis zu ihrer Eheschließung den Namen Mosen34. In Leipzig lernte er den Patrizier Dr. Crusius kennen, der die drei Rittergüter Kohren, Rüdigsdorf und Sahlis besaß35. Crusius bot ihm eine Anstellung als Actuar am Patrimonialgericht Kohren an, die Mosen im Herbst 1831 antrat36. Er hatte enge persönliche Verbindungen zur Familie von Crusius. Obwohl die Patrimonialgerichtsbarkeit in Sachsen erst mit Wirkung vom 1. Oktober 1856 aufgehoben wurde37, ging das Gericht in Kohren bereits 1834 an den Staat über. Crusius hatte sich entschlossen, die Gerichtsbarkeit freiwillig an den sächsischen Staat abzugeben38. Für Mosen stellte sich nun die Frage, ob er in Kohren bleiben oder 26 27 28
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Stapf, Julius Mosen, S. 43. Brockhaus, Conversations-Lexikon, Bd. 10; Stapf, Julius Mosen, S. 83. Immatrikulationsurkunde der Universität Leipzig vom 5. Mai 1825, GSA (Goethe- und Schillerarchiv Weimar) 67/115. Seidel, Mosen, S. 81. Seidel, Mosen, S. 115. Die Zulassung zur Advokatur erlangte Mosen am 4. Februar 1828 (GSA 67/118), die Zulassung als Notar am 18. Februar 1828 (GSA 67/119). Brockhaus, Conversations-Lexikon, Bd. 10; Raithel, in: Forberger, Mosen-Büchlein, S. 6; Seidel, Mosen, S. 116. Wolfgang Hiller, Bernhard Zöbisch, Dietrich Nitzsche, Erich Reyer, Markneukirchen und vogtländische Musik in Mosens Novellen, in: Mosen-Bl. Nr.7, 2000, S. 8; Seidel, Mosen, S. 127-129; Stapf, Julius Mosen, S. 87-90. Seidel, Mosen, S. 130; Storz, in: Burschenschaftliche Blätter, S. 105. Fritz Alfred Zimmer, Julius Mosen. Ein deutscher Dichter und Volksmann, Dresden 1938, S. 53. Brockhaus, Conversations-Lexikon, Bd. 10; Seidel, Mosen, S. 145; Storz, in: Burschenschaftliche Blätter, S. 105; Zimmer, Dichter und Volksmann, S. 53. Gerhard Schmidt, Die Staatsreform in Sachsen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Weimar 1966, S. 307; Sabine Werthmann, Vom Ende der Patrimonialgerichtsbarkeit, Frankfurt/M. 1995, S. 64. Seidel, Mosen, S. 171; Thomas Bertz, Wilhelm Crusius auf Sahlis und Rüdigsdorf: aus dem Leben eines Leipziger Rittergutsbesitzers (Leipziger Hefte 14, hrsg. vom Leipziger Geschichtsverein e. V.), Beucha 1999, S. 71, 72.
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sich ein neues Wirkungsfeld suchen sollte. Da er – trotz gegenseitiger Sympathie – nicht geneigt war, die Schwägerin von Crusius zu heiraten, verließ er Kohren und ließ sich in Dresden als Advokat nieder39. Daneben verfaßte er poetische Arbeiten40. In den Dresdener Jahren verlagerte sich das Schwergewicht von Mosens dichterischer Tätigkeit von der Lyrik zu dramatischen Arbeiten41. 1840 erhielt Mosen die Ehrendoktorwürde der Universität Jena für seine Verdienste um die deutsche Dichtkunst42. Am 4. Januar 1841 heiratete Julius Mosen in Dresden Minna Jungwirth (18101880). Dort wurden auch die beiden Söhne Erich (30. 9. 1841) und Reinhard (21. 8. 1843) geboren43. In Dresden hatte Mosen einen großen Freundes- und Bekanntenkreis, zu dem unter anderem der Architekt Gottfried Semper, Julius Froebel, die Schriftsteller Ferdinand Freiligrath, Hoffmann von Fallersleben, Georg Herwegh, Karl Gutzkow sowie Richard Wagner gehörten44. Zwischen Wagner und Mosen kam es zu Spannungen, als Wagners „Rienzi“ erfolgreich in Dresden aufgeführt wurde, während Mosen keine Aussicht hatte, seinen „Cola Rienzi“ zur Aufführung zu bringen45. Mosen hielt die Musik für eine Kunst, die die Sinne, aber nicht den Verstand anspräche. Er bemängelte, daß das Publikum in die Oper ginge, „um einen Triller zu hören“, statt sich mit dem Text dramatischer Werke auseinanderzusetzen46. 1842/43 wurde Mosen in der Augsburger Allgemeinen Zeitung wegen seiner (angeblichen?)47 jüdischen Herkunft angegriffen. Dieser Angriff traf ihn persönlich sehr48. In Dresden trat Mosen 1843 in die Freimaurerloge „Zum Goldenen Apfel“ ein49. 1842 lernte Mosen den Oldenburger Professor Adolf Stahr kennen, der ihn 1844 als Dramaturgen an das Hoftheater in Oldenburg holte50. Der Oldenburger Großherzog Paul Friedrich August (1829-1853) hatte im Jahre 1833 der Gründung 39 40
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Zimmer, Dichter und Volksmann, S. 61. Brockhaus, Conversations-Lexikon, Bd. 10; Raithel, in: Forberger, Mosen-Büchlein, S. 6. Seidel, Mosen, S. 188. Seidel, Mosen, S. 211; Stapf, Julius Mosen, S. 116, 117; Storz, in: Burschenschaftliche Blätter, S. 106; Zimmer, Dichter und Volksmann, S. 67. Storz, in: Burschenschaftliche Blätter, S. 106. Stapf, Julius Mosen, S. 132-135. Richard Wagner, Mein Leben, München 1976, S. 247; Müller, in Mosen-Bl. 4, S. 24, 25. Mosen, Brief an Stahr vom 19. März 1843, in: Geiger, Briefe von Stahr, S. 64; Julius Mosen, Congreß von Verona, 3. Buch, 3. Kapitel, in: Sämmtliche Werke, Bd. 4, Leipzig 1880, S. 104; Besse, Theorie der Tragödie, S. 48-51. S. oben bei Fn. 15. Mosen, Brief an Menzel vom 15. Jan. 1843, in: Heinrich Meisner, Erich Schmidt (Hrsg.), Briefe an Wolfgang Menzel, Berlin 1908, S. 203. Erich Reyer, Julius Mosen und die Loge „Zum Goldenen Apfel“, in: Mosen-Bl. 8, 2000, S. 5, 10. Raithel, in: Forberger, Mosen-Büchlein, S. 6; Stapf, Julius Mosen, S. 135-139.
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eines stehenden Theaters zugestimmt, das seit 1842 als Hoftheater geführt wurde51. Der kulturell interessierte Herzog kannte und schätzte die Werke Mosens52. Vor der endgültigen Berufung reiste Mosen nach Oldenburg, um dort seinen „Bernhard, Herzog von Weimar“ zu inszenieren53. Mosen hatte nicht ungerne in Dresden gelebt, litt allerdings in den letzten Jahren darunter, daß er nicht die von ihm gewünschte Anerkennung fand54. So entschied er sich für Oldenburg, wo es ihm möglich war, sich ganz der dramatischen Kunst zu widmen. Die zeitliche Belastung durch die Anwaltskanzlei war nicht mehr vereinbar mit der Ausübung des Dichterberufes55, der ihm mehr am Herzen lag; außerdem warf Mosen den Dresdnern vor, die Oper gegenüber dem gesprochenen Wort zu bevorzugen56. Mit dem Wechsel nach Oldenburg entschied Mosen sich gegen die Arbeit als Anwalt. Am 20. Mai 1844 erfolgte die Einsetzung als Dramaturg des Hoftheaters mit der gleichzeitigen Ernennung zum Hofrat57. Stahr und Mosen sahen die Aufgabe eines Dramaturgen darin, den Darstellern nahe zu bringen, wie die Werke eines Dichters aufzuführen seien58. Zu diesem Zweck wurden Leseproben veranstaltet59, bevor die Probenarbeit auf der Bühne begann. Der Dramaturg wurde neben dem Regisseur tätig. Im Februar 1845 ließ Mosen den ersten Teil von Goethes Faust aufführen. Aus diesem Anlaß verfaßte er eine dramaturgische Abhandlung, in der er sich mit dem Inhalt und der Bedeutung des Stückes auseinandersetzte. Er gab den Schauspielern Anweisungen, wie einzelne Szenen zu sprechen seien, wie die Schauspieler sich zu bewegen hätten und welche Kleidung zu wählen sei, um die Aussage des Stückes zu unterstützen60. Solche Leseproben hatte er bereits vor der Aufführung des „Bernhard von Weimar“ 1842 in Dresden durchgeführt61. Mosen wollte in Oldenburg in Zusammenarbeit mit dem Intendanten Baron von Gall und mit Adolf Stahr ein deutsches Nationaltheater schaffen62. Die Arbeit am Theater 51
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Peter Hackmann, Adolf Stahr und das Oldenburger Theater. Ein Beitrag zur Literaturund Theaterkritik in der Epoche des „Jungen Deutschland“, Oldenburg 1974, S. 38; Seidel, Mosen, S. 282. Hackmann, S. 125, 126; Stapf, Julius Mosen, S. 136. Seidel, Mosen, S. 235, 272. Besse, Theorie der Tragödie, S. 51. Seidel, Mosen, S. 272, 275; Storz, in: Burschenschaftliche Blätter, S. 106; Zimmer, Dichter und Volksmann, S. 67. Mosen, Brief an Stahr vom 19. März 1843, in: Geiger, Briefe von Stahr, S. 63, 64. Handschreiben von Paul Friedrich August, Großherzog von Oldenburg an Ferdinand von Gall vom 20. Mai 1844 (GSA 67/105), Urkunde von Paul Friedrich August, Großherzog von Oldenburg vom 24. Mai 1844 (GSA 67/111). Mosen, Brief an Stahr vom 13. Okt. 1842, in: Geiger, Briefe von Stahr, S. 35; Hackmann, S. 123. Seidel, Mosen, S. 283. Julius Mosen, Ueber Goethes Faust, in: Sämmtliche Werke, Bd. 6, Leipzig 1880, S. 346. Mosen, Brief an Stahr vom 13. Oktober 1842, in: Geiger, Briefe von Stahr, S. 35. Mosen, Brief an Stahr vom 30. Okt. 1842, in: Geiger, Briefe von Stahr, S. 38, 39; Hackmann, S. 16-18, 110; Seidel, Mosen, S. 283; Welsch, in: Museumsreihe des Museums Plauen, S. 49-51.
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begann erfolgversprechend63, wurde aber ab 1846 durch einen Intendantenwechsel nachteilig beeinflußt. Von Gall ging nach Stuttgart; sein Nachfolger wurde Hermann Graf von Bocholtz, mit dem Mosen häufig Auseinandersetzungen über die aufzuführenden Stücke hatte64. So wollte Mosen Gustav Freytags „Valentine“ aufführen, die er sehr schätze, wie er dem Autor mitteilte65. Der Intendant sprach sich gegen eine Aufführung aus, „weil eine Princessin gegen die Hofetiquette im Stück sich ohne Hofcavalier und Hofdame hin- und herbewegt“66. Mosen wurde außerdem in seiner Arbeit von einer beginnenden Lähmung67 behindert. Wegen dieser schweren Krankheit wurde er 1848 in den Ruhestand versetzt68. Der Großherzog Paul Friedrich August und sein Nachfolger Nikolaus Friedrich Peter unterstützten die Familie Mosen, die außerdem eine Pension der Schillerstiftung erhielt, so daß der Familie trotz der schweren Krankheit finanzielle Sorgen erspart blieben69. Kuraufenthalte in Helgoland, Bad Wildbad im Schwarzwald, Lehsen in Mecklenburg und in Bad Gastein brachten nicht die erwünschte Besserung. Trotz seiner Krankheit nahm er Anteil an seiner Umwelt. Im Jahre 1847 schrieb er seinem Freunde Stahr, er wolle „mit der Politik nichts mehr zu schaffen haben“70. Als 1848 die Nationalversammlung tagte, meinte er, daß seine verwegensten Hoffnungen in Erfüllung gehen würden71. Da dies nicht der Fall war, blickte er danach hoffnungslos in die Zukunft72. Er behielt aber grundsätzlich seine politische Haltung bei73. Im Jahre 1848 erschienen die „Erinnerungen“, die von der Kindheit in Marieney berichten. Ab 1852 fand in Mosens Haus einmal wöchentlich ein Treffen einiger Freunde statt. Auch wenn Mosen kaum noch aktiv an den Gesprächen und Lesungen teilnehmen konnte, waren sie für ihn eine angenehme Unterhaltung74. 1858 widmete er der Universität Jena ein Gedicht „Gruß an Jena“, da es ihm nicht mehr möglich war, persönlich zu den Feierlichkeiten zum Jubiläum zu erscheinen75. Zum 10. November 1859 erschien ein Beitrag zum Schillerfest76. Ebenso 63 64
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Zimmer, Dichter und Volksmann, S. 68. Mosen, Brief an Stahr vom 22. April 1847, in: Geiger, Briefe von Stahr, S. 130, 140; Seidel, Mosen, S. 290-294. Mosen, Brief an G. Freytag vom 13. September 1847, Handschriftensammlung der Staatsbibliothek Berlin, Nachlaß Freytag, acc. Darmstadt 1920, 332. Mosen, Brief an Stahr vom 22. April 1847, in: Geiger, Briefe von Stahr, S. 140. Möglicherweise handelte es sich um Multiple Sklerose, vgl. Seidel, Mosen, S. 299. Brockhaus, Conversations-Lexikon, Bd. 10; Seidel, Mosen, S. 294. Seidel, Mosen, S. 294, 335; Zimmer, Dichter und Volksmann, S. 73. Mosen, Brief an Stahr vom 22. April 1847, in: Geiger, Briefe von Stahr, S. 138. Mosen, Brief an Hoffmann v. Fallersleben vom 27. März 1848, Handschriftensammlung der Staatsbibliothek zu Berlin, Nachlaß Hoffmann v. Fallersleben; Seidel, Mosen, S. 304-305. Adolf Stahr, Brief an Carl Stahr vom 17. Jan. 1849, in: Ludwig Geiger, Aus Adolf Stahrs Nachlaß, Briefe von Stahr, Oldenburg 1908, S. 148. Stahr, Brief an Carl Stahr vom 28. Juli 1849, in: Geiger, Briefe von Stahr, S. 154. R. Mosen, S. 334; Seidel, Mosen, S. 319, 320; R. Mosen, S. 335; Welsch, in: Museumsreihe des Museums Plauen, S. 56. Seidel, Mosen, S. 324.
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schrieb er 1863 ein Gedicht anläßlich eines Turnfestes, das zum fünfzigjährigen Jahrestag der Völkerschlacht stattfand77 und 1865 einen Gruß zum Burschenschaftsjubiläum78. 1863 – anläßlich Mosens 60. Geburtstag – erschien bei dem Oldenburger Verleger Schmidt79 eine achtbändige Gesamtausgabe von Mosens Werken. Zur Finanzierung wurden vor allem in Turnvereinen und Freimaurerlogen Subskribenten gesucht80. Brockhaus hatte Bedenken, eine solche Gesamtausgabe zu verlegen, da er Mosen als Schriftsteller nicht für bedeutend genug hielt. Menschlich hätte er dem schwerkranken Mosen gerne geholfen81. Mosen starb am 10. Oktober 1867.
C. Mosens Stellungnahme zu zeitgenössischen Fragen in seinen Werken Mosens Werkverzeichnis umfaßt verschiedene Gattungen. Er schrieb Gedichte, Epen, Dramen und zahlreiche Prosawerke. Von der 1863 erschienenen Gesamtausgabe seiner Werke gab es 1880 eine zweite, erweiterte Auflage bei Wilhelm Friedrich in Leipzig. Diese enthielt eine von seinem Sohn Reinhard verfaßte Biographie. I. Gedichte Bei den Gedichten Mosens sind sowohl Heimat- und Naturgedichte als auch politische Werke zu finden. Viele seiner Gedichte wurden vertont, u. a. „Der Nußbaum“ im Jahre 1840 von Robert Schumann82. Zu den Werken mit einer politischen Aussage gehören die Gedichte „Andreas Hofer“ und „Die letzten Zehn vom vierten Regiment“, die zu Volksliedern wurden. Beide entstanden in Kohren83. Das Lied „Die letzten Zehn vom vierten Regiment“ spiegelt den Polenaufstand von 1830 wieder84. Es wurde 1832 von Philipp Reclam als Flugblatt gedruckt und in ganz Deutschland verbreitet; den Erlös der ersten Auflage, die bereits nach einem Tag ausverkauft war, stellten Mosen und Reclam den Polenflüchtlingen zur
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Seidel, Mosen, S. 324; Welsch, in: Museumsreihe des Museums Plauen, S. 57. Seidel, Mosen, S. 324. Erich Reyer, Julius Mosen und seine Verleger, in: Mosen-Bl. Nr. 4, 1999, S. 2. Seidel, Mosen, S. 329. Reyer, in: Mosen-Bl. 4, S. 3. Gerd Nauhaus, Julius Mosen und Robert Schumann, in: Mosen-Bl. 9, 2001, S. 3. Seidel, Mosen, S. 153. Der Aufstand begann am 29. November 1830; am 8. September 1831 wurde Warschau von russischen Truppen erobert.
Julius Mosen, der politische Dichter
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Verfügung85. Den Bekanntheitsgrad des Liedes zeigt seine Aufnahme in die Literatur und Musik. Das Lied wurde bald nach seiner Entstehung mehrfach vertont, u. a. von Ludwig Berger (op. 27), von August Schuster (1832) und von J. Burkhardt um 183586. Bereits 1832 verwendete Lortzing den Text, den er selbst vertont hatte, in seinem Liederspiel „Der Pole und sein Kind“87. Der Text wurde zweimal ins Polnische übersetzt und zwar von J. N. Kaminski und K. Brodzinski88. In den dreißiger Jahren spielte der Polenaufstand in der deutschen Literatur eine große Rolle89. Mitte der achtziger Jahre entstand Fontanes Kriminalnovelle „Unterm Birnbaum“, in der er einen vermeintlichen Polen das Lied singen läßt, das in einer Vertonung von Ludwig Berger bekannt war90. In seinen Kindheitserinnerungen schreibt Fontane, daß er sich in Verbindung mit den Polenkämpfen des Winters 1830 vor allem an die Gedichte Mosens und Lenaus erinnere91. Die Begeisterung für den polnischen Freiheitskampf war zu dieser Zeit in Deutschland weit verbreitet. Sie beruhte unter anderem darauf, daß auch in Deutschland der Wunsch nach Freiheit und Einigkeit bestand. Auch das Hofer-Lied wurde mehrfach vertont, u. a. von Mosens Freund Schuster92 (diese Vertonung aus dem Jahre 1832 ist heute unbekannt) und von Leopold Knebelsberger93. Im Jahre 1948 beschloß das österreichische Bundesland Tirol: „Das Andreas-Hofer-Lied nach den Worten von Julius Mosen und nach der Weise von Leopold Knebelsberger gilt als Tiroler Landeshymne“94. Daß die Person Hofers Mosen nicht nur kurzfristig beschäftigte, zeigt sich darin, daß er ihn in seinem Roman „Der Congreß von Verona“, an dem er in Dresden arbeitete, nochmals erwähnte.
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Reyer, in: Mosen-Bl. 4, S. 2; Seidel, Mosen, S. 153. Wolfgang Steinitz (Hrsg.), Deutsche Volkslieder demokratischen Charakters aus sechs Jahrhunderten, Bd. 2, Berlin 1962, S. 49; Seidel, Mosen, S. 152. Irmlind Capelle, Chronologisch-thematisches Verzeichnis der Werke von Gustav Albert Lortzing, Paderborn 1991, S. 90; Heinz Schirmag, Albert Lortzing. Ein Lebensund Zeitbild, Berlin 1982, S. 55. Steinitz, Deutsche Volkslieder, S. 51. A. v. Chamisso, E. Geibel, Fr. Grillparzer, An. Grün, Fr. Hebbel, G. Herwegh, K. v. Holtei, Just. Kerner, N. Lenau, E. Ortepp, A. v. Platen, Gustav Schwab, K. Simrock, L. Uhland, K. H. W. Wackernagel u. a. Theodor Fontane, Unterm Birnbaum, in: Walter Keitel, Helmuth Nürnberger (Hrsg.), Werke und Schriften, Bd. 10, Frankfurt/M., Berlin, Wien 1977, S. 35 und S. 123. Fontane, Meine Kinderjahre, in: Keitel/Nürnberger, Werke und Schriften, Bd. 34, 1979, S. 111. Seidel, Mosen, S. 154; Max Zschommler, Interessante und berühmte Vogtländer, Plauen 1913, S. 96. Stapf, Julius Mosen, S. 140. Seidel, Mosen, S. 153, 154; Storz, in: Burschenschaftliche Blätter, S. 108.
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II. Dramen Die dramatischen Werke Mosens beschäftigen sich zwar mit historischen Themen, sie sprechen aber aktuelle politische Probleme an95. Mosen sieht es als Aufgabe des Theaters an, das Nationalgefühl der Deutschen zu entwickeln. Besonders deutlich wird dies in den folgenden Dramen. 1. Heinrich der Finkler Das historische Schauspiel Heinrich der Finkler erschien 1836 bei Reclam als erstes Theaterstück im Druck; geschrieben wurde es bereits in den Jahren in Kohren96. In diesem Werk schildert Mosen, wie Heinrich I. die deutschen Stämme eint, da sie nur gemeinsamen den äußeren Feind, die Ungarn besiegen könnten97. Am Anfang des Stückes fordert Heinrichs Schwester Hedwig die Männer auf, sich zu vereinigen: „[…] O! welches Glück Wird einem Mann zu Theil, der kämpfen darf Mit Wort und That für eine bessre Zeit! Geht hin! Vereinigt Euch! Gedenkt der Noth, Die wir erdulden von den fremden Völkern! Und sammelt um Euch die zerstreute Schaar, Die Händ und Herzen hat!“98.
Ähnlich sieht es Eberhard, der Herzog der Franken, der sagt: „Ach würden wir doch eins, ihr deutschen Brüder, vor unsrer Brust zerbräche eine Welt“99.
Nachdem es allen gemeinsam gelungen ist, die Ungarn zu besiegen, fordert Heinrich die deutschen Stämme auf, die gefundene Eintracht weiterhin zu bewahren. Denn diese sei die Voraussetzung für ein Leben in Freiheit: „Bewahrt die Eintracht, wollt Ihr sicher sein! Bewahrt die Freiheit, und Ihr habt das Glück! Doch mit der Zwietracht kehrt das Elend ein; Und Schmach und Knechtschaft kommen hinterdrein. Doch der das Weltall trägt in seinen Händen, Wird das, was er begonnen, auch vollenden!“100.
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Wolfgang Hiller, Julius Mosen im gesellschaftlichen Umfeld, in: Mosen-Bl. Nr. 4, 1999, S. 10, 11; Stapf, Julius Mosen, S. 109, 110. Seidel, Mosen, S. 165; Zimmer, Dichter und Volksmann, S. 54, 55. Seidel, Mosen, S. 165. Julius Mosen, Heinrich der Finkler, I, in: Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 6. Mosen, Heinrich der Finkler, I, in: Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 20. Mosen, Heinrich der Finkler, V, in: Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 139.
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Bei dem Sieg über die Ungarn im Jahre 933 haben alle deutschen Stämme mitgewirkt, so daß dadurch das Gefühl der Zusammengehörigkeit gestärkt wurde101. Mosen wählte dieses Thema, um seinen Zeitgenossen die historische Situation als Vorbild und als Ansporn vorzuführen. Sie sollten die Einigkeit der deutschen Staaten anstreben102. 2. Der Sohn des Fürsten Dieses Werk entstand 1840 anläßlich des 100jährigen Jubiläums der Thronbesteigung Friedrichs II. von Preußen103. Mosen sandte das Manuskript noch im selben Jahr an Friedrich Wilhelm IV. ein, der ihn bezüglich einer Aufführung an den Generalintendanten v. Redern verwies104. Unter Hinweis auf den entgegenstehenden Wunsch des Königs lehnte Redern eine Aufführung in Berlin ab105. Die Uraufführung fand 1842 im Stadttheater Breslau statt106. Am 24. Januar 1843, am Geburtstag Friedrichs des Großen, fand die erste Inszenierung eines Dramas von Mosen am Hoftheater in Oldenburg statt107. Der Erfolg trug möglicherweise dazu bei, daß der Großherzog Paul Friedrich August ihn kurze Zeit später nach Oldenburg berief108. Das Werk wurde erst 1858 in der Schulzeschen Verlagsbuchhandlung gedruckt109. Mosen stellt den Konflikt zwischen Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II., zwischen altem Borussentum und der neuen Zeit der Bildung und Sehnsucht nach nationaler Gestaltung dar, der zu Friedrichs Fluchtversuch führt110. Katte fordert Friedrich II. auf: „Und mit Kanonendonner sollst du wecken Die deutschen Völker aus dem Todesschlafe, Und aus der Gruft des römisch-deutschen Reich’s Sie führen zu dem neuen Tageslicht.“111
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Holtzmann, Geschichte der sächsischen Kaiserzeit, S. 94, 95. Müller, in: Mosen-Bl. Nr. 4, S. 20. Seidel, Mosen, S. 227. Brief von Friedrich Wilhelm IV. an Mosen vom 19. Nov. 1841, GSA 67/76. Brief von v. Redern an Mosen vom 5. Febr. 1842, GSA 67/77. Seidel, Mosen, S. 228; Heinrich Stümcke, Hohenzollern-Fürsten im Drama, Leipzig 1903, S. 198, 199. In der 2. Auflage der sämmtlichen Werke wird behauptet, dies sei die Uraufführung gewesen. Seidel, Mosen, S. 228. Andreas Fehn, Die Geschichtsphilosophie in den historischen Dramen Julius Mosens, Bamberg 1915, S. 74; Seidel, Mosen, S. 228. Mosen, Brief an Stahr vom 10. Febr. 1845, in: Geiger, Briefe von Stahr, S. 104; Fehn, Die Geschichtsphilosophie in den historischen Dramen Mosens, S. 75. Mosen, Der Sohn des Fürsten, V 7, in: Sämmtliche Werke, Bd. 3, S. 517.
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3. Herzog Bernhard von Weimar Die historische Tragödie, die im Dreißigjährigen Krieg spielt, entstand im Jahre 1842, in dem auch die Uraufführung in Weimar stattfand. In den folgenden Jahren kam es zu weiteren Aufführungen, unter anderem am 5. Dezember 1843 am Hoftheater in Oldenburg. Anläßlich dieser Aufführung besuchte Mosen Oldenburg zum ersten Mal. Gedruckt wurde „Herzog Bernhard“ 1855, nachdem Mosen ihn überarbeitet hatte112. Es geht in diesem Werk um die Freiheit, die sich das deutsche Volk erkämpfen solle. Bernhard will, daß sich die Deutschen ihre Freiheit selbst erkämpfen, ohne Hilfe von außen. „Weh’ einem Volk, das sich von fremden Völkern Die Freiheit bringen läßt auf Degenspitzen; Und schwer auf unserem Herzen kniet der Schwede.“113
Neben den Schweden sind es die Franzosen, die sich in die deutschen Angelegenheiten einmischen, nicht um zu helfen, sondern um ihren eigenen Interessen zu dienen114. Daß die Franzosen in diesem Werk negativ dargestellt werden, begründet Mosen selbst in einem Brief an Stahr mit den Zeitumständen: „Mein Trauerspiel wurde zur Zeit concipirt und vollendet, wo das deutsche Volk Frankreich gegenüber zum Bewußtsein kommen wollte.“115 Bernhards abschließende Worte lauten: „Doch allen Deutschen meinen letzten Wunsch: Zeigt Weg und Steg den fremden Nationen Zurück in ihre Grenzen mit Kanonen! Nimm meine Seele, Gott, in Deine Hand und schenke Frieden meinem Vaterland!“116
4. Johann von Österreich Johann von Österreich wurde 1844 vollendet und ist damit das letzte von Mosen veröffentlichte Drama, das er am 27. März 1845 in Oldenburg aufführen ließ117. Der tragische Held des Dramas ist der natürliche Sohn Kaiser Karls V. Er hat die Türken in der Schlacht bei Lepanto besiegt und wurde später Statthalter in den Niederlanden. Im Gespräch mit dem Niederländer von Bergen geht es um die Frage, was Freiheit sei: „Johann: Wenn man nur wüßte, was die Freiheit ist? 112
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Fehn, Die Geschichtsphilosophie in den historischen Dramen Mosens, S. 67; Seidel, Mosen, S. 321. Julius Mosen, Herzog Bernhard, II 6, in: Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 411. Fehn, Die Geschichtsphilosophie in den historischen Dramen Mosens, S. 69. Mosen, Brief an Stahr vom 8. Jan. 1844, in: Geiger, Briefe von Stahr, S. 84. Herzog Bernhard V 5, in: Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 446. Fehn, Die Geschichtsphilosophie in den historischen Dramen Mosens, S. 63; Seidel, Mosen, S. 285.
Julius Mosen, der politische Dichter
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Mit diesem Wort hat sich die Welt gequält, So lange sie Geschichte hat gemacht; Was denkst du dir darunter, lieber Bergen? Bergen: Den heil’gen Geist der Völker: Recht und Sitte.“118
III. Das epische Gedicht „Ahasver“ Ahasver entstand 1838. Mosen verbindet in diesem Werk die Ahasver-Sage mit dem Kampf Jerusalems gegen Rom, des unterdrückten Volkes gegen die Unterdrücker. So heißt es am Anfang über die Titelgestalt, sie trage zur Zeit nur eines Volkes Todesschmerzen, bald aber den Weltschmerz in ihrem Herzen119. Im Folgenden wird immer wieder auf das Schicksal Jerusalems verwiesen. „So von den Bergen grausig geringelt Lag auch die alte Riesenschlange Rom Und hielt Jerusalem umzingelt.“120
IV. Der Roman „Der Congreß von Verona“ Bei dem zweibändigen Werk „Der Congreß von Verona“ handelt es sich um den einzigen Roman Mosens. Er wurde in Dresden geschrieben121 und erschien 1842 bei Duncker und Humblot122. Hintergrund des Romans ist der Kongreß von Verona, der vom 20. Oktober bis 14. Dezember 1822 stattfand, um Maßnahmen gegen die Freiheitsbewegungen vor allem in Griechenland und Spanien zu beschließen. Die Griechen kämpften gegen die Türken; in Spanien hatten die Cortes und ein großer Teil des Volkes sich gegen König Ferdinand VII. erhoben. Die Unterdrückung der Freiheitskämpfer in Italien und der Burschenschaften in Deutschland werden ebenfalls angesprochen123. Mosen greift in dem Roman, ähnlich wie in seinem Gedicht „Die letzten Zehn vom vierten Regiment“, ein Thema auf, das viele Zeitgenossen bewegte. Bei dem Kampf der Griechen handelte es sich nicht nur um die Freiheitsbewegung eines unterdrückten Volkes, sondern auch um die Auseinandersetzung zwischen Christen und Mohammedanern. Die Griechenlandbegeisterung, die in Europa weit verbreitet war, führte auch zu aktiver Unterstützung der Freiheitskämpfer. Bekannt ist vor allem Lord Byron, der bei Missolunghi fiel124.
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Julius Mosen, Johann von Österreich I 5, in: Sämmtliche Werke, Bd. 3, S. 287. Julius Mosen, Ahasver, Der Bannspruch, 1. Gesang, in: Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 144. Mosen, Ahasver, Die erste Frist, 5. Gesang, in: Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 182. Seidel, Mosen, S. 237; Stapf, Julius Mosen, S. 126. Seidel, Mosen, S. 237. Stapf, Julius Mosen, S. 126. Stapf, Julius Mosen, S. 129.
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Mosen beschreibt in seinem Roman das System der Restauration unter Metternich. Er will damit den „Verrath an der deutschen Nation seit dem Jahre 15. geißeln“125. Der Roman enthält demzufolge zahlreiche politische Exkurse126. Zeitgenossen Mosens fühlten sich in dem Roman dargestellt. Zum einen vermutete der österreichische Schriftsteller und Dramatiker Deinhardstein, er sei Vorbild für den Grafen Joseph von Rankenstein. Dagegen verwahrte er sich in der Augsburger Allgemeinen Zeitung127. Die Familie Franke, die mit Mosens Frau einen Erbschaftsprozeß geführt hatte, meinte, dieser Streit sei das Vorbild für den Streit um den Nachlaß von Rankensteins gewesen128. In dem Roman werden die Teilnehmer am Kongreß beschrieben. Das Verhalten der offiziellen Vertreter der einzelnen Staaten wird mit den privaten Schicksalen mehrerer Einzelpersonen aus Griechenland, Spanien, Italien und Deutschland verknüpft. Das Geschehen beginnt im Hause des Arztes Antonio und seiner Schwester Francesca. Dort wohnt während des Kongresses der spanische Agent Don Malavilla mit seiner Tochter Isabella. Auch der deutsche Burschenschafter Arnold findet in dem Haus eine Unterkunft. Von den Teilnehmern am Kongreß werden Metternich, Gentz und Zar Alexander genauer dargestellt. Metternich wird nicht namentlich erwähnt; es ist von dem Fürsten oder dem Staatsmanne die Rede. Für seine Zeitgenossen war deutlich, wer damit gemeint war. Er wird mit folgenden Worten charakterisiert: „[…]; und dieses Lächeln ist das Kräuseln des Meeres über dem, am versteckten Riffe unter dem Wasser gescheiterten und untergesunkenen Schiffe der Völkerfreiheit. […] Dort zieht er hin, das Todesurtheil Italiens, Spaniens und Griechenlands zu unterzeichnen“129.
Seinem Mitarbeiter und Spitzel Joseph Graf von Rankenstein gibt er folgende Anweisung: „[…]; daß ihre Aufgabe nicht ist, neue politische Zustände herbei zu führen, sondern das Bestehende gegen das revolutionäre Princip zu beschützen, in welcher Form dieses auch erscheinen mag.“130 „[…]; das geschriebene Wort ist ohne dies nur vorhanden, um die Wahrheit zu verhüllen, welche der Diplomat öffentlich immer verbergen muß“.131
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Mosen, Brief an Menzel vom 15. Jan. 1843, in: Meisner/Schmidt, Briefe an Wolfgang Menzel, S. 203. Mahrholz, Prosa, S. 75. Seidel, Mosen, S. 243. Urtheil des Stadtgerichts zu Leipzig, GSA 67/70; Erklärung Mosens an das Stadtgericht zu Dresden, GSA 67/33; Theodor Fechner, Tagebücher 1828 bis 1879, Teilband 1, S. 106, 204. Julius Mosen, Der Congreß von Verona, 1. Buch, 3. Kapitel, in: Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 32. Mosen, Der Congreß von Verona, 3. Buch, 1. Kapitel, in: Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 87.
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Weniger negativ wird Zar Alexander geschildert. Während Metternich die Fäden des politischen Geschehens in der Hand hält, fehlt dem romantisch verträumten Alexander der Überblick über das Geschehen. Er sagt über sich selbst „[…] Ihr wißt es, wie ich so gerne die Völker glücklich gemacht hätte, die Gott meinem Regimente anvertraut hatte. […] Ich wäre für ein frommes Volk in alter Zeit ein guter Hirt gewesen, für die entarteten, böswilligen Enkel, welche sich meine Untergebenen nennen, bin ich zu weich.“132
So ist er zufrieden, daß dank Metternich die Gefahr erkannt wurde, die von den revolutionären Bestrebungen ausging: „Wir verdanken es dem klugen Staatsmanne des Hauses Oesterreich, daß uns der Zusammenhang aller dieser Revolutionen gegen Gott und die Obrigkeit offenbar geworden ist. Wir haben einen Blick in die Werkstatt des bösen Geistes dieses Jahrhunderts gethan. Gott behüte uns davor, daß wir Theilnehmer an dem Werke der Zerstörung sein sollten!“133
Mitarbeiter Metternichs ist Joseph von Rankenstein, dessen Name bereits seinen Charakter deutlich macht. Gegenspieler dieser Personen sind der Grieche Achilleus, der für die Freiheit Griechenlands gegen die Türken eintritt, und der deutsche Burschenschafter Arnold. Arnold führt ein Sendschreiben mit sich, das Studenten aus Jena verfaßt haben und in dem die Wiederherstellung des deutschen Reiches gefordert wird. Arnold sollte es den deutschen Fürsten in Verona übergeben134. Dort muß er erkennen, daß für Deutschland nichts zu erreichen ist135. Dieser Umstand und die Tatsache, daß die Burschenschaften verboten wurden136, führen zu seinem Entschluß, als Freiwilliger an dem Kampf der Griechen gegen die Türken teilzunehmen. Achilleus vertritt die Ansicht, daß jeder an den Kämpfen seiner Zeit teilnehmen müsse, weil „[…] in einer Zeit, welche Alles auf die Spitze des Schwertes zur Entscheidung drängt, die Theilnahmlosigkeit der sicherste Weg zum Untergange wäre!“137
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Mosen, Der Congreß von Verona, 4. Buch, 1. Kapitel, in: Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 142. Mosen, Der Congreß von Verona, 9. Buch, 4. Kapitel, in: Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 403. Mosen, Der Congreß von Verona, 9. Buch, 4. Kapitel, in: Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 411. Mosen, Der Congreß von Verona, 8. Buch, 2. Kapitel, in: Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 350/351. Mosen, Der Congreß von Verona, 8. Buch, 2. Kapitel, in: Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 352, 353. S. oben bei Fn. 22. Mosen, Der Congreß von Verona, 3. Buch, 2. Kapitel, in: Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 97, 98.
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Er will den Zaren treffen und ihm Schriften überreichen, weil die Griechen auf die Hilfe ihrer Glaubensbrüder gegen die Türken hoffen. Fürst Iwan, ein Untergebener des Zaren, versucht ein Treffen zu verhindern, weil er befürchtet, diese Argumente könnten den Zaren überzeugen138. Private und politische Angelegenheiten werden in dem Roman verwoben. So ist Achilleus nicht nur der politische Gegenspieler Josephs, sondern auch sein persönlicher, da beide dieselbe Frau lieben, Isabella, die Tochter des spanischen Agenten Malavilla139. Mosen zeigt in seinem Roman, daß Träger der Restauration nicht allein die Monarchen sind. Diese haben zum Teil nicht den Überblick über die Lage, da ihnen Unterlagen vorenthalten werden140. Joseph setzt die Polizei, die er zur Bespitzelung der politischen Gegner aufgebaut hatte, auch ein, um seinen persönlichen Gegner zu bekämpfen. Als er im Kampf mit Achilleus ums Leben kommt, bringt Metternich zum Ausdruck, daß ihm dieses Verhalten Josephs, das er als Mißbrauch seiner Möglichkeiten ansieht, mißfiel141. Obwohl Isabella den Griechen Achilleus liebt, besteht ihr Vater auf der Hochzeit mit Joseph. Sie will einerseits ihrem Vater gehorchen, andererseits Achilleus treu bleiben. So beschließt sie, sich nach der von ihrem Vater erzwungenen Hochzeit selbst zu töten, um Achilleus treu bleiben zu können. Der Tod Josephs beseitigt ihre Zwangslage, so daß sie am Leben und bei Achilleus bleiben kann. Ebenso wie Arnold entschließt sich Antonio, Achilleus nach Griechenland zu folgen, um den Freiheitskämpfern seine Fähigkeiten als Arzt zur Verfügung zu stellen. So segeln Achilleus, Isabella, Arnold und Antonio von Marseille ab. Der Roman endet mit den Worten „Hoch Griechenland, seine Freunde und die Freiheit!“142
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Mosen, Der Congreß von Verona, 6. Buch, 3. Kapitel, in: Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 249-255. Mosen, Der Congreß von Verona, 7. Buch, 2. Kapitel, in: Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 297, 302. Friedrich Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 2, Die Formenwelt, Stuttgart 1972, S. 846. Mosen, Der Congreß von Verona, 9. Buch, 2. Kapitel, in: Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 393, 394. Mosen, Der Congreß von Verona, 10. Buch, 11. Kapitel, in: Sämmtliche Werke, Bd. 4, S. 492.
Zwischen Hartz IV und Riesterrente: Beamtenpension und Rente in der schöngeistigen Literatur Michael Kilian „Das Leben ist voller Elend, Leid und Kummer, und dann ist es auch noch viel zu kurz.“1
Persönliche Vorbemerkung Mit Adolf Laufs verbindet den Verfasser eine wissenschaftliche Tätigkeit an zwei Orten: zunächst in Tübingen als Assistent, wo er den bei den Studierenden hochverehrten und beliebten Zivilrechtsprofessor kennen und schätzen lernte, dann als Kollege an der Heidelberger Fakultät, an die ihn sein erster Ruf geführt hatte, und an die der Schwabe Laufs nach dem Tübinger Zwischenspiel zurückgekehrt war. Beide verbindet uns auch die Liebe zu Kunst und Literatur – und die Einsicht, daß der Jurisprudenz nicht stets jener Bierernst innewohnen muß, den allzu viele mit ihr verbinden, und daß auch die fröhliche Wissenschaft ihren Eigenwert besitzt. In diesem Sinne sei Adolf Laufs dieser Beitrag von Herzen mit allen guten Wünschen gewidmet.
A. Bemerkungen zum Thema Gegenstände der schönen Literatur sind Leidenschaften, Liebe, Eifersucht, Haß, Macht, Verbrechen und Mord – nicht aber Rente oder gar Beamtenpension. Auch Hartz IV und Riester-Rente werden nicht sogleich in die Literatur Eingang finden – obwohl sich der Verf. bei der zeitgenössischen deutschen Literatur, die inzwischen den Alltag und die Mühen des Daseins wieder in den Blick genommen hat, nicht ganz sicher ist. Immerhin: Existenzangst, Überalterung und Krise waren die Themen der deutschsprachigen Literatur beim Literaturfestival des steirischen Herbstes 2004 in Graz. Rente und Pension rufen, es sei denn, man ist selbst betroffen, somit zunächst einmal gähnende Langeweile hervor. Aber wie ein britischer Bildband mit „boring postcards“ auf einmal zum genialen Dokument vergangener britischer Lebensart wird2, kann auch das hier zu behandelnde Thema das Interesse des Leserpubli1
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Der Regisseur, Autor und Schauspieler Woody Allen in seinem Film „Der Stadtneurotiker“, 1977, vgl. auch das entsprechende diogenes-TB. Martin Parr, Boring Postcards, bei Wohlthat, Berlin 2004.
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Michael Kilian
kums wecken. Zunächst fällt einem also gar nichts ein, wie es uns Juristen so allgemein zu gehen pflegt, aber dann kann man sich doch vor Bildern und Assoziationen kaum mehr retten. Der Verf. muß sich daher auf wenige Aspekte des Themas und auf ausgewählte Literaturbeispiele, die es illustrieren mögen, beschränken. Was ist der Sinn der literarischen Sichtweise für ein wissenschaftlich zu bearbeitendes Thema? Die schöne Literatur kann eine reflektierte und reflektierende Gegenwelt der Wirklichkeit sein, Literatur zeigt wie in einem Spiegel die geheimen Ängste, Befindlichkeiten und Schwachstellen einer Gesellschaft oft früher und exakter auf, als es die Wissenschaften tun können. Der Verf. konnte dies in anderen Arbeiten, etwa anhand des Bildes der Verwaltung in der schönen Literatur, anschaulich machen3. Für die meisten, so sie nicht während ihres Arbeitslebens sterben, bedeuten Rente und Pension die Vorstufe davon. Immerhin las der Verf. kürzlich, erstmals seien Folterdarstellungen in der deutschen Literatur aufgearbeitet4; auch das Duell in der Literatur hat schon mehrere Interpreten gefunden5. Warum also nicht auch Rente und Pension?6 Ein Zitat der britischen Zeitung The Independent in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom September 20047 kennzeichnet unsere heutige, depressive Lage in Deutschland am besten. Möglicherweise die Kurzbeschreibung einer alternden Gesellschaft ohne Hoffnung, Mut und Zuversicht in die Zukunft. Für den Verf. die Daseinsbeschreibung eines psychotischen Zustands, also durchaus auch ein Stück Literatur:
„Einige Leute glauben, daß die Welt in Wahrheit von Außerirdischen gelenkt wird oder daß die Queen das Oberhaupt eines internationalen Drogenkartells ist. Wenn man nur lange genug sucht, werden selbst die abwegigsten Einstellungen von Irgendwem vertreten. Es kommt jedoch einem enormen Schock gleich, zu erfahren, daß ein Fünftel der Deutschen die Mauer zurück haben will. Wie schlimm muß die Lage in Deutschland eigentlich sein, damit sich auch nur einige – geschweige denn so viele – nach dem kalten Krieg zurücksehnen? 3
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Z. B. Monrepos oder die Kälte der Macht: der Einzelne und die Staatsverwaltung als Gegenstand der Literatur, in: Hans-Albrecht Koch, Gabriella Rovagnani, Bernd H. Oppermann (Hrsg.), Grenzfrevel, Rechtskultur und literarische Kultur, Bonn 1998, S. 242 ff. Zum Nutzen der schöngeistigen Literatur für die wissenschaftliche Erkenntnis vgl. auch Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt/M. 1969, als SuhrkampTB Nr. 63, 2. Aufl., Frankfurt/M. 1981, S. 43 ff. S. Friedmar Apel, Leidensgedächtnis, Folterdarstellungen in der deutschen Literatur seit 1740, FAZ Nr. 221 v. 22. 11. 2004, S. N 3. U. a. durch Bernhard Schlink in einem Sammelband, den der Verf. demnächst im Berliner Wissenschaftsverlag herausbringen möchte. Hinzuweisen sei hier auf den überaus anregenden Vortrag von Eberhard Eichenhofer, Jena, über „Soziale Sicherheit und Kunst“ (Ms., o. J.), der dem Verf. leider erst nach Abfassung dieses Textes zugegangen ist. Zit. nach FAZ Nr. 212 v. 11. 09. 2004, S. 2, Pressespiegel.
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Das grundlegende Problem mit der deutschen Mentalität ist, daß Lösungen regelmäßig als Probleme betrachtet werden. Die Reform der Arbeits- und Sozialgesetzgebung wird als Katastrophe gewertet, ohne zu bedenken, was die Alternative wäre. Deutschland muß und wird sich ändern. Es ist faszinierend zu sehen, wie stark der Osten jetzt schon neu gestaltet ist. Als Außenstehender kann man unmöglich begreifen, wie sich Menschen, die eine so überaus interessante Epoche des Wandels erleben, nur wünschen können, das alles beim alten geblieben wäre.“
Ein weiteres Zitat aus der Frankfurter Allgemeinen, das dieses Zitat ergänzt, lautet folgerichtig: „Es gibt Länder mit ähnlichen Schwierigkeiten wie in Deutschland, aber nicht die hiesige Tristesse als Normalzustand und Lebensform“ – eine Form beginnender Altersmelancholie einer Gesellschaft ohne Kinder und damit ohne Zukunft, frei nach Wolf Lepenies‘ noch ganz anders angelegter Studie „Melancholie und Gesellschaft“8.
B. Lebensunfähigkeit, Rente und Pension als literarischer Gegenstand Für eine derartige Lebenserstarrung und Lebenslähmung bietet die Literatur gleichwohl eine Fülle von Beispielen. In Rußland ist die literarische Figur des Oblomov, eines lebensunfähigen jungen Mannes (und Frührentners) aus einem Roman von Iwan Gontscharóv, sprichwörtlich geworden9. Zu nennen sind hier auch die wenig lebenstüchtigen Helden aus der italienischen Literatur, so der Romane Italo Svevos: „Zeno Cosini“10, „Ein Leben“11 (Una Vita), „Ein Mann wird älter“12 (Senilita) oder „Die Geschichte vom guten alten Herrn und vom schönen Mädchen“13 – eines Autors, der sich ganz den Themen des verfehlten und entschwindenden Lebens gewidmet hat. Heute zählt Svevo neben Kafka, Proust, Joyce und Musil zu den modernen Klassikern der Weltliteratur. Portugal steuert den erst vor wenigen Jahren in Deutschland entdeckten Fernando Pessoa bei, dessen „Buch der Unruhe“ mittlerweile ebenfalls zu den klassischen Werken der Daseinsverfehlung und der Lebensangst14 zählt. Für die Schweizer Literatur ist
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S. W. Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, 1969. 1859 erschienen, dt. z. B. als Fischer-Exempla Classica (EC)-TB Nr. 25, Leipzig 1961, publiziert. 1923, z. B. als Rowohlt-TB Nr. 1735, Reinbek 1974, erschienen. 1892, dt. bei Rowohlt, Reinbek 1962. 1898, dt. bei Rowohlt, Reinbek 1960. Posthum 1954, dt. 1967, z. B. in dem Sammelband „Ein gelungener Scherz“, RowohltTB Nr. 1814, Reinbek 1983 erschienen. Posthum 1982 erstmals in Portugal, 47 Jahre nach dem Tod Pessoas 1935 im Alter von 47 Jahren, erschienen; dt. 1985, 1987 als Fischer-TB Nr. 9131, Frankfurt/M. 2004 in ungekürzter Fassung ebenfalls bei Fischer.
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hier das Werk Robert Walsers zu nennen15, ebenfalls lange nach dessen Tod, in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, wieder entdeckt. Die Unfähigkeit, ein Leben zu beginnen und es erfolgreich weiterzuführen, hat nicht unbedingt etwas mit dem unabwendbaren und zwangsläufigen späteren Scheitern im Alter und am Alter in der Zeit der Rente und Pension zu tun. Zudem sind eher Frührentner ab Mitte vierzig in den Niederlanden, in Österreich und in Deutschland, dank entsprechender gesetzlicher Regelungen, eine häufige Erscheinung der letzten Jahrzehnte. Aber auch aktive sog. Senioren, die sich zu Weltreisen und zum Seniorenstudium rüsten, sind Merkmale der Jahrtausendwende: vom „Jahrhundert des Kindes“ zum „Jahrhundert der Senioren“. Dazu der Autor Joseph v. Westphalen: „Gartenzwerg und Schäferhund sind nicht mehr die typischen Symbole Deutschlands, sondern aufgeregte Rentner, die auf Bahnhöfen umherirren, weil sie wegen des verspäteten ICEs ihren Anschlußzug nicht mehr erreicht haben“16. Friedrich Schleiermacher umschreibt die Religion plastisch als ein „Gefühl schlechthiniger Abhängigkeit“: unsere Regierung ruft einerseits die verstockten Bürger zu mehr Konsum als staatsbürgerliche Pflicht auf, dabei haben sich diese doch ebenso pflichtgemäß um ihre Altervorsorge gekümmert und die Sparquote erhöht. Eine eindeutige psychische Doppel-Bindung (double-bind). Professoren wurden als Beamte mit 68 entpflichtet, dann mit 65 pensioniert, dann gab es Vorruhestandsregelungen, vielleicht gibt es bald die Entbeamtung. Wann werden wir doch wieder bis 68 arbeiten müssen (und können)? Was nun also? Was tun, um mit einem Buchtitel des Literaten Tschernyschewskij17 – von Lenin übernommen – zu sprechen? Literatur behandelt, wie festgestellt, das Außergewöhnliche im Leben: Leidenschaften und Grenzsituationen – aber das Gewöhnliche, den Alltag? Er schimmert allenfalls in Randbemerkungen durch. Ebenso ist es mit dem Thema Alterssicherung, Rente, gar Beamtenpension. Den Rentenroman gibt es nicht, wie es, immerhin, den Verwaltungs- oder den Richterroman gibt18. Angesichts der für einen einzelnen Leser unüberschaubaren Masse an Literatur können nur Ausschnitte gegeben werden. Rente und Pension sind sicher kein literarisches Thema ersten Ranges, aber am Rande oder bei Nebenfiguren zeigen sich doch manche für unser Thema interessanten Gesichtspunkte, wie noch zu zeigen sein wird. 15 16
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Etwa „Jakob von Gunten“, „Der Gehülfe“ und andere Werke. In der Satire „So sind wir nicht, Elf deutsche Eiertänze“, btb Nr. 73008, München 2004, S. 12. 1828-1889, der Roman „Was tun“ – „ “, dessen (revolutionär gemeinter) Titel sprichwörtlich wurde und von Lenin in einem Traktat übernommen wurde, erschien 1863, dt. bei SWA, Berlin 1947. Musterbeispiel eines Verwaltungsbeamtenromans ist „Die große Hitze, oder die Errettung Österreichs durch den Legationsrat Dr. Tuzzi“, von dem leider viel zu früh (1986 im Alter von 62 Jahren) verstorbenen Jörg Mauthe. Der Roman, der unter Österreichs Juristen zum Kultbuch wurde, erschien erstmals 1974 und erlebte zahlreiche Neuauflagen. Ein neuerer Verwaltungsroman aus Baden-Württemberg mit autobiographischen Zügen stammt von Manfred Zach, Monrepos oder die Kälte der Macht, Tübingen 1996.
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Rentner (in Österreich Pensionisten genannt), auch pensionierte Beamte, kommen in der Literatur durchaus vor, sehr selten aber als spektakuläre Figuren. Es gibt aber Ausnahmen: steht Oblomov als lebensuntüchtige Figur zu Beginn des an sich zu fordernden „tätigen Lebens“, so kennzeichnet der „Stechlin“, das Alterswerk von Theodor Fontane19, ein abgeklärtes, von heiterem Verzicht gekennzeichnetes Daseinsende; die letzten sechs Monate des Gutsbesitzers im Ruhestand und abgedankten Offiziers Dubslav von Stechlin. Das altersweise Sterben, das uns Fontane vorführt, trifft freilich einen 64-jährigen! Für uns ist dies gerade der Eintritt ins gesetzliche Renten- und Pensionsalter.
C. Philosophie, Literatur und das Alter Gibt es so etwas wie ein sorgenfreies, glückliches Alter? Ja, zumindest als Ideal der Philosophen, etwa Hans-Georg Gadamers, der 101 Jahre alt wurde. Auch der Schriftsteller Ernst Jünger wurde 102 Jahre alt und sah sein Leben wohl als erfüllt an. Bereits Johann Wolfgang von Goethe galt als exemplarischer Mensch mit erfülltem, glücklichem Alter. Erst jetzt entdeckten Forscher, daß er schon mit vierzig an einem versteiften Rückgrat litt, somit vermutlich nie ohne Schmerzen gewesen war. Zahlreiche Philosophen haben sich mit der Frage des gelingenden Lebens befaßt, zu dem immer auch ein erfülltes Alter gehört: Cicero20, Seneca21, Michel de Montaigne22, Arthur Schopenhauer23, Hannah Arendt24, und eben Gadamer, und viele andere mehr, so in provokanter Form Jean Améry, der durch Selbstmord endete25. Existenzangst, vor allen in Krankheit und Alter, aber – wie wir derzeit sehen – auch in Arbeitslosigkeit, gehört zu den größten und dauerhaftesten Ängsten des Menschen; selbst künstlerische Genies und Philosophen wurden davon umgetrieben. Das Alter scheint, besonders im Zeitalter des hoffentlich bald überwundenen Jugendwahns, gekennzeichnet durch Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung und überschattet von der Erwartung des Todes. Wolfgang Lepenies hat den Umstand, daß das Leben in die Gefahr gerät, bereits lange vor seinem physischen Ende abzusterben, in seinem soziologischen Klassiker „Melancholie und Gesellschaft“ eindrucksvoll dargestellt26: Langeweile als Quelle der Melancholie und als Stellen der Sinnfrage. Den Luxus, melancho19 20 21
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1897 vollendet, erste Berliner Ausgabe posthum 1898. Cicero, De senectute. S. etwa in der Auswahl im dtv/Artemis-TB Nr. 2272, 1991, Bibliothek der Antike, Von der Ruhe der Seele. Essays, I. Buch, LVII. Hauptstück, Von dem Alter, bes. III. Buch, XIII. Hauptstück, Von der Erfahrung. Z. B. in den Aphorismen zur Lebensweisheit. Vita activa oder Vom tätigen Leben, z. B. Serie Piper-TB Nr. 217, München, Zürich 2002. Über das Altern, Revolte und Resignation, Stuttgart 1968. Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, a. a. O.
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lisch zu sein, konnten sich allerdings nur privilegierte Gesellschaftsschichten leisten, die von der Hände Arbeit der Bevölkerung lebten, somit eine sichere (Grund-)Rente bezogen. Allenfalls Künstler, die sich oft vom Adel aushalten lassen mußten, gaben sich der schöpferischen Melancholie hin. Eduard Mörike hat die Melancholie gelebt (2004 war ein Mörikejahr, 2005 ist ein Schillerjahr): „Laß o Welt, o laß mich sein, locke nicht mit Liebesgaben, laß dies Herz alleine haben, seine Wonne, seine Pein […]“ (die Rente?)
Mörike übte den ungeliebten Pfarrerberuf nur wenige Jahre aus, dann ließ er sich in den Ruhestand versetzen. Einige Jahre noch übernahm er die Verpflichtung, an einer Stuttgarter Töchterschule Literatur zu unterrichten. Auch dies erschöpfte ihn nach wenigen Jahren so sehr – es waren zwei Unterrichtsstunden pro Woche – daß er, kaum Mitte vierzig, um seine Entpflichtung einkam. Sie wurde ihm auch gewährt27. Friedrich Hölderlin schildert die Angst vor dem Alter und seiner Einsamkeit unübertroffen in seinem Gedicht „Hälfte des Lebens“: „Einsam und kalt im Wind klirren die Fahnen“ (die Wetterfahnen, man wird an Franz Schuberts Winterreise gemahnt)28. Ist man bei den Schwaben angelangt – Herr Kollege Laufs weiß es – so ist man bei den letzten Dingen, und bei denen, die dies auszudrücken vermögen. Denn ein weiteres, ähnlich eindrucksvolles Alters- und Abschiedsgedicht stammt ebenfalls von Hölderlin. Es wurde im März 2004 von einem namhaften Staatsrechtslehrer anläßlich seiner Dankesrede zur Feier des siebzigsten Geburtstags vorgetragen: „Die Kürze Warum bist zu so kurz? Liebst du, wie vormals, denn nun nicht mehr den Gesang? Fandst du, als Jüngling, doch in den Tagen der Hoffnung wenn du sangst, das Ende nie? Wie mein Glück, ist mein Lied. – Willst du im Abendrot froh dich baden? Hinweg ists! Und die Erd ist kalt und der Vogel der Nacht schwirrt unbequem vor das Auge dir.“
Als Hochschullehrer sind wir – noch – Beamte, haben also keine Existenzsorgen. Doch wie sagt es Helmut Qualtinger, der 1986 mit 58 Jahren starb29: „Der Beamte 27
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Zum Leben Mörikes etwa Benno von Wiese, Eduard Mörike, Ein romantischer Dichter, München 1979 als Heyne-TB in der Reihe Heyne-Biographien, Nr. 61, erschienen, sowie Hans Egon Holthusen, Eduard Mörike, Rowohlt-Monographie Nr. 50175, Reinbek 1997. Einfühlsam hat der Schriftsteller Peter Härtling, der in Nürtingen – einem Hölderlin-Ort – aufgewachsen ist, das entsagungsvolle Leben Hölderlins vergegenwärtigt, s. Hölderlin, Ein Roman, 4. Aufl., Darmstadt 1980. Zum Leben Helmut Qualtingers etwa Michael Kehlmann, Georg Biron, Franz Hubmann, Barbara Pflaum, Der Qualtinger, Ein Portrait, München 1987.
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verdient nix, aber des sicher!“, heute müßte man hinzufügen: „Pension bekommt der Beamte keine, aber des sicher!“. Die Existenzangst, verursacht durch soziale Unsicherheit, schlägt sich in der Geburtenzahl nieder: Frankfurter Allgemeine Zeitung und Kleine Zeitung Graz meldeten Ende August 2004 10 % weniger Geburten im Jahr 2004 gegenüber 2003 für Deutschland und Österreich! Wie angedeutet, kennt die Literatur unterschiedliche Gattungen und Typen, etwa den Bildungs- und Entwicklungsroman, den Gesellschaftsroman, den Abenteuerroman, den moderneren Flucht- und Aussteigerroman, jedoch nicht den Alters-, Rentner- oder Pensionistenroman als Gattung. In der zeitgenössischen, deutschen Literatur beobachtet man jedoch vermehrt Angestellten- und Managerromane30. Immerhin ein Fortschritt. Daß es durchaus auch Beamtenromane gibt, soll noch gezeigt werden31. Von Hans Egon Holthusens „unbehaustem Menschen“ der Literatur der fünfziger Jahre – der alle Sicherheiten verloren hatte – sind wir über die gesicherten, satten Jahrzehnte zwischen 1960 und 1990 nun beim gehetzten „flexiblen Menschen“ (Richard Sennett32) des Globalismus-Zeitalters angelangt: wiederum unbehaust, aber auf eine neue Art. Behandelt zunächst in soziologischen Studien von Richard Sennett oder Pierre Bourdieu, bis sich jetzt auch die Literatur der neuen Lage des unter ständiger „hire and fire“-Drohung vegetierenden Angestellten anzunehmen beginnt.
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Begonnen mit den Büchern von Walter E. Richartz, etwa mit dessen beklemmendem „Büroroman“ (Zürich 1976). Richartz endete 1980 siebenundfünfzigjährig durch Freitod. Zu nennen wären hier aber auch einige Romane Martin Walsers, so etwa „Seelenarbeit“ (Frankfurt/M. 1979) oder „Jenseits der Liebe“ (Frankfurt/M. 1976). Heute wären hier die Schweizer Autoren Martin Suter („Business Class“) und Rolf Dobelli („Und was machen Sie beruflich?“, „Fünfunddreißig“) zu nennen, sämtlich als diogenes-TBer, Zürich 2003 und 2004 erschienen. S. auch Tobias Rüther, Erniedrigte und Beförderte. Endlich bekennt sich die Literatur zum Anzugträger: Warum es gut ist, daß deutschsprachige Autoren den Angestellten entdeckt haben, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 42 v. 17. 10. 2004, S. 29. Ein besonders schönes Beispiel dieser Gattung ist Jörg Mauthes „Die große Hitze. Oder die Errettung Österreichs durch den Legationsrat Dr. Tuzzi“, a. a. O. Auch die Romane der skurrilsten Autoren der deutschsprachigen Literatur, von Fritz v. HerzmanovskyOrlando („Der Gaulschreck im Rosennetz“, München 1963, „Das Maskenspiel der Genien“, Wien 1968) und von Wolf v. Niebelschütz („Der blaue Kammerherr“, Frankfurt/M. 1972), sind – genau genommen – Beamtenromane. Richard Sennett, Der flexible Mensch, Die Kultur des neuen Kapitalismus, dt. 1998 im Berlin-Verlag, Berlin 1998, Siedler-TB Nr. 75576, Berlin 2000, s. dort insbesondere S. 10 f. zur Angst des nur vermeintlich freien „flexiblen Menschen“ um ein gesichertes Leben.
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D. Schöngeistige Literatur und Rente/Pension I. Exkurs: Philosophen und Künstler und die Rente Man kann das Thema unter zwei Gesichtspunkten beleuchten: unter der Frage der sozialen Existenz des Schriftstellers, des Künstlers als Person selbst, und unter der Frage der Existenzsicherung des Menschen schlechthin in Werken der von den Schriftstellern verfaßten Literatur. In den Tagebüchern Thomas Manns las der Verf. sinngemäß einmal folgenden Eintrag: „Aufgestanden, Frühstück, trüber Tag und trübe Gedanken. Mit der Post ein Scheck von Fischer über 15 000 RM: Stimmung könnte nicht besser sein“33. Auch und gerade die größten Künstler und Philosophen, um nur solche des deutschen Kulturraums zu nennen, wie Mozart (was Norbert Elias nachwies34), Kant, Schiller, Schubert, Hölderlin, Mörike, Christian Wagner, kämpften – ohne Sozialversicherungsrente – verzweifelt um ihre eigene materielle Existenz oder die Existenz ihrer Familie. Der Lebemann Giacomo Casanova geriet im Alter in bittere Not und wurde von einem böhmischen Landedelmann durchgefüttert. Auf Schloß Dux schrieb er seine Lebenserinnerungen, die zur Weltliteratur zählen35. Sie brechen in seiner Lebensmitte ab, sein Alter wollte oder konnte er nicht mehr schildern36. James Joyce, heute weltberühmt, konnte nie von seinen Büchern leben und schnorrte sich durch, er starb an der Schwelle des Rentenalters37. Rainer Maria Rilke wurde von Gönnerinnen unterstützt38, für Arno Schmidt setzte der KonzernErbe und Literaturwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma eine Altersrente aus, Peter Handke entdeckte seinen Kollegen Hermann Lenz erst in dessen Rentenalter für die deutsche Literatur und ermöglichte ihm nach Jahren äußerster Kargheit (geschildert in seinen autobiographischen Eugen-Rapp-Romanen39) gesichertes Alter. Albert Vigoleis Thelen schlug sich u. a. als Hauswart am Genfer See durch, ehe er in einem deutschen Altenheim starb, abgesichert durch eine Dotation. Sein berühmter Mallorca-Roman „Die Insel des zweiten Gesichts“ zeigt, eindringlich wie selten, die Nöte des Menschen, in der Fremde eine Existenz zu fristen, so ganz ohne soziales Netz40. Eine Existenz buchstäblich in einer Kellerwohnung am Ran33 34 35
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Zitat aus der Erinnerung an die Lektüre von Thomas Manns Tagebüchern. Norbert Elias, Mozart, Bibliothek Suhrkamp bs Nr. 1071, 3. Aufl., Frankfurt/M. 1991. Giacomo Casanova, Geschichte meines Lebens, dt. in zwölf Bänden, hrsgg. von Erich Lost, übers. von Heinz v. Sauter, Berlin 1964. Casanova lebte von 1785 bis zu seinem Tod 1798 auf Schloß Dux bei Komotau in Nordböhmen und wurde vom Grafen Waldstein gnadenhalber als Bibliothekar beschäftigt – eine Art von Leibrente. S. Richard Ellmann, James Joyce, Frankfurt/M. 1959, dt. 1982, Suhrkamp-TB Nr. 3085, Frankfurt/M. 1990. S. etwa Ralph Freedman, Rainer Maria Rilke. Biographie, 1996, dt. 2 Bde., 2002 Frankfurt/M. Sämtlich erschienen im Suhrkamp-Verlag, etwa „Seltsamer Abschied“, st-TB Nr. 1760, Frankfurt/M. 1990, geb. erstmals 1988. Dt. Erstveröffentlichung Amsterdam 1953.
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de des Lebensminimums führte einer der bedeutendsten Schweizer Autoren des 20. Jahrhunderts, Ludwig Hohl41. Lebensbewältigung und Existenzsicherung waren Probleme im Werk der Beamten Franz Grillparzer und Adalbert Stifter, im Werk des kleinen Angestellten Fernando Pessoa und des erfolgreichen Geschäftsmannes Italo Svevo, ganz abgesehen von Franz Kafka, der zögerte, aus seiner sicheren Beamtenstellung heraus das Leben eines freien Schriftstellers zu wagen42. Der Fabrikerbe Hermann Broch starb im Exil in völliger Armut, ebenso Robert Musil. Thomas Bernhard schuf sich, aus bitterer Not aufgestiegen, ein kleines Reich aus drei oberösterreichischen Bauernhöfen43. Er starb mit 59 Jahren, ein gesichertes Alter (die Tantiemen aus seinen erfolgreichen Theaterstücken flossen reichlich) war ihm nicht mehr vergönnt. Jeder mußte auf seine Weise für seine Altersrente sorgen: Nietzsche wurde als Pflegefall von seiner Schwester in Naumburg betreut, Schopenhauer lebte als Junggeselle von der Hinterlassenschaft seines Vaters, eines Danziger Kaufmanns. Der Olympier Goethe hatte gute Verlagsverträge und eine von seinem Gönner, Herzog Carl August von Sachsen-Weimar, ausgesetzte Altersrente, aber er war ja auch hoher Beamter gewesen. In den siebziger Jahren erkannte Heinrich Böll die existienzielle Not seiner Schriftstellerkollegen und rief zum „Ende der Bescheidenheit auf“, Sozialversicherungspflicht (zugleich ein Recht auf Alterssicherung gewährend!) auch für freischaffende Künstler44. Erfolg und Ergebnis war die Errichtung der Künstlersozialversicherungskasse (KSK)45. In Österreich, das sich als Kulturstaat par excellence versteht, gibt es eine solche Einrichtung bis heute nicht.
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S. etwa Ludwig Hohl, Die Notizen oder Von der unvoreiligen Versöhnung, 1944/1954, s. a. Suhrkamp-TB Nr. 1000, Frankfurt/M. 1984. Die neueste deutschsprachige Biographie stammt von Reiner Stach, Kafka: Die Jahre der Entscheidungen, Frankfurt/M. 2002, als Fischer-TB Nr. 16187 im Jahre 2004 in Frankfurt/M. erschienen. Dazu etwa Karl Ignaz Hennetmair, Ein Jahr mit Thomas Bernhard: Das versiegelte Tagebuch 1972, 3. Aufl., Salzburg 2000. Dennoch gibt es zusätzlich für jene Autoren, die durch dieses Raster fallen, einen Hilfsfonds für bedürftige Schriftsteller der Rechteverwertungsgesellschaft VG Wort, München. S. hierzu etwa den Kommentar von Hugo Finke, Wolfgang Brachmann, Willy Nordhausen, KSVG, Künstlersozialversicherungsgesetz, 3. Aufl., München 2004.
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II. Beispiele aus der Literatur – Beispiele zur Rente 1. Drama Es gibt eine klassische Alterstragödie: Shakespeares „König Lear“46; auch in Schillers „Räubern“ spielt ein Generationenkonflikt eine Rolle. In Gerhart Hauptmanns „Vor Sonnenuntergang“ verliebt sich ein alter Mann zum Entsetzen aller Angehörigen noch einmal leidenschaftlich. Die Folgen einer fehlenden sozialen Absicherung zeigte am ergreifendsten Hauptmanns Drama „Die Weber“, uraufgeführt 1892. Das Stück fiel in die Zeit der „Kaiserlichen Botschaft“ Wilhelms I. vom 25. 02./17. 11. 1881, mit der das erste moderne Sozialversicherungssystem der Welt geschaffen wurde47 – das uns heute so große Probleme bereitet. Das Lustspiel um menschlichen Geiz, der durchaus auch mit der Angst um ein ungesichertes Alter einher geht, ist Molières ebenso klassische Komödie vom „Geizigen“. Alle Stücke schildern Urverhaltensweisen auch des modernen Menschen. Thomas Bernhards Stücke kreisen letztlich um das Scheitern von Existenzen an ihren Ansprüchen an die Welt. Die meisten Protagonisten sind alt (Immanuel Kant, Minetti, Der Weltverbesserer), im Ruhestand oder „Vor dem Ruhestand“, so ein böses Stück um einen Landgerichtspräsidenten, der im Dritten Reich hoher SS-Führer war. Er erschießt sich noch „vor dem Ruhestand“. Das erste Stück von Thomas Bernhard, „Ein Fest für Boris“, spielt von vornherein in einem Pflegeheim, die Darsteller sitzen in Rollstühlen48. Goethes Faust, Zweiter Teil, enthält zwei ganz unterschiedliche Befassungen mit Alter und Ruhestand: der nimmermüde alte Faust bemüht sich strebend, für freies Volk auf freiem Grund Land zu schaffen. Dabei übersieht er, daß ein altes Ehepaar mit seinem Häuschen, Philemon und Baucis, dem Vorhaben im Wege steht: das Häuschen wird beseitigt. Der blind gewordene Faust ahnt nicht, daß die Lemuren nicht das Meer abgraben, sondern ihm sein eigenes Grab schaufeln. Sowohl Rücksichts- wie Ahnungslosigkeit des Alters. 2. Roman/Erzählung Adalbert Stifters „Nachsommer“49, immerhin von Friedrich Nietzsche zu der Handvoll deutscher Bücher gezählt, die es allein zu lesen lohne, ist der Roman eines „Rentiers“. Keines Rentners, sondern eines Mannes, der – wie es z. B. Schopenhauer tat – schon in seiner Jugend vom ererbten Kapital sorgenfrei leben und sich so ganz seinen Studien und Liebhabereien widmen kann. Rentiers, als sozio46
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S. hierzu etwa die Interpretation von Harold Bloom, Shakespeare: Die Erfindung des Menschlichen, 2. Bd. Tragödien und späte Romanzen, dt. 2000, Berliner TB-Verlag Nr. 76093, Berlin 2002, S. 151 ff. S. ZSR 1981, Heft 11/12, Helmar Bley, Ralf Kreikebohm, Sozialrecht, 7. Aufl., Neuwied u. a. 1993, Rdnr. 295 sowie Eberhard Eichenhofer, Sozialrecht, 5. Aufl., Tübingen 2004, S. 19 f. (Rdnr. 34 ff.) mit teilweise abgedrucktem Inhalt der Botschaft. S. etwa in: Thomas Bernhard, Die Stücke 1969-1981, Frankfurt/M. 1983, S. 7 (Boris), 547 (Minetti), 685 (Vor dem Ruhestand), 887 (Weltverbesserer), 595 (Kant). Erstmals 1857 erschienen.
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logische Schicht bis zum Ersten Weltkrieg durchaus gängig, finden sich immer wieder in der zeitgenössischen Literatur, etwa in Hauptmanns Lustspiel „Der Biberpelz“ oder häufig auch bei Balzac. In Elias Canettis parabelhaftem Roman „Die Blendung“ lebt der besessene Privatgelehrte Kien unabhängig von ererbtem Vermögen50. Wird so die Existenzangst als Grundangst des Menschen glücklicherweise vermieden? Von Arno Schmidt gibt es in seinen Nachtprogrammen eine wilde Polemik gegen den „Nachsommer“. Schmidt spricht hier von den „sanften Unmenschen“, die im Labsal ihres vom ererbten Kapital abgefederten Lebens ihren Nichtigkeiten nachgehen (etwa dem Sammeln schöner polierter Tischplatten, man befindet sich schließlich im Biedermaier), aber vor der Not der Mitmenschen Augen und Ohren verschließen. Nichtstun als Ideal bei Stifter, le démon ennui, den man mit Belanglosigkeiten (eben dem Sammeln und Pflegen von nichtigen Liebhabereien) vertreiben muß51. Allerdings: Stifter sah im „Nachsommer“ einen Bildungs- und Erziehungsroman des sich selbst bildenden Menschen. Hierzu gehört in seinen Augen die materielle Existenzsicherung, die den Geist frei gibt für Höheres52. Die Spekulationsblase des Neuen Marktes wurde auch vom Gedanken eines künftig sorgenfreien Lebens getrieben, des Rentier-Lebens auf Mallorca, Ibiza oder in der Toscana. Wenig vorsorgend fürs Alter äußert sich die Bibel: „Sehet die Lilien auf dem Felde, sie säen nicht, sie ernten nicht – und der himmlische Vater ernährt sie doch“ (Matth. 6, 28-29). Schön eingefangen in dem pietistischen Kirchenlied von Paul Gerhardt53, „Geh aus mein Herz und suche Freud“. Die zuletzt gekommenen Arbeiter im Weinberg erhalten den gleichen Lohn wie die ersten, die seit dem Morgengrauen schuften (Matth. 20, 1 ff.). Der verlorene Sohn erfährt eine viel größere Beachtung als der gehorsame Sohn, der sich zuhause um die alternden Eltern gekümmert hat (Lukas, 15, 11 ff.). André Gide hat das Gleichnis vom verlorenen Sohn neu interpretiert54. Anders die Moralphilosophie: Schopenhauer rechnet in seinen Aphorismen zur Lebensweisheit auch das sich Kümmern um die eigene materielle Existenz („das,
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Elias Canetti, Die Blendung, 1935 erschienen, als Fischer-TB Nr. 696, Frankfurt/M. ab 1965. Arno Schmidt, Nachrichten von Büchern und Menschen 2, Zur Literatur des 19. Jahrhunderts, Fischer-TB Nr. 1217, Frankfurt/M. 1971; darin: Der sanfte Unmensch. Einhundert Jahre Nachsommer (Adalbert Stifter), Frankfurt/M. 1963, S. 114 ff. So Emil Staiger zu Stifters Nachsommer in: „Meisterwerke deutscher Sprache“, 3. Aufl., Zürich 1957, auch publiziert im gleichnamigen dtv-TB Wissenschaft Nr. 4141, München 1973, S. 163 ff. * 1607 in Gräfenhainichen, † 1676 in Lübben. Die Rückkehr des verlorenes Sohnes, 1907, dt. 1951, erschienen z. B. in der Bibliothek Suhrkamp.
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was einer hat“) als unverzichtbar für die innere geistige Ruhe und Entwicklung der freien Persönlichkeit55. Er lebte selbst danach, er war Junggeselle. Wenn es auch keine eigentliche Rentenliteratur gibt, so gibt es doch eine Altersliteratur: etwa Hans Carossas „Geheimnisse des reifen Lebens“56 oder Walter Vogts Roman „Altern“57, auch Ernst Jüngers Alterstagebücher „Siebzig verweht“. Ein Roman über das Altern ist auch Martin Walsers „Brandung“58. Herman Melvilles „Moby Dick“ (1851) schildert ebenso einen Alterskampf wie Ernest Hemingways letzte zu Lebzeiten publizierte Erzählung, „Der alte Mann und das Meer“ (1952)59. Menschen im Ruhestand neigen oft zu skurrilen Verhaltensweisen, wie sie Jakob Wassermann in seinem Roman vom „Gänsemännchen“60 schildert: ein wohlhabender Rentner sucht Anschluß an höhere Kreise. Wer sich ihm versagt, oder auch nur nicht grüßt, wird in einem Geheimverfahren zu symbolischen Strafen verurteilt und kommt in eine Geheimakte. Im Rentenalter trauert man versäumten Gelegenheiten nach – oder ist froh, diese nicht wahrgenommen zu haben. Thomas Manns Goetheroman „Lotte in Weimar“ ist ein solches Beispiel. Der Psychologe Arthur Schnitzler zeigt in seiner Novelle „Casanovas Heimkehr“ die Bitternis des gealterten Liebhabers, dessen Charme nicht mehr verfängt61. Goethe ist es mit Ulrike von Levetzow ebenso ergangen; dem Komponisten Leo Janacek gelang es dagegen noch als altem Mann, die Liebe einer jungen Frau zu gewinnen, das späte 2. Streichquartett „Intime Briefe“ kündet davon. US-amerikanische Ruheständler und ihre Lebenswelt zeigt sehr eindrucksvoll John Updike am Ende seines „Rabbit“-Romanzyklus62: „Rabbit in Ruhe“. Harry Angstrom („Rabbit“) hat alles erreicht, was er im Leben erreichen konnte, dennoch trauert er den vergänglichen Freuden bis zu seinem Ende, Herzinfarkt beim Ballspielen mit Kindern auf der Straße, unentwegt nach. Philip Roths jüngster Roman „Der menschliche Makel“ handelt von der Lebenslüge eines Collegepro-
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Parerga und Paralipomena I, 2. Teilband, Aphorismen zur Lebensweisheit, zit. nach der Zürcher Ausgabe, hrsgg. von Arthur Hübscher, publ. auch als Bd. VIII der diogenes-TB Nr. 140, Zürich 1977, S. 378 ff. S. Hans Carossa, Gesammelte Werke, 1. Bd., Wiesbaden 1949, S. 287 ff. 1981, als Fischer-TB Nr. 5802 1984 in Frankfurt/M. erschienen. 1985 im Suhrkamp-Verlag in Frankfurt/M. erschienen. Zu Hemingways Alterstragödie (er wurde nur 62 Jahre alt) s. z. B. Kenneth S. Lynn, Hemingway, Eine Biographie, TB-Ausgabe als Rowohlt-TB Nr. 4, 13032, Reinbek 1999, S. 665 ff. Das Gänsemännchen, Ausg. d. Verlags Langen-Müller, München 1972, Passagen über den Rentner Carovius S. 73 ff., 75 ff. Abgedruckt z.B. im Sammelband Arthur Schnitzler, Casanovas Heimfahrt, Fischer-TB Nr. 1343, Frankfurt/M. 1974, S. 157 ff. Hasenherz (Rowohlt-TB Nr. 5398, Reinbek 1994), Unter dem Astronautenmond (Rowohlt-TB Nr. 4151, Reinbek 1973), Bessere Verhältnisse (Rowohlt-TB Nr. 12391, Reinbek 1994) und eben „Rabbit in Ruhe“ (Rowohlt-TB Nr. 13400, Reinbek 1994) als Schlußakt.
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fessors, der durch politically korrekte Intrigen und Verleumdungen in den vorzeitigen Ruhestand getrieben wird und tragisch endet63. Eine besondere Form des jüngeren amerikanischen Romans bildet die Schilderung alternder Überlebender des Holocaust, die sich mit ihrer neuen Umwelt im erzwungenen Exil arrangiert haben, aber dennoch von ihren guten wie bösen Erinnerungen nicht loskommen64. Der Autor und Anwalt Louis Begley schildert in seinen Schmidt-Romanen die Lebenskrise eines erfolgreichen New Yorker Wirtschaftsanwalts Albert Schmidt nach dessen Frühpensionierung und dem Tod seiner Frau: die Sorge um die Heirat seiner Tochter, die ausgerechnet einen aufstrebenden Anwalt seiner Firma ehelichen will und die Chance auf ein spätes Glück mit einer jungen Puertorikanerin65. Mit Jack Nicolson, allerdings recht verfremdet, aber dennoch sehr eindrucksvoll 2003 verfilmt („About Schmidt“). In Jonathan Franzens erfolgreichen Roman „Die Korrekturen“66 versucht die Mutter eines Rentnerehepaars (der Vater verfällt der Alzheimerschen Krankheit), die auseinanderbrechende Familie wenigstens zum Weihnachtsfest noch einmal zusammenzubringen. Die eigene Alterssicherung kann auch bei einem noch so cleveren Vorgehen völlig daneben gehen, wie Gottfried Keller in der Novelle vom „Schmied seines Glücks“ zeigt67: die existenzsichernde Adoption verhindert der Glückspilz – ungeduldig wie er ist – dadurch selbst, daß er der jungen Frau des reichen Adoptivvaters den nicht mehr erwarteten, hoch willkommenen Erben zeugt. Am Ende muß dieser John Kabys mit dem bescheidenen Ertrag einer Nagelschmiede zufrieden sein, die ihm die Heimatgemeinde als Existenzbasis zur Verfügung gestellt hat. Sándor Márai und Lothar Günter Buchheim zeigen in „Die Glut“68 bzw. im „Abschied“69 alte Männer, die bis zum Schluß nach einem Kampf um längst verschollene Liebschaften unversöhnt auseinandergehen. Alter als Chance? In Martin Walsers jüngstem Roman, „Der Augenblick der Liebe“ (2004), grübelt der pensionierte Immobilienmakler über den Sinn des Lebens nach, als er eine junge Frau trifft. Die englische Autorin Iris Murdoch, kürzlich durch ein Filmportrait ihres Mannes zu größerer Bekanntschaft auch bei
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Philip Roth, Der menschliche Makel, dt. München 2002 (auch verfilmt). Beispiele sind Isaac B. Singers Altersroman Schatten über dem Hudson, dt. 2000 bei Rowohlt, Reinbek sowie Lily Brett, Zu viele Männer, dt. 2001, auch als Suhrkamp-TB Nr. 3374, Frankfurt/M. 2002 erschienen. Louis Begley (selbst New Yorker Wirtschaftsanwalt), Schmidt, dt. 1997, Suhrkamp-TB 3000, Frankfurt/M. 1999. 2001 erschienen, dt. 2002 bei Rowohlt, Reinbek. Zu finden etwa in Gottfried Keller. Gesammelte Werke, Verlag Kiepenheuer&Witsch, Köln o. J., 3. Bd., S. 688 ff. im Zyklus „Die Leute von Seldwyla“. Sándor Márai, Die Glut, 1942, Neuausgabe 1990, dt. 1999, Piper-TB SP Nr. 3313, 6. Aufl., München 2002. Márai endete im Alter durch Freitod im kalifornischen Exil. Lothar-Günter Buchheim, Der Abschied, München 2002 als Piper-TB SP Nr. 3572. Der Abschied ist quasi die Fortsetzung, besser der Schlußakt, der beiden Tatsachenromane „Das Boot“ und „Die Festung“.
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Nichtlesern gelangt70, schrieb einen sehr eindrucksvollen Ruheständlerroman „Das Meer, das Meer“71: ein erfolgreicher Bühnenautor zieht sich in der Rente in ein geisterhaftes Haus am Meer zurück und meint, seiner ersten großen Liebe wieder begegnet zu sein. Er findet sie auch tatsächlich im nächsten Dorf in spießigen Verhältnissen lebend, sie erkennt ihn auch wieder, aber weist ihn zurück. Das gelebte Leben, und sei es noch so gewöhnlich geraten, ist stärker als die Wiedererweckung einer längst vergangenen Leidenschaft. Die Suche nach Glück ist ein vergebliches Hoffen. Anatole France schildert in einer Parabel einen depressiven König, der im ganzen Reich nach dem Hemd eines Glücklichen fanden läßt, das ihn kurieren könnte. Man findet schließlich unter seinen Untertanen einen einzigen Glücklichen, einen Schweinehirten – aber der hat kein Hemd. Die Reformbemühungen unserer Regierung und das unduldsame Volk kommen einem dabei unwillkürlich in den Sinn. Viele Romane handeln vom Erraffen von Geld und vom Streit um Vermögen, den ganzen Balzac durchzieht dieses Thema. Der große – heute noch aktuelle – Börsenroman stammt von Emile Zola und heißt „Geld“ (L’argent)72. Charles Dickens Roman „Bleakhouse“73 behandelt einen endlosen Prozeß um ein Erbe. Altersgeizige Väter zerstören das Glück ihrer Kinder, dies zeigt Balzac in „Gobsec“ oder in „Eugenie Grandet“. Das Alter ist in der Literatur die Zeit für Lebensgier: Martin Walsers schon erwähnter neuester Roman, „Der Augenblick der Liebe“, handelt davon, und für späte Rache: Dürrenmatts Stück vom „Besuch der alten Dame“. Es ist also keineswegs die Zeit des genügsamen Renteverzehrens und der verzeihenden Entsagung. Daß man auch ganze ohne Rentenanspruch leben kann – oder muß – zeigen die Landstreicherromane von Jack London und Knut Hamsun bis zur Aussteigerliteratur der Amerikaner, von Henry David Thoreau („Walden“, 1854) über Jack Kerouac74 bis zu Paul Theroux75 und Bruce Chatwin („Traumpfade“). Diese Bücher sehen in der Zivilisationsflucht gerade auch eine Flucht aus dem erstickenden bürgerlichen Sicherheitsdenken. Der kriminelle Ästhet Tom Ripley in Patricia Highsmiths Romanfolge wiederum besorgt sich seine lebenszeitliche Rente durch ein raffiniertes Verbrechen, das nie aufgedeckt wird. Ein deutsches Beispiel zur Rentenliteratur: der Vater des Protagonisten in Erich Loests Roman „Reichsgericht“76 bezieht zwar als ehemaliger DDR-Kader eine westdeutsche Angestelltenrente, dankt es dem vereinten Deutschland aber herzlich 70
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Iris Murdoch litt an der Alzheimerschen Krankheit, ihre letzten Lebensjahre wurden von ihrem Gatten John Bayley geschildert: „Elegie für Iris“, dt. 2000, dtv-TB Nr. 8560, München 2002. Iris Murdoch, Das Meer, das Meer, 1978, dt. 2000, bei Deuticke, Wien. Emile Zola, L’Argent, 1891, dt. Das Geld, 1924; wieder entdeckt von Hans Magnus Enzensberger für „Die Andere Bibliothek“, Nördlingen 1987/1993. Dt. Übersetzung 1910 von Gustav Meyrink, Zürich 1984 als diogenes-TB Nr. 21168. Etwa „Unterwegs“ („On the Road“), 1955, dt. 1959, auch als Rowohlt-TB Nr. 1035/36, Reinbek 1968. U. a. „Der alte Patagonien-Expreß“, als dtv-TB 1997 in München erschienen. Erich Loest, Reichsgericht, 2001, dtv-TB Nr. 13232, München 2004.
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wenig. Er kommt erst sehr spät in der vereinten deutschen Gesellschaft an. Aber das kennen wir ja. Besonders schön ist eine kurze Erzählung von Eugen Roth, der nicht nur humorvolle Gedichte geschrieben hat77. Ein alter Schauspieler benötigt für seine kranke Frau dringend Geld und erhält noch einmal in einer Schwabinger Gasthausbühne Gelegenheit, seine nur noch mangelhafte Gesangskunst zum Besten zu geben. Er glaubt in seiner alterskindlichen Unschuld, am Ende seiner Karriere, die nur eine bescheidene Provinzkarriere („Ingolstadt“) war, die Hauptstadt München erobert zu haben. Das Publikum läßt ihn in seinem naiven Glauben glücklich sein. 3. Lyrik Herbstgedichte gibt es unzählige, sie bilden eine eigene Gattung der Lyrik von Lenau, Eichendorff, Mörike, Storm, Hesse, Trakl, Rilke, Benn und zahlreichen anderen78. Sie sind immer auch Lebensabschiedsgedichte: wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. 4. Satire Auch die Satire hat sich mit dem Alter und dem Scheitern beschäftigt; so schon der größte aller Satiriker, Jonathan Swift, in „Gullivers Reisen“, wo die Titelfigur in ein Land kommt, in dem einige Auserwählte unsterblich sind79. Swift zeigt, daß dies für die Betroffenen keinesfalls ein Glück, sondern ein großes Unglück bedeutet. Im Zeitalter des Klonens und der dabei eröffneten Aussichten eine heilsame Lektüre für uns alle. Die Ernüchterung der in der sorglosen Jugendkultur Aufgewachsenen zeigt Florian Illies in der Fortsetzung der „Generation Golf“80, zehn Jahre danach. Balzacs „Verlorene Illusionen“ (1837-43) hundertsechzig Jahre später – ein ewiges Thema. Nirgends wird die erbarmungslose Zerstörungskraft der Zeit so drastisch geschildert wie in Marcel Prousts letztem Band „Die wiedergefundene Zeit“81. Helmut Qualtinger zeigt in seiner unsterblichen Kabarett-Szene „Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben“82 zwei alte Schauspieler am Ende ihrer Provinzkarriere, ohne Künstlersozialkasse. Sie wären besser zur Gewerkschaft gewechselt, dort hätten sie einen sicheren Posten gehabt. So bleibt für sie in St. 77 78
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Der Ruhm, in: Eugen Roth, Ernst und heiter, dtv-TB Nr. 10, München 1961 ff., S. 89 ff. Hierzu die erhellende Kritik von Herbstgedichten deutscher Sprache bei Karlheinz Deschner, Kitsch Konvention und Kunst: Eine literarische Streitschrift, List-TBer Nr. 93, München 1957 ff., S. 122 ff. S. z. B. die Insel-TB-Ausgabe Nr. 58, Frankfurt/M. 1974, Dritter Teil, Eine Reise nach Laputa, Balnibarbi, Luggnagg, Glubbdubdrib und Japan, hier: Im Lande der Luggnagg S. 305 ff. Generation Golf zwei, 2. Aufl., München 2003. Erschienen posthum 1927. Erschienen z. B. in Carl Merz, Helmut Qualtinger, An der lauen Donau, dtv-TB Nr. 498, München 1968, 2. Aufl., 1969 S. 11 ff.
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Pölten nur die Hoffnung: „In Linz müßte man sein“. Hier muß der Verf. für seine Hallenser Studenten immer erst erläutern, was Linz für Österreich bedeutet: ungefähr das, was Cottbus oder Chemnitz im Osten, was Wuppertal oder Bielefeld im Westen bedeuten. III. Beispiele aus der Literatur – Beispiele zur Beamtenpension 1. Die Beamtenpension als Thema Der OECD-Bericht 2004 empfiehlt die Abschaffung der Beamten und damit auch der Beamtenpension83. Dennoch gab ein Drittel aller Österreicher in einer Umfrage an, die ich im Wiener Standard las, ihr größtes erstrebenswertes Lebensziel sei, Beamter auf Lebenszeit zu sein: gemäß der österreichischen Gassenhauerzeile von Hermann Leopoldi: „Die Pensionsberechtigung, die hält ihn jung“. Auch den Deutschen sagt man ein ihnen immanentes Mißtrauen gegen jede Art von Markt nach (so las es der Verf. neulich in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und der Autor hat nicht unrecht84). Ebenfalls der Frankfurter Allgemeinen vom 9. Dezember 2004 entnahm der Verf. verblüfft die Meldung, über 80 % der jungen Chinesen strebten an, Beamter zu werden: denn man bekomme dadurch viel Geld, ein Haus und schöne Frauen. Immerhin: Franz Kafka, Autor des Unheimlichen in Staat und Bürokratie, war – neueren wissenschaftlichen Erkenntnissen zufolge – ein ungemein an seiner Arbeit interessierter, tüchtiger Beamter der Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt für die böhmischen Länder (einer Art Rentenversicherungsträger), der keineswegs unter einem ungeliebten Beamtenjoch schmachtete85, und schon mit vierzig krankheitshalber frühpensioniert wurde. Beamtenliteratur im engeren Sinne gibt es nur in traditionellen Beamtengesellschaften und Beamtenstaaten, also in Deutschland, Österreich, Rußland, Frankreich; obwohl auch Beamtenstaat weniger in Italien (wo man keinen Mentalitätsunterschied zwischen normaler Bevölkerung und Beamtenschaft zu erkennen vermeint).
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Vgl. FAZ Nr. 181 v. 06. 08. 2004, S. 1 „Lob und Mahnung für Schröder, Bericht der OECD“. Michael Hüther, Deutsche Mythen, Schwierigkeiten mit der Marktwirtschaft, Angebotspolitik reicht nicht aus, FAZ Nr. 182 v. 07. 08. 2004, S. 11. S. etwa Stach, Kafka, a. a. O., passim und speziell Eberhard Eichenhofer, Franz Kafka und die Sozialversicherung, Jenaer Schriften zum Recht, 14. Bd., Stuttgart 1997 (Text der Jenaer Antrittsvorlesung Eichenhofers, die literarische Bezüge des Rechts verarbeitet ähnlich der Hallenser Antrittsvorlesung des Verf. zum Thema “Das Bild der Verwaltung in der schöngeistigen Literatur”, 1993). S. auch die Ausstellung 2002 des Deutschen Literaturarchivs Marbach zu “Kafkas Fabriken”, FAZ Nr. 274 v. 25. 11. 2002, S. 37.
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Arno Schmidt war Beamtensohn, sein Vater war Polizeibeamter – und er litt sein Leben lang darunter86. Sarkastisch daher seine Äußerung zur Beamtenpension87: „Begreiflicherweise wird diese Klassiker-Theorie – edle Einfalt, stille Größe – sehr vom Staate gefördert: ist sie doch die Voraussetzung für jeglichen Beamtengeist […] der ja auch auf der Voraussetzung beruht, daß man dereinst, nach 40 wohlangeworbenen Dienstjahren, dann im Genuß einer Pension wie im Elysium dahinleben werde. […] Wenn man freilich vorher fällt – tja, dann ists eben Gottes unerforschlicher Ratschluß; und der Familie kommts trotzdem zugute […].“
2. Drama Beamtendramen gibt es einige wenige. In Alfred Polgars „Defraudanten“ – Polgar wird derzeit wieder als Meister des Feuilletons entdeckt88 – gehen Kassenbeamte mit der Gehaltskasse durch, um sich ein sorgenfreies Leben zu verschaffen. Sie können unentdeckt in die ihnen doch als Heimat liebgewordene Behörde zurückkehren, da der Kassendirektor inzwischen selbst mit der Hauptkasse abgehauen war. Die Komödie beruht auf einer russischen Vorlage89. In Nicolai Gogols „Revisor“ gibt sich ein Unbekannter als Kassenprüfer aus und erzeugt bei den Beamten Panik, die sich ihren Lebens- und Pensionsstandard durch Korruption zu sichern bemühten. Thomas Bernhards böses Stück „Vor dem Ruhestand“ wurde bereits erwähnt. 3. Roman und Erzählung In Romanen und Erzählungen kommen zahlreiche Beamte vor, so in Gogols Schauererzählung „Der Mantel“. Die Frage der Pension wird zuweilen gestreift, selten ist sie Teil der Handlung. Von einigen Werken soll kurz berichtet werden: in Dostojewskis Roman „Schuld und Sühne“90 muß die Beamtentochter Sonja das Geld für die verschuldete Familie durch Prostitution aufbringen, da ihr Vater, ein Titularrat, also ein Beamter des gehobenen Dienstes, die Familie durch seine Trunksucht ins Elend gestürzt hat. Sie wird die Geliebte des Mörders Raskolnikov und läutert diesen – Tragik eines Beamtenkinds. In Josef Roths „Falschem Gewicht“ scheitert ein Vierzehnender, also ein Berufsunteroffizier, nachdem ihm als Abfindung der Posten eines kleinen Beamten, eines Eichmeisters, in der galizischen Provinz übertragen worden war. In seinen Romanen „Radetzkymarsch“ und 86
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Biographie von Arno Schmidt z. B. von Wolfgang Martynkewicz, Reihe rororoMonographie bei Rowohlt, rm-Nr. 484, Reinbek 1992. S. Arno Schmidt, Nachrichten von Büchern und Menschen 2. Zum Aufwachsen von Arno Schmidt in einer Beamtenfamilie Wolfgang Martynkewicz, Selbstinszenierung, edition text+kritik, 1991, S. 13 ff. Vgl. die dreibändige Werkauswahl als Rowohlt-TB vom Oktober 2004. Erschienen 1931 im Rowohlt-Verlag, Reinbek, nach Motiven aus dem gleichnamigen Roman von Viktor Katajew, 1927, dt. 1928. Heute als „Verbrechen und Strafe“ exakter übersetzt.
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„Die Kapuzinergruft“ schildert Roth den Untergang des k.u.k. Beamtentums am Beispiel eines pensionierten Bezirkshauptmanns (= Landrats). Heinrich Mann zeigt in „Professor Unrat“, wie es einem Beamten, einem Gymnasialprofessor, ergeht, wenn er seine sichere Planstelle aufgibt, um den Verlockungen der Halbwelt zu folgen – Mahnung an alle an ihrem Dienst resignierenden Beamten. Umgekehrt leistet sich Legationsrat von Duckwitz in Joseph von Westphalens Roman „Im diplomatischen Dienst“91 mehrere Staatsverunglimpfungen, um in den Genuß einer Versetzung in den einstweiligen Ruhestand zu kommen. Dies wird ihm gewährt, da sich das Auswärtige Amt, das die Taten vertuschen will, einen öffentlichen Skandal nicht leisten kann. In Ludwig Thomas Skizze „Auf dem Bahnsteig“92 warten zwei in die Provinz verbannte Pensionäre jeden Abend auf dem Bahnsteig den D-Zug Paris-Wien ab. In den zwei Minuten Aufenthalt kosten sie den Duft der großen, fernen Welt. Heute findet man Senioren auf Neufundland ebenso wie in Feuerland. Auch in der südamerikanischen Literatur kämpft man um seine Beamtenpension: in einer der berühmtesten Novellen der lateinamerikanischen Literatur des kolumbianischen Nobelpreisträgers Gabriel Garcia Marquez, „Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt“93, wartet eben dieser Oberst lange Jahre vergeblich auf einen Brief, nämlich auf den Rentenbescheid der Beamtenversorgungskasse. Der Pensionsbescheid kommt natürlich nie. Ludwig Thoma zeigt in seinen gar nicht so harmlosen „Lausbubengeschichten“ satirisch die Nöte verwitweter Beamtenfrauen. Seine Mutter, eine Oberförsterswitwe, erhält als Witwenrente 110 Mark, „nicht mal 40 Thaler“. Tante Frieda muß als Postexpeditorswitwe mit einer ganz schmalen Beamtenpension auskommen. Weil der studierende Bruder alles Geld der Eltern für sein Studium benötigte, bekam sie nicht den erstrebten höheren Beamten, jetzt Regierungsrat in Ansbach, sondern nur den besagten kleinen Postschaffner94. Der eigentliche Beamtenpensionsroman jedoch stammt vom Altmeister der modernen österreichischen Literatur, Heimito von Doderer. Er heißt, recht umständlich in Beamtendeutsch gefaßt: „Die erleuchteten Fenster, oder die Menschwerdung des Amtsrats Julius Zihal“95. Ein pensionierter Beamter findet dadurch eine neue Betätigung, daß er von der Hinterhauswohnung aus nach jeder Seite die schönsten Szenen beobachten kann, sobald die Dämmerung hereinbricht. Dies lohnt sogar die Anschaffung eines aufwendigen Fernrohrs.
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Als dtv-TB Nr. 11614, München 2004, erster Teil einer v. Duckwitz-Trilogie, eines Diplomaten, der – seines Dienstes überdrüssig – beschließt, als Aussteiger zu leben. Z. B. in: Ludwig Thoma, Der Postsekretär im Himmel und andere Geschichten, Einführung von Johann Lachner, München 1961, S. 265 ff. Gabriel García Márquez, Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt, 1961, dt. 1976, als dtv-TB Nr. 1601 München 1980 ff. In: Lausbubengeschichten, Der vornehme Knabe, bzw. Neue Lausbubengeschichten, Tante Frieda, Hameln 1995. 1950, erschienen z. B. auch in der Bibliothek Suhrkamp, Nr. 1003, Frankfurt/M. 1989.
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4. Lyrik Es gibt ein treffendes, hübsches Beamtengedicht, verfaßt von einem österreichischen Postbeamten96 und bedeutenden Lyriker, Josef Weinheber: „Beamter97 Ob großes oder kleines Amt: Gehorsam sind wir allesamt. Die Mienen ernst, der Scheitel licht, tun wir laut Vorschrift unsere Pflicht. Der Dienst ist alles. Nebenher sind unsere Taschen leicht und leer.98 Im Amtsbereich, von Fall zu Fall, beziehn wir uns auf eine Zahl und schicken, unserem Stand zum Ruhm, die Kinder aufs Gymnasium. Wir halten Euch für wenig Dank das große Räderwerk in Gang. Die Jahre gehen im gleichen Schritt, es steigt der Rang, die Plage mit, wir dienen lang, wir dienen gern, von ferne blinkt ein holder Stern.99 O endlicher Genuß der Ruh, dir nähern wir uns immerzu und hoffen still und sterben so, bisweilen plötzlich im Büro.“
Ein im Gegensatz hierzu bitterböses Beamtengedicht, eher ein Gedichtszyklus, „Das Grundbuchamt“, stammt von dem ebenfalls bedeutenden Lyriker – und Gerichtsreferendar – Georg Heym, der 1912 auf der Havel beim Eislaufen ertrank100. Es ist ihm viel erspart geblieben. Der Verf. erspart dem Leser dieses tiefschwarze Epos in voller Länge, nur soviel sei gesagt: Beamte sterben nicht, sie haben nie gelebt. Sie sind seit jeher schon tot gewesen, sei es im aktiven Dienst oder in der Pension: „[…] Doch nachts, wenn Uhu krächzt, und Mäuse pfeifen, Und wenn der Mond durch ihre Knochen scheint, Dann hebt sich auf das stille Volk101 vereint, 96
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Auch Kafkas Freund und Nachlaßverwalter Max Brod war Postbeamter und Schriftsteller zugleich. Zit. nach Josef Weinheber, O Mensch, gib acht, Nov. München 1937, S. 360/1; Weinheber nahm sich 1945 beim Einmarsch der Sowjetarmee nach Niederösterreich das Leben. Der Verf. kann es bestätigen! Gemeint ist das Ordenskreuz. Georg Heym: Dichtungen und Schriften, Gesamtausgabe, Karl Ludwig Schneider (Hrsg.), 1. Bd. (Lyrik), Hamburg u. a. 1964, S. 267 ff.; vollständig zitiert in: Michael Kilian, Verwaltungskultur im Spiegel verschiedener Literaturgattungen, in: Winfried Kluth (Hrsg.), Verwaltungskultur, Baden-Baden 2001, S. 113, 136-139. Der Beamten, d. Verf.
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Michael Kilian Durch Treppen und durch Gänge fortzuschweifen […]“
E. Erkenntnisse und Schlußfolgerungen Rente und Pension sind Kinder des 19. Jahrhunderts. Noch der ordentliche Universitätsprofessor Immanuel Kant im Zeitalter der Aufklärung mußte bis zum 75. Lebensjahr unermüdlich arbeiten, ehe er in die Lage kam, vom Ersparten in seinen letzten Lebensjahren (er wurde 80 Jahre alt) leben zu können102. Eine Beamtenpension gab es nicht. Beamte waren in der Regel adelig und lebten von ihren Gütern, oder heirateten reich. Eine Rentenversicherung begann im Ansatz erst mit Bismarcks Sozialreform Ende des 19. Jahrhunderts, zuvor sorgten Familien und Kirche, allenfalls wohltätige Stiftungen, für die Alten. Abraham Lincoln, der bedeutendste Präsident der USA, träumte, so der amerikanische Schriftsteller Gore Vidal in seiner Romanbiographie103, nach seinem Ausscheiden als Präsident von einer Anwaltspraxis in der Provinz in Kansas (seinem Heimatstaat), um mit 61 Jahren (!) noch seinen Lebensabend zu verdienen – offenbar bezogen damalige US-Präsidenten keine staatliche Pension. Allerdings wurde Lincoln ermordet, bevor er diese Ruhestandspläne in die Tat umzusetzen vermochte. Pension und Rente sind Lebenseinschnitte: Abschied und Ausscheiden vom aktiven Dienst, oft auch vom aktiven Leben insgesamt. Ein neuer, langsamerer Lebensabschnitt beginnt, ein allmählicher Gang zum Grabe, wenn einen nicht der plötzliche Pensionstod ereilt. Aber nicht nur ein existentieller Tatbestand, sondern, um juristisch zu sprechen, auch ein nüchterner juristischer Tatbestand: Die Erfüllung des Rententatbestands und damit des Entstehens eines Rechtsanspruchs auf Gewährung einer Altersrente (sofern man die dafür erforderlichen Wartezeiten angesammelt hat), oder die Versetzung und den Eintritt in den Ruhestand als Verwaltungsakt gemäß den Bundes- oder Landes-Beamtengesetzen. Zugleich kommt die Aufgabe der andersgearteten Lebensbewältigung auf einen zu. Was sagen hierzu die Kunst und Philosophie? Was sagt die Musik? Der ergreifendste Abschied vom Leben ist Gustav Mahlers Gesang „Der Abschied“ im Lied von der Erde104: „Die Sonne scheidet hinter dem Gebirge, in alle Täler steigt der Abend nieder, mit seinen Schatten, die voll Kühlung sind […]
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S. etwa Manfred Kühn, Kant: Eine Biographie, 2. Aufl., München 2004, 9. Der alte Kant, S. 244 ff. Gore Vidal, Lincoln, 1984, dt. 2002 als btb Nr. 72912 bei Goldmann in München, S. 822 ff. 1908 nach Texten u. a. Mong Kao Yen und Wang Wie, 8. Jh. n. Chr., (Der Abschied), übersetzt von Hans Bethge – zit. aus Kurt Pahlen, Das große Heyne-Konzertlexikon, Heyne Lexika, 2. Aufl., 1979, Heyne-TB Nr. 4547, S. 203.
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Ich wandle nach der Heimat, meiner Stätte. Ich werde niemals in die Ferne schweifen. Still ist mein Herz und harret seiner Stunde […]“
Was sagt die schöne Literatur? Jeder lebt seine Rente bzw. seine Pensionärszeit anders: in Melancholie, in Vereinsamung und Vernachlässigung, in einer späten vita activa oder im Ausleben skurriler Gelüste, ja im Menschenhaß. Im Alter erwarten einen als Rentner wie als Pensionär vielerlei Abgründe und Gefahren. Seltener geschildert wird das weiter tätige und dann in sich ruhende, altersweise Leben (etwa Fontanes erwähnten „Stechlin“). Die Lebenszäsur der Rente und Pension ist heute vielfach relativiert durch die unterschiedlichsten Formen eines Übergangs vom Erwerbsleben zum Ruhegenuß, wie es österreichisch heißt. Von der zusätzlich angesparten fondsgestützen Privatvorsorge (einschließlich der staatsgeförderten sog. Riester-Rente) und der gleitenden Altersteilzeit bis hin zum Seniorenstudium: eine Kärntnerin promovierte kürzlich mit 75 zum Doktor der Psychologie105. Dennoch bleibt die Erkenntnis, nicht zuletzt vermittelt durch die Literatur, daß man den Rentenstand und die Pension schon im Leben verspielen kann – wobei offenbleibt, ob die gezeigten Ausschweifungen dieses Verspielen nicht gerade wert sind. Ein Ruhestand kann die Chance sein, ein neues, endlich erfülltes Leben zu führen, eine „Menschwerdung“ zu versuchen. Ist Doderers Julius Zihal zunächst auch im Pensionsstand immer noch im Dienst, wenn auch nur in einem selbst auferlegten, so kommt er doch zu der Einsicht, daß eine Frau, die sich ihm in Liebesgefühlen hingibt, jeder noch so interessanten Beobachtung von Ferne der Vorzug zu geben ist. Man muß dem Leben Sinn geben, der Lernprozeß der Menschwerdung, und sei es erst spät in der Beamtenpension. Er findet in die Ehe, nachdem er Jahrzehnte nur mit seinem subalternen Amt106 verheiratet war. Doderer würzt seinen Roman mit Originalzitaten aus dem österreichischen Beamtengesetz, Titel „Versetzung in der Ruhestand“ – gerade für den Juristen unbedingt lesenswert! Rente und Pension als aktive Aufgabe der „Menschwerdung“, wenn man zuvor noch gar kein Mensch im Sinne Doderers war; als selbstbestimmte, freie Persönlichkeit ohne den Zwang zur Existenzsicherung im harten Lebenskampf. Chance und Möglichkeit des Abstands vom Weltgetriebe zugleich. Kein entsagendes Lebenserlöschen mehr, sondern Möglichkeit zu neuer Erfüllung und zu neuen Zielen – fern der Hetze und Sorge ums tägliche Brot. Endlich Freude und Lust am Leben, das erfüllte Alter des Rentners und Pensionärs. Freilich zeichnet die Literatur in den seltensten Fällen eine solche Möglichkeit auf. Neben wenig Hoffnung überwiegen Scheitern und Hoffnungslosigkeit. Bei Ludwig Thoma sterben Bauer und Bäuerin gefaßt und rechtzeitig, die „Leich“ bis zu den letzten Erfordernissen ordnend. Der sterbende Bauer mahnt seine Gattin, jedem Sargträger auch zwei Maß Bier zu geben, damit es nachher keine schlechte
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Kleine Zeitung, Graz, v. 04. 10. 2004, S. 10. Dem Zentral-Tax- und Gebührenbemessungsamt Wien.
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Rede gebe107. Zu den tschechischen Nationalbüchern gehört nicht nur der Schweijk, sondern Bozena Nemcovas Verklärung der Großmutter. Jedoch: in Leo Tolstois „Tod des Iwan Illitsch“ ist der Todkranke bereits sozial gestorben, ehe er auch körperlich tot ist. Eugen Roths im Alterserfolg triumphierender Schauspieler erlebt seinen größten Triumph, die Verleihung des rasch ins Leben gerufenen Preises der Schwabinger Künstlerfestspiele, nicht mehr. Er ist schon vorher vor Glück dem Herzschlag erlegen. Die Satire ist der endgültige Spielverderber: in Helmut Qualtingers „Andlvertilgung“ wird das Problem der nicht mehr bezahlbaren Altersrenten dadurch gelöst, daß der Landfunk der bäuerlichen Bevölkerung die jeweils regional empfehlenswerteste Art vorführt, die gesamte ältere Verwandtschaft auf elegante Weise umzubringen – eben die Andlvertilgung108. Wie also Rente und Pension leben, wenn man sie denn erlebt? Die Philosophie lehrt seit je, das Alter zu ehren, und nicht alles aus der Sicht des Leistungsprinzips zu sehen. Fontanes Stechlin mit seinem altersweisen Verzicht scheint auch nicht mehr zeitgemäß – aber Melancholie, Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Sinnverlust über sich zusammenschlagen lassen? Leben heißt, mit dem Scheitern zurechtzukommen: „Es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt“, so der erste Satz der Staatspreisrede Thomas Bernhards, die zum Staats-Skandal geriet, weitere Skandale folgten109. Die moderne schöngeistige Literatur gibt kaum mehr Hoffnung, sie ist – als Darstellung der Wirklichkeit in künstlerischer Verfremdung, und vielleicht deshalb gerade wirklichkeitsnah? – gnadenlos: Walter Kempowskis alter ego, der alternde Schriftsteller Alexander Sowtschik, sendet „letzte Grüße“ von einer Lesereise in den USA und kehrt gar nicht mehr heim110. Das Leben anderer alter Leute endet symbolisch wie in Samuel Becketts „Endspiel“: in Mülleimern, oder wie in der Schlußszene von Thomas Bernhards Stück „Minetti“111. Wir werden, wie der erfolglose Schauspieler Minetti, alle einmal auf der Parkbank in Ostende sitzen (oder in Ingolstadt oder in Linz), bis wir zugeschneit sind.
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Das Sterben, in der Sammlung: „Meine Bauern“, München 1968. Abgedruckt z. B. in: „An der lauen Donau“, dtv-TB Nr. 498, S. 83. Der letzte, das Drama „Heldenplatz“, am Burgtheater unter Claus Peymann 1988, nur wenige Monate vor Bernhards Tod im Frühjahr 1989. Walter Kempowski, Letzte Grüße, München 2003. Thomas Bernhard, Die Stücke 1969-1981, S. 547 (Minetti).
Georg Heym – Dichter des Expressionismus und Jurist wider Willen Hermann Weber Unter den dichtenden Juristen hat es seit jeher nicht wenige gegeben, die den juristischen Beruf früher oder später an den Nagel gehängt haben. Nicht selten haben sie sich dabei im Zorn von der Jurisprudenz verabschiedet. Kaum einer von ihnen hat diesem Zorn so nachdrücklich literarischen Ausdruck verliehen wie der 1912 im Alter von wenig mehr als 24 Jahren beim Eislaufen auf der Havel bei Berlin ertrunkene expressionistische Lyriker Georg Heym, Sohn eines hohen Juristen und selbst Jurist, dessen oft visionäre Gedichte noch heute nichts von ihrer Faszination eingebüßt haben. Mit Biographie und Werk Georg Heyms, seinen Konflikten mit Elternhaus und anderen Autoritäten und nicht zuletzt mit seinem sehr getrübten Verhältnis zu Recht und Juristen beschäftigt sich der folgende Beitrag.
A. Literat und Jurist: Zwei Zitate Ende 2003 ist die den Erzählern gewidmete zweite Lieferung des Kanons der deutschen Literatur von Marcel Reich-Ranicki erschienen. In einem der prägnanten Kurzporträts, die er den in die Sammlung aufgenommen Autoren gewidmet hat, schreibt Reich-Ranicki über den auch heute noch vor allem als Lyriker bekannten Expressionisten Georg Heym: „Der Lyriker und Novellist wäre vielleicht einer der größten Dichter Deutschlands geworden, jedenfalls des zwanzigsten Jahrhunderts. Seine Poesie, die Formstrenge mit verblüffendem Bilderreichtum und kühnen Visionen verbindet, zeichnet sich durch eine unvergleichliche, ekstatisch-dämonische Aura aus und hat in hohem Maße die Vorstellung vom deutschen Expressionismus geprägt, zumal vom Frühexpressionismus.“1
Dass Georg Heym nicht nur einer der wichtigsten Dichter des deutschen Expressionismus, sondern auch ein durchaus begabter Jurist war, ist weniger bekannt2. Heym war freilich nur mit Widerwillen Jurist, die Beschäftigung mit der Juristerei hat er als harte Fron empfunden, die ihn an der dichterischen Entfaltung hinderte („Ich komme von dem Leben Byrons und bin gezwungen in das staubige Mauseloch des ‚öffentlichen Glaubens des Grundbuchs’ zu kriechen“ oder „Friedrich Wilhelm von Braunschweig – die Ansprüche aus dem Eigentum. Wieder einmal so ein Sturz. Müßte man doch zuerst die ganzen verstaubten Juristen an 1 2
Zitiert nach F.A.Z. vom 18. Oktober 2003, S. 43. Zu Georg Heym als Jurist vgl. zuletzt ausf. Lovis Maxim Wambach, Die Dichterjuristen des Expressionismus, Baden-Baden 2002, S. 301 ff.; dort auch Hinweise auf viele der weiter unten wiedergegebenen Stellen aus dem Werk Georg Heyms.
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den Galgen hängen“3). In der ihm zu Gebote stehenden drastischen Sprache hat Heym in einem Tagebucheintrag wenige Wochen vor dem (übrigens mit gutem Erfolg, wenn auch auf zweifelhafte Weise bestandenen) ersten juristischen Staatsexamen den Zorn über die juristische Fron hinausgeschrieen: „Meine Natur sitzt wie in einer Zwangsjacke. Ich platze schon in allen Gehirnnähten. Müßte mein Drama längst vollendet haben. Und nun muß ich mich vollstopfen wie eine alte Sau auf der Mast mit der Arsch-Scheiße-Lause-Sau Juristerei, es ist zum Kotzen. Ich möchte das Sauzeug lieber ausspeien, als es in die Schnauze nehmen. Ich habe solchen Trieb, etwas zu schaffen. Ich habe solche Gesundheit, etwas zu leisten. Ja, es ist zum Scheißen […] Wenn ich bloß etwas, etwas Geld hätte, ich hätte schon lange was anderes angefangen.“4
B. Herkunft und Biographie Georg Heyms I. Kinder- und Jugendjahre Georg Heym kam am 30. Oktober 1887 als ältestes Kind des damaligen Staatsanwalts Hermann Heym und seiner Ehefrau Jenny geborene Taistrzik in Hirschberg in Schlesien auf die Welt. Einziges weiteres Kind aus der Ehe der Eltern war Georgs anderthalb Jahre später, am 25. März 1889, geborene Schwester Gertrud, ein besonders scheues, zur Schwermut neigendes Mädchen, „gegenüber der Lebensfülle des Bruders oft fast wie verstört“, das an Epilepsie litt und früh verstarb – wie Carl Seelig berichtet, weil sie während eines Anfalls von einem Fuhrwerk überfahren wurde5. Beide Eltern stammten aus bürgerlichen Familien, „deren Tradition durch preußisch-brandenburgisches Beamtentum, Gutsbesitz und Protestantismus bestimmt war“6: Hermann Heym war Sohn eines Gutsbesitzers und Ober3
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Beide Zitate bei Georg Heym, Dichtungen und Schriften, Bd. 3: Tagebücher, Träume und Briefe, Hamburg 1960, S. 130 (Tagebucheinträge vom 3. bzw. 22. September 1909). G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S.152 (Tagebucheintrag vom 29. November 1910). Vgl. zum Ganzen: Brief von David Baumgardt an Carl Seelig vom 10. Februar 1946, abgedruckt in: Georg Heym 1887-1912. Eine Ausstellung der Staats- und Universitätsbibliothek – Carl v. Ossietzky – Hamburg, Wiesbaden 1988, S. 42 f. (dort das Zitat); Carl Seelig, Leben und Sterben von Georg Heym, in: Carl Seelig (Hrsg.), Georg Heym, Gesammelte Gedichte. Vollständige Ausgabe, Zürich 1947, S. 199 ff., 203. Die Angaben über den Todeszeitpunkt von Gertrud Heym schwanken: Nach Seelig, Leben und Sterben, und dem Bericht von Rudolf Balcke, Aufzeichnungen über Georg Heym, in: Karl Ludwig Schneider, Gerhard Burckhardt (Hrsg.), Georg Heym. Dokumente zu seinem Leben und Werk, Hamburg 1968, S. 39 ff., 39, ist sie bereits vor dem ersten Weltkrieg (und damit vor dem Tode des Vaters am 9. Januar 1920) gestorben; die Herausgeber korrigieren in: Dokumente, S. 548 und 554, den Todestag auf den 21. August 1920. Die Mutter Heyms, Frau Jenny Heym, ist als letztes Mitglied der Familie am 23. Oktober 1923 verstorben (Schneider/Burkhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 613). Hermann Korte, Georg Heym, Stuttgart 1982, S. 12.
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amtmanns aus Trebitz im Kreis Lübben, später in Frankfurt an der Oder, Jenny Heyms Vater war in Schlesien „Gerichtspräsident unter Fürst Pless“ und „nachher Gutsbesitzer von Rinnersdorf“, ihr Großvater Justizrat in Ratibor7. Die Kinder- und Jugendjahre Georg Heyms waren von der raschen beruflichen Karriere des Vaters und den mit ihr verbundenen häufigen Ortswechseln bestimmt: Hermann Heym, geboren am 13. Juli 1850 in Trebitz, hatte nach Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg und Berlin 1874 in Naumburg und 1879 wieder in Berlin die beiden juristischen Staatsexamina bestanden. 1882 wurde er Staatsanwalt zunächst in Meseritz, dann 1883 in Hirschberg. Es folgten 1892 die Versetzung nach Posen, 1894 die Beförderung zum 1. Staatsanwalt in Gnesen und 1899 die Rückversetzung nach Posen. 1900 schließlich wurde Hermann Heym zum Reichsmilitärgerichtsanwalt beim Reichsmilitärgericht in Berlin ernannt – ein Amt, das er bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahre 1910 ausgeübt hat. Folge der Ortswechsel waren mehrfache Schulwechsel der Kinder: Georg Heym tritt 1893 in die Grundschule in Posen ein, 1894 wird er auf die Grundschule in Gnesen umgeschult und besucht ab 1896 das dortige Gymnasium. 1899 wechselt er auf das Friedrich-Wilhelms-Gymnasium in Posen und wird 1901 in die Untertertia des Königlichen Joachimsthalschen Gymnasiums zu Berlin aufgenommen. In die Jahre dort fallen der Beginn wichtiger Freundschaften (vor allem der Freundschaft Heyms mit seinem später gemeinsam mit ihm im Wannsee ertrunkenen – Lebensfreund Ernst Balcke und mit dessen Bruder Rudolf, die er beide in der Jungendabteilung des Tennisclubs Blau-Weiß kennen gelernt hatte), die Tanzstunde, erste Kontakte mit Mädchen (die meisten auch aus dem genannten Tennisclub), die Mitgliedschaft in einer verbotenen Schülerverbindung, vor allem aber auch frühe literarische Versuche und der Beginn eines ersten Tagebuchs. Von der Schulzeit in Berlin ist sonst wenig bekannt – nur dass Georg Heym ihr keine Träne nachweint („Im übrigen komme ich Gott sei Dank von meinem Gymnasium fort“8), als er Ostern 1905 nicht in die Oberprima versetzt wird9 und deswegen „in die Verbannung“10 nach Neu-Ruppin muss, wo er in die Unterprima des FriedrichWilhelms-Gymnasiums aufgenommen wird und in Pension bei dem Superintendenten Schmidt wohnt. Auch in Neu-Ruppin beteiligt er sich, diesmal sogar als Gründer, an einer nicht erlaubten Schülerverbindung der (nach dem Flüsschen Rhin benannten) „Rhinania“ , hält die Kontakte mit Ernst Balcke und mit mancher der schon in Berlin angeschwärmten jungen Damen aufrecht und widmet sich noch intensiver als früher seinen dichterischen Versuchen. Zwei seiner Gedichte werden auf Vermittlung Ernst Balckes in der Schülerzeitschrift „Kreissende Sonnen“ der Privatschule „Saldria“ in Brandenburg an der Havel veröffentlicht. Der Versuch, dem Amelang Verlag eine Sammlung von etwa 60 Gedichten anzubie-
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G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 154 (Tagebucheintrag vom 31. Dezember 1910). G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 14 (Tagebucheintrag vom 2. April 1905). S. dazu die Zeittafel in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 7 ff., 8. G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 15 (Tagebucheintrag vom 23. April 1905).
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ten, scheitert dagegen; das Manuskript wird abgelehnt11. Am 18. März 1907 besteht Georg Heym in Neu-Ruppin die Reifeprüfung und kehrt nach Berlin zurück. II. Jurastudium in Würzburg, Berlin und Jena Im Sommersemester 1907 bezieht er als Jura-Student die Universität Würzburg und wird dort Mitglied des Kösener Corps Rhenania. Die Mensuren bewältigt der sportliche Heym mit Freude und Bravour. In den Erinnerungen seiner Corpsbrüder erscheint er als vitaler und lebensfroher Zechgenosse, als „flotter Bursche und ausgezeichneter Kamerad“, immer in Geldnöten und immer auf der Jagd nach dem weiblichen Geschlecht, als begeisterter Corpsstudent, der das Corpsleben in vollen Zügen genießt, dem es allerdings mitunter am nötigen „Benimm“ fehlt und der im Lauf der Zeit immer stärker „andere Dinge im Kopf“ hatte als das Corpsleben12. Die Tagebücher sprechen hier eine deutlich andere Sprache („Das Corpsleben ist furchtbar, geisttötend, stumpfsinnig, lächerlich“ oder „Ich wäre nun grenzenlos froh und fände nicht das Ende meines Glücks, wäre ich nicht durch den Unsinn des Corpsstudententums beschränkt“)13. Vor allem stört ihn wohl, dass er unter seinen Corpsbrüdern kaum jemand mit Verständnis für seine dichterischen Ambitionen findet („Wieder den ganzen Tag mit stumpfen Leuten zusammen“14). Diesen Ambitionen geht Heym auch in der Zeit seines Studiums intensiv nach, er schreibt Dramen, Gedichte und ein zweites Tagebuch. 1907 werden sie mit einem ersten Erfolg gekrönt: In Memminger’s Buchdruckerei und Verlagsanstalt in Würzburg erscheint unter dem Titel „Athener Ausfahrt“ der erste Akt seines Dramas „Der Feldzug nach Sizilien“ im Druck. Einer von Heyms Corpsbrüdern, dem der Dichter ein signiertes Exemplar der gedruckten Erstausgabe überreicht hat, erinnert sich noch fast fünfzig Jahre später an den Eindruck, den der Gesang der Matrosen der Athener Flotte bei Ausfahrt aus dem Hafen auf ihn gemacht hat: „Die Winde sind günstig, sie schwellen die Segel. Die Wogen, sie spielen verlockend am Bord. Uns weisen des Meeres hellschwingige Vögel Nach Westen den Pfad aus dem heimischen Port.“15
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Vgl. zum Ganzen Zeittafel, in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 7 ff., 8. Vgl. die Berichte der Corpsbrüder in: Schneider/Burkhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 50 ff., insb. 50 f., 56, 59. G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 89, 112 (Tagebucheinträge vom 30. Mai 1907 und 22. Juni 1908). G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 97 (Tagebucheintrag vom 16. Oktober 1907). Ulrich Windels, in: Schneider/Burkhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 59 ff., 60. Windels hält die Verse irrtümlich für den Beginn des Dramas und zitiert – wohl aus dem Gedächtnis z. T. ungenau; der oben wiedergegebene Text folgt der Ausgabe G. Heym. Dichtungen und Schriften, Bd. 2. Prosa und Dramen, S. 188 ff., 224.
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Vom juristischen Studium ist demgegenüber kaum die Rede, wenn man einmal von dem Stoßseufzer zwei Monate nach der Immatrikulation in Würzburg absieht „Wo ich doch niemals ein stumpfsinniger Jurist werden will, warum schinde ich mich noch?“16. Ein anderer Corpsbruder berichtet denn auch, dass Heym in Würzburg „bestimmt nicht viel an der Universität – ‚gearbeitet’“ hat und wundert sich später, dass Heym später sehr rasch sein Examen bestand. („Er muß ja wirklich eminent begabt gewesen sein, daß er so das Examen aus dem Ärmel schüttelte.“17) Nach drei Semestern ist die Studienzeit in Würzburg zu Ende: Heym geht zurück nach Berlin, wo er vom Wintersemester 1908/09 an zusammen mit Rudolf Balcke, dem Bruder seines Freundes Ernst Balcke, das Jurastudium fortsetzt, und scheidet aus dem Corps aus – ob aufgrund eigenen Entschlusses („Ich habe endlich meinen Austritt aus dem Korps genommen“18), ob deswegen, weil er „nach Meinung des gestrengen Herrn Papa in Würzburg zu viel Geld ausgegeben hatte“19 oder weil er wegen mangelnden Benimms „aus dem Corps hinausflog“20, wird sich heute wohl nicht mehr mit Gewissheit klären lassen. Auch in Berlin studiert Heym drei Semester. Von Studienbemühungen ist auch jetzt kaum die Rede. Immerhin erwähnt Rudolf Balcke, dass er und Heym zusammen in Berlin viele „Vorlesungen und juristische Führungen“ besucht haben. Balcke berichtet, dass aus den Besichtigungen dieser Zeit Heym „vor allem die Eindrücke, die er in den Strafanstalten und dem Leichenschauhaus erhielt, nicht mehr losgelassen“ haben, und sieht in dessen Gedichten „über die Gefangenen, Irren, Selbstmörder, Ertrunkenen u. s. w. […] unmittelbare Auswirkungen des von ihm damals Erblickten“21. Intensiv widmet sich Heym nach wie vor seinen literarischen Aktivitäten: Er schreibt weiter Gedichte und Dramen und führt ein drittes Tagebuch. Zunehmend gewinnt Heym in diesen Jahren auch persönliche Kontakte zu literarischen Kreisen: 1909 trifft er den damals berühmten Journalisten Maximilian Harden und überreicht ihm sein Drama „Der Feldzug nach Sizilien“, das dieser wenig später sehr positiv beurteilt. Im Frühjahr 1910 sucht Heym den Gründer der „Neuen Bühne“, Wilhelm Simon Guttmann, auf und trägt ihm sein Sonett „Berlin I“ vor. Guttmann ist begeistert und führt Heym in den ein Jahr zuvor gegründeten „Neuen Club“ ein, einen der vielen damals wie Pilze aus dem Boden schießenden literarischen Zirkel, der sich um ein neuartiges Pathos bemüht und in dem Literaten wie Kurt Hiller – auch dieser ein Dichterjurist22 , Ernst Loewenson, Jakob van Hoddis und John Wolfsohn verkehren; Attraktion des Clubs ist das unter seiner Ägide im Nollendorf-Kasino in der Berliner Kleiststraße veranstaltete „Neopathetische 16 17
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G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 89 (Tagebucheintrag vom 30. Mai 1907). Anonymus, Erinnerungen an Georg Heym, in: Schneider/Burkhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 50 ff., 52. G. Heym Dichtungen Bd. 3, S. 120 (Tagebucheintrag vom 2. November 1908). Fritz Nachreiner, Georg Heym in Würzburg, in: Schneider/Burkhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 55 ff. (56, 58). Anonymus, Erinnerungen an Georg Heym, S. 51. Balcke, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 39 ff., 40 f. Zu Kurt Hiller als Jurist s. Wambach, Dichterjuristen, S. 59 ff., 308 ff.
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Cabaret“. Hier tritt Heym am 6. Juli 1910 mit eigenen Gedichten erstmals öffentlich auf; sein Auftritt wird in mehreren Zeitungen besprochen23. Es folgen weitere Lesungen an derselben Stelle und Gedichtabdrucke in verschiedenen Zeitschriften. Am 30. November 1910 fordert der Verleger Ernst Rowohlt in Leipzig Heym zur Einsendung von Manuskripten auf24. III. Das erste Staatsexamen Unausweichlich nähert sich in derselben Zeit das juristische Examen. Anfang 1910 bleibt Rudolf Balcke und Georg Heym nichts mehr übrig, als sich mit den Examensanforderungen zu beschäftigen. Balcke berichtet: „Wir überprüften unsere Kenntnisse durch Besuche der Prüfungen beim Kammergericht und mußten ein erstaunliches Wissensmanko feststellen. Wir waren der Überzeugung, daß beim Kammergericht in Berlin von uns Unmögliches verlangt wurde und beschlossen, unser Examen außerhalb abzulegen. Wir entschieden uns für das Oberlandesgericht Naumburg, wofür allerdings ein zweisemestriges Studium in Jena Voraussetzung war. April 1910 fuhren wir dorthin. Dort trafen wir Freunde und Bekannte, die einer losen Vereinigung alter Korpsstudenten angehörten. Nach 2 Monaten war uns klar, daß in diesem fröhlichen Kreis eine erfolgversprechende Examensvorbereitung noch schwerer als in Berlin war. Kurz entschlossen verließen wir Jena und kehrten nach Berlin zurück.“25
Heym und Balcke sind also wieder in Berlin; sie müssen sich endgültig mit der Vorstellung eines Examens am Kammergericht vertraut machen und sich der Prüfungsvorbereitung widmen. Dazu besuchen sie einige Monate den Repetitor Dr. Gebhardt am Lützowufer26. Im September 1910 erhält Heym das Thema seiner Sechswochenarbeit („Die Reform der Städteordnung durch den Freiherrn vom Stein“)27. Sein Kommentar im Tagebuch: „Mit welcher Frechheit der verlauste preußische Staat mir eine juristische Arbeit gegeben hat, ist nicht zu sagen“28. Glaubt man dem Bericht von Rudolf Balcke, so wurde die Arbeit „mit Hilfe befreundeter Juristen erfolgreich abgeschlossen“29; einige Blätter von ihr haben sich (bezeichnenderweise als Konzeptblätter für Gedichtentwürfe auf der Rückseite) im Nachlass Heyms in der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek erhalten30. 23
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Zum „Neuen Club“ und seiner Rolle für die dichterische Entwicklung Georg Heyms vgl. Seelig. Leben und Sterben, S. 221 ff.; Korte, Georg Heym, S. 23 ff. Vgl. zu den biographischen Angaben im gesamten Absatz die Zeittafel, in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 7 ff., 9 ff. Balcke, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 39 ff., 41. Balcke, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 41. Zeittafel, in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 7 ff., 10. G. Heym, Dichtungen. Bd. 3, S. 144 (Tagebucheintrag vom 26. September 1910). Balcke, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 39 ff., 42. Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 114.
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Es folgt die Zeit des Lernens auf die Examensklausuren und das mündliche Examen. In sie fallen die bereits zitierten Invektiven Heyms gegen Juristen und Juristerei im Tagebuch31. Er verflucht noch einmal den „elende(n) preußische(n) Dreckstaat“, der ihn zu nichts kommen lässt, obwohl er „etwa 7-8 Gedichte liegen“ hat32 und schimpft unflätig auf die juristischen Autoren, mit denen er sich notgedrungen auseinandersetzen muss: „Ich habe mich jetzt so viel mit diesem elenden-gemeinen-hundsföttischen Juristendreck, diesen kleinen lausigen-Scheißkönigen der Wissenschaft: Scheißer N. N., Schwein N. N. etc abzugeben, daß mir das Speien ankommt.“33 „Ich habe eben mir mein Gedicht vorgelesen in einer goldwolkigen Landschaft, in der selbst die Bäume wie aus einem grün patinierten edlen Metall schienen. Jetzt trete ich vom Fenster zurück, Palmyra kriecht in einen Winkel, und ich schlage auf das Buch des elenden Scheißnotars und Arsch (...) N. N. in F. ... (S.) 8: Der Kaufmann Karl Schulze lebte von seiner Frau getrennt ... u. s. w.“34
Den drei Klausurarbeiten fühlt Heym sich mit gutem Grund allein nicht gewachsen. Da er nichtsdestoweniger das „elende Examen erschlagen“ will35, entschließt er sich erneut, sich fremder Hilfe zu bedienen. Dazu noch einmal Rudolf Balcke: „Heym war mit Recht der Auffassung, daß er diese Klippe allein nicht würde nehmen können. Er verstand es, von dem Examenszimmer aus Verbindung mit der Außenwelt aufzunehmen, die ihm dann die fertigen Ausarbeitungen wieder zuspielte. Das Risiko gelang. Seine schriftlichen Arbeiten wurden gut beurteilt, so daß seine wenigen und meist fehlerhaften Antworten bei der mündlichen Prüfung seiner Erregung zugeschrieben wurden.“36
Nähere Einzelheiten zu Heyms „Verbindung mit der Außenwelt“ überliefert Ernst Loewenson: „Zu Behuf seiner Klausur-Arbeit im Referendar-Examen mietete er in der Nähe des Prüfungslokals ein Zimmer; dort harrten mit ihren Büchern vier gewiegte juristische Freunde. Sein Thema warf er in einer Glühstrumpfhülse aus dem Hochparterre-Fenster herab; später die Ausarbeitung empfing er in einer Tüte in Birnen.“37
Mit handgeschriebenem Brief vom 21. Januar 1911 übersendet der Stellvertretende Vorsitzende der Kommission für die Erste Juristische Staatsprüfung beim 31
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G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 130 (Tagebucheinträge vom 3. bzw. 22. September 1909), 152 (Tagebucheintrag vom 29. November 1910). G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 146 (Tagebucheintrag vom 22. Oktober 1910). G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 145 (Tagebucheintrag vom 19. Oktober 1910). G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 148 (Tagebucheintrag vom 3. November 1910). G. Heym, Brief an Lily F. (Lily Friedeberg) in Hamburg vom 31. 10. 1910, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 501 f., 502. Balcke, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 39 ff., 42. Erwin Loewenson, Georg Heym oder Vom Geist des Schicksals, Hamburg 1962, S. 10 f.
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Kammergericht Georg Heym das Zeugnis über das bestandene Examen38. Dieser feiert den Erfolg mit Freunden in der damaligen Wohnung seiner Eltern in der Neuen Kantstraße 12 in Charlottenburg. Zum Abschluss macht Heym auf dem gegenüberliegenden Grundstück ein Feuer. Balduin Möllhausen mit dem Heym seit 1909 befreundet war berichtet, dass sie zusammen „dickwandige Pandekten“ aus Heyms „Stube holten, um sie an den Ufern des Lietzensees zum Entsetzen amtsbeflissener Polizisten in Glut und Rauch aufgehen zu lassen“. Darüber hinaus verbrennt Georg Heym auch seine juristischen Aufzeichnungen und Mitschriften. Er hebt aber alles auf, was Entwürfe und Notizen zu seinen Dichtungen enthält. Auch die freien Seiten des Briefs der Prüfungskommission benutzt er für Notizen, Entwürfe zu Prosaskizzen und für das Gedicht „Die blinden Frauen“39. IV. Die Referendarzeit Wenige Tage später, am 27. Januar 1911, fährt Heym zu Ernst Rowohlt nach Leipzig. Ergebnis ist der Vertrag über einen Gedichtband, der schon im April unter dem Titel „Der ewige Tag“ auf den Markt kommt; Heym hält das erste Exemplar am 20. April 1911 in Händen, nachdem er das Erscheinen des Buchs im März und April in immer neuen Briefen bei Rowohlt angemahnt hat40. Parallel dazu meldet sich Heym zum juristischen Vorbereitungsdienst. Mit Verfügung des Präsidenten des Kammergerichts vom 8. Februar 1911 wird er für die erste Amtsgerichtsstation dem Amtsgericht in Groß-Lichterfelde bei Berlin zugewiesen41. Heyms gestörtes Verhältnis zur Jurisprudenz ändert sich dadurch nicht. Schon nach einem Vierteljahr muss er das Amtsgericht denn auch fluchtartig verlassen – warum, berichtet noch einmal Rudolf Balcke: „Der Grund war folgender: Heym hatte eine Grundbuchsache zur Erledigung erhalten. Da er damit nicht zurecht kam, entschloß er sich, die Akten zu vernichten. Eines Tages funktionierte die Wasserspülung im Amtsgericht nicht mehr. Die Installateure fanden bald die Ursache. Heym hatte die Grundbuchakten kurzerhand der Toilette übergeben. […] Nur dem Einwirken seines Vaters hat es Heym damals zu verdanken gehabt, daß seine unüberlegte Affekthandlung ihm nicht die Entlassung eingebracht hat.“42 38 39
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Der Brief ist abgedruckt in: G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 234 f. Vgl. zum Ganzen die Darstellung in Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 115 (dort auch die Zitate); speziell zu Balduin Möllhausen noch den Hinweis bei Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 585 (Erläuterung zu S. 284). Brief vom 20. April 1911, abgedr. in: G. Heym. Dichtungen, Bd. 3, S. 248 ff.; Abdruck der Mahnbriefe in: G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 240 ff. (Briefe vom 10., 13., 14., 15., 24. und 25. März, von Anfang April [zwei Briefe], und vom 14. April 1911). Der Inhalt der Verfügung vom 8. Februar ergibt sich aus der späteren Verfügung des Kammergerichtspräsidenten vom 18. Juli 1911, abgedr. in: G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 257. Balcke, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 42. – Heyms eigene literarische Verarbeitung der Geschichte in Teil IV 4 seines Gedichtzyklus „Das Grundbuchamt“ (dazu unten unter D. II.) könnte die Vermutung nahe legen, dass Heym die Akte
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Heym erhält also noch einmal eine Chance. Zuvor muss er allerdings einen Canossa-Gang antreten und beim Kammergericht (das damals noch nicht in seinem erst 1913 bezogenen neuen Amtsgebäude an der Elßholzstraße residierte) um seine Beschäftigung an anderer Stelle bitten. In einem Brief an seine damalige Freundin Hildegard Krohn vom 14. Juli 1911 schildert Heym seinen Besuch im Gericht: „Gestern war ich auf dem Kammergericht, wo ich einem Schwein von Kammergerichtsrat (das mich anglotzte wie ein Ölgötze und mir nicht mal einen Stuhl anbot) meinen Wunsch demütig vorbetete, daß ich vom 10. 8. – 1. 10. in einem kleinen Gericht beschäftigt werden wollte. Wenn ich in so ein Gerichtsgebäude trete, habe ich immer ein schreckliches Gefühl meiner menschlichen Niedrigkeit und Unwürdigkeit. Die ganze Atmosphäre eines Gerichts hat etwas so Großartiges und Majestätisches, daß ich mir immer schrecklich deplaziert vorkomme. Die Leute, die da rumlaufen in Talaren etc. sehen immer aus wie wandelnde §§. Es ist, als wenn der Gott der Justiz, den ich mir wie einen alten Kammergerichtspräsidenten denke, seine Diener mit einem Teil seiner Göttlichkeit bekleidet hätte. Ein Beweis meiner Theorie, daß der Beruf das Gesicht formt.“43
Heyms Antrag hat nichtsdestoweniger Erfolg: Mit einer neuen Verfügung des Kammergerichtspräsidenten vom 18. Juli 1911 wird er für den Rest der ersten Amtsgerichtsstation nunmehr dem Amtsgericht in Wusterhausen an der Dosse zugewiesen44; seinen Dienst dort hat er am 10. August 1911 anzutreten. Der Vorbereitungsdienst in Wusterhausen währt freilich noch kürzer als der in GroßLichterfelde: Am 21. August lässt Heym sich vom aufsichtsführenden Richter des Amtsgerichts beurlauben – schon damals in der Absicht, nie wieder zur Jurisprudenz zurückzukehren („Nachdem ich eben zum letzten Mal den Referendarstalar angehabt habe und mich nun in der Freiheit meines Individuums sonne“, teilt er noch am selben Tag seinem Freund Erwin Loewenson mit45). In dem Gedicht „Personalia des Referendars Heym“ schreibt er sich selbst ein lyrisches Abgangszeugnis: „Ich hatte mit diesem jungen Mann keine frohe Stunde. Fortwährend schlief er und fing Fliegen mit offenem Munde. Er war faul in der Gerichtsschreiberei. Kurz, ich hatte mit ihm eine schreckliche Quälerei […]“46
Bemühungen (auch seines Vaters) um eine Stelle als Fahnenjunker scheitern. So beginnt er Mitte Oktober an der Berliner Universität die Ausbildung zum Kaiserlichen Dolmetscherdienst47.
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nicht in der Toilette, sondern nur in einem für ihre Aufbewahrung nicht bestimmten Schrank hat verschwinden lassen. Brief vom 14. Juli 1911, abgedr. in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 509 ff., 510. Die Verfügung ist abgedr. in: G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 257. Brief vom 21. August 1911, abgedr. in: G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 262. G. Heym, Dichtungen, Bd. 1, Lyrik, 1964, S. 319.
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Georg Heyms Hass auf die Juristerei hindert ihn nicht, sich um eine juristische Promotion zu bemühen. Bereits im Sommer 1911 reicht er bei der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Würzburg eine Dissertation ein (nach Überlieferung aus dem Freundeskreis handelt es sich um eine überarbeitete Fassung der Hausarbeit aus dem ersten Staatsexamen)48. Er erhält eine (freilich vorläufige) Absage: Die Fakultät hat beschlossen – so das Schreiben des Dekans vom 7. Juli 1911 „die von Ihnen eingereichte Abhandlung in der vorliegenden Form“ nicht anzunehmen, da „dieselbe den Anforderungen nicht entspricht“49. Das Schreiben fährt fort: „Nach Angabe des Referenten enthält die Arbeit so viele Schreibfehler und Mängel im Satzbau, daß erkennbar ist, daß die Arbeit nach Abschrift einer Durchsicht nicht unterzogen wurde. Zum Zwecke der Überarbeitung erhalten Sie die Arbeit zurück, wozu Ihnen die Fakultät eine Frist von 3 Monaten stellt.“50
Heym verzichtet auf einen weiteren Versuch in Würzburg. Er soll stattdessen Ende 1911 in Rostock promoviert worden sein, das „damals die bescheidensten Examensansprüche stellte“51; mitunter ist auch von einer Promotion in Greifswald die Rede52. Die Doktorarbeit konnte bis heute nicht nachgewiesen werden53; im Verzeichnis der an den deutschen Universitäten erschienenen Schriften 1911-1914 ist sie nicht enthalten54. Auf der anderen Seite steht fest, dass Georg Heym am 26. Dezember 1911 einen Brief an Ernst Rowohlt mit „Dr. Heym“ unterzeichnet, dass er diesen wenig später, Anfang Januar 1912, in einem weiteren Brief bittet „Bitte lassen Sie den ‚Doktor’ Titel fort. Mir ist er schon wieder unangenehm“55 und dass
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Vgl. zum Ganzen die Zeittafel in Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 7 ff., 11 ff. Vgl. dazu schon Helmut Greulich, Georg Heym (1887-1912). Leben und Werk, Berlin 1931 (Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1967), S. 37 Anm. 42; C. Seelig, Leben und Sterben, S. 213. Das Schreiben der Fakultät ist abgedr. in: G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 256 f. Vgl. den Abdruck, in: G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 256 f. Seelig, Leben und Sterben, S. 212 f. Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 117. Greulich, Georg Heym, S. 37 Anm. 42; Seelig, Leben und Sterben, S. 212 f.; Korte, Georg Heym, S. 19; Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 117; auch Wambach, Dichterjuristen, S. 36 ff., der dort die Dissertationen der Dichterjuristen des Expressionismus minutiös nachgewiesen hat, bringt zu Heym keine Angaben. Darauf wird bereits bei Greulich, Georg Heym, S. 37 Anm. 42, hingewiesen. G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 285, 286 (Briefe vom 26. Dezember 1911 bzw. 7. Januar 1912). – Hierauf weist auch Wambach, Dichterjuristen, S. 305, hin, schließt daraus aber, dass Heym wohl doch noch den erfolgreichen zweiten Versuch einer Promotion in Würzburg gemacht hat.
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auch die Meldungen der Berliner Zeitungen über seinen Tod im Eis der Havel durchweg von dem „Referendar Dr. Georg Heym“ sprechen56. Das Jahr 1911 ist gleichzeitig der Höhepunkt im literarischen Schaffen Georg Heyms. In ihm entsteht ein Großteil seiner bis heute berühmten Gedichte. Genannt seien hier nur „Der Krieg“ , „Die Menschen stehen vorwärts in den Straßen“ und die letzte Fassung von „Die Morgue“ – ein unvergessliches Bild seiner Eindrücke aus dem Leichenschauhaus: „Die Wärter schleichen auf den Sohlen leise, Wo durch das Tuch es weiß von Schädeln blinkt. Wir, Tote, sammeln uns zur letzten Reise Durch Wüsten weit und Meer und Winterwind ... Mit Kerzen sind wir lächerlich umsteckt, Wir, die man früh aus dumpfen Winkeln zog Noch grunzend, unsere Brust schon blau gefleckt, Die nachts der Totenvogel überflog.“ 57
Für Rowohlt stellt Heym einen Novellenband „Der Dieb“ zusammen, der allerdings erst Anfang Februar 1913 posthum in dessen Verlag in Leipzig veröffentlicht wird. Andere Publikationsvorhaben scheitern; so lehnt der S. Fischer Verlag in Berlin Heyms schon erwähnte Tragödie „Der Feldzug in Sizilien“ ab. Nach wie vor betätigt dieser sich auch auf literarischen Vortragsabenden, so wieder im „Neopathetischen Cabaret“, aber auch in dem nach einem Streit im Neuen Club von einigen Mitgliedern neu gegründeten literarischen „Cabaret Gnu“. Im November und Dezember 1911 besucht er München, kommt im Künstlerlokal „Simpl“ in Kontakt mit dortigen Literatenkreisen und lernt unter anderen Emmy Hennings (damals „feurig-wilde Chansonnière“58 in Literatencafés in Berlin und München und später Gefährtin und Frau des Mitbegründers des Dadaismus Hugo Ball) und den Dichter Kurt Otten kennen59.
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Die Meldungen (vom 18., 19. und 21. Januar 1912) sind abgedr. bei Hans Peter Renz, Bericht vom Tode Georg Heyms, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 455 ff., 461 ff. G. Heym, Dichtungen, Bd. 1, S. 474. Seelig, Leben und Sterben, S. 229; zu den Erinnerungen Emmy Ball-Hennings’ an Heym vgl. ihren Brief an Carl Seelig vom 6. Februar 1946, in: Mitteilungen über Georg Heym aus seinem Freundskreise. Gesammelt von Carl Seelig, abgedruckt in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 85 ff., 89 f. Zu Emmy Ball-Hennings vgl. aus neuerer Zeit die Biographie von René Gass, Emmy Ball-Hennings. Wege und Umwege zum Paradies, Zürich 1998. Vgl. zum Ganzen die Zeittafel in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 7 ff., 11 ff.
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V. Tod in der Havel Nur wenige Wochen später wird die Laufbahn Georg Heyms brüsk abgebrochen. Anfang Januar 1912 bewirbt er sich bei einem persönlichen Besuch in Metz noch einmal um eine Stelle als Fahnenjunker; der – positive – Bescheid kommt erst nach seinem Tod in Berlin an. Dorthin zurückgekehrt, trägt Heym am 15. Januar sein letztes Gedicht „Die Messe“ in sein Gedichtbuch ein60. Noch am selben Abend trifft er sich mit Freunden, darunter Ernst Balcke, und verabredet mit ihnen für den nächsten Tag eine Schlittschuhpartie auf der Havel zwischen Spandau und Potsdam. Zur verabredeten Zeit ist nur Ernst Balcke am Treffpunkt zur Stelle. Als am Abend keiner von beiden nach Hause zurückkehrt, begibt sich Ernsts Bruder Rudolf zusammen mit seinem Freund Hans Thomas auf die Suche. Erst am folgenden Tage haben ihre Nachforschungen Erfolg: Sie finden am Nachmittag des 17. Januar auf dem Eis die halbverschneiten Handschuhe und die Mütze Georg Heyms und einen Eisstock, den sich Ernst Balcke für den Ausflug bei Thomas ausgeliehen hatte, und wenig später die Einbruchstelle etwa 1000 Meter unterhalb der Insel Lindwerder, fast in der Mitte zwischen Lindwerder und Schwanenwerder. Auf dem Heimweg treffen sie im Grunewald auf eine Gruppe Waldarbeiter, die berichten, sie hätten in den Nachmittagsstunden des Vortags das Einbrechen der zwei Schlittschuhläufer bemerkt und noch fast eine halbe Stunde lang gellende Hilferufe eines der beiden gehört, aber nicht helfen können. Erst einige Tage später, am 20. Januar 1912, einem Sonnabend, wird ganz in der Nähe der Einbruchstelle die Leiche Georg Heyms gefunden. Ernst Balckes Leiche wird nochmals zwei Wochen später, am 5. Februar, aus dem Wasser geborgen61. Der schon erwähnte Balduin Möllhausen berichtet unter dem frischen Eindruck der Ereignisse: „Die zwischen Spandau und Potsdam schon recht breite Havel war damals ganz zugefroren […] Nun hat aber die Havel für den Eissportler tückische, warme Strömungen sowie Fahrrinnen, die durch die Schiffahrt solange wie möglich offen gehalten werden und nachts wieder leicht überfrieren. Ungefähr 200 bis 300 Meter vom Ufer ist Ernst Balcke eingebrochen. Er muß durch Aufschlagen des Kopfes auf das Eis, wie eine Kopfwunde später zeigte, sofort betäubt oder zum mindesten so benommen gewesen sein, daß er wehrlos sofort unter das Eis geriet und einen verhältnismäßig leichten Tod fand. Anders Heym! Er wird das Verschwinden oder gar Versinken Ernst Balckes bemerkt haben und wollte ihm zur Hilfe eilen. Ungefähr 150 Meter von der Einbruchsstelle entfernt, ereilte auch ihn das Schicksal. Er brach ebenfalls ein und muß dann noch bis zu einer halben Stunde um sein Leben gekämpft haben: sein Brüllen hat man
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Vgl. auch zu den letzten Tagen Heyms im Jahre 1912 die Zeittafel, in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 13. Vgl. zum Ganzen Renz, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 455 ff.; Seelig, Leben und Sterben, S. 235 f.; Zeittafel, in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 13; s. ferner noch Greulich, Georg Heym, S. 39 f., der allerdings – abweichend von allen anderen Berichten und deswegen sicher unzutreffend – berichtet, die Leichen beider Freunde seien bereits am 20. Januar gefunden worden.
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vernommen – das Eis brach ihm weiter unter seinen Armen weg. Schließlich erstarrte er […] und versank.“62
Georg Heym wird in der kleinen Leichenhalle des Selbstmörderfriedhofs Schildhorn im Grunewald aufgebahrt. Hier findet er – so schon Heyms erster Biograph Helmut Greulich – „eine Umgebung, wie er sie in seinen grausigsten Visionen geschaut hatte: die ‚Morgue’ war versammelt: ein im Dienste umgekommener Eisenbahner, schrecklich verstümmelt; Selbstmörder, eine in einem Eisblock eingefrorene Gestalt, die durch das Eis vollkommen konserviert war, nur der Kopf ragte heraus und war von den Ratten vollständig abgenagt worden.“63 Geradezu prophetisch muten an diesem Ort Verse Heyms aus dem bereits zitierten Gedicht „Die Morgue“ an – Verse, auf die auch Greulich in seinem zitierten Text anspielt: „Wir, Namenlose, arme Unbekannte, In leeren Kellern starben wir allein. Was ruft ihr uns, da unser Licht verbrannte, Was stört ihr unser frohes Stell-Dich-Ein? Seht den dort, der ein graues Lachen stimmt Auf dem zerfallnen Munde fröhlich an, Der auf die Brust die lange Zunge krümmt, Er lacht euch aus, der große Pelikan. Er wird euch beißen. Viele Wochen war Er Gast bei Fischen. Riecht doch, wie er stinkt. Seht, eine Schnecke wohnt ihm noch im Haar, Die spöttisch Euch mit kleinem Fühler winkt.“64
Wenige Tage später, am 24. Januar 1912, wird Georg Heym auf dem Friedhof der Luisenkirchen-Gemeinde am Fürstenbrunner Weg in Charlottenburg beigesetzt. In seinem Beileidsschreiben an den Vater würdigt der Kammergerichtspräsident in besonderer Weise, dass Heym den Tod als „Helfer für seinen Freund in Todesnot“ gefunden hat65. Auf den Grabstein lassen die Eltern das Prophetenwort setzen „Ich habe Dich je und je geliebet, darum habe ich Dich zu mir gezogen aus lauter Gü62
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Ungedrucktes Manuskript, zitiert nach Greulich, Georg Heym, S. 39; im Wesentlichen übereinstimmend Seelig, Leben und Sterben, S. 234 ff.; dass diese Berichte den Tatsachen entsprechen, bestätigt auch Balcke, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 39 ff., 43. Greulich, Georg Heym, S. 39 f.; die Angabe dort, nach der Heym „in eine kleine Leichenhalle in der Nähe des Selbstmörderfriedhofs bei Kohlhasenbrück“ überführt worden sein soll, dürfte auf einem Irrtum beruhen. Wie hier die Zeittafel in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 13. Ähnliche, aber in den Einzelheiten abweichende Schilderungen, die beide auf Berichten von Rudolf Balckes Freund Hans Thomas über seinen Besuch in der Leichenhalle beruhen, bei Seelig, Leben und Sterben, S. 236, und Renz, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 455 ff., 467 f. G. Heym, Dichtungen, Bd. 1, S. 475. Greulich, Georg Heym, S. 40.
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te“ (Jer. 31, 3).66 Der Grabstein ist längst verschwunden, das Grab wurde 1942 von der Friedhofsverwaltung nach Ablauf der Liegefrist eingeebnet, weil sich nach dem frühen Tod der Eltern und der Schwester Georg Heyms der Vater und die Schwester sind 1920, die Mutter 1923 gestorben niemand mehr um das Grab kümmert67. VI. Nachruhm In den Jahren danach wächst der Ruhm Georg Heyms schnell. Wenige Tage nach seinem Tod, am 5. Februar 1912, erscheint in der Beilage „Zeitgeist“ des „Berliner Tageblatts“ ein Vorabdruck seiner Novelle „Der fünfte Oktober“. Die Freunde widmen ihm den neunten und letzten Abend des „Neopathetischen Cabarets“ am 3. April 1912 und geben im Rowohlt-Verlag einen Nachlassband mit Gedichten heraus („Umbra vitae“, 1912). 1913 erscheint im selben Verlag – wie bereits erwähnt – der noch von Heym selbst zusammengestellte Novellenband „Der Dieb“. Viele seiner Gedichte werden in bedeutende Editionen aufgenommen; genannt seien nur Kurt Hillers Anthologie „Der Kondor“ (1912), die allein Heym gewidmete Sondernummer von Franz Pfemferts „Aktion“ (1913) und die von Kurt Pinthus herausgegebene, nach wie vor unübertroffene Sammlung expressionistischer Lyrik „Menschheitsdämmerung“ (1919). Maler, so Ludwig Meidner, Ernst Heckel und später auch Ernst Rudolf Kirchner lassen sich von Gedichten Heyms anregen68. 1922 erscheint im Verlag Kurt Wolff in München die von Ernst Loewenson und Kurt Pinthus besorgte Ausgabe „Dichtungen“, die nochmals 48 bis dahin unveröffentlichte Gedichte aus dem Nachlass enthält, darunter das vielleicht populärste Gedicht Georg Heyms „Letzte Wache“ – erstaunliche Abschiedsverse eines 24jährigen, die die erste vollständige, nach dem zweiten Weltkrieg (1947 in Zürich) erschienene, von Carl Seelig betreute Sammlung von Heyms Gedichten abschließen: „Wie dunkel sind deine Schläfen. Und deine Hände so schwer. Bist du schon weit von dannen, Und hörst mich nicht mehr. Unter dem flackenden Lichte Bist du so traurig und alt, 66
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Vgl. Renz, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 455 ff., 470, und Seelig, Leben und Sterben, S. 237, der auf den Wunsch Georg Heyms im Tagebuch hinweist, daß weder „Name noch Datum noch irgendein Spruch auf dem Stein stehen möge – nichts als die beiden Worte ‚ER RUHT’“. Renz, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 472; zu den Todestagen der Familienmitglieder vgl. o. in Anm. 5. Vgl. zu alledem die Angaben in der Zeittafel, in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 13 ff.
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Und deine Lippen sind grausam In ewiger Starre gekrallt …“.69
Von 1960 bis 1968 schließlich gibt Karl Ludwig Schneider in München die bis heute maßgebliche vierbändige Gesamtausgabe von Heyms Dichtungen und Schriften heraus70.
C. Ein Generationsproblem: Der Aufstand gegen die Autoritäten und der Vater-Sohn-Konflikt Eines ist bisher ausgeklammert geblieben: die Konflikte Heyms mit den überkommenen Autoritäten, stellvertretend mit dem sie repräsentierenden Elternhaus, insbesondere mit dem von juristischer Tätigkeit in maßgeblicher Position geprägten Vater: Georg Heym – Jahrgang 1887 ist hineingeboren in die spätwilhelminische Epoche vor dem ersten Weltkrieg und damit in eine Jugend, die in weiten Teilen bestimmt wird durch Schwierigkeiten der jungen Menschen, sich „in der differenzierten bürgerlichen Gesellschaft und ihren vielfach nicht einsichtigen Normen zurechtzufinden“, und dadurch in vielfältige Konfrontationen mit deren Institutionen, mit Elternhaus, Schule, Berufswelt, gerät71. Ablehnung aller Autoritäten und allen Zwangs, Konflikte mit Lehrern und Elternhaus, insbesondere Vater-SohnKonflikte, aber auch Selbstmordgedanken und Selbstmordversuche sind vielfach die Folge72. Die Biographie Heyms, seine (zum Teil tatsächlichen, zum Teil auch nur im Tagebuch ausgetragenen) Fehden mit Schule, Eltern, Corps und dem juristischen Beruf sind also keine Ausnahme, sondern in vielem generationstypisch. 69
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G. Heym, Dichtungen, Bd. 1, S. 342 (mit zwei älteren Fassungen S. 340 und 314); in der Ausgabe von Seelig findet sich das Gedicht auf S. 198. Georg Heym, Dichtungen und Schriften, hrsgg. v. Karl Ludwig Schneider. Bd. 1. Lyrik, 1964; Bd. 2. Prosa und Dramen, 1962; Bd. 3. Tagebücher, Träume und Briefe, 1960; Bd. 4. Dokumente zu seinem Leben und Werk, 1968 (alle ursprünglich Ellermann Verlag, Hamburg, jetzt Verlag C. H. Beck, München). Eine differenzierende Darstellung dieser Konflikte (unter anderem auch am Beispiel Heyms) findet sich bei Peter Uwe Hohendahl, Das Bild der bürgerlichen Welt im expressionistischen Drama, Heidelberg 1967, S. 80 ff. (dort S. 80 auch das Zitat). Zu den einschlägigen Problemen in den Lebensläufen zweier Dichter der selben Generation – beide Söhne hoher Richter – vgl. den Vortrag von Hermann Weber zum Thema „Johannes R. Becher und Hans Fallada – zwei ‚missratene’ Juristensöhne und die Verarbeitung des Konflikts mit der Welt ihrer Väter in ihrem Werk“ auf der Tagung „Literatur und Recht“ im Nordkolleg in Rendsburg vom 17. bis 19. Oktober 2003 und dazu die Berichte von Christiane Prause, Tagung „Literatur und Recht“ im Nordkolleg Rendsburg vom 17. bis 19. 10. 2003, in: NJW Heft 49/2003, S. XVIII ff., XX, und Anja Schiemann, Tagung Literatur und Recht – Rechtsfälle in der Literatur oder Recht als Literatur, in: NVwZ 2004, S. 448 ff., 449; die Veröffentlichung einer erweiterten Fassung des Vortrags als Buch im Berliner Wissenschafts-Verlag ist vorgesehen.
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Wie andere hat Georg Heym vor allem in seiner Schulzeit auch immer wieder mit Selbstmordgedanken gespielt73; „vom nahen Klosterfriedhof holte er einen Totenschädel, den er, mit Weinlaub umkränzt, als düsteres Memento mori in seinem Zimmer aufstellte“74. Noch zu Beginn der Würzburger Studentenzeit notiert er „Ja, fände ich ein Mädchen, daß (sic!) mit mir in den Tod ginge, ich bedächte mich nicht mehr. Ein Sonnenuntergang beschlösse zweier Menschen Tage“75. Für die gelegentlich geäußerte Annahme, beim Tod mit Ernst Balcke in der Havel habe er zusammen mit diesem „den Freitod gesucht und gefunden“76, gibt es allerdings keinerlei Anhaltspunkte. Im Einzelnen kann der Abgrenzung von Generationstypischem und Individuellem in der kurzen Lebensbahn Georg Heyms hier nicht nachgegangen werden. Eine Erörterung verdient aber gerade an dieser Stelle noch Heyms Verhältnis zu seinem Elternhaus, insbesondere zu seinem Vater, dem Militäranwalt. Wie erwähnt, ist der Vater-Sohn-Konflikt ein durchgängiger Topos der Generationskonflikte in der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg. In der Sicht der Söhne erscheinen die Väter als Teil der unerschütterlichen Macht der bürgerlichen Gesellschaft, als tyrannische Autoritäten, die von den Heranwachsenden nicht mehr akzeptierte Normen dieser Gesellschaft transportieren, in der Sicht der Väter die Söhne als Missratene und Verlorene77. Den wohl eindringlichsten literarischen Ausdruck hat diese Situation – aus der Sicht der Söhne – in Walter Hasenclevers Drama „Der Sohn“ (1914) gefunden. Heyms Tagebuch hat insbesondere Carl Seelig Anlass gegeben, auch dessen Verhältnis zum Elternhaus nahtlos aus einer solchen Sicht zu sehen, den Vater als einen „selbstgerechten, kleinherzigen Frömmler“, als „unmutiges Rädchen in der kaiserlichen Staatmaschinerie“ zu zeichnen, „der jeden revolutionären Geist- und Gefühlsausbruch gewalttätig zu unterdrücken versuchte“, und ihm einseitig auch die menschliche Schuld an dem Konflikt mit seinem Sohn zuzuschreiben78. Entscheidender Beleg hierfür ist immer wieder eine Notiz Georg Heyms wenige Monate vor seinem Tode: „Ich wäre einer der größten Dichter geworden, wenn ich nicht einen solchen schweinernen Vater gehabt hätte. In einer Zeit, wo mir verständige Pflege nötig war, mußte 73
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G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 48, 50, 58, 59, 71, 74 (Tagebucheinträge vom 8. und 25. Mai., 6. und 13. August, 18. Oktober und 11. November 1906); zu biographischen Bezügen Heyms zu Schülerselbstmorden in seiner Neu-Ruppiner Zeit vgl. Seelig, Leben und Sterben, S. 209. Seelig, Leben und Sterben, S. 204. G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 108 f. (Tagebucheintrag vom 21. Mai 1908). So unter Hinweis auf „Leute, die Heym näher standen“ U. Windels, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 59 ff., 60. Vgl. hierzu sehr differenziert Hohendahl, Bild der bürgerlichen Welt, S. 80 ff. Seelig, Leben und Sterben, S. 202 f.; ähnlich auch die Wertung des Vaters in der eher romanhaften Darstellung von Georg Schwarz, Georg Heym, Mühlacker 1963, S. 7 ff.; kritisch zu einer solchen Sicht Karl Ludwig Schneider, „Barrikaden. Welch ein Wort“. Zum Revolutionsmotiv bei Georg Heym, in: Karl Ludwig Schneider, Zerbrochene Formen. Wort und Bild im Expressionismus, Darmstadt 1967, S. 63 ff., 70 f.
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ich alle Kraft aufwenden, um diesen Schuft von mir fern zu halten. Wenn man mir nicht glaubt, so frage man meine Mutter nach meiner Jugend.“79
Mit Recht hat Karl Ludwig Schneider darauf hingewiesen, dass solche drastische Tagebuchnotizen, auch über Freunde, die bei Heym in vielfacher Form wiederkehren (so spricht er wenige Tage zuvor vom „Schwein Goethe“; erinnert sei auch an die zitierten Invektiven über Juristerei und Juristen), nicht ohne weiteres zum vollen Nennwert genommen werden dürfen80. Andere, freilich frühere Tagebuchnotizen Heyms sprechen denn auch eine deutlich differenziertere Sprache, etwa wenn er 1906 bei drohenden Schulschwierigkeiten notiert „Wie gern würde ich mit meinem Vater besser stehen, sehe ich doch, wie er um mich leidet, aber er kann nicht verstehen, daß ich, wenn ich mir nicht meinen Trotz gegen diese Kleinlichkeiten bewahre, zu Grunde gehen muß“81 oder im selben Jahr sich von seinen Eltern zwar verkannt fühlt, die ihn „für einen Taugenichts halten“, gleichzeitig aber schreibt „meiner Mutter jedoch danke ich für ihre Liebe, meinem Vater auch in seiner Art“82. Hermann Heym war denn auch keineswegs der finstere Autokrat und engherzige Familientyrann, als den ihn Carl Seelig schildert, sondern ein eher skrupulöser, zur Schwermut neigender, in vielem übersensibler Mann. In seiner Zeit als Staatsanwalt hatte er fast ein Jahr in einem Sanatorium zugebracht, weil es zu den Aufgaben seines Amtes gehörte, an der Vollstreckung von Todesurteilen mitzuwirken – eine Aufgabe, der Hermann Heym seelisch nicht gewachsen war. Erst die Beförderung zum Reichsmilitäranwalt beim Reichsmilitärgericht – einer reinen Revisionsinstanz – erlöste ihn von diesem Zwang83. Stark kirchlich gebunden und Corpsstudent wie später sein Sohn (Heidelberger Vandale)84 und damit fest in bürgerlichen Verhältnissen und Vorstellungen verankert , darüber hinaus ein „nüchterner Jurist, der mit Literatur und Kunst nicht viel anzufangen wußte“85,
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G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 171 (Tagebucheintrag vom 3. November 1911). Schneider, Barrikaden, S. 63 ff., 70; in der selben Richtung Rudolf Balcke in einem Brief an Karl Ludwig Schneider vom 26. November 1957, auszugsweise abgedruckt in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 27. G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 49 f. (Tagebucheintrag vom 25. Mai 1906). G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 58 (Tagebucheintrag vom 8. August 1906). Balcke, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 39 ff., 39. Die Tagebücher Heyms bestätigen die Darstellung eines ungenannten Corpsbruders, nach der der Vater seinen Sohn nicht zu seinem eigenen Corps nach Heidelberg geschickt hatte, weil er befürchtete, daß es dort wegen des Verhaltens Georgs Schwierigkeiten geben würde (Anonymus, in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 50 ff., 52); sie zeigen gleichzeitig, dass Heym noch in der Zeit, in der er mit seinem Würzburger Corps bereits innerlich zerfallen (und später sogar aus ihm ausgeschieden) war, vermutete, daß er bei den Vandalen in Heidelberg glücklicher geworden wäre (G. Heym, Dichtungen, Bd. 3, S. 84 f., 125, 132, 160 [Tagebucheinträge vom 5. April 1907, 4. März und 8. Oktober 1909 sowie vom 2. September 1911]). Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 42.
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lebte er zwar „in einer anderen“ Welt als Georg Heym86, bemühte sich aber, wie Berichte von dessen Freunden bezeugen, nichtsdestoweniger immer wieder um Verständnis87: So schreibt etwa Rudolf Balcke: „Für einen Mann wie Heyms Vater mußte das Leben und die Wesensart seines Sohns unverständlich und für sein berufliches und menschliches Fortkommen gefährlich sein. Da offener Zwang und Vorschriften bei ihm nur Widerstand hervorrufen mußten, hat der Vater Heym sich sehr zurückgehalten und nur manchmal über meinen Bruder und mich versucht auf seinen Sohn Einfluß zu nehmen. Daß nicht nur Georg unter seinem Vater, sondern umgekehrt auch der Vater unter seinem Sohn zu leiden hatte, versteht sich von selbst...“88
Und: „Er (Georg Heym) hatte oft das richtige Gefühl, daß er es seinen Eltern wirklich nicht leicht gemacht hat. Vor allem sein Vater, ein korrekter, stark kirchlich gesinnter Mann, mußte unter dem sprunghaften, von Augenblickswünschen hin und her getriebenem Wesen seines Sohnes leiden. Er hat sich aber immer bemüht, seinem Sohn gerecht zu werden und zu verstehen. Letzteres war nicht leicht. Denn Georg Heym war sich ja selber ein Rätsel.89“
Und auch ein weiterer Freund, David Baumgardt, berichtet, dass Hermann Heyms „Widerstand gegen die revolutionäre Geistes- und Gefühlssprache des ‚Ewigen Tags’“ ihm „keineswegs so eisern vorkam wie dem Sohn“90 und dass der Vater „trotz der schweigsamen Zurückhaltung des preußischen Staatsbeamten 1912 fühlbar stolz auf seinen Sohn“ war91. Das alles bestätigt letztlich das Urteil Karl Ludwig Schneiders, nach dem „die beide Seiten belastende Spannung […] wohl nicht nur auf der charakterlichen 86
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David Baumgardt, Brief vom 28. April 1962 an Karl Ludwig Schneider, auszugsweise abgedruckt in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 43. Schneider, Barrikaden, S. 63 ff., 71; sehr kritisch gegenüber dem Vater aus dem Kreis der Freunde dagegen Erwin Loewenson, Brief an Carl Seelig vom April 1946 (der diesem wohl als eine entscheidende Quelle für seine negative Charakteristik des Vaters gedient hat), auszugsweise abgedruckt in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 92, 93 f.: „Unter dem (kleinen) Vater hat G. H. sehr gelitten […] Nach vielen Détails, die G. uns […] erzählt hat, muß dieser Vater einer der widerwärtigsten preußischen Beamtentypen gewesen sein und auch noch die Ehre seines hohen Ranges, die Prestige-Suggestion seines Milieus etc. zum Nachdruck seiner väterlichen Despotie eingesetzt haben“. Balcke, Brief an Karl Ludwig Schneider vom 26. November 1957 auszugsweise abgedruckt in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 27 f., 28. Balcke, Brief an Karl Ludwig Schneider vom 15. März 1958, auszugsweise abgedruckt in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 27. Baumgardt, Brief an Carl Seelig vom 10. Februar 1946, auszugsweise abgedruckt in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 42 f. Baumgardt, Brief an Carl Seelig vom 10. Februar 1946, auszugsweise abgedruckt in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 43.
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Fragwürdigkeit eines väterlichen ‚Despoten’, sondern vielmehr auf dem Generationengegensatz“ beruhte, „der so manchem expressionistischen Dichter zum schmerzlichen Erlebnis geworden ist und darum in dieser Zeit auch als literarisches Thema so oft Gestaltung fand“92. Dem entspricht auch das Charakterbild Georg Heyms, das Rudolf Balcke 1946 in einem Brief an Carl Seelig gezeichnet hat: „In dem langen Zusammenleben habe ich Heym genau kennengelernt. Er paßte nicht in die ihn umgebende bürgerliche Welt. Jeder Zwang, ob Kirche, Schule, Studentenverbindung, Beruf, lehnte er ab, in seinem Kampf gegen diese Gewalten beging er manche Dinge, die für andere völlig unbegreiflich waren. Er war überhaupt nicht mit dem üblichen bürgerlichen Maßstab zu vergleichen. Hemmungslos in seinen Wünschen und Begierden, sprunghaft in seinen Entschlüssen, trotz seiner geistigen Begabung in Dingen des praktischen Lebens oft kindlich naiv, bei aller Ablehnung gesellschaftlicher Bindungen doch wieder von dem Urteil, Lob und Tadel seiner Umgebung innerlich stark abhängig.“93
Hermann Heym hat es denn auch nicht unterlassen, nach dem Tod seines Sohnes den „provozierend unbürgerlichen“ Mitgliedern des Neuen Clubs auf dem Wege über David Baumgardt für die Freundschaft und Förderung zu danken, die sie Georg Heym zu seinen Lebzeiten gewährt hatten94. Auch bei der Veröffentlichung des Nachlasses, wegen der Ernst Rowohlt in wenig taktvoller Form bereits in einem Brief vom 22. Januar 1912, also noch vor der Beerdigung Georg Heyms, bei ihm vorstellig geworden war, hat sich Hermann Heym entgegen manchen Vorhaltungen in der Literatur im Ergebnis durchaus kooperativ verhalten95.
D. Juristen und Juristerei im Werk Georg Heyms I. Allgemeines zum Werk Es ist hier nicht der Ort, Werk und Wirkung Georg Heyms im Ganzen darzustellen oder zu würdigen. Am wirkmächtigsten sind auch heute noch seine Gedichte, die in suggestiven Bildern Visionen von Krieg, Revolution, dem Moloch Stadt, Krankheit, Irrsinn und Tod heraufbeschwören. Nur eine dieser Dichtungen, die 1911 unter dem Eindruck der Marokko-Krise geschriebene96 Vision „Der Krieg“, sei hier auszugsweise zitiert: 92 93
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Schneider, Barrikaden, S. 63 ff., 71. Balcke, Brief vom 3. September 1946 an Carl Seelig, in: Mitteilungen über Georg Heym aus seinem Freundeskreis. Gesammelt von Carl Seelig, abgedruckt in: Schneider/Burckhardt (Hrsg.), Dokumente, S. 85 ff., 91 f. Schneider, Barrikaden, S. 63 ff., 71. Vgl. dazu im Einzelnen die Darstellungen bei Schneider, Barrikaden, S. 63 ff., 68 ff., sowie in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 42 und 160 ff. Zeittafel, in: Georg Heym 1887-1912. Ausstellungskatalog, S. 7 ff., 12.
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Hermann Weber „Aufgestanden ist er, welcher lange schlief, Aufgestanden unten aus Gewölben tief. In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt, Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand ... Und die Flammen fressen brennend Wald um Wald, Gelbe Fledermäuse zackig in das Laub gekrallt. Seine Stange haut er wie ein Köhlerknecht In die Bäume, daß das Feuer brause recht. Eine große Stadt versank in gelbem Rauch, Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch. Aber riesig über glühnden Trümmern steht, Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht […]“97
Daneben stehen aber auch leisere Verse wie das berühmte, 1922 posthum publizierte (und oben bereits zitierte) Gedicht „Letzte Wache“. Heyms (nicht immer zu Recht) im Schatten seiner Lyrik stehendes novellistisches Werk und die (weniger bedeutsamen, meist Fragment gebliebenen) Dramen sind dagegen heute so gut wie vergessen. II. Spezielles zu Juristerei und Juristen Nicht unterschlagen werden darf hier nun allerdings, dass einige von Heyms lyrischen Produktionen sehr direkt Juristen und Juristerei gewidmet sind und noch einmal unmissverständlich seiner tiefen Abneigung gegen die juristische Profession und ihre unterschiedlichen Vertreter Ausdruck geben. Zu nennen ist hier zunächst das Gedicht „Die Professoren“, das unter dem Eindruck von Heyms Prüfungsbesuchen beim Kammergericht entstanden ist: „Zu vieren sitzen sie am grünen Tische, Verschanzt in seines Daches hohe Kanten. Kahlköpfig hocken sie auf den Folianten. Wie auf dem Aas die alten Tintenfische. Manchmal erscheinen Hände, die bedreckten Mit Tintenschwärze. Ihre Lippen fliegen Oft lautlos auf. Und ihre Zungen wiegen Wie rote Rüssel über den Pandekten. Sie scheinen manchmal ferne zu verschwinden, Wie Schatten in der weißgetünchten Wand. Dann klingen wie von weither ihre Stimmen. Doch plötzlich wächst ihr Maul. Ein weißer Sturm Von Geifer. Stille dann. Und auf dem Rand 97
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Wiegt sich der Paragraph, ein grüner Wurm.“ 98
Höhepunkt von Heyms Juristenlyrik (wenn auch sicher nicht durchweg ein literarisches Meisterwerk) aber ist der umfangreiche Zyklus „Das Grundbuchamt“ („Herrn Dr. Hiller zur Erbauung an stillen Sonntagen“), literarisches Produkt seiner – wie geschildert, wenig ruhmreich beendeten Referendarzeit beim Amtsgericht in Groß-Lichterfelde („O düstrer Aktenstaub im Amts-Gericht,/ Des dicker Rauch die alte Decke schwärzt,/ Und der erstickt das graue Morgenlicht“). In dem Zyklus schildert Heym seine Tätigkeit dort, aber auch das Personal des Amtsgerichts in durchaus nicht liebevoller, zum Teil geradezu unflätiger Weise. Wenigstens einige, eben noch salonfähige Verse aus dem den Abschied auf Nimmerwiedersehen schildernden Schlussteil „Exitus“ des Zyklus seien hier zitiert: „[…] Zum letzten Mal in diesem Erdenleben In deinen Hallen ward ich heut gesehen. Und meiner Seele schmerzliches Erbeben, Mein Amtsgericht, ich muß es dir gestehn. Zum letzten Mal sah ich die Richter sitzen Wie schwarze Hennen in dem Staub und Qualm Und ihre kleinen Schädel blühn und schwitzen Wie leere Seifenblasen auf dem Halm. Sie kratzten sich den Bauch mit dürrer Kralle Der schwarz und zottig wie ein Maulwurf schien. Ihr dicker Hals war von verdorbner Galle Wie eine ‚farbige’ Leiche gelb und grün […]“99
E. Resümee Das Resümee zu Georg Heym kann nach diesen Kostproben kurz, aber präzise ausfallen: Mit seinem frühen Tod ist der deutschen Literatur gewiss eines ihrer bedeutendsten Talente (wenn man dem eingangs zitierten Satz Marcel ReichRanickis glaubt, vielleicht sogar einer ihrer größten Dichter) verloren gegangen, wesentliche Beiträge zu Recht und Rechtswesen wären von Georg Heym dagegen wohl auch in einem längeren Leben kaum zu erwarten gewesen.
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G. Heym, Dichtungen, Bd. 1, S. 157. G. Heym, Dichtungen, Bd. 1, S. 265 ff., 273 f.
Bürgerliches Recht
Verbraucherschutz zwischen Vertrag und Nicht-Vertrag? Culpa in contrahendo, Störung der Geschäftsgrundlage und prinzipielle Gleichheit der Privatrechtssubjekte* Christian Baldus
A. Fragestellung: Die Verbrauchereigenschaft als Auslegungselement im allgemeinen Privatrecht? Bestimmte Institute dienen der Modifizierung oder Aufhebung vertraglicher Bindungen, und zwar über die allgemeinen Regeln von Rücktritt und Anfechtung hinaus. Ein Vertrag ist formal wirksam geschlossen worden, die Parteien unterlagen keinem relevanten Irrtum, es liegt keine zur Vertragsauflösung berechtigende Leistungsstörung vor. Wohl aber ging eine Partei von falschen Voraussetzungen aus, vielleicht nicht ohne Zutun der anderen, oder sie ließ sich vom vorvertraglichen Verhalten der anderen in die Irre führen. In bestimmten Situationen (eine gefestigte Systematik ist nicht erkennbar) bestehen hier Wege aus der vertraglichen Bindung: culpa in contrahendo und Störung der Geschäftsgrundlage. Bei diesen (nunmehr kodifizierten) Instituten sowie im neuen Kauf- und Werkvertragsrecht zeigt sich deutlich, was das BGB zuvor nur in Ansätzen kannte: eine unerwünschte und prinzipiell systemwidrige Grauzone zwischen Bindung an den (nach allgemeinen Regeln bestimmten) Konsens und Relevanz außerkonsensualer Umstände. Das ist nicht nur für Zivilisten alter Schule wie den Jubilar, der im Hörsaal wie durch seine Schriften immer wieder Grundlegendes zu Privatautonomie und Haftung beigetragen hat, ein bedenkliches Phänomen. Die folgenden Ausführungen setzen dieses Phänomen in Beziehung zu den spezifischen Lösungsmöglichkeiten, die das moderne Verbraucherrecht gewährt: Was gilt, wenn ein Verbraucher einen Vertrag schließt und sich später um eine Lösung (auch) nach allgemeinen Regeln bemüht? Sind culpa in contrahendo und Geschäftsgrundlage zugleich Instrumente des Verbraucherschutzes? Ermöglicht die 2001 erfolgte Kodifikation dieser Institute in §§ 311 II, III, 313 BGB einen Verbraucherschutz durch allgemeines Zivilrecht? *
Die ursprüngliche Vortragsfassung (A reforma do direito das obrigações na República Federal da Alemanha: Protecção do consumidor mediante normas de direito civil geral?, Coimbra 2001) ist beibehalten, aber um die meisten dem deutschen Leser im Zweifelsfall bekannten Nachweise gekürzt, namentlich um solche zur Genese der Schuldrechtsmodernisierung. Manuskriptabschluß: Juli 2004.
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Praktisch bedeutete dies, daß zugunsten von Verbrauchern §§ 311 II1, 313 BGB in größerem Umfang anzuwenden wären als sonst, nämlich durch großzügigere Auslegung der in diesen Normen anzutreffenden wertungsoffenen Begriffe. Die platteste Form, diesen Gedanken in den Rechtsstreit einzuführen, ist die Aussage, der sich beispielsweise auf eine Störung der Geschäftsgrundlage berufende Mandant sei deshalb besonders schutzwürdig, weil er Verbraucher sei. Im folgenden soll dargetan werden, daß alle Normen des BGB problematisch sind, bei welchen nicht klar ist, ob Vertragsauslegung oder Vertragsergänzung stattfindet; und daß Verbraucherschutznormen hingegen eine klare Bestimmung dessen, was konsentiert ist, voraussetzen und ihre Schutzwirkung auf anderer Ebene entfalten. Folglich kann bei der Anwendung von Normen, welche die strikte Konsensbindung relativieren, die Verbrauchereigenschaft einer Partei keine Rolle spielen.
B. Formales Konsensprinzip und Kodifikation praktischer Grenzen dieses Prinzips I. culpa in contrahendo 1. Regelungssituation Die Aufgabenverteilung zwischen gesetzlicher und vertraglicher Haftung funktioniert, wenn die gesetzliche Haftung hinreichenden Schutz bietet. Bleibt das Deliktsrecht aber hinter den Bedürfnissen des Rechtsverkehrs zurück, so weicht die Judikatur in die Konstruktion vorvertraglicher Haftung aus. Man hat nicht konsentiert, wird aber so behandelt, als sei die Sonderverbindung zustandegekommen, die man gerade nicht eingegangen ist. Diese Tendenz widerspricht einer formal verstandenen (negativen) Privatautonomie, trägt aber dem Umstand Rechnung, daß die Parteien einander eben doch näher gekommen sind als beliebige Dritte. Das Ergebnis ist aus vertragsdomatischer Sicht eine Erosion des formalen Konsensprinzips; auch hieraus erklärt sich, warum der deutsche Gesetzgeber lange Zeit gezögert hat, bis er 2001 die culpa in contrahendo kodifiziert hat, § 311 II, III.
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Auf Spezialfragen des § 311 III sei im folgenden nicht näher eingegangen. Vgl. aus neuerer Zeit etwa Jörg Schumacher, Valeska Lada, Culpa in contrahendo und Sachverständigenhaftung nach neuem Schuldrecht, in: ZGS 2002, S. 450-456; Jens Koch, § 311 Abs. 3 BGB als Grundlage einer vertrauensrechtlichen Auskunftshaftung, in: AcP 204 (2004), S. 59-80.
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2. Dogmatischer Hintergrund und offene Fragen Liest man diese Norm unbefangen, so scheint es mindestens drei Grade der Bindung zu geben2: Vorbereitung – Verhandlungsbeginn – Vertragsschluß. Die Schwierigkeit, vor allem die beiden erstgenannten Stufen zu unterscheiden, liegt auf der Hand; ebenso die enormen Freiheiten, welche die neue Vorschrift der Rechtsprechung – bewußt – einräumt3. Überdies wurden – auch in Abweichung von einheitsrechtlichen Modellen – die beiden unter Aspekten der Privatautonomie besonders problematischen Fallgruppen der c.i.c. nicht ausdrücklich kodifiziert, nämlich Abbruch von Vertragsverhandlungen und Herbeiführung eines nicht erwartungsgerechten Vertrages4. Hier geht es um die Existenz oder Nichtexistenz der Vertragsbindung selbst. Eine Dogmatik, die sauber zwischen „Aufnahme von Vertragsverhandlungen“, „Anbahnung eines Vertrages“ und „ähnlichen geschäftlichen Kontakten“ unterscheiden könnte, ist nicht in Sicht; die Judikatur muß sich in künftigen Anwendungsfällen selbst behelfen. Zu befürchten ist, daß ein Wust untergerichtlicher Entscheidungen am Ende in Formeln münden wird, die kaum aussagekräftiger sein werden als der Gesetzestext selbst. Hier beweist sich, daß eine codification à droit constant nur dann Sinn hat, wenn der Gesetzgeber sich überlegt, was er von der existierenden Kasuistik bestätigen und was er korrigieren möchte5; das wäre bei der c.i.c. dringend erforderlich gewesen6, ist aber nicht geschehen. 2
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Für ein gemeinschaftsrechtliches Prinzip des Schutzes legitimer Erwartungen im Vertrags- und Haftungsrecht: Hans-Werner Micklitz, Legitime Erwartungen als Gerechtigkeitsprinzip des Europäischen Vertragsrechts, in: Ludwig Krämer, Hans-Werner Micklitz, Klaus Tonner (Hrsg.), Law and Diffuse Interest in the European Legal Order (Festschrift für Norbert Reich), Baden-Baden 1997, S. 245-278; Norbert Reich, Bürgerrechte in der Europäischen Union, Baden-Baden 1999, S. 273 f.; ders. in: ders., Micklitz, Europäisches Verbraucherrecht, 4. Aufl., Baden-Baden 2003, § 1.17 (S. 29 f.) u. ö. Kritische Synthese der Diskussion bei Karl Riesenhuber, System und Prinzipien des Europäischen Vertragsrechts, Berlin 2003, S. 570 ff. Das Problem wurde bei der Schuldrechtsreform durchaus gesehen. Vgl. Claus-Wilhelm Canaris, Die Reform des Rechts der Leistungsstörungen, in: JZ 2001, S. 499-524, 520. Vgl. Barbara Dauner-Lieb, Kodifikation von Richterrecht, in: Wolfgang Ernst, Reinhard Zimmermann, Zivilrechtswissenschaft und Schuldrechtsreform, Tübingen 2001, S. 305-328 (auch zum Folgenden), S. 318-321; Barbara Grunewald, Die Loslösung vom nicht erwartungsgerechten Vertrag, in: Rolf Wank u. a., Festschrift für Herbert Wiedemann zum 70. Geburtstag, München 2002, S. 75. Zu Divergenzen im Anwendungsbereich der c.i.c. nach dem Konzept Jherings und nach der später entwickelten Dogmatik vgl. Bernd Mertens, Culpa in contrahendo beim zustande gekommenen Kaufvertrag nach der Schuldrechtsreform, in: AcP 203 (2003), S. 818-854, 819; vgl. noch dens., Die Rechtsfolgen einer Haftung aus culpa in contrahendo beim zustande gekommenen Vertrag nach neuem Recht, in: ZGS 2004, S. 67-73. Vgl. Dauner-Lieb, Kodifikation von Richterrecht, S. 318-321; Peter Krebs, Manfred Lieb, Arnd Arnold, Kodifizierung von Richterrecht, in: Dauner-Lieb u. a. (Hrsg.), Das Neue Schuldrecht, Heidelberg 2002, S. 121-157 (zu den hier diskutierten Instituten). Grundsätzlich sowie mit Analysen der Rechtsprechung zur Geschäftsgrundlage jüngst
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Diese Konsequenz wird auch dadurch nicht erträglicher, daß eine europäische Zivilrechtsgesetzgebung möglicherweise ergeht7, bevor eine neue BGB-Reform durchgeführt werden kann; denn besser wäre es, in die europäische Diskussion Erfahrungen mit subsumtionsfähig formulierten Normen einzubringen. Daß umgekehrt aus gesetzgeberischer Unsicherheit eine kalkulierbare, als Modell „exportfähige“ Praxis erwachsen könnte, darf als unwahrscheinlich bezeichnet werden. II. Störung der Geschäftsgrundlage 1. Regelungssituation Bei der culpa in contrahendo werden die Rechtsfolgen eines nicht erteilten Konsenses konstruiert. Umgekehrt verhält es sich bei der Störung der Geschäftsgrundlage: Der Konsens liegt vor, die Rechtsordnung aber räumt einer Partei das Recht ein, sich ganz oder teilweise von der vertraglichen Bindung zu lösen, weil bei Konsenserteilung wichtige Aspekte nicht bedacht wurden. Auch diese Figur widerspricht einer klassisch verstandenen Privatautonomie: Was man nicht bedacht hat, das begründet allenfalls einen Motivirrtum. Auch hier hatte die Praxis Fälle zu beurteilen, in denen Gerechtigkeitserwägungen ein Abgehen vom formalen Konsensprinzip nahelegten; und auch hier hat der BGB-Gesetzgeber bis 2001 gezögert, bevor er die Rechtsprechung übernahm. 2. Dogmatischer Hintergrund und offene Fragen Eine Auseinandersetzung mit „objektiver“ und „subjektiver“, „großer“ und „kleiner“ Geschäftsgrundlage kann hier unterbleiben. Auch § 313 n. F. ist in verschiedener Hinsicht inhaltlich unklar8: Was ist die „Grundlage“ des Vertrages, was ist
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Thomas Lobinger, Die Grenzen rechtsgeschäftlicher Leistungspflichten, Tübingen 2004, S. 103-116. Statt aller bisher nicht genannten Fragen sei nur die ergänzt, ob der „Vollzug des Gefälligkeitsverhältnisses“ (also eines Nicht-Vertrages) den Regeln über die culpa in contrahendo folge: Heinz-Peter Mansel, in: Othmar Jauernig (Hrsg.), BGB, 11. Aufl., München 2004, § 241 Rn. 24 spricht von einem „‘gesetzlichen Schuldverhältnis‘ (ähnlich cic) ... vgl. § 311 II Nr. 3“. Canaris, in: JZ 2001, S. 499, 520 denkt für die Weiterentwicklung der c.i.c. durch die Rechtsprechung an „Gefälligkeitsverhältnisse mit rechtsgeschäftsähnlichem Charakter ohne primäre Leistungspflicht“. Vgl. nunmehr Klaus Reischl, Schuldverhältnis des „geschäftlichen Kontakts“ durch Gefälligkeitshandlungen, in: Christian Heinrich (Hrsg.), Festschrift für Hans-Joachim Musielak zum 70. Geburtstag, München 2004, S. 411-434 (S. 419 ff. zur „Kontaktverdichtung“). Vgl. Martin Schmidt-Kessel, Auf dem Weg zu einem Europäischen Vertragsrecht, in: RIW 2003, S. 481-489; ders., Eike Najork, Der Aktionsplan der Kommission für ein kohärentes Vertragsrecht, in: GPR 1 (2003/2004), S. 5-11. Zu den wertungsoffenen Elementen im neuen Tatbestand vgl. nur MünchKommBGB/Roth, 4. Aufl., München 2003, § 313, Rdnr. 14 f. Ins Positive zu wenden sucht
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eine „schwerwiegende“ Veränderung, was ist zumutbar? Jedenfalls liegt es sehr nahe, inhaltliche Abweichungen vom bisher Geltenden zu konstatieren, angefangen dabei, daß nach neuem Recht die Geschäftsgrundlage nicht mehr von Amts wegen zu beachten ist; vielmehr verlangt das neue Recht einen entsprechenden Antrag einer der Parteien (es können nunmehr beide sein), und wie dieser zu formulieren ist, bleibt zu klären9. Ebensowenig wie bei § 311 II darf erwartet werden, daß die nunmehr gesetzlich niedergelegten Formeln in absehbarer Zeit zu einer verbesserten Dogmatik, mithin zu besser vorhersehbaren Entscheidungen führen werden. Der Reformgesetzgeber wiederum hielt eine weitere Konkretisierung deshalb für aussichtslos, weil die Dogmatik nicht weit genug sei10. Der hier besonders problematische Punkt ist die „Grundlage“: Geschäftsgrundlage kann nicht sein, was Vertragsinhalt ist. Damit ist sozusagen eine obere Grenze bezeichnet. Die untere Grenze wird nicht benannt. Das Gesetz spricht von „Umständen“; welche Umstände aber wichtig genug sind, um Grundlage sein zu können, sagt es nicht. Und darüber, was Geschäftsgrundlage sein kann, haben die Parteien sich auch nicht privatautonom verständigt: Läge eine Abrede darüber vor, so regelte der Vertrag selbst die Situation; § 313 meint aber gerade Fälle, in denen die Parteien bestimmte Dinge nicht bedacht haben und in denen die Rechtsordnung einen Eingriff für indiziert hält. Wieder steht eine Relativierung des formal Konsentierten im Raum. III. Parallele Entwicklungen im Kauf- und Werkvertragsrecht Das 2001 neugefaßte Kaufrecht ist dem Allgemeinen Schuldrecht dort angenähert, wo es sinnvoll ist, nämlich bei den Rechtsbehelfen. Zahlreiche kaufrechtliche Besonderheiten, deren Funktion nicht mehr erkennbar war, wurden zugunsten von Verweisen auf allgemeine Regeln beseitigt (vgl. namentlich die „Drehscheibennorm“ des § 437). Leider arbeitet der Reformgesetzgeber auch im Kaufrecht (und ebenso im Werkvertragsrecht, § 633 II) mit einer Kategorie, die sich nicht gut in allgemeines Vertragsrecht einfügen läßt: Die Sachmangeldefinition des § 434 I n. F. unterscheidet zwischen der „vereinbarte(n) Beschaffenheit“ (Satz 1) und der Eignung für die „nach dem Vertrag vorausgesetzte Verwendung“ (Satz 2 Nr. 1). Das Wort „voraussetzen“ läßt an die Geschäftsgrundlage denken; gemeint ist anscheinend weder eine ausdrückliche noch eine konkludente Vereinbarung im Sinne der §§ 145 ff., aber auch nichts Objektives: Satz 2 Nr. 2 unterscheidet von den bereits zitierten Kategorien weiterhin die Eignung „für die gewöhnliche Verwen-
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den doch wohl einigermaßen problematischen Zustand Hannes Rösler, Störung der Geschäftsgrundlage nach der Schuldrechtsreform, in: ZGS 2003, S. 383-391, 388 ff. Vorschläge bei Martin Schmidt-Kessel, Christian Baldus, Zur prozessualen Behandlung des Wegfalls der Geschäftsgrundlage nach neuem Recht, in: NJW 2002, S. 2076 ff., und Dauner-Lieb, Wolfgang Dötsch, Prozessuale Fragen rund um § 313 BGB, in: NJW 2003, S. 921-927. Ausführlich nunmehr Frank Bayreuther, Die Durchsetzung des Anspruchs auf Vertragsanpassung beim Wegfall der Geschäftsgrundlage, Baden-Baden 2004 (gegen die Zulassung eines unbezifferten Klageantrages namentlich S. 33-37). Canaris, in: JZ 2001, S. 499, 521.
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dung“ und die Beschaffenheit, „die bei Sachen der gleichen Art üblich ist und die der Käufer nach der Art der Sache erwarten kann“. Am ehesten vermag noch die Meinung zu überzeugen, es handele sich um eine vertragliche Bestimmung über die Funktion (nicht über die Eigenschaften) der Kaufsache11. Dann hätten wir es mit einer (überflüssigen) gesetzlichen Vertypung der konkludenten oder der ergänzenden Vertragsauslegung zu tun, obwohl diese eigentlich von Satz 1 erfaßt sein müßten; diese Vertypung wäre schlecht formuliert, aber immerhin wüßte man, nach welchen Kriterien der Rechtsanwender vorzugehen hätte. Hier verbinden sich Mehrstufigkeit der Konstruktion einer Sonderverbindung (wie in § 311 II) und Rede von der „Grundlage“ (wie in § 313) zu einer nicht mehr klar subsumtionsfähigen Aussage, die ebenfalls dogmatischer Bearbeitung harrt12. Die Beziehung zwischen § 434 I 2 Nr. 1 und § 313 wollte der Reformgesetzgeber – in Kenntnis des Problems – offenlassen13. Dies stimmt um so bedenklicher, als Kauf- und Werkvertrag die beiden Vertragstypen sind, welche durch die Reform vollständig neugestaltet und zugleich dem Allgemeinen Schuldrecht angenähert wurden14; erscheint also ein und dieselbe vertragsdogmatisch unklare Formel in den „Drehscheibennormen“ dieser beiden Verträge, so lassen sich Rückwirkungen auf das Allgemeine Schuldrecht nicht ausschließen. IV. Grundproblem Welches dogmatische Muster liegt den erwähnten Normen zugrunde? In Parallele zur culpa in contrahendo finden wir bei der Störung der Geschäftsgrundlage eine Ebene sozusagen unterhalb des Vertrages. Der historische Gesetzgeber von 1896 wollte beide Institute nicht kodifizieren15 und äußert sich folglich nicht zu dieser Parallele; er spricht bisweilen von den „Umständen“ einer Erklärung, namentlich im Zusammenhang der Auslegung und des Irrtums, bleibt aber stets auf der Ebene 11
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Christian Berger, in: Jauernig, BGB, 11. Aufl. München 2004, § 434, Rn. 13. Auch bei Abstellen auf derartige Zweckbestimmungen lauern freilich Untiefen; nicht nur rechtsvergleichend von Interesse die monographische Untersuchung von António Pinto Monteiro, Erro e vinculação negocial, Coimbra 2001, zu der Frage, wie der Verkäufer darauf reagieren kann, daß der Käufer die Kaufsache anders nutzt als bei Vertragsschluß angekündigt. Vgl. die Analyse bei Florian Faust, in: Bamberger/Roth, BGB, München 2003, § 434, Rdnr. 46-74. Regierungsentwurf, BT-Drs. 14/6040, S. 213. Mit der Folge eines Bedeutungsgewinns werkvertraglicher Strukturen: Herbert Roth, Die Reform des Werkvertragsrechts, in: JZ 2001, S. 543-551, 545 ff.; Jürgen Kohler, Das Werk im Kauf, in: Klaus Brügmann u.a. (Hrsg.), FS für Walter Jagenburg zum 65. Geburtstag, München 2002, S. 379-401. Dies bekanntlich in Abgrenzung zu Windscheid, was die Geschäftsgrundlage angeht (vgl. Bernhard Windscheid, Die Lehre des römischen Rechts von der Voraussetzung, Düsseldorf 1850), und zu Jhering hinsichtlich der c.i.c. (vgl. Rudolf v. Jhering, Culpa in contrahendo oder Schadensersatz bei nichtigen oder nicht zur Perfection gelangten Verträgen, in: Jherings Jahrbücher 4 (1861), S. 1-112).
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des Vertragsschlusses selbst. Die Konzentration auf diese Ebene ist ein zentrales Anliegen des BGB, das zu relativieren beiden Kommissionen ferngelegen hätte, wie gründlich man sich auch mit den aus gemeinem Recht und bestehenden Kodifikationen bekannten Problemen der Vertragsbindung auseinandersetzte16. Im heutigen § 269 sollte ursprünglich von der „muthmaßlichen Absicht“ der Beteiligten die Rede sein, und die Sorge der Ersten Kommission ging primär dahin, es könne zu früh die Suche nach dem wahren Willen aufgegeben werden; erst die Vorkommission des Reichsjustizamtes erachtete es „für angemessener (...), im allgemeinen auf die Umstände des Falls und speziell auf die Natur des Schuldverhältnisses zu verweisen“17. Die Rede von den „Umständen“ im heutigen § 271 geht ebenfalls erst auf das Reichsjustizamt zurück, nunmehr begründet u. a. mit der Übereinstimmung mit der für § 269 gewählten Formulierung18. In einem Wort: Eine wie auch immer geartete Theorie vor- oder untervertraglicher Bindung liegt dem Gesetz historisch nicht zugrunde. Im Licht der Schuldrechtsreform wird hingegen ein anderer Ansatz deutlich: Bei der c.i.c. ist die untervertragliche Ebene dem Vertragsschluß zeitlich vorgelagert, und eine etwaige Kommunikation zwischen den Parteien über den die c.i.c. begründenden Umstand hat nicht zu korrekter rechtsgeschäftlicher Verständigung geführt; die Geschäftsgrundlage war nicht Gegenstand einer Verständigung, und dies deswegen, weil die Parteien eine solche Verständigung für überflüssig hielten bzw. gehalten hätten, wenn sie überhaupt über den Punkt nachgedacht hätten. Das bedeutet: Beide Institute kennen eine untervertragliche Ebene, die sich – letztlich kraft des Prinzips von Treu und Glauben, § 242 BGB – in bestimmten Fällen gegen die vertragliche durchsetzt. Es lassen sich auch Fälle denken, in denen beide Institute in Frage kommen. Das ist etwa dann der Fall, wenn eine Partei aufgrund fahrlässiger Falschinformation auch die andere in einen Motivirrtum treibt: Aufgrund fahrlässiger Falschinformation geht der Erwerber eines Computers davon aus, ein bestimmtes Zubehörteil sei nicht mitverkauft (das in Wirklichkeit der Packung beiliegt), und erwirbt dieses Teil folglich gesondert. 16
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Welche Probleme ein auch nur punktuelles Abgehen von dieser Konzeption erzeugt, belegt nachdrücklich die schwankende Entwicklung der Rechtsprechung zum nach § 2078 beachtlichen Motivirrtum: Läßt man einmal – wie im Erbrecht durchaus nachvollziehbar – den Rückgriff auf Umstände zu, die der rechtsgeschäftlichen Erklärung vorausliegen, so kommt alsbald die Frage auf, wie konkret die Vorstellungen gewesen sein müßten und ob man überhaupt eine Vorstellung des Irrenden verlangen könne. Vgl. ein gewisses Unbehagen bei BGH, NJW-RR 1987, S. 1412 f.; Darstellung der neueren Rechtsprechung als einheitliche Linie hingegen bei BayObLG, FamRZ 1988, S. 1625, 1626 f.; ohne grundsätzliche Klärung zuletzt aufgegriffen von BayObLG, NJW-RR 2002, S. 367, 369. Aus der Literatur etwa Susanne Sieker, Der Motivirrtum des Erblassers aufgrund nicht bedachter Ereignisse, in: AcP 201 (2001), S. 697-729, 709 ff. Prot. RJA 214, weiter nicht begründet; vgl. Horst Heinrich Jakobs, Werner Schubert (Hrsg.), Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs in systematischer Zusammenstellung der unveröffentlichten Quellen, Berlin, New York 1978, S. 181 f., 188. Prot. RJA 217, vgl. Jakobs/Schubert, Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, S. 198.
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Im Kauf- und Werkvertragsrecht verbinden sich vorvertragliches und untervertragliches Moment zu einer besonders komplexen Stufung der Bestimmung von Vertragsinhalten, und zwar nicht für einen statistischen Ausnahmefall, sondern an auch für die Praxis zentraler Stelle. Wiederum sind Kombinationsfälle mit c.i.c. und Störung der Geschäftsgrundlage denkbar: Im soeben gegebenen Beispiel möge nicht ausdrücklich über das Vorhandensein des vom Käufer gewünschten Teiles gesprochen worden sein. Für die Konkurrenz zwischen c.i.c. und Kaufgewährleistung in Normalfällen (vertragswidrige Beschaffenheit der Kaufsache selbst) kommt es unter anderem darauf an, wie man den Beschaffenheitsbegriff deutet; eben dieser ist problematisch19. Das die Probleme verbindende Moment liegt in der Relativierung des formalen Konsenses. Die Generalklausel von Treu und Glauben droht allzu breit angewandt zu werden. Es gibt erfahrungsgemäß kein besseres Mittel zur Erzielung im Regelfall gerechter Ergebnisse als die subjektive Äquivalenz: Selbstbindung der Parteien in autonomer Einschätzung des Wertes ihrer Leistung20. Dazu aber muß klar sein, wie Konsens über was hergestellt wird und daß im Zweifel allein dieser Konsens die Pflichten der Parteien bestimmt. Die Rechtsordnung kann im Einzelfall eingreifen, namentlich soweit die vorausgesetzte Autonomie nicht bestand; wird aber der Eingriff zur Regel, dann verliert der Vertrag seine Regelungsfunktion. Die hier skizzierten neuen Vorschriften gehen weit über bisherige Grenzfälle hinaus, in denen bereits das BGB alter Fassung eine bisweilen schwierige Abgrenzung von Vertrag und gesetzlicher Regelung verlangte. Beispielsweise beziehen sich die Vorschriften über Leistungsort und -zeit auf die „Umstände“ (§§ 269 I, 271 I), und die Kommentarliteratur äußert sich nicht immer klar über die Abgrenzung dieses Kriteriums von stillschweigender Vereinbarung (§§ 145 ff.) und Verkehrssitte (§ 157)21; man kann aber zu einer Einordnung in die Lehre von der Vertragsauslegung kommen, ohne das System der §§ 269 ff. zu sprengen22. Schwieriger fällt dies bei den neuen Normen.
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Dazu etwa Martin Häublein, Der Beschaffenheitsbegriff und seine Bedeutung für die Haftung aus c.i.c. und Kaufrecht, in: NJW 2003, S. 388-393; aus der Rspr. OLG Hamm, ZGS 2003, S. 394 ff. Klassisch Karl Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, hier zitiert nach der 6. Aufl., München 1983, § 2 V = S. 45 ff.; in der Neubearbeitung von Manfred Wolf, 8. Aufl., München 1997, § 2 Rdnr. 22 f.; vgl. in der 9. Aufl., München 2004, den § 42 (Verhandlungsgleichgewicht und Vertragsgerechtigkeit), insb. S. 753-758; nunmehr Canaris, Äquivalenzvermutung und Äquivalenzwahrung im Leistungsstörungsrecht des BGB, in: Rolf Wank u. a., Festschrift für Herbert Wiedemann zum 70. Geburtstag, München 2002, S. 3-33, 6 ff. Vgl. nur Astrid Stadler, in: Jauernig, BGB, 11. Aufl., München 2004, § 269 Rdnr. 6 ff.; § 271 Rdnr. 13. Dies in Übereinstimmung mit dem historischen Gesetzgeber von 1896, vgl. Prot. RJA 214.
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C. Verbraucherschutz und Vertragsfreiheit I. Rechtspolitische Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland Ein Leitgedanke der Reform von 2001 ist es, den Verbrauchervertrag stärker in das System des BGB zu integrieren. Früher betonte man den Ausnahmecharakter des Verbraucherrechts, vor allem weil es einseitig als Verbraucherschutzrecht konzipiert war; man kodifizierte Verbraucherrechtsnormen also vorzugsweise in Sondergesetzen; man betonte, Regelfall sei nach wie vor der Vertrag unter rechtlich wie faktisch Gleichen, und Regelungsort hierfür sei das BGB als die allgemeine Zivilrechtskodifikation. Der Reformgesetzgeber von 2001 bricht mit diesen Prämissen. Das Verbraucherrecht wurde kodifikationstechnisch in das BGB integriert23; der Verbrauchervertrag wird jedenfalls aufgrund seiner statistischen Bedeutung nicht mehr als insignifikanter Ausnahmefall angesehen. Dies mag man als kodifikatorischen Realismus begrüßen oder als Gefahr für die klassisch verstandene Privatautonomie ablehnen (was auch immer historisch die Leitgedanken dieser Vorstellung sein mögen)24; jedenfalls muß das neue Gesetz angewandt werden. Der Rechtsanwender hat zu vorhersehbaren, also systemkonformen Lösungen zu kommen; der rechtsuchende Bürger erwartet bei solcher Normanwendung Respekt nicht nur vor der besonderen Lage des Verbrauchers, sondern auch vor dem Grundsatz der Privatautonomie. II. Europäische Vorgaben Dabei hilft eine auf europäischer Ebene zu beobachtende Entwicklung: Die Gemeinschaft erläßt zunehmend solches Privatrecht, das nicht einseitig auf Verbraucherschutz, sondern auf umfassenden Interessenausgleich gerichtet ist. Ein deutliches Beispiel hierfür ist die Zahlungsverzugsrichtlinie; aber auch beispielsweise die Verbrauchsgüterkaufrichtlinie25 läßt sich so deuten: Allseitiger Interessenausgleich ist eine Funktionsbedingung von Gemeinschaftsprivatrecht.26 Im Lichte dieser Tendenz ist es aussichtslos, verbraucherspezifische Normen auf Dauer im Ghetto von Sondergesetzen isolieren zu wollen. Das Privatrecht insgesamt gedeiht
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Vgl. statt aller Wulf-Henning Roth, Europäischer Verbraucherschutz und BGB, in: JZ 2001, S. 475-490. Zum 19. Jh. etwa Sibylle Hofer, Freiheit ohne Grenzen?, Tübingen 2001. Zu dieser vgl. statt aller Baldus, Binnenkonkurrenz kaufrechtlicher Sachmängelansprüche nach Europarecht, Baden-Baden 1999; Martin Josef Schermaier (Hrsg.), Verbraucherkauf in Europa, München 2003, mit Besprechung von Florian Faust, demnächst in GPR; Stefan Grundmann, Cesare Massimo Bianca (Hrsg.), EU-Kaufrechts-Richtlinie. Kommentar, Köln 2002, mit Besprechung von Baldus, in: GPR 1 (2003/2004), S. 25 f. Baldus, Binnenkonkurrenz, S. 31 f.
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nur als System, auch das europäische27, und die Auslegungsprobleme in diesem System lassen sich präziser angehen, wenn alle Fragen des zivilrechtlichen Alltags in einem Gesetzbuch stehen. In dieselbe Richtung weist das Bemühen der Kommission um die Schaffung (unter anderem) eines gemeinsamen Begriffsrahmens für das Vertragsrecht in Europa (einschließlich anderer Bereiche des Vermögensrechts)28. III. Konsequenzen für culpa in contrahendo und Störung der Geschäftsgrundlage Nach alldem lautet die Frage: Bestehen, unabhängig vom rechtspolitischen Ausgangspunkt, dogmatische Verbindungen zwischen den Generalklauseln in §§ 311 II, 313 BGB und der systematischen Aufwertung des Verbraucherrechts? Direkter formuliert: Lassen diese Normen sich als Verbraucherschutzvorschriften begreifen oder funktionalisieren? Culpa in contrahendo und Störung der Geschäftsgrundlage relativieren die vertragliche Bindung, wenngleich nur für unklar gefaßte Ausnahmefälle. Der Verbraucherschutzgedanke scheint in dieselbe Richtung zu weisen: Hilft man nicht dem strukturell Schwächeren, indem man ihm Lösungsrechte gewährt? Und liegt es nicht nahe, auch die formal ohne spezifischen Bezug zum Verbraucher (§ 13) formulierten §§ 311, 313 als Lösungsnormen zugunsten dessen zu deuten, den der Stärkere aus einem formal korrekt zustandegekommenen, aber auf falschen Prämissen oder vorvertraglichem Fehlverhalten beruhenden Vertrag in Anspruch nehmen möchte? Spielt es also für die Anwendung der beiden Normen eine Rolle, ob eine Partei Verbraucher ist? Sind sie dann weiter auszulegen, sozusagen in favorem consumptoris? Kann ein Verbraucher eher als eine Zivilperson29 Ansprüche aus culpa in 27
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Vgl. nur Baldus, Sistema giuridico europeo storicamente fondato?, Labeo 2001, S. 122134; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, S. 570 ff.; Tobias Tröger, Zum Systemdenken im europäischen Schuldvertragsrecht, in: ZEuP 2003, S. 525-540. Schmidt-Kessel, in: RIW 2003, 481-489; ders./Najork, in: GPR 1 (2003-2004), S. 5-11. Terminologie: Peter Krebs, Verbraucher, Unternehmer oder Zivilperson, in: DB 2002, S. 517-520; vgl. noch Josef Drexl, Verbraucherrecht – Allgemeines Privatrecht – Handelsrecht, in: Peter Schlechtriem (Hrsg.), Wandlungen des Schuldrechts, Baden-Baden 2002, S. 97-151; ebenfalls in systematischer Absicht: Stefan Grundmann, Verbraucherrecht, Unternehmensrecht, Privatrecht – Warum sind sich UN-Kaufrecht und EUKaufrechtsrichtlinie so ähnlich?, in: AcP 202 (2002), S. 40-71; Gralf-Peter Calliess, Nach der Schuldrechtsreform: Perspektiven des deutschen, europäischen und internationalen Verbrauchervertragsrechts, in: AcP 203 (2003), S. 575-602 (mit pointierten Thesen, etwa derjenigen, das derzeitige Verbraucherprivatrecht bewirke keinen sachgerechten Interessenausgleich, S. 578 ff.). Näher über „Verbraucherschutz in den Grundregeln des Europäischen Vertragsrechts“ der gleichnamige Aufsatz von Micklitz, in: ZVglRWiss 103 (2004), S. 88-102 (S. 101 f.: die europarechtlich entwickelten Verbraucherschutzregeln hätten in den Principles keinen systematischen Niederschlag gefunden).
Verbraucherschutz zwischen Vertrag und Nichtvertrag?
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contrahendo geltend machen oder sich unter erleichterten Voraussetzungen auf die Störung der Geschäftsgrundlage berufen? Dies ist, in Abwesenheit ausdrücklicher Vorschriften, eine Auslegungsfrage; und sie ist zu verneinen. Warum, soll im folgenden kurz dargetan werden – unter dem Vorbehalt, daß bisher kaum Judikatur zu §§ 311 II, 313 n. F. veröffentlicht ist; ältere Entscheidungen waren ohnehin nicht zu verwerten, da sie praeter legem entstandene Institute betreffen, also auf anderen systematischen Prämissen beruhen.
D. Zur strukturellen Trennung von Vertragsrelativierung und Verbraucherschutz I. Verbraucherschutz als rechtsgeschäftliche Situationsregelung Culpa in contrahendo und Störung der Geschäftsgrundlage relativieren die vertragliche Bindung; Verbraucherschutz hingegen setzt technisch anders an, und dies aufgrund eines grundsätzlichen Unterschiedes. Verbraucherschutz ist kein Statusschutz, der in beliebigen Situationen eingriffe, sondern hat von Situationen typisierbaren Schutzbedürfnisses auszugehen30. In § 3 BGB ist zwar technisch der Verbraucher definiert, nicht das Verbrauchergeschäft; aber als Definiens dient eine Situationsbeschreibung. Es geht also darum, die verbrauchertypische strukturelle Unterlegenheit bezogen auf Rechtsgeschäfte und in den Kategorien der Rechtsgeschäftslehre zu erfassen. Genau dies streben die diversen Verbraucherschutznormen an: Entweder sie erklären bestimmte den Verbraucher belastende Vereinbarungen für inhaltlich unwirksam, beschränken also die Dispositionsbefugnis der Parteien (ausnahmsweise) dort, wo Mißbräuche naheliegen; typisches Beispiel ist der Verbraucherkauf (§ 475 BGB). Oder sie räumen dem Verbraucher ein Widerrufsrecht31 ein, gewähren also eine Überlegungsfrist. Beide Mechanismen greifen in schuldrechtliche Prinzipien ein, zerstören aber das System nicht. Schuldrecht ist nur im Regelfall dispositiv; es gibt zwingende Schuldrechtsnormen, die mit Verbraucherschutz nichts zu tun haben und an deren Berechtigung niemand zweifelt32. Der Gesetzgeber ist frei, den Parteien bestimmte denkbare Inhalte ihres Konsenses nicht zuzugestehen, wenn damit eine typischerweise drohende Gefahr für eine Partei und damit für das Funktionieren des Marktes abgewendet werden kann. Nicht inhaltlich, aber strukturell weiter geht das Widerrufsrecht. Normalerweise konzentriert sich die Konsensbildung aus gutem Grund auf den Moment, in dem die Willenserklärungen zugehen. Widerrufsrechte wollen aber nicht den Me30
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32
Vgl. nur Herbert Roth, EG-Richtlinien und Bürgerliches Recht, in: JZ 1999, S. 529538, 532. Vgl. Günter Reiner, Der verbraucherschützende Widerruf im Recht der Willenserklärungen, in: AcP 203 (2003), S. 1-45. Vgl. statt aller § 276 III BGB.
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chanismus privatautonomer Bindung außer Kraft setzen, sondern sie modifizieren ihn quantitativ, um seine Akzeptanz zu sichern; sie stellen den Gleichlauf von formaler und materialer Privatautonomie her. Wer in Kenntnis eines Widerrufsrechts nicht Abstand vom Vertrag genommen hat, der übernimmt bewußt und endgültig die Verantwortung für alle Folgen – es sei denn, er habe beispielsweise unter Zwang gehandelt, aber dies ist ein allgemeines Problem des Allgemeinen Teils, nicht des Verbraucherrechts. Widerrufsrechte sind so lange kein Problem, als man sie nicht als Hebel für eine grundlegende Umgestaltung des Vertragsschlußrechts begreift33, sondern als systemimmanenten Ausgleich für Schwächen des formalen Vertragsschlußmodells. Für unsere Zwecke ist festzuhalten: Weder die zwingende Ausgestaltung einzelner Privatrechtsnormen noch die Gewährung von Überlegungsfristen stellt das Modell eines privatautonom und formal gebildeten Konsenses grundsätzlich in Frage. Es handelt sich um punktuelle Korrekturen, die ihre Legitimation nicht zuletzt aus notorischen Mißbräuchen ziehen. Immer aber will die Rechtsordnung ein Ergebnis haben: einen wirksam gebildeten Formalkonsens (oder eben einen Dissens); und an einem solchen Ergebnis hält sie die Parteien anschließend fest. II. Der Verbrauchervertrag als Quelle normaler Vertragsbindung Dies ist der wesentliche Unterschied zu den nunmehr in §§ 311, 313 kodifizierten Instituten. Ist eine Vorschrift zulässigerweise abbedungen und hat der Verbraucher ein Widerrufsrecht nicht ausgeübt, dann gelten in der Folge keine Sonderregeln mehr. Im Gegenteil: Es ist für einen im Vorfeld besonders geschützten Vertrag noch weniger ratsam als sonst, ihn aufgrund von Generalklauseln in Frage zu stellen. Selbstverständlich kann auch ein solcher Vertrag den Regeln über die c.i.c. oder über die Geschäftsgrundlage unterfallen; es gibt aber keinen Grund, diese Regeln großzügiger auszulegen als sonst. Mehr noch: Indem das Gesetz den Verbraucher über den Vertragsschluß modifzierende Mechanismen schützt, bekennt es sich zur Privatautonomie und zur Bindung an das Versprochene. Nicht das Verbraucherrecht ist strukturell eine Gefahr für die Vertragstreue, sondern die
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Wie es die Theorie des kompetitiven Privatrechts tut, der zufolge dem Vertragspartner erneut die Gelegenheit gegeben werden soll, sich ein besseres Angebot zu suchen (etwa Micklitz, Ein einheitliches Kaufrecht für Verbraucher in der EG?, in: EuZW 1997, S. 229-237, 236). Dies ist aber Reflex, nicht Legitimation des Widerrufsrechts; die zeitliche Konzentration des Vertragsschlusses hat ihren guten Sinn, weil es schwierig genug ist, die Kommunikation der Parteien in diesem Moment zu bewerten und weil prinzipiell vom Vertragspartner nicht verlangt werden kann, mit Unsicherheiten über die Entscheidung der anderen Seite zu leben. Vgl. Baldus, Binnenkonkurrenz, S. 94 ff.; Riesenhuber, Europäisches Vertragsrecht, S. 579 f. Ist aber der Theorie des kompetitiven Privatrechts immerhin ein gewisser ökonomischer Reiz zu bescheinigen, bleibt wenig schlüssig, was beispielsweise Rösler, in: ZGS 2003, S. 389 f. in anscheinend grundsätzlicher Absicht zugunsten eines „solidarischen Vertragsrechts“ äußert.
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nicht subsumtionsfähigen Generalklauseln sind es, welche zu ungerechtfertigten Lösungsversuchen verleiten können. III. Der Verbrauchervertrag als Argument gegen eine Zwischenkategorie Man kann noch einen Schritt weiter gehen: Selbst wenn in den neuen §§ 311 II, 313, 437 I, 633 II der Ansatz einer vertragsdogmatischen Neuorientierung liegen sollte, selbst wenn der Gesetzgeber (objektiv) die Grundlage für eine dogmatische Zwischenebene zwischen Vertrag und Nicht-Vertrag („Grundlage“, „Voraussetzung“, wie auch immer) gelegt hätte, selbst dann bliebe das Verbraucherrecht konsequent am Vertrag orientiert. Auch die genannten Normen enthalten keinen Hinweis darauf, daß es eine verbraucherspezifische Vertragsgrundlage geben soll. Umgekehrt bestätigen aber die verbraucherrechtlichen Vorschriften, daß die zentralen Regelungsmechanismen im BGB nach wie vor am Vertrag und am Vertragsschluß ansetzen, nicht an (wie auch immer gesetzlich in Bezug genommenen) Zwischenebenen.
IV. Praktische Konsequenzen Diese Unterscheidung läßt sich prüfungstechnisch leicht umsetzen: Ob jemand Verbraucher ist oder nicht, kann für die Frage bedeutsam sein, ob er einen Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt wirksam geschlossen hat, ob der Vertragsinhalt teilweise durch zwingendes Gesetzesrecht zu ersetzen ist und ob der Konsens durch Widerruf endgültig beseitigt worden ist. Liegt all dies nicht vor, so verläßt man das Feld des Verbraucherrechts; steht culpa in contrahendo oder eine Störung der Geschäftsgrundlage oder beides in Rede, so gelangt man in das Minenfeld der Generalklauseln; und in diesem Felde bietet allein eine restriktive Auslegung eine gewisse Sicherheit. Daran kann die Verbrauchereigenschaft einer Partei nichts ändern, weil sie bereits bei der Prüfung des Vertragsschlusses berücksichtigt worden ist; eine weitere Verwertung auf der Ebene generalklauselartig kodifizierter Lösungs- und Modifikationsrechte ist systemwidrig.
E. Systemdefizit und Rekodifikation Kodifikationstheoretisch betrachtet, soll das Recht aus dem Gesetz erkennbar sein, jedenfalls für den Juristen im Wege der Auslegung. Die geschichtliche Erfahrung lehrt, daß gerade durch die Auslegung sodann dogmatische Zwischenschichten zwischen Gesetzeswortlaut und praktiziertem Recht entstehen; sie müssen von Zeit zu Zeit durch Rekodifikation34 überprüft werden. Was im Interesse der Rege34
Klassisch: Natalino Irti, L’età della decodificazione, 4. Aufl., Milano 1999.
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lungsfunktion des Gesetzes nicht auf Dauer toleriert werden kann, ist eine Divergenz von law in action und law in the books. Entweder man übernimmt die gewachsene Dogmatik in den Normtext, oder man faßt die Norm so, daß für den Rechtsanwender klar wird, welche Deutungen der Gesetzgeber verworfen hat. Bloße „Merkzettelgesetzgebung“ hingegen genügt den Anforderungen an eine codification à droit constant nicht35. In dieser Optik läßt sich den Verbraucherschutznormen von 2001 mehr abgewinnen als den allgemeinen Vertragsrechtsvorschriften der §§ 311, 313. Das Verbraucherrecht erscheint insoweit systembewußter als das allgemeine Zivilrecht. Bei der nächsten Novelle wird der Gesetzgeber sich zu fragen haben, ob er wirklich eine Zwischenebene zwischen Vertrag und Nichtvertrag will. Das betrifft altehrwürdige Normen wie § 269 ebenso wie die Reform von 2001. Wünschenswert wäre eine Rückbesinnung auf den Grundsatz, daß die Parteien entweder kontrahiert haben oder nicht; darauf, daß es eine faktische Grauzone geben kann, in welcher der Parteiwille sich ausdrücklich oder nur konkludent äußert, nicht aber eine dogmatische Grauzone zwischen Konsens und Nicht-Konsens. Die Regeln der Konsensbestimmung und der Auslegung von Willenserklärungen sind leistungsfähig genug, eine solche Grauzone insgesamt zu vermeiden. Soweit man hier aber überhaupt Raum für Unklarheiten lassen will, ist jedenfalls kein Raum für Statusfragen. Der Verbraucher konsentiert nicht anders als die Zivilperson. Dieser Grundsatz läßt sich bereits jetzt praktizieren, indem man die neuen Normen statusunabhängig und damit systemkonform auslegt; und nach den Erfahrungen der Schuldrechtsreform könnte eine solche Praxis dazu helfen, einen künftigen Reformgesetzgeber von Systemwidrigkeiten abzuhalten.
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Anders Rösler, in: ZGS 2003, S. 391, den schon „skizzenhaftes Gelingen“ freut.
Die neue Haftungsregelung für gerichtliche Sachverständige (§ 839 a BGB) auf dem zivilprozessrechtlichen Prüfstand Ludwig Häsemeyer Seit dem 01. 08. 2002 ist die Haftung gerichtlich bestellter Sachverständiger für Schäden aus gutachtlich veranlasster Unrichtigkeit gerichtlicher Entscheidungen besonders geregelt. Die Neuregelung wirft nicht nur hinsichtlich ihrer einzelnen Voraussetzungen manche Zweifelsfragen auf1, sondern sie wird im Grundsätzlichen dem nicht vollauf gerecht, dass sie – trotz ihres Standorts im materiellen Recht – zugleich in einem verfahrensrechtlichen Kontext steht: Ausschließlich geregelt wird die Verantwortung für Fehler, die ihre schädlichen Wirkungen in einem gerichtlichen Erkenntnis- und Entscheidungsprozess entfalten, deshalb erstrangig das Rechtsverhältnis zwischen den Verfahrensbeteiligten betreffen und nur subsidiär zu einer kompensatorischen Haftung des Sachverständigen führen sollen. Legislatorisch kommt dieses Rangverhältnis zwar in der Nötigung des Geschädigten zum Ausdruck, sein Heil zunächst in Korrekturen des Ausgangsprozesses und dessen Ergebnisses zu suchen (§§ 839 a Abs. 2, 839 Abs. 3 BGB), aber diese Vorschrift kann leer laufen (und die Beteiligten unnötig beschweren), weil die Haftungsregelung nicht mit den prozessrechtlichen Voraussetzungen abgestimmt worden ist, unter denen Fehler im Erkenntnisverfahren die Bestandskraft davon betroffener Entscheidungen ausschließen. Dies wird Irritationen insbesondere für solche Verfahren auslösen, die in hohem Maße auf Entscheidungshilfen durch Sachverständige angewiesen sind. Schon wurden Befürchtungen laut2, womöglich müsse künftig der Sachverständige fremde Zechen durch Entschädigung unterlegener Prozessparteien bezahlen. Hiervon dürften nicht zuletzt Arzthaftungsprozesse betroffen werden, sodass es erlaubt sein mag, die folgenden Gedanken Adolf Laufs als einem Wegbereiter des heutigen Arztrechts zu widmen.
1
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Hierzu: Wolfgang Jacobs, Die Haftung des gerichtlichen Sachverständigen, in: ZRP 2001, S. 489; Wolfgang Däubler, Die Reform des Schadensersatzrechts, in: JuS 2002, S. 625, 629; Gerhard Wagner, Das zweite Schadensersatzrechtsänderungsgesetz, in: NJW 2002, S. 2049, 2061; Matthias Kilian, Die Haftung des gerichtlichen Sachverständigen nach § 839a BGB, in: VersR 2003, S. 683; Martin Schöpflin, Probleme der Haftung des gerichtlichen Sachverständigen nach § 839a BGB, in: ZfS 2004, S. 241. Jacobs, in: ZRP 2001, S. 489, 491.
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A. Die frühere Rechtslage Vor dem Inkrafttreten des § 839 a BGB war die materiellrechtliche Haftungslage bei Fehlern gerichtlich bestellter Sachverständiger unübersichtlich. Anders als bei Privatgutachten begründet die Bestellung weder einen Vertrag unmittelbar zwischen dem Sachverständigen und den Verfahrensbeteiligten noch zwischen ihm und dem Gericht zugunsten der Beteiligten3. Die deshalb allein einschlägige Deliktshaftung konnte auf Rechts- oder Rechtsgutsverletzungen (§ 823 Abs. 1 BGB) nur in Ausnahmefällen gestützt werden, so bei Beeinträchtigungen der persönlichen Freiheit durch fälschlich empfohlene Zwangsunterbringung4 oder Gesundheitsverletzungen eines Beteiligten infolge nicht fachgerechter Untersuchung durch den Sachverständigen. Hiervon abgesehen, wurde (und wird) die Sachverständigenhaftung geprägt von der Verantwortlichkeit für sogenannte „reine Vermögensschäden“, insbesondere infolge von Sachverständigen veranlasster unrichtiger richterlicher Entscheidungen. Sie konnten nur über Schutzgesetzverletzungen (§ 823 Abs. 2 BGB) oder vorsätzliche sittenwidrige Schädigungen (§ 826 BGB) zur Ersatzhaftung führen. Für letztere lag die Verschuldensschwelle sehr hoch, für erstere fehlte es an einer allgemeinen verfahrenstypischen Schutznorm – Versuche, der prozessualen Wahrheitspflicht (§ 138 Abs. 1 ZPO) oder, spezieller, dem Gebot unparteiischer Gutachtenerstattung nach bestem Wissen und Gewissen (vgl. § 410 Abs. 1 S. 2 ZPO) diese Funktion beizulegen5, hatten keinen Erfolg. Als Schutzgesetze tauglich waren deshalb nur die Aussage- und Eidesdelikte, erstere (§ 153 StGB) wiederum mit dem strengen Vorsatzerfordernis, und letztere eröffneten die Haftung für Fahrlässigkeit nur bei Beeidigung des Sachverständigen (§ 163 StGB), die im „pflichtgemäßen Ermessen“ des Gerichts steht (§§ 402, 391 ZPO)6 und in der Praxis der Zivilgerichte kaum eine Rolle spielt, eine Bestätigung dafür, dass nur ein zufälliger Zusammenhang zwischen dem Zweck des Straftatbestandes und seiner schadensersatzrechtlichen Bedeutung besteht7. Paradoxerweise hatte nun aber gerade diese inkonsequente materiellrechtliche Haftungslage prozessrechtlich zu nahezu konsequenten und überzeugenden Grundsätzen geführt: Sachverständige konnten für fehlerhafte Gutachten nur unter 3
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Hierzu und zum Folgenden: Christoph Thole, Die Haftung des gerichtlichen Sachverständigen nach § 839a BGB, Köln u. a. 2004, S. 12 ff.; Andreas Cahn, Einführung in das neue Schadensersatzrecht, München 2003, Rdnr. 144 ff.; MünchKommBGB/Wagner, 5. Bd., 4. Aufl., München 2004, § 839 a Rdnr. 1 ff.; StaudingerBGB/Wurm, 13. Bearb., Berlin 2002, § 839 a BGB Rdnr. 1 f.; AnwKomm-BGB/Huber, Bonn 2002, § 839 a Rdnr. 18 ff. Für die Haftung im Rechtsstreit grundsätzlich bedeutsam sind: BGHZ 62, S. 54 = JZ 1974, S. 548 (m. Anm. Hopt) einerseits und BVerfG, NJW 1979, S. 305 = JZ 1979, S. 60 (m. Anm. Starck), andererseits. So insbesondere Klaus Schreiber, Die zivilrechtliche Haftung der Prozessbeteiligten, in: ZZP 105 (1992), S. 129, 134 ff. Vgl. nur BGH, NJW 1998, S. 3355 f. Eingehend Thole, Haftung des Sachverständigen, S. 29 ff.
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Voraussetzungen in die Pflicht genommen werden, die zugleich erlaubten, die infolge des Gutachtens ihrerseits fehlerhaften Entscheidungen zu korrigieren, selbst wenn sie bereits in Rechtskraft erwachsen waren. Auf „strafbare Verletzungen der Wahrheitspflicht“ kann die Restitutionsklage gestützt werden (§ 580 Nr. 3 ZPO), und für vorsätzliches Handeln eines Beteiligten hatte die Rechtsprechung längst die Möglichkeit einer „Rechtskraftdurchbrechung mittels Schadensersatzklage“ (§ 826 BGB) entwickelt, welche die, restitutionsrechtlich gebotene (§ 581 ZPO), vorgängige Durchführung eines Strafverfahrens erübrigte8. Haftungs- und Aufhebungsvoraussetzungen waren also nach dem damaligen Stand der Dinge – cum grano salis – deckungsgleich. Der Sachverständige sollte (als Dritter) nicht von einem Verfahrensbeteiligten in Anspruch genommen werden können für die Folgen einer Entscheidung, die selbst nicht mehr korrigiert werden konnte. Offenbar hat sich dieser Grundsatz – zum Schutz der Rechtskraft – auch in der Rechtspraxis behauptet. Die vereinzelt gebliebene Intervention des Bundesverfassungsgerichts9 zugunsten einer Haftung des Sachverständigen auch für grobe Fahrlässigkeit hatte eine Verletzung der persönlichen Freiheit durch einen jederzeit korrigierbaren Unterbringungsbefehl zum Anlass, berührte also den Schutz der Rechtskraft jedenfalls nicht unmittelbar.
B. Die Neuregelung Die neue Haftungsregelung geht in ihrem Kern auf einen Vorschlag der Kommission für das Zivilprozessrecht zurück10. Sie soll zum ersten einen einheitlichen Haftungsmaßstab an die Stelle der bisherigen, eher zufälligen Haftungsdifferenzierungen setzen (§ 839 a Abs. 1 BGB), dessen Festlegung auf „grobe Fahrlässigkeit“ einerseits die Beteiligten, im Sinne der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, effizienter schützt, andererseits einer beliebigen „Wiederaufrollung rechtskräftig abgeschlossener Prozesse im Gewande des Sachverständigenhaftungsprozesses“ vorbeugt und dem Sachverständigen die „innere Freiheit“ zu eigenverantwortlichen Schlussfolgerungen garantiert11. Zum zweiten sollen die von einer fehlerhaften Begutachtung betroffenen Beteiligten angehalten werden, drohenden Schaden möglichst schon im Hauptprozess abzuwenden12. Ohne den Einsatz aller zulässigen Rechtsbehelfe („Rechtsmittel“) dort bleibt ihnen der Regressprozess gegen den Sachverständigen verwehrt (§§ 839 a Abs. 2, 839 Abs. 3 BGB). Wieweit diese Konzeption im Regelungskontext eines Zivilprozesses trägt, der Streit und Rechtsungewissheit in angemessener Zeit, notfalls mit einer bestands8
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Vgl., auch zur Fragwürdigkeit, MünchKomm-ZPO/Braun, 2. Bd., 2. Aufl., München 2000, Vor § 578 Rdnr. 10 ff. Die Berechtigung dieser Rechtsprechung kann hier dahinstehen. BVerfG, NJW 1979, S. 305 = JZ 1979, S. 60 (m. Anm. Starck). Bericht der Kommission für das Zivilprozessrecht, 1977, S. 42 f. RegE, Begründung, BT-Drs. 14/7752, S. 28. Vgl. BT-Drs. 13/10435, S. 4.
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kräftigen Entscheidung, beenden muss, erscheint zumindest unter drei Aspekten überprüfungsbedürftig: Zum ersten muss präzisiert werden, welcher Haftungstatbestand überhaupt geregelt und, damit zusammenhängend, worauf der Haftungsmaßstab zugeschnitten ist. Dieser muss zum zweiten ein gegenüber dem Hauptprozess selbständiges Urteil über die Verantwortlichkeit des Sachverständigen erlauben, das gleichwohl zum dritten die Rechtskraft im Hauptprozess ergehender Entscheidungen nicht entwerten darf. I. Das haftungsrelevante Verhalten Tatbestandlich lässt die Regelung manche Wünsche offen. Man erfährt aus der Gesetzesbegründung, dass sie „abschließend“ gemeint sei (deshalb auch ihr systematischer Standort)13, aber diese Wirkung bezieht sich nach dem Wortlaut des Gesetzes nur auf die Gutachtenerstattung und die dadurch vermittelte Unrichtigkeit gerichtlicher Entscheidungen (abschließenden oder nicht abschließenden Charakters). Danach bliebe jedes sonstige schädigende Verhalten eines Sachverständigen im Prozessverlauf ebenso dem allgemeinen (bisher einschlägigen) deliktischen Haftungsrecht unterstellt wie ferner auch gutachtlich initiierte, aber nicht durch gerichtliche Entscheidungen vermittelte Schädigungen. Gestützt wird diese Auffassung beispielsweise dadurch, dass der Sachverständige für schädigende Handlungen bei der Vorbereitung des Gutachtens, etwa für leicht fahrlässige Gesundheitsverletzungen bei der Untersuchung eines Prozessbeteiligten, offenbar unbestrittenermaßen14, weiterhin nach allgemeinem Deliktsrecht haftet (§ 823 Abs.1 BGB). Dagegen soll nach der Gesetzesbegründung und -geschichte15 jede, auch die allgemeine deliktische Haftung des Sachverständigen ausgeschlossen sein, wenn auf Grund seines (unrichtigen) Gutachtens der Rechtsstreit nicht mit einer Entscheidung, sondern in anderer Weise, insbesondere durch Prozessvergleich, beendet wird. Glücklich mit dieser legislatorischen Absichtserklärung ohne legislative Publizität ist niemand16. Sie überzeugt sachlich nicht, jedenfalls nicht für Verhaltensweisen, die womöglich der Haftung nach §§ 823 Abs. 2 BGB, 153, 154 StGB oder § 826 BGB zuzurechnen sind; man denke etwa an leichtfertig unrichtig, weil mit überschießender Vergleichsfinalität erstattete Gutachten. Die für den Haftungsausschluss angeführten Ermittlungshindernisse, ob nämlich die Beteiligten zum Vergleichsschluss gerade durch das unrichtige Gutachten motiviert worden seien, fallen demgegenüber nicht ins Gewicht, sind vielmehr dem auch sonst häufig erforderlichen Nachweis psychisch vermittelter Kausalität durchaus vergleichbar. 13 14
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RegE, Begründung BT-Drs. 14/7752, S. 28. Vgl. AnwKomm-BGB/Huber, § 839 a Rdnr. 3, MünchKomm-BGB/Wagner, 839 a Rdnr. 25. Bericht der Kommission für das Zivilprozessrecht, S. 143; BT-Drs. 14/7752, S. 28. Vgl. Cahn, Einführung, Rdnr. 156 ff.; MünchKomm-BGB/Wagner, § 839 a Rdnr. 20; Wagner, in: NJW 2002, S. 2049, 2062 f.; AnwKomm-BGB/Huber, § 839 a Rdnr. 46; Thole, Haftung des Sachverständigen, S. 183 ff.
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Wenn deshalb eine derartige Haftung grundsätzlich geboten ist, dann freilich eher nach der neuen speziellen als nach der bisherigen allgemeinen Haftungsregelung17: Zum ersten verhinderte der von einer Beeidigung unabhängige einheitliche und eingeschränkte Haftungsmaßstab (§ 839 a Abs. 1 BGB) das wohlfeile Nachtarocken individueller Vergleichsspekulationen und verschöbe die Gewichte hin zu dem einleuchtenderen Wirkungszusammenhang zwischen einer deutlichen Normabweichung des Gutachtens und dadurch indizierten Fehlbeurteilungen der Vergleichspartner. Zum zweiten nötigte das Gebot der Schadensabwendung im Hauptverfahren (§ 839 a Abs. 2 BGB) die Parteien zur Revision ihres Vergleichs, notfalls unter Fortsetzung des Hauptprozesses, nach Maßgabe etwaiger Mängel in der Vergleichsgrundlage (§ 779 Abs.1 BGB)18 oder, bei äquivalenzstörenden Gutachtenfehlern, in der allgemeinen Geschäftsgrundlage (§ 313 BGB)19. So würde vermieden, dass eine Partei einen nach dem wahren Stand der Dinge unberechtigten „Vergleichsgewinn“ einstreicht und die andere dafür vom Sachverständigen entschädigt werden muss. Beide Aspekte sind für die Sachverständigenhaftung von grundsätzlicher Bedeutung, auch im Zusammenhang mit gutachtenbedingt fehlerhaften Gerichtsentscheidungen (dazu im folgenden). Nicht zuletzt deshalb ist zu bedauern, dass wegen seines insoweit klaren Wortlauts § 839 a BGB auf Verfahrensbeendigungen ohne gerichtliche Entscheidung nicht angewendet werden kann. II. Der Haftungsmaßstab Der Haftungsmaßstab der Regelung ist ihrer Genese wie ihrem materiellen Gehalt nach zugeschnitten auf Schädigungen, die den Parteien über Gerichtsentscheidungen zugefügt werden. Ursprünglich sollte die Vorschrift allein für „das Verfahren abschließende Entscheidungen“ gelten, daraus folgende sogenannte „Urteilsschäden“20 ausgleichen. Die Implikationen für die Rechtskraft solcher Entscheidungen im Hauptstreit waren mit der (schon genannten) Zielsetzung einkalkuliert, einem Stellvertreterstreit möglichst den Anreiz zu nehmen; ferner sollte die Verantwortung des Sachverständigen an die besonderen Bedingungen eines Rechtsstreits mittels „Sicherung der inneren Freiheit“21 zur Gutachtenerstattung angepasst werden. 17
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So auch MünchKomm-BGB/Wagner, § 839 a Rdnr. 20; a. A. Cahn, Einführung, Rdnr. 158. Unangemessen eng ist dessen Kausalitätsbezug allein auf die Streitentstehung. Dazu Staudinger-BGB/Marburger, 13. Bearb. 2002, § 779 Rdnr. 74 a. E., MünchKommBGB/Habersack, § 779 Rdnr. 65. Zur Geltung Jauernig-BGB/Vollkommer, 11. Aufl., München 2004, § 779 Rdnr. 20. Eingehend Thole, Haftung des Sachverständigen, S. 116 ff.; zu diesen Differenzierungen schon Ludwig Häsemeyer, Schadenshaftung im Zivilrechtsstreit, Heidelberg, Hamburg 1979, S. 168 ff. Vgl. Schöpflin, in: ZfS 2004, S. 241, 242: Als bloßer „Bedenkenträger“ ist der Sachverständige nicht hilfreich.
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Unter beiden Aspekten ist die Haftungsbeschränkung auf Vorsatz und grobe Fahrlässigkeit in der Tat akzeptabel: Sie enthält, mit ersterem ohnehin, aber auch mit letzterer, ein Eindeutigkeitselement, und zwar nicht ausschließlich im Hinblick auf den Schuldvorwurf, sondern darüber hinaus, zumindest mit Reflexwirkungen, auch für die Bestimmung der konkreten Pflichtanforderungen, für die Erkennbarkeit von Pflichtverstößen und die Kausalität der Gutachtenfehler für die Entscheidung. Dies ist wichtig in einem so diffizilen Erkenntnisprozess, wie ihn Rechtsstreit und -ungewissheit erfordern. Im Zusammen- und Widerspiel der Beteiligten (Gericht, Parteien, Sachverständige, Zeugen22) braucht es klare, zweifelsfreie Zurechnungskriterien, um die Verantwortung einzelner Beteiligter für Entscheidungsfehler ermitteln zu können. Dies dient zugleich dem Schutz der Entscheidung selbst, deren Bestandskraft nur durch als gewichtig ausgewiesene Zweifel in Frage gestellt werden darf, und auch dem Schutz der Beteiligten: Es gilt zu verhindern, dass sie mit Sekundärprozessen allein zwecks Artikulation erlittener Enttäuschungen überzogen werden – gerade im Zivilprozess eine allgegenwärtige Gefahr, weil nur eine Partei Recht bekommen kann. Ferner hält der Maßstab des § 839 a Abs. 1 BGB auch einer Überprüfung im Vergleich mit der vor ihm geltenden Haftungslage stand. Früher war anerkannt, dass der beeidigte Sachverständige, außer für Vorsatz (§§ 153, 154 StGB, 823 Abs. 2 BGB), schon für einfache Fahrlässigkeit (§§ 163 StGB, 823 Abs. 2 BGB) haften müsse, wobei dann aber die vorgängige Aufhebung der Entscheidung im Hauptprozess ein Strafverfahren mit für ihn günstigerer Beweislage (in dubio pro reo) erforderte (§§ 580 Nr. 3, 581 ZPO) – ein anderer, freilich umständlicherer Weg, zu einer eindeutigen Verschuldensfeststellung zu gelangen. Demgegenüber konnte (und kann) das Spruchprivileg für Richter (§ 839 Abs. 2 BGB) mit seiner weitergehenden Haftungsbeschränkung auf Vorsatz nur wegen des den Richter treffenden Entscheidungszwanges gerechtfertigt werden, und die Haftung des Zeugen hätte (entgegen §§ 163 StGB, 823 Abs. 2 BGB) ohnehin an ein qualifiziertes Verschulden anknüpfen sollen23, weshalb heute zu Recht empfohlen wird, § 839 a Abs. 1 BGB auf sie analog anzuwenden24. III. Der Vorrang des Hauptprozesses Der Haftungsmaßstab (§ 839 a Abs. 1 BGB) erweist sich also im doppelten Sinne als tauglich, für die Inpflichtnahme des Sachverständigen wie für die zureichende 22
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Die Haftung des Anwalts gegenüber der von ihm vertretenen Partei ist anders strukturiert. Er haftet für die (prozessuale) Korrektheit der Entscheidung infolge eigener Fehler. Dazu Jürgen Blomeyer, Die Haftung des Staates für die Verzögerung von Zivilprozessen, in: NJW 1977, S. 557, 561, und Häsemeyer, Schadenshaftung, S. 160 ff. Dazu Jürgen Blomeyer, Schadensersatzansprüche des im Prozess Unterlegenen wegen Fehlverhaltens Dritter, Köln u. a. 1972, S. 222 ff., auch Häsemeyer, Schadenshaftung, S. 165 ff. Thole, Haftung des Sachverständigen, S. 207 ff., und MünchKomm-BGB/Wagner, § 839 a Rdnr. 12.
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Bestandskraft der Entscheidung im Hauptprozess. Damit ist aber über das Verhältnis dieses Prozesses zum Regressprozess gegen den Sachverständigen noch nicht entschieden. Der allein auf rechtskraftfähige, das Verfahren abschließende Entscheidungen gemünzte Vorschlag der Kommission für das Zivilprozessrecht mochte auf Grund der seinerzeitigen Rechtslage und restriktiven Regresspraxis davon ausgehen, dass nach wie vor die Restitutionsklage der Regressklage vorausgehen müsse, sie womöglich verdrängen werde25. Heute, mit dem Abstellen auf einen nicht mehr durchweg restitutionskonformen Maßstab26, kann dieses nicht mehr vorausgesetzt werden. Deshalb ist die Haftungsregelung im Gesetzgebungsverfahren folgerichtig um die Haftungsausschlussklausel (§ 839 a Abs. 2 BGB mit § 839 Abs. 3 BGB) ergänzt worden, die den Geschädigten vorrangig auf „Rechtsmittel“ im Hauptprozess verweist, um Schaden zu vermeiden. Hierfür mag der bis heute fortgeschriebene Zusammenhang mit dem Prinzip des Mitverschuldens (§ 254 BGB) noch eine gewisse Legitimationswirkung haben. Aber der inzwischen allgemein für die Amtshaftung herausgearbeitete Regelungszweck, Geschädigte vorrangig auf den Primärrechtsschutz zu verweisen27, prävaliert auch für den Zivilprozess. Man soll sein Recht dem gegenüber suchen, der es schuldet, darf es nicht deshalb preisgeben, weil man gegebenenfalls Dritte dafür haftbar machen kann. §§ 839 a Abs. 2, 839 Abs. 3 BGB statuieren einen ausnahmslosen Vorrang des Hauptprozesses für sämtliche Fälle in ihm möglicher Rechtswahrung. Es entspricht auch der Prozessökonomie, den Streit dort zu konzentrieren, wenn und weil er schließlich, nach Ausschöpfung sämtlicher Streitmittel, mit einer einzigen – rechtskraftfähigen – Entscheidung und allseitig friedensstiftender Wirkung (hier auch: die behauptete Unrichtigkeit des Gutachtens bestätigend oder widerlegend) entschieden werden kann. Dadurch werden Schäden gering gehalten und Regressprozesse vermindert. Diese augenfälligen Vorteile nötigen nicht nur zur extensiven Auslegung des Begriffs „Rechtsmittel“ (§ 839 Abs. 3 BGB), sondern auch zum Wiederaufgreifen der überkommenen Frage, wie sich die Restitutionsvoraussetzungen gegenüber dem Gegner und die Regressvoraussetzungen gegenüber dem Sachverständigen zueinander verhalten. 1. Der Rechtsmittelbegriff wurde und wird schon nach der Bezugsnorm für das Amtshaftungsrecht (§ 839 Abs. 3 BGB) in einem weiten, nicht prozessrechtlich definierten Sinne verstanden28. Ebenso sind ihm für die Sachverständigenhaftung 25
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Darauf deutet auch die alternative Erwägung einer Staatshaftung für den Sachverständigen (Bericht der Kommission für das Zivilprozessrecht, S. 142) hin, die § 839 Abs. 3 BGB unmittelbar ins Spiel gebracht hätte. Eingehend Thole, Haftung des Sachverständigen, S. 149 ff. Zum Diskussionsstand: MünchKomm-BGB/Wagner, § 839 a Rdnr. 30, und MünchKomm-BGB/Papier, § 839 Rdnr. 330. Vgl. MünchKomm-BGB/Papier, § 839 Rdnr. 331; zur gemeinschaftsrechtlichen Stichhaltigkeit der Vorschrift s. EuGH, JZ 1996, S. 789, 794 = EWS 1996, S. 168, 174
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im Zivilprozess sämtliche der Rechtswahrnehmung dienliche Parteibefugnisse zuzurechnen, vom Parteivortrag über die Benennung tauglicher (Gegen-) Beweismittel bis hin zu den explizit den Parteien gegenüber Gutachten zuerkannten Rechten (vgl. § 411 Abs. 4 ZPO). Auch die Befugnis zur Ablehnung eines Sachverständigen (§ 406 ZPO) muss genutzt werden, freilich mit der Einschränkung, dass der auf Regress in Anspruch genommene Sachverständige sich nicht auf die Versäumung seiner Ablehnung berufen kann, wenn er nicht selbst etwaige Befangenheitsgründe im Hauptprozess offengelegt hat29. 2. Dass der Geschädigte (erfolgversprechende30) Rechtsmittel im prozessrechtlichen Sinne gegen Entscheidungen in der Hauptsache (Berufung, Revision) wie gegen Nebenentscheidungen (Beschwerde) zwecks Schadensabwendung einlegen muss, sollte selbstverständlich sein. Begrifflich exakter sind gegen noch nicht rechtskräftige Entscheidungen in der Hauptsache „ordentliche Rechtsmittel“ gegeben (vgl. § 19 EGZPO), zu denen man die in unserem Zusammenhang grundsätzlich bedeutsame Wiederaufnahme des Verfahrens nicht zählen kann. Weil auf Beseitigung der formellen Rechtskraft gerichtet, muss sie durch „Klage“ geltend gemacht werden (§ 578 ZPO). Im Blick auf ihr Ziel, die Fortsetzung des abgeschlossenen Verfahrens, handelt es sich indes um ein „außerordentliches Rechtsmittel“31. Die wohl herrschende Auffassung rechnet auch sie den „Rechtsmitteln“ zur Sicherung des Primärrechtsschutzes zu, auch gegenüber abschließenden Entscheidungen auf Grund fehlerhafter Gutachten32. Dies widerspricht nicht dem mit § 839 a Abs. 1 BGB verfolgten Zweck, ein „Wiederaufrollen des Hauptverfahrens im Gewande eines Regressprozesses“ zu hindern33. Verhindert werden soll allein ein Stellvertreterprozess gegen den Sachverständigen an Stelle eines nicht mehr restituierbaren Hauptprozesses. Greift die Restitutionsklage, entfällt gerade dieser Zweck. Die Vorrangklausel (§§ 839 a Abs. 2, 839 Abs. 3 BGB) ist einschlägig, und die Haftungsbeschränkung (§ 839 a Abs. 1 BGB) behält unabhängig hiervon ihren Schutzcharakter zu Gunsten des Sachverständigen.
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(Rdnr. 84 f.), und Jörg Gundel, Gemeinschaftsrechtliche Haftungsvorgaben für judikatives Unrecht – Konsequenzen für die Rechtskraft und das deutsche „Richterprivileg“ (§ 839 Abs. 2 BGB), in: EWS 2004, S. 8, 15. Im einzelnen ist manches streitig. Vgl. Cahn, Einführung, Rdnr. 170 ff., MünchKommBGB/Wagner, § 839 a Rdnr. 30 f. Die Verschuldenserfordernisse können hier vernachlässigt werden. Dazu Othmar Jauernig, Kein Rechtsschutzinteresse für erneute Nichtigkeitsklage?, in: NVwZ 1996, S. 31. Vgl. MünchKomm-BGB/Papier, § 839 Rdnr. 331; Thole, Haftung des Sachverständigen, S. 155 ff.; einschränkend MünchKomm-BGB/Wagner § 839 a Rdnr. 31; ablehnend Cahn, Einführung, Rdnr. 172 ff. A. A. Cahn, Einführung, Rdnr. 172.
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Die Bedenken, den Geschädigten zunächst auf die Restitutionsklage im Hauptprozess zu verweisen, liegen an anderer Stelle: Das derzeitige Restitutionsrecht mutet dem Restitutionskläger mit den Voraussetzungen einer Straftat des Sachverständigen und, im Regelfalle, dessen strafgerichtlicher Verurteilung (§§ 580 Nr. 3, 581 ZPO) einen wahren Hindernislauf zu34. Allenfalls bei vorsätzlicher Falschbegutachtung, Kollusion zwischen Sachverständigem und Gegner, oder wenn der Gegner eine ihm bekannte Unrichtigkeit des Gutachtens ausnutzt, kann der von der Rechtsprechung entwickelte Sekundärrechtsbehelf einer „Rechtskraft durchbrechenden“ Schadensersatzklage (§ 826 BGB)35 der geschädigten Partei den ihr aufgenötigten Primärrechtsschutz erleichtern. Freilich trägt sie in jedem Falle noch das Kostenrisiko für den Erfolg der Restitutions- oder Schadensersatzklage, das zwar von ihrem Schadensersatzanspruch gegen den Sachverständigen abgedeckt wird36, aber die Durchsetzung dieses Anspruchs im Sekundärprozess kostet wiederum Zeit und Geld, und ihr Erfolg will erst errungen sein. 3. Nicht nur durch die Nötigung zu einem vorgängigen Strafverfahren wird der Vorrang des Primärrechtsschutzes nach rechtskräftigem Abschluss des Hauptprozesses in Frage gestellt, sondern, grundsätzlicher noch, auch durch die jetzige Abweichung der Haftungs- von den Restitutionsvoraussetzungen: Der Sachverständige haftet (außer für Vorsatz) stets für grobe Fahrlässigkeit, unabhängig davon, ob er beeidigt worden ist und sich deshalb strafbar gemacht hat (§ 839 a Abs. 1 BGB einerseits, §§ 580 Nr. 3 ZPO, 163 StGB andererseits). Die früher angestrebte Deckungsgleichheit der Restitutions- und Haftungsvoraussetzungen37 bleibt nur noch für vorsätzliches Handeln (§§ 153, 154 StGB, 823 Abs. 2, 826 BGB) gewahrt38. Sie ist im übrigen dem unsicheren und seinerseits nicht haftungsspezifischen Kriterium der Beeidigung (§§ 410, 402, 391 ZPO)39 überantwortet. Eine nach Maßgabe der Beeidigung im jeweiligen Hauptverfahren differierende, und das heißt, halbherzige, wenn nicht zufällige Problemlösung kann aber nicht ernsthaft in Betracht gezogen werden. Ein strikter legislatorischer Beeidigungszwang ist nicht zu erwarten. Auf deshalb drohende skurrile praktische Folgen hat man schon hingewiesen40: Die strafrechtliche Verantwortung für den Falscheid entlastet von der zivilrechtlichen Verantwortung für den dadurch verursachten Schaden, die Straffreiheit im Falle uneidlicher Falschaussage verschärft die Gefahr zivilrechtlicher Inanspruchnahme. Unter diesem Aspekt müssten dann 34
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Auch dazu Cahn, Einführung, Rdnr. 173; ferner MünchKomm-BGB/Wagner, § 839 a Rdnr. 31. Vgl. MünchKomm-ZPO/Braun, Vor § 578 Rdnr. 10 ff. (m.w.N.). Dazu noch unten bei Fn. 65. Vgl. bei Fn. 8 und 25. Dazu Thole, Haftung des Sachverständigen, S. 58 f., 207 ff. (im Zusammenhang mit der Haftung des Zeugen). Vgl. oben bei Fn. 6 f. Cahn, Einführung, Rdnr. 174; Thole, Haftung des Sachverständigen, S. 155 f.
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Sachverständige stets auf ihre Beeidigung drängen, Parteien müssten darauf verzichten; und ein unbeeidigter Sachverständiger könnte sich zivilrechtliche Haftungserleichterung verschaffen mit der Behauptung, wenn überhaupt schuldhaft, habe er jedenfalls mit bedingtem Vorsatz gehandelt41. Man wird sich also entscheiden müssen, die Restitutionsklage entweder stets, unter Modifizierung ihrer Voraussetzungen, zuzulassen und den „Rechtsmitteln“ des Primärrechtschutzes zuzurechnen, oder in keinem Falle. Für ersteres ist vor allem auf den Wert und die Schutzwürdigkeit der Rechtskraft sowie auf den mit § 839 a Abs. 2 BGB bezweckten, fragwürdige Sekundärkompensationen hintanhaltenden Vorrang des Primärrechtsschutzes zu verweisen, für letzteres auf die zuvor skizzierten42 Erschwernisse der Rechtsverfolgung, sofern sie dem Restitutionskläger weiterhin zugemutet werden müssen. Die Entscheidung über den Vorrang des Primärrechtsschutzes in diesen Fällen ist allein im Blick auf die Neuregelung der Sachverständigenhaftung zu treffen, unabhängig vom (allgemeinen) Anwendungsbereich ihrer Bezugsnorm (§ 839 Abs. 3 BGB), weil sich für sonstige Regressansprüche das Verhältnis der Haftungs- zu den Restitutionsvoraussetzungen womöglich anders darstellt.
C. Regressrecht und Restitutionsrecht Mit der Verbindung der beiden Komponenten, die Haftung des Sachverständigen zumindest an qualifizierte Fahrlässigkeit und damit eindeutige Fehler zu knüpfen, und die geschädigte Partei vorrangig auf den Primärrechtsschutz gegenüber ihrem Gegner zu verweisen, ist dem Gesetzgeber eine im Ansatz überzeugende neue Haftungsregelung gelungen. Einen Schwachpunkt bildet aber – neben der Ausklammerung des durch Gutachtenfehler motivierten Prozessvergleichs aus dem Anwendungsbereich43 – die Vernachlässigung der restitutionsrechtlichen Aspekte entscheidungsbedingter Regresse: Wer, zu Recht, Differenzierungen in Verfolg der gerichtlichen Beeidigungspraxis, weil nicht haftungsspezifisch, für die Voraussetzungen der Haftung beseitigt, darf es nicht bei eben diesen Differenzierungen als – theoretischen wie praktischen – Stolpersteinen für den gleichfalls zu Recht statuierten Vorrang des Primärrechtsschutzes belassen44. Immerhin sollte in der Neuregelung und ihren Zielsetzungen genügend legislatorische Kraft stecken, um die vernachlässigte flankierende Restitutionsregelung aus dem jetzigen positiven Recht zu entwickeln.
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Das genügt für § 154 StGB, vgl. Lackner/Kühl, StGB, 24. Aufl., München 2001, § 154 Rdnr. 5. Vgl. oben bei Fn. 34 ff. Vgl. oben bei Fn. 15 ff. Insoweit handelt es sich um ein legislatorisches Versäumnis, nicht um eine „implizite“ Neuregelung, wie Thole, Haftung des Sachverständigen, S. 208, meint.
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I. Schutz der Rechtskraft Vor allem gilt es die Rechtskraft institutionell gegen Glaubwürdigkeitsverluste zu schützen. Sie wird zwar nicht unmittelbar betroffen, wenn im nachfolgenden Regressprozess die unterlegene Partei gegen den Sachverständigen ein Urteil auf Schadensersatz erstreitet. Nicht ihre Wirkungen und ihre objektiven wie subjektiven Grenzen sind dann maßgebend; daraus lassen sich weder positiv (Rechtskrafterstreckung auf den Sachverständigen?45) noch negativ (Zulässigkeit des Regressprozesses?46) Schlüsse für die Restitutionsproblematik ziehen. Aber die Rechtskraft kann ihre Befriedungsfunktion im (Haupt-) Prozess nicht mehr erfüllen, und man kann sich auch nicht dabei beruhigen, dass sie auch sonst, wegen ihrer engen objektiven und subjektiven Grenzen, Widersprüche provoziere. Diese zu vermeiden, ist (mit der Dispositionsmaxime) den Parteien überantwortet. Sie allein entscheiden über den ihren Interessen angemessenen Rechtsschutz und dessen objektive (Klagehäufung, Zwischenfeststellungsklage) oder subjektive (Streitgenossenschaft, Streitverkündung) Ausweitung47. Fehlerhaften Urteilen und deren Folgen können die Parteien dagegen nur begrenzt, durch sorgsame Verfahrensführung im Verhältnis zum Gegner vorbeugen. Eben dem entspricht die vorrangige Verweisung der geschädigten Partei auf den Primärrechtsschutz (§§ 839 a Abs. 2, 839 Abs. 3 BGB) sowie die Notwendigkeit, dessen Zulässigkeit mit der einer nachfolgenden Regressklage gegenüber dem Sachverständigen als verfahrensbeteiligtem Dritten abzustimmen. Anderenfalls degeneriert die Rechtskraft des Urteils im Hauptprozess über den Verlauf des Regressprozesses zu einer bloßen Zwangsbefriedung ohne innere Legitimation. Im Regressprozess steht neben der Richtigkeit des in Frage gestellten Gutachtens das Urteil mit allen tatsächlichen und rechtlichen Feststellungen auf dem Prüfstand, weil der Einfluss behaupteter Gutachtenfehler auf den gesamten Entscheidungsduktus ermittelt werden muss: Fehler des Gerichts können die des Sachverständigen neutralisieren48; zu umstrittenen (Rechts-) Fragen muss das Zweitgericht seine eigene Auffassung zu Grunde legen, nicht die des Erstgerichts oder, prospektiv, eines Rechtsmittelgerichts im Hauptprozess49. Nicht nur die Glaubwürdigkeit des konkreten Ersturteils wird damit zerstört, sondern die der Rechtskraft als Institution, wenn man sie gleichwohl gegenüber solchen offengelegten Erschütterungen der Urteilsgrundlagen zu zementieren versucht. Es ist die sensible Aufgabe des Restitutionsrechts, die Rechtskraft nicht nur gegen Fremdentwertungen (nicht er-
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Befürwortend Klaus J. Hopt, Schadensersatz aus unberechtigter Verfahrenseinleitung, München 1968, S. 294 ff.; ders., in: JZ 1974, S. 552 f. Dazu Thole, Haftung des Sachverständigen, S. 58 f., 63 f. Vgl. Häsemeyer, Prozessrechtliche Rahmenbedingungen für die Entwicklung des materiellen Privatrechts, in: AcP 188 (1988), S. 140, 161 f. Zum Diskussionsstand Thole, Haftung des Sachverständigen, S. 124 ff. Allgemeine Auffassung: BGHZ 133, S. 110, 111 ff.; BGHZ 145, S. 256, 261; eingehend Blomeyer, Schadensersatzansprüche, S. 210 ff.; MünchKomm-BGB/Wagner, § 839 a Rdnr. 35 (m.w.N.).
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härtete Unrichtigkeitsbehauptungen) sondern auch gegen Selbstentwertungen (Beharren auf ihr trotz erhärteter Unrichtigkeit) zu schützen. Dass die Rechtskraft eines derart angreifbaren Urteils zwischen den Beteiligten selbst keine Rechtssicherheit, geschweige denn Rechtsfrieden stiftet, braucht kaum betont zu werden. Man kann weder der unterlegenen Partei begreiflich machen, dass sie dem Gegner die streitbefangene Rechtsposition belassen und sich dafür an den Sachverständigen halten muss, noch dem Sachverständigen, weshalb er für einen ungerechtfertigten Gewinn der obsiegenden Partei einstehen soll50. Schutz verdient hingegen das Vertrauen beider Parteien auf die Rechtskraft des Urteils bis zur Aufdeckung der Fehlerhaftigkeit51. Hierfür ist denn auch der Sachverständige jeder Partei verantwortlich52. II. Vermeidung von Wertverdoppelungen Nicht nur die Rechtskraft nimmt Schaden, sondern es kommt auch zu irregulären Wertschöpfungen, wenn sich die obsiegende Partei auf das Urteil im Hauptprozess berufen, die unterlegene Ersatz vom Sachverständigen verschaffen kann. Der Wert des streitbefangenen Rechts wird praktisch zu Gunsten der Beteiligten verdoppelt. Dieses insbesondere in Verfolg der Amtshaftung gelegentlich drohende, höchst ungute Ergebnis kann jedenfalls nicht durch einen Ausgleichsanspruch des Regresspflichtigen, hier des Sachverständigen, gegen den zu Unrecht Begünstigten, hier die obsiegende Partei, korrigiert werden, vielmehr nur zwischen den Beteiligten an der Wertbewegung, die den Regress ausgelöst hat53, hier also im Hauptprozess. Dem dient, wie stets (vgl. § 839 Abs. 3 BGB), so auch in unserem Falle (§ 839 a Abs. 2 BGB), die vorrangige Verweisung des Geschädigten auf den Primärrechtsschutz, folgerichtig verbunden mit der Beschränkung der Sachverständigenhaftung auf grobe Fahrlässigkeit, um einen Stellvertreterstreit möglichst auszuschließen. Wie nach früherem Recht sucht man auch mit der neuen Regelung zur Korrektur der ungerechtfertigten Wertbewegung dort anzusetzen, wo sie ihren Ausgang genommen hat; und dies erfordert eben gleiche Voraussetzungen für die Restitutionsklage gegen das Urteil im Hauptprozess und für die Verantwortlichkeit des Sachverständigen. 50
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Dazu schon Häsemeyer, Schadenshaftung, S. 159 f. Zu entsprechenden gemeinschaftsrechtlichen Beschränkungen der Staatshaftung für die Judikative zwecks Schutzes der Rechtskraft s. EuGH, EWS 2004, S. 19, 24 (Rdnr. 51 ff.); dazu Gundel, in: EWS 2004, S. 8, 11, 12 f., und Marten Breuer, Urteile mitgliedstaatlicher Gerichte als möglicher Gegenstand eines Vertragsverletzungsverfahrens gem. Art. 226 EGV?, in: EuZW 2004, S. 199, 201. Zur Vertrauensschutzkomponente der Rechtskraft MünchKomm-ZPO/Braun, § 580 Rdnr. 5. Vgl. noch unten bei Fn. 65. Eingehend (zu den Folgen der Formfehler einer Testamentserrichtung) Gerhard Kegel, Die lachenden Doppelerben, in: Horst Heinrich Jakobs (Hrsg.), Festschrift für Werner Flume zum 70. Geburtstag am 12. September 1978, Köln 1978, 1. Bd., S. 545 ff., 553 ff.
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III. Anpassung der Restitutionsgründe Die entscheidende Frage lautet, ob die derzeitige kasuistische, überwiegend auf Straftaten der Verfahrensbeteiligten fixierte Regelung der Restitutionsgründe (§ 580 ZPO) außer der vorsätzlichen und beeidigten fahrlässigen auch die unbeeidigte grob fahrlässige Falschbegutachtung mittels Analogie erfassen kann. Eine solche Erweiterung hat dann freilich für sämtliche Falschbegutachtungen Bedeutung, wenngleich mit unterschiedlichen Konsequenzen: Nach grob fahrlässiger unbeeidigter Falschbegutachtung, der mutmaßlich die Praxis weiterhin bestimmenden Hauptvariante, wird die Restitutionsklage (mangels einer Straftat) ohne vorgängiges Strafverfahren eröffnet. Bei Vorsatz oder Beeidigung muss die derzeit vorgeschriebene entsprechende Voraussetzung (§§ 580 Nr. 3, 581 ZPO) entfallen, um nicht die zivilrechtliche Verantwortung für die strafrechtlich schwerer wiegenden Verhaltensvarianten zu privilegieren54. Unabhängig davon, womit man die Restitutionsklage legitimiert, stärkeres Gewicht auf die Evidenz behaupteter Urteilsfehler und dafür beigebrachte liquide Beweismittel legt55, oder auf die je eigene Relevanz fehlerhaften Verfahrens einerseits, fehlerhafter Verfahrensergebnisse andererseits abhebt56, kommt eine Restitutionsklage jedenfalls gegen ein Urteil in Betracht, dessen Grundlagen auf den ersten Blick gegenüber allen Verfahrensbeteiligten erschüttert sind57. Das geltende Restitutionsrecht sucht dem mit dem Postulat neutraler, aus dem Parteienstreit herausgehaltener Unrichtigkeitsindikatoren Rechnung zu tragen: mit dem Erfordernis einer Straftat (§ 580 Nr. 1-5 ZPO), möglichst vorrangig im Strafverfahren festzustellen (§ 581 ZPO), oder der Vorlegung einer Urkunde, aus der sich die Unrichtigkeit des Urteils ergibt (§ 580 Nrn. 6, 7a, 7b ZPO). Auf dieser Grundlage hält man heute durchaus den Kanon der Restitutionsgründe für analogiefähig58, selbstverständlich nur insoweit, als die Zwecke der formellen wie materiellen Rechtskraft: Rechtssicherheit, Rechtsfrieden, Vertrauensschutz für die Parteien, nicht entwertet werden – und dies ungeachtet der fortdauernden, in unserem Zusammenhang nicht ergiebigen Diskussion über die Zulässigkeit „Rechtskraft durchbrechender“ Schadensersatzklagen wegen „Urteils54
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Hierzu und zu sonst drohenden Rückwirkungen auf die Beeidigungspraxis s. oben bei Fn. 40 f. Hans Friedhelm Gaul, Die Grundlagen des Wiederaufnahmerechts und die Ausdehnung der Wiederaufnahmegründe, Bielefeld 1956, insbes. S. 83 ff. Johann Braun, Rechtskraft und Restitution, 2. Teil, Berlin 1985, insbes. S. 26 ff., 30 ff., und MünchKomm-ZPO/Braun, § 580 Rdnr. 7 ff. (das Verhältnis zur Nichtigkeitsklage mag hier auf sich beruhen). Eingehend Ulrich Foerste, Wiederaufnahme des Zivilprozesses bei naturwissenschaftlichem Erkenntnisfortschritt, in: NJW 1996, S. 345 ff., 347; auch Jauernig, Zivilprozessrecht, 27. Aufl., München 2002, § 76 II, S. 315; Friedrich Stein, Martin Jonas, Wolfgang Grunsky, Kommentar zur ZPO, Bd. 5/1, 21. Aufl., Tübingen 1994, § 580 Rdnr. 1; ferner BGHZ 103, S. 121, 125 und BGH, NJW 2005, S. 222, 223. Vgl. Gaul, Wiederaufnahmerecht, S. 164 f.; Braun, Restitution, S. 138 ff., 149 ff., 201 ff.; Stein/Jonas/Grunsky, ZPO, § 580 Rdnr. 27; Susanne Würthwein, Neue wissenschaftliche Erkenntnisse und materielle Rechtskraft, in: ZZP 112 (1999), S. 447, 457 ff.
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erschleichung“ oder „-ausnutzung“59. Umstritten ist freilich, welche Grenzen die Konzeption des Restitutionsrechts solcher Analogie vorgibt, wieweit sich etwa Fortschritte der wissenschaftlichen Erkenntnis gegenüber der Rechtskraft durchsetzen60, oder ob bessere Erkenntnismittel Urteilen wenigstens Wirkungen für die Zukunft nehmen können61. Für die Restitutionsklage gegen Urteile, die auf fehlerhaften Gutachten beruhen, sind wir demgegenüber nicht darauf verwiesen, eine entsprechend spezifizierte Analogie aus der Restitutionsregelung selbst zu entwickeln. In unserem Zusammenhang genügt, dass diese Regelung überhaupt analogiefähig ist. Die legislatorische Ermächtigung zum Analogieschluss, dessen Voraussetzungen und Grenzen sind unmittelbar der Neuregelung der Sachverständigenhaftung zu entnehmen. Bis zur sogenannten „absoluten Rechtskraft“ des Urteils im Hauptstreit (§ 586 Abs. 2 S. 2 ZPO) – von da an prävaliert der Vertrauensschutz – kann die Restitutionsklage auf eine vorsätzliche oder grob fahrlässige Falschbegutachtung gestützt werden, und dies unabhängig von einer Beeidigung des Sachverständigen. Mit einem entsprechenden Unrichtigkeitsnachweis sind die Urteilsgrundlagen mit hinreichender Deutlichkeit erschüttert. Freilich benötigt dieser Nachweis eine neutrale Grundlage. Er wird nur durch die Vorlage eines neuen Gutachtens von einem allgemein als Fachgutachter für die einschlägigen Fragen bestellten und anerkannten Sachverständigen geführt werden können62. Dem muss die geschädigte Partei zwecks Wiederaufnahme des Hauptprozesses gegenüber dem Gegner (ohne vorgängiges Strafverfahren) genügen63. Dadurch wird sich eine (spätere) Schadensersatzklage gegen den Sachverständigen in zahlreichen Fällen – freilich auch abhängig von der Art des geltend gemachten Schadens (dazu sogleich) – erledigen64.
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Vgl. oben bei Fn. 35. So Foerste, in: NJW 1996, S. 345, 348 ff.; einschränkend Würthwein, in: ZZP 112, S. 447, 468 ff. So Braun, Restitution, S. 332 ff.; MünchKomm-ZPO/Braun, § 580 Rdnr. 59 ff. Zur restitutionsrechtlichen Tauglichkeit eines solchen Gutachtens s. Foerste, in: NJW 1996, S. 345, 351. Selbstverständlich sind die Parteien nicht gehindert, die Restitutionsklage mittels gütlicher Einigung abzuwenden. Ebenso selbstverständlich kann dadurch die Haftung des Sachverständigen in einem nachfolgenden Regressprozess nicht verschlechtert werden. Das Risiko übermäßigen Nachgebens im Hauptprozess trägt die geschädigte Partei. Im verwaltungsgerichtlichen Prozess liegt aufgrund entsprechender Verweisung (§ 153 Abs.1 VwGO) – dazu etwa Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl., München 2003, § 153 Rdnr. 1, 5, die Problematik gleich. Entschärft ist sie im Strafprozess auf Grund der restitutionsrechtlichen Zulassung „neuer Tatsachen und Beweismittel“ (§§ 359 Nr. 5, 364 Satz 2 StPO), wodurch der Restitutionsgrund strafbarer Verletzungen der Wahrheitspflicht (§§ 359 Nr. 2, 364 Satz 1 StPO) seine Bedeutung verloren hat. Dazu etwa Gerd Pfeiffer, Karlsruher Kommentar zur StPO, 5. Aufl., München 2003, § 359 Rdnr. 3, und Theodor Kleinknecht, Lutz Meyer-Goßner, StPO. Kommentar, 47. Aufl., München 2004, § 359 Rdnr. 23, § 364 Rdnr. 1.
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Erst diese restitutionsrechtlich zulässige und deliktsrechtlich legitimierte Analogie verhilft dem legislatorisch bezweckten Vorrang des Primärrechtsschutzes vor dem Regressprozess gegen den Sachverständigen zur vollen Wirksamkeit. IV. Umfang der Haftung Soweit den Parteien infolge der gutachtlich bedingt unrichtigen Entscheidung, insbesondere auch wegen der Verweisung auf den Primärrechtsschutz, Vermögensnachteile („Urteilsschäden“) entstehen, haftet der Sachverständige dafür. Er wird nur um den Wert des streitbefangenen Rechts von der Haftung entlastet. Beispielsweise kann der unterlegenen Partei ein irreparabler Schaden erwachsen, das Vertrauen der obsiegenden Partei auf die Rechtsbeständigkeit ihres Erfolges schadensträchtig enttäuscht worden sein. Ferner erwachsen im Restitutionsstreit den Parteien – unvermeidbare - Kosten, die nach Maßgabe der internen Verteilung ersetzt werden müssen65. Diese und weitere schadensträchtige Entwicklungen, wie das Unvermögen der zunächst obsiegenden, aber im Restitutionsstreit unterliegenden Partei, das erstrittene Recht zurückzuerstatten, zeigen, dass auch die zahlreichen Probleme der Schadenszurechnung schärfere Konturen gewinnen, wenn der Primärrechtsschutz zwischen den Parteien dem Regressprozess gegen den Sachverständigen voraufgeht.
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Zur Haftung gegenüber allen Beteiligten an der Wertverschiebung schon Kegel, Festschrift Flume I, S. 545, 557; zur entsprechenden Schadensersatzpflicht auf Grund § 839 a BGB Thole, Haftung des Sachverständigen, S. 116 ff., S. 134 ff., und Cahn, Einführung, Rdnr. 164 ff.
Die Generalklausel des § 242 BGB Christian Heinrich
A. Einführung I. Anwendungsbereich Die Rechtsordnung enthält zahlreiche Generalklauseln, die keinen festgefügten, der Subsumtion zugänglichen enumerativen Tatbestand enthalten und es daher erlauben, rechtliche Entwicklungen und gesellschaftliche Wandlungen bei ihrer Anwendung zu berücksichtigen. Typisches Beispiel für einen wertungsoffenen Tatbestand ist § 242 BGB, dem der Grundsatz zu entnehmen ist, dass der Schuldner die Leistung so zu bewirken hat, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Diese weite Formulierung hat § 242 BGB den Vorwurf eingetragen, es handele sich um eine inhaltslose Blankettnorm oder um eine Leerformel.1 Entgegen dieser Auffassung handelt es sich bei den Begriffen Treue, Glauben und Verkehrssitte nicht um nichtssagende Floskeln ohne rechtlichen Gehalt, sondern um die Benennung aussagekräftiger Wertungen, die für die Anwendung des § 242 BGB von richtungweisender Bedeutung sind. § 242 BGB betont das Vertrauensprinzip sowie rechtsethische Gesichtspunkte und beruht auf einer langen geschichtlichen Tradition.2 Über diesen Inhalt hinaus verlangt § 242 BGB, dass sich die Vertragspartner vor, während und nach Abwicklung eines Schuldverhältnisses an die Gebote der Verlässlichkeit, Rücksichtnahme und Loyalität halten. § 242 BGB bringt damit allgemeine Grundsätze der Rechtsordnung zum Ausdruck. Dies rechtfertigt es, die Vorschrift über ihren Wortlaut und über ihre Stellung im zweiten Buch des BGB hinaus anzuwenden.3 Dabei sind die Schwer1
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Vgl. Günther Teubner, Standards und Direktiven in Generalklauseln, Frankfurt/M. 1971, S. 18 ff.; Justus Wilhelm Hedemann, Die Flucht in die Generalklauseln, Tübingen 1933, S. 70 ff. („Katastrophe der Rechtsordnung“, „blanke, nackte richterliche Willkür“). § 242 BGB hat seine Wurzeln insbesondere in den bonae fidei iudicia im römischen Recht. Zu historischen Grundlagen des Treu und Glauben-Grundsatzes und zur Entstehungsgeschichte der Norm bei Alexander Beck, Zu den Grundprinzipien der Bona Fides im römischen Vertragsrecht, in: Juristische Fakultät der Universität Basel (Hrsg.), Festgabe für August Simonius, Basel 1955, S. 9 ff.; Peter Mader, Rechtsmißbrauch und unzulässige Rechtsausübung, Wien 1994, S. 25 ff.; Franz Wieacker, Geschichtliche Wurzeln des Prinzips der verhältnismäßigen Rechtsanwendung, in: Marcus Lutter (Hrsg.), Festschrift für Robert Fischer, Berlin 1979, S. 867 ff. Bamberger/Roth-BGB/Grüneberg, München 2003, § 242 Rdnr. 4. Zur Anwendbarkeit im Prozessrecht und im öffentlichen Recht, MünchKomm-BGB/Roth, 4. Aufl., München 2003, § 242 Rdnr. 89 ff., 93 ff.
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punkte je nach Rechtsgebiet unterschiedlich zu setzen.4 Hauptsächliches Anwendungsgebiet des § 242 BGB ist allerdings das Schuldrecht. Die Untersuchung beschränkt sich auf das Vertragsrecht und hier auf die sogenannte Ausübungskontrolle. II. Wirkungsweisen Über die Wirkungsweise des § 242 BGB ist viel diskutiert worden. Die Vorschrift wird als offene Verhaltensnorm, institutionelle Vorschrift, Konkretisierungsnorm oder auch als Prinzip verstanden.5 Gemeinsam ist den Überlegungen die Suche nach Kriterien und Argumenten zur Bewältigung von Problemen im Zusammenhang mit § 242 BGB. Um das vorhandene Entscheidungsmaterial aufzuarbeiten und so für eine Bestimmung des Normrahmens fruchtbar zu machen, wird auf den sogenannten Funktionskreisansatz zurückgegriffen, der eine empirische Analyse der praktischen Verwendung des § 242 BGB erlaubt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass jedes Urteil unter Umständen Vorbild- und Leitcharakter für den nächsten zu entscheidenden Fall bilden kann, so dass im Ergebnis eine „Entscheidung nach § 242 BGB selbst am werdenden und kommenden Recht mitschafft wie der einzelne Nadelstich am Gewebe“.6 Die Systematisierungen der kasuistischen Rechtsprechung fallen in der Literatur zwar äußerst unterschiedlich aus,7 lassen sich aber im Wesentlichen auf eine Zweiteilung zurückführen: die Pflichtenebene als erste Funktionsrichtung und die Ausübungsbegrenzung als zweite Wirkungsweise. Die häufig genannte Korrekturfunktion hat durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26. 11. 2001 weitgehend an Bedeutung verloren. Die anhand § 242 BGB herausgebildeten Grundsätze über das Fehlen und den Wegfall der Geschäftsgrundlage sowie das Kündigungsrecht aus wichtigem Grund bei Dauerschuldverhältnissen sind in §§ 313, 314 BGB geregelt. Mit Pflichtenebene wird die Wirkungsweise bezeichnet, die inhaltliche Konkretisierungen und Ergänzungen von auf Rechtsnormen oder Verträge zurückgehenden Rechten und Pflichten vornimmt. Die Hauptleistungen sind so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Zur Erfüllung dieser Pflicht zählt nicht nur die Erfüllungshandlung. Es ist darüber hinaus alles zu tun, um den Leistungsaustausch zu ermöglichen, und alles zu unterlassen, was den Vertragszweck gefährden oder vereiteln könnte. Aus § 242 BGB kann sich somit eine nähere Bestimmung der Art und Weise der Hauptleistung ergeben. 4 5
6 7
Überblick bei Erman/Westermann-BGB/Werner, 10. Aufl., Köln 2000, § 242 Rdnr. 21 ff. Dazu Jürgen Schmidt, Präzisierung des § 242 BGB – Eine Daueraufgabe?, in: Okko Behrends u. a. (Hrsg.), Rechtsdogmatik und praktische Vernunft. Symposion zum 80. Geburtstag von Franz Wieacker, Göttingen 1990, S. 231 ff. Franz Wieacker, Zur rechtstheoretischen Präzisierung des § 242 BGB, Tübingen 1956, S. 15. Vgl. die unterschiedlichen Ansätze bei Wieacker, Präzisierung, S. 20 ff.; MünchKommBGB/Roth, § 242 Rdnr. 127 ff.; Palandt-BGB/Heinrichs, 63. Aufl., München 2004, § 242 Rdnr. 13; Bamberger/Roth-BGB/Grüneberg, § 242 Rdnr. 29 ff., jeweils m.w.N.
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Diese im Zusammenhang mit der Hauptleistung stehenden Pflichten dienen der Verwirklichung und Sicherung des Leistungsinteresses. Neben einer solchen Konkretisierung der Hauptpflicht, auf welche die Norm ihrem Wortlaut nach in erster Linie zielt, können sich im Einzelfall nach Art, Inhalt und Umfang unterschiedliche Pflichten ergeben, welche die Hauptpflichten ergänzen. Diese dem Erhaltungs- oder Integritätsinteresse dienenden Schutzpflichten bezwecken, die Güter des Partners vor den erhöhten Einwirkungsgefahren des geschäftlichen Kontaktes zu bewahren. Die Pflichten sind nicht nur auf ein wirksames Vertragsschuldverhältnis beschränkt, sondern können immer dann an Relevanz gewinnen, wenn eine Sonderbeziehung zwischen den Beteiligten, beispielsweise in Form eines geschäftlichen Kontaktes (vgl. § 311 Abs. 2, 3 BGB), besteht. Die Merkmale des § 242 BGB sind auch für die zweite Funktionsweise, die eine Ausübungskontrolle von Verträgen ermöglicht, von Bedeutung. Auf sie soll im Folgenden näher eingegangen werden. III. Normgehalt 1. Treu und Glauben Mit der Wortkombination Treu und Glauben wird auf das Verhältnis zwischen den Vertragspartnern abgestellt. In Bezug genommen ist die relative Beziehung zwischen den konkreten Personen des Schuldverhältnisses. „Treue“ meint dabei die Zuverlässigkeit, Gewissenhaftigkeit und Aufrichtigkeit bei der eigenen Leistungserbringung und bei der Geltendmachung von Vertragsrechten.8 Das Gegenstück, das Vertrauen auf die ehrliche und ordnungsgemäße Erfüllung des vom Vertragspartner abgegebenen Versprechens, das zuverlässige Festhalten am einmal Gelobten, wird mit dem Ausdruck „Glaube“ belegt.9 Der Wertungsrahmen der Treu und Glauben-Formel erschließt sich in seiner gesamten Tragweite erst durch das Zusammenspiel der beiden Ausdrücke. Die Wechselwirkung, „Glauben wird um Treue und Treue um Glauben gegeben“,10 zeigt auf, dass im Rahmen eines Vertrages jeder Beteiligte auf die ordnungsgemäße und umstandsangepasste Erfüllung durch den anderen vertraut, weil er selbst durch seine Verpflichtung bei dem anderen den Glauben an diese erweckt. Seitens der Rechtsordnung ist deshalb darauf zu achten, dass der eine Beteiligte nicht von dem anderen in einer offenbar unbilligen, dem Sinn des Rechtsverhältnisses widersprechenden Weise benachteiligt wird, wobei sich das Maß der angezeigten Rücksichtnahme nach Art und Inhalt des konkreten Rechtsverhältnisses bestimmt. Die Vertragspartner haben das Gebot der Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen des jeweils anderen Teils zu wahren. Der gegenseitigen Verbundenheit soll Rechnung getragen werden, indem die jeweils berechtigten Erwar8
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Hans-Wolfgang Strätz, Treu und Glauben, Paderborn 1974, S. 71 ff.; StaudingerBGB/Weber, 11. Aufl., Berlin 1961, § 242 A 124 (mit Ausführungen zur Etymologie); Soergel-BGB/Siebert/Knopp, 10. Aufl. Stuttgart u. a. 1968, § 242 Rdnr. 6. Staudinger-BGB/Weber, § 242 A 125; Strätz, Treu und Glauben, S. 71 ff. Staudinger-BGB/Weber, § 242 A 126.
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tungen nicht übergangen werden. Redlichkeit und Loyalität stellen den Maßstab von Treu und Glauben dar. Jeder Vertragspartner hat bei der Erfüllung seiner Pflichten und der Ausübung seiner Rechte die verständigen Interessen der Gegenseite zu berücksichtigen. Erfassung und Ausgleich der wechselseitigen Positionen machen eine Interessenabwägung unumgänglich. In diese sind neben den Parteiinteressen und neben den rechtlichen Wertungsmaßstäben auch rechtsethische Gesichtspunkte einzustellen; die Abwägungsmaßstäbe müssen sich in die der Wirtschafts- und Sozialethik immanente Grundordnung einfügen.11 Individuelle Erwartungen sind nur bedeutsam, wenn sie der Sozialethik nicht widersprechen. Das Wortpaar „Treu und Glauben“ dient dazu, im Rahmen eines konkreten Rechtsverhältnisses eine am Einzelfall und seinen speziellen Interessen ausgerichtete Entscheidung zu ermöglichen. 2. Verkehrssitte Der Rekurs auf die individuellen Verhältnisse birgt die Gefahr, dass die Rechtssicherheit durch Wegfall der Voraussehbarkeit ausgehöhlt wird.12 Diesem Umstand hat der Gesetzgeber durch die Aufnahme eines objektiven Merkmals, der Verkehrssitte, in den Tatbestand des § 242 BGB Rechnung getragen. Nur das „berechtigte Vertrauen“ verdient Schutz.13 Objektiv gerechtfertigte gegenseitige Loyalität macht den Kerngehalt des Gedankens von Treu und Glauben aus. Aus der Formulierung „mit Rücksicht auf“ lässt sich zudem die Wertigkeit der Merkmale entnehmen. Die Verkehrssitte ist gegenüber Treu und Glauben von niederrangiger Bedeutung, nimmt aber ihrerseits Einfluss auf die einzelfallabhängige Inhaltsbestimmung von Treu und Glauben. Bei einer Kollision von Treu und Glauben mit der Verkehrssitte geht im Grundsatz das von Treu und Glauben Geforderte vor.14
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Wieacker, Präzisierung, S. 10, 20; Staudinger-BGB/Weber, § 242 A 113: „Der Grundsatz von Treu und Glauben soll es der Sittenlehre, insbesondere der Sozialethik, ermöglichen, ihre Werturteile und Wertmaßstäbe auf „legalem Wege“ an die Tatbestände des Lebens heranzutragen.“ Zu weitgehend ist es bei A 115, wenn angenommen wird, § 242 BGB ermögliche es, „im Sinne des sozialen Ideals das für das Parteienverhältnis Richtige zu bestimmen.“ Auch die Anwendung des § 242 BGB hat die privatautonom gesetzten Vorgaben zu berücksichtigen und erlaubt es nicht, das allgemein Richtige zu bestimmen. Heinrich Lehmann, Mißbrauch der Geschäftsgrundlage, in: JZ 1952, S. 10, 11: „Man kann das Leid der Welt nicht mit § 242 BGB beseitigen und darf sich mit seiner Hilfe nicht über die gesetzlichen Grenzen hinwegsetzen“; die Rechtssicherheit müsse gewährleistet bleiben. Arthur Meier-Hayoz, Das Vertrauensprinzip beim Vertragsabschluß, Aarau 1948, S. 89; Ernst Zeller, Treu und Glauben und Rechtsmißbrauchsverbot: Prinzipiengehalt und Konkretisierung von Art. 2 ZGB, Zürich 1981, S. 261. Erman/Westermann-BGB/Hefermehl, § 157 Rdnr. 9; Erman/Westermann-BGB/Werner, § 242 Rdnr. 10; MünchKomm-BGB/Mayer-Maly, § 157 Rdnr. 15; StaudingerBGB/Weber, 11. Aufl., § 242 A 157; Staudinger-BGB/Coing, 11. Aufl., § 133 Rdnr. 17; OLG Köln, BB 1957, S. 910; OLG München, BB 1956, S. 94.
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Die Berücksichtigung der Verkehrssitte liefert einen nicht subjektbezogenen, generalisierenden Maßstab für die Einschätzung des Sachverhalts und der Parteiinteressen.15 Der Begriff bringt neben einem sekundären objektiven Merkmal überdies zum Ausdruck, dass sich die Beurteilung eines konkreten Falles in die üblichen Vorgehensweisen einfügen muss. Verkehrssitte bezieht die „den Verkehr tatsächlich beherrschende Übung“16 in die Abwägung ein. Sie kann branchenspezifisch ausgeprägt sein und örtlichen Einflüssen unterliegen.17 Zu ihrer Bildung bedarf es über einen gewissen Zeitraum einer einheitlichen Auffassung der Beteiligten und allgemeiner tatsächlicher Übung. Auf die Kenntnis der Parteien von der tatsächlichen Übung kommt es nicht an, weil ihre Geltung gerade nicht auf einer Willensübereinstimmung beruht.18 Die Verkehrssitten geben objektive Gesichtspunkte vor, anhand derer sich berechtigte Erwartungen der Vertragspartner und der übliche Verständnishorizont als Indizien bestimmen lassen. § 242 BGB enthält das Gebot, Rechte im Rahmen objektiv berechtigter Verlässlichkeit auszuüben. Die Vorschrift gibt Richtlinien und Wertungsmaßstäbe vor, anhand derer Abwägung und Ausgleich der widerstreitenden Interessen von Gläubiger und Schuldner vorzunehmen sind. Wenn § 242 BGB auch keine tatbestandlichen subsumtionsfähigen Voraussetzungen zu entnehmen sind, so gibt doch der allgemeine normative Gehalt einen brauchbaren Ausgangspunkt für die Anwendung des Treu und Glauben-Grundsatzes. Auch für die Ausübungskontrolle vermag die komparative Reihung der Abwägungsfaktoren wertvolle Rückschlüsse zu geben und so im Ergebnis eine präzisere Handhabung der Ausübungskontrolle zu gewährleisten.
B. Ausübungskontrolle mittels § 242 BGB I. Grundlagen Die Kombination der Elemente Treu und Glauben einerseits sowie Verkehrssitte andererseits führt dazu, dass an sich bestehende Rechte unter Umständen nicht geltend gemacht werden dürfen, wenn die Ausübung gegen die Rücksichten verstößt, die innerhalb eines Vertrages einander geschuldet und voneinander erwartet werden (Treu und Glauben) und wenn die Geltendmachung Konventionen missachtet, die in vergleichbaren Kreisen üblicherweise eingehalten werden (Verkehrssitte). Eine formal ordnungsgemäß begründete Vertragsrechtsposition kann aus besonderen materiellen Gründen den unter Vertragspartnern üblichen Verhaltensweisen widersprechen. Erreicht die Diskrepanz zwischen formaler Rechtsposition und materiellem Prinzip einen von der Rechtsordnung nicht mehr hinnehmbaren Grad, ist die Abweichung ausnahmsweise zu Ungunsten der formalen Rechts15 16 17 18
Teubner, Standards und Direktiven, S. 65 ff. RGZ 55, S. 375, 377. Hans Jürgen Sonnenberger, Verkehrssitten im Schuldvertrag. Rechtsvergleichender Beitrag zur Vertragsauslegung und zur Rechtsquellenlehre, München 1970, S. 92 ff. BGH, NJW 1970, S. 1737.
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position aufzulösen. Dem subjektiven Recht wird durch § 242 BGB eine Grenze gezogen. Das Rechtsmissbrauchsverbot auf § 242 BGB zurückzuführen ist nicht selbstverständlich. Die historischen Ursprünge von Treu und Glauben sowie des Missbrauchsverbotes liegen in zwei unterschiedlichen Instituten. Treu und Glauben wurzelt im römischen Vertragsrecht (bonae fidei negotia), das Gebot schonender Rechtsausübung, des civiliter uti, im Sachenrecht.19 Das schweizerische ZGB trennt deshalb in Art. 2 Treu und Glauben (Abs. 1) vom Missbrauchsverbot (Abs. 2). Auch die Konzeption des Bürgerlichen Gesetzbuches folgte ursprünglich der Differenzierung.20 Das Missbrauchsverbot als eine das gesamte Privatrecht durchziehende Regelung wurde im Ersten Buch, dem Allgemeinen Teil, in § 226 BGB, der Treu und Glauben-Grundsatz als zunächst auf das Schuldverhältnis beschränktes Prinzip im Zweiten Buch, dem Recht der Schuldverhältnisse, kodifiziert. Das generelle Schikaneverbot erwies sich bald als zu eng gefasst. § 226 BGB setzt nämlich voraus, dass nach Lage der gesamten Umstände des Einzelfalles ein anderer Zweck der Rechtsausübung als der der Schadenszufügung objektiv ausgeschlossen ist. Es genügt nicht, dass jemand subjektiv aus verwerflichen Gründen von seinem Recht Gebrauch macht. Es muss zur Überzeugung des Gerichts feststehen, dass die Rechtsausübung dem Berechtigten objektiv keinen Vorteil bringt und lediglich der Schädigung eines anderen dient. Kann ein berechtigtes Interesse auch nur mitbestimmend sein, scheidet § 226 BGB aus.21 Um auch Tatbestände zu erfassen, die dem engen Anwendungsbereich nicht genügen, gleichwohl aber korrekturbedürftig erscheinen, standen methodisch die Alternativen offen, § 226 BGB weit auszulegen oder die Nutzung von Rechtspositionen anhand der Generalklauseln § 242 BGB und § 826 BGB zu beurteilen. Zu Recht wurde der zweite Weg eingeschlagen: Der eindeutig formulierte Wortlaut des § 226 BGB und die Erwägungen des Gesetzgebers22 hierzu lassen eine Ausweitung des Anwendungsbereichs methodisch nicht angezeigt sein. Für eine Sperrwirkung des § 226 BGB gegenüber einer Missbrauchskontrolle außerhalb der engen Voraussetzungen des § 226 BGB ergeben sich keine Anhaltspunkte. Bereits der Gesetzgeber ist davon ausgegangen, dass ein Rückgriff auf §§ 242, 826 BGB möglich ist.23 Der Charakter als Generalklausel spricht weiterhin dafür, dass eine Ausübungskontrolle außer auf § 226 BGB auch auf § 242 BGB gestützt werden kann. Das allgemeine Rechtsmissbrauchsverbot wird deshalb zu Recht bei § 242 BGB verortet.
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Eingehend Zeller, Treu und Glauben, S. 147 ff. Vgl. Motive I, S. 274. BGH, WM 1994, S. 623; LG Köln, Rpfleger 1991, S. 328. Motive I, S. 274. Motive I, S. 274.
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II. Anwendungsfälle Eine Rechtsausübung ist wegen eines Verstoßes gegen Treu und Glauben unzulässig, wenn Umstände existieren, welche die Ausübung des Rechts zu diesem Zweck oder zu diesem Zeitpunkt als ein rechtsethisch objektiv zu missbilligendes Verhalten erscheinen lassen. Dem Missbrauchsverbot kommt Berichtigungsfunktion zu. Diese bezieht sich grundsätzlich nicht auf den Inhalt des Rechts; dessen Überprüfung auf Rechtskonformität ist unter anderem Aufgabe der Sittenwidrigkeitskontrolle. Nicht das Recht selbst wird in Zweifel gezogen, sondern seine Ausübung unter besonderen Umständen in einer bestimmten Konstellation. Die Unzulässigkeit der Rechtsausübung schließt nicht aus, dass von dem Recht bei einer anderen Sachlage erneut und wirksam Gebrauch gemacht werden kann. Ausübungskontrolle ist zurückhaltend anzuwenden. Voraussetzung ist jedenfalls eine vom Sinn und Zweck des auszuübenden Rechts aus gesehen atypische Situation. Das Missbrauchsverbot bezieht sich zwar auf sämtliche Rechtsstellungen, seien sie durch Gesetz oder Vertrag begründet, eröffnet aber keine allgemeine Billigkeitskontrolle. Nicht jede als unbillig empfundene Rechtsausübung ist missbräuchlich: Jeder hat das Recht, seine Rechtsposition auch dann auszuüben, wenn der andere dadurch Beeinträchtigungen erleidet. Nur in Ausnahmefällen, die das in § 242 BGB ausgedrückte hohe Kontrollniveau erreichen, scheitert eine Rechtsausübung an der Missbrauchsschranke. Ein derartiger qualifizierter Missbrauch einer Rechtsposition ist in zwei Erscheinungsformen denkbar, dem institutionellen und dem individuellen Missbrauch.24
C. Institutioneller Rechtsmissbrauch Institutioneller Rechtsmissbrauch meint einen Fehlgebrauch von Rechtsstellungen, Normen oder Rechtsinstituten, der im Allgemeinen, das heißt in allen vergleichbaren Fällen zu beanstanden ist. Entgegen dem äußeren Anschein, dem Wortlaut der Vorschrift, lässt sich die Ausübung der Rechtsposition auf die entsprechende Rechtsgrundlage nicht stützen. Durch Auslegung sind die Durchschnittsanforderungen zu ermitteln, die an die Ausübung einer institutionellen Rechtsposition gestellt werden. Jede Rechtsausübung hat sich im Rahmen des mit dem jeweiligen Rechtsinstitut verfolgten Zwecks zu halten. Hier geht es um eine allgemeine Interessenabwägung in Bezug auf bestimmte Rechtsnormen und Rechtsinstitute; gefragt wird danach, ob jedes derartige Verhalten in einer ähnlichen Situation zu beanstanden wäre. Die formal rechtsordnungskonforme Regelung bedarf aus materiellen Erwägungen der Korrektur, wenn die Wertungsanalyse den konkreten 24
Im Einzelnen ist die Terminologie unscharf, werden den beiden Begriffen (in ihren Grenzbereichen) unterschiedliche Erscheinungsformen zugeordnet, vgl. Hans Walter Dette, Venire contra factum proprium nulli conceditur, Berlin 1985, S. 30. Die Schwierigkeiten, eine einheitliche Terminologie zu finden, beruhen darauf, dass häufig institutionelle und individuelle Aspekte eine Rolle spielen. Die Zuordnung drückt daher lediglich eine schwerpunktmäßige Einteilung aus.
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Rechtsgebrauch in dieser Weise und mit diesem Ziel als zur Regelung bestimmter Rechtsverhältnisse generell als inkongruent ausweist. Die sich aus einem Rechtsinstitut oder einer Rechtsnorm ergebenden Rechtsfolgen müssen zurücktreten, wenn sie unter Berücksichtigung ihres Sinns und Zwecks mit Treu und Glauben unvereinbar sind, zu einem schlechthin untragbaren Ergebnis führen. Anzunehmen ist das unter anderem, wenn ein Missbrauch der Gestaltungsfreiheit festzustellen ist. I. Institutioneller Missbrauch der Vertragsfreiheit Die Berufung auf eine im Zuge der Vertragsfreiheit eingeräumte Rechtsposition kann missbräuchlich sein, wenn der Begünstigte keine schutzwürdigen Interessen verfolgt oder überwiegend berechtigte Interessen eines anderen Beteiligten entgegenstehen. Notwendig ist eine generalisierende Interessenabwägung. Ein derartiger Fehlgebrauch ist beispielsweise anzunehmen, wenn eine im Grunde unbedenkliche Vertragsgestaltung ohne sachlich gerechtfertigten Grund in wesentliche Schutzpositionen eingreift, also die Inhaltsfreiheit missbräuchlich in Anspruch genommen wird. Da die Generalklausel des § 242 BGB in dieser Fallgruppe allgemeine Koordinierungsaufgaben übernimmt, kommt es hier darauf an, ob eine typische Ausübung der Gestaltungsfreiheit für einen allgemein bestimmten Bereich aufgrund vorwiegend genereller Erwägungen als missbräuchlich erachtet wird. Bestimmten Vertragsinhalten wird die Anerkennung deshalb versagt, weil eine Vertragsseite typischerweise die Inhaltsfreiheit unter einseitiger Durchsetzung ihrer Interessen missbräuchlich in Anspruch nimmt. Dabei wird die Inhaltsfreiheit nicht per se für rechtsordnungswidrig erklärt. Das Rechtsinstitut der Vertragsfreiheit kann nur in einem eng begrenzten, konkret bestimmten Bereich typischerweise nicht realisiert werden. Die methodische Vorgehensweise des flexiblen Konkretisierungssystems erlaubt es jedoch auch bei der Fallgruppe des institutionellen Rechtsmissbrauchs der Vertragsfreiheit, atypische Konstellationen adäquat zu berücksichtigen. § 242 BGB als normativer „Aufhänger“ führt damit im Ergebnis zu einer Inhaltskontrolle von Rechtsgeschäften.25 Diese Wirkungsweise des Treu und Glauben-Grundsatzes kommt neben dem Arbeitsrecht insbesondere im Gesellschaftsrecht zur Anwendung. Bei den Personengesellschaften (OHG, KG) sowie der GmbH steht die individuelle Bestimmung des Vertragsinhaltes im Vordergrund; bei Aktiengesellschaften, Kommanditgesellschaften auf Aktien und der Genossenschaft existieren umfassende zwingende Vorgaben sowie eine Gründungsprüfung durch das Registergericht. Für eine institutionelle Missbrauchskontrolle besteht deshalb in der Regel kein Anlass. § 310 Abs. 4 S. 1 BGB hat infolgedessen das Gesellschaftsrecht dem sachlichen
25
Günther Teubner, Alternativkommentar zum BGB, Neuwied u. a. 1980, § 242 Rdnr. 90; Soergel-BGB/Teichmann, § 242 Rdnr. 19; Palandt-BGB/Heinrichs, Einf. v. § 145 Rdnr. 15, § 242 Rdnr. 40.
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Anwendungsbereich der AGB-Kontrolle entzogen.26 Stehen Gesellschaften nach ihrer Gründung dem Publikum zum Beitritt offen und besteht die Gefahr, dass das Gesellschaftsverhältnis von den Gründern derart ausgestaltet wird, dass die Rechte der später Beitretenden unangemessen verkürzt werden, bleibt die Kontrolle anhand § 242 BGB.27 Solche Gefahren bestehen vor allem bei der sogenannten Publikums-KG. Sie wird von einer Initiatoren-Gruppe zum Zweck der Vermögensanlage durch eine unbestimmte Anzahl von Anlegern gegründet, die (zumeist durch Dritte) aus dem Publikum geworben werden und keinen Einfluss auf die rechtliche Gestaltung des Gesellschaftsvertrages nehmen können. Der Gesellschaftsvertrag ist fertig vorformuliert. Derartige Gesellschafterverträge (und gegebenenfalls die Gesellschafterbeschlüsse) sind zum Schutz der Anleger nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte einer Vertragskontrolle zu unterziehen.28 Es handelt sich um einen Anwendungsfall des § 242 BGB in der Variante des institutionellen Rechtsmissbrauchs. Im Rahmen einer Interessenabwägung ist zu prüfen, ob die vorformulierten Vertragsbedingungen ohne ausreichenden sachlichen Grund einseitig die Belange der Gründungsgesellschafter verfolgen und unangemessen und unbillig die berechtigten Interessen der Anlagegesellschafter beeinträchtigen.29 In die Abwägung einzustellen sind neben der Wertung der einschlägigen Vorschriften die Grundprinzipien der Rechtsordnung. Die Basiswertung ist den gesellschaftsrechtlichen gesetzlichen Vorgaben zu entnehmen.30 Sie bezeichnen den typischen Normalfall, auf dem sich gegebenenfalls komparative Wertreihen nach dem „je mehr-um so eher“-Schema aufbauen lassen. Bedeutsam ist insbesondere das wirtschaftliche Selbstbestimmungsrecht. Je mehr Mitwirkungs- und Mitgestaltungsrechte der Anleger kompensationslos zurückgedrängt werden, desto eher kann den Initiatoren die Berufung auf sie allein begünstigende Klauseln versagt werden. Für unwirksam wurde demzufolge die im Gesellschafts26 27 28
29 30
Bamberger/Roth-BGB/J. Becker, 2003, § 310 Rdnr. 28 ff. m.w.N. BGH, NJW 1988, S. 1729, 1730; BGH, NJW 1988, S. 1903, 1904; BGHZ 103, S. 219, 226. H. M., vgl. Lorenz Fastrich, Richterliche Inhaltskontrolle im Privatrecht, München 1992, S. 124 ff.; Robert Fischer (Hrsg.), Festschrift für Carl Hans Barz, Berlin 1974, S. 33, 38 f.; Barbara Grunewald, Der Ausschluß aus Gesellschaft und Verein, Köln 1987, S. 132 ff.; Peter Heid, Mehrheitsbeschluß und Inhaltskontrolle als Instrumentarien des Kapitalanlegerschutzes in der Publikums-GmbH & Co. KG, Göttingen 1986, S. 223 ff.; Friedrich Graf v. Westphalen, Richterliche Inhaltskontrolle von Standardklauseln bei einer Publikums-KG und der Prospekthaftung, in: DB 1983, S. 2745 ff.; Herbert Wiedemann, Die Legitimationswirkung von Willenserklärungen im Recht der Personengesellschaften, in: Wolfgang Hefermehl, Rudolf Gmür, Hans Brox (Hrsg.), Festschrift für Harry Westermann, Karlsruhe 1974, S. 585, 590 ff.; seit der grundlegenden Entscheidung des BGH in BGHZ 64, S. 238 ff. ständige Rspr., BGH, NJW 1991, S. 2906; BGHZ 104, S. 50, 53; 102, S. 172, 177; 84, S. 11, 13 f.; skeptisch Manfred Lieb, Schutzbedürftigkeit oder Eigenverantwortlichkeit, in: DNotZ 1989, S. 274, 281; Wolfgang Zöllner, Inhaltsfreiheit bei Gesellschaftsverträgen, in: Marcus Lutter, Peter Ulmer, Wolfgang Zöllner (Hrsg.), Festschrift 100 Jahre GmbH-Gesetz, Köln 1992, S. 85, 97 ff., 102 ff. BGHZ 64, S. 238, 241 f. BGHZ 84, S. 11, 15.
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vertrag einer Publikumsgesellschaft bürgerlichen Rechts enthaltene Bestimmung erklärt, die den Handlungsspielraum der Initiatoren durch Reservierung von Sperrminoritäten bei Abberufung eines Geschäftsführers aus wichtigem Grund unangemessen erweitert.31 Gegen § 242 BGB verstößt die vertragliche Klausel, die der Komplementär-GmbH das Recht einräumt, die Kommanditbeteiligungen unter Ausschluss der betroffenen Kommanditisten nach freiem Ermessen zu übernehmen,32 desgleichen die Bestimmung, welche die Haftung der Mitglieder des Aufsichtsrats einer Publikums-KG im Gesellschaftsvertrag einer Verjährungsfrist von lediglich drei Monaten unterwirft.33 § 40 BGB überlässt Vereinen die freie inhaltliche Ausgestaltung des Rechtsverhältnisses zu den Mitgliedern. Dementsprechend besteht auch hier unter Umständen das Bedürfnis, Satzungen sowie interne Ordnungen im Hinblick auf einen etwaigen institutionellen Missbrauch der Vertragsfreiheit zu prüfen. Dies gilt insbesondere bei Vereinen, die im wirtschaftlichen oder sozialen Bereich eine überragende Machtstellung haben und bei denen das Mitglied auf die Mitgliedschaft angewiesen ist.34 II. Institutioneller Missbrauch einer Vertragsposition Ein weiteres Verhalten, das aufgrund einer allgemeinen Interessenabwägung in jeder vergleichbaren Situation, also institutionell, gemäß § 242 BGB zu beanstanden ist, bezeichnet der Grundsatz „dolo agit qui petit quod statim redditurus esset.“35 Rechtspositionen, aus denen sich ein Anspruch auf Änderung ergibt, zielen in der Regel auf eine dauerhafte, sinnvolle Rechtslage. Dem Erwartungshorizont des Schuldverhältnisses entspricht es – von Ausnahmefällen abgesehen36 – nicht, eine Leistung zu erbringen, die sofort wieder zurückzugewähren ist. Hat der Berechtigte den geforderten Gegenstand alsbald zurückzugeben, fehlt ihm in der Regel ein eigenes berechtigtes Interesse, während die Interessen der Gegenseite dafür sprechen, keinen nur formalen kurzfristigen Leistungsaustausch herbeizuführen. Müsste der Verpflichtete leisten und wäre er deshalb darauf angewiesen, seinerseits seinen Anspruch auf Rückleistung geltend zu machen, so bestünde die Gefahr, dass Gläubiger die Zwangsvollstreckung bezüglich der Leistung betreiben oder der Leistungsempfänger in Insolvenz fällt. In einem Rechtsverhältnis, das von wechselseitiger Rücksichtnahme geprägt ist, werden üblicherweise lediglich 31 32 33 34
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Vgl. BGH NJW 1988, S. 969; WM 1983, S. 1407; NJW 1982, S. 2495. BGHZ 104, S. 50, 56 f.; 84, S. 11, 14 ff. BGHZ 64, S. 238, S. 241 f. Im Einzelnen Grunewald, Vereinsordnungen. Praktische Bedeutung und Kontrolle, in: ZHR 152 (1988), S. 242 ff.; Dieter Reuter, Die Verfassung des Vereins gem. § 25 BGB, in: ZHR 148 (1984), S. 523 ff.; BGHZ 105, S. 306, 316 ff. Andreas Wacke, Dolo facit, qui petit quod statim redditurus est, in: JA 1982, S. 477. Die etwa 200 n. Chr. von dem spätklassischen Juristen Julius Paulus formulierte Regel (D. 50, 17, 173, 3) verhalf dem Beklagten zu einer exceptio doli gegen das Klagebegehren. KG, NJW 1967, S. 1915 (gegenüber dem possessorischen Anspruch aus § 861 BGB kann ein petitorischer Einwand nicht geltend gemacht werden).
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formal bestehende Rechtspositionen nicht geltend gemacht. Die Vertragsabwicklung soll dem berechtigten Vertrauen eines redlichen Vertragspartners entsprechen. Gegen Treu und Glauben verstößt deshalb, wer Vorteile anstrebt, die ihm letztlich nicht zustehen, und dadurch dem Vertragspartner unnötig Nachteile zufügen würden. Die Rechtsausübung ist unzulässig, weil sie einer sachgerechten Wahrnehmung der eigenen Interessen nicht mehr entspricht und sich in Widerspruch zu Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrssitte setzt. Gestützt wird das Ergebnis durch prozessökonomische Erwägungen. Der Erstprozess um die Leistung und der Zweitprozess um die Rückleistung führen letztlich zum status quo ante, wenn dem Beklagten des Erstprozesses ein fälliger Gegenanspruch auf Herstellung desselben Zustandes zusteht, dessen Beseitigung der Kläger des Erstprozesses erstrebt. Die Güterzuordnung bleibt im Ergebnis unverändert, die Durchsetzung von Anspruch und Gegenanspruch einschließlich ihrer Vollstreckung wären vergeblicher Aufwand, der im Ergebnis lediglich die Justizorgane belastet, ohne an der Güterzuordnung etwas zu ändern. Aufgabe des Zivilprozesses ist es, Rechtspositionen der Parteien zu verwirklichen und die objektive Rechtsordnung zu bewahren. Die Rechtspositionen der Beteiligten sowie die Rechtsordnung weisen die Leistung im Ergebnis dem Beklagten des Erstprozesses zu. Dementsprechend ist es aus prozessrechtlicher Sicht richtig, den Beklagten des Erstprozesses nicht auf den zweiten Prozess zu verweisen, sondern bereits im ersten den dolo petit-Einwand zuzulassen. Dies gilt jedenfalls im Zwei-Personen-Verhältnis. Der Kläger handelt nicht treuwidrig, wenn er einem Dritten rückleistungsverpflichtet ist. Hier ist von der Rechtsordnung auf das Verhältnis zwischen dem Kläger und dem Dritten Rücksicht zu nehmen. Von dem Kläger kann nicht verlangt werden, sich gegenüber dem Dritten treuwidrig zu verhalten. An der Treuwidrigkeit fehlt es allerdings, wenn der Dritte seinerseits an den Beklagten des Erstprozesses leisten müsste. Hier fehlt dem Dritten jegliches Eigeninteresse. Die vom Kläger begehrte Veränderung des aktuellen Zustandes genießt keinen Bestandsschutz; dem Beharrungsinteresse des Beklagten kommt bei dieser Konstellation auch im Drei-PersonenVerhältnis der Vorrang zu. Methodisch lassen sich diese Besonderheiten durch das flexible System bewältigen.37 Während im Zwei-Personen-System das Beharrungsinteresse regelmäßig überwiegt, ist bei der Prüfung eines Drei-PersonenVerhältnisses das Interesse des Dritten in die Abwägung einzubeziehen.
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Ausführlich zur Bedeutung des flexiblen Systems bei der Vertragskontrolle siehe Christian Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit. Die Grundlagen der Vertragsfreiheit und Vertragskontrolle am Beispiel ausgewählter Probleme des Arbeitsrechts, Tübingen 2000, S. 205 ff., 315 ff.
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D. Individueller Rechtsmissbrauch I. Grundlagen und Abgrenzung 1. Dogmatische Einordnung Mit individuellem Rechtsmissbrauch wird ein Verhalten bezeichnet, das in einer bestimmten Lage unter diesen speziellen Gesichtspunkten als treuwidrig im Sinne des § 242 BGB einzustufen ist. Für die Analyse wird dementsprechend weniger auf eine allgemeine Interessenabwägung abgestellt als vielmehr auf ein konkretes missbilligenswertes Verhalten. Dazu zählt vor allem der mit der Regel „venire contra factum proprium nulli conceditur“38 beschriebene Wirkungskreis des § 242 BGB. Die Grundlagen des individuellen Rechtsmissbrauchs werden am Beispiel dieser Rechtsfigur erläutert. Setzt sich jemand durch eine Rechtsausübung zu seinem eigenen früheren Verhalten in Widerspruch, wird das regelmäßig als eine Ausprägung treuwidrigen Verhaltens angesehen und als Fallgruppe des § 242 BGB dargestellt.39 Diese dogmatische Einschätzung findet nicht ungeteilte Zustimmung. Sieht man die Unzulässigkeit der Rechtsausübung in dem späteren Verhalten begründet, liegt es nahe, eine Parallele zum dolus praesens40 zu ziehen.41 Übersehen wird dabei, dass entgegen dem sprachlichen Ausdruck nicht die Ausübung des Rechts selbst, das den Widerspruch zum Vorverhalten ausdrückt, als solches unzulässig ist. Wer seine Rechtsposition verwirklicht, tut grundsätzlich kein Unrecht, selbst dann nicht, wenn hierdurch einem anderen ein Nachteil entsteht: qui suo iure utitur, neminem laedit.42 Anknüpfungspunkt der Vorwerfbarkeit stellt nicht das spätere Verhalten dar; dabei handelt es sich – isoliert betrachtet – um eine gewöhnliche Rechtsverfolgung. Allein auf die Widersprüchlichkeit zwischen Vorverhalten und Rechtsausübung abzustellen, führt ebenfalls kaum weiter. Anders als die Sittenwidrigkeit weist ein Selbstwiderspruch keinen eigenständigen Unrechtsgehalt auf. Zwar handelt jeder, der sich trotz einer entsprechenden Verpflichtung der Erfüllung entzieht, widersprüchlich zur ursprünglichen, die Verpflichtung bewirkenden Willenserklärung. Dies gibt aber keinen Anlass, auf § 242 BGB zurückzugreifen, sondern wird anhand der allgemeinen Regeln und mittels der zivilprozessualen Regularien bewältigt. Eine mit dem Grundsatz venire contra factum proprium be38 39
40 41 42
Zur Geschichte der Rechtsfigur Detlef Liebs, Rhythmische Rechtssätze, in: JZ 1981, S. 160 ff.; Hans Josef Wieling, Rezension, in: AcP 187 (1987), S. 95, 96 f. Claus-Wilhelm Canaris, Die Vertrauenshaftung im deutschen Privatrecht, München 1971, S. 287 ff.; Mader, Rechtsmißbrauch, S. 104 ff., 121 ff., 292 ff.; Hans-Joachim Musielak, Grundkurs BGB, 8. Aufl., München 2003, Rdnr. 309; Arndt Teichmann, Venire contra factum proprium – Ein Teilaspekt rechtsmißbräuchlichen Handelns, in: JA 1985, S. 497; Teubner, Alternativkommentar, § 242 Rdnr. 31; Wieacker, Präzisierung, S. 27 f. Dette, Venire, S. 34 ff.; Staudinger-BGB/Weber, 11. Aufl., § 242 D 9. Michael Griesbeck, Venire contra factum proprium, Bamberg 1978, S. 68; SoergelBGB/Siebert/Knopp, 10. Aufl., § 242 Rdnr. 229, 254. Vgl. BGH, NJW 1981, S. 274; BGHZ 60, S. 275, 290.
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gründete Entscheidung kann sich somit weder auf das spätere Verhalten noch auf die Widersprüchlichkeit allein beziehen. 2. Abgrenzung zur Willenserklärung Entscheidend ist auf das Vorverhalten abzustellen. Diese Erkenntnis hat dazu geführt, dass das Vorverhalten in der Literatur als Willenserklärung qualifiziert wird. Der Rechtsverlust trete ein, weil der Rechtsinhaber sich so verhalten habe, dass der andere auf den Verzicht auf diese Rechtsposition schließen dürfe. Im Raum stehe mithin ein konkludentes rechtsgeschäftliches Handeln. Der Rechtsverlust trete kraft Rechtsgeschäfts infolge einer willentlichen Aufgabe des in Frage stehenden Rechts ein. Auf § 242 BGB komme es nicht an; es handele sich um einen Rechtsverlust kraft Willenserklärung.43 Zutreffend ist, dass ein Rückgriff auf § 242 BGB dann verwehrt ist, wenn tatsächlich eine rechtsgeschäftliche Erklärung existiert, auf ein bestimmtes Recht zu verzichten. Das auf den Treu und GlaubenGrundsatz zurückführbare Prinzip muss als allgemeines und dementsprechend subsidiäres Institut dann zurücktreten, wenn eine Willenserklärung den Rückgriff auf die Generalklausel entbehrlich macht. Es ist also zunächst zu prüfen, ob eine Willenserklärung abgegeben wurde und – ist das nicht der Fall – erst in einem nachfolgenden Schritt, ob eine der Generalklausel unterfallende Konstellation festzustellen ist. Es ist deshalb richtig, § 242 BGB dann nicht anzuwenden, wenn ein Vertragspartner im Wege einer Willenserklärung kundtut, er werde eine bestimmte vertraglich eingeräumte Rechtsposition nicht geltend machen. Dieses Hierarchie-Verhältnis verwehrt es den Gerichten allerdings nicht, auf Feststellungen zur Existenz einer rechtsgeschäftlichen Erklärung und auf eine möglicherweise aufwendige Beweisaufnahme zu diesem Komplex zu verzichten, wenn jedenfalls der § 242 BGB ausfüllende Sachverhalt zur Überzeugung des Gerichts (§ 286 Abs. 1 ZPO) feststeht. Beide Ansatzpunkte sind Gegenstand der Begründetheitsprüfung, so dass auch aus zivilprozessualer Sicht keine Einwände gegen diese Auffassung bestehen. Bei der Erheblichkeit einer Beweisaufnahme ist zwischen Zulässigkeits- und Begründetheitsprüfung zu trennen: Ein klageabweisendes Sachurteil darf im Grundsatz44 nur ergehen, wenn die Zulässigkeitsvoraussetzungen erfüllt sind. Auch dann, wenn die Prüfung der Sachurteilsvoraussetzungen sich aufwendig gestalten würde, mit Sicherheit aber die Unbegründetheit der Klage feststeht, können die Zweifel hinsichtlich der Zulässigkeit nicht ungeklärt bleiben. Der Vorrang der Zulässigkeitsprüfung kommt nicht nur im Gesetz zum Ausdruck (vgl. § 280 ZPO), sondern ergibt sich auch aus dem unterschiedlichen 43
44
So insbesondere Wieling, Venire contra factum proprium und Verschulden gegen sich selbst, in: AcP 176 (1976), S. 334, 335 ff.; ders., AcP 187 (1987), S. 95, 99 f.; vgl. auch dens., Rezension, in: AcP 194 (1994), S. 513 ff. Ähnlich Staudinger-BGB/Schmidt, § 242 Rdnr. 629 („rechtliche Bindung an das frühere Verhalten“). Eine Ausnahme ist hinsichtlich der Voraussetzungen zuzulassen, die – wie das Rechtsschutzbedürfnis – darauf zielen, die Gerichte vor unnötigen Belastungen durch Rechtsstreitigkeiten zu bewahren; steht die Unbegründetheit der Klage fest, so kann Sachabweisung ergehen, ohne dass das Vorhandensein eines Rechtsschutzinteresses feststeht, BGH, NJW 1987, S. 2808, 2809.
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Umfang der Rechtskraft. Da die Reichweite der materiellen Rechtskraft je nachdem verschieden ist, ob die Klage wegen Fehlens einer Prozessvoraussetzung oder aus materiell-rechtlichen Gründen abgewiesen wird, ist die Zulässigkeitsprüfung grundsätzlich durchzuführen.45 Auf der Ebene der Begründetheitsprüfung ist es nicht erforderlich, auf Umstände dann einzugehen, wenn die Klageabweisung feststeht. Hier genügen Ausführungen zu einem Abweisungsgrund. Es kann grundsätzlich46 dahingestellt bleiben, ob weitere Klageabweisungsgründe bestehen. Die Kritik47 an der Rechtsprechung, die auf eine Stellungnahme zur Existenz einer Willenserklärung verzichtet hat, wenn jedenfalls § 242 BGB eine Klageabweisung bedingt,48 geht deshalb fehl. Sind die Voraussetzungen einer Willenserklärung zweifelhaft, die eines Rechtsmissbrauchs hingegen eindeutig, kann die Klageabweisung auf § 242 BGB gestützt werden. Das materiell-rechtliche Stufenverhältnis hat nicht zur Konsequenz, dass die Nichtexistenz einer Willenserklärung im Prozess vorab zwingend zu klären ist. Aus der prozessualen Perspektive steht es den Gerichten offen, sich auf Ausführungen zu § 242 BGB zu beschränken. Auf die Rechtsfigur venire contra factum proprium als Unterfall der individuellen Missbrauchskontrolle nach § 242 BGB käme es allerdings dann nicht an, wenn es sich in Wahrheit ausschließlich nur um einen Rechtskraftverlust kraft Rechtsgeschäft handeln würde. Sind alle denkbaren Varianten als rechtsgeschäftlicher Verzicht einzuordnen, ist § 242 BGB nicht anzuwenden. Dazu müssten die Sachverhalte, in denen eine Lösung mittels § 242 BGB gefunden wird, durch die Annahme eines Rechtsgeschäfts ebenfalls befriedigend zu lösen sein, ohne dass der Begriff der Willenserklärung überspannt wird. Eine Verzichtsvereinbarung erfordert neben dem Verständnis auf Seiten des Empfängerhorizonts ein Erklärungsbewusstsein oder – entsprechend der überwiegend vertretenen Auffassung zum Diskurs über die Bedeutung des Erklärungsbewusstseins für die Wirksamkeit einer Willenserklärung – die Möglichkeit der Kenntnis davon, dass ein Verhalten von einem anderen als Willenserklärung aufgefasst wird.49 Daran fehlt es zum Beispiel bei den typischen Verwirkungsfällen. Verwirkung als anerkannter Teilbereich des venire contra factum proprium bezeichnet den Verlust eines Rechts aus dem Grund, dass sich ein Schuldner wegen der Untätigkeit seines Gläubigers über einen gewissen Zeitraum hinaus darauf eingerichtet hat und auch darauf einrichten durfte, dieser werde sein Recht nicht mehr geltend machen. Ein Erklärungsbewusstsein des Gläubigers wird sich hier regelmäßig nicht feststellen lassen. Denn die Willenserklärung müsste zu einem konkreten Zeitpunkt abgegeben worden sein, während der mit Verwirkung be45 46
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BGHZ 91, S. 37, 41; NJW 1978, S. 2031, 2032; a. A. Wolfgang Grunsky, Prozeß- und Sachurteil, in: ZZP 80 (1967), S. 55. Eine Ausnahme ist in Übereinstimmung mit der sog. Beweiserhebungstheorie bei der Aufrechnung anzunehmen; hier ist zunächst festzustellen, dass die Klageforderung (jedenfalls in Höhe der Aufrechnungsforderung) besteht. Das ist die Folge davon, dass die Rechtskraft gemäß § 322 Abs. 2 ZPO auch die Einwendung ergreift. Dette, Venire, S. 42. Vgl. BGH, WM 1989, S. 868, 869; BGHZ 91, S. 62, 71; WM 1971, S. 1498, 1499. Dazu BGH, WM 1989, S. 650, 652; BGHZ 97, S. 372, 377; BGHZ 91, S. 324, 330.
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zeichnete Sachverhalt durch einen kontinuierlich fortschreitenden Prozess charakterisiert ist.50 Die Interpretation des gesamten Komplexes des venire contra factum proprium als rechtsgeschäftliches Verhalten scheitert zudem bei unverzichtbaren Rechten. Sie stehen einer rechtsgeschäftlichen Disposition nicht offen; die freiwillige Nichtausübung der Rechtsposition ist hingegen möglich, gleichfalls die Begründung schutzwürdiger Erwartungen der Gegenseite. Hier bleibt mithin allein der Rückgriff auf den Treu und Glauben-Grundsatz. Ähnlich liegt es dort, wo eine stillschweigende Willenserklärung nicht möglich ist, vielmehr das Gesetz eine ausdrückliche Erklärung fordert.51 Fehlt eine ausdrückliche Erklärung, führt lediglich der Rückgriff auf § 242 BGB zu befriedigenden Ergebnissen. Kaum zu rechtfertigen ist der rechtsgeschäftliche Charakter auch, wenn das Rechtsgeschäft, an das angeknüpft werden soll, wegen fehlender Formerfordernisse unwirksam ist. Die Wirksamkeit des Rechtsgeschäfts mit einer teleologischen Reduktion der zur Nichtigkeit führenden Vorschrift zu begründen,52 erlaubt zwar eine am Sinn und Zweck der Norm ausgerichtete, allgemeinen Umständen Rechnung tragende Einschränkung der Wirkungsweise. Eine solche generelle Korrektur mag sich stellenweise aus der Teleologie einer Formvorschrift ergeben. In den hier zu beurteilenden Fällen geht es aber gerade nicht um eine allgemeingültige teleologische Interpretation, sondern um ein individuelles Verhalten, dem im Einzelfall die Anerkennung durch die Rechtsordnung versagt werden soll.53 Notwendig ist mithin kein generelles Mittel, um den Anwendungsbereich von Formvorschriften zu konkretisieren. Gefordert ist die Erklärung, warum ein besonderes individuelles Verhalten Rechtsfolgen auslöst. Der ratio legis lässt sich dazu nichts entnehmen. Dementsprechend vermag die Konstruktion des institutionellen Rechtsmissbrauchs hier ebenfalls nichts zu leisten. Bei den Fällen des arglistigen Täuschens über die Formbedürftigkeit oder über einen Formmangel wird nicht eine rechtliche Institution wie etwa die Vertragsfreiheit missbraucht. Bei der Regel venire contra factum proprium handelt es sich um einen Fall der Ausübungskontrolle nach § 242 BGB. Die Prüfungsmethodik ergibt sich aus dem Generalklauselcharakter. II. Anwendung des § 242 BGB bei der Verwirkung 1. Vorgehensweise Der Grundsatz des venire contra factum proprium beschreibt einen Anwendungsfall des § 242 BGB. Wie regelmäßig bei Generalklauseln kommt das flexible Konkretisierungssystem zur Anwendung. Heranzuziehen sind daher mannigfaltige Faktoren. Je mehr durch sie die mit § 242 BGB ausgedrückte Eingriffsschwelle 50 51
52 53
Palandt-BGB/Heinrichs, § 242 Rdnr. 87. Dette, Venire, S. 43 f.; Wieling, in: AcP 176 (1976), S. 334, 339, begnügt sich mit dem Ergebnis, dass in solchen Fällen das Fehlen einer ausdrücklichen Erklärung eben hinzunehmen sei. Wieling, in: AcP 176 (1976), S. 334, 338 ff. Ähnlich Canaris, Vertrauenshaftung, S. 275 f.
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der Rechtsordnung erreicht wird, desto eher wird die entsprechende Rechtsfolge anzunehmen sein. Die Schwäche eines Merkmals kann durch die Stärke oder das Hinzutreten eines anderen ausgeglichen werden. Das elastische Zusammen- und Widerspiel von Wertungsgesichtspunkten erlaubt es, den mit der Generalklausel ausgedrückten allgemeinen Maßstab zu jedem konkreten Fall in Bezug zu setzen.54 Den Anforderungen der Rechtsstaatlichkeit genügt das Prinzip des venire contra factum proprium durch die Strukturierung seiner Kriterien, die die Voraussehbarkeit und Bestimmbarkeit des Konkretisierungsprozesses gewährleistet. Zu unterscheiden sind Wertungselemente, die den Verpflichteten betreffen (Vertrauen, Schutzwürdigkeit, Vertrauensdisposition, kein anderweitiger Ausgleichsanspruch), und solche, die sich auf den Rechtsinhaber beziehen (Vorverhalten, Zurechenbarkeit). 2. Abwägungselemente für § 242 BGB a) Vertrauen des Verpflichteten. Bei der im Rahmen des § 242 BGB vorzunehmenden Gesamtabwägung spielt der Vertrauensgrundsatz eine wesentliche Rolle. Geprägt ist dieser Abwägungsfaktor von einem Erwartungshorizont dahingehend, der Handelnde werde seine geäußerte Einstellung nicht ändern, werde sich in Zukunft in gleicher Weise verhalten und an einer vorgesehenen Verfahrensweise festhalten.55 Wer es durch sein Verhalten veranlasst, dass bei einem anderen in Bezug auf ein konkretes Geltendmachen von Rechten ein berechtigtes Vertrauen entsteht, muss sich an diesem festhalten lassen.56 Wesentliche Legitimationsgrundlage und entscheidender Abwägungsfaktor ist der Vertrauensschutz. Dieser gebietet die Interessen desjenigen, der berechtigt vertraut hat, im Grundsatz höher zu bewerten als die Interessen dessen, der zurechenbar dieses Vertrauen verursacht hat. Das Vertrauen ist aber nur einer von mehreren Gesichtspunkten. Auch wenn kein besonderer Vertrauenstatbestand begründet worden ist, kann ein Verhalten an § 242 BGB scheitern. Fehlt das maßgebliche Strukturelement allerdings gänzlich, ist regelmäßig eine Anwendung des § 242 BGB unter dem Leitbild des venire contra factum proprium ausgeschlossen. b) Schutzwürdigkeit des Vertrauens. Von der Rechtsordnung geschütztes, anerkanntes Vertrauen erfordert ein „vertrauen Dürfen“.57 Das Vertrauen muss ge54 55 56
57
Einzelheiten zur komparativen Vorgehensweise bei der Vertragskontrolle bei Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 205 ff., 315 ff. m.w.N. Vgl. BGH, VersR 1982, S. 444; NJW 1981, S. 1045 f.; WM 1980, S. 341; MDR 1970, S. 210; OLG Köln, MDR 1973, S. 314. Ähnlich der BGH, WM 1980, S. 341: „Es könne eine unzulässige Rechtsausübung infolge widerspruchsvollen Verhaltens dann gegeben sein, wenn der andere Teil auf die von seinem Vertragspartner einmal eingenommene Haltung vertrauen durfte und sich darauf in einer Weise eingerichtet hat, daß ihm die Anpassung an eine veränderte Rechtslage nach Treu und Glauben nicht mehr zugemutet werden kann.“ Vgl. Canaris, Vertrauenshaftung, S. 294 ff.; Mader, Rechtsmißbrauch, S. 292 ff.; Wieacker, Präzisierung, S. 27 f.; BVerfG, DB 1989, S. 570, 571; BGH, WM 1987, S. 904, 905 f.; DB 1984, S. 2454; VersR 1982, S. 444.
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rechtfertigt sein. Die Schutzwürdigkeit hängt von unterschiedlichen Umständen ab, wie der Geschäftserfahrenheit oder dem intellektuellen Gefälle der Vertragspartner und der Beherrschbarkeit oder Verantwortungszuordnung einzelner Bereiche.58 So kann Vertrauen möglicherweise erst dadurch zu einem berechtigten werden, dass der Schuldner seiner Erkundigungspflicht als leistungssichernder Nebenpflicht genügt, ob der Gläubiger noch Ansprüche geltend machen möchte. Abzulehnen ist ein Vertrauensschutz, wenn der Schuldner die Untätigkeit des Gläubigers (mit-)veranlasst hat, indem er beispielsweise pflichtwidrig die erforderlichen Informationen über das Bestehen und den Umfang des Rechts nicht mitgeteilt hat.59 Ein abstraktes berechtigtes Vertrauen allein genügt nicht. Hinzutreten muss auf Seiten des Vertrauenden eine nachhaltige „Vertrauensinvestition“.60 c) Vertrauensdisposition. Ein Schutz des Vertrauenden ist grundsätzlich nur angezeigt, wenn sich dieser auf die vermeintliche Rechtslage konkret verlassen und Dispositionen vorgenommen hat. Reversible Maßnahmen erfüllen dieses Merkmal grundsätzlich nicht. Regelmäßig kommen nur solche Verhaltensweisen in Betracht, die nicht ohne weiteres wieder rückgängig zu machen sind. Das umfasst die Vornahme von Leistungen61 ebenso wie die von ungünstigen Prozesshandlungen62 oder auch tatsächliches Tätigwerden, das sich auf die Vermögenslage auswirkt.63 Hierzu zählt gegebenenfalls das Verstreichenlassen einer Verjährungsfrist in dem Glauben, der Schuldner werde sich auf den Fristablauf nicht berufen.64 Die Disposition muss nicht notwendigerweise vermögensrechtlich ausfallen. Es kann genügen, wenn sich der Verpflichtende in seiner privaten Lebensführung wesentlich auf die vermeintliche Rechtslage eingestellt hat.65 Typischerweise kommt es im Rahmen des venire contra factum proprium überdies entscheidend darauf an, welcher Art die Vertrauensinvestition war und welches Ausmaß sie im Einzelfall erreicht hat. Eine Rolle spielt dabei, ob ein Ausgleich der Maßnahmen des Vertrauenden im Wege des Aufwendungs- und Schadensersatzrechts als zureichend erscheint. Im Regelfall obliegt es nämlich den vorgesehenen Rechtsinstituten, den Ausgleich von Beeinträchtigungen herbeizuführen. 58
59 60 61 62 63 64
65
BGH, NJW 1980, S. 2408 (Zuständigkeit des Rechtsanwalts für die Einhaltung des Gebühren- und Standesrechts); VersR 1975, S. 245 f. (Verantwortung des zuständigen Versicherungsunternehmens für die Beantwortung einer Regressfrage). OLG Celle, FamRZ 1982, S. 63; OLG München, NJW 1974, S. 703 ff. Canaris, Vertrauenshaftung, S. 510. BGH, NJW 1979, S. 1656; NJW 1978, S. 947. BGH, WM 1987, S. 1084; MDR 1971, S. 206. BayObLG, DNotZ 1979, S. 37. BGH, NJW 1985, S. 1151, 2411; NJW 1983, S. 2076; WM 1982, S. 403; siehe auch OLG Braunschweig, NJW-RR 1989, S. 799 (Berufung auf die Verjährungseinrede erst im Verlauf des Rechtsstreits ist nicht treuwidrig i.S.d. § 242 BGB). BGHZ 16, S. 334, 337; BGHZ 12, S. 286, 289, wo das Beschwerdegericht die „menschliche Investition“ darin gesehen hat, dass der Verpflichtete „von frühester Jugend an seine gesamte Arbeitskraft dem Hof zur Verfügung gestellt, mit Zustimmung des Eigentümers auf dem Hof gearbeitet und ihn ganz oder zum Teil selbständig bewirtschaftet, auch auf dem Hof eine Familie gegründet hat […]“.
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d) Nachrangigkeit der Missbrauchskontrolle. Der mittels § 242 BGB ausgedrückte Rechtsgedanke venire contra factum proprium nemini licet kommt als allgemeine subsidiäre Regelung dann zur Anwendung, wenn diesem Gedanken nicht durch die gesetzlichen Ausgleichsansprüche (z. B. §§ 677 ff., 823 ff., 812 ff. BGB) ausreichend Rechnung getragen wird. Anderenfalls käme es zur Aushöhlung des gesetzlichen Anspruchssystems durch die Generalklausel. Das negative Konkretisierungselement ist nicht bereits erfüllt, wenn ein gesetzlicher Ausgleichsanspruch aufgrund einer fehlenden Voraussetzung nicht anwendbar ist. Darauf kommt es nicht an – im Gegenteil, auch dann, wenn alle Voraussetzungen einer gesetzlichen Regelung erfüllt sind, kann, wenn diese in concreto nicht zureichend erscheint, auf die allgemeine Regelung in § 242 BGB zurückgegriffen werden. Notwendig ist, dass die gesetzliche Schadens- und Ausgleichsordnung typischerweise in der betreffenden Konstellation versagt. Ansonsten enthält das Gesetz keine Schutzlücke. Nur mit einer solchen § 242 BGB einschränkenden Prämisse lassen sich Wertungswidersprüche in der Art vermeiden, dass der Grundsatz venire contra factum proprium mit der möglichen Folge einer Erfüllungshaftung anwendbar ist, wenn den Vertragspartner kein Verschulden trifft, während es im Falle schuldhaften Handelns unter Umständen nur zum Ersatz des negativen Interesses kommt. Eine typische Konstellation, bei der wegen solcher vom Gesetzgeber nicht berücksichtigter Besonderheiten ausnahmsweise auf § 242 BGB rekurriert werden kann, mag gegebenenfalls anzunehmen sein, wenn sich der Vertrauende in seiner gesamten Existenz auf die vermeintliche Rechtslage eingerichtet hat. Entscheidend für den Rückgriff auf § 242 BGB ist, dass die Rechtsordnung kein anderes geeignetes Kompensationsmittel zur Verfügung stellt.66 e) Vorverhalten des Rechtsinhabers. Neben diese Merkmale, die auf Seiten des Vertrauenden dafür sprechen, eine an sich zulässige Veränderung des rechtlichen Standpunktes oder Verhaltens als missbräuchlich und damit im Einzelfall als unzulässig zu qualifizieren, sind in den elastischen Kriterienkatalog Elemente einzustellen, die den widersprüchlich Handelnden betreffen. Während das Vertrauen das wesentliche Merkmal auf Seiten des Vertragspartners bildet, kommt es auf Seiten des Handelnden maßgeblich auf dessen Vorverhalten an. Denn durch dieses Verhalten wird das Vertrauen initiiert. Der Rechtsinhaber muss durch sein Verhalten das Vertrauen darauf erweckt haben, dass er seine Rechte nicht ausüben werde, wobei aktive wie passive Verhaltensweisen in Betracht kommen. Dabei ist zunächst an verbale Äußerungen zu denken, die – ohne eine Willenserklärung darzustellen – das Vertrauen des Gegners begründet haben, dass das betreffende Recht nicht weiter von Bedeutung sei. Es kann sich beispielsweise um das Erteilen einer Auskunft, um ein stillschweigendes (nicht als Willenserklärung zu interpretierendes) Verhalten, um das nachhaltige Vertreten einer bestimmten Rechtsauffassung oder um unwirksame Abreden handeln. So kann das freie Kündigungsrecht verlieren, wer zu erkennen gegeben hat, er werde das vertragliche Kündigungsrecht nur aus wichtigem Grund ausüben.67 Auch ein Unterlassen kann zur Anwendbarkeit 66 67
BGH, WM 1957, S. 1440 f.; BGHZ 12, S. 286, 304. OLG München, NJW-RR 1992, S. 1038.
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des § 242 BGB führen, nämlich dann, wenn eine entgegengesetzte, die Kontinuität zerstörende Handlung geboten gewesen wäre. So ist es vor allem bei der Verwirkung, bei der es sich – wie der Anknüpfungspunkt zeigt – um einen Unterfall des venire contra factum proprium handelt.68 Bei der Verwirkung sind zwei Arten zu unterscheiden. Die eine knüpft daran an, dass der Rechtsinhaber sein Recht längere Zeit hindurch nicht geltend gemacht hat. Nur diese Variante der Verwirkung ist der Rechtsfigur des venire contra factum proprium zuzuordnen. Davon zu trennen ist die Verwirkung aufgrund pflichtwidrigen Verhaltens. Diese zweite Art ist teilweise gesetzlich umgesetzt worden. Das Gesetz sieht in einer Reihe von Fällen vor, dass der Berechtigte sein Recht durch ein pflichtwidriges Verhalten verliert, so etwa bei §§ 654, 971 Abs. 2, 1579, 1611 Abs. 1, 2339 BGB. Neben diesen kodifizierten Konstellationen kann die Rechtsausübung auch gemäß § 242 BGB unzulässig sein, wenn dem Rechtsinhaber eine Verletzung eigener Pflichten zur Last fällt. Hier steht ein missbräuchliches früheres Verhalten aufgrund einer Pflichtverletzung (also nicht ein Fall des venire contra factum proprium) in Rede. Ein etwaiger Rechtsverlust gründet hier auf einem gesetzes- oder vertragswidrigen Verhalten, das mit der Rechtsposition in engem sachlichen Zusammenhang steht. In Betracht zu ziehen ist ein derartiger Rechtsverlust, wenn ein Gläubiger trotz einer eigenen Vertragsverletzung einen Anspruch geltend macht, der sich auf eine Vertragsverletzung des Gegners stützt, oder wenn ein Gläubiger trotz einer eigenen einseitigen Vertragsverletzung einen Anspruch auf die vollständige Erfüllung einer Verbindlichkeit geltend macht. Eine derart schwere Pflichtverletzung, die zum Verlust von Ansprüchen durch diese zweite Fallgruppe der Verwirkung führt, hat das BAG beispielsweise bei fortgesetztem Betrug zum Nachteil des Arbeitgebers angenommen.69 Zentraler Punkt dieser § 242 BGB zuzuordnenden Fälle ist eine schwerwiegende Pflichtverletzung. Gleichwohl stellt dies nicht den einzigen Bewertungsmaßstab dar; auch andere Gesichtspunkte können in die Beurteilung einfließen. Denkbar ist unter Umständen auch eine Überschneidung beider Fallgruppen der Verwirkung, also eine Überschneidung mit der Rechtsfigur venire contra factum proprium, als deren Unterfall die ebenfalls als Verwirkung bezeichnete Fallgruppe zählt, bei der das Vorverhalten in einem Unterlassen liegt. Das Unterlassen als Vorverhalten, das für die Prüfung eines individuellen Rechtsmissbrauchs bedeutsam ist, bildet den Gegenstand folgender Ausführungen. Die Erörterung beschränkt sich also auf die Verwirkung als Unterfall des venire contra factum proprium. Es geht darum, inwieweit ein Vertragspartner ein vertraglich eingeräumtes Recht durch Unterlassen kraft Ausübungskontrolle verlieren kann. Das besondere Merkmal der Verwirkung als Unterfall des venire contra factum proprium ist, dass das Vorverhalten in Untätigkeit besteht. Der Rechtsinhaber 68
69
BGHZ 105, S. 290, 298; Dette, Venire, S. 58; Christian Neu, Die neuere Rechtsprechung zur Verwirkung im Wettbewerbs- und Warenzeichenrecht, Köln 1984, S. 40 f.; Wieacker, Präzisierung, S. 28; Mader, Rechtsmißbrauch, S. 292 ff.; a. A. Franz Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäftes, Wien u. a. 1967, S. 184 ff.; Wieling, in: AcP 176 (1976), S. 334, 342. BAG, ZIP 1990, S. 1612; BAGE 41, S. 333, 335 f.
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macht von seiner Rechtsposition keinen Gebrauch und erweckt oder verstärkt dadurch den Eindruck, dass ein ihm im Grunde zustehendes Recht nicht bestehe. Nicht jedes Unterlassen setzt dabei ein für die Inhaltskontrolle nach § 242 BGB bedeutsames Vorverhalten. Es besteht kein allgemeines Gebot, seine Rechtspositionen in regelmäßigen Zeitabständen zu aktualisieren. Voraussetzung ist ein dem positiven Tun vergleichbares Verhalten. Dies erfordert im Einzelfall die Existenz einer Hinweis-, Aufklärungs- oder Kundgabepflicht. Ein Vorverhalten in Form des Unterlassens und damit gegebenenfalls die Existenz einer Klarstellungspflicht ist vom Ablauf einer bestimmten Zeit abhängig. Der Ausübung des Rechts wird deshalb von der Rechtsordnung die Anerkennung versagt, weil der Rechtsinhaber von der Rechtsposition über einen längeren Zeitraum hinweg keinen Gebrauch gemacht und dadurch bei der Gegenseite den Eindruck erweckt hat, mit der Beanspruchung des Rechts werde in Zukunft nicht mehr zu rechnen sein.70 Zeitablauf allein vermag einen Missbrauchstatbestand also nicht zu begründen. Anders als bei der Verjährung müssen Umstände hinzutreten, welche die Geltendmachung des Rechts als mit Treu und Glauben unvereinbar und für den Verpflichteten als unzumutbar erscheinen lassen. Dabei kommen unterschiedliche Aspekte in Betracht; häufig wird das Unterlassen von Umständen begleitet, die beim Verpflichteten ein Vertrauen auf die Nichtausübung entstehen lassen.71 Zeit- und Umstandsmoment stehen in engem Zusammenhang und beeinflussen einander: Je mehr Zeit nach dem Vertrauen begründenden Vorverhalten verstrichen ist, desto eher wird es rechtsethisch untragbar und damit treuwidrig sein, sich jetzt auf die Rechtsposition zu berufen und dadurch das Vertrauen des anderen Teils zu enttäuschen.72 Mit fortschreitender Zeit wächst die Verantwortung des Rechtsinhabers für den Vertrauenstatbestand, weil es sein Unterlassen ist, das den Vertrauenstatbestand unterhält. Mit andauernder Untätigkeit geht in gleichem Maß eine Verringerung der Schutzwürdigkeit der Rechtspositionen einher und steigt in entsprechendem Maß die Obliegenheit, die fortschreitende Vertrauensbasis in Bezug auf die Nichtausübung des Rechts zu zerstreuen. Den Rechtsinhaber treffen damit aus Rücksicht auf das Interesse des Vertragspartners an einer Klarstellung der Rechtslage Verhaltensanforderungen, um dem Schluss des Vertragspartners, der Berechtigte werde sein Recht nicht mehr ausüben, die Grundlage zu entziehen. f) Zurechenbarkeit. Risiko- und Verantwortungszuordnung für eine sich allmählich entwickelnde Rechtslage sind allerdings grundsätzlich nur dann gerechtfertigt, wenn die Entwicklung dem Rechtsinhaber zurechenbar ist. Zurechenbarkeit bezieht sich nicht auf das widersprüchliche Verhalten. Anknüpfungspunkt bleibt das Vorverhalten, das kausal zu einem berechtigten Vertrauen des Verpflichteten führt, welches wiederum ursächlich für eine Disposition des Vertragspartners ist.
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BGHZ 25, S. 47, 52. Reinhard Singer, Das Verbot widersprüchlichen Verhaltens, München 1993, S. 223 ff.; Dette, Venire, S. 59 f. Canaris, Vertrauenshaftung, S. 373; Singer, Verbot, S. 225.
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Verschulden im Sinne von Vorsatz oder Fahrlässigkeit ist nicht zu fordern.73 Es geht hier nicht darum, dem Rechtsinhaber für eine schädigende Handlung Verantwortung und damit eine Ersatzpflicht zuzuweisen. Das vertrauenserweckende Vorverhalten stellt für sich keinen missbilligenswerten Vorgang dar. Es geht darum, berechtigte Kontinuitätserwartungen der Gegenseite zu zerstreuen. Aus der konkreten Vertragssituation ergeben sich spezifische Tätigkeitsvorstellungen, die vom Vertragspartner so lange nicht befolgt werden, bis das im Grunde nicht zu erwartende Unterlassen seinerseits erwartet und im konkreten Vertrauen darauf gehandelt wird. Zurechenbarkeit ist mit keiner weiterreichenden Einstandspflicht verbunden. Der Rechtsinhaber ist lediglich aufgerufen, deutlich zu machen, dass er an seiner Rechtsposition festhält. Für die Annahme einer solchen genügt es als Zurechnungselement, wenn der Rechtsinhaber damit rechnen musste, sein Unterlassen werde als Rechtsverzicht verstanden. Der Rechtsinhaber hat dann aufklärend tätig zu werden, wenn er die zur Vertrauensbildung führenden Tatsachen beherrscht, die Ursache des Vertrauens also seinem Risiko- und Einflussbereich entstammt. Dies setzt nicht notwendigerweise das Bewusstsein der Vertrauensbildung voraus. Ausreichend ist, dass er die Entwicklung, insbesondere die Interpretation der Sachlage durch den Verpflichteten, erkennen kann. Das ist der Grundsatz. Die Ausprägung des § 242 BGB als wertungsoffener Tatbestand erlaubt hingegen Abweichungen. Vorsätzliches oder arglistiges Verhalten des Rechtsinhabers kann unter Umständen dazu führen, dass die übrigen Elemente in geringerer Intensität ausgeprägt sein müssen, um die Anwendungsschwelle des § 242 BGB zu erreichen. Die Elastizität der Generalklausel erlaubt eine von Fall zu Fall abweichende Gewichtung der Kriterien. So kann in Sonderfällen trotz fehlender subjektiver Zurechenbarkeit, die im Regelfall eine unzulässige Rechtsausübung ausschließt, die Rechtsfigur des venire contra factum proprium Anwendung finden. Erforderlich ist, dass die übrigen Abwägungselemente aufgrund einer außergewöhnlichen, besonderen Situation ein derart hohes Gewicht erlangen, dass dieser subjektive Aspekt ausnahmsweise entbehrlich wird.74 3. Auswirkungen des Kriterienkataloges a) Offenheit des Tatbestandes. Der genannte Kriterienkatalog ist nicht abschließend. Je nach den Umständen des Einzelfalles können weitere Abwägungsfaktoren hinzutreten, welche die Konkretisierung der Generalklausel in die eine oder andere Richtung beeinflussen können.75 § 242 BGB repräsentiert ein offenes System, in das auch Sinn und Zweck einzelner Rechtsgebiete Eingang finden. Die Generalklausel gestattet es, bestimmte vom Gesetzgeber verfolgte Ordnungszwecke im jeweils entsprechenden Gehalt in den Konkretisierungsvorgang einzustel73 74 75
BGH, ZIP 1986, S. 523, 525; Singer, Verbot, S. 132; Wieacker, Präzisierung, S. 28; Mader, Rechtsmißbrauch, S. 106 ff.; Dette, Venire, S. 71 f. Angenommen wird das beispielsweise im Bereich des gewerblichen Rechtsschutzes, vgl. BGH, NJW-RR 1989, S. 809; NJW 1988, S. 2470. Eingehend Heinrich, Formale Freiheit und materiale Gerechtigkeit, S. 205 ff., 315 ff.
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len. Ebenso wie gesetzliche Vorgaben eine Verwirkung ausdrücklich ausschließen können (so in § 77 Abs. 4 S. 3 BetrVG, § 4 Abs. 4 S. 2 TVG76), kann sich der Ausschluss der Verwirkung auch im Rahmen der Abwägung aus einem besonderen, gewichtigen Gesichtspunkt des einzelnen Regelungsbereichs oder der Natur des Rechtsverhältnisses ergeben. So sind im Einzelfall auch die Interessen Dritter oder öffentliche Interessen bei der individuellen Missbrauchsprüfung einzubeziehen.77 Auch im Bereich individuellen Rechtsmissbrauchs ist die Berücksichtigung einer generalisierenden, Sinn und Zweck einer eventuell betroffenen Norm einbeziehenden Interessenabwägung möglich. Die Sicherheit des Rechtsverkehrs kann dabei gegebenenfalls ein derartiges Gewicht erreichen, dass das Verbot des venire contra factum proprium nicht anwendbar ist, obgleich sämtliche typischerweise erforderlichen Kriterien verwirklicht sind. So kann einem auf § 3 UWG gestützten Anspruch nicht der Missbrauchseinwand entgegengehalten werden, weil der mit dieser Vorschrift bezweckte Schutz der Allgemeinheit vor Irreführung vorrangig ist.78 Ähnlich liegt es bei § 103 InsO, der die Interessen der Gesamtheit der Gläubiger schützt; ein Handeln des Insolvenzverwalters, das mit einem früheren Verhalten des Schuldners in Widerspruch steht, ist hinzunehmen.79 b) Kritik an Teilen der Rechtsprechung. Ein Teil der Rechtsprechung übersieht diese Offenheit des § 242 BGB und macht die Missbrauchskontrolle methodisch verfehlt von einem starren Voraussetzungskatalog abhängig. Die Rechtsprechung behandelt die genannten Wertungsfaktoren des § 242 BGB wie einen feststehenden Tatbestand. Um auch Sonderkonstellationen Rechnung tragen zu können, führt sie zusätzlich ein offenes Merkmal ein. Als weiteres Kriterium prüft sie die „sachliche Angemessenheit“ der Rechtsausübungsbegrenzung und macht auf diese Weise das Ergebnis der Abwägung letztlich von seiner Angemessenheit abhängig. Die Rechtsprechung kreiert mithin unter Missachtung des Generalklauselcharakters feste Voraussetzungen und stellt sodann das Ergebnis der Prüfung unter den Vorbehalt der Angemessenheit und Zumutbarkeit.80 Diese Vorgehensweise verkennt nicht nur die Verortung der Rechtsfigur bei § 242 BGB. Es besteht ferner die Gefahr, dass über den Aspekt der sachlichen Angemessenheit die Entscheidung letztlich allein von subjektiven Billigkeitserwägungen des Gerichts abhängig gemacht wird. Die sachliche Angemessenheit stellt kein vorrangiges „Superkriterium“81 dar, anhand dessen mittels allgemeiner Billigkeitserwägungen eine beliebige Korrektur des Abwägungsresultates zu rechtfertigen wäre. Dies widerspricht Rechtssicher76
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Der Begriff wird hier im Sinne einer Verwirkung im Zusammenhang mit einem Zeitablauf gebraucht; Verwirkung als Pflichtverletzung bleibt möglich, vgl. BAG, VersR 1983, S. 768. BGH, NJW-RR 1990, S. 887; NJW 1995, S. 1488; BGHZ 126, S. 287, 294 f. BGH, GRUR 1984, S. 457. BGH, NJW 1983, S. 1619 (zu § 17 KO). Vgl. BGH, WM 1980, S. 341; WM 1970, S. 253; in diese Richtung wohl auch Griesbeck, Venire, S. 91 ff., der eine Endkontrolle anhand sittlicher Grundwerte vornehmen möchte. Dette, Venire, S. 75.
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heitsgrundsätzen. Möglich, ja angezeigt ist es allein, sämtliche für den Einzelfall bedeutsamen Wertungen zu berücksichtigen. Das stellt jedoch keine Besonderheit der Verwirkung oder der individuellen Rechtsmissbrauchskontrolle dar, sondern entspricht allgemeinen Grundsätzen. Nur wenn mit dem Kriterium der sachlichen Angemessenheit dieser generelle Abwägungsgesichtspunkt gemeint ist, verdient die Vorgehensweise der Rechtsprechung Zustimmung. Wird der Angemessenheitsaspekt dazu benutzt, mittels einer nachträglichen allgemeinen Billigkeitserwägung eine beliebige Korrektur des Konkretisierungsvorganges vorzunehmen oder die Gewichtung der Elemente ohne sachlichen Grund zu verändern, ist diesem Abwägungsfaktor die Anerkennung zu versagen. Die vor allem von der Rechtsprechung praktizierte reine Ergebniskontrolle mittels Billigkeitserwägungen ist mit dem Rechtscharakter als Generalklausel nicht vereinbar.
E. Ergebnis Das Beispiel der Verwirkung hat gezeigt, dass sich bei der Anwendung des Treu und Glauben-Grundsatzes der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit entsprechende Ergebnisse finden lassen, wenn der Normgehalt des § 242 BGB konsequent umgesetzt wird. Mit einem einheitlichen Maßstab ist die Treu und Glauben-Prüfung nicht zu bewältigen. Sie hängt von einer Vielzahl von Bestimmungselementen ab, die je nach Lage des Einzelfalles belastend oder entlastend wirken und je nach Zahl, Intensität und Variationsmöglichkeit ergänzend, ersetzend oder summierend den Schluss auf die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit einer Regelung mit § 242 BGB rechtfertigen. Die durch die Konkretisierungselemente gewonnene Sicherheit im Umgang mit § 242 BGB bannt die von Hedemann beschriebenen Gefahren der „Verweichlichung, Unsicherheit und Willkür“82, die Generalklauseln vorgeblich in sich bergen. Sorgfältige methodische Arbeit macht § 242 BGB operationabel, ohne die Offenheit des Tatbestandes einzugrenzen. Die große Bandbreite des § 242 BGB erübrigt eine stete Reaktion des Gesetzgebers auf einzelne Erscheinungsformen des Rechtslebens. Die aus dem Treu und Glauben-Grundsatz abgeleiteten Rechtsinstitute und Konkretisierungsfaktoren erlauben es, „in ständiger Anpassung an den Wandel der Bedürfnisse und Anschauungen“83 die Zahl der Rechtsvorschriften überschaubar zu halten und gleichwohl für Einzelkonflikte eine adäquate und rechtssichere Lösung zu gewährleisten.
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Hedemann, Flucht in die Generalklauseln, S. 66 ff. Paul Oertmann, Gesetzgeberische Zukunftsaufgaben – Bürgerliches Vermögensrecht, in: DJZ 1931, S. 265.
Kollisionsrechtliche Koordination von dinglichem und deliktischem Rechtsgüterschutz Normzweck und Anwendungsbereich des Art. 44 EGBGB Heinz-Peter Mansel Adolf Laufs hat sich in seinen Schriften immer wieder auch der Aufgabe gestellt, die Dynamik der haftungsrechtlichen Entwicklung dogmatisch zu bändigen und zu gestalten. Systemkonsistenz und Rückbindung auf grundlegende Wertentscheidungen sind der Kompass nicht nur seines haftungsrechtlichen Werks. Es ist gerade wegen dieser doppelten Grundlegung so erfolgreich. Der vorliegende Beitrag will der Frage nach der Systemkonsistenz im internationalen privaten Umwelthaftungsrecht nachgehen. Er beschränkt sich dabei auf die nachbarrechtliche Immissionshaftung. Die Regelungsvielfalt der nationalen Sachrechte ist groß. Die Rechtsvergleichung zeigt bei einer funktionalen Betrachtungsweise1, dass der privatrechtliche Immissionsschutz im Grundsatz entweder deliktisch oder sachenrechtlich gewährleistet wird. Hinzu treten Mischsysteme (siehe dazu A.). Ordnen die verschiedenen Sachrechte einen bestimmten Lebensvorgang verschiedenen rechtlichen Regelungsrahmen – wie beispielsweise dem Deliktsrecht und dem Sachenrecht – zu, dann kann das auf der Ebene des Verweisungsrechts Probleme aufwerfen. Denn regelmäßig sehen die Kollisionsrechte unterschiedliche Anknüpfungen für diese verschiedenen Regelungsbereiche vor. Wenn nun ein einheitlicher Funktionszusammenhang wie die Frage nach der Haftung für Grundstücksimmissionen durch das internationale Privatrecht nicht einem einzigen berufenen materiellen Recht zugewiesen wird, sondern unterschiedlichen Sachrechten, kann das in der Gesamtschau widersprüchliche Anwendungsergebnisse hervorrufen. Durch die partielle Parallelanwendung verschiedener autonomer Haftungsordnungen kann es daher zu inkonsistenten Haftungsergebnissen kommen. Art. 44 EGBGB stellt einen Versuch der Koordinierung des immissionsschutzrechtlichen Delikts- und Sachstatuts dar. Im folgenden sollen Regelungsauftrag und Normzweck (B.), Anwendungsbereich (C.) und Anpassungsbedarf der Vorschrift im Hinblick auf gemeinschaftsrechtliche Rechtsentwicklungen (D.) beleuchtet werden. Die vorliegende kleine Skizze ist Adolf Laufs, dem inspirierenden Zweitgutachter im Habilitationsverfahren des Verfassers, in Verehrung und Dankbarkeit gewidmet. Seine Wertgebundenheit des wissenschaftlichen Diskurses und sein gleichzeitig illusionsloser Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen
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Zur funktionalen Rechtsvergleichung siehe Konrad Zweigert, Hein Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl., Tübingen 1996, § 3 II (S. 33 ff).
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des Rechts haben besondere Bedeutung für die heutige post-postmoderne2 Rechtswissenschaft.
A. Systemunterschiede privaten Immissionsschutzrechts Die Ansprüche, die tatbestandlich an die von einem Grundstück auf andere Rechtsgüter ausgehenden Einwirkungen anknüpfen, sind je nach befragter Rechtsordnung verschieden.3 Dabei bestehen grundlegende Systemunterschiede zwischen der Abgrenzung von schadensrechtlichem und dinglichem Rechtsgüterschutz.4 Beide Schutzordnungen knüpfen an die Rechtswidrigkeit der tatbestandsmäßigen Immission an. In manchen Rechtsordnungen wird der Schutz vor rechtswidrigen Eingriffen durch eigenständige Aufopferungsansprüche ergänzt. Sie leisten Ausgleich für rechtmäßige und deshalb zu duldende Eigentumseingriffe. Das deutsche Recht kennt in diesem Zusammenhang § 14 BImSchG5, das common law etwa das Rechtsinstitut der damages in lieu of injunction.6 Das deutsche Recht hat neben dem deliktischen allgemeinen Eigentumsschutz bekanntlich ein überwiegend sachenrechtliches Schutzkonzept.7 Besitzrechtliche und dingliche Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche (§§ 862, 1004 BGB) stehen in der Praxis im Vordergrund.8 Der Anwendungsbereich des § 1004 BGB 2
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Zur Überwindung der Postmoderne als Kategorie des gesellschaftlichen und geistesgeschichtlichen Denkens siehe etwa Robert Kurz, Die Welt als Wille und Design. Postmoderne, Lifestyle-Linke und die Ästhetisierung der Krise, Berlin 1999; Zygmunt Bauman, Unbehagen in der Postmoderne (aus dem Englischen von Wiebke Schmaltz), Hamburg 1999; Hans-Peter Müller, Das stille Ende der Postmoderne, Merkurs, Nr. 594/595, September/Oktober 1998, S. 975 ff. Siehe zum folgenden Staudinger-BGB/Hans Stoll, Internationales Sachenrecht, Berlin 1996, Rdnr. 232. Siehe bezogen auf Restitution und negatorischen Rechtsschutz Hans Stoll, Haftungsfolgen im bürgerlichen Recht, Heidelberg 1999, Rdnr. 134; siehe allgemein zur Abgrenzung von Delikts- und Eigentumsschutz vergleichend Christian v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. 1, München 1996, Rdnrn. 526 ff., 533. Zum Aufopferungsanspruchcharakter der Vorschrift siehe Staudinger-BGB/Jürgen Kohler, Berlin 2002, Umwelthaftungsrecht, Einleitung Rdnr. 81 ff., § 14 BImSchG Rdnr. 1. Siehe dazu Henner Kahlert, Die Aufopferungsansprüche des deutschen Nachbarrechts, verglichen mit “damages in lieu of injunction” im englischen und amerikanischen Recht, Diss. Freiburg 1977; allgemein dazu Stoll, Haftungsfolgen, Rdnr. 21 f., 117. Siehe zu den verschiedenen Anspruchslagen bei der Abwehr von Grundstücksimmissionen und entsprechenden Entschädigungs- bzw. Ausgleichsansprüchen den Überblick bei Karl Heinz Schwab, Hanns Prütting, Sachenrecht, 32. Aufl., München 2003, § 28 II, insbesondere Rdnr. 337-340; einen umfassenden Überblick gibt StaudingerBGB/Herbert Roth, Berlin 2002, § 906 BGB Rdnr. 46 ff., zur prägenden Bedeutung des sachenrechtlichen § 906 BGB siehe ebenda Rdnr. 47 f. Staudinger-BGB/Stoll, Internationales Sachenrecht, Rdnr. 232.
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wurde weit ausgedehnt und erfasst nach der Rechtsprechung eine Vielzahl von Störungsarten,9 die in anderen Rechten allein deliktsrechtlich sanktioniert werden.10 Einen weiten dinglichen Rechtsschutz gewähren auch andere Rechte. Zu nennen sind beispielsweise das schweizerische und das österreichische Recht.11 Zahlreiche Rechtsordnungen schützen den beeinträchtigten Grundstückeigentümer weniger durch dingliche Ansprüche, sondern mehr durch Zuerkennung deliktischer, z. T. auch verschuldensunabhängiger Ansprüche.12 Zu erwähnen sind hier das belgische und französische,13 das englische14 und das niederländische15 Recht. Primär deliktischer, weniger dinglicher Rechtsschutz wird auch nach dem italienischen und spanischen Recht gewährt.16
B. Regelungsauftrag und Normzweck I. Einheitliche Rechtsfrage und einheitliches Immissionsschutzstatut Die Durchsetzung privatrechtlichen Immissionsschutzes beruht auf einem einheitlichen tatsächlichen Lebensvorgang. Sie berührt einen einheitlichen rechtlichen Regelungsbereich, der – aus der Perspektive der deutschen Verfassungsgewähr-
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Siehe nur Staudinger-BGB/Karl-Heinz Gursky, Berlin 1999, § 1004 BGB Rdnr. 17 ff. Staudinger-BGB/Stoll, Internationales Sachenrecht, Rdnr. 232. Siehe Peter Jaborneg, Privates Nachbarrecht und Umweltschutz, in: ÖJZ 1983, S. 365373; und zum schweizerischen Recht Heinz Rey, Die Grundlagen des Sachenrechts und das Eigentum, 2. Aufl., Bern 2000, S. 489 ff., 502 ff. Dazu umfassend rechtsvergleichend Hans Stoll, Consequences of Liability: Remedies, in: International Encyclopedia of Comparative Law, XI: Torts, 1986, 2 Chapter 8 section 63. Siehe aus der deutschen Literatur v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht I, Rdnr. 543 f.; Joachim Gaertner, Verschuldensprinzip und objektive Haftung bei nachbarlichen Störungen (troubles de voisinage) nach französischem Recht, Diss. Freiburg/Br. 1972, S. 36, 42 ff.; Murad Ferid, Hans-Jürgen Sonnenberger, Das Französische Zivilrecht, Bd. 2, 2. Aufl., Heidelberg 1986, Rdnr. 3 C 189; siehe auch Juris Classeur civil, 2000, Art. 1382 à 1386, fasc. 265-10, Nr. 8 f. Siehe aus der deutschen Literatur v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht I, Rdnr. 527, 535; Dieter Henrich, Peter Huber, Einführung in das englische Privatrecht, 3. Aufl., Heidelberg 2003, S. 84 f; ferner Kahlert, Aufopferungsansprüche des deutschen Nachbarrechts. Siehe aus der deutschen Literatur v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht I, Rdnr. 540; Wolfgang Mincke, Einführung in das niederländische Recht, München 2002, Rdnr. 193. Siehe aus der deutschen Literatur v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht I, Rdnr. 541 f.
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leistungen17 – eine einheitliche Rechtsfrage stellt. Sie ist gerichtet auf die Abgrenzung der Integritätssphäre18 des beeinträchtigten Rechtsinhabers gegenüber der Handlungsfreiheit des Störers und dessen im Rahmen der Sozialbindung des Eigentums garantierter Freiheit zur Nutzung des Eigentums19 an dem Grundstück, von welchem die Einwirkung ausgeht. Diese einheitliche Rechtsfrage wird im Privatrecht unterschiedlichen Systembereichen (Deliktsrecht, Sachenrecht, insbesondere auch Aufopferungsrecht) zugeordnet. Weil aber das Verhältnis von deliktischem und dinglichem Rechtsgüterschutz in den einzelnen Rechten – wie unter A. beispielhaft aufgezeigt wurde – unterschiedlich gesehen wird, können sich bei der internationalprivatrechtlichen Qualifikation und bei der parallelen Anwendung von Delikts- und Sachenrecht unterschiedlicher Staaten Schwierigkeiten ergeben. Deshalb war bereits vor dem Inkrafttreten des Art. 44 EGBGB anerkannt, dass die Anknüpfung des grenzüberschreitenden privatrechtlichen Immissionsschutzes im Kern unabhängig von den systematisch-dogmatischen Einordnungen der Schutzansprüche sein sollte. Strittig war allerdings, wie diese einheitliche Anknüpfung des Immissionsschutzes ausgestaltet werden sollte.20 Der Reformgesetzgeber des Jahres 1999 hat nun eine gesetzgeberische Lösung der Parallelanknüpfung dinglicher und deliktischer Immissionsschutzansprüche vorgegeben.21 Art. 44 EGBGB sieht als lex specialis zu Art. 43 EGBGB eine deliktsakzessorische Anknüpfung der dinglichen Ansprüche wegen Grundstücksemissionen vor und greift damit im Ergebnis auf die früher herrschende, wesentlich von Hans Stoll beeinflusste Ansicht22 zurück. Die betreffenden dinglichen 17
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Fragen der grenzüberschreitenden Grundrechtsgewährleistung bleiben hier außer Betracht, da nur die einheitliche Rechtsfrage bezeichnet wird, nicht aber zur räumlichen Reichweite verfassungsrechtlicher Gewährleistungen selbst Stellung genommen wird. Je nach berührtem Rechtsgut ergeben sich andere verfassungsrechtliche Gewährleistungen, vor allem gemäß Artt. 2, 12, 14 GG. Zur Eigentumsnutzung und der Sozialbindung des Eigentums siehe vor allem Maunz/Dürig-GG/Hans-Jürgen Papier, 31. Lieferung, Mai 1994, Art. 14 GG Rdnr. 305. Siehe dazu nur Günter Hager, Zur Berücksichtigung öffentlich-rechtlicher Genehmigungen bei Streitigkeiten wegen grenzüberschreitender Immissionen, in: RabelsZ 53 (1989), S. 293, 295-298; MünchKomm-BGB/Karl Kreuzer, 3. Aufl., München 1998, Art. 38 EGBGB Rdnr. 260, 261, nach Art. 38 Anh. I Rdnr. 41 ff.; StaudingerBGB/Bernd v. Hoffmann, Berlin 2001, Art. 40 EGBGB Rdnr. 140 ff.; StaudingerBGB/Stoll, Internationales Sachenrecht, Rdnr. 234 ff.; Ulrike Wolf, Deliktsstatut und internationales Umweltrecht, Berlin 1995, S. 174 f.; einen gedrängten Überblick über den Meinungsstand gibt AnwKomm-BGB/Thomas v. Plehwe, Bonn 2005, Art. 44 EGBGB Rdnr. 2. Siehe die Gesetzesbegründung BT-Drs. 14/343, S. 16. Dazu siehe nur Staudinger-BGB/Stoll, Internationales Sachenrecht, Rdnr. 234 ff. Aus den Gesetzesmaterialien siehe insbesondere Karl Kreuzer, Gutachtliche Stellungnahme zum Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung des Internationalen Privatrechts, in: Dieter Henrich (Hrsg.), Vorschläge und Gutachten zur Reform des deutschen Internationalen Sachen- und Immaterialgüterrechts, Tübingen 1991, S. 37, 147 ff.; siehe ferner etwa Staudinger-BGB/v. Hoffmann, Art. 40 EGBGB Rdnr. 140 mit Rechtsprechungsnachweisen.
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Immissionsschutzansprüche unterstehen damit dem Sachrecht, welches nach Art. 40 Abs. 1 EGBGB das Deliktsstatut bildet. Durch die einheitliche Anknüpfung werden Anpassungslagen23 vermieden, die ansonsten infolge von Normmangel, Normhäufung oder Normwidersprüchen auftreten könnten. Sie könnten entstehen, wenn unterschiedliche Rechtsordnungen, die unterschiedlichen Regelungskonzepten folgen, als immissionsschutzrechtliches Delikts- und Sachstatut anzuwenden sind.24 II. Sachenkollisionsrechtliches Bestimmungsrecht als Gebot der rechtlichen Gleichbehandlung Durch den Verweis in Art. 44 EGBGB auf Art. 40 Abs. 1 EGBGB wird dem beeinträchtigten Grundstückseigentümer hinsichtlich des anwendbaren Sachenrechts ein Bestimmungsrecht eingeräumt. Er kann im Ergebnis25 zwischen dem Immissionsschutzrecht des Immissionsorts und dem des Emissionsorts wählen. Diese Anknüpfung ist in den hier zu beurteilenden Fällen der grenzüberschreitenden Grundstücksemission auch für sich selbst gerechtfertigt. Für ein Optionsrecht des Anspruchsgläubigers zugunsten des Rechts des Handlungs- oder des Erfolgsorts spricht ein Gebot der rechtlichen Gleichbehandlung von innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Störungsfällen.26 Rechte an Sachen und sonstige Rechtsgüter, die sich im Störungsstaat (Staat der Belegenheit des verletzten Rechtsguts) befinden, sollten – hier ist Hans Stoll zuzustimmen – gegen von Auslandsgrundstücken ausgehende Störungen ebenso geschützt werden, als wenn die Störungsquelle im Störungsstaat selbst belegen wäre, denn für den beeinträchtigten Rechtsträger ist die Belegenheit der Störungsquelle zufällig. Das spricht für die Geltung des Rechts des Störungsstaats. Sind die Rechtsschutzstandards im Störungsstaat niedriger als nach dem Recht des Emissionsstaats, so würde das den für die Störung Verantwortlichen begünstigen. Das ist aber nicht Zweck der Anwendung des Rechts des Störungsstaats. Daher sollte der durch die Immission betroffene Rechtsträger auch verlangen können, dass sich seine Immissionsschutzrechte nach dem Recht des Belegenheitsstaats des Grundstücks, von welchem die Störung ausgeht, richten. Das jetzt in Art. 44 EGBGB auch für die dinglichen Immissionsschutzansprüche verankerte Gläubigeroptionsrecht ist auch im schweizerischen Recht anerkannt. Das schweizerische IPRG von 1987 sieht für dingliche Ansprüche aus 23
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Zur Anpassung siehe allgemein Dirk Looschelders, Die Anpassung im internationalen Privatrecht, Heidelberg 1995. Siehe die Gesetzesbegründung BT-Drs. 14/343, S. 16. Siehe näher zur Bestimmung des Erfolgs- und des Handlungsorts nach Artt. 44, 40 Abs. 1 EGBGB AnwKomm-BGB/v. Plehwe, Art. 44 EGBGB Rdnr. 8; Erman-BGB/Gerhard Hohloch, 11. Aufl., Münster 2004, Art. 44 EGBGB Rdnr. 7; Dirk Looschelders, Internationales Privatrecht, Art. 3-46 EGBGB, Berlin 2004, Art. 44 EGBGB Rdnr. 8. Siehe zu diesem Grundsatz Staudinger-BGB/Stoll, Internationales Sachenrecht, Rdnr. 235.
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Immissionen, die von einem Grundstück ausgehen, ein solches Wahlrecht des Geschädigten vor. Art. 138 schweizerisches IPRG ordnet das gleiche für Deliktsansprüche an.
C. Auslegung des Art. 44 EGBGB und Sicherstellung des erstrebten Anknüpfungsgleichlaufs von dinglichem und deliktischem Immissionsschutzstatut Fraglich ist, wieweit sich der durch Art. 44 EGBGB erstrebte Anknüpfungsgleichlauf zwischen dem dinglichen und dem deliktischen Immissionsschutzstatut durch eine zweckgerichtete Auslegung des Art. 44 EGBGB sicherstellen lässt. I. Allein dinglicher Anknüpfungsgegenstand Art. 44 EGBGB setzt grenzüberschreitende Emissionen voraus, die von einem Grundstück ausgehen und auf andere Rechtsgüter einwirken. Eine Einwirkung auf ein Grundstück wird nach dem Normtext nicht vorausgesetzt. Es ist ohne Bedeutung für die Anknüpfung nach Art. 44 EGBGB, in welcher Art der Inanspruchgenommene an dem Grundstück oder grundstücksgleichen Recht (Erbbaurechtsgrundstück etc.) dinglich berechtigt ist.27 Seine Art der dinglichen Berechtigung ist erst auf der Ebene des materiellen Rechts zu klären, wenn sie dort bei der Anwendung des berufenen Sachrechts bedeutsam wird. Fraglich ist aber, ob Art. 44 EGBGB allein die Anknüpfung dinglicher Ansprüche regelt28 oder vielmehr die Anknüpfung sämtlicher, also auch der deliktischen29 Ansprüche, die auf den von einem Grundstück ausgehenden Einwirkungen auf die Rechtsgüter anderer beruhen. Art. 44 EGBGB ist eine Vorschrift des internationalen Sachenrechts. Aus systematischen Gründen erfasst sie daher nur dingliche Ansprüche. Ob ein Anspruch dinglich ist oder nicht, ist aus der Sicht des für die Qualifikation heranzuziehenden deutschen Rechts davon abhängig, ob der Anspruchsteller ein dingliches Recht geltend macht, nicht davon, ob die Verletzungshandlung des Störers von einem Grundstück ausgeht. Es gilt: Hätte der Gesetzgeber mit Art. 44 EGBGB eine Norm schaffen wollen, welche alle durch eine Grundstücksemission ausgelösten Ansprüche erfasst – unabhängig von ihrer dogmatischen Zuordnung – dann hätte 27
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Ebenso AnwKomm-BGB/v. Plehwe, Art. 44 EGBGB Rdnr. 5; Erman-BGB/Hohloch, Art. 44 EGBGB Rdnr. 6. So Looschelders, Internationales Privatrecht, Art. 44 EGBGB Rdnr. 5; MünchKommBGB/Christiane Wendehorst, Ergänzungsband, 4. Aufl., München 2005, Art. 44 EGBGB Rdnr. 5; wohl auch Erman-BGB/Hohloch, Art. 44 EGBGB Rdnr. 10. So Hans Stoll, Zur gesetzlichen Regelung des internationalen Sachenrechts in Artt. 4346 EGBGB, in: IPRax 2000, S. 259, 265; ebenso wohl Palandt-BGB/Andreas Heldrich, 64. Aufl., München 2005, Art. 44 EGBGB Rdnr. 2.
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er seinen umfassenden Regelungswillen und sein systemübergreifendes Regelungsprogramm deutlicher erklären müssen. Von der Verweisung des Art. 44 EGBGB erfasst werden daher lediglich dingliche Ansprüche. Das sind solche Ansprüche des Anspruchstellers, die auf seiner dinglichen Berechtigung (Eigentum oder jede andere Art der dinglichen Berechtigung) an dem Grundstück oder der beweglichen Sache, auf welche die von einem (anderen) Grundstück ausgehende Emission einwirkt, beruhen. Die deliktisch und gefährdungshaftungsrechtlich (in weiterem Sinn als deliktisch) zu qualifizierenden Ansprüche fallen daher nicht in den Anwendungsbereich des Art. 44 EGBGB. Sie unterstehen uneingeschränkt den Art. 40-42 EGBGB.30 Anderenfalls würde derjenige Anspruchsteller, der sich auf deliktische Ansprüche beschränken und eine von Art. 40 Abs. 1 EGBGB abweichende Deliktsanknüpfung nutzen möchte, benachteiligt.31 Eine weite Bestimmung des sachlichen Anwendungsbereichs des Art. 44 EGBGB hat der Gesetzgeber aber erkennbar nicht gewollt, sonst hätte die Norm einen anderen systematischen Standort finden müssen. Daraus folgt, dass der Anknüpfungsgleichlauf eingeschränkt ist. Art. 44 EGBGB ist keine einheitliche Kollisionsnorm für deliktische und dingliche Immissionsschutzansprüche, sondern ordnet allein die deliktsakzessorische Anknüpfung der dinglichen Immissionsschutzansprüche an, die aber – wie zu zeigen ist – eingeschränkt ist. II. Weites Verständnis des Einwirkungsbegriffs Immerhin stellt aber der Gedanke des einheitlichen Immissionsschutzstatuts nicht nur die ratio des Art. 44 EGBGB dar, sondern er wirkt sich auch auf tatbestandlicher Ebene im Rahmen der Auslegung des Art. 44 EGBGB aus. Art. 44 EGBGB ist im Interesse eines weitgehenden Gleichlaufs zwischen dinglichem und deliktischem Immissionsschutz tatbestandlich möglichst weit auszulegen.32 Denn Art. 44 EGBGB soll für alle nationalen Sachenrechte Anwendungsbefehle enthalten, so dass das Begriffsverständnis der Immission weiter als das des § 906 BGB ist, auch wenn die Qualifikation grundsätzlich nach der deutschen lex fori zu erfolgen hat. Das weitere Verständnis der Systembegriffe, die in Kollisionsnormen verwendet werden, gegenüber ihrer Auslegung innerhalb von deutschen Sachnormen ist kollisionsrechtlich im Ergebnis seit langem allgemein
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Wie hier: AnwKomm-BGB/v. Plehwe, Art. 44 EGBGB Rdnr. 6; Bamberger/RothBGB/Andreas Spickhoff, München 2003, Art. 44 EGBGB Rdnr. 2; ErmanBGB/Hohloch, Art. 44 EGBGB Rdnr. 10; Looschelders, Internationales Privatrecht, Art. 44 EGBGB Rdnr. 10; MünchKomm-BGB/Wendehorst, Art. 44 EGBGB Rdnr. 10; anderer Auffassung Stoll, in: IPRax 2000, S. 259, 265; wohl zuvor PalandtBGB/Heldrich, Art. 44 EGBGB Rdnr. 2. Ebenso MünchKomm-BGB/Wendehorst, Art. 44 EGBGB Rdnr. 21. MünchKomm-BGB/Wendehorst, Art. 44 EGBGB Rdnr. 5.
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anerkannt.33 Von Art. 44 EGBGB werden daher alle Emissionen34 erfasst, für welche eine sachenrechtliche Regelung denkbar ist. Das ist dann der Fall, wenn die konkrete Emissionsform vergleichbare Ordnungsaufgaben aufwirft,35 wie sie § 906 BGB hat, unabhängig davon, ob jene im deutschen Sachrecht auch tatsächlich in den Anwendungsbereich des § 906 BGB fallen würden. III. Keine umfassende deliktsakzessorische Anknüpfung Die durch Art. 44 EGBGB angeordnete deliktsakzessorische Anknüpfung dinglicher Immissionsschutzansprüche soll – wie gesehen – einen Gleichlauf zwischen dem Delikts- und dem Sachstatut hinsichtlich der sich aus den Grundstücksemissionen ergebenden dinglichen und deliktischen Ansprüche herstellen. Dieser Gleichlauf ist gestört, wenn das Deliktsstatut im konkreten Fall von Art. 40 Abs. 1 EGBGB abweichend bestimmt wird. Eine von Art. 40 Abs. 1 EGBGB abweichende Bestimmung des Deliktsstatuts ergibt sich nach Art. 40 Abs. 2 EGBGB (gemeinsames Aufenthaltsrecht von Schädiger und Geschädigtem), Art. 41 EGBGB (wesentlich engere Beziehung) oder Art. 42 EGBGB (nachträgliche Rechtswahl). Dann kommt es infolge der auf Art. 40 Abs. 1 EGBGB begrenzten Verweisung des Art. 44 EGBGB nicht zu dem grundsätzlich erstrebten Gleichlauf von dinglichem und deliktischem Emissionsstatut. Der Gleichlauf kann auch dadurch gestört werden, dass eine Anspruchsbegrenzung nach Art. 40 Abs. 3 EGBGB für die deliktischen Ansprüche (nicht aber für sachenrechtliche Ansprüche) vorzunehmen ist. Wendehorst36 erklärt die begrenzte Verweisung als ein Redaktionsversehen während des Gesetzgebungsverfahrens. Ob die durch die begrenzte Verweisung hervorgerufene partielle Gleichlaufstörung aber tatsächlich bei dem Gesetzgebungsverfahren und den vorangegangenen Beratungen des Deutschen Rats für Internationales Privatrecht übersehen wurde, erscheint fraglich. Die unterschiedliche Anknüpfung ist zu offensichtlich. In der Literatur werden unter Berufung auf das Redaktionsversehen Gesetzeskorrekturen vorgeschlagen. Eine Geltung des Art. 44 EGBGB nicht nur für die dinglichen, sondern auch für die deliktischen Ansprüche würde den Gleichlauf herstellen. Auf diese Weise würden die Sonderanknüpfungen der Artt. 40 Abs. 2, 33
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36
Siehe nur die Darstellung bei MünchKomm-BGB/Hans Jürgen Sonnenberger, 3. Aufl., München 1998, Einl. IPR Rdnr. 460 ff., insbesondere Rdnr. 463. Siehe dazu beispielhaft die Aufzählungen bei MünchKomm-BGB/Wendehorst, Art. 44 EGBGB Rdnr. 12 f.; AnwKomm-BGB/v. Plehwe, Art. 44 EGBGB Rdnr. 5. MünchKomm-BGB/Sonnenberger, 1998, Einl. IPR Rdnr. 465 (dort ausführliche Diskussion des Streitstands), hat überzeugend geklärt, dass die Auslegung der in den deutschen Kollisionsnormen verwendeten Begriffe danach zu erfolgen hat, dass sich die Normbegriffe auf die Vorgänge/Umstände und die sie regelnden ausländischen Normen erstrecken, die ein vergleichbares Ordnungsziel verfolgen, wie es bei deutschem materiellrechtlichen Begriffsverständnis der Fall ist. MünchKomm-BGB/Wendehorst, Art. 44 EGBGB Rdnr. 18 f.
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41, 42 EGBGB auch nicht für deliktische Ansprüche wegen Grundstücksemissionen gelten. Dieser Weg der Anknüpfungsharmonisierung ist aber – aus den bereits unter C. I. genannten Gründen – abzulehnen. Auch die analoge Anwendung einzelner Vorschriften der Artt. 40 Abs. 2, 41, 42 EGBGB ist abzulehnen.37 Die Verweisung des Art. 44 EGBGB bleibt grundsätzlich auf Art. 40 Abs. 1 EGBGB beschränkt, denn eine für die analoge Anwendung vorauszusetzende Regelungslücke ist nicht gegeben.38 Jedenfalls fehlt die für eine analoge Anwendung erforderliche vergleichbare Interessenlage und Normsitua-tion.39 Die begrenzte Verweisung des Art. 44 EGBGB ist nämlich sachlich gerechtfertigt,40 wie sogleich zu begründen ist. Wendehorst41 spricht sich hingegen für eine teleologische Korrektur des Art. 44 EGBGB aus. Seine Verweisung auf Art. 40 Abs. 1 EGBGB sei als allgemeine Verweisung auf das im konkreten Fall bestimmte Deliktsstatut zu verstehen. Aber diese offene Normkorrektur ist abzulehnen.42 Denn das teilweise infolge der beschränkten Verweisung des Art. 44 EGBGB nur auf Art. 40 Abs. 1 EGBGB mögliche Auseinanderfallen von Delikts- und Sachstatut ist de lege lata sachlich begründet. Zu den Normzwecken des Art. 44 EGBGB zählt zwar der geschilderte Gleichlauf beider Statute. Normzweck ist aber auch die Gewährung eines Optionsrechts für den Geschädigten zugunsten des Handlungs- oder Erfolgsorts. Dafür spricht das eingangs dargelegte Gebot der rechtlichen Gleichbehandlung von innerstaatlichen und grenzüberschreitenden Störungsfällen. Dieser Regelungszweck wird aber allein durch die Verweisung des Art. 44 EGBGB auf Art. 40 Abs. 1 EGBGB verwirklicht. Daher kann diese beschränkte Verweisung de lege lata nicht korrigiert werden, auch wenn es sich de lege ferenda empföhle. Im Einzelfall kann ein Gleichlauf beider Statute aber auf umgekehrte Art und Weise durch Anpassung des Deliktsstatuts an das Sachstatut erreicht werden, etwa über Art. 41 EGBGB43 oder durch Anpassung des Sachstatuts an das abweichend von Art. 40 Abs. 1 EGBGB bestimmte Deliktsstatut über Art. 46 EGBGB.44 Der 37 38 39
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So bereits im Ergebnis MünchKomm-BGB/Wendehorst, Art. 44 EGBGB Rdnr. 25. MünchKomm-BGB/Wendehorst, Art. 44 EGBGB Rdnr. 25. Zweifelnd, z. T. ablehnend auch MünchKomm-BGB/Wendehorst, Art. 44 EGBGB Rdnr. 25; im Ergebnis wie hier uneingeschränkt ablehnend: AnwKomm-BGB/v. Plehwe, Art. 44 EGBGB Rdnr. 14 (zur analogen Anwendung des Art. 42); Bamberger/RothBGB/Spickhoff, Art. 44 EGBGB Rdnr. 3; Erman-BGB/Hohloch, Art. 44 EGBGB Rdnr. 12; Looschelders, Internationales Privatrecht, Art. 44 EGBGB Rdnr. 2; PalandtBGB/Heldrich, Art. 44 EGBGB Rdnr. 2. Anderer Auffassung: MünchKomm-BGB/Wendehorst, Art. 44 EGBGB Rdnr. 25. MünchKomm-BGB/Wendehorst, Art. 44 EGBGB Rdnr. 26 f. Im Ergebnis ebenso ablehnend: AnwKomm-BGB/v. Plehwe, Art. 44 EGBGB Rdnr. 14; Bamberger/Roth-BGB/Spickhoff, Art. 44 EGBGB Rdnr 3; Erman-BGB/Hohloch, Art. 44 EGBGB Rdnr. 12; Looschelders, Internationales Privatrecht, Art. 44 EGBGB Rdnr. 2; Palandt-BGB/Heldrich, Art. 44 EGBGB Rdnr. 2. Bamberger/Roth-BGB/Spickhoff, Art. 44 EGBGB Rdnr. 4; siehe noch Stoll, in: IPRax 2000, S. 259, 265. Gesetzesbegründung BT-Drs. 14/343, S. 17; Bamberger/Roth-BGB/Spickhoff, Art. 44 EGBGB Rdnr. 3; Erman-BGB/Hohloch, Art. 44 EGBGB Rdnr. 12; Palandt-
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entsprechenden Warnung von Wendehorst45 ist im Kern zuzustimmen. Die Ausweichklauseln dürfen nicht zur freien und unkontrollierten Normkorrektur genutzt werden. Andererseits ist ihre Heranziehung hinsichtlich der von Art. 44 EGBGB erfassten Anknüpfungssituationen nicht generell abzulehnen. Sie können jedoch nur im konkreten Einzelfall aufgrund dessen konkreter Einzelumstände zur abweichenden Anknüpfung des Delikts- bzw. Sachstatuts genutzt werden.46
D. De lege ferenda I. Auswirkungen der EG-Verordnung über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anwendbare Recht Es ist heute noch offen, wie sich die gemeinschaftsrechtliche Neuregelung des internationalen Deliktsrechts auf Art. 44 EGBGB auswirken wird. Art. 44 EGBGB verweist auf das nach Art. 40 Abs. 1 EGBGB bestimmte Deliktsstatut. Das autonome Deliktsrecht soll aber von einer entsprechenden EG-Verordnung weitgehend47 verdrängt werden. Bekanntlich ist das internationale Deliktsrecht sowie das sonstige internationale Privatrecht außervertraglicher Schuldverhältnisse seit geraumer Zeit Gegenstand von gemeinschaftsrechtlichen Gesetzgebungsarbeiten. Es liegt ein Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II“)48 vor. Die geplante Verordnung ist als loi uniforme ausgestaltet und soll nach Art. 2 des Entwurfs auch dann gelten, wenn die Verordnungsnormen auf das Recht eines Nichtmitgliedstaats verweisen. Sobald die Verordnung in Kraft treten wird und ihre Vorschriften anzuwenden sein werden, werden sie auch die Artt. 40-42 EGBGB verdrängen, da eine EG-Verordnung nach Art. 249 Abs. 2 EG-Vertrag
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47
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BGB/Heldrich, Art. 44 EGBGB Rdnr. 2; siehe ferner Stephan Geisler, Die engste Verbindung im internationalen Sachenrecht, Berlin 2001, S. 334; Thomas Pfeiffer, Der Stand des Internationalen Sachenrechts nach seiner Kodifikation, in: IPRax 2000, S. 270, 274; Christian Stefan Wolf, Der Begriff der wesentlich engeren Verbindung im internationalen Sachenrecht, Köln 2002, S. 146 f. MünchKomm-BGB/Wendehorst, Art. 44 EGBGB Rdnr. 24. Allgemein zur generellen und einzelfallbezogenen Korrekturfunktion des Art. 46 EGBGB siehe Heinz-Peter Mansel, Normzweck und Tatbestandstruktur des Art. 46 EGBGB, in: Stephan Lorenz (Hrsg.), Festschrift für Andreas Heldrich zum 70. Geburtstag, München 2005, S. 899 ff. Zum sachlichen Anwendungsbereich der geplanten Verordnung siehe Peter Huber, Ivo Bach, Die Rom-II-VO – Kommissionsentwurf und aktuelle Entwicklungen, in: IPRax 2005, S. 73. Dokument KOM [2003] 427 endg.; siehe zur geplanten Verordnung Huber/Bach, in: IPRax 2005, S. 73 ff.; zur Vorgeschichte: Staudinger-BGB/v. Hoffmann, Vorbem zu Art. 38 ff. EGBGB Rdnr. 16 ff.
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vorrangig anzuwenden ist. Mit dem Inkrafttreten des genannten Verordnungsvorschlags ist frühestens ab Herbst des Jahres 2005 zu rechnen. Das wird die Verweisung des Art. 44 EGBGB auf Art. 40 Abs. 1 EGBGB solange nicht tangieren, wie der deutsche Gesetzgeber Art. 44 EGBGB nicht ändert oder den bisherigen Art. 40 Abs. 1 EGBGB aufhebt. Der Verordnungsvorschlag enthält keine Kollisionsnorm für dingliche Ansprüche wegen Grundstücksemissionen. Für die Zwecke der Anknüpfung dieser Ansprüche kann also Art. 40 Abs. 1 EGBGB weiter Geltung beanspruchen, soweit er über Art. 44 EGBGB anzuwenden ist. Es ist zu fragen, wie weit das nach der Verordnung bestimmte und das nach Art. 40 Abs. 1 EGBGB ermittelte Deliktsstatut auseinanderfallen werden. Von dem Ergebnis hängt das Ausmaß des gesetzgeberischen Reformbedarfs für die deliktsakzessorische Anknüpfung des autonomen Art. 44 EGBGB ab. Bei grenzüberschreitenden Umweltschädigungen, also auch für die durch Art. 44 EGBGB erfassten Grundstücksemissionen, gilt nach Art. 7 des Verordnungsvorschlags KOM [2003] 427 endg. für deliktische Ansprüche das in dem Verordnungsvorschlag ansonsten zurückgedrängte deliktsrechtliche Ubiquitätsprinzip. Das bezweckt die „Hebung des Umweltschutzes im Allgemeinen“.49 Der Normtext lautet: Artikel 7 – Umweltschädigung Auf außervertragliche Schuldverhältnisse, die aus einer Umweltschädigung entstanden sind, ist das nach Maßgabe von Artikel 3 Absatz 1 geltende Recht anwendbar, es sei denn, der Geschädigte hat sich dazu entschieden, seinen Anspruch auf das Recht des Staates zu stützen, in dem das schädigende Ereignis eingetreten ist.
Der darin in Bezug genommene Art. 3 des Verordnungsvorschlags KOM [2003] 427 endg. lautet in seiner vollständigen Fassung: Artikel 3 – Allgemeine Kollisionsnorm 1. Auf ein außervertragliches Schuldverhältnis aus unerlaubter Handlung ist unabhängig davon, in welchem Staat das schädigende Ereignis eintritt und in welchem Staat oder welchen Staaten die indirekten Schadensfolgen festzustellen sind, das Recht des Staates anzuwenden, in dem der Schaden eintritt oder einzutreten droht. 2. Wenn die Person, deren Haftung geltend gemacht wird, und der Geschädigte zum Zeitpunkt des Schadenseintritts ihren gewöhnlichen Aufenthalt im selben Staat haben, unterliegt das außervertragliche Schuldverhältnis dem Recht dieses Staates. 3. Wenn sich aus der Gesamtheit der Umstände ergibt, dass das außervertragliche Schuldverhältnis eine offensichtlich engere Verbindung mit einem anderen Staat aufweist, gilt ungeachtet der Absätze 1 und 2 das Recht dieses anderen Staates. Eine offensichtlich engere Verbindung mit einem anderen Staat kann sich insbesondere aus einem bestehenden Rechtsverhältnis zwischen den Parteien wie einem Vertrag, der mit der betreffenden unerlaubten Handlung in enger Verbindung steht, ergeben.
Die Verweisungen des Verordnungsvorschlags sind gemäß Art. 20 Verordnungsvorschlag KOM [2003] 427 endg. Sachnormverweisungen. Von Art. 7 Verord49
So die Begründung in KOM [2003] 427 endg., S. 22.
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nungsvorschlag KOM [2003] 427 endg. kann durch nachträgliche Rechtswahl50 abgewichen werden. Im Ergebnis kann der Deliktsgläubiger bei Umweltschädigungen nach der Regelanknüpfung des Art. 3 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 7 Verordnungsvorschlag KOM [2003] 427 endg. die nach dem am Schadensort geltenden Recht begründeten Deliktsansprüche erheben. Im Kern entspricht das der Erfolgsortanknüpfung des Art. 40 Abs. 1 S. 1 EGBGB. Nach seiner Wahl kann der Deliktsgläubiger nach dem Verordnungsvorschlag stattdessen auch die nach dem am Ort des schädigenden Ereignisses bestehenden Deliktsansprüche geltend machen. Das deckt sich im Ergebnis weitgehend mit der Anknüpfung an den Handlungsort.51 Damit ist nach Art. 7 Verordnungsvorschlag KOM [2003] 427 endg. für deliktische Ansprüche wegen Umweltschädigungen die Erfolgsortanknüpfung die Regelanknüpfung. Der Deliktsgläubiger kann aber auch für das Recht des Handlungsorts optieren. Das entspricht im wesentlichen den Anknüpfungsalternativen des Art. 40 Abs. 1 EGBGB, wobei allerdings Wahl- und Regelanknüpfung vertauscht sind. Somit ergibt sich, dass Art. 7 Verordnungsvorschlag KOM [2003] 427 endg. sich zwar ähnlicher Anknüpfungspunkte wie Art. 40 Abs. 1 EGBGB bedient, dass aber die Regelanknüpfungen anders ausfallen. Ob allerdings Art. 7 Verordnungsvorschlag KOM [2003] 427 endg. Gesetz werden wird, ist noch offen. Ein Draft Report on the proposal for a regulation of the European Parliament and of the Council on the law applicable to noncontractual obligations („Rome II“) vom 11. 11. 200452 will den genannten Art. 7 durch eine Sonderanknüpfung für „Industrial Actions“ zugunsten des Staates, in dem die industrial action stattfindet, ersetzen. Auch in diesem Fall würde erhöhter Anpassungsbedarf des Art. 44 EGBGB entstehen. Es fragt sich nur, wie Art. 44 EGBGB an das künftig veränderte internationale Deliktsrecht angepasst werden sollte. II. Partielle oder umfassende deliktsakzessorische Anknüpfung Art. 44 EGBGB sieht wegen seiner Begrenzung auf die akzessorische Anknüpfung nach Art. 40 Abs. 1 EGBGB – wie aufgezeigt53 – nur einen partiellen Anknüpfungsgleichlauf des dinglichen und des deliktischen Immissionsschutzstatuts vor. Es bleibt zu fragen, ob der durch die Aktivitäten des Gemeinschaftsgesetzgebers aufgeworfene Reformbedarf des Art. 44 EGBGB nicht zu einer grundlegenden Änderung der Vorschrift genutzt werden sollte. Dem Ziel eines Immissionsschutzgesamtstatuts könnte dadurch Rechnung getragen werden, dass die Deliktsanknüpfung der Immissionsschutzansprüche be-
50 51 52 53
Dazu Art. 10 Verordnungsvorschlag KOM [2003] 427 endg. Siehe noch Huber/Bach, in: IPRax 2005, S. 73, 79. EG-Dokument 2003/0168 [COD] [provisional]. Siehe oben B. I.
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schränkt wird. So geht de lege lata Hans Stoll54 vor, wenn er alle deliktischen Immissionsschutzansprüche der Anknüpfung der Artt. 44, 40 Abs. 1 EGBGB unterstellt, also eine abweichende Bestimmung des Deliktsstatuts nach den Artt. 40 Abs. 2, 41, 42 EGBGB ausschließt.55 Der von Hans Stoll bereits de lege lata unterbreitete Anknüpfungsvorschlag kann nach Inkrafttreten der Rom II-VO nicht mehr fruchtbar gemacht werden, denn eine autonome Regelung des internationalen Deliktsrechts ist dann ausgeschlossen. Denkbar wäre es dann – entsprechend der insbesondere von Wendehorst de lege lata unterbreiteten Korrekturvorschläge56 – eine umfassende deliktsakzessorische Anknüpfung der Art vorzusehen, dass die dinglichen Immissionsschutzansprüche nach dem Recht zu beurteilen sind, das in concreto das Deliktsstatut bildet. Dadurch würde der unter B. I. dargelegte Zweck, ein einheitliches Immissionsschutzstatut vorzusehen, am besten erfüllt. Demselben Recht wären alle einschlägigen Ansprüche, unabhängig von ihrer systematisch-dogmatischen Zuordnung zum Delikts- oder Sachenrecht, zu entnehmen. Da der Zweck, einen Anknüpfungsgleichlauf des deliktischen und des dinglichen Immissionsschutzstatuts zu erreichen, einen hohen Stellenwert hat, weil er Anpassungs- und Qualifikationsprobleme vermeidet,57 spricht einiges für eine entsprechende Änderung des Art. 44 EGBGB. Sollte der hier angezeigte58 Rom II-Verordnungsvorschlag in Kraft treten, so würde das im Falle von Immissionen, die als Umweltschädigungen gewertet werden können, nach dem dann insoweit einschlägigen Art. 7 Verordnungsvorschlag KOM [2003] 427 endg. im Ergebnis bedeuten,59 dass das Erfolgsortrecht das Deliktsstatut bildet, aber nach Wahl des Geschädigten stattdessen auch das Recht des Handlungsorts (= Belegenheitsort der Störungsquelle) zur Anwendung kommen könnte. Dieses Ergebnis würde im Kern dem bisherigen Anwendungsergebnis des Art. 44 EGBGB in Verbindung mit Art. 40 Abs. 1 EGBGB entsprechen. Dadurch würde auch das Gebot der rechtlichen Gleichbehandlung60 beachtet. Alle anderen Immissionen, die nicht als Umweltschädigungen qualifiziert werden könnten, unterlägen der allgemeinen Deliktsanknüpfungsregel des Art. 3 Abs. 1 Verordnungsvorschlag. Die Norm sieht die Regelanknüpfung an den Schadenseintrittsort (i. e. der Erfolgsort) vor, die durch die Anknüpfung an den gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Beteiligten (Abs. 2 der Norm) und eine allgemeine Ausweichklausel (Art. 3 der Norm) verdrängt wird. Hier würde eine umfassende deliktsakzessorische Anknüpfung der dinglichen Ansprüche das Gebot der
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55 56 57 58 59 60
Stoll, in: IPRax 2000, S. 259, 265; ebenso wohl zuvor Palandt-BGB/Heldrich, Art. 44 EGBGB Rdnr. 2. Dazu de lege lata ablehnend oben C. I. Siehe dazu oben unter C. III. Siehe dazu oben B. I. Siehe oben D. I. Zu den differenzierteren Einzelheiten siehe oben D. I. Siehe im einzelnen oben B. II.
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rechtlichen Gleichbehandlung nicht mehr sicherstellen können.61 Dennoch erscheint ein einheitliches Immissionsschutzstatut dem Interesse an einer widerspruchsfreien Gestaltung des Immissionsschutzes am besten gerecht zu werden. Das Gebot der rechtlichen Gleichbehandlung sollte de lege ferenda zurück stehen. Wenn Art. 44 EGBGB aufgrund der Rom II-VO reformiert wird, sollte eine generelle deliktsakzessorische Anknüpfung der dinglichen Immissionsschutzansprüche vorgesehen werden.
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Siehe dazu im Zusammenhang de lege lata oben C. III.
Rechtsformunabhängiges Grundpfandrecht Herbert Roth Mit dem Namen von Adolf Laufs sind gewiß in erster Linie das Arztrecht und die deutsche Rechtsgeschichte verbunden. Darüber hinausweisend hat sich Adolf Laufs aber vor allem in der Heidelberger Lehre in seinen Repetitionsveranstaltungen für Examenskandidaten mit dem Bürgerlichen Recht in seiner ganzen Breite auseinandergesetzt. Es sei mir daher gestattet, zu Ehren des geschätzten ehemaligen Fakultätskollegen der Festschrift ein allgemeiner ausgerichtetes zivilrechtliches Thema beizusteuern.
A. Die Ausgangslage I. Bedeutung der Grundpfandrechte Der BGB-Gesetzgeber hat an der Zweispurigkeit von Hypothek und Grundschuld wegen der von ihm vorgefundenen regionalen Besonderheiten festgehalten1. Der damit bezeichnete grundpfandrechtlich gesicherte Kredit ist nach wie vor von überragender wirtschaftlicher Bedeutung2. Das gilt nicht nur im Hinblick auf das Teilgebiet der Realkreditsicherheiten, sondern wegen des zunehmend unsicherer gewordenen Personalkredits auch im Vergleich mit dem gesamten Recht der Kreditsicherung3. Nicht die Rede sein soll hier von der Beschneidungsmöglichkeit der 1
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Stephan Buchholz, Zur Entstehung und Entwicklung der „abstrakten Hypothek“: Die Grundschuld als Sonderform der Hypothek im ostelbischen Raum, in: Helmut Coing, Walter Wilhelm (Hrsg.), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1976, S. 218 ff.; Buchholz, Einreden gegen die Grundschuld, in: AcP 203 (2003), S. 786; Helmut Seckelmann, Die Grundschuld als Sicherungsmittel, Berlin 1963, S. 44 ff. Statistisches Jahrbuch 2003, S. 343: Im Jahre 2002 wurden Kredite im Volumen von deutlich über tausend Milliarden Euro durch Grundpfandrechte gesichert. Für die Bürgschaft etwa Dieter Medicus, Entwicklungen im Bürgschaftsrecht – Gefahren für die Bürgschaft als Mittel der Kreditsicherung, in: JuS 1999, S. 833. – Allgemein zu Reformbestrebungen im Recht der Kreditsicherung: Jan Steffen Kircher, Grundpfandrechte in Europa: Überlegungen zur Harmonisierung der Grundpfandrechte unter besonderer Beachtung der deutschen, französischen und englischen Rechtsordnung, Berlin 2004; Hendrik Röver, Vergleichende Prinzipien dinglicher Sicherheiten, München 1997, S. 20 ff.; zu einem möglichen europäischen Grundpfandrecht eindringlich Rolf Stürner, Das Grundpfandrecht zwischen Akzessorietät und Abstraktheit und die europäische Zukunft, in: Ulrich Huber, Erik Jayme (Hrsg.), Festschrift für Rolf Serick zum 70. Geburtstag, Heidelberg 1992, S. 377; ferner der Entwurf für „ein nicht akzessorisches Grundpfandrecht für Mitteleuropa“ aufgrund einer Initiative des Verbands
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Herbert Roth
Rechte der Grundpfandgläubiger im Insolvenzplanverfahren (§§ 223, 228 InsO), weil sich die Grundpfandrechte im Ganzen wegen des Rechts auf abgesonderte Befriedigung (§§ 49, 165 InsO; § 10 Abs. 1 Nr. 4 ZVG) nach wie vor in der Insolvenz bewähren4. II. Funktionsgleichheit von Verkehrshypothek und Sicherungsgrundschuld Innerhalb der Grundpfandrechte wurde im BGB die Verkehrshypothek (§§ 1113 ff. BGB) systematisch an die Spitze gestellt und eingehend geregelt, wogegen die praktisch viel wichtigere (unten III.) Sicherungsgrundschuld dem Gesetz noch nicht einmal als Rechtsbegriff bekannt ist (arg. § 1191 Abs. 1 BGB). Beide Formen des Grundpfandrechts sind aber funktionsgleich, weil sie in ihrer praktischen Verwendung jeweils der Sicherung einer Forderung dienen. Die beiden Rechtsinstitute unterscheiden sich damit nicht nach ihrem Zweck, sondern nach der ganz unterschiedlichen rechtstechnischen Ausgestaltung5. Keine Zustimmung verdient demnach der abweichende Ausgangspunkt, wonach sich das „Wesen“ der nicht akzessorischen Sicherungsgrundschuld als eines nicht in erster Linie zum Umlauf gedachten, sondern Sicherungszwecken dienenden Rechts, gerade in einem „geringeren Erwerberschutz“ verwirkliche6. III. Hypothekenrecht als gesetzgeberische Modellvorstellung In der Bankpraxis hat die für den Gläubiger bequemer ausgestaltete Sicherungsgrundschuld als Form der eigennützigen Sicherungstreuhand die Verkehrshypothek weitgehend verdrängt7. Diese Rechtstatsache sollte aber den Blick darauf nicht verstellen, daß die gesetzgeberische Modellvorstellung für die Abgrenzung von Gläubiger- und Schuldnerschutz gleichwohl in erster Linie im Hypothekenrecht Ausdruck gefunden hat. Wie § 1191 Abs. 1 BGB im Vergleich mit § 1113 Abs. 1 BGB zeigt, war die Grundschuld jedenfalls nach ihrer dogmatischen Aus-
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Deutscher Hypothekenbanken, abgedruckt bei Staudinger-BGB/Wolfsteiner, Neubearbeitung, Berlin 2002, Vor §§ 1191 ff., Rdnr. 242. Ausführlich jüngst Alexander Bruns, Grundpfandrechte im Insolvenzplanverfahren – das Ende deutscher Immobiliarsicherheiten?, in: KTS 2004, S. 1, 12 f. Etwa Klaus Vieweg, Almuth Werner, Sachenrecht, Köln 2003, § 15 Rdnr. 89; plastisch Philipp Heck, Grundriß des Sachenrechts, Tübingen 1930, § 100, mit der Theorie der „Zweckgemeinschaft“, die aber die unterschiedliche dogmatische Ausformung der Rechtsinstitute zu sehr außer acht läßt. – Gegen ihn etwa Ulrich Huber, Die Sicherungsgrundschuld, Heidelberg 1965, S. 32 f. So aber MünchKomm-BGB/Eickmann, 4. Aufl., München 2004, § 1191 Rdnr. 93; Jan Wilhelm, Sachenrecht, 2. Aufl., Berlin 2002, Rdnr. 1613. Etwa Clemens Clemente, Recht der Sicherungsgrundschuld, 3. Aufl., Köln 1999, Rdnr. 2; zu den Vorteilen der Sicherungsgrundschuld Astrid Stadler, Gestaltungsfreiheit und Verkehrsschutz durch Abstraktion, Tübingen 1996, S. 606 ff.
Rechtsformunabhängiges Grundpfandrecht
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gestaltung nicht primär zur Kreditsicherung bestimmt. Die mehrfach festgestellte Annäherung von Verkehrshypothek und Sicherungsgrundschuld in den Rechtsfolgen beruht auf der schon erwähnten Funktionsgleichheit beider Institute8. In den Ergebnissen hat sich daher in mehreren Fallgruppen ein rechtsformunabhängiges Grundpfandrecht herausgebildet. Das ist bemerkenswert, weil sich diese Annäherung durch die rechtstechnisch ganz unterschiedliche Ausgestaltung mit der akzessorischen Hypothek einerseits (§ 1153 BGB) und der nicht akzessorischen Grundschuld (§§ 1191 Abs. 1, 1192 Abs. 1 BGB) andererseits nicht hat hindern lassen (unten B.). Gleichwohl sind für einige Fallgruppen Unterschiede geblieben, die nicht ohne weiteres einleuchten (unten C.). IV. Akzessorietät und Akzessorietätssurrogate Das dem Hypothekenrecht zugrunde liegende Akzessorietätsprinzip bedeutet nicht bloß abstrahierende Begrifflichkeit, sondern ist rechtstechnischer Ausdruck gesetzgeberischer Gerechtigkeitserwägungen für die erforderliche Abgrenzung von Gläubiger- und Schuldnerinteressen9. Deshalb läuft die Fragestellung für die nicht akzessorische Sicherungsgrundschuld im wesentlichen darauf hinaus, ob und inwieweit die für die Verkehrshypothek durch das Gesetz angeordneten Ergebnisse auf die Sicherungsgrundschuld durch Akzessorietätssurrogate (vor allem den Sicherungsvertrag) unter Respektierung des § 1192 Abs. 1 BGB übertragen werden können. Gegen die weitgehende Verwirklichung einer Einheitslösung spricht jedenfalls nicht, daß der Grundschuld keine zu sichernde Forderung zugrunde liegen muß, da ihr bei der Sicherungsgrundschuld eben eine zugrunde liegt10. Der hier verfolgte gedankliche Ansatz will die Sicherungsgrundschuld nicht zur Verkehrshypothek und erst recht nicht zur Sicherungshypothek machen, vor allem nicht durch ein ausuferndes Verständnis von § 1157 S. 1 BGB (unten B. I.). Andererseits wird sich zeigen, daß sich auch umgekehrt im Bereich der Sicherungsgrundschuld mit der Verwendung des Sicherungsvertrages als Akzessorietätssurrogat beifallswerte Ergebnisse herausgebildet haben, die zu einem Überdenken der Rechtsfolgen bei gleichgelagerten Sachverhalten des Hypothekenrechts führen sollten (unten C.). Gerade im Hypothekenrecht finden sich noch Restbestände übersteigerten begriffsjuristischen Denkens.
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Fritz Baur (Begr.), Jürgen F. Baur, Rolf Stürner, Sachenrecht, 17. Aufl., München 1999, § 45 Rdnr. 1. Ausführlich Mathias Habersack, Die Akzessorietät – Strukturprinzip der europäischen Zivilrechte und eines künftigen europäischen Grundpfandrechts, in: JZ 1997, S. 857, 862 ff. (freilich unter zu weitgehender Hintansetzung der Vorteile der Abstraktheit). Mit Recht Harry Westermann (Begr.), Harm Peter Westermann, Karl-Heinz Gursky, Dieter Eickmann, Sachenrecht, 7. Aufl., Heidelberg 1998, § 116 I.
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B. Identische oder angenäherte Rechtsfolgen I. § 1157 BGB und § 1156 BGB 1. Dritterwerberschutz Spätestens seit BGHZ 59, S. 1 hat sich weitgehend die Erkenntnis als richtig durchgesetzt, daß der Erwerber einer Sicherungsgrundschuld nicht schlechter stehen dürfe als der Erwerber einer über die §§ 1138, 1156 BGB geschützten Verkehrshypothek11. Aus dem geforderten gleichwertigen Dritterwerberschutz folgt gegen die abweichende Rechtsprechung des RG12 vor allem, daß sich der Zessionar der Sicherungsgrundschuld Zahlungen des Schuldners an den Zedenten nach der Abtretung nicht wegen seiner Kenntnis von der Ausgestaltung des Grundpfandrechts als Sicherungsgrundschuld entgegenhalten lassen muß. Der Erwerber einer Verkehrshypothek ist wegen § 1156 BGB mit dem dort vorgesehenen Ausschluß des § 407 BGB in Ansehung der Hypothek vor nachträglichen Zahlungen geschützt. Der Schuldner muß dort nach Abtretung an den neuen Gläubiger zahlen und kann sich durch die Leistung an den alten Gläubiger auch bei Redlichkeit nicht mehr befreien13. Auch für die Sicherungsgrundschuld darf es daher nicht ausreichen, daß zur Zeit ihrer Abtretung der Rückübertragungsanspruch aus dem Sicherungsvertrag künftig entstehen könne (Entstehung dem „Grunde nach“). Vielmehr muß der Anspruch zum Erwerbszeitpunkt, dem Wortlaut des § 1157 BGB folgend, bereits entstanden sein. 2. Schutzbedürftigkeit des Zessionars Aus der für das Hypothekenrecht in § 1156 BGB getroffenen Wertung folgt demnach, daß der Schuldner dem Zessionar der Sicherungsgrundschuld gegenüber nach § 1157 S. 1 BGB nur geschützt wird, wenn der gesamte Tatbestand der Einrede aus dem Sicherungsvertrag bereits bei der Zession entstanden und sie dem Erwerber bekannt war14. Mit anderen Worten findet § 1156 BGB über § 1192 Abs. 11
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Bamberger/Roth-BGB/Rohe, München 2003, § 1191 Rdnr. 153; Soergel-BGB/Konzen, 13. Aufl., Stuttgart 2001, § 1191 Rdnr. 26; Baur/Stürner, § 45 Rdnr. 63; Martin Wolff, Ludwig Raiser, Sachenrecht, 10. Bearbeitung, Tübingen 1957, § 154 VI 2, S. 642 Fn.15; Karl Heinz Schwab, Hanns Prütting, Sachenrecht, 31. Aufl., München 2003, Rdnr. 770; Wolfgang Brehm, Christian Berger, Sachenrecht, Tübingen 2000, § 18 Rdnr. 37; Dieter Medicus, Bürgerliches Recht, 20. Aufl., Köln 2004, Rdnr. 506; Dietrich Reinicke, Klaus Tiedtke, Kreditsicherung, 4. Aufl., Neuwied 2000, Rdnr. 1014 ff.; Ulrich Huber, Einreden gegen die Grundschuld, in: Huber/Jayme (Hrsg.), Festschrift Serick, S. 195, 208 ff.; gegen diese Argumentation Wilhelm, Sachenrecht, Rdnr. 1610. RGZ 91, S. 218, 225. Baur/Stürner, § 38 Rdnr. 59 ff. BGHZ 85, S. 388, 390; Huber, Sicherungsgrundschuld, S. 141 f.; Clemente, Sicherungsgrundschuld, Rdnr. 624; Staudinger-BGB/Wolfsteiner, § 1157 Rdnr. 24; PalandtBGB/Bassenge, 64. Aufl., München 2005, § 1191 Rdnr. 4; Eberhard Baden, Noch ein-
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1 BGB auf die Sicherungsgrundschuld Anwendung15, so daß das Gesetz für die Sicherungsgrundschuld, die es als solche gar nicht kennt, im Vergleich mit der Hypothek gerade keine abweichende Regelung getroffen hat16: Bei der Übertragung „der“ Hypothek wie bei der Grundschuld ist § 407 BGB nicht anwendbar. Der Schuldner kann sich bei Zahlung auf die Forderung ohne weiteres dadurch schützen, daß er Zug um Zug Rückabtretung der Grundschuld und Rückgabe des Grundschuldbriefs verlangt. Zudem kann er sich an seinen vertragsbrüchigen Zedenten halten. Es besteht daher kein Anlaß, diese Risiken dem Zessionar aufzuerlegen. Verkehrshypothek und Sicherungsgrundschuld sind für nachträgliche Zahlungen des Schuldners an den Zedenten also mit der ganz h. L. gleichzubehandeln. Auch sonst ist die Verkehrsfähigkeit beider Typen der Grundpfandrechte einander weitgehend angenähert. II. Zessionen und Einwendungen Dazu zeigt eine knappe Bestandsaufnahme der zutreffenden h. L., daß der Schuldnerschutz gegenüber Verkehrshypothek und Sicherungsgrundschuld trotz unterschiedlicher Rechtstechnik in etwa vergleichbar ausgestaltet ist. 1. Gefahren redlichen Dritterwerbs a) Zuständigkeitsakzessorietät und Surrogate. Hat der Schuldner als Sicherungsgeber an den Inhaber einer Verkehrshypothek die gesicherte Forderung zurückbezahlt und wird anschließend das noch im Grundbuch eingetragene Grundpfandrecht durch den Sicherungsnehmer an einen Dritten abgetreten, so kann es zu Lasten des Sicherungsgebers zu einer Durchbrechung der in § 1153 Abs. 1 BGB ausgedrückten Zuständigkeitsakzessorietät kommen17. Der redliche Dritte kann zwar die erloschene Forderung als solche nicht erwerben, wohl aber wegen der §§ 1138, 892 BGB die eingetragene Hypothek, die in Wirklichkeit aufgrund der §§ 1163 Abs. 1 S. 2, 1177 BGB dem Sicherungsgeber als Eigentümergrundschuld zusteht. Der Sicherungsgeber kann sich freilich wegen der nicht (mehr) bestehenden Forderung durch Eintragung eines Widerspruches nach den §§ 1138, 894, 899 BGB schützen und so den § 1138 BGB zu Lasten des Sicherungsnehmers ausschalten. Vergleichbare Rechtsfolgen ergeben sich für die nicht akzessorische Sicherungsgrundschuld. Leistet der Schuldner auf die Forderung, so kommt § 1163
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mal: § 1157 BGB und das Einredesystem der Sicherungsgrundschuld, in: JuS 1977, S. 75 ff. BGHZ 85, S. 388, 391; BGH, WM 1976, S. 665; Bamberger/Roth-BGB/Rohe, § 1191 Rdnr. 144; Staudinger-BGB/Wolfsteiner, § 1192 Rdnr. 15; Jauernig-BGB/Jauernig, 11. Aufl., München 2004, § 1192 Rdnr. 2; Alexander Goertz, Sebastian Roloff, Die Anwendung des Hypothekenrechts auf die Grundschuld, in: JuS 2000, S. 762, 766. Gegen Wilhelm, Sachenrecht, Rdnr. 1614. Dieter Medicus, Durchblick: Die Akzessorietät im Zivilrecht, in: JuS 1971, S. 497, 503.
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Abs. 1 S. 2 BGB allerdings nicht zur Anwendung. Der Schuldner hat nach seiner Wahl einen Anspruch auf Übertragung der Grundschuld (§§ 1192 Abs. 1, 1154 BGB), auf Verzicht (§§ 1192 Abs. 1, 1169, 1168 BGB) oder (hier nicht interessierend) auf Aufhebung der Grundschuld (§ 875 BGB)18. Im letzteren Fall erlischt die Grundschuld, wogegen in den beiden anderen Fällen eine Eigentümergrundschuld entsteht19. Wird die als Fremdgrundschuld weiter bestehende Sicherungsgrundschuld an einen redlichen Dritten abgetreten, so kann der Schuldner seinen zum Zeitpunkt der Abtretung bereits voll ausgebildeten, aus der treuhänderischen Abrede mit dem Sicherungsnehmer folgenden, vertraglichen Rückgewähranspruch über die §§ 1192 Abs. 1, 1157 S. 1 BGB grundsätzlich auch dem Dritterwerber der Grundschuld entgegensetzen (oben I). Auch hier besteht aber die Gefahr redlichen Erwerbs, wenn der Dritte die bereits entstandene Einrede nicht gekannt hatte (§§ 1192 Abs. 1, 1157 S. 2, 892 BGB). Vergleichbar der Verkehrshypothek kann sich der Schuldner gegen einen redlichen Erwerb schützen, indem er nach den §§ 1192 Abs. 1, 1157 S. 2, 894, 899 BGB die Einrede der Rückübertragung oder im Wege der einstweiligen Verfügung einen entsprechenden Widerspruch in das Grundbuch eintragen läßt (z. B. „Widerspruch nach § 899 BGB gegen die Nichteintragung der Einrede der Rückübertragung […]“)20. Die bloß einredebehaftete Grundschuld wird so behandelt, wie wenn das Grundbuch unrichtig wäre. Die Nichtakzessorietät der Grundschuld bedeutet also gerade nicht geringeren Erwerberschutz. Für das Hypothekenrecht durchbricht § 1138 BGB ohnehin die sonst für die Hypothek bestehende Zuständigkeitsakzessorietät21. Die Eintragbarkeit der Einrede ist im vorliegenden Fall unproblematisch, weil der gesamte Einredetatbestand im Zeitpunkt des Erwerbs bereits verwirklicht war (oben I)22. Dagegen kann die Sicherungsabrede als solche nach der zutreffenden h. L. nicht im Grundbuch eingetragen werden. Der künftige Anspruch auf Rückübertragung der Grundschuld könnte zwar durch Vormerkung gesichert werden, doch wird sich der Grundpfandgläubiger regelmäßig nicht zu einer Bewilligung nach § 885 Abs. 1 BGB bereiterklären23. In der Zwangsversteigerung wird nämlich in analoger Anwendung der §§ 119, 120 ZVG der auf die Grundschuld entfallende Anteil nicht 18
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Etwa BGHZ 108, S. 237, 243; Hansjörg Weber, Kreditsicherheiten, 7. Aufl., München 2002, § 13 V. Etwa Hans-Armin Weirich, Die Sicherungsgrundschuld, in: JuS 1980, S. 188, 190. Baur/Stürner, Sachenrecht, § 45 Rdnr. 35; Palandt-BGB/Bassenge, § 1191 Rdnr. 31; Staudinger-BGB/Wolfsteiner, § 1191 Rdnr. 10; § 1157 Rdnr. 22; Soergel-BGB/Konzen, § 1191 Rdnr. 27; Seckelmann, Grundschuld, S. 112; Huber, Sicherungsgrundschuld, S. 142; eingehend Eberhard Lopau, Die Nichtakzessorietät der Grundschuld – OLG Köln OLGZ 1969, 419, in: JuS 1972, S. 502. Anders MünchKomm-BGB/Eickmann, § 1191 Rdnr. 93. Baur/Stürner, Sachenrecht, § 45 Rdnr. 36 halten den Widerspruch für zulässig, sehen aber die Vormerkung zur Sicherung des Rückgewähranspruches als den konsequenten Rechtsbehelf an; ebenso Huber, in: Huber/Jayme (Hrsg.), Festschrift Serick, S. 195, 221. Klaus Tiedtke, Die Sicherungsgrundschuld, in: Jura 1980, S. 407, 420; Clemente, Sicherungsgrundschuld, Rdnr. 445.
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dem im Grundbuch eingetragenen Sicherungsnehmer zugeteilt, sondern für ihn und den Vormerkungsberechtigten hinterlegt24. b) Durchsetzungsakzessorietät und Surrogate. Wird dem Sicherungsgeber die durch Verkehrshypothek gesicherte Darlehensforderung durch den Sicherungsnehmer z. B. gestundet, und wird die Forderung sodann an einen Dritten nach den §§ 1154 Abs. 1 f. BGB abgetreten, so wirkt die Einrede der Stundung wegen § 1137 Abs. 1 S. 1 BGB auch gegenüber der Hypothek. Allerdings kann es zum Schutz des Dritterwerbers zu einer Durchbrechung der Durchsetzungsakzessorietät über die §§ 1138 a. E., 892 BGB kommen, weil § 892 auch „in Ansehung der dem Eigentümer nach § 1137 BGB zustehenden Einreden“ gilt25. Unter den Voraussetzungen des § 892 BGB kann also der Erwerber der einredebehafteten Forderung seine Hypothek ohne Einschränkungen durch die Stundungsabrede geltend machen. Er erwirbt dann einredefrei. Der Eigentümer kann sich dagegen wiederum (oben a) schützen, indem er die Einrede trotz ihrer schuldrechtlichen Herkunft nach den §§ 1138 a. E., 894 BGB im Grundbuch eintragen läßt oder einen entsprechenden Widerspruch nach § 899 BGB erwirkt26. Für die Sicherungsgrundschuld ergeben sich vergleichbare Rechtsfolgen, obwohl § 1137 BGB (und § 1138 BGB) auf sie unanwendbar sind, weil diese Normen die hypothekenrechtliche Akzessorietät ausdrücken27. Wurde die Darlehensforderung durch eine Sicherungsgrundschuld gesichert und nach Stundung der Forderung die Sicherungsgrundschuld an einen Dritten abgetreten, so kann die Einrede der Stundung wegen § 1157 S. 1 BGB grundsätzlich auch dem neuen Grundschuldgläubiger entgegengesetzt werden: Die Auslegung der Stundungsabrede zwischen Sicherungsgeber und Sicherungsnehmer wird fast immer ergeben, daß die Sicherungsgrundschuld nur im Sicherungsfall ausgeübt werden darf, also nicht dann, wenn der Schuldner auf die einredebehaftete Forderung nicht bezahlt. Diese Einrede des „fehlenden Sicherungsfalles“28 fällt aber unter § 1157 BGB und wirkt somit über § 1157 S. 1 BGB grundsätzlich auch gegen den Erwerber der Sicherungsgrundschuld. Allerdings kann der Erwerber unter den Voraussetzungen der §§ 1157 S. 2, 892 BGB wiederum einredefrei erwerben. 2. Eintragung im Grundbuch Der Erwerber der Sicherungsgrundschuld muß die Stundungseinrede nur dann gegen sich gelten lassen, wenn er sie kannte oder sie sich aus dem Grundbuch (oder
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Roland Böttcher, ZVG, 3. Aufl., München 2000, §§ 119, 120 Rdnr. 6; Huber, Sicherungsgrundschuld, S. 188. § 1137 BGB trifft auch den Fall, daß der Eigentümer zugleich persönlicher Schuldner ist. Palandt-BGB/Bassenge, § 1138 Rdnr. 9; Baur/Stürner, Sachenrecht, § 38 Rdnr. 72 f.; Medicus, in: JuS 1971, S. 497, 500. Baur/Stürner, § 44 Rdnr. 19. Medicus, in: JuS 1971, S. 497, 503; Vieweg/Werner, Sachenrecht, Rdnr. 101.
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dem Brief, §§ 1157 S. 2, 1140 BGB) ergab29. Daher können derartige Einreden im Grundbuch eingetragen werden, weil § 1157 S. 2 BGB insoweit den Grundbuchberichtigungsanspruch des § 894 BGB und den Widerspruch des § 899 BGB zur Verfügung stellt30. § 1157 S. 2 BGB verwirklicht in diesen Fällen auf Initiative des Sicherungsgebers für die Sicherungsgrundschuld – im Ergebnis – ersatzweise die Durchsetzungsakzessorietät, wie das § 1138 a. E. BGB technisch für die Verkehrshypothek vorsieht. Sonach ist die Aussage zutreffend, wonach die bei der Hypothek unter § 1137 BGB fallenden Einreden bei der Sicherungsgrundschuld als „Einreden des mangelnden Sicherungsfalles“ in § 1157 BGB einzuordnen sind31. Werden eine bestehende Einrede oder ein Widerspruch eingetragen, rückt die Sicherungsgrundschuld in einigen Beziehungen sogar in die Nähe einer Sicherungshypothek (§§ 1184, 1185 BGB). Ein selten vorkommender Ausnahmefall ist dann anzunehmen, wenn die Stundung sich ausdrücklich nur auf die Darlehensforderung und nicht auf die Grundschuld beziehen sollte. Da hier die §§ 1138, 1137 BGB nicht helfen können und § 1157 BGB nicht zur Anwendung gelangt, ist die Sicherungsgrundschuld einredefrei erworben, selbst wenn der Erwerber die Stundungsabrede kannte. Die Einrede wirkt dann wegen § 404 BGB nur wegen der abgetretenen Darlehensforderung. Im Ergebnis bleibt es dem Schuldner sowohl bei der Verkehrshypothek wie bei der Sicherungsgrundschuld überlassen, durch privatautonomes Handeln Zuständigkeits- und Durchsetzungsakzessorietät im technischen Sinne (bei der Hypothek) oder deren Surrogate (bei der Sicherungsgrundschuld) durch Eintragung eines Widerspruches im Grundbuch wiederherzustellen. III. Regreßprobleme bei Verschiedenheit von Schuldner und Eigentümer Ungeachtet ganz unterschiedlicher Regreßtechniken zeigt sich auch hier wiederum für Verkehrshypothek und Sicherungsgrundschuld weitgehende Übereinstimmung in den Rechtsfolgen32. 1. Verkehrshypothek Löst der Eigentümer die Verkehrshypothek ab, um die Zwangsvollstreckung zu vermeiden (§ 1142 BGB), so geht die Darlehensforderung nach § 1143 Abs. 1 BGB im Wege der cessio legis auf ihn über. Mit ihr geht nach § 1153 Abs. 1 BGB 29 30
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Baur/Stürner, § 44 Rdnr. 21. Baur/Stürner, § 45 Rdnr. 35 f.; MünchKomm-BGB/Eickmann, § 1157 Rdnr. 20 (Formulierungsbeispiel). MünchKomm-BGB/Eickmann, § 1191 Rdnr. 86; Vieweg/Werner, Sachenrecht, Rdnr. 102. Mit Recht nachdrücklich eingefordert von Reinicke/Tiedtke, Kreditsicherung, Rdnr. 1040 ff.; jüngst Hyoung Seok Kim, Zessionsregress bei nicht akzessorischen Sicherheiten, Berlin 2004.
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die Hypothek auf den Eigentümer über, die nach § 1177 Abs. 2 BGB als Eigentümergrundschuld behandelt wird. 2. Sicherungsgrundschuld Für die Sicherungsgrundschuld fehlt es an entsprechenden ausdrücklichen Regreßnormen. Hat der Eigentümer zur Abwendung der Zwangsvollstreckung geleistet, so leistet er auf die Grundschuld und erwirbt diese als Eigentümergrundschuld33. Die persönliche Forderung des Sicherungsnehmers gegen den Schuldner bleibt nach h. L. bestehen, geht aber nicht im Wege der cessio legis nach § 1143 Abs. 1 BGB auf den Eigentümer über34. Allerdings soll der zahlende Eigentümer gegen den Gläubiger jedenfalls dann einen Anspruch auf Abtretung dieser Forderung haben, wenn er Partei des Sicherungsvertrages ist. Tritt der Sicherungsgeber die Forderung nach § 398 BGB ab, ist das gleiche Ergebnis erreicht, wie es § 1143 Abs. 1 BGB für die Hypothek vorsieht35. Nach richtiger Ansicht ist der Anspruch auf Abtretung allerdings daran gebunden, daß der Eigentümer vom Schuldner Ersatz verlangen kann36. Schwierig ist die Begründung eines Anspruchs des Eigentümers gegen den Sicherungsnehmer, wenn der Eigentümer gegen ihn keinen vertraglichen Anspruch auf Abtretung der Forderung gegen den Schuldner hat, weil ihm etwa das belastete Grundstück vom Schuldner übereignet wurde, ohne daß ihm zugleich (auch nicht stillschweigend) Rechte aus dem Sicherungsvertrag abgetreten wurden. Die Rechtsprechung verlangt eine wenigstens stillschweigende Abtretung37. Diese Schwierigkeiten vermeidet gegen die h. L. eine rechtsfortbildende Anwendung des § 1143 Abs. 1 BGB auf die Sicherungsgrundschuld, da diese Norm nicht zwangsläufig als Ausdruck der Akzessorietät angesehen werden muß38. Vielmehr handelt § 1143 Abs. 1 BGB zunächst davon, daß die Forderung bei Zahlung auf das dingliche Recht nicht erlischt und auf den Eigentümer automatisch übergeht. Nicht dagegen geht es um mögliche Auswirkungen der Veränderung der Forderung auf das dingliche Recht. Die hier vertretene Auffassung sichert, daß die Regreßprobleme 33
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Die Begründungen dafür schwanken bei allseits konsentiertem Ergebnis, etwa Baur/Stürner, Sachenrecht, § 45 Rdnr. 82; BGH, NJW-RR 2003, S. 11, 12: § 1143 BGB analog. BGHZ 80, S. 228, 230; 105, S. 154, 157; 108, S. 179, 184; Jauernig-BGB/Jauernig, § 1191 Rdnr. 11; Baur/Stürner, Sachenrecht, § 45 Rdnr. 82; Manfred Wolf, Sachenrecht, 20. Aufl., München 2004, Rdnr. 960; Tiedtke, in: Jura 1980, S. 407, 414. Etwa RGZ 150, S. 371, 374; Reinicke/Tiedtke, Kreditsicherung, Rdnr. 1047; PalandtBGB/Bassenge, § 1191 Rdnr. 44; Baur/Stürner, Sachenrecht, § 45 Rdnr. 82; gegen eine Pflicht zur Abtretung Clemente, Sicherungsgrundschuld, Rdnr. 599. RGZ 150, S. 371, 374; KG, NJW 1961, S. 415; wohl auch BGH, NJW 1994, S. 2692; Jauernig-BGB/Jauernig, § 1191 Rdnr. 11; Soergel-BGB/Konzen, § 1191 Rdnr. 45. BGH, LM § 1169 BGB Nr. 1. So mit Recht Westermann, Eickmann, Sachenrecht, § 117 III; Wilhelm, Sachenrecht, Rdnr. 1633, 1644; Brehm/Berger, Sachenrecht, § 18 Rdnr. 49; a. A. BGHZ 105, S. 154, 157; RGZ 150, S. 371, 374; w.N. bei Bamberger/Roth-BGB/Rohe, § 1192 Rdnr. 166.
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bei Verkehrshypothek und Sicherungsgrundschuld gleich behandelt werden. Diese Lösung ist gegenüber der früher bisweilen vertretenen Annahme eines Forderungsübergangs in analoger Anwendung des § 426 Abs. 2 BGB vorzugswürdig, weil es an der Gleichstufigkeit von Forderung und dinglichem Recht fehlt39. Da § 1143 Abs. 1 BGB nicht Ausdruck der Akzessorietät ist, vollzieht sich der Forderungsübergang im Wege der cessio legis; der Annahme einer bloßen Verpflichtung des Gläubigers zur Übertragung auf den Eigentümer (mit gleichem Ergebnis wie hier) bedarf es nicht40. 3. Ausgeschlossener Innenregreß § 1143 Abs. 1 BGB bietet aber auch das geeignete Modell sowohl für die Verkehrshypothek wie für die Sicherungsgrundschuld, wenn der vom Schuldner personenverschiedene Eigentümer zur Abwehr der Zwangsvollstreckung auf das Grundpfandrecht zahlt, dabei aber im Innenverhältnis zum Schuldner nur das tut, was er muß, weil er ihm gegenüber Regreß nicht fordern kann. So liegt es etwa, wenn der Schuldner das Grundstück an den Eigentümer verkauft hat und die Hypothek auf den Kaufpreis angerechnet worden war. Hat der Hypothekar die Schuldübernahme nicht genehmigt, so ist der Schuldner nach wie vor Schuldner geblieben (§ 415 Abs. 2, 3 S. 2 BGB). Gleichwohl ist der Käufer ihm gegenüber verpflichtet, bei Fälligkeit den Hypothekar zu befriedigen. Nach zutreffender Auffassung kommt es zu einer teleologischen Reduktion des § 1143 Abs. 1 BGB, so daß bei Zahlung durch den neuen Eigentümer die Darlehensforderung des Gläubigers gegen den Schuldner nicht auf den neuen Eigentümer übergeht. Vielmehr erlischt die Forderung nach § 362 BGB und der Eigentümer erwirbt nach den §§ 1163 Abs. 1 S. 2, 1177 Abs. 1 BGB eine Eigentümergrundschuld41. Das erspart die Annahme einer Einwendung auf Grund des Kaufvertrages gegen die mit der Hypothek übergegangene Forderung. In derartigen Fällen wird ohnehin meist zugestanden, daß der Eigentümer auf die Forderung mit Erlöschenswirkung zahlt, so daß er unabhängig von der konstruktiven Bewältigung keinesfalls gegen den Schuldner vorgehen kann42. Hat sich im Beispielsfall der Eigentümer die übernommene Sicherungsgrundschuld auf den Kaufpreis anrechnen lassen und verweigert der Gläubiger die Genehmigung der Schuldübernahme, so kann das Ergebnis wegen der Funktionsgleichheit beider Institute nicht anders ausfallen. Die teleologische Reduktion mit der Folge der Nichtanwendung des § 1143 Abs. 1 BGB greift ebenfalls, selbst wenn – wie hier vertreten – die Norm über § 1192 Abs. 1 BGB auf die Sicherungsgrundschuld angewendet wird (oben 2). Da der neue Eigentümer im Innen39 40
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BGHZ 105, S. 154, 157 f. gegen Heck, Sachenrecht, S. 413. Dafür tritt aber RGZ 150, S. 371, 374 ein; selbst dagegen Huber, Sicherungsgrundschuld, S. 118. Baur/Stürner, Sachenrecht, § 40 Rdnr. 17, 18; Reinicke/Tiedtke, Kreditsicherung, Rdnr. 920. Etwa Staudinger-BGB/Wolfsteiner, § 1143 Rdnr. 15; ausführlich Klaus Reischl, Grundfälle zu den Grundpfandrechten, in: JuS 1998, S. 318, 320.
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verhältnis verpflichtet ist, auf die Forderung zu zahlen, erlischt diese nach § 362 BGB43. Da er zur Abwendung der Zwangsvollstreckung zugleich auf die Sicherungsgrundschuld zahlt, erwirbt er gleichfalls eine Eigentümergrundschuld44. Ohne Belang ist es, ob der Rückgewähranspruch des Schuldners gegenüber dem Sicherungsnehmer abgetreten wurde oder nicht45. 4. Zahlung durch den Schuldner Schließlich bleibt noch das Regreßmodell des § 1164 BGB und seine Übertragbarkeit auf die Sicherungsgrundschuld zu erörtern. a) Möglicher Innenregreß. Befriedigt im Falle der Verkehrshypothek der persönliche Schuldner den Gläubiger, so geht die Hypothek wegen § 1164 Abs. 1 S. 1 BGB insoweit auf ihn über, als er von dem Eigentümer Ersatz verlangen kann. So liegt es etwa, wenn der Schuldner zahlt, obwohl der Eigentümer die Hypothek ohne Genehmigung des Gläubigers auf den Kaufpreis übernommen hat. Hier erlischt die Forderung gegen den Schuldner nach § 362 BGB46. Doch erwirbt er gegen den Eigentümer einen Ersatzanspruch (arg. § 415 Abs. 3 S. 2 BGB). Die Hypothek geht jetzt auf den Schuldner nach § 1164 BGB über und sichert seinen Ersatzanspruch gegen den Eigentümer (gesetzliche Forderungsauswechslung)47. Der neue Eigentümer muß nach § 894 BGB die Eintragung des Schuldners als Hypothekar bewilligen (§ 19 GBO). Wurde anstatt einer Verkehrshypothek eine Sicherungsgrundschuld übernommen, und zahlt der Schuldner bei gescheiterter Schuldübernahme an den Gläubiger, so erlischt die Forderung des Gläubigers gegen ihn ebenfalls nach § 362 BGB, und der Schuldner hat gegen den Eigentümer einen Ersatzanspruch aus § 415 Abs. 3 BGB. Die ganz h. L. lehnt allerdings die Anwendung des § 1164 BGB auf die Sicherungsgrundschuld ab48. Ist der Schuldner mit dem Gläubiger durch einen Sicherungsvertrag verbunden, so hat er aber gegen diesen einen Anspruch auf Abtretung der Sicherungsgrundschuld an ihn. Damit erlangt der Schuldner im Ergebnis, dem Gedanken des § 1164 BGB folgend, eine Fremdgrundschuld am
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Reinicke/Tiedtke, Kreditsicherung, Rdnr. 1048. Ebenso Jauernig-BGB/Jauernig, § 1191 Rdnr. 11 bb; anders BGH, NJW 1991, S. 1821 mit Annahme der Übertragbarkeit der Forderung, der aber gegenüber dem Zessionar über § 404 BGB die aus § 242 BGB folgende Undurchsetzbarkeit im Verhältnis zum Zedenten entgegengehalten werden könne. Auf sie stellt aber ab BGH, NJW 1991, S. 1821. Jauernig-BGB/Jauernig, § 1164 Rdnr. 2. Ein anderes Verständnis bei Wilhelm, Sachenrecht, Rdnr. 1517. Bamberger/Roth-BGB/Rohe, § 1192 Rdnr. 188; Erman-BGB/Wenzel, 11. Aufl., Köln 2004, § 1191 Rdnr. 87; Palandt-BGB/Bassenge, § 1191 Rdnr. 45; Jauernig-BGB/Jauernig, § 1191 Rdnr. 12; § 1192 Rdnr. 3; Wilhelm, Sachenrecht, Rdnr. 1624; Reinicke/Tiedtke, Kreditsicherung, Rdnr. 1045; Staudinger-BGB/Wolfsteiner, § 1164 Rdnr. 36; Goertz/Roloff, in: JuS 2000, S. 762.
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Grundstück des Eigentümers49. Auch hier kommt es zu einer Forderungsauswechslung50. Ist dagegen dem Eigentümer der Rückübertragungsanspruch (auch stillschweigend) abgetreten worden, oder ist er von vornherein Partner des Sicherungsvertrages, so wird er regelmäßig aufgrund des Innenverhältnisses zum Schuldner verpflichtet sein, ihm diesen Anspruch abzutreten51. Das Ergebnis entspricht dann ebenfalls dem § 1164 BGB52. M. E. spricht viel für eine entsprechende Anwendung des § 1164 BGB auf die Sicherungsgrundschuld53. Mindestens sollte dann der Schuldner gegenüber dem Gläubiger, auch wenn er mit diesem nicht über einen Sicherungsvertrag verbunden ist, ein Recht auf Abtretung der Grundschuld insoweit haben, als er dem Eigentümer gegenüber ersatzberechtigt ist54. Die Anwendung des § 1164 BGB kann nicht mit dem Argument verneint werden, sie stehe im Zusammenhang damit, daß die Hypothek eine Forderung voraussetze55. Maßgebend ist vielmehr die davon zu unterscheidende Frage, ob § 1164 BGB Akzessorietät ausdrückt. Wenigstens diese ist aber gelockert, weil die Hypothek dort gerade nicht als Ausdruck der Zuständigkeitsakzessorietät einer übergegangenen Forderung nachfolgt. Vielmehr sichert sie jetzt eine andere Forderung. Es geht also nicht darum, daß die das führende Recht (Hauptrecht) betreffenden Veränderungen auf das geführte Recht (Nebenrecht) unmittelbar erstreckt werden. Vielmehr bringt § 1164 BGB gerade zum Ausdruck, daß für die gesetzliche Forderungsauswechslung die Akzessorietät zwischen Forderung und Hypothek aufgehoben ist56. Die alte Forderung ist nach § 362 BGB erloschen. Ohne die Sonderregelung des § 1164 BGB entstünde wegen der nach § 362 BGB erloschenen Forderung für den Eigentümer eine Eigentümergrundschuld, obwohl er gegen seine vertraglichen Verpflichtungen verstoßen hat. b) Ausgeschlossener Innenregreß. Befriedigt der vom Eigentümer verschiedene Schuldner den Gläubiger der Verkehrshypothek und hat der Schuldner gegen den Eigentümer im Innenverhältnis keinen Ausgleichsanspruch, so kommt § 1164 BGB nach Wortlaut und Normzweck nicht zur Anwendung. Die Forderung erlischt nach § 362 BGB und die Hypothek wird zur Eigentümergrundschuld nach den §§ 1163 Abs. 1 S. 2, 1177 Abs. 1 S. 1 BGB57. 49
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Baur/Stürner, Sachenrecht, § 45 Rdnr. 87; Wolf, Sachenrecht, Rdnr. 976; Wilhelm, Sachenrecht, Rdnr. 1642. Reinicke/Tiedtke, Kreditsicherung, Rdnr. 1042. Palandt-BGB/Bassenge, § 1191 Rdnr. 45. Baur/Stürner, Sachenrecht, § 45 Rdnr. 86, 88; Jauernig-BGB/Jauernig, § 1191 Rdnr. 13; Wilhelm, Sachenrecht, Rdnr. 1628. Albrecht Dieckmann, Zur entsprechenden Anwendung der §§ 1164, 1165 BGB im Grundschuldrecht, in: WM 1990, S. 1481; gegen ihn die h. L., Nachweise oben in der Anmerkung 48. Hans Josef Wieling, Sachenrecht, 4. Aufl., Berlin 2001, § 33 IV 2c; Dieckmann, in: WM 1990, S. 1481, 1483; auch dagegen Wilhelm, Sachenrecht, Rdnr. 1626; Mathias Habersack, Sachenrecht, 3. Aufl., Heidelberg 2003, Rdnr. 491. So aber Staudinger-BGB/Wolfsteiner, § 1192 Rdnr. 2. Insoweit auch Medicus, in: JuS 1971, S. 497, 501. Baur/Stürner, Sachenrecht, § 38 Rdnr. 97.
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Handelt es sich um eine Sicherungsgrundschuld, so erlischt bei Zahlung durch den Schuldner die Forderung des Gläubigers gegen den Schuldner ebenfalls nach § 362 BGB. Die Grundschuld bleibt Fremdgrundschuld58. Ist der Gläubiger mit dem Eigentümer über einen Sicherungsvertrag verbunden, so muß er die weiterbestehende Fremdgrundschuld an den Eigentümer abtreten, wodurch sie dort zur Eigentümergrundschuld wird59. Für die Durchsetzung dieses Anspruches ist der Eigentümer nicht auf die Mithilfe des Schuldners angewiesen. Ist dagegen der Schuldner Partner des Sicherungsvertrages, so muß er seinen daraus folgenden Anspruch auf Rückübertragung der Grundschuld aufgrund des Innenverhältnisses an den Eigentümer abtreten, so daß es im Ergebnis ebenfalls zu einer Eigentümergrundschuld kommt. Auch kann der Schuldner vom Gläubiger verlangen, daß dieser die Grundschuld an den Eigentümer abtritt60. Häufig wird hier auch eine stillschweigende Abtretung angenommen61. Tritt der Schuldner den Anspruch freilich nicht ab, so bleibt der Rückübertragungsanspruch bei ihm62 und der Eigentümer kann gegen ihn lediglich Schadensersatzansprüche geltend machen63. In diesem Falle besteht ein Unterschied zur Rechtslage gegenüber der Verkehrshypothek. Doch läßt sich für die Sicherungsgrundschuld die in § 1163 Abs. 1 S. 2 für die Hypothek ausgedrückte Akzessorietät nicht durch ein entsprechendes Surrogat ausgleichen. Vor allem läßt sich die Selbständigkeit der Rückübertragungsansprüche nicht überwinden64. In dieser Fallgruppe ergeben sich daher Grenzen für die Gleichstellung von Verkehrshypothek und Sicherungsgrundschuld.
C. Verschiedenheit der Rechtsfolgen Für einzelne Fallgruppen zeigt sich, daß von der h. L. angenommene unterschiedliche Rechtsfolgen von Sicherungsgrundschuld und Verkehrshypothek nicht auf einer unterschiedlichen Wertung, sondern auf einer Überbetonung der (vermeintlich) zwingenden rechtstechnischen Ausgestaltung der Hypothek beruhen. Hier verhilft umgekehrt zu oben B. das weitgehend auf Rechtsfortbildung beruhende Recht der Sicherungsgrundschuld zu einem besseren Verständnis des Modells des Hypothekenrechts. Das zeigt sich vor allem für die Frage der Verfügungsmöglichkeit über die künftige Eigentümergrundschuld.
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BGH, NJW-RR 2003, S. 11. Reinicke/Tiedtke, Kreditsicherung, Rdnr. 1041. BGH, NJW-RR 1994, S. 847; Reinicke/Tiedtke, Kreditsicherung, Rdnr. 1041. BGH, LM § 1169 BGB Nr. 1; Medicus, Bürgerliches Recht, Rdnr. 509. Palandt-BGB/Bassenge, § 1191 Rdnr. 45. Baur/Stürner, Sachenrecht, § 45 Rdnr. 78. BGHZ 106, S. 26, 29 f.
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I. Die Hypothek Wird das durch Hypothek gesicherte Darlehen zurückbezahlt, so wird die Fremdhypothek nach § 1163 Abs. 1 S. 2 BGB zur endgültigen Eigentümergrundschuld. Nach h. L. kann diese künftig entstehende Eigentümergrundschuld aber nicht schon vor Zahlung Gegenstand einer Verfügung des Eigentümers sein, insbesondere nicht Gegenstand einer Abtretung65. Dabei soll die Verfügung des Eigentümers über die künftige Eigentümergrundschuld nach manchen materiellrechtlich unwirksam sein, weil sich die Anwartschaft des Eigentümers auf den Erwerb der Eigentümergrundschuld als untrennbarer Bestandteil des Eigentums darstelle66. Andere verweisen auf nicht überwindbare grundbuchrechtliche Schwierigkeiten, weil bei einer Buchhypothek wegen § 1154 Abs. 3 BGB die Abtretung im Grundbuch eingetragen werden müßte, was aber an der fehlenden Voreintragung des Eigentümers nach § 39 GBO scheitere, und weil bei einer Briefhypothek der Brief nach § 1154 Abs. 1, 2 BGB nicht übergeben werden könne67. Schließlich wird auch ein wirtschaftliches Bedürfnis für die Zulässigkeit einer derartigen Verfügung geleugnet68. Nur vereinzelt wird der Möglichkeit einer Verfügung das Wort geredet69. Aus der fehlenden Verfügbarkeit über die künftige Eigentümergrundschuld soll sich ferner ergeben, daß ein Anspruch auf Übertragung (Abtretung) der künftigen noch nicht entstandenen Eigentümergrundschuld nicht durch Vormerkung nach § 883 BGB gesichert werden kann, soweit die Eigentümergrundschuld aus der Fremdhypothek entsteht70. Eine gleichwohl eingetragene Vormerkung sei wegen inhaltlicher Unzulässigkeit unwirksam, weil die zukünftige Eigentümergrundschuld kein gegenwärtiges Recht sei71. § 883 BGB setze aber voraus, daß von der einzutragenden Vormerkung ein gegenwärtiges eingetragenes Recht des Anspruchsschuldners (Eigentümer des Grundstücks) betroffen ist72. Der zu sichernde Anspruch muß sich also gegen den gegenwärtigen Inhaber des betroffenen Rechts 65
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RGZ 145, S. 343, 353; im Anschluß daran BGHZ 53, S. 60, 64; Bamberger/RothBGB/Rohe, § 1163 Rdnr. 14; Palandt-BGB/Bassenge, § 1163 Rdnr. 17; StaudingerBGB/Wolfsteiner, § 1163 Rdnr. 46. Staudinger-BGB/Wolfsteiner, § 1163 Rdnr. 46. Baur/Stürner, Sachenrecht, § 46 Rdnr. 31; Reinicke/Tiedtke, Kreditsicherung, Rdnr. 1089. Wolff/Raiser, Sachenrecht, § 146 III 1 c. Planck-BGB/Strecker, 4. Aufl., Berlin 1920, § 1177 Anm. 4 b (aber letztlich ablehnend wegen Verstoßes gegen § 39 GBO); § 1179 Anm. 6. OLG Hamm, NJW-RR 1990, S. 272; Bamberger/Roth-BGB/Rohe, § 1163 Rdnr. 14; Erman-BGB/Lorenz, § 883 Rdnr. 21; Staudinger-BGB/Gursky, 2002, § 883 Rdnr. 59; MünchKomm-BGB/Wacke, 4. Aufl., München 2004, § 883 Rdnr. 17; Baur/Stürner, Sachenrecht, § 46 Rdnr. 32; Georg Meikel (Begr.), Roland Böttcher, Grundbuchrecht, 9. Aufl., Neuwied u. a. 2004, § 39 Rdnr. 17; Johann Demharter, GBO, 24. Aufl., München 2002, § 39 Rdnr. 20. RGZ 145, S. 343, 352 f. gegen die zutreffende Entscheidung RG, JW 1933, S. 2764 Nr.6. OLG Hamm, NJW-RR 1990, S. 272.
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richten. Genauer geht es um eine Vormerkung (§ 883 BGB) „zur Sicherung des Anspruchs auf Einräumung […] eines Rechts […] an einem das Grundstück belastenden Recht“. § 1179 (a. F.) BGB dürfe nicht ausdehnend auf Verpflichtungen zu anderen Verfügungen über die zukünftige Eigentümergrundschuld als zur Löschung angewandt werden. Das RG hat die Möglichkeit einer entsprechenden Rechtsfortbildung erwogen und abgelehnt73. Die aus einer Fremdhypothek künftig hervorgehende Eigentümergrundschuld kann also nach h. L. nicht als Kreditunterlage verwendet werden. II. Die Sicherungsgrundschuld Anders liegen die Dinge für die Sicherungsgrundschuld. Zahlt der Eigentümer auf die gesicherte Forderung, so bleibt die Grundschuld als Fremdgrundschuld bestehen. Doch steht dem Eigentümer bei erledigtem Sicherungszweck aus dem Sicherungsvertrag ein schuldrechtlicher Anspruch gegen den Inhaber der Sicherungsgrundschuld auf Rückgewähr zu. Ist der Sicherungszweck noch nicht erledigt, so hat der Sicherungsgeber einen künftigen Anspruch auf Rückgewähr, der durch den Sicherungsgeber abgetreten werden kann, meist an einen nachrangigen Grundpfandgläubiger als Zessionar74. Dieser Anspruch ist nach allgemeiner Meinung vormerkungsfähig (§ 883 BGB)75. Die Vormerkung sichert regelmäßig den abgetretenen Anspruch auf Rückgewähr gegen den im Grundbuch eingetragenen Gläubiger der Fremdgrundschuld (§ 39 GBO), der als Betroffener die grundbuchrechtliche Bewilligung nach § 19 GBO abgeben muß, soll die Eintragung der Vormerkung nicht scheitern76. Nicht dagegen sichert die Vormerkung einen Anspruch des nachrangigen Gläubigers gegen den Eigentümer des Grundstücks auf Abtretung der auf den Eigentümer künftig übergehenden Grundschuld. Dieser Anspruch besteht nach der Abtretung des Rückgewähranspruchs ja nicht mehr77. Der vormerkungsgesicherte Rückübertragungsanspruch führt dazu, daß jede Verfügung des Fremdgrundschuldgläubigers unwirksam ist, welche den Anspruch des Vormerkungsberechtigten vereitelt. Der gesetzliche Löschungsanspruch des über § 1192 Abs. 1 BGB auch für Grundschulden geltenden § 1179a Abs. 1 BGB ist für Sicherungsgrundschulden daher nicht von großer Bedeutung, da im Falle 73 74
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RGZ 145, S. 343, 354. Viele sprechen anstatt von einem künftigen von einem bedingten Anspruch, etwa OLG Hamm, NJW-RR 1990, S. 272, 273; Wolf, Sachenrecht, Rdnr. 978 m.w.N. – Muster für eine Abtretung des Rückgewähranspruches etwa bei Herbert Grziwotz, PraxisHandbuch Grundbuch- und Grundstücksrecht, Köln 1999, Rdnr. 669; Thomas A. Fritsch, in: Stefan Weise (Hrsg.), Beck’sches Formularbuch Immobilienrecht, München 2001, B. II. 1. Baur/Stürner, Sachenrecht, § 46 Rdnr. 48; Clemente, Sicherungsgrundschuld, Rdnr. 443. Staudinger-BGB/Gursky, § 883 Rdnr. 145. Mit Recht OLG Hamm, NJW-RR 1990, S. 272, 273; Baur/Stürner, Sachenrecht, § 20 Rdnr. 23; § 45 Rdnr. 36 mit Fn. 1; Rdnr. 94, 100; § 46 Rdnr. 32; 48 ff.
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der Abtretung der Vereinigungsfall, der den Löschungsanspruch auslöst, nicht eintritt78: Zu einer Rückabtretung der Grundschuld an den Eigentümer kommt es erst gar nicht79. Der Vormerkungsberechtigte kann aufgrund des abgetretenen Anspruchs vielmehr direkt die Übertragung der Grundschuld an sich verlangen, so daß die Grundschuld Fremdgrundschuld bleibt80. § 1179a Abs. 1 BGB greift nur ein, wenn auf die Grundschuld bezahlt wird. III. Angleichung der Rechtsfolgen Die Unterschiedlichkeit der Rechtsfolgen bei Verkehrshypothek einerseits und Sicherungsgrundschuld andererseits verwundert wegen der Funktionsgleichheit der Institute. Als Prüfungsmaßstab muß hier die Sicherungsgrundschuld dienen, deren Ergebnisse im ganzen überzeugen können (oben II.). Gleiches gilt aber nicht für die Hypothek (oben I.): Nicht tragfähig ist die These, wonach die Anwartschaft mit dem Eigentum untrennbar verbunden ist, so daß der Eigentümer darüber nicht selbständig verfügen kann mit der Folge, daß der Anspruch auf Übertragung der künftigen Eigentümergrundschuld nicht vormerkungsfähig sei (oben I.). Das ist nicht mehr als eine Behauptung. Im umgekehrten Fall des Hypothekars vor Valutierung ist man sich einig, daß seine Position, mag man sie als Anwartschaft oder als Anwartschaftsrecht bezeichnen, ohne Schwierigkeiten übertragen werden kann. Er kann die durch die Hypothek zu sichernde künftige Forderung in der Form der §§ 1154 f. BGB abtreten81. Überzeugender sind schon die grundbuchrechtlichen Bedenken aus § 39 GBO, weil der Eigentümer des Grundstücks nicht als Inhaber der Eigentümergrundschuld eingetragen ist. Zu einer materiellen Erweiterung des § 883 BGB auf noch nicht entstandene Rechte und zu einem Absehen von § 39 GBO führt aber immerhin die Löschungsvormerkung des § 1179 BGB für die dort geregelten Spezialfälle82. Verwirrung im Grundbuch ist nicht zu besorgen, wenn die Vormerkung gemäß § 12 Abs. 1 Buchst. c GBV in die Spalte 7 „Veränderungen“ der Abteilung III halbspaltig (linke Hälfte) eingetragen wird (§ 19 Abs. 1 S. 1 GBV). Das RG hat denn auch offengelassen, welche Rechtsfolgen aus der Verletzung der Ordnungsvorschrift des § 39 GBO zu ziehen wären83. Der Eintragungsvermerk könnte lauten: „Vormerkung zur Sicherung des Anspruchs des ... auf Abtretung der Eigentümergrundschuld für den Fall, daß sich die Hypothek mit dem Eigentum in einer
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Im übrigen kann der nachrangige Grundpfandgläubiger vom Eigentümer nicht verlangen, daß er den Vereinigungsfall herbeiführt, BGHZ 108, S. 237, 244. Baur/Stürner, Sachenrecht, § 46 Rdnr. 48-52; Wolf, Sachenrecht, Rdnr. 978; Staudinger-BGB/Wolfsteiner, Vor §§ 1191 ff., Rdnr. 135; Stadler, Gestaltungsfreiheit, S. 609. Eindringlich Helmut Kollhosser, Grundbegriffe und Formularpraktiken im Grundpfandrecht, in: JA 1979, S. 61, 66; Tiedtke, in: Jura 1980, S. 407, 421. Medicus, Bürgerliches Recht, Rdnr. 477. Sympathisierend Baur/Stürner, Sachenrecht, § 46 Rdnr. 32. RGZ 145, S. 343, 355.
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Person vereinigt hat“84. In die freie rechte Spalte wird dann später die Abtretung eingetragen; die Vormerkung wird gerötet (§ 19 Abs. 2 GBV).
D. Ausblick Die Rechtsfolgen der durch Rechtsfortbildung entstandenen Sicherungsgrundschuld orientieren sich trotz der fehlenden Akzessorietät weitgehend am gesetzlich ausgeformten Modell der akzessorischen Verkehrshypothek. Die rechtsformunabhängigen Ergebnisse werden im Anwendungsbereich der Sicherungsgrundschuld durch Akzessorietätssurrogate gesichert. Gläubigerschutz wird bei der Sicherungsgrundschuld verwirklicht durch eine sachgerechte Einschränkung des § 1157 S. 1 BGB (oben B. I.). Die Beachtung des Schuldnerschutzes mit der Einrede des fehlenden Sicherungsfalles bleibt nach §§ 1192 Abs. 1, 1157 S. 2 BGB der Eigeninitiative des Schuldners überlassen (oben B. II. 1). Bei Auseinanderfallen von Schuldner- und Eigentümerstellung entscheidet über Regreßansprüche in erster Linie der Sicherungsvertrag (oben B. III.). Schutzlücken, die aus der relativen Wirkung des Sicherungsvertrages entstehen, können entgegen der h. L. über die entsprechende Anwendung (§ 1192 Abs. 1 BGB) des § 1143 Abs. 1 BGB bei Zahlung durch den Eigentümer (oben B. III. 2, 3) und des § 1164 Abs. 1 BGB bei Zahlung durch den Schuldner (oben B. III. 4) geschlossen werden, da beide Normen nicht Ausdruck hypothekenrechtlicher Akzessorietät sind. Mögliche Unterschiede bleiben für den Fall, daß der nicht regreßberechtigte Schuldner auf die Forderung leistet, und der Eigentümer nicht Partner des Sicherungsvertrages ist (oben B. III. 4 b). In der umgekehrten Richtung müssen durch das Gesetz nicht geforderte Übertreibungen des Hypothekenrechts durch allseits konsentiertes Recht der Sicherungsgrundschuld korrigiert werden. So ist entgegen der h. L. auch die künftige aus einer Hypothek hervorgehende Eigentümergrundschuld als Finanzierungsgrundlage geeignet, weil der Anspruch von Grundpfandgläubigern auf ihre Abtretung in Gesamtanalogie zu den §§ 1179, 1179a BGB vormerkungsfähig ist (oben C. III.). Das entspricht im Ergebnis der allgemein anerkannten Vormerkungsfähigkeit abgetretener künftiger Rückgewähransprüche gegen den Inhaber einer Sicherungsgrundschuld, der den gesetzlichen Löschungsanspruch des § 1179a BGB ergänzt (oben C. II.).
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Vergleichbar der in RG, JW 1933, S. 2764, 2765 Nr. 6 wiedergegebene Eintragungsvermerk.
Echte, faktische, wirtschaftliche Unmöglichkeit und Wegfall der Geschäftsgrundlage Abgrenzungsversuche nach der Schuldrechtsreform Adrian Schmidt-Recla
A. Einleitung Dass die Überarbeitung und Neufassung des 2. Buches des BGB, die seit 1984 institutionell ins Werk und am 1. 1. 2002 in Kraft gesetzt wurde,1 in Wahrheit kaum ein ernsthaftes Problem des allgemeinen oder besonderen Leistungsstörungsrechts beseitigt hat, ist eine Tatsache, die einen Rechtshistoriker wie Adolf Laufs, der die jüngere Privatrechtsgeschichte immer im Blick hat, nicht überraschen konnte.2 So wenig wie die sogenannte positive Forderungsverletzung im Jahre 1902 „entdeckt“ werden konnte, weil die behauptete Lücke im Gesetz nicht vorhanden war,3 so wenig hat § 280 BGB n. F. einen neuen Haftungstatbestand geschaffen.4 Rechtspolitische Propaganda, die im Jahr 2001 zu unerträglichem Druck auf alle Beteiligten geführt hat, vermag nicht darüber zu täuschen, dass der Gesetzgeber nicht die Lebenswirklichkeit direkt gestalten und beispielsweise die Unmöglichkeit als Störungs- und Denkkategorie „abschaffen“ kann – das hätte auch die Erstfassung des § 275 im sogenannten Diskussionsentwurf des BMJ nicht vermocht. Grundsätzlich zu begrüßen ist es, wenn Problemlösungsmethoden, die in Wissenschaft und Literatur anerkannt sind und die kraft richterlicher Rechtsfortbildung als Rechtsinstitute angewendet werden, jedoch gesetzlich nicht geregelt sind, einer kodifikatorischen Lösung zugeführt werden. Dabei ist es als lästige Nebensache hinzunehmen, dass einzelne Problembereiche im Gesetz verschoben oder dass die systematischen Bezugspunkte, unter denen ein Problem diskutiert wird, geändert werden müssen. Dramatisch wird die Lage, wenn die neu vorgenommene 1
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Mit dem Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts v. 26. 11. 2001, BGBl. I, S. 3138-3218. Das nimmt den dies konstatierenden Sätzen Wolfgang Ernsts, MünchKomm-BGB, 4. Aufl., München 2003, Vor § 275, Rdnr. 25 einige Bitterkeit. So bekanntlich Hermann Staub. Das BGB i. d. F. v. 1. 1. 1900 habe z. B. den Fall der vom Verkäufer gelieferten wurmstichigen Äpfel, die die Äpfel im Lager des Käufers verdarben, nicht lösen können, vgl. dens., Die positiven Vertragsverletzungen, Berlin 1904, S. 93 f. Indessen gehörten der pecus-morbosum-Fall und der des morschen Holzbalkens zum Standardrepertoire der europäischen Privatrechtswissenschaft. Vgl. Britta Kley, Unmöglichkeit und Pflichtverletzung, Berlin 2001, S. 66.
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gesetzliche Regelung jedoch nicht nur bisher bestehende Probleme perpetuiert und keinesfalls löst, sondern darüber hinaus neue Anschlussprobleme gebiert. Dies ist eingetreten durch § 275 BGB n. F. Gegen die in Kraft getretene Fassung von § 275 I wird sich zwar nur schwerlich etwas einwenden lassen. Nicht so aber bei § 275 II. Die Literatur stellt dieser Vorschrift mittlerweile ein vernichtendes Zeugnis aus. So ist nicht nur zu lesen, dass schon die Grenze zwischen § 275 I und II schwer zu ziehen sei,5 sondern auch – und das wiegt schwerer –, dass bereits der Versuch (!) einer trennscharfen Abgrenzung zwischen § 275 II und § 313 angesichts der Offenheit der Tatbestände nur eingeschränkten Erfolg verspreche.6 § 275 II sei mit seiner Anknüpfung an unbestimmte Rechtsbegriffe (Treu und Glauben, grobes Missverhältnis) nichts anderes als eine ausfüllungsbedürftige Generalklausel.7 Überdies verschwämmen die Grenzen zwischen beiden Regelungsbereichen endgültig;8 die Anwendungsbereiche von § 275 II und § 313 überschnitten sich (jedenfalls teilweise).9 Schließlich blieben Zweifel, ob sich der ganze (Auslegungs-)Aufwand, den der neue § 275 II nötig mache, auf die Dauer rechtfertigen lasse.10 Und gänzlich zerschmetternd: die Konzeptionslosigkeit der Neuregelung (gemeint ist § 275 II) entspringe mitsamt der Willkürlichkeit ihrer Folgen der Legitimationslosigkeit ihrer Gefahrenverteilung.11 Trifft das zu, dann wäre das Vorhaben, bisher ungeregelte und der Rechtsprechung und der Wissenschaft überlassene Bereiche des Leistungsstörungsrechts einer positivrechtlichen Klärung zuzuführen, gescheitert. Und offensichtlich ist es erneut die von der Kommission zur Überarbeitung des Schuldrechts und vom Bundesjustizministerium in den Jahren von 1998 bis 2002 so wenig geliebte Kategorie der Unmöglichkeit, die allen Nivellierungsversuchen zum Trotz immer wieder einen Prüfstein für die Güte einer Kodifikation abzugeben geeignet ist. Da § 275 II aber nun einmal in der Welt ist, als gesetztes Recht Geltungsanspruch heischt und dem Richter und dem Gutachter die Aufgabe ihrer Anwendung stellt, soll hier eine Ab- und Eingrenzung der von § 275 II erfassten Fälle versucht werden.12 Dies soll im Kern anhand von vier im Umfeld der Schuldrechtsmodernisierung erneut in die Diskussion gebrachten Fällen unternommen werden. Vorab ist das Diskussionsfeld abzustecken.
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Peter Schlechtriem, Schuldrecht. Allgemeiner Teil, 5. Aufl., Tübingen 2003, Rdnr. 287. MünchKomm-BGB/Ernst, § 275, Rdnr. 19. Daniel Zimmer, Das neue Recht der Leistungsstörungen, in: NJW 2002, S. 1, 3. AnwKomm-BGB/Dauner-Lieb, Bonn 2002, § 275, Rdnr. 8. Staudinger-BGB/Löwisch, Berlin 2004, § 275, Rdnr. 97. Volker Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen, 5. Aufl., München 2003, S. 43. Eduard Picker, Schuldrechtsreform und Privatautonomie, in: JZ 2003, S. 1035, 1041. Die Frage, ob § 275 II eine neue Schuldnerpflicht – nämlich die zur Tragung eines Mehraufwandes bzw. zur Beteiligung am Gläubigerverlust – unter Inkaufnahme eines Bruches der geltenden Gefahrtragungssystematik eingeführt hat, erörtert Picker, in: JZ 2003, S. 1035, 1038-1044. Hierauf sei verwiesen.
Unmöglichkeit und Wegfall der Geschäftsgrundlage
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B. Unmöglichkeit und Unmöglichkeitsarten Die Unmöglichkeit als Leistungsstörung führt ein Doppelleben: in der universitären Anfängerausbildung und auch im BGB a. F. spielt sie die erste Geige im Konzert der Leistungsstörungen. In der Praxis ist sie im Vergleich zu anderen Leistungsstörungen (Verzug, Schlechtleistung) eher randständig. Der Schuldner ist selten völlig außerstande, die übernommene Leistungspflicht zu erfüllen. Deswegen ist den Beispielen, mit denen die Unmöglichkeit in der Ausbildung präsentiert wird, auch immer eine gewisse Konstruiertheit eigen. Ebenso wahr ist es, dass die verschiedenen Arten der Unmöglichkeit auf den Anfänger den Eindruck eines begrifflichen Wasserkopfes machen können, der von den Sachverhalten, die die Praxis bietet, sternenweit entfernt ist.13 Gleichwohl ist und bleibt die Unmöglichkeit aus logischen Gründen die Generalstörung im Schuldverhältnis:14 sie ist die größte vorstellbare Abweichung vom Normalfall, sie ist die Antipode der Erfüllung, die Nichterfüllung par excellence. Alle anderen Leistungsstörungen bewegen sich innerhalb eines von ordnungsgemäßer Erfüllung und Unmöglichkeit begrenzten Feldes. Jede dogmatische Betrachtung muss daher von den extremen Begrenzungen ausgehen, um die dazwischen liegenden Bereiche adäquat einordnen und ihnen ihren Platz zuweisen zu können. Diese logische Struktur der Unmöglichkeit rechtfertigt ihre gesetzliche Anerkennung: sie ist schlicht und einfach als in der Wirklichkeit vorkommende Abgrenzungsgröße erforderlich.15 Eine Definition des Begriffes Unmöglichkeit schien schon immer und scheint auch heute einfach zu sein: sie liegt vor, wenn die Leistung entweder nach den Naturgesetzen nicht erbracht werden kann oder wenn die Leistungserbringung an rechtlichen Hindernissen scheitert. Ich beschränke mich hier und im folgenden auf die vom Schuldner nicht zu vertretende Unmöglichkeit, die diesen von seiner Leistungspflicht befreit.16 Die Fälle der physischen und der juristischen Unmöglichkeit leuchten sofort ein. Dieser Ausgangspunkt wäre auch ohne die gesetzliche Anordnung unmittelbar verständlich. 13 14
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Horst Ehmann, Britta Kley, Unmöglichkeitslehre, in: JuS 1998, S. 481. Ernst Rabel, Unmöglichkeit der Leistung, in: Festschrift für Bekker, Weimar 1907, S. 173-237, insb. 174-176 („Das Dogma“). Das hat sich schon im alten Schuldrecht an der pFV gezeigt, die nur negativ, in Abgrenzung zur Unmöglichkeit und zum Verzug definiert werden konnte. Auch das neue Schuldrecht ist hierüber nicht hinausgelangt. Vgl. Ulrich Huber, Zur Auslegung des § 275 BGB, in: Eberhard Schilken (Hrsg.), Festschrift für Hans Friedhelm Gaul, Bielefeld 1997, S. 217, 223 ff. U. Hubers Lehre vom einheitlichen Forderungsrecht, der Holger Altmeppen, Untaugliche Regeln zum Vertrauensschaden und Erfüllungsinteresse, in: DB 2001, S. 1399, 1402; Rolf Knütel, Zur Schuldrechtsreform, in: NJW 2001, S. 2519, 2520 und Hans Stoll, Notizen zur Neuordnung des Rechts der Leistungsstörungen, in: JZ 2001, S. 589, 590 folgen, muss jetzt mit einer Aufspaltung leben; vgl. Daniela Mattheus, Die Neuordnung des allgemeinen Leistungsstörungsrechts, in: Martin Schwab, Carl Heinz Witt (Hrsg.), Einführung in das neue Schuldrecht, S. 67, 79.
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Nur eines ist hier noch ergänzend festzuhalten. Die tatsächliche und die juristische Unmöglichkeit sind keine Begriffe, die für den Schuldner eine Opfergrenze anzeigen, jenseits derer dieser aus Wertungsgesichtspunkten heraus nicht mehr leisten müsse. Es handelt sich vielmehr um die gesetzliche Anerkennung von real auftretenden Tatsachen. Sofort danach aber beginnen die seit alters bekannten Schwierigkeiten. Wesentlich weniger einleuchtend ist z. B. schon die an die Unterscheidung zwischen anfänglicher und nachträglicher Unmöglichkeit anknüpfende gesetzliche Aussage, dass ein Vertrag, bei dem die Unmöglichkeit der Leistungserbringung von vornherein feststand, nichtsdestoweniger wirksam sein soll, § 311a I BGB. Zwar wird auf diese Weise erreicht, dass sich der Umfang der Sekundärverpflichtung des Schuldners bei anfänglicher und nachträglicher Unmöglichkeit nicht (mehr) unterscheidet, was wiederum dem Anfänger helfen mag. Nur ist es auch den zugrundeliegenden Lebenssachverhalten angemessen?17 An Mahnungen, die Finger von der Haftung auf das negative Interesse bei anfänglicher Unmöglichkeit zu lassen, hat es jedenfalls nicht gefehlt.18 Ebenso wenig einleuchtend ist die scheinbare Gleichbehandlung von Unvermögen und Unmöglichkeit in § 275 I. Auch hier hat es sinnvolle Vorschläge der Differenzierung gegeben.19 Und schon erscheinen auch methodologische Probleme: Während das alte Leistungsstörungsrecht die Kategorien der Leistungsstörung zwar sehr weit abstrahiert hatte, aber immerhin doch auf tatsächlichen Leistungsstörungen aufgebaut hatte, also induktiv vorgegangen war, stellt die jetzige Regelung der anfänglichen Unmöglichkeit das Paradebeispiel eines deduktiven gesetzgeberischen Vorgehens dar. Es wird ein System (Gleichlauf der Sekundärpflichten) vorgegeben20 (um nicht zu sagen „diktiert“) dem die einzelnen Leistungsstörungen unterzuordnen sind.21 Wenden wir uns aber nun den umstrittenen Größen der sogenannten wirtschaftlichen und/oder faktischen Unmöglichkeit und ihrer Abgrenzung zum eher weniger umstrittenen Wegfall der Geschäftsgrundlage zu.
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Altmeppen, in: DB 2001, S. 1399, 1400: „Offensichtlich wurden die Probleme geistig nicht durchdrungen“; s. a. Richard Motsch, Risikoverteilung im allgemeinen Leistungsstörungsrecht, in: JZ 2001, S. 428, 429 f. S. neben Altmeppen auch noch Knütel, in: NJW 2001, S. 2519, 2520. So z. B. von Michael Fischer, Der Ausschluss der Leistungspflicht im Falle der Unmöglichkeit im Entwurf des Schuldrechtsmodernisierungsgesetzes (§ 275 BGB RegE), in: DB 2001, S. 1923, 1924 f. Mehr noch: das „Gesetz denkt jetzt von den Rechtsfolgen her“; Mattheus, in: Schwab/Witt, Einführung in das neue Schuldrecht, S. 67, 68; Peter v. Wilmowsky, Pflichtverletzungen im Schuldverhältnis, in: JuS 2002, Beil. zu Heft 1, S. 4. Entsprechendes gilt für die Pflichtverletzung, den Oberbegriff für alle Leistungsstörungen – auch wenn die Unmöglichkeit nur mit gesetzgeberischer Gewalt (§ 275 IV) zur Pflichtverletzung gestempelt werden konnte.
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C. Leistungserschwerungen Beiden ist zunächst gemeinsam, dass es sich anders als bei der naturgesetzlichen und der juristischen Unmöglichkeit nicht um unüberwindbare Hindernisse bei der Leistungserbringung, sondern lediglich um Leistungserschwerungen22 handelt. Anstatt von Leistungserschwerungen kann auch von Aufwandserhöhungen gesprochen werden. Diese Gemeinsamkeit der unterschiedlichen Untergruppen der Leistungserschwerung kommt angesichts des begrifflichen Tohuwabohus mitunter zu kurz.23 Sämtliche Fälle aber, die entweder zur wirtschaftlichen bzw. zur faktischen Unmöglichkeit einerseits oder zum Wegfall der Geschäftsgrundlage andererseits in der Rechtsprechung entschieden oder in der Literatur diskutiert worden sind, haben gemeinsam, dass der Schuldner oder ein Dritter die gewünschte Leistungshandlung nach den obwaltenden Naturgesetzen vornehmen kann. Zu entscheiden ist in jedem dieser Fälle nur, ob der Schuldner die Leistung noch vornehmen oder ob ihm dies im Hinblick auf die Leistungserschwerung erlassen werden soll. Allein dieses Kriterium entscheidet mithin darüber, ob das Schuldnerhandeln unter wertenden Gesichtspunkten eher dem Regelungskomplex Nichterfüllung24 oder aber dem der Erfüllung25 zugeordnet werden soll.26 I. Wirtschaftliche und faktische Unmöglichkeit 1. In der unter der Geltung des BGB a. F. erschienenen Literatur wurden unter dem Stichwort wirtschaftliche Unmöglichkeit vor allem die berühmten Fälle des Aufsuchens eines Ringes auf dem Meeresgrund oder die Hebung eines Schatzes unter einem Hochhaus diskutiert. Sie waren und sind Lehrbuchfälle, die ersonnen wurden um zu zeigen, wie schwer ein dem Schuldner noch zugängliches Können im Extremfall werden kann.
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Der Begriff eignet sich auch zur Abgrenzung vom Problemfeld der Zweckerreichung bzw. des Zweckfortfalls. Ebenso Picker, in: JZ 2003, S. 1035, 1045 f. Mit eventueller Befreiung des Schuldners von der Leistungspflicht bei Zufall oder höherer Gewalt. Die infolge Leistungserschwerung durch Vertragsanpassung modifiziert werden kann. Diese Betrachtungsweise vermeidet die von Horst Heinrich Jakobs beklagte „Grenzverwirrung“ des Nebeneinanders der Befreiungsgründe Unmöglichkeit, Unzumutbarkeit und Wegfall der Geschäftsgrundlage, vgl. dens., Unmöglichkeit und Nichterfüllung, Bonn 1969, S. 71, ohne dass deswegen so weit gegangen werden müsste wie Jakobs es forderte, nämlich die Unmöglichkeit als Befreiungsgrund aufzugeben und nur einen dogmatischen Maßstab für die Begrenzung der Inanspruchnahme des Schuldners zur Bewirkung der Leistung anzuerkennen.
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Daneben erfasste – und das ist entscheidend – der Begriff der wirtschaftlichen Unmöglichkeit aber nicht nur diese Paradefälle, in denen jeder Laie erkennt, dass die Aussage, die Leistung sei noch möglich, eine sophistische Absurdität darstellt, sondern darüber hinaus auch Fälle, in denen die Leistungserschwerung dem Schuldner Opfer oder Aufwendungen abverlangte, die auf sich zu nehmen er nach Treu und Glauben nicht mehr verpflichtet sei.27 In Betracht kommen hier vor allem Fälle von Preissteigerungen sehr großen Ausmaßes, die bei einem Schuldner, der zur Beschaffung bestimmter Sachen verpflichtet ist, exorbitante Ausgaben verursachen können. Systematisch konnte die Lösung dieser Fälle nicht bei § 275 a. F., sondern nur bei § 242 BGB angesiedelt werden.28 So lässt sich der Begriff wirtschaftliche Unmöglichkeit ersetzen durch den richtigeren Terminus Unerschwinglichkeit,29 der das zu regelnde Problem deutlicher von § 275 I a./n. F. abhebt. 1921 meinte das RG, dass dann, wenn die Vertragserfüllung sich als wirtschaftlich unmöglich erweise, wenn sie den Lieferanten geschäftlich vernichten oder an den Rand des geschäftlichen Ruins bringen würde, sich die wirtschaftliche und rechtliche Notwendigkeit ergebe, derjenigen Vertragspartei, die alle Nachteile der wirtschaftlichen Umwälzung der anderen Partei aufbürden wolle, den Rechtsschutz zu versagen.30 Schnell häuften sich die Entscheidungen.31 1923 hat das RG vor dem Hintergrund der inflationären Geldentwertung – nicht einer normalen Preissteigerung – zur Unmöglichkeit der Gattungsschuld formuliert, dass diese Unmöglichkeit jenseits des Falles des Untergangs der ganzen Gattung grundsätzlich wirtschaftlich zu denken sei; Unmöglichkeit werde schon dann angenommen, wenn die Möglichkeit der Abwicklung des Geschäfts erst (wieder) in einem Zeitpunkt eintreten könne, wo wirtschaftlich für beide Teile die ursprünglichen Vertragspflichten, wenn sie dann noch erfüllt werden müssten, in wesentlicher Weise verändert sein würden.32 Ähnliche Formulierungen finden sich auch 1904,33 191834
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Vgl. Karl Larenz, Schuldrecht I, 14. Aufl., München 1987, S. 319; ebenso ClausWilhelm Canaris, Die Reform des Rechts der Leistungsstörungen, in: JZ 2001, S. 499, 501. Herausgearbeitet in RGZ 88, S. 172-178 (englisches Zinn), 174 f. und RGZ 92, S. 322325 (Zinntuben), 323. Streng genommen hätte bereits dies dazu führen können (und sollen), den Begriff wirtschaftliche Unmöglichkeit nicht zu verwenden. So in der Tat RGZ 88, S. 172, 175. S. a. Rabel, in: Festschrift Bekker, S. 173, 206. RGZ 102, S. 272, 273 (Zwickauer Motorwagenwerke). RGZ 42, S. 114-118 (Roggenmehl Roland), insb. S. 116; RGZ 88, S. 172-178 (englisches Zinn); RGZ 92, S. 322-325 (Zinntuben); RGZ 94, S. 45-51 (Kupferdraht im Kriege); RGZ 98, S. 260-263 (kriegsbedingtes Lieferungsverbot); RGZ 99, S. 258-260 (Dampfkraft); RGZ 100, S. 134-138 (Opel-Alleinvertreter); RGZ 101, S. 79-84 (AdlerSportlimousine); RGZ 102, S. 272-276 (Zwickauer Motorwagenwerke); RGZ 107, S. 156-160 (Holzschrauben). RGZ 107, S. 156, 157 (Holzschrauben). Auf S. 159 wird auf § 242 abgestellt. RGZ 57, S. 116-119, 118 (Bremer Rolandsmühle): Das Leistungsverlangen wäre billigerweise unzumutbar.
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und 1920.35 Damit war die wirtschaftliche Unmöglichkeit geboren und die terminologische Logik zerstört. Motiviert war diese Rechtsprechung von dem Bestreben, den Ruin von Schuldnern, die Leistungsverpflichtungen aus der (Vor-) Kriegszeit in der Friedens-, Revolutions- und Inflationszeit nach 1918 zu erfüllen hatten, zu verhindern.36 Zu Recht aber, so lesen wir 2001, hat das RG diese, die Unmöglichkeit überdehnende Rechtsprechung später nicht weitergeführt, sondern ist bei diesen Äquivalenzstörungen auf die seit 1921 von der Literatur unterstützte37 Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage ausgewichen.38 Anders als die rechtliche Behandlung ist aber der Begriff wirtschaftliche Unmöglichkeit nicht wieder aus der Debatte verschwunden, sondern geistert immer noch durch Lehrbücher und Urteile. 2. In terminologischer Hinsicht ist weiter zu beachten, dass mitunter auch versucht wurde, den Meeresgrund- und den Hochhausfall aus der ungeliebten Kategorie der wirtschaftlichen Unmöglichkeit auszugrenzen, sie als Fälle sogenannter faktischer Unmöglichkeit zu verselbständigen und der tatsächlichen (naturgesetzlichen, physischen) gleichzustellen.39 Diese faktische Unmöglichkeit sollte demnach Fälle betreffen, in denen die Leistung zwar nicht schlechthin für jedermann unmöglich sei, aber doch jedem Menschen so erhebliche, im Grunde unüberwindliche 34
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RGZ 94, S. 45, S. 50 f. (Kupferdraht im Kriege): Die Leistung des Schuldners wäre nach dem Krieg nicht mehr eine sinngemäße Erfüllung des Vertrages, die Leistung ist daher dauernd unmöglich geworden. RGZ 101, S. 79-84 (Adler-Sportlimousine): Die Lage einer Partei, der die Bewirkung der von ihr zugesagten Leistung wegen unvorhersehbaren Eintritts außerordentlicher, übergroßer wirtschaftlicher Schwierigkeiten nicht zugemutet werden kann, habe nächste Ähnlichkeit mit dem Fall, wenn einer Partei die ihr aus einem Vertrag obliegende Leistung unmöglich werde. Ausdrücklich RGZ 102, S. 272, 275 f. (Zwickauer Motorwagenwerke). Vgl. dort, S. 274, auch die Einlassung des RG, dass bei der Rechtsfindung auf diesem Gebiet in erster Linie die wirtschaftlichen Interessen berücksichtigt werden müssten und dass das Recht ihnen, soweit es nur irgend möglich sei, elastisch angepasst werden müsse. Nur so könne die Rechtsprechung ihrer wahren Aufgabe, dem praktischen Leben, also den Lebensbedürfnissen und den Lebensanforderungen zu dienen, gerecht werden. Seit der Monographie von Paul Oertmann, Die Geschäftsgrundlage – ein neuer Rechtsbegriff, Leipzig 1921. Horst Eidenmüller, Der Spinnerei-Fall: Die Lehre von der Geschäftsgrundlage nach der Rechtsprechung des Reichsgerichts und im Lichte der Schuldrechtsmodernisierung, in: Jura 2001, S. 824, 826. S. a. Ulrich Huber, Leistungsstörungen, Bd. 1, Tübingen 1999, S. 118. Hans Brox, Allgemeines Schuldrecht, 26. Aufl., München 1999, S. 139 f.; Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen, 3. Aufl., München 1991, S. 24 und ders. Das Recht der Leistungsstörungen, 5. Aufl. 2003, S. 36; Fischer, in: DB 2001, S. 1923-1926, 1925; Dieter Medicus, Schuldrecht I, 12. Aufl., München 2000, S. 180 f. Auch v. Wilmowsky, in: JuS 2002, Beil. zu Heft 1, S. 7 scheint das zu präferieren.
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Schwierigkeiten bereitete, dass kein vernünftiger Mensch ohne besonderen Anlass auch nur auf die Idee käme, den Versuch einer Leistungserbringung zu wagen.40 Ist das aber richtig – und ich sehe kein Argument, weswegen hieran gezweifelt werden könnte –, dann wäre die faktische Unmöglichkeit eine Fallgruppe der tatsächlichen.41 Und eine Anschlussfrage schließt sich an: ist es dann nicht eigentlich geboten, den Begriff der faktischen Unmöglichkeit aufzugeben? Macht es Sinn, den ersonnenen Fällen des Ringes im Meer und des Schatzes unter dem Hochhaus eine eigene begriffliche Kategorie zuzubilligen, die keine rechtlichen Folgen hat? Nach dem bisher geltenden Recht wäre die Frage eindeutig zu verneinen gewesen; war die Leistungserbringung als unmöglich apostrophiert worden, so folgte bei Zufall oder höherer Gewalt Leistungsbefreiung, bei Vertretenmüssen des Schuldners die Schadensersatzverpflichtung. Anders das neue Gesetz. Es muss die gestellte Frage bejahen, denn es will, dass sich die rechtlichen Konsequenzen unterscheiden. Der Schuldner, dem der verkaufte Ring ins Meer gefallen ist, ohne dass er das zu vertreten hat, soll nicht ipso iure von seiner Leistungspflicht befreit werden, sondern (nur) ein Leistungsverweigerungsrecht erhalten. Doch zurück zur wirtschaftlichen Unmöglichkeit. Für sie blieben nach Ausscheidung der beiden Lehrbuchfälle die Preissteigerungsfälle, in denen die Leistungserschwerung eben graduell niedriger ausfällt und in denen die Zumutbarkeit für den Schuldner das alles entscheidende Kriterium darstellt. Sind diese Preissteigerungsfälle aber aus der Unmöglichkeit ausgegrenzt und dem Wegfall der Geschäftsgrundlage zugeschlagen, dann ist auch der Begriff wirtschaftliche Unmöglichkeit ein Hohlkörper, der folgenlos aufgegeben werden könnte. 3. Die angesprochene, von Dauner-Lieb zu Recht als wenig aussagekräftig kritisierte42 und von Picker vollständig verworfene43 Begriffswahl (der faktischen Unmöglichkeit) ist aber vor dem SMG ihrerseits stets alles andere als einheitlich gewesen.44 Einerseits wurde der Begriff faktische Unmöglichkeit bis 2002 auch für die tatsächliche (i. e. naturgesetzliche, physische) Unmöglichkeit verwendet,45 was
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So Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen, 5. Aufl. 2003, S. 37; dem folgten z. B. Medicus, Schuldrecht I, S. 180 und Klaus Schreiber, Die Unmöglichkeit der Leistung, in: Jura 1995, S. 529, 530. Das liegt schon sprachlich nahe. Unterscheidet sich faktisch von tatsächlich? Gibt es rechtlich relevante Nuancen zwischen beiden Begriffen? Ich sehe das nicht. AnwKomm-BGB/Dauner-Lieb, § 275, Rdnr. 5. Picker, in: JZ 2003, S. 1035, 1045. Das meint auch Canaris, in: JZ 2001, S. 499, 501. Vgl. z. B. Johann Braun, Die Unmöglichkeit der Leistung, in: JA 1983, S. 488; Ehmann/Kley, in: JuS 1998, S. 481, 484, 487 f.; Larenz, Schuldrecht I, S. 319, Fn. 48.
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zuweilen die Folge hatte, den Meeresgrundfall eben doch wieder (fälschlich) als Fall der wirtschaftlichen Unmöglichkeit anzusehen.46 Wie hochproblematisch es ist, neben der tatsächlichen Unmöglichkeit weitere Unmöglichkeitskategorien zu kreieren, zeigt andererseits nicht nur die Tatsache, dass die wirtschaftliche Unmöglichkeit stets bestritten blieb,47 sondern auch der vom RG entschiedene Fall der Bremer Rolandsmühle,48 den z. B. Medicus der faktischen Unmöglichkeit zuschlug, nicht ohne zu konstatieren, dass man sich dabei schon im Übergangsbereich zur sogenannten wirtschaftlichen Unmöglichkeit befinde.49 Anders gewendet: tatsächliche (in der besonderen Form der faktischen) Unmöglichkeit verschwimme hier mit wirtschaftlicher Unmöglichkeit. Die Begriffe schillerten also von Fall zu Fall und von Lehrbuch zu Lehrbuch. Da es in der Tat schwierig ist, in der moderneren veröffentlichten Rechtsprechung Fälle aufzufinden, die je mit der Rechtsfigur der wirtschaftlichen (oder auch der faktischen) Unmöglichkeit gelöst worden wären, drängt sich der Verdacht einer Debatte im Elfenbeinturm auf: intellektuell anregend aber praktisch folgenlos. Sollte der Gesetzgeber mit § 275 II genau hierauf hereingefallen sein? II. Das Fehlen/der Wegfall der Geschäftsgrundlage Über die Herkunft der Lehre vom Fehlen oder Wegfall der Geschäftsgrundlage aus der clausula-rebus-sic-stantibus-Lehre, aus Windscheids Ansichten über die Voraussetzung50 und aus Oertmanns bahnbrechender Monographie51 ist mehrfach auch in Ausbildungszeitschriften gehandelt worden.52 Dies kann und soll hier nicht vertieft werden. Was aber schon aus dem, was dort zu finden ist, gelernt werden kann, ist, dass auch die zweite der großen privatrechtlichen Baustellen des 20. Jahrhunderts keineswegs erst seit der Inflation eröffnet worden ist, sondern seit Jahrhunderten zu den privatrechtlichen Dauerbaustellen gehört.
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So – widersprüchlich – Brox, Allgemeines Schuldrecht, 26. Aufl., München 1999, S. 140 und auch Medicus, Bürgerliches Recht, 15. Aufl., Köln 1991, Rdnr. 158. Ablehnend z. B. Werner Flume, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, Bd. 2, Berlin u. a. 1979, S. 508 f.; Larenz, Schuldrecht I, S. 319; Schreiber, in: Jura 1995, S. 529, 530; RGZ 57, S. 116. Medicus, Schuldrecht I, S. 181. Bernhard Windscheid, Die Lehre des römischen Rechts von der Voraussetzung, Düsseldorf 1850; ders., in: AcP 78 (1892), S. 161 ff. Oertmann, Die Geschäftsgrundlage. S. nur Johann Braun, Wegfall der Geschäftsgrundlage, in: JuS 1979, S. 692, 693; Helmut Köhler, Grundprobleme der Lehre von der Geschäftsgrundlage, in: JA 1979, S. 498, 499; Eidenmüller, in: Jura 2001, S. 824, 825 f.; Hannes Rösler, Grundfälle zur Störung der Geschäftsgrundlage, in: JuS 2004, S. 1058, 1058 f. Vgl. a. Motsch, in: JZ 2001, S. 428, 431.
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Wenigstens insoweit kann dem Gesetzgeber attestiert werden, dass er mit seiner Regelung in § 313 nicht eine Debatte beendet,53 sondern eine Regelung getroffen hat, die flexibel genug erscheint, die Geschäftsgrundlage auch in Zukunft weiter zu konturieren.54 Grundsätzlich ist das Institut des Wegfalls der Geschäftsgrundlage mit der aus § 275 I folgenden Leistungsbefreiung des Schuldners infolge Zufalls oder höherer Gewalt55 aufs engste verwandt,56 da der Wegfall der (sogenannten großen) Geschäftsgrundlage für die Vertragsparteien ein ebenso unabwendbares Ereignis darstellt.57 Der Tatbestand einer Geschäftsgrundlagenstörung wird heute – Lehre, Rechtsprechung und neues Gesetz stimmen überein – in einem zweischrittigen Verfahren festgestellt. Erstens ist zu fragen, wann ein bestimmter Umstand Geschäftsgrundlage geworden ist und zweitens, wann diese Geschäftsgrundlage weggefallen ist oder ob sie fehlte.58 Bei der Beurteilung, ob ein Umstand Geschäftsgrundlage geworden sei, ist es Standard, zwischen einem realen, einem hypothetischen und einem normativen Element zu unterscheiden.59 All das findet sich nun im Gesetz, § 313 I, selbst,60 der Verweis auf § 242 ist entbehrlich geworden. Die zweite Frage war schon immer der Prüfstein dafür, zu entscheiden, welche eingetretenen oder aufgedeckten Änderungen in den Umständen der Vertragsdurchführung beachtlich sein sollten. Schließlich kann und darf nicht jede auch wirtschaftliche Veränderung dazu führen, dass sich der Schuldner vom Grundsatz pacta sunt servanda dispensieren könne. Das SMG sieht hierfür wieder in Übereinstimmung mit Medicus61 die Unzumutbarkeit des Festhaltens am unveränderten Vertrag als entscheidend an – § 313 I a. E. Es geht also auch bei diesem Institut im Kern um die Frage, wo die Grenze des Einstehenmüssens für die vertraglich übernommene Verpflichtung zu ziehen ist.62 Das ist logisch genau dieselbe Frage, die bei den verschiedenen Unmöglichkeiten zu stellen ist. Die Rechtsfolge der festgestellten Geschäftsgrundlagenstörung, die sich trotz ihrer genetischen Verwandtschaft mit der Unmöglichkeit von dieser unterscheiden muss – soll doch die Erfüllung gesichert werden, ist aus logischen Gründen zwingend vorgezeichnet. Schön zu lesen ist das bei Motsch:
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BT-Drs. 14/6040, S. 175: die Bedeutung von § 313 liege darin, die zum Rechtsinstitut gewordenen Grundsätze zum Fehlen/Wegfall der Geschäftsgrundlage zu verankern. Auch zu § 313 kritisch Picker, in: JZ 2003, S. 1035, 1047 f.: § 313 produziere einen die privatautonome Parteiherrschaft über den Vertrag beeinträchtigenden, wenn nicht vernichtenden, systemwidrigen Anpassungszwang. Denn nur in diesen Fällen wird der Schuldner frei. Picker, in: JZ 2003, S. 1035, 1045 f. Motsch, in: JZ 2001, S. 428, 431. Vgl. nur Eidenmüller, in: Jura 2001, S. 824, 828. Zuletzt Rösler, in: JuS 2004, S. 1058. S. nur Eidenmüller, in: Jura 2001, S. 824, 831. Medicus, Bürgerliches Recht, 15. Aufl., Köln u. a. 1991, Rdnr. 166. Motsch, in: JZ 2001, S. 428, 431.
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„Die harte Entscheidung zwischen dem Einstehenmüssen, koste es, was es wolle, auf der einen und der gänzlichen Befreiung auf der anderen Seite wird durch den tunlichst zu beschreitenden Mittelweg „Vertragsanpassung“, wo möglich vermieden. Nur durch ihre Lockerung lässt sich die Vertragsbindung aufrecht erhalten.“63
Die Rechtsfolge ist hier modifizierte Erfüllung und dem ist nur noch hinzuzufügen, dass in den Fällen, in denen der Mittelweg der modifizierten Erfüllung nicht beschritten werden kann, weil das Opfer des Schuldners nicht durch Vertragsanpassung auf ein der Leistungsbilanz des Schuldverhältnisses adäquates, erträgliches Maß reduziert werden kann, selbstverständlich und ebenso logisch zwingend zum Rücktritts- bzw. Kündigungsrecht der benachteiligten Partei gegriffen werden muss. Dies, die Auffanglösung des § 313 III, ist freilich mit guten Gründen noch immer etwas anderes als die Befreiung des Schuldners von der Leistungspflicht infolge gesetzlicher Anordnung (§ 275 I) oder infolge eines ausgeübten Leistungsverweigerungsrechts (§ 275 II). Denn trotz Rücktritt oder Kündigung bleibt das Schuldverhältnis als solches mit eventuell gegenseitigen Verpflichtungen erhalten. Das manifestiert sich insbesondere in den Haftungserleichterungen des Rückgewährschuldners in § 346 III Nr. 3. Es ist also keineswegs so, dass sich die Situation bei Nichtanpassungsfähigkeit des durch Leistungserschwerung behinderten Vertrages quasi durch die Ausgangstür des § 313 III wieder der Unmöglichkeitssituation angliche. III. Zwischenergebnis Das Problemfeld Leistungserschwerung/Aufwandserhöhung verlangt nichts weiter als ein Institut, das es ermöglicht, Fälle, in denen die mögliche Erbringung der Leistung dem Schuldner überobligationsmäßige Anstrengungen abverlangt, so zu lösen, dass dem Schuldner für die Überwindung der Erschwernis ein die ursprüngliche Leistungsbilanz des Schuldverhältnisses wiederherstellender Ausgleich zuteil wird bzw. dass dem Schuldner bei Leistungserschwerungen, die auf diese Weise nicht wieder „austariert“ werden können, ein Mittel zur Lösung vom Vertrag bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Vertrages als solchem an die Hand gegeben wird.64 Ein Leistungsverweigerungsrecht des Schuldners in Fällen dagegen, in denen kein vernünftiger Mensch auch nur auf die Idee käme, den Versuch der Leistungserbringung zu unternehmen, ist dogmatisch überflüssig. Welche zusätzlichen, rechtlich billigenswerten Möglichkeiten sollte ein solches Recht dem Schuldner zu 63 64
Motsch, in: JZ 2001, S. 428, 431. Ähnl. Stoll, in: JZ 2001, S. 589, 591. Pickers Kritik an § 313, in: JZ 2003, S. 1035, 1046 f., vermag den regelungsbedürftigen, weil auf ein rechtlich billigenswertes Interesse gestützten Umstand, dass der durch eine Leistungserschwerung benachteiligten Partei ein durchsetzbares Gestaltungsrecht zur Abwehr eines angesichts der Leistungserschwerung die vertragliche Risikoverteilung missachtenden Gläubigerhandelns eingeräumt werden soll und muss, nicht befriedigend zu lösen.
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geben in der Lage sein? Doch wenden wir uns einigen Fällen aus der Rechtsprechung zu, um die Frage, ob die faktische Unmöglichkeit einer eigenen Regelung bedurfte, auch rechtstatsächlich zu untersuchen.
D. Problemfälle aus der Rechtsprechung Gegenwärtig diskutiert werden bei der Abgrenzung von § 275 II und § 313 vor allem die vom RG zur wirtschaftlichen Unmöglichkeit und vom BGH nach der Aufgabe dieser RG-Rechtsprechung entschiedenen Fälle. Es handelt sich um die Bremer Rolandsmühle,65 die Tiefgarage,66 die Löschungsbewilligung67 und den Porschedirekthändler.68 Bremer Rolandsmühle: K kauft beim Großhändler V 6000 Zentner Baumwollsaatenmehl der Marke Eichenlaub. Die Lieferung bleibt aus. Das Saatenmehl wurde nach einem das Betriebsgeheimnis des Herstellers bildenden Verfahren mit eigens dafür hergestellten Maschinen in der Bremer Rolandsmühle hergestellt und konnte so auch nur dort hergestellt werden. Vor der Lieferung an K ist die Mühle mit allen Vorräten abgebrannt. Zwar sind in der Nacht vor dem Brand noch 2000 Zentner des betreffenden Mehls elbaufwärts nach Magdeburg verschifft worden. Diese befanden sich aber schon in festen Käuferhänden. K meint, V müsse sich das Saatenmehl verschaffen und verlangt Lieferung. Tiefgarage: Der Beklagte hat auf einem ihm allein gehörenden Grundstück eine Tiefgarage errichtet, die mit einer 20 Quadratmeter großen Teilfläche in ein anderes Grundstück hineinragt. An diesem anderen Grundstück besteht zwar auch (Sonder-) Eigentum des Beklagten, aber auch Eigentum der Kläger. Diese verlangen die Beseitigung des Tiefgaragenüberbaus. Löschungsbewilligung: Bauer B kaufte 1973 ein Grundstück zum Preis von 4.659 DM (1 DM pro qm). Den Kaufpreis erhielt B von dem Makler M: B und M waren einig, dass M wirtschaftlicher Eigentümer werden sollte und dass B als Treuhänder agierte. 1977 verkauft B das Grundstück für 1,50 DM pro qm an den Dritten D und bewilligt zu dessen Gunsten die Eintragung einer Auflassungsvormerkung. Zwischen M und B kommt es zu Unstimmigkeiten, M setzt seinen Übereignungsanspruch durch und wird als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen. Nun verlangt er von B, dieser möge dafür sorgen, dass D die Löschung der zu seinen Gunsten eingetragenen Auflassungsvormerkung bewillige. D ist hierzu zwar bereit, verlangt aber von B für die Abgabe der Bewilligungserklärung 50 DM pro qm Grundstücksfläche, mithin 232.900 DM. B macht M gegenüber geltend, er müsse die Bewilligungserklärung nicht um diesen Preis beibringen.
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RGZ 57, S. 118 f. BGHZ 62, S. 388-394. BGH, NJW 1988, S. 699 f. BGH, NJW 1994, S. 515 f.
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Porschedirekthändler: D, der in die Händlerstruktur von Porsche eingebunden ist, wird von Porsche über Neuerungen informiert und vorzugsweise beliefert. D erfährt so, dass Porsche ein Sondermodell plant und unterrichtet K davon. K bestellt 1983 bei D, der dies bestätigt, zwei solche Modelle zum Listenpreis am Tage der Auslieferung. Porsche beschließt 1985, das Modell als Porsche 959 nicht über das Händlernetz, sondern unter eigener Auswahl der Interessenten ab Werk zu verkaufen. So geschieht es ab 1987. Daraufhin wird der Porsche 959 auf dem Markt zu einem Preis (1.140.000 DM) gehandelt, der den Listenpreis (430.000 DM) um ein Vielfaches übersteigt. K besteht auf Erfüllung und verlangt hilfsweise Schadensersatz (insgesamt 1.420.000 DM entgangener Gewinn für zwei Porsche 959).
Allen vier Fällen scheint gemeinsam zu sein, dass weder nach bisherigem noch nach neuem Schuldrecht auf den ersten Blick naturgesetzliche Unmöglichkeit vorliegt. Alle vier Schuldner könnten wahrscheinlich leisten: zu irgendeinem Preis wird jeder das nach Magdeburg verschiffte, noch nicht verbrauchte Saatenmehl zurückkaufen können, zu irgendeinem Preis kann die Tiefgarage natürlich rückgebaut werden, kann der Porschehändler den Porsche 959 problemlos erwerben und kann der Bauer die Löschungsbewilligung beibringen. Es war daher in allen Fällen zu entscheiden, ob die Leistungserschwerung/Aufwandserhöhung eventuell zur Anwendung der Unmöglichkeitsregeln führen musste oder nicht. I. Bremer Rolandsmühle Dieser, die Reihe der Entscheidungen des RG zur wirtschaftlichen Unmöglichkeit nicht eröffnende,69 aber beherrschende Fall aus dem Jahr 1904 fällt bei näherem Hinsehen jedoch aus dieser vordergründigen Gemeinsamkeitenriege heraus. Das liegt daran, dass der Schuldner in diesem Falle die Leistung aus einer Gattungsschuld (Saatenmehl der Marke Eichenlaub) versprochen hatte. Zu prüfen war deshalb, ob die Leistungsstörung wegen § 279 a. F. als zu vertretendes Unvermögen zu beurteilen war. Hätte es sich um eine Stückschuld gehandelt (wäre also etwa eine schon verladene Fracht des Saatenmehls verkauft worden), dann würde der Fall keine Veranlassung zur Diskussion über wirtschaftliche oder faktische Unmöglichkeit geben, denn dann läge nach dem Abbrennen der Ladung auf dem Gelände der Mühle naturgesetzliche Unmöglichkeit vor.70 Aus diesem Grunde war es für das RG auch weniger entscheidend, wie die Unmöglichkeit begrifflich erfasst werden musste, sondern vielmehr, wann die Leistungsstörung dazu führte, die Gattungs- der Stückschuld und das Unvermögen der Unmöglichkeit gleichzustellen. Das RG meinte, das sei der Fall, wenn die Beschaffung für den Schuldner mit so außergewöhnlichen Schwierigkeiten verbunden sei, dass diese Schwierigkeiten
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Schon 1899 war ein Mühlenbrandfall zu beurteilen: RGZ 42, S. 114 (Roggenmehl Roland). Er wird im Vergleich zur Bremer Rolandsmühle nur selten in Bezug genommen. Dieser Umstand ist es, der Fischer, in: DB 2001, S. 1923, 1924 bewegt haben mag zu erwägen, ob das grobe Missverhältnis in § 275 II nur bei Gattungsschulden relevant sei.
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nach der Auffassung des Verkehrs der Unmöglichkeit gleichzuachten seien.71 Es war vom Berufungsgericht festgestellt worden, dass das betreffende Saatenmehl am Markt, zu dem der Verkäufer Zugang hatte, nicht mehr zu haben war. Eine Nachfrage auf allen deutschen und außerdeutschen Märkten könne nicht verlangt werden. Das billigt das RG.72 Es schreibt später (im Fall englisches Zinn) noch einmal: das Saatenmehl war „mit allen Anstrengungen und Opfern nicht mehr zu haben“ und stellt den Mühlenbrandfall dem Schulbeispiel der Kupferbarren73 gleich.74 Hiermit war die wirtschaftliche Unmöglichkeit geschaffen, obwohl es doch um etwas anderes ging. Anstatt nur danach zu fragen, ab wann eine Gattungsschuld ebenso wie eine Stückschuld nach der Grundregel über die naturgesetzliche Unmöglichkeit zu beurteilen sei, konnten die außergewöhnlichen Beschaffungsschwierigkeiten zur wirtschaftlichen Unmöglichkeit im oben umrissenen Sinne umetikettiert und § 275 a. F. einer Kontrolle durch an § 242 orientierte Zumutbarkeitskriterien unterworfen werden. Trotzdem war die Entscheidung, Unmöglichkeit zu bejahen, richtig und angemessen. Unmöglich wird die Leistung aus der Gattungsschuld nämlich nicht nur dann, wenn die ganze Gattung untergeht, sondern auch dann, wenn der Schuldner sie sich infolge eines atypischen Beschaffungshindernisses nicht mehr beschaffen kann.75 Genau dieser Übergang von Unvermögen zu Unmöglichkeit hatte hier stattgefunden. Einerseits stand das betreffende Saatenmehl auf dem dem Verkäufer offenstehenden Markt nicht mehr zur Verfügung – er konnte sich auf seinem Markt nicht ersatzweise mit diesem Mehl eindecken und die geschuldete Leistung erbringen. Die auf dem Markt vorhandene Gattung war durch den Brand untergegangen. Andererseits war der Rückkauf der angeblich noch auf der Elbe fahrenden 2.000 Zentner Saatenmehl eine reine Absurdität: der Verkäufer war verpflichtet, dem Gläubiger das Saatenmehl aus der Mühle zu besorgen, er war aber nicht verpflich71
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RGZ 57, S. 116, 118 f.; § 279 dürfe, so das RG, nicht dahin ausgelegt werden, dass nur der Untergang der ganzen Gattung den Schuldner befreie. Vielmehr sei i.S.d. § 279 die Leistung aus der Gattung auch dann unmöglich, wenn die Beschaffung von Gegenständen der fraglichen Gattung eine so schwierige geworden sei, dass sie billigerweise niemandem zugemutet werden könne. RGZ 57, S. 116, 119 f. Wenn ein Verkäufer Kupfer in Barren schuldet, kann ihm, wenn Kupferbarren nicht mehr vorhanden sind, nicht entgegnet werden, er könne Kupferkessel zu Barren einschmelzen. RGZ 88, S. 172, 174. Die beiden Zinnfälle belegen, wie vehement 1916/1918 gegen die wirtschaftliche Unmöglichkeit argumentiert werden konnte. Das RG hielt den Verkäufer trotz blockadebedingtem Marktpreisanstieg um mehr als 100% für leistungspflichtig. Vgl. Rabel, in: Festschrift Bekker, S. 173, 233. Wie hier Susanne Weber-Will, BerndRüdiger Kern, Ein Beitrag zur Dogmatik des § 279 BGB, in: JZ 1981, S. 257, 258; Larenz, Schuldrecht I, 14. Aufl., S. 316. Auch Dauner-Lieb differenziert nach typischen und atypischen Beschaffungs- oder Wiederbeschaffungsproblemen; vgl. AnwKommBGB/Dauner-Lieb, § 275, Rdnr. 17 f.
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tet, es unbekannten Anderen um seines Abkäufers willen wieder abzujagen.76 Richtigerweise ist hier davon auszugehen, dass die in der Nacht vor dem Brand verschifften 2.000 Zentner nicht mehr zu der Gattung gehörten, aus der der Verkäufer zu leisten verpflichtet war. Außerdem hätte selbst ein erfolgreicher Rückkauf von 2.000 Zentnern nicht die Unmöglichkeit hinsichtlich der insgesamt geschuldeten 6.000 Zentner beseitigt, so dass hinsichtlich des verbleibenden Rests – nun aber ohne jeden Zweifel – Unmöglichkeitsrecht eingegriffen hätte. Später hat der BGH in den Unvermögensfällen, in denen die Sache nicht zerstört, sondern noch vorhanden, gleichwohl aber dem Zugriff des Schuldners entzogen ist, formuliert, dass Unmöglichkeit erst vorliege, wenn feststehe, dass der Schuldner Verfügungsmacht über die Sache nicht mehr erlangen und zur Erfüllung des vom Gläubiger geltend gemachten Anspruchs auch nicht mehr auf die Sache einwirken könne.77 Genau hierum – und nicht um die Erfindung der wirtschaftlichen Unmöglichkeit – ging es schon bei der Bremer Rolandsmühle. II. Tiefgarage Im Tiefgaragenfall, bei dem nicht die Frage des Umschlagens einer Gattungs- in eine Stückschuld und bei dem nicht die Erschwerung einer durch Kaufvertrag begründeten Schuldnerpflicht zu diskutieren war, schlägt der BGH erstmals einen in der Literatur anschließend diskutierten und später für das neue Schuldrecht als vorbildlich bezeichneten78 Weg ein. Er entwickelt gegenüber dem Verlangen der Kläger auf Beseitigung des Überbaues aus den §§ 633 II 3 und 251 II BGB a. F. einen „allgemeinen Rechtsgedanken“, nach dem die Herstellung eines an sich gebotenen Rechtszustandes dann rechtsmissbräuchlich sein sollte, wenn der in Anspruch genommene Schuldner diesen Zustand nur unter unverhältnismäßigen, vernünftigerweise nicht zumutbaren Aufwendungen entsprechen könnte.79 Eine weitere Klärung der dogmatischen Struktur dieses allgemeinen Rechtsgedankens stellt der BGH nicht an. Kein Wort verwendet das Gericht auf die Prüfung der Frage, ob hier eventuell echte, faktische oder wirtschaftliche Unmöglichkeit vorgelegen habe. Der Begriff taucht im Urteil noch nicht einmal zur Negativabgrenzung von dem allgemeinen Rechtsgedanken der §§ 633 II 3 und 251 II a. F. auf. Konkrete Erwägungen, warum der Rückbau unzumutbar sein soll, beinhaltet das Urteil nicht. Unklar bleibt 76
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Das Einstehenmüssen des Schuldners bezieht sich auf typische Beschaffungshindernisse, nicht auf – wie hier – atypische; vgl. Weber-Will/Kern, in: JZ 1981, S. 257, 258. S. a. Larenz, Schuldrecht I, S. 316 f.: (subjektive) Unmöglichkeit liegt vor, wenn der Schuldner die Bezugsquellen für die betreffenden Gattungssachen nicht kennt oder es ihm am Zugang zu ihnen fehlt. Picker, der in: JZ 2003, S. 1035, 1036 seinen Ausgangsfall ebenfalls mit einer streng am Willen der Vertragsparteien ausgerichteten Argumentation löst, dürfte hier zum gleichen Ergebnis kommen. BGH, NJW 1999, S. 2034, 2035. Canaris, in: JZ 2001, S. 499, 502. BGHZ 62, S. 388, 391.
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namentlich, wie hoch der Aufwand des Schuldners wäre, unklar bleibt auch, welche Leistungsbilanz insgesamt zugrundeliegt und welches Interesse die Gläubiger an der Vornahme der Leistungshandlung haben – der BGH bezieht sich hier ganz auf die Berufungsinstanz, in der eine Interessenabwägung stattgefunden habe.80 III. Löschungsbewilligung Zunächst stellt der BGH fest, dass für B keine tatsächliche Unmöglichkeit vorliege – D sei ja bereit, die Löschungsbewilligung gegen eine Abfindung zu erteilen.81 Nach dieser Feststellung taucht der Terminus Unmöglichkeit im Urteil richtig nicht wieder auf. Es lag also nach der Ansicht des BGH weder tatsächliche, noch faktische, noch wirtschaftliche Unmöglichkeit vor. Wie schon bei der Tiefgarage und unter Bezug auf diese Entscheidung löst der BGH das durch die eingetretene Aufwandserhöhung gestellte Problem über den „allgemeinen Rechtsgedanken“ der §§ 633 II 3 und 251 II a. F., denen er eine Opfergrenze entnimmt, jenseits derer das Verlangen des Gläubigers wegen Unverhältnismäßigkeit unzumutbar werde. Der BGH stellt bei der Prüfung dieser Frage anders als im Tiefgaragenfall aber die folgende eigene Vergleichsrechnung an.82 Der Verkehrswert des Grundstücks habe 1,50 DM je qm betragen (Leistungsbilanz ohne Leistungserschwerung). D verlange mit seiner Forderung, ohne deren Erfüllung B den Anspruch M’s nicht erfüllen kann, mehr als das 33fache hiervon (Leistungsbilanz mit Leistungserschwerung). Es scheint hier also vorderhand tatsächlich ein Fall vorzuliegen, in dem der Schuldneraufwand und das Gläubigerinteresse in einem Missverhältnis zueinander stehen und es scheint sogar so zu sein, als ob dieses Missverhältnis auch als besonders schwer oder grob anzusehen sei. Dem ist aber in Wirklichkeit mitnichten so. D könne nämlich, so der BGH weiter, an der Konsolidierung seines durch die Auflassungsvormerkung gesicherten Eigentumserwerbs noch nicht einmal ein mit der Leistungsbilanz ohne Leistungserschwerung übereinstimmendes Interesse haben, denn diese Erwerbsaussicht war gegenüber M relativ unwirksam. Mit anderen Worten: der Schuldneraufwand ist keineswegs um das 33fache gestiegen, denn D’s Forderung ist unberechtigt.83 Andererseits müsse berücksichtigt werden, dass 80
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BGHZ 62, S. 388, 390: „Letzteres stellt das angefochtene Urteil unter Berücksichtigung der örtlichen Verhältnisse fest, wobei es auch die beiderseitigen Interessen gegeneinander abwägt.“ BGH, NJW 1988, S. 699, 700. Das tut der BGH auch in einem weiteren Fall; BGH, NJW 1976, S. 235 f.: auf einem Grundstück, das einen Verkehrswert von 600 DM hatte, könnten dem Bekl. nicht Wiederherstellungsmaßnahmen zugemutet werden, die insgesamt 62.400 DM kosten würden. Gestützt wird die Befreiung des Schuldners wegen „krassen Missverhältnisses“ auch hier auf § 251 II a. F. Hinzu kommt, dass, wie aus dem Urteil hervorgeht, M das Grundstück letzten Endes sowieso an D verkaufen wollte, BGH, NJW 1988, S. 699, 700. Auch das spricht dafür,
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B die Situation, in die er nun geraten sei, selbst herbeigeführt habe, indem er das Grundstück an D verkauft und diesem eine Auflassungsvormerkung bewilligt habe. Aus dieser Vergleichsrechnung wird deutlich, was bei der Tiefgarage nur angedeutet worden war. Es geht dem BGH um eine umfängliche Abwägung der beiderseitigen Interessen. Dabei ist die Gläubigerseite mit ihrem Leistungsinteresse nicht von vornherein privilegiert, da auch die Schuldnerinteressen – die hier freilich durch B’s eigenes Handeln abgewertet wurden – in die Abwägung Eingang fanden. Der BGH formuliert, dass bei der Frage der Unverhältnismäßigkeit der Aufwendungen im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung auch andere Umstände als das reine Wertverhältnis zu berücksichtigen seien.84 Eine Einschränkung dahingehend, dass die Schuldnerinteressen dabei zu vernachlässigen oder gar auszublenden seien, ist dem Urteil nicht zu entnehmen. Ein Ergebnis der anzustellenden Rechnung lieferte der BGH als Revisionsgericht jedenfalls nicht. Er entschied den Fall auch nicht, sondern verwies ihn an die Berufungsinstanz zurück. Wer eine Aussage zur Frage, ob ein grobes Missverhältnis i. S. d. § 275 II bestanden habe, gesucht hatte, konnte sie hier nicht finden. IV. Porschedirekthändler Der BGH nimmt in diesem Fall seltsamerweise noch einmal Stellung zur wirtschaftlichen Unmöglichkeit. Das lag zwar nahe, handelt es sich doch um einen Fall, der in ähnlicher Konstellation auch schon das RG beschäftigt hatte.85 Trotzdem erstaunt es, dass der BGH im Jahre 1994 die eigentlich seit Jahrzehnten verworfene wirtschaftliche Unmöglichkeit ganz gleichberechtigt neben den Wegfall der Geschäftsgrundlage stellt. Dabei bemüht sich der BGH, eine Entscheidung, ob die abnorme Preissteigerung über die Unmöglichkeitsregeln oder über die Lehre vom Wegfall der Geschäftsgrundlage gelöst werden müsse, zu vermeiden: Unter dem Gesichtspunkt der wirtschaftlichen Unmöglichkeit oder demjenigen des Wegfalls der Geschäftsgrundlage, so der BGH, könne die Leistungspflicht des Schuldners aber allenfalls dann hinfällig werden, wenn die Beschaffung der Gattungssache so schwierig geworden sei, dass sie ihm nicht mehr zugemutet werden könne.86 Auch im folgenden macht der BGH keinen Unterschied zwischen beiden Instituten, wenn er drei Entscheidungen des RG (Bremer Rolandsmühle, englisches Zinn, Holzschrauben), die tatsächliche und wirtschaftliche Unmöglichkeit betrafen, mit den Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage in Verbindung
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dass das berechtigte Gläubigerinteresse nicht das 33fache des Schuldneraufwandes erreicht hatte. In welcher Höhe D’s Forderung berechtigt wäre, muss nicht beurteilt werden. BGH, NJW 1988, S. 699, 700. RGZ 100, S. 134-138 (Opel-Alleinvertreter); RGZ 101, S. 79-84 (AdlerSportlimousine); RGZ 102, S. 272-276 (Zwickauer Motorwagenwerke). BGH, NJW 1994, S. 515, 516.
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bringt und die Haftung des Verkäufers aus § 279 a. F. dann als beendet ansieht, wenn infolge unvorhersehbarer Umstände so erhebliche Leistungshindernisse eingetreten sind, dass dem Schuldner die Beschaffung nicht mehr zugemutet werden könne.87 Einen Grund für dieses Schwanken zwischen den Instituten, das der These, die Rechtsprechung habe die wirtschaftliche Unmöglichkeit aufgegeben, widerspricht, nennt der BGH nicht. Es findet auch keine schrittweise Prüfung der anerkannten Voraussetzungen für den Wegfall der Geschäftsgrundlage statt. Jedenfalls kommt der BGH zu dem Schluss, dass der Direkthändler sich hätte gegenüber dem Hersteller darum bemühen müssen, seine Leistungsbereitschaft sicherzustellen, was hier nicht geschehen war. Gleichwohl bleibt ungeachtet dieser systematischen Unordnung in der Entscheidung eines völlig unbestreitbar: der Porschedirekthändler ist kein Fall, der sich mit dem Meeresgrundfall auch nur ansatzweise vergleichen ließe. Anders als dort ist es eben nicht so, dass hier „kein vernünftiger Mensch auf die Idee käme, auch nur den Versuch der Überwindung der Leistungserschwerung zu unternehmen“. Im Gegenteil: dem Schuldner war sogar vorzuwerfen, dass er sich als Teil der Händlerstruktur nicht Porsche gegenüber bemüht habe, die Bestellungen seiner Kunden zu realisieren und den preistreibenden Verkauf ab Werk zu verhindern. Nach der oben skizzierten Terminologie im alten Schuldrecht lag keine faktische Unmöglichkeit vor. Infolgedessen konnte der Fall nicht nach § 275 I a. F. gelöst werden. V. Zwischenergebnis Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass von den vier betrachteten Fällen nur die Bremer Rolandsmühle die Rechtsprechung zwang, Unmöglichkeitsrecht anzuwenden. Gerade dieser Fall zeigt aber, welche Ausmaße eine Leistungserschwerung annehmen muss, um die Schwelle zur Unmöglichkeit – dann jedoch vollständig – zu überschreiten. Alle anderen Fälle konnten – und mussten richtigerweise – anders entschieden werden. Auch in dem in der systematischen Behandlung der Institute etwas missglückten Porschedirekthändler wird der Beklagte nicht infolge echter, faktischer oder wirtschaftlicher Unmöglichkeit und noch nicht einmal infolge Wegfalls der Geschäftsgrundlage von der Leistungspflicht befreit. Die beiden verbleibenden Fälle, in denen der BGH den Schuldner für von der Leistungspflicht befreit gehalten hat, wurden ebenfalls ausdrücklich weder nach Unmöglichkeitsrecht, noch mit dem Wegfall der Geschäftsgrundlage gelöst. In dem einzigen Fall, in dem der BGH eine eigene Vergleichsrechnung angestellt hat, um statt Unmöglichkeit oder Wegfall der Geschäftsgrundlage den allgemeinen Rechtsgedanken der §§ 633 II 3 und 251 II a. F. anzuwenden (Löschungsbewilligung), hat er die Schuldnerinteressen in die Rechnung einbezogen – einbeziehen müssen.
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E. Abgrenzungsprobleme im neuen Leistungsstörungsrecht Die durch das SMG geschaffenen Abgrenzungsprobleme sind in erster Linie für die in solchen und ähnlichen Fällen gutachtenden Rechtsanwender sehr misslich.88 Diese müssen sich nämlich für den Aufbau ihrer Gutachten über das Verhältnis, in dem die §§ 275 I, 275 II und 313 zueinander stehen, im Klaren sein. Die folgenden Kombinationsmöglichkeiten kommen in Betracht. I. Mögliche Varianten Entweder die Anwendungsbereiche überschneiden sich nicht. Träfe das zu, wäre Raum für die Überlegung, § 313 dürfe angewendet werden, wenn von der Rechtsfolgenseite her Vertragsanpassung möglich sei. Das vertreten Ernst,89 Emmerich,90 und P. Huber/Faust, die argumentieren, dass beide Vorschriften unterschiedliche Voraussetzungen hätten und frei miteinander konkurrieren müssten.91 Diese Überlegung gälte auch dann, wenn zwar tatbestandliche Überschneidung und damit Konkurrenz, aber kein Spezialitätsverhältnis bestünde. Indessen ist auch letzteres vorstellbar. Ein Spezialitätsverhältnis bejaht z. B. Schlüter mit den Worten, § 313 sei lex specialis zu § 275 II, da § 275 für alle Schuldverhältnisse und § 313 nur für Austauschschuldverhältnisse gelte.92 Nach dieser Ansicht wäre also § 313 zuerst zu prüfen und ein Wahlrecht zu verneinen. Die entgegengesetzte Ansicht vertritt z. B. Rösler mit den Worten, § 275 I und II bestimmten die Grenzen des Primats des Erfüllungsanspruchs und gingen demzu-
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Die Tatsache, dass man zur nicht geringen Verwunderung der Studenten darüber rätseln müsse, ob § 313 vor oder nach § 275 II geprüft werden müsse, belegt den mangelnden Klärungsgewinn – Picker, in: JZ 2003, S. 1035, 1045. MünchKomm-BGB/Ernst, § 275, Rdnr. 23: der Schuldner habe infolge der Aufwandserhöhung ein Wahlrecht, ob er den Vertrag erhalten oder sich auf ein Leistungsverweigerungsrecht berufen wolle. Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen, 5. Aufl., S. 417: § 275 II und III und § 313 seien gleichberechtigt nebeneinander anwendbar, so dass der Schuldner die Wahl habe, nach welcher Vorschrift er bei einer übermäßigen Leistungserschwerung vorgehen wolle oder nicht. Peter Huber, Florian Faust, Schuldrechtsmodernisierung, München 2002, S. 55: Die Störung der Geschäftsgrundlage könne zugleich zu einem groben Missverhältnis nach § 275 II führen, es sei unbillig, den Schuldner deshalb nur auf die Leistungsverweigerung zu verweisen (mit Verlust der Gegenleistung); umgekehrt könne der Schuldner ein Leistungsverweigerungsrecht nach § 275 II nicht dadurch einbüßen, dass er die betreffenden Umstände erfolgreich zur Geschäftsgrundlage machen konnte und auf § 313 zurückgreifen könnte. Andreas Schlüter, Leistungsbefreiung bei Leistungserschwerung. Zur Konkurrenz der Befreiungstatbestände im neuen Schuldrecht, in: ZGS 2003, S. 346-354, 351.
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folge § 313 vor, welcher auf den Primat der Leistungsanpassung gerichtet sei.93 Was sollen Gutachter und Richter mit einer so disparaten Lage anfangen? Nur weniges wird konsensfähig sein: Methodisch dürfte es bedenklich sein, im Gutachten eine nachträgliche Korrektur des gestörten Schuldverhältnisses über § 313 zu versuchen, nachdem das Bestehen eines Leistungsverweigerungsrechts nach § 275 II bejaht worden ist. Positiv festgestellte Unmöglichkeit kann nicht gleichzeitig Störung der Geschäftsgrundlage sein. Das wird für die wirkliche Unmöglichkeit niemand bestreiten. Denn das Leistungsverweigerungsrecht gehört – anders als die Vertragsanpassung bzw. der Rücktritt oder die Kündigung – eben zur Kategorie der Nichterfüllung. Dem entspricht es dann ja auch vollständig, dass der Gläubiger, sollte der Schuldner nach § 275 frei geworden sein, im gegenseitigen Vertrag die bereits erbrachte Gegenleistung nach § 812 I 1, 1. Alt. zurückverlangen kann, da seine Gegenleistungspflicht nach § 323 I ebenfalls entfallen ist. Wie in einer solchen Situation über die Vertragsanpassung bzw. den Rücktritt oder die Kündigung (immerhin Gestaltungsrechte des Schuldners, die eine Leistungsverpflichtung voraussetzen) diskutiert werden kann, ist eine Frage, die vielleicht den Praktiker, der seine Entscheidung bereits gefällt hat und nach einem normativen Anker für diese Entscheidung sucht, kalt lässt, für den Gutachter aber eine nicht zu lösende Zwickmühle darstellt. Schlüters’ gegenteilige Theorie leidet an einer grundlegenden dogmatischen Schwäche. Den Vorrang von § 313 in Prüfung und Praxis begründet Schlüter damit, dass der Unterschied zwischen beiden Regelungsmaterien trotz – oder besser wegen – weitgehender tatbestandlicher Deckungsgleichheit in den angeordneten Rechtsfolgen bestehe. Werde nun der Grundsatz pacta sunt servanda als beherrschendes Prinzip des Schuldrechts betrachtet, verdiene immer der Lösungsweg des § 313 den Vorrang.94 Diese rechtsfolgenorientierte Argumentation ist aber bei tatbestandlichen Konkurrenzproblemen unzulässig. Sie liefe darauf hinaus, dem Schuldner ein Gestaltungsrecht zu verweigern, für das eventuell die Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind, was nichts anderes darstellt, als die Frage der Anspruchsberechtigung von deren gesetzlichen Voraussetzungen zu lösen. Und nicht nur methodisch bedenklich, sondern schlicht falsch dürfte es schließlich sein, ein Leistungsverweigerungsrecht aus § 275 II zu prüfen, nachdem dem Schuldner Freiwerden von der Leistungspflicht nach § 275 I attestiert worden ist. Auch hier zeigt sich letztlich wieder nur eines: tertium non datur. So bleibt nichts anderes als die Vermutung, dass die Anwendungsbereiche von § 275 II und § 313 einander tatsächlich nicht überschneiden – dass eben deswegen aber auch keine Mehrheit von Schuldnerrechten besteht. Ein und derselbe Fall kann nicht gleichzeitig den Tatbestand beider Vorschriften erfüllen, kann nicht gleichzeitig Unmöglichkeit oder gestörte Geschäftsgrundlage sein. Ein Primat der
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Rösler, in: JuS 2004, S. 1058, 1060. So Schlüter, in: ZGS 2003, S. 346, 351: Immer dort, wo trotz einer Leistungsstörung eine Aufrechterhaltung des Schuldverhältnisses möglich sei, sei dem Schuldner die Berufung auf die Befreiung von der Leistungspflicht nach § 275 I und II versperrt.
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Prüfung jedoch kann keine der beiden Normen aus sich heraus beanspruchen. Es gibt m. E. nur einen einzigen Ausweg aus diesem Zirkel. II. Echte Unmöglichkeit – Leistungserschwerung Die Begründung zum SMG versucht eine Abgrenzung zwischen Unmöglichkeit und Leistungserschwerung, indem sie herausstellt, dass § 275 I, wie sich aus Absatz 2 ergebe, nur die objektive und subjektive „wirkliche“ Unmöglichkeit, nicht dagegen die faktische Unmöglichkeit meine.95 Wie diese Abgrenzung zwischen echter und faktischer Unmöglichkeit vonstatten gehen soll, ist dogmatisch ungeklärt. Sondern wir alle Fälle der wirtschaftlichen Unmöglichkeit aus der faktischen aus – diese können ja von vornherein nicht in das Abgrenzungsgebiet zwischen § 275 I und II hineingeraten –, dann bleiben zwei Lehrbuchfälle übrig: der Ring im Meer und der Schatz unter dem Hochhaus. Es ist ein Offenbarungseid, wenn Canaris argumentiert, § 275 II erfasse alle die Fälle, in denen rechtlich zweifelhaft sei, ob sie § 275 I zuzurechnen seien.96 Bei allem Respekt: aber so darf bei der Frage, ob der Schuldner von seiner Leitungspflicht ex lege frei wird oder (nur) ein in seiner Hand liegendes Leistungsverweigerungsrecht erhält, nicht argumentiert werden. Es mag ja sein, dass in diesen beiden Fällen mit der uns Juristen so werten Spitzfindigkeit argumentiert werden kann, die Leistung sei möglich. Niemand aber hat in den vergangenen 100 Jahren seit Inkrafttreten des BGB diese beiden Fälle nicht dem § 275 a. F. zugeschlagen, wenn der Schuldner sich nicht seiner persönlichen Ressourcen halber genau hierzu verpflichtet hatte, und das war zweifelsfrei richtig – genau so wie es richtig war, Unmöglichkeit zu verneinen, wenn der Schuldner zur Erbringung der Leistung in der Lage war. Jeder Gläubigeranwalt hätte sich schon vor dem Amtsgericht lächerlich gemacht, wenn er in einem dieser Lehrbuchfälle (die ja nie praktisch vorkamen) gegen einen pensionierten Lehrer beantragt hätte, diesen zu verurteilen, den Ring zu ertauchen. War es also jemals wirklich rechtlich zweifelhaft, wohin der Meeresgrundfall gehört? Aber selbst wenn es, wie ich bestreite, Fälle geben sollte, in denen wirklich einmal zweifelhaft wäre, ob echte Unmöglichkeit vorliege: was ist das für eine Norm, deren Tatbestand nach jeder Seite (zur Geschäftsgrundlage sogleich) offen ist? Ein Zweifelstatbestand – ohne Zweifel. Der Tatbestand des § 275 II ist daher nicht positiv von § 275 I abgrenzbar. Canaris’ Definitionsversuch muss nur ein klein wenig verdeutlicht werden: § 275 II erfasse Fälle, von denen wir angeblich (!) nicht wissen, wo wir sie ablegen sollen. Solche Tatbestände sind das Papier nicht wert, auf dem sie niedergeschrieben werden. Und schließlich: was soll der
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BT-Drs. 14/6040, S. 129. Tatsächliche und rechtliche Unmöglichkeit werden gleichbehandelt. Canaris, in: JZ 2001, S. 499, 501.
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Schuldner in solchen pathologischen Situationen mit einem Einrederecht anfangen?97 III. Faktische Unmöglichkeit – Wegfall/Fehlen der Geschäftsgrundlage 1. Canaris meint in Übereinstimmung mit der Begründung zum SMG, die Abgrenzung zwischen den beiden Arten der Leistungserschwerung sei denkbar einfach. § 275 II erfasse die Fälle der bisher so genannten faktischen Unmöglichkeit, dagegen nicht die Fälle der bisher so genannten wirtschaftlichen Unmöglichkeit. Diese unterliege den Regeln über den Wegfall der Geschäftsgrundlage.98 Das funktioniere, indem § 275 II bei der Bestimmung des Missverhältnisses einseitig nur auf das Leistungsinteresse des Gläubigers abstelle, während § 313 daran orientiert sei, ob beim Schuldner eine diesem noch zumutbare Opfergrenze überschritten sei99 und das Leistungsinteresse des Gläubigers ausgeblendet bleibe. § 275 II sei im übrigen keine grundlegende Neuerung, sondern entspreche dem Rechtsgedanken der §§ 251 II, 633 II 3 a. F., bei denen es schon nach bisheriger h. L. und Rechtsprechung des BGH auf das Gläubigerinteresse angekommen sei.100 Die Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung zum SMG argumentiert in dieselbe Richtung.101 Dort ist zu lesen, dass § 275 II 1 die beiden Kriterien nenne, die bei jeder Verhältnismäßigkeitsprüfung von ausschlaggebender Bedeutung seien. Diese beiden Kriterien seien einerseits die Bezugsgröße, die hier im Interesse des Gläubigers an der Leistung bestehe und andererseits der Grad des Missverhältnisses, das grob sein müsse und ein besonders krasses, nach Treu und Glauben untragbares Ausmaß erreichen müsse.102 Dieselbe Quelle nennt zur Erläuterung des Anwendungsbereiches von § 275 II ausdrücklich und ausschließlich den Meeresgrundfall.103 Canaris geht bei der Auflistung von Fällen, die nach § 275 II zu lösen sein sollen, einen Schritt weiter. Er zählt, seiner Idee vom allgemeinen Rechtsgedanken der §§ 251 II, 633 II 3 a. F. als Vorlage für § 275 II 1 treubleibend, auch den Tiefgaragen- und den Löschungsbewilligungsfall des BGH mit zu den Fällen, die § 275 II unterfielen.104 Alle zusammen nennt er Extremfälle. Auf diese sei § 275 II zugeschnitten.
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Fischer, in: DB 2001, S. 1923, 1925: es mache wenig Sinn, dem Schuldner in solchen Fällen eine Einrede zu gewähren, weil er vernünftigerweise niemals leisten wolle. Canaris, in: JZ 2001, S. 499, 501. Dass § 275 II die faktische Unmöglichkeit erfasse, meint auch Mattheus, in: Schwab/Witt, Einführung in das neue Schuldrecht, S. 67, 94. Canaris, in: JZ 2001, S. 499, 501; zustimmend P. Huber/Faust, Schuldrechtsmodernisierung, S. 55. Ebenso Rösler, in: JuS 2004, S. 1058, 1060 f. Canaris, in: JZ 2001, S. 499, 502. BT-Drs. 14/6040, S. 130. BT-Drs. 14/6040, S. 130. BT-Drs. 14/6040, S. 129. Canaris, in: JZ 2001, S. 499, 502.
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v. Wilmowsky dagegen nennt als Beispielsfall für § 275 II nur den Fall der Bremer Rolandsmühle.105 Die faktische Unmöglichkeit dagegen und die Lehrbuchfälle dagegen will er (m. E. richtig) § 275 I zuschlagen.106 Wir sehen erneut, dass hier vollständige Verwirrung herrscht. 2. In der Tat ist das Problem so einfach, wie Canaris und die Begründung zum SMG vortragen, nicht zu lösen. a) Das beginnt schon damit, dass die gesetzgeberische Absicht, § 275 II erfasse nur die Fälle faktischer Unmöglichkeit, im Wortlaut des Gesetzes keinen Ausdruck gefunden hat,107 was bedeutet, dass das Gesetz allen Auslegungsmethoden offensteht, von denen der Wille des Gesetzgebers jedenfalls keinen systematischen Vorrang genießt. Das Gesetz selbst enthält auch keinen Anhalt, wie das Konkurrenzproblem zwischen § 275 II und § 313 zu behandeln sei. b) Weiter ist zu konstatieren, dass sowohl die Begründung zum SMG als auch Canaris verschweigen, wie die Gesamtgleichung bei § 275 II einerseits und bei § 313 andererseits auszusehen hat. Es kann jedenfalls nicht befriedigen, wenn die Gesetzesbegründung sich auf die Nennung von zwei Kriterien beschränkt und damit meint, alles wesentliche gesagt zu haben. Leistungsinteresse des Gläubigers und grobes Missverhältnis allein bilden eine unvollständige Relation. Sowohl § 275 II als auch § 313 regeln Fälle der bloßen Leistungserschwerung, die durch einen gesteigerten wirtschaftlichen Aufwand des Schuldners überwunden werden kann. Diese, die Relation auch nach dem Wortlaut von § 275 II vervollständigende Variable der anzustellenden Vergleichsrechnung108 ist also bei beiden Vorschriften gleich. Die Ebene der Errechnung des Schuldneraufwandes kann dabei richtigerweise auch bei § 275 II nicht verlassen werden: § 275 II setzt ja beides (Schuldneraufwand und Gläubigerinteresse) ausdrücklich in Bezug zueinander.109 Richtig ist es daher, die Kosten, die der Schuldner aufwenden müsste, um die Leistung zu erbringen, mit dem Nutzen, den die Leistung für den Gläubiger hätte, zu vergleichen.110 Damit ist aber erst die Hälfte des Vergleichsweges zurückgelegt. 105 106 107
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v. Wilmowsky, in: JuS 2002, Beil. zu Heft 1, S. 8, Fn. 16. v. Wilmowsky, in: JuS 2002, Beil. zu Heft 1, S. 7. AnwKomm-BGB/Dauner-Lieb, § 275, Rdnr. 14; Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen, 5. Aufl., S. 38 m.w.N. P. Huber/Faust, Schuldrechtsmodernisierung, S. 31: „Erstens sind der zur Leistung nötige Aufwand und das Leistungsinteresse des Gläubigers zu bestimmen. Zweitens ist zu entscheiden, ob beide in einem groben Missverhältnis stehen.“ Das kann niemand bestreiten, der Wortlaut ist eindeutig. Wie hier Mattheus, in: Schwab/Witt, Einführung in das neue Schuldrecht, S. 67, 95. Kritisch gegenüber Canaris Zimmer, in: NJW 2002, S. 1, 3 f.; s. a. Fischer, in: DB 2001, S. 1923, 1924. v. Wilmowsky, in: JuS 2002, Beil. zu Heft 1, S. 3, 8.
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Wenn das Gläubigerinteresse mit dem Schuldneraufwand in Beziehung gesetzt werden soll, so wird sich ein Missverhältnis nur dann errechnen lassen, wenn die von Gläubiger und Schuldner ohne die Leistungserschwerung zugrundegelegte Leistungsbilanz des Schuldverhältnisses als Vergleichsgröße herangezogen wird. Wie anders sollte sich die Frage klären lassen, ob Schuldneraufwand und Gläubigerinteresse nach Auftreten der Leistungserschwerung in einem Missverhältnis stehen? Objektiv ausgeglichene Leistungsbilanzen wird es in ungestörten Schuldverhältnissen sicher nicht öfter geben als unausgeglichene Leistungsbilanzen. Und immer ist zu fragen, warum die Leistungsbilanz so und nicht anders ausfiel. Dies aber – die Leistungsbilanz des ungestörten Schuldverhältnisses – ist ohne Berücksichtigung der Schuldnerinteressen nicht beurteilbar.111 Dem lässt sich auch nicht dadurch begegnen, dass bei der Aufwandsbestimmung persönliche Belange und eigene Interessen des Schuldners, insbesondere eine individuelle Zumutbarkeit außer Betracht bleiben sollen,112 weil schon hierbei eben nicht ohne Wertungen auszukommen ist:113 Was für einen Schuldner eine tragbare Belastung darstellen mag, kann den anderen ruinieren und was ein spezialisierter Schuldner schultern kann, kann einen Laien vollständig überfordern. Richtig stellen deshalb P. Huber/Faust fest, dass schon bei der Bestimmung des Schuldneraufwandes nach Eintreten der Leistungserschwerung sogar immaterielle Schuldnerinteressen relevant seien. Zwar könne der Schuldner das Leistungshindernis meistens durch den Einsatz von Geld überwinden, denkbar sei es aber auch, dass der Schuldner als Gegenleistung für einen zu beschaffenden Gegenstand eine Sache aufgeben müsse, mit der ihn ein Affektionsinteresse verbinde.114 Dies verschweigen Canaris und die Begründung zum SMG vollständig. Und Emmerich kommt zu dem richtigen Ergebnis, dass letztlich alles auf eine Abwägung zwischen dem Gläubigerinteresse und den dem Schuldner nach Treu und Glauben zumutbaren Aufwendungen und Anstrengungen hinauslaufe, womit genau der frühere Rechtszustand wiederhergestellt sei – nur dass (und auch insoweit ist Emmerich zuzustimmen) solche Erwägungen früher meistens unter dem Stichwort Wegfall der Geschäftsgrundlage bzw. allgemeiner Rechtsgedanke der
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Ähnlich AnwKomm-BGB/Dauner-Lieb, § 275, Rdnr. 8; Fischer, in: DB 2001, S. 1923, 1924. Diese logische Verknüpfung hat auch das RG gesehen. Im Fall AdlerSportlimousine meinte es, die Zumutbarkeitsfrage sei nicht allein vom Standpunkt der Verhältnisse und Interessen der leistungspflichtigen Partei aus zu erledigen. Eine angemessene Entscheidung lasse sich erst treffen, wenn auch die Interessen der anderen Partei berücksichtigt, die beiderseitigen Verhältnisse im ganzen ins Auge gefasst würden; vgl. RGZ 101, S. 79, 83. So aber Mattheus, in: Schwab/Witt, Einführung in das neue Schuldrecht, S. 67, 95. Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen, 5. Aufl., S. 42. P. Huber/Faust, Schuldrechtsmodernisierung, S. 33. Auch das Rechenbeispiel zum schon erbrachten und anderweitig nicht mehr nutzbaren Aufwand des Schuldners, P. Huber/Faust, Schuldrechtsmodernisierung, S. 35 f. zeigt, dass richtigerweise die Schuldnerinteressen in die Abwägung einfließen.
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§§ 251 II, 633 II 3 a. F. angestellt worden seien115 und, so ist hinzuzufügen, auch künftig richtig dort anzustellen sein werden. Und – nur der Vollständigkeit halber sei es hinzugefügt – das grobe Missverhältnis ist ein scheuer Vogel. Picker hat mit bitterer Ironie die zahlreichen Versuche Revue passieren lassen, mit denen eine Quantifizierung des groben Missverhältnisses bis Ende 2003 unternommen worden ist und zu Recht konstatiert, dass dieser Jahrmarkt an dezisionistischen Quantifizierungsprogrammen rechtsdogmatisch das Komische streife.116 Bislang hat keiner dieser Versuche das Problem wirklich überzeugend in den Griff bekommen. Nachzutragen wäre für 2004 noch, dass auch Rösler nur eine weitere ausfüllungsbedürftige Leerformel verwendet.117 c) Damit ist noch nicht einmal der „innere Antagonismus“118 von § 275 II berührt – die widersprüchliche Berücksichtigung des Vertretenmüssens des Schuldners in § 275 II 2, die die Beteuerungen, auf die Schuldnerinteressen komme es bei § 275 II 1 nicht an, Lügen straft. Erstens wird festgehalten werden müssen, dass es unlogisch ist, bei der Feststellung des groben Missverhältnisses auf das Vertretenmüssen des Schuldners (hinsichtlich des Eintritts der Leistungserschwerung) zu rekurrieren. Richtig ist vielmehr, dass ein Missverhältnis – und auch ein grobes – entweder vorliegt oder nicht. Wie eine solche Relation durch das Vertretenmüssen des Schuldners, das nach dem Gesetzeswortlaut in die Rechengröße Schuldneraufwand eingehen soll, tangiert werden könnte, ist nicht einsichtig.119 Zurückzuweisen ist jedenfalls die Überlegung v. Wilmowskys, dass das Missverhältnis bei Vertretenmüssen des Schuldners eben noch gröber ausfallen müsse als bei Nichtvertretenmüssen.120 Hierfür enthält das Gesetz nicht den geringsten Anhalt: gefordert wird ja nur ein grobes Missverhältnis und gerade keine Abstufungen der Grobheit. Damit erweist sich auch hier die Beobachtung Emmerichs als richtig, wonach es eben doch auf die Zumutbarkeit für den Schuldner ankommt. Sodann ist zweitens zu konstatieren, dass die Lösung des Gesetzes für den Gläubiger strenggenommen kontraproduktiv ist. Der Gläubiger hat ein rechtlich anerkennenswertes Interesse daran, dass der Schuldner in den Fällen, in denen er die Leistungserschwerung nicht zu vertreten hat, einen höheren Aufwand treibt als bei Vertretenmüssen. Das liegt schlicht daran, dass der Gläubiger im letzteren Fall 115 116 117
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Emmerich, Das Recht der Leistungsstörungen, 5. Aufl., S. 42. Picker, in: JZ 2003, S. 1035, 1037 f.; vgl. deshalb dort. Er spricht davon, dass die Unzumutbarkeit (sic!) bei Vorliegen einer krassen ökonomischen Ineffizienz des Leistungsaustausches zu bejahen sei, wenn also die Kosten der Leistungserbringung den Leistungsnutzen bei weitem überstiegen. Canaris, in: JZ 2001, S. 499, 503. Es handelt sich auch hier um die methodologische Frage, ob eine objektiv zu bestimmende Grenze (grobes Missverhältnis) durch subjektive Kriterien korrigiert, ergänzt oder ausgefüllt werden dürfen. Richtiger wäre es auch deshalb gewesen, einzugestehen, dass es um eine Zumutbarkeitsgrenze geht. v. Wilmowsky, in: JuS 2002, Beil. zu Heft 1, S. 3, 8.
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einen Schadensersatzanspruch erhält. Ist nun die Grenze bei Nichtvertretenmüssen herabgesetzt (muss also das Missverhältnis nur grob und nicht gröber sein), so wird dem Gläubiger zugemutet, ganz leer auszugehen. Dies ist zwar grundsätzlich richtig, nur ist es nicht einzusehen, dass im entgegengesetzten, durch den Schadensersatzanspruch abgesicherten Fall dem Schuldner ein höherer Aufwand abverlangt wird. Der Gläubiger ist im für ihn bequemeren Fall unnötigerweise doppelt gesichert.121 Hieran zeigt sich übrigens, dass die Abkoppelung von § 275 I vom Vertretenmüssen, die vornehmen muss, wer der Lehre vom einheitlichen Forderungsrecht nicht folgt, denkfehlerhaft ist. Dieser Denkfehler wirkt sich jetzt bei § 275 II in einer Richtung aus, die dem billigen Interesse des Gläubigers nicht dienen kann. d) Sodann ist zu konstatieren, dass die Rechtsprechung in den einschlägigen Fällen, und zwar insbesondere im Fall Löschungsbewilligung eben nicht so vorgegangen ist, wie Canaris es behauptet. Die dort angestellte Vergleichsrechnung hat die Schuldnerinteressen natürlich berücksichtigt, von einer einseitigen Bezugnahme auf das Gläubigerinteresse kann in diesem Fall keine Rede sein. Canaris versucht die These, es handele sich in diesem Fall um einen Extremfall (der der faktischen Unmöglichkeit zuzurechnen und dem Meeresgrundfall an die Seite zu stellen wäre), damit zu retten, dass er schreibt, zwar gehe aus der Entscheidung nicht hervor, wie D seine Ablöseforderung berechnet hatte, doch liege es denkbar nahe, dass diese völlig überzogen war und es sich also auch hier um einen Extremfall handele.122 Begründen kann er das nicht – das Urteil ist aus den bereits oben gegebenen Gründen für solch eine nebulöse Schlussfolgerung nicht geeignet. Noch viel weniger als die Löschungsbewilligung eignet sich der Tiefgaragenfall dazu, das von der Begründung zum SMG und von Canaris präferierte Rechenmodell rechtstatsächlich abzustützen. Das Urteil enthält nicht die geringste Aussage, aus der sich ableiten ließe, dass der BGH die Vergleichsrechnung hier allein am Gläubigerinteresse orientiert habe und Schuldnerinteressen ausgeblendet habe. Gleichwohl meint Canaris, es sei „offenkundig“, dass es sich um einen Extremfall, also um faktische Unmöglichkeit handele.123 In der Tat liegt nichts weniger als Offenkundigkeit vor. Nur weil der Fall von seiner Sachverhaltsgestaltung her entfernt an das Schulbeispiel des Schatzes unter dem Hochhaus erinnert, geben die Urteilsgründe des BGH eine Gleichstellung mit dem Meeresgrundfall nicht her! Schließlich ist beim Porschedirekthändler ein weiteres Argument ist zu beachten: Infolge der Leistungserschwerung stieg auch das Gläubigerinteresse. Der Käufer hätte, wäre der Händler in der Lage gewesen, den Porsche zu liefern, eine Sache erhalten, deren allgemein vom Verkehr unterstellter Wert durch die veränderte Absatzstrategie des Herstellers höher gewesen ist als ohne diese Erschwe121
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P. Huber/Faust, die das Problem sehen, beschränken sich darauf, im Anschluss an den Problemaufriss zu erklären, dass die Sicherung der Vermögensinteressen des Gläubigers nicht die Intention des Gesetzgebers gewesen sei; vgl. dies., Schuldrechtsmodernisierung, S. 49. Canaris, in: JZ 2001, S. 499, 502. Canaris, in: JZ 2001, S. 499, 502. Woher er seine Gewissheit nimmt, bleibt dunkel.
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rung. Um auch in einem solchen Fall noch eine Verwerfung zwischen den beiden Rechnungsgrößen feststellen zu können, wäre eine weitere disproportionale Erhöhung des Schuldneraufwandes erforderlich, über deren Ausmaß wieder nur gerätselt werden kann. Aber auch in anderen Entscheidungen zu § 633 II 3 a. F. ist das einseitige Abstellen auf das Gläubigerinteresse nicht zu finden. Schon seit 1972 wollte der BGH die Feststellung der Unverhältnismäßigkeit nach § 633 II 3 ausdrücklich auf eine Abwägung aller Umstände stützen.124 1995 sollten in diese Gesamtabwägung auch die Schwere des Vertragsverstoßes, das Verschulden des Schuldners, die Tatsache, dass der Gläubiger die geschuldete Nachbesserung lange Zeit verweigert hatte und der Umstand, dass der auf den Schuldner zukommende Kostenaufwand dem allgemeinen Preisauftrieb bei Bauleistungen unterliege – alles ohne Zweifel Schuldnerinteressen – einbezogen werden.125 Es kommt nach der bisherigen Rechtsprechung eben nicht allein auf das Gläubigerinteresse an. Auch das hat den Gesetzgeber nicht angefochten. e) So ist als weiteres Zwischenergebnis festzuhalten, dass weder der Mühlenbrand-, noch der Tiefgaragen-, noch der Löschungsbewilligungs-, noch auch der Porschedirekthändlerfall ein Fall des § 275 II ist. Der Mühlenbrandfall unterfällt dem Regelungskomplex Nichterfüllung, da tatsächliche Unmöglichkeit der Leistungserbringung vorgelegen hat. v. Wilmowsky, der diesen Fall bei § 275 II einordnet, kann hierzu nur gelangen, indem er den Sachverhalt leicht – aber entscheidend – abwandelt. Er schreibt: das RG habe befunden, dass keine Unmöglichkeit vorgelegen habe, weil noch Mehl aus der Produktion des Mühlenbetriebes auf dem Markt zu erhalten gewesen sei.126 Dass genau das eben nach den Feststellungen nicht der Fall war, macht den Unterschied aus. Auf dem Markt war kein Mehl aus dieser Produktion mehr vorhanden. Die fraglichen 2.000 Zentner auf der Elbe waren durch Verkauf bereits vom Markt gegangen! In allen Fällen, in dem die geschuldete Ware auf dem Markt noch vorhanden war – und habe sie sich selbst um ein Vielfaches verteuert – verneinte schon das RG demgegenüber richtigerweise die Unmöglichkeit.127 Und damit zeigt sich besonders deutlich, dass die Bremer Rolandsmühle eben genau ein Fall des § 275 I ist. Alle übrigen hier erörterten Fälle demonstrieren das Gegenteil: das bloße Faktum, dass über den Rückbau der Tiefgarage, das Beibringen der Löschungsbewilligung und das Ankaufen des Porsche 959 über mehrere Instanzen gestritten worden ist, lässt erkennen, dass es sich eben nicht um angebliche Extremfälle, in denen kein vernünftiger Mensch auf die Idee käme, den Versuch einer Leistungserbringung zu machen, gehandelt haben kann. In allen diesen Fällen wurde nichts 124 125
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BGHZ 59, S. 365-369, 367. BGH, NJW 1995, S. 1836, 1837. Diese Gesamtabwägung aller Umstände fordert auch BGH, NJW 1996, S. 3269, 3270. v. Wilmowsky, in: JuS 2002, Beil. zu Heft 1, S. 3, 8, Fn. 16. RGZ 88, S. 172-178 (englisches Zinn), RGZ 92, S. 322-325 (Zinntuben).
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menschenunmögliches verlangt und die Rechtsprechung hat differenziert hierauf reagiert. Alle diese Fälle sind daher Fälle, die, wenn überhaupt, dann nach § 313 beurteilt werden müssen. Und wieder zeigt sich: tertium non datur. f) Im Gegenzug erschiene es auch bei § 313 logisch unmöglich, allein auf die dem Schuldner zumutbare Opfergrenze abzustellen, ohne dass zur Beurteilung der Normalverlaufsbilanz das Leistungsinteresse des Gläubigers betrachtet wird. Der mit § 275 II unternommene Versuch, zwischen Schuldneraufwand und Gläubigerinteresse ein in jedem Fall mit den gleichen Messinstrumenten anhand objektiver Kriterien ermittelbares Verhältnis zu errechnen, das von subjektiven Elementen auf Schuldnerseite bereinigt sei, muss als gescheitert angesehen werden. Deshalb sind auch die Vorschläge, ab wann (unter Berücksichtigung von § 275 II 2) ein Missverhältnis als grob anzusehen sei,128 als dem Problem unangemessen anzusehen.
F. Schluss Die Betrachtung hat gezeigt, dass § 275 II eine Norm mit einem virtuellen, nur in der Vorstellung des Gesetzgebers existierenden Anwendungsbereich ist. Sie ist geeignet, einen imaginierten Lehrbuchfall zu lösen. Der dazu ersonnene Tatbestand des § 275 II ist weder von § 275 I noch von § 313 positiv abgrenzbar. Das tatbestandliche Instrumentarium, mit dem ein Abgrenzungsversuch zu § 313 unternommen werden könnte, unterscheidet sich entgegen der Beteuerungen der Urheber der Norm nicht von dem bei § 313 anzuwendenden Instrumentarium. In beiden Fällen geht es um eine Gesamtabwägung aller Umstände des Einzelfalls. Eine einseitige Orientierung entweder am Leistungsinteresse des Gläubigers oder an der Zumutbarkeit für den Schuldner ist nicht möglich – eines ist ohne das andere nicht beurteilbar. Angeblich soll die Norm Zweifelsfragen lösen, ist dazu aber nicht einmal ansatzweise in der Lage. Statt dessen gebiert sie neue Probleme, die sich im Gutachten als hinderlich erweisen und die nur zu lösen sind, wenn angenommen wird, dass § 275 II keinen Anwendungsbereich hat. Im Gutachten und auch im Urteil ist § 275 II daher weder vor noch nach § 313, sondern schlicht und ergreifend gar nicht zu prüfen. § 275 II zeigt, dass es nicht zielführend sein kann, zwischen die Regelungskomplexe Nichterfüllung einerseits und (modifizierte) Erfüllung andererseits eine Zwischengröße einzuschieben, die weder zur Nichterfüllung noch zur Erfüllung hin erfolgreich abgegrenzt werden kann: tertium non datur. So erweist sich, dass wir es bei § 275 II mit einem Fall symbolischer Gesetzgebung zu tun haben. Der Gesetzgeber des Jahres 2001 kann stolz darauf sein, den Versuch unternommen zu haben, den Meeresgrundfall zu lösen – welch ein Meilenstein der deutschen Privatrechtsgeschichte.
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Vgl. vor allem P. Huber/Faust, Schuldrechtsmodernisierung, S. 50.
Medizinrecht
Pränatale Diagnostik und Präimplantationsdiagnostik: Gibt es ein Recht auf informierte Fortpflanzung? Erwin Bernat
I. Vorbemerkung Die Diskussion der Frage, ob – und gegebenenfalls in welchem Ausmaß – der Einsatz der pränatalen Diagnostik (PND) und der Präimplantationsdiagnostik (PID) legitim ist, verläuft in Österreich nicht anders als in Deutschland: Auch in Österreich kann man sich schon über Grundsätzliches nicht einigen; und ein Konsens auf der Ebene der Rechtspolitik steht in weiter Ferne. Dieser Befund ist freilich alles andere als überraschend. Denn im Kern ist die gegenwärtige Debatte nichts anderes als eine Variation über ein altes Thema, nämlich den Schwangerschaftsabbruch. Diese Debatte wird nun vor dem Hintergrund neuer diagnostischer Verfahren fortgeführt, sie ändert aber nichts an den zwei altbekannten Grundfragen. Erstens: Gibt es ein Recht des Embryos auf sein Leben? Und zweitens: Welchen Stellenwert hat der Wunsch einer Frau (eines Paares), abtreiben zu lassen? Zu diesen beiden Fragen gesellt sich nun aber eine dritte. Diese Frage lautet: Ist das Interesse, über bestimmte unerwünschte Eigenschaften des Ungeborenen Bescheid zu wissen, durch Recht und Moral zu schützen? Die Frage, ob Eltern das Recht haben, entsprechend informiert zu werden, ist freilich unmittelbar mit den zuvor erwähnten – und aus der Schwangerschaftsabbruchsdebatte wohlbekannten – Grundfragen verknüpft. Anders gewendet: Wer ein Recht von Embryonen auf das Leben dem Grunde nach anerkennt, darf die Frage, ob es legitim ist abzutreiben, eigentlich gar nicht mehr stellen.1 A fortiori verbietet es sich in diesem Fall, darüber nachzudenken, ob es einen Anspruch gibt, über bestimmte unerwünschte Eigenschaften des Ungeborenen informiert zu werden. Und wer umgekehrt ein 1
Anders aber Judith J. Thomson, A defense of abortion, in: Philosophy & Public Affairs 1 (1971), S. 47-66 und Donald Regan, Rewriting Roe v. Wade, in: Mich. L. Rev. 77 (1979), S. 1569-1646, die beide ein Recht der Frau anerkennen, eine Abtreibung vornehmen zu lassen, gleichzeitig aber nicht bestreiten, dass der Embryo Träger eines Rechts auf Leben ist. Thomson und Regan gehen freilich im Kern von der These aus, dass der Schwangerschaftsabbruch nicht als aktive, sondern bloß als passive Tötung des Ungeborenen zu begreifen sei und daher mangels Garantenstellung der Frau (arg.: „Mein Bauch gehört mir“) nicht verboten werden dürfe (so im Ansatz auch Klaus Bernsmann, Forum: Schwangerschaftsabbruch zwischen „Töten“ und „Sterbenlassen“ – Überlegungen zum „Geiger-Fall“, in: JuS 1994, S. 9-14). Kritisch Reinhard Merkel, Forschungsobjekt Embryo, München 2002, S. 89 ff., insb. S. 97 ff.
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starkes Recht von Frauen auf Abtreibung bejaht, der muss die Frage, ob denn ein grundsätzliches Recht des Embryos auf sein Leben anerkannt werden darf, dem Grunde nach verneinen. Denn ein Recht des Ungeborenen, nicht getötet zu werden (d.h. sein Lebensrecht), schließt das Recht einer Frau auf Abtreibung (d.h. auf aktive Tötung der Leibesfrucht) mehr oder weniger2 kategorisch aus. Und hätte auch der Embryo in vitro ein Recht auf Leben, dürfte keinesfalls entschieden werden, ihn einfach absterben zu lassen (d.h. ihn passiv zu töten).3 Das Recht auf Abtreibung und das Entscheidungsrecht der Frau darüber, ob ein in vitro gezeugter Embryo in ihren Körper übertragen werden soll, führen allerdings nicht zwangsläufig zu einer (kategorischen) Erlaubnis von PND und PID. Zwar können diese Verfahren (unter der Annahme entsprechender Freiheitsrechte der Frau) keine Rechte des Ungeborenen verletzen, aber es mag vielleicht gute Gründe geben, PND und PID dennoch nicht – oder zumindest nicht uneingeschränkt – zuzulassen; etwa Gründe sozialer Natur.
II. Präimplantationsdiagnostik und pränatale Diagnostik im österreichischen Recht Der Begriff Präimplantationsdiagnostik ist im österreichischen Recht genau so wenig verbum legale wie im deutschen. Dessen ungeachtet ist die PID durch § 9 Abs. 1 Satz 1 und 2 des 1992 verabschiedeten Fortpflanzungsmedizingesetzes (FMedG)4 verboten worden. Dort heißt es nämlich: „Entwicklungsfähige Zellen dürfen nicht für andere Zwecke als für medizinisch unterstützte Fortpflanzungen verwendet werden. Sie dürfen nur insoweit untersucht und behandelt werden, als dies nach dem Stand der medizinischen Wissenschaft und Erfahrung zur Herbeiführung einer Schwangerschaft erforderlich ist.“
Der Begriff „entwicklungsfähige Zellen“ wird in § 1 Abs. 3 FMedG definiert. Danach sind entwicklungsfähige Zellen „befruchtete Eizellen und daraus entwickelte 2
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Eine Sonderstellung nimmt freilich der Schwangerschaftsabbruch wegen medizinischer Indikation (jedenfalls soweit eine Abtreibung wegen Lebensgefahr für die Schwangere indiziert ist) und nach Vergewaltigung der Frau ein. Vgl. dazu Attorney General v. X and Others [1992] ILRM 401. Vgl. Norbert Hoerster, Ein „verringertes“ Lebensrecht zur Legitimation der Fristenregelung?, in: NJW 1997, S. 773; ders., Nur eine konsequente Antwort kann befriedigen, in: Universitas 40 (1993), S. 214-218; Erwin Bernat, Rechtsethische Entscheidungskonflikte am Anfang und Ende des menschlichen Lebens, in: Peter Strasser, Edgar Starz (Hrsg.), Personsein aus bioethischer Sicht, ARSP-Beiheft Nr. 73, Wiesbaden, Stuttgart 1997, S. 172, 180; Günther Jakobs, Rechtmäßige Abtreibung von Personen?, in: JR 2000, S. 404-407. BGBl. 1992/275 i.d.g.F. Zu diesem Gesetz Bernat, Das Fortpflanzungsmedizingesetz: Neue Rechtspflichten für den österreichischen Gynäkologen, in: Gynäkologischgeburtshilfliche Rundschau 33 (1993), S. 2-10.
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Zellen“, also Embryonen (in vitro). Der Gesetzgeber wollte mit § 9 Abs. 1 FMedG ein lückenloses Forschungsverbot verankern, das nicht nur die sog. „verbrauchende Forschung“ erfasst. Die amtlichen Erläuterungen zur Regierungsvorlage des FMedG bestätigen diesen Eindruck in unmissverständlicher Weise, wenn sie zu § 9 FMedG ausführen: „Eine Untersuchung oder Behandlung zur Abwehr einer möglichen Gefahr für die Frau oder das Kind soll – wie bei der natürlichen Fortpflanzung – nicht in Betracht kommen.“5
Offensichtlich wollte der Gesetzgeber mit § 9 Abs. 1 FMedG nicht nur die PID verbieten, sondern auch jedes noch so Erfolg versprechende therapeutische Experiment, das das Ziel verfolgt, das Leben des aus dem Embryo in vitro entstehenden Menschen zu erhalten bzw. seine Gesundheit zu verbessern. Dieses Verbot ist freilich völlig überschießend und verstößt auch gegen den Gleichheitssatz (Art. 7 BVG). Wenn die Eltern eines obsorgeberechtigten Kindes sogar verpflichtet sind, dieses Kind medizinisch versorgen zu lassen, dann ist es völlig unverständlich, ihnen das Recht abzusprechen, Behandlungen am Embryo in vitro vornehmen zu lassen, die dazu beitragen könnten, das Leben des künftigen Kindes zu erhalten bzw. seine Gesundheit zu verbessern. Die PID ist in Österreich – praktisch betrachtet – nicht nur wegen § 9 Abs. 1 FMedG verboten. Das Verbot der PID ist auch mittelbare Folge von § 2 Abs. 2 FMedG. Diese Bestimmung beschränkt die Zulässigkeit der In-vitro-Fertilisation (IVF) auf jene Wunschelternpaare, bei denen „nach dem Stand der Wissenschaft und Erfahrung alle anderen möglichen und zumutbaren Behandlungen zur Herbeiführung einer Schwangerschaft durch Geschlechtsverkehr erfolglos gewesen oder aussichtslos sind.“
Paare, die etwa durch eine PID wissen wollen, ob ihr zukünftiges Kind an einer Erbkrankheit leiden wird, sind freilich nicht notwendigerweise steril. Können sich Wunscheltern durch Geschlechtsverkehr fortpflanzen, werden sie schon durch § 2 Abs. 2 FMedG von der IVF (und damit in weiterer Folge von der PID) ausgeschlossen.6 Die PID wird in jenen Ländern, die sie erlauben, vor allem mit der Zielsetzung durchgeführt, abzuklären, ob das Kind eine X-chromosomal gebundene oder eine autosomal-rezessive Erbkrankheit haben bzw. entwickeln würde.7 Dazu zählen 5 6
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Erl. zur RV des FMedG, 216 Beil. Sten. Prot. NR, 18. GP, S. 20. Vgl. Bernat, Recht und Humangenetik – ein österreichischer Diskussionsbeitrag, in: Festschrift für Erich Steffen, Berlin 1995, S. 33; 36 f.; ders., in: Bundesministerium für Justiz/Bundesministerium für soziale Sicherheit und Generationen (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin – Ethik und Rechtspolitik, Wien 2001, S. 103 f. Vgl. zum letzten Stand der Entwicklung Wilfried Feichtinger, Über die Präimplantationsdiagnostik (PID) beim Menschen aus klinischer Sicht, in: Wiener medizinische Wochenschrift 2003, S. 485 ff.; Emmanuel Kanavakis, Joanne Traeger-Synodinos, Preimplantation genetic diagnosis in clinical practice, in: J. Med. Genet. 39 (2002), S. 6
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etwa tödlich verlaufende Erkrankungen wie die Duchennesche Muskeldystrophie, die Tay-Sachs Erkrankung oder Chorea Huntington. Schon heute kann die moderne Pränatalmedizin solche Erkrankungen durch Amniozentese oder Chorionzottenbiopsie, also durch pränataldiagnostische Verfahren (in vivo), abklären.8 Für den Fall, dass die PND durch eine Genanalyse9 erzielt wird, müssen in Österreich die Regeln des Gentechnikgesetzes (GTG)10 beachtet werden. Die einschlägige Bestimmung11 ordnet folgendes an: „Eine Genanalyse [zur Feststellung einer Prädisposition für eine Krankheit, insbesondere der Veranlagung für eine möglicherweise zukünftig ausbrechende Erbkrankheit, oder zur Feststellung eines Überträgerstatus] darf im Rahmen einer pränatalen Untersuchung nur, soweit dies medizinisch geboten ist, und nach schriftlicher Bestätigung der Schwangeren, dass sie zuvor durch einen [in Humangenetik ausgebildeten Arzt oder einen für das betreffende Indikationsgebiet zuständigen Facharzt] über Wesen, Tragweite und Aussagekraft der Genanalyse und über Risiken des vorgesehenen Eingriffes aufgeklärt worden ist und der Genanalyse zugestimmt hat, durchgeführt werden.“
§ 65 Abs. 3 GTG steht in unmittelbarem Zusammenhang mit § 97 Abs. 1 StGB, der Regelung über die „Straffreistellung“ des Schwangerschaftsabbruchs. Schwangerschaftsabbrüche sind zwar nach österreichischem Recht an sich verboten und auch strafbar (§ 96 StGB). Ausgenommen von der Strafbarkeit ist der Arzt allerdings, wenn er den Eingriff innerhalb der ersten drei Monate nach Beginn der Schwangerschaft und nach vorhergehender ärztlicher Beratung vornimmt und die Frau in den Abbruch eingewilligt hat.12 Es gilt also die sog. Fristenregelung, die nach Ansicht des österreichischen Verfassungsgerichtshofs (VfGH) mit der österreichischen Verfassung im Einklang steht.13 Insbesondere hat der VfGH in seinem
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ff.; Richard J. Tasca, Michael E. McClure, The emerging technology and application of preimplantation genetic diagnosis, in: J. L. Med. & Ethics 26 (1998), S. 7 ff. Vgl. nur Jeffrey Botkin, Prenatal diagnosis and the selection of children, in: Florida State Univ. L. Rev. 30 (2003), S. 265, 278-283. Im Sinne des österreichischen Gentechnikgesetzes (BGBl. 1994/510 i.d.g.F.) wird der Begriff Genanalyse definiert als „die molekulargenetische Untersuchung an Chromosomen, Genen und DNS-Abschnitten eines Menschen zur Feststellung von Mutationen“ (§ 4 Z 23 GTG). Abdruck dieses Gesetzes bei Christian Dierks et al. (Hrsg.), Genetische Untersuchungen und Persönlichkeitsrecht, Berlin 2003, S. 119-147. Vgl. dazu vorerst Bernat, Die Humangenetik im Spiegel von Recht und Ethik, in: Gebhard Schumacher, Ursula Sauer (Hrsg.), Herzfehler und Genetik, Stuttgart 1999, S. 3844. § 65 Abs. 3 GTG. § 97 Abs. 1 Z 1 StGB. VfGH 11. 10. 1974, VfSlg. 7.400. – Die Entscheidung stieß auf geteilte Zustimmung; kritisch etwa Richard Novak, Das Fristenlösungs-Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, in: EuGRZ, 1975, S. 197-200; Peter Pernthaller, JBl. 1975, S. 316-318; Wolfgang Waldstein, Rechtserkenntnis und Rechtsprechung. Bemerkungen zum Erkenntnis des VfGH über die Fristenlösung, JBl. 1976, S. 505-512 und S. 574584; antikritisch hingegen Christian Kopetzki, Grundrechtliche Aspekte der Biotechnologie am Beispiel des „therapeutischen Klonens“, in: Christian Kopetzki, Heinz Mayer
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Erkenntnis vom 11. 10. 1974 betont, dass der Embryo kein Grundrechtsträger ist und folglich auch kein von der Verfassung abgesichertes Recht auf Leben besitzt.14 Neben der sog. Fristenregelung sind in § 97 Abs. 1 StGB die embryopathische, die medizinische15 und die sog. Unmündigenindikation16 verankert worden. In diesen drei Fällen ist der Schwangerschaftsabbruch bis unmittelbar vor Geburt straffrei. Eine zeitliche Schranke innerhalb der Schwangerschaft wurde also im Fall des Abbruchs wegen embryopathischer Indikation – im Gegensatz zum früheren deutschen Recht17 – nicht verankert. Die Vornahme von Schwangerschaftsabbrüchen wegen embryopathischer Indikation ist durch § 97 Abs. 1 Z 2 Fall 2 StGB sehr weitgehend straffrei gestellt worden. Das Gesetz gewährt Straffreiheit, wenn „eine ernste Gefahr besteht, dass das Kind geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde“.
Während § 218a Abs. 2 Nr. 1 deutsches StGB a.F. die Straffreiheit des Abbruchs wegen embryopathischer Indikation u.a. davon abhängig machte, dass „von der Schwangeren die Fortsetzung der Schwangerschaft nicht verlangt werden kann“,
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(Hrsg.), Biotechnologie und Recht, Wien 2002, S. 15, 19-39; Erwin Melichar, Das Erkenntnis des österreichischen Verfassungsgerichtshofes über die sogenannte „Fristenlösung“, in: Festschrift für Alexander Dordett, Wien 1976, S. 91-106; Wilhelm Rosenzweig, Drei Verfassungsgerichte zur Fristenlösung, in: Festschrift für Christian Broda, Wien 1976, S. 231-266. Der VfGH musste prüfen, ob die in Österreich in Verfassungsrang erhobene Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) ein Recht des Ungeborenen auf das Leben anerkennt. Art. 2 Abs. 1 EMRK sagt – ähnlich wie Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Bonner GG: „Das Recht jedes Menschen auf das Leben wird gesetzlich geschützt.“ Nach Auffassung des VfGH spricht eine „Betrachtung des gesamten Textes des Art. 2 EMRK in seinem Zusammenhang […] nicht dafür, dass mit dieser Bestimmung auch das keimende Leben erfasst wird“ (VfGH 11. 10. 1974 VfSlg. 7.400). In diesem Sinn auch die Rechtsprechung der Straßburger Konventionsorgane: Paton v. United Kingdom, DR 19, 244 = EHRR 3 (1980), S. 408 (Europäische Kommission v. 13. 5. 1980) sowie jüngst Vo v. France, NJW 2005, S. 727 (EGMR v. 8. 7. 2004); zu dieser Entscheidung vgl. Thomas Groh, Nils Lange-Bertalot, Der Schutz des Lebens Ungeborener nach der EMRK, in: NJW 2005, S. 714-716. Der Schwangerschaftsabbruch ist danach nicht strafbar, wenn er „zur Abwendung einer nicht anders abwendbaren ernsten Gefahr für das Leben oder eines schweren Schadens für die körperliche oder seelische Gesundheit der Schwangeren erforderlich ist“. Der Schwangerschaftsabbruch ist danach nicht strafbar, „wenn die Schwangere zur Zeit der Schwängerung unmündig gewesen ist“. Nach § 218a Abs. 3 StGB i.d.F. des 15. StÄG (BGBl. I 1976, S. 1213) war der Schwangerschaftsabbruch wegen Vorliegens der embryopathischen Indikation nur innerhalb von 22 Wochen post conceptionem straffrei. Vgl. dazu Karl Lackner, Die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs. Das 15. Strafrechtsänderungsgesetz, in: NJW 1976, S. 1233-1244.
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fehlt es in § 97 Abs. 1 Z 2 Fall 2 StGB an einer solchen „Unzumutbarkeitsklausel“. Offenbar ging der österreichische Gesetzgeber davon aus, dass der Frau die Fortführung der Schwangerschaft im Falle einer embryopathischen Indikation nie zumutbar sei, wenn sie den Arzt um einen Abbruch ersucht.18 – Mit dieser Ratio wurde wohl auch die Straffreiheit des frühen Schwangerschaftsabbruchs durch die sog. Fristenregelung (§ 97 Abs. 1 Z 1 StGB) legitimiert.19 Unklar ist nach dem Wortlaut von § 97 Abs. 1 Z 2 Fall 2 StGB, ob für das Vorliegen der embryopathischen Indikation die ernste Gefahr ausreicht, dass die schwere geistige oder körperliche Schädigung erst Jahre oder gar erst Jahrzehnte nach der Geburt des betroffenen Kindes ausbricht. Die Frage hat insb. mit Bezug auf manche Erbleiden, etwa die Chorea Huntington, eine Erkrankung, die sich häufig erst 30 bis 50 Jahre nach der Geburt des Veranlagten manifestiert,20 praktische Bedeutung. Der Gesetzgeber konnte an solche Erkrankungen nicht gedacht haben. Als das StGB im Jahre 1974 verabschiedet wurde, fehlte es ja an entsprechenden diagnostischen Möglichkeiten. Was ist der Grund für die so weitgehende Straffreistellung des Abbruchs wegen embryopathischer Indikation? Diese Frage lässt sich meines Erachtens sehr klar beantworten. Legislatorisches Motiv für die in § 97 Abs. 1 Z 2 Fall 2 StGB enthaltene Regel war es zweifelsohne, die Frau mit der Last der noch ausständigen Schwangerschaft zu verschonen, wenn sie für sich zu dem Schluss kommt, dem Leben mit einem geistig oder körperlich schwer geschädigten Kind nicht gewachsen zu sein.21 In den Fällen, in denen die Erbkrank18
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Andererseits wird gerade in Deutschland betont, dass die „Unzumutbarkeitsklausel“ den Sinn und Zweck gehabt haben soll, die embryopathische Indikation von einer – pejorativ verstandenen – „eugenischen“ Indikation abzugrenzen. Vgl. etwa Hans-Georg Koch, Landesbericht Bundesrepublik, in: Albin Eser, Hans-Georg Koch (Hrsg.), Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich. Rechtliche Regelungen – Soziale Rahmenbedingungen – Empirische Grunddaten. Teil 1: Europa, Baden-Baden 1988, S. 17, 122 f.: „Die eugenische Indikation war schon in der Reformdiskussion nicht unumstritten. Insbesondere wurde die Befürchtung geäußert, ihre Anerkennung würde negativ auf die Einstellung gegenüber geborenem behindertem Leben zurückwirken. Um derartigen Bedenken zu begegnen, hat sich der Gesetzgeber entschlossen, bei der Indikationsformulierung nicht allein auf die (möglicherweise) zu erwartende Schädigung des Kindes abzuheben, sondern die damit induzierte Belastung der Frau selbst ausschlaggebend sein zu lassen.“ Vgl. Peter J. Schick, Die Einwilligung in den Schwangerschaftsabbruch, in: Festschrift für Udo Jesionek, Wien 2002, S. 467, 474 ff. Vgl. Markus Hengstschläger, Das ungeborene menschliche Leben und die moderne Biomedizin. Was kann man, was darf man?, Wien, München 2001, S. 84: „Das klinische Bild umfasst Bewegungsstörungen, Gang- und Sprachstörungen, schwere Wesensveränderungen mit fortschreitendem geistigen Verfall. […] Eine heilende Behandlung für diese Krankheit gibt es nicht“. Ebenso für das frühere deutsche Recht Lackner, in: NJW 1976, S. 1233, 1238: „Es kommt […] stets darauf an, ob die Pflege und Erziehung des voraussichtlich unheilbar kranken Kindes […] eine kräftemäßig unzumutbare Überforderung der Schwangeren bedeuten würde.“ Ähnlich Werner Beulke, Zur Reform des Schwangerschaftsabbruchs durch das 15. Strafrechtsänderungsgesetz, in: FamRZ 1976, S. 596, 599: „Zentrales
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heit nicht unmittelbar nach der Geburt des Kindes ausbricht, wird das tägliche Leben für das Kind zunächst zwar „normal“ verlaufen, aber das Wissen um den späteren Ausbruch der Erbkrankheit wird die Mutter dennoch sehr häufig fundamental belasten. Aus diesem Grund erscheint es mir geboten, auch die Veranlagung für schwere Krankheiten, die erst in Zukunft mit jedenfalls großer Wahrscheinlichkeit ausbrechen werden, in den Einzugsbereich des § 97 Abs. 1 Z 2 Fall 2 StGB zu rücken. Für ein solches Ergebnis spricht wohl auch § 65 Abs. 3 GTG, der sich ganz ausdrücklich auf die Diagnose von sog. “late onset diseases” bezieht (arg.: „Feststellung einer Prädisposition für eine Krankheit, insbesondere der Veranlagung für eine möglicherweise zukünftig ausbrechende Erbkrankheit“).22 Bislang habe ich stets von der „Straffreiheit“ des Schwangerschaftsabbruchs, nicht aber davon gesprochen, dass die Vornahme des Schwangerschaftsabbruchs nach Maßgabe des § 97 Abs. 1 StGB rechtmäßig, also erlaubt ist. Die Frage, ob § 97 Abs. 1 StGB Abtreibungen erlaubt oder ob der Arzt kraft dieser Bestimmung bloß straffrei gestellt wird, ist freilich heftig umstritten. Die Beantwortung dieser Frage ist aber nicht bloß von akademischem Interesse; im Gegenteil, sie ist geradezu wegweisend für die Entscheidung, ob PND und PID zulässig sein sollen. § 97 Abs. 1 StGB sagt nicht – ebenso wenig wie § 218a Abs. 1 deutsches StGB a.F.23 –, dass die Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs in den von der Bestimmung genannten Fällen – also auch mit Bezug auf die embryopathische Indikation – gerechtfertigt (d.h. erlaubt bzw. freigestellt) ist.24 Vielmehr ordnet § 97 Abs. 1 StGB bloß an, dass die Tat nach § 96 StGB25 „nicht strafbar“ ist, wenn der Abbruch innerhalb der Dreimonatsfrist oder im Rahmen einer der drei anerkannten Indikationen durchgeführt wird. Was bedeuten die Worte „nicht strafbar“? Wollte der Gesetzgeber lediglich betonen, dass § 97 Abs. 1 StGB nur die Straftatbestandsmäßigkeit der Abtreibung (§ 96 StGB) aufhebt?26 Wäre diese Frage zu
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Kriterium ist auch hier, ob die Austragung der Leibesfrucht und die spätere Pflege des Kindes für die Schwangere selbst eine unzumutbare Belastung darstellen würde.“ Lässt sich im Rahmen der PND hingegen feststellen, dass das Kind lediglich heterozygoter Überträger einer erblichen Krankheit ist, also selbst gar nicht von dieser Erbkrankheit betroffen werden kann, scheidet ein Schwangerschaftsabbruch nach § 97 Abs. 1 Z 2 Fall 2 StGB schon aus grundsätzlichen Überlegungen aus. I.d.S. zum früheren deutschen Recht auch Koch, in: Eser/Koch (Hrsg.), Schwangerschaftsabbruch im internationalen Vergleich, S. 17, 123, Fn. 234. Fassung nach dem 15. StÄG, BGBl. I 1976, S. 1213. Ein Rechtfertigungsgrund schafft stets die Erlaubnis, sich über ein strafrechtliches Verbot hinwegzusetzen (vgl. bloß Claus Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band I, 3. Aufl., München 1997, S. 514). Vom Recht freigestellte Verhaltensweisen können also aus normlogischen Gründen nicht verboten sein (vgl. Peter Koller, Theorie des Rechts. Eine Einführung, 2. Aufl., Wien 1997, S. 67 ff.). Diese Schlussfolgerung gebietet freilich auch das Postulat der Einheit der Rechtsordnung. Teilweise a. A. mit Bezug auf die Wirkung der Rechtfertigungsgründe Hans-Ludwig Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluss, Köln 1983, S. 380 ff., insb. S. 383. § 96 StGB enthält das generelle, an Schwangere und Arzt gerichtete Abtreibungsverbot. I.d.S. etwa – mit Bezug auf die Vornahme des Schwangerschaftsabbruchs wegen embryopathischer Indikation – Kurt Schmoller, in: Otto Triffterer (Hrsg.), StGB-
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bejahen, verstieße die Abtreibung zwar nicht gegen eine Strafrechtsnorm,27 aber gegen § 22 ABGB, der – in Anlehnung an das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten28 – programmatisch sagt: „Selbst ungeborne Kinder haben von dem Zeitpunkte ihrer Empfängnis an einen Anspruch auf den Schutz der Gesetze. Insoweit es um ihre […] Rechte […] zu tun ist, werden sie als Geborne angesehen.“
Die Lehre, der zufolge § 97 Abs. 1 StGB bloß die Straftatbestandsmäßigkeit der Abtreibung, nicht aber deren Rechtswidrigkeit ausschließt, ist meines Erachtens aus mehreren Gründen verfehlt. Zum einen war es die ganz klare Absicht des Gesetzgebers, sämtliche Fälle des § 97 Abs. 1 StGB als Rechtfertigungsgründe zu qualifizieren.29 Zum anderen könnte das Ziel, das der Gesetzgeber mit der Straffreistellung der Abtreibung vor Augen hatte, gar nicht erreicht werden, wenn § 97 Abs. 1 StGB nicht auch die Rechtswidrigkeit der Abtreibung beseitigen würde. Augenscheinliches Ziel des Gesetzgebers war es ja, die Frau selbst entscheiden zu lassen, ob sie die Schwangerschaft in bestimmten Fällen fortführen oder unterbrechen lassen will.30 Die Frau selbst entscheiden zu lassen, ihr aber nicht gleichzeitig ein Entscheidungsrecht einzuräumen, ist schon auf der Grundlage normlogischer Überlegungen nicht wirklich nachvollziehbar. Schließlich sollten auch die – vom Gesetzgeber sicherlich nicht gewollten – Konsequenzen bedacht werden, die gezogen werden müssten, wenn die Vornahme der Abtreibung – unter den von § 97 Abs. 1 StGB genannten Bedingungen – bloß straffrei, wegen § 22 ABGB
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Kommentar. System und Praxis, Wien 1992, Rdnr. 31 zu § 97. Triffterer, Zur strafrechtlichen Beurteilung kapselgeschützter Organtransplantationen, in: Festschrift für Antonio Beristain, Donostia, San Sebastian 1989, S. 1203, 1213 f., ordnet die Straffreistellung in § 97 Abs. 1 Z 2 Fall 2 StGB gar nur als Strafausschließungsgrund ein. Anders aber Triffterer, in: Festschrift für Antonio Beristain, S. 1203, 1214, der die Vornahme eines Abbruchs wegen embryopathischer Indikation – in sich konsequent (arg.: Strafausschließungsgrund) – als „rechtswidrige Straftat“ begreift. I, 1, 10 ALR (1794): „Die allgemeinen Rechte der Menschheit gebühren auch den noch ungebornen Kindern, schon von der Zeit ihrer Empfängniß.“ Vgl. auch I, 1, 12 ALR: „Bürgerliche Rechte, welche einem noch ungebornen Kinde zukommen würden, wenn es zur Zeit der Empfängniß schon wirklich geboren wäre, bleiben demselben auf den Fall, daß es lebendig zur Welt kommt, vorbehalten.“ Vgl. den Justizausschussbericht, 959 Beil. Sten. Prot. NR, 13. GP, S. 23: „Sind die Voraussetzungen einer der drei Ziffern [des § 97 Abs. 1 StGB] gegeben, so ist die Rechtswidrigkeit des Schwangerschaftsabbruches und die Strafbarkeit jedes an der Tat Beteiligten, also nicht nur der Schwangeren, sondern auch des den Abbruch durchführenden Arztes, ausgeschlossen.“ Vgl. den Hinweis im Justizausschussbericht, 959 Beil. Sten. Prot. NR, 13. GP, S. 20, auf den Beschluss der Sozialistischen Partei am Villacher Parteitag im April 1972: Das Schwangerschaftsabbruchsrecht sei so zu gestalten, dass der „Konfliktsituation der Frau durch Gewährung eigener Entscheidungsfreiheit […] vollends Rechnung getragen wird“ (Hervorhebung vom Verf.). – Als das StGB 1974 (BGBl. Nr. 60) verabschiedet wurde, regierten die Sozialisten (SPÖ) alleine.
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aber gar nicht erlaubt wäre: Der Gesetzgeber würde den an Schwangerschaftsabbrüchen mitwirkenden Ärzten zumuten, sich an illegalen Vorgängen zu beteiligen und sich unter Umständen gewaltsamer Nothilfe zu Gunsten der Leibesfrucht ausgesetzt zu sehen.31 Und der zivilrechtliche Vertrag, der auf den Abbruch gerichtet ist, wäre wegen Gesetzwidrigkeit (§ 879 Abs. 1 Fall 1 ABGB) nichtig.32 Schließlich ist im jetzigen Zusammenhang auch auf das Verhältnis von Schwangerschaftsabbruch wegen embryopathischer Indikation und pränatale Diagnose hinzuweisen: Auch die Vornahme einer pränatalen Diagnose, mit dem Ziel, gegebenenfalls abtreiben zu lassen, erscheint rechtswidrig, wenn die Abtreibung wegen einer solchen Indikation nicht gerechtfertigt, also nicht erlaubt ist.33 Allerdings ist die Vornahme einer Genanalyse im Rahmen einer pränatalen Untersuchung ganz unzweifelhaft erlaubt, „soweit dies medizinisch geboten ist“ (§ 65 Abs. 3 GTG). Nach den amtlichen Erläuterungen zur Regierungsvorlage des GTG soll durch die Wortfolge „soweit dies medizinisch geboten ist“ zum Ausdruck gebracht werden, dass der Arzt „nur Merkmale, die auf zukünftige ernsthafte Krankheiten des Ungeborenen hinweisen, keinesfalls aber nichtkrankheitsbezogene Persönlichkeitsmerkmale“ durch PND ausforschen darf.34 Das heißt mit anderen Worten, dass § 65 Abs. 3 GTG die Genanalyse im Rahmen einer PND nach Maßgabe der Straffreistellung des § 97 Abs. 1 Z 2 Fall 2 StGB erlaubt. § 65 Abs. 3 GTG bestätigt somit die Rechtfertigungsthese, weil es widersprüchlich erscheint, Pränataldiagnosen zu erlauben, den Abbruch wegen Vorliegens einer embryopathischen Indikation aber zu untersagen.35
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So für § 218a deutsches StGB i.d.F. des 15. StÄG (BGBl I 1976, S. 1213) in der Tat Herbert Tröndle, Soziale Indikation – Rechtfertigungsgrund?, in: Jura 1987, S. 66, 73. Für das österreichische Recht ist allerdings durchaus fraglich, ob – Rechtswidrigkeit der straftatbestandslosen Abtreibung einmal unterstellt – das Leben der Leibesfrucht ein notwehrfähiges Rechtsgut ist, weil § 3 Abs. 1 Satz 1 StGB die notwehrfähigen Rechtsgüter taxativ aufzählt und dabei nur das „Leben eines anderen“ erwähnt. Gegen Notwehrfähigkeit des Rechtsgutes „ungeborenes Leben“ mit guten Gründen Schmoller, in: Triffterer, StGB-Kommentar, Rdnr. 22 zu § 97; a. A. aber Peter Lewisch, in: Egmont Foregger (Hrsg.), Wiener Kommentar zum Strafgesetzbuch, 2. Aufl., Wien 1999, Rdnr. 39 zu § 3. Vgl. Christian Bertel, Jürgen Metka, Das kapselgeschützte Homoiotransplantat und der Schutz des werdenden Lebens im österreichischen StGB, in: Zbl. Rechtsmed. 79 (1977), S. 17, 21. Vgl. Bernat, Unerwünschtes Leben, unerwünschte Geburt und Arzthaftung: Der österreichische „case of first impression“ vor dem Hintergrund der anglo-amerikanischen Rechtsentwicklung, in: Festschrift für Heinz Krejci, Wien 2001, S. 1041, 1066. 1465 Beil. Sten. Prot. NR, 18. GP, S. 63. Bernat, in: Festschrift für Erich Steffen, Berlin 1995, S. 33, 40. Zustimmend Christian Kopetzki, Landesbericht Österreich, in: Jochen Taupitz (Hrsg.), Das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates – taugliches Vorbild für eine weltweit geltende Regelung?, Berlin 2002, S. 197, 223.
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Auch der erste Senat des OGH hat sich in einer wegweisenden Haftungsentscheidung für die Rechtfertigungsthese ausgesprochen,36 und zwar mit durchaus plausiblen Gründen: Der Gesetzgeber habe mit der Straffreistellung des Schwangerschaftsabbruchs nicht zuletzt auch das Ziel verfolgt, „das Interesse der Allgemeinheit an einer möglichst wenig gefährlichen, d.h. kunstgerechten Vornahme des Schwangerschaftsabbruchs“ zu wahren. Und „[d]ieses Ziel wäre nicht zu erreichen“, heißt es weiter, „wenn selbst in indizierten Fällen der Schwangerschaftsabbruch mit dem Makel des Illegalen behaftet wäre.“37 Fassen wir die bisherigen Überlegungen zusammen, so ergibt sich folgendes Bild. Es ist verboten, am Embryo in vitro eine PID durchzuführen. Ja, nicht einmal ein therapeutischer Heilversuch zugunsten des Embryos in vitro ist erlaubt (arg. § 9 Abs. 2 Satz 2 FMedG). Hingegen gestattet das österreichische Recht die Vornahme einer PND (arg. § 65 Abs. 3 GTG) und – bei positivem Befund – die Abtreibung (§ 97 Abs. 1 Z 2 Fall 2 StGB). Bedauerlicherweise hat der Gesetzgeber die Konsequenzen des Verbots der PID gar nicht bedacht bzw. seine Augen vor den Folgen dieses Verbots verschlossen. Nimmt man § 9 Abs. 1 Satz 2 FMedG nämlich beim Wort, so wäre Wunscheltern eines IVF-Programmes, die um die Gesundheit des erhofften Kindes besorgt sind, zu raten, den (möglicherweise) erkrankten Embryo in vitro einpflanzen und sodann – wie nach koitaler Befruchtung – eine PND (in utero) durchführen zu lassen. Lässt sich aufgrund des humangenetischen Befundes ableiten, dass das Kind überwiegend wahrscheinlich „geistig oder körperlich schwer geschädigt sein werde“, dürfte die Schwangere (arg.: Rechtfertigungsgrund) – ohne zeitliche Grenze, also bis zur Geburt – abtreiben lassen. Die unterschiedliche Behandlung von PID und PND kann schon vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlich abgesicherten Gleichheitssatzes (Art. 7 B-VG) nicht wirklich begründet werden. Es ist nämlich überhaupt nicht einzusehen, dass mit zweierlei Maß gemessen werden soll. Anders gewendet: Es gibt keine Eigenschaften des Embryos in vitro, die es geboten erscheinen lassen, sein „genetisches Inkognito“38 vor dem Transfer stärker zu schützen als danach (arg. § 65 Abs. 3 GTG). Lebensschutzerwägungen spielen demgegenüber eine bloß untergeordnete Rolle. Denn § 9 Abs. 1 FMedG schützt das Leben des Embryos in vitro nur vor sog. „verbrauchender Forschung“, nicht aber schlechthin.39 Diese Bestimmung hat nämlich nicht das Ziel, dem Embryo ein Anspruchsrecht auf Leben zu garantieren. 36
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OGH 25. 5. 1999 JBl. 1999, 543 = RdM 1999, 177 m. Anm. Christian Kopetzki = SZ 72/91. Diese Auffassung entspricht im Übrigen vollinhaltlich der deutschen Rechtsprechung zu § 218a Abs. 1 deutsches StGB i.d.F. des 15. StÄG. – Vgl. BGH 18. 1. 1983 BGHZ 86, S. 240, 243 = JZ 1983, 447 m. Anm. Erwin Deutsch. So treffend Weyma Lübbe, Das Problem der Behindertenselektion bei der pränatalen Diagnostik und der Präimplantationsdiagnostik, in: Ethik Med. 15 (2003), S. 203, 216. Vgl. 216 Beil. Sten. Prot. NR, 18. GP, S. 12, wo es heißt, dass „Forschungen [an Embryonen in vitro], mögen sie auch als noch so wichtig für die Wissenschaft erscheinen, unzulässig sein“ sollen.
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Denn der Embryo in vitro hat kein Recht, in den Uterus einer Frau eingepflanzt und dort ausgetragen zu werden. Ein solches Recht verstößt nämlich zweifelsohne gegen das Recht der Frau zu entscheiden, „ob eine Schwangerschaft wirklich eingeleitet wird oder ob sie aus medizinischen, sozialen oder aus welchen Gründen immer die IVF abbrechen“ möchte.40 § 8 Abs. 4 FMedG spricht diese Wertung sogar eindeutig aus: Die Frau darf niemals zur Duldung eines Embryotransfers gezwungen werden. Hat die Frau vor der IVF auch schon dem Embryotransfer zugestimmt, kann sie ihre Zustimmung „bis zur Einbringung der entwicklungsfähigen Zellen in ihren Körper“ widerrufen.41 Vergleichen wir die rechtliche Regelung von PID und PND, wie sie im österreichischen Recht umgesetzt worden ist, mit den entsprechenden deutschen Gesetzesvorschriften, so ergibt sich ein erstaunlicher Gleichklang.42 Allerdings fehlt es in Deutschland bekanntlich ebenso wenig an Kritikern des geltenden Rechts wie in Österreich. Sehr pointiert sagt etwa Rudolf Neidert: „Wenn also das Gesetz den indizierten Abbruch der Schwangerschaft mit Todesfolge für den Foetus als rechtmäßig bezeichnet, wie sollte dann der Verzicht auf eine Schwangerschaft im Falle einer genetisch indizierten PID mit der vergleichbaren Folge, dass der Embryo abstirbt, rechtswidrig, ja strafbar sein?“43 40
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So treffend Friedhelm Hufen, Präimplantationsdiagnostik aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: MedR 2001, S. 440, 443; anders bloß Dagmar Coester-Waltjen, Die künstliche Befruchtung beim Menschen – Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen. Gutachten B für den 56. DJT, München 1986, S. 106: Die potenziellen Eltern des Embryos in vitro seien prinzipiell „verpflichtet, allen aus ihren befruchteten Keimzellen entstehenden Embryonen eine Lebenschance einzuräumen. Sie können demnach nicht wirksam dahin einwilligen, dass ihre Keimzellen lediglich zu Forschungszwecken befruchtet und die sich daraus entwickelnden Embryonen zur Forschung verwendet werden. Sie dürfen die Einpflanzung eines aus ihren Keimzellen entstandenen Embryos nicht verweigern“ (Hervorhebung vom Verf.). Richtig fragt daher Ludger Honnefelder, Die Frage nach dem moralischen Status des menschlichen Embryos, in: Otfried Höffe, Ludger Honnefelder, Josef Isensee, Paul Kirchhof (Hrsg.), Gentechnik und Menschenwürde, Köln 2002, S. 79, 103: „Hat nicht ein Embryo [in vitro], […] dessen Annahme durch die Mutter abgelehnt wird, einen anderen Status als der auf Schwangerschaft und Geburt hin angelegte Embryo?“ Ob die PID kraft des Embryonenschutzgesetzes (ESchG, BGBl. I 1990, S. 2746) allerdings umfassend verboten ist, wird in Deutschland sehr kontrovers diskutiert. Vgl. zum Meinungsstand jüngst Urs Peter Böcher, Präimplantationsdiagnostik und Embryonenschutz. Zu den Problemen der strafrechtlichen Regelung eines neuen medizinischen Verfahrens, Göttingen 2004, S. 135 ff. Rudolf Neidert, Sollen genetische Analysen am frühen Embryo zugelassen werden? Präimplantationsdiagnostik in juristischer Sicht, in: Hartmut Kreß, Kurt Racké (Hrsg.), Medizin an den Grenzen des Lebens. Lebensbeginn und Lebensende in der bioethischen Kontroverse, Münster 2002, S. 33, 39; vgl. auch Ernst-Wolfgang Böckenförde, Menschenwürde als normatives Prinzip. Die Grundrechte in der bioethischen Debatte, in: JZ 2003, S. 809, 814 f.; Enquete-Kommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, Schlussbericht, BT-Drs. 14/9020, S. 84-115; Monika Frommel, Auslegungsspielräume des Embryonenschutzgesetzes, in: Journal für Reproduktionsmedizin und
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Für eine gesetzliche Zulassung der PID sprechen in der Tat – jedenfalls vor dem Hintergrund der gesetzlichen Wertung, dass die Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs wegen embryopathischer Indikation freigestellt ist – die folgenden Argumente. Die meisten Frauen, die sich für die PND und einen nachfolgenden Schwangerschaftsabbruch entscheiden, würden sich wohl für die Vornahme einer PID und das „Verwerfen“ des Präimplantationsembryos entschieden haben, wenn ihnen das gesetzlich möglich wäre.44 Wenn dem aber so ist, dann ist nicht recht verständlich, warum die Schwangere dem operativen Eingriff einer Abtreibung ausgesetzt werden soll, wenn eine § 97 Abs. 1 Z 2 Fall 2 StGB entsprechende Erbkrankheit
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Endokrinologie 1 (2004), S. 104-112; Hermann Hepp, Präimplantationsdiagnostik – medizinische, ethische und rechtliche Aspekte, in: Dt. Ärztebl. 97 (2000), A 1213A1221; Tatjana Hörnle, Präimplantationsdiagnostik als Eingriff in das Lebensrecht des Embryos?, in: GA 2002, S. 659-665; Gisela Klinkhammer, Keine unkritische Ausweitung, in: Dt. Ärztebl. pp 3 (2004), S. 119; Adolf Laufs, Die deutsche Rechtslage: zur Präimplantationsdiagnostik, in: Ethik Med. 11 (1999), S. S55-S61; ders., Soll eine Präimplantationsdiagnostik eingesetzt werden dürfen?, in: Schriftenreihe der JuristenVereinigung Lebensrecht e.V. zu Köln, Bd. 17, 2000, S. 81-89; Heinz Schott, Embryonenforschung und PID, in: Dt. Ärztebl. 99 (2002), A 172-A 175; Hans-Ludwig Schreiber, Von richtigen Voraussetzungen ausgehen. Zur rechtlichen Bewertung der Präimplantationsdiagnostik, in: Dt. Ärztebl. 97 (2000), A 1135 f.; Ulrike Riedel, Plädoyer für eine unvoreingenommene, offene Debatte, in: Dt. Ärztebl. 97 (2000), A 586 f.; Urban Wiesing, Was tun, wenn man sich nicht einigen kann?, in: Dt. Ärztebl. 98 (2001), A 896-A 898; Christiane Woopen, Präimplantationsdiagnostik und selektiver Schwangerschaftsabbruch, in: ZME 45 (1999), S. 233-244; dies., Indikationsstellung und Qualitätssicherung als Wächter an ethischen Grenzen? Zur Problematik ärztlichen Handelns bei der Präimplantationsdiagnostik, in: Jahrbuch für Wissenschaft und Ethik 5 (2000), S. 117-139. Tanja Krones et al., Einstellungen und Erfahrungen von genetisch belasteten Hochrisikopaaren hinsichtlich der Präimplantationsdiagnostik (PID) – Nationale und internationale Ergebnisse, in: Journal für Reproduktionsmedizin und Endokrinologie 1 (2004), S. 112-119. Nach einer bislang noch unveröffentlichten empirischen Studie ist die weit überwiegende Mehrheit (95%) von deutschen Paaren, die im Rahmen eines IVFProgrammes zwischen Oktober 2003 und Jänner 2004 am Fertility Center Berlin behandelt worden sind, der Auffassung, dass die PID legalisiert werden sollte. Und 57% dieser Paare geben an, dass das Gesetz die PID ohne wenn und aber erlauben sollte (Ada Borkenheimer et al., Attitudes, knowledge and expectations of infertile couples towards PGD and embryo-selection [in press]). Vgl. auch John A. Robertson, Genetic selection of offspring characteristics, in: Boston Univ. L. Rev. 76 (1996), S. 421, 449: “The main objections to PGD as a form of genetic selection arise from the burdens the procedure places on women, the impact on embryos, and the danger of extension to less serious indications. The first objection is not a strong one, because most women who choose PGD would view the burdens of later prenatal diagnosis and abortion as greater. A woman should be free to choose the burdens of IVF and noncoital conception over the burdens of later prenatal diagnosis and abortion.”
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schon in vitro erkennbar ist.45 Denn das bloße „Absterbenlassen“ des Embryos in vitro ist vor dem Hintergrund der Interessen der Frau der Vornahme eines Schwangerschaftsabbruchs eindeutig vorzuziehen. Andererseits sollte auch bedacht werden, dass der Präimplantationsembryo ein wesentlich weniger entwickeltes Wesen ist als ein wegen embryopathischer Indikation selektierter Fötus, eine Leibesfrucht mit menschlichem Antlitz und (möglicherweise) Schmerzempfindungsfähigkeit.46
III. Geteilte Meinungen: der Bericht der Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt über die Präimplantationsdiagnostik Die Auffassung von der generellen Legitimität der PID bei Zulässigkeit des Schwangerschaftsabbruchs wegen embryopathischer Indikation47 wird freilich in Österreich – ebenso wie in Deutschland – nicht von allen geteilt. Diejenigen, die dem Grunde nach für ein Recht des Embryos auf das Leben eintreten, bezweifeln die Legitimität der PID mehr oder weniger ausnahmslos, während jene, die dem Embryo ein Recht auf Leben absprechen und das Recht einer Frau, abtreiben zu lassen, im Kern befürworten, tendenziell für eine Lockerung des de lege lata verankerten Verbots der PID eintreten.48 Die Fronten sind, so scheint es, abgesteckt, weil die Abtreibungsgegner und -befürworter letztlich keine neuen Argumente in die Waagschale werfen, sondern die altbekannten Argumente nur von neuem verteidigen. Indes hat sich an der Plausibilität und inneren Überzeugungskraft dieser Argumente nichts geändert. Daher wird sich niemand, der daran glaubt, dass der menschliche Embryo ein Recht auf Leben hat, vom Gegenteil überzeugen lassen,49 wie auch niemand bereit sein wird, an der Legitimität der Abtreibung zu zweifeln, 45
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Vgl. Rebecca Knox, Preimplantation genetic diagnosis: Disease control or child objectivation?, in: Saint Louis Univ. Pub. L. Rev. 22 (2002/03), S. 435, 438: “PGD is considered more advantageous than these prenatal diagnosis methods because diagnosis is performed before the embryo is implanted in the woman. This way the woman does not have to face the potential emotional and physical effects of abortion.” Zur Frage, wann der Fötus die Fähigkeit entwickelt, Schmerzen wahrzunehmen, vgl. Josef Wisser, Hermann Hepp, Das Schmerzempfinden ungeborener Kinder. Erkenntnisse aus der vorgeburtlichen Medizin, in: Paul Hoffacker u. a. (Hrsg.), Auf Leben und Tod. Abtreibung in der Diskussion, 5. Aufl., Bergisch Gladbach 1991, S. 48 ff. Erstmals deutlich vertreten von Bernat, in: Festschrift für Erich Steffen, S. 33, 41-43. Vgl. Nationaler Ethikrat (Hrsg.), Genetische Diagnostik vor und während der Schwangerschaft, Berlin 2003, S. 106 ff. Vgl. Matthias Beck, Präimplantationsdiagnose – eine Routineuntersuchung?, in: Wiener Medizinische Wochenschrift 2003, 489-493; sowie Markus Hengstschläger, Das ungeborene menschliche Leben und die moderne Medizin, Wien 2001, S. 65-80. Vgl. etwa Marian Heitger, Lebensunwertes menschliches Leben?, in: Die Presse v. 25. 6. 2004, S. 38.
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wenn er der Überzeugung ist, dass es ein Recht von Frauen auf Abtreibung gibt, weil der Embryo kein Recht auf Leben „verdient“.50 Diese Meinungsdisparität spiegelt sich auch in dem Bericht „Präimplantationsdiagnostik (PID)“ wider, den die beim Bundeskanzleramt eingerichtete Bioethikkommission im Juli 2004 veröffentlicht hat.51 Die Bioethikkommission ist ein Beratungsorgan des Bundeskanzlers52 und hat die Aufgabe, Vorschläge über notwendige legistische Maßnahmen zu erstatten und Gutachten zu besonderen Fragen zu erstellen, die sich im Zusammenhang mit der Entwicklung der Wissenschaften auf dem Gebiet der Humanmedizin und -biologie ergeben.53 Ihr gehören zurzeit 19 Mitglieder aus verschiedensten Fachgebieten an.54 Der PID-Bericht besteht aus drei Teilen. In Teil I werden die naturwissenschaftlich-medizinischen Aspekte der PID aufgezeigt. Darüber hinaus schildert Teil I die ethischen Argumente, die für aber auch gegen den Einsatz der PID sprechen mögen. Teil I endet mit einer deskriptiven Wiedergabe des geltenden Rechts sowie einer Beschreibung der rechtspolitischen Regelungsoptionen. Diese Regelungsoptionen sind: Verbot der PID (Beibehaltung der geltenden Gesetzeslage); völlige Freigabe der PID durch ersatzlose Aufhebung des derzeit geltenden Verbots; sowie schließlich: eingeschränkte Erlaubnis der PID (Anordnung bestimmter Zugangsindikationen und/oder eines Regimes der administrativ-prozeduralen Steuerung bzw. Überwachung). Teil II gibt eine Stellungnahme mit anschließenden Empfehlungen von 12 Kommissionsmitgliedern wieder. Diese Stellungnahme spricht sich für eine nach Indikationen differenzierte ethische Beurteilung der PID aus. Sie beruht sehr stark auf einer verfassungsrechtlichen Würdigung der PID. Danach sei die Freistellung der embryopathisch indizierten PID aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht nur erlaubt, sondern sogar geboten.55 Diese Auffassung 50
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Die große Meinungsvielfalt im Hinblick auf die Frage, ob die Abtreibung moralisch vertretbar ist, führt manche Philosophen sogar zu der Annahme, dass es gar nicht möglich sei, diese Frage philosophisch zu klären. Vgl. Bernard Gert, Moral theory and the Human Genome Project, in: Bernard Gert et al. (Hrsg.), Morality and the New Genetics, Boston 1996, S. 29, 38: “The debates about abortion and animal rights are best understood as debates about who should be included in the group toward which the moral rules require impartiality. Because fully informed rational persons can disagree about who is included in the group toward which morality requires impartiality, there is no way to resolve the issue philosophically.” Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt, Präimplantationsdiagnostik (PID), 2004 (abrufbar als PDF-Datei unter: www.bka.gv.at/bioethik/). Im Folgenden wird dieser Bericht als „PID-Bericht“ zitiert. Die Bioethikkommission wurde durch Rechtsverordnung des Bundeskanzlers, BGBl. II 2001/226, eingerichtet. Vgl. Robert Gmeiner, Ulrich Körtner, Die Bioethikkommission beim Bundeskanzleramt: Aufgaben, Arbeitsweise, Bedeutung, in: RdM 2002, S. 164173. § 2 der VO BGBl. II 2001/226. Nach § 3 Abs. 1 der VO BGBl. II 2001/226 gehören der Bioethikkommission 15 Mitglieder an, bei Bedarf kann die Mitgliederzahl aber auf maximal 25 erhöht werden. – Für den PID-Bericht zeichneten insgesamt 19 Mitglieder. PID-Bericht, sub II. 4. 3.
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konnte sich in der Bioethikkommission zwar mehrheitlich, aber nicht unter allen Kommissionsmitgliedern durchsetzen. Aus diesem Grund bildete sich offenbar sehr rasch eine „zweite Fraktion“, die eine gesonderte Stellungnahme mit der abschließenden Empfehlung erarbeitete, die bestehende Gesetzeslage, also das gesetzliche Verbot der PID, beizubehalten. Diese Stellungnahme mit anschließender Empfehlung wird von 7 Kommissionsmitgliedern getragen. Im Gegensatz zur „liberalen“ Stellungnahme (Teil II) bringt die „konservative“ Stellungnahme (Teil III) die Meinung zum Ausdruck, dass das Leben des Ungeborenen unter dem Schutz der Verfassung steht bzw. stehen sollte.56 Die Empfehlungen der „liberalen“ Stellungnahme entsprechen im Kern dem „liberalen“ Votum der vom Nationalen Ethikrat publizierten Stellungnahme „Genetische Diagnostik vor und während der Schwangerschaft“.57 Sie haben folgenden Wortlaut: „5.1. Die PID sollte bei rezidivierend fehlschlagenden IVF/ICSI, d.h. bei Versuchen aufgrund des Transfers nicht überlebensfähiger Embryonen (d.h. in jenen Konstellationen, bei denen es nicht zu einer Implantierung kommt), als Methode der ‚Verbesserung‘ des Erfolges von IVF/ICSI zugelassen werden. 5.2. Die PID sollte für solche Fälle gesetzlich zugelassen werden, in denen aufgrund von chromosomalen oder genetischen Befunden das Risiko einer schweren Erkrankung besteht, die entweder noch während der Schwangerschaft, bei der Geburt oder bis spätestens wenige Monate nach der Geburt zum Tode führt, die sich zuverlässig diagnostizieren, jedoch nicht medizinisch behandeln lässt. 5.3. Darüber hinaus sollte die PID auch für Paare zugelassen werden, die ein hohes Risiko aufweisen, ein Kind mit schwerer genetisch bedingter Erkrankung zu bekommen. In solchen Fällen ist auch die Bestimmung des Geschlechts mit Krankheitsbezug […] zulässig. Da PND gesetzlich erlaubt ist, diese in ihren Konsequenzen (nicht in ihren Voraussetzungen) problematischer ist (späterer Schwangerschaftsabbruch, gehäufter Schwangerschaftsabbruch), ist es jedenfalls inkonsistent und sachlich nicht gerechtfertigt, die PID generell zu verbieten. 5.4. Abzulehnen ist die Einführung eines generellen genetischen Screenings im Rahmen der IVF. Die Entscheidung zur Vornahme einer PID sollte auf den Einzelfall bezogen sein und auf der Grundlage eines Indikationsmodells getroffen werden. Dabei können Kriterien wie die Familienanamnese, das Alter, die (hohe) Zuverlässigkeit der Diagnose (ohne ‚überschießende Information‘), die mangelnde Therapierbarkeit etc. zur Anwendung kommen. 5.5. Die Zulassung der PID sollte gesetzlich möglichst präzise geregelt werden, und zwar sowohl in inhaltlicher als auch in prozeduraler Hinsicht. Naheliegend erscheint die Formulierung einer Generalklausel, allenfalls mit demonstrativen Spezifizierungen einzelner Indikationen. Administrative Rahmenbedingungen sollten eine entsprechende Qualitätskontrolle sicherstellen, z. B. in Form einer Zulassungspflicht der befugten me56 57
PID-Bericht, sub III. 4. 3. 2. Nationaler Ethikrat, Genetische Diagnostik vor und während der Schwangerschaft, 2003, S. 106-109.
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Erwin Bernat dizinischen Einrichtungen auf der Grundlage materieller Qualifikationsanforderungen. Dabei sollte die Befugnis zur Durchführung der PID von der Befugnis zur Vornahme der vorausgesetzten IVF organisatorisch und personell getrennt werden. Die Durchführung der PID sollte nicht den die IVF vornehmenden Reproduktionsmediziner/innen obliegen, sondern auf entsprechend ausgewiesene Humangenetiker/innen begrenzt sein, wobei für jede einzelne Indikation eine gesonderte Zulassung zu erteilen wäre. 5.6. In legistischer Hinsicht erscheint eine gesetzliche Regelung der PID entweder im FMedG oder im Gentechnikgesetz (GTG) zweckmäßig. Das FMedG müsste jedenfalls insofern geändert werden, als die IVF nicht nur zur Behandlung von Sterilität, sondern in den Fällen zulässiger PID auch als notwendige Voraussetzung für die Anwendung der PID zugelassen ist. 5.7. Eine humangenetische Beratung im Vorfeld einer PID sollte jedenfalls verpflichtend vorgesehen werden. 5.8. Entsprechende Maßnahmen der Qualitätssicherung und der Qualitätskontrolle sollten ebenso gesetzlich vorgeschrieben werden wie regelmäßige Evaluationsprozesse und Melde- bzw. Berichtspflichten an das Bundesministerium für Gesundheit und Frauen. 5.9. Die gesetzlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen und Indikationen sollten legistisch so formuliert sein, dass aus ihnen keine Diskriminierung von Menschen mit Behinderungen abgeleitet werden kann. Das gesellschaftliche und verfassungsrechtlich vorgegebene Ziel, Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen vor jeder Form der Diskriminierung zu schützen, darf durch die Zulassung der PID nicht in Frage gestellt werden.“58
Demgegenüber verteidigen die „konservativen“ Kommissionsmitglieder der Bioethikkommission ihre Empfehlung, das gesetzliche Verbot der PID beizubehalten, mit folgenden Argumenten: „(1) Die PID stellt Frühestphasen menschlichen Lebens zur Disposition und verstößt damit gegen das Instrumentalisierungsverbot. (2) Die Entscheidungssituation in einem Schwangerschaftskonflikt ist mit der Entscheidungssituation im Falle einer PID nicht vergleichbar. (3) Eine Begrenzung der PID sowohl in Form einer Generalklausel als auch eines Indikationenkatalogs ist, wie die analoge Erfahrung mit der PND zeigt, dem sachimmanenten Ausweitungsdruck nicht gewachsen. (4) Mit der Zulassung beider Formen der Begrenzung müsste der Gesetzgeber um der Rechtsgleichheit willen die extrakorporale Befruchtung allen Paaren zugänglich machen. Damit erhöbe sich das Folgeproblem der Kapazität und der Erhöhung finanzieller Leistungen durch die öffentliche Hand. 58
Diese Empfehlungen werden getragen von Karl Acham, Holger Baumgartner, Johannes Huber, Christian Kopetzki, Ulrich Körtner, Heinz Ludwig, Barbara Maier, Christine Mannhalter, Heinrich Scherfler, Reneé Schroeder, Ina Wagner und Kurt Zatloukal. Holger Baumgartner hat ein ergänzendes Votum abgegeben (siehe PID-Bericht, S. 47-50).
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(5) Mit der Zulassung der PID macht der Gesetzgeber Stigmatisierungen öffentlich, indem er die Verhinderung der Geburt von Menschen mit einer bestimmten genetischen Belastung für rechtmäßig erklärt. Aus den genannten Gründen, und um nicht Problemlösungen auf dem Weg von Problemvermehrungen zu erzielen, votieren die unterzeichneten Mitglieder59 für die Beibehaltung der bestehenden Gesetzeslage.“60
IV. Kritik und Antikritik 1. Gibt es ein Recht zu erfahren, ob sich der Embryo zu einem Menschen mit einer schwerwiegenden Krankheit entwickelt? Die Anerkennung eines Rechts zu erfahren, ob sich der Embryo zu einem Menschen mit einer schwerwiegenden Krankheit entwickelt, setzt – praktisch betrachtet – voraus, dass der Ungeborene nicht Träger eines Rechts auf Leben ist. Ein Recht, über die Gesundheit des künftigen Menschen Bescheid zu wissen, ist ja mit der möglichen Tötung von Embryonen (in vitro oder in vivo) immerhin indirekt verknüpft. Denn die einschlägige Information ist das „mittelbare Instrument“61 der Tötung, auch wenn sie per se noch nicht in das Leben des Embryos eingreift. Da der Ungeborene kein Schutzobjekt des Art. 2 der EMRK ist,62 ist es in Österreich – vor dem Hintergrund dieser Bestimmung – verfassungsrechtlich zweifelsohne erlaubt, Abtreibungen freizustellen, und zwar grundsätzlich bis zur Geburt. Im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 EMRK darf es auch keinen Zweifel an der Legitimität von § 8 Abs. 4 FMedG geben. Da Art. 2 EMRK weder gegen die Freistellung der Abtreibung noch gegen ein Recht der Frau ins Treffen geführt werden kann, eigenverantwortlich zu entscheiden, ob sie dem Transfer eines in vitro entstandenen Embryo zustimmt, spricht Art. 2 Abs. 1 EMRK auch nicht gegen die Zulässigkeit von PND und PID.63 Kurz 59
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Das sind: Richard Greil, Hartmann Hinterhuber, Josef Isensee, Gerhard Luf, Meinrad Peterlik, Günther Pöltner und Günter Virt. Meinrad Peterlik hat ein ergänzendes Votum abgegeben (siehe PID-Bericht, S. 64-67). Die Argumente, die für die Beibehaltung der bestehenden Gesetzeslage ins Treffen geführt werden, decken sich inhaltlich im Wesentlichen mit den Argumenten der Österreichischen Bischofskonferenz. Vgl. „Erklärung der Österreichischen Bischofskonferenz zu den Fragen des Klonens und der Präimplantationsdiagnostik (PID)“, Imago Hominis 11 (2004), S. 215. Erklärung der Österreichischen Bischofskonferenz, Imago Hominis 11 (2004), S. 215. Vgl. nochmals VfGH 11. 10. 1974 VfSlg. 7.400 sowie aus der Rechtsprechung der Konventionsorgane Paton v. United Kingdom, DR 19, 244 = EHRR 3 (1980), S. 408 (Europäische Kommission v. 13. 5. 1980) und Vo v. France, NJW 2005, S. 727 (EGMR v. 8. 7. 2004). Vgl. den PID-Bericht, sub II. 4. 4. „[V]erfassungsrechtliche Bedenken gegen ‚selektive‘ Entscheidungen können sich aus dem Blickwinkel des Lebensschutzes nur aus jenen
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gesagt: Mit Bezug auf Art. 2 Abs. 1 EMRK ist gar nicht einzusehen, warum die Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch oder zur Nichtvornahme eines Embryotransfers „nicht auf Grundlage entsprechender diagnostischer Informationen (statt ‚blind‘) getroffen werden darf.“64 Wollte der Staat den Ungeborenen stärker schützen, müsste er bei § 97 Abs. 1 StGB und § 8 Abs. 4 FMedG ansetzen. Eine „Entliberalisierung“ dieser Bestimmungen ist freilich derzeit kein politisches Thema, und aus der Sicht des Verfassungsrechts erscheint eine „Rücknahme“ der bislang zugestandenen Freiheiten auch gar nicht unproblematisch zu sein.65 Vor dem Hintergrund dieser verfassungsrechtlichen Basiswertung lautet die Grundfrage also nicht: „Ist es dem Gesetzgeber gestattet, die PID zuzulassen?“, sondern vielmehr: „Ist es dem Gesetzgeber gestattet, die PID zu verbieten?“ § 9 Abs. 1 Satz 2 FMedG erscheint prima facie grundrechtswidrig, wenn in die Verfassung ein Recht auf informierte Fortpflanzung hineingelesen werden darf. Zwar gestattet das geltende Recht der Frau, dem Transfer eines in vitro entstandenen Embryos zuzustimmen oder den Transfer abzulehnen (§ 8 Abs. 4 FMedG). Aber sie hat kein Recht zu erfahren, ob sich der Embryo zu einem Menschen mit einer schwerwiegenden Krankheit entwickelt (§ 9 Abs. 1 Satz 2 FMedG). Die Frage, ob es ein Recht gibt, entsprechende Informationen einzuholen, hat den österreichischen VfGH bislang zwar nicht direkt, aber doch indirekt beschäftigt. Im Jahre 1999 musste der VfGH nämlich beurteilen, ob das im FMedG verankerte Verbot der IVF mit Samen eines Spenders sowie das Verbot des heterologen Embryotransfers nach Eispende (§ 3 FMedG) mit dem verfassungsrechtlich geschützten Anspruch auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 EMRK) im Einklang steht.66 Nach Auffassung des VfGH umfasst der Begriff des Privatlebens „auch die Intimsphäre im Allgemeinen und das Sexualleben und -verhalten im Besonderen“, so dass es keinem Zweifel unterliege, „dass der von Ehegatten oder Lebensgefährten gefasste Entschluss, ein Kind haben zu wollen und sich hiezu erforderlicher medizinischer Unterstützung zu bedienen, dem Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 EMRK unterliegt.“67 Mit dieser Entscheidung hat der VfGH ganz allgemein zum Aus-
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Konsequenzen ergeben, zu welchen die ‚Selektionsentscheidung‘ führt (hier also gegebenenfalls: aus der ‚Verwerfung‘ des Embryos in vitro). Ohne diesen Bezug zu seinen Folgen geht jeder Hinweis auf eine angebliche verfassungsrechtliche Unzulässigkeit ‚selektiver‘ Entscheidungen ins Leere, weil Auswahlentscheidungen für sich genommen grundrechtlich neutral sind.“ PID-Bericht, sub II. 4. 4. Anders aber die „konservative“ Stellungnahme des PID-Berichts, sub III. 4. 3.: Der grundrechtliche Status des Embryos werde „im Licht der Europäischen Charta der Grundrechte (Art. 1: Achtung und Schutz der Würde des Menschen; Art. 2: Recht auf Leben einer jeden Person) auch in Österreich neu zu bestimmen sein.“ VfGH 14. 10. 1999, MedR 2000, S. 389 m. Anm. v. Bernat = RdM 2000, S. 21 = JBl. 2000, S. 228 = VfSlg. 15.632. VfGH 14. 10. 1999, MedR 2000, S. 389, 391. – Ungeachtet dieser Basiswertung erschien dem VfGH das in casu bekämpfte Verbot der IVF mit (von dritter Seite) gespendetem Samen sowie das Verbot des heterologen Embryotransfers nach Eispende (§ 3 FMedG) durch den Eingriffsvorbehalt des Art. 8 Abs. 2 EMRK gedeckt zu sein (arg.: Schutz der Gesundheit, der Moral sowie der Rechte und Freiheiten anderer), weshalb
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druck gebracht, dass Kinderwunschpaare einen verfassungsrechtlich geschützten Anspruch auf Teilhabe an den Errungenschaften der Fortpflanzungsmedizin haben, so dass der Gesetzgeber daran gehindert ist, die diversen Methoden der Reproduktionsmedizin in Bausch und Bogen zu verbieten.68 Wie weit reicht dieses Recht? Beinhaltet es auch das Recht zu erfahren, ob sich der Embryo in vitro zu einem Menschen mit einer schwerwiegenden Erbkrankheit entwickelt? Diese Frage wird von der „liberalen“ Stellungnahme des PID-Berichts bejaht und wie folgt begründet: „Geht man mit dem Verfassungsgerichtshof davon aus, dass der Einsatz von Methoden der In-Vitro-Fertilisation vom grundrechtlichen Schutz des Privatlebens gem. Art. 8 Abs. 1 EMRK erfasst ist (VfSlg 15.632/1999), dann sprechen gute Gründe dafür, dass dieser prinzipielle Schutz auch die Entscheidung über die Implantation eines Embryos in vitro einschließlich des Zugangs zu relevanten diagnostischen Informationen (zumindest in Bezug auf schwere und nicht therapiefähige Erkrankungen) umfasst. Sowohl die höchstpersönliche Natur dieser Entscheidung als auch der unmittelbare Zusammenhang mit der daraus resultierenden Schwangerschaft der Frau und den Auswirkungen der künftigen Geburt auf ihr Privat- und Familienleben stärken diese Auslegung.“69
Diese Interpretation von Art. 8 Abs. 1 EMRK nähert sich sehr stark dem von der Verfassungsrechtsprechung des amerikanischen Supreme Court geprägten Verständnis der sog. „privacy“,70 die nach Auffassung dieses Gerichts auch das Recht beinhaltet, sich nicht fortzupflanzen. Danach schützt die „privacy“ nicht nur das Recht auf Verwendung von empfängnisverhütenden Mitteln,71 sondern auch das Recht einer Frau, eine Abtreibung – jedenfalls innerhalb des ersten und zweiten Schwangerschaftstrimesters – vornehmen zu lassen.72
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die Aufhebungsanträge abgewiesen wurden. Kritik daran bei Bernat, in: MedR 2000, S. 394; Brigitta Lurger, Das Fortpflanzungsmedizingesetz vor dem österreichischen Verfassungsgerichtshof, in: DEuFamR 2 (2000), S. 134 ff.; Dagmar Coester-Waltjen, Fortpflanzungsmedizin, EMRK und österreichische Verfassung, in: FamRZ 2000, S. 598 ff.; Richard Novak, Fortpflanzungsmedizingesetz und Grundrechte, in: Bernat (Hrsg.), Die Reproduktionsmedizin am Prüfstand von Recht und Ethik, Wien 2000, S. 62 ff. Einlässlich zu VfSlg. 15.632: Bernat, A human right to reproduce non-coitally?, in: Univ. Tasmania L. Rev. 21 (2002), S. 20–38. – Das Recht auf Teilhabe an den Errungenschaften der Fortpflanzungsmedizin ist nach VfSlg. 15.632 freilich kein Anspruchs-, sondern ein reines Abwehrrecht der Eltern gegen staatliche Beeinträchtigung ihrer Privatautonomie, sich die Methoden der Fortpflanzungsmedizin zunutze zu machen. Vgl. Hufen, in: MedR 2001, S. 440, 442. PID-Bericht, sub II. 4. 3. Vgl. Robertson, in: Boston Univ. L. Rev. 76 (1996), S. 421, 425 f. Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479, 503 (1965). – Mit Griswold v. Connecticut erklärte der Supreme Court ein Gesetz des Staates Connecticut für verfassungswidrig, das den Verkauf empfängnisverhütender Mittel verbot. Roe v. Wade, 410 U.S. 113, 164 f. (1973). – Mit Roe v. Wade erklärte der Supreme Court ein Gesetz des Staates Texas für verfassungswidrig, das den Schwangerschafts-
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Die Interpretation, der zufolge der Anspruch auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK) auch das Recht beinhaltet zu erfahren, ob sich der Embryo zu einem Menschen mit einer schwerwiegenden Krankheit entwickelt, ist nicht von der Hand zu weisen. Die Freiheit sich fortzupflanzen oder sich nicht fortzupflanzen hat einen moralisch hohen Stellenwert. Für den einzelnen Menschen gehört die Frage „Soll ich mich fortpflanzen?“ zweifelsohne zu den zentralen Fragen seines Lebens. Entscheidet sich der Einzelne für oder gegen Kinder, prägt das seine Stellung innerhalb der Gesellschaft ebenso wie die individuellen Verpflichtungen, die er im späteren Leben wahrnehmen – oder eben nicht wahrnehmen – muss. Die Entscheidung, ein Kind zu haben oder nicht zu haben, ist für die Lebensführung des Menschen so signifikant, dass der Anspruch auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK) auch das Recht beinhalten sollte, eine informierte Fortpflanzungsentscheidung zu treffen. Eine Frau, die die Elternverantwortung für ein krankes Kind nicht auf sich nehmen will, sollte folglich das Recht haben zu erfahren, ob sich der Keim zu einem Menschen mit einer schwerwiegenden Krankheit entwickelt. Wird der Frau dieses Recht nicht zugestanden, weil die PID verboten ist, wird ihre Entscheidung, das Kind nicht zu haben, auf die spätere Schwangerschaft verlagert. Erst nachdem sie schwanger geworden ist, darf sie, jedenfalls nach geltendem österreichischem Recht, eine PND durchführen lassen (§ 65 Abs. 3 GTG) und den Embryo bei positivem humangenetischen Befund abtreiben lassen (§ 97 Abs. 1 Z 2 Fall 2 StGB). Dass ein Recht auf informierte Fortpflanzung erst zugestanden wird, nachdem sich der Embryo in Utero befindet, ist freilich alles andere als sachlich einleuchtend. Dass § 9 Abs. 1 Satz 2 FMedG gegen Art. 8 Abs. 1 EMRK verstößt, kann auch vor dem Hintergrund der Theorie vom free and informed consent73 begründet werden. Will die Frau die Elternverantwortung gegenüber einem Kind mit einer schwerwiegenden Krankheit nicht übernehmen, ist sie nach geltendem Recht dazu verurteilt, dem Embryotransfer zuzustimmen, obwohl feststeht, dass sie dem Transfer in Kenntnis der Erkrankung des zukünftigen Kindes nicht zugestimmt hätte. Eine – durch Gesetz verordnete – „blinde“ Entscheidung widerspricht dem Prinzip der Einwilligung nach Aufklärung und verletzt ganz zentrale persönlichkeitsrechtliche Aspekte, die unter dem Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK stehen.74 Der Anspruch auf Achtung des Privatlebens, den Art. 8 Abs. 1 EMRK einmahnt, ist kein absoluter. Vielmehr erlaubt die EMRK dem Gesetzgeber, in dieses Grundrecht einzugreifen, sofern der Eingriff u.a. eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft „zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist“ (Art. 8 Abs. 2 EMRK). Die Argumente, die gegen die Legitimität der PID vorgetragen werden, sind daher im Lichte des Eingriffsvorbehalts des Art. 8 Abs. 2 EMRK zu prüfen.
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abbruch generell bei Strafe verbot. Vgl. Robertson, Gestational burdens and fetal status: Justifying Roe v. Wade, in: Am. J. L. & Med. 13 (1987), S. 189-212. Vgl. dazu nur Daniela Engljähringer, Ärztliche Aufklärungspflicht vor medizinischen Eingriffen, Wien 1996; Ruth Faden, Tom Beauchamp, A History and Theory of Informed Consent, New York (u. a.) 1986. Im Ergebnis ebenso Hufen, in: MedR 2001, S. 440, 444.
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2. Diskriminiert die Praxis der PID Behinderte? Nach Art. 7 B-VG sind alle Bundesbürger vor dem Gesetz gleich. Eine Novelle zu Art. 7 B-VG aus dem Jahre 199775 hat darüber hinaus klargestellt, dass „niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ darf und dass „die Gleichbehandlung von behinderten und nichtbehinderten Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten“ ist. Diese Bestimmung bezieht sich schon nach ihrem Wortlaut, aber auch unter systematischen Gesichtspunkten, nur auf geborene Menschen. Auf Präimplantationsembryonen, Embryonen und Föten, aus denen sich ein behinderter Mensch entwickelt, findet Art. 7 B-VG keine Anwendung.76 Aus der Sicht des Verfassungsrechts ist die entscheidende Zäsur die Geburt,77 der Ungeborene hat demzufolge keine (von der Verfassung geschützten) Rechte.78 Daher ist es dem Gesetzgeber freigestellt, zwischen geborenen Menschen, die behindert sind, und Ungeborenen, die sich zu einem behinderten Menschen entwickeln, zu unterscheiden. Von den Gegnern der PID wird häufig vorgetragen, dass die Zulässigkeit der PID mit großer Wahrscheinlichkeit „zu einer Stigmatisierung bestimmter Krankheitsbilder und, gewollt oder ungewollt, zu Lebenswertzuschreibungen“ führt.79 Es sei zu „befürchten, dass mit einer Zulassung der PID der Rechtfertigungsdruck auf behinderte Menschen und deren Eltern weiter wächst“80 und Wunscheltern einem sozialen Druck ausgesetzt werden, von der Methode der PID auch tatsächlich Gebrauch zu machen. 81 Diese Hypothesen können ohne entsprechende empirische Sozialforschung weder verifiziert noch falsifiziert werden. – Allerdings stellt sich schon die ganz grundsätzliche Frage, ob der Staat Entscheidungen seiner Bürger verbieten darf, die in Wahrnehmung eines von der Verfassung abgesicherten Rechts ergehen, 75 76
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BGBl. I 1997/87. So auch Christian Kopetzki, Rechtliche Aspekte des Embryonenschutzes, in: Ulrich Körtner, Christian Kopetzki (Hrsg.), Embryonenschutz – Hemmschuh für die Biomedizin?, Wien 2003, S. 51, 55; sowie Hufen, in: MedR 2001, S. 440, 447 f. (unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien zu Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG [BT-Drs. 12/8165, S. 28 f.], der Art. 7 Abs. 1 Satz 3 B-VG entspricht). Das ist Folge von Art. 2 Abs. 1 EMRK; vgl. nochmals VfGH 11. 10. 1974 VfSlg. 7.400; Paton v. United Kingdom, DR 19, 244 = EHRR 3 (1980), S. 408 (Europäische Kommission v. 13. 5. 1980); Vo v. France, NJW 2005, 727 (EGMR v. 8. 7. 2004). Allerdings verstößt die unterschiedliche Behandlung von gesunden und behinderten Embryonen im Rahmen des Schwangerschaftsabbruchsrechts (§ 97 Abs. 1 StGB) wohl gegen allgemeine Grundsätze der Sachlichkeit. Zu dieser Problematik siehe Bernat, Schutz vor genetischer Diskriminierung und Schutzlosigkeit wegen genetischer Defekte: die Genanalyse am Menschen und das österreichische Recht, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 10 (2002), S. 182, 211-213. Johannes Reiter, Streit um die Präimplantationsdiagnostik (PID), in: ZRP 2002, S. 372. Reiter, in: ZRP 2002, S. 372. Umfassende Zusammenstellung aller einschlägigen Argumente bei Erik Parens, Adrienne Asch, The disability rights critique of prenatal genetic testing. Reflections and recommendations, in: Hastings Center Report 29/5 (1999), S. S1-S22.
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wenn diese Entscheidungen niemanden direkt verletzen. Wenn Wunscheltern ein von der Verfassung geschütztes Recht haben, in Erfahrung zu bringen, ob sich der Embryo zu einem Menschen mit einer schwerwiegenden Krankheit entwickelt; und wenn das Recht auf Abtreibung und auf Verweigerung des Embryotransfers zugestanden wird, ändert sich am Bestand dieser Rechte selbst dann nichts, wenn ihre Ausübung den Eindruck von Diskriminierung hinterlassen sollte. Es ist ja geradezu ein Wesen des subjektiven Rechts, dass es im Allgemeinen82 „im Prinzip der Willkürfreiheit wurzelt“.83 Die Ausübung subjektiver Rechte ist daher häufig mit Folgen verknüpft, die diskriminierend erscheinen mögen. Objektiven Wertmaßstäben muss die Entscheidung, ein subjektives Recht auszuüben, dessen ungeachtet nicht entsprechen. Selbst unter der – Art. 7 B-VG nicht entsprechenden – Annahme, der Staat sei verpflichtet, Diskriminierungen von Ungeborenen, die sich zu einem behinderten Menschen entwickeln, vorzubeugen, erscheint es mehr als zweifelhaft, ob ein entsprechendes Gleichbehandlungsgebot für Entscheidungen von Privaten die gleiche Tragweite hat wie für den Staat. Darauf hat die „liberale“ Stellungnahme des PIDBerichts richtig hingewiesen: „Im Bereich höchstpersönlicher Entscheidungen gerät eine undifferenzierte Überbürdung derartiger Gleichbehandlungsverpflichtungen auf Private […] in einen unauflösbaren Konflikt mit der Privatautonomie der Betroffenen. Bei Entscheidungen, die den höchstpersönlichen Lebensbereich berühren – man denke an das Eingehen privater oder sexueller Beziehungen oder an die Eheschließung – besteht im Rahmen der Privatautonomie auch eine verfassungsrechtlich geschützte Entscheidungsfreiheit gerade darin, auf der Grundlage eigener moralischer Überzeugungen, persönlicher Werthaltungen, Erfahrungen und Präferenzen frei – und insofern ‚selektiv‘ – entscheiden zu können, ohne diese Entscheidungen anhand objektiver Maßstäbe rechtfertigen zu müssen.“84
Gehen wir – ungeachtet dieser normativen Zielvorgaben – von der generellen Hypothese aus, dass sich Behinderte und ihre Familien durch die Praxis der PND und der PID tatsächlich diskriminiert fühlen; obwohl die Nichtdiskriminierung Behinderter (d.h. behindert geborener Menschen) ein Gebot der Verfassung ist (Art. 7 B-VG). Ist das Gefühl der „Kränkung“, das Behinderte und ihre Familien durch die Praxis der PND und der PID erfahren mögen, gerechtfertigt? Besser gesagt: Haben Behinderte und ihre Familien guten Grund sich zu kränken, wenn sie über die Praxis der PND und der PID sine ira et studio nachdenken? 82
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Einschränkungen ergeben sich bspw. durch den Kontrahierungszwang; vgl. nur Karl Larenz, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, 7. Aufl., München 1989, S. 84. Winfried Brugger, Abtreibung – ein Grundrecht oder ein Verbrechen? Ein Vergleich der Urteile des United States Supreme Court und des BVerfG, in: NJW 1986, S. 896, 901. Das subjektive Recht wird bekanntlich als „Rechtsmacht“ verstanden, wobei „an eine dem Berechtigten von der Rechtsordnung erteilte Ermächtigung, ein HandelnDürfen, oder ein ‚rechtliches Können‘ gedacht ist“ (Larenz, Allgemeiner Teil des bürgerlichen Rechts, S. 210). PID-Bericht, sub II. 4. 6. In diese Richtung argumentiert auch Weyma Lübbe, Pränatale und präimplantive Selektion als Diskriminierungsproblem, in: MedR 2003, S. 148, 150.
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Ein Mensch kann die Lebenssituation A der Lebenssituation B vorziehen. Er kann etwa für sich zu dem Schluss kommen, das Rauchen aufzugeben, um seine Lebenserwartung zu steigern. Ebenso kann er vom Agnostiker zum religiös gebundenen Menschen werden, weil er „zu glauben beginnt“. Diskriminiert dieser Mensch die Raucher und die religiös nicht gebundenen Menschen, wenn er das Rauchen aufgibt und ein Religionsbekenntnis annimmt? Die Antwort auf diese Frage versteht sich wohl für jeden von selbst. In Bezug auf das Problem der Behindertendiskriminierung kann man daher sagen: Wer kein behindertes Kind möchte, erweist sich genauso wenig als behindertenfeindlich wie der Politiker, der für eine 0,0 Promille-Regelung im Straßenverkehr eintritt, die tendenziell sicherlich dazu beiträgt, die Anzahl der schwer behinderten Straßenverkehrsopfer zu senken.85 Das verfassungsrechtlich abgesicherte Verbot der Benachteiligung von Behinderten (Art. 7 B-VG) bedeutet also nicht, dass es moralisch richtig sein kann, die Krankheit oder die Behinderung von Menschen per se positiv zu evaluieren. Hätte nämlich die Krankheit oder Behinderung per se einen positiven Stellenwert, wären nicht nur Maßnahmen zur Heilung oder Verhinderung von Krankheit oder Behinderung ganz und gar unverständlich. Wir wären gegebenenfalls sogar verpflichtet, Menschen mit Behinderung hervorzubringen. Eine solche Konsequenz kann aber niemand mit guten Gründen wollen.86 Die Auffassung, dass wir die Krankheit oder die Behinderung per se nicht positiv bewerten, wird auch durch unser Haftungsrecht bestätigt.87 Übersieht der Gynäkologe bei der Ultraschalluntersuchung der Schwangeren fahrlässigerweise, dass sich der Fötus zu einem körperlich schwer behinderten Kind entwickelt, wird ihm das als haftungsbegründende Pflichtverletzung zugerechnet, wenn feststeht, dass sich die Schwangere – im Wissen um die Behinderung – zu einem Abbruch wegen embryopathischer Indikation entschieden hätte.88 Die pränatale Diagnose soll zwar das Entscheidungsrecht der Frau absichern, die Rechtsordnung enthält sich aber ganz gezielt „jeder Bewertung der Inanspruchnahme der pränatalen Diagnostik und der sich möglicherweise anschließenden selektiven Abtreibung.“89 Im Gentechnikgesetz ist nun sogar ausdrücklich angeordnet, dass die Beratung des Arztes vor und nach Durchführung einer pränatalen Genanalyse „keinesfalls direktiv erfolgen“ soll (§ 69 Abs. 2 GTG).90 Diese Bestimmung ist nur zu begrüßen, 85 86 87
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Robertson, in: Boston Univ. L. Rev. 76 (1996), S. 421, 453. Zutreffend der PID-Bericht, sub II. 3. 2. Vgl. Rosamund Scott, Prenatal screening, autonomy and reasons: The relationship between the law of abortion and wrongful birth, in: Medical L. Rev. 11 (2003), S. 265– 325. OGH 25. 5. 1999 JBl. 1999, 543 = RdM 1999, 177 m . Anm. Christian Kopetzki = SZ 72/91. Dieter Birnbacher, Selektion von Nachkommen. Ethische Aspekte, in: Jürgen Mittelstrass (Hrsg.), Die Zukunft des Wissens. XVIII. Deutscher Kongress für Philosophie, Konstanz 4.–8. Oktober 1999. Vorträge und Kolloquien, Berlin 2000, S. 457, 469. Sehr kritisch Robert Wachbroit, David Wasserman, In the context of genetic counseling, value neutrality is impossible, in: Stan. L. & Pol’y Rev. 6 (1995), S. 103-110; ausgewogener George H. S. Singer, Clarifying the duties and goals of genetic counsellors:
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weil ein – auch nur unterschwelliger – Zwang zur Abtreibung weder moralisch legitim noch rechtlich haltbar wäre. Ein solcher Zwang würde ja den Anspruch auf Schutz des Privatlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK) sowie das Recht, eine Familie zu gründen (Art. 12 EMRK), ganz fundamental verletzen. Die Solidarität, die Behinderten in unserer Gesellschaft entgegengebracht wird, hat in den letzten Jahren und Jahrzehnten sicherlich nicht ab-, sondern bedeutend zugenommen; und zwar ungeachtet des Rechts der Frau, Abtreibungen unter selektiven Gesichtspunkten vornehmen zu lassen. Aus diesem Grund gibt es auch keinen Zusammenhang zwischen einer Politik, die die Bedürfnisse der Behinderten entsprechend würdigt, und der Zulässigkeit von PND und PID. Eine Behindertenpolitik, die darauf abstellt, die Zahl der Behinderten durch gesetzliche Verbote von pränatalen Selektionsentscheidungen zu erhöhen, wäre – gesamtgesellschaftlich betrachtet – nicht unproblematisch. Ganz sicher würde eine solche Politik aber nichts dazu beitragen, die gesellschaftliche Akzeptanz von Behinderten zu steigern.91 3. PID zum Zweck der Hervorbringung eines geeigneten Gewebsspenders? Bislang habe ich herausgearbeitet, dass es ein von der Verfassung geschütztes Recht auf Vornahme einer PID gibt, um zu erfahren, ob sich der Embryo in vitro zu einem Kind mit einer schwerwiegenden Krankheit entwickelt (Art. 8 Abs. 1 EMRK). Gründe, dieses Recht unter Berufung auf Art. 8 Abs. 2 EMRK einzuschränken, sind nicht ersichtlich. Daher erscheint es verfassungsrechtlich jedenfalls geboten, das kategorische Verbot des § 9 Abs. 1 Satz 2 FMedG aufzuheben und die PID – in Angleichung an § 97 Abs. 1 Z 2 Fall 2 StGB – zuzulassen. Im Zuge einer entsprechenden Reform müsste auch § 2 Abs. 2 FMedG geändert werden, der die IVF nur jenen Paaren freistellt, die sich nicht „auf natürliche Weise“ fortpflanzen können. Die PID sollte ja allen Paaren (nicht nur den unfruchtbaren) offen stehen, die – etwa auf Grund der Familienanamnese – befürchten müssen, ein Kind mit einer schwerwiegenden Krankheit zu bekommen. Dieser verfassungsrechtliche Befund entspricht im Wesentlichen den Empfehlungen der „liberalen“ Stellungnahme des PID-Berichts. Nach Auffassung der „liberalen“ Stellungnahme des PID-Berichts rechtfertigt sich der Einsatz der PID im Grunde genommen aber nur zur Abklärung der Frage, ob der Embryo im Fall eines Transfers nach Maßgabe des § 97 Abs. 1 Z 2 Fall 2 StGB (embryopathische Indikation) abgetrieben werden dürfte. Eine gänzliche Aufhebung des Verbots der PID wird nicht empfohlen. Nach Auffassung der Bioethikkommission spricht gegen eine generelle Freistellung der PID, „dass dies den unbegrenzten Zugang zu Methoden der Geschlechtswahl oder der Selektion nach
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Implications for nondirectiveness, in: Bernard Gert et al. (Hrsg.), Morality and the New Genetics, Boston (u.a.) 1996, S. 125-145. Birnbacher, in: Mittelstrass, Die Zukunft des Wissens, S. 457, 470.
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‚unerwünschten‘ Eigenschaften eröffnen würde, über deren Ablehnung ein breiter gesellschaftlicher Konsens besteht.“92 Und weiter heißt es im PID-Bericht: „Ethisch problematisch ist die PID, wenn das mit ihr verbundene Ziel ärztlichen Handelns nicht das Zustandekommen einer Schwangerschaft und die Geburt eines lebensfähigen Kindes, sondern die eugenische Selektion ist, ganz gleich, ob es sich um negative oder positive Selektion handelt. In der Vergangenheit sind Fälle bekannt geworden, in denen Eltern sich ein zweites Kind wünschten, das einem bereits lebenden und schwer erkrankten Geschwisterkind als Gewebsspender dienen sollte. In derartigen Fällen stellt sich die Frage, ob die Geburt eines weiteren Kindes auch unabhängig von der Erkrankung des bereits lebenden Kindes gewünscht ist. Der Eindruck ist schwer von der Hand zu weisen, dass das zweite Kind lediglich als Mittel zum Zweck der Heilung des ersten Kindes gesehen wird. Darin lässt sich eine ethisch nicht zu rechtfertigende Instrumentalisierung eines Menschen sehen, die dem Kindeswohl des zweiten Kindes zuwiderläuft.“93
Der PID-Bericht nimmt hier auf einen Fall Bezug, den der englische Court of Appeal im Jahr 2003 entschieden hat. Diesem Fall lag folgender Sachverhalt zugrunde. Ein Kind erkrankt an Beta Thalassämie, einer autosomal-rezessiven erblichen Anämie. Diese gewöhnlich tödlich verlaufende Erkrankung kann mit Stammzellen eines geeigneten Spenders therapiert werden. Als Spender kommen nur nahe Verwandte des erkrankten Kindes in Frage. Zwar hat keines seiner drei älteren Geschwister das Beta Thalassämie-Gen, doch scheiden diese Geschwister mangels Gewebskompatibilität als Spender ebenso aus wie die Eltern des Kindes. Diese entscheiden sich daher, ein weiteres Kind zu haben, in der Hoffnung, es werde ihrem erkrankten Sohn das Leben retten können. Die Mutter wird schwanger, aber im Rahmen einer PND wird festgestellt, dass der erhoffte Spender Träger des Beta Thalassämie-Gens ist, so dass eine Abtreibung vorgenommen wird. Eine weitere Schwangerschaft wird von der Mutter des erkrankten Kindes zwar ausgetragen, das Kind ist auch gesund, aber kein geeigneter Gewebsspender. In ihrer Verzweiflung wenden sich die Eltern nun an ein privates IVF-Zentrum in England und bitten um IVF mit nachfolgender PID, um sicherzustellen, dass zumindest einer der in vitro gezeugten Embryonen die „doppelte Prüfung“ besteht. (Der Spender soll nicht nur in der Lage sein, Stammzellen für das erkrankte Kind zu produzieren, sondern auch genetisch gesund sein.) Das angerufene IVF-Zentrum bekommt auf Antrag im Februar 2002 die (nach englischem Recht notwendige) behördliche Genehmigung, eine entsprechende PID durchzuführen. Es darf kraft der behördlichen Genehmigung also auch prüfen, ob das Kind, das sich aus dem in vitro gezeugten Embryo entwickeln könnte, unter histologischen Gesichtspunkten als Spender in Frage kommt. – Jetzt erweitert sich der Sachverhalt zum juristischen Fall. Die Legalität dieser speziellen behördlichen Genehmigung wird nämlich von einer Vereinigung namens “Comment on Reproductive Ethics (Core)” bekämpft, die sich für einen absoluten Schutz von menschlichem Leben einsetzt. Core ist der Auffas92 93
PID-Bericht, sub I. 5. 2. 1. PID-Bericht, sub II. 3. 3.
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sung, dass nach englischem Recht eine Lizenz für eine PID zur Feststellung der Spendertauglichkeit des erhofften Kindes nicht erteilt werden darf. Dem Feststellungsbegehren wird in erster Instanz stattgegeben, in zweiter Instanz wird es abgewiesen.94 Folglich bleibt es bei der Entscheidung der Behörde, und das heißt: Nach englischem Recht darf im Rahmen einer PID geprüft werden, ob sich der in vitro gezeugte Embryo zum gesunden Kind entwickelt und ob dieses Kind unter histologischen Gesichtspunkten als Gewebsspender tauglich ist.95 Embryonen, die im Anschluss an eine solche PID „verworfen“ werden, müssen also nicht notwendigerweise Träger eines „kranken Gens“ sein. Hier interessiert nicht die rechtsdogmatische Herleitung dieser Entscheidung,96 sondern vielmehr die Frage, ob sie unter rechtsethischen Gesichtspunkten vertretbar erscheint. Wird das Spenderkind im Core-Fall, wie der PID-Bericht andeutet, von seinen Eltern wirklich bloß als Mittel für die Heilung des erkrankten Bruders in Anspruch genommen? Nur bei Bejahung dieser Frage ist nämlich die Schlussfolgerung berechtigt, dass es sich hier um „eine ethisch nicht zu rechtfertigende Instrumentalisierung eines Menschen“97 handelt. Die Aussage, dass die Eltern das Spenderkind in unzulässiger Weise instrumentalisieren, lässt sich wohl auf Kants kategorischen Imperativ (in der zweiten Fassung) zurückführen, wonach gilt: „Handle so, dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest.“98
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R (Quintavalle) v. Human Fertilisation and Embryology Authority (Secretary of State for Health Intervening) [2003] EWCA Civ 667, [2003] 3 All ER 257. Der Core-Fall hat eine rege literarische Diskussion ausgelöst; vgl. nur Roger Brownsword, Reproductive opportunities and regulatory challenges, in: The Modern L. Rev. 67 (2004), S. 304-321; Judy Laing, in: Medical L. Rev. 11 (2003), S. 241-246; Sally Sheldon, Steven Wilkinson, Hashmi and Whitaker: An unjustifiable and misguided distinction?, in: Medical L. Rev. 12 (2004), S. 137-163; David Wasserman, Having one child to save another: A tale of two families, in: Philosophy & Public Policy Quarterly 23/1-2 (2003), S. 21-27. Schedule 2 § 1 (3) des englischen Human Fertilisation and Embryology Act (1990) ordnet an: “A licence under this paragraph cannot authorise any activity unless it appears to the Authority to be necessary or desirable for the purpose of providing treatment services.” Treatment services werden vom Gesetz definiert als “medical, surgical or obstetric services provided to the public or a section of the public for the purpose of assisting women to have children (section 2 (1)).” Lord Phillips, MR, kam zu der Auffassung, dass der Begriff “treatment services” im Wege einer historischen Interpretation weit ausgelegt werden müsse: “[W]hether the PGD has the purpose of producing a child free from genetic defects, or of producing a child with stem cells matching a sick or dying sibling, the IVF treatment that includes the PGD constitutes ‘treatment for the purpose of assisting women to bear children’” ([2003] EWCA Civ 667, para. 48). PID-Bericht, sub II. 3. 3. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Kant, Werke in sechs Bänden, Bd. IV (Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie), S. 61.
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Kants Instrumentalisierungsverbot erlebt zwar in der modernen bioethischen Debatte eine unerwartete Renaissance,99 dennoch ist es in unserem Zusammenhang schwer zu begründen, dass das Spenderkind als bloßes Mittel dazu dient, dem todkranken Bruder das Leben zu retten. Mag sein, dass sich eine Welt denken lässt, in der Eltern ihre Kinder völlig losgelöst von eigenen Zielsetzungen lieben. Aber nach Kants Instrumentalisierungsverbot müssten sie das gar nicht. Nach Kant ist es nicht verboten, den Menschen auch als Mittel zu einem außerhalb seiner selbst liegenden Zweck „zu gebrauchen“. Die Erfahrung zeigt, dass Kinder aus ganz unterschiedlichen Motiven in die Welt gesetzt werden. Beispielsweise, damit die Eltern jemanden haben, der für sie im Alter sorgt; damit das Unternehmen von den Eltern nach deren Tod auf den „richtigen“ Erben übergehen kann; oder damit das schon vorhandene Kind einen Bruder (eine Schwester) bekommt. In all diesen Fällen wird die Hervorbringung des Kindes im Allgemeinen nicht für anstößig gehalten. Warum sollte die Bewertung im gegenständlichen Zusammenhang eine andere sein? Stellen wir uns vor, die PID ergibt, dass der Ungeborene alle Eigenschaften besitzt, die ihn nach der Geburt als passenden Spender ausweisen. Das Kind wird geboren, aber die Therapie mit den Stammzellen misslingt. Kann man behaupten, die Hervorbringung des Spenderkindes sei unangemessen gewesen, weil von der Annahme ausgegangen werden müsse, dass es von seinen Eltern nun weniger geliebt werden wird? Die Annahme, dass ein Kind wahrscheinlich weniger geliebt wird, wenn es nicht in jedem Punkt den Zielvorstellungen seiner Eltern entspricht, erscheint mir zwar ziemlich kontraintuitiv; aber selbst wenn eine entsprechende Wahrscheinlichkeitsaussage durch sozialwissenschaftliche Studien bestätigt werden könnte, lässt sich daraus nicht ableiten, dass es – aus der Sicht des Spenderkindes – moralisch falsch war, es in die Welt zu setzen.100 Denn im Allgemeinen bewerten wir den Akt, dem wir unsere eigene Existenz verdanken, ganz und gar nicht negativ, weil wir im Allgemeinen kein für uns lebensunwertes Leben führen.101 Nur ganz ausnahmsweise trifft es zu, dass Menschen ihr eigenes Leben tatsächlich als lebensunwert begreifen. Ich meine hier jene tragischen Fälle, die es geboten erscheinen lassen, einem schwer leidenden Menschen das Sterben zu er-
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Kritisch Ulfried Neumann, Die Menschenwürde als Menschenbürde – oder wie man ein Recht gegen den Berechtigten wendet, in: Matthias Kettner (Hrsg.), Biomedizin und Menschenwürde, Frankfurt/M. 2004, S. 42, 51 ff. Vgl. auch Matthias Herdegen, Die Menschenwürde im Fluß des bioethischen Diskurses, in: JZ 2001, S. 773 ff. Richtig sagt Dagmar Coester-Waltjen, Gutachten B für den 56. DJT, 1986, S. 46, „dass alle Aussagen über das künftige Wohl des Kindes vor Zeugung spekulativ sein müssen und in diesem Zusammenhang anmaßend erscheinen. […] Zu den nichtvorhersehbaren Dingen gehören Glücksgefühl, Zufriedenheit, Erfüllung und die sonstigen Werte unserer überwiegend christlich-humanistisch geprägten Ordnung.“ Derek Parfit, Reasons and Persons, Oxford 1984, S. 487 ff.; vgl. Philip G. Peters, Harming future persons: Obligations to the children of reproductive technology, in: Southern Cal. Interdisciplinary L. J. 8 (1999), S. 375-400; Robertson, A response to my critics, in: Wash. & Lee L. Rev. 52 (1995), S. 233-267.
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möglichen.102 Um solche Fälle geht es aber bei der Diskussion im jetzigen Zusammenhang überhaupt nicht. Vor dem Hintergrund einer Moral, die sich besonders um das Wohl von Kindern sorgt, macht es daher ganz und gar keinen Sinn, ein Zeugungsverbot aufzustellen, um diejenigen zu schützen, die existieren würden, wenn es dieses Verbot nicht gäbe.103 Kommt es zur Geburt eines Kindes nach Selektion durch PID, so erscheint ein solcher Zustand Pareto-optimal: Es gibt ein Kind, das es zuvor nicht gegeben hat, und das kranke Kind hat die Chance zu überleben. Niemand erfährt, sieht man von dem Eingriff in die körperliche Integrität des Spenderkindes einmal ab, einen direkten Nachteil.104 Damit bin ich auch schon beim moralisch heikelsten Punkt, der fremdnützigen Entnahme von Körpersubstanzen nach der Geburt des Spenderkindes. Man mag einwenden, dass dieser Eingriff nicht sonderlich schmerzhaft und wenig riskant ist;105 aber dessen ungeachtet handelt es sich bei der Entnahme von Knochenmark um eine Operation, die dem Spenderkind nicht direkt nützt. Die Legitimität dieser Operation kann also nicht mit dem ärztlichen Heilauftrag, sondern nur mit einer Art Solidarität begründet werden, die man vom Knochenmarksspender zugunsten seines erkrankten Bruders (seiner erkrankten Schwester) einfordert. Ich denke, dass es gute Gründe für ein derartiges „Sonderopfer“ gibt.106 Stellen wir uns eine Ausgangslage vor, in der man nicht weiß, ob man Geschwisterteil A (potenzieller Knochenmarksspender) oder Geschwisterteil B (potenzieller Knochenmarksempfänger) ist. Eingehüllt in einen „Schleier des Nichtwissens“107 wird sich wohl eine Mehrheit für die Legitimität der Knochenmarksspende aussprechen. Und das mit gutem Grund. Zum einen hält sich der Eingriff in den Grenzen der Sozialadäquanz, weil er wenig belastend und wenig risikoreich ist. Zum anderen sollte bedacht werden, dass unser eigenes Wohlergehen sehr häufig vom Wohlergehen derer abhängt, die uns nahe verbunden sind: Zwar hat das Spenderkind im Zeitpunkt der Spende noch keine affektive Beziehung zu seinem Bruder (seiner Schwester); aber selbst wenn die affektive Beziehung in diesem Zeitpunkt nur potenziell vorhanden ist, wird der Knochenmarksspender später in der Regel stolz darauf sein, dass er es war, der seinem Bruder (seiner Schwester) das Leben gerettet hat. In 102
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Vgl. dazu aus der internationalen Diskussion die bei Bernat, Bioethische Entscheidungskonflikte im Spiegel der Judikatur. 50 Fälle mit Anmerkungen und Fragen, Wien 2003, S. 304-414, wiedergegebenen Entscheidungen. Zutreffend Emily Jackson, Conception and the irrelevance of the welfare principle, in: The Modern L. Rev. 65 (2002), S. 176-203. Robert J. Boyle, Julian Savulescu, Ethics of using preimplantation genetic diagnosis to select a stem cell donor for an existing person, in: Brit. Med. J. 323 (2001), S. 1240, 1242. Vgl. Stacy Month, Preventing children from donating may not be in their interests, in: Brit. Med. J. 312 (1996), S. 240 f. Vgl. dazu in ähnlichem Zusammenhang Bernat, Die Forschung an Einwilligungsunfähigen, in: RdM 2001, S. 99, 104 f. “Veil of ignorance”; Begriffsbildung durch John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/M. 1975, S. 159 ff.
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eben solchem Ausmaß wird der Empfänger des Knochenmarks seinem Bruder (seiner Schwester) für die Spende dankbar sein. Eltern ist es daher vor dem Hintergrund der Interessen und des Wohls des Spenderkindes nicht verboten, einen entsprechenden Eingriff vornehmen zu lassen.108 Die These von der ausnahmsweisen Legitimität von fremdnützigen Eingriffen in den Körper eines Menschen wurde vor kurzem auch vom österreichischen Gesetzgeber aufgegriffen, und zwar durch eine Novelle zum AMG aus dem Jahre 2004.109 Das AMG gestattet nun die nichttherapeutische Prüfung eines Arzneimittels am einwilligungsunfähigen Minderjährigen, sofern sie für ihn „nur ein minimales Risiko und eine minimale Belastung mit sich bringt“.110 Diese Bestimmung ist in unserem Zusammenhang ganz sicherlich analogiefähig. Wenn ein nichttherapeutischer, nur minimal belastender und nur minimal riskanter Eingriff sogar im bloßen Interesse der Gesellschaft an der Weiterentwicklung eines Arzneimittels durchgeführt werden darf, dann ist es sicherlich nicht anstößig, einen solchen Eingriff im Interesse eines nahen Verwandten zuzulassen, der von dem Eingriff direkt profitieren kann. Ob das Interesse von Eltern am Einsatz der PID zum Zweck der Hervorbringung eines geeigneten Gewebsspenders noch vom Anspruch auf Achtung des Privatlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK) erfasst ist, wird in der Diskussion wohl strittig bleiben. Wie auch immer man sich in dieser Frage entscheiden mag: Es ist – qua Verfassungsrecht – sicherlich nicht verboten, die PID auch zum Zweck der Hervorbringung eines geeigneten Gewebsspenders freizustellen. Und aus moralischer Sicht ist der Einsatz dieses Verfahrens erlaubt, wenn nicht gar geboten.
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Ebenso Savulescu, Substantial harm but substantial benefit, in: Brit. Med. J. 312 (1996), S. 241 f.; Peter Browett, Stephen Palmer, Legal barriers might have catastrophic effects, in: Brit. Med. J. 312 (1996), S. 242 f.; John A. Robertson, Jeffrey P. Kahn, John E. Wagner, Conception to obtain hematopoietic stem cells, in: Hastings Center Report 32/3 (2002), S. 34, 39 f.; Michael T. Morley, Proxy consent to organ donation by incompetents, in: Yale L. J. 111 (2002), S. 1215-1249; skeptisch Gerhard Aigner, Einwilligung Minderjähriger in eine Knochenmarkspende, in: RdM 1998, S. 144. Vgl. auch die amtlichen Erläuterungen zum Regierungsentwurf des Betreuungsgesetzes (BTDrs. 11/4528), wo sogar von der ausnahmsweisen Zulässigkeit der Entnahme eines Organs von einem Betreuten ausgegangen wird, etwa um das Leben eines Kindes dieser Person zu retten (a. a. O. S. 142). BGBl. I 2004/35. Diese Novelle erging in Umsetzung der Richtlinie 2001/20/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. 4. 2001 zur Angleichung der Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Anwendung der guten klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln, Abl. L 121/34 vom 1. 5. 2001. Vgl. dazu die Beiträge in: Erwin Bernat, Wolfgang Kröll (Hrsg.), Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, Wien 2003. § 42 Abs. 2 Z 2 AMG i.d.g.F. – Die Begriffe minimale Belastung und minimales Risiko werden in § 42 Abs. 2 Z 2 AMG näher definiert.
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V. Resümee Eine Rechtsordnung, die den Schwangerschaftsabbruch nicht nur straffrei stellt, sondern darüber hinaus auch noch legalisiert, die PID aber kategorisch verbietet, ist in sich widersprüchlich und sollte in die eine oder in die andere Richtung hin korrigiert werden. Ein kategorisches Verbot der Abtreibung ist allerdings grundsätzlich bedenklich, sofern der Embryo kein Grundrechtsträger ist. Ist der Ungeborene kein Träger eines Rechts auf Leben, gibt es auch keinen guten Grund, die Frau zu verpflichten, sich einen in vitro befindlichen Embryo einpflanzen zu lassen. In einer Rechtsordnung, die an der Legalität des Schwangerschaftsabbruchs durch Anerkennung der sog. Fristenregelung (§ 97 Abs. 1 Z 1 StGB) und der embryopathischen Indikation (§ 97 Abs. 1 Z 2 Fall 2 StGB) festhält, ist eine Freistellung der PID wesentlich einfacher zu begründen als in einer Rechtsordnung, die den Schwangerschaftsabbruch zwar ebenfalls erlaubt, aber nicht nach Willkür der Frau, sondern erst nach der Erkenntnis, dass der Abbruch ultima Ratio ist, um „eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Frau abzuwenden, und die Gefahr nicht auf andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann“ (§ 218a Abs. 2 deutsches StGB). Wird die embryopathische Indikation nur von einer medizinisch-sozialen Indikation „aufgefangen“,111 dann hängt die Legitimität der PID von der medizinisch-sozialen Erkenntnis ab, dass die Frau mit dem Austragen eines Kindes mit gewissen unerwünschten Eigenschaften „in einen existenziellen Konflikt geraten würde“.112 Stellt die Rechtsordnung den Schwangerschaftsabbruch nicht nur durch eine embryopathische Indikation frei, sondern anerkennt sie auch die sog. Fristenregelung, dann versteht es sich nicht von selbst, die Zulässigkeitsvoraussetzungen für die PID nur den Zulässigkeitsvoraussetzungen für den Schwangerschaftsabbruch
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Vgl. zum „Entfall“ der embryopathischen Indikation in § 218a Abs. 2 deutsches StGB die amtlichen Erläuterungen zum Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz (SFHÄndG, BGBl. I 1995, S. 1050), BT-Drs. 13/1850, S. 25 f.: „Von einer embryopathischen Indikation ist abgesehen worden. Vor allem die Äußerungen von Behindertenverbänden hatten nämlich aufgezeigt, dass eine derartige Regelung zu dem Missverständnis geführt hat, die Rechtfertigung ergebe sich aus einer geringeren Achtung des Lebensrechtes eines geschädigten Kindes. Zwar beruhten seit jeher die Regelungen betreffend die embryopathische Indikation demgegenüber auf der Erwägung, dass sich in solchen Fällen eine unzumutbare Belastung für die Schwangere ergeben kann. Durch die Formulierung der medizinischen Indikation in § 218a Abs. 2 StGB […] können diese Fallkonstellationen aufgefangen werden. Damit wird klargestellt, dass eine Behinderung niemals zu einer Minderung des Lebensschutzes führen kann“. Vgl. dazu Woopen, Zum Anspruch der medizinisch-sozialen Indikation zum Schwangerschaftsabbruch, in: Der Gynäkologe 32 (1999), S. 974-977. Nationaler Ethikrat, Genetische Diagnostik vor und während der Schwangerschaft, 2003, S. 106.
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wegen embryopathischer Indikation anzugleichen.113 Wenn der Gesetzgeber nämlich ein Recht der Frau anerkennt, im ersten Schwangerschaftstrimester nach Belieben abtreiben zu lassen, dann erscheint es nicht von vornherein selbstverständlich, die Legalität der PID nur mit der Legalität der Abtreibung wegen embryopathischer Indikation zu verknüpfen.114 Wir werden daher in Österreich ganz grundsätzlich diskutieren müssen, ob das derzeit geltende kategorische Verbot der PID nicht ebenso kategorisch beseitigt werden sollte.115
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So aber die „liberale“ Stellungnahme des PID-Berichts, sub II. 5. 2 und II. 5. 3., sowie in Ausführung des englischen Human Fertilisation and Embryology Act (1990) der Code of Practice, 6. Aufl. 2003, para 14. 21 f. Auch § 65 Abs. 3 des österreichischen Gentechnikgesetzes, der die Genanalyse im Rahmen einer pränatalen Untersuchung (in vivo) nur zulässt, „soweit dies medizinisch geboten ist“, steht in einem Spannungsverhältnis zu § 97 Abs. 1 Z 1 StGB. In diese Richtung argumentiert auch Gert, Applying morality to the nine Huntington disease cases: An alternative model for genetic counseling, in: Gert u. a. (Hrsg.), Morality and the New Genetics, S. 97, 117: “[G]iven the legality of first-trimester abortion for no reason at all, a secular testing facility need not have a policy restricting testing during the first trimester.” In der internationalen Diskussion ist etwa strittig, ob die PID zum Zweck der – medizinisch nicht indizierten – Geschlechtswahl zulässig sein soll. Vgl. dazu aus der reichhaltigen Literatur etwa Jose Egozcue, Preimplantation social sexing: A problem of proportionality and decision making, in: Journal of Assisted Reproduction and Genetics 19 (2002), S. 440-442; Guido Pennings, Personal desires of patients and social obligations of geneticists: Applying preimplantation genetic diagnosis for non-medical sex selection, in: Prenatal Diagnosis 22 (2002), S. 1123-1129; Robertson, Extending preimplantation genetic diagnosis: Medical and non-medical uses, in: Journal of Medical Ethics 29 (2003), S. 213-216; ders., Ethical issues in new uses of preimplantation genetic diagnosis, in: Human Reproduction 18 (2003), S. 465-471; Julian Savulescu, Edgar Dahl, A response to the Ethics Committee of the American Society of Reproductive Medicine, in: Human Reproduction 15 (2000), S. 1879 f.; Eric Scott Sills, Gianpiero D. Palermo, Preimplantation genetic diagnosis for elective sex selection, the IVF market economy, and the child – Another day’s journey into night?, in: Journal of Assisted Reproduction and Genetics 19 (2002), S. 433-437. Vgl. auch Art. 14 der Europaratskonvention über Menschenrechte und Biomedizin (v. 4. 4. 1997), wonach die „Verfahren der medizinisch unterstützten Fortpflanzung […] nicht dazu verwendet werden [dürfen], das Geschlecht des künftigen Kindes zu wählen, es sei denn, um eine schwere, erbliche geschlechtsgebundene Krankheit zu vermeiden.“
Schutz von Leben und Gesundheit durch europäische Grundrechte Anmerkungen zur Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Rudolf Bernhardt
A. Einleitung Gefahren, die Leben und Gesundheit des Einzelnen in der heutigen Welt bedrohen, lassen sich seit langem nicht mehr allein durch einzelstaatliche Maßnahmen bekämpfen. Internationale Kooperation und völkerrechtliche Normen sind angezeigt und unabdingbar, ob es um die Bekämpfung von altbekannten Seuchen oder um Aids geht, oder um grenzüberschreitende Umweltbeeinträchtigungen. Seit Jahrzehnten entwickelt sich hier ein Bestand an völkerrechtlichen Regelungen, und zwar im wesentlichen auf zweifache Weise. Einmal werden spezielle Normen zum Gesundheitsschutz erarbeitet und in Kraft gesetzt, die Weltgesundheitsorganisation ist hier auf universeller Ebene tätig, regionale Maßnahmen kommen hinzu.1 Zum zweiten werden traditionelle Mechanismen und Regeln des Völkerrechts für neue Probleme aktiviert, insbesondere bei grenzüberschreitenden Luftverschmutzungen2 wie im berühmten Trail Smelter-Fall3 und bei der Nutzung internationaler Flüsse4 und Gewässer; dabei geht es zwar primär um die Wahrung allgemeiner staatlicher Interessen, doch der Schutz der Bevölkerung vor Gefahren ist ebenfalls relevant. Wir wollen uns hier mit einigen völkerrechtlichen Mechanismen und Regeln beschäftigen, die erst in jüngerer Zeit für den Gesundheitsschutz bedeutsam geworden sind: International geschützte Grundrechte dienen als Garanten individuellen Lebens- und Gesundheitsschutzes. Einzelne Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sollen illustrieren, wie Grundrechtsnormen in diesem Bereich Schutzwirkungen entfalten. Die Europäische Menschenrechts-Konvention von 1950 trat 1953 in Kraft. Sie enthält im wesentlichen die traditionellen Freiheitsrechte als Abwehrrechte gegen 1
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Gerald G. Sander, Internationaler und europäischer Gesundheitsschutz: Gesundheitsrecht in WHO, FAO/CAK, WTO und EU, unter besonderer Berücksichtigung des Lebensmittelrechts, 2004. Albrecht Randelzhofer, Transfrontier Pollution, in: Rudolf Bernhardt (Hrsg.), Encyclopedia of Public International Law (EPIL), Vol. IV (2000), S. 913-119. Vgl. Kevin J. Madders, Trail Smelter Arbitration, in: EPIL IV (2000), S. 900-903. Julio A. Barberis, International Rivers, in: EPIL II (1995), S. 1364-1368.
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Übergriffe des Staates. Eine Europäische Menschenrechtskommission und ein Menschenrechtsgerichtshof haben bis Ende 1998 gemeinsam die Beachtung der Grundrechte kontrolliert, seitdem ist der Gerichtshof die einzige Rechtsprechungsinstanz, an die sich der Einzelne direkt wenden und bei der er ein Urteil erstreiten kann. Die Europäische Menschenrechts-Konvention enthält zwei Normen, die in erster Linie für den Schutz von Leben und Gesundheit in Betracht kommen: Das Recht auf Leben, garantiert in Art. 2, und das Recht auf Respektierung des Privatund Familienlebens (sowie der Wohnung), garantiert in Art. 8. Damit diese Freiheitsrechte überhaupt in nennenswertem Umfang für den Gesundheitsschutz in Betracht kommen, war eine Neuorientierung oder Ergänzung des allgemeinen Grundrechtsverständnisses erforderlich. Traditionell schützen die Grundrechte gegen Übergriffe des Staates, gegen Eingriffe staatlicher Organe. Gefahren für Leben und Gesundheit gehen in der heutigen Welt aber nicht selten von nichtstaatlichen Akteuren aus, oder der Staat unterlässt es, allgemeinen Umweltgefahren entgegen zu treten. Moderne Grundrechtsauffassungen weisen dem Staat eine Schutzfunktion zu, er muss nicht nur selbst von Eingriffen in den persönlichen Bereich absehen, sondern aktiv gegen Gefahren vorgehen, ob sie nun von diffusen Quellen oder einzelnen privaten Akteuren ausgehen. Dabei geht es nicht um die viel diskutierte Drittwirkung der Grundrechte, sondern um die den Staat direkt treffende Verpflichtung, zum Schutz von Leben und Gesundheit des Einzelnen tätig zu werden. Diese Art von Garantenhaftung und derartige Schutzpflichten des Staates sind nach und nach auch im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention anerkannt und entfaltet worden. Das soll an einzelnen Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gezeigt werden. Vollständigkeit ist weder angestrebt noch erreichbar. Uns interessiert das Exemplarische.
B. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Gericht, vor allem ein erst allmählich seine Rechtsprechung entfaltendes internationales Gericht, mit ganz unterschiedlichen Sachverhalten konfrontiert wird und nur von Fall zu Fall fortschreitend Prinzipien entwickeln und erarbeiten kann. Das zeigt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in besonderem Maße. Der Gerichtshof hat einen knappen Grundrechtskatalog mit recht allgemeinen, zum Teil auch vagen Vorschriften auszulegen und anzuwenden, und er muss versuchen, neuen Problemen mit Hilfe von Normen gerecht zu werden, die seit Jahrzehnten in Kraft sind und oft auf viel ältere Garantien in der Entwicklung der Grund- und Menschenrechte zurückgehen.
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I. Im Falle Lopéz Ostra v. Spanien,5 entschieden durch Urteil vom 9. Dezember 1994, ging es um den folgenden Sachverhalt: 12 Meter von der Wohnung der Beschwerdeführerin entfernt betrieb eine Gesellschaft ein Unternehmen der Abfallverwertung. Eine Lizenz der lokalen Behörden lag nicht vor, diese tolerierten den Betrieb, der üble Gerüche und für die Gesundheit der Anwohner gefährliche Substanzen verbreitete. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatte zu entscheiden, ob eine Verletzung von Art. 8 der Konvention vorlag; er bejahte das und fand, dass das Recht der Beschwerdeführerin auf Respektierung ihrer Wohnung und ihres Privatund Familienlebens verletzt sei. Ob man einen direkten Eingriff der Behörden oder eine Unterlassung von Schutzmaßnahmen für gegeben halte, sei nicht entscheidend, jedenfalls sei kein fairer Ausgleich zwischen den öffentlichen Belangen und dem Recht des Individuums gefunden worden: „[…] the Court considers that the State did not succeed in striking a fair balance between the interest of the town’s economic well-being – that of having a waste-treatment plant – and the applicant’s effective enjoyment of her right to respect for her home and her private and family life.“6
II. Im Fall Guerra v. Italien,7 entschieden vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte durch Urteil vom 19. Februar 1998, ging es um den Betrieb einer chemischen Fabrik in Italien. Die Beschwerdeführer beanstandeten, dass die Behörden keine hinreichenden Vorkehrungen gegen die von der Fabrik ausgehenden Gefahren getroffen und außerdem die betroffene Bevölkerung nicht über die Gefahren informiert hätten. Aus prozessualen Gründen konnte der Gerichtshof nur zum letzteren Punkt – der behaupteten Verletzung einer Informationspflicht – Stellung nehmen. Eine erste bedeutsame Rechtsfrage betraf den im vorliegenden Fall anwendbaren Artikel der Menschenrechts-Konvention: die Kommission hatte eine Verletzung der allgemeinen Informationsfreiheit (Art. 10) bejaht. Der Gerichtshof subsumierte den Fall nicht unter Art. 10, sondern unter Art. 8, da die Beschwerdeführer nicht als Träger der allgemeinen Meinungs- und Informationsfreiheit, sondern als in ihrem persönlichem Lebensbereich gefährdete Bewohner eines der Fabrik benachbarten Gebietes betroffen seien. Als solche könnten sie in ihren Rechten aus Art. 8 verletzt sein. Und zwar ging es hier um die Unterlassung positiver 5
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European Court of Human Rights (ECHR), Lopéz Ostra v. Spain, Judgment of 9 December 1994, Series A, No. 303-C. ECHR, Lopéz Ostra v. Spain, Series A, No. 303-C, S. 56, § 58. ECHR, Guerra and Others v. Italy, Judgment of 17 December 1998, Report of Judgments and Decisions 1998-I.
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Maßnahmen der Behörden zum Schutz der Betroffenen. Der Gerichtshof stellte im Ergebnis fest: „[…] the applicants waited, right up until the production of fertilisers ceased in 1994, for essential information that would have enabled them to assess the risks they and their families might run if they continued to live at Manfredonia, a town particularly exposed to danger in the event of an accident at the factory. The Court holds, therefore, that the respondent State did not fulfil its obligation to secure the applicants’ right to respect for their private and family life, in breach of Article 8 of the Convention.“8
III. Ein anderer Fall ist geeignet, die Grenzen staatlicher Verpflichtungen aufzuzeigen, positive Maßnahmen zugunsten des Einzelnen zu ergreifen. In Botta v. Italien,9 entschieden durch Urteil vom 24. Februar 1998, machte der Beschwerdeführer geltend, der Staat habe nicht genug getan, um ihm als Behinderten angemessenen Zugang zu einem privaten Badestrand zu verschaffen. Hier ging es also um die behauptete Fürsorgepflicht des Staates, für eine vom Schicksal benachteiligte Gruppe. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verneinte die Anwendbarkeit und damit auch die Verletzung von Art. 8 mit der Begründung, dass das behauptete Recht „[…] concerns interpersonal relations of such broad and indeterminate scope that there can be no conceivable direct link between the measures the State was urged to take in order to make good the omissions of the private bathing establishments and the applicant’s private life.“10
Wir lassen es dahingestellt, ob diese Begründung befriedigt oder nicht eher der weite Handlungsspielraum (margin of appreciation) des Staates hätte herangezogen werden sollen, um eine Verletzung der Konvention zu verneinen. IV. In anderen Fällen11 ging es um mögliche gesundheitliche Schäden als Folgen von Atomwaffen-Versuchen in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts im 8
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ECHR, Guerra and Others v. Italy, Report of Judgments and Decisions 1998-I., S. 228, § 60. ECHR, Botta v. Italy, Judgment of 24 February 1998, Reports of Judgments and Decisions 1998-I. ECHR, Botta v. Italy, Reports of Judgments and Decisions 1998-I, S. 423, § 35. ECHR, McGinley and Egan v. the United Kingdom, Judgment of 9 June 1998, Reports of Judgments and Decisions 1998-III. Siehe auch das Urteil vom gleichen Tag in L.C.B. v. the United Kingdom, daselbst abgedruckt; hier ging es um Informationen über die Strahlenbelastung des Vaters der Beschwerdeführerin.
Schutz von Leben und Gesundheit durch europäische Grundrechte
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Pazifischen Ozean. Die Beschwerdeführer behaupteten, sie seien bei den von der britischen Regierung angeordneten Versuchen radioaktiven Strahlungen ausgesetzt worden, die dauerhafte Gesundheitsschäden verursacht hätten. Da die Versuche selbst ratione tempore nicht unter die Jurisdiktion des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte fielen, ging es nur noch um den Zugang zu angeblich vorhandenen Unterlagen, aus denen sich Gefährdungen und Schäden ergeben könnten. Der Gerichtshof stellte grundsätzlich fest, dass der Staat verpflichtet sein könne, Betroffenen den Zugang zu einschlägigen Unterlagen zu eröffnen. „Where a Government engages in hazardous activities, such as those in issue in the present case, which might have hidden adverse consequences on the health of those involved in such activities, respect for private and family life under Article 8 requires that an effective and accessible procedure be established which enables such persons to seek all relevant and appropriate information.“12
Im Ergebnis wurde jedoch eine Verletzung der Menschenrechts-Konvention verneint, da das Vereinigte Königreich seinen Informationspflichten nachgekommen sei. In wieder einem anderen Fall13 ging es vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte um die Verantwortlichkeit einer Klinik für den Tod eines Neugeborenen bzw. um die Unmöglichkeit, den verantwortlichen Arzt strafrechtlich zu belangen. Wieder interessieren uns hier nicht die Details des konkreten Falles noch das Ergebnis des Verfahrens in Straßburg (der Gerichtshof verneinte eine Verletzung von Art. 2 der Konvention), sondern die prinzipiellen Ausführungen im Urteil: „[…] Article 2 […] enjoins the State not only to refrain from the ‚intentional’ taking of life, but also to take appropriate steps to safeguard the lives of those within its jurisdiction. Those principles apply in the public-health sphere too. The aforementioned positive obligations therefore require States to make regulations compelling hospitals, whether public or private, to adopt appropriate measures for the protection of their patients’ lives. They also require an effective independent judicial system to be set up so that the cause of death of patients in the care of the medical profession, whether in the public or the private sector, can be determined and those responsible made accountable.“14
V. Ein Unglück größeren Ausmaßes in der Türkei hat zu dem Urteil einer großen Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 30. November 12
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ECHR, McGinley and Egan v. the United Kingdom, Reports of Judgments and Decisions 1998-III, S. 1364, § 101. ECHR, Calvelli and Ciglio v. Italy (Grand Chamber), Judgment of 17 January 2002, Reports of Judgments and Decisions 2002-I, S. 25. ECHR, McGinley and Egan v. the United Kingdom, Reports of Judgments and Decisions 1998-III, S. 37, §§ 48 f.
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200415 geführt. Der Sachverhalt: Die Behörden hatten es längere Zeit toleriert, dass eine Mülldeponie und (illegale) Slum-Unterkünfte dicht beieinander existierten. Als Folge einer Methangas-Explosion und eines Erdrutsches wurden mindestens 10 Behausungen zerstört und 39 Menschen getötet. Ein Betroffener, der Angehörige verloren hatte, wandte sich an den Straßburger Gerichtshof, dieser bejahte eine Verletzung von Art. 2 der Konvention und führte u. a. aus: „[…] the Court reiterates that Article 2 does not solely concern deaths resulting from the use of force by agents of the State but also, in the first sentence of its first paragraph, lays down a positive obligation on States to take appropriate steps to safeguard the lives of those within their jurisdiction […] The Court considers that this obligation must be construed as applying in the context of any activity, whether public or not, in which the right to life may be at stake, and a fortiori in the case of industrial activities, which by their very nature are dangerous, such as the operation of waste-collection sites.“ „The positive obligation to take all appropriate steps to safeguard life for the purposes of Article 2 […] entails above all a primary duty on the State to put in place a legislative and administrative framework designed to provide effective deterrence against threats to the right to life […] This obligation indisputably applies in the particular context of dangerous activities, where, in addition, special emphasis must be placed on regulations geared to the special features of the activity in question, particularly with regard to the level of the potential risk to human lives. They must govern the licensing, setting up, operation, security and supervision of the activity and must make it compulsory for all those concerned to take practical measures to ensure the effective protection of citizens whose lives might be endangered by the inherent risks. Among these preventive measures, particular emphasis should be placed on the public’s right to information, as established in the case-law of the Convention institutions.“16
VI. Abschließend soll noch ein Fall genannt werden, bei dem man nach Ansicht des Verfassers fragen kann und muss, ob nicht zuweilen die Fürsorgepflicht des Staates überspannt wird. In einem Urteil vom 12. Juli 200317 hat eine Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte mit 4:3 Stimmen entschieden, dass der Staat dafür zu sorgen hat, dass eine transsexuell veranlagte Person die Kosten der operativen Geschlechtsumwandlung von der privaten Krankenversicherung erstattet bekommt.
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ECHR, Öneryildiz v. Turkey (Grand Chamber), Judgment of 30 November 2004 (noch nicht in der amtlichen Sammlung). §§ 71, 89, 90 des Urteils. ECHR, van Kück v. Germany, Judgment of 12 June 2003, Reports of Judgments and Decisions 2003-VII, S. 1.
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C. Zusammenfassung Diese wenigen Beispiele, denen sich weitere – u. a. zum Schutz gegen Lärmbelästigungen18 - hinzufügen ließen, zeigen die Verbindung zwischen traditionellen Normen zum Schutz von Grundrechten und den Aufgaben des Staates in einer sich wandelnden Welt. Das an die Staaten gerichtete Verbot, selbst handelnd in den Individualbereich einzugreifen, wird ergänzt durch eine Schutzpflicht des Staates, der nach wie vor in erster Linie und in der Regel allein in der Lage ist, regulierend und machtausübend gegen Fehlentwicklungen vorbeugend oder repressiv vorzugehen. Wenn ein internationales Gericht, insbesondere ein Gericht zum Schutz der Menschenrechte, hier judizierend tätig wird, ist ein Grundproblem von besonderer Bedeutung: Die zuständigen staatlichen Organe, vor allem der Gesetzgeber und die Exekutive, sind in erster Linie dazu berufen und in der Lage, die notwendigen Maßnahmen zum Schutz der Gesellschaft und des einzelnen zu ergreifen. Ein internationales Gericht kann in der Regel nur bei gravierenden Fehlentwicklungen eine Grundrechtsverletzung feststellen. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in diesem Zusammenhang eine Doktrin entwickelt, die unter dem Stichwort „margin of appreciation“, „marge d’appréciation“ Zustimmung und Widerspruch gefunden hat. Bei staatlichen Eingriffen wie bei der staatlichen Tolerierung von gesellschaftlichen Entwicklungen steht dem Staat und seinen Organen ein Bewertungsspielraum zu, der von dem Gerichtshof prinzipiell zu respektieren ist, doch er wacht darüber, dass die Grenzen dieses Spielraums nicht zum Nachteil des einzelnen missachtet werden. Das sollten die zuvor skizzierten praktischen Fälle illustrieren.
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Dazu neuerdings ein Urteil des ECHR vom 16. November 2004, Moreno Gómez v. Spain (noch nicht in der amtlichen Sammlung).
Die zahnärztliche Aufklärungspflicht bei Standardheileingriffen Anke Borsdorff
A. Einleitung In jeder zahnärztlichen Praxis kommen die Leitungsanästhesie, die Extraktion oberer Zähne, die Extraktion unterer Weisheitszähne und die Wurzelbehandlung tagtäglich als sehr häufige, fast routinemäßige Standardheileingriffe1 vor. Auch diese Standardheileingriffe sind mit Risiken behaftet, die sich jedoch sehr selten verwirklichen. Gerade aber wegen der Häufigkeit dieser Heileingriffe und der seltenen Risiken stellt sich die Frage der Erforderlichkeit einer Patientenaufklärung in der Zahnmedizin. Während die aus dem Selbstbestimmungsrecht des Patienten resultierende ärztliche Aufklärungspflicht in der allgemeinen Medizin nicht mehr hinweg zu denken ist, erfolgt die Patientenaufklärung in der Zahnmedizin immer noch sehr zurückhaltend. Im zahnmedizinischen Praxisalltag nimmt das Aufklärungsgespräch üblicherweise einen eher geringen Anteil ein. Demgegenüber steht, dass es zwischenzeitlich eine Vielzahl von Rechtsprechung gibt, die immer wieder Aufklärungsdefizite in der Zahnmedizin rügt, mit der Folge von Schadensersatz und Wegfall des ärztlichen Honoraranspruchs bis hin zu Strafvorwürfen gegen Zahnärzte. Dass die ärztliche Aufklärung in der Zahnmedizin bisher nicht so intensiv erfolgt, wie in sonstigen Fachrichtungen der Medizin, mag wohl darin begründet sein, dass es sich in der Zahnmedizin um ambulante Heileingriffe handelt, die teils sowohl von Patienten als auch vom Zahnarzt regelmäßig als nicht so schwerwiegend angesehen werden. Denn gerade zahnärztliche Heileingriffe, die risikobehaftet sind, sind häufig zur Zahnschmerzvermeidung zwangsnotwendig und stellen sich somit sowohl für den Patienten als auch für den behandelnden Zahnarzt als unvermeidbar dar. Kaum ein Patient würde beispielsweise bei einer erforderlichen Zahnextraktion auf eine Betäubung verzichten, selbst wenn er über schwerwiegende Risiken aufgeklärt wurde. Diese Tatsache, dass gerade in der Zahnmedizin vielfach Heileingriffe zwangsnotwendig und unvermeidbar sind, mag Grund dafür sein, dass vielfach der Aufklärung durch den Zahnarzt keine besondere Bedeutung beigemessen wird. Es fragt sich daher, ob diese Einschätzung von Zahnarzt und 1
Hier soll lediglich auf die in der zahnärztlichen Praxis häufigsten Standardheileingriffe eingegangen werden. Die anderen eher seltener vorkommenden Heileingriffe erfordern darüber hinaus eine sorgfältige Aufklärung durch den behandelnden Zahnarzt. Die Aufklärung über diese Risiken bei spezielleren Heileingriffen stellt sich in der Zahnmedizin ebenso wie in der sonstigen Medizin als selbstverständlich dar.
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Patient bei Standardheileingriffen sich auch auf die zahnärztliche Aufklärungspflicht auswirkt oder ob auch hierbei das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ein umfassendes Aufklärungsgespräch erfordert.
B. Die zahnärztliche Aufklärungspflicht Die zahnärztliche Aufklärungspflicht umfasst, ebenso wie die allgemeine ärztliche Aufklärungspflicht, die Aufklärung über die Krankheit, die Diagnoseaufklärung, über die Risiken einer Zahnbehandlung, die Risikoaufklärung und über den Ablauf der vorgeschlagenen Maßnahmen, die Verlaufsaufklärung. Letztere kommt in der Zahnmedizin insbesondere bei der Wurzelbehandlung zum Tragen, da diese zwar einen aussichtsreichen, aber dennoch nur einen Behandlungsversuch darstellt und es trotz umfangreicher Bemühungen zur Entfernung des Zahnes kommen könnte. Von dieser Selbstbestimmungsaufklärung ist die therapeutische Aufklärung in Ausgestaltung der ärztlichen Beratungspflicht zu unterscheiden. Die therapeutische Aufklärung umfasst die Beratungspflichten des Zahnarztes, durch die der Patient zu therapiegerechtem Verhalten angeleitet werden soll. So stellt es eine regelwidrige Behandlung dar, wenn der Zahnarzt dem Patienten die therapeutische Information vorenthält, dass beispielsweise eine behandlungsbedürftige Parodontitis vorliegt und die Parodontosebehandlung infolgedessen unterbleibt2. Die Pflicht des Zahnarztes, einen Patienten über die voraussichtlichen Behandlungskosten zu informieren, gehört nicht zur Aufklärungspflicht im eigentlichen Sinne. Die Information über die Behandlungskosten stellt eine vertragliche Nebenpflicht des zahnärztlichen Behandlungsvertrages dar. Dies hat zur Folge, dass nicht der Zahnarzt die ordnungsgemäße Aufklärung beweisen muss, sondern der Patient die Pflichtverletzung3. Regelmäßig ist davon auszugehen, dass durch Übersendung eines Heil- und Kostenplanes auf die voraussichtlichen Behandlungskosten hingewiesen worden ist4. Das Überschreiten des im Heil- und Kostenplan ausgewiesenen Betrages führt nicht zu einer Nebenpflichtverletzung, wenn in dem mit dem Patienten besprochenen Heil- und Kostenplan nachvollziehbar bekundet ist, dass der Gebührenfaktor erst anhand der Schwierigkeit des Falles durch den jeweiligen Steigerungswert festgelegt werden kann und gewisse Maßnahmen, beispielsweise konservierend-chirurgische, nicht im Heil- und Kostenplan enthalten sind5. Die Grenze der Aufklärungspflicht über die Erstattung von Heilbehandlungskosten ist jedoch dann erreicht, wenn Modalitäten privater Versi-
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LG Hamburg, Az. 3230272/95, www.forum-med.de. Vgl. zur ähnlich gelagerten Problematik der Aufklärung über die voraussichtliche stationäre Behandlungsdauer: Erich Steffen. Wolf Dieter Dressler, Arzthaftungsrecht: Neue Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung, 8. Aufl., Köln 1999, Rdnr. 323 f. OLG Celle, Urt. v. 28. 05. 2001, Az.: 1 U 28/00, Juris-Datenbank, S. 1. OLG Celle, Urt. v. 28. 05. 2001, Az.: 1 U 28/00, Juris-Datenbank, S. 2.
Die zahnärztliche Aufklärungspflicht bei Standardheileingriffen
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cherungsverträge betroffen sind, die nicht mehr in den zahnärztlichen Verantwortungsbereich fallen6. Wenngleich der größte Teil der Rechtsprechung zur ärztlichen Aufklärung7 in der allgemeinen Medizin entwickelt worden ist, sind deren Grundaussagen auch auf die Zahnmedizin übertragbar. So hat die Aufklärung auch in der Zahnmedizin individuell in einem Aufklärungsgespräch zwischen Arzt und Patient zu erfolgen. Hierbei ist entscheidend, dass die Aufklärung in einer für den Patienten verständlichen Weise erfolgt. Im Aufklärungsgespräch hat sich auch der Zahnarzt zu bemühen, die Informationen dem individuellen Auffassungsvermögen, der Verständnisfähigkeit sowie dem Wissensstand des Patienten anzupassen und sich zugleich davon zu überzeugen, dass dieser die ärztliche Aufklärung auch versteht.8 Im zahnmedizinischen Alltag erfolgt die Aufklärung der Patienten regelmäßig nur mündlich in einem Arzt-Patienten-Gespräch ohne den Einsatz von schriftlichen Aufklärungsprotokollen. Der Patient erhält kein Formular, das ihn über mögliche Risiken des Eingriffs informiert. Die Unterschrift des Patienten fehlt regelmäßig. Damit wird der Nachweis problematisch, dass die Patienten umfassend aufgeklärt wurden und in Kenntnis dieser Risiken dem Eingriff zugestimmt haben. Wenn auch solche Aufklärungsprotokolle in der zahnärztlichen Praxis überwiegend abgelehnt werden,9 ist dem behandelnden Zahnarzt zumindest zu einer schriftlichen Fixierung über die Durchführung des Aufklärungsgesprächs im Krankenblatt zu raten.10 So sollte der behandelnde Zahnarzt eine Dokumentation vornehmen über die Patientenaufklärung mit Hinweisen auf das Aufklärungsge6
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L. Michalski, (Zahn-) Ärztliche Aufklärungspflicht über die Ersatzfähigkeit von Heilbehandlungskosten, in: VersR 1997, S. 137-145. Vgl. hierzu grundsätzlich Adolf Laufs, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002; Bernd-Rüdiger Kern, Adolf Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, Berlin u. a. 1983; Erwin Deutsch, Medizinrecht, Arztrecht, Arzneimittelrecht und Medizinproduktrecht, Berlin u. a. 1983; M. Oehmichen, (1997) Aufklärung und rechtswirksame Einwilligung, in: Jürgen Durst (Hrsg.), Traumatologische Praxis in einem Band. Standards in Diagnostik und Therapie für alle Fachgebiete, Stuttgart, New York 1997, S. 131-138. Hierzu u. a.: D. J. Byrne, A. Napier, A. Cuschieri, How informed is signet consent? in: BMJ 1988, 296, p. 839-840; Roy A. Carr-Hill, The Measurment of Patient Satisfaction, in: Journal of Public Health Medicine 1992, vol. 14, no. 3, p. 236-249; Gudrun Flechsig, Motivation und Erfahrung von Patienten im Zusammenhang mit kieferorthopädischen Operationen. Diss. Göttingen 1994; Margrit Kessler, Karin Faisst, Wolfgang Kessler, Patientenzufriedenheit nach Operationsaufklärung, in: Schweizerische Ärztezeitung 2000, S. 1856; Wolf R. Kraft, Das präoperative Aufklärungsgespräch – eine empirische Studie zur Verbesserung von Einwilligungsgesprächen, Diss. Hamburg 1987; Hatto Neubacher, Aufklärungsverständnis in der Zahnmedizin, Diss. Lübeck 2004; K. C. Saw, A. M. Wood, K. Murphy, J. R. Perry, W. G. Hartfall, Informed consent, in: J Roy Soc Med 1994, 87, p. 739-744.; B. Williams, Patient Satisfaction: a valid concept? in: Social Science and medicine, 1994, vol. 38, no.4, 509-516. Siehe u. a. insbesondere die ablehnenden Ausführungen zu Aufklärungsformularen bei Günther Konrad Riess, Die Aufklärungspflicht: Eine kritische Beurteilung aus Zahnmedizinischer Sicht, Diss. Mainz 1984, S. 45 ff.. So rät auch OLG Zweibrücken, Az. 5 U 25/99, OLGR-KSZ 2000, S. 549-551.
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spräch hinsichtlich der Informationen zur Diagnose und Art des geplanten Eingriffs, zu den möglichen Risiken, Alternativbehandlungen und zum Behandlungsplan. Ebenso ist es ratsam Hinweise auf Nachfragen des Patienten, die Aufschluss geben über dessen Aufklärungsverständnis mit im Krankenblatt zu dokumentieren. Gegebenenfalls ist dem Zahnarzt zusätzlich zu empfehlen, durch Dokumentation von Rückfragen sicherzustellen, dass der Patient die Aufklärung auch wirklich verstanden hat11. Für eine rechtswirksame Einwilligung in den ärztlichen Heileingriff ist der Nachweis von Interesse, ob und inwieweit Patienten die mündliche Aufklärung durch den Zahnarzt verstanden haben. Auch in der Zahnmedizin deckt nur die vom Patienten auch verstandene Aufklärung die von ihm gegebene Einwilligung ab. Eine infolge von Aufklärungsdefiziten unwirksame Einwilligung könnte Zweifel am Zustandekommen oder dem Inhalt des Behandlungsvertrages und zudem die Rechtsfolgen einer unerlaubten Handlung mit Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüchen bis hin zu einer Strafbarkeit des behandelnden Zahnarztes auslösen. Aufgrund dieser Tatsachen nähert sich auch die Zahnmedizin in der Praxis12 der Problematik der zahnärztlichen Aufklärung an und setzt sich auch wissenschaftlich13 vermehrt damit auseinander.
C. Zahnärztliche Aufklärungspflicht bei nicht vermeidbaren Standardheileingriffen Der Tendenz, dass sich mehr und mehr in der Zahnmedizin ein Aufklärungsgespräch durchsetzt, erscheint die neuere OLG-Rechtsprechung gegenläufig, die gerade bei Risiken von Standardheileingriffen in der Zahnmedizin eine Aufklärungspflicht des Zahnarztes entfallen lässt. So stellte das OLG Zweibrücken14 fest, dass nicht über Risiken einer Behandlung aufgeklärt werden müsse, wenn nur in entfernt seltenen Fällen Probleme auftreten und anzunehmen sei, dass ein vernünftiger Patient trotzdem in die Behandlung einwilligen würde. Dies wäre insbesondere dann der Fall, wenn aufgrund der Art und Intensität der Behandlung davon auszugehen ist, dass der Patient auch bei Aufklärung nicht auf eine Betäubung während des Eingriffs verzichtet hätte.15 11 12 13
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Neubacher, Aufklärungsverständnis in der Zahnmedizin, S. 7 u. S. 76 ff. Riess, Die Aufklärungspflicht. Kristina Grittner, Die Aufklärungspflicht des Zahnarztes, Diss. Münster 1987; Reinhold von der Haar, Schädigung des Nervus alveolaris inferior und des Nervus lingualis. Eine vergleichende Studie über Sachverständigengutachten und Rechtsprechung, Diss. Münster 1991; Klaus Kreger; Ärztliche Aufklärungspflicht unter besonderer Berücksichtigung der Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Diss. München 1984; Neubacher, Aufklärungsverständnis in der Zahnmedizin; sowie Presse-Information 125/1997 Universität Köln, www.uni-koeln.de/pi/i/1997.126.htm; Alexander Rowen, Aufklärungspflicht in der zahnärztlichen Chirurgie, Diss. Mainz 1984. OLG Zweibrücken Az. 5 U 25/99, OLGR-KSZ 2000, S. 549-551. OLG Zweibrücken Az. 5 U 25/99, OLGR-KSZ 2000, S. 549-551.
Die zahnärztliche Aufklärungspflicht bei Standardheileingriffen
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In einer weiteren Entscheidung verneint das OLG Oldenburg16 die zahnärztliche Aufklärungspflicht über Knochen und Wundinfektionen bei einer Zahnextraktion, da „bei jedem Patienten Kenntnisse der allgemeinen Operationsrisiken vorausgesetzt werden könnten“. Es stellt sich angesichts dieser Rechtsprechung die Frage, ob in der Zahnmedizin überhaupt noch ein Aufklärungsgespräch bei Standardheileingriffen, die die häufigsten Behandlungsalternativen in der zahnärztlichen Praxis darstellen, erfolgen muss oder ob diese Eingriffe als zumeist unvermeidbare und mit für den Patienten allgemein bekannten Risiken behaftet sind und damit keiner Aufklärung mehr bedürfen. Folge hiervon wäre, dass in der Zahnmedizin nur noch bei spezielleren Heileingriffen, die höhere Risiken in sich bergen, beim Vorliegen von echten Behandlungsalternativen, die dem Patienten eine Wahlmöglichkeit eröffnen und bei patientenspezifischen Risiken aufzuklären wäre. Dies würde zugleich die bisherige eher zurückhaltende Aufklärungspraxis im zahnärztlichen Alltag entsprechen.
D. Anforderungen an die Aufklärungspflicht bei häufigen Standardheileingriffen in der Zahnmedizin In der Zahnmedizin zählen die Leitungsanästhesie, die Extraktion im Oberkiefer und die Extraktion unterer Weisheitszähne sowie die Wurzelbehandlung als die häufigsten Behandlungsalternativen. Auch bei diesen Standardheileingriffen kann es für den Patienten zu Risiken kommen, die eine erhebliche Lebensbeeinträchtigung darstellen, beispielsweise bei einer Nervverletzung des nervus alveolaris inferior oder nervus lingualis zu einer hängenden Unterlippe, anhaltendes Taubheitsgefühl, Sprachstörungen. Aufgrund dieser für den Patienten möglicherweise schweren Beeinträchtigungen wird auf eine Aufklärung bei diesen sich ständig wiederholenden Heileingriffen nicht ganz vollständig verzichtet werden können. Daher ist im Lichte der neueren OLG-Rechtsprechung zu hinterfragen, welche Anforderungen bei den häufigsten Behandlungsalternativen in der zahnmedizinischen Praxis an das zahnärztliche Aufklärungsgespräch zu stellen sind.
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OLG Oldenburg, Az. 5 U 154/03. Das OLG führt in seiner Entscheidung aus: Knocheninfektionen gehören zu den häufigsten Komplikationen nach Zahnentfernungen, die auch bei fachgerechter Zahnextraktion nicht ausgeschlossen werden könnten. Bei der Aufklärung des Patienten sei der Hinweis auf eine mögliche Wundinfektion nicht notwendig, weil bei jeden Patienten Kenntnisse der allgemeinen Operationsrisiken vorausgesetzt werden könnten.
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I. Anforderung an die Aufklärung bei der Leitungsanästhesie Da es sich bei der Leitungsanästhesie17 lediglich um eine begleitende Maßnahme zu einer anderen zahnärztlichen Behandlung handelt, entfallen bei diesem Heileingriff regelmäßig die Diagnose-, Therapie- und Verlaufsaufklärung, so dass lediglich eine Risikoaufklärung zu erfolgen hat. Somit ist der Patient nur aufzuklären über die bei einer Anästhesie möglicherweise auftretenden Komplikationen, die selbst bei einer sicheren Beherrschung der Anästhesietechniken durch den behandelnden Zahnarzt vorkommen können. Hierbei muss der Zahnarzt den Patienten grundsätzlich über die Möglichkeit einer Nervverletzung aufklären18. Die Komplikationsdichte bei der Verletzung des nervus alveolaris inferior und lingualis im Zusammenhang mit zahnärztlichen Maßnahmen in der Leitungsanästhesie liegt jedoch nur bei einer Größenordnung unter 0,05 %. Aufgrund dieses sehr geringen Risikos gelangte bereits Grittner19 zu dem Schluss, dass dieses Risiko nicht aufklärungsbedürftig wäre. Demgegenüber wurde bisher von der Rechtsprechung aber gerade eine Aufklärung über das Risiko einer Nervverletzung verlangt.20 Allerdings scheint die neuere OLG-Rechtsprechung21 die von Grittner22 vertretene Ansicht zunächst zu bestätigen. Hiernach muss nicht über Risiken einer Leitungsanästhesie aufgeklärt werden, wenn nur in entfernt seltenen Fällen Probleme auftreten und anzunehmen ist, dass ein vernünftiger Patient trotz der Kenntnis dieser Risiken in die Behandlung einwilligen würde. Zu den danach nicht aufklärungsbedürftigen Risiken einer Anästhesie zählen insbesondere örtliche Komplikationen, wie Hämatome, Schleimhautnekrosen, Nachschmerz, Infektionen im Injektionsbereich, lokale Reizerscheinungen, Heilungsstörungen etc., ebenso die Unverträglichkeit der Anästhesielösung oder unerwünschte Nebenwirkungen durch gefäßkontrollierende Zusätze, sind angesichts der sehr geringen Komplikationsrate von 1-2% nicht aufklärungsbedürftig, zumal vielfach ein zahnärztlicher Eingriff ohne diese Anästhesie nicht zumutbar und vertretbar wäre. Entscheidend für den Wegfall eines Aufklärungsgespräches bei der Leitungsanästhesie ist jedoch nicht allein ein geringes Risiko. Die zahnärztliche Aufklä17
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Vgl. zu den dargestellten aufklärungsbedürftigen Umständen bei der Leitungsanästhesie Ulrike Krinner, Die Auswirkungen der Leitungsanästhesie, Diss. Regensburg 1990; Eva-Maria Erlemeier, Vergleich von Kreislaufparametern bei Extraktion unterer Molaren, Diss. Göttingen 1987; Bernd Schiller, Zur Häufigkeit bleibender Schädigungen des Nervus alveolaris inferior, Diss. München 1985; von der Haar, Schädigung des Nervus alveolaris inferior und des Nervus lingualis. Hierzu Georg Gaisbauer, Zur Aufklärungspflicht über Nervläsionen bei Zahnextraktion, in: VersR 1991, 865 f.; LG Frankenthal, MedR 1988, 569 ff.; vgl. auch von der Haar, Schädigung des Nervus alveolaris inferior und des Nervus lingualis. Grittner, Die Aufklärungspflicht des Zahnarztes, S. 65. Siehe dazu auch Gaisbauer, in: VersR 1991, 865 f.; LG Frankenthal, MedR 1988, 569 ff. OLG Zweibrücken Az. 5 U 25/99, OLGR-KSZ 2000, S. 549-551. Grittner, Die Aufklärungspflicht des Zahnarztes, S. 65.
Die zahnärztliche Aufklärungspflicht bei Standardheileingriffen
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rung über die Risiken einer Leitungsanästhesie kann insbesondere dann entfallen, wenn aufgrund der Art und Intensität der Behandlung die Betäubung unvermeidbar erscheint und davon auszugehen ist, dass der Patient auch bei Aufklärung nicht auf eine Betäubung während des Eingriffs verzichtet hätte23. Dies wird gerade dann der Fall sein, wenn der Patient, wie häufig bei zahnärztlichen Behandlungen aufgrund seiner Zahnschmerzen keine Alternative mehr zu dem Heileingriff hat. Anders wird aber weiterhin eine Aufklärung erforderlich sein, wenn es sich um Wahlbehandlungen handelt und der zahnärztliche Eingriff auch ohne Anästhesie erfolgen könnte, da sie mit nur geringem Schmerz verbunden sind, wie kleinere Füllung, Zahnsteinentfernungen etc. Gleiches wird der Fall sein, wenn ein spezifisches sich aus der Patientensituation ergebenes erhöhtes Risiko besteht. Da gerade eine Nervverletzung mit erheblichen die Lebensqualität beeinträchtigenden Folgen verbunden sein kann, ist der Patient dann über diese Risiken aufzuklären. Diese Risiken sind insbesondere, dass durch die Injektion der nervus alveolaris inferior24 verletzt werden kann. Folge hiervon könnten Sensibilitätsstörungen der Unterlippe sein mit der Auswirkung, dass die Kontrolle über den Lippenschluss verloren geht. Damit verbunden wären für den betroffenen Patienten erhebliche Lebensbeeinträchtigungen, da dadurch beim Trinken die Flüssigkeit wieder aus dem Mund laufen könnte. Des Weiteren könnten Gefühlseinschränkungen im Lippenbereich auftreten, wie auch eine mimische Starre, die zu einer hängenden Unterlippe führen kann. Überdies ist darüber aufzuklären, dass durch die Injektion der nervus lingualis25 verletzt werden könnte mit der Folge, dass die betroffene Zungenseite beeinträchtigt wird. Es kann zu bleibendem Taubheitsgefühl in der Zunge führen, was Sprachprobleme nach sich ziehen kann. Des Weiteren könnte es zu Geschmacksstörungen kommen und eventuell könnten Störungen des Heiß- und Kaltempfindens auftreten.26 Wenn auch die Wahrscheinlichkeit des Auftretens dieser Risiken sehr gering ist, stellen sie doch für den Patienten ganz erhebliche, die Lebensqualität beeinträchtigende Folgen dar, so dass nicht einfach allein aufgrund des geringen Risikos eine Aufklärung darüber entfallen kann.27 Allerdings wird aber auch angesichts der OLG-Rechtsprechung28 das zahnärztliche Aufklärungsgespräch nicht über alle diese möglichen Folgen einer Leitungsanästhesie informieren müssen. Es wird der Aufklärungspflicht genügen, dass grundsätzlich auf das Risiko einer Nervverletzung und deren Folgen hingewiesen 23 24
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OLG Zweibrücken Az. 5 U 25/99, OLGR-KSZ 2000, S. 549-551. Schiller, Zur Häufigkeit bleibender Schädigungen des Nervus alveolaris; von der Haar, Schädigung des Nervus alveolaris inferior und des Nervus lingualis; und Markus Hundhammer, Sensibilitätsstörunen des Nervus alveolaris inferior nach Unterkieferfrakturen, Diss. München 1980. von der Haar, Schädigung des Nervus alveolaris inferior und des Nervus lingualis; Claus Ricken, Klinische und neurophysiologische Befunde bei Ausfall des Nervus lingualis, Diss. Bonn 1979. Neubacher, Aufklärungsverständnis in der Zahnmedizin, S. 14. Anderer Ansicht dagegen Grittner, Die Aufklärungspflicht des Zahnarztes, S. 65. OLG Zweibrücken Az. 5 U 25/99, OLGR-KSZ 2000, S. 549-551; OLG Oldenburg, Az. 5 U 154/03.
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wird, wobei diese in Anbetracht der geringen Wahrscheinlichkeit der Risikoverwirklichung auf das Wesentliche zusammengefasst dargestellt werden können. Hierbei werden insbesondere auch Vorkenntnisse und Vorerfahrung des Patienten zu berücksichtigen sein. Ist ein solcher Standardheileingriff bei einem Patienten bereits mehrfach durchgeführt und er in diesem Zusammenhang darüber aufgeklärt worden, kann man davon ausgehen, dass dem Patienten diese Risiken bekannt sind. In solchen Fälle kann dann ein Hinweis auf die letzte, zeitlich noch nicht so lang entfernte Behandlung und Aufklärung genügen oder, wenn der Heileingriff schon häufig erfolgt ist, auch ganz entfallen. Dies steht auch im Kontext mit den Aussagen der Rechtsprechung, die keine Aufklärung über bekannte Risiken verlangt.29 Allerdings wird der Zahnarzt bei jeder Behandlung zusätzlich differenzieren müssen, ob die Leitungsanästhesie zwangsläufig erfolgen muss, z.B. bei der Zahnextraktion, die kaum jemand ohne Betäubung zulassen würde, oder ob der Heileingriff auch ohne Anästhesie erfolgen könnte, weil die Schmerzen als eher gering einzustufen sind, wie unter anderem im Falle einer kleineren Füllung. Im letzteren Fall müsste die Aufklärung über Risiken der Leitungsanästhesie auf jeden Fall immer erfolgen und auch umfangreicher ausfallen, da die Anästhesie ja eigentlich verzichtbar wäre und hier eine Wunschbehandlung darstellt.30 Dieser Fall ist von der Rechtsprechung des OLG31 nicht mit umfasst. Da diese den Verzicht auf eine Aufklärung nur bei unvermeidbaren Heileingriffen annimmt, muss bei eigentlich vermeidbaren Heileingriffen im Umkehrschluss immer eine Aufklärung erfolgen. Somit kann im Falle einer Wunschbehandlung nicht auf die Risikoaufklärung verzichtet werden. Ist jedoch die Anästhesie wie im ersten Falle unverzichtbar, kann der Hinweis auf die möglichen Folgen einer Nervverletzung im Aufklärungsgespräch sogar ganz entfallen. Allerdings ist auch dann grundsätzlich ein Aufklärungsgespräch erforderlich. Verzichtbar ist in solchen Fällen lediglich der Hinweis auf die Risiken der Anästhesie. Insbesondere ist der Zahnarzt im Rahmen der Sicherungsaufklärung gehalten, den Patienten darauf hinzuweisen, dass eine Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit insbesondere im Straßenverkehr aber auch bei bestimmten Arbeiten gegeben sein kann. Ebenso besteht eine Verletzungsgefahr z.B. durch brennende Zigaretten, heiße Getränke oder Bissverletzungen als Folge der Anästhesie.32 Somit ist der Patient darüber aufzuklären, dass nach der Behandlung für die Dauer der noch nachwirkenden Anästhesie, ca. 2-4 Stunden, nicht Auto gefahren werden darf.33
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Die Aussagen des OLG Oldenburg, Az. 5 U 154/03, zu den allgemeinen Operationsrisiken wird hier auf die wiederholte durchgeführte Aufklärung und Behandlung übertragbar sein. Neubacher, Aufklärungsverständnis in der Zahnmedizin, S. 69 ff. u. 76 ff. OLG Zweibrücken Az. 5 U 25/99, OLGR-KSZ 2000, S. 549-551. Grittner, Die Aufklärungspflicht des Zahnarztes, S. 65. Grittner, Die Aufklärungspflicht des Zahnarztes, S. 117 ff., weiter vertiefend hierzu auch Riess, Die Aufklärungspflicht, S. 37 ff.
Die zahnärztliche Aufklärungspflicht bei Standardheileingriffen
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II. Anforderung an die Aufklärung bei der Zahnextraktion Bei der Zahnextraktion sind im Rahmen der Selbstbestimmungsaufklärung die Diagnose- und Risikoaufklärung zu berücksichtigen. Hierbei gehört zu der Diagnoseaufklärung nicht nur die Mitteilung der für die Zahnextraktion erforderlichen Indikation, sondern auch, dass der Zahnarzt dem Patienten gegebenenfalls auch entgegen dessen Ansicht mitteilt, dass keine Indikationen für eine Zahnextraktion vorliegen und diese verweigert.34 Da es sich bei der Zahnextraktion um einen sehr kurzen und in der Darstellung für den Patienten wenig komplizierten, klaren Eingriff handelt, entfallen regelmäßig Informationen zur Verlaufsaufklärung. Dies muss umso mehr gelten, wenn zur Zahnextraktion keine Behandlungsalternative besteht. Allerdings wäre auch hier die Verlaufsaufklärung angezeigt, wenn es Behandlungsalternativen zur Extraktion gibt. Dies könnte eine Wurzelbehandlung oder eine Wurzelresektion sein. Eine solche Aufklärung ist jedoch nur dann erforderlich, wenn eine Behandlungsalternative auch eine realistische Alternative bietet. Stellen sich die Risiken einer Alternativbehandlung als zu hoch dar, ist ein eventueller Aufklärungsmangel nicht schadensträchtig.35 Schwerpunktmäßig wird der Zahnarzt somit bei der Zahnextraktion die Risikoaufklärung vornehmen. Eine Verlaufsaufklärung wird nur dann wichtig, wenn es eine realistische Alternative zur Zahnextraktion gibt. In solchen Fällen wird der Zahnarzt aber in der Regel dem Patienten gleich als Behandlung eine Wurzelbehandlung vorschlagen. Lediglich wenn der Patient sich einer solchen Therapie gegenüber versperrt und von sich aus die Extraktion, vielleicht bedingt durch quälende Schmerzen, verlangt, dann muss der Zahnarzt vermehrt seinen Schwerpunkt auch hier auf die Verlaufsaufklärung legen. Ebenso dann, wenn der Zahnarzt festgestellt hat, dass bei einem Patienten atypisch ein individuelles Risiko im Heilungsverlauf möglicherweise eintreten könnte. Bei der Extraktion im Oberkiefer wird der Zahnarzt im Rahmen der Diagnoseaufklärung den Patienten über den Grund der erforderlichen Zahnextraktion informieren müssen. Dieses können beispielsweise sein, dass die kariöse Zerstörung des Zahnes so weit fortgeschritten ist, dass eine Erhaltung des Zahnes mit Hilfe einer Krone oder Stiftkrone nach Wurzelbehandlung nicht mehr möglich ist. Zu der erforderlichen Risikoaufklärung bei diesem Heileingriff gehört insbesondere die Information, dass gerade bei den oberen Molaren oft nur eine postkartendünne Knochenschicht die Zahnwurzeln von der Kieferhöhle trennt und deswegen die Möglichkeit einer Kieferhöhleneröffnung mit der Notwendigkeit einer plastischen Deckung besteht.36 34
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BGH, Urt. v. 22. 2. 1978 – 2 StR 372/77: „Ein Patient, der in laienhaftem Unverstand aufgrund einer unsinnigen, selbst gestellten Diagnose von einem Zahnarzt eine umfassende Extraktion seiner Zähne wünscht, erteilt damit keine wirksame Einwilligung zu dieser Maßnahme.“ OLG Koblenz, Urt. v. 21. 6. 2001 – 5 U 1788/00, abgedr. in: dental-praxis 2003, S. 173. Der Statistik nach besteht bei einer Extraktion der ersten oberen Molaren die Gefahr einer Kieferhöhlenöffnung zu 55%, bei ersten und zweiten oberen Molaren zusammen zu
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Bei der Extraktion unterer Weisheitszähne wird der Zahnarzt seinem Patienten zunächst im Rahmen der Diagnoseaufklärung den Hinweis auf den Grund für die Zahnextraktion geben müssen. Dieses können unter anderen sein die kariöse Zerstörung des Zahnes, eine stark nach mesial geneigt Stellung des Zahnes, wodurch ein Druckschmerz gegen den davor liegenden Backenzahn verursacht wird, sowie eine Kariesgefährdung für den Nachbarzahn. Ebenso eine besondere anatomische Zahnfleischsituation um die unteren Weisheitszähne, die häufig zu rezidivierenden Tascheninfektionen führen kann oder auch eine Indikation aufgrund kieferorthopädischer Natur. Zu der Risikoaufklärung gehört das Risiko, dass die unteren Weisheitszähne gegebenenfalls herausgefräst werden müssen, mit der Folge der Schwächung der Stabilität des Unterkiefers und einer möglichen Bruchgefahr.37 Über das Risiko einer Kieferfraktur bei der Extraktion von unteren Weisheitszähnen38 hat der Zahnarzt seinen Patienten immer zuvor aufzuklären.39 Die Entfernung eines Zahnes wird von Patienten häufig als bloße Routinemaßnahme ohne besondere Risiken angesehen, so dass gerade hier eine Aufklärung nicht fehlen darf, da der Patient ausgehend von Schwere und vom tatsächlichen Risiko der Zahnbehandlung abweichende Vorstellungen hat. Zudem kann es bei der Extraktion eines unteren Weisheitszahnes auch bei einwandfreiem ärztlichem Vorgehen zu folgenschweren Wundheilungsstörungen kommen.40 Hierbei ist der Patient nicht nur über das Risiko einer solchen Wundheilstörung zu informieren, sondern auch über die Möglichkeiten solche zu vermeiden.41 Über Wundheilungsstörungen muss zwingend aufgeklärt werden, soweit es sich nicht um operationstypische allgemein bekannte Risiken handelt. Der Hinweis auf eine Wundheilstörung ist nur dann nicht not-
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mehr als 80%; vgl. Grittner, Die Aufklärungspflicht des Zahnarztes, S. 88 – schon diese hohe Wahrscheinlichkeit spricht für eine Aufklärungsbedürftigkeit. Vgl. auch zu den Aufklärungsinhalten Neubacher, Aufklärungsverständnis in der Zahnmedizin, S. 16 f. und zu dem Risiko allgemein, Manfred Pelser, Betrachtung über den Verschluss von Kieferhöhlenperforationen in ambulanter Behandlung, Diss. Düsseldorf 1961. Hiervon abzugrenzen ist der Fall des Kieferbruchs, der auf einem Behandlungsfehler beruht, weil z.B. bei der Extraktion eines tief liegenden nach vertikal verlagerten Weisheitszahnes der Zahn ohne vorherige Separierung oder Ausfräsung des Kieferknochens nur mit einem Hebel gelockert und dann mit einer Zange herausgelöst wurde – so OLG Oldenburg, VersR 1998, S. 1381. Über die Möglichkeit eines solchen Behandlungsfehlers ist nicht aufzuklären. Alvaro Armando Codero Iannarella, Funktionsausfall des Nervus alveolaris inferior bzw. Lingualis nach der operativen Entfernung von unteren Weisheitszähnen, Diss. Berlin 1978; von der Haar, Schädigung des Nervus alveolaris inferior und des Nervus lingualis. BGH, NJW 1994, S. 799-801; OLG Hamburg, OLGR BHS 1998, S. 141 f.; OLG Koblenz, OLGR-KSZ 1999, S. 416 ff.; OLG Köln 1998, S. 319 f. OLG Hamburg, MDR 1998, S. 906. Zu Wundheilstörungen kann es bei bakteriell infizierter Alveole und infolge einer begleitenden Neuritis kommen. Der Patient sollte nicht nur über die Folge, sondern auch über die Möglichkeit, dies zu vermeiden, z.B. die Mundhöhle nicht innerhalb der ersten zwei Stunden spülen, aufgeklärt werden.
Die zahnärztliche Aufklärungspflicht bei Standardheileingriffen
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wendig, wenn bei dem Patienten allgemeine Kenntnis hierüber vorausgesetzt werden kann.42 Allerdings können auch Folgen einer Wundheilstörung die Lebensführung eines Patienten erheblich beeinträchtigen. Der Patient muss deshalb imstande sein, die möglichen Auswirkungen zu berücksichtigen43, so dass auch weiterhin über die nicht allgemein bekannten Risiken aufzuklären ist. Weiterhin hat der Zahnarzt auch darüber aufzuklären, dass es infolge der Extraktion des Weisheitszahnes wegen eventueller Nähe der Wurzelspitze zum Nerv sowie durch die Leitungsanästhesie zu einer Verletzung des nervus alveolaris inferior kommen kann.44 Hierüber ist dem Ausmaß und Umfang nach, so wie oben bereits bei der Leitungsanästhesie dargestellt, aufzuklären.45 Bei der Zahnextraktion unterer Weisheitszähne sind somit im Aufklärungsgespräch zumindest auf die durch die Rechtsprechung als zwingend vorgegebenen Punkte hinzuweisen. Dieses sind der Hinweis auf die durch die Lokalanästhesie bedingte Fahruntüchtigkeit, die Diagnose, beispielsweise kariöse Zerstörung, das grundsätzliche durch die Extraktion bedingte Risiko einer Nervverletzung46 sowie zwingend der Hinweis auf die Möglichkeit einer Kieferfraktur.47 Die Aufklärung über eine Nervverletzung infolge der mit der Extraktion verbundenen Anästhesie ist dagegen hier nicht zwingend, da die Anästhesie regelmäßig bei einer Extraktion unvermeidbar sein dürfte. III. Anforderung an die Aufklärung bei der Wurzelbehandlung Eine Wurzelbehandlung48 stellt einen Behandlungsversuch mit regelmäßig relativ guten Erfolgsaussichten zur Erhaltung des Zahnes dar. Aufgrund dieses Umstandes umfasst die Wurzelbehandlung nicht nur wie die übrigen Standardheileingriffe die Diagnose- und Risikoaufklärung, sondern zusätzlich die Therapie- und Verlaufsaufklärung. Der Patient ist bei der Wurzelbehandlung zunächst im Rahmen der Diagnoseaufklärung darüber zu informieren, dass beispielsweise die kariöse Zerstörung des Zahnes soweit fortgeschritten ist, dass auch der Nerv Anzeichen einer Entzündung zeigt.
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OLG Oldenburg, Az. 5 U 154/03. OLG Düsseldorf, VersR 1997, S. 620. Über den Funktionsausfall des Nervus alveolaris inferior bzw. lingualis nach der Entfernung unterer Weisheitszähne vgl. insbesondere die Darstellung von Behandlungsfehlers ist nicht aufzuklären, vgl. Codero Iannarella, Funktionsausfall des Nervus alveolaris inferior bzw. Lingualis nach der operativen Entfernung von unteren Weisheitszähnen. Vgl. hierzu die Ausführungen oben unter D. I. OLG Hamburg, MDR 1998, S. 906; vgl. im weiteren Gaisbauer, VersR 1991, S. 865 f. Vgl. BGH, NJW 1994, S. 799 ff. Andreas Wermke, Untersuchung über die Häufigkeit und Qualität von Wurzelkanalfüllungen, Diss. Giesen 2001.
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Bei der Wurzelbehandlung hat auch eine Therapieaufklärung zu erfolgen. Hierbei ist der Patient darüber zu informieren, dass die Wurzelbehandlung, die einzige Möglichkeit mit relativ guten Erfolgsaussichten darstellt, den Zahn für absehbare Zeit zu erhalten und alternativ nur noch die Zahnextraktion in Frage käme. Allerdings stellt die Wurzelbehandlung lediglich einen Behandlungsversuch dar. Da jeder Versuch folglich auch Risiken des Fehlschlagens beinhaltet, ist der Patient vor Beginn der Behandlung darüber aufzuklären. Der Patient muss daher darauf hingewiesen werden, dass es möglicherweise zu weiteren Behandlungsmaßnahmen wie einer Wurzelspitzenresektion oder sogar zur Extraktion des betroffenen Zahnes trotz der Wurzelbehandlung kommen könnte. Eine Pflicht zur Aufklärung des Patienten über die alternative Behandlungsmöglichkeit der zahnerhaltenden Wurzelbehandlung anstatt der Zahnextraktion kommt nur dann in Betracht, wenn eine solche Behandlung im konkreten Fall nach den Regeln der ärztlichen Kunst überhaupt durchführbar ist; hierfür ist der Patient beweispflichtig.49 Hierbei hat der Zahnarzt seinen Patienten auch über die Erfolgsaussichten der Behandlungsalternative50 zu informieren. Entfernt der Zahnarzt beispielsweise Zähne, ohne zuvor über die Erfolgsaussichten einer möglichen Wurzelbehandlung aufgeklärt zu haben, so liegt keine wirksame Einwilligung des Patienten zur Extraktion vor51. Bei der Wurzelbehandlung hat der Zahnarzt im Rahmen der Verlaufsaufklärung den Patienten darüber aufzuklären, dass in mehreren Schritten die Wurzelkanäle bis zur Wurzelspitze erweitert werden, erstens um infiziertes Material aus dem Wurzelkanal zu entfernen, zweitens um ein desinfizierendes Medikament bis an den Herd der Entzündung einzubringen und drittens um in einer weiteren Sitzung mit der Wurzelfüllpaste den Wurzelkanal auf seiner gesamten Länge bakteriendicht zu verschließen. Weiter ist der Patient von dem behandelnden Zahnarzt darüber zu informieren, dass während der Behandlung zur Steigerung der Erfolgsaussichten mehrere Röntgenaufnahmen nötig werden können und in jeder Phase der Behandlung stärkere Schmerzen auftreten könnten.52 Im Rahmen der Risikoaufklärung ist sodann über unvorhersehbare Umstände zu informieren, die den Behandlungserfolg gefährden könnten. Dieses wären unter anderen, dass die Wurzelkanäle so eng oder auch gekrümmt sein könnten, dass sie mit den Kanalinstrumenten nicht bis zur Wurzelspitze aufbereitbar sind, so dass eine Extraktion oder eine Wurzelspitzenresektion mit retrograder Wurzelfüllung erforderlich werden könnte. Des Weiteren könnte sich die Entzündung als therapieresistent erweisen, so dass als weitere Maßnahme eine Extraktion oder Wurzelspitzenresektion erforderlich wird. Die Aufklärung über die Möglichkeit einer Wurzelspitzenresektion als Alternative zur Zahnextraktion ist zwingend. So wurde ein Zahnarzt zur Zahlung eines Schmerzensgeldes verurteilt, der seinen Patienten nicht über die Alternative einer Wurzelspitzenresektion gegenüber der Zahnex49 50
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AG Köln Urt. v. 8. 6. 1982 – 131 C 83/81. Vgl. dazu Riess, Die Aufklärungspflicht: Eine kritische Betrachtung aus zahnmedizinischer Sicht, S. 44 ff. AG Hamburg Az. 22b C 2801, 95, www.forum-med.de. Neubacher, Aufklärungsverständnis in der Zahnmedizin, S. 18 f.
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traktion im Frontzahnbereich aufgeklärt hatte.53 Schließlich ist darüber aufzuklären, dass auch ein Wurzelkanalinstrument brechen54 und das Instrumentenfragment im Wurzelkanal zurückbleiben kann,55 so dass die weitere Aufbereitung des Kanals unmöglich wird und der Zahn dann doch gezogen werden muss. Kommt es bei sorgfältigem Arbeiten an einem stark gekrümmten Wurzelkanal zum Bruch eines Wurzelkanalaufbereitungsinstruments, stellt dieses regelmäßig keine regelwidrige Behandlung dar. Selbst die unterbliebene Aufklärung des Patienten über den Umstand, dass im Wurzelkanal ein Instrumentenfragment verblieben ist, stellt für sich allein keinen bestimmten Schaden dar, wenn vor Durchführung des Heileingriffs im Aufklärungsgespräch auf dieses mögliche Risiko hingewiesen worden ist.56 Damit ist die Aufklärung über das Risiko eines Instrumentenbruchs bei dem Standardheileingriff Wurzelbehandlung zwingend.
E. Folgerungen und Ausblick Auch wenn das Fehlen von Aufklärungshinweisen bei unvermeidbaren Standardheileingriffen oder allgemein bekannten Risiken teilweise als unbeachtlich57 für den Konsens zwischen Zahnarzt und Patient zu erachten ist, verlangt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten – auch – in der Zahnmedizin ein Aufklärungsgespräch, das seinem Inhalt und Umfang nach sicherstellt, dass der Patient auch wirklich alles Wesentliche verstanden hat. Nur dann ist eine wirksame Einwilligung durch den Patienten in den Heileingriff erteilt worden. So bedarf es zwar grundsätzlich keiner besonderen Aufklärung über die Folgen einer Behandlungsmaßnahme, wenn nur in entfernt seltenen Fällen Probleme auftreten, es sich um allgemein bekannte Risiken eines Eingriffs handelt58 sowie anzunehmen ist, dass ein vernünftiger Patient trotzdem in die Behandlung einwilligt.59 Hierbei ist jedoch immer zu differenzieren, ob es sich um einen unvermeidbaren Standardheileingriff oder um eine Wunschbehandlung des Patienten handelt bzw. ob realistische Behandlungsalternativen bestehen. Nur dann, wenn die Heilbehandlung, wie bei zahnärztlichen Maßnahmen häufig, sich als unvermeidbare Alternative zeigt, muss nicht zwingend über deren Risiken aufgeklärt werden, wenn der Patient auch in deren Kenntnis vernünftigerweise einwilligen oder dem Patienten diese Risiken bekannt sein müssten. Allerdings darf auch dann ein zahnärztliches Aufklärungs53 54
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LG Hannover, Urt. v. 4. 8. 1981 – 11 S 244/80. Durch die Rspr. zwingend vorgegeben ist die Aufklärung über den möglichen Bruch eines Wurzelkanal-Aufbereitungsinstruments, vgl. LG Hamburg, Az. 323 O 272/95, www. forum-med.de. So wurde ein Zahnarzt verurteilt, der das Belassen des frakturierten Instrumentes im Wurzelkanal verschwiegen hatte (AG Köln Az. 115b 115c 3261/76). LG Hamburg Az. 323 O 272/95, www.forum-med.de. OLG Zweibrücken Az. 5 U 25/99, OLGR-KSZ 2000, S. 549-551; OLG Oldenburg Az. 5 U 154/03. OLG Oldenburg Az. 5 U 154/03. Vgl. OLG Zweibrücken, OLGR-KSZ 2000, S. 549-551.
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gespräch nicht vollständig fehlen. Verzichtbar ist lediglich der Hinweis auf diese Risiken. Fehlt ein Aufklärungsgespräch gänzlich, dann entfällt auch bei diesen Risiken der Konsens zwischen Zahnarzt und Patient für diese Standardheileingriffe. Wenn auch die zahnärztliche Aufklärungspflicht durch die OLG-Rechtsprechung eingeschränkt wird, ist sie bei Standardheileingriffen in der Zahnmedizin nicht vollständig entfallen. Vielmehr ist hierin eine praxisgerechte Ausgestaltung des grundsätzlichen Aufklärungserfordernisses bei Standardheileingriffen im zahnärztlichen Alltag zu sehen. Auch in der Zahnmedizin gilt das Selbstbestimmungsrecht des Patienten und die zahnärztliche Aufklärung wird auch in diesem Bereich der Medizin mehr und mehr an Bedeutung gewinnen.
Informed Consent und informationelle Selbstbestimmung in der Genmedizin Reinhard Damm
A. Informierte Einwilligung: normatives Paradigma und aktuelle Probleme Schon frühzeitig und in zahlreichen Veröffentlichungen und Problemzusammenhängen hat sich Adolf Laufs zu Grundlagen und Einzelfragen medizinischen Informationshandelns geäußert und damit zu einem Themenbereich von grundlegender rechtspraktischer wie auch medizinethischer Bedeutung.1 Und er hat mit gutem Grund betont: „Der informed consent bildete das wohl umstrittenste und am meisten diskutierte Thema des jüngeren Arztrechts“.2 Die Begriffe „Einwilligung nach Aufklärung“, „informierte Einwilligung“ oder nunmehr zunehmend auch hier zu Lande anglisiert „informed consent“ stehen für ein zentrales Leitprinzip und das durch den informed consent zu sichernde Selbstbestimmungsrecht als „fundamentale Orientierungsnorm“.3 Dies gilt für Medizinethik und Medizinrecht als den beiden sich überschneidenden, aber nicht deckenden Kreisen der Normbildung gleichermaßen. Diese Norm besagt, daß medizinische Interventionen ihre auch rechtliche Legitimation grundsätzlich nur aus der freiwilligen Zustimmung des zuvor hinreichend über die für seine Entscheidung relevanten Sachfragen informierten Patienten, Probanden oder Klienten beziehen kann. Dieses informationelle Konsensprinzip hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen regelrechten Siegeszug zurückgelegt und auf zahlreichen rechtlichen Feldern eine außerordentliche Aufwertung erfahren, insbesondere in der medizinischen Forschung und nicht zuletzt in der einzelnen Arzt-Patient-Beziehung. Demgemäß hat sich das Recht der Patientenaufklärung zu einem wichtigen Sonderbereich des Medizinrechts entwickelt, der intradisziplinär von seiner verfassungsrechtlichen Grundlegung aus alle Gebiete des einfachen Rechts erfaßt. Die einschlägige 1
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Es sei hier nur hingewiesen auf Adolf Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., München 1993, S. 1 ff., 86 ff.; Adolf Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht – Grund, Inhalt und Grenzen, in: RPG 1997, S. 3 ff.; Bernd-Rüdiger Kern, Adolf Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht unter besonderer Berücksichtigung der richterlichen Spruchpraxis, Berlin 1983. Adolf Laufs in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, § 6 Rdnr. 1. Reiner Anselm, Gestützte Selbstbestimmung – Perspektiven einer Ethik der Freiheit trotz körperlicher Abhängigkeit, in: Peter Bartmann, Ingolf Hübner (Hrsg.), Patientenselbstbestimmung. Paradigmenwechsel und Herausforderung im Gesundheitswesen, Neukirchen-Vluyn 2002, S. 71, 76.
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Normentwicklung ist insbesondere von der Rechtsprechung vorangetrieben worden und war nach teilweise scharfen Kontroversen zwischen Recht und Medizin, Juristen und Medizinern in das ruhigere Fahrwasser einer jedenfalls grundsätzlichen Anerkennung geraten. Verbleibende Meinungsunterschiede über Grundlagen und Grenzen des informationellen Konsensprinzips hat diese grundsätzlich normative Konsolidierung nicht verhindern können. Dem europäischen Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin ist diese Materie nicht zufällig ein eigenes Kapitel wert, das allerdings nicht mit informierter Einwilligung (informed consent), sondern nur mit Einwilligung (consent) überschrieben ist. Demgegenüber stellt dann die Grundsatzregelung deutlich auf einen „free and informed consent“ ab.4 Darauf, daß „Informierte Einwilligung als Schutzkonzept“5 auch über den Bereich des Medizinrechts hinaus als grundlegendes und allgemeines Rechtsprinzip zur Sicherung von Entscheidungsautonomie diskutiert wird, sei hier nur am Rande hingewiesen. Bemerkenswerterweise gehört es zu den aktuellen Kennzeichen, gewissermaßen auch Paradoxien der modernen Medizin und ihrer normativen Grundlagen, daß das Prinzip des informed consent ausgerechnet in Zeiten eines besonderen Bedeutungszuwachses gleichzeitig auch durch einen unübersehbaren Problemzuwachs gekennzeichnet ist. Informierte Einwilligung als Prinzip, jedenfalls als Grundsatz, der am medizinrechtlichen und medizinethischen Autonomieprinzip teilhat, ist erneut in eine grenzüberschreitend geführte Diskussion geraten, in der sich Medizin, Medizinethik, Medizinrecht und derzeit auch Rechtspolitik als Disputanten finden. Die einschlägigen Diskurse spielen sich zwar auf zahlreichen Ebenen ab, jedoch sind deutliche Schwerpunkte auszumachen. So geht es innerhalb der Medizin insbesondere um die zentralen Entwicklungsfelder dessen, was zunehmend als „moderne Medizin“ bezeichnet wird. Darauf nehmen mittlerweile bereits die Selbstkennzeichnungen parlamentarischer Enquetekommissionen Bezug, für deren Arbeit das informationelle Konsensprinzip einen offensichtlich besonderen Schwerpunkt bildet.6 Dies ist ebenso wenig zufällig wie die Tatsache, daß der in diesem Beitrag im Mittelpunkt stehenden Gendiagnostik insofern herausgehobene Bedeutung zukommt.7 „Das medizinrechtliche Konzept des informed consent (stellt) einen wesentlichen Ausschnitt des Patien-
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Kapitel II und Art. 5 I Übereinkommen zum Schutz der Menschenrechte und der Menschenwürde im Hinblick auf die Anwendung von Biologie und Medizin: Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin vom 4. April 1997. Marita Körner, Informierte Einwilligung als Schutzkonzept, in: Dieter Simon, Manfred Weiss (Hrsg.), Zur Autonomie des Individuums, liber amicorum Spiros Simitis, BadenBaden 2000, S. 131 ff. Enquetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, Schlußbericht, Berlin 2002, S. 281 ff., 360 ff.; nunmehr auch Enquetekommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“. Vgl. etwa Enquetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, S. 360 ff.
Informed Consent und informationelle Selbstbestimmung in der Genmedizin
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tenschutzes in der medizinischen Genetik dar, dessen informationelle Voraussetzungen erarbeitet und abgesichert werden müssen“.8 Das Recht ist auf allen Normebenen und Rechtsgebieten mit der Thematik befaßt. Das Projekt eines Gentestgesetzes steht seit einigen Jahren auf der auch in Regierungserklärungen vorgegebenen Agenda9 und befindet sich derzeit10 wohl in einer entscheidenden Beratungsphase vorbereitender Entwürfe. Die Regelungsprobleme scheinen hier zu Lande wie anderswo11 schwer zu wiegen, jedenfalls Konsense in zahlreichen Einzelfragen zu erschweren. Das Gewicht der in der neuesten Diskussionswelle thematisierten Probleme des Konsensprinzips ist groß, denn es geht insofern nicht um Randfragen, sondern um Grundlagen dieses Prinzips. Dies betrifft insbesondere zwei Ebenen. Die erste Ebene kann man als die interne patientenbezogene Legitimation des Prinzips informierter Einwilligung bezeichnen. Hier stellt sich die Frage, ob und wieweit konkrete Patienten in konkreten Behandlungssituationen fähig und willens sind, die ihnen zu gewährende Entscheidungsfreiheit selbständig wahrzunehmen. Damit ist das große Problemfeld gesundheitsbezogener Autonomie12 und damit zusammenhängend auch das Problem normativer Patientenleitbilder betroffen. Dabei geht es nicht um folgenlose theoretische Fragen, sondern um solche von großer praktischer Relevanz, von denen auch die rechtliche Reichweite informationeller Patientenrechte abhängt, namentlich des Rechts auf ärztliche Aufklärung. Leitbilder des normativ, auch rechtlich vorauszusetzenden Patienten weisen eine variantenreiche Vielfalt auf, die auf einem Kontinuum zwischen Konzepten eines fürsorgebedürftigen und vertrauenden Patienten über einen „verständigen Patienten“ bis zum autonomen und „mündigen Patienten“ reicht. Stets geht es auch um Eigenverantwortung des „verantwortlichen Patienten“13. Das informationelle Konsensprinzip nimmt Teil an dem allgemeinen Zusammenhang von Autonomie und Verantwortung und damit auch an den hierzu für die moderne Medizin diskutierten Problemen. Dabei geht es auch um die kritische Beobachtung einer möglicherweise riskanten, jedenfalls ambivalenten Neuverteilung von Autonomie und Verantwortung in der Arzt-Patient/Klient-Beziehung bei Entscheidungen über medizinische Interventionen. Es geht in diesem Kontext nicht nur um die Steigerung von Entscheidungsfreiheit, sondern auch um eine sol8
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Daniela Regenbogen, Wolfram Henn, Aufklärungs- und Beratungsprobleme bei der prädiktiven genetischen Diagnostik, in: MedR 2003, S. 152, 155. Hierzu ausführlich Reinhard Damm, Gesetzgebungsprojekt Gentestgesetz. Regelungsprinzipien und Regelungsmaterien, in: MedR 2004, S. 1 ff. Bearbeitungsstand Dezember 2004. Zu einem seit Jahren im Gesetzgebungsgang befindlichen Entwurf für ein Gesetz zu genetischen Tests am Menschen in der Schweiz Damm, in: MedR 2004, S. 1, 6 (und öfter). Dazu ausführlich Reinhard Damm, Imperfekte Autonomie und Neopaternalismus. Medizinrechtliche Probleme der Selbstbestimmung in der modernen Medizin, in: MedR 2002, S. 375. Vgl. Robert Francke, Ärztliche Berufsfreiheit und Patientenrechte, Stuttgart 1994, S. 158 f.
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che von Entscheidungs- und Verantwortungslasten von Patienten und Betroffenen. Und es wird andererseits gerade für die Gendiagnostik ein „ärztlicher Verantwortungsverlust in der modernen Biomedizin“14 thematisiert. Es verbinden sich in dieser Perspektive Autonomiezuwachs durch neue medizintechnische Optionen, Anwendungsdruck durch Verfügbarkeit von Medizintechnik und gesellschaftliche Konsensverluste in ethischen Grundorientierungen, in einer Formulierung der Gesellschaft für Humangenetik, zu einer „Individualisierung von Verantwortung“15 auf Patientenseite. Und spiegelbildlich ist auf der anderen Seite die Befürchtung eines „Autonomie- und Verantwortungsverlustes der Ärzte“16 oder „medical deresponsibilization“17 verbreitet. Im Zentrum der genetischen Beratung wird davor gewarnt, ein fehlverstandenes nichtdirektives Beratungkonzept könne den Berater zum „Teilnehmer ohne Verantwortungsbereich“18 machen. Es sind damit Grundfragen von Medizinethik und Medizinrecht angesprochen, die allerdings einen spezifischen und besonders einschlägigen Niederschlag bei der Grundnorm der informierten Einwilligung, ihrer teleologischen Begründung und praktischen Tragweite erfahren. Zusätzliches Gewicht bekommt der angesprochene interne patientenbezogene Aspekt durch eine gewissermaßen externe Dimension, nämlich mit Blick auf die dem informationellen Konsensprinzip zugewiesene Normativfunktion einer Legitimation ärztlichen Handelns. Dies betrifft im hier interessierenden Zusammenhang nicht zuletzt den Zusammenhang von informed consent und Indikation und insofern die Frage nach einem tendenziellen Funktionsverlust der medizinischen Indikation im klassischen Sinne und ihrer möglichen Ersetzung statt nur Ergänzung durch Patientenselbstbestimmung bei der Entscheidung über den Einsatz medizinischer Maßnahmen. Knapp und formelhaft geht es um die Frage, ob die informierte Einwilligung von einer nur notwendigen zu einer hinreichenden Bedingung medizinischer Interventionen werden könnte. Darauf wird noch einmal zurückgekommen.19 Bei all diesen Überlegungen kommt schließlich dem Umstand zentrale Bedeutung zu, daß durchgängig Recht und Realität des informed consent, also die normativen und empirischen Problemaspekte gleichermaßen in Betracht zu ziehen 14
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Günter Feuerstein, Inseln des Überflusses im Meer der Knappheit. Angebotsexpansion und Nachfragesteuerung im Kontext gentechnischer Leistungen, in: Günter Feuerstein, Ellen Kuhlmann (Hrsg.), Neopaternalistische Medizin. Der Mythos der Selbstbestimmung im Arzt-Patient-Verhältnis, Bern, Göttingen, Toronto, Seattle 1999, S. 95, 109. Gesellschaft für Humangenetik, Positionspapier, Medizinische Genetik 8, 1996, S. 125, 127. Klaus Dörner, Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung, Stuttgart 2001, S. 300. Claude Sureau, Medical Deresponsibilization, in: Journal of Assisted Reproduction and Genetics 12 (1995), S. 552. Gerhard Wolff, Christine Jung, Direktivität – Nichtdirektivität – Erfahrungsorientiertheit: Zur Entwicklung eines integrativen Ansatzes zur Gesprächsführung in genetischer Beratung, in: Erhard Ratz (Hrsg.), Zwischen Neutralität und Weisung – Zur Theorie und Praxis von Beratung in der Humangenetik, München 1995, S. 8, 15. Vgl. unter D., I.
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sind. Der Zusammenhang des informationellen Konsensprinzips mit der Patientenautonomie läßt dieses Prinzip einerseits teilhaben am „Höchstwert“20 der verfassungsrechtlich garantierten Selbstbestimmung. Es ist aber andererseits zugleich auch untrennbar verknüpft mit der andauernden Diskussion um Reichweite und Rahmenbedingungen der „Patientenautonomie in der Lebenswirklichkeit“21. Dies gilt für die Akteure und die situativen Kontexte. Weder der autonome Patient noch der „gute Arzt“22 können schlicht gesetzt werden, vielmehr ist auch immer mit den Möglichkeiten imperfekter Autonomie und defizitären ärztlichen Handelns zu rechnen. Normativ gewährte Rechtspositionen können nicht als sich selbst erfüllende Postulate, sondern nur unter Berücksichtung ihrer auch systemischen Realund Rahmenbedingungen angemessen begriffen werden. Fördernde und hinderliche, medizinische und medizinrechtliche Systembezüge individueller Patientenrechte23 gehören auch beim informationellen Konsensprinzip zum Gesamtbild. Es ist auch hier die Frage nach der „Wirksamkeit“ konsensstiftender Normen aufgeworfen24, also die Frage danach, ob und in welcher Weise normative Regeln zum informed consent in der medizinischen Praxis und Forschung umgesetzt werden. Dies gilt sowohl dafür, ob, wie und in welchen Bereichen das informationelle Konsensprinzip von professioneller Seite „praktiziert“ wird, als auch dafür, ob, wie und in welchen Bereichen dieses Prinzip von den Betroffenen (Patienten, Klienten, Probanden) „aktiviert“ wird. Hierzu gibt es keine umfassenden, wohl aber sektorale Untersuchungen, deren Sekundäranalyse aus normativer, insbesondere rechtlicher Sicht bislang kaum in Angriff genommen worden ist. Allerdings ist eine zunehmende Befassung mit den Realitäten und Rahmenbedingungen informationeller Selbstbestimmung zu beobachten und zwar sowohl mit Blick auf den Realitätsgehalt derart vorausgesetzter Patientenautonomie und ihrer Grenzen25 20
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Stephan Rixen, Wolfram Höfling, Wolfgang Kuhlmann, Martin Westhofen: Zum rechtlichen Schutz der Patientenautonomie in der ressourcenintensiven Hochleistungsmedizin: Vorschläge zur Neustrukturierung des Aufklärungsgesprächs, in: MedR 2003, S. 191; vgl. auch Wolfram Höfling, Heinrich Lang: Das Selbstbestimmungsrecht. Normativer Bezugspunkt im Arzt-Patienten-Verhältnis, in: Feuerstein/Kuhlmann (Hrsg.), Neopaternalistische Medizin, S. 17. Rixen/Höfling/Kuhlmann/Westhofen, Zum rechtlichen Schutz der Patientenautonomie, in: MedR 2003, S. 191, 192. Klaus Dörner, Der gute Arzt. Dazu Reinhard Damm, Systembezüge individueller Patientenrechte. Zur Gesellschaftlichkeit von Gesundheit aus rechtlicher Sicht, in: Angela Brand, Dietrich von Engelhardt, Alfred Simon, Karl-Heinz Wehkamp (Hrsg.), Individuelle Gesundheit versus Public Health?, Münster 2002, S. 48. Aus humangenetischer Perspektive etwa Irmgard Nippert, Dorothy Wertz, Grundprinzipien bei der Anwendung gentechnischer Testverfahren, in: Stefan F. Winter, Hermann Fenger, Hans-Ludwig Schreiber (Hrsg.), Genmedizin und Recht, München 2001, S. 371, 379 ff., unter anderem zur „Wirksamkeit bisheriger Richtlinien und Empfehlungen“. Vgl. etwa Ulrich Eibach, Klaus Schaefer, Patientenautonomie und Patientenwünsche. Ergebnisse und ethische Reflexionen von Patientenbefragungen zur selbstbestimmten Behandlung in Krisensituationen, in: MedR 2001, S. 21; Gerald D. Giebel, Albrecht
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als auch speziell im Rahmen der aktuellen Diskussion zur Biomedizin. So fällt die Feststellung der Enquetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“ zum status quo der genetischen Beratung lapidar und ernüchternd aus: „In der Praxis sind qualifizierte Information, Aufklärung und Beratung in Deutschland heute nur bedingt gegeben […]. Auch muss davon ausgegangen werden, dass die Mehrheit derjenigen, die genetische Testverfahren in Anspruch nehmen, aufgrund mangelnder Qualifikation von Ärztinnen und Ärzten nur begrenzt Zugang zu ‚State-of-art’-Informationen gemäß den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik hat“.26 Derartige Hinweise schärfen den Blick für die Notwendigkeit, neben der Normativität auch die Realität und nicht zuletzt die Qualität des informed consent zu reflektieren.
B. Informationelle Selbstbestimmung in der Gendiagnostik Freiwilligkeitsprinzip und der Grundsatz informationeller Selbstbestimmung gehören zum Rückgrat jeder medizinrechtlichen Normbildung im Bereich der genetischen Diagnostik und Beratung. Freiwilligkeit wird regelmäßig mit dem Normkonzept informierter Einwilligung verknüpft27 und in einschlägigen Regelungen und Regelungsentwürfen zur Biomedizin und insbesondere Gendiagnostik regelmäßig und besonders akzentuiert herausgestellt. So enthält das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin insofern keine spezielle Regelung für Gentests, so daß auf die allgemeine Regel des Übereinkommens zurückzugreifen ist. Nach dessen Art. 5 darf jegliche „Intervention im Gesundheitsbereich“ erst erfolgen, „nachdem die betroffene Person über sie aufgeklärt worden ist und frei eingewilligt hat“, dies in einer Übertragung des maßgeblichen englischen Originaltextes, der auf „free and informed consent“ abstellt. Entsprechende Normen finden sich in speziellen Gesetzen und Gesetzentwürfen zur Regelung prädiktiver Gentests. Insofern sei hier nur verwiesen auf das österreichische Gentechnikgesetz, einen seit
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Wienke, Jürgen Sauerborn, Martin Edelmann, Rudolf Menningen, Anne Dievenich, Das Aufklärungsgespräch zwischen Wollen, Können und Müssen. Wege vom richterlichen Aufklärungsverschulden zum ärztlichen Aufklärungsstandard, in: NJW 2001, S. 863. Enquetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, S. 365 m.w.N. Dort (S. 367) auch Hinweise auf empirische Untersuchungen zu US-amerikanischen Verhältnissen hinsichtlich Aufklärungsverhalten und Informationskompetenz niedergelassener Ärzte, die genetische Tests bei kommerziellen Labors in Auftrag gaben. Als Ergebnis wird mitgeteilt, daß in 17 % der Fälle eine Indikation zum Testen nicht gegeben war, in 17 % der Fälle eine schriftliche Einverständniserklärung vorlag und in etwa 31 % der Fälle die ärztliche Interpretation des Testergebnisses falsch war. Umfassend nunmehr Daniela Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, Baden-Baden 2003, S. 79 ff. (und passim).
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Jahren vorliegenden schweizerischen Gesetzentwurf zu einem Gentestgesetz28 und deutsche Gesetzentwürfe zu einem solchen Gesetz, die ebenfalls den Grundsatz der „freiwilligen Einwilligung“ in genetische Tests ausdrücklich festhalten29. Der Grundsatz der informationellen Selbstbestimmung gilt als verselbständigte Ausprägung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und ist mit dem Konzept der informierten Einwilligung eng verknüpft. Die Entwicklungslinie vom allgemeinen Persönlichkeitsrecht über das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu einem „Recht auf geninformationelle Selbstbestimmung“30 belegt einen besonders signifikanten Differenzierungsprozeß des rechtlichen Persönlichkeitsschutzes von einer Grundnorm in bereichsspezifische Normvarianten, die in diesem Zusammenhang mit Blick auf Informations- und Gentechnik auch technikspezifische Ausdifferenzierungen darstellen. Konkretisierende Ausprägungen sind gerade für die Gendiagnostik in der rechtswissenschaftlichen und -politischen Diskussion. Der Begriff eines „geninformationellen Selbstbestimmungsrechts“ ist mittlerweile auch in Gesetzentwürfen zu finden.31 Besonders prominent sind auch in der internationalen Gentestdebatte Rechte auf Wissen und Nichtwissen hinsichtlich der eigenen genetischen Disposition. Recht auf Wissen und Recht auf Nichtwissen stellen abstrakt und normativ gewissermaßen komplementäre und gleichrangige Rechtspositionen dar. Man könnte sie als positiven informed consent und negativen informed consent bezeichnen. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist also auch hier durch unterschiedliche Stoßrichtungen gekennzeichnet. Es kann einerseits gegen die Vorenthaltung von Informationen, andererseits gegen aufgedrängte Informationen gerichtet sein und sich so als Informationsrecht und als Informationsabwehrrecht präsentieren. Schon seit langem wird nahezu wie selbstverständlich formuliert: „Das allgemeine Persönlichkeitsrecht umfaßt sowohl ein Recht auf Kenntnis als auch ein
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Entwurf für ein Bundesgesetz für genetische Untersuchungen beim Menschen (vgl. Artt. 4, 15 eines Vorentwurfs, abgedruckt auch in ZSR 1998, S. 473 ff.); dazu etwa Heinz Hausheer, Ein schweizerischer Vorentwurf zu einem Humangenetikgesetz, in: Hans-Jürgen Ahrens u. a. (Hrsg.), Festschrift für Erwin Deutsch, Köln u. a. 1999, S. 593. § 4 Gesetz zur Sicherung der Selbstbestimmung bei genetischen Untersuchungen Entwurf der Datenschutzbeauftragten 2001; entsprechend § 5 Gesetz zur Regelung von Analysen des menschlichen Erbgutes (Gentest-Gesetz)-Entwurf der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Zu all dem näher Damm, in: MedR 2004, S. 1. Vgl. etwa Detlev Sternberg-Lieben, „Genetischer Fingerabdruck“ und § 81a StPO, in: NJW 1987, S. 1242, 1246; die terminologischen Varianten sollen hier nicht weiter verfolgt werden. So ist auch von einem „Persönlichkeitsrecht am Genbereich“ (Günther Wiese, in: RdA 1986, S. 126) oder umfassender von einem „Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung“ die Rede; vgl. Martin Koppernock, Das Grundrecht auf bioethische Selbstbestimmung. Zur Rekonstruktion des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, BadenBaden 1997. § 1 II „Grüner Entwurf“ eines Gentest-Gesetzes; vgl. auch § 2 I Gentest-Gesetzentwurf der Datenschutzbeauftragten.
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Recht auf Unkenntnis der eigenen genetischen Konstitution“32 oder auch: „Jeder hat ein unentziehbares Recht, seine Gene zu kennen, aber er muß ein ebensolches Recht haben, sie nicht zu kennen“33. Allerdings offenbart dieses im verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt grundsätzlich einleuchtende Postulat noch keineswegs die insofern bestehenden Grundprobleme. Diese entstehen erst jenseits einer paritätischen Anerkennung beider Rechte sowohl auf normativer als auch tatsächlicher Ebene.34 Auf der ersten Ebene ergeben sich noch zu erörternde Konfliktlagen, wenn Informationsrechte und Informationsabwehrrechte unterschiedlicher Beteiligter oder solche Rechte mit überindividuellen Interessen in Konflikt geraten. Insofern ist ein Prozeß der Relativierung eines Rechts auf Nichtwissen unübersehbar.35 In rechtstatsächlicher Perspektive bleibt abzuwarten, ob sich normative Gleichrangigkeit auch in gleiche faktische Durchsetzungschancen umsetzen wird. Schon die Ausweitung der gendiagnostischen Möglichkeiten und Angebote wird vermutlich eher deren Inanspruchnahme und damit die Geltendmachung des Rechts auf Kenntnis begünstigen. Insofern sind nicht nur helle Selbstbestimmungspostulate in Betracht zu ziehen. „Denn je mehr Tests zur Verfügung stehen, um so größer wird der gesellschaftliche, gesundheitspolitische Druck, der institutionelle Zwang. Schließlich kommt durch die Faktizität der Beratungsmöglichkeiten ein Sog auf, sich der genetischen Beratung zu stellen, ohne zu wissen, wie man mit den Ergebnissen leben kann“.36 So könnte sich das Recht auf Wissen zunehmend zu einem Selbstläufer in Konformität mit dem Entwicklungsprozeß der Technik entwickeln, demgegenüber das Recht auf Nichtwissen aus dem Blickwinkel der Technikentwicklung eher zu einem defensiv antizyklischen Irrläufer.37 Wenn danach aus grundrechtstheoretischer Sicht subjektive Rechte als „stärkste Schutzform“38 angesehen werden, so ist doch auch zu bedenken: „Subjektive Rechte, vor allem Selbstbestimmung, sind eine garantierte Basis für den Rückzug von technischen Möglichkeiten. Aber sie garantieren nur den individuellen und gleichsam privaten Rückzug. Sie sind ein schwaches Instrument zur Abwehr so32
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Bund-Länder-Arbeitsgruppe „Genomanalyse“, Abschlußbericht, Bundesanzeiger 1990, Nr. 161a, vom 29. 8. 1990, S. 1, 12. Wolfgang van den Daele, Genetische Rationalisierung und Grundrechtsschutz, in: Ulrich Steger (Hrsg.), Die Herstellung der Natur. Chancen und Risiken der Gentechnologie, Bonn 1985, S. 135, 137. Ausführlicher Reinhard Damm, Prädiktive Medizin und Patientenautonomie. Informationelle Persönlichkeitsrechte in der Gendiagnostik, in: MedR 1999, S. 437. Jüngst ausführlich aus medizinethischer Sicht Peter Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit. Eine ethische Studie über die Herausforderungen postnataler genetischer Prädiktion, Münster 2004, S. 319 ff. Arbeitsgruppe „Erforschung des menschlichen Genoms“, herausgegeben vom Bundesminister für Forschung und Technologie, 1991, S. 188 (zitiert bei Ludwig Siep, Ethische Probleme der Gentechnologie, in: Jan P. Beckmann (Hrsg.), Fragen und Probleme der medizinischen Ethik, Berlin 1996, S. 309, 327). Hierzu auch Reinhard Damm, Prädiktive Autonomie und Patientenautonomie. Informationelle Persönlichkeitsrechte in der Gendiagnostik, in: MedR 1999, S. 437, 446 ff. Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt/M. 1986, S. 452.
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zialer Zwänge, die aus neuer Technik resultieren.“39 Auch Rechtsordnung und Gesetzgeber haben die damit angedeuteten Probleme faktischer Anschlußzwänge und Freiwilligkeitsgrenzen zu berücksichtigen. Schon der informed consent selbst führt auf dem klassischen Feld der haftungsrechtlich sanktionierten ärztlichen Aufklärungspflicht zu weiter zu bearbeitenden Spannungsverhältnissen im Bereich der Genmedizin: „Die den Arzt treffende Gefahr der Haftung eines Aufklärungspflichtversäumnisses (macht) es wahrscheinlich, daß der Arzt, schon um der eigenen Interessen willen, eher dem Informationsrecht des Patienten als dessen Recht auf Nichtwissen Rechnung trägt“.40 Noch pointierter hat schon vor einem Jahrzehnt Spiros Simitis formuliert: „Der Haftungsdruck reicht mit anderen Worten aus, um ein wie immer formuliertes Recht auf Nichtwissen zu übergehen.“41 Diese Aussagen sind wohl etwas zu generalisierend formuliert, markieren aber zutreffend nach wie vor klärungsbedürftige Rechtsfragen der prädiktiven Medizin. Allerdings ist deutlich darauf hinzuweisen, daß sich beide Zitate, beim Wort genommen, zunächst nur auf mögliche empirische Auswirkungen von Haftungsrecht auf ein Recht auf Nichtwissen beziehen können und noch nichts darüber aussagen, unter welchen genauer zu bestimmenden normativen Voraussetzungen in einschlägigen Situationen haftungsrechtliche Sanktionen drohen. Erstaunlicherweise ist das Spannungsverhältnis zwischen ärztlicher Informationspflicht und positiver und negativer informationeller Selbstbestimmung von Patienten, Klienten und Drittbetroffenen bislang normativ keineswegs ausreichend strukturiert. Dies gilt ungeachtet des Umstandes, daß es gerade im Bereich der genetischen Diagnostik zu Konflikten zwischen professionsinternen und rechtlichen Anforderungen an ärztliches Aufklärungs- und Beratungshandeln kommen kann. Dies wird durch die in der Humangenetik für Unruhe sorgende Entscheidung des Bundesgerichtshofs42 im sogenannten „Tübinger Fall“ unterstrichen, in dem es um den Vorwurf der Verletzung des Beratungsvertrages durch fehlerhafte genetische Beratung ging. Trotz zahlreicher Stellungnahmen zu dieser Entscheidung scheint deren Problematik keineswegs ausdiskutiert zu sein. Es sind insofern jedenfalls Differenzierungen in dreierlei Hinsichten zu berücksichtigen. Die erste betrifft die Frage, ob ein mögliches, von den befaßten Gerichten durchaus unterschiedlich beurteiltes Fehlverhalten des Arztes wirklich seinen Schwerpunkt auf der eigentlichen Beratungsebene oder der gänzlich anders zu beurteilenden Ebene instrumentellen gendiagnostischen Handelns (Diagnose, Befunderhebung, Testauswertung) gelegen hatte. Auf einer zweiten Ebene ist klar zu trennen zwischen der Frage nach einer möglichen Pflichtverletzung und der ganz anderen und bekanntlich auch im Rahmen dieser Entscheidung aufgeworfenen Problematik 39
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Wolfgang van den Daele, Freiheiten gegenüber Technikoptionen, in: KritV 1991, S. 258 f., 262. Jochen Taupitz, Das Recht auf Nichtwissen, in: Peter Hanau (Hrsg.), Festschrift für Günther Wiese zum 70. Geburtstag, Neuwied 1998, S. 583, 597. Spiros Simitis, Allgemeine Aspekte des Schutzes genetischer Daten, in: Schweizerisches Institut für Rechtsvergleichung (Hrsg.), Genanalyse und Persönlichkeitsschutz, Zürich 1994, S. 107, 123. BGHZ 124, S. 128.
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des Unterhaltsschadens bei der unerwünschten Geburt eines Kindes.43 Schließlich ist, drittens, im hier thematisierten spezifischen Problembereich zu unterstreichen, daß es in dem angesprochenen Urteil um den Konflikt zwischen ärztlicher Nicht/Fehlinformation und Recht auf Wissen auf Seiten von Beratenen ging, nicht um „aufgedrängte“ ärztliche Information einerseits und die Geltendmachung des Rechts auf Nichtwissen andererseits. Letztlich wird mit Blick auf die damit nur angedeuteten Probleme wohl nur eine weitere Entwicklung normativer Grundsätze und Standards für ärztliches Informationshandeln zu größerer Normklarheit führen. Vor diesem Hintergrund nehmen vorliegende Normtexte zu Recht den Grundsatz informationeller Selbstbestimmung und Freiwilligkeit als auch speziell Rechte auf Wissen und Nichtwissen auf. Letztere können entweder in ihrer Gleichrangigkeit akzentuiert werden, wie dies etwa in Richtlinien der Bundesärztekammer der Fall ist44, oder in einer gewissen Rangordnung. So enthält das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin (in der deutschen Übertragung) als deutlich formulierte subjektive Rechtsposition nur ein „Recht auf Auskunft“ hinsichtlich aller über die Gesundheit des Rechtsträgers gesammelten Informationen, während der Wille, keine Kenntnis nehmen zu wollen, lediglich als „Wunsch zu respektieren“ ist.45 Allerdings werden beide Aspekte in derselben Bestimmung dann doch gleichermaßen als „Rechte“ (rights) qualifiziert.46 Es ist erwähnenswert, daß sich diese Bestimmung nicht speziell auf genetisches Wissen, sondern allgemein auf gesundheitsbezogene Informationen bezieht. Ein anderes Regelungskonzept liegt Gesetzesvorschlägen zugrunde, die ein „Recht auf Nichtwissen“ in einer eigenständigen Regelung besonders hervorheben.47 Dies ist jedenfalls unter der Voraussetzung berechtigt, daß dieses Recht als das von der expandierenden Gentestentwicklung potentiell besonders gefährdete anzusehen ist. Es ist schließlich auf eine lauter werdende Fundamentalkritik am informationellen Schutzkonzept hinzuweisen. Ungeachtet der unablässig betonten Hochrangigkeit der persönlichkeitsrechtlichen Grundierung informationellen Schutzes in der Genmedizin kann dieser Regelungsansatz mittlerweile keineswegs mehr als unangefochten angesehen werden. Er gerät vielmehr in der internationalen, insbesondere angloamerikanischen bioethischen Grundlagendiskussion zunehmend unter Druck und zwar aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Einerseits wird in grundsätzlich plausibler Weise geltend gemacht, daß jedenfalls Probleme von Diskrimi43
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Aus ärztlicher Sicht auf beiden Ebenen kritisch zu der Entscheidung des Bundesgerichtshofs Gerhard Wolff, Jörg Schmidtke, Michael Pap, Das Urteil des Bundesgerichtshofes zum „Tübinger Fall“ und seine Bedeutung für die genetische Beratung, in: Der Medizinische Sachverständige 91 (1995), S. 120. Bundesärztekammer, Richtlinien zur prädiktiven genetischen Diagnostik, 2003, Abdruck etwa in DÄBl. 2003, S. PP 277. Art. 10 II Biomedizinübereinkommen. In der englischen Fassung: „Everyone is entitled to know any information collected about his or her health. However, the wishes of individuals not to be so informed shall be observed.“ Art. 10 III Biomedizinübereinkommen. § 3 Gentest-Gesetz-Entwurf Bündnis 90/Die Grünen.
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nierung und sozialer Gerechtigkeit nicht ohne Rest durch Persönlichkeits- und Privatheitsschutz, durch genetic privacy zu lösen sind.48 Ohne hierauf an dieser Stelle näher eingehen zu können, muß insofern gelten, daß Persönlichkeits- und Privatheitsschutz ohnehin nicht alternativ gegenüber anderen Richtigkeits- und Rechtsprinzipien auszuspielen, wohl aber in seinem wenn auch relativen Eigenwert zu wahren ist. Andererseits und radikaler ist formuliert worden: „Privacy is dead“. „Not only is privacy less important than health, it is probably a dead issue anyway because electronic communication is putting it out of date […]. But what would be wrong with a world in which privacy no longer existed? Some people would have a harder time getting health insurance, but in normal countries health insurance is government supported an universal anyway. Drug companies would make money out of our genetic data without sharing the profit with us; but is money all that important, when we think of how much humanity will benefit when epidemiological and environmental data are correlated with genomes? Our spouses will find out about our girlfriends or boyfriends, but mightn't that teach us to be more honest with our spouses? Some of us will have harder time getting certain kinds of jobs; but maybe it will best for us to face up to facts about what employment we are suited and what not. There used to be a saying: let it all hang out. If that were our motto, maybe the world would be a better place. When privacy is the norm, it is embarrasing to have one's secrets revealed. But when everyone else is exposed too, one can accept one's own exposure more calmly. I think the death of privacy is near, and I am ready to say good riddance. This may be the dawn of a new era of openess, honestly and mutual understanding“.49
Es sind derartige Reflexionen, die Persönlichkeits- und Privatheitsschutz zukünftig in bisher noch nicht überall realisiertem Umfang zur Disposition stellen könnten, und die nicht nur genetic privacy und informed consent sowie insgesamt Persönlichkeitsrechte als Rechtskonzept betreffen, sondern umfassender als Ausschnitte von Medizinkultur, Rechtskultur und Gesellschaftsstruktur.
C. Informationskonflikte und Drittinteressen Besonders schwerwiegende Probleme der informationellen Selbstbestimmung in der prädiktiven Medizin resultieren aus der im Wortsinn „natürlichen“ Bedeutung genetischer Daten für Dritte. Die Natur der Daten liegt in der auch rechtlich rele48
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Karen Lebacqz, Genetic Privacy: No Deal for the Poor, in: Ted Peters (Ed.), Genetics. Issues of Social Justice, Cleveland 1998, S. 239, 240: „Genetic privacy will not protect the poor and oppressed from discrimination“ (hier zitiert nach Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 216 f.). Frank Leavitt, Privacy is Dead: Commentary on Hans-Martin Sass, in: Eubios Journal of Asian and International Bioethics 11 (2001), S. 132 (Hervorhebung im Original; hier zitiert nach Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 217 f.); wichtig in diesem Zusammenhang auch Graeme Laurie, Genetic Privacy. A Challenge to Medico-Legal Norms, Cambridge 2002.
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vanten Natur der Sache. Der Umgang mit diesen Problemen ist auf breiter Front zu einem besonderen Prüfstein „gendiagnostischer Gerechtigkeit“50 geworden. Insofern können aus Interessenkonflikten auch Informationskonflikte entstehen, die nicht nur schwierige medizinethische Fragen aufwerfen, sondern auch einer rechtlichen Normbildung erhebliche Begründungslasten auferlegen. Dies wird wiederum durch einen Blick in gesetzliche Regelungen und Regelungsentwürfe, professionsinterne Regeln der medizinischen Fachdisziplinen und bezeichnenderweise auch in die Empfehlungen betroffener Selbsthilfeorganisationen bestätigt. Zwei Gesichtspunkte sind hervorhebenswert: erstens, daß das Problem konfliktträchtiger Drittinteressen durchgängig als normierungsbedürftig angesehen wird; zweitens, daß sich alle Regelwerke an dieser Stelle besonders schwer tun. Dies überrascht weder mit Blick auf die hier betroffenen Sachfragen, noch bei Berücksichtigung der einschlägigen normativen Probleme. Die Sachprobleme verweisen auf zwei gänzlich unterschiedliche Bereiche, nämlich auf den privaten Nahbereich von Familie und Verwandtschaft sowie auf wirtschaftlich relevante Fernbeziehungen wie namentlich Arbeits- und Versicherungsverhältnisse. Hier soll nur der erste Aspekt einbezogen werden, also der von genetischen Daten im Familienverband. Insofern geht es um potentiell einschneidende Entscheidungslasten für einander nahestehende Personen sowie um Konfliktpotentiale von beträchtlicher Sprengkraft, die aus der naturwissenschaftlich vorgegebenen Feststellung resultieren: „Meine Anlagen sind auch deine Anlagen“51 und umgekehrt. Rechtsprobleme stellen sich nicht nur wegen des Konflikts zwischen Rechten auf Wissen und Nichtwissen, sondern auch mit Blick auf das Spannungsverhältnis zwischen Drittinteressen und ärztlicher Schweigepflicht. Auch für das Recht der Gendiagnostik sind insofern Informationskonflikte in anderen medizinischen und medizinrelevanten Bereichen aufschlußreich. Es sei insofern auf zwei, nur auf den ersten Blick ferner liegende Fallkonstellationen hingewiesen, die nicht nur die Gerichte, sondern auch eine breitere Öffentlichkeit beschäftigt haben. Die erste betrifft ärztliche Offenbarungsbefugnisse und Offenbarungspflichten in Partnerschaftsbeziehungen bei HIV-Konstellationen, die zweite Informationskonflikte in zweifelhaften Abstammungssituationen. Für die erste Fallgestaltung liegt eine gerichtliche Leitsatzbildung mit folgender Aussage vor: „Sind beide Lebenspartner Patienten des gleichen Arztes, ist dieser nicht nur berechtigt, sondern sogar verpflichtet, den anderen Lebenspartner über die AidsErkrankung und die bestehende Ansteckungsgefahr aufzuklären“.52 Das Urteil hat in der medizinethischen und -rechtlichen Literatur große Aufmerksamkeit erfahren.53 Die damit begründete „Pflicht zum Bruch der Schweigepflicht“54 ist gewiß 50 51
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Terminus bei Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit. Jörg Schmidtke, Vererbung und Ererbtes. Ein humangenetischer Ratgeber, Reinbek bei Hamburg 1997, S. 153. OLG Frankfurt, NJW 2000, S. 875. Andreas Frewer, Christian Säfken, Ärztliche Schweigepflicht und die Gefährdung Dritter: Medizinethische und juristische Probleme der neueren Rechtsprechung, in: Ethik in der Medizin 2003, S. 15; Derk Strybny, Die zivilrechtliche Pflicht des Arztes zur Mitteilung einer HIV-Infektion des Patienten an gefährdete Dritte, Konstanz 2002.
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nicht ohne weiteres auf Informationskonflikte in der genetischen Diagnostik und Beratung übertragbar. Es wird aber durch die lebenspraktische Dramatik und normative Zuspitzung das strukturelle Grundproblem der Informations- und Datenhoheit in konflikthaften Drittbeziehungen überaus deutlich. Empirische Untersuchungen belegen erhebliche Bewertungsunterschiede sowohl bei professionellen Akteuren als auch bei Laien jedenfalls hinsichtlich einer Rechtspflicht von Ärzten zur Angehörigenaufklärung.55 Die zweite Problemkonstellation betrifft Abstammungskonflikte, in deren repräsentativen Fallgestaltungen ein Kind von seiner Mutter Auskunft über die Identität seines leiblichen Vaters verlangt. Hier geht es um ein mehrfach vor den Gerichten verhandeltes Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung seitens des Kindes. Es ist als Variante des allgemeinen Persönlichkeitsrechts, ursprünglich sogar als Ausprägung der Menschenwürde, seit langem auch von der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung anerkannt.56 Aber es geht, erstens, selbstverständlich nicht isoliert um ein solches Recht auf Wissen auf Seiten des Kindes, sondern wiederum um einen schwerwiegenden Autonomie- und Rechtskonflikt zwischen diesem Recht und dem eigenen Persönlichkeitsrecht der Mutter, Schutz ihrer Privatheit und Intimität ihrer persönlichen Beziehungen. Und zweitens geht es bei diesem Rechtskonflikt mit Blick auf die zugrunde liegenden Fallgestaltungen keineswegs nur um die bisher judizierten „konventionellen“ Abstammungskonflikte. Vielmehr erhält das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung seine „moderne“ Relevanz zunehmend im Zusammenhang mit den Entwicklungen der modernen Medizin, hier insbesondere mit Blick auf Reproduktionstechniken und Fortpflanzungsmedizin. In deren Rahmen wird die Durchsetzung des Rechts auf Kenntnis der eigenen Abstammung durch ganze Kataloge technischer Reproduktionsvarianten und eine drohende Anonymisierung von Abstammungszusammenhängen tendenziell erschwert. Adolf Laufs gehört zu denen, die die Folgen einer „unwiderstehlichen Ausweitungsdynamik“ einmal eingeführter Medizintechnologien seit langem und besonders eindringlich prognostizieren.57 Nicht zufällig werden Beschränkungen künstlicher Reproduktionstechniken in der rechtspolitischen Diskussion über ein Fortpflanzungsmedizingesetz „insbesondere zur Sicherung des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung“58 zur Diskussion gestellt. Und sehr deutlich: „Ansonsten lassen sich gegen weitere biologistische Schübe von Rechts wegen nur das Recht 54
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Andreas Spickhoff, Erfolgszurechnung und „Pflicht zum Bruch der Schweigepflicht“, in: NJW 2000, S. 848. Sven Fröhlich, Yanguang Wang, Brigitte Peters, Schweigepflicht oder Aufklärungspflicht? Eine Umfrage zur Arzt- und Patientenethik, in: Hans-Martin Sass, Peter Schröder (Hrsg.), Patientenaufklärung bei genetischem Risiko, Münster 2003, S. 93, 97 f. BVerfGE 79, S. 256; BVerfG, JZ 1997, S. 777; OLG Bremen, JZ 2000, S. 314. Vgl. nur Adolf Laufs, Auf dem Wege zu einem Fortpflanzungsmedizingesetz? Grundfragen der artifiziellen Reproduktion aus medizinrechtlicher Sicht, Baden-Baden 2003, S. 13. Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin in Deutschland, Baden-Baden 2001, S. 108 („Leitfrage: Wo sollen die Grenzen für den Einsatz von Keimzellenspenden liegen?“).
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des Kindes auf Kenntnis seiner genetischen Abstammung, sein Anfechtungsrecht zur Angleichung der Verwandtschaft an die biologische Vaterschaft und damit die materielle und immaterielle Verantwortung des Samenspenders mobilisieren“.59 Darauf, daß bekanntlich ein weiteres, in der Interessenlage gänzlich anderes Feld gendiagnostisch unterstützter Abstammungsinformation in Gestalt heimlicher investigativer Vaterschaftstests in die öffentliche und gesetzgeberische Diskussion geraten ist, sei hier nur am Rande hingewiesen.60 Vor diesem Hintergrund sind für Informationskonflikte in der Gendiagnostik geltende Rechtslagen und rechtspolitische Regelungsalternativen in die Betrachtung einzubeziehen. Hinsichtlich des Konflikts zwischen ärztlicher Schweigepflicht und Drittinteressen ist auf die vertraute Trias möglicher Gründe für eine Entbindung von der Schweigepflicht zu verweisen: Befreiung durch den Patienten/Betroffenen selbst aufgrund Selbstbestimmung; durch spezialgesetzliche Anordnung nach Vorbildern im Infektionsschutz-, Betäubungsmittel- und Sozialrecht; durch das Prinzip des rechtfertigenden Notstandes auf der Grundlage einer rechtsgüterspezifischen und gefährdungsorientierten Abwägung.61 Professionsinterne wie gesetzliche Regelmodelle können sich jedenfalls teilweise an den Normelementen dieser Trias orientieren und letztlich ebenfalls drei Alternativen in Betracht ziehen: entweder eine Vorrangregel zugunsten eines Rechtsträgers als (potentiellem) Genträger; eine interessenbezogene Abwägungsregel; schließlich ein Kombinationsmodell aus beiden vorgenannten Normkonzepten. Die Diskussion über Normkonzepte in diesem Bereich der Informationskonflikte findet, dies sei hier nur knapp angedeutet, vor dem Hintergrund einer breiten Strömung auch medizinethischer Positionsbestimmungen statt. Darin sind zunehmend Tendenzen einer expandierenden Inpflichtnahme genetisch belasteter Personen im Interesse von möglichen Drittbetroffenen zu beobachten. Individualethische (Solidarität im Familienverband) und sozialethische (Solidarität im Gesundheitssystem) Begründungen laufen auf eine Relativierung der Datenherrschaft hinsichtlich eigener Gesundheits-, insbesondere genetischer Daten hinaus. Der auf den einzelnen Patienten/Klienten konzentrierte „informed consent“ wird als unzureichend qualifiziert und ein „group consent“ oder „family consent“ diskutiert.62 59
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Peter Derleder, Die Grenzen einer Elternschaft aufgrund medizinisch unterstützter Fortpflanzung, in: Bundesministerium für Gesundheit, Fortpflanzungsmedizin in Deutschland, S. 154, 156. Dazu etwa die Positionen von Manfred Plautz einerseits und Christian Rittner und Natascha Rittner zu der Frage „Zulässigkeit heimlicher Vaterschaftstests?“, in: ZRP 2004, S. 215. Erwin Deutsch, Andreas Spickhoff, Medizinrecht, 5. Aufl., Berlin 2003, S. 314 ff. (Rdnr. 475 ff.), dort auch zu weiteren Grenzen der Schweigepflicht jenseits des hier interessierenden Problems gesundheitsspezifischer Drittinteressen. Die Verletzung der Schweigepflicht wird angesprochen, bleibt aber dahingestellt in der Entscheidung BGHZ 107, S. 222, in der die ärztliche therapeutische Aufklärung statt gegenüber dem bedrohlich erkrankten Patienten gegenüber nahen Angehörigen erfolgt war. Michael Quante, Ethische Probleme mit dem Konzept der informierten Zustimmung im Kontext humangenetischer Beratung und Diagnostik, in: Franz Petermann, Silvia Wie-
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Und für die molekulargenetische Forschung und humangenetische Beratung gilt entsprechendes für ein Vertragskonzept wechselseitiger Rechte und Pflichten in Gestalt eines „informed contract“ und die Ersetzung von „Einwilligung nach Aufklärung“ durch „Vertrag nach Aufklärung“. Die Ausgestaltung eines solchen Vertrages soll sich danach „im Regelfall“ an der informationellen Selbstbestimmung des Ratsuchenden oder Probanden orientieren.63 Einen etwas anderen, wohl auch einsichtigeren Akzent bekommt das Modell des informed contract möglicherweise durch eine Beschränkung auf den Bereich genetischer Forschung und einschlägiger Biodatenbanken, da es insofern nicht bloß um Einwilligungs-, sondern auch um Daten- und Verwertungsprobleme geht64, um ein „Recht auf bio-materielle Selbstbestimmung“.65 Diese hier nicht weiter verfolgbaren Argumentationslinien sind weiterhin aufmerksam zu prüfen. Es ist aber bereits jetzt deutlich, daß sich insofern Entwicklungen abzeichnen, in denen die zunehmende Routinisierung und „Normalisierung“ der genmedizinischen Optionen auch die Normativität der Genmedizin zu bestimmen beginnt. Liberale Konzepte der systemischen Technikfreisetzung sind hier verknüpft mit Verantwortungszuweisung und paternalistischer Inpflichtnahme der Einzelperson. Auch in diesem Zusammenhang stellt sich für das Verhältnis von Normalität und Normativität der Gentechnik die Frage nach der normativen Kraft des Faktischen mit weitreichenden Folgen für die Autonomie des Einzelnen, aber auch für Medizinkultur und Sozialstruktur. Einschlägige Rechtsvorschriften, Regelungsentwürfe und Professionsnormen spiegeln die angesprochenen Informationskonflikte, in Betracht kommende Normvarianten und Entscheidungsprobleme deutlich wieder. Aufschlußreich ist insofern die Aussage in einem Positionspapier der Gesellschaft für Humangenetik. Darin wird der potentielle Informationskonflikt hinsichtlich genetischer Krankheitsdispositionen bei Verwandten einerseits als ein „prinzipiell unlösbarer Konflikt“ gesehen, aber Familienangehörige andererseits in einer „moralischen Verpflichtung, genetisches Wissen zu teilen“.66 Allerdings ist hierzu anzumerken, daß nicht nur die nähere Begründung einer solchen Position zur weiteren Prüfung steht; vielmehr schließt ein – einmal unterstelltes – Postulat moralischer Informationspflichten keinesfalls schon per se eine Transformation derartiger Pflichten in Rechtspflichten ein. Im übrigen spricht sich der Berufsverband für den Konfliktfall grundsätzlich für eine interessenbezogene Einzelfallabwägung aus, für den Fall nicht behandelbarer und nicht verhinderbarer Krankheiten jedoch dafür, daß das auf Nichtwissen zielende „Recht auf informationelle Selbstbestimmung Vorrang vor dem Recht auf Information“ haben solle. Demgegenüber ist von medizinischer Seite für den hierher passenden Fall der Chorea Huntington ein umgekehr-
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debusch, Michael Quante (Hrsg.), Perspektiven der Humangenetik: medizinische, psychologische und ethische Aspekte, Paderborn 1997, S. 209, 221. Hans-Martin Sass, Patienten- und Bürgeraufklärung über genetische Risikofaktoren, in: Sass/Schröder, Patientenaufklärung bei genetischem Risiko, S. 41, 50. Dazu etwa Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 266 ff., 270 ff. Christian Halasz, Das Recht auf bio-materielle Selbstbestimmung, Berlin 2003. Gesellschaft für Humangenetik, Positionspapier, in: Medizinische Genetik 8 (1996), S. 125 ff.
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tes Regel-Ausnahme-Verhältnis formuliert worden: „Die grobe Leitlinie, dass im Zweifelsfall das Recht auf Wissen der jüngeren Generation gegenüber dem Recht auf Nichtwissen der Älteren Vorrang hat, ist in jedem Einzelfall kritisch zu überprüfen“.67 Eine normative Begründung dieser „groben Leitlinie“ ist damit allerdings noch genauso wenig geliefert wie Kriterien für eine Abweichung von dieser Linie im „kritisch überprüften“ Einzelfall. Auch die Bundesärztekammer hat in Richtlinien zur Diagnostik der genetischen Disposition für Krebserkrankungen ein Regel-Ausnahme-Konzept vorgegeben: „Grundsätzlich soll sich der Arzt nicht selber an die Verwandten seines Patienten wenden, es sei denn, daß der Patient seine Angehörigen nicht informiert und die Verwandten vom gleichen Arzt mitbehandelt werden, wobei die Fürsorgepflicht gegen die ansonsten bestehende Schweigepflicht abzuwägen ist“.68 Dieses Informationsmodell derogiert also im Informationskonflikt die Informationshoheit des Patienten zu Gunsten einer Informations- und Abwägungshoheit des Arztes unter drei Voraussetzungen: Nichtinformation der Drittperson(en) durch den Patienten; „Mitbehandlung“ des Verwandten durch denselben Arzt; Abwägungsergebnis zu Lasten der Schweigepflicht und zu Gunsten der Fürsorgepflicht. Auf jeder Stufe handelt es sich um voraussetzungsvolle und je für sich problematische Kriterien.69 Dies gilt insbesondere für den nicht näher präzisierten Abwägungsvorbehalt. Konkreter als diese Richtlinien von 1998 sind die im Jahre 2003 von der Bundesärztekammer vorgelegten Richtlinien zur prädiktiven genetischen Diagnostik in ihren Ausführungen zum Verhältnis von „Datenschutz und Schweigepflicht“.70 Auch im Recht spiegeln sich die angesprochenen informationellen Konflikte bei bestehenden Drittinteressen wieder, auch in schon existierenden gesetzlichen Vorschriften. So enthält das österreichische Gentechnikgesetz eine Regelung für den Fall, daß „anzunehmen ist, daß eine ernste Gefahr einer Erkrankung von Verwandten besteht“. Dann „hat der die Genanalyse veranlassende Arzt der untersuchten Person zu empfehlen, ihren möglicherweise betroffenen Verwandten zu einer humangenetischen Untersuchung zu raten“.71 Diese doppelt weiche Norm, 67
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Jörg T. Epplen, Erdmute Kunstmann, Spannungsfeld Erbkrankheiten: Beratung, Diagnostik und Therapie, in: Sass/Schröder, Patientenaufklärung bei genetischem Risiko, S. 13, 19. Die Autoren machen geltend: Da es „für derartige ‚klassische’ Konfliktsituationen keine allgemeine gültige Lösung geben kann, muss für jeden einzelnen Fall in der genetischen Beratung eine individuelle Lösung erarbeitet werden. Der genetische Berater bleibt dabei neutral, spricht aber sich abzeichnende Konflikte dezidiert an“. Daran ist, gerade für Chorea Huntington, sicher richtig, daß die konkrete Beratungssituation die Erarbeitung einer „Lösung“ erforderlich macht. Soweit diese allerdings nicht zu einem Konsens zwischen den Beteiligten führt, ist mit den zitierten Äußerungen noch keinerlei Kriterienbildung für die normativ nun einmal zentrale Situation eines verbleibenden Konflikts erreicht. Abdruck in DÄBl. 1998, S. A-1396, A-1398. Näher dazu Damm, Prädiktive Medizin und Patientenautonomie, in: MedR 1999, S. 437, 445. Abdruck etwa in DÄBl. 2003, S. PP-277, 283. § 70 österreichisches Gentechnikgesetz. Der Gesetzentwurf von Bündnis 90/ Die Grünen hat diese Regelung wörtlich übernommen.
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Empfehlung zu einem Rat, ist als Rechtsnorm bemerkenswert und unterstreicht die Sensibilität der Materie. Ein grundsätzlich sinnvoll abgestuftes Regelungskonzept enthält der bereits erwähnte Gesetzgebungsvorschlag der deutschen Datenschutzbeauftragten. Danach ist, nach der auch sonst akzeptierten Ausgangsregel, daß der Arzt das Ergebnis des Gentests nur der betroffenen Person mitteilt, folgendes Vorgehen vorgesehen: Wenn das Testergebnis „nach ärztlicher Erkenntnis auch für Verwandte der betroffenen Person von Bedeutung ist“, hat der Arzt bei der nachfolgenden Beratung den Betroffenen auch auf das Recht auf Nichtwissen der Verwandten hinzuweisen (Schutz von Drittpersonen vor aufgedrängter Information). Sodann darf der Arzt gegen den Willen der Testperson deren Verwandte oder Partner nur von dem Untersuchungsergebnis unterrichten, „wenn und soweit dies zur Wahrung erheblich überwiegender Interessen dieser Personen erforderlich ist“ (Schutz der Testperson vor allzu schnellem Verlust seiner Datenhoheit, Schutz der Drittpersonen vor erheblichen genetischen Risiken).72 Auch wenn damit noch keineswegs alle normativen Probleme gelöst sind, bezeichnet die ausdrückliche Herausstellung des Rechts auf Nichtwissen und die Bindung an erheblich überwiegende Interessen73 von Drittpersonen eine sinnvolle Ausgangslinie, die im Grundsatz schon seit längerem vorgetragen wird: „Eine Offenbarung ist nach den Grundsätzen des überwiegenden Interesses dann gerechtfertigt, wenn im Einzelfall für die Verwandten das Verschweigen des Befundes eine gegenwärtige, nicht anders als durch Mitteilung abwendbare Körper- oder Lebensgefahr bedeutet, und diese wesentlich höher zu bewerten ist als das Recht auf Wahrung der Privat- und Intimsphäre“.74 Daß es hier im übrigen um die Aufgaben des Rechts in Situationen des Konflikts geht, die sich im Falle des Konsenses unter den Betroffenen für deren Verhältnis nicht stellen, sei am Rande bemerkt.
D. Informed consent und gendiagnostische Vorbehaltstrias Die Frage nach Grundsatz und Reichweite der Grundsätze informierter Einwilligung und informationeller Selbstbestimmung in der Genmedizin verweist auf drei Themenbereiche genetischer Diagnostik, die mit dieser Grundnorm eng verknüpft und obendrein medizinethisch wie rechtspolitisch umstritten sind. Es handelt sich um Voraussetzungen für den Einsatz eines Gentests, deren Berechtigung nach langer, breit getragener Anerkennung offensichtlich zunehmend unter legitimato72 73
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§ 17 des Entwurfs der Datenschutzbeauftragten. Dies ist gegenüber dem schweizerischen Gesetzentwurf vorzugswürdig, der sich bei dieser Frage mit der Wahrung „überwiegender Interessen“ begnügt (Art. 16 des Entwurfs). Jürgen Simon, Rechtliche und rechtspolitische Aspekte der gegenwärtigen und zukünftig erwartbaren Nutzung genanalytischer Methoden am Menschen, Gutachten des Forschungszentrums Biotechnologie im Auftrag des Büros für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag, 1993, S. 183.
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rischen Druck gerät. Sie können als Indikations-, Arzt- und Beratungsvorbehalt bezeichnet werden, sind unmittelbar miteinander verknüpft, alle drei aber auch jeweils mit dem Informationsrecht der Biomedizin. I. Indikationsvorbehalt und Gesundheitszweckbezug Die zukünftigen Anwendungsfelder der genetischen Diagnostik werden in beträchtlichem Maße davon abhängen, ob und wieweit einschlägige Tests an das Vorliegen einer medizinischen Indikation oder jedenfalls gesundheitsbezogenen Zwecksetzung gebunden sein werden. Adolf Laufs hat Indikation, aufgeklärte Einwilligung und Behandlung lege artis deutlich als die zentralen Legitimationskriterien für ärztliches Handeln herausgestellt. Und er hat sie ausdrücklich und mit gutem Grund als „die drei zusammenhängenden, nebeneinander erforderlichen Elemente rechtmäßigen ärztlichen Eingreifens“ bezeichnet.75 Nun ist gerade diese Erforderlichkeit, gar Möglichkeit einer strikten Bindung genetischer Tests an eine medizinische Indikation einschließlich des Zusammenhangs von Indikation und informed consent Gegenstand einer kontroversen Diskussion. Als medizinische Indikation gilt der „Grund zur Anwendung eines bestimmten diagnostischen oder therapeutischen Verfahrens in einem Krankheitsfall, der seine Anwendung hinreichend rechtfertigt“.76 Die Orientierung an einer solchen „hinreichenden Rechtfertigung“ wirft nun bei der genetischen Diagnostik, wie auch in einigen anderen exponierten Sektoren der modernen Medizin, besondere Probleme auf. Dabei sind allerdings unterschiedliche Problemebenen zu unterscheiden. So geht es einerseits um die Frage, was medizinische Indikation im gendiagnostischen Bereich überhaupt bedeutet: „Wann sind genetische Tests überhaupt ‚indiziert’?“.77 Eine andere Frage zielt darauf, ob es eine normative, gar rechtliche Bindung genetischer Tests an eine wie auch immer zu bestimmende medizinische Indikation oder gesundheitsbezogene Zwecksetzung geben soll. Beide Fragen werfen jeweils recht komplexe Unterfragen auf.78 Es geht um die Verknüpfung von Indikation und informed consent einerseits und das Postulat eines völlig unreglementierten freien Zugangs zu genetischen Tests auch auf dem „freien Markt“ andererseits. Für die erstgenannte Problematik sei auf eine Formel in einschlägigen Richtlinien der Bundesärztekammer hingewiesen: „Die Voraussetzung für eine prädiktive genetische Diagnostik ist dann gegeben, wenn ein Patient nach angemessener Aufklärung und Beratung eine solche Diagnostik für sich als angemes-
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Adolf Laufs in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 6 Rdnr. 1 f. Willibald Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 259. Aufl., Berlin 2002, Stichwort „Indikation“. Schmidtke, Vererbung und Ererbtes. Ein humangenetischer Ratgeber, S. 95. Ausführlicher und mit Nachweisen Damm, in: MedR 2004, S. 1, 9 ff.; Regenbogen, Ärztliche Aufklärung und Beratung in der prädiktiven genetischen Diagnostik, S. 142 ff.
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sen erachtet“.79 Ist diese „Voraussetzung“ mit der Indikation gleichzusetzen? Soll nunmehr der Patient oder Klient für die „Indikationsstellung“ zuständig sein, mit anderen Worten Indikation durch informed consent bestimmt werden, während für den Arzt nur noch eine „Indikation zu einer Aufklärung“80 verbleibt? Dies liefe, jedenfalls gemessen an überkommenen medizinethischen und -rechtlichen Grundsätzen, auf eine problematische Aufwertung von Patientenselbstbestimmung in einem Bereich hinaus, der lange Zeit nicht ein Ort von Autonomie, sondern von objektiver medizinwissenschaftlicher Kriterienbildung war. Es stehen „Eingriffe ohne Indikation“, jedenfalls „Grenzen der medizinischen Indikation“ in der Diskussion und für die Gendiagnostik das Diktum: „Humangenetische Verfahren diagnostischer Art […] entbehren jeglicher medizinischen Indikation“.81 Allerdings ist auch außerhalb der Gendiagnostik ein Ausfransen an den Rändern des Indikationskonzepts zu beobachten. Die Ursachen hierfür sind komplex, aber letztlich wohl auf eine doppelte Expansion zurückzuführen, nämlich auf „erweiterte Handlungsmöglichkeiten der Medizin“ und zugleich eine „Ausweitung der Zielsetzungen ärztlichen Handelns“.82 Die Folgen dieser Entwicklung für die Professionalität der Medizin und Medizinkultur einerseits und Freiheitsversprechen und Verantwortungslasten beim einzelnen Betroffenen andererseits sind potentiell weitreichend. „Die an die Autonomie des Patienten gebundene Zustimmung nach Aufklärung (informed consent) wäre dann unabhängig von grundsätzlichen Zielvorgaben das einzige Regulativ ärztlichen Handelns“.83 Die Aufwertung des Beratungskonzepts ist vor diesem Hintergrund wohl auch als ein kompensatorisches Indiz für die „Problematisierung der Indikationsstellung“ in der Humangenetik zu interpretieren.84 Insgesamt indizieren die Gewißheitsverluste der medizinischen Indikation Orientierungsprobleme der modernen Medizin und auch Konsensverluste hinsichtlich einiger ihrer Anwendungsfelder. Es sollte auch für das Recht der Gendiagnostik jedenfalls die Grundregel Geltung behalten: Die freie, individuelle Selbstbestimmung ist notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die Vornahme des genetischen Tests, oder knapper: 79
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Bundesärztekammer, Richtlinien zur prädiktiven genetischen Diagnostik, DÄBl. 2003, S. PP-277, 281. Jörg Schmidtke, Richtlinien zur pränatalen Diagnostik von Krankheiten und Krankheitsdispositionen, in: Winter/Fenger/Schreiber (Hrsg.), Genmedizin und Recht, S. 439, 440 (Rdnr. 1105). Wilhelm Uhlenbruck, Adolf Laufs in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 51 Rdnr. 1, 2, 4, 7. Mit Blick auf die Pränataldiagnostik ist vom Fehlen einer „strengen Indikation“ und einer nur „geringen Ausgeprägtheit der Indiziertheit die Rede“, BerndRüdiger Kern, Rechtliche Aspekte der Humangenetik, in: MedR 2001, S. 9, 11. Dirk Lanzerath, Krankheit und ärztliches Handeln. Zur Funktion des Krankheitsbegriffs in der medizinischen Ethik, Freiburg 2000, S. 78 ff.; vergleiche auch Lanzerath, Prädiktive genetische Tests im Spannungsfeld von ärztlicher Indikation und informationeller Selbstbestimmung, in: Jahrbuch f. Wissenschaft und Ethik 3 (1998), S. 193. Lanzerath, Krankheit und ärztliches Handeln, S. 275 (Hervorhebungen im Original). Stefan May, Markus Holzinger, Autonomiekonflikte in der Humangenetik. Professionssoziologische und professionsrechtliche Aspekte einer Theorie reflexiver Modernisierung, Opladen 2003, S. 74.
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ohne Selbstbestimmung, Freiwilligkeit und Einwilligung kein Test, aber auch mit Einwilligung nicht jeder Test. „Daß es sinnvolle Verwendungsweisen medizinischer Verfahren gibt, bedeutet eben noch nicht, daß ihre generelle Nutzung angemessen ist“.85 Daß diese Regel nicht mehr unverbrüchlich gilt, ist unübersehbar, auch wenn noch der Versuch unternommen wird, eindeutige Grenzen zu ziehen: „Der Einsatz prädiktiver Gentests darf nur zu medizinischen Zwecken und bei Vorliegen einer medizinischen Indikation erfolgen“.86 Ungeachtet bestehender Zweifel an der begrifflichen Abgrenzungs- und Trennschärfe einer Bezugnahme auf medizinische Indikation und gesundheitsbezogene Zwecke87 sollte im Grundsatz an einer derartigen Orientierung festgehalten werden. Die gesetzgeberische Arbeit im In- und Ausland ist überwiegend darum bemüht, allerdings mit erheblichen Bandbreiten.88 Dabei sollte der Bezug auf Gesundheitszwecke jedenfalls so weit verstanden werden, daß er auch die Diagnostik hinsichtlich nicht verhinderbarer und nicht therapierbarer Krankheiten umfaßt.89 Im übrigen ist die Grundsatzdiskussion darüber, welche ganz unterschiedlichen Aspekte der „Gesundheitszwecklichkeit“ auch für rechtliche Regelungsansätze in Betracht zu ziehen sind, keineswegs abgeschlossen.90 Bei allen Abgrenzungs- und Sachproblemen ist jedenfalls auf der Abgrenzung gegenüber Positionen zu beharren, die den Zugang zu jedweder genetischen Diagnostik „nach freiem Belieben“91 propagieren. Als Ausgangsposition sollte an einer Bindung genetischer Tests an medizinische Zwecke festgehalten werden, wie dies etwa bei dem in Frankreich geltenden Regelungsansatz des „Gesetzes über den Respekt vor dem menschlichen Körper“ der Fall ist.92 Soweit der Gesetzgeber genetische Tests darüber hinaus zum Einsatz kommen lassen will (etwa im Arbeits- und Versicherungsbereich), muß dies als Ausnahme von der Regel in ausdrücklichen Öffnungsklauseln bestimmt und damit transparent gemacht werden. Im übrigen wäre es geradezu naiv, den Umstand zu verkennen, daß es die Eigengesetzlichkeit expansiver Gendiagnostik selbst sein könnte, die die Gefahr mit sich bringt, „daß die heute noch bestehende Grenze ei85 86
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May/Holzinger, Autonomiekonflikte in der Humangenetik, S. 76. So der vormalige beim Bundesgesundheitsministerium eingerichtete Ethik-Beirat, Prädiktive Gentests. Eckpunkte für eine ethische und rechtliche Orientierung, 2000, S. 7. Mit Nachweisen dazu Damm, in: MedR 2004, S. 1, 11. Ausführlicher zu vorliegenden Regelungsentwürfen Damm, in: MedR 2004, S. 1, 9 ff. Dies zu einer Kritik am Kriterium medizinischer oder gesundheitsbezogener Zwecke bei Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 391, unter Hinweis auf Chorea Huntington. Die Diagnose einer Disposition zu einer Krankheit ohne präventive oder therapeutische Perspektive gehört ungeachtet dessen zum Spektrum gesundheitsspezifischer Interventionen. Ausführlich zur Problematik Andreas Vieth, Gesundheitszwecke und Humangenetik. Medizinethische Argumente für die Bindung prädiktiver Gentests an Gesundheitszwecke, Paderborn 2004. Vieth, Gesundheitszwecke und Humangenetik, S. 49 ff. (passim). Angelika Schmidt, Genetische Beratung im Spiegel des Rechts, in: Medizinische Genetik, 1993, S. 395, zitiert und kritisiert bei Eberhard Buchborn, Konsequenzen der Genomanalyse für die ärztliche Aufklärung in der prädiktiven Medizin, in: MedR 1996, S. 441, 442. Dazu näher Vieth, Gesundheitszwecke und Humangenetik, S. 49 ff., 150 f., 236 ff.
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ner spezifischen medizinischen Indikation für die Durchführung genetischer Diagnostik zumindest aufgeweicht wird“.93 II. Arztvorbehalt Ein enger Zusammenhang besteht naturgemäß zwischen einem wie auch immer bestimmten Indikationsvorbehalt oder Gesundheitszweckbezug einerseits und einem Arztvorbehalt für genetische Diagnostik andererseits. Auch hierzu gibt es intensive Diskussionen. Auf wichtige terminologische und sachliche Abgrenzungsfragen kann hier nur in konzentrierter Weise hingewiesen werden. Dazu gehört die Feststellung, daß es Varianten eines Arztvorbehaltes gibt, bei deren Unterscheidung auch der Stellenwert des bereits erörterten Indikationsvorbehaltes und die Unterscheidung von Einwilligung und Entscheidung eine Rolle spielt. So kann ein Arztvorbehalt für alle prädiktiven genetischen Tests vorgesehen werden oder auf krankheitsrelevante Tests beschränkt bleiben. Bei beiden Varianten kann der Arztvorbehalt auf eine Beratungsfunktion beschränkt oder als Entscheidungsvorbehalt konzipiert werden.94 Danach hängt die in der Literatur formulierte Unterscheidung mit der Frage zusammen, ob es sich um einen „eingeschränkten Arztvorbehalt“ oder um einen „engen oder wirksamen Arztvorbehalt“ handelt.95 Im ersten Fall geht es darum, daß der Patient nicht nur in den Test einwilligt, sondern über seinen Einsatz auch entscheidet, das heißt, daß es der Patient/Klient ist, der über die „Indikation“ bestimmt, weil, in der bereits angeführten Formulierung der Bundesärztekammer, „die Voraussetzung für eine prädiktive genetische Diagnostik dann gegeben (ist), wenn ein Patient nach angemessener Aufklärung und Beratung eine solche Diagnostik für sich als angemessen erachtet“.96 Der zweite Fall eines „wirksamen Arztvorbehalts“ ist dadurch gekennzeichnet, daß der Patient (selbstverständlich) einwilligen muß, aber nicht über den Einsatz des Tests entscheidet, da die Indikation durch „vom Dafürhalten des Patienten unabhängige“ medizinische Kriterien bestimmt wird. Und es gilt, in Entsprechung der oben formulierten Grundregel (informed consent als notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung eines Tests): „Die Bindung der Anwendung prädiktiver Diagnostik an eine medizinische Indikation stellt jedoch nur eine notwendige Bedingung für die Durchführung von genetischen Tests dar. Letzten Endes muss der Patient durch seine Einwilligung den Test ermöglichen. Man muss demnach unterscheiden, ob der Patient in eine Maßnahme nach Aufklärung einwilligt oder ob er nach Aufklärung entscheidet“. Und im Ergebnis gilt: „Ein wirksamer Arztvor93
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Leonhard Hennen, Thomas Petermann, Arnold Sauter, Das genetische Orakel. Prognosen und Diagnosen durch Gentests – eine aktuelle Bilanz, Berlin 2001, S. 60, mit Hinweis auf DNA-Chips (Hervorhebungen im Original). Vieth, Gesundheitszwecke und Humangenetik, S. 20. Zu Terminologie und Sachunterscheidung Vieth, Gesundheitszwecke und Humangenetik, S. 180 ff., 209 f. Bundesärztekammer, Richtlinien zur Prädiktiven Genetischen Diagnostik, DÄBl. 2003, S. PP-277, 281.
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behalt kann daher nur durch Bindung an das Arzt-Patient-Verhältnis in Kombination mit medizinischen Indikationen erreicht werden“.97 Diese Formulierung bringt den Stellenwert der Verknüpfung von Indikations- und Arztvorbehalt auf den Punkt, löst allerdings als solches noch nicht die Probleme bei der inhaltlichen Bestimmung dessen, was unter einer „medizinischen Indikation“ zu verstehen ist, die diese Kennzeichnung verdient. Im übrigen wirft das Konzept eines Arztvorbehalts elementare normative und fachwissenschaftliche Probleme auf. Zwei davon seien besonders hervorgehoben: Erstens bringt ein Arztvorbehalt eine Beschränkung von Freiräumen zu Lasten kommerzieller Testanbieter auf sich entwickelnden Märkten mit sich. Diese Entwicklung vollzieht sich vor dem Hintergrund zunehmender technischer Verfügbarkeit solcher Tests und in bereits absehbar problematischer Weise. So gibt es den Hinweis, daß in den USA mehr als vierzig Prozent der einschlägigen Labors genetische Tests allein auf Wunsch von Testwilligen und ohne die Einbeziehung eines Arztes durchführen sollen.98 Es liegt auf der Hand, daß die rechtliche Regulierung marktförmiger Gendiagnostik erst an ihrem Anfang und vor der Frage steht, welches Gewicht den Eigenwerten des Medizin- und Gesundheitssystems gegenüber einer Kommerzialisierung der Genetik zuzuweisen ist. Der zweite Gesichtspunkt ist in normativer Hinsicht noch schwerwiegender. Er betrifft den Umstand, daß ein Arztvorbehalt auch das Selbstbestimmungsrecht einzelner Testwilliger berührt. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat dazu in ihrer Stellungnahme zur prädiktiven Diagnostik von 2003 geltend gemacht: „Auf den ersten Blick erscheint eine derartige Barriere (d.h. ein Arztvorbehalt, R.D.) gegenüber der Entstehung eines ‚freien Testmarkts' als Einschränkung der Autonomie nicht nur der Testanbieter, sondern auch der nachfragenden Patienten bzw. Klienten, die anderenfalls selbst bestimmen könnten, ob sie sich mit ihrem Testwunsch an einen ärztlichen oder nicht-ärztlichen Anbieter wenden. Doch auf den zweiten Blick dient - umgekehrt - ein gesetzlich verfügter Arztvorbehalt nicht nur dem Wohlergehen der Bürger, sondern auch den Bedingungen ihrer Selbstbestimmung“.99 Es wird damit gegenüber einer mitunter fast inflationären Gegensatzbildung zwischen Autonomie und rechtlicher Regulierung grundsätzlich zu Recht auf qualitative Rahmenbedingungen der Ausübung von Selbstbestimmung hingewiesen. Diese Bedingungen sollen danach durch Bindungen an die autonomiesichernde Arztfunktion qualifizierter Beratung abgestützt werden. Damit wird, entgegen verbreiteten Paternalismusvorwürfen gegenüber normativen Bindungen 97
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Alle Zitate bei Vieth, Gesundheitszwecke und Humangenetik, S. 180, 182 (Hervorhebungen im Original). Zu Einwänden und Vorteilen in der Diskussion eines Arztvorbehaltes auch Schröder, Gendiagnostische Gerechtigkeit, S. 391 ff.; Jochen Taupitz, Humangenetische Diagnostik zwischen Freiheit und Verantwortung, in: Ludger Honnefelder, Peter Propping (Hrsg.), Was wissen wir, wenn wir das menschliche Genom kennen?, Köln 2001, S. 265. Jochen Taupitz, Genetische Diagnostik und Versicherungsrecht, Karlsruhe 2000, S. 38. Deutsche Forschungsgemeinschaft, Prädiktive Diagnostik. Wissenschaftliche Grundlagen, praktische Umsetzung und soziale Implementierung, Stellungnahme der Senatskommission für Grundsatzfragen der Genforschung, Weinheim 2003.
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der Gendiagnostik (und anderen Interventionsfeldern der modernen Medizin), der Arztvorbehalt gerade nicht als Begrenzung, sondern als Bedingung der Ermöglichung oder Optimierung von Selbstbestimmung geltend gemacht. Natürlich stehen damit im Gegenzug auch die Legitimations- und Qualitätsanforderungen an die ärztliche Beratung auf dem Prüfstand. Damit sind für professionsinterne und rechtliche Regeln und Regelungsentwürfe nur Grundsatzfragen angesprochen, deren Konkretisierung die Normgeber nach wie vor vor beträchtliche Probleme stellt100 und in internationaler Perspektive zu vielfältigen Normvarianten geführt hat.101 III. Beratungsvorbehalt Für die informierte Einwilligung von Patienten sind Art und Umfang der ärztlichen Information naturgemäß von entscheidender Bedeutung. Dies gilt für das Medizinrecht allgemein und hat doch im Bereich der expandierenden „Beratungsmedizin“ einen darüber hinaus reichenden Stellenwert102, der auch in den Regelwerken der Fachprofessionen einen deutlichen Niederschlag findet.103 Bei der genetischen Beratung geht es gleichzeitig um die Sicherung von Autonomie und Qualität in der gendiagnostischen Praxis. Daß es jedoch hinsichtlich der Sicherung von Autonomie bereits auf begrifflicher Ebene schwer fällt zu bestimmen, um welche Aspekte der Selbstbestimmung von Patienten und Klienten es eigentlich geht, ist ein bemerkenswerter Umstand. Gegenüber der für den informed consent traditionellen Bezugnahme auf die ärztliche Aufklärung ist in wichtigen Bereichen der modernen Medizin, nicht zuletzt der „Genmedizin“ oder „Biomedizin“, die Doppelnennung von „Aufklärung und Beratung“ üblich geworden. Dies ist kaum einmal mit dem Versuch verknüpft, das Verhältnis beider Begriffe zu bestimmen:104 Bislang bleibt insofern überwiegend unklar, ob es sich dabei um eine historisch gewachsene Doppelnennung bedeutungsgleicher Begriffe, einen nicht weiter differenzierbaren Informationskomplex oder um zwei unterschiedliche Formen ärztlichen Informationshandelns und damit auch um zu unterscheidende Informationspflichten handelt. Ohne daß dies an dieser Stelle vertieft werden könnte, sei darauf hingewiesen, daß sich eine fortschreitende Differenzierung zwischen Aufklärung und Beratung auch auf der inhaltlichen Ebene zu entwickeln scheint. Dabei deutet sich an, daß Aufklärung primär auf die informationelle Ver100 101
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Näher hierzu mit Nachweisen Damm, in: MedR 2004, S. 1, 13. Eine ausführliche „Übersicht über nationale und internationale Regelungsansätze“ enthält die Arbeit von Vieth, Gesundheitszwecke und Humangenetik, S. 214 ff. Vgl. entsprechende Überlegungen aus medizinethischer Sicht bei Michael Quante, Ethische Probleme mit dem Konzept der informierten Zustimmung im Kontext humangenetischer Beratung und Diagnostik, in: Petermann/Wiedebusch/Quante, Perspektiven der Humangenetik, S. 109 ff. Statt vieler etwa Bundesärztekammer, Richtlinien zur prädiktiven genetischen Diagnostik, DÄBl. 2003, S. PP- 277, 282. Vgl. aber Kern, in: MedR 2001, S. 9, 11 (für die Pränataldiagnostik).
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mittlung medizinischer Fakten als Grundlage einer eben deshalb informierten Einwilligung (informed consent) zielt. Demgegenüber wird Beratung umfassender, wenn auch überwiegend unausgesprochen, als darüber hinausgehende Grundlage einer vom Beratenen zu treffenden Entscheidung hinsichtlich mehrerer in Betracht kommender Optionen begriffen. Eine solche Unterscheidung könnte als Einwilligungsbezug der Aufklärung einerseits und Entscheidungsbezug von Beratung andererseits begriffen werden.105 Damit tauchen an dieser Stelle wiederum Verknüpfungs- und Unterscheidungsprobleme von Einwilligung und Entscheidung auf, wie sie bereits im Bereich eines Indikations- und Arztvorbehaltes angesprochen worden sind. Während dort allerdings der Zusammenhang von informed consent und der Kompetenz zur Indikationsbestimmung zur Diskussion stand, geht es auf der Ebene eines Beratungsvorbehalts um die Entscheidungskompetenz hinsichtlich bestehender Handlungsoptionen. Die nicht nur terminologische, sondern auch sachliche und praktische Bedeutung solcher Begriffsarbeit wird durch den Umstand unterstrichen, daß auch in den rechtlichen Regelungen und Regelungsentwürfen zur Gendiagnostik die Unterscheidung zwischen Konsens beschaffender Aufklärung und Entscheidung vorbereitender Beratung aufgegriffen wird. Darin werden einwilligungsbezogene Aufklärungsnormen und entscheidungsbezogene Beratungsnormen jedenfalls grundsätzlich voneinander geschieden.106 Allerdings setzen an diesem Punkt erst die Fragen nach den Konsequenzen einer solchen Unterscheidung ein. Dazu gehört insbesondere das Problem, ob ganz generell „Beratung als Teil der Behandlung“107 zu qualifizieren ist oder ob insofern rechtsgüterspezifisch zu differenzieren ist: Soll das je konkrete Beratungshandeln Gesundheitsschutz oder Autonomieschutz sicherstellen? Ist zu unterscheiden zwischen „Behandlungsberatung“ (Beratung hinsichtlich Behandlung; behandlungsakzessorische Beratung) und „Beratungsbehandlung“ (Behandlung durch Beratung; beratungsakzessorische Behandlung)? Von den Antworten hängt nicht nur materielles Recht und Beweisrecht im Einzelkonflikt ab, sondern auch, ob und wieweit für medizinisches Beratungshandeln ein fachwissenschaftlicher Professionsvorbehalt oder ein normativer Rechtsvorbehalt eingreift. Qualitätssicherung im Bereich genetischer Beratung ist ein in den einschlägigen Fachdisziplinen behandeltes Thema108 und wird zunehmend auch in der rechtlichen und rechtspolitischen Diskussion als Problem wahrgenommen. „Die Gewährleistung der Qualität des Angebots genetischer Tests ist eine wichtige Vorbedingung für einen sinnvollen und verantwortlichen Umgang mit genetischer Diagnostik. Von der Validität der Testmethoden, der Qualifikation der die Tests 105 106 107 108
Kern, in: MedR 2001, S. 9, 11, 12. Nachweise bei Damm, in: MedR 2004, S. 1, 14. Kern, in: MedR 2001, S. 9, 11. Dazu mit Nachweisen Damm, in: MedR 2004, S. 1, 13 f., 18; außerdem etwa, ebenfalls mit weiteren Nachweisen, Jennifer Hartog, Gerhard Wolff, Das genetische Beratungsgespräch, in: Petermann/Wiedebusch/Quante, Perspektiven der Humangenetik, S. 153; Kerstin Wüstner, Ethics and practice: two worlds? The example of genetic counselling, in: New Genetics and Society 22 (2003), S. 61.
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durchführenden Person, der Verläßlichkeit (Reliabilität) des Testergebnisses, auch unter den Alltagsbedingungen der Praxis, der Güte der Interpretation der Testergebnisse und der angemessenen Einbindung der Testpraxis in die (human)genetische Beratung hängt ab, ob die Durchführung eines genetischen Tests medizinisch sinnvoll und akzeptabel ist. Qualitätssicherung ist daher auch ein wesentlicher Bestandteil rechtlicher Regelungen“.109 Qualitätsmängel werden sowohl für die genetische Diagnostik allgemein110 wie auch für die Beratungstätigkeit im Bereich der Fortpflanzungsmedizin konstatiert. Als „Probleme der Qualitätssicherung“ werden herausgestellt: „Mangelhafte Beratungsleistung vor und nach Pränataldiagnostik durch nicht genetisch qualifizierte Berater, fehlende Basisdokumentation, fehlende Qualitätssicherungsmaßnahmen der Aufklärungs- und Beratungsinhalte, Vernachlässigung des ‚informed consent’“.111 Zu den „Schlußfolgerungen“ gehören „weitere Anstrengungen zur besseren Information und Aufklärung“, „Einrichtung von behandlungsunabhängiger (nicht ärztlicher) Beratung: Independent counselling“ sowie eine „Evaluation der Aufklärung“.112 Allerdings stellen sich insofern tiefgreifende, bislang unter rechtlichen Gesichtspunkten kaum behandelte normative Grundsatzprobleme, auf die hier nur hingewiesen werden kann. Da Qualtitätssicherung auf die vorgängige Bestimmung von Qualitätskriterien angewiesen ist, stellen sich Fragen nach den jeweiligen Beratungszielen und nach angemessenen Standards für die genetische Beratung. Letzteres schließt die Frage nach dem Standard guter Beratung und die nur auf den ersten Blick erstaunliche Frage nach der Standardfähigkeit von Beratungshandeln ein und dies sowohl mit Blick auf die Möglichkeit eines medizinischen als auch eines rechtlichen Standards für medizinische Beratung. Dazu kann an dieser Stelle als grundsätzliche Orientierung nur angemerkt werden: Erstens ist Norm- und Standardbildung auch für medizinisches Beratungshandeln möglich und zwar auf der Ebene von Professionsnormen (Leitlinien, Richtlinien) und Rechtsnormen gleichermaßen. Zweitens ist Normbildung für Beratung verbreitete, wenn auch noch nicht sehr systematische Praxis, und auch dies gilt für beide Normbereiche. Drittens ist eine solche Norm- und Standardbildung erforderlich und entwicklungsbedürftig.113 Dies gilt sowohl mit Blick auf die Rechtsgüter von
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Enquetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, S. 345. Enquetekommission „Recht und Ethik der modernen Medizin“, S. 365 mit Nachweisen. Irmgard Nippert, Was kann aus der bisherigen Entwicklung der Pränatdiagnostik für die Entwicklung von Qualitätsstandards für die Einführung neuer Verfahren wie der Präimplantationsdiagnostik gelernt werden? in: BMG, Fortpflanzungsmedizin in Deutschland, S. 293, 300. Heribert Kentenich, Assistierte Reproduktion: Probleme der Information, Aufklärung und zur Problematik neuer technischer Verfahren, in: BMG, Fortpflanzungsmedizin in Deutschland, S. 256, 262 f. Vgl. für die Fortpflanzungsmedizin Jochen Taupitz, Die Verantwortung des parlamentarischen Gesetzgebers für Sicherheit, Qualität, Dokumentation und Patientenaufklärung bei medizinisch unterstützter Fortpflanzung sowie für die Einführung neuartiger Verfahren, in: BMG, Fortpflanzungsmedizin in Deutschland, S. 280, 286: „Es sollten
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Beratenen als auch im Interesse der Orientierungssicherheit für die Beratungsprofessionen. Viertens ist die Standardbildung für medizinisches Beratungshandeln an einer rechtsgutsspezifischen Differenzierung zu orientieren. Soweit es um gesundheits- und medizinspezifische Beratung und somit um den Behandlungsbereich geht, ist als Faustformel davon auszugehen: es gilt ein Professionsvorbehalt zugunsten der fachwissenschaftlichen Normbildungskompetenz, ein medizinischer Standard und für das Recht das Übernahmeprinzip im Sinne einer Rezeption medizinischer Standards als grundsätzlich auch für das Recht verbindlich. Soweit es jedoch um autonomie- und selbstbestimmungsspezifische Beratungszwecke geht, gilt umgekehrt nicht ein medizinischer Professionsvorbehalt, sondern ein Rechtsvorbehalt, rechtlicher Standard und ein umgekehrtes Rezeptions- oder Übernahmeprinzip im Sinne eines Vorrangs von Autonomierecht gegenüber professionsinterner Regelbildung im Beratungsbereich. Und fünftens ist mit diesem normativen Vorrang autonomiespezifischen Beratungsrechts auf der Geltungsebene keine Unzuständigkeit der Beratungsprofessionen auf der Normbildungsebene verknüpft. Es ist im Gegenteil von einer nicht nur faktischen, sondern auch rechtlichen Bedeutung professioneller Beratungspraxis und Beratungsnormen auszugehen. Dieser Professionsbezug ist für das Recht als Wissensbasis nicht nur faktisch verfügbares Tatsachenmaterial, sondern aus rechtlichen Gründen bei der Bildung von Normprogrammen zu berücksichtigender Ausschnitt des Normbereichs. All dies betrifft wohl die eigentlich zentralen Aufgaben eines künftigen medizinischen „Beratungsrechts“ und wohl noch mehr als mancher vertraute Disput um Beratungskonzepte.114
E. Schlußbemerkung Informed consent und informationelle Selbstbestimmung gewinnen auch als Rechtsprinzipien der modernen Beratungsmedizin weiter an Bedeutung. Zu diesem Bedeutungszuwachs kommt andererseits auch ein unübersehbarer Problemzuwachs. Die Ursachen hierfür sind nicht zuletzt in der Expansion medizinischer Optionen namentlich im diagnostischen Bereich zu suchen. In Teilsektoren der Genmedizin scheint es einen Zusammenhang zwischen dem normativen Aufschwung des informed consent und Konsensverlusten bei der medizinspezifischen Normbildung zu geben. In rechtlicher Hinsicht verdienen die Normstrukturen der häufig im Doppel daherkommenden, aber doch zunehmend auseinander gehaltenen „Aufklärung und Beratung“ eine gründliche Überprüfung. Im übrigen wird es nicht zuletzt von den rechtlichen Rahmensetzungen abhängen, wie weit einer me-
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die grundsätzlichen Anforderungen an die vor- und nachgeschaltete Beratung […] gesetzlich verankert werden“. Etwa zum kontrovers beurteilten Grundsatz sogenannter „Nichtdirektivität“ der genetischen Beratung, der möglicherweise „eher als Problemindikator denn als Lösung anzusehen“ ist; so May/Holzinger, Autonomiekonflikte der Humangenetik, S. 90; weitere Nachweise bei Damm, in: MedR 2004, S. 1, 14.
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dizinischen Gefälligkeitsdiagnostik115 auf der einen und einer kommerzialisierten Beliebigkeitsdiagnostik auf der anderen Seite entgegen gesteuert werden kann. Medizinrecht, Medizinethik und Fachprofessionen sollten noch mehr als bisher ein gemeinsames Interesse daran haben, die Arbeit hieran als interdisziplinäres Verbundprojekt zu begreifen.
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Vgl. schon Adolf Laufs, Fortpflanzungsmedizin und Arztrecht, Berlin 1992, S. 101.
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A. Die rechtliche Einordnung der Impfung I. Die Impfung in der Medizin Die Impfung dient der Immunität gegenüber Infektionskrankheiten. Dabei ist die Immunität sowohl als individuelle als auch als kollektive Vorbeugung zu verstehen. Unterschieden werden die aktive Schutzimpfung von der passiven Prophylaxe, bei welcher das Serum aktiv immunisierter Tiere bzw. humanes Immunglobulin verwendet wird. Im Vordergrund der Diskussion steht die aktive Schutzimpfung.1 Die Impfung ist also im wesentlichen eine medizinische Maßnahme, die der Vorbeugung dient. II. Schutzzwecke der Impfung Die Impfung ist als individuelle Sicherung gegen ansteckende Erkrankungen entstanden.2 Der individuell erreichte Schutz gegen die Ansteckung durch Pocken hat sich sehr bald auch als kollektive Zurückdrängung der ansteckenden Krankheit herausgestellt. Folge davon waren Gesetze über die Impfpflicht, die bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts bestanden haben. Dann ist nämlich die Pockengefahr dadurch gebannt worden, dass die Pocken in der Freiheit ausgestorben sind. Es ist das deutlichste Zeichen für den kollektiven Schutz, wenn die Ansteckung durch Ausradierung der Erreger nicht mehr in Betracht kommt. III. Die Impfung als Eingriff in den Körper Die Zuführung des Impfstoffs, gleichgültig auf welche Weise sie erfolgt, enthält technisch eine Beeinflussung des Körpers und der Gesundheit. Im Vordergrund steht die Verletzung des Körpers, etwa durch eine Spritze oder durch das Zuführen 1
2
Irene von Majewski, Prävention durch Schutzimpfungen – Argumente und Fakten –, in: Pharm. Ztg. v. 24. 4. 2003, S. 16; Willibald Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 265. Aufl.: Schutzimpfung. Zu den frühen Versuchen der Impfung gegen Pocken vgl. Moore, in: Daedalus 98 (1969), S. 504 ff.; Erwin Deutsch, Andreas Spickhoff, Medizinrecht, 5. Aufl., Berlin 2003, Rdnr. 656.
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über eine bereits gelegte Leitung.3 Die Rechtsprechung hat stets an der Einordnung der eingreifenden medizinischen Maßnahme als Körperverletzung festgehalten, welche zur Rechtfertigung der Einwilligung nach Aufklärung bedarf.4 Auch soweit die Impfung nicht durch eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit geschieht, handelt es sich immerhin um einen Eingriff in die physiologischen Zusammenhänge des Körpers. Ein solcher Eingriff wird normalerweise als Verletzung der Gesundheit i.S. des § 823 Abs. 1 BGB angesehen.5 Auch die auf Dauer positive Einwirkung des Impfstoffs auf die Gesundheit des Patienten führt jedoch zuerst dazu, dass auf ungewöhnliche Weise in seine Gesundheit eingegriffen wird. Auch dafür bedarf es der Rechtfertigung durch Einwilligung nach Aufklärung. Impfungen sind nicht mehr Pflicht, deshalb kommt als Rechtfertigung nur die Einwilligung des Patienten bzw. der Sorgeberechtigten in Betracht. Die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission (STIKO) sind nur nachdrückliche Hinweise, die jedoch keine Verpflichtung enthalten. Sie ändern an der Notwendigkeit einer Einwilligung nichts. Auch die gesetzliche Bestimmung über den Zuspruch einer Rente beim Impfschaden (§ 60 Abs. 2 InfektionsschutzG) belegt nur den Aufopferungscharakter der Maßnahme. Jedenfalls ist aus ihm keine Rechtfertigung als solche zu schließen. Es bleibt also dabei. Die Impfung setzt die Einwilligung nach Aufklärung durch den Patienten bzw. seine Sorgeberechtigten voraus. Wenn von den Sorgeberechtigten einer die Immunisierung der Kinder verweigert, insbesondere, wenn es die Mutter tut, welche die Hauptpersonensorge trägt, kann der andere Teil sich an das Gericht wenden und die Immunisierung anordnen lassen. Das hat jetzt der englische Court of Appeal für die Mehrfachimpfung von Kindern entschieden.6
B. Einwilligung I. Die Einwilligung als Rechtsgeschäft Die Einwilligung in eine medizinische Maßnahme hat drei Gesichter: Einmal kann sie bedeuten die Einwilligung in den Eingriff; sodann kann sie die Einwilligung in die Gefahr beinhalten; und schließlich kann sie auch die Einwilligung in die Aus3
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Zum Streit über die Einordnung der medizinischen Maßnahme das Recht der Körperverletzung vgl. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 126; Ernst Rabel, Haftpflicht des Arztes, 1904, S. 5; Rudolf Wiethölter, Arzt und Patient als Rechtsgenossen, in: Stiftung zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung über Wesen und Bedeutung der freien Berufe (Hrsg.), Die Aufklärungspflicht des Arztes, Köln 1962, S. 71 ff. Zuerst in RGSt 25, S. 375. Auch der BGH hat in VersR 1988, S. 1273 diese Einordnung zugrunde gelegt. Vgl. dazu RGRK-Steffen, 12. Aufl., Berlin 1989, § 823, Rdnr. 10; Bamberger/RothBGB/Spindler, München 2003, § 823, Rdnr. 30 ff. Re C (Welfare of child: Immunization) Court of Appeal, Medical Law Review 11 (2003).
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forschung darstellen. Für die Einwilligung in die Impfung spielt vor allem die zweite Form, also die Einwilligung in die Gefahr eine Rolle. Die Einwilligung ist der Ausdruck des Willens. Deshalb ist es zweifelhaft geworden, ob sie als Willenserklärung und insgesamt als Rechtsgeschäft anzusehen ist. Die Rechtsprechung hat stets daran festgehalten, dass die Einwilligung kein Rechtsgeschäft im technischen Sinne des bürgerlichen Rechts darstellt.7 Dabei ging es im wesentlichen um die Frage der Geschäftsfähigkeit bzw. genauer des Alters des Einwilligenden. Die Rechtsprechung hat sich stets widersetzt, die Regeln des Allgemeinen Teils des Bürgerlichen Rechts über die volle Geschäftsfähigkeit auf die Einwilligung in ärztliche Eingriffe zu übertragen. Vielmehr ist sie im allgemeinen unter diesem Zeitrahmen geblieben. Es ist aber nicht nur die altersmäßige Geschäftsfähigkeit, die dabei eine Rolle spielt, sondern auch andere Gründe der Wirksamkeit bzw. Vernichtbarkeit der Willenserklärung sollen nicht oder jedenfalls nicht unbedingt angewandt werden.8 Neuerdings ist die Einwilligung in die medizinische Maßnahme mit umfangreicher Begründung als Rechtsgeschäft eingeordnet worden.9 Danach kommt es im wesentlichen auf die äußere Erscheinung der Erklärung an, die sich als Willenserklärung darstelle. Es gelte der Grundsatz, dass die Erklärung regelmäßig den wirklichen Willen des Patienten ausdrücke. Soweit einzelne Institute des Einwilligungsrechts nicht passen, seien sie teleologisch zu reduzieren. Dies gelte insbesondere für das Alterserfordernis und die Anfechtung wegen Irrtums usw. Im Ergebnis ändert sich durch diese Einordnung wenig an der bisherigen Rechtslage. Schon bisher waren durch Täuschung oder Zwang veranlasste Einwilligungen nicht als wirksam angesehen worden.10 Übrigens ist das selten angewandte Institut der teleologischen Reduktion regelmäßig nur bei Ausnahmevorschriften angewandt worden, deren Wegfall die allgemeine Regel wieder zum Tragen bringt.11 Jedenfalls ist festzuhalten, dass der einfache Irrtum die Einwilligung nicht aufhebt und auch kein Recht auf Anfechtung wegen dieses Erklärungsirrtums erlaubt.12 Der Irrtum über die Komplikationsdichte bei einer Impfung führt also weder dazu, dass die Einwilligung unwirksam ist, noch erlaubt sie eine Anfechtung der erklärten Einwilligung nach § 119 BGB.
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BGHZ 29, S. 33, 36; BGH LM BGB, § 839 (Fc) Nr. 15. RGRK-Nüßgens, 12. Aufl., § 823 Anh. II, Rdnr. 71; Bernd-Rüdiger Kern, Adolf Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, Berlin, Heidelberg u. a. 1983, S. 35; Dieter Giesen, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl., Tübingen 1995, Rdnr. 200 ff. Ansgar Ohly, Volenti non fit iniuria, Die Einwilligung im Privatrecht, Tübingen 2002, S. 201 ff. BGH, NJW 1964, S. 1177; BGH LM BGB, § 839 (Fc) Nr. 15. So die Besprechung von Ohly durch Erwin Deutsch, in: NJW 2003, S. 1854. Hans Putzo, Die Arzthaftung. Grundlagen und Folgen, 8. Aufl., München 1979, S. 44; Adolf Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., München 1993, Rdnr. 222; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 197.
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II. Willensäußerung Nach der herrschenden Meinung stellt die Einwilligung eine nichtrechtsgeschäftliche Willensäußerung der Person dar. Damit gibt sie aufgrund ihres Selbstbestimmungsrechts die Zustimmung zur ärztlichen Behandlung. Sie führt damit auch zu gleicher Zeit zum Ausgleich des von der Informationsebene her schiefgelagerten Verhältnisses von Arzt und Patient.13 Als Willensäußerung braucht sie nicht auf den Rechtserfolg gerichtet zu sein; ja dieser braucht nicht einmal als solcher bewusst zu werden. Das gilt etwa für die Einwilligung in die Gefahr. Die Willensäußerung ist aber von der Freiheit der Person abhängig, so dass Täuschung und Drohung ihre Wirksamkeit aufheben. Als Nicht-Willenserklärung ist die Einwilligung weniger strikten Regeln ausgesetzt. Die Praxis kann Wirksamkeit und Unwirksamkeit der Einwilligung nach den notwendigen Voraussetzungen des Einzelfalls bestimmen und hat dies bislang auch in richtiger Weise getan.14 III. Inhalt der Einwilligung als Gefahrtragung Wie schon dargetan, hat die Einwilligung verschiedene Ausrichtungen, die von der Zustimmung in die körperliche Maßnahme bis zum Verbot der Ausforschung reicht. Für die hier zu behandelnde Frage kommt es insbesondere auf die Gefahrtragung an. Grundsätzlich ist der Träger eines Rechtsguts auch derjenige, der die Gefahr des Schadens an dem Rechtsgut zu tragen hat. Wird jedoch dieses Rechtsgut durch einen anderen tangiert, sei es auch in bester Absicht, wie bei der medizinischen Behandlung, ist die Zuweisung des Schadens zum Träger des Rechtsguts nicht mehr zweifelsfrei. Vielmehr erhebt sich dann die Frage, ob der Tangierende nicht im Wege der Zurechnung den Schaden zu tragen hat.15 Sofern die Einwilligung in die medizinische Maßnahme nach Aufklärung vorliegt, ist die Gefahrzuständigkeit wieder deutlich beim Patienten. Er hat sich mit der medizinischen Maßnahme und den von ihr implizierten Folgen einverstanden erklärt. Deshalb trägt er auch die Gefahr. Es kann hier dahinstehen, ob es sich bei der Einwilligung um ein „Handeln auf eigene Gefahr“ handelt, das besonderen Regeln unterliegt.16 Jedenfalls ist im Bereich des Medizinrechts das Handeln auf eigene Gefahr von der Einwilligung in die Maßnahme her bestimmt. Insofern findet keine Abwägung statt, sondern das Risiko des schlechten Ausgangs bleibt beim Patienten.
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Erich Steffen, Wolf-Dieter Dressler, Neue Entwicklungslinien der BGHRechtsprechung zum Arzthaftungsrecht, 9. Aufl., Köln 2002, Rdnr. 321 ff. Zu den Einzelheiten vgl. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 196 f. Vgl. genauer Erwin Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, 2. Aufl., Köln, Berlin u. a. 1996, Rdnr. 1 ff. Vgl. Hans Stoll, Das Handeln auf eigene Gefahr, Berlin u. a. 1961. Aus der Rechtsprechung: BGHZ 34, S. 355; Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rdnr. 586 ff.
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C. Aufklärung I. Wissensstand und Mitteilung Die Einwilligung setzt voraus, dass der Einwilligende weiß, worin er einwilligt. Die Einwilligung ist also keine blind erteilte Zustimmung, sondern greift auf den Wissensstand des Patienten zurück. Falls er über die Maßnahme und ihre Implikation Bescheid weiß, ist die Einwilligung per se gültig. Wenn der Patient, wie regelmäßig, nicht genau Bescheid weiß, ist er über die Maßnahme, ihre Implikation, Risiken und sonstigen Folgen sowie Alternativen aufzuklären.17 Dabei hat nach der Rechtsprechung die Aufklärung nicht in allen Einzelheiten, sondern nur „im großen und ganzen“ zu erfolgen.18 Allerdings ist die Aufklärung keine abstrakte Mitteilung an eine wirklichkeitsfremde Person. Vielmehr ist die Aufklärung auf den besonderen Kranken zu beziehen.19 Deshalb ist es auch regelmäßig notwendig, dass der Arzt in einem persönlichen Gespräch erfährt, wie weit der Patient aufgeklärt zu werden wünscht. Die rein schriftliche Aufklärung ist bestenfalls Routineeingriffen vorbehalten.20 Insgesamt ist jedoch die Mitteilung auf den besonderen Patienten oder bei einem Minderjährigen auf den besonderen Elternteil oder Sorgeberechtigten zu beziehen. II. Umfang der Aufklärung Die Rechtsprechung hat sich für die Risikoaufklärung stets geweigert, einen absoluten Prozentsatz der Zwischenfallshäufigkeit zugrunde zu legen. Vielmehr sei die Notwendigkeit, auf die Gefahren hinzuweisen, abhängig von der Indikation, der Zwischenfallsprognose und der Typizität des Risikos. Bei einem dringlich indizierten Eingriff muss die Aufklärung nicht so umfassend ausfallen, wie bei einem aufschiebbaren. Ist das Risiko gering, braucht es nur gestreift zu werden. Die Erwähnung einer ganz und gar untypischen Gefahr ist unnötig. Was das Medikamentenrisiko angeht und damit auch das Risiko der Impfung, so ist bis heute offen geblieben, ob nur seltene negative Folgen oder auch ganz seltene oder äußerst seltene schlechte Folgen erwähnt werden müssen. Die Praxis hat sich auch hier nicht festgelegt. Ein einziges Mal hat der BGH, allerdings in ei-
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Zum Inhalt der Aufklärungspflicht vgl. Dieter Giesen, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl., Tübingen 1995, Rdnr. 200 ff.; Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 329 ff. Vgl. m. N. Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 372 ff. RGRK Nüßgens, 12. Aufl., § 823 Anh. II, Rdnr. 112; vgl. auch die abweichende Meinung in BVerfGE 52, S. 171 ff. Vgl. BGH, NJW 1980, S. 635 lässt zu, dass von dem Patienten Fragen erwartet werden können, um die Aufklärung abzukürzen.
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ner Impfentscheidung, dargetan, dass über derart „äußerst seltene Risiken“ aufzuklären sei.21 Wahrscheinlich wird man die Frage der Aufklärung über den Umfang der Risiken von der Gesamtabwägung abhängig machen müssen. Möglicherweise ist schon die Frage nach seltenen oder äußerst seltenen Risiken nur bedingt zu stellen. Vielmehr kommt es darauf an, ob die Behandlung dringend angezeigt oder nur sinnvoll erscheint oder nur anzuraten ist. Bei der dringenden Indikation wird man die sehr seltenen Nebenwirkungen nicht stets zu nennen haben. Bei den anderen Indikationen ist es wahrscheinlich anders, weil der Patient hier auch über äußerst seltene Nebenwirkungen regelmäßig aufgeklärt werden möchte. Eine Abstufung nach Kategorien hat die Rechtsprechung bisher nicht angenommen. Dort kommt auch nicht die Grenze von 16 Jahren vor. III. Erwartung des Patienten Anders als etwa im englischen Recht22 wird in Deutschland die Aufklärung nach den Erwartungen des Patienten ausgestaltet. Das hat seinen Grund darin, dass die Einwilligung von dem Verständnis des Patienten abhängt. Soweit dieser, sei es als typischer Patient, sei es als besonders ängstlicher Patient, eine Mitteilung erwartet, sollte sie ihm gegeben werden. Andernfalls wird er seine Einwilligung nicht auf die richtigen Grundlagen stützen können. Bezeichnend ist also der Empfängerhorizont des Patienten, weshalb auch der Arzt den Patienten regelmäßig noch in einem Gespräch über die Risiken und den Umfang der Aufklärung einzubeziehen hat. Ein weiterer Gesichtspunkt macht den Umfang der Aufklärung von den Erwartungen des Patienten unabdingbar. Nach ständiger Rechtsprechung kann der Patient wegen eines Aufklärungsmangels nur dann Schadenersatz verlangen, wenn er im Fall der erfolgten Aufklärung sich in einem „echten Entscheidungskonflikt“ befunden hätte.23 Es ist also nicht notwendig, dass der Patient darlegt, dass er im Falle der Aufklärung die Maßnahme nicht hätte vornehmen lassen. Es genügt, dass er sich in einem echten Entscheidungskonflikt befunden hätte, wenn ihm die vollständige Mitteilung zuteil geworden wäre. Dieser echte Entscheidungskonflikt ist auf die Person des Patienten selbst bezogen. In der Rechtsprechung spielen hier insbesondere religiöse Einstellungen und die Möglichkeit der Einholung einer anderen medizinischen Ansicht eine Rolle.24 Dabei kommt es auf den einzelnen Patienten und seine Einstellung an. Er braucht übrigens nicht den echten Entschei21
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BGH, NJW 2000, S. 1785. Der BGH erklärt, dass er an dieser Ansicht festhalte, obwohl in den vorher genannten Entscheidungen das äußerst seltene oder sehr seltene Risiko wenig angesprochen ist. House of Lords in Sidaway v. Board of Governors, 1985, 2 W.L.R. 480. In die andere Richtung weisend jetzt Chester v. Afshar, 2004, 3 W.L.R. 927. Zuerst in: BGHZ 90, S. 103 und seitdem ständig. Vgl. genauer Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 259 ff. Vgl. Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 259 ff.
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dungskonflikt nachzuweisen, vielmehr genügt es, wenn er diese Möglichkeit plausibel macht. Jedenfalls ist hierbei auf die Person des Patienten bzw. bei einem minderjährigen Patienten auf die des Sorgeberechtigten abzustellen. IV. Mündliche oder schriftliche Aufklärung Im Grundsatz genügt es, dass der Patient erfährt, was mit ihm geschieht und welches die Aussichten der Behandlung sind. Auf welche Weise diese Mitteilung erfolgt, etwa mündlich oder schriftlich, ist nicht erheblich. Allerdings stellt sich schon unter Beweisaspekten das Problem der Förmlichkeit. Eine Bestätigung des Patienten, dass er aufgeklärt worden ist, erleichtert die Beweisbelastung des Arztes und der Klinik. Sie ist deshalb auch neuerdings in § 6 Abs. 1 TFG ausdrücklich eingeführt worden. Dort heißt es nämlich „Aufklärung und Einwilligung sind von der spendenden Person schriftlich zu bestätigen“. Darüber hinaus ist bei der mündlichen Aufklärung der gegenseitige Kontakt gegeben. Er allein ermöglicht es dem Arzt, zu erfahren, wieweit der Patient aufgeklärt werden will und ob er eine eventuelle schriftliche Aufklärung verstanden hat. Aus diesem Grunde hat die Rechtsprechung darauf bestanden, dass die Aufklärung in einem „vertrauensvollen Gespräch zwischen Arzt und Patient“ erfolgt.25 Das schließt allerdings nicht die Verwendung von Merkblättern aus, die dem Gespräch zugrunde liegen. Allerdings hat sich der Arzt davon zu überzeugen, daß der Patient die Hinweise gelesen und verstanden hat. Er hat dem Patienten die Möglichkeit zu geben, auf seine individuellen Belange einzugehen und eventuelle Fragen zu beantworten.26 Allerdings hat es sich eingebürgert, bei Routinemaßnahmen, also etwa Mandeloperationen, die schriftliche Aufklärung durch ein Merkblatt in den Vordergrund zu stellen. Damit wird der Tatsache Rechnung getragen, dass über die Gefahren der Routinemaßnahme im Allgemeinen eine gewisse Kenntnis in der Bevölkerung besteht. Die Rechtsprechung hat zwar schon gelegentlich auf den Routinecharakter27 abgehoben. Es fehlt aber bislang an einer deutlichen Erklärung, dass bei Routinemaßnahmen die Übergabe eines Merkblatts ausreichen soll. Insoweit bleibt die Aufklärung insbesondere in ihrer Form noch nicht voll ausgestaltet.28 V. Aufklärung des Normalpatienten Für gewöhnlich ist, was die Art und den Umfang der Aufklärung angeht, vom Normalpatienten auszugehen. Es ist also zu fragen, was der durchschnittliche Patient erwarten würde zu hören bzw. welche Fragen er beantwortet haben möchte. Auf ihn hat sich das gewöhnliche Gespräch des Arztes zu beziehen. Soweit noch 25 26 27 28
BGH, NJW 1985, S. 1399. BGH, NJW 1985, S. 1399, wiederholt in BGH, NJW 2000, S. 1787. BGH, NJW 2000, S. 1785: „Routineimpfung“. Vgl. Paul S. Appelbaum, Charles W. Lidz, Alan Meisel (Hrsg.), Informed consent: legal theory and clinical practice, New York u. a. 1987.
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schriftliche Unterlagen, etwa Merkblätter mitgeliefert werden, sollten sie im wesentlichen auf den Normalpatienten ausgerichtet sein. Allerdings hat man festzustellen, ob es sich bei dem einzelnen Patienten um den typischen Normalpatienten handelt. Man darf nicht davon ausgehen, dass jeder Patient in die Kategorie des Normalpatienten fällt. VI. Besonderer Patient Abgesehen vom Normalpatienten gibt es besondere Patienten, die aufgrund ihrer geistigen Ausrichtung, psychischer Besonderheiten, hervorstechender Ängstlichkeit oder aus anderen Gründen besonders und eigentypisch zu behandeln sind. Ob es sich um einen solchen besonderen Patienten handelt, ist nur durch eine persönliche Vorstellung und ein jedenfalls kurzes Gespräch zwischen Arzt und Patient zu ermitteln. Eine schriftliche Aussage im Merkblatt, dass man zusätzlich Fragen stellen könnte, erfüllt diese Voraussetzung nicht. Insofern ist also das persönliche Gespräch zwischen Arzt und Patient unbedingt erforderlich. Dies gilt nicht nur für die dringend angezeigte Behandlung, sondern in noch größerem Umfang für präventive Maßnahmen, wie es die Impfung darstellt. VII. Die Aufklärung über die Routineuntersuchung Wesentlich ist hier das Urteil des BGH über die „Aufklärung bei Routineimpfung“.29 Es ging darum, dass ein vorzeitig geborenes Kind bei der Vorsorgeuntersuchung U4 eine Grundimmunisierung gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis und Haemophilus Typ B sowie im Wege der Schluckimpfung mit einem 3fachLebendimpfstoffpräparat gegen Kinderlähmung geimpft wurde. Der Mutter des Kindes war von der Sprechstundenhilfe der Ärztin ein Merkblatt zu den Impfungen ausgehändigt worden. Sie hat von seinem Inhalt Kenntnis genommen und es zurückgegeben, ohne es zu unterzeichnen. In dem Merkblatt war unter anderem aufgeführt, dass extrem selten Lähmungen aufgetreten seien. Die Impfärztin hatte dann die Mutter gefragt, ob sie das Merkblatt gelesen habe, was diese bejahte. Als die Mutter wegen eines Hautausschlags erneut zur Kinderärztin kam, wurde aus diesem Anlass die zweite Impfung gegen Poliomyelitis vorgenommen. Danach trat eine Schonhaltung des linken Beines auf und es wurde später festgestellt, dass das Kind an Kinderlähmung erkrankt war. Das Versorgungsamt hat eine Erwerbsunfähigkeit von 80 % festgestellt und eine Impfschadensrente bewilligt. In dem vorliegenden Rechtsstreit ging es noch um die Zahlung von Schmerzensgeld. Die beiden unteren Instanzen waren verschiedener Ansicht. Während das Landgericht die Klage abgewiesen hat, hat ihr das Oberlandesgericht stattgegeben. Nach dem OLG waren in dem Merkblatt eine Vielzahl von Informationen über vier verschiedene Impfungen enthalten. Beim ersten Durchlesen hätten die Einzelheiten vielleicht nicht vollständig erfasst werden können, außerdem sei die Mutter des Pa29
BGH, NJW 2000, S. 1784 setzt sich mit dieser Frage besonders auseinander.
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tienten im Wartezimmer durch den Säugling auf ihrem Arm abgelenkt worden. Man hätte ihr wenigstens das Merkblatt mitgeben müssen, damit sie es zu Hause in Ruhe hätte lesen können. Der BGH kehrt zur Rechtsansicht des LG zurück. Dabei zeigt das Urteil alle Zeichen eines Kompromisses. Zunächst werden außerordentlich hohe Anforderungen gestellt. Das Merkblatt allein reiche nicht aus. Auch sei, was die Risikodichte angeht, auf äußerst seltene Risiken hinzuweisen. Dann aber hebt der BGH auf den Charakter als Routineimpfung ab und verlangt nicht ein persönliches Gespräch. Es genüge, dass der Arzt nachfrage, ob die Mutter die schriftlichen Hinweise gelesen habe und ihr Gelegenheit zu weiteren Nachfragen gegeben habe. Insgesamt hat das Urteil eine Zwitterstellung eingenommen: Es verlangt Aufklärung über äußerst seltene Risiken, ein Gespräch zwischen Arzt und Mutter; es genügt freilich eine Frage, nämlich ob das Merkblatt gelesen wurde. Es wird nicht darauf abgehoben, dass die Ärztin festgestellt hat, ob die Mutter mit dem Inhalt des Merkblatts vertraut gewesen ist oder ob sie ernsthaft noch Unsicherheiten zeigte. Im Ergebnis mag man es deshalb vielleicht eher mit dem OLG Karlsruhe halten, das diese Art der Aufklärung nicht hat genügen lassen. Jedoch hat auch der BGH nachvollziehbare, wenn auch verschlungen vorgetragene Gründe für die Klageabweisung geliefert.
D. Art der aufklärungsbedürftigen Komplikationen I. Nachgewiesene Komplikationen Es kann sein, dass im Zusammenhang mit einer besonderen Impfung gelegentlich eine Komplikation auftritt. Solche nachgewiesenen Nebenwirkungen sind grundsätzlich mitzuteilen. Sie sind jedenfalls mitzuteilen, wenn es sich um nicht seltene Nebenwirkungen handelt. Nach Ansicht des BGH sind auch sehr seltene Nebenwirkungen, jedenfalls bei Impfungen, mitzuteilen.30 Es bleibt also dabei, dass nach der Rechtsprechung „grundsätzlich auch über derartige äußerst seltene Risiken aufzuklären ist“. II. Angenommener, aber nicht bewiesener Zusammenhang Die tatsächliche Gestaltung von möglichen Nebenwirkungen des Impfstoffs kann so sein, dass die Komplikation zwar wahrscheinlich auf den Impfstoff zurückzuführen ist, der Beweis jedoch nicht oder nicht mit hinreichender Sicherheit geführt werden kann. Das reicht von der schlicht möglichen Annahme über die überwiegende Wahrscheinlichkeit bis zur großen Wahrscheinlichkeit. Diese Risiken mitzuteilen, hat die Rechtsprechung bisher noch nicht verpflichtend ausgesprochen. Man wird jedoch auf den Grund der Aufklärung vor der Einwilligung in eine Impfung zurückgehen müssen. Der Umfang der Aufklärung bestimmt sich nach den 30
BGH, NJW 2000, S. 1785. Vorsichtiger Deutsch, in: VersR 1998, S. 1057.
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Erwartungen des Patienten, hier also insbesondere nach dem Empfängerhorizont des Patienten bzw. beim Kleinkind seines Sorgeberechtigten. In diesem Zusammenhang wird man für den Normalpatienten davon ausgehen müssen, dass er, wenn er schon äußerst seltene, aber bewiesene Risiken mitgeteilt erhalten will, auch die nur angenommenen Risiken erfahren möchte. Das Risikopanorama bleibt also das gleiche, unterschiedlich sind nur die Grade der Wahrscheinlichkeit der Annahme. Sie werden in der Psyche des Normalpatienten kaum eine Rolle spielen. III. Nicht möglicher Ausschluss eines Zusammenhangs Angesichts der Tatsache, dass beweisbare Kausalzusammenhänge im Bereich von Nebenwirkungen physiologischer Art schwer zu führen sind, wird der nur mögliche aber nicht ausgeschlossene Zusammenhang relativ häufig vorkommen. Das gilt nicht nur für die physiologische Auswirkung, sondern noch mehr für die Wirkung der Impfung mit abgetöteten Viren. Schon, was die Haftung wegen viraler Ansteckung angeht, hat die Rechtsprechung keinen direkten Beweis annehmen können. Vielmehr ist sie stets den Weg über den Anscheinsbeweis gegangen.31 Dabei wird von der Typizität der Erscheinung ausgegangen, insbesondere, ob erfahrungsgemäß eine Üblichkeit der Ansteckung, etwa durch persönliche Nähe, hier Unterbringung im gleichen Zimmer des Krankenhauses, besteht. Ist dies der Fall, wird der Kausalzusammenhang anscheinsweise angenommen. Der Gegner kann dann den Anschein dadurch erschüttern, dass er die nicht nur theoretische Möglichkeit eines andersartigen Verlaufs dartut. Er braucht aber den Anschein nicht zu widerlegen, eine Erschütterung genügt. Auch bei dieser Gestaltung ist zu fragen, ob der Patient eine solche Mitteilung erwarten würde. Es ist schon schwierig, hier für den Normalpatienten eine Antwort zu geben, weil es sich wahrscheinlich um eine Haltung handeln wird, die von weiteren Einzelheiten abhängt. Dabei wird die Schwere des Zwischenfalls, die Ernsthaftigkeit des Ausschlussversuchs und anderes eine Rolle spielen. Entscheidend bleibt aber insoweit die subjektive Erwartung, also der Empfängerhorizont des Patienten bzw. Sorgeberechtigten. Ihn zu ermitteln, ist Sache des Impfarztes, wobei er noch nicht die nicht ausgeschlossene Möglichkeit des Zwischenfalls dartun muss.
E. Komplikationsmitteilung in Bezug auf den Patienten Auszugehen ist also von den Erwartungen zunächst des Normalpatienten und sodann des Einzelpatienten bzw. des Sorgeberechtigten. Es ist ohne weiteres anzu31
So schon das Reichsgericht in: RGZ 165, S. 336 (Scharlach); RG, SeuffA 86, Nr. 162 (Gesichtsrose); vgl. zum Ganzen: Erwin Deutsch, Die Haftung für Infektionen, in: VersR 1987, S. 535.
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nehmen, dass der Patient über nachgewiesene Zwischenfälle und angenommene, aber nicht bewiesene, Komplikationen unterrichtet werden will. Regelmäßig wird das der Normalpatient erwarten. Ob diese Unterrichtung auch für den Fall, dass ein Zusammenhang nicht ausgeschlossen werden kann, anzunehmen ist, kann nicht mit Sicherheit gesagt werden. Der Normalpatient wird auf weitere Einzelheiten schauen, insbesondere auf die Schwere und die Anwendung des Kausalitätsbeweises. Mit anderen Worten: es kommt also darauf an, ob der Patient auch über sehr seltene Nebenwirkungen unterrichtet werden muss, bei denen ein Zusammenhang mit der Impfung nicht ausgeschlossen werden kann. Diese Frage hat Aktualität dadurch gewonnen, dass zwei hexavalente Impfstoffe zugelassen worden sind. Die Zulassung erfolgte durch die EMEA (European Agency for the Evaluation of Medicinal Products) im zentralisierten Verfahren. Diese Impfstoffe schützen gegen sechs Infektionskrankheiten, nämlich Poliomyelitis, Diphtherie, Tetanus, Keuchhusten, Haemophilus, Influenza Typ B sowie Hepatitis B. Bislang wurden rund 3 Mio. Kinder im Rahmen der Europäischen Union geimpft. Bis zum 31.03.2003 wurde über fünf Todesfälle berichtet, die im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Impfung auftraten. Eine Meldung stammt aus Österreich, vier aus Deutschland. Die Kinder waren zwischen vier und 23 Monate alt. Zum Zeitpunkt der Impfung galten sie als gesund. Bei den vier deutschen Fällen wurde im Rahmen der Autopsie zunächst eine Hirnschwellung in Form eines cerebralen Ödems festgestellt. Die EMEA hat auf Wunsch des Paul-EhrlichInstituts eine erneute eingehende Nutzen-Risiko-Wertung vorgenommen. Diese geschah durch ein zweifaches Treffen europäischer Experten verschiedener Fachrichtungen. Nach eingehender Bewertung der umfangreichen Daten kamen diese mehrheitlich zu dem Schluss, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Impfung und dem Tod der Kinder nicht belegt sei. Eine Änderung des NutzenRisiko-Profils der hexavalenten Impfstoffe sei nicht ersichtlich, eine Änderung der Anwendung werde nicht empfohlen. Dabei wurde darauf hingewiesen, dass Impfungen einen hohen Nutzen für die Gesundheit des Impflings, als auch für die gesamte Bevölkerung haben. Die Ständige Impfkommission in Deutschland empfiehlt seit Jahren auch die hier betroffenen Sechsfach-Impfstoffe. Es wurde festgestellt, dass die Todesursachen in allen Fällen unklar seien und die vorhandenen Daten den ursächlichen Zusammenhang zur Impfung nicht belegen. Mögliche andere Todesursachen seien virale Infektionen, Stoffwechselerkrankungen, allergische Reaktionen, Atemwegsobstruktionen oder der Plötzliche Kindestod. Dabei sei auch noch darauf hinzuweisen, dass kein Zusammenhang zwischen dem Plötzlichen Kindestod und Impfungen bislang gezeigt worden ist.32 In diesem Falle stellt sich die Frage nach der Mitteilung äußerst seltener Nebenwirkungen, hier nämlich eine Häufigkeit von einer Meldung auf 1,7 Mio. Dosen, besonders akut. Sollte der durchschnittliche Patient oder jedenfalls der besonders überempfindli32
Paul-Ehrlich-Institut (Bundesamt für Sera und Impfstoffe), Informationen für Ärzte und Apotheker v. 28. 4. 2003: Kein Zusammenhang zwischen Impfung mit hexavalenten Impfstoffen und Todesfällen nachgewiesen: EMEA empfiehlt unveränderte Anwendung; Paul-Ehrlich-Institut v. 7. 5. 2003: HEXAVAC/INFANRIX HEXA-cerebral endema in infants.
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che oder ängstliche Patient bzw. Sorgeberechtigte darauf hingewiesen werden. Angesichts der Strenge der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs („äußerst seltene Nebenwirkungen“) wird man eine solche Mitteilung nicht von vornherein für überflüssig erklären können. Jedenfalls wird es notwendig sein, den Patienten auch in dieser Hinsicht vorsichtig auszuforschen. Falls er irgendwie andeutet, auch über solche unbewiesenen, aber nicht ausgeschlossenen Komplikationen aufgeklärt zu werden, hat dies zu erfolgen.
F. Zusammenfassung 1. Die Impfung bedarf als Eingriff in die körperliche Unversehrtheit und das physiologische Zusammenspiel im Körper der Einwilligung, Impfpflichten bestehen nicht mehr. 2. Die Einwilligung ist nur wirksam, wenn ihr die notwendige Aufklärung vorausgegangen ist oder der Patient bzw. der Sorgeberechtigte bereits aufgeklärt ist. 3. Die Aufklärung setzt den Einwilligenden in die Lage, seinen Willen zu bestimmen. Dabei umfasst der Wille nicht nur den Eingriff selbst, sondern auch die möglichen gesundheitlichen Folgen. 4. Die Einwilligung beinhaltet also die Zustimmung zum Eingriff und ein Handeln auf eigene Gefahr, nämlich auf die des Patienten. 5. Die Einwilligung ist kein Rechtsgeschäft, sondern eine Willensäußerung. Die engen rechtsgeschäftlichen Regeln des BGB, etwa über die Volljährigkeit oder die Irrtumsanfechtung, werden nicht übernommen. 6. Die Aufklärung hat grundsätzlich mündlich zu erfolgen, kann aber durch schriftliches Material unterstützt werden. Dabei ist es möglich, bei Routinemaßnahmen dem Patienten ein Merkblatt auszuhändigen und sich nachher zu vergewissern, dass er es gelesen und verstanden hat bzw. noch weitere Fragen beantwortet haben möchte. 7. Der Umfang der Einwilligung richtet sich nach den Erwartungen des Patienten, also nach dem individuellen Empfängerhorizont. Dennoch darf der Arzt vom Normalpatienten und dessen Erwartungen ausgehen. Er hat sich nur zu vergewissern, dass der Patient nicht besondere Auskünfte erwartet. 8. Die normalen Risiken einer Impfung, aber auch äußerst seltene Risiken der Impfung, sind dem Patienten mitzuteilen. 9. Sind Nebenwirkungen im Zusammenhang mit einer speziellen Impfung nachgewiesen, ist dies dem Patienten mitzuteilen. 10. Besteht ein Zusammenhang zwischen Impfung und Komplikation, ist aber dieser Zusammenhang nicht bewiesen, so wird der Normalpatient im allgemeinen auf einer Mitteilung bestehen. Nur bei einem Patienten, der offensichtlich diese Nachricht nicht wünscht, kann darauf verzichtet werden. 11. Kann ein Zusammenhang zwischen der Impfung und der Komplikation nicht ausgeschlossen werden, kommt es besonders auf die Erwartungen des Patienten an. Diese werden sich beim Normalpatienten nach weiteren Umständen
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bestimmen, nämlich der möglichen Häufigkeit und der Schwere der Komplikation sowie der Nachvollziehbarkeit der Kausalitätsprüfung. Deshalb ist es im allgemeinen notwendig, auch den Normalpatienten auf die unbewiesene Möglichkeit des Zusammenhangs hinzuweisen und dabei die Unwahrscheinlichkeit der Kausalität besonders hervorzuheben. Das entspricht dem Erwartungshorizont des Normalpatienten.
Zur Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen Dieter Dölling
I. Einleitung Ist jemand durch das ausdrückliche und ernstliche Verlangen des Getöteten zur Tötung bestimmt worden, so ist nach § 216 Abs.1 StGB auf Freiheitsstrafe von 6 Monaten bis zu 5 Jahren zu erkennen. Nach dem geltenden deutschen Strafrecht führt somit das Verlangen des Opfers, getötet zu werden, nicht zum Ausschluss der Tötungsstrafbarkeit, sondern zu einer Strafmilderung.1 Diese Vorschrift ist auch für das Medizinrecht von Bedeutung, denn in der ärztlichen Praxis kann sich die Situation ergeben, dass ein Patient vom Arzt die Tötung verlangt, um von Schmerzen erlöst zu werden. Die Relevanz der damit angesprochenen Problematik dürfte aufgrund der Fortschritte der modernen Medizin und der demographischen Entwicklung zunehmen, da immer mehr Menschen ein sehr hohes Alter erreichen, in dem sie sich mit Krankheiten und Behinderungen auseinandersetzen müssen. Der verehrte Jubilar hat die Bedeutung des Verbots der Tötung auf Verlangen betont und sich gegen eine Auflockerung dieses Verbots ausgesprochen.2 Während früher vereinzelt die Aufhebung des § 216 StGB gefordert worden ist, sind in der letzten Zeit einige Autoren für eine Einschränkung des Verbots der Tötung auf Verlangen eingetreten, wobei die Gesetzgebung in den Niederlanden die deutsche Diskussion erheblich beeinflusst hat. Im Folgenden soll eine Auseinandersetzung mit diesen Vorschlägen erfolgen. Zunächst werden die Vorschläge dargestellt, dann wird dazu Stellung genommen. Die Ausführungen konzentrieren sich auf die aktive, gezielte Tötung eines anderen Menschen, also auf die Fälle, die in der Diskussion um die Sterbehilfe als aktive direkte Sterbehilfe bezeichnet werden.3
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Es kann hier dahingestellt bleiben, ob es sich bei § 216 StGB um einen im Verhältnis zu den §§ 211 und 212 StGB selbständigen Tatbestand (so Albin Eser, in: Adolf Schönke, Horst Schröder, Strafgesetzbuch. Kommentar, 26. Aufl., München 2001, § 216, Rdnr. 1) oder um eine privilegierende Abwandlung des § 212 StGB (so Karl Heinz Gössel, in: ders., Dieter Dölling, Strafrecht Besonderer Teil 1, 2. Aufl., Heidelberg 2004, S. 14 und 98) handelt. Vgl. Adolf Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., München 1993, S. 158 ff.; ders., Nicht der Arzt allein muss bereit sein, das Notwendige zu tun, in: NJW 2000, S. 1757-1769, 1765. Zu den Formen der Sterbehilfe siehe Wilhelm Uhlenbruck, Klaus Ulsenheimer, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, S. 1164 ff.
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II. Vorschläge zur Einschränkung des § 216 StGB Die Vorschläge zur Auflockerung des Verbots der Tötung auf Verlangen haben unterschiedliche Reichweite. Am weitesten gehen die Autoren, die für die völlige Straffreiheit der Tötung auf Verlangen plädieren.4 Dieser Vorschlag hätte zur Folge, dass Ärzte Patienten auf deren Wunsch straffrei töten könnten, ohne dass zusätzliche Voraussetzungen, wie etwa ein schweres Leiden des Patienten, hinzukommen müssten. Eine erhebliche Einschränkung der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen hat das niederländische Gesetz zur Kontrolle der Lebensbeendigung auf Verlangen und der Hilfe bei der Selbsttötung vom 10. 4. 2001 gebracht,5 das auch in Deutschland Befürworter findet.6 Danach ist die Tötung auf Verlangen nicht strafbar, wenn sie von einem Arzt begangen wird, der dabei die Sorgfaltskriterien nach Art. 2 des Gesetzes erfüllt und den kommunalen Leichenbeschauer gemäß Art. 7 Abs. 2 des Gesetzes über das Leichen- und Bestattungswesen informiert. Die Sorgfaltskriterien nach Art. 2 des Gesetzes sind: Der Arzt muss zu der Überzeugung gelangen, dass der Patient freiwillig und nach reiflicher Überlegung um Sterbehilfe bittet und dass der Zustand des Patienten aussichtslos und sein Leiden unerträglich ist. Der Arzt muss den Patienten über seinen Zustand und dessen Aussichten informieren und mit dem Patienten zu der Überzeugung gelangen, dass es in dem Stadium, in dem sich der Patient befindet, keine angemessene andere Lösung gibt. Der Arzt muss mindestens einen anderen unabhängigen Arzt hinzuziehen, der den Patienten sieht und sein schriftliches Urteil über die angeführten Sorgfaltskriterien abgibt. Schließlich muss der Arzt die Lebensbeendigung „medizinisch sorgfältig“ ausführen. Wenn ein Patient von 16 Jahren oder älter nicht mehr in der Lage ist, seinen Willen zu äußern, jedoch in einem früheren Zustand, in dem von seiner Fähigkeit 4
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Arthur Kaufmann, bei Jürgen Meyer, Die Diskussionsbeiträge der Strafrechtslehrertagung 1979 in Regensburg, in: ZStW 83 (1971), S. 243-280, 251 f.; ders., Euthanasie – Selbsttötung – Tötung auf Verlangen, in: MedR 1983, S. 121-125, 124 (mit Einschränkung); Michael Marx, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut“, Köln u. a. 1972, S. 66; Rudolf Schmitt, Strafrechtlicher Schutz des Opfers vor sich selbst?, in: FriedrichChristian Schroeder, Heinz Zipf (Hrsg.), Festschrift für Reinhart Maurach, Karlsruhe 1972, S. 113-126, 118; zurückhaltender ders., Das Recht auf den eigenen Tod, in: MDR 1986, S. 617-621, 620 f. Thomas Weigend, Über die Begründung der Straflosigkeit bei Einwilligung des Betroffenen, in: ZStW 98 (1986), S. 44-72, 68 f., plädiert für eine auf den Einzelfall bezogene Abwägung zwischen der grundsätzlich vorrangigen Dispositionsfreiheit des Einzelnen über sein Leben und Interessen der Allgemeinheit an der Lebenserhaltung. Siehe dazu Antonia Grundmann, Das niederländische Gesetz über die Prüfung von Lebensbeendigung auf Verlangen und Beihilfe zur Selbsttötung, Aachen 2004. So bezeichnet Frank Czerner, Das Euthanasie-Tabu – Vom Sterbehilfe-Diskurs zur Novellierung des § 216 StGB, Berlin 2004, S. 70, die niederländische Rechtslage als grundsätzlich begrüßenswert. Nach Elena Fischer, Recht auf Sterben?!, Frankfurt/M. 2004, S. 366, ist das niederländische Modell eine taugliche Ausgangsbasis für die Entwicklung eines „Deutschen Modells der Sterbehilfe“.
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zu einer angemessenen Einschätzung seiner diesbezüglichen Belange auszugehen war, eine schriftliche Erklärung mit der Bitte um Lebensbeendigung abgegeben hat, kann der Arzt dieser Bitte nachkommen. Unter bestimmten Voraussetzungen darf der Arzt auch minderjährige Patienten auf Verlangen töten. Nach dem Gesetz über das Leichen- und Bestattungswesen muss der Arzt die Ausführung der Lebensbeendigung auf Verlangen dem kommunalen Leichenbeschauer melden, der Meldungen an die Staatsanwaltschaft und an die Regionale Kontrollkommission abgibt. Die Kontrollkommission besteht aus einer ungeraden Zahl von Mitgliedern, zu denen in jedem Fall ein Jurist, ein Arzt und ein Spezialist in ethischen Fragen gehören. Die Kommission beurteilt, ob der Arzt die Sorgfaltskriterien eingehalten hat, und setzt den Arzt über ihre Beurteilung in Kenntnis. Dem Ausschuss der Generalstaatsanwaltschaft bringt die Kommission ihre Beurteilung zur Kenntnis, wenn der Arzt nach ihrer Auffassung die Sorgfaltskriterien nicht eingehalten hat oder wenn die vom kommunalen Leichenbeschauer informierte Staatsanwaltschaft der Auffassung ist, keine Unbedenklichkeitserklärung bezüglich Bestattung oder Verbrennung ausstellen zu können. – Auch in Belgien ist nach einem Gesetz aus dem Jahr 2002 die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen eingeschränkt.7 Nach dem belgischen Gesetz kann eine Lebensbeendigung auf Verlangen bei einem unheilbar physisch oder psychisch Erkrankten auch dann straffrei sein, wenn der Patient nicht in absehbarer Zeit sterben wird.8 Das niederländische Gesetz enthält keine Regelung für den Fall, dass der Patient zu einer verantwortlichen Entscheidung nicht mehr in der Lage ist und auch in einem früheren Zustand, in dem er zur Einschätzung seiner Belange fähig war, keine schriftliche Bitte um Lebensbeendigung abgegeben hat. Auch in diesem Fall kommt nach dem Vorschlag von Hoerster eine rechtmäßige Tötung durch den Arzt in Betracht. Nach dem von Hoerster vorgeschlagenen § 216a Abs. 1 StGB handelt ein Arzt, der einen schwer und unheilbar leidenden Menschen tötet, nicht rechtswidrig, wenn der Betroffene die Tötungshandlung auf Grund freier und reiflicher Überlegung, die er in einem urteilsfähigen und über seine Situation aufgeklärten Zustand durchgeführt hat, ausdrücklich wünscht oder wenn, sofern der Betroffene zu solcher Überlegung nicht imstande ist, die Annahme berechtigt ist, dass er die Tötungshandlung auf Grund solcher Überlegung für den gegebenen Fall ausdrücklich wünschen würde.9 Nach § 216a Abs. 2 des Gesetzesvorschlages führt das Vorliegen der in Abs.1 genannten Voraussetzungen nur dann zum Ausschluss der Rechtswidrigkeit, wenn es von dem Arzt, der die Tötungshandlung vornimmt, sowie von einem weiteren Arzt in begründeter Form schriftlich dokumentiert worden ist. Hoerster will damit die Tötung eines Patienten auf Grund mutmaßlicher Einwilligung zulassen. Weniger weit geht der Vorschlag von Wolfslast. Danach soll die Tötung von objektiv aussichtslos Kranken, die subjektiv unerträglich leiden, auf deren aus7
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Siehe zu dem belgischen Gesetz Katharina Khorrami, Die „Euthanasie-Gesetze“ im Vergleich. Eine Darstellung der aktuellen Rechtslage in den Niederlanden und in Belgien, in: MedR 2003, S. 19-25, 22 ff. Khorrami, in: MedR 2003, S. 19, 22. Norbert Hoerster, Sterbehilfe im säkularen Staat, Frankfurt/M. 1998, S. 169 f.
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drückliches Verlangen straffrei sein, wenn die Patienten aktuell einsichtsfähig sind.10 Außerdem soll die Lebensbeendigung durch eine Ethikkommission genehmigt werden. Straffreie aktive direkte Sterbehilfe soll auch bei einem Sterbehilfeverlangen von Minderjährigen in Betracht kommen. Eine straffreie Tötung auf Grund einer Patientenverfügung soll nicht möglich sein. Einen detaillierten Gesetzesvorschlag zur Einschränkung der Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen hat Czerner ausgearbeitet. Nach dem von Czerner vorgeschlagenen § 216 Abs. 1 Satz 2 StGB ist eine Tötung auf Verlangen nach Abs.1 Satz 1 nicht strafbar, wenn das Opfer 1. an einer unheilbaren Krankheit leidet, die nach dem Stand des medizinischen Wissens auch zum Zeitpunkt der Tötung keinerlei Aussicht auf Besserung erwarten lässt, und wenn er 2. unerträgliche, nicht hinreichend linderungsfähige Schmerzen oder andere, vergleichbare körperliche Leidenszustände erlitten hat, die ihm infolgedessen ein Weiterleben unmöglich machen, und er deshalb 3. freiverantwortlich und freiwillig zu Lebzeiten, einschließlich zum Zeitpunkt der Tötung, seinen ausdrücklichen und unmissverständlichen Sterbewunsch geäußert hat und 4. wenn er diesen Wunsch innerhalb von vier Wochen in mindestens drei aufeinander folgenden Gesprächen mit jeweils zwei Ärzten, darunter der Hausarzt, einem Sozialarbeiter bzw. Psychologen und nach Möglichkeit mit einer Person seines Vertrauens besprochen hat und 5. wenn ihn die behandelnden Ärzte über die Art der Erkrankung, die Heilungsmöglichkeiten sowie die Möglichkeiten der Schmerzlinderung umfassend aufgeklärt und diese Aufklärung sorgfältig dokumentiert haben und wenn dieser Sterbewunsch vom Vormundschaftsgericht in einer Besetzung mit drei Richtern nach den Nr. 1 bis 5 nachweislich erkennbar geprüft und ihm einheitlich zugestimmt wird.11
Die geringsten Abweichungen vom geltenden Recht sieht der Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe von 1986 vor. Der Alternativentwurf hält am Verbot der Tötung auf Verlangen fest, will aber für bestimmte Fälle die Möglichkeit 10
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Gabriele Wolfslast, Rechtliche Neuordnung der Tötung auf Verlangen?, in: Knut Amelung u.a. (Hrsg.), Strafrecht Biorecht Rechtsphilosophie. Festschrift für Hans-Ludwig Schreiber, Heidelberg 2003, S. 913-927, 924 ff. Nach dem Gesetzentwurf der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (abgedruckt bei Fischer, Recht auf Sterben, S. 319) soll die Tötung auf Verlangen eines unheilbar Kranken nicht rechtswidrig sein, wenn sie die Abkürzung eines schweren und voraussichtlich bis zum Tod andauernden Leidenszustands zum Ziel hat, auf einer frei verantwortlichen und informierten Entscheidung des Kranken beruht, andere Mittel der Leidensminderung nicht zur Verfügung stehen oder vom Kranken abgelehnt werden und der Kranke zur Ausführung einer Selbsttötung dauerhaft körperlich nicht in der Lage ist. Czerner, Euthanasie-Tabu, S. 11.
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des Absehens von Strafe einführen. Nach dem vorgeschlagenen § 216 Abs.2 StGB kann das Gericht unter den Voraussetzungen des Abs. 1 von Strafe absehen, wenn die Tötung der Beendigung eines schwersten, vom Betroffenen nicht mehr zu ertragenden Leidenszustandes dient, der nicht durch andere Maßnahmen behoben oder gelindert werden kann.12 Diesem Vorschlag hat sich die Abteilung Strafrecht des 56. Deutschen Juristentages 1986 angeschlossen. Nach ihren Beschlüssen soll die Tötung auf Verlangen strafbar bleiben, empfiehlt es sich aber, gesetzlich die Möglichkeit vorzusehen, dass das Gericht von Strafe absehen kann, wenn die Tötung zur Beendigung eines unerträglichen Leidenszustandes vorgenommen worden ist.13 Auch die Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz hat sich 2004 dafür ausgesprochen, dass der Gesetzgeber die Möglichkeit einräumen sollte, in extremen Ausnahmefällen von Strafe abzusehen.14
III. Stellungnahme Den Vorschlägen zur Aufhebung des § 216 StGB kann nicht gefolgt werden. Die Tötung auf Verlangen ist in § 216 StGB aus guten Gründen unter Strafe gestellt. Die Vorschrift dient dem Schutz der allgemeinen Achtung vor fremdem menschlichen Leben.15 Würde die Tötung zur Disposition von Täter und Opfer gestellt, könnte dies die allgemeine Überzeugung von der Unantastbarkeit fremden Lebens und damit die Geltung des Tötungstabus in Frage stellen.16 Außerdem enthält § 216 StGB einen Schutz des Opfers vor übereilten Entscheidungen.17 Es mag leich-
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Jürgen Baumann u.a., Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe (AESterbehilfe), Stuttgart New York 1986, S. 12. 56. Deutscher Juristentag: Die Beschlüsse, in: NJW 1986, S. 3069-3075, 3073. Sterbehilfe und Sterbebegleitung. Bericht der Bioethik-Kommission des Landes Rheinland-Pfalz vom 23. April 2004, www.justiz.rlp.de, S. 70. Karl Engisch, Die Strafwürdigkeit der Unfruchtbarmachung mit Einwilligung, in: Friedrich Geerds, Wolfgang Naucke (Hrsg.), Beiträge zur gesamten Strafrechtswissenschaft. Festschrift für Hellmuth Mayer, Berlin 1966, S. 399-417, 412 f., 415; Hans Joachim Hirsch, Einwilligung und Selbstbestimmung, in: Günter Stratenwerth u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hans Welzel, Berlin New York 1974, S. 775-800, 779, 782; Harro Otto, Recht auf den eigenen Tod?, Gutachten D zum 56. Deutschen Juristentag, München 1986, D 54; Schönke/Schröder-StGB/Eser, § 216, Rdnr. 1; Dieter Dölling, Fahrlässige Tötung bei Selbstgefährdung des Opfers, in: GA 1984, S. 71-94, 86. Vgl. Ralph Ingelfinger, Grundlagen und Grenzbereiche des Tötungsverbots, Köln u. a. 2004, S. 216, wonach § 216 StGB dem Zweck dient, die Achtung vor dem Rechtswert Leben in der Gemeinschaft zu sichern. Engisch, Festschrift für H. Mayer, S. 399, 412; Hirsch, Festschrift für Welzel, S. 775, 779 f.; Günther Jakobs, Zum Unrecht der Selbsttötung und der Tötung auf Verlangen, in: Fritjof Haft u. a. (Hrsg.), Strafgerechtigkeit. Festschrift für Arthur Kaufmann, Heidelberg 1993, S. 459-472, 468 f.; ders. Tötung auf Verlangen, Euthanasie und Strafrechtssystem, Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische
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ter sein, einen anderen Menschen um die Tötung zu bitten, als die Tötung mit eigener Hand auszuführen. Durch das Verbot der einverständlichen Fremdtötung und die Zulassung der Selbsttötung wird gewährleistet, dass die Entscheidung über die Lebensbeendigung bis zuletzt beim Opfer verbleibt.18 Ergänzend kann auf Missbrauchsgefahren und Beweisschwierigkeiten hingewiesen werden, die mit einer Freigabe der Tötung auf Verlangen verbunden sind.19 Täter von Tötungsdelikten könnten sich darauf berufen, das Opfer habe die Tötung verlangt, und es könnte schwierig sein nachzuweisen, dass dies nicht der Fall war. Insgesamt wird die Strafvorschrift des § 216 StGB durch den Gedanken des umfassenden Schutzes fremden Lebens getragen. Ist § 216 StGB grundsätzlich beizubehalten, stellt sich die Frage nach einer Einschränkung des Verbots der Tötung auf Verlangen zugunsten aktiver direkter Sterbehilfe. Dieses teilweise verfolgte Ziel kann auf dem Boden des geltenden Rechts nicht erreicht werden. Zwar wird von einem Teil der Literatur angenommen, dass in Fällen extremer Schmerzen bei unmittelbar bevorstehendem Lebensende eine gezielte Tötung nach § 34 StGB gerechtfertigt sein kann.20 Die generelle Annahme eines rechtfertigenden Notstandes bei aktiver direkter Sterbehilfe kommt jedoch nicht in Betracht.21 Die aktive direkte Sterbehilfe gehört zu den Hauptanwendungsfällen des § 216 StGB. Würde man sie regelmäßig als durch § 34 StGB gerechtfertigt ansehen, würde § 216 StGB ausgehöhlt und das Gesetz in sein Gegenteil verkehrt.22 Es bleibt daher die Frage nach der Notwendigkeit einer Gesetzesänderung.
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Klasse, Sitzungsberichte, München 1998, S. 23; Dölling, in: GA 1984, S. 71, 86; kritisch Ingelfinger, Tötungsverbot, S. 175 ff., 216. Urs Kindhäuser, Strafgesetzbuch, Lehr- und Praxiskommentar, 2. Aufl., Baden-Baden 2005, § 216, Rdnr. 2. Schönke/Schröder-StGB/Eser, § 216, Rdnr. 1; Torsten Verrel, Selbstbestimmungsrecht contra Lebensschutz, in: JZ 1996, S. 224-231, 226. Rolf Dietrich Herzberg, Der Fall Hackethal: Strafbare Tötung auf Verlangen?, in: NJW 1986, S. 1635-1644, 1639; ders., Sterbehilfe als gerechtfertigte Tötung im Notstand?, in: NJW 1996, S. 3043-3049, 3049; Ulfrid Neumann, in: Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, 4. Lieferung 1997, § 34, Rdnr. 85; 12. Lieferung 2002, Vorb. zu § 211, Rdnr. 127; Friedrich-Christian Schroeder, in: Reinhart Maurach, FriedrichChristian Schroeder, Manfred Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil, 9. Aufl., Teilband 1, Heidelberg 2003, S. 23. Für Verneinung des Tatbestandes, wenn das Tötungsverlangen als objektiv vernünftig feststeht, Jakobs, Tötung auf Verlangen, S. 29. Grundsätzlich gegen die Anwendung des § 34 StGB auf den Tatbestand des § 216 StGB Thomas Fischer, in: Herbert Tröndle, Thomas Fischer, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 52. Aufl., München 2004, Vorb. zu § 211, Rdnr. 17; Gössel, in: Gössel/Dölling, Strafrecht Bes. Teil 1, S. 32; Kristian Kühl, in: Karl Lackner, Kristian Kühl, Strafgesetzbuch Kommentar, 25. Aufl., München 2004, Vorb. zu § 211, Rdnr. 7; Ingelfinger, Tötungsverbot, S. 248 ff. Birgit Reuter, Die gesetzliche Regelung der aktiven ärztlichen Sterbehilfe des Königreichs der Niederlande – ein Modell für die Bundesrepublik Deutschland?, 2. Aufl., Frankfurt/M. 2002, S. 230.
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Bei der Beantwortung dieser Frage ist davon auszugehen, dass das Leben schwer erkrankter Menschen in besonderer Weise des Schutzes der Rechtsordnung bedarf. Menschen, die an schweren Erkrankungen leiden, sind in der Wahrnehmung ihrer Interessen beeinträchtigt und häufig hilflos. Sie sind besonders gefährdet, da andere Menschen möglicherweise kein Interesse am Weiterleben der Kranken haben und die Kranken nur als Belastung empfinden könnten. Dies kann die Bereitschaft mindern, den Kranken beizustehen, und die gegenüber dem Ergreifen lebensbeendender Maßnahmen bestehenden Hemmungen senken. An eine Einschränkung des Verbots der Tötung auf Verlangen sind daher strenge Anforderungen zu stellen. Unter diesem Blickwinkel stellt sich zunächst die Frage, ob für eine Einschränkung des Verbots der Fremdtötung überhaupt ein Bedürfnis besteht. In der ganz überwiegenden Mehrzahl der Fälle, in denen Menschen schwer erkranken, ist heute eine ausreichende Schmerztherapie möglich.23 In den verbleibenden Fällen stellt sich die Aufgabe, durch Verbesserung der Schmerztherapie, verstärkte Pflege und Zuwendung den Zustand des Patienten erträglicher zu gestalten. Nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip müssen diese Bemühungen Vorrang vor der Einführung einer gesetzlichen Möglichkeit zur Fremdtötung haben. Je effektiver die Schmerztherapie und je intensiver Pflege und Zuwendung sind, desto mehr vermindern sich die Ängste der Patienten, nehmen sie ihren Zustand an und nimmt der Wunsch nach einer vorzeitigen Lebensbeendigung ab.24 Bei Zulassung einer Tötung besteht demgegenüber die Gefahr, dass die Bemühungen um Verbesserung der Schmerzbehandlung erlahmen und dem Leben von Patienten vorschnell ein Ende gesetzt wird.25 Ein erheblicher Teil der niederländischen Ärzte nimmt an, dass die Bestrebungen zur Regelung der aktiven Sterbehilfe dazu geführt haben, dass den Möglichkeiten zur Linderung von Leiden zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.26 Auch der Vorschlag, die Zulassung der aktiven direkten Sterbehilfe mit einer Regelung zur breit gefächerten palliativmedizinischen Versorgung zu kombinieren,27 beseitigt diese Gefahr nicht. Es ist zu befürchten, dass dann, wenn die Möglichkeit der Lebensbeendigung besteht, die mit Mühen und Kosten verbundene Schmerzbehandlung auf der Strecke bleibt. Außerdem kommt eine Tötung auf Verlangen nicht in Betracht, wenn der Patient seinem Leben selbst ein Ende setzen kann.28 Beim Suizid bleibt die Entscheidung über die Lebensbeendigung bis zuletzt beim Patienten und wird das Tabu der Tötung fremden Lebens 23
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Klaus Dörner, Hält der BGH die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“ wieder für diskutabel?, in: ZRP 1996, S. 93-96, 94; Fuat S. Oduncu, Wolfgang Eisenmenger, Euthanasie – Sterbehilfe – Sterbebegleitung, in: MedR 2002, S. 327-337, 327. Oduncu/Eisenmenger, in: MedR 2002, S. 327, 332; Thela Wernstedt, Sterbehilfe in Europa, Frankfurt/M. 2004, S. 129. Claus Roxin, Zur strafrechtlichen Beurteilung der Sterbehilfe, in: ders., Ulrich Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht, 2. Aufl., Stuttgart u. a. 2001, S. 93-119, 116. Vgl. die bei Grundmann, Das niederländische Gesetz, S. 210, mitgeteilten Befragungsergebnisse. Czerner, Euthanasie-Tabu, S. 28, 29. Roxin, Sterbehilfe, S. 116.
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nicht verletzt. Ist der Patient zum Suizid nicht in der Lage, bleibt die Möglichkeit, dass der Patient den Behandlungsabbruch verlangt und Leidenszuständen bis zum Tod durch die Zuführung mit Medikamenten begegnet wird. Ein Bedürfnis, dass eine Einschränkung des Verbots der Fremdtötung tragen könnte, ist daher nicht hinreichend dargetan.29 Gegen eine Einschränkung des Verbots der Tötung auf Verlangen spricht außerdem, dass es den Befürwortern einer Lockerung des § 216 StGB bisher nicht gelungen ist, die Zulässigkeitsvoraussetzungen für die aktive direkte Sterbehilfe befriedigend zu regeln. Verlangt wird regelmäßig ein ausdrückliches Tötungsverlangen eines freiverantwortlich handelnden Patienten. Bereits die Feststellung eines Tötungswunsches kann Schwierigkeiten bereiten, denn hinter einem scheinbaren Sterbeverlangen kann sich die Bitte um Lebenshilfe verbergen.30 Es kann sich ähnlich verhalten wie bei einer Suizidandrohung oder einem Selbsttötungsversuch, bei denen es sich um einen Ruf nach Hilfe durch die Mitmenschen handeln kann.31 Erhebliche Schwierigkeiten kann weiterhin die Ermittlung einer freiverantwortlichen Entscheidung bereiten. Es ist schwer, die Entscheidungsfähigkeit eines schwer kranken Menschen zu beurteilen.32 Der Wille eines Patienten kann sich je nach der Situation, in der er sich befindet, ändern.33 Es kann daher fraglich sein, ob eine endgültige Entscheidung vorliegt. Außerdem besteht die Gefahr, dass andere Personen Druck auf den Patienten ausüben, um ihn dazu zu bewegen, ein Tötungsverlangen zu äußern.34 Es könnte dem Patienten das Gefühl vermittelt werden, dass er den anderen Menschen zur Last fällt und es deshalb besser ist, seinem Leben ein Ende zu setzen. Als Voraussetzung für die Zulässigkeit der Fremdtötung wird weiterhin verlangt, dass der Patient aussichtslos erkrankt ist und bei ihm unerträgliche, nicht hinreichend linderungsfähige Schmerzen oder vergleichbare körperliche Leidenszustände vorliegen. Auch diese Voraussetzungen werfen erhebliche Probleme auf. Das gilt zunächst für die Prognose des weiteren Krankheitsverlaufs. Diese Prognose kann mit Unsicherheiten behaftet sein. Es kann schwierig sein festzustellen, 29
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Klaus Kutzer, Strafrechtliche Grenzen der Sterbehilfe, in: NStZ 1994, S. 110-115, 113; Torsten Verrel, Richter über Leben und Tod?, in: JR 1999, S. 5-8, 6; Jörg Antoine, Aktive Sterbehilfe in der Grundrechtsordnung, Berlin 2004, S. 409. Reuter, Aktive ärztliche Sterbehilfe, S. 242. Wernstedt, Sterbehilfe, S. 129. Gerrit K. Kimsma, Evert van Leeuwen, Euthanasie in den Niederlanden: Historische Entwicklung, Argumente und heutige Lage, in: Andreas Frewer, Clemens Eickhoff (Hrsg.), „Euthanasie“ und die aktuelle Sterbehilfe-Debatte, Frankfurt/M. 2000, S. 276312, 297. Herbert Tröndle, Warum ist die Sterbehilfe ein rechtliches Problem?, in: ZStW 99 (1987), S. 25-48, 38; Dieter Dölling, Zulässigkeit und Grenzen der Sterbehilfe, in: MedR 1987, S. 6-12, 8. Vgl. Hans-Ludwig Schreiber, Soll die Sterbehilfe nach dem Vorbild der Niederlande und Belgiens neu geregelt werden?, in: Klaus Rogall u.a. (Hrsg.), Festschrift für HansJoachim Rudolphi, Neuwied 2004, S. 543-552, 550, wonach die Frage an einen Kranken, ob man sein Leben beenden solle, den Schutz dieses Lebens gefährlich beeinträchtigen kann.
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ob der Zustand des Patienten hoffnungslos ist und wie lange er gegebenenfalls noch zu leben hat.35 Auch die Feststellung der Unerträglichkeit des Leidenszustandes ist schwierig. Es soll sich hierbei um eine subjektive Befindlichkeit des Patienten handeln.36 Damit setzt die Feststellung dieses Merkmals voraus, dass der Beurteiler in der Lage ist, sich hinreichend in die Person des Patienten hineinzuversetzen. Das ist eine äußerst schwierige Aufgabe.37 Außerdem ist nicht hinreichend geklärt, ob es allein auf das subjektive Befinden des Patienten, das von anderen Personen beeinflussbar ist, ankommen kann, oder ob auch objektive Kriterien eine Rolle spielen sollen. Auch die niederländischen Regionalen Kontrollkommissionen sehen Schwierigkeiten bei der Beurteilung des Kriteriums des unerträglichen Leidens. Sie bezeichnen dieses Kriterium als „eines der größten Dilemmata in der Sterbehilfe-Praxis“.38 Außerdem ist zu bedenken, dass sich die Befindlichkeit des Patienten je nach der Situation, in der er sich befindet, und abhängig davon, wie die anderen Menschen mit ihm umgehen, ändern kann. Es müsste daher nicht nur die Feststellung getroffen werden, dass der Zustand des Patienten gegenwärtig unerträglich ist, sondern auch die Prognose erstellt werden, dass der Zustand weiterhin unerträglich bleiben wird. Das ist ein schwieriges Unterfangen. Im Hinblick auf die für die Zulässigkeit der Tötung auf Verlangen aufgestellten Voraussetzungen besteht somit ein erhebliches Risiko von Fehleinschätzungen, die – wenn sie zur Tötung führen – irreversibel sind. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass die Voraussetzungen missbräuchlich angenommen werden. Die Beteiligten könnten in Versuchung geraten, die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Fremdtötung voreilig und in einem immer weiteren Ausmaß anzunehmen. Hierzu könnte zum einen der ökonomische Druck der hohen Kosten führen, die mit der Versorgung schwer erkrankter Patienten verbunden sind. Außerdem ist zu bedenken, dass in erheblichen Teilen der Gesellschaft eine utilitaristischhedonistische Haltung festzustellen ist. Die Lebensziele bestehen in persönlichem Erfolg, Wohlstand und Wohlbefinden.39 Die anderen Menschen sind danach nur insoweit von Bedeutung, als Interaktionen mit ihnen zur Erreichung der persönlichen Ziele beitragen können. In dieser Betrachtungsweise haben an schwersten Erkrankungen leidende Menschen keinen Nutzen mehr, sondern stellen nur noch eine Last dar. Außerdem besteht die Gefahr, dass diese Einstellung in die Patienten hineinprojiziert und davon ausgegangen wird, dass auch diese ihr Leben nicht mehr als sinnvoll empfinden. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, dass moralische Einstellungen ausreichen, um den Missbrauchsgefahren zu be-
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Reuter, Aktive ärztliche Sterbehilfe, S. 85, 248; Schreiber, Neuregelung der Sterbehilfe, S. 550. Wolfslast, Festschrift für Schreiber, S. 913, 924. Oduncu/Eisenmenger, in: MedR 2002, S. 327, 328; Reuter, Aktive ärztliche Sterbehilfe, S. 248. Zitiert nach Grundmann, Das niederländische Gesetz, S. 203. Vgl. Adolf Laufs, Zivilrichter über Leben und Tod?, in: NJW 1998, S. 3399-3401, 3399: „In einer weithin profanierten Gesellschaft besteht eine verbreitete Grundstimmung, der das Wohlbefinden als oberstes Ziel gilt.“
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Dieter Dölling
gegnen.40 Dem Hinweis auf die Missbrauchsgefahren kann nicht entgegengehalten werden, dass es auch bei der passiven und der aktiven indirekten Sterbehilfe, die zulässig sind, zu Missbräuchen kommen kann.41 Treten in einem Gebiet Missbräuche auf, gibt dies Anlass, diesen Missbräuchen entgegenzuwirken, es stellt aber keinen Grund dar, einen weiteren Bereich zu eröffnen, der missbrauchsanfällig ist. Die Befürworter einer Auflockerung des Verbots der Tötung auf Verlangen wollen die Problematik der schwierigen Feststellbarkeit der Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Fremdtötung dadurch lösen, dass sie Kontrollmechanismen vorschlagen, durch die eine fehlerhafte Bejahung der Voraussetzungen verhindert werden soll. Nach dem niederländischen Gesetz muss ein zweiter Arzt hinzugezogen werden und die Tötung über den kommunalen Leichenbeschauer der Regionalen Kommission gemeldet werden, die überprüft, ob die Voraussetzungen für die Lebensbeendigung vorlagen. Nach dem Vorschlag von Wolfslast bedarf die Tötung auf Verlangen der Genehmigung durch eine Ethikkommission und nach dem Gesetzentwurf von Czerner sind vor der Tötung drei Gespräche des Patienten mit Ärzten, einem Sozialarbeiter bzw. Psychologen und nach Möglichkeit mit einer Person seines Vertrauens sowie die Zustimmung des Vormundschaftsgerichts erforderlich. Diese Vorschläge stellen jedoch keine angemessene Lösung der Problematik dar. Die in dem niederländischen Gesetz vorgesehenen Kontrollmechanismen sind völlig unzulänglich.42 Die Hinzuziehung eines zweiten Arztes hilft nicht, wenn auch dieser dazu neigt, die Voraussetzungen für die Zulässigkeit der Lebensbeendigung weit auszulegen. Die Kontrolle durch die Regionale Kommission erfolgt nachträglich, so dass Tötungen, die entgegen den Vorschriften vorgenommen werden, nicht mehr verhindert werden können.43 Außerdem hängt die Durchführung der Kontrolle davon ab, dass der Arzt den Fall meldet. Der Arzt wird eine Meldung insbesondere dann nicht abgeben, wenn er die Sorgfaltsanforderungen nicht eingehalten hat. Die in den Niederlanden gesammelten Erfahrungen zeigen die Unzulänglichkeit der Regelung. In empirischen Untersuchungen wurden 1990 in den Niederlanden 2.300 Fälle der aktiven direkten Sterbehilfe erfasst (1,8% der Todesfälle), 40
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Dagegen stellen Kimsma/van Leeuwen, Euthanasie in den Niederlanden, S. 282, für die Niederlande eine von der Mehrheit getragene Überzeugung fest, dass das moralische Gefüge der niederländischen Gesellschaft die mit der Zulassung der aktiven direkten Sterbehilfe verbundene grundlegende Veränderung der Rechtsordnung auffangen könne. So Wolfslast, Gedanken zur Sterbehilfe, in Arthur Kreuzer (Hrsg.), Fühlende und denkende Kriminalwissenschaften, Ehrengabe für Anne-Eva Brauneck, Mönchengladbach 1999, S. 473-500, 492, und in: Festschrift für Schreiber, S. 913, 916 f. Oduncu/ Eisenmenger, in: MedR 2002, S. 327, 329, 336; Reuter, Aktive ärztliche Sterbehilfe, S. 247 f.; Antoine, Aktive Sterbehilfe, S. 314; Juliane Baer-Henney, Die Strafbarkeit aktiver Sterbehilfe – ein Beispiel für symbolisches Strafrecht?, Aachen 2004, S. 180. Vgl. Lukas Ohly, Sterbehilfe: Menschenwürde zwischen Himmel und Erde, Stuttgart 2002, S. 295, der in der lediglich nachträglichen Beteiligung des Staates den Grundfehler des niederländischen Kontrollverfahrens sieht.
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1995 waren es 3.200 (2,4%) und 2001 3650 Fälle (2,6%).44 Die Daten, die vor dem Inkrafttreten des Gesetzes von 2001 erhoben wurden, können berücksichtigt werden, weil das Gesetz weitgehend eine bereits zuvor bestehende Praxis legalisiert hat.45 Eine Untersuchung für den Zeitraum von 1986 bis 1989 ergab, dass in 22% der Fälle nur eine einzige Bitte um aktive ärztliche Sterbehilfe geäußert worden war und in 62% der Fälle das Verlangen nach aktiver ärztlicher Sterbehilfe ausschließlich mündlich erfolgte.46 In 13% der Fälle lag der Zeitraum zwischen der ersten Bitte um Sterbehilfe und deren Ausführung bei weniger als 24 Stunden, in 35% der Fälle betrug der Zeitraum weniger als eine Woche.47 Es erscheint zweifelhaft, ob in allen Fällen der Tötung auf Verlangen ein Leiden der Getöteten vorlag, das so unerträglich war, dass eine aktive Tötung berechtigt erscheinen könnte. Hinzu kommt, dass für 1990 1.000 Fälle (0,8% der Todesfälle), für 1995 900 Fälle (0,7%) und für 2001 982 Fälle (0,7%) erfasst wurden, in denen Ärzte Patienten ohne deren Wunsch getötet haben.48 Im Jahr 2001 handelte es sich nach einer Untersuchung bei 2% der Todesfälle von Minderjährigen (1 bis 16 Jahre) um aktive Sterbehilfe ohne Verlangen.49 Fehlt es an einem Tötungswunsch eines entscheidungsfähigen Patienten, kann die Tötung nicht mit der Respektierung des Selbstbestimmungsrechts des Getöteten gerechtfertigt werden. Eine Legitimation der Tötungen mit einer mutmaßlichen Einwilligung kommt schwerlich in Betracht. Es besteht daher der Verdacht, dass in diesen Fällen Ärzte das Leben von Patienten nicht mehr als lebenswert erachtet haben.50 Dies kann keinesfalls akzeptiert werden.51 Nach einer Untersuchung für das Jahr 2001 wurde in 16% der Fälle, in denen aktive Sterbehilfe ohne Verlangen erfolgte, die Sterbehilfe ohne Verlangen geleistet, obwohl der Arzt den Patienten als voll entscheidungsfähig beurteilte.52 Hinzu kommt, dass die Meldepflicht nur unvollständig erfüllt wird. Nach Untersuchungen wurden 1990 18% der Fälle von aktiver direkter Sterbehilfe gemeldet, 1995 41% und 2001 54%.53 Die mit der niederländischen Regelung verbundenen Gefahren werden auch daran deutlich, dass nach dem Vorschlag einer vom niederländischen Ärzteverband KNMG eingesetzten Kommission ärztliche Sterbehilfe auch bei „lebensmüden“ Menschen zulässig sein soll und die Kommission zur
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Kimsma/van Leeuwen, Euthanasie in den Niederlanden, S. 295; Grundmann, Das niederländische Gesetz, S. 204. Khorrami, in: MedR 2003, S. 19, 21. Reuter, Aktive ärztliche Sterbehilfe, S. 57. Reuter, Aktive ärztliche Sterbehilfe, S. 56. Kimsma/van Leuwen, Euthanasie in den Niederlanden, S. 295; Grundmann, Das niederländische Gesetz, S. 204. Grundmann, Das niederländische Gesetz, S. 213. Reuter, Aktive ärztliche Sterbehilfe, S. 238. Vgl. Laufs, Arztrecht, S. 159, der darauf hinweist, dass die früheren Programme zur „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ in der gegenwärtigen Diskussion beachtet werden müssen. Grundmann, Das niederländische Gesetz, S. 210. Czerner, Euthanasie-Tabu, S. 71 f.
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Umsetzung ihres Vorschlags eine Gesetzesänderung nicht für notwendig hält.54 Für Belgien wird von ca. 1.600 Tötungsfällen ohne Einwilligung der Patienten berichtet.55 Auch die Vorschläge von Wolfslast und Czerner werfen erhebliche Probleme auf. Das von Wolfslast vorgeschlagene Erfordernis einer Genehmigung durch eine Ethikkommission ermöglicht zwar eine präventive Kontrolle und ist deshalb zum Lebensschutz besser geeignet als die in dem niederländischen Gesetz vorgesehene nachträgliche Überprüfung. Es besteht aber die Gefahr, dass es zu einem wechselseitigen Abschieben von Verantwortung kommen könnte: Die Mitglieder der Ethikkommission mögen sich damit beruhigen, dass die letzte Entscheidung über die Vornahme der Tötungshandlung beim Arzt liegt, der Arzt mag sich dadurch entlastet fühlen, dass die Ethikkommission die Tötung genehmigt hat. Außerdem stellt sich die Frage, welche Stelle nach welchen Kriterien über die Zusammensetzung der Ethikkommission entscheidet. Der Gesetzesvorschlag von Czerner sieht ein aufwendigeres Verfahren zur Feststellung der Zulässigkeitsvoraussetzungen für die Lebensbeendigung vor. Dieser Gesetzesvorschlag wirft allerdings die Frage auf, ob es miteinander vereinbar ist, einerseits als Voraussetzung für die Lebensbeendigung unerträgliche, nicht hinreichend linderungsfähige Schmerzen zu verlangen, und andererseits von dem Patienten zu erwarten, dass er innerhalb von vier Wochen mindestens drei Gespräche mit Ärzten, einem Sozialarbeiter bzw. Psychologen und nach Möglichkeit einer Person seines Vertrauens führt, an die sich dann eine Prüfung und Entscheidung durch das Vormundschaftsgericht anschließen. Gegen die vorgeschlagenen Kontrollmechanismen kann außerdem vorgebracht werden, dass sie die Entscheidung über die Tötung eines Menschen zum Gegenstand eines „Verwaltungsverfahrens“ machen.56 Zwar führen die Befürworter eines solchen Verfahrens an, das Verfahren diene allein der Prüfung des Vorliegens einer autonomen Entscheidung des Patienten, so dass keine Bürokratisierung der Entscheidung über die Lebensbeendigung vorliege.57 Es lässt sich aber nicht verkennen, dass in einem vor Kommissionen oder Gerichten ablaufenden Verfahren darüber entschieden werden soll, ob ein Mensch berechtigt ist, einen anderen Menschen zu töten. Werden die Voraussetzungen für die Lebensbeendigung bejaht, erhält der Arzt eine Erlaubnis zur Tötung. Durch ein derartiges „Tötungsverwaltungsverfahren“ droht die Verwirklichung gerade der Gefahr, der § 216 StGB mit gutem Grund entgegenwirken will: Dadurch dass die Fremdtötung zum Verfahrensgegenstand und möglichem Inhalt einer amtlichen Entscheidung wird, könnte die Achtung fremden Lebens und damit die Geltung des Tötungsverbots beeinträchtigt werden. Die Zulassung der aktiven direkten Sterbehilfe lässt sich auch nicht mit der Erwägung begründen, es sei widersprüchlich, die Tötung auf Verlangen zu bestrafen 54
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Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. 12. 2004, S. 1. Gegen die niederländische Regelung auch Laufs, in: NJW 2000, S. 1757, 1765. Czerner, Euthanasie-Tabu, S. 73. Vgl. dazu Gerd Geilen, Euthanasie und Selbstbestimmung, Tübingen 1975, S. 27. Czerner, Euthanasie-Tabu, S. 68 f.
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und die Beihilfe zur Selbsttötung sowie die aktive indirekte Sterbehilfe straffrei zu lassen.58 Zwar liegen diese Handlungen eng beieinander, sie lassen sich aber durchaus unterscheiden.59 Ihre unterschiedliche rechtliche Bewertung ist gut begründet. Während bei der Tötung auf Verlangen nicht das Opfer, sondern der Täter die letzte todbringende Ursache setzt, nimmt bei der Selbsttötung der Suizident die todbringende Handlung selbst vor.60 Durch die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen und die Straflosigkeit der Beihilfe zur Selbsttötung wird – wie ausgeführt – erreicht, dass der Sterbewillige die Entscheidung über Leben und Tod bis zuletzt in der Hand behält. Während bei der Tötung auf Verlangen der Täter das Ziel der Tötung des Opfers verfolgt, geht es dem Arzt bei der aktiven indirekten Sterbehilfe darum, die Schmerzen eines Patienten, dessen Tod nahe bevorsteht, durch die Verabreichung von Medikamenten zu lindern. Der Arzt hat keine Tötungsabsicht, er geht lediglich das Risiko ein, dass die Vergabe des Medikaments den Todeseintritt beschleunigen könnte.61 Die an strenge Voraussetzungen62 gebundene aktive indirekte Sterbehilfe unterscheidet sich daher in ihrer Zielrichtung und ihrer ethischen Bedeutung von der Tötung auf Verlangen.63 Gerade die Zulassung einer aktiven direkten Tötung von Patienten durch Ärzte würde die Gefahr einer Erschütterung des Arzt-Patienten-Verhältnisses mit sich bringen.64 Eine Auflockerung des Verbots der Tötung auf Verlangen wird auch nicht durch die Überlegung getragen, dass durch die Legalisierung der aktiven direkten Sterbehilfe ein heute bestehendes Dunkelfeld kontrolliert und Rechtsicherheit geschaffen werden könnte.65 Das in allen Deliktsbereichen bestehende Dunkelfeld ist kein Grund, ein als strafwürdig und strafbedürftig erkanntes Verhalten zu legalisieren. Die unvollständige Erfüllung der Meldepflicht in den Niederlanden zeigt zudem, dass es auch nach der Zulassung der aktiven direkten Sterbehilfe ein Dunkelfeld geben kann. Das geltende deutsche Strafrecht enthält hinreichend bestimmte Regelungen zur Sterbehilfe, die das Recht, in Würde zu sterben, gewährleisten.66 Eher als problematische Gesetzesänderungen erscheint eine zuverlässige Information über das geltende Recht angezeigt, die Fehlvorstellungen entgegenwirkt. Das geltende Verbot der Tötung auf Verlangen ist mit dem Grundgesetz vereinbar. Ob das Grundgesetz die aktive direkte Sterbehilfe zulässt, ist umstritten. Teilweise wird aus Art. 1 Abs.1 und Art. 2 Abs. 2 GG ein verfassungsrechtliches 58
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So Czerner, Euthanasie-Tabu, S. 40, 42; ähnlich Wolfslast, Festschrift für Schreiber, S. 913, 923. Antoine, Aktive Sterbehilfe, S. 81. Claus Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 7. Aufl., Berlin, New York 2000, S. 568 f.; Dölling, GA 1984, S. 71, 76. Vgl. BGHSt 42, S. 301 mit Anm. Dölling, in: JR 1998, S. 160-162. Dölling, in: JR 1998, S. 160, 162. Für eine Differenzierung auch Gunnar Duttge, Sterbehilfe aus rechtsphilosophischer Sicht, in: GA 2001, S. 158-178, 174 ff. Zu dieser Gefahr Laufs, Arztrecht, S. 158, 160. So Czerner, Euthanasie-Tabu, S. 36, 47, 81. Dölling, in: MedR 1987, S. 6, 10, 11.
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Verbot der aktiven Sterbehilfe abgeleitet,67 teilweise wird angenommen, dass das Grundgesetz einer gesetzlichen Zulassung der aktiven direkten Sterbehilfe nicht entgegenstehe.68 Anerkannt ist jedoch, dass der nach Art. 2 Abs. 2 S.1 i.V.m. Art. 1 Abs.1 S. 2 GG zum Schutz des menschlichen Lebens verpflichtete Gesetzgeber69 die Tötung auf Verlangen verbieten darf.70 Zur Europäischen Menschenrechtskonvention hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschieden, dass sich aus der Konvention kein Recht ergibt, mit Hilfe einer dritten Person zu sterben, und dass die Beihilfe zum Selbstmord unter Strafe gestellt werden darf.71 Hieraus folgt, dass auch die Strafbarkeit der Tötung auf Verlangen mit der Europäischen Menschenrechtskonvention vereinbar ist. Eine Einschränkung des Verbots der Tötung auf Verlangen ist daher abzulehnen. Auch für die Einführung einer Regelung, nach der in bestimmten Fällen der Tötung auf Verlangen von Strafe abgesehen werden kann, ist ein Bedarf nicht erkennbar, der die Einführung einer solchen Regelung, die mit dem Risiko einer Schwächung des strafrechtlichen Lebensschutzes verbunden wäre, rechtfertigen würde.72 Insoweit stellt sich auch die Frage, inwieweit extreme Ausnahmesituationen einer allgemeinen gesetzlichen Regelung zugänglich sind.73 Richtig erscheint es, auf der Grundlage des geltenden Rechts die Bemühungen um Schmerzlinderung, Pflege und Zuwendung für Menschen mit schwersten Erkrankungen zu verbessern. Dies ist der angemessene Weg, das Recht, in Würde zu sterben, zu verwirklichen.
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Udo Di Fabio, in: Theodor Maunz, Günter Dürig, Grundgesetz. Kommentar, Bd. 1, 43. Lieferung, München 2004, Art. 2 Abs. 2, Rdnr. 39; Philip Kunig, in: Ingo von Münch, Philip Kunig, Grundgesetz-Kommentar, 5. Aufl., Bd. 1, München 2000, Art. 1, Rdnr. 36; Christian Starck, in: Hermann von Mangoldt, Friedrich Klein, Christian Starck, Das Bonner Grundgesetz. Kommentar, 4. Aufl., Bd. 1, München 1999, Art. 1, Rdnr. 84; Art. 2, Rdnr. 191. Hans D. Jarass, in: ders., Bodo Pieroth, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland. Kommentar, 7. Aufl., München 2004, Art. 2, Rdnr. 78; Helmuth Schulze-Fielitz, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, 2. Aufl., Bd. 1, Tübingen 2004, Art. 2 Abs. 2, Rdnr. 64, 85. BVerfGE 39, S. 1, 42; 45, S. 187, 254 f.; 46, S.160, 164. Antoine, Aktive Sterbehilfe, S. 423; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 2, Rdnr. 78. EGMR, NJW 2002, S. 2851. Dölling, in: MedR 1987, S. 6, 11; Georgia Borttscheller, Die Bedeutung des Patientenwillens im Bereich der Sterbehilfe, jur. Diss., Bonn 2002, S. 63; vgl. auch Burkhard Jähnke, in: ders. u. a. (Hrsg.) Strafgesetzbuch. Leipziger Kommentar, 11. Aufl., 44. Lieferung, Berlin 2002, § 216, Rdnr. 17, 22, und Otto, Recht auf den eigenen Tod, D 61, 75, die auf die Möglichkeit einer Entscheidung nach den §§ 59, 60 StGB oder § 153 StPO hinweisen. Vgl. Tröndle, in: ZStW 99 (1987), S. 25, 41; Borttscheller, Patientenwille, S. 63; Ingelfinger, Tötungsverbot, S. 340.
Ärztliche Verhaltenspflichten und anzuwendendes Recht bei grenzüberschreitender telemedizinischer Behandlung Gerfried Fischer
A. Bestimmung und grundsätzliche Reichweite von Vertrags- und Deliktsstatut I. Bestimmung des Vertrags- und Deliktsstatuts Der technische Fortschritt hat die Möglichkeiten und die Bedeutung telemedizinischer Behandlungen und Diagnosen rasant steigen lassen. Dabei müssen Arzt und Patient sich nicht notwendig im Inland befinden, sondern die Behandlung kann auch vom Ausland ins Inland und umgekehrt erfolgen. Erleidet der Patient dabei einen Schaden, stellt sich die Frage, nach welchem Recht sich die Haftung des Telemediziners richtet. In Frage kommen sowohl eine vertragliche wie eine deliktische Haftung. Erstere unterliegt grundsätzlich dem Vertragsstatut, das sich nach Art. 27-29 EGBGB bestimmt, letztere dem Deliktsstatut, für das die Art. 40-42 EGBGB gelten. Freilich führt dies nicht notwendig zur Anwendung zweier Rechte, weil Deliktsansprüche zwischen Vertragspartnern nach Art. 41 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB akzessorisch angeknüpft, d. h. ebenfalls dem Vertragsstatut unterstellt werden und das gilt auch für die Arzthaftung1. Vertragsstatut ist nach Art. 27 Abs. 1 EGBGB das von den Parteien gewählte Recht. Bei fehlender Rechtswahl ist nach Art. 28 Abs. 2 S. 2 EGBGB das Recht der Niederlassung des Arztes an-
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Hartmut Schädlich, Grenzüberschreitende Telemedizin-Anwendungen: Ärztliche Berufserlaubnis und anwendbares Recht, Frankfurt/M. 2003 (zit. Grenzüberschreitende Telemedizin), S. 160; Erwin Deutsch, Andreas Spickhoff, Medizinrecht, 5. Aufl., Berlin u. a. 2003, Rdnr. 578. Ebenso zum internationalen Deliktsrecht vor der Kodifikation von 1999 schon: Erwin Deutsch, Das Internationale Privatrecht der Arzthaftung, in: Andreas Heldrich (Hrsg.), Konflikt und Ordnung. Festschrift für Murad Ferid zum 70. Geburtstag, München 1978 (zit. IPR der Arzthaftung), S. 117, 124 ff.; Heinz-Peter Mansel, Kollisionsrechtliche Bemerkungen zum Arzthaftungsprozeß, in: Institut für ausländisches und internationales Privat- und Wirtschaftsrecht (Hrsg.), Einheit in der Vielfalt, Festschrift zum 75. Geburtstag von Hermann Weitnauer, Heidelberg 1985 (zit. Kollisionsrechtliche Bemerkungen), S. 33, 61; Angela Könning-Feil, Das internationale Arzthaftungsrecht – eine kollisionsrechtliche Darstellung auf sachrechtlicher Grundlage, Frankfurt/M. 1992 (zit. Internationales Arzthaftungsrecht), S. 288 ff.; Jürgen F. Hoppe, Telemedizin und internationale Arzthaftung, in: MedR 1998, S. 462, 466 f.
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Gerfried Fischer
wendbar2. Anders ist es, wenn die Voraussetzungen des Art. 29 Abs. 1 Nr. 1 EGBGB erfüllt sind, handelt es sich doch um eine berufliche Dienstleistung des Arztes gegenüber dem Patienten als Verbraucher. Hat der Telemediziner im Aufenthaltsstaat des Verbrauchers für seine Tätigkeit geworben3 und der Patient den Vertrag von hier aus geschlossen, unterliegt der Vertrag bei fehlender Rechtswahl nach Art. 29 Abs. 2 EGBGB dem Aufenthaltsrecht des Patienten. Ist ein anderes Recht vereinbart, so bleibt dem Patienten wenigstens der Schutz der zwingenden Vorschriften seines Umweltrechts erhalten. Auf diese Weise kann es also dazu kommen, dass die Haftung des Arztes sich nicht nach dem Recht seiner Niederlassung bestimmt. Das Gleiche ist möglich, wenn der Telemediziner nicht vom Patienten selbst, sondern von dessen Krankenhaus, seltener wohl von dessen Arzt im eigenen Namen beauftragt wird. Allerdings ist hier die Situation wie bei allen Mehrpersonenverhältnissen etwas komplizierter. Der Telemediziner steht in keiner vertraglichen Beziehung zum Patienten, so dass er ihm direkt nur deliktisch haftet. Da es sich um ein Distanzdelikt handelt, ist darauf nach Art. 40 Abs. 1 S. 1 EGBGB primär das Recht des Handlungsortes, also seiner Niederlassung anzuwenden. Jedoch kann der Patient nach Art. 40 Abs. 1 S. 2 EGBGB das Recht des Erfolgsortes, also seines Aufenthalts wählen, womit wieder die festgestellte Diskrepanz auftreten kann. Zu überlegen ist freilich, ob nicht auch hier eine akzessorische Anknüpfung nach Art. 41 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB an den Vertrag zwischen Telemediziner und Krankenhaus bzw. betreuendem Arzt in Betracht kommt. Um diesem Vertrag Drittschutzwirkung zugunsten des Patienten beizulegen, fehlt es zwar an der Nähe-Beziehung zwischen Krankenhaus und Patient, die die Rechtsprechung mit dem Wohl-und-Wehe-Kriterium lange Zeit verlangt hat4. Auch ist den Verträgen zwischen dem Krankenhaus und den dort behandelnden Ärzten nie Drittschutzwirkung zugunsten der Patienten beigelegt worden, so dass diese Ärzte immer nur deliktisch haften5. Jedoch handelt es sich jedenfalls um eine besondere tatsächliche Beziehung, die vor der Schädigung begründet worden ist und auf der diese Schädigung beruht. Es ist keine Zufallsbegegnung, sondern sie erfolgt auf einer vertraglich vermittelten Basis. Die Haftung des Telemediziners sollte deshalb keinem anderen Recht unterworfen werden als dem, das auch seine Haftung gegenüber dem Krankenhaus oder betreuenden Arzt bestimmt, und das ist das Vertrags-
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Könning-Feil, Internationales Arzthaftungsrecht, S. 209 ff.; Hoppe, in: MedR 1998, S. 462, 465; Schädlich, Grenzüberschreitende Telemedizin, S. 149 f.; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 578; Mansel, Kollisionsrechtliche Bemerkungen, S. 45-48. Dass das deutsche Standesrecht die Werbung untersagt, schließt die Möglichkeit der – erlaubten oder unerlaubten – Werbung vom Ausland her nicht aus; Schädlich, Grenzüberschreitende Telemedizin, S. 117 f.; a. A. Könning-Feil, Internationales Arzthaftungsrecht, S. 192 f.; Hoppe, in: MedR 1998, S. 462, 464. BGHZ 51, S. 91, 96; BGHZ 56, S. 269, 273; BGHZ 66, S. 51, 57; BGH, NJW 1970, S. 38, 40. Einschränkend aber schon BGH, NJW 1984, S. 355. Siehe schon BGHZ 1, S. 383, 386.
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statut. Letzteres ist nach Art. 28 Abs. 2 S. 2 EGBGB bei fehlender Rechtswahl das Recht seiner Niederlassung. In der Literatur ist freilich vorgeschlagen worden, auch bei objektiver Anknüpfung nach Art. 28 EGBGB die engste Verbindung nicht nach Abs. 2 zur Niederlassung des Telemediziners, sondern nach Abs. 5 zum Behandlungsort anzunehmen, weil sonst durch die Anwendung unterschiedlicher Rechte auf die Haftung von Telemediziner auf der einen und Krankenhaus bzw. betreuendem Arzt auf der anderen Seite Haftungskonflikte zu Lasten des Patienten bestünden6. Richtig ist, dass bei gemeinschaftlicher Leistungserbringung von mehreren Niederlassungsorten aus dem einheitlichen Leistungsort größeres Gewicht zukommt als den einzelnen Niederlassungen. Ob jedoch allein die Tatsache, dass der von seiner Niederlassung aus grenzüberschreitend Handelnde am Behandlungsort zum Behandlungserfolg beiträgt, unabhängig von der Art seiner Leistung ausreicht, um den Rechtsanwendungsinteressen des Patienten das Übergewicht einzuräumen, erscheint zweifelhaft. Es würde jedenfalls dazu führen, dass die Haftung des Telemediziners sich nach einem anderen Recht richtet als nach dem seiner Niederlassung. Zu dieser Diskrepanz kommt es dagegen bei grundsätzlicher Anwendung von Art. 28 Abs. 2 EGBGB nur dann, wenn für den Vertrag mit dem Telemediziner nach Art. 27 Abs. 1 EGBGB das Niederlassungsrecht des Krankenhauses bzw. des betreuenden Arztes gewählt worden ist. Die vorstehenden Ausführungen zum Deliktsstatut stützen sich auf die Art. 4042 EGBGB. Diese werden in absehbarer Zeit ersetzt werden durch die Vorschriften der bisher nur im Entwurf7 vorliegenden Verordnung des Europäischen Parlaments und Rates über das auf außervertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht („Rom II-VO“). Maßgeblich wird nach dessen Art. 3 Abs. 1 bei Distanzdelikten nicht mehr primär das Recht des Handlungsortes, sondern allein das Recht des Erfolgsortes. Zu einer gegenüber dem bisher geltenden Recht vermehrten Diskrepanz zwischen Niederlassungsrecht und Haftungsstatut führt dies jedoch nur, wenn keine akzessorische Anknüpfung der deliktischen Haftung an das Vertragsstatut erfolgt. Eine solche sieht jedoch auch Art. 3 Abs. 3 S. 2 der „Rom II-VO“ vor. Freilich lässt diese Norm anders als Art. 42 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB ihrem Wortlaut nach nicht auch eine tatsächliche Beziehung zwischen den Beteiligten genügen. Die akzessorische Anknüpfung an das Vertragsstatut zwischen Telemediziner und Krankenhaus, wenn letzteres diesen herangezogen hat, ist also problematischer. Teilweise wird angenommen, tatsächliche Beziehungen sollten bei Art. 3 Abs. 3 der Verordnung gerade ausgeschlossen sein8. Jedoch lässt Art. 3 Abs. 3 S. 1 generell die Anknüpfung an eine offensichtlich engere Verbindung zu, und nennt die vertragliche nur als einen speziellen Fall. Die akzessorische An6 7
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Schädlich, Grenzüberschreitende Telemedizin, S. 144 ff. Vom 22. 7. 2003, KOM (2003) 427 endgültig. Das ursprünglich in Art. 27 vorgesehene Inkrafttreten zum 1. 1. 2005 ist nicht eingehalten worden. Siehe dazu Peter Mankowski, Entwicklungen im IPR und IZPR, in: RIW 2004, S. 481, 482. Martina Benecke, Auf dem Weg zu „Rom II“ – Der Vorschlag für eine Verordnung zur Angleichung des IPR der außervertraglichen Schuldverhältnisse, in: RIW 2003, S. 830, 833.
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knüpfung an die Beziehung zwischen dem Telemediziner und dem ihn vermittelnden Krankenhaus lässt sich deshalb auch weiterhin gut vertreten. II. Reichweite des Vertrags- und Deliktsstatuts Die Frage ist, ob Vertrags- und Deliktsstatut auch für die Verhaltenspflichten gelten. Es kann nämlich sein, dass diese vom Telemediziner ein Verhalten verlangen, das ihm das Recht seiner Niederlassung nicht vorschreibt oder gar verbietet. Umgekehrt ist es freilich auch denkbar, dass dieses Recht strengere Verhaltensanforderungen aufstellt als das Vertrags- und Deliktsstatut. Grundsätzlich gilt nach Art. 32 Abs. 1 Nr. 2, 3 EGBGB das Vertragsstatut auch für die Erfüllung der durch den Vertrag begründeten Verpflichtungen und die Folgen ihrer Nichterfüllung. Art und Umfang der Pflichten bestimmen sich also nach diesem Recht, auch wenn es nicht das der Niederlassung ist. Allerdings ist sowohl im Vertrags- als auch im Deliktsrecht anerkannt, dass bei der Frage der Pflichterfüllung der Ort des Handelns nicht außer Betracht bleiben kann. Für Verträge bestimmt Art. 32 Abs. 2 EGBGB, dass in Bezug auf die Art und Weise der Erfüllung das Recht des Staates, in dem die Erfüllung erfolgt, zu berücksichtigen ist. Ebenso herrscht in Literatur und Rechtsprechung Einigkeit darüber, dass im Deliktsrecht am Handlungsort geltende Verkehrsregeln und Sicherheitsvorschriften auch dann zu beachten sind, wenn das Deliktsstatut ein anderes als das Recht dieses Ortes ist9, und diese Regel wird in Art. 13 der „Rom IIVO“ kodifiziert werden. Paradebeispiel dafür ist, dass bei einem Verkehrsunfall in England das Linksfahrgebot auch dann maßgeblich ist, wenn auf die Haftung deutsches Deliktsrecht anwendbar ist. Das muss gleichermaßen für eine konkurrierende vertragliche Haftung gelten; denn natürlich ist dieses Gebot ebenso beim Unfall eines deutschen Busunternehmens mit deutschen Reiseteilnehmern in England zu beachten. Auch für die ärztliche Aufklärungspflicht ist die Auffassung vertreten worden, sie richte sich selbst dann nach dem Recht des Behandlungsor9
BGHZ 34, S. 222, 226; BGHZ 57, S. 265, 267 f.; BGHZ 87, S. 95, 97 f.; BGHZ 90, S. 294, 298; BGHZ 119, S. 137, 140; BGH, JZ 1996, S. 153; OLG Hamm, NJW-RR 2001, S. 1537; Gerhard Kegel, Internationales Privatrecht – Ein Studienbuch, 9. Aufl., München 2004, § 18 IV 2, S. 743; Jan Kropholler, Internationales Privatrecht – einschließlich der Grundbegriffe des Internationalen Zivilverfahrensrechts, 5. Aufl., Tübingen 2004, § 53 IV 7 a, S. 522; Bamberger/Roth-BGB/Spickhoff, München 2003, Art. 40 EGBGB Rdnr. 11; MünchKomm-BGB/Kreuzer, 3. Aufl., München 1998, Art. 38 EGBGB Rdnr. 290; Palandt-BGB/Heldrich, 64. Aufl., München 2005, Art. 40 EGBGB Rdnr. 8; Soergel-BGB/Lüderitz, 12. Aufl., Stuttgart 1996, Art 38 EGBGB Rdnr. 37, 91; Staudinger-BGB/v. Hoffmann, 13. Bearb., Berlin 1998, Art. 38 EGBGB Rdnr. 153 f.; Gisela Brandt, Die Sonderanknüpfung im internationalen Deliktsrecht, Göttingen 1993, S. 34-41; Heinrich Dörner, Neue Entwicklungen im Internationalen Verkehrsunfallrecht, in: JR 1994, S. 6, 9 ff.; ders., Alte und neue Probleme des internationalen Deliktsrechts, in: Gerhard Hohloch (Hrsg.), Festschrift für Hans Stoll, Tübingen 2001, S. 491, 496 ff.
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tes, wenn die Haftung einem anderen Recht unterliegt10. Es liegt nahe, dies auf ärztliches Verhalten bei telemedizinischer Behandlung zu übertragen11. Jedoch ist umstritten, ob örtliche Verhaltensregeln über die Teilnahme am allgemeinen Verkehr hinaus zu beachten sind und ob dies über streng territoriale Verkehrsregeln hinaus für allgemeine Verhaltensregeln gilt12. Hinzu kommt als weiteres Problem, dass ortsgebundene Regeln primär das innerstaatliche, nicht das gezielt grenzüberschreitende Verhalten betreffen. Soweit im Arztrecht ortsgebundene Verhaltensregeln bestehen, kann es sich deshalb sowohl um solche des Staates handeln, in dem der Telemediziner niedergelassen ist, als auch um solche, die am Behandlungsort des Patienten gelten.
B. Ortsgebundene Verhaltensregeln im Arztrecht? I. Allgemeine Sorgfaltspflichten Schädigungen bei telemedizinischer Behandlung können sich vor allem aus der Verletzung ärztlicher Sorgfaltspflichten ergeben. Regelmäßig werden Ärzte sich im Hinblick auf deren Existenz und Umfang an den Regeln ihres Niederlassungsortes orientieren13. Das bedeutet jedoch nicht, dass allgemeine ärztliche Sorgfaltspflichten ortsgebunden wären. Ortsgebundenheit ist nicht mit Ortsüblichkeit gleichzusetzen. Auch wenn der Sorgfaltsstandard im Niederlassungsstaat niedriger ist als am Aufenthaltsort des Patienten, ist der Arzt dadurch allein nicht daran gehindert, die dort geltenden höheren Maßstäbe zu beachten. Es gibt keine dem Rechts-/Linksverkehr vergleichbare Regel, nach der die Richtigkeit des einen Verhaltens das andere ausschließt. Ebenso wenig kann gesagt werden, dass dem Arzt kein Verhalten abverlangt werden kann, das über die Anforderungen seiner Niederlassung hinausgeht. Wer im Wege der Telemedizin Patienten in einem anderen Staat behandelt, weiß, dass von seinem Verhalten Personen aus einer anderen Rechtsordnung betroffen werden. Dann ist aber durchaus erkennbar, dass dort andere Sorgfaltsregeln gelten können als im eigenen Staat, und deren Erforschung und Beachtung ist nicht allein deswegen unzumutbar, weil sie von denen des eigenen Rechts abweichen. Natürlich ist die Möglichkeit einer solchen Diskrepanz auch für den Patienten erkennbar. Daraus allein ergibt sich jedoch nicht, dass er nicht mehr Sorgfalt verlangen kann, als sie das Niederlassungsrecht des Arztes fordert. Was die Voraussehbar10
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Deutsch, IPR der Arzthaftung, S. 117, 130, für den Fall, dass das Ortsrecht strengere Anforderungen aufstellt als das Haftungsstatut. So Hoppe, in: MedR 1998, S. 462, 466. Gegen beides Hans Stoll, Die Behandlung von Verhaltensnormen und Sicherheitsvorschriften, in: Ernst von Caemmerer (Hrsg.), Vorschläge und Gutachten zur Reform des internationalen Privatrechts der außervertraglichen Schuldverhältnisse, Tübingen 1983 (zit. Verhaltensnormen), S. 160, 177 f. Deutsch, IPR der Arzthaftung, S. 117, 134 f.; Könning-Feil, Internationales Arzthaftungsrecht, S. 301.
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keit der Anwendung fremden Rechts angeht, ist die Situation für beide Seiten gleich. Es muss abgewogen werden, wem die Ermittlung und Geltung des fremden Rechts – einschließlich der Einstellung seines Verhaltens auf dieses Recht – eher zuzumuten ist. Diese Abwägung erfolgt bei der Bestimmung des Vertragsstatuts, sowohl bei dessen subjektiver wie bei dessen objektiver Anknüpfung. Man könnte natürlich überlegen, ob nicht grundsätzlich derjenige bei der Bestimmung des anwendbaren Rechts mehr Schutz verdient, von dem ein Verhalten gefordert wird, als derjenige, der sich auf dessen fehlerfreie Vornahme verlässt. Diesem Gedanken trägt Art. 28 Abs. 2 EGBGB aber schon dadurch Rechnung, dass er kollisionsrechtlich den Erbringer der charakteristischen Leistung begünstigt, weil diese Leistung die kompliziertere ist, also höhere Verhaltensanforderungen stellt. Der potentiell größeren Belastung des Verpflichteten wird bei der Anknüpfung des Vertragsstatuts Rechnung getragen und sie darf nicht ein zweites Mal durch eine Sonderbehandlung allgemeiner Verhaltenspflichten ausgeglichen werden. Ist kraft Rechtswahl oder abweichenden Schwerpunkts ausnahmsweise nicht das Niederlassungsrecht des Verpflichteten, sondern das Umweltrecht der anderen Partei anwendbar, dann muss sich der Verpflichtete grundsätzlich über dessen Verhaltensregeln informieren und nach ihnen richten. Der Patient muss sich auf die Möglichkeit abweichender Verhaltensregeln am Sitz des Telemediziners dann, aber auch nur dann einstellen, wenn der Vertrag dem Niederlassungsrecht des Arztes unterliegt. Gelingt es ihm, sein eigenes Recht als Vertragsstatut zu vereinbaren, dann darf er sich darauf verlassen, dass der Arzt die nach diesem Recht bestehenden allgemeinen Sorgfaltspflichten erfüllt. Das Gleiche gilt, wenn der Arzt für seine telemedizinischen Leistungen im Aufenthaltsstaat des Patienten wirbt, und der Patient ihn von dort aus beauftragt. Schließlich scheint dies auch nicht unzumutbar, wenn die telemedizinische Leistung nur im Zusammenwirken mit Personen möglich ist, die am Behandlungsort tätig sind. Ist die Mitwirkung eines ausländischen Telemediziners, etwa eines Operateurs, so eng mit der der inländischen Ärzte verbunden, dass die Behandlung eine untrennbare gemeinsame Leistung darstellt und deshalb einen besonderen Schwerpunkt im Sinne von Art. 28 Abs. 5 EGBGB begründet, dann ist ihm schon zur Sicherstellung einer möglichst risikolosen Kooperation die Beachtung inländischer Verhaltensregeln zuzumuten. Unter diesen besonderen Umständen kann es sogar so sein, dass er Gebote am Behandlungsort unabhängig vom Vertragsstatut beachten muss, weil sie örtlich gebundene Verhaltensregeln sind. Wenn z. B. für Geräte am Behandlungsort besondere technische Normen gelten und die ausländischen Telebehandlungsgeräte ihre Wirkungen am Patienten nur bei Erfüllung der gleichen Normen erzielen können, dann ist faktisch eine wirksame Behandlung nur bei Erfüllung dieser Normen möglich. Man kann hier von einer dem Rechts/Linksverkehr ähnlichen Situation sprechen. II. Aufklärungspflicht Fragen lässt sich, ob auch die ärztliche Aufklärungspflicht zu den allgemeinen Verhaltenspflichten gehört, sich also nach dem Vertrags- bzw. dem akzessorisch
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angeknüpften Deliktsstatut richtet, oder ob sie bei abweichendem Statut den Regeln des Behandlungsortes unterliegt. Vor allem von Deutsch ist die Auffassung vertreten worden, dass der ausländische Arzt bei einer Behandlung in Deutschland selbst dann für unterlassene Aufklärung haften soll, wenn dessen ausländisches Niederlassungsrecht Vertragsstatut ist und keine entsprechende Haftung vorsieht14. Mit einer Ortsgebundenheit der Aufklärungspflicht lässt sich dies aber schwerlich begründen. Sie berührt nur das Verhältnis von Arzt und Patient und ihre Erfüllung hat nicht, wie die Beachtung von Verkehrsregeln, Auswirkungen auf unbeteiligte Dritte. Die allgemeine Krankenversorgung im Inland wird nicht davon berührt, ob der einzelne Patient aufgeklärt wird oder nicht. Behandelt ein Teilnehmer einer ausländischen Reisegruppe, der Arzt ist, andere Teilnehmer im Inland, so wird weder der Behandelte noch er selbst damit rechnen, den Aufklärungsregeln des zufälligen inländischen Behandlungsortes unterworfen zu sein. Die Aufklärungspflicht ist nicht stärker an den Behandlungsort gebunden als allgemeine Verhaltensregeln. Sie unterliegt deshalb ohne Einschränkung dem Vertrags- und Deliktsstatut. Etwas anderes lässt sich auch nicht damit begründen, dass diese Pflicht ihren Ursprung nicht im Behandlungsvertrag, sondern unabhängig von dessen Existenz im Selbstbestimmungsrecht des Patienten hat, das wiederum dem Schutz von dessen Körper und Gesundheit dient. Es findet sich zwar die Ansicht, dass als echte Vertragspflichten nur solche zu qualifizieren seien, die das Leistungs- und Äquivalenzinteresse, nicht aber solche, die das Integritätsinteresse schützen15. Soweit deliktische Pflichten verletzt werden, sei eine vortatliche Rechtswahl ausgeschlossen16 und insoweit müsse auch die akzessorische Anknüpfung des Deliktsstatuts zurücktreten17. Die Gründe, die gegen eine vortatliche Rechtswahl vorgebracht werden, rechtfertigen diesen Schluss jedoch nicht. Da ist zum einen der Hinweis auf die Zufälligkeit der Schädigung18. Von einer solchen kann jedoch, wenn sie innerhalb eines bereits bestehenden Rechtsverhältnisses auftritt, gerade keine Rede sein19, insbesondere wenn sich wie bei der ärztlichen Behandlung ein für dieses Verhältnis typisches Risiko verwirklicht. Weder das Zusammentreffen der Parteien noch die Art der Schädigung sind hier zufällig. Auch die Gefahr des Missbrauchs durch die Wahl eines schädigerfreundlichen Rechts20 spricht ebenso we14 15
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Deutsch, IPR der Arzthaftung, S. 117, 130. So Steffen Leicht, Die Qualifikation der Haftung von Angehörigen rechts- und wirtschaftsberatender Berufe im grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr, Tübingen 2002 (zit. Qualifikation), S. 180, 182. Ebenso Ina Wiedemann, Das internationale Privatrecht der Arzneimittelhaftung, Berlin 1998, S. 247; a. A. (zum noch unkodifizierten Recht) Mansel, Kollisionsrechtliche Probleme, S. 33, 51; Soergel-BGB/Lüderitz, Art. 38 EGBGB Rdnr. 81. Leicht, Qualifikation, S. 167, 196. Vgl. Leicht, Qualifikation, S. 170. Gerhard Hohloch, Rechtswahl im internationalen Deliktsrecht, in: Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht 1988, S. 161, 164. Diese spricht nach Christian v. Bar (Internationales Privatrecht, Bd. 2, München 1991, Rdnr. 677) gegen die Zulassung der Rechtswahl bei der Behandlung von Patienten, oh-
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nig wie bei der Wahl des Vertragsstatuts gegen die Berücksichtigung dieses Rechts bei der vertragsakzessorischen Anknüpfung21. Nur wenn ausnahmsweise keinerlei Bezug zum vereinbarten Recht besteht und die Wahl allein der Ausschaltung von Patientenrechten dient, sollte die akzessorische Anknüpfung des Deliktsstatuts verneint werden. Art. 41 Abs. 2 Nr. 1 EGBGB eröffnet diese Möglichkeit, weil sich aus der Vertragsbeziehung eine wesentlich engere Beziehung zu einem anderen als dem Tatortrecht ergeben kann, aber nicht in jedem Falle muss. Von einem Missbrauch kann jedoch keine Rede sein, wenn der ausländische Arzt bei einer grenzüberschreitenden Behandlung die Geltung seines Niederlassungsrechts als Vertragsstatut vereinbart. Diese Wahl würde gerade umgekehrt sinnlos, wenn sie nicht auch die deliktischen Ansprüche erfassen würde, die bei Patientenschäden regelmäßig mit den vertraglichen konkurrieren. Etwas anderes gilt allenfalls bei vorsätzlicher schwerer Körperverletzung oder Tötung, die das deutsche Strafrecht auch vom Ausland aus verbietet. Eine solche liegt aber nicht vor, wenn lediglich inländische Aufklärungspflichten verletzt werden. Denn auf die Aufklärung kann verzichtet werden22, und deshalb kann die Aufklärungspflicht auch dadurch eingeschränkt werden, dass sie einem anderen Recht unterstellt wird. Das Selbstbestimmungsrecht des Patienten ist auch nicht in höherem Maße schutzwürdig als sein Körper und seine Gesundheit gegenüber Sorgfaltspflichtverletzungen; denn es dient ja gerade dem Schutz dieser Rechte. Schließlich kann man ebenso wenig sagen, dass der Patient im Hinblick auf die Aufklärung in stärkerem Maße auf die Geltung seines eigenen Rechts vertraut als im Hinblick auf die sonstigen Verhaltenspflichten des Arztes. Wenn er, was selten genug der Fall ist, überhaupt über die Frage des anwendbaren Rechts nachdenkt, wird er kaum damit rechnen, dass speziell für die Aufklärung andere Regeln gelten. III. Sicherheitsvorschriften Spezielle Sicherheitsvorschriften, wie sie für Röntgen- und viele andere medizinischen Geräte gelten, scheinen schon deshalb ortsgebunden zu sein, weil es sich meistens um öffentlichrechtliche Regelungen handelt. Sie unterliegen, ohne dass man dafür auf Art. 34 EGBGB zurückgreifen müsste, nicht dem Vertragsstatut, weil dieses nur privatrechtliche Normen beruft. Sie können jedoch als Schutzge-
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ne dass dabei die vertragsakzessorische Anknüpfung angesprochen wird, die von Bar jedoch (nach unkodifiziertem Deliktsrecht) generell ablehnte (IPR II Rn 561). A. A. Leicht, Qualifikation, S. 170. Erwin Deutsch, Haftungsfreistellung von Arzt oder Klinik und Verzicht auf Aufklärung durch Unterschrift des Patienten, in: NJW 1983, S. 1351, 1354; Bernd-Rüdiger Kern, Adolf Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, Berlin u. a. 1983, S. 118-120; Adolf Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., München 1993, Rdnr. 207; ders., in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, § 64 Rdnr. 17 f.; Hans-Jürgen Roßner, Verzicht des Patienten auf eine Aufklärung durch den Arzt, in: NJW 1990, S. 2291 ff.; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 247.
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setze im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB heranzuziehen sein23. Das bedeutet freilich nicht, dass damit immer und ausschließlich die Sicherheitsvorschriften am Ort der Niederlassung des Telemediziners gelten. Es muss sich dafür um Normen handeln, die auch dann gelten, wenn er grenzüberschreitend tätig wird. Das ist stets zu bejahen, wenn etwa der Betrieb eines Geräts im Niederlassungsstaat verboten ist, weil er dort für die Allgemeinheit, etwa wegen zu hoher Emissionen, zu gefährlich ist. Besteht die Gefahr nur für die Patienten, dann ist die Frage, ob auch der grenzüberschreitende Betrieb untersagt ist, um Patienten in anderen Staaten zu schützen. Das dürfte in früheren Zeiten eher zu verneinen gewesen sein. Angesichts der internationalen Verflechtungen haben aber heute zumindest die Industriestaaten ein Interesse daran, ihre Leistungen zu exportieren und dies durch die Gewährleistung der eigenen hohen Sicherheitsstandards zu fördern. Im Zweifel ist deshalb davon auszugehen, dass die zum Schutz der inländischen Patienten ausgesprochenen abstrakten Gefährdungsverbote auch bei grenzüberschreitenden Telebehandlungen gelten, was für den Telemediziner keine zusätzliche Belastung bedeutet. Staatliche Interessen richten sich allerdings noch stärker gegen Gefährdungen, die von außen, als gegen solche, die nach außen drohen. Deshalb gelten umgekehrt die Sicherheitsvorschriften zum Schutz von einzelnen Personen normalerweise in dem Territorium, in dem diese Personen sich befinden, und die abstrakte Gefährdung wird von diesem Staat verboten. Dessen Verbot ist dann seinem Sinn nach nicht auf innerstaatliche Handlungen beschränkt, sondern betrifft jedenfalls auch solche, die gezielt von einem ausländischen Staat aus erfolgen24. Sind am Behandlungsort gesetzlich bestimmte Dosisgrenzen vorgeschrieben, die selbst mit Zustimmung des Patienten nicht überschritten werden dürfen, dann gilt das auch dann, wenn sie ihm aus einem anderen Staat telemedizinisch verabreicht werden, und zwar unabhängig vom Vertrags- und Deliktsstatut. Das kann dazu führen, dass sowohl die Sicherheitsvorschriften des Behandlungsstaates als auch die des Niederlassungsstaates eingreifen, sofern letztere nicht ausschließlich auf Inlandsbehandlungen beschränkt sein sollen. Allerdings kann das nur für Normen gelten, die die Sicherheit der Behandlungsmaßnahme selbst betreffen, nicht etwa für solche, die die Lizenzierung und Kontrolle der eingesetzten Geräte betreffen. Erfolgt z. B. die Telebehandlung von einem Nicht-EU-Staat aus, kann nicht verlangt werden, dass die dort eingesetzten Geräte der Kennzeichnung und Überwachung des Medizinproduktegesetzes genügen. Abstrakte Gefährdungsnormen, die das Vertragsstatut und damit das akzessorisch angeknüpfte Deliktsstatut nicht kennt, sind schließlich auch dann nicht anzuwenden, wenn sie allein dem Schutz des Patienten dienen und dieser in die Gefährdung wirksam einwilligen kann. Soweit der Patient über seinen Schutz disponieren kann, kann er das auch mittelbar durch Wahl eines Rechts tun, das ein entsprechendes abstraktes Gefährdungsverbot nicht enthält. Kann etwa zum Zweck des Heilversuchs eine im Inland vorgeschriebene Strahlendosierung über23
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Vgl. Stoll, Verhaltensnormen und Sicherheitsvorschriften, S. 160, 174; Andreas Spickhoff, Gesetzesverstoß und Haftung, Köln u. a. 1998, S. 108. Vgl. OLG Köln, NJW 2004, S. 2684 f. für die grenzüberschreitende Rechtsberatung.
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schritten werden, dann kann sich der Patient ebenso einer nur im Ausland erlaubten Behandlung mit entsprechend erhöhtem Risiko unterwerfen. Soweit die Sicherheitsvorschriften des Niederlassungs- oder Behandlungsortes als ortsgebundene Verhaltensregeln gelten, ist damit noch nicht gesagt, dass sich die Zulässigkeit des nicht abstrakt verbotenen Verhaltens ebenfalls nach diesen Rechten richtet. Denn es kann immer noch gegen die allgemeinen Verhaltenspflichten verstoßen, die das Haftungsstatut aufstellt, um konkrete Gefährdungen zu verhindern25. Auch wenn das Niederlassungsrecht keine Sicherheitsvorschriften enthält, die bestimmte regelmäßige Kontrollen eines Telemedizingerätes vorschreiben, kann deren Unterlassung dennoch die vom strengeren Vertrags- und Deliktsstatut konkret gebotene Sorgfalt verletzen. Enthält umgekehrt das Niederlassungsrecht Sicherheitsvorschriften, die das als Vertragsstatut vereinbarte Recht des Behandlungsortes nicht kennt, kann die Nichtbeachtung nach letzterem gleichwohl als Verletzung der allgemeinen Sorgfaltspflicht eingestuft werden. IV. Standesrechtliche Regelungen Auch bei standesrechtlichen Regelungen stellt sich die Frage der Ortsgebundenheit. Denn diese Regeln gelten nur für die Mitglieder der jeweiligen Standesorganisationen26, in Deutschland also der Ärztekammern, und diese sind territorial begrenzt. Das bedeutet, dass die Standesregeln höchstens für in Deutschland als Telemediziner tätige Ärzte gelten, allerdings auch deren grenzüberschreitende Tätigkeit regeln können. Im Ausland niedergelassene Telemediziner unterliegen den dortigen Standesregeln. Hier sollten für die Haftung dieselben Grundsätze gelten wie bei Sicherheitsvorschriften. Wenn im Niederlassungsstaat ein bestimmtes Verhalten standeswidrig ist, so ist das auch bei abweichendem Vertragsstatut zu berücksichtigen, kann also von diesem nicht verlangt werden. Jedoch wird das im Bereich der Arzthaftung kaum praktisch werden, da es wohl kaum Standesrechte gibt, deren Zweck die Verringerung des Patientenschutzes ist. Realitätsnäher erscheint der umgekehrte Fall, dass das Standesrecht der Niederlassung ein Verhalten nicht verbietet, das vom Standesrecht des Staates untersagt wird, dessen Recht Haftungsstatut ist. Dient diese Standesregel speziell dem Schutz von Körper und Gesundheit der Patienten, bedeutet sie regelmäßig eine Konkretisierung des Sorgfaltsgebots27 und ist deshalb als allgemeine Verhaltensregel zu beachten, selbst wenn das Standesrecht des Telemediziners sie nicht enthält. 25
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Vgl. Stoll, Verhaltensnormen und Sicherheitsvorschriften, S. 160, 175; OLG Düsseldorf, NJW 1980, S. 533. Jochen Taupitz, Die Standesordnungen der freien Berufe, Berlin, New York 1991 (zit. Standesordnungen), S. 1253. Nach Taupitz, Standesordnungen, S. 1277 ff., ist zwar mit der Qualifikation von Standesordnungsvorschriften als Schutzgesetze i. S. d. § 823 II BGB zugunsten von Auftraggebern Zurückhaltung geboten, wenn dadurch eine Haftungserweiterung bewirkt würde. Das schließt jedoch ebenso wenig wie bei den von ihm als Parallele genannten Unfallverhütungsvorschriften, soweit diesen der Schutzgesetzcharakter versagt wird,
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C. Zusammenfassung Der von einem Telemediziner über eine grenzüberschreitende Behandlung abgeschlossene Vertrag unterliegt nach Art. 27 Abs. 1 S. 1 EGBGB primär dem vereinbarten Recht, sonst nach Art. 28 Abs. 2 S. 2 EGBGB in der Regel dem Recht seiner Niederlassung. Hat der Patient selbst den Vertrag aufgrund einer Werbung des Arztes im Staat seines gewöhnlichen Aufenthalts abgeschlossen, so ist nach Art. 29 EGBGB das dort geltende Recht Vertragsstatut oder es sind jedenfalls dessen zwingende Schutzvorschriften anzuwenden. Dem Vertragsstatut unterliegt nicht nur die vertragliche, sondern nach Art. 41 EGBGB aufgrund akzessorischer Anknüpfung auch die deliktische Haftung. Ist das Vertrags- und Deliktsstatut nicht das der ärztlichen Niederlassung, fragt es sich, ob die dort geltenden Verhaltensregeln nicht gleichwohl als sog. ortsgebundene Verhaltensnormen zu berücksichtigen sind. Das ist für die allgemeinen Sorgfaltspflichten zu verneinen; denn der Arzt wird durch sie – anders als bei Regeln des Straßenverkehrs – nicht zu einem Verhalten gezwungen, das mit seinen Pflichten am Niederlassungsort kollidiert, und es ist für ihn nicht unzumutbar, andere oder strengere Sorgfaltsanforderungen zu erfüllen, wenn der Vertrag und damit auch die diesem entspringenden Pflichten einem anderen Recht unterliegen. Ebenso wenig ist die ärztliche Aufklärungspflicht eine an den Behandlungsort des Patienten gebundene Regel, sondern sie kann einem anderen Recht unterstellt werden, und zwar auch dadurch, dass der Behandlungsvertrag einem anderen Recht unterliegt. Spezielle Sicherheitsvorschriften, insbesondere solche, die für medizinische Geräte gelten, können ortsgebundene Verhaltensnormen sein. Verbote, die den Betrieb am Niederlassungsort zum Schutz der Allgemeinheit untersagen, gelten unabhängig vom Haftungsstatut. Sollen sie nur den Patienten schützen, sind sie zu beachten, wenn sie auch den Schutz im Ausland befindlicher Patienten bezwecken, was im Zweifel anzunehmen ist, wenn sich daraus für den Telemediziner kein zusätzlicher Aufwand ergibt. Die abstrakten Sicherheitsvorschriften des Behandlungsortes gelten unabhängig vom Vertrags- und Deliktsstatut nur, soweit sie direkt die Behandlung selbst betreffen und das untersagte Risiko auch mit Zustimmung des Patienten nicht eingegangen werden darf. Standesregeln gelten als solche nur im Niederlassungsstaat des Arztes. Untersagt aber das Standesrecht des Staates, dessen Recht für die vertragliche und deliktische Haftung gilt, zum Schutz von Patienten ein bestimmtes Verhalten, so stellt der Verstoß eine Verletzung des allgemeinen Sorgfaltsgebots dar, auch wenn das Niederlassungsrecht des Arztes kein solches standesrechtliches Verbot enthält.
aus, dass der Verstoß die Verletzung einer Sorgfaltspflicht bedeutet; vgl. RGZ 48, S. 327, 332; RGZ 95, S. 238, 240; BGH, VersR 1961, S. 160, 161.
Die Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sowie Arzneimitteln nach dem SGB V – Rechtliche Bindung und gerichtliche Kontrolle Robert Francke
A. Einführung Der neunte Abschnitt des Leistungserbringungsrechts nach dem SGB V (Viertes Kapitel) bestimmt in den §§ 135 ff.1 Regelungen zur „Sicherung der Qualität der Leistungserbringung“. Ein wesentliches Kernstück dieser Normen ist die Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (UBM) nach §§ 135 Abs. 1 und 137c Abs. 1 mit der Rechtsfolge des Ein- oder Ausschlusses einer Leistung aus der Versorgung. In anderen Abschnitten des Leistungserbringungsrechts finden sich Regelungen über die Bewertung von Arzneimitteln (AM). Gemeinsam ist diesen und anderen Bestimmungen, dass stets die medizinische Qualität und häufig auch die Wirtschaftlichkeit zu bewerten sind. Damit wird das Ziel verfolgt, beide auf ein optimales Niveau zu heben, Leistungsumfang und Leistungserbringung zu rationalisieren. Leistungen werden aus der Versorgung gedrängt, die dem medizinischen Standard nicht entsprechen oder die eine ungenügende Kosteneffektivität aufweisen. Die Grenze zwischen Rationalisierung und Rationierung verläuft entlang dem medizinischen Standard. Rationierung begrenzt die Geltung des medizinischen Standards2 und schließt medizinisch standardgemäße, im Einzelfall indizierte Leistungen – in der Regel aus Wirtschaftlichkeitserwägungen – aus. Sind zu den ausgeschlossenen Leistungen medizinisch gleichwertige oder bessere Behandlungsalternativen verfügbar, liegt womöglich Rationalisierung, nicht jedoch Rationierung vor. Gegenstand der folgenden Untersuchung ist es, die Kriterien, die rechtliche Bindung und die gerichtliche Kontrolle der Bewertungsentscheidungen von UBM und AM durch die Organe der gemeinsamen Selbstverwaltung nach dem SGB V zu zeigen. Das Erkenntnisinteresse bezieht sich einerseits auf die Grenzziehung zwischen Rationalisierung und Rationierung und andererseits auf Umfang und Effektivität gerichtlicher Kontrolle.
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§§ ohne Gesetzesangabe bezeichnen solche des SGB V. Zum medizinischen und rechtlichen Standard: Dieter Hart, Heilversuch, Entwicklung therapeutischer Strategien, klinische Prüfung und Humanexperiment, in: MedR 1994, S. 94, 95; Dieter Hart, Ärztliche Leitlinien – Definitionen, Funktionen, rechtliche Bewertungen, in: MedR 1998, S. 8, 9 f.
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B. Drei Gruppen von Ermächtigungen der Bewertung Die verschiedenen Ermächtigungen, die das Gesetz für die Bewertung von UBM und von AM vorsieht, lassen sich nach Gegenstand und Rechtsfolgen weitgehend drei Gruppen zuordnen. Die Ermächtigungen richten sich an den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA).3 I. Zulassung und Ausschluss von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden Die Zulassung von UBM zur und ihr Ausschluss aus der Versorgung erfolgen durch Entscheidungen des G-BA in seiner jeweils für die vertragsärztliche, die Krankenhaus- oder die sektorübergreifende Versorgung maßgeblichen Zusammensetzung. Im Einzelnen handelt es sich um folgende gesetzliche Tatbestände: (1) Nach § 92 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m § 135 Abs. 1 S. 1 werden durch Richtlinien neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden zur vertragsärztlichen Versorgung zugelassen, wenn der diagnostische und therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit auch im Vergleich zu bereits erbrachten Behandlungen nach dem Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse nachgewiesen ist. Nach § 135 Abs. 1 S. 2 können nach denselben Maßstäben vorhandene Methoden aus der vertragsärztlichen Versorgung ausgeschlossen werden. (2) Nach § 137c Abs. 1 können durch Richtlinien aus der Krankenhausversorgung Untersuchungs- und Behandlungsmethoden ausgeschlossen werden, die für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse nicht erforderlich sind. (3) Nach § 92 Abs. 1 S. 1 HS 3 kann der G-BA die Erbringung und Verordnung von Leistungen oder Maßnahmen einschränken oder ausschließen, wenn nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse der diagnostische oder therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen sind. II. Bildung von Festbetragsgruppen In einer weiteren Gruppe von Entscheidungen erfolgt die Bewertung von AM durch Zuordnung zu Festbetragsgruppen nach § 35 Abs. 1 S. 1. Eine besondere 3
Dem G-BA werden durch das GMG zusätzliche Entscheidungskompetenzen verliehen, so dass er nunmehr eine umfassende Kompetenz zur Bewertung von UBM und AM besitzt; Rainer Hess, in: Klaus Niesel (Hrsg.), Kasseler Kommentar, § 12 Rdnr. 4a (August 2004).
Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden sowie Arzneimitteln
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Entscheidung ist nach § 35 Abs. 1 S. 3 HS 2, Abs. 1a S. 2 zu treffen. Danach sind patentgeschützte AM als neuartige aus der Festbetragsgruppenbildung auszunehmen, wenn eine therapeutische Verbesserung, auch wegen geringerer Nebenwirkungen gegeben ist. III. Bewertungen von Arzneimitteln Bewertende Informationen über Arzneimittel mit dem Ziel der influenzierenden Steuerung des Verordnungsverhaltens der Vertragsärzte erfolgen aufgrund unterschiedlicher Entscheidungen verschiedener Akteure: (1) Nach § 92 Abs. 2 S. 3 und 4 können Arzneimittel durch den G-BA im Rahmen einer Preisvergleichsliste nach ihrem therapeutischen Nutzen auch im Verhältnis zum Apothekenabgabepreis und damit zur Wirtschaftlichkeit bewertet werden. (2) Durch Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Nr. 6, Abs. 2 ergehen bewertende Regelungen über die Arzneimittelverordnung in der vertragsärztlichen Versorgung. (3) Nach § 84 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 vereinbaren die Parteien der Arzneimittelvereinbarung Versorgungs- und Wirtschaftlichkeitsziele, sie berücksichtigen dabei (u.a.) den wirtschaftlichen und qualitätsgesicherten Einsatz innovativer Arzneimittel (Abs. 2 Nr. 5) und die indikationsbezogene Notwendigkeit und Qualität der Arzneimittelverordnung (Abs. 2 Nr. 6). (4) § 73 Abs. 84 ermächtigt und verpflichtet die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Kassenärztlichen Bundesvereinigungen sowie die Krankenkassen und ihre Verbände, die Vertragsärzte zur Sicherung der wirtschaftlichen Verordnungsweise zu informieren. (5) § 305a ermächtigt die Krankenkassen, die Vertragsärzte auf der Grundlage von Verordnungsdaten über die Wirtschaftlichkeit verordneter und veranlasster Leistungen zu beraten. (6) Das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) bewertet nach § 35b Abs. 1, § 139a Abs. 3 Nr. 5 bei Beauftragung durch den GBA und für den G-BA den Nutzen von Arzneimitteln.5 (7) § 106 Abs. 5 S. 2 verpflichtet zur gezielten Beratung des unwirtschaftlich handelnden Vertragsarztes vor andersartigen Sanktionen. 4
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Zu den rechtlichen Problemen (eines früheren Entwurfs): Gunther Schwerdtfeger, Arzneimittelbewertungen, Therapieempfehlungen, Arzneimittellisten im Selbstverwaltungsbereich der KBV, KVen und Vertragsärzte?, in: Pharma Recht 1997, S. 368 ff. Das Institut bewertet nach § 139a Abs. 3 Nr. 1 und 2 auch UBM und Versorgungsstrukturen.
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C. Die Tatbestandsseite der Ermächtigungen I. Zwei strukturelle Differenzierungen Die gesetzlichen Tatbestände unterscheiden sich meist nach ihrer Geltung für die vertrags-ärztliche Versorgung oder die Krankenhausversorgung. Und die Ermächtigungen erstrecken sich in der Regel entweder auf UBM oder auf AM, nur selten auf beide. Die Unterscheidung ist vor allem für das präventive Verbot mit Erlaubnisvorbehalt des § 135 Abs. 1 S. 1 von Bedeutung: es gilt nur für Untersuchungsund Behandlungsmethoden, nicht aber für Arzneimittel.6 II. Die Tatbestände der gesetzlichen Ermächtigungen 1. Zulassung und Ausschluss von UBM Nach § 135 Abs. 1 ist durch den G-BA der diagnostische und therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit und die Wirtschaftlichkeit der neuen wie der bereits in den Leistungskatalog aufgenommenen Methode zu prüfen, auch im Vergleich zu vorhandenen UBM. Nach § 137c Abs. 1 S. 1 prüft der Ausschuss eine Methode darauf, ob sie für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse erforderlich ist. Nach § 92 Abs. 1 S. 1 HS 3 kann der G-BA Leistungen und Verordnungen ausschließen, wenn nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse der diagnostische oder therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit oder die Wirtschaftlichkeit nicht nachgewiesen sind.7 2. Festbetragsgruppenbildung Die Regelung über die Festbetragsgruppenbildung8 nach § 35 Abs. 1 S. 2 bestimmt, dass die Gruppenbildung nach S. 1 (Wirkstoffidentität, therapeutisch vergleichbare Wirkstoffe, therapeutisch vergleichbare Wirkung der Wirkstoffe) gewährleisten muss, dass Therapiemöglichkeiten nicht eingeschränkt werden und medizinisch notwendige Verordnungsalternativen zur Verfügung stehen. Nach § 35 Abs. 1 S. 3 HS 2 und S. 4 findet die Einordnung von patentgeschützten Arzneimitteln in eine Festbetragsgruppe nicht statt, wenn der Wirkstoff patentge-
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BSGE 86, S. 54, 59 f.; 89, S. 184, 185 mit der Begründung, dass dem AMG „Mindeststandards einer wirtschaftlichen und zweckmäßigen Arzneimittelversorgung im Sinne des Krankenversicherungsrechts“ geprüft werden. Rainer Hess, Perspektiven des Gemeinsamen Bundesausschusses, in: Sozialer Fortschritt 2004, S. 235, 237. Bruno Müller-Oerlinghausen, Arzneimittel-Festbeträge in der Diskussion, in: KrV 2004, S. 244 ff.
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schützt, in seiner Wirkungsweise neuartig ist und eine therapeutische Verbesserung vorliegt, die auch wegen geringerer Nebenwirkungen gegeben sein kann. 3. Informationsrechtliche Instrumente Von den informationsrechtlichen Arzneimittelsteuerungsinstrumenten9 ist zunächst auf die auch durch den G-BA vorzunehmende Bewertung im Rahmen der erweiterten Preisvergleichliste hinzuweisen. Nach § 92 Abs. 2 S. 3 soll die Liste, um dem Arzt eine therapie- und preisgerechte Auswahl der Arzneimittel zu ermöglichen, zu den einzelnen Indikationsgebieten Hinweise aufnehmen, aus denen sich für Arzneimittel mit pharmakologisch vergleichbaren Wirkstoffen oder therapeutisch vergleichbarer Wirkung eine Bewertung des therapeutischen Nutzens auch im Verhältnis zum jeweiligen Apothekenabgabepreis und damit zur Wirtschaftlichkeit der Verordnung ergibt. Nach § 73 Abs. 8 haben die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Krankenkassen und ihre Verbände die Vertragsärzte auch vergleichend zu informieren über preisgünstige verordnungsfähige Leistungen, einschließlich der jeweiligen Preise und Entgelte, und sie haben Hinweise zu geben nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu Indikation und therapeutischem Nutzen. 4. Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen Nach § 139a Abs. 3 Nr. 1 untersucht das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) den aktuellen medizinischen Wissensstand zu diagnostischen und therapeutischen Verfahren ausgewählter Krankheiten, nach Nr. 2 erstellt es Gutachten zu Fragen der Qualität und Wirtschaftlichkeit der in der GKV erbrachten Leistungen. Das IQWiG bewertet nach §§ 35b, 139a Abs. 3 Nr. 5 den Nutzen von Arzneimitteln. Nutzenbewertungen können für jedes erstmals verordnungsfähige Arzneimittel mit patentgeschützten Wirkstoffen sowie für jede anderen Arzneimittel, die von Bedeutung sind, erstellt werden. Die Nutzenbewertungen werden dem G-BA als Empfehlung zur Beschlussfassung nach § 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 zugeleitet. Das maßgebliche Beschlussorgan ist der G-BA, welchem der Richtlinienerlass obliegt, dem IQWiG kommt hingegen keine Kompetenz zur Normsetzung zu.10
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Robert Francke, Rechtliche Bewertung der neuen Steuerungsinstrumente am Beispiel der Arzneimittelversorgung und ihre Auswirkungen auf die Therapiefreiheit des Arztes, in: VSSR 2002, S. 288, 305. Herbert Posser, Rolf-Georg Müller, Arzneimittelmarkt 2004 – EuGH, Nutzenbewertung und Leistungsausschlüsse, in: NZS 2004, S. 247, 249, stehen den Kompetenzen des IQWiG generell kritisch gegenüber.
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D. Medizinischer Nutzen, medizinische Notwendigkeit, Wirtschaftlichkeit I. Trias der Kriterien Die gesetzlichen Tatbestände, die zur Bewertung von UBM und AM ermächtigen, sind im Kontext und als Konkretisierungen der grundlegenden leistungsrechtlichen Voraussetzungen nach dem SGB V zu sehen. Das medizinische Maß wird durch die allgemeinen leistungsrechtlichen Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 S. 3 bestimmt: Danach müssen Qualität und Wirksamkeit von Maßnahmen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse, das heißt dem medizinischen Standard entsprechen.11 Der Heilversuch wird von der Leistungspflicht der GKV nicht umfasst.12 Davon gibt es eng begrenzte Ausnahmen aufgrund besonderer gesetzlicher Regelungen.13 Standardgemäße Leistungen sind zugleich zweckmäßig i.S. des § 12 Abs. 1 S. 1.14 Das wirtschaftliche Maß wird durch die übrigen Voraussetzungen des § 12 Abs. 1 bestimmt. Die Leistungen müssen notwendig, ausreichend und wirtschaftlich i.e.S. sein.15 In den Allgemeinen Vorschriften des Ersten Kapitels des Gesetzes findet sich eine zwei-gliedrige Kriterienstruktur für das Grundmaß der medizinischen Leistungen der GKV: Qualität und Wirtschaftlichkeit. Bei näherem Hinsehen differenzieren sich diese aus. Die Kriterien für die Bewertung von UBM und AM in den hier untersuchten Vorschriften lassen sich zu drei Kriterien für die Bewertung von UBM und AM zusammenfassen und typisieren:16 (1) Diagnostischer oder therapeutischer Nutzen, (2) medizinische Notwendigkeit und (3) Wirtschaftlichkeit. Nicht stets ist die Wirtschaftlichkeit auch Bewertungsdimension.
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BSGE 76, S. 194, 199; 81, S. 54, 68. Das war anders unter der Geltung der RVO aufgrund der Rechtsprechung des BSG zu Außenseitermethoden; Andreas Schmidt-Rögnitz, Die Gewährung von alternativen sowie neuen Behandlungs- und Heilmethoden durch die gesetzliche Krankenversicherung, Berlin, 1996, S. 98 ff. mit Nachweis der Rspr. Insbesondere: § 137c Abs. 2 S. 2 HS 2 i.d.F. des GMG (Behandlung in klinischen Studien). Zum Zusammenhang von allgemein anerkanntem Stand der medizinischen Erkenntnisse und Zweckmäßigkeit: Korbinian Höfler, in: Kasseler Kommentar zu Sozialversicherungsrecht, München, § 12 Rdnr. 23 ff. (April 2002). Zur Auslegung dieser Tatbestandsmerkmale: Höfler, in: Kasseler Kommentar, § 12 Rdnr. 20 ff. (April 2002). Diese Kategorien nimmt auch § 91 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 auf: Ermächtigung zum Erlass einer Verfahrensordnung des G-BA zur Bewertung des Nutzens, der Notwendigkeit und der Wirtschaftlichkeit.
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II. Konkretisierung der Kriterien Der Wortlaut des Gesetzes ist wenig einheitlich, häufig aus den unterschiedlichen professionellen Traditionen gespeist, die in der Ministerialverwaltung die Gesetzgebungsarbeit vorbereiten, und oft durch nur sehr knappe Begründungen erläutert. Das erschwert die Auslegung mit dem rechtswissenschaftlichen Methodenkanon erheblich. Der Analyse des Norm- und Sachbereichs kommt daher besondere Bedeutung zu, so dass die rechtswissenschaftliche Arbeit auf gesundheits- und medizinwissenschaftliche Erkenntnisse angewiesen ist, aus denen oftmals die Begrifflichkeit entlehnt wurde und die die Folgen von Auslegungsalternativen erst sichtbar machen. Die rechtswissenschaftliche Arbeit kann dabei auf die wissenschaftliche Entwicklung der Evaluation der medizinischen Verfahren und Praxis in Deutschland während der vergangenen gut zehn Jahre zurückgreifen, die mit den Stichworten Evidenzbasierung17 und Health Technology Assessment (HTA)18 knapp skizziert ist. Mit Rücksicht auf die methodischen Schwierigkeiten kommt der Konkretisierung durch die normsetzenden Instanzen der gemeinsamen Selbstverwaltung besondere Bedeutung zu. Sie entwickeln aus der Kenntnis der praktischen Probleme, Erfordernisse und Alternativen einen Vorschlag für die Norminterpretation und -konkretisierung, der dem rechtlichen Diskurs von Behörden und Verbänden, Gerichtsbarkeit und Wissenschaft als Diskussionsvorlage dient. Dabei kommt dem G-BA und seinen Rechtsvorgängern19 eine herausgehobene Bedeutung zu: Der G-BA vereinigt weitgehend20 die maßgeblichen Interessen der Beteiligten, so dass bereits hier unterschiedliche Sichtweisen zusammengefügt und in die Erstvorschläge der Norminterpretation eingehen können, und der G-BA verfügt über eine administrative Ausstattung, die die anstehende rechtliche Systematisierungsarbeit vorantreiben kann. Daher sind die Richtlinie des G-BA für die Entscheidungen in der vertragsärztlichen Versorgung21 und die Richtlinie für den Krankenhausbe17
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Grundlegend: David. L Sackett, W. Scott Richardson, William Rosenberg, R. Brian Haynes, Evidenzbasierte Medizin, Germering bei München, 1999; Matthias Perleth, Evidenzbasierte Entscheidungsunterstützung im Gesundheitswesen, Berlin, 2003; Gerd Antes, Dirk Bassler, Johannes Forster (Hrsg.), Evidenz-basierte Medizin, Stuttgart, 2003. Das Deutsche Netzwerk Evidenzbasierte Medizin feiert vom 03.-05. 05. 2005 sein 10-jähriges Bestehen mit einem besonderen Kongress in Berlin. Dieter Hart, Health Technology Assessment (HTA) und gesundheitsrechtliche Regulierung, in: MedR 2001, S. 1 ff.; ders. Der regulatorische Rahmen der Nutzenbewertung, in: MedR 2004, S. 469 ff. Bundesausschuss der (Zahn)Ärzte und Krankenkassen, Ausschuss Krankenhaus, Koordinierungsausschuss. Defizite bestehen hinsichtlich der nichtärztlichen Leistungserbringer, medizinischen Hilfsberufe, pharmazeutischen Unternehmen und Apotheker, die im G-BA nicht vertreten, allerdings mit unterschiedlichen Anhörungsrechten nach § 92 SGB V ausgestattet und insoweit beteiligt sind. Richtlinie des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen zur Bewertung medizinischer Untersuchungs- und Behandlungsmethoden gemäß § 135 Abs. 1 SGB V
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reich,22 einzelne Entscheidungen über die Zulassung von neuen UBM für die vertragsärztliche Versorgung,23 über den Ausschluss von UBM aus der Krankenhausversorgung,24 über die Arzneimittel-Richtlinien sowie über die Bildung von Festbetragsgruppen25 im Folgenden das Material, das neben Gesetzestext, Entstehungsgeschichte sowie Norm- und Sachbereichsanalyse die maßgeblichen Grundlagen für die rechtswissenschaftliche Bearbeitung abgeben.26 III. Nutzen 1. Wirksamkeit und Nutzen, die inhaltliche Konkretisierung Der Nutzen beschreibt die zentrale medizinische Dimension einer UBM oder eines AM. Er beschreibt die Wirkungen, die bei dem Patienten durch die Intervention hinsichtlich ihres medizinisch erwünschten Erfolges erzeugt werden.27 Nutzen wird synonym oder komplementär mit Wirksamkeit verwendet.28 Der Unterschied wird gesundheitswissenschaftlich darin gesehen, dass Wirksamkeit die Wirkungen in Bezug auf ein definiertes medizinisches Ziel beschreibt, das häufig klinisch-
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(BUB-Richtlinie) in der Fassung vom 01. 12. 2003, veröffentlicht im Bundesanzeiger Nr. 57 (S. 5678) vom 23. 03. 2004, in Kraft getreten am 24. 03. 2004. Verfahrensregeln zur Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Krankenhaus gemäß § 137c SGB vom 28. 01. 2002. Aussagekräftig: G-BA, Magnetresonanz-Tomographie der weiblichen Brust (MRM). Zusammenfassender Bericht des Arbeitsausschusses „Ärztliche Behandlung“ des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Beratungen gemäß § 135 Abs. 1 SGB V vom 18. 10. 2001 (MRM-Bericht). Zuletzt: G-BA, Abschlussbericht nach § 91 Abs. 7 SGB V „Krankenhausbehandlung“ Methode: Protonentherapie Indikation: Chordome und Chondrosarkome der Schädelbasis, laut Bekanntmachung im BAnz. Nr. 169, S. 20045 vom 08. 09. 2004 und BAnz Nr. 173, S. 20313 vom 14. 09. 2004. Aktuell im rechtlichen Streit befinden sich Definition und Anwendung von: G-BA, Entscheidungsgrundlagen der Festbetragsgruppenbildung nach § 35 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB V und der Konkretisierung des Ausnahmetatbestandes nach § 35 Abs. 1 S. 3 2. HS SGB V zur Gruppenbildung unter Einbeziehung von Arzneimitteln mit patentgeschützten Wirkstoffen nach § 35 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 i. V. m. § 35 Abs. 1 S. 3 und Abs. 1a SGB V vom 15. 06. 2004. Die nach § 91 Abs. 3 S. 1 Nr. 1 durch autonome Satzung zu erlassende Verfahrensordnung, in der insbesondere „methodische Anforderungen an die wissenschaftliche […] Bewertung des Nutzens, der Notwendigkeit und der Wirtschaftlichkeit von Maßnahmen als Grundlage für Beschlüsse“ geregelt werden müssen, wird für Anfang des Jahres 2005 erwartet. Sie wird insoweit auf den Vorarbeiten durch die BUB-Richtlinie aufbauen (können). Vgl. etwa Friedrich W. Schwartz, Ulla Walter, Prävention, in: Friedrich W. Schwartz, Bernhard Badura, Reinhard Busse u. a. (Hrsg.), Das Public Health Buch, 1998, S. 151, 153. Robert Francke, in: Georg Wannagat (Hrsg.), Kommentar zum Sozialgesetzbuch, § 135 SGB V Rdnr. 15 (Mai 2000).
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experimentell definiert ist.29 Der Verwendungszusammenhang ist typischerweise die Studie. Der Nutzen dagegen soll auf die alltäglichen Bedingungen der Versorgung abstellen und demgemäß ein durchschnittliches Patientenkollektiv berücksichtigen und Dimensionen für die Wirkungsbeschreibung (Zweck-MittelRelation) verwenden, die sich in der medizinischen Wahrnehmung des Patienten wiederfinden.30 In den BUB-Richtlinien des G-BA heißt es zum Nutzen:31 „Die Überprüfung des Nutzens einer Methode erfolgt insbesondere auf der Basis von Unterlagen: a) zum Nachweis der Wirksamkeit bei den beanspruchten Indikationen, b) zum Nachweis der therapeutischen Konsequenz einer diagnostischen Methode, c) zur Abwägung des Nutzens gegen die Risiken, d) zur Bewertung der erwünschten und unerwünschten Folgen (outcomes) und e) zum Nutzen im Vergleich zu anderen Methoden gleicher Zielsetzung.“
In der Entscheidung zur Bildung von Festbetragsgruppen nach § 35 Abs. 1 S. 3 HS 2, Abs. 1a S. 232 verlangt der G-BA: „Zum Nachweis der therapeutischen Überlegenheit eines Wirkstoffes müssen sogenannte Endpunktstudien vorgelegt werden, die eine signifikante Verringerung der Krankenlast und Sterblichkeit innerhalb der repräsentativen Bevölkerungsgruppe belegen.“33
2. Anforderungen an den Nachweis Das BSG hat für seine eigenen Entscheidungen, also für den Ausnahmefall, dass es bei Systemversagen an der Stelle des G-BA die medizinische Fachfrage zu entscheiden hat, als Nachweisniveau zunächst verlangt:34 „Eine Behandlungsmethode gehört deshalb erst dann zum Leistungsumfang der gesetzlichen KV, wenn die Erprobung abgeschlossen ist und über Qualität und Wirksamkeit der neuen Methode zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Das setzt einen Erfolg der Behandlungsmethode in einer für die sichere 29
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Wolfgang Seger, Zwischen Befund und Befindlichkeit, Individuum und Gesellschaft: Die sozialmedizinische Begutachtung, in: Schwartz u. a., Das Public Health Buch, 1998, S. 370, 375. Wirksamkeit in jenem engen Sinne weist beispielsweise die Veränderung von Blutfettwerten in einem als wünschenswert definierten Sinne bei Studienpatienten nach. Nutzen dagegen zeigt Lebenszeitverlängerung oder – möglichst präzise zu definierende – Lebensqualitätverbesserung bei typischerweise multimorbiden Patienten, die u. U. noch in unterschiedliche Untergruppen zerfallen. § 8 Abs. 2 Nr. 1 BUB-Richtlinie. Pressemitteilung des G-BA v. 15. 06. 2004 „Gemeinsamer Bundesausschuss beschließt erste Festbetragsgruppen unter Einbeziehung patentgeschützter Arzneimittel“, S. 2. Pressemitteilung des G-BA v. 15. 06. 2004, S. 2. BSGE 76, S. 194, 199.
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Robert Francke Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen voraus. Dabei muß sich der Erfolg aus wissenschaftlich einwandfrei geführten Statistiken über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der neuen Methode ablesen lassen.“
Später hat das BSG35 für die Fälle, in denen der Wirksamkeitsnachweis neuer UBM auf methodische Schwierigkeiten stößt, betont: Erforderlichkeit beschreibt „die Prüfung, ob der neuen Methode in der medizinischen Fachdiskussion bereits ein solches Gewicht zukommt, daß eine Überprüfung und Entscheidung durch den Bundesausschuß veranlaßt gewesen wäre. Das richtet sich nicht nach medizinischen Kriterien (Wirksamkeit, Plausibilität, Erfolg im Einzelfall usw), sondern nach der tatsächlichen Verbreitung in der Praxis und in der fachlichen Diskussion.“
Für die Beurteilung neuer UBM anerkennt der G-BA in § 7 Abs. 7, § 9 BUBRichtlinie unterschiedliche Evidenzniveaus und verlangt die bestverfügbare Evidenz. Bei der Festbetragsgruppenbildung nach § 35 Abs. 1 S. 3 HS 2, Abs. 1a S. 2 verlangt der G-BA: „Dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht eine therapeutische Verbesserung, wenn sie von der großen Mehrheit der einschlägigen Fachleute (Ärzte, Wissenschaftler) befürwortet wird. Von einzelnen, nicht ins Gewicht fallenden Gegenstimmen abgesehen, muss über die Zweckmäßigkeit der therapeutischen Verbesserung Konsens bestehen. Das setzt im Regelfall voraus, dass über Qualität und Wirksamkeit der therapeutischen Verbesserung zuverlässige, wissenschaftlich nachprüfbare Aussagen gemacht werden können. Die therapeutische Verbesserung muss in einer für die sichere Beurteilung ausreichenden Zahl von Behandlungsfällen erfolgreich gewesen sein. Der Erfolg muss sich aus wissenschaftlich einwandfrei geführten Statistiken über die Zahl der behandelten Fälle und die Wirksamkeit der therapeutischen Verbesserung ablesen lassen.“36
3. Nutzen, Zusatznutzen, Nebenwirkungen. a) Vergleich zu vorhandenen Methoden. § 135 Abs. 1 S. 1 verlangt, dass der Nutzen auch im Vergleich zu vorhandenen UBM bewertet wird. Danach wird verlangt, dass eine Untersuchungs- und Behandlungsmethode, die in der NutzenRisiko-Bilanz keinen Unterschied zu den vorhandenen aufweist, aus medizinischen Gründen mindestens das Niveau der vorhandenen erreichen muss. Das bedeutet, dass mindestens der medizinische Standard erreicht werden muss. Die Eindeutigkeit dieser Aussage verliert sich häufig dadurch, dass die Risiko-NutzenBilanz nach Patientensubgruppen zu differenzieren ist, namentlich bei Arzneimitteln. In der Praxis lässt es der G-BA für den Nutzen einer Behandlung nicht ausreichend sein, dass eine Eignung besteht, den angestrebten Erfolg zu errei35 36
BSGE 81, S. 54, 68. G-BA, B. v. 15. 06. 2004 zu § 35 Abs. 1 S. 3, Abs. 1a – Entscheidungsgrundlagen der Festbetragsgruppenbildung, S. 8. Der G-BA übernimmt damit für seine eigenen Entscheidungen die Kriterien des BSG: BSGE 76, S. 194, 199; 81, S. 54, 70 f.
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chen.37 Dieser Finalzusammenhang wird vielmehr vorausgesetzt; hinzukommen muss ein Zusatzeffekt in positiver Hinsicht im Vergleich zu den vorhandenen Behandlungsmethoden. Das bedeutet, dass der Ausschuss durch seine Konkretisierung des Nutzens eine weitere Hürde aufstellt, die neue – und auch bereits zugelassene – Untersuchungs- und Behandlungsmethoden nur dann passieren können, wenn sie hinsichtlich des Behandlungszieles ein „Mehr“ als die bisherigen Therapieformen aufweisen. Es genügt also nicht, dass die untersuchten Methoden etwa einen anderen Wirkmechanismus aufweisen als die Konkurrenzmethoden, die bereits zugelassen sind. Sie müssen zusätzlich einen Gewinn für die Behandlung bringen, entweder in Form eines additiven oder eines substitutiven Nutzens. Die Forderung nach einem höheren Nutzen neuer Produkte findet ihre Rechtfertigung darin, dass neue Methoden in der Praxis regelmäßig höhere Kosten mit sich bringen. Systematisch zwingend ist das indes nicht. Fehlt es an den höheren Kosten, dann ist mit Rücksicht auf die berufsgrundrechtlichen Freiheiten der Leistungserbringer und die Wahlrechte der Versicherten in der GKV der Zugang bei mindestens gleicher Nutzen-Risiko-Bilanz eröffnet. b) Nutzen und Nebenwirkungen. Die therapeutische Verbesserung, auch wegen geringer Nebenwirkungen durch patentgeschützte AM nach § 35 Abs. 1 S. 3 HS 2, Abs. 1a S. 2 prüft der G-BA wie folgt: „Ein Arzneimittel […] zeigt […] eine therapeutische Verbesserung i. S. des § 35 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 1a Satz 2 SGB V, wenn […] ein Zusatznutzen mit einem therapeutisch relevanten Ausmaß […] besteht. (Hervorhebung nicht im Orig.) Eine therapeutische Verbesserung kann sich insbesondere daraus ergeben, dass a) das Arzneimittel eine überlegene Wirksamkeit gegenüber Standardmitteln in der Vergleichsgruppe nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zeigt, b) das Arzneimittel über besondere Leistungsmerkmale verfügt. Geringere Nebenwirkung i. S. des § 35 Abs. 1 Satz 3 und Abs. 1a SGB V kann im Vergleich zu den anderen Wirkstoffen der Vergleichsgruppe der Wegfall oder die erhebliche Verringerung des Häufigkeitsgrades einer schwerwiegenden Nebenwirkung sein.“38
Der Wortlaut des Gesetzes bestimmt in § 35 Abs. 1 S. 3 HS 3, dass „eine therapeutische Verbesserung, auch wegen geringerer Nebenwirkungen“ gegeben sein kann. Der G-BA verengt also die Kriterien und hebt die Anforderungen für die materielle Seite bei der Festbetragsgruppenbildung an. Soweit ersichtlich wird eine Begründung für diese Gesetzesauslegung nicht mitgeteilt.
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Beispielhaft: G-BA, MRM-Bericht, S. 26. G-BA, B. v. 15. 06. 2004 zu § 35 Abs. 1 S. 3, Abs. 1a – Entscheidungsgrundlagen der Festbetragsgruppenbildung, S. 7; eine Änderung („therapierelevante Senkung der Nebenwirkungen“) sei beabsichtigt, so Rainer Hess, Gespräch mit der F.A.Z. v. 21. 12. 2004 (Nr. 298), S. 12.
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c) Fallbeispiel: Festbetragsgruppenbildung für patentgeschützte Statine. Die Folgen dieser Gesetzeskonkretisierung erschließen sich durch fallgruppenbezogene Konkretisierungen. Eine solche bildet die Festbetragsgruppenbildung vom 15. 06. 2004 zur Einbeziehung patentgeschützter AM. Umstritten war und ist hier vor allem die Einbeziehung einzelner neuerer Statine, die für sich in Anspruch nehmen, bei Endpunktverbesserungen (weniger Herzinfarkte und Schlaganfälle nach kürzerer Einnahmezeit) höhere Anteile und diese schneller zu erreichen. Darüber hinaus nehmen sie in Anspruch, den Anteil spezifischer Nebenwirkungen, die die Einnahme von Statinen bei einer Subgruppe von Patienten bewirkt, in höherem Maße ausschließen zu können. Die zugänglichen Informationen über die Begründung des G-BA zu dieser Entscheidung39 lassen die Annahme zu, dass die Gründe für die Gleichbehandlung mit den vorhandenen, teils generisch am Markt verfügbaren Statinen sich einerseits auf die methodische Qualität des Nachweises, also die Evidenz, und zum anderen auf die Bildung der materiellen Kriterien, namentlich den Nutzen und womöglich die Notwendigkeit beziehen. Soweit Entscheidungsgründe aus der Evidenz, also der methodischen Qualität eines Wirksamkeits- oder Nutzennachweises, folgen, müssen sie durch Zuordnung der Studien zu Evidenzstufen und, soweit gegeben, durch biometrische und statistische methodische Einwände gegen die Studienqualität belegt werden.40 Insoweit stehen Fragen der Beweiswürdigung im Verwaltungs- und Normsetzungsverfahren zur Debatte. Soweit die Begründung aus der Anerkennung oder Nichtanerkennung von Nutzendimensionen, einschließlich geringerer Nebenwirkungen, erfolgt, die der G-BA für hinreichend sicher belegt (bewiesen) hält, so bedarf es einer sachgerechten Konkretisierung der gesetzlichen Kriterien und einer zutreffenden Subsumtion, um zu einer rechtmäßigen Entscheidung zu gelangen. Klärungsbedürftig wird dabei sein, wie weit aus dem Normsetzungsermessen und aus der Aufgabe, eine medizinische Fachfrage zu entscheiden, Entscheidungsspielräume erwachsen. Bemerkenswert ist, dass bei der Festbetragsgruppenbildung die Rechtsfolge keinen medizinischen Entscheidungsspielraum belässt. Liegen die Tatbestandsmerkmale in hinreichender Gewissheit vor bzw. nicht vor, so ist die Gruppenbildung entsprechend vorzunehmen. Daran schließt sich die Festbetragsfestsetzung an. Nicht möglich ist es, eine Steuerung vorzunehmen, wie sie § 135 Abs. 1 und § 137 Abs. 1 zulassen, nämlich für einzelne Indikationen das Vorliegen des gesetzlichen Tatbestandes anzuerkennen, für andere aber nicht. Diese Differenzierung lässt sich derzeit nicht für die Preisbildung vollziehen; sie könnte nur über die oben genannten arzneimittelrechtlichen Informationsinstrumente durch39
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Die Verlautbarungen sind trotzt einer im Übrigen positiv zu beurteilenden Informations- und Transparenzpolitik des G-BA insofern unvollständig, als der HTA-Report, der zu dieser Entscheidung geführt hat, bis zum 01. 12. 2004 nicht veröffentlicht war. Die medizinische Statistik, die von der evidenzbasierten Medizin rezipiert wird, kennt fachwissenschaftliche Standards, die die Bewertung der Güteklasse einer Studie zulassen, die mit den Evidenzklassen nach § 9 BUB-Richtlinie noch nicht hinreichend abgebildet sind und die eine Bewertung der Aussagequalität einer Studie zulassen. Diese Kriterien müssen professionell definiert und in transparenter Weise an zu bewertende Studien angelegt werden.
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gesetzt werden. Damit kann sich eine Entscheidungssituation ergeben, in der für einen zusätzlichen Nutzen der gesamten Patientengruppe keine ausreichenden Belege gegeben sind, diese sich aber bei einer begrenzten Patientengruppe hinsichtlich relevanter geringerer Nebenwirkungen zeigen. Rechtliche Folge wäre, dass das Produkt aus der Festbetragsgruppenbildung nach § 35 Abs. 1 ausgenommen wird. Dem Hersteller des Produkts wäre damit die Möglichkeit eröffnet, das Produkt breit zu bewerben, auch in Bezug auf eine nicht durch Evidenz belegte höhere Wirkung. Die vertragsärztlichen Fehlentscheidungen, die in der Verordnung des vergleichsweise teureren, aus der Festbetragsgruppe wegen der günstigeren Nebenwirkungsbilanz herausgenommenen Produkts für Patienten liegen, die nicht zu der Nebenwirkungsgruppe gehören, müssen über AM-Information und Wirtschaftlichkeitsprüfung in der vertragsärztlichen Versorgung nachträglich korrigiert werden. 4. Non liquet Wenn es unklar bleibt, ob eine UBM oder ein AM den gesetzlichen Bewertungskriterien entspricht, ist nach den Vermutungsregeln zu verfahren, die der gesetzlichen Regelung zu Grunde liegen. Nach § 135 Abs. 1 S. 1 kann die Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung erst erfolgen, wenn das Vorliegen der drei Kriterien belegt, wenn also die Annahme gerechtfertigt ist, dass die UBM das gewünschte Versorgungsergebnis zumindest auf der Ebene des medizinischen Standards erreicht. Im Falle des § 137c Abs. 1 S. 1 wurde durch die Beanstandung eines Beschlusses des BMGS nach § 94 S. 2 die Frage akut, ob Voraussetzung für den Ausschluss aus der Krankenhausversorgung ist, dass belegt ist, dass eine Methode nicht den dort genannten Kriterien entspricht und die Beweislast insoweit der G-BA trägt. Auch im Krankenhaus muss die Leistungserbringung dem medizinischen Standard entsprechen.41 Ergibt eine Überprüfung nach § 137c Abs. 1 S. 1, dass diese Voraussetzung nicht gegeben ist, dann hat der G-BA nach S. 2 eine Richtlinie zu erlassen. Der Wortlaut des Gesetzes gibt – wenn die Antragstellung erfolgt und das Überprüfungsverfahren ausgelöst wurde – dem G-BA kein weiteres Verfahrensermessen. Ergibt die Überprüfung, dass die Voraussetzungen des medizinischen Standards nicht belegt sind, dann bleibt allein die Möglichkeit, die geprüfte UBM im Rahmen klinischer Studien nach § 137c Abs. 2 S. 2 HS 2 i.d.F. GMG durchzuführen.42
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Insoweit bleibt die Entscheidung des 1. Senats des BSG zur Magenbandoperation, BSGE 90, S. 289, 294 unklar; richtig dagegen der 3. Senat, BSG v. 22. 07. 2004 B 3 KR 21/03 R. Diese Lösung führt dazu, dass Heilversuchsbehandlungen kontrolliert und dokumentiert stattfinden und Versorgungsforschung kontrolliert wie transparent erfolgt.
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IV. Medizinische Notwendigkeit 1. Notwendigkeit in der Rechtsprechung des BSG Medizinische Notwendigkeit erfasst die Frage, ob es zur Erreichung eines der Behandlungsziele nach § 27 Abs. 1 erforderlich ist, diese Methode, dieses AM einzusetzen. Eine Leistung ist im Sinne des § 12 Abs. 1 S. 1 notwendig, wenn sie nach Art und Ausmaß der Zweckerzielung zwangsläufig, unentbehrlich und unvermeidlich ist.43 Die Rechtsprechung des BSG zur Notwendigkeit i.S. des § 12 Abs. 1 hat dieses vor allem an den Fallgruppen der Krankenhausbehandlungsbedürftigkeit, der zahnärztlichen Versorgung und der Hilfsmittelversorgung entschieden. Wenn das medizinische Ziel auf andere Weise erreicht werden kann, fehlt es an der Notwendigkeit.44 Häufig geht in diese Fallgruppen ein ökonomisch geleitetes Unterscheidungsmerkmal ein: Die Zahnersatzbehandlung ist erst notwendig, wenn konservierend-chirurgische Leistungen nicht zum Ziel führen; Krankenhausbehandlung ist erst notwendig, wenn vertragsärztliche Leistungen aus medizinischen Gründen nicht erbracht werden können. Ein Hilfsmittel muss zum Ausgleich eines körperlichen Funktionsdefizits geeignet und notwendig sein, es muss zur Befriedigung von Grundbedürfnissen des durch die Behinderung eingeschränkten Freiraumes dienen, und es ist abzugrenzen von Gegenständen des täglichen Bedarfs.45 2. Konkretisierung des G-BA Der G-BA konkretisiert das Kriterium der medizinischen Notwendigkeit in der § 8 Abs. 2 BUB-Richtlinie wie folgt: „Die Überprüfung der medizinischen Notwendigkeit einer Methode erfolgt insbesondere auf der Basis von Unterlagen a) zur Relevanz der medizinischen Problematik, b) zum Spontanverlauf der Erkrankung und c) zu diagnostischen oder therapeutischen Alternativen.“
Nach der Entscheidungspraxis ist die medizinische Notwendigkeit dann gegeben, wenn eine diagnostische oder therapeutische Versorgungslücke hinsichtlich einer Indikation besteht, die durch die Methode geschlossen werden kann.46 Der für den G-BA entscheidende materielle Gesichtspunkt dürfte der einer therapeutischen Versorgungslücke sein. In seiner Entscheidung zur MRM hat der G-BA das Vorliegen der Notwendigkeit nach § 135 Abs. 1 S. 1 für den Lokalrezidivausschluss eines Mamma-Karzinoms nach brusterhaltender Therapie anerkannt und sich dabei auf folgende Erkenntnis gestützt:
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BSG SozR 2200 § 182 b Nr. 25; Nr. 26; Wolfgang Noftz, in: Karl Hauck, SGB V Kommentar, § 12 Rdnr. 21 (2004). Vgl. etwa G-BA MRM-Bericht, S. 22. Statt aller: BSG SozR 3-2500 § 33 Nr. 1. Vgl. etwa G-BA, MRM-Bericht, S. 7.
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„In seltenen Fällen […] lässt sich jedoch eine abschließende Beurteilung des Brustgewebes nicht erzielen. […] Für solche seltenen, aber diagnostisch äußerst schwierigen Fälle sieht der Arbeitsausschuss ‚Ärztliche Behandlung‘ eine diagnostische Lücke, die durch die MRM gefüllt werden kann. In jenen seltenen Fällen […] erlaubt die MRM die Darstellung des Primärtumors. Mit der Darstellung des Primärtumors wird eine angemessene Therapieplanung ermöglicht: […] Der Ausschuss stellt für diese Indikation eine diagnostische Lücke fest, die durch die MRM gefüllt werden kann. Die medizinische Notwendigkeit für die MRM ist damit für diese Indikation gegeben.“47
Daraus wird deutlich, dass das Kriterium der therapeutischen Versorgungslücke, die durch die neue Methode geschlossen wird, aus einem medizinischökonomischen Begründungszusammenhang folgt. Das Verfahren MRM für die Tumordiagnostik der weiblichen Brust erfüllt den medizinischen Standard, es könnte also für jede Indikation und die Vorsorge zugelassen werden. Die Beschränkung auf bestimmte Indikationen aber folgt daraus, dass mit den älteren bildgebenden Verfahren bei den meisten Patientinnen ebenso standardgemäß diagnostiziert werden kann, nur dann nicht, wenn spezifische medizinische Gegebenheiten gegeben sind. Die Beschränkung der Magnetresonanztherapie auf diese Fälle folgt nicht aus medizinischen Gründen, sondern aus Gründen der Wirtschaftlichkeit. In die Alternativenbewertung ging in diesem Falle die Prämisse mit ein, dass die Kostenbelastung aus MRM höher ist als bei überkommenen Verfahren. 3. Ökonomische und medizinische Parameter in der Entscheidung Die Abwägung, die bei der Prüfung der medizinischen Notwendigkeit anzustellen ist, betrifft die Frage, ob eine aufwendigere Leistung als eine andere zur Erreichung eines medizinischen Ziels eingesetzt werden soll. Es wird also zuerst eine ökonomische Vergleichsbetrachtung, häufig unausgesprochen, weil selbstverständlich, angestellt und sodann aufgrund einer Bewertung die Frage beantwortet, ob das medizinische Ziel nur durch das kostenerheblichere Mittel erreicht werden kann. Diese Bewertungsfrage ist oft rein medizinischer Natur (Erforderlichkeit von Krankenhausbehandlung), in anderen Fällen aber auch nur stark medizinisch geprägt und durch gesellschaftspolitische Erwägungen ergänzt (Abgrenzung zu Gegenständen des täglichen Bedarfs). Die ökonomische und die medizinische Betrachtung sind klar getrennt, was bedeutet, dass bei medizinischer Gebotenheit (hohe medizinische Fachlichkeit des Kriteriums) die Höhe der Kosten nicht relevant ist. Eine Nutzen-Kosten-Bewertung in der Weise, dass trotz medizinischer Erforderlichkeit wegen der Höhe der Kosten und konkurrierender Bedarfe das medizinische Mittel nicht eingesetzt wird, ist also nicht vorgesehen. Die Entscheidungspraxis des G-BA bestätigt dies: Auf der Basis der ökonomischen Erkenntnis, dass das Verfahren MRM kostenaufwändiger als vorhandene ist, wird der spezifische medizinische Vorteil (Schließen einer Versorgungslücke) bestimmt, der diesem Verfahren gegenüber dem für die meisten Behandlungsfälle ausreichenden
47
G-BA, MRM-Bericht, S. 7.
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Standardverfahren zukommt.48 Für diese Fälle wird die Notwendigkeit anerkannt, unbeschadet der Frage, welche Kosten dafür aufzuwenden sind. Allerdings bleibt die Frage offen, ob in die Bestimmung des medizinischen Zusatznutzens (Schließen der Versorgungslücke) bereits eine Folgenabwägung hinsichtlich der zusätzlichen Kosten eingegangen ist. Es könnte durchaus sein, ist womöglich naheliegend, dass eine Vorstellung über den ökonomischen Rahmen (Budget), der zur Verfügung steht oder zusätzlich zur Verfügung gestellt werden soll, besteht, und dass dieser Rahmen in die medizinische Bewertung eingeht. Das wäre nichts Ungewöhnliches, denn in die Bestimmung des medizinisch Notwendigen geht stets eine ökonomische Prämisse ein. Keine Behandlungsstrategie wird finanziell grenzenlos konzipiert; allerdings treten die ökonomischen Parameter in der Regel sehr weit in den Hintergrund. Wären finanzielle Mittel unbegrenzt verfügbar, käme es in Betracht, MRM als Standardbehandlung einzusetzen, wie derzeit bei dem modellversuchshaften Mammascreening. Die Indikationsbeschränkung also folgt aus einem Mix von medizinischen und ökonomischen Erwägungen. Sie folgt aus einer – impliziten, nicht ausgewiesenen – KostenNutzen-Bewertung, aus einer Kosteneffektivitätsbewertung. Die ist rechtlich nicht ausgeschlossen,49 wohl aber bei relevantem Gewicht an besondere parlamentsgesetzliche Voraussetzungen gebunden, und sie müsste ausgewiesen werden. 4. Erforderlichkeit nach § 137c SGB V Den Nutzen und die medizinische Notwendigkeit, die eine Methode, die nach § 135 zugelassen werden soll, aufweisen müssen, sind nach der Formulierung in den Verfahrensregeln zu § 137c SGB V50 in der Erforderlichkeit zusammengefasst. Die Erforderlichkeit spiegelt ebenso wie die Notwendigkeit die Voraussetzung wider, dass eine Methode nur dann zugelassen werden soll bzw. zugelassen bleiben darf, wenn sie nicht durch andere, bereits vorhandene vergleichbare Methoden ersetzt werden kann. Auch die Erforderlichkeit weist daher auf die nötige Versorgungslücke hin. Das Merkmal des Notwendigen findet sich daher sowohl in § 12, in § 135 als auch über die Erforderlichkeit in § 137c SGB V. Diese Wiederholung weist darauf hin, dass die Regelungen über die Qualitätssicherung im SGB V nicht nur die Verbesserung und Sicherung der Qualität der bereits erbrachten Leistungen in der GKV vor Augen haben, sondern aus Effektivitätsgründen neue Methoden nur dann für zulässig – d.h. für auf Kosten der Krankenkassen zu erbringen – erklären, wenn diese tatsächlich neue Möglichkeiten eröffnen, um bestehende therapeutische oder diagnostische Versorgungslücken zu schließen.
48 49
50
G-BA, MRM-Bericht, S. 7. Robert Francke, Begrenzung der Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung, in: GesR 2003, S. 97, 99. Verfahrensregeln zur Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden im Krankenhaus gemäß § 137c SGB v. 28. 01. 2002.
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V. Wirtschaftlichkeit Das Wirtschaftlichkeitsgebot nach § 12 Abs. 1 verlangt, dass die Leistungen notwendig, zweckmäßig, ausreichend und wirtschaftlich i.e.S. sind. Die ersten beiden Elemente enthalten allgemeine Regelungen zu den vorhergehend (D. III. u. IV.) behandelten gesetzlichen Konkretisierungen. Eine Leistung ist ausreichend, wenn sie nach Umfang und Qualität hinreichende Chancen für einen Heilerfolg bietet.51 Durch dieses Merkmal wird die Untergrenze des Leistungsumfangs bestimmt mit dem Ziel, einen quantitativen (ökonomischen) sowie qualitativen (medizinischen) Mindeststandard zu sichern.52 Das Kriterium der Wirtschaftlichkeit i.e.S. aber wirft bei der Konkretisierung für die generelle und abstrakte Entscheidungen der Ausgestaltung von Inhalt und Umfang des Versorgungssystems, also bei den Entscheidungen über die Bewertung von UBM und AM, einige unbeantwortete Fragen auf. Dazu zählt nicht die Erkenntnis, dass das Prinzip der Nutzenmaximierung bei geringstem Ressourceneinsatz auch hier gilt. Die Kosten im Einzelfalle sind bei Wahrung des Vorrangs des therapeutischen Nutzens und der medizinischen Notwendigkeit minimal zu halten. Fraglich aber ist, ob in der normierenden, rechtsetzenden Bewertungsentscheidung ökonomische Erwägungen in der Weise zulässig sind, dass bei Anerkennung des Nutzens und der Notwendigkeit einer Leistung ein Leistungsausschluss (für alle Versicherten) damit begründet werden darf, dass die Kosten für die Versichertengemeinschaft zu hoch liegen oder mit den für das Erreichen eines geringen Nutzens aufzuwendenden hohen Kosten mehr Nutzen an anderer Stelle des Versorgungssystems erreicht werden kann. Solche Erwägungen der Kosten-Nutzen-Effektivität (Effizienz) werden in der gesundheitswissenschaftlichen und gesundheitsökonomischen Diskussion für zunehmend geboten gehalten. Sie gehen von der Erkenntnis aus, dass wachsende medizinische Erfordernisse (Demographie und Morbidität) sowie wachsende medizinische und medizin-technische Möglichkeiten mit den verfügbaren Ressourcen prinzipiell nicht kompatibel sind, stets Effizienzbewertungen erfolgen und es darauf ankommt, sie bei knapper werdenden Ressourcen transparent und der politischen Diskussion zugänglich zu machen.53 In den BUB-Richtlinien bestimmt der G-BA zum Kriterium der Wirtschaftlichkeit nach § 135 Abs. 1 S. 1: „Die Einschätzung der Wirtschaftlichkeit i.S. des § 12 Abs. 1 S. 1 SGB V einer Maßnahme erfolgt möglichst auf der Basis von Unterlagen zu a) Kosten pro entdecktem Fall, b) Kosten pro Verhinderung einer Erkrankung, einer Behinderung und eines Todes, c) Kosten und Einsparung der aus der Früherkennung resultierenden Therapie, d) Kosten-Nutzen-Abwägung in Bezug auf den einzelnen Patienten oder Versicherten, e) Kosten-Nutzen-Abwägung in Bezug auf die Gesamtheit der Versicherten, auch Folgekosten-Abschätzung und 51 52 53
Höfler, in: Kasseler Komm, SGB V, § 12 Rdnr. 22 (April 2002); BSGE 55, S. 188, 194. Noftz, in: Hauck, SGB V, § 12 Rdnr. 18 (2004); vgl. auch Höfler, in: Kasseler Komm, SGB V, § 12 Rn. 22 (April 2002). Heft 14, S. P 229.
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Robert Francke f) Kosten-Nutzen-Abwägung im Vergleich zu anderen Maßnahmen.“54
Nach seiner eigenen Normbildung nimmt der G-BA in Anspruch, Kosten-NutzenAnalysen nicht nur in Bezug auf den einzelnen Patienten, sondern auch in Bezug auf die Gesamtheit der Versicherten und der strukturellen Folgekosten55 vornehmen zu können. Es sind danach also Wirtschaftlichkeitsbewertungen zulässig, die sich auf die Versichertengemeinschaft und konkurrierende medizinische Bedarfe beziehen. Damit nimmt der G-BA normativ eine Rationierungskompetenz für sich in Anspruch. Er kann sich dabei auf unterstützende Argumente des BSG, deren genaue Reichweite schwer abzuschätzen ist, verweisen.56 Dahinter steht die Grundsatzfrage, ob dem G-BA eine begrenzte Rationierungskompetenz eingeräumt ist. In der Entscheidungspraxis des G-BA zeigt sich allerdings, dass bisher nicht eine Ausschlussentscheidung wegen Unwirtschaftlichkeit erfolgt ist. Stets fehlte es bereits am Nutzen oder an der medizinischen Notwendigkeit. Dies bestätigt für Deutschland das im internationalen Vergleich gewonnene Bild, dass Entscheidungen über Aufnahme und Ausschluss von UBM oder AM ganz überwiegend nach den Kriterien des therapeutischen Nutzens und der medizinischen Notwendigkeit erfolgen.57 Der normative Anspruch, den der G-BA durch seine Kriterienbildung in § 8 Abs. 1 Nr. 5 BUB-Richtlinie erhebt, steht mit dem derzeit überwiegend anerkannten Stand der sozialrechtlichen Erkenntnisse nicht in Übereinstimmung. In Fällen, in denen nur eine Methode eine reale Chance zur Erreichung des Behandlungszieles bietet, lautet der Grundsatz, dass sich das Rahmenrecht des § 27 Abs. 1 zum Anspruch auf diese Behandlungsmaßnahme verdichtet, da die Richtlinien des G-BA nicht dazu führen dürfen, dass eine behandlungsfähige und behandlungsbedürftige Erkrankung unbehandelt bleiben muss.58 Erst wenn mehrere standardgemäße Behandlungen zur Verfügung stehen, darf die mit höheren Gesamtkosten einhergehende Methode nicht bewilligt werden.59 VI. Vergleich mit den Kriterien aus dem HTA Die im SGB V genannte Trias der Kriterien findet sich in ähnlicher Form auch im HTA:60 Wirksamkeit entspricht danach der experimentellen Wirksamkeit (efficacy), der Nutzen wäre dann zu definieren als indikationsbezogene Wirksamkeit unter Alltagsbedingungen (effectiveness, klinisch relevante outcomes), und der Vergleich des Nutzens einer Methode mit bisher erbrachten Verfahren ist zu bezeichnen als comparative effectiveness. Die Notwendigkeit wird auch bezeich54 55 56 57 58
59 60
§ 8 Abs. 1 Nr. 5 BUB-Richtlinie. Hervorhebungen nicht im Original. BSGE 85, S. 132, 140. Dea Niebuhr, Heinz Rothgang, Jürgen Wasem, Stefan Greß, Die Bestimmung des Leistungskataloges in der gesetzlichen Krankenversicherung, Düsseldorf 2004, S. 205 ff. BSGE 78, S. 70, 73; Hess, in: Kasseler Kommentar, SGB V, § 91 Rdnr. 5 (August 2004). BSG SozR 3-2500 § 92 Nr. 6. Hart, in: MedR 2001, S. 1 ff.; ders., in: MedR 2004, S. 469 ff. jeweils mit Nachweisen.
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net als Relevanz der Methode bei bestimmten Indikationen.61 Die Wirtschaftlichkeit schließlich ist unter HTA-Kriterien als efficiency einzuordnen.
E. Gerichtliche Kontrolle der untergesetzlichen Normsetzung I. Dogmatische Grundlagen der Rechtskontrolle durch das BSG Das BSG räumt dem G-BA und den Normenvertragsparteien für die untergesetzliche Normsetzung ein weit gestecktes Normsetzungsermessen ein, das einer nur eingeschränkten gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Das BSG hat für das Krankenversicherungsrecht die Konzeption entwickelt, dass der Leistungsanspruch des Versicherten nach §§ 27 ff. lediglich als Rahmenrecht bestehe,62 das durch die individuelle Behandlungsentscheidung der Leistungserbringer und durch untergesetzliche Regelungen des Leistungserbringungsrechts konkretisiert wird. Diese Auffassung stützt sich auf die Komplexität des medizinisch-ärztlichen Behandlungsgeschehens. Die Kompetenz zu genereller und abstrakter Konkretisierung der unbestimmten parlamentsgesetzlichen Maßstäbe des Versorgungsrechts ist namentlich den Normsetzungsinstanzen der gemeinsamen Selbstverwaltung nach dem SGB V eingeräumt.63 Eine Gestaltungsfreiheit des untergesetzlichen Normgebers folgt bereits aus der erteilten Ermächtigung selbst, und sie ergibt sich aus der Sache (medizinische und medizinisch-ökonomische Bewertungen) sowie der rechtlichen Struktur (Rechtskonkretisierungskonzept). Nach der Rechtsprechung des BSG sind die Gerichte zur Entscheidung nur berufen, wenn das System der gemeinsamen Selbstverwaltung insoweit rechtswidrig versagt hat (Systemversagen).64 Spätestens seit den Entscheidungen aus dem September 199765 weist das BSG dem G-BA einen weiten Gestaltungsspielraum zu, wenn es darum geht, durch Richtlinien die unbestimmten Merkmale der anspruchsbegründenden Vorschriften des Leistungsrechts und des Wirtschaftlichkeitsgebots auszufüllen.
61
62 63
64 65
http://www.dimdi.de/de/hta/symposien/2002/rh_symp02.pdf. Auch der G-BA verwendet diese Kriterien, § 8 Abs. 1 Nr. 1 BUB-Richtlinie. Leitentscheidung ist BSGE 73, S. 271, 277 ff., 280. Zum Diskussionstand über die dogmatischen Prämissen des BSG: Volker Neumann, Das Verhältnis des Leistungsrechts zum Vertragsarztrecht, in: Friedrich E. Schnapp, Peter Wigge (Hrsg.), Handbuch des Vertragsarztrechts, München 2002, § 12 Rdnr. 14 ff. BSGE 81, S. 54, 65; E 86, S. 54, 60 f.; BSG SozR 4-2500 § 135 Nr. 1. BSGE 81, S. 54, 72 und E 81, S. 73, 85.
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II. Definitionsmacht des Bundesausschusses In der Literatur wird von der „Definitionsmacht des Bundesausschusses“66 gesprochen, worin zum Ausdruck kommt, dass dem G-BA nicht nur die Aufgabe zukommt, gesetzliche und medizinische Maßstäbe nachzuvollziehen, sondern auch die Befugnis zu eigenständiger, wenn auch rechtlich begrenzter Definition von Standards. Im Streit über die Frage, ob einer Behandlungsmethode „die für neuartige Therapieverfahren geforderte wissenschaftliche Anerkennung“67 fehle, führt das Gericht aus: „Die Prüfung und Feststellung, ob eine neue Behandlungsweise dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse und damit dem in § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V geforderten Versorgungsstandard entspricht, obliegt nach dem Gesetz nicht der einzelnen KK und – von dem Sonderfall eines ‚Systemversagens’ abgesehen – auch nicht den Gerichten, sondern dem Bundesausschuss der Ärzte und KKn, der durch seine Entscheidung eine an objektiven Maßstäben orientierte, sachgerechte und gleichmäßige Praxis der Leistungsgewährung sicherstellen soll.“68
Diese Ausführungen weisen einerseits auf eine Bindung an „objektive Maßstäbe“ hin, die es aber andererseits auch zulässt, einen Maßstab eigenständig zu definieren. In einer Entscheidung vom 19. 02. 200369 setzt das Gericht die Akzente etwas zurückhaltender, wenn es ausführt: „Dabei hat der Bundesausschuss entgegen einem häufig anzutreffenden Missverständnis nicht selbst über den medizinischen Nutzen einer Methode zu urteilen. Seine Aufgabe ist es vielmehr, sich einen Überblick über die veröffentlichte Literatur und die Meinung der einschlägigen Fachkreise zu verschaffen und danach festzustellen, ob ein durch wissenschaftliche Studien hinreichend untermauerter Konsens über die Qualität und Wirksamkeit der in Rede stehenden Behandlungsweise besteht […]“70
In der Fußpflegeentscheidung des BSG schließlich heißt es: „Vom Bundesausschuß kann auf Grund seiner personellen Zusammensetzung auch eine sachgerechte Abwägung der relevanten medizinischen und finanziellen Gesichtspunkte erwartet werden.“71 66
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Erika Behnsen, Die Definitionsmacht des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen, in: Die Krankenversicherung 1999, S. 264 ff.; Rolf-Ulrich Schlenker, Das Entscheidungsmonopol des Bundesausschusses für neue medizinische Verfahren und Außenseitermethoden, in: NZS 1998, S. 411, 412, 417 („Entscheidungsmonopol“, „Schlüsselrolle für die Definition des Leistungsstandards“). BSGE 86, S. 54, 56. BSGE 86, S. 54, 56; bestätigt durch BSG SozR 3-2500 § 92 Nr. 12 sowie BSG SozR 42500 § 135 Nr. 1. BSG SozR 4-2500 § 135 Nr. 1 sowie für den Bereich der stationären Versorgung BSGE 90, S. 289, 293. BSG v. 19. 02. 2003, B 1 KR 18/01 R, SozR 4-2500 § 135 Nr. 1. BSGE 85, S. 132, 140.
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Aus diesen Formulierungen des Gerichts wird nicht nur die begrenzte Kontrolldichte, sondern auch deutlich, dass das BSG dem G-BA eine Gestaltungskompetenz einräumt, die sich auf die nicht-medizinischen Dimensionen der Entscheidungen bezieht. Ob sich die Kompetenz jedoch auch auf die Feststellung des medizinischen Standards, also auf die Rezeption des nach § 2 Abs. 1 S. 3 geltenden Maßes für die Leistungserbringung bezieht, erscheint eher ausgeschlossen. Entscheidendes allerdings hängt von der gerichtlichen Kontrolle ab. Wenn sie auch nicht auf den Inhalt der medizinischen Fachfragen eingehen kann, so wäre doch die Kontrolle des Verfahrens der Entscheidungsfindung, namentlich bei Streitfragen über den medizinischen Standard von entscheidender Bedeutung. Dass die Verfahren hier objektive, transparente, aktuelle und wissenschaftlich fundierte, methodisch validierte Informationsgenerierung und -verarbeitung gewährleisten, müsste durch die Verfahrenskontrolle sichergestellt werden. Noch hatte das BSG keine Gelegenheit dazu Stellung zu nehmen. Die bisherigen Hinweise sind insoweit ungenügend.72 III. Gesetzlicher Tatbestand und Normsetzungsermessen Die Bindung und Kontrolle des administrativen Normsetzungsermessens nach dem SGB V sollte zwischen der (abstrakten) Auslegung und Konkretisierung des gesetzlichen Tatbestandes einerseits und der „subsumierenden“ Anwendung auf den konkreten einzelnen Normsetzungsfall andererseits unterscheiden. Würde man diesem Modell folgen, so wäre die abstrakte Auslegung und Konkretisierung von gesetzlichen Tatbeständen, die das Normsetzungsermessen leiten und binden, der gerichtlichen Kontrolle voll, die normsetzende „Subsumtion“ dieser Tatbestandsmerkmale dagegen nur eingeschränkt zugänglich. Das würde bedeuten, dass im Rahmen des § 135 Abs. 1 S. 1, des § 137c Abs. 1 S. 1 oder des § 35 Abs.1 S. 3 die Auslegung der Begriffe „diagnostischer und therapeutischer Nutzen“, „medizinische Notwendigkeit“, „Wirtschaftlichkeit“, „auch im Vergleich zu anderen Methoden“ oder „therapeutische Verbesserung, auch wegen geringerer Nebenwirkungen“ der gerichtlichen Vollkontrolle zugänglich wäre, während für die Subsumtion das Normsetzungsermessen eingreifen würde. Wie sich dieses Modell auf die Trias der Kriterien auswirkt, soll im Folgenden konkretisiert werden. IV. Folgerungen für die gerichtliche Kontrolle 1. Auslegung des gesetzlichen Tatbestandes Hinsichtlich des ersten Merkmals aus der Trias wäre die Frage der gerichtlichen Kontrolle zugänglich, ob und wie Wirksamkeit und Nutzen zu unterscheiden sind. Dazu würde gehören, ob es zulässig oder gar geboten ist, auf den wissenschaftli72
Zur Kontrolldichte des BSG: Neumann, in: Schnapp, Wigge (Hrsg.), Vertragsarztrecht, 2002, § 12 Rdnr. 22 f., 37.
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chen Nachweis zu festen Endpunkten abzustellen.73 Bei dem anstehenden gerichtlichen Verfahren über die Festbetragsgruppenbildung für Statine vom 15. 06. 2004 könnte dies bereits entscheidungserheblich sein. Der G-BA hatte in seiner Konkretisierung der Tatbestandsmerkmale des Gesetzes dieses Entscheidungskriterium hervorgehoben. Ein weiterer Themenkomplex des ersten Tatbestandsmerkmals betrifft die Frage des Nachweisniveaus. Hier hat der G-BA durch die BUBRichtlinien die in der evidenzbasierten Medizin entwickelten Evidenzstufen sowie den dort geltenden Grundsatz der Orientierung an der bestverfügbaren Evidenz für seine Entscheidungspraxis übernommen. Die Übernahme dieser Klassifizierung wäre der gerichtlichen Beurteilung zugänglich, wobei sich freilich Einwände gegen das wissenschaftlich gut begründete Konzept kaum formulieren ließen. Die Bestimmung der erforderlichen, also „bestverfügbaren“ Evidenzebene unterliegt dagegen nicht der gerichtlichen Vollkontrolle. Schließlich fallen die Konkretisierungen des G-BA zu § 35 Abs. 1 S. 3 über Nutzen, Zusatznutzen und Nebenwirkungen in den Bereich der Vollkontrolle. Bei der medizinischen Notwendigkeit ergeben sich als rechtlich überprüfbare Elemente des Tatbestandes das Verhältnis von medizinischen und ökonomischen Erwägungen zueinander und namentlich die Frage, ob der Vorrang des Medizinischen in der Weise gilt, dass bei Bestimmung einer medizinischen Relevanz ökonomische Begrenzungen, sei es wegen der Kosten im Einzelfalle, sei es wegen der Kosten für die Versichertengemeinschaft, nicht gelten. Auch die abstrakte Bestimmung der Kategorie „therapeutische Lücke“ als angemessene Konkretisierung des Tatbestandes unterläge der gerichtlichen Vollkontrolle, die Zuordnung eines konkreten Sachverhaltes zu der Kategorie dagegen nicht. Bei der Wirtschaftlichkeit unterliegt es der vollen gerichtlichen Kontrolle zu beantworten, ob die Beurteilungsermächtigungen der § 135 Abs. 1 S. 1 und 2, § 137c Abs. 1 nicht nur dazu ermächtigen „Kosten-Nutzen-Abwägung in Bezug auf den einzelnen Patienten oder Versicherten“, sondern auch „Kosten-NutzenAbwägung in Bezug auf die Gesamtheit der Versicherten“ sowie „auch Folgekosten-Abschätzung und Kosten-Nutzen-Abwägung im Vergleich zu anderen Maßnahmen“74 erfolgen zu lassen. Hier geht es also um die Frage, ob lediglich zu Rationalisierung oder auch zu Rationierung ermächtigt wird. In dem letztgenannten Falle wäre die Ermächtigung unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten, namentlich unter dem des Parlamentsvorbehalts zu prüfen.75 2. Gerichtliche Kontrolle des Normsetzungsermessens Bei der Kontrolle der Ausübung des Normsetzungsermessens im Einzelfalle, also der normsetzenden Abwägungsentscheidung des G-BA, kommt die mit dem Normsetzungsermessen eingeräumte spezifische Gestaltungsfreiheit zur Geltung. Diese ist zuerst eingeräumt, um die Ungewissheit und spezifische Fachlichkeit sachgerecht bewerten zu können, die typischerweise der Beurteilung medizini73 74 75
G-BA, B. v. 15. 06. 2004 zu § 35 Abs. 1 S. 3. § 8 Abs. 1 Nr. 5 BUB-Richtlinie. Francke, in: GesR 2003, S. 97, 100.
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scher, medizinpolitischer oder gesellschaftspolitischer Sachverhalte zu eigen ist. Darüber hinaus räumt die Normsetzungsermächtigung der Exekutive eine mehr oder minder weitreichende Gestaltungskompetenz ein. Wird allein zu Rationalisierung ermächtigt, so bleibt die Gestaltungsbefugnis begrenzt. Wird zur Rationierung ermächtigt, so reicht die Eingriffsbefugnis deutlich weiter. Die muss sich in der Rechtsbindung (Parlamentsvorbehalt und Bestimmtheit) und in der gerichtlichen Kontrolle abbilden. Zentrale rechtliche Bindungselemente der Ausübung des Normsetzungsermessens sind Verfahren, Beteiligung an und Begründung von Entscheidungen. Als prozedurale Konkretisierungen lassen sich erkennen: Beachtung des sachlichen Vorrangs medizinisch fachlicher Entscheidungen, Darlegung der Entscheidungsgrundlagen mit Ausweis statistischer, biometrischer und empirischer Standards (Studienqualität), Beachtung des Abwägungsgebotes mit seinen in der Rechtswissenschaft und –praxis ausgearbeiteten Elementen. Ob in materieller Hinsicht etwa der Grundsatz „im Zweifel für die Innovation“ Anerkennung zu finden hätte, bedürfte der weiteren rechtlichen, nicht nur gesundheitswissenschaftlichen Diskussion. Im Übrigen verbleibt in materieller Hinsicht kaum mehr als eine Willkürkontrolle.
F. Ausblick Der Prozess der verbindlichen Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden und Arzneimitteln durch besondere Organe der gemeinsamen Selbstverwaltung macht deutlich, dass wesentliche Entscheidungsprozesse der medizinischen Versorgung der ärztlich-professionellen Entscheidung entzogen werden. Das geschieht obwohl und weil die Profession selbst durch Evidenzbasierung und Leitlinien ihrerseits an der rationalen Normierung medizinischer Prozesse tatkräftig mitwirkt. Die heute zu treffenden sozialversicherungsrechtlichen Entscheidungen beziehen sich auch, jedoch nicht nur auf medizinische Parameter. Mit Rücksicht auf die ökonomischen Tatsachen, die das Krankenversorgungssystems zu beachten hat, ist in der Tendenz mit einer Ausweitung professionsferner Kompetenzen und Entscheidungen zu rechnen. Es findet eine Entwicklung ihren Fortgang, die Adolf Laufs mit guten Gründen stets kritisch begleitet hat. Die Gemengelage aus medizinischer und ökonomischer Bewertung trägt die Entscheidungskompetenzen der gemeinsamen Selbstverwaltung. Die nach den abstrakten Kriterien sichere Unterscheidung von Rationalisierung und Rationierung ist in der Praxis eher Unsicherheiten ausgesetzt. Aus rechtlichen und versorgungspolitischen Gründen aber darf diese Grenze nicht verwischt werden. Die Präzisierung der bindenden rechtlichen Entscheidungsmaßstäbe und die Ausarbeitung angemessener gerichtlicher Kontrollstrukturen trägt dazu bei.
Die Durchbrechung der sektoralen Grenzen bei der Erbringung von Gesundheitsleistungen durch die Reformgesetzgebung insbesondere durch das GKV-Modernisierungsgesetz 2003 Aus der Sicht der Krankenhäuser Herbert Genzel
A. Allgemeine Ausgangslage I. Die Ziele der Reformgesetzgebung Zu den grundlegenden Problemfeldern des deutschen Gesundheitssystems mit erheblichen Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit, Qualität und Wirtschaftlichkeit der medizinischen Versorgung der Bevölkerung gehört die Sektorierung der Leistungserbringung. Die funktionelle und örtliche Trennung von ambulanter und stationärer Versorgung bedeutet vielfach für den Patienten einen Bruch in der gebotenen Behandlungskontinuität und damit keine einheitliche Behandlungsverantwortung. 1. Ein wesentliches Ziel der Reformgesetzgebung im Gesundheitsbereich in den 80iger und 90iger Jahren1 war es, zur Herbeiführung effizienterer Versorgungsstrukturen und zur Ausschöpfung von Wirtschaftlichkeitsreserven die starre Aufgabenteilung zwischen ambulanter und stationärer Versorgung zu durchbrechen. Vor allem durch Erweiterung der gesetzlichen Handlungsspielräume sollte die „Gemeinsame Selbstverwaltung“ von Leistungserbringern und Krankenkassen in der gesetzlichen Krankenversicherung in die Lage versetzt werden, eine bessere Verzahnung der einzelnen Bereiche durch kollektives Vertragsrecht herbeizuführen. Trotz des durch die Kostendämpfungspolitik erzeugten wirtschaftlichen Druckes auf die Krankenkassen und Leistungsträger (Ärzte, Zahnärzte, Krankenhäu1
Gesundheits-Reformgesetz (GRG) v. 20. 12. 1988 (BGBl. I, S. 2477), zuletzt geändert durch Gesetz v. 27. 4. 1993 (BGBl. I, S. 512, 2436); Gesundheitsstrukturgesetz (GStruktG) v. 21. 12. 1992 (BGBl. I, S. 2266), zuletzt geändert durch Gesetz v. 25. 11. 2003 (BGBl. I, S. 2304); 2. GKV-Neuordnungsgesetz (2.GKV-NOG) v. 23. 6. 1997 (BGBl. I, S. 1520), zuletzt geändert durch Gesetz v. 22. 12. 1999 (BGBl. I, S. 2626); GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 v. 22. 12. 1999 (BGBl. I, S. 2626), geändert durch Gesetz v. 25. 11. 2002 (BGBl. I, S. 2304).
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ser u. a.) stellte sich ein durchgreifender Erfolg nicht ein. Das Spannungsfeld zwischen medizinischer Notwendigkeit, bestehender Gesundheitspraxis, betriebswirtschaftlicher Rationalität, gegensätzlicher Interessenlage von versicherten Patienten und Krankenkassen als den wichtigsten Finanzierungsträgern und dem Staat als originärem Planungsträger bei der stationären Krankenhausversorgung konnte nicht hinreichend aufgelöst werden. Normative Vorgaben, kollektivvertragliche Regelungen und die angestrebte Wettbewerbsorientierung des Leistungssystems standen teilweise im Widerspruch zu einander und vermochten nicht, dass der erweiterte Gestaltungsspielraum hinreichend genutzt wurde. 2. In Erkenntnis dieser Tatsache sieht nunmehr das „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Modernisierungsgesetz vom 14.11.2003 GMG)2 eine Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen vor. Als zentrale Ursache für die im internationalen Vergleich ungünstige Aufwand-Ertrags-Relation im deutschen Gesundheitswesen wird die starre Sektorierung und die daraus folgende Schnittstellenproblematik angesehen.3 Dabei stehen die neuen Regelungen des GMG unter dem Vorbehalt grundlegender „zukünftiger weiterer Weichenstellungen zur nachhaltigen Finanzierung der GKV“,4 was sicherlich das Vertrauen in die Eindeutigkeit und Beständigkeit der gesetzlichen Zielsetzungen erheblich relativiert. II. Zu den Grundstrukturen des Gesundheitssystems 1. Das deutsche Gesundheitssystem ist entsprechend seiner historischen Entwicklung und traditionellen gesetzlichen Ausformung in drei von einander abgegrenzte Bereiche gegliedert, nämlich ambulante Versorgung, stationäre Versorgung und öffentlicher Gesundheitsdienst. Die einzelnen Sektoren haben jeweils entsprechend der gesetzlichen Zuordnung Aufgaben zur Versorgung der Bevölkerung mit präventiven, curativen und rehabilitativen medizinischen Leistungen mit verschiedener Gewichtung zu erfüllen. Das System ist dabei geprägt vom Prinzip der Solidarität, der Trägerpluralität und der Trägerautonomie.5 2 3
4 5
BGBl. I, 2003 I, S. 2190. Vgl. BT-Drs. 15/1525, S. 74; zu den Rahmenbedingungen auch Ingwer Ebsen, Franz Knieps, Krankenversicherungsrecht, in: Bernd Baron v. Maydell (Hrsg), Sozialrechtshandbuch (SRH), 3. Aufl., Baden-Baden 2003, C 14, Rdnr. 38 ff., vgl. auch Peter Udsching, Probleme der Verzahnung von ambulanter und stationärer Krankenversorgung in: NZS 2003, S. 411 ff. BT-Drs. 15/1525, S. 72. Dieses System ist verfassungsrechtlich weder in seiner Grundstruktur noch in der konkreten Ausformung gesichert. Für den Gesetzgeber besteht ein weiter Handlungs- und Gestaltungsspielraum, Renate Jaeger, Die Reformen der gesetzlichen Sozialversiche-
Durchbrechung sektoraler Grenzen bei der Leistungserbringung durch das GMG
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2. Die Problematik der strukturellen Gliederung und funktionalen Sektorierung von Leistungserbringung durch verschiedene Träger und Finanzierung aus verschiedenen Quellen (Steuern, Beiträgen und finanziellen Eigenleistungen) wird noch dadurch verstärkt, dass die Gesetzgebungskompetenzen für das formale und materielle Gesundheitsrecht zwischen Bund und Ländern aufgeteilt sind (Art. 70, Art. 72, Art. 74 Nr. 11, 12, 19 und 19 a GG). Staatliche Regelungen (Gesetze, Verordnungen) und normative Festlegungen durch die soziale Selbstverwaltung (Richtlinien, Normverträge) ergänzen einander und treten zueinander in Wechselwirkungen. Die dadurch herbeigeführte Unübersichtlichkeit führt zwangsläufig zu kompetenzrechtlichen Schwierigkeiten. So regelt beispielsweise das GMG Fragen des ärztlichen Berufsrechts im Zusammenhang mit den „Medizinischen Versorgungszentren“ (§ 95 Abs. 1 SGB V) und der „Integrierten Versorgung“ (§§ 140 a ff. SGB V), obwohl diese Gesetzesmaterie grundsätzlich den Ländern zugewiesen ist. Die Mitregelung berufsrechtlicher Fragen durch den Bund lässt sich verfassungsrechtlich nur mit dem Grundsatz der „Bundeskompetenz kraft Sachzusammenhangs“ begründen.6 Beispielhaft sei auch auf das Krankenhausfinanzierungsrecht verwiesen. Das Recht der Krankenhausfinanzierung (konkurrierende Gesetzgebung nach Art. 74 Nr. 19 a GG)) ausgestaltet in „dualer Finanzierung“ (§ 1, § 4 KHG) liegt in der Regelungskompetenz des Bundes (Art. 72 GG). Der Bund hat deshalb Detailregelungen zu den Krankenhausentgelten (Pflegesätzen) erlassen (BPflV, KHEntG). Die Länder haben aber die nähere Ausgestaltung der Krankenhaus(bedarfs)planung und die öffentliche Investitionsförderung in ihren Krankenhausgesetzen festzulegen. Dazu kommt, dass das Krankenhauswesen entscheidend mit dem Recht der Sozialen Krankenversicherung korrespondiert und vernetzt ist (vgl. §§ 39, 108, 109 SGB V). 3. Die Versorgungs- und Finanzierungsverantwortung ist verschränkt. Die sozialstaatlich begründete Schutzfunktion (Art. 20 Abs. 1 GG) durch die Gesetzgebung von Bund und Ländern näher ausgeformt, steht dabei im Vordergrund. Besteht einerseits die staatliche Gesamtverantwortung für eine „bedarfsgerechte Versorgung der (gesamten) Bevölkerung mit leistungsfähigen, eigenverantwortlich wirtschaftenden Krankenhäusern“ (§ 1 KHG) zu sorgen, – einschließlich einheitlicher Vergütungssätze (§ 17 KHG) auch für nicht gesetzlich versicherte Patienten – , so ist im Rahmen des Sozialrechts, insbesondere des Rechts der gesetzlichen Krankenversicherung (SGB V) bei der Leistungserbringung den Bedürfnissen der ge-
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rung im Spiegel der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: NZS 2003, S. 225; Udo Steiner, Das Bundesverfassungsgericht und die Volksgesundheit, in: MedR 2003, S. 1 ff. Zur verfassungsrechtlichen Problematik Hermann Butzer, Verfassungsrechtliche Anmerkungen zum GKV-Gesundheitsmodernisierungsgesetz, in: MedR 2004, S. 177, 178.
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setzlich versicherten Patienten besonders Rechnung zu tragen.7 Das GMG setzt auch für die gesetzlich Versicherten zur Steigerung der Effizienz und der Qualität auf das Prinzip des Wettbewerbs und will dies durch eine größere Flexibilisierung der Vertragsstrukturen erreichen.8 Die Vielgestaltigkeit der gesetzlichen Regelungen, die zahlreichen Regelungskompetenzen und die verschiedenen verbindlichen Vertragsgestaltungen führen dazu, dass die Rechtsmaterie „Krankenhausrecht“ unübersichtlich und nur mehr schwer durchschaubar geworden ist. III. Folgen des gegliederten Leistungssystems für die Patientenbehandlung 1. Die Abschottung der einzelnen Versorgungsbereiche mit unterschiedlichen Leistungs- und Vergütungsstrukturen führt oftmals zur Trennung der Behandlungsabläufe mit erheblichen Kommunikations- und Koordinierungsdefiziten. Die fehlende Durchgängigkeit und Transparenz des Leistungsgeschehens hat aber auch gravierende Auswirkungen auf Leistungsfähigkeit und Wirtschaftlichkeit der Versorgung insgesamt. Übergänge aus dem einen Sektor in den anderen, wie von der ambulanten zur stationären medizinischen Akutversorgung oder zur Langzeitbehandlung und zur Rehabilitation, von der medizinischen zur pflegerischen und sozialen Betreuung bedeuten oftmals eine Unterbrechung der Behandlung des Patienten. Beschränkende Elemente für die gebotene medizinische Einheit der ärztlichen Behandlungsabläufe und Betreuung des Patienten führt zu unwirtschaftlichen Verfahrensweisen (z. B. Doppeluntersuchungen, Doppelvorhaltungen, Wartezeiten, unwirtschaftliche Auslastung und Nutzung der Medizintechnik u. a.).9 Überversorgung und Fehlversorgung haben ihre Ursachen auch in der unzureichenden Verzahnung und Vernetzung der einzelnen Leistungsbereiche. 2. Ziel einer durchgreifenden Reform der Leistungsstrukturen muß es deshalb sein, die Behandlung stärker an den Versorgungsbedürfnissen des einzelnen Patienten zu orientieren und die Leistungs- und Vergütungssysteme einheitlich auszurich-
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Z. B. haben nach § 2 Abs.1 S. 3 SGB V Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen und den medizinischen Fortschritt zu berücksichtigen. Ulrich Orlowski, Ziele des Gesundheitsmodernisierungsgesetzes, in: MedR 2004, S. 202. GKV-Reformgesetz 2000, BT-Drs. 14/1245, S. 53 ff., 91; s. auch Franz Knieps, Neue Versorgungsformen, in: Friedrich E. Schnapp (Hrsg.), Handbuch des Vertragsarztrechts, München 2002, § 11 Rdnr. 1 ff.
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ten.10 Mehr Effizienz und größere Effektivität sind grundlegende Herausforderungen für die Zukunft.
B. Gesetzliche Regelungen zur Verzahnung der einzelnen Versorgungsbereiche I. Regelungskompetenzen für die Selbstverwaltung zu Kollektivverträgen 1. Die gesetzliche Übertragung von erweiterten Regelungskompetenzen an die gemeinsame Selbstverwaltung von GKV, Vertragsärzten und Krankenhausverbänden für kollektive Verträge sollte zu einer besseren Verzahnung der ambulanten und stationären Versorgung führen. Zwei- und dreiseitige Verträge auf Landesebene auf der Grundlage von bundesweiten Rahmenempfehlungen (§ 112 Abs. 1, 2 und 5; § 115 Abs. 1, 2 und 5 SGB V) sollen die sektoralen Behandlungsabläufe verbinden und Art und Umfang der Krankenbehandlung effektiver gestalten und qualitativ verbessern. Die vertraglichen Regelungen sind für die Krankenkassen, die einzelnen zugelassenen Krankenhäuser im Land und die Vertragsärzte unmittelbar rechtsverbindlich („Normsetzungsverträge“; § 112 Abs. 2 S. 2, § 115 Abs. 2 S. 2 SGB V). Diese normative Wirkung der Regelungen wirft eine Reihe verfassungsrechtlicher Fragen auf, insbesondere zur demokratischen Legitimation der Verbandsebene, die bisher verfassungsgerichtlich noch nicht abschließend geklärt sind.11 2. Unter Berücksichtigung der Nachrangigkeit vollstationärer Versorgungsformen (§ 39 Abs. 1 S. 2 SGB V) sieht der gesetzliche Regelungskatalog beispielhaft Verträge vor über: 10
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Die Einführung der DRG-bezogenen Fallpauschalen im Krankenhaus (§ 17, § 17 b KHG) sollte zwangsläufig auch zu einer Neuausrichtung der Vergütungen im ambulanten vertragsärztlichen Bereich führen (§ 85 SGB V). Die Umstellung der Vergütung ab 2007 vom floatenden Punktwert zu arztgruppenspezifischen Regelleistungsvolumina (§ 85 Abs. 4 S. 6 bis 8, § 85 a, § 85 b SGB V) kann hierbei nur als erster Schritt hin zu pauschalen Vergütungsformen angesehen werden. Die Entscheidung des BVerfG zu den Festbeträgen v. 17. 12. 2003 (NZS 2003, S. 144 f.) ist hier unmittelbar nicht einschlägig. Sie lässt aber erkennen, dass das BVerfG Eingriffskompetenzen auch für die soziale Selbstverwaltung aus der langen , in die vorkonstitutionelle Zeit zurückreichenden Tradition für verfassungsrechtlich zulässig ansieht. Zur Normsetzung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss Friedhelm Hase, Verfassungsrechtliche Bewertung der Normsetzung durch den Gemeinsamen Bundesausschuss, in: MedR 2005, S. 391-397.
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Herbert Genzel – die Überprüfung der Notwendigkeit und Dauer der Krankenhausbehandlung, einschließlich eines Katalogs von Leistungen, die in der Regel teilstationär12 erbracht werden können (§ 112 Abs. 2 Nr. 2 SGB V); – Verfahrens- und Prüfungsgrundsätze für Wirtschaftlichkeits- und Qualitätsprüfungen, (§ 112 Abs. 2 Nr. 3 SGB V); – den nahtlosen Übergang von Krankenhausbehandlung zur Rehabilitation und Pflege (§ 112 Abs. 2 Nr. 4 SGB V); – die Förderung des Belegarztwesens und der Behandlung in Einrichtungen, in denen die Versicherten durch Zusammenarbeit mehrerer Vertragsärzte stationär und ambulant versorgt werden (Praxiskliniken; § 115 Abs. 2 Nr. 1 SGB V)13; – die gegenseitige Unterrichtung über die Behandlung der Patienten sowie über die Überlassung und Verwendung von Krankenunterlagen (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 SGB V); – die Zusammenarbeit bei der Gestaltung und Durchführung eines ständig einsatzbereiten Notdienstes (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 SGB V); – die Durchführung einer vor- und nachstationären Behandlung im Krankenhaus nach § 115 a SGB V einschließlich der Prüfung der Wirtschaftlichkeit und der Verhinderung von Missbrauch (§ 115 Abs. 2 Nr. 4 SGB V); – die allgemeinen Bedingungen der ambulanten Behandlung im Krankenhaus (§ 115 Abs. 2 Nr. 5 SGB V).
3. Die weite Fassung der gesetzlichen Regelungen und die beispielhafte Aufzählung der Regelungsinhalte gibt den Selbstverwaltungspartnern in den Ländern einen weiten Gestaltungsspielraum. Da sie diesen nach dem Erlass des GRG nicht hinreichend nutzten, sah sich der Gesetzgeber im GStruktG und GKV-GesundheitsreformG 2000 veranlasst, weitergehende gesetzliche Festlegungen für die Kran12
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Der Begriff der „teilstationären“ Versorgung ist gesetzlich nicht näher definiert. Er wird aber von der Legaldefinition des § 2 Nr. 1 KHG umfasst („untergebracht und versorgt werden können“). Teilstationäre Versorgungsformen sind die Behandlung und Betreuung in Tag- und Nachtkliniken, wobei die Leistungselemente Unterkunft und Verpflegung zurücktreten. Im Hinblick auf die Abgrenzung zur ambulanten Behandlung, steht bei der teilstationären Versorgung das einheitliche Behandlungskonzept in einer Einrichtung, innerhalb eines überschaubaren zeitlichen Rahmens unter Einsatz der verschiedenen Professionen im Krankenhaus im Vordergrund. Wegen der fließenden Übergänge sollten durch die Leistungen im Katalog auch aus Gründen der Vergütung näher präzisiert und abgegrenzt werden. Der mehrdeutige Begriff der „Praxisklinik“ ist hier entsprechend der Zielsetzung der Regelung, eine leistungsfähige und wirtschaftliche belegärztliche Behandlung zu fördern, auszulegen. Die Einrichtung ist ein Krankenhaus i. S. d. § 2 Nr. 1 KHG, § 107 Abs. 1 SGB V, in dem durch organisatorische Verbindung mit niedergelassenen Vertragsärzten (z. B. Gemeinschaftspraxen) die Versorgung „unter einem Dach“ auch ambulant erfolgen kann. Träger der Klinik und Träger der ambulanten Praxen können, brauchen aber nicht identisch zu sein. Auch die Abrechnungswege der jeweiligen Leistungen (stationär und ambulant) laufen entsprechend den allgemeinen Grundsätzen (z. B. für belegärztliche Leistungen § 121 Abs. 3 SGB V) getrennt. Eine Praxisklinik ist demnach eine modifizierte Belegarztklinik unter organisatorischer Anbindung von ärztlichen Praxen.
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kenhausbehandlung (§ 39 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB V) zu treffen. Die Behandlungskompetenzen des Krankenhauses bestehen demnach kraft Gesetzes für: – die vor- und nachstationäre Behandlung (§ 115 a SGB V); – das ambulante Operieren und sonstige stationsersetzende Eingriffe (§ 115 b SGB V)
Die nähere Ausgestaltung der Behandlungsformen einschließlich der Vergütungen bleibt weiter vertraglicher Ausgestaltung der Partnern vorbehalten (§ 115 a Abs. 3, § 115 b Abs. 1 und 3 SGB V). Kollektivvertragliche Regelungen einer sektorenübergreifenden medizinischen Versorgung wurden in den Ländern nur eingeschränkt vereinbart. Der Gesetzgeber hielt es deshalb für geboten, weitere integrative Gestaltungsformen vorzusehen.14 II. Die Einführung der „Integrierten Versorgung“ 1. Eine größere Flexibilisierung der Vertragsstrukturen durch die Ausweitung der Möglichkeiten zum Abschluss von Einzelverträgen (§ 53 SGB X) zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und den Leistungsanbietern, sollte die Schaffung durchgängiger Versorgungskonzepte fördern. Neben der kollektivvertraglichen Ausgestaltung der Beziehung der Selbstverwaltungspartner sollte eine gleichwertige einzelvertragliche Basis ermöglicht werden. Mit der Einführung der „Integrierten Versorgung“ (InV) durch das GKVGesundheitsreformG 200015 im Rahmen der Gewährleistungspflicht der GKV wird für die Selbstverwaltung ein die verschiedenen Leistungssektoren übergreifendes Instrumentarium geschaffen (§ 140 a bis § 140 h a. F. SGB V). Nachdem die gesetzlichen Möglichkeiten kollektiver Vertragsgestaltung zur besseren Verzahnung ambulanter und stationärer Versorgung nur ungenügend genutzt wurden, erhoffte sich der Gesetzgeber neu Impulse. Dabei war klar erkennbar, dass eine Integrationsversorgung nur dann erfolgversprechend umgesetzt werden konnte, wenn es gelang, den akutstationären Versorgungsbereich Krankenhäuser (§ 107 Abs. 1 SGB V) und die Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen (§ 107 Abs. 2 SGB V) in die zu schaffenden Versorgungsnetze einzubeziehen. Die leistungsmäßige Verbindung von Gemeinschaften niedergelassener Vertragsärzte und Krankenhäuser stand im Vordergrund.
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Auch die nach dem 2. NOG möglichen „Modellvorhaben“ zur Weiterentwicklung der Verbesserung der Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung (§§ 63, 64 SGB V) haben keine größere praktische Bedeutung erlangt. Ähnlich verhielt es sich mit den Strukturverträgen nach § 73 a SGB V für den ambulanten Bereich (vernetzte Praxen). Gesetz zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Jahr 2000 (GKVGesundheitsreformgesetz 2000 – GRG –) v. 22. 12. 1999 (BGBl. I, S. 2626).
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2. Wesentliche Ziele einer Integrationsversorgung sind: – – – –
das Angebot ganzheitlicher Versorgung der GKV-Versicherten zu erweitern, bessere Versorgungsqualität zu ermöglichen, neue Gestaltungsspielräume für die Selbstverwaltung zu eröffnen und die Steuerungsverantwortung der einzelnen Krankenkassen zu stärken.
Die Realisierung dieser Ziele stellte für die Selbstverwaltung hohe Anforderungen, bedeutet sie doch den Abbau bestehender erheblicher Interessengegensätze. 3. Das Gesetz legte nur die Rahmenbedingungen für die InV fest, die einzelvertragliche Ausgestaltung blieb den Selbstverwaltungspartnern vorbehalten (§ 140 a, § 140 b a. F. SGB V). Die einzelnen Krankenkassen und die gesetzlich bestimmten Leistungserbringer (§ 140 b Abs. 2 a. F. SGB V) wie zugelassene Vertragsärzte, Kassenärztliche Vereinigungen, zugelassene Krankenhäuser16, Vorsorge- und Rehabilitationseinrichtungen schließen Vereinbarungen entsprechend den gesetzlich vorgegebenen Kriterien (§ 140 b Abs. 3 und 4 a. F. SGB V). Soweit die vertragsärztliche Versorgung eingeschlossenen ist, galten auch die Rahmenvereinbarungen nach §140 d a. F. SGB V auf Bundesebene. Für den stationären Bereich konnten die Spitzenverbände der Krankenkassen mit der DKG Rahmenvereinbarungen über Inhalt und Durchführung der InV schließen (§ 140 e a. F. SGB V). Zwingende Voraussetzung für die InV im stationären Bereich war dies allerdings nicht. Die Teilnahme der Versicherten an integrativen Versorgungsformen ist freiwillig (§ 140 a Abs. 3 a. F. SGB V). Auch die Ausgestaltung der Leistungsvergütungen blieb der Vereinbarung der Partner vorbehalten. Sie waren allerdings für alle Benutzer einheitlich zu berechnen (§ 140 c a. F. SGB V). Um dem Sinn und der Eigenart der InV Rechnung tragen zu können, insbesondere Qualität, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Versorgung zu verbessern, konnten die Verträge Abweichendes von den Vergütungsregelungen des SGB V (§ 69 ff.) sowie den Bestimmungen des KHG und den darauf beruhenden Regelungen insbesondere der BPflV festlegen. Dieser weite Gestaltungsspielraum sollte Anreize für die Einführung der InV bieten. Grundsätzlich gilt der Grundsatz der Vertragsfreiheit. Ein Rechtsanspruch auf Abschluss eines Integrationsvertrags besteht nicht. 4. Die Unübersichtlichkeit der gesetzlichen Regelungen, die vielfach Kompromisscharakter hatten, die erheblichen Interessengegensätze in den bestehenden Versor16
Zur Vertragsgestaltung s. im einzelnen Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), Das Krankenhaus als Anbieter von Leistungen der integrierten Versorgung nach § 140 a bis h SGB V – Materialiensammlung, 2. Aufl., Düsseldorf u. a. 2002.
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gungsstrukturen und das Nebeneinander der verschiedenen Leistungs- und Vergütungssysteme mit unberechenbaren Auswirkungen führte dazu, dass die InV ohne größere praktische Bedeutung blieb. Es wurden nur einige wenige Versorgungsnetze meist im ambulanten Bereich geschaffen. III. Die Neuregelungen zur Integrationsversorgung durch das GMG 1. Um die Chancen zu erhöhen, dass sich zukünftig die InV besser als bisher etablieren kann, sah sich der Gesetzgeber des GMG veranlasst, die Regelungen entscheidend zu modifizieren. Durch größere Transparenz und Flexibilität soll die Verantwortung der Vertragspartner gestärkt werden. Die größere Organisationskompetenz der Partner soll zu qualitativ und wirtschaftlich überzeugenden Versorgungskonzepten führen. Der Gesetzgeber setzt auf die Innovationsbereitschaft der Beteiligten. Von grundlegender Bedeutung ist, dass die Verschränkung zwischen dem ambulanten Sicherstellungsauftrag der Kassenärztlichen Vereinigungen (§ 72, § 75 Abs. 1 SGB V) und den einzelvertraglichen Vereinbarungen zur InV aufgehoben wird (§ 140 a Abs. 1 S. 2 SGB V). Die Leistungen werden kraft eines eigenständigen, sektorenübergreifenden Einzelvertrags und nicht mehr im Rahmen eines kollektivvertraglich vereinbarten Normsystems erbracht. Die gesetzlichen Krankenkassen und die einzelnen Leistungserbringer schließen autonom und eigenverantwortlich Verträge über die Versorgung der Versicherten. Damit sollen auch Elemente eines Wettbewerbs in die Versorgungsstrukturen Eingang finden. Wettbewerb soll entstehen unter den einzelnen integrierten Versorgungsformen aber auch in Konkurrenz zur herkömmlichen allgemeinen tradierten Versorgung. Gute Qualität und dadurch Patientenakzeptanz sind Ziel der vertraglichen Regelungen. Für die Krankenhäuser bietet die InV eine Möglichkeit, sich über den stationären Versorgungsauftrag hinaus zu modernen medizinischen Dienstleistungszentren mit sektorenübergreifender Versorgung zu entwickeln.17 Dies liegt auch in der Intention der gesetzlich vorgegebenen Nachrangigkeit der vollstationären Behandlung (§ 39 Abs. 1 S. 1 und 2 SGB V).18 2. Im Einzelnen ist vorgesehen: 17
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Infolge der infrastrukturellen, organisatorischen und personellen Voraussetzungen bestehen für Krankenhäuser große Vorteile, durchgängige Versorgungskonzepte den gesetzlichen Krankenkassen anzubieten und umzusetzen. Vgl. DKG, GKV-Modernisierungsgesetz: Neue Versorgungsformen im Krankenhaus – Orientierungshilfe, Düsseldorf 2004 (im Folgenden „Orientierungshilfe“). Zur Vertragsgestaltung in der InV, Durchführung und Gestaltungshinweise: Franz-Josef Dahm, Vertragsgestaltung bei Integrierter Versorgung am Beispiel „Prosper – Gesund im Verbund, in: MedR 2005, S. 121-126; zur gesundheitspolitischen Bedeutung der InV vgl. Anouschka Strang, Sabine Schulze, in: G+G 10/2004, S. 32.
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a) Gegenstand der InV ist die Erfüllung des einzelvertraglich vereinbarten Leistungsspektrums. Dieses kann umfassen eine die verschiedenen Leistungssektoren übergreifende Versorgung oder eine interdisziplinär-fachübergreifende Versorgung der Versicherten. Damit ist sowohl eine vertikale (mindestens zwei verschiedene Leistungsbereiche) wie auch eine horizontale Vernetzung der Leistungserbringung möglich. Ein integriertes Versorgungsangebot kann deshalb auch eine Leistungserbringung innerhalb eines stationären Behandlungsfalles von der vor- bis hin zur poststationären Behandlung über die Voraussetzungen des § 115 a SGB V hinaus umfassen. Koordination und Zusammenarbeit im Krankenhaus kann damit entscheidend verbessert werden. Zu differenzieren vom Inhalt und Gegenstand der InV ist, wer der Vertragspartner der gesetzlichen Krankenkassen ist. Durch Kooperationsvereinbarungen können dabei die vertraglich zugesicherten Leistungen erbracht werden.19 b) Der Kreis der möglichen Vertragspartner der einzelnen Krankenkasse oder mehrerer Krankenkassen wird einerseits erweitert, aber andererseits eingeschränkt. Auch mit Trägern von Medizinischen Versorgungszentren (§ 95 Abs. 1 S. 2 SGB V) und mit Trägern, die nicht selbst Leistungserbringer sind, sondern mit den dazu Berechtigten kooperieren (z. B. Managementgesellschaften, Versorgungsketten u. a.) können Verträge geschlossen werden. Die gesetzliche Aufzählung (§ 140 b Abs. Nr. 1 bis 5 SGB V) ist abschließend. Die Rechts- und Gesellschaftsform des jeweiligen einzelnen Leistungsträgers oder eines Verbundes von Leistungsträgern ist unerheblich, so dass neben juristischen Personen des Privatrechts (Vereine, Stiftungen) auch Personal- und Kapitalgesellschaften Vertragspartner sein können. Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind hingegen nicht mehr Vertragspartner, da die Versorgung außerhalb des vertragsärztlichen Sicherstellungsauftrages erfolgt. Ihnen bleibt es aber unbenommen, im Rahmen kollektivvertraglicher Regelungen innerhalb ihrer Zuständigkeiten Vereinbarungen über eine integrative Versorgung zugelassener Ärzte zu schließen. Konsequenterweise wird auf die Anbindung der Einzelverträge an Rahmenvereinbarungen auf Bundesebene verzichtet.20 Auch die Landeskrankenhausgesellschaften können nicht Vertragspartner sein, da sie nicht Leistungsträger und Versorger sind.21 c) Bei der Durchführung der InV wird davon abgesehen, die Leistungserbringung fest an den jeweiligen Zulassungs-, Ermächtigungs- oder Berechtigungsstatus zu binden. Die Partner können sich auf der Grundlage des jeweiligen Zulassungssta19
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Ein Integrationsvertrag mit einem Krankenhaus, der ambulante, fachärztliche und stationäre Leistungen vorsieht, kann deshalb auch bestimmen, dass ambulante Leistungen über Kooperationsverträge mit Vertragsärzten sichergestellt werden, ohne dass diese Vertragspartner der Kassen sein müssten. Mit dem Inkrafttreten des GMG sind die bisherigen Rahmenvereinbarungen nach § 140 d und § 140 e a. F. SGB V entfallen. Krankenhausapotheken können in die integrierten Verträge eingebunden werden (§ 14 Abs. 4 ApthG).
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tus für die Umsetzung der InV darauf verständigen, dass (einzelne) Leistungen auch dann erbracht werden können, wenn die Erbringung dieser Leistungen vom Zulassungs- oder Ermächtigungsstatus des jeweiligen Leistungserbringers nicht gedeckt ist (§ 140 b Abs. 4 S. 3 SGB V). Für die Krankenhäuser und Krankenhausärzte hat dies insofern besondere Bedeutung, als (einzelne) Leistungen im Rahmen der InV – soweit vereinbart – auch ambulant erfüllt werden können, wenn sie vom stationären Versorgungsauftrag erfasst sind. Damit kann eine Teilöffnung von Krankenhäusern für ambulante Leistungen erfolgen. Die bisherige Abschottung der einzelnen Leistungssektoren sollte überwunden werden. Schnittstellenprobleme sind damit leichter zu lösen. Die medizinische Orientierung, insbesondere die Qualität des Behandlungsgeschehens soll unbedingten Vorrang erhalten. Sinn und Zweck der gesetzlichen Bestimmungen ist es aber, den vertraglichen Regelungen Grenzen zu setzen. Grundlage für die Verträge bleibt der jeweilige Zulassungsstatus. Bindend sind deshalb die berufsrechtlichen Zulassungsvoraussetzungen. Die Öffnung für die einzelnen Leistungen kann nicht bedeuten, dass im Rahmen der InV über den bestehenden Zulassungsstatus generell verfügt werden kann. Der Leistungsinhalt und der Leistungsumfang für die InV wird infolge dessen grundsätzlich bei Vertragsschluss vom berufsrechtlichen Zulassungsstatus des einzelnen22 Leistungserbringers abgesteckt. Die nicht eindeutige Regelung wird in der Praxis Abgrenzungsschwierigkeiten bereiten können, wenn der gesetzlich definierte Versorgungsauftrag des einzelnen Leistungserbringers in Beziehung gesetzt wird zum vertraglich definierten Leistungsumfang. Die gesetzlich festgelegten bedarfsplanerischen Vorgaben gelten auch für die InV.23 Sie sind zu beachten. Damit kann im Rahmen eines Integrationsvertrages ein Krankenhaus nur insoweit ambulante Leistungen erbringen, als die entsprechende Fachrichtung durch die Krankenhaus(bedarfs)planung in seinem stationären Versorgungsauftrag abgedeckt ist. Nur insoweit ist das Krankenhaus allgemein zugelassen (§ 108, § 109 SGB V).24 Eine Auflösung der in der Praxis entstehenden Kollisionen wird letztlich nur durch eine Orientierung am Vorrang der Qualität der jeweiligen Versorgungsleistungen erfolgen können. In den Verträgen müssen sich die Vertragspartner zu einer qualitätsgesicherten, wirksamen, ausreichenden, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgung der Versicherten verpflichten. Sie haben den gesetzlich vorgegeben Versorgungsstandard25 zu gewährleisten. Insbesondere haben die Vertragspartner die Gewähr dafür zu übernehmen, dass sie die organisatorischen, betriebswirtschaftlichen sowie 22 23
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Z. B. Einhaltung der Fachgebietsgrenzen bei der vertraglichen Leistungsdefinition. § 101, § 103 SGB V für den vertragsärztlichen Bereich; § 1, § 6 KHG und die Krankenhausgesetze der Länder. Besitzt ein Krankenhaus keine orthopädische Fachabteilung, so können auch entsprechende ambulante Leistungen nicht erbracht werden. Bedeutsam in diesem Zusammenhang insbesondere § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V, wonach Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen haben und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen müssen.
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medizinischen und medizinisch-technischen Voraussetzungen für die vereinbarte InV entsprechend dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse und des medizinischen Fortschritts erfüllen und eine an dem Versorgungsbedarf der Versicherten orientierte Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Versorgungsbereichen und einer zugänglichen ausreichenden Dokumentation sicherstellen (§ 140 b Abs. 3 S. 1 bis 3 SGB V). Unter dem Gesichtspunkt erhöhter Qualitätsanforderungen wird sich die InV in der Praxis in erster Linie auf Leistungen wie ambulante Operationen, stationsersetzende Eingriffe (§ 115 b SGB V) und hochspezialisierte Leistungen (§ 116 b SGB V) beziehen. Die InV kann hier vor allem zu einer größeren Flexibilisierung des Leistungsgeschehens führen. Eine weitergehende Öffnung der Krankenhäuser wird gegenwärtig von Seiten der Krankenkassen nicht favorisiert.26 d) Neben der Vereinbarung des Versorgungsangebots haben die Verträge auch Regelungen über die Vergütung der Leistungen zu enthalten (§ 140 c Abs. 1 SGB V). Die Leistungserbringer und die einzelnen Kassen können dabei die Preise frei gestalten, soweit Sinn und Eigenart der InV dies erfordert (§ 140 b Abs. 4 S. 1 SGB V). Die Partner sind nicht an ein bestimmtes Finanzierungssystem gebunden. Deshalb können die Vergütungen einzelleistungsbezogen, fallpauschaliert oder kopfpauschaliert ausgestaltet werden. Mit den Preisen sind sämtliche Leistungen, die von teilnehmenden Versicherten im Rahmen des Versorgungsauftrags in Anspruch genommen werden, abzugelten (§ 140 c Abs. 1 S. 2 SGB V). Auch die Inanspruchnahme von Leistungen, die von nicht an der InV Teilnehmenden erbracht werden, sind darin enthalten (§ 140 c Abs. 1 S. 3 SGB V). Gesetzlich eröffnet, ist auch die Möglichkeit, dass ein am Programm beteiligter Leistungserbringer insgesamt oder für Teilbereiche die Budgetverantwortung übernimmt. Die Zahl der teilnehmenden Versicherten und deren Risikostrukturen sind zu berücksichtigen. Ergänzende Morbiditätskriterien sollen in den Vereinbarungen ebenfalls Berücksichtigung finden. Zur Sicherstellung der Beständigkeit der InV ist dies unbedingt erforderlich. Der vereinbarte Preis kann für ein Krankenhaus mit Innovationskraft und leistungsfähigen und wirtschaftlichen Strukturen ausschlaggebend sein, ob und in welchem Umfang es sich an der InV beteiligt. Die Übernahme von Versorgungsrisiken hängt dabei entscheidend auch davon ab, welche Daten zur Verfügung stehen und welche Risiken zuverlässig prognostiziert werden können.27
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Besondere Fragen ergeben sich im Zusammenhang mit der Regelung nach § 140 b Abs. 3 S. 4 SGB V bei neuen Untersuchungs- und Behandlungsmethoden. Aufgrund der Fassung des Gesetzes besteht die Sperrwirkung für neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden erst, wenn der Gemeinsame Bundesausschuss (§ 91 SGB V) eine ablehnende Entscheidung getroffen hat. Entsprechende Verfahrens- und Abstimmungsregelungen, um insbesondere die Koordinierung mit dem ambulanten Bereich herbeizuführen, sind beim Gemeinsamen Bundesausschuss in Vorbereitung. Zu den Auswirkungen der Vergütungen auf das Krankenhausbudget im einzelnen DKG, Orientierungshilfe A, S. 11 ff.
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e) Um Anreize für integrative Verträge zu schaffen und insbesondere das Investitionsrisiko für einzelne Leistungserbringer zu minimieren, wird der Grundsatz der Beitragssatzstabilität (§ 71 SGB V) für die Vergütungsregelungen befristet bis Ende 2006 ausgesetzt (§ 140 b Abs. 4 S. 2 SGB V). Damit soll es auch ermöglicht werden, dass innerhalb der vertraglichen Leistungsbeschreibung sektorenübergreifende arbeitsteilige Behandlungskonzepte von einem Betriebs-, Qualitäts- und Leistungsmanagement getragen sind. Ohne zusätzliche finanzielle Aufwendungen erscheint dies nicht realisierbar. Die gesetzlichen Krankenkassen sollen die Möglichkeiten erhalten, dem Entwicklungs- und Förderbedarf einer leistungsorientierten InV Rechnung zu tragen. f) Der Beitritt Dritter zu den InV-Verträgen ist nur mit Zustimmung aller Beteiligten möglich (§ 140 b Abs. 5 SGB V). Damit soll das finanzielle Gleichgewicht bei den Vergütungen erhalten werden. Davon unberührt bleibt, dass Dritte eigene Verträge mit ähnlichen Bedingungen mit gesetzlichen Krankenkassen schließen können. g) Zur Förderung der InV in den Jahren 2004 bis 2006 stehen den Krankenkassen finanzielle Mittel zur Anschubfinanzierung von Versorgungsverträgen zur Verfügung, die aus der Gesamtvergütung der Vertragsärzte und den Krankenhausentgelten (bis zu 1%) einbehalten werden, soweit die einbehaltenen Mittel zur Umsetzung von Integrationsverträgen erforderlich sind (§ 140 d Abs. S. 1 SGB V).28 Die finanziellen Mittel stehen ausschließlich zur Finanzierung der in den Integrationsverträgen vereinbarten Vergütungen zur Verfügung. Eine anderweitige Verwendung der Mittel ist ausgeschlossen. Die einbehaltenen Beträge, die bis Ende 2006 nicht für Leistungen im Rahmen von Integrationsverträgen verwendet werden, sind zum Ende des Dreijahreszeitraums anteilig an die Leistungserbringer (Kassenärztliche Vereinigungen und Krankenhäuser), die durch die Kürzungen betroffen waren, zurückzuzahlen (§ 140 d Abs. 1 S. 5 SGB V)29.
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Zweck dieses Integrationsbudgets ist die Förderung der InV und die Lösung der Bereinigungsproblematik bei den Kollektivverträgen; zur Frage der Überprüfungsbefugnis der Kassenärztlichen Vereinigungen und der Krankenhäuser s. im einzelnen Orlowski, in: MedR 2004, S. 202, 204; zur Anschubfinanzierung im Einzelnen DKG, Orientierungshilfe A, S. 12 ff. Um Leistungserbringern, die von einer Rechnungskürzung betroffen sind, zu ermöglichen, die von einer Kasse vorgenommenen Kürzungen dem Grund und der Höhe nach nachvollziehen und nachweisen zu können, haben die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen, die Kassenärztliche Bundesvereinigung und die DKG am 11. 12. 2003 eine Vereinbarung über „die Einrichtung einer gemeinsamen Registrierungsstelle zur Unterstützung der Umsetzung des §140d SGB V“ geschlossen. Mit der Durchführung der Aufgaben wurde die Bundesgeschäftsstelle Qualitätssicherung gGmbH (BQS, Düsseldorf) beauftragt; s. DKG, Orientierungshilfe, Anhang I.
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3. Die InV gewinnt bei den Gesundheitsleistungen in der Praxis immer mehr an Bedeutung. 18 Monate nach Inkrafttreten des GMG sind in der Bundesrepublik rd. 300 Integrationsverträge mit verschiedenen Krankenkassen abgeschlossen worden. Dabei nehmen die Ersatzkassen mit rd. 150 Verträgen einen Spitzenplatz ein. Im Trend steht, dass die inhaltliche Komplexität und die medizinischen Anforderungen an die Leistungserbringer erheblich zugenommen haben. Nicht mehr das Zusammenführen von zwei Versorgungsbereichen (ambulant-stationär) mit einer pauschalen Gesamtvergütung steht im Vordergrund. Medizinische Zielsetzungen spielen bei der inhaltlichen Ausgestaltung eine immer größere Rolle. Die Orientierung an medizinischen Leitlinien, die Implementation von Innovationen, die in der medizinischen Versorgung der gesetzlich versicherten Patienten nicht im Vordergrund standen oder auch die langjährige Garantie durch die Leistungserbringer bei den endoprothetischen Operationen finden Eingang in die Verträge. In der Diskussion der gesetzlichen Krankenkassen steht das Ziel, in fünf Jahren rd. 20% der Vergütungen in die InV ohne weitere zusätzliche Anschubfinanzierung fließen zu lassen.
C. Die Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen durch das GMG I. Die erweiterten Möglichkeiten zur ambulanten Behandlung durch Krankenhäuser Zu den wesentlichen Zielen des GMG gehört es, die Wirtschaftlichkeit, Leistungsfähigkeit und Qualität der Versorgung zu erhöhen. Die Überwindung der sektoralen Grenzen bei der Erbringung medizinischer Leistungen wird deshalb als eine weitere Reformaufgabe deklariert. Der Wettbewerb zwischen verschiedenen Versorgungsformen soll ermöglicht werden, um den Patienten jeweils die ihren Erfordernissen am besten entsprechende Behandlung zu teil werden zu lassen. Damit sollen Rationalisierungsreserven erschlossen werden.30 Im einzelnen sind folgende die Krankenhäuser betreffende Maßnahmen vorgesehen: 1. Über die bisher bestehenden ambulanten Behandlungsmöglichkeiten der Krankenhäuser hinaus31 können Kliniken für bestimmte Fachgebiete auf Antrag zur 30
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Zur Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der Versorgungsstrukturen s. BT-Drs. 15/1525, S. 74. §§ 115 a, 115 b, 116, 117, 118 SGB V.
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vertragsärztlichen Versorgung vom Zulassungsausschuss (§ 96 SGB V) in Planungsbereichen, in denen der Landesauschuss der Ärzte und Krankenkassen Unterversorgung festgestellt hat (§ 100 Abs. 1 und 2 SGB V) ermächtigt werden, soweit und solange dies zur Deckung der Unterversorgung erforderlich ist (§ 116 a SGB V). Es ist dies eine bedarfsabhängige Teilnahmeform an der vertragsärztlichen Versorgung, wenn die Sicherstellung nicht bereits durch niedergelassene Ärzte in ausreichendem Maße gewährleistet ist. Die Ermächtigung dient der Schließung von bestehenden und festgestellten Versorgungslücken. Die Ermächtigung bezieht sich nur auf Behandlungsleistungen, die der vertragsärztlichen Versorgung zuzurechnen sind, nicht auf allgemeine Krankenhausleistungen. Mit der Ermächtigung nimmt deshalb das Krankenhaus mit Rechten und Pflichten an der vertragsärztlichen Versorgung teil (§ 95 Abs. 4 SGB V). Nach bisherigem Recht32 war die Erteilung von Institutsermächtigungen bei Unterversorgung nur subsidiär gegenüber vorrangig zu erteilenden persönlichen Ermächtigungen (z. B. niedergelassenen Ärzten oder Krankenhausärzten). Mit der Neuregelung wird diese Subsidiarität zu Gunsten einer Gleichrangigkeit der Institutsermächtigungen aufgehoben. Bestehende persönliche Ermächtigungen werden deshalb in Zukunft zu überprüfen sein. Der Zulassungsausschuss entscheidet bei festgestellter Unterversorgung nach pflichtgemäßem Ermessen. Ein Rechtsanspruch eines bestimmten Krankenhauses auf Ermächtigung besteht grundsätzlich nicht. Die dem Krankenhaus erteilte Ermächtigung ist zeitlich, räumlich und ihrem Umfang nach begrenzt. Die Inanspruchnahme des Krankenhauses zur ambulanten Behandlung kann unmittelbar oder auf Überweisung erfolgen, hierüber hat der Zulassungsausschuss zu entscheiden. Die Vergütung der ambulanten Leistungen ermächtigter Kliniken erfolgt nach den allgemeinen Grundsätzen des Vertragsarztrechts (§ 120 Abs. 1 SGB V). Sie kann auch pauschaliert werden und ist bei öffentlich geförderten Krankenhäusern um einen Investitionskostenabschlag von 10% zu kürzen (§ 120 Abs. 3 S. 1 und 2 SGB V). 2. Zugelassene Krankenhäuser (§ 108 SGB V), die mit ihrem stationären Leistungsangebot an der Durchführung strukturierter Behandlungsprogramme für chronisch Kranke (Disease-Management-Programme (DMP)33 nach § 137 f, § 137 g SGB V)
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Vgl. § 31 Ärzte-ZV. Ziel der vom Gesetzgeber initiierten Behandlungsprogramme ist es, den Behandlungsablauf und die Qualität der medizinischen Versorgung von chronisch Kranken zu verbessern. Die diagnostischen und therapeutischen Maßnahmen bei ausgewählten chronischen Erkrankungen sollen auf national und international anerkannten evidenzbasierten Leitlinien beruhen und mit geeigneten qualitätssichernden Maßnahmen verbunden sein. Evidenzbasierte Medizin bedeutet Integration von individuellen klinischen Erfahrungen (Können und Urteilskraft) und bestmöglicher externer Evidenz aus systematischer Forschung.
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teilnehmen,34 können mit den Krankenkassen Verträge über ambulante ärztliche Behandlung schließen, soweit die Leistungsanforderungen der Programme dies erfordern (§ 116 b Abs. 1 SGB V). Die Erbringung der ambulanten Leistungen im Rahmen der DMPs erfolgt auf der Grundlage von Einzelverträgen. Ein Rechtsanspruch des einzelnen Krankenhauses auf Abschluss eines entsprechenden Vertrags besteht nicht. Inhaltlich werden die Verträge vorbestimmt durch die mit Rechtsverordnung des BMG für die einzelnen DMPs beschriebenen Anforderungen.35 Sie beschränken den Handlungsspielraum für die Vertragspartner. Rechtsverordnungen nach den näheren Kriterien des § 137 f SGB V sind bisher ergangen für folgende chronische Erkrankungen: – – – –
Diabetes mellitus Typ 1, Diabetes mellitus Typ 2, Brustkrebs, koronare Herzerkrankungen.
Für weitere Indikationen, nämlich Asthma bronchiale und chronische Bronchitis (COPD) ist zwischenzeitlich36 eine Rechtsverordnung erlassen worden. Voraussetzung für die Teilnahme von Krankenhäusern an der ambulanten Behandlung bei DMPs ist, dass zur Sicherung der Qualität die sächlichen und personellen Anforderungen mindestens den Kriterien des § 135 SGB V für die ambulante Versorgung entsprechen (§ 116 b Abs. 1 S. 2 SGB V).37
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Die Verträge sollen die Versorgung von chronischen Patienten „aus einer Hand“ ermöglichen und zugleich zu einer gewissen Konzentrierung der Behandlung führen. Ein Krankenhaus kann allerdings nicht ausschließlich mit einem ambulanten Leistungsangebot an einem DMP teilnehmen. Die DMP sind in den Risikostrukturausgleich (RSA) eingebunden, der mit dem GStruktG zur Vermeidung von Verwerfungen im Wettbewerb der Kassen eingeführt wurde. Erstmals erfolgt nunmehr auch ein Transfer unter den Kassen, der die Morbidität im Sinne chronischer Erkrankungen berücksichtigt. Die einzelnen Programme werden deshalb auch in den jeweiligen ÄnderungsVOen zum RSA näher geregelt. Inkrafttreten der Rechtsverordnung am 1. 1. 2005. Im einzelnen zu den Vorgaben für DMPs, ihre Einbindung in den RSA der Krankenkassen sowie der Umsetzung der Programme in der Praxis s. DKG, Orientierungshilfe, S. 30 ff. Die DMP’s zur besseren Versorgung chronisch Kranker erlangen im medizinischen Behandlungssystem eine immer größere Bedeutung. Bundesweit beteiligten sich Anfang 2005 rd. eine Million Menschen an den einzelnen Programmen der Krankenkassen. Die Patienten werden von insgesamt 45.000 Ärzten und 450 Kliniken betreut. Die Gestaltungsformen sind vielfältig und erfordern im Einzelfall eine nähere rechtliche Bewertung und Überprüfung. Die verschiedenen DMP’s befinden sich in einem ständigen nicht spannungsfreien Nebeneinander in der Entwicklungsphase, der Einführung, im Routinebetrieb und der Überarbeitung aufgrund gemachter Erfahrungen. Eine Zwischenbilanz zu den DMP’s der AOK bei Evert Jan van Lenten, Aufbruch für chronisch Kranke, in: G+G Spezial 2/2005, S. 4.
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3. Neben der vertragsärztlichen Versorgung (§ 95 ff. SGB V) können Krankenkassen für ihre Mitglieder auf der eigenständigen Rechtsgrundlage des § 116 Abs. 2 SGB V durch Einzelverträge mit einzelnen zugelassenen Krankenhäusern (§ 108 SGB V) ambulante Versorgung anbieten. Die Teilnahme der Krankenhäuser an dieser ambulanten Behandlungsform im Rahmen von Verträgen kann erfolgen für die Erbringung hochspezialisierter Leistungen (CT/MRT-gestützte interventionelle schmerztherapeutische Leistungen, Brachytherapie) sowie zur Behandlung seltener Erkrankungen und Erkrankungen mit besonderen Behandlungsverläufen (wie Diagnostik und Versorgung von onkologischen Patienten, HIV/Aids Patienten, bei schweren Verlaufsformen rheumatologischer Erkrankungen, schwere Herzinsuffizienz, Tuberkulose, Multiple Sklerose, Mucoviszidose, Hämophilie u. a). Voraussetzung ist, dass die Leistungen und die Behandlung im gesetzlichen Katalog (§ 116 b Abs. 3 Nr. 1 und 2 SGB V) aufgeführt sind.38 Dieser Katalog ist durch Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (§ 91 SGB V)39 nach näheren gesetzlichen Kriterien zu ergänzen und laufend zu überprüfen (§ 116 b Abs. 4 SGB V).40 Problematisch ist, dass das Gesetz zwar allgemeine Voraussetzungen festlegt, aber keine näheren objektiven Kriterien zur Aufnahme neuer Erkrankungen und Leistungen enthält. Voraussetzung für die 38
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Die Regelungen ermöglichen es, dass Patienten mit schweren Erkrankungen entsprechend dem Katalog in der Klinik uneingeschränkt ambulant nachtherapiert werden. Die Erweiterung des Gestaltungsrahmens für die gemeinsame Selbstverwaltung durch das GMG bedingt die Konzentration der Entscheidungen in einem gemeinsamen Gremium. Der Gemeinsame Bundesausschuss (§ 91 SGB V) – G-BA – hat die ihm gesetzlich zugewiesenen Aufgaben durch Beschlüsse (Richtlinien und Empfehlungen) in der jeweiligen Zusammensetzung (§ 91 Abs. 2-7 SGB V) zu erfüllen. Zur Unterstützung seiner Tätigkeit und für Fragen von grundsätzlicher Bedeutung für die Qualität und Wirtschaftlichkeit der im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung erbrachten Leistungen gründet der G-BA ein fachlich unabhängiges, rechtsfähiges, wissenschaftliches Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen. Er ist zugleich Träger dieses Instituts. Es wird in der Rechtsform einer Stiftung des privaten Rechts geführt (§ 139 a SGB V). Die Finanzierung von G-BA und Institut ist durch eine eigenständige Regelung – Systemzuschlag – (§ 91 i. V. m § 139 c Abs. 1 SGB V) gesichert. Die Stiftungssatzung (§ 7) definiert im einzelnen die Aufgaben. Zu den einzelnen Aufgaben des G-BA vgl. Rainer Hess, Darstellung der Aufgaben des Gemeinsamen Bundesausschusses, in: MedR 2005, S. 385-389; zu den Aufgaben des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen vgl. Peter T. Sawicki, Aufgaben und Arbeit des Institutes für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, in: MedR 2005, S. 389-391 Durch Beschuss des G-BA vom 16. 3. 2004 wurde der Katalog der seltenen Erkrankungen und der Erkrankungen mit besonderem Krankheitsverlauf erstmals erweitert (z. B. seltene Erkrankungen: Diagnostik und Versorgung von Patienten mit Swyer/James/McLeod-Sydrom, mit biliärer Zirrhose u. a.; Erkrankungen mit besonderem Krankheitsverlauf: Patienten mit Querschnittslähmungen bei Komplikationen, die eine interdisziplinäre Versorgung erforderlich machen).
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Aufnahme in den Katalog ist, dass der diagnostische oder therapeutische Nutzen, die medizinische Notwendigkeit und die Wirtschaftlichkeit belegt sind, wobei bei der Bewertung der medizinischen Notwendigkeit und der Wirtschaftlichkeit die Besonderheiten der Leistungserbringung im Krankenhaus im Vergleich zur Erbringung in der vertragsärztlichen Praxis zu berücksichtigen sind (§ 116 b Abs. 4 S. 2 SGB V). Mit der Neuregelung sollte der Vertragswettbewerb durch die Schaffung paralleler Versorgungsmöglichkeiten verstärkt werden. Ein Rechtsanspruch des einzelnen Krankenhauses auf Vertragsabschluss besteht nicht. Den Kassen obliegt es, die Vorteile einer auch ambulanten Versorgung durch das Krankenhaus im Interesse einer durchgängigen Behandlungskonzeption zu nutzen. Auch Qualitätsvorteile bei spezialisierten und seltenen Leistungen durch interdisziplinäres Handeln können eine bedeutsame Rolle spielen. Vermeidung von Doppeluntersuchungen und effektive Auslastung der Medizintechnik im Krankenhaus sind weitere Gesichtspunkte für den Vorteil dieser Behandlungsform. Die Vergütungen der Vertragsleistungen des Krankenhauses erfolgt unmittelbar von den Krankenkassen ohne Anrechnungsmöglichkeit auf die vertragsärztliche Gesamtvergütung. Sie hat der Vergütung vergleichbarer vertragsärztlicher Leistungen zu entsprechen. Die Prüfung der Wirtschaftlichkeit und Qualität erfolgt durch die Krankenkassen (§ 116 b Abs. 5 SGB V). Für die Krankenkassen kann ein Anreiz für die Erweiterung ambulanter Behandlungsmöglichkeiten dann bestehen, wenn mit der Erbringung ambulanter Leistungen durch das Krankenhaus stationäre Leistungen ersetzt werden sollen. Mit der Einführung der DRGbezogenen Fallpauschalen (§ 17 b KHG) für die allgemeinen Krankenhausleistungen reduziert sich allerdings die Bereitschaft zur Zahlung zusätzliche ambulanter Leistungsentgelte. Dieser Gestaltungsrahmen ist sicherlich eine wesentliche Ursache, dass Verträge nach § 116 b Abs. 2 SGB V bisher soweit ersichtlich noch nicht abgeschlossen wurden.
D. Die „Medizinischen Versorgungszentren“ als ambulante Leistungserbringer I. Allgemeine Voraussetzungen 1. Als Anbieter ambulanter ärztlicher Leistungen können seit dem 1. 1. 2004 neben zugelassenen Ärzten, ermächtigten Ärzten, ermächtigten ärztlich geleiteten Einrichtungen auch zugelassene „Medizinische Versorgungszentren“ (MVZ) an der vertragsärztlichen Versorgung41 teilnehmen (§ 95 Abs. 1 S. 1 SGB V). Das GMG 41
Die Bestimmungen über die vertragsärztliche Versorgung gelten grundsätzlich entsprechend auch für Zahnärzte (§ 72 Abs. 1 S. 2 SGB V). Zur Sicherstellung der vertragszahnärztlichen Versorgung durch MVZ’s vgl. Karin Ziermann, Sicherstellung der ver-
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hat damit neue Versorgungsstrukturen ermöglicht. Nach der gesetzlichen Definition sind MVZ fachübergreifende, ärztlich geleitete Einrichtungen, in denen sich Ärzte, die in das Arztregister (§ 95 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 SGB V) eingetragen sind, als angestellte Ärzte oder Vertragsärzte betätigen (§ 95 Abs. 1 S. 2 SGB V). Für diese Einrichtungen gelten grundsätzlich alle Bestimmungen des Vertragsarztrechts (§ 72 Abs. 1 S. 2 SGB V).42 MVZ bedürfen deshalb der Zulassung (§ 95 Abs. 2 S. 5 SGB V). Die Anstellung eines Arztes in einem MVZ bedarf der Genehmigung des Zulassungsausschusses (§ 95 Abs. 2 S. 6 SGB V). Die Einrichtungen sind auch in die vertragsärztliche Bedarfsplanung bei Unter- und Überversorgung (§ 100 ff. SGB V) mit einbezogen.43 Anträge auf Zulassung eines MVZ sowie auf Genehmigung der Anstellung eines Arztes in einem zugelassenen MVZ sind abzulehnen, wenn bei Antragstellung für die dort tätigen Ärzte Zulassungsbeschränkungen nach § 103 Abs. 1 S. 2 SGB V angeordnet sind.44 Wegen der in den Ballungsräumen bestehenden Überversorgung in den verschiedenen Fachrichtungen wird dort eine Entwicklung neuer Versorgungsstrukturen nur sehr zögernd eintreten. 2. Die MVZ können von allen Leistungserbringern gegründet werden, die auf Grund von Zulassung, Ermächtigung oder Vertrag an der medizinischen Versorgung der Versicherten teilnehmen (§ 95 Abs. 1 S. 3 Hlbs. 2 SGB V). Damit können auch zugelassene Krankenhäuser (§ 108 SGB V) und mit einem Versorgungsvertrag ausgestattete Vorsorge- und Rehabilitationskliniken (§ 111 SGB V) Gründer und Träger (Betreiber) eines Versorgungszentrums sein.45 Zu unterscheiden von der Gründer- und Betreiberqualifikation ist die Fähigkeit, „fachübergreifend“ die Ein-
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tragszahnärztlichen Versorgung durch Medizinische Versorgungszentren, in: MedR 2004, S. 540-547. Z. B. die Normen der Ärzte-ZV (§ 98 SGB V, § 1 Abs. 3 Ärzte-ZV), die Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses (§ 92 SGB V) und der Bundesmantelverträge sowie der einschlägigen Gesamtverträge (§§ 82, 83 SGB V). Vgl. die Richtlinien des G-BA über die Bedarfsplanung sowie die Maßstäbe zur Feststellung von Überversorgung und Unterversorgung in der vertragsärztlichen Versorgung (Bedarfsplanungs-Richtlinien-Ärzte) i. d. F. vom 9. 3. 1993 (BAnz., Nr. 110 a, v. 18. 6. 1993) zuletzt geändert am 15. 6. 2004 (BAnz., Nr. 165, S. 19 677), bes. 8. Abschn., Nr. 38 ff. Bei Verzicht eines Vertragsarztes in einem Planungsbereich, für den Zulassungsbeschränkungen angeordnet sind oder bei Beendigung der Zulassung (Altersgrenze, Tod, Verzicht oder Entziehung) und Fortführung durch einen Praxisnachfolger gelten für MVZ Erleichterungen (§ 103 Abs. 4 a SGB V). S. im einzelnen zu den Ausgestaltungsmöglichkeiten DKG, Hinweise zur Gründung Medizinischer Versorgungszentren nach § 95 SGB V, 2. Aufl., Düsseldorf 2004 (im Folgenden „Hinweise“). Zu den offenen Rechtsfragen bei der Gründung von MVZ vgl. Manfred Andreas, Medizinische Versorgungszentren – Chancen oder Risiken für Krankenhaus und Chefarzt, in: ArztR 2005, S. 144-150.
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richtung „ärztlich“ zu leiten. Dies ist ähnlich wie in einem Krankenhaus organisatorisch sicherzustellen.46 3. Die Zentren können grundsätzlich in allen Rechts- und Organisationsformen betrieben werden (§ 95 Abs. 1 S. 3 Hlbs. 1 SGB V). Dies bedeutet, dass sowohl juristische Personen (Kapitalgesellschaften, Vereine, Genossenschaften), als auch Personengesellschaften als Rechtsformen in Frage kommen können. Soweit berufsrechtliche Regelungen durch die landesrechtlichen Heilberufsgesetze die Organisationsform etwa einer GmbH oder AG ausschließen, ist entgegenstehendes Landesrecht nach Art. 31 GG unbeachtlich. Im übrigen erscheint es zweifelhaft, ob diese Regelungen die MVZ überhaupt erfassen. Problematisch erscheinen auch die Gründung von Personalgesellschaften des Handelsrechts (wie OHG, KG u. a.), da Ärzte sowie andere freie Berufe (§ 1 Abs. 2 BÄO) sich mangels Gewerbeeigenschaft nicht als OHG oder KG zusammenschließen können. Partnerschaftsgesellschaften sind ausgeschlossen, soweit im MVZ juristische Personen Mitgesellschafter sind, da nach dem Partnerschaftsgesetz (§ 1 Abs. 1 S. 3 PartGG) nur natürliche Personen Mitglieder einer Partnerschaft sein können. In der Praxis werden sich aus Gründen der Rechtssicherheit als geeignete Rechtsformen vor allem die BGB-Gesellschaft, die GmbH der (nicht ideelle) rechtsfähige Verein und die privatrechtliche Stiftung herausbilden.47 II. Krankenhäuser als Träger „Medizinischer Versorgungszentren“ 1. Mit dem GMG ist ab 1. 1. 2004 den zugelassenen Krankenhäusern (§ 108 SGB V) die Möglichkeit eröffnet, im Rahmen des kollektiven Vertragsrechts allein, zusammen mit anderen Kliniken oder auch anderen Leistungserbringern (z. B. Vertragsärzten) MVZ zu gründen oder zu betreiben und damit an der vertragsärztlichen Versorgung der gesetzlich Versicherten teilzunehmen. Die Rechtsform der Trägerschaft ist bei der Gründung im einzelnen festzulegen und rechtlich auszugestalten (z. B. Gesellschaftervertrag, Satzung u. a.). In gleicher Weise müssen die Betriebsleitungs- und Organisationsstrukturen, insbesondere die Sicherstellung der fachübergreifenden Leistungen48 und die ärztliche Letztverantwortung eindeutig 46
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Für Krankenhäuser i. S. von § 107 Abs. Nr. 2 SGB V ist das Erfordernis „fachlichmedizinische ständige ärztliche Leitung“ ausdrücklich bestimmt. Vgl. die Empfehlungen in DKG, Hinweise, S. 12 ff.; Stephan Rau, Offene Rechtsfragen bei der Gründung Medizinischer Versorgungszentren?, in: MedR 2004, S. 667-672; zu den berufsrechtlichen Fragen vgl. Rudolf Ratzel, Hans-Dieter Lippert, Das Berufsrecht der Ärzte nach den Beschlüssen des 107. Deutschen Ärztetages in Bremen, in: MedR 2004, S. 525-533. Das Kriterium „fachübergreifend“ ist jedenfalls dann erfüllt, wenn mindestens zwei Ärzte verschiedener Fachgebiete tätig sind.
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bestimmt werden. Dies sind Zulässigkeitsvoraussetzungen für den Zulassungsantrag. Eine Trennung von Trägerverantwortung und Leitungsverantwortung in den verschiedenen Gremien ist dabei möglich. Es besteht innerhalb der gesetzlichen Vorgaben ein weiter Gestaltungsrahmen, der sich zukünftig in der Praxis sicher mehr konkretisieren wird, da ausreichende Erfahrungen mit dieser Einrichtung bisher nicht vorliegen.48a In einem MVZ werden die entsprechenden vertragsärztlichen Leistungen durch angestellte oder Vertragsärzte erbracht (§ 95 Abs. 1 S. 2 SGB V). Der Wortlaut der Bestimmung lässt Zweifel aufkommen, ob damit angestellte Ärzte des Krankenhauses in einem MVZ tätig sein und abrechnungsfähige Leistungen erbringen können. Nach § 20 Ärzte-ZV ist dies grundsätzlich ausgeschlossen. Die Rechtsprechung lässt eine gleichzeitige Tätigkeit eines Krankenhausarztes im Krankenhaus und in der Vertragsarztpraxis nur eingeschränkt49 zu. Dessen ungeachtet wird davon auszugehen sein, dass die Regelung der Ärzte-ZV nicht unmittelbar die neue Einrichtung des MVZ erfasst, andererseits aber im Vordergrund eine leistungsfähige, qualitativ hochwertige und wirtschaftliche Versorgung mit ambulanten ärztlichen Leistungen (§ 70 SGB V) zu stehen hat. Eine hohe Beanspruchung eines Krankenhausarztes in der Klinik wird ihn deshalb in der Regel von einer Tätigkeit in einem MVZ ausschließen, da er nicht in dem gebotenen Umfang zur ambulanten Versorgung der Versicherten zur Verfügung stehen wird. Es sind aber auch Gestaltungsmöglichkeiten denkbar (Teilzeitbeschäftigung, Nebentätigkeiten), bei denen der fachkompetente Einsatz erfahrener Krankenhausärzte geboten erscheinen kann. Bei entsprechender dienstvertraglicher Gestaltung mit einem bestimmten Zeitkorridor können deshalb Krankenhausärzte auch als „angestellte Ärzte“ des MVZ anzusehen sein. Im übrigen eröffnen die gesetzlichen Bestimmungen einen weiten Spielraum für Kooperationsverhältnisse zwischen Klinik und MVZ, die vor allem zeitliche Interessenkonflikte vermeiden helfen. 2. Die Einbeziehung von ambulanten vertragsärztlichen Leistungen in den stationären Versorgungsauftrag über die Errichtung von MVZ entspricht rechtlich der 48a
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Ein MVZ ist nach rechtlicher Struktur aber auch nach dem Leistungsangebot weder mit den ehemaligen Polikliniken in den neuen Bundesländern noch mit den Einrichtungen nach § 311 Abs. 2 SGB V vergleichbar; Manfred Zach, Die Gesundheitsreform im vorparlamentarischen Beratungsverfahren zwischen Bund und Ländern, in: MedR 2004, S. 206-210. Bei einem Krankenhausarzt, der nicht unmittelbar patientenbezogene Tätigkeiten ausübt (z. B. Pathologe) schließt die Tätigkeit als angestellter Krankenhausarzt eine gleichzeitige Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung nicht von vornherein aus (BSGE 81, S. 149). Zum Umfang eines Beschäftigungsverhältnisses im Krankenhaus und Betätigung als Vertragsarzt sowie zur Verfassungsmäßigkeit des § 20 Abs. 1 ÄrzteZV s. BSGE 89, S. 134; BSG, Urt. v. 5. 2. 2003 – B 6 KA 22/02 R; BVerfG, Beschl. v. 23. 9. 2002 – 1 BvR 1315/02.
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Forderung des § 39 Abs. 1 SGB V, wonach ambulante Versorgungsformen Vorrang vor voll- und teilstationärer Behandlung haben. Diese Subsidiarität wird bestimmt von der Realisierung des Behandlungsziels. Für ein Krankenhaus kann deshalb die Beteiligung an der ambulanten Versorgung unter rechtlichen, wirtschaftlichen, aber auch strategischen wettbewerbsmäßigen Gesichtspunkten von erheblicher Bedeutung sein. Im einzelnen werden von Krankenhausseite folgende Gründe ins Feld geführt:50 – Chance der weiteren Positionierung am ambulanten Gesundheitsmarkt, – Strategische Allianz im Rahmen des Leistungswettbewerbs und gegenüber Konkurrenten, – Aufbau einer vom Krankenhaus gesteuerten Versorgungskette durch Einbindung vertragsärztlicher Leistungen, – Interdisziplinäre Kooperation zwischen Vertragsärzten und nichtärztlichen Leistungserbringern (z. B. Physiotherapeuten, Logopäden u. a.), – Integrierte Versorgungsangebote ambulant/stationär51, – Kostensenkung durch bessere Ressourcenauslastung52, – Option der Marktanpassung infolge von Umstrukturierung (veranlasst durch das DRG-Vergütungssystem), – Abrundung des stationären Leistungsangebots, – Sicherstellung der ambulanten Versorgung in ärztlich unterversorgten Gebieten.
Infolge der heute in vielen Planungsbereichen bestehenden ärztlichen Überversorgung wird sich eine Neustrukturierung durch die Einrichtung mit MVZ erst sukzessive und in einem mittelfristigen Zeitraum entwickeln können. Dies setzt aber voraus, dass die neuen Versorgungsformen wie MVZ erst Auswirkungen haben können, wenn die Selbstverwaltung auch zeitlich die Chance erhält, das Instrumentarium zielgerichtet einzusetzen. 3. Die gesundheitspolitischen Erwartungen, die an die MVZ gestellt wurden, haben sich bisher nicht erfüllt. Auch die Bedeutung für die integrative medizinische Versorgung ist als gering einzuschätzen. Mitte 2005 gab es in der Bundesrepublik rd. 130 MVZ. 90 davon wurden von niedergelassenen Ärzten (im Durchschnitt 3,5 Ärzte) betrieben. 27 standen in der Trägerschaft von Krankenhäusern. MVZ sind vor allem aus Praxisgemeinschaften oder Gemeinschaftspraxen hervorgegangen, in denen zwei bis drei Ärzte verschiedener Fachrichtungen miteinander kooperierten. Als erhebliches Hindernis für die Gründung von MVZ hat sich die Bindung an die ambulante Bedarfsplanung erwiesen. Nicht erfüllt hat sich die Annahme, dass durch job-sharing vor allem frauen- und familienfreundliche Arbeitsplätze 50 51
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Vgl. im einzelnen DKG, Orientierungshilfe D., S. 47. Ein MVZ kann auch Vertragspartner eines integrierten Versorgungsvertrages nach § 140 b SGB V sein. Z. B. Nutzung freier Operationskapazitäten, bessere Auslastung medizinischer Großgeräte und Laboreinrichtungen.
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entstehen werden. Auch für strukturschwache Regionen, vor allem in den neuen Bundesländern, in denen Ärztemangel besteht, haben sich die MVZ nicht als Lösung erwiesen. Kliniken, die hier eine neue Versorgungsaufgabe erfüllen, finden keine geeigneten Ärzte. Zurückhaltung besteht bei den Kliniken auch deshalb, weil sie bei einem Wettbewerb mit niedergelassenen Ärzten befürchten, dass diese ihre Patienten dann in andere Krankenhäuser einweisen werden.
D. Zusammenfassende Gesamtbewertung I. Das gesetzliche Instrumentarium zur Verzahnung der Versorgungsbereiche 1. Die Kostendämpfungsgesetze im Gesundheitsbereich führten seit den 80er Jahren in regelmäßigen Abständen zu Eingriffen in den GKV-Leistungskatalog und zu höheren Selbstbeteiligungen der Patienten. Veränderungen der Leistungsstrukturen wurden zwar eingeleitet, aber immer wieder durch überholende gesetzliche Regelungen unterbrochen. Das gesetzliche Instrumentarium zur Überwindung der Grenzen von ambulanter und stationärer Versorgung ist nunmehr vielfältiger geworden. Durch das GMG sind die Gestaltungskompetenzen für die gemeinsame Selbstverwaltung, insbesondere den Gemeinsamen Bundesausschuss (§ 91 SGB V) erheblich erweitert worden. Die Richtlinienkompetenz steht eigenständig neben dem staatlichen Verordnungsrecht. In Fortführung der Rechtsprechung des BSG zur Frage der Rechtsnatur und Wirkungsweise der Richtlinien der Bundesausschüsse53 ist nunmehr die Verbindlichkeit gesetzlich festgeschrieben (§ 91 Abs. 9 SGB V). Nach den Erfahrungen der Vergangenheit erscheint es heute nur schwer prognostizierbar, ob im Hinblick auf die erheblichen Interessengegensätze der Krankenkassen und der Leistungserbringer die Umsetzung der neuen gesetzlichen Grundlagen zu einer Aufbrechung der Versorgungsstrukturen und damit zu einer qualitativen Verbesserung und Effizienz des medizinischen Leistungsgeschehens führen werden. Soviel dürfte sicher sein, dass der erhebliche Leistungs- und Kostendruck aufgrund des medizinischen Fortschritts und der demographischen Entwicklung zu mehr Kooperation und Koordination innerhalb und außerhalb des Krankenhauses zwingen. 2. Die Erfüllung der vorgegebenen Aufgaben für die Selbstverwaltung hängt entscheidend auch davon ab, welcher Zeitrahmen der Selbstverwaltung unter ord53
Im einzelnen Orlowski, in: Hans Joachim Maaßen, Jochaim Schermer, Manfred Zipperer (Hrsg.), SGB V. Gesetzliche Krankenversicherung. GKV Kommentar, Heidelberg, § 34 Rdnr. 10 ff.
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nungspolitischen Gesichtspunkten zur Verfügung steht.54 Die bereits eingeleitete „Reformdiskussion“ um völlig neue Finanzierungsstrukturen lässt befürchten, dass die Politik offensichtlich zeitlich nur in Wahlperioden denkt und die Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten der Selbstverwaltung damit zeitlich so beschränkt, dass ein Erfolg sich von vornherein nicht einstellen kann. Alle gesetzlichen Vorgaben sind eindeutig mittelfristig ausgelegt. Die Diskussion um neue Finanzierungsstrukturen unseres Gesundheitssystems gewinnt durch die vorgezogenen Bundestagswahlen aktuelle Bedeutung. Alle Parteien streben für die nächste Legislaturperiode eine Finanzreform der GKV an. Zwei Grundkonzepte mit nicht unerheblicher Variationsbreite stehen zur Wahl: Währen die Union die „Gesundheitsprämie“ mit einer Verlagerung des Solidarausgleiches in das Steuersystem will, setzen SPD und Grüne mit verschiedenen Modalitäten auf die „Bürgerversicherung“, die auf die Dauer die GKV zur Pflichtversicherung für alle Bürger einschließlich der Selbständigen und Beamten machen will. Die FDP will GKV und PKV gleichstellen und damit die GKV privatisieren, ohne aber für die Umsetzung dieser Pläne konzeptionell eindeutige Aussagen zu machen. „Prämienmodell“ und „Bürgerversicherung“ stoßen vor allem bei der PKV auf Skepsis und Widerstand, auch unter verfassungsrechtlichen Aspekten. Von seiten der GKV wird das steuerliche Prämienmodell als steuerliche Fehlkalkulation mit der Gefahr der Unterfinanzierung betrachtet. Bei der Bürgerversicherung wird befürchtet, dass kostspielige Risiken aus der PKV in die GKV überwechseln. Zur Diskussion gestellt ist neben einer „modifizierten Beitragsfinanzierung“ der GKV auch die Abschaffung der Pflichtversicherungsgrenze. Damit soll die Finanzierungsbasis der GKV erweitert werden. Die gegenwärtige Diskussion ohne klare und eindeutige konzeptionelle Vorgaben verunsichert die Partner der Selbstverwaltung, da sie das Vertrauen auf die Beständigkeit gesetzlicher Regelungen erschüttert und damit notwendige Handlungsaktivitäten hemmt. Eine der Hauptursachen für das Scheitern der Kostendämpfung in der Vergangenheit war auch die sich ständig verkürzende „Verfallszeit“ gesetzgeberischer Maßnahmen. Ob und inwieweit die Politik sich von diesen Erfahrungen der Vergangenheit leiten lässt, muss gegenwärtig ernsthaft bezweifelt werden.
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Die Gesetzesbegründung zum GMG (BT-Drs. 15/1525, S. 72) stellt die bereits eingeleiteten Maßnahmen in Zweifel: „Allerdings werden damit nicht alle Probleme der Zukunft gelöst. Die Systeme der sozialen Sicherung stehen mittel- und langfristig vor schwierigen Herausforderungen […]“. „Langfristig werden weitere Weichenstellungen zur nachhaltigen Finanzierung der GKV erfolgen müssen […].“
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II. Ziele und Bestimmungsfaktoren der gegenwärtigen Reformdiskussion 1. Im Vordergrund der Diskussion um eine durchgreifende Reform des Gesundheitssystems stehen unbestreitbar wirtschaftpolitische, also finanzielle Überlegungen, nämlich die Abkoppelung der Gesundheitskosten von den Lohnkosten. In der gegenwärtigen wirtschaftlichen Situation mit einer hohen Arbeitslosenquote und verschärften globalen Anforderungen an die Wirtschaft ist das ein verständliches Anliegen. Es sollte aber dabei bedacht werden, dass eine völlige Umstrukturierung eines Gesundheitssystems nicht nur unter zeitlichen Aspekten eindeutige mittelfristige Zielvorgaben haben muss, sondern auch inhaltlich von klaren Eckpunkten auszugehen hat. 2. Dabei sind entscheidende Bestimmungsfaktoren: – der untrennbare Zusammenhang der Leistungs- und Ausgabeseite insbesondere deren Finanzierung (Beitrags- oder Steuerfinanzierung), – das eindeutige und konfliktbegrenzende Verhältnis der gesetzlichen Krankenkassen zur Privatversicherung („Friedensgrenze“), – unter den verfassungsrechtlichen Vorgaben im Sinne sozialstaatlicher Solidarität Vorsorge zu treffen zwischen der voranschreitenden Überalterung der Bevölkerung und dem nur schwer prognostizierbaren medizinischen Fortschritt, – im Sinne der rechtsstaatlichen Beständigkeit zukunftssichere und sozial ausgewogene gesamtwirtschaftliche Lösungen innerhalb überschaubarer Zeiträume anzustreben, – Abbau und Vermeidung weiterer bürokratischer Organisations- und Versorgungsstrukturen, – Förderung von Qualitäts- und wettbewerblichen Elementen zur Steuerung im Versorgungssystem, – Anreize zur Stärkung der Selbst- und Eigenverantwortung der Bürger für ihre Gesundheit.
3. Die Herbeiführung eines breiten politischen Konsenses über diese Faktoren und die Festlegung entsprechender inhaltlicher Vorgaben ist dabei der einzige Weg, um unser gesundheitliches Versorgungssystem auf Dauer leistungsfähig und wirtschaftlich zu erhalten. Hierbei sollte aber auch kritisch bedacht sein: „Politik ist die Kunst, Probleme zu lösen, die man (meist) selbst geschaffen hat“ (Sir Peter Ustinov, Regisseur und Schauspieler).
Vertrauen, Kooperation und Organisation Probleme der Zusammenarbeit, der Übergabe und an Schnittstellen im Arzthaftungsrecht Dieter Hart
A. Einleitung Vertrauen darf investiert werden in höhere Kompetenz, bewährte Kooperation und abgestimmte Organisation. Ein so konzipiertes Vertrauensprinzip strukturiert das vertragliche und deliktische Haftungsrecht. Es entscheidet über den Pflichtenadressaten und damit den Haftungsschuldner bei einer Behandlung durch mehrere Personen in einer Institution und durch mehrere Institutionen innerhalb eines oder über mehrere Sektoren. Kooperation, Übergabe und Schnittstellen sind Kennzeichnungen für Problemkomplexe, die aufgrund von Kompetenzdifferenzierungen, Arbeitsteilung und gewollter oder erzwungener organisatorischer Verknüpfung von Personen und Institutionen entstehen. Es geht um die Bedingungen gelingender Kommunikation zwischen verschiedenen Akteuren. Ganzheitliche Behandlungskonzepte führen verschiedene Kompetenzen zusammen; Kompetenzdifferenzierungen erfordern bei interdisziplinär zu behandelnden Erkrankungen die Organisation ihres Zusammenwirkens; Arbeitsteilung innerhalb eines Teams setzt einen Behandlungsplan bzw. die Abstimmung der Disziplinen voraus; Arbeitsteilung über die verschiedenen Sektoren hinweg verlangt zusätzlich deren Abstimmung durch Übergabeorganisation; ökonomische Zwänge, economies of scale führen zu größeren Behandlungseinheiten und diese wiederum schaffen neue Übergabeprobleme und Schnittstellen; Qualitätszwänge, „bessere Qualität durch größere Zahl“ von Behandlungen führen zu Konzentrationen auf Kompetenzzentren und diese erfordern neue Organisationsformen und schaffen neue Übergabe- und Schnittstellen, und nicht zuletzt sind sozialgesetzliche Vorgaben für neue Organisationsformen und Kooperationen Auslöser für Letztere. Es sei nur auf Formen der integrierten Versorgung (§ 140a ff. SGB V), die medizinischen Versorgungszentren (§ 95 I SGB V), das Hausarztmodell (§ 73b SGB V) oder das ambulante Operieren (§ 115b SGB V) hingewiesen.1 Die moderne Medizin findet in sektorübergreifenden Unternehmenskooperationen und nicht mehr beim traditionellen Hausarzt ihr Organisationsmuster und die 1
Siehe den Überblick bei Peter Udsching, Probleme der Verzahnung von ambulanter und stationärer Krankenbehandlung, in: NZS 2003, S. 411 ff.
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Dieter Hart
moderne hausarztzentrierte Versorgung ist geradezu eine Funktion von Kooperationsanstößen und Übergaben und von Schnittstellenverbindungen. Unter solchen gewandelten Voraussetzungen medizinischen Handelns bedarf auch das haftungsrechtliche Vertrauensprinzip einer Überprüfung, das im Wesentlichen bei horizontalen und gegebenenfalls vertikalen Arbeitsteilungen innerhalb eines Sektors zum Tragen kam. Der Kern der folgenden Überlegungen gilt der Restrukturierung dieses Vertrauensprinzips und seines Umfelds unter veränderten Bedingungen.
B. Problemtypologie
ambulant
Rehabilitation
ambulant
ambulant Patientenpfad
stationär Pflege
Übergabeprobleme zwischen
Abteilungen Schema 1
Teams, Schichten
Disziplinen
Vertrauen, Kooperation und Organisation
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Schema 1 skizziert Patientenpfad2 und auf diesen Pfaden auftretende Schnittstellen mit Übergabe- und Kommunikationssituationen. Es geht um die Organisation der Kommunikation über verschiedene Stationen des Patientenpfades hinweg und diesen begleitend. Zwischen den Stationen bzw. Sektoren entstehen Schnittstellen, die durch „Übergaben“ überbrückt werden müssen. Es dürfen weder Qualitäts- noch Informationsverluste zulasten von Patientinnen und Ärztinnen/Pflege entstehen. Dieses Postulat kann nur eine effektive und effiziente Organisation guter Kommunikation zwischen den Akteuren einlösen. „Eine optimale Gestaltung von Schnittstellen setzt voraus, dass die Beteiligten systematisch und zuverlässig kommunizieren und kooperieren. Dies gilt sowohl innerhalb der eigenen Organisation als auch zwischen Organisationen.“3
Ob und wie das Haftungsrecht die Problematik aufnimmt, ist Gegenstand der folgenden Ausführungen. Die Gliederung des Textes folgt dem gezeichneten Patientenpfad und behandelt zunächst die Schnittstelle ambulant/ambulant (E.), dann ambulant/stationär (F.), wendet sich Übergabesituationen innerhalb des Krankenhauses zu (G.) und schließt mit stationär/ambulant (H.) ab. Die jeweiligen Kommunikationsszenarien betreffen im ersten Komplex (E.) Abgabe- bzw. Überweisungssituationen insbesondere zwischen Hausärzten und Fachärzten sowie den Weg zurück zum Hausarzt. Im zweiten Komplex (F.) stehen Abgabe- bzw. Einweisungssituationen zwischen ambulant tätigen Ärzten und Krankenhäusern zur Debatte. Den Schwerpunkt bilden jeweils die Anforderungen an den abgebenden wie den empfangenden Arzt und das empfangende Krankenhaus, wobei sich die unterschiedlichen Rollen zu verschiedenen Zeitpunkten in einer Person treffen können. Die dritte Schnittstelle (G.) ist die krankenhausinterne zwischen Schichten, Teams und Disziplinen, die vierte (H.) betrifft die Abgabe durch das Krankenhaus und die Übernahme durch den empfangenden Arzt, die Pflege oder die Rehabilitation. Die typischen Problemkonstellationen der Kommunikation lassen sich in drei Klassen beschreiben: – Abgabe (Über-/Einweisung), – Empfang und – Kooperation.
2
3
Der Begriff ist nicht im technischen Sinne von clinical pathway oder Behandlungspfad gemeint, der als Unterfall der Leitlinie den Weg des Patienten während einer stationären Behandlung von der Aufnahme bis zur Entlassung bezeichnet; siehe dazu etwa Matthias Schrappe, Clinical Pathways, in: Dieter Hart (Hrsg.), Klinische Leitlinien und Recht, Baden-Baden 2005, S. 163-171. Karin Bähr-Heinzen, Elke Freyenhagen, Hardo Lingad, Stefan Michalik, Matthias Schrappe, Die Überleitungsvisite verknüpft zwei Kliniken zum Wohl des Patienten – Die Marburger Uniklinik und die Hessische Berglandklinik betreiben integrierte Versorgung mit großem Erfolg, in: f&w 2/2004, S. 150-153.
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In der Abgabesituation stehen Pflichten des abgebenden Arztes gegenüber dem Patienten zur Debatte, damit dessen Behandlung beim empfangenden Arzt „reibungslos“ durch- oder fortgeführt werden kann. Die Abgabesituation tritt an allen vier Schnittstellen auf. Sie betrifft die Vorbereitung der (zeitlich auf dem Patientenpfad) weiterzuführenden Behandlung. Das angemessene Postulat für die Kommunikation lautet: „Das ,Problem’ des Patienten sollte bzw. muss dem empfangenden Arzt bekannt gemacht sein.“ In der Empfangssituation stehen Pflichten des empfangenden Arztes gegenüber dem Patienten zur Debatte, die Behandlung ordnungsgemäß durch- oder fortzuführen. Dazu gehört evtl. auch die Überprüfung der Abgabesituation. Die Empfangssituation tritt wiederum an allen vier Schnittstellen auf. Das angemessene Postulat für die Kommunikation lautet: „Der Patient sollte beim empfangenden Arzt bzw. Krankenhaus in Abstimmung mit dem abgebenden Arzt bzw. Krankenhaus behandelt werden.“ Die Kooperationssituation bezieht sich im Wesentlichen4 auf die stationäre Behandlung. Es geht um Teamarbeit, um das Zusammenwirken von Schichten innerhalb einer Klinik oder Abteilung und um das von verschiedenen Kliniken und Disziplinen. Wiederum geht es um die Einhaltung von Pflichten, die dem Patienten gegenüber aus Vertrag oder Delikt bestehen. Das angemessene Postulat für die Kommunikation lautet: „Die Organisation der Kommunikation muss Nachteile für den Patienten vermeiden, die aus der Kooperationssituation entstehen können.“ Es sei darauf hingewiesen, dass Abgabe und Empfang bei demselben Arzt vorkommen können, derselbe Arzt also zu unterschiedlichen Zeiten in unterschiedlichen Rollen gegenüber demselben Patienten tätig werden kann. Der Hausarzt gibt an den Radiologen ab und empfängt vom Radiologen.
C. Pflichtenberührung Prinzipiell können alle arzthaftungsrechtlichen Pflichtenpositionen für die Schnittstellenkommunikation bedeutungsvoll sein: – Die Pflicht zur ordnungsgemäßen Behandlung (Diagnose, Vorsorge, Therapie, Nachsorge, Pflege, Rehabilitation, zu denen jeweils die ordnungsgemäße Übergabe gehören kann) wird unter Standardaspekten, aber auch als Sicherungsaufklärung in den Blick kommen. – Die Pflicht zur ordnungsgemäßen Selbstbestimmungsaufklärung wird insbesondere als Verlaufsaufklärung, aber auch als „Organisationsaufklärung“ die ärztlichen Handlungen bestimmen. – Die vertragsrechtliche Pflicht zur wirtschaftlichen Aufklärung kann je nach dogmatischer Bewertung eine Rolle spielen.
4
Vergleichbare Kooperationen können in der integrierten Versorgung, in medizinischen Versorgungszentren und in Gemeinschaftspraxen existieren.
Vertrauen, Kooperation und Organisation
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– Die Pflicht oder Obliegenheit zur ordnungsgemäßen Dokumentation wird unter dem Aspekt der Ermöglichung der Weiterbehandlung für alle Problemkonstellationen erheblich sein. – Die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation begleitet alle drei (vier) genannten Pflichten jeweils unter dem Kommunikationsaspekt. Alle Pflichten obliegen dem Arzt oder Krankenhausträger gegenüber dem Patienten, aber einige dieser Pflichten stellen sich zugleich als Obliegenheiten bzw. als Verantwortlichkeit innerhalb und gegenüber der Ärzteschaft dar. Die Sorge für den Patienten bei diesen Kommunikationssituationen ist zugleich Sorge für den Kollegen und sich selbst. Um es zu betonen: Das patientenbezogene Pflichtengefüge wird durch ein professionsbezogenes kollegiales Obliegenheitengefüge überlagert. Die Pflichten zur ordnungsgemäßen Behandlung und zur Sicherungsaufklärung bestehen gegenüber dem Patienten, aber sie beziehen sich auch auf die „Anschlusssituation“: die abgebende Behandlung und Sicherungsaufklärung müssen dem Empfänger Patient und dem Empfänger Arzt den ordnungsgemäßen Anschluss ermöglichen, und das wird in der Regel durch die „Übergabedokumentation“, z. B. einen Arztbrief in der Form eines Diagnostikauftrags oder eines Entlassungsberichts, im Pflegebereich durch eine Überleitungsdokumentation geschehen. Die nicht rechtzeitige, fehlerhafte oder fehlende „Übergabedokumentation“ kann zum Behandlungsfehler (allein) des Abgebenden führen. Fortwirkende Fehler des abgebenden Arztes und auf diesem Fehler beruhende Fehler des empfangenden Arztes werden von der Einstandspflicht des Ersteren umfasst.5 Führt die Verletzung einer Pflicht zur guten Übergabeorganisation zu einem Behandlungsfehler des weiterbehandelnden Arztes, so haftet in der Regel nur der erste Verletzer.6 Dies ist einer der wenigen Fälle, in denen auch die Verletzung der Dokumentationspflicht als Behandlungsfehler sanktioniert wird. Insgesamt lässt sich das einschlägige arzthaftungsrechtliche Pflichtengefüge – zunächst individuell-behandlungsbezogene (Schema 2) und später organisationsbezogene Pflichten (Schema 3) – folgendermaßen schematisieren:
5
6
BGH, NJW 2003, S. 2311 ff., 2314; siehe auch Markus Gehrlein, Neuere Rechtsprechung zur ärztlichen Berufshaftung, in: ZGMR 2003, S. 7 ff., 8. Vgl. BGH, NJW 1986, S. 2367 – unterlassener Hausbesuch und verspätete Überweisung durch Hausarzt; 1980, S. 1905 – Verletzung der im Team übernommenen Patientenaufklärung; VersR 2003, S. 1128 – Abweichen vom Standard als Behandlungsfehler und Haftung bei Fehler des ersten Behandlers auch für Folgen der Zweitbehandlung, ohne dass dort ein Fehler geschehen wäre.
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1.
Behandlung
Sicherungsaufklärung
Standard 2.
Aufklärung
Verlaufsaufklärung [Organisationsaufklärung?]
Risikoaufklärung
[wirtschaftliche Aufklärung?] 3.
Dokumentation
4.
Einsicht
Schema 2
Behandlung mit Sicherungsaufklärung, Dokumentation und darauf bezogene Organisation sind die für die Schnittstellenproblematik besonders relevanten organisationsbezogenen Pflichtenpositionen. „Organisationsaufklärung“7 und wirtschaftliche Aufklärung8 sind zwei Pflichtenfelder, deren dogmatisch-strukturelle Bedeutung noch nicht endgültig geklärt ist, weil es dort insbesondere um das Spannungsverhältnis zwischen Haftungs- und Sozialrecht, um die Spannung zwischen
7
8
Dazu Dieter Hart, „Organisationsaufklärung“ – Zum Verhältnis von Standardbehandlung, Organisationspflichten und ärztlicher Aufklärung, in: MedR 1999, S. 47-50; teilweise anders Frank Pflüger, Patientenaufklärung über Behandlungsqualität und Versorgungsstrukturen – Erweiterte Haftungsrisiken für Arzt und Krankenhaus, in: MedR 2000, S. 6 ff.; ders., Krankenhaushaftung und Organisationsverschulden, Berlin 2002, S. 115 ff.; Erwin Deutsch, Andreas Spickhoff, Medizinrecht – Arztrecht, Arzneimittelrecht, Medizinprodukterecht und Transfusionsrecht, 5. Aufl., Berlin 2003, Rdnr. 211 f. Siehe die Andeutungen in diese Richtung bei Gerda Müller, Macht und Grenzen ärztlichen Handelns, in: GesR 2004, S. 257 ff., 264 f.; siehe auch die Ausführungen bei Angela Diederichsen, Zur Bedeutung ärztlicher Leitlinien für die Haftung aus einem Behandlungsverhältnis, in: Hart (Hrsg.), Klinische Leitlinien und Recht, S. 105-112, bes. S. 112; Frau Diederichsen ordnet die Differenzfälle (wegen Unwirtschaftlichkeit nicht im Leistungskatalog der GKV, aber zivilrechtlich Standard) der „therapeutischen Aufklärung, die das Selbstbestimmungsrecht gewährleisten soll“, zu. Siehe auch Pflüger, Krankenhaushaftung, S. 121 ff.
Vertrauen, Kooperation und Organisation
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haftungsrechtlichem und sozialrechtlichem Standard geht und in diesem Themenfeld grundsätzliche Klärungen noch immer ausstehen.9 Hinsichtlich des deliktischen Rechtsgutsbezuges stehen Gesundheitsschutz und Autonomieschutz (Behandlung, Selbstbestimmung, Dokumentation, Organisation) zur Debatte, vertragsrechtlich sind Hauptleistungspflichten (Behandlung, Aufklärung, Organisation) und Nebenpflichten (Dokumentation, wirtschaftliche Aufklärung) in der Rede. Im Vordergrund der haftungsrechtlichen Behandlung der Schnittstellenprobleme stehen der Gesundheitsschutz und die Hauptleistungspflicht Behandlung; die Dokumentation „dient“ beiden Rechtsgütern bzw. Hauptleistungspflichten. Der Gesundheitsschutz und die entsprechende Hauptleistung bezwecken auch organisatorisch den Ausschluss von und die Vorbeugung vor Gesundheitsrisiken für die Patienten durch Qualitäts- und Informationsvorkehrungen (auch) zur Ermöglichung von selbstverantworteter Mitwirkung. Der Autonomieschutz und die entsprechende Hauptleistung bezwecken auch die organisatorische Gewährleistung von Voraussetzungen selbstbestimmter Patientenentscheidung. Beide zielen nicht nur auf den unmittelbaren Schutz des Patienten, sondern auch mittelbar auf die Gewährleistung der informatorischen Voraussetzungen einer guten Behandlung trotz und gerade bei internen und extern/intern/externen Übergabeketten. Ein Schwerpunkt dieser behandlungs- und autonomiebezogenen Organisationspflicht liegt in der Kommunikation und „Dokumentation“, also der erforderlichen Information in der Kette der unterschiedlichen Disziplinen, Professionen und Stationen, um den guten Anschluss der Behandlung im ärztlichen und pflegerischen Bereich zu gewährleisten.10
9
10
Robert Francke, Dieter Hart, Zum Spannungsverhältnis zwischen dem Sozial- und Haftungsrecht – Verlangt das Haftungsrecht vom Arzt mehr als das Sozialrecht gestattet?, in: ZaeFQ 95 (2001), S. 732-734; Dieter Hart, Spannungen zwischen dem Haftungs-, Arzneimittel- und Sozialrecht, in: MedR 2002, S. 321-326. Darauf weist Pflüger, Krankenhaushaftung, S. 163 ff., 209 ff. mit Nachdruck und überzeugend hin.
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5.
Organisation
Behandlung/ Versorgung
[Sicherungs-] Aufklärung
[Selbstbest.] Aufklärung
Dokumentation
[wirt. Aufkl. ?] [Org.Aufkl. ?]
Einsicht
Übergabeorganisation
intern
extern
[fette Pfeile: gesichert; magere Pfeile: ungesichert] Schema 3
Die Organisation der guten Kommunikation in der Kette der Übergaben ist ein Zentrum der Schnittstellenproblembearbeitung.
D. Vertrauensgrundsatz und Kooperation Das Vertrauensprinzip – entwickelt an der Operation – hat einen strafrechtlichen Ursprung und wird herangezogen, um dort Einstandsverantwortlichkeiten festzu-
Vertrauen, Kooperation und Organisation
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legen und zu begrenzen.11 Im Haftungsrecht gehen die Meinungen scheinbar auseinander: Entweder wird es gar nicht12 oder modifiziert eingesetzt oder gleichermaßen anerkannt.13 Der BGH14 führt zur horizontalen Arbeitsteilung (im Krankenhaus) im Jahre 1991 aus: „Hiernach hat jeder Arzt denjenigen Gefahren zu begegnen, die in seinem Aufgabenbereich entstehen; er muß sich aber, jedenfalls solange keine offensichtlichen Qualifikationsmängel oder Fehlleistungen erkennbar werden, darauf verlassen dürfen, dass auch der Kollege des anderen Fachgebiets seine Aufgaben mit der gebotenen Sorgfalt erfüllt. Eine gegenseitige Überwachungspflicht besteht insoweit nicht […]“
In seiner jüngsten Entscheidung15 von 1999 zur horizontalen Arbeitsteilung (ebenfalls im Krankenhaus) heißt es: „Zwar hat der erkennende Senat in jenem Urteil den Grundsatz aufgestellt, dass jeder Arzt denjenigen Gefahren zu begegnen hat, die in seinem Aufgabengebiet entstehen, und dass er sich, solange keine offensichtlichen Qualifikationsmängel oder Fehlleistungen erkennbar werden, darauf verlassen darf, dass auch der Kollege des anderen Fachgebiets seine Aufgaben mit der gebotenen Sorgfalt erfüllt, ohne dass insoweit eine gegenseitige Überwachungspflicht besteht.“
Für die horizontale Arbeitsteilung bedeutet demnach der Vertrauensgrundsatz nach im Kern übereinstimmender Auffassung eine Verantwortlichkeits- und Haftungskonzentration auf die jeweilige professionelle Kompetenz.16 Dabei ist zuerst an die ärztliche Aufgabe nach Maßgabe von Gebietskompetenz, berufsständischen Vereinbarungen und konkreter Rollenverteilung anzuknüpfen.17 Der Arzt darf haftungsrechtlich auf des anderen Kompetenz und standardgemäßes Handeln vertrauen und kann für ihn nicht verantwortlich gemacht werden. Das Vertrauensprinzip gilt für die horizontale Arbeitsteilung im ambulanten und im stationären Bereich. Es bezieht sich prinzipiell auf die gesamte Behandlung (Anamnese, Diagnostik, 11
12
13
14 15
16
17
Erich Steffen, Wolf-Dieter Dressler, Arzthaftungsrecht – Neue Entwicklungslinien der BGH-Rechtsprechung, 9. Aufl., Köln 2002, Rdnr. 221. Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht – überraschend – für die Rechtsprechung des BGH; anders zuletzt BGHZ 140, S. 309, 313. Adolf Laufs, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, § 101 Rdnr. 1 unter Verweis auf BGH, NJW 1980, S. 649, 650; 1991, S. 1539; Christian Katzenmeier, Arbeitsteilung, Teamarbeit und Haftung, in: MedR 2004, S. 34 ff., bes. S. 35; Pflüger, Krankenhaushaftung, S. 158 ff. BGH, NJW 1991, S. 1539 – Operateur/Anästhesist bei HNO-Operation. BGHZ 140, 309, S. 313 Operateur/Anästhesist bei Augenoperation unter Bezug auf die vorangehend zitierte Entscheidung. Nutzen und Risiken aufzeigend Christian Katzenmeier, Arzthaftung, Tübingen 2002, S. 13 ff. Dieter Giesen, Arzthaftungsrecht, Tübingen 4. Aufl., 1995, Rdnr. 152 ff.; Bamberger/Roth-BGB/Spindler, 2003, § 823 Rdnr. 726 ff.; Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 234 m.w.N. aus der Rechtsprechung; MünchKomm-BGB/Wagner, 4. Aufl., München 2004, § 823 Rdnr. 655 ff.
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Diagnose, Therapie, Nachsorge, Rehabilitation), umfasst deshalb auch die Befunderhebung und das Labor. Das Vertrauensprinzip ist umso weniger erschütterbar, desto intensiver und bewährter die Kooperation zwischen den Ärzten oder Institutionen eingerichtet und ausgeübt ist. Vertrauen knüpft insofern an die professionelle Kompetenz und eine bewährte Kooperation an, die möglicherweise einen organisatorisch-institutionellen Rahmen gefunden hat. – Das Vertrauensprinzip findet eine Grenze am Anlass zum Misstrauen (Überprüfungspflicht). Erkennt oder muss der Arzt erkennen („Verdacht“; „Zweifel“), dass beim anderen Kompetenzmängel – hinsichtlich der Qualifikation oder der Qualität des Handelns – bestehen, so muss er diesen Anlässen des Zweifels nachgehen. Die Kooperation wird bei Verdachtsanlass unter einen (gegenseitigen) Überprüfungsvorbehalt gestellt.18 Anlässe für Zweifel werden sich bei Bewertungen (Befundinterpretationen, Diagnosen, Therapie(vorschläge) eher ergeben als bei objektiven Befunden und Laborwerten. Es ist ein Teil der Pflicht zur standardgemäßen Behandlung, dem Zweifel am standardgemäßen Handeln des Kollegen nachzugehen und ihn auszuräumen (Reaktionspflicht). – Das Vertrauensprinzip gilt nur unter dem Vorbehalt des Abstimmungsprinzips (Koordinationspflicht). Die Kooperation mehrerer Ärzte und die Kombination ihrer jeweiligen Behandlungsanteile zu einer Gesamtbehandlung muss die durch das Zusammenwirken möglich werdende Risikoerhöhung für den Patienten durch kollegiale Abstimmung vermeiden. Der BGH führt in der schon zitierten Entscheidung19 aus: „Dieser Grundsatz entspricht inhaltlich einem wesentlichen Prinzip der horizontalen Arbeitsteilung […]. Da auch hier das Wohl des Patienten oberstes Gebot und Richtschnur ist, muss für diese Zusammenarbeit der Grundsatz gelten, dass die beteiligten Ärzte den spezifischen Gefahren der Arbeitsteilung entgegenwirken müssen und es deshalb bei Beteiligung mehrerer Ärzte einer Koordination der beabsichtigten Maßnahmen bedarf, um zum Schutz des Patienten einer etwaigen Unverträglichkeit verschiedener von den Fachrichtungen eingesetzten Methoden oder Instrumente vorzubeugen. Unter diesem Blickpunkt ist […] schon nach allgemeinen Grundsätzen eine Pflicht der beteiligten Ärzte zu bejahen, durch hinreichende gegenseitige Information und Abstimmung vermeidbare Risiken für den Patienten auszuschließen […]“
Die Bedingungen der Behandlungszusammenarbeit müssen zuvor geklärt sein. Mögliche synergistische Negativeffekte sind prospektiv zu analysieren und zu bewerten (Kontrollpflicht) und im Unvertretbarkeitsfalle zu minimieren bzw. auszuschließen (koordinierende Reaktionspflicht). Es ist Teil der Pflicht zur standardgemäßen Behandlung, die Bedingungen der Kooperation zu kontrollieren und aus der Kooperation resultierende Risiken auszuräumen (Reaktionspflicht).
18
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Giesen, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 153; Bamberger/Roth-BGB/Spindler, § 823 Rdnr. 728; BGH, NJW 1994, S. 797, 798; 2002, S. 2944; zu Unrecht wesentlich enger Pflüger, Krankenhaushaftung, S. 158 f. BGHZ 140, S. 309, 316.
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Der Verstoß gegen diese Reaktionspflichten führt zum Behandlungsfehler; im ersteren Falle des Überprüfungspflichtigen, im letzteren Falle eines jeden der kooperierenden und für die Risiken mitverantwortlichen Ärzte.20 Prinzipiell kann der Arzt vorbehaltlich konkreter Anhaltspunkte für Zweifel auf die objektiven, im fremden Fach erhobenen einschlägigen Befunde vertrauen. Diese Ausprägung des Vertrauensprinzips hat aber jenseits des gekennzeichneten Überprüfungsvorbehalts auch einen Zeitvorbehalt: die Erhebung der Befunde muss zeitnah erfolgt sein, was sich jeweils nach der Erkrankung und der Indikation für neue bzw. andere (bessere) Befunderhebungen beurteilt. Der Befund darf nicht „veraltet“ sein. Insgesamt kann man scheinbar paradoxerweise formulieren: Vertrauen erübrigt die Kommunikation, aber es setzt sie auch voraus; Vertrauen ermöglicht die Kooperation, aber setzt sie auch voraus.
E. Schnittstelle I: ambulant/ambulant Die Thematik sei an der hausarztzentrierten Versorgung (§ 73b SGB V) demonstriert.21 Der Patient bzw. gesetzlich Krankenversicherte hat sich (gegenüber der Krankenkasse) für ein Jahr an einen Hausarzt gebunden und sich verpflichtet ambulante fachärztliche Leistungen nur auf Überweisung durch diesen in Anspruch zu nehmen. I. Hausarzt/Facharzt
Hausarzt
Facharzt
Der abgebende Hausarzt überweist an den Facharzt mit einem Auftrag in der Regel unter Zugrundelegung und Mitteilung erhobener Befunde, einer Verdachtsdiagnose und dem Hinweis auf weitere Abklärung durch zusätzliche Diagnostik („Diagnoseauftrag“). Der Überweisungsauftrag kann aber auch von einer Diagnose ausgehen, deren Therapie durch den Facharzt (Konsiliarius22) erfolgen soll (z.
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Die Ärzte haften gesamtschuldnerisch; vgl. BGHZ 140, S. 309. An dem Hausarztmodell der AOK, der Kassenärztlichen Vereinigung und dem Hausärzteverband in Sachsen-Anhalt beteiligen sich 5 Monate nach der Gründung bereits 1500 Hausärzte und 250.000 Versicherte; G+G Blickpunkt 11/2004. Siehe Adolf Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., München 1993, Rdnr. 557; zum Konsiliararztvertrag mit dem Krankenhaus siehe Michael Quaas, Rüdiger Zuck, Medizinrecht, München 2004, § 15 Rdnr. 92 ff.
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B. chirurgischer Eingriff). Der diagnostische kann mit dem therapeutischen Auftrag verbunden sein („Therapieauftrag“). 1. Diagnoseauftrag Der abgebende Hausarzt ist dem Patienten gegenüber aus dem Behandlungsvertrag verpflichtet, eine ordnungsgemäße Übergabe als Teil der Behandlungspflicht zu gewährleisten. Dazu gehört die Sicherungsaufklärung des Patienten ebenso (Information über den Inhalt der Überweisung) wie die inhaltlich sorgfältige Auftragsformulierung („Überweisung“) an den Facharzt. Der empfangende Arzt kann sich auf die zeitnah erhobenen Befunde verlassen. Im Übrigen liegt die weitere diagnostische Behandlung in seiner Verantwortung. Das bedeutet zuerst, dass er die Verdachtsdiagnose zu überprüfen und andere möglicherweise in Frage kommende Diagnosen in Betracht zu ziehen und abzuklären hat. Der empfangende Arzt darf also keinesfalls auf die Diagnose des abgebenden Arztes vertrauen. Wenn in der Überweisung nur eine bestimmte Diagnostik angefordert wird, wird sich der Vertrags(fach)arzt rückversichern, ob er eine zusätzliche für erforderlich gehaltene Diagnostik einsetzen soll.23 Dies ist wegen der kassenarztrechtlichen Abrechnungsmodalitäten (Wirtschaftlichkeitsgebot und Wirtschaftlichkeitsüberprüfung) sozialrechtlich nahegelegt24, haftungsrechtlich allerdings dem Patienten weder aus Vertrag noch Delikt geschuldet. Der BGH geht allerdings wohl auch vertragsrechtlich von einer Bindung des empfangenden Arztes an den Auftrag aus, weil er sich sonst in die Behandlung des überweisenden einmischte.25 Das erscheint auch vertragsrechtlich zweifelhaft, weil der Vertrag mit dem Patienten besteht und der empfangende Arzt diesem eine standardgemäße Diagnostik schuldet und dazu kann der Einsatz eines erweiterten diagnostischen Instrumentariums gehören.26 Das entspricht der Vertragskonstruktion. Der Patient schließt in der Regel aufgrund einer Vertretung durch den Hausarzt mit dem Facharzt einen eigenständigen Vertrag mit dem Inhalt Diagnoseerstellung.27 Der Diagnosearzt wird nach überwiegender Meinung in Literatur28 und Rechtsprechung29 in dieser Konstellation
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27 28
Nicht erforderlich ist zusätzliche Diagnostik, wenn angeforderte Diagnostik keinen auffälligen Befund erbringt; OLG Stuttgart, NJW-RR 2001, S. 960 f. Siehe Martin Rehborn, Erweiterte Vertragskompetenz der Krankenkassen unter besonderer Berücksichtigung der Verträge zur hausarztzentrierten und integrierten Versorgung – Vertragsgestaltungen aus der Sicht niedergelassener Vertragsärzte, in: VSSR 3/2004, S. 157 ff., 166. BGH, NJW 1994, S. 797, 798. Das bewertet der BGH an späterer Stelle in der genannten Entscheidung ebenso; BGH, NJW 1994, S. 797, 798 l. Sp. unten. BGH, NJW 1999, S. 2731 – Vertragsverhältnis zwischen Pathologen und Patient. Bernd-Rüdiger Kern, Arzt-, Behandlungsvertrag BVZ 335, in: Hans-Jürgen Rieger (Hrsg.), Lexikon des Arztrechts, 2. Aufl., Heidelberg (Stand: April 2004), Rdnr. 28 f.; Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 98 Rdnr. 15; Wieland Schin-
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aufgrund des Vertrages mit dem Patienten tätig und nicht etwa nur aufgrund des (durch die Überweisung erweiterten) Behandlungsvertrages mit dem Hausarzt. Es handelt sich um eine typische Übergabe- oder Schnittstellensituation, die besonders fehleranfällig ist.30 2. Therapieauftrag Auch hier ist der abgebende Hausarzt dem Patienten gegenüber aus dem Behandlungsvertrag verpflichtet, eine ordnungsgemäße Übergabe als Teil der Behandlungspflicht (Übergabeinformation) zu gewährleisten. Dazu gehört die inhaltlich sorgfältige Auftragsformulierung („Überweisung“) an den Facharzt. Wiederum hat der Hausarzt im Rahmen der Sicherungsaufklärung den Patienten über den Inhalt der Überweisung zu informieren. Bestehen an der diagnostischen Kompetenz des Hausarztes und an seiner Diagnose keine Zweifel, darf sich der empfangende, die Therapie ausführende Facharzt darauf ebenso verlassen wie auf die erhobenen Befunde.31 Ergeben sich allerdings solche Zweifel oder hätten sie sich ergeben müssen, dann muss der Facharzt ihnen nachgehen, anderenfalls er wegen eines eigenen Behandlungsfehlers haften kann.32 Der Überprüfungsvorbehalt ist in diesem Verhältnis mindestens ebenso streng zu handhaben, wie im Verhältnis von abgebendem Krankenhaus bzw. Facharzt zum Hausarzt.33 Im Übrigen ist der Facharzt vertraglich dem Patienten zur standardgemäßen Behandlung verpflichtet; selbstverständlich ebenso zur Sicherungs- und Selbstbestimmungsaufklärung im gebotenen Umfang. II. Facharzt/Hausarzt Der (beauftragte und nunmehr abgebende) Facharzt ist im Rahmen seiner Pflicht zur standardgemäßen Behandlung des Patienten verpflichtet, den nunmehr empfangenden Hausarzt über die Erfüllung des Auftrags zu informieren; er hat eine
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nenburg, Passivlegitimation im Arzthaftungsprozess bei ambulanter Behandlung, in: MedR 2000, S. 311, 315. Vgl. BGHZ 142, S. 126, 133 ff. = VersR 1999, S. 1241 – histologische Untersuchungen durch pathologisches Institut im Rahmen einer Behandlung durch einen Gynäkologen. Die schriftliche Mitteilung der Diagnose an den Patienten (in der Regel vertraglich geschuldet) bzw. den behandelnden Arzt („Arztbrief“) muss dem Auftrag angemessen schnell und sachlich umfassend erfolgen. Vgl. z. B. OLG Jena, GesR 2004, S. 180 f. Z. B. BGH, NJW 1994, S. 797, 798: „Hat der hinzugezogene Arzt jedoch aufgrund bestimmter Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit der ihm übermittelten Diagnose, dann muß er diesen Zweifeln nachgehen und darf sie nicht auf sich beruhen lassen […]. Das gilt insbesondere dann, wenn sich der überweisende Arzt an einen Spezialisten oder […] an eine Klinik wegen einer Leistung wendet, die er selbst nicht erbringen kann.“ BGH, NJW 2002, S. 2944.
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Berichtspflicht über die statt-gehabte Behandlung und die im Rahmen seiner Behandlung angefallenen Befunde, Diagnosen, den Therapievorschlag, die durchgeführte Therapie, evtl. festgestellte Besonderheiten, insbesondere Abweichungen von der ursprünglich gestellten oder Verdachtsdiagnose und eine evtl. erforderliche Nachbehandlung.34 Dem Patienten gegenüber ist er zusätzlich zur Sicherungsaufklärung und zur Abgabedokumentation verpflichtet und das beinhaltet ebenfalls die Erstellung eines Behandlungsberichts bzw. Arztbriefes. Die Sicherungsaufklärung35 hat zum Ziel, den Patienten zur Mitwirkung an der gerade stattfindenden und der zukünftigen Therapie zu befähigen und Gefahren von ihm abzuwenden.36 Der Inhalt der Sicherungsaufklärung wird sich deshalb teilweise mit dem Inhalt der Berichts- und Dokumentationspflichten decken. Es sei darauf hingewiesen, dass der Patient darüber entscheidet, wer den Abgabebericht erhält; er ist der Herr über die Verbreitung seiner persönlichen Informationen.37 Der Patient kann ein Interesse daran haben, den Arzt zu wechseln. In der Regel wird allerdings im Einverständnis des Patienten mit der Überweisung durch den Hausarzt an den Facharzt gleichzeitig die konkludente Einverständniserklärung liegen, dass der Hausarzt über die Ergebnisse informiert werden soll und darf. Diese Aussage gilt privatrechtlich, nicht sozialrechtlich: Nach § 73 Ib SGB V gilt das Erfordernis der schriftlichen Einwilligung des Versicherten in den Datentransfer (Erhebungs- und Übermittlungsrecht des Hausarztes, Übermittlungspflicht der anderen Leistungserbringer) sowohl beim Hausarzt wie bei anderen Leistungserbringern. Zum Umfang der Berichtspflicht ist die folgende Entscheidung des BGH über eine unterlassene, aber berichtspflichtige Information im Arztbrief (Verdachtsdiagnose) außerordentlich lehrreich: „Der hinzugezogene Arzt ist grundsätzlich gehalten, den behandelnden Arzt in einem Arztbrief über das Ergebnis des Überweisungsauftrages zu unterrichten […]. Diese Pflicht gehört zu den Schutzpflichten gegenüber dem Patienten, die eine solche Unterrichtung des die Behandlung führenden Arztes über die von ihm aus der Hand gegebene Behandlungsphase umfassen und die der hinzugezogene Arzt dem Patienten aufgrund der übernommenen Behandlungsaufgabe vertraglich wie deliktisch schuldet. Im übrigen gehört sie als Bestandteil der gegenseitigen Informationspflicht auch zu den Berufspflichten des Arztes […].“38 34
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Siehe etwa OLG Celle, VersR 1998, S. 1419 f. – Hausarzt – Urologe – Hausarzt; der Urologe darf sich darauf verlassen, dass der Hausarzt gegebenen Hinweisen auf klärungsbedürftige Befunde nachgehen wird. Siehe zu ihrer praktisch-klinischen Bedeutung Dorothea Strohbach, Cornelia VetterKerkhoff, Johannes Bogner, Wolfgang Breugst, Detlef Schlöndorff, Patient Medication Counseling – Patientenberatung zur Entlassungsmedikation, in: Medizinische Klinik 95 (2000), S. 548-551. Für den Bereich der Arzneimitteltherapie Dieter Hart, Arzneimitteltherapie und ärztliche Verantwortung, Stuttgart 1990, S. 116 ff. Robert Francke, Dieter Hart, Charta der Patientenrechte, Baden-Baden 1999, S. 253, 258 f. BGH, NJW 1994, S. 797, 798 f.
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Die umgekehrte Übergabe vom Facharzt zurück an den Hausarzt wirft prinzipiell wenige Probleme auf, weil der empfangende Hausarzt sich auf die (überlegene) Kompetenz des nunmehr wieder abgebenden Facharztes, der seine diagnostische oder therapeutische Aufgabe erfüllt hat, verlassen kann. Facharzt
Hausarzt
Dennoch gilt auch hier der Überprüfungsvorbehalt. „Anders sei es aber dann, wenn der Hausarzt ohne besondere weitere Untersuchungen aufgrund der bei ihm vorauszusetzenden Kenntnisse und Erfahrungen erkenne oder erkennen müsse, dass ernste Zweifel an der Richtigkeit der Krankenhausbehandlung und der dort seinen Patienten gegebenen ärztlichen Ratschläge bestehen. In einem solchen Fall dürfe er im Rahmen seiner eigenen ärztlichen Sorgfaltspflichten dem Patienten gegenüber offenbare Versehen oder ins Auge springende Unrichtigkeiten nicht unterdrükken.“39
Der Überprüfungsvorbehalt mündet in eine Reaktionspflicht gegenüber dem Patienten:40 „Dasselbe muss auch gelten, wenn der Hausarzt nach den bei ihm vorauszusetzenden Erkenntnissen und Erfahrungen jedenfalls gewichtige Zweifel und Bedenken hat, ob die Behandlung im Krankenhaus richtig war. Auch sie hat er, gegebenenfalls nach Rücksprache mit den Kollegen im Krankenhaus, mit seinem Patienten zu erörtern. Kein Arzt, der es besser weiß, darf nämlich sehenden Auges eine Gefährdung seines Patienten hinnehmen, wenn ein anderer Arzt seiner Ansicht nach etwas falsch gemacht hat oder er jedenfalls den drängenden Verdacht haben muss, es könne ein Fehler vorgekommen sein. Das gebietet der Schutz des dem Arzt anvertrauten Patienten […].“
Diese strenge Handhabung des Überprüfungsvorbehalts ist auf die vermutlich intimere Kenntnis des Hausarztes der Krankengeschichte des Patienten, seiner besonderen Reaktionsweisen und seiner konstitutionellen Bedingungen zurückzuführen. Es geht insofern – und das im Gegensatz zum vorher behandelten Verhältnis Hausarzt – Facharzt nicht um die überlegene Gebietskompetenz, sondern um die überlegene Information über und die Kenntnis des Patienten.
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BGH, NJW 2002, S. 2944 – zum groben Behandlungsfehler aus eigener gerichtlicher Wertung; der BGH bezieht sich in diesem Zitat auf seine Entscheidung in NJW 1989, S. 1536, 1538. Das Urteil bezieht sich zwar auf eine Übergabe aus dem Krankenhaus. Dies macht aber unter dem Überprüfungsaspekt keinen Unterschied. BGH, NJW 2002, S. 2944.
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Dieter Hart
III. Facharzt/Facharzt Dies ist der Prototyp der Anwendung des Vertrauensgrundsatzes in der horizontalen Arbeitsteilung.41 Er gilt vorbehaltlich der geschilderten Grenzen. Jeder darf sich auf die Kompetenz des anderen bei der Erledigung seiner Aufgabe im Rahmen der Gesamtbehandlung des Patienten verlassen. Aber es gilt auch hier: Jeder hat den Überprüfungsvorbehalt und das Abstimmungsgebot bzw. die Koordinationspflicht zu beachten. Facharzt
Facharzt
Erkennbare Nachlässigkeiten, etwa mangelhafte Dokumentation, fehlende Aufzeichnungen oder unterlassene Überprüfungen, Abweichungen vom Standard oder von aktuellen und qualitativ hochwertigen Leitlinien begründen die Notwendigkeit der Überprüfung und evtl. der Reaktion. „Die Anforderungen an die Geltung des Vertrauensgrundsatzes sind umso höher, je größer das Risiko eines Behandlungsfehlers und die daraus resultierende Gefährdung des Patienten ist […].“42
An allen drei Schnittstellen spielt die Übergabedokumentation eine entscheidende Rolle. Sie soll an der Schnittstelle stationär/ambulant stellvertretend für alle Übergabesituationen ausführlich behandelt werden (H.).
F. Schnittstelle II: ambulant/stationär Im Verhältnis ambulant/stationär wird von Krankenhausärzten beklagt, abgesehen von den unvermeidbaren Fällen der Notfalleinweisungen seien sie häufig nicht oder nur schlecht darüber informiert, „was auf sie zukomme“. Die umgekehrte und ebenfalls häufige Klage der niedergelassenen Ärzte lautet „schlechte oder keine Information über das, was passiert ist“. Dieser Befund ist in beide Richtungen beunruhigend, weil er deutliche Hinweise auf mögliche Behandlungsfehler enthält.
41
42
Vgl. BGH, NJW 1998, S. 1802, 1803 – Fortführung eines Bestrahlungsplans durch Urlaubsvertreter (Strafrecht). BGH, NJW 1998, S. 1802, 1803.
Vertrauen, Kooperation und Organisation
Hausarzt
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Krankenhaus
Der abgebende/überweisende (Haus-, Fach-) Arzt ist im Rahmen seiner Pflicht zur standardgemäßen Behandlung des Patienten verpflichtet, das aufnehmende Krankenhaus über den zu behandelnden Patienten, die (Verdachts-) Diagnose, die erforderliche Behandlung oder den Behandlungsvorschlag zu informieren. Er hat eine Berichtspflicht über die stattgehabte Behandlung und die im Rahmen seiner Behandlung angefallenen Befunde, Laborwerte, (Verdachts-) Diagnosen, den Therapievorschlag, die bis dahin durchgeführte Therapie, evtl. festgestellte Besonderheiten, evtl. Medikation, um die wichtigsten Inhalte zu nennen. Wünschenswert ist aus Sicht der empfangenden Klinik eine Vorab-Information, realistisch ist die Information mit der Überweisung (ad hoc), häufig erfolgt die Information erst nachträglich, manchmal überhaupt nicht. Bei planbaren Überweisungen sollte die Vorab-Information des aufnehmenden Krankenhauses eine Selbstverständlichkeit sein, ebenso wie das Krankenhaus entsprechende Vorkehrungen vorhalten sollte, um die daraus sich ergebenden notwendigen Vorbereitungen für die Aufnahme des Patienten zu treffen. Unterbleibt die Vorab- oder die ad hoc-Information durch den abgebenden Arzt, so führt dies zu Verzögerungen oder zu (überflüssigen) Mehrfacherhebungen von Befunden, die einerseits Gesundheitsbeeinträchtigungen, andererseits Kostensteigerungen zur Folge haben können. In § 6 der Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Verordnung von Krankenhausbehandlung (KrankenhausbehandlungsRichtlinien)43 heißt es zur Zusammenarbeit von Vertragsarzt und Krankenhaus: „Zur Unterstützung der Diagnostik und Therapie, der Vermeidung von Doppeluntersuchungen und der Verkürzung der Verweildauer im Rahmen der Krankenhausbehandlung hat der Vertragsarzt der Verordnung von Krankenhausbehandlung die für die Indikation der stationären Behandlung des Patienten bedeutsamen Unterlagen hinsichtlich Anamnese, Diagnostik und ambulanter Therapie beizufügen, soweit sie ihm vorliegen.“
Haftungsrechtlich wird bei planbaren Überweisungen die entsprechende Unterlassung der Überweisungsinformation oder ihre Fehlerhaftigkeit wegen der unvertretbaren und vermeidbaren schädlichen Folgen einer Zeitverzögerung der dringlich indizierten Behandlung (bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen) zum Behandlungsfehler des überweisenden Arztes führen. Das setzt allerdings voraus, dass im Verhältnis überweisender Arzt zum empfangenden Krankenhaus das Vertrauensprinzip gilt, also das Krankenhaus sich auf die erhobenen Befunde und die ärztlichen Bewertungen ansonsten verlassen darf. Hier gilt prinzipiell das im Verhältnis Hausarzt/Facharzt Ausgeführte. Auf die zeitnah erhobenen Befunde darf sich das Krankenhaus verlassen, es sei denn, es verfügt über qualitativ bessere diagnostische Mittel und deren Einsatz ist indi43
Richtlinien über die Verordnung von Krankenhausbehandlung i. d. F. der Bekanntmachung vom 24. 03. 2003, BAnz. Nr. 188 vom 09. 10. 2003.
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Dieter Hart
ziert.44 Hinsichtlich der Diagnose und des Therapievorschlags wird man differenzieren müssen: Kommt die Überweisung vom Facharzt und betrifft sie eine Behandlung innerhalb seines Gebiets, gilt das Vertrauensprinzip mit seinem Überprüfungsvorbehalt im Verdachtsfalle. Kommt die Überweisung vom Hausarzt, ist die Art des Überweisungsauftrags entscheidend: Bei einer Verdachtsdiagnose „zur weiteren Veranlassung“ hat das Vertrauensprinzip selbstverständlich keinen Platz; bei einer Diagnose mit Therapievorschlag gilt hinsichtlich des Therapievorschlags kein Vertrauensprinzip45, hinsichtlich der Diagnose als Regel der Überprüfungsvorbehalt und das Vertrauensprinzip nur im Ausnahmefalle (bei einfachen Diagnosen ohne komplexe Bewertungserfordernisse). Die unterlassene, aber erforderliche Einweisung führt zum Behandlungsfehler des Einweisungspflichtigen.46 Im empfangenden Krankenhaus ist bei gesetzlich krankenversicherten Patienten gemäß § 39 I 2 SGB V zu prüfen, ob eine vollstationäre Behandlung erforderlich ist, also das Behandlungsziel nicht durch teilstationäre, vor- und nachstationäre oder ambulante Behandlung einschließlich häuslicher Krankenpflege erreicht werden kann. Eine vorstationäre Behandlung ist gemäß § 115a I Nr. 1 SGBV möglich, um die Erforderlichkeit einer vollstationären Krankenhausbehandlung zu klären. Sie ist zeitlich begrenzt (§ 115a II 1 SGB V). „Das Krankenhaus hat den einweisenden Arzt über die vor- oder nachstationäre Behandlung sowie diesen und die an der weiteren Krankenbehandlung jeweils beteiligten Ärzte über die Kontrolluntersuchungen und deren Ergebnis unverzüglich zu unterrichten.“ (§ 115a II 6 SGB V).
Es handelt sich hier um eine sozialgesetzliche Regelung der Unterrichtungspflichten des (abgebenden) Krankenhauses gegenüber dem einweisenden Arzt. Der Pflichteninhalt deckt sich mit dem vertrags- oder deliktsrechtlich Geschuldeten auf der Ebene der Pflicht zur ordnungsgemäßen Behandlung und Dokumentation. Bei ambulanten Operationen, die in der GKV in der Regel auf Veranlassung eines niedergelassenen Vertragsarztes unter Verwendung eines Überweisungsscheines durchgeführt werden sollen, entscheidet der für den Eingriff gemäß § 115b SGB V verantwortliche Arzt über Art und Umfang des ambulanten Eingriffs.47 Weder ist eine Bindung des empfangenden Arztes an die Diagnose noch an den Therapievorschlag des überweisenden Arztes gegeben. Eine Verpflichtung zur ambulanten Erbringung besteht nicht, da in jedem Einzelfall zu prüfen ist, 44
45
46
47
Laufs, Arztrecht, Rdnr. 528; ders., in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 101 Rdnr. 8; Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 235. Bernd-Rüdiger Kern, Haftungsrechtliche Fragen und Probleme des ambulanten Operierens, in: NJW 1996, S. 1561 ff., 1566. Vgl. OLG Oldenburg, NJW-RR 1997, S. 1117 f. – Krankenhauseinweisung bei Meningitisverdacht. § 2 des Vertrages nach § 115b Abs. 1 SGB V – Ambulantes Operieren und stationsersetzende Eingriffe im Krankenhaus zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft sowie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Stand: Änderungsvereinbarung vom 15. März 2004, www.krankenhaus-aok.de.
Vertrauen, Kooperation und Organisation
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„ob Art und Schwere des beabsichtigten Eingriffs unter Berücksichtigung des Gesundheitszustands des Patienten die ambulante Durchführung der Operation nach den Regeln der ärztlichen Kunst mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten erlauben. Zugleich muss sich der Arzt vergewissern und dafür Sorge tragen, dass der Patient nach Entlassung aus der unmittelbaren Betreuung des operierenden Arztes auch im häuslichen Bereich sowohl ärztlich als ggf. auch pflegerisch angemessen versorgt wird. Die Entscheidung ist zu dokumentieren.“48
Die sozialrechtlichen Regelungen des Vertrages entsprechen den haftungsrechtlichen Verpflichtungen sowohl des abgebenden wie des empfangenden Arztes.
G. Schnittstelle III: krankenhausinterne Übergaben und Kooperationen Innerhalb des Krankenhauses als Großorganisation lässt sich die Vielzahl an Schnittstellen in drei Komplexe typisieren: Der Patient bewegt sich von einer Abteilung in die nächste; er wechselt zwischen Disziplinen, was Ersterem nicht entsprechen muss; er wird von unterschiedlichen Teams und/oder in unterschiedlichen Schichten behandelt. Ein wichtiges Instrument, die Schnittstellenprobleme organisatorisch zu bewältigen, sind die clinical pathways oder Patientenpfade, die den Weg des Patienten bei bestimmten Behandlungen durch das Krankenhaus mit seinen Stationen und Verfahren festlegen.49 Im Krankenhaus geht es vor allem um die Organisation der ordnungsgemäßen Kommunikation in typisierten Übergabesituationen.
48 49
§ 2 III des genannten Vertrages. Teilweise existieren umfassende Konzepte eines Patientenmanagements in einzelnen oder über mehrere Kliniken hinweg; dazu z. B. H. Fries, J. Kleeff, P. Büchler, W. Hartwig, J. Schmidt, S. Radnic, S. Auer, M. W. Büchler, Zentrales Patientenmanagement in der Chirurgie, in: Chirurg 73 (2002), S. 111-117.
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Dieter Hart
Übergabeprobleme zwischen
Abteilungen
Teams, Schichten
Disziplinen
Schema 4
Für die Organisation haben der Vertrauensgrundsatz und das Abstimmungsprinzip entscheidende Bedeutung. Ersterer bewährt sich im Krankenhaus, weil dort die Bedingungen guter Kooperation institutionell gegeben sind und praktisch auch ausgeübt werden sollten und können.50 Die Organisation bewährt sich aber erst in der Ausformung des Überprüfungsvorbehalts und – weit wichtiger noch – des Abstimmungsprinzips.51 „Korrelat des Vertrauensgrundsatzes ist jedoch die Pflicht zur ordnungsgemäßen Organisation des Behandlungsgeschehens […].“52 Dass das Vertrauensprinzip zwischen den Ärzten desselben Krankenhauses abteilungs- und disziplinübergreifend gilt, ist unbestritten; ebenfalls dass es zwischen unterschiedlichen Disziplinen innerhalb von Behandlungsteams Platz greift. Gleichermaßen gilt der Überprüfungsvorbehalt. Dem Vertrauensgrundsatz geht allerdings das Abstimmungsprinzip vor: Ohne vorherige Abstimmung der beteiligten Fachärzte kein Vertrauen.53 Erst die Organisation der Abstimmung zwischen den Disziplinen ist eine gute Organisation – ihr Fehlen oder ihre Fehlerhaftigkeit führt zum Organisationsfehler. Insofern ergibt sich eine Pflichtenhierarchie bei der guten Kommunikation an Übergabestellen im Krankenhaus:
50 51 52 53
Vgl. BGH, NJW 1991, S. 1539 – Operateur/Anästhesist. BGHZ 140, S. 309. Bamberger/Roth-BGB/Spindler, § 823 Rdnr. 599. Zuletzt prägnant BGHZ 140, S. 309 ff.
Vertrauen, Kooperation und Organisation
863
Pflichtengefüge Organisation von Kommunikation
Abstimmung zwischen Personen + Disziplinen
innerhalb von Teams
zwischen Schichten
Überprüfungsvorbehalt
Vertrauensgrundsatz individuelle Verpflichtung der Behandlungsbeteiligten zur Abstimmung Schema 5
Die zitierte Entscheidung des BGH bezieht sich nur auf die individuelle Verpflichtung zur Abstimmung als Voraussetzung für die Geltung des Vertrauensgrundsatzes.54 Dass der BGH nicht zu einer Organisationspflichtverletzung kommt, liegt an der Sachverhaltskonstellation; es wird der falsche Krankenhausträger verklagt (Land statt Universitätsklinik). Eine Organisationspflichtverletzung war aber durchaus in Betracht zu ziehen.55 Die beiden Bereiche Team- und Schichtarbeit seien herausgegriffen. Der Schwerpunkt liegt auf der Pflicht zur Dokumentation.
54 55
Insbesondere BGHZ 140, S. 309, 316. Ebenso Katzenmeier, in: MedR 2004, S. 34 ff., 36 f.
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Dieter Hart
I. Teamarbeit Die Arbeit in ärztlichen Behandlungsteams eines Krankenhauses ist einerseits gekennzeichnet durch die jeweilige Verantwortlichkeit des einzelnen Arztes für den eigenen Bereich56, andererseits ist die Teamarbeit der Anwendungsfall des Vertrauensgrundsatzes.57 Hier gelten die geringsten Einschränkungen seiner Wirkungen. Der Überprüfungsvorbehalt gilt. Beherrscht wird die Teamarbeit vom Abstimmungs- oder Koordinationsgrundsatz. Existierende Vereinbarungen zwischen Fachgesellschaften über die Kooperation der Disziplinen – z. B. Anästhesie und Chirurgie – werden durch die Rechtsprechung haftungsrechtlich als standardfestlegend gewertet.58 Der Sache nach handelt es sich bei solchen Vereinbarungen zwischen Disziplinen um organisatorische Absprachen, die einerseits die Aufgaben- und Verantwortungsbereiche festlegen, damit andererseits und gleichzeitig Organisationsprinzipien für die Durchführung von Behandlungen, also Grundsätze guter Organisation aufstellen, die durch die Rechtsprechung als „Behandlungs-“ oder „Organisationsstandard“ rezipiert werden. Es zeigt sich hier eine Parallele zur Rezeption ärztlicher Leitlinien im Haftungsrecht, die ihrerseits den medizinischen Standard ohne rechtliche Abänderungskompetenz festlegen können; hinsichtlich des Organisationsstandards bleibt es allerdings nach allgemeiner Meinung bei der rechtlichen Festlegung.59 Dieser Differenzierung folgt auch Katzenmeier.60 Der Standard guter Organisation wird rechtlich nach medizinischer Beratung festgesetzt im Unterschied zum Behandlungsstandard, der allein medizinisch bestimmt ist.61 Die Organisationspflicht des Krankenhausträgers, die Kooperation innerhalb des Teams institutionell als Behandlungsvoraussetzung zu gewährleisten, wird begleitet von der individuellen Verpflichtung der im Team arbeitenden Fachärzte, die Koordination der Einzelelemente der Behandlung, die den gesamten und einheitlichen Behandlungsprozess ausmachen, unter Vermeidung von Risiken aus dem Zusammenwirken zu sichern. Die individuelle Koordinationspflicht ist Teil der Pflicht zur ordnungsgemäßen Behandlung. Sie ist wiederum die Grundlage für die 56
57 58
59
60 61
Ein Beispiel aus dem ambulanten Bereich: Zusammenwirken von chirurgisch tätigem Gynäkologen und Anästhesist OLG Düsseldorf, VersR 2002, S. 1151 ff. – postoperative Überwachung des Patienten nach ambulanter Laparoskopie. Laufs, Arztrecht, Rdnr. 527 f., 530; RGRK-Nüßgens, § 823 Rdnr. 217 f. Wiederum jüngst BGHZ 140, S. 309, 316; 89, S. 263, 267 f.; ein weiteres Beispiel OLG Düsseldorf, VersR 2002, S. 1151 ff. – postoperative Überwachung des Patienten nach ambulanter Laparoskopie. Dieter Hart, Ärztliche Leitlinien und Haftungsrecht, in: Hart, Klinische Leitlinien, S. 81-104. Katzenmeier, in: MedR 2004, S. 34 ff., 36 f. Dieter Hart, Arzneimittelinformation zwischen Sicherheits- und Arzthaftungsrecht. Fach- und Gebrauchsinformation, ärztliche Aufklärung und Pflichtverletzung, in: MedR 2003, S. 603 ff., bes. S. 607 ff.; ders., Diagnosefehler – Seine Verortung als Behandlungsfehler und die Verpflichtung zur Aufklärung, in: Gert Brüggemeier (Hrsg.), Liber Amicorum Eike Schmidt, Heidelberg 2005, S. 69-97.
Vertrauen, Kooperation und Organisation
865
jedem Beteiligten im Team für seinen Bereich obliegende Dokumentationspflicht, sofern es keine Vereinbarungen über eine andere Zuständigkeit gibt. Die Dokumentationspflicht bzw. -obliegenheit62 orientiert sich hinsichtlich ihrer zeitlichen und sachlichen Anforderungen (Inhalt und Umfang) an den Dokumentationszwecken, die einerseits als Rechenschafts- und Behandlungssicherungspflicht gegenüber dem Patienten die Behandlung als den gesamten Behandlungsprozess umfassen und andererseits als Obliegenheit der Information eines weiterbehandelnden Arztes und der Beweissicherung dienen.63 Sofern es keine abweichenden Vereinbarungen oder Anordnungen (Dienstanweisungen) gibt, ist jeder im Team für seine Aufgabe dokumentationspflichtig: Der Anästhesist führt das Anästhesieprotokoll64, der Chirurg das Operationsprotokoll65 und die beteiligte Pflege das jeweilige Pflegeprotokoll. Die Dokumentationen werden je nach Klinik und Disziplin z. B. in einer Akte am Patientenbett geführt, in der alles zusammenläuft (Tageskurvenblätter – meist handschriftlich auf Formular, Visitenbogen – elektronisch) oder auch in getrennten Arzt- und Pflegedokumentationen. Das Erstgenannte entspricht einer dem Vertrauensprinzip in der Dokumentation folgenden horizontalen Arbeitsteilung. Aus meiner Sicht wäre eine gemeinsame und zusammengeführte Dokumentation auf einem Dokumentationsträger sozusagen als Konsequenz des Abstimmungs- oder Koordinationsprinzips unter Risikovermeidungs- und Therapiesicherungsgesichtspunkten weit effektiver, weil für jeden Schritt der Gesamtbehandlung für jeden weiteren Behandler im Team der Gesamtüberblick über die Behandlung in einem Dokument bzw. auf einem Dokumentationsträger sofort ermöglicht wäre (Integration klinischer Datendokumentationssysteme66). Die noch immer häufig anzutreffende Führung der Krankenakten durch die verschiedenen Behandler und die Pflegenden in teilweise verschiedenen Dokumentationen, teilweise auf verschiedenen Trägern und zusätzlich an verschiedenen Orten bzw. in verschiedenen Räumen erschwert es, den Behandlungsprozess als einheitlich und abgestimmt dokumentierten überhaupt wahrzunehmen und ist Anlass für Risiken, die aus der Teamarbeit erwachsen können und deshalb als vermeidbare erkannt und vermieden werden sollten. Und die ge62
63
64 65 66
Gerlind Wendt, Die ärztliche Dokumentation – Eine beweisrechtliche Untersuchung zu ihrer Bedeutung für die Entscheidung der Sorgfaltsfrage bei der deliktischen Arzthaftung, Baden-Baden 2001. Auf die unterschiedlichen Begründungen Pflicht/Last/beweisrechtliche Ansätze gehe ich hier nicht ein; dazu a.a.O. S. 211 ff., 271 ff. Wilhelm Uhlenbruck, Gerhard Schlund, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 59 Rdnr. 5 ff.; Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 455 ff. Siehe Dieter Konietske, Das Anästhesieprotokoll, in: ZGMR 2003, S. 3 ff. Etwa BGH, NJW 1989, S. 2330 f. Ein auf die disziplinäre Kooperation auf dem gesamten Patientenpfad bezogenes Beispiel schildern Johann Motsch, Eike Martin, Beitrag der Anästhesie zum Workflow Operation, in: Chirurg 73 (2002), S. 118-121, bes. S. 119; ein weiteres Beispiel für eine Tagesklinik berichten M. Benson, A. Junger, L. Quinzio, A. Michel, G. Sciuk, S. Böttger, K. Marquardt, G. Hempelmann, Einsatz eines Anästhesie-Informations-Management-Systems (AIMS) in einer operativen Tagesklinik, in: Anästhesist 49 (2000), S. 810, 815.
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meinsame und zusammengeführte Dokumentation könnte dazu beitragen, dass Fehler vermieden werden, die trivial erscheinen, aber in der Praxis häufig vorkommen: Schlechte Schrift, falsches Medikament, falsche Dosis – Dinge, die durch den Überblick über die Gesamtbehandlung aufgrund der abgestimmten und einheitlichen Dokumentation viel leichter erkennbar und damit vermeidbar sind. II. Schichtarbeit Dasselbe gilt für die Übergabe der Behandlung des Patienten von einer Schicht auf die nächste – eine Situation, die durch die neuen Arbeitzeitregelungen67 häufiger als früher auftritt. Die Schichtarbeit ist der neue Bewährungsfall für die Qualitätssicherung des Behandlungsprozesses und der Dokumentation. Die Übergabe von einer Schicht auf die nächste stellt hohe Anforderungen an die Übergabe-Kommunikation zwischen (jeweils) Ärzten und Pflege (gegebenenfalls auch gemeinsam) und an ihre Dokumentation sowie an die Organisation der Übergabe-Kommunikation. Organisatorisch ist die Zuständigkeit eines Oberarztes zur Kontrolle der Übergabe-Kommunikation zwischen den Schichten mitsamt Dokumentation vorzusehen, der mindestens stichprobenartig deren ordnungsgemäße Erfüllung zu kontrollieren hat. Der Oberarzt ist gleichsam das Brückenglied zwischen den sich aneinanderreihenden Schichten. Ob man schon von einer Organisationspflicht zur abgestimmten und einheitlichen, gemeinsamen und zusammengeführten Dokumentation sprechen kann, scheint mir derzeit noch zweifelhaft, aber je mehr die Schichtbehandlung aus dem Experimentstadium heraustritt, desto eher muss diese Anforderung erfüllt sein. Diese Art der Dokumentation ist jedenfalls hier noch zwingender als im Bereich der Teamarbeit. Ausgehend von dem Grundsatz, „Zwischen den Stationen bzw. Sektoren entstehen Schnittstellen, die durch „Übergaben“ überbrückt werden müssen. Es dürfen weder Qualitäts- noch Informationsverluste zulasten von Patientinnen und Ärztinnen/Pflege entstehen.“
ist die Schichtarbeit funktionsfähig und haftungsrechtlich pflichtgemäß, wenn sie eine standardgemäße Behandlung „wie aus einer Hand oder aus einem Guss“ gewährleistet. Die Übergabe zwischen den Schichten darf keine Qualitätseinbuße zur Folge haben und dies setzt neben der Einhaltung des Behandlungsstandards auch die ordnungsgemäße Dokumentation der Schichtübergaben (ärztliche und pflegerische „Überleitungsdokumentation“) voraus, sodass die empfangende Schicht aus der Dokumentation der abgebenden Schicht den Anschluss der Behandlung in ihrem gesamten Prozess erkennen kann. Die Überleitungsdokumentation ist gleichsam der Entlassungsbericht für den weiterbehandelnden Arzt. Der vorangehend gemachte Vorschlag der abgestimmten und einheitlichen Dokumentation gilt für die Schicht-Behandlung mindestens so nachdrücklich wie für 67
Siehe insgesamt Quaas/Zuck, Medizinrecht, § 15 Rdnr. 11 ff., 15 ff.
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die Teambehandlung. M. E. muss man bei der Schichtbehandlung schon von einer entsprechenden Verpflichtung ausgehen, mindestens jedoch muss die Möglichkeit bestehen, sofort auf die jeweilige Dokumentation der jeweils anderen Profession zugreifen zu können: die Pflege auf die ärztliche und der Arzt auf die pflegerische Dokumentation und das ist nur möglich, wenn sie in einem Raum, der beiden immer zugänglich ist, geführt wird. Hinter alledem stehen auch bei der Schichtarbeit im Krankenhaus analog die für die horizontale Arbeitsteilung geltenden Grundsätze ordnungsgemäßer Kooperation: das Vertrauensprinzip, der Überprüfungsvorbehalt und der Abstimmungsgrundsatz. In allen innerinstitutionellen Kooperationssituationen läuft die Patientenakte – tatsächlich oder als eine Art (begonnener) Entlassungsbericht – mit dem Patienten durch das Krankenhaus und begleitet ihn auf seinem Weg.
H. Schnittstelle IV: stationär/ambulant Im Zentrum der folgenden Erörterungen stehen klassisch-arzthaftungsrechtliche Fragen (Arztbrief) ebenso wie Fragen der neuen sektorübergreifenden Behandlungsformen, die vom ambulanten Operieren bis zur Integration von Behandlung und Rehabilitation sowie Behandlung und (häuslicher, ambulanter oder stationärer) Pflege reichen (Entlassungsmanagement). In der Praxis liegen Nutzen und Risiken dieser Neuigkeiten eng beieinander: sog. „englische“ oder „blutige“ Entlassungen68 ohne Anschlussbehandlungs- und -pflegesicherung und vorzüglich organisierte Überleitungskooperationen – beides kommt vor.69 Das Thema eines ordnungsgemäßen Entlassungsmanagements ist in den 90er Jahren Gegenstand einer Reihe von Untersuchungen in verschiedenen Ländern gewesen.70 Probleme betreffen insbesondere die Entlassung älterer Patienten, unzureichende Entlassungsuntersuchungen und Nachsorgepläne sowie verspätete
68
69
70
Stichwort „discharge quick and sick“; vgl. Harald Mau, Manfred Scholz, Das DRGSystem in der klinischen Praxis, in: KHuR 2003, S. 143-146. Ein Beispiel für Letzteres Bähr-Heinzen/Freyenhagen/Lingad/Michalik/Schrappe, in: f&w 2/2004, S. 150-153. Ulla Lundh, Sion Williams, The challenges of improving discharge planning in Sweden and the UK: different but the same, in: Journal of Clinical Nursing 6 (1997), S. 435442; siehe auch für Österreich Manuela Leopold, Susanne Stricker, Entlassungsmanagement, in: Österreichische Pflegezeitschrift 2003, S. 22-24; siehe zur Geschichte in Deutschland Doris Schaeffer, Gesundheitspolitische Relevanz des Entlassungsmanagements, in: Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (Hrsg.), Expertenstandard Entlassungsmanagement in der Pflege – Entwicklung – Konsentierung – Implementierung, Osnabrück 2004 (Fachhochschule Osnabrück), S. 11 ff. und die Gesamtübersicht bei Bärbel Dangel, Klaus Wingenfeld, Literaturstudie, ebendort, S. 60 ff.
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Entlassungsberichte für die nachsorgende Institution, insgesamt unzureichende Kommunikation zwischen abgebender und empfangender Institution.71 Vom Arztbrief zum Entlassungsmanagement beschreibt blitzlichtartig eine Entwicklung der Praxis des Medizinsystems, deren haftungsrechtliche Analyse und Bewertung noch nicht abgeschlossen ist. Die gesundheitspolitische und ins Sozialrecht übersetzte Zielsetzung, Kostensenkungen im Gesundheitssystem u. a. durch die Verkürzung von Liegezeiten im Krankenhaus zu erreichen (DRG), impliziert folgerichtig die konsequente Bearbeitung dadurch neu definierter Schnittstellenund Übergabeprobleme. Im GKV-Recht sind Beispiele solcher Regelungen diejenige über die nachstationäre Behandlung (§ 115a I Nr. 2 und II SGB V) und über die Fortsetzung der Arzneimitteltherapie nach der Krankenhausbehandlung (§ 115c SGB V). Das Haftungsrecht zieht nach. Rehabilitation stationäre Behandlung im Krankenhaus
Weiterbehandlung durch Hausarzt72 stationäre oder ambulante Pflege
Schema 6
Das abgebende Krankenhaus (Krankenhausträger und evtl. Ärzte) ist für die Übergabekommunikation als Teil seiner Behandlung, ihre Dokumentation und Organisation haftungsrechtlich verantwortlich73 und die empfangenden Institutionen dürfen auf die Befunderhebungen, Diagnosen, Therapien und Therapievorschläge vertrauen, solange kein Anlass zum Verdacht auf fehlerhafte Behandlung besteht (Überprüfungsvorbehalt). Vertrauensprinzip und Überprüfungspflicht gelten; für ein Abstimmungs- oder Koordinationsprinzip scheint kein Anlass zu bestehen, weil es nicht um eine einheitliche Behandlung geht, sondern um grundsätzlich selbständige Teile eines Behandlungsprozesses.
71
72 73
Graham Neale, Maria Woloshynowych, Charles Vincent, Exploring the causes of adverse events in NHS hospital practice, in: J R Soc Med 94 (2001), S. 322-330; T. M. Penney, Delayed communication between hospitals and general practitioners: where does the problem lie?, in: BMJ 297 (1988), S. 28-29. Hausarzt steht als pars pro toto für alle Vertragsärzte. Der Schwerpunkt der folgenden Ausführungen liegt auf der Organisationsverantwortung des Krankenhausträgers. Dass daneben individuelle Pflichten existieren, ist selbstverständlich und nur teilweise dargestellt.
Vertrauen, Kooperation und Organisation
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I. Entlassungsmanagement allgemein Die Organisation eines ordnungsgemäßen Entlassungsmanagements ist haftungsrechtliche Pflicht des Krankenhausträgers aus Vertrag und Delikt. Ebenso wie das Haftungsrecht kein bestimmtes Qualitätsmanagement vorschreiben kann,74 schreibt es auch kein bestimmtes Entlassungsmanagement vor. Das Haftungsrecht verpflichtet die Abgabeinstitution dazu, ein Entlassungsmanagement einzurichten, das den Zielen des Gesundheits- und Autonomieschutzes des Patienten aus dem Schuldverhältnis gerecht wird („Nachsorge“)75. Die Ausgestaltung im Einzelnen ist Sache des Krankenhausträgers. Eine andere Frage ist es, ob das Haftungsrecht den organisationsbezogenen Anordnungen des SGB V zu Übergabesituationen automatisch oder zielbezogen folgt und diese als Vertrags(neben)- oder Verkehrspflicht oder als Schutzgesetz rezipiert.76 M. E. ist § 115c SGB V jedenfalls hinsichtlich seiner gesundheitsschützenden Zielsetzung im Haftungsrecht zu rezipieren und im Rahmen der Organisationspflicht allgemein zu berücksichtigen.77 Diese Organisationspflicht bezieht sich auf – – – – – –
die standardgemäße Behandlung einschließlich des (erforderlichen) Behandlungsanschlusses (Übergabe), die Sicherungsaufklärung, die Dokumentation sowie auf die Organisationsaufklärung und die wirtschaftliche Aufklärung.78
Die ersten beiden Spiegelstriche beziehen sich auf die Abgabekommunikation gegenüber der empfangenden Institution, der dritte auf die Übergabekommunikation mit dem Patienten und die restlichen auf Verpflichtungen wiederum gegenüber dem Patienten. Alle sind Teile des organisatorischen Entlassungsmanagements. Zur Abgabekommunikation als Teil der Pflicht zur ordnungsgemäßen Behandlung mit der empfangenden Institution gehört der Entlassungsbericht. Das Krankenhaus ist für die sachlich angemessene Organisation der unverzüglichen Aufnahme einer erforderlichen Anschlussbehandlung, Anschlusspflege und Rehabilitation zum Schutz der Gesundheit des Patienten verantwortlich. Dies gewährleisten zum einen der Entlassungsbericht sowie zum anderen evtl. erforderliche zusätzliche Vorkehrungen zur Übernahme des Patienten durch die Rehabilitation, 74
75
76
77
78
Dieter Hart, Robert Francke, Rechtliche Aspekte des Qualitätsmanagements, in: BzgA (Hrsg.), Qualitätsmanagement in der Gesundheitsförderung und Prävention. Grundsätze, Methoden und Anforderungen, Köln 2001, S. 129-141. Vgl. etwa MünchKomm-BGB/Wagner § 823 Rdnr. 693; Pflüger, Krankenhaushaftung, S. 209 ff. spricht insgesamt von Informationsmanagement. Allgemein dazu Francke/Hart, in: ZaeFQ 95 (2001), S. 732-734; Hart, in: MedR 2002, S. 321-326. Insofern erfolgt eine Art haftungsrechtliche Allgemeinverbindlicherklärung auch für nicht gesetzlich krankenversicherte Anspruchsteller. Siehe oben Schema 3.
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durch den Hausarzt und gegebenenfalls durch die häusliche, ambulante oder stationäre Pflege. Zeitlich muss der Entlassungsbericht je nach Behandlungserfordernis sofort bis zeitnah vorliegen, wobei dies bedeutet, dass die erforderliche Anschlussbehandlung sofort bzw. unverzüglich erfolgen können muss. Das bedeutet z. B. auch, dass im Falle einer Entlassung am Wochenende dafür vorzusorgen ist, dass die (notwendige) Behandlung (einschließlich Pflege) durch die Entlassung nicht unterbrochen wird, also etwa die bis zum nächsten Arztbesuch erforderliche Medikation dem Patienten mitzugeben ist oder für ärztliche und pflegerische Versorgung gesorgt werden muss. In solchen Fällen ist die Abklärung mit dem empfangenden Arzt respektive der empfangenden Pflegeinstitution vorher zu organisieren. Fehlt es an der erforderlichen Organisation der Entlassung, darf nicht entlassen werden.79 All dies folgt aus der angetretenen, übernommenen Behandlung und ihren nachsorgenden Verpflichtungen im Interesse des Gesundheitsschutzes des Patienten. Die Rechtsprechung ordnet solcherart Verantwortlichkeit unter dem Topos Schutzpflicht ein.80 M. E. handelt es sich um ein Element der vertraglichen Hauptpflicht bzw. der Verkehrspflicht zu standardgemäßer Behandlung. Manchmal wird zwischen Arztbrief und Entlassungsbericht unterschieden, wobei Ersterer meist als eine vorläufige Kurzversion des Letzteren bezeichnet wird.81 Die Praxis ist uneinheitlich. Haftungsrechtlich entscheidend ist: Es muss ein Entlassungsbericht gefertigt werden, dessen Inhalt und Umfang von der jeweils erforderlichen Nachbehandlung des Patienten abhängt. Es ist dem Krankenhausträger dringend anzuraten diesen Inhalt und Umfang des Entlassungsberichts in der Form einer Richtlinie oder im Rahmen von clinical pathways82 festzulegen und per Dienstanweisung anzuordnen. Prinzipiell muss er folgende Daten umfassen:83 – – – – – – – – 79 80
81
82 83
Anamnese Befunde (u. a. Labor, bildgebende Verfahren, Histologie) Diagnose (Haupt-, Nebendiagnosen; neue Diagnosen) Therapie, mit operativen Eingriffen, Radiologie klinischer Verlauf mit (posttherapeutischen) Befunden Besonderheiten, Komplikationen Entlassungsuntersuchung Therapievorschläge einschließlich Medikation
Die Kostentragung liegt dann beim Krankenhaus. BGH, NJW 2002, S. 2944; 1994, S. 797, 798 f.; wie hier OLG Köln, NJW-RR 1994, S. 861 f. – ausführlicher Arztbrief der Operationsklinik an die Kurklinik als Teil der Behandlungspflicht. Ein gutes Beispiel (Klinikum Bremen-Mitte) für die Einhaltung der zeitlichen Erfordernisse ist der elektronische Kurzarztbrief, der sofort dem Patienten mitgegeben werden kann; www.zkh-mitte.de/deu/dateien/dat_nr919_.pdf - Qualitätsbericht 2002/2003. Schrappe, Clinical Pathways, in: Hart, Klinische Leitlinien, S. 163-171. Die folgende Aufstellung entspricht mit Differenzierungen zwischen den Gebieten den Ergebnissen einer (nicht repräsentativen) Umfrage durch die KV unter Vertragsärzten in Bremen.
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– nachstationäre Begleitbehandlung erforderlich? – erneute Vorstellung erforderlich? – erneute Untersuchungen erforderlich? Hinsichtlich des Inhalts und Umfangs des Berichts muss insbesondere zwischen Fällen der nachfolgenden Behandlungs- und/oder Pflegebedürftigkeit, ihrer Erforderlichkeit und ihrer Dringlichkeit differenziert werden. Bei allen Einweisungsfällen ist ein Entlassungsbericht zu erstellen. Es muss aufgrund umfangreicher Erfahrung darauf hingewiesen werden, dass die unzureichende Form der Arztbriefe oder der Entlassungsberichte – schlechte Lesbarkeit, schlechte Handschrift – nicht selten ein Grund für Fehler in der Anschlussbehandlung (falsches Arzneimittel; falsche Dosierung84) ist. Die haftungsrechtliche Verantwortlichkeit in solchen Fällen liegt bei der abgebenden Institution, es sei denn, der Überprüfungsvorbehalt greift. Die Sicherungsaufklärung des Patienten zum Abschluss der Krankenhausbehandlung ist partiell die Kehrseite des Entlassungsberichts.85 Bei der Entlassungsuntersuchung spätestens ist der Patient über die in der obigen Aufstellung genannten Punkte zu informieren. Er ist auch darüber zu informieren, dass ein Entlassungsbericht gefertigt und an die empfangende Institution gesendet oder dem Patienten mitgegeben wird. Der Patient entscheidet, an wen der Bericht gehen darf; in der Regel wird er der Information des Hausarztes, des Pflegedienstes oder des Reha-Krankenhauses vorher ausdrücklich oder konkludent mit der Einweisung bzw. durch Nicht-Widerspruch zugestimmt haben. Der Entlassungsbericht ist auch Teil der Dokumentation; er ist dokumentationspflichtig. II. Krankenhaus/Rehabilitation Eine Überleitungsvisite verknüpft zwei Kliniken der integrierten Versorgung (Universitätsklinik/Reha-Klinik) und zeichnet den Patientenpfad vor.86 Die Idee ist so einfach wie überzeugend und sei knapp wiedergegeben: Es wird zwischen der Klinik der Primärversorgung (Chirurgie, Innere) und der anschließenden notwendigen Rehabilitation in der Reha-Klinik (postoperative und konservative Frührehabilitation) die Überleitungskommunikation in vier Schritten organisiert. Sie soll dazu führen, die bekannten Informationsdefizite über den Patienten bei der empfangenden Klink und die bekannten Informationsdefizite über den möglichen Ansprechpartner bei der abgebenden Klinik zu beseitigen. Das führt zu einer effekti84
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Siehe allgemein dazu jüngst Katja Taxis, Rebekka Wild, Medikationsfehler in deutschen Krankenhäusern – Eine Übersicht deutscher Medikationsfehlerstudien und Untersuchungsmethoden, in: Krankenhauspharmazie 25 (2004), S. 465-70. Pflicht zur nachsorgenden Sicherungsaufklärung MünchKomm-BGB/Wagner, § 823 Rdnr. 694. Siehe das Beispiel Bähr-Heinzen/Freyenhagen/Lingad/Michalik/Schrappe, in: f&w 2/2004, S. 150-153.
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veren Behandlung des Patienten und zur effizienteren Nutzung der vorhandenen Ressourcen. Die vier Stufen sind folgendermaßen zugeschnitten: – wöchentliche Überleitungsvisite: fallspezifischer Dialog zwischen Ärzten und Pflegefachkräften beider Einrichtungen über und Visite beim abzugebenden Patienten, – Erstellung einer Vorab-Dokumentation, die zur Vorbereitung der Anschlussbehandlung dient und der empfangenden Klinik nach der Überleitungsvisite, aber schon vor der Überleitung übergeben wird, – Überleitung des Patienten mit optimierter Dokumentation,87 – Feedback und Auswertung in einer späteren Überleitungsvisite. Das Ergebnis sind frühere Verlegungen, Leistungsstrukturen sind in der Prozessplanung besser integriert und durch die letzte Stufe ist ein Prozess gegenseitigen Lernens in Gang gesetzt. Der Patient profitiert: Er erhält eine Behandlung „aus einer Hand“. Das Beispiel zeigt, wie eine integrierte Kommunikation die Abstimmung ermöglicht und das Vertrauensprinzip ersetzt. Ohne eine solche Integration bleibt die haftungsrechtliche Verpflichtung zur Organisation der Anschlussbehandlung: Der Krankenhausträger hat die Rehabilitationsbehandlung „vorzuhalten“ und für eine ordnungsgemäße Überleitung – ärztlich wie pflegerisch – zu sorgen.88 Das abgebende Krankenhaus hat durch den Entlassungsbericht den Anschluss informationell zu ermöglichen und die empfangende Reha-Institution darf auf die erhobenen Befunde, die Diagnosen und Therapien vertrauen, vorbehaltlich evtl. Verdachtsgründe, die zur Überprüfung Anlass geben. Hinsichtlich der Rehabilitationsbehandlung selbst bleibt es bei der Eigenverantwortlichkeit der Fachinstitution. III. Krankenhaus/Hausarzt Der Sache nach kann man die Ausführungen zur Übergabe zwischen Facharzt/Hausarzt wiederholen. Krankenhaus
Hausarzt
Das abgebende Krankenhaus hat den weiterbehandelnden empfangenden Hausarzt in den Stand zu versetzen, den Behandlungsanschluss unverzüglich aufzunehmen (Entlassungsmanagement). Der Entlassungsbericht ist mit einer evtl. erforderlichen Medikation zu übergeben – das bedeutet auch, dass dem Patienten die erfor87 88
Das entspräche dem oben beschriebenen Entlassungsbericht. Uhlenbruck/Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 57 Rdnr. 4.
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derliche Medikation bis zum Zeitpunkt des ersten möglichen Hausarztbesuchs mitzugeben ist, wobei Versorgungslücken am Wochenende auszugleichen sind. Der empfangende Hausarzt darf jenseits von Zweifeln auf die Befunde, Diagnosen, Therapien und Therapievorschläge vertrauen, aber er muss möglichen Zweifeln nachgehen, evtl. Rücksprache nehmen und mit dem Patienten über Zweifel sprechen.89 Bei ambulanten Operationen90, diagnostischen wie therapeutischen Eingriffen, trägt der Operateur bzw. bei Konstellationen nach §§ 115a, b91, 116a, b, 117, 118, 119 SGB V der Krankenhausträger grundsätzlich die Verantwortung für die nachsorgende Betreuung bzw. für ihre Organisation.92 Deshalb hat das Entlassungsmanagement eine besondere Bedeutung.93 Es darf erst entlassen werden, wenn dies ohne Gesundheitsgefahr für den Patienten möglich ist. Dazu gehört in der Phase vor der Entlassung die Organisation der nachoperativen Überwachung von sedierten Patienten.94 Die Entlassung bei ambulanten Operationen darf die Risiken für den Patienten im Vergleich zu einer früheren stationären Durchführung des Eingriffs nicht unvertretbar erhöhen.95 Die Entlassung darf also erst erfolgen, wenn die erforderliche nachsorgende Anschlussbehandlung und Anschlusspflege durch Übergabeorganisation gewährleistet sind.96 Eine Aufklärung über die Risiken früher Entlassung kann den möglichen Behandlungsfehler zu früher Entlassung nicht ausgleichen.
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BGH, NJW 2002, S. 2944; siehe ausführlich oben E., II. Der Schwerpunkt der Problematik lag früher bei der Anwendung neuer Techniken (z. B. Laparoskopie) in der Ambulanz und der Aufklärung über bestehende Alternativen. Heute sind die Techniken meist soweit „standardisiert“, dass sich der Problemschwerpunkt eher auf die Phase der Nachsorge verlagert hat. Siehe dazu den Vertrag nach § 115b Abs. 1 SGB V – Ambulantes Operieren und stationsersetzende Eingriffe im Krankenhaus zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft sowie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Stand: Änderungsvereinbarung vom 15. März 2004, www.krankenhaus-aok.de, abgedruckt in Krankenhausrecht, 2. Aufl., München 2004, Beck-Texte im dtv, Nr. 10. Siehe insgesamt Kern, in: NJW 1996, S. 1561 ff., bes. S. 1564. Pflüger, Krankenhaushaftung, S. 235 ff. Dazu BGH, NJW 2003, S. 2309 – Pflicht zur Überwachung sedierter Patienten mit Kommentar Laufs 2288 f. = VersR 2003, S. 1126 = MedR 2003, S. 629 m. Anm. Katzenmeier S. 631 f.; LMK 2003, S. 219 f. Anmerkung Kern. Steffen zitiert bei Kern, in: NJW 1996, S. 1561, 1562; OLG Düsseldorf, VersR 2002, S. 1151 ff.: „Keinem Patienten dürfen dadurch Nachteile entstehen, dass er sich bereit erklärt, eine Operation nicht unter stationären Bedingungen, sondern ambulant durchführen zu lassen.“ Ähnlich Kern, in: NJW 1996, S. 1561, 156; in diese Richtung schon früh BGH, NJW 1968, S. 2291, 2292; 1981, S. 2513 f.
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Diese haftungsrechtlichen Aussagen zum ambulanten Operieren entsprechen den Regelungen der sozialrechtlichen Verträge im Einzelnen und im Sinn. In § 9 II des Vertrages97 heißt es: „Ambulant operierten Patienten werden erforderliche Arzneimittel, Verbandmittel und Hilfsmittel vom Krankenhaus mitgegeben. Dabei soll die mitgegebene Menge so bemessen sein, dass die Versorgung des Patienten in der Regel für den Zeitraum von bis zu drei Tagen nach Durchführung des Eingriffs nach § 115b SGB V gesichert ist. Der Krankenhausarzt ist nicht berechtigt, die aufgeführten Mittel auf Kassenrezept zu verordnen.“
Im genannten Vertrag werden in Anlage 2 individuelle Tatbestände bzw. Kriterien definiert, die eine stationäre Durchführung der vereinbarten in der Regel ambulant durchführbaren Operationen und sonstigen stationsersetzenden Eingriffe erforderlich machen können. „Als allgemeine individuelle Tatbestände sind die fehlende Sicherstellung der Versorgung des Patienten im familiären bzw. häuslichen Umfeld oder die pflegerische Nachbetreuung anzusehen. Diese sozialen Faktoren, die eine ambulante Versorgung postoperativ gefährden können sind: a) fehlende Kommunikationsmöglichkeiten des Patienten im Fall von postoperativen Komplikationen und/oder b) fehlende sachgerechte Versorgung im Haushalt des Patienten.“
Darüber hinaus werden allgemeine morbiditäts- und diagnosebedingte Tatbestände bzw. Kriterien angegeben, welche eine stationäre Durchführung der Operation erforderlich machen können. Das reicht von Begleiterkrankungen über besondere postoperative Risiken, die Schwere der Erkrankung bis zu einem erhöhten Behandlungsaufwand. Die spezifizierten letzteren Tatbestände haben es u. a. mit postoperativen Komplikationsmöglichkeiten und Risiken zu tun, die ansonsten ein besonderes Entlassungsmanagement erforderlich machten. Die nachsorgende Sicherungsaufklärung hat gerade bei ambulant im Krankenhaus durchgeführten Eingriffen besondere Bedeutung: Sie hat alle durch Information und entsprechendes Verhalten des Patienten abwendbaren (vertretbaren) Gefahren zu umfassen; sie muss verständlich sein, aber sie muss dem Patienten auch in dem Sinne zumutbar sein, dass ihm als Laien nur erfüllbare Auflagen angesonnen werden dürfen. Besteht die Notwendigkeit einer komplexen posttherapeutischen Versorgung, darf und kann sie dem Patienten nicht auferlegt, sondern sie muss durch den Organisationsverantwortlichen organisiert werden. Die notwendige Übergabekommunikation zwischen abgebendem Krankenhaus und empfangendem Arzt darf nicht durch die posttherapeutische Sicherungsaufklärung des Patienten ersetzt werden.
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Vertrag nach § 115b Abs. 1 SGB V – Ambulantes Operieren und stationsersetzende Eingriffe im Krankenhaus zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft sowie der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Stand: Änderungsvereinbarung vom 15. März 2004, www.krankenhaus-aok.de.
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Für den empfangenden Hausarzt gilt das für die Übergabe vom Facharzt auf den Hausarzt ausgeführte.98 Der Hausarzt darf grundsätzlich vertrauen, aber es gilt der Überprüfungsgrundsatz bei Zweifeln. IV. Krankenhaus/Pflege Diese Schnittstelle hat mannigfaltige Erscheinungsformen, die nicht alle behandelt werden können, von denen aber wenigstens einige dargestellt und die haftungsrechtlichen Grundzüge erörtert werden sollen. häusliche Pflege Krankenhaus
ambulante Pflegedienste
Kurzzeitpflege stationäre Pflege
Schema 7
Soweit es nicht um die spezielle Pflege (Behandlungspflege) geht, die immer ärztlicher Anordnung bedarf, ist die Kooperation zwischen Krankenhauspflege und Nicht-Krankenhauspflege (poststationäre, extramurale Pflege) betroffen. Für Letztere sind selbstverständlich die ärztlichen Anordnungen bindend; im intern/externen Pflegeverhältnis kann man vielleicht analog von einem Vertrauensgrundsatz, ebenfalls mit Überprüfungsvorbehalt sprechen. Der Sozialdienst im Krankenhaus ist in der Regel für den reibungslosen Übergang vom Krankenhaus in die Pflege (Überleitung) und seine Organisation zuständig (Überleitungs- oder Entlassungsmanagement). Der Sozialdienst untersteht der Pflegedirektion bzw. der Pflegerischen Geschäftsführung des Krankenhauses und wird entweder auf ärztliche oder pflegerische Anweisung oder aus eigener Initiative tätig, was für unterschiedliche Kliniken innerhalb des Krankenhauses teilweise unterschiedlich organisiert und geregelt ist. Gelegentlich ist der Sozialdienst schon bei der Aufnahme an allen Neueinweisungen beteiligt, teilweise nur an Einweisungen in bestimmte Kliniken, teilweise nur bei bestimmten Krankheitsbildern und teilweise wird der Sozialdienst bei ärztlich angemeldetem Bedarf während der Behandlung im Krankenhaus tätig. Letzteres gilt insbesondere bei Überleitungen von GKV-Patienten in die Reha, die Anschlussheilbehandlung, die Kurzzeit- und die stationäre Pflege. Im zuletzt genannten Bereich geht es insbesondere um die Überleitung geriatrischer Patienten. In einigen Krankenhäusern sind beispielsweise Formulare „Anforderung Konsil Sozialdienst“ entwickelt worden und/oder auf dem ärztlichen Verordnungsbogen 98
Oben E., II.
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wurde eine Rubrik „Sozialdienst anfordern“ eingerichtet, um möglichst frühzeitig in eine patientenzentrierte und Angehörige einbeziehende Kommunikation eintreten und die Bedingungen der späteren Entlassung so vorbereiten zu können, dass 24 Stunden vor dem geplanten Entlassungstermin alle Absprachen und Vorkehrungen insbesondere mit übernehmenden Institutionen getroffen sind, um die Überleitung reibungslos zu gestalten.99 Das Deutsche Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege hat 2002 durch eine multidisziplinäre und multiprofessionelle Expertengruppe unter Aufarbeitung der vorhandenen Evidenz nach einem Konsensus-Verfahren einen „Expertenstandard Entlassungsmanagement in der Pflege“ veröffentlicht.100 Die grundlegende und zusammengefasste Standardaussage lautet: „Jeder Patient mit einem poststationären Pflege- und Unterstützungsbedarf erhält ein individuelles Entlassungsmanagement zur Sicherung einer kontinuierlichen bedarfsgerechten Versorgung.“
In der Begründung heißt es: „Versorgungsbrüche bei der Entlassung bergen gesundheitliche Risiken und führen zu unnötiger Belastung von Patienten und Angehörigen sowie zu hohen Folgekosten. Mit einem frühzeitigen Assessment sowie Beratungs-, Schulungs- und Koordinationsleistungen und abschließender Evaluation trägt die Pflegekraft dazu bei, Versorgungskontinuität herzustellen.“
Die jeweils sechs Schritte, die der Standard entwickelt, sind in drei Gruppen eingeteilt: Struktur, Prozess und Ergebnis. Struktur bezeichnet die Anforderungen, die an die Institution (Verfahrensorganisation) und die Pflegekraft zu stellen sind, Prozess die Verfahrensschritte des Entlassungsmanagements von der Aufnahme bis nach der Entlassung, Ergebnis den jeweiligen Abschluss der sechs Prozessstationen von erster Einschätzung des erwartbaren poststationären Versorgungsbedarfs bis zur Umsetzung des festgestellten Bedarfs.101 Haftungsrechtlich hat dieser Expertenstandard die Qualität einer Leitlinie für die Organisation der poststationären Pflege.102 Da er einerseits die vorhandene Evidenz in diesem Bereich umfassend verwertet und diese zur Grundlage eines methodisch anspruchsvollen Konsensfindungsverfahrens macht, wird man davon ausgehen dürfen, dass er auch den haftungsrechtlichen Standard repräsentiert. Er orientiert sich an der Zielsetzung, unvertretbare Gesundheitsrisiken vom Patienten fernzuhalten, die durch einen unzureichenden Anschluss von stationärer Behandlung und sich anschließender, auf die Behandlung folgender Pflege entstehen kön99 100
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Siehe etwa www.zkh-nord.de/bilder/Q-Bericht02-03.pdf. Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (Hrsg.), Expertenstandard Entlassungsmanagement in der Pflege – Entwicklung – Konsentierung – Implementierung, 2004 (Fachhochschule Osnabrück). Siehe das sehr übersichtliche Schema in: Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (Hrsg.), Expertenstandard Entlassungsmanagement in der Pflege, S. 49. Vgl. dazu Hart, Leitlinien und Haftungsrecht, in: Hart, Klinische Leitlinien, S. 81-104.
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nen (poststationäre Risikovorsorge). Und er orientiert sich am Autonomieziel, als er den Patienten in den Prozess des Entlassungsmanagements als Entscheidungssubjekt einbezieht. Insofern erscheinen mir die Rezeptionsbedingungen einer haftungsrechtlichen Übernahme des Expertenstandards vorzuliegen. Deshalb ist der Krankenhausträger verpflichtet, die organisatorischen Bedingungen eines funktionsfähigen behandlungs- und pflegebezogenen Entlassungsmanagements durch Anordnung zu gewährleisten (Organisationspflicht). Dazu gehört u. a. die Festlegung von Zuständigkeiten und Verantwortlichkeiten („Sozialdienst“), eine Verfahrensregelung zum Zeitpunkt des Beginns, des Ablaufs und Inhalts des Entlassungsmanagements und auch, dass nur unter der Sicherstellung der ordnungsgemäßen Überleitung entlassen werden darf. Der Sozialdienst des Krankenhauses hat die individuellen Bedingungen der bedarfsgerechten Überleitung zu gewährleisten; dies ist Teil der vertraglichen (Teil der Hauptleistungspflicht des mit dem Krankenhausträger geschlossenen totalen Krankenhausvertrages) und deliktischen Behandlungspflicht sowohl ärztlicher wie pflegerischer Sorgfalt (poststationärer Gesundheitsschutz). Deshalb hat sich der Sozialdienst möglichst frühzeitig über die Bedingungen der bedarfsgerechten Entlassung ein Bild zu machen, also die „Indikation“ für die ambulante oder stationäre Pflege festzustellen, und dann die Vorbereitungen für die Umsetzung der pflegerischen Indikation zu treffen und für deren tatsächliche Gewährleistung zu sorgen. Die Überleitungskommunikation mit den zuständigen Institutionen der poststationären Pflege und ihre Ergebnisgewährleistung ist die Aufgabe des Sozialdienstes des Krankenhauses. I. Prinzipien und Leitlinien Schnittstellen markieren Übergabesituationen zwischen verschiedenen Versorgungssektoren, verschiedenen Gebietsärzten, verschiedenen Heilberufen und Behandlungs- und Pflegeinstitutionen, aber auch innerhalb einer Organisation zwischen Disziplinen, Teams und Schichten. Zwischen den Stationen bzw. Sektoren entstehen Schnittstellen, die durch „Übergaben“ überbrückt werden müssen. Es dürfen weder Qualitäts- noch Informationsverluste zulasten von Patientinnen und Ärztinnen/Pflege entstehen. Schnittstellenprobleme verdienen eine vermehrte Aufmerksamkeit des Arzthaftungsrechts. Sie werden aufgrund neuer Versorgungs- und Organisationsformen, neuer Behandlungsmethoden und ökonomischer Zwänge zunehmen. Das Haftungsrecht muss sich mit den Entwicklungen der Medizin, den ihnen folgenden Organisationsformen und der diese Prozesse steuernden sozialrechtlichen Entwicklung vertraut machen und seine Prinzipien auf ihren diesbezüglichen Gleichschritt analysieren und auf Harmonisierungen bedacht sein. Sektorübergreifende Behandlungs- und Pflegepfade für Patienten erfordern eine Behandlungsplanung „aus einem Guss“. Die Behandlung von Patienten darf durch die entstehenden Übergaben an den Schnittstellen keine zusätzlichen, nicht behandlungsbedingten Risiken begründen und ihr Nutzen darf durch Übergaben
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nicht abnehmen. Daraus erwachsen erhebliche, auch haftungsrechtliche Anforderungen an die Übergabekommunikation und ihre Organisation. Die horizontale Arbeitsteilung zwischen Vertretern eines Heilberufes innerhalb solcher Übergabeketten wird grundsätzlich durch das Vertrauensprinzip bestimmt, wonach der jeweils empfangende Arzt auf die vorangehende Tätigkeit des abgebenden Arztes vertrauen darf und sie nicht erneut zu überprüfen hat. Das gilt für Befunde, aber auch für Diagnosen, Therapien und Therapie- bzw. Nachbehandlungsvorschläge. Zeitnah erhobene Befunde gelten weiter; sie sind im Indikationsfalle durch bessere diagnostische Mittel zu ergänzen. Dieser Vertrauensgrundsatz gilt für empfangende Ärzte desselben Faches und anderer Gebiete auch sektorübergreifend. Er steht unter einem Überprüfungsvorbehalt: Der empfangende Arzt hat im Verdachts- bzw. Zweifelsfall eine Überprüfung der bewertenden Entscheidungen des abgebenden Arztes vorzunehmen. Die Anforderungen an die Überprüfungspflicht sind hoch; an sie knüpft sich eine Reaktionspflicht. Überprüfung ist nicht nur geboten, wenn sich der Verdacht einer Fehlerhaftigkeit aufdrängt, sondern schon dann, wenn sich aufgrund der Kenntnisse und Fähigkeiten des empfangenden Arztes ein Zweifel ergeben muss. In solchen Fällen hat der empfangende Arzt den Patienten – gegebenenfalls nach Rücksprache mit dem abgebenden Arzt – zu informieren und mit ihm zusammen eine gemeinsame Entscheidung über das weitere Vorgehen zu treffen. Der vertraglich und deliktisch gebotene Gesundheitsschutz verbietet es, den Patienten einem erkennbaren Risiko auszusetzen. Das Vertrauensprinzip mit dem Überprüfungsvorbehalt gilt ebenso für die Teamarbeit, die Schichtarbeit und für disziplinübergreifende Behandlungen innerhalb einer Institution. Allerdings steht in diesen Fällen der Abstimmungsgrundsatz vor dem Vertrauensprinzip: Das Zusammenwirken von Ärzten und die Kombination ihrer Behandlungen bzw. Behandlungsanteile darf keinesfalls zu einer Risikosteigerung der Gesamtbehandlung für den Patienten führen. Das Vertrauensprinzip gilt auch für die poststationäre Behandlung und Pflege. Die Anforderungen an die Übergabekommunikation und speziell das Entlassungsmanagement der abgebenden Institution sind hoch. Die Verlagerung der Anschlussbehandlung auf eine poststationäre Institution darf zu keinen Gesundheitsund Sicherheitsverlusten für den übergebenen Patienten führen. Die dem Patienten geschuldete Übergabekommunikation dient der poststationären Risikovorsorge und ist Teil der vertraglichen Hauptleistungspflicht Behandlung und begründet sich deliktsrechtlich aus dem Gesundheitsschutz. Die Regelung der Grundsätze der Überleitungskommunikation ist Organisationspflicht des Krankenhausträgers, die Überleitungskommunikation selbst Pflicht des abgebenden Arztes oder der Pflege. Ein wichtiger Teil der Übergabekommunikation ist das Entlassungsmanagement. Als Teil des Entlassungsmanagements muss ein Entlassungsbericht gefertigt werden, dessen Inhalt und Umfang von der jeweils erforderlichen Nachbehandlung des Patienten abhängt. Es ist dem Krankenhausträger dringend anzuraten, dessen Inhalt und Umfang in der Form einer Richtlinie oder im Rahmen von clini-
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cal pathways festzulegen und per Dienstanweisung anzuordnen. Der Patient entscheidet darüber, wer außer ihm den Entlassungsbericht erhält. Zur Übergabekommunikation gehört auch eine den Inhalt des Entlassungsberichts spiegelnde Sicherungsaufklärung des Patienten. Die Sicherungsaufklärung kann Mängel der Übergabe nicht kompensieren; sie darf den Patienten nicht mit unzumutbaren Aufgaben belasten. Besteht die Notwendigkeit einer komplexen posttherapeutischen Versorgung, darf und kann sie dem Patienten nicht auferlegt, sondern sie muss durch den Organisationsverantwortlichen organisiert werden. Die nachsorgende Sicherungsaufklärung hat gerade bei ambulant im Krankenhaus durchgeführten Eingriffen besondere Bedeutung: Sie hat alle durch Information und entsprechendes Verhalten des Patienten abwendbaren (vertretbaren) Gefahren zu umfassen. Der „Expertenstandard Entlassungsmanagement in der Pflege“ des Deutschen Netzwerks für Qualitätsentwicklung in der Pflege ist m. E. haftungsrechtlich der Standard ordnungsgemäßer Überleitung in die poststationäre Pflege. Bei ambulanten Eingriffen (ambulantes Operieren) darf die Entlassung erst erfolgen, wenn die erforderliche nachsorgende Anschlussbehandlung und Anschlusspflege durch Übergabeorganisation gewährleistet ist. Eine Aufklärung über die Risiken früher Entlassung kann den möglichen Behandlungsfehler zu früher Entlassung nicht ausgleichen. Die gesamte Übergabekommunikation unterliegt der Dokumentationspflicht. Fehler der Übergabekommunikation der abgebenden Stelle, auch hinsichtlich ihrer Dokumentationspflicht, können Fehler in der nachfolgenden Behandlung und Pflege auslösen, für die der Abgebende allein verantwortlich bleibt.
J. Resümee „Die Fortschritte der Medizin gründen auf einer Arbeitsteilung, die indessen auch Risiken für den Patienten mit sich bringt. Gefahren erwachsen aus mangelnder Qualifikation der beteiligten Mitarbeiter, unzulänglicher Kommunikation und Koordination, auch aus einer unzulänglichen Organisation, die weder Sicherheit vermittelt noch Kontrollen gewährleistet. Eine erfolgreiche ärztliche Zusammenarbeit gebietet eine – nicht selten durch Absprachen zu erreichende – klare Abgrenzung der Zuständigkeiten als Fundament auch des Vertrauensgrundsatzes. Dieser erlaubt es jedem Beteiligten, darauf zu bauen, auch der andere werde im Rahmen seiner Zuständigkeit die erforderliche Sorgfalt walten lassen.“103
Ich wüsste keine bessere Kurzfassung der vorangehenden Ausführungen.
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Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 101 Rdnr. 1.
Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug Thomas Hillenkamp
A. Die gegenwärtige Situation Der Gesetzgeber hat mit dem Strafvollzugsgesetz (StVollzG) vom 16. März 1976 (BGBl I S. 581) den Strafvollzug für die Bundesrepublik Deutschland einheitlich geregelt. Das Gesetz ist zum 1. Januar 1977 in Kraft getreten. Die Länder führen es als eigene Angelegenheit aus. In seinem Rahmen bleibt Spielraum1 für durch die Landesjustizverwaltungen und die Anstaltsleitungen bestimmbare Vollzugssysteme, -praktiken und -stile, die sich z.B. in einer unterschiedlichen Handhabung von Beurlaubung und Vollzugslockerung zeigen.2 Spielraum bleibt aber auch für durch die Landespolitik vorgebbare Prioritäten, die sich in erheblich divergierenden personellen, sachlichen und baulichen Ausstattungen des Strafvollzugs niederschlagen. Das galt und gilt für die alten Bundesländer und setzt sich – in einer vermuteten Abhängigkeit von der Einstellung zum Strafvollzug im jeweiligen „Partnerland“3 – nach dem Beitritt auch in den neuen Ländern fort. An diesen Divergenzen nimmt die in §§ 56 ff StVollzG geregelte Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug teil. Daher kann es sich bei dem hier vorangestellten Blick auf die Situation des Vollzugs und der in ihm gewährten medizinischen Versorgung nur um eine grobe, die Unterschiede einebnende Skizze handeln. I. Die Lage des Strafvollzugs In den 16 Bundesländern gab es im Jahr 2001 222 Justizvollzugsanstalten mit einer Belegungsfähigkeit von 77.795 Haftplätzen. Davon ermöglichten rund 47.000 eine Einzelunterbringung, die restlichen waren Bestandteil von jeweils mehrere Personen beherbergenden Gemeinschaftszellen. Die Belegung betrug am Stichtag des 31. März 2001 60.678 aufgrund einer Freiheitsstrafe (52.939), einer Jugendstrafe (7.482) oder aufgrund von Sicherungsverwahrung (257) Inhaftierte. Die Tendenz ist seit der bundeseinheitlichen Zählung 1994 – nach einem davor liegenden zwischenzeitlichen Rückgang – insgesamt, wenn auch nicht kontinuier-
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S. zur „Offenheit“ des Strafvollzugsgesetzes Klaus Laubenthal, Strafvollzug, 3. Aufl., Berlin 2003, Rdnr. 79 m.w.N.; zum Strafvollzug als Länderangelegenheit Rdnrn. 230 f. Frieder Dünkel, Empirische Forschung im Strafvollzug, Bestandsaufnahmen und Perspektiven, Bonn 1996, S. 38 ff. Dünkel, Empirische Forschung, S. 40.
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lich, steigend. Am 31. März 2002 befanden sich 62.594, am 31. August 2004 61.177 Strafgefangene und Sicherungsverwahrte in Haft.4 Die zu verbüßende Haftzeit lag im Jahr 2001 bei rund 15 % Inhaftierten bei mehr als 5 Jahren, bei ca. 25 % zwischen 2 und 5 Jahren. Die restlichen 60 % erwartete eine Inhaftierungsdauer von bis zu 2 Jahren, wobei etwa ein Viertel unter 6 Monaten lag. Die Altersstruktur wich stark von der der Gesamtbevölkerung ab. Am Stichtag des 31. März 2001 waren im Erwachsenenvollzug 32,4 % jünger als 30 Jahre. Nimmt man die eine Jugendstrafe Verbüßenden hinzu, lag der Gesamtanteil der unter 30-jährigen sogar bei 40,7 % aller Strafgefangenen. Die restlichen Altersgruppen belaufen sich (ohne Einbeziehung der Jugendlichen in die Gesamtzahl) auf 37, 6 % 30-39-Jährige, 19,9 % 40-49-Jährige und 7,7 % 50-59-Jährige. 60 Jahre und älter sind nur noch 2,4 %. Rund 96 % der Gefangenen waren männlichen Geschlechts. Im Jahr 2001 war jeder fünfte Gefangene Ausländer.5 Die von berufener Stelle geführte Klage über drangvolle Enge, Überbelegung und damit einhergehende Überlastung des Personals6 ist angesichts der scheinbaren Unterbelegung (60.678 Inhaftierte auf 77.795 Plätze am 31. März 2001) nicht auf den ersten Blick verständlich. Die Zahlen sind aber einer Ergänzung und korrigierenden Bewertung bedürftig. Zum einen ist die Stichtagsbelegung ein Zufallswert, der über das Jahr erheblichen Schwankungen unterliegt. Zum anderen muss man für die tatsächliche Auslastung namentlich die Untersuchungs- und Abschiebehäftlinge hinzuziehen. Tut man dies, ergibt sich für den 31.12.2001 bereits eine Zahl von 78.141. Hinzu kommt eine regional und von Anstalt zu Anstalt schwankende Belegungsdichte, die in manchen Bundesländern bzw. Anstalten zu einer über 100-prozentigen Auslastung führt.7 Am 31. März 2004, an dem in nur noch 204 Vollzugsanstalten 79.204 Haftplätze zur Verfügung standen, ergab sich bei Einbeziehung aller Arten des Vollzugs mit 81.116 Inhaftierten eine deutliche 4
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Zahlen nach Statistisches Bundesamt, Rechtspflege, Fachserie 10 – Strafvollzug/Reihe 4.1 und 4.2, Wiesbaden 2002, 2004; Günther Kaiser, Heinz Schöch, Strafvollzug, Eine Einführung in die Grundlagen, 5. Aufl., Heidelberg 2003, § 12 Rdnr. 1. Zahlen nach Statistisches Bundesamt, Reihe 4.1, 2001 und Statistisches Bundesamt, http://www.destatis.de, Rubrik Rechtspflege/Publikationen „Zeitreihen zur Rechtspflegestatistik“ und mehr; anschauliche Übersichten auch bei Kaiser/Schöch, Einführung, S. 262, 266, 292, 296; Laubenthal, Strafvollzug, S. 34 f. S. den Beschluss der 16. Konferenz der Justizministerinnen und -minister vom 20. und 21. 11. 1996, abgedruckt in: ZfStrVo 1997, S. 296 ff.; ferner die Kritik des Committee for the Prevention of torture, inhuman or degrading Treatment (CPT) anlässlich seiner Inspektionen des deutschen Strafvollzugs in den Jahren 1991, 1996, 1999 und 2000, dazu die Nachweise bei Kaiser/Schöch, Einführung, § 7 Rdnr. 71 mit § 4 Rdnr. 15; s. auch Rolf-Peter Calliess, Heinz Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetz, 10. Aufl., München 2005, Einl. Rdnr. 45 m.w.N. Zu Plänen der Erweiterung der Kapazitäten auf rund 85.000 Haftplätze mit einer Steigerung um 30 % in den neuen Bundesländern, s. Kaiser/Schöch, Einführung, § 10 Rdnr. 12. S. zu diesen Corrigenda Kaiser/Schöch, Einführung, § 12 Rn 2 f.; Michael Walter, Strafvollzug, 2. Aufl. Stuttgart u. a. 1999, Rdnrn. 106 f.; ferner Harald Olschok, Privatisierung im Strafvollzug, in: Rolf Stober (Hrsg.), Privatisierung im Strafvollzug, Köln 2001, S. 111, 112 f.
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Überbelegung, die sich z. B. in Sachsen auf 163, in Baden-Württemberg auf 297 und in Bayern auf 889 Personen belief. In Bremen saßen an diesem Stichtag dagegen 23, in Sachsen-Anhalt 129 und in Nordrhein-Westfalen 701 Personen weniger ein, als Haftplätze vorhanden waren.8 Schon hiernach ergibt sich selbst bei den eher geringfügigen Unterschreitungen, die schon wenige Tage später hinfällig sein können, eine dramatische Situation. Die organisatorische Belastung der Justizvollzugsanstalten und ihrer medizinischen Einrichtungen zeigt sich aber ohnehin erst bei Einbeziehung der Gefangenenbewegung. So mussten im Jahre 2001 in Deutschland von den Vollzugsbehörden 704.657 Zugänge (darunter 249.578 sog. Eintritte = erstmalige Aufnahme aus der Freiheit sowie aus anderen Justizvollzugsanstalten) und 704.699 Abgänge (davon rund 10 % Entlassungen in die Freiheit, 90 % Übergänge in eine andere Vollzugsart – z. B. U-Haft in Strafhaft – oder in eine andere JVA) bewältigt werden. Im August 2004 waren unter 55.369 Zugängen 5.588 Strafantritte und unter 52.462 Abgängen 4.771 Entlassungen in die Freiheit, Vorgänge, die eine ärztliche Untersuchung erfordern.9 Auch aus diesen Gründen ist es gerechtfertigt, bereits deutlich vor einer nicht überall gleichmäßig gegebenen statistischen Auslastung der Haftplätze von (über) 100 % von Überlastung und Überbelegung zu sprechen.10 Die sich auf diesem Hintergrund abzeichnende kritische Lage des Strafvollzugs sah die 68. Justizministerkonferenz 1996 durch spezifische Mangel- und Problemlagen bedenklich verschärft. So wies sie auf den erheblichen Anteil der modernen Bau-, Ausstattungs- und Sicherheitsstandards nicht entsprechenden Haftanstalten ebenso hin, wie auf den Modernisierungsbedarf der inneren Führungs-, Steuerungs- und Verwaltungskonzeptionen. Dazu erklärte sie „die Belastungsgrenze der Justizvollzugsbediensteten“ für „erreicht“. 11 Als einen der maßgeblichen Gründe gab sie eine veränderte Gefangenenstruktur an, die sich durch ein rapides Anwachsen aus unterschiedlichen Gründen schwieriger Gefangenengruppen auszeichne. Gemeint war einerseits der hohe Ausländeranteil, der 1995 insgesamt 22, 8
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Statistisches Bundesamt, http. Die Schwankung zeigt sich zum Beispiel auch daran, dass am Stichtag des 31. August 2004 von den nur noch in 202 Vollzugsanstalten vorhandenen 79.378 Haftplätzen 79.329 belegt waren. Zahlen aus Statistisches Bundesamt, http; s. auch Kaiser/Schöch, Strafvollzug, 5. Aufl. Heidelberg 2002, § 12 Rdnr. 3 zur Einbeziehung der Gefangenenbewegung in die Beurteilung der Belastung. Die Eingangsuntersuchung ist gesetzlich vorgesehen, § 5 III StVollzG, die Entlassungsuntersuchung im Strafvollzugsgesetz nicht erwähnt (s. allerdings VV Nr. 2 zu § 171 StVollzG), nach den einschlägigen Verwaltungsvorschriften der Länder aber die Regel, s. z. B. § 26 der VwV des Justizministeriums BadenWürttemberg zum Gesundheitswesen im Justizvollzug vom 31. 01. 2003, abgedruckt in: Die Justiz 2003, S. 73: „Der ärztliche Dienst untersucht die Gefangenen alsbald nach der Erstaufnahme und grundsätzlich vor der Entlassung“. Bei einer Haftzeit über 3 Monate ist die Untersuchung vorzunehmen, § 32 II VwV. So Walter, Strafvollzug, S. 144 m.w.N.; zu berücksichtigen ist auch der nicht unbeträchtliche Anteil an wegen Bauarbeiten (zeitweise) nicht belegbaren Haftplätzen, s. dazu die Antwort der Baden-Württembergischen Landesregierung auf eine Große Anfrage, Landtag von Baden-Württemberg, Ds 13/3624, Anl. 2 (S. 24-30). S. den Bericht zur Konferenz in: ZfStrVo 1997, S. 296 ff.
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6 % und im Jugendstrafvollzug sogar 31,5 % betrug12 und zu erheblichen Sprach-, Verständigungs- und Integrationsproblemen führe. Dazu wurde im Blick namentlich auf Gefangene aus der Banden- und Organisierten Kriminalität einerseits und auf Drogenabhängige andererseits auf eine verstärkte Gewaltbereitschaft der Gefangenen untereinander und gegen Bedienstete, sowie auf Drogenhandel und Beschaffungskriminalität innerhalb der Anstalten verwiesen. Auch wenn seit 1996 manche baulichen und die Verwaltungsabläufe betreffenden Verbesserungen zu verzeichnen sind, ist das heutige Gesamtbild gegenüber dieser 1996 gültigen Zeichnung kaum maßgeblich verändert. Obwohl der Standard des deutschen Strafvollzugs sich im gesamteuropäischen Vergleich im oberen Mittelfeld bewegt und den in den „Europäischen Strafvollzugsgrundsätzen“13 formulierten Empfehlungen weitgehend genügen dürfte, ist folglich zu sehen, dass neben einer sich in Nord-Süd- und West-Ost-Gefällen ausdrückenden Ungleichbehandlung bauliche Mängel, Überbelegung, materiell und personell knappe Ressourcen, die zunehmende Heterogenität der Vollzugspopulation und ihrer Problemgruppen sowie die große Verwaltungslast den Strafvollzug in einem Zustand halten, der mit den ihm vom Gesetz zugedachten Zielen und den in ihn von der Kriminalpolitik und der Bevölkerung gesetzten Erwartungen nicht hinreichend Schritt hält.14 II. Die Lage der Gesundheitsfürsorge Die Gesundheitsfürsorge nimmt als integraler Bestandteil des Vollzugslebens schon an dessen soeben skizzierten allgemeinen Problem- und Mangellagen teil.15 Dazu erfährt sie durch die besonderen Bedingungen des Strafvollzugs eine von der 12 13
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S. den Überblick über die Jahre 1965-2001 bei Kaiser/Schöch, Einführung, S. 266. Enthalten in der Empfehlung Nr. R (87) 3 des Ministerkomitees des Europarates, abgedruckt in: Bundesamt für Justiz, Bern, Informationen über den Straf- und Maßnahmenvollzug. Sonderbeilage zu Heft 1/95; s. ferner die Empfehlung R (98) 7 des Ministerkomitees des Europarates über ethische und organisatorische Aspekte der Gesundheitsfürsorge im Gefängnisbereich vom 8. April 1998, abgedruckt in: Bundesamt für Justiz, Bern, Informationen über den Straf- und Maßnahmenvollzug, 2/98, S. 20; zur Einschätzung des deutschen Strafvollzugs s. Günther Kaiser, Deutscher Strafvollzug in europäischer Perspektive, in: Wolfgang Feuerhelm, Hans-Dieter Schwind, Michael Bock (Hrsg.), Festschrift für Alexander Böhm, Berlin, New York 1999, S. 25, 46 ff. S. zusammenfassend auch Kaiser/Schöch, Einführung, § 4 Rdnrn. 15 ff.; zur nicht hinreichenden Beachtung des Trennungs- (§ 140 StVollzG) und des Differenzierungsgebots (§ 141 StVollzG) s. Laubenthal, Strafvollzug, Rdnrn. 51 ff. Die Antwort der Niedersächsischen Landesregierung vom 9.7.2004 (Nds. Landtag, Ds 15/1192, S. 1, 4) auf eine kleine Anfrage der Grünen zur Gesundheitsversorgung in den niedersächsischen Strafvollzugsanstalten z. B. weist wiederholt auf die „begrenzten finanziellen Ressourcen“ und auf „deutliche Grenzen in älteren und insbesondere kleinen Anstalten und Abteilungen“ sowie auf die „Kosten-Nutzen-Aspekte“ bei der „Gerätebeschaffung“ hin. Auch wird z. B. die Problemgruppe der „drogen- und suchtabhängigen Gefangenen“ thematisiert.
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Medizin extra muros stark abweichende Prägung. So ergibt sich zum einen eine antinomische Spannung, die die Vollzugsmedizin im Grundsätzlichen aus der Einbettung des am Wohl des Patienten ausgerichteten Behandlungsauftrags in das rechtliche Netzwerk des freiheitsentziehenden und -begrenzenden, des regulierenden und kontrollierenden Vollzugs bezieht, das den medizinischen Stab zu einer partiellen Mitwirkung am reibungslosen und sicherungsorientierten Ablauf des Gefängnisalltages verpflichtet.16 Neben diese miteinander nicht immer leicht vereinbare Bifunktionalität tritt zum anderen eine beachtliche medizinische Aufgabenvielfalt. Sie ergibt sich einerseits aus der Maxime, die Inanspruchnahme extramuraler Dienste über Ausführungen und Verlegungen angesichts ihrer Belastung mit Kosten, Personalaufwand und einem oft erheblichen Sicherheitsrisiko klein zu halten und deshalb die intramurale Versorgung in der Breite wie in der Spezialisierung zu optimieren.17 Andererseits bildet das Spektrum der Erkrankungen durch eine so in der Gesamtbevölkerung und der dem entsprechenden Praxis des Allgemeinmediziners nicht anzutreffenden Ballung von Problemgruppen den Boden für eine den Anstaltsarzt in besonderer Weise treffende fachliche Herausforderung. Neben drogen-, tabletten- und alkoholabhängigen Suchtkranken finden sich psychisch kranke Insassen, neben Autoaggressiven und Suizidgefährdeten HIV-Infizierte und AIDS-Kranke, neben Tuberkulose- und Hepatitisträgern Langzeitverbüßende mit psychosomatisch manifesten Prisonierungseffekten.18 Ausländer, Frauen, Behinderte und Ältere rufen unter den Bedingungen der Haft Probleme der ärztlichen Versorgung hervor, die von jenen in Freiheit abweichen.19 Der 16
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Friedrich Dünkel, Anton Rosner, Die Entwicklung des Strafvollzugs in der Bundesrepublik Deutschland seit 1970, Freiburg 1981, S. 272 vermuten die „Probleme des Arztberufes im Strafvollzug“ daher in erster Linie in den „Einflüssen der institutionellen Bedingungen auf die Tätigkeit des Arztes“, etwa im Sinne einer Identifikation des Vollzugsarztes mit den Vorstellungen der Strafvollzugsinstitution. S. dazu R. Rex, Die Stellung des Arztes im Justizvollzug, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 260; zur Problematik der externen Inanspruchnahme s. auch Barbara Nieszery, Suchtprobleme hinter Gefängnismauern, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 302, 304; Ute Romkopf, Wolfgang Riekenbrauck, in: Hans-Dieter Schwind, Alexander Böhm, Strafvollzugsgesetz, 5. Aufl., Berlin 1999, § 58 Rdnr. 11; zu daraus resultierenden Bemühungen, fachärztliche Beratung innerhalb der Anstalt zu ermöglichen, s. z. B. Dietrich Zettel, Anstaltsarzt und ärztliche Versorgung, in: Hans-Dieter Schwind, Günter Blau (Hrsg.), Strafvollzug in der Praxis, 2. Aufl., Berlin 1988, S. 193, 194. Überblicke m.w.N. finden sich z. B. bei Frank Arloth, Clemens Lückemann, Strafvollzugsgesetz, Kommentar, München 2004, § 56 Rdnrn. 4 ff.; Alexander Böhm, Strafvollzug, 3. Aufl., Neuwied 2003, Rdnrn. 234 ff., 239 ff.; Axel Boetticher/Heino Stöver, in: Johannes Feest (Hrsg.), Alternativkommentar Strafvollzugsgesetz, 4. Aufl., Neuwied 2000, vor § 56 Rdnrn. 25 ff.; Rex, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 261 ff.; Romkopf/Riekenbrauck, in: Schwind/Böhm, StVollzG, § 56 Rdnrn. 4 ff. S. auch Empfehlung R (98) 7, S. 25 ff. Zu Ausländern s. Christoph Flügge, Instrumentalisierung der Vollzugsmedizin, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 265, 269; Rex, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 262; zu Frauen s. Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rdnr. 12; zu Behinderten und Hochbetagten vgl. Empfehlung R (98) 7, S. 27.
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in den Vollzugsdienst eintretende Mediziner ist auf die Bifunktionalität seines Amtes und die Aufgabenpluralität seiner Tätigkeit in der Regel nur unvollkommen vorbereitet. Das Fach Vollzugsmedizin wird nirgends gelehrt. Das Angebot einer Facharztausbildung zum Anstaltsarzt, das die Besonderheiten der intramuralen Gesundheitsfürsorge, ihre Krankheitsbilder und Problemfelder, aber auch die straf- und strafvollzugsrechtlichen Rahmenbedingungen bedächte, findet sich nicht.20 Die Anleitung durch erfahrenere Kollegen kann in den 9 Vollzugskrankenhäusern und in ausgedehnteren medizinischen Abteilungen in größeren Anstalten gelingen. Vielfach wird die nötige Spezialisierung namentlich in kleineren Anstalten aber der durch jährliche Fach- und Fortbildungsveranstaltungen und das erfahrenere Sanitätspersonal unterstützten Eigeninitiative und dem autodidaktischen Geschick des Arztes überlassen bleiben. Das gilt zumal für nebenamtliche oder vertraglich verpflichtete niedergelassene Ärzte, die nur stundenweise in die Vollzugsmedizin einbezogen sind oder sie in kleineren Anstalten sogar gänzlich bestreiten.21 Nach §§ 155 II, 158 I StVollzG geht der Gesetzgeber allerdings davon aus, dass hauptamtliche Ärzte die Versorgung im Vollzug sicherstellen. Sie kann nur „aus besonderen Gründen nebenamtlichen oder vertraglich verpflichteten Ärzten übertragen werden“ (§ 158 II 2 StVollzG). Dabei dient die Bevorzugung hauptamtlicher Ärzte nicht nur der Absicherung ausreichender Versorgung, sondern trägt auch der „zentralen allgemein sozialen Dienstfunktion“ des Arztes „im Behandlungsvollzug“ Rechnung.22 Die Praxis weicht von dieser gesetzgeberischen Vorstellung aber nicht unerheblich ab. So beschäftigt z. B. Niedersachsen in seinem Justizvollzugskrankenhaus Lingen zwar 7 hauptamtliche und (einschließlich des Zahnarztes) nur drei nebenamtliche Ärzte. In den 17 Justizvollzugsanstalten ste20
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Der Forderung nach einem eigenen Fach „Vollzugsmedizin“ (auch „Desmoterische Medizin“ genannt, s. Wolfgang Riekenbrauck, Schweigerecht versus Auskunftspflicht, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 277, 278) wurde auf dem 23. Symposion für Ärzte und Juristen über „Medizinische Probleme im Justizvollzug“ der Berliner Kaiserin-FriedrichStiftung am 23./24. 04. 1999 angesichts der „geringen Größe und Austrahlung“ des Faches „kaum Chancen auf Realisierung“ zugestanden, s. Jürgen Hammerstein, Zusammenfassung der Diskussion, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 271, 272. Die Empfehlung R (98) 7 lautet unter Nr. 34 (S. 25): „Die im Gefängnisbereich tätigen Ärzte sollten über eine gute fachliche Kompetenz in Allgemeinmedizin und in Psychiatrie verfügen. Ihre Ausbildung sollte den Erwerb theoretischer Anfangskenntnisse, Verständnis für den Gefängnisbereich und dessen Auswirkungen auf die Ausübung des Arztberufes im Gefängnis […] und ein Praktikum unter der Leitung eines erfahrenen Arztes beinhalten“. S. zur die Regel bildenden erheblichen Beteiligung außenstehender Ärzte anschaulich Nds. Landtag, Ds 15/1192, S. 9 ff; zur einmal jährlich durchgeführten „Anstaltsärztetagung“, S. 12; zu Ausbildungsdefiziten und -erfordernissen s. z. B. Böhm, Strafvollzug, Rdnr. 100; Klaus Hübner, Ein Krankenhaus für den Strafvollzug, in: ZfStrVo 1991, S. 88, 97 f.; Harald Preusker, Suchtprobleme hinter Gefängnismauern, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 309, 312 (auch mit Blick auf „sozialethische Fragen und Einstellungen z. B. zur Substitutionbehandlung); Rex, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 264; ferner Luciano Missioni, Über die Situation der Psychiatrie im Vollzug, in: ZfStrVo 1996, S. 143, 146. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 158 Rdnr. 1.
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hen im übrigen aber nur 18 hauptamtliche Ärzte 36 nebenamtlich tätigen Ärzten gegenüber.23 Sechs Anstalten besitzen überhaupt keine hauptamtliche Stelle. Das zeigt, dass der Bedarf durch die Planstellen für hauptamtlich tätige Anstaltsärzte in keiner Weise abgedeckt ist. Davon kann auch bundesweit schon deshalb keine Rede sein, weil die Länder 1995 zusammen nur 280 Planstellen für hauptamtliche Anstaltsärzte zur Verfügung gestellt haben.24 Diese Minimalversorgung ist nicht nur als absolute Zahl, sondern auch deshalb defizitär, weil „chronischer Personalmangel“ herrscht und selbst die wenigen Planstellen jedenfalls in den vergangenen Jahrzehnten nicht durchgehend besetzt werden konnten.25 Ein Grund hierfür ist in der aus ärztlicher und wirtschaftlicher Sicht nicht sonderlich hoch zu veranschlagenden Attraktivität dieser Stellen und der mit ihnen verbundenen Tätigkeit zu sehen. Die Beamtenbesoldung kann mit dem Einkommen frei praktizierender Ärzte in aller Regel nicht Schritt halten. Das Ansehen des „Gefängnisarztes“26 ist nicht eben hoch. Das Patientengut wird als problematisch beschrieben. Es wird der Simulation, der Arbeitsunlust, des Medikamentenmissbrauchs, der Wehleidigkeit bezichtigt und als aggressiv gegenüber einem in erster Linie als Repräsentanten der „feindlichen Institution“ gesehenen Arzt beschrieben. Auch gilt es als Ansammlung von Menschen, die oft nicht primär ärztlich behandelt, sondern vom Arzt in ihren vollzugsbedingten Sekundärinteressen bedient werden wollen. „Das Ergebnis ist eine von Begehrlichkeit und Misstrauen getragene ambivalente Einstellung des Patienten“, 23
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Nds. Landtag, Ds 15/1192, S. 9 ff; die nebenamtlichen Ärzte werden freilich nur mit einem unterschiedlichen Stundendeputat beschäftigt. Davon entfallen auf Nordrhein-Westfalen 53, auf Sachsen 35, auf Bayern 34, auf Baden-Württemberg und Niedersachsen je 26 und auf Mecklenburg-Vorpommern 6; s. die Zusammenstellung des Nds. Justizministeriums, abgedruckt bei Laubenthal, Strafvollzug, S. 213. Für 2004 gibt eine Länderübersicht (Bad.-Württemb. Landtag, Ds 13/3624, Anl. 4) 305 Planstellen an. Das Anwachsen betrifft vor allem Bayern um 11 und Nordrhein-Westfalen um 10 Stellen. Rex, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 260 gibt für das Jahr 2000 an, dass bundesweit 395 Ärzte von den Justizverwaltungen im Vollzug beschäftigt wurden, davon „ein knappes Drittel […] niedergelassene Ärzte“. Er berechnet daraus eine durchschnittliche Arztdichte von 1 auf 560; für das Jahr 1980 berechneten Dünkel/Rosner, Entwicklung, S. 272 den deutlich günstigeren Zahlenwert von 1 auf 293; das Committee for the Prevention of torture and inhuman or degrading Treatment (CPT) hat ein Mindestniveau von einem Arzt und zwei Krankenpflegern auf 500 Gefangene gefordert, s. Roland Bank, Die internationale Bekämpfung von Folter und unmenschlicher Behandlung, Freiburg/Breisgau 1996, S. 181. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 56 Rdnr. 6; Romkopf/Riekenbrauck, in: Schwind/Böhm, StVollzG, § 158 Rdnr. 2. Wie ihn Friedrich Leppmann in seiner Monographie „Der Gefängnisarzt“, Berlin 1909, noch nannte; s. zu den im Text genannten Vorbehalten Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 56 Rdnr. 6; D. Husen, Ärztlicher Dienst im Strafvollzug, in: Georg Eisen (Hrsg.), Handwörterbuch der Rechtsmedizin, 3. Bd., Stuttgart 1977, S. 574, 577; ferner: H. Schandel, Schlussresümee des Arbeitskreises für Ärzte, in: Arbeitsgemeinschaft der leitenden Strafvollzugsbeamten Österreichs („Veränderungen in der Vollzugsorganisation“ „Hebung des Images“), 29. Arbeitstagung Wien 1993, S. 117-119.
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die dem Arzt draußen nicht erwerbbares „Erfahrungswissen“27, Geduld, Frustrationstoleranz und „nervliche Belastbarkeit“28 abverlangt und seine Sprechstunde zeitweise zu einer Abwehrschlacht gegen von Aggression und Unehrlichkeit begleitete Instrumentalisierungsversuche verkommen zu lassen droht.29 Dazu sind Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten eingeschränkt. Zwar mag es zutreffen, dass die wenigen „neuen Vollzugsanstalten“ über „medizinische Abteilungen“ verfügen, die nach Räumlichkeiten und Geräteausstattung „den Vergleich mit Praxen außerhalb des Justizvollzugs nicht zu scheuen brauchen“.30 Auch dürfte sich das Strafvollzugsgesetz mit seiner stärkeren Betonung des Behandlungscharakters (§ 4 I StVollzG) und der verlangten Angleichung an die allgemeinen Lebensverhältnisse (§ 3 I StVollzG) positiv auf Verbesserung und Modernisierung der medizinischen Einrichtungen ausgewirkt haben.31 Das polemische Wort von der „Sperrmüllpraxis“32 ist deshalb wohl überholt. Es ist aber gleichwohl keine Verzeichnung, von einem räumlich eher unfreundlichen Praxisambiente und von unzureichender und veralteter apparativer Ausstattung namentlich in den zahlreichen älteren und kleineren Anstalten als einem noch verbreitet anzutreffenden Zustand zu sprechen. So findet man z.B. in Niedersachsen im Jahr 2004 nur in 5 Anstalten einen Defibrillator, dessen Herstellungsjahr in Hannover mit 1989 angegeben wird und in nur 8 Anstalten ein Ultraschallgerät, davon 2 mit unbekanntem Herstellungsjahr.33 Die Einschätzung, dass in den 9 Vollzugskrankenhäusern „die Krankenhauseinrichtung modern“ und „die Diagnostik- und Untersuchungsmöglichkeiten ausreichend“ sind,34 deckt mit dieser Beschreibung auch hier bestehende Mangellagen nicht zu. Ein weiterer Grund, der der Befriedigung über ärztliche Betätigung im Strafvollzug Grenzen setzt, dürfte in den Statusbelastungen liegen, denen Arzt und Patient unterworfen sind. Sie können selbst dort, wo Diagnostik und Therapie mit den personellen, apparativen und medikamentösen Mitteln der Vollzugseinrichtung hinreichend gewährleistet sind, zu Dissonanzen im Arzt-Patienten-Verhältnis führen, die erfolgreiches Therapieren gefährden. So entspricht es zwar verbreiteter Beobachtung, dass manche, die in den Strafvollzug aufgenommen werden, hier nach Jahren gesundheitlicher Verwahrlosung durch Obdachlosigkeit, Alkohol27 28 29
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Wörtliches Zitat bei Rex, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 261. Zettel, Anstaltsarzt, S. 193, 196. Zur vorstehenden, nicht durchgehend als realistisch gekennzeichneten und vor allem mit Vorbehalten zur Simulation versehenen Beschreibung s. z. B. Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rdnr. 18 ff.; Flügge, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 265, 270; Husen, Ärztlicher Dienst S. 574, 575; W. Riekenbrauck, Schweigerecht versus Auskunftspflicht des Anstaltsarztes, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 277, 278; ferner auch schon F. Leppmann, Gefängnisarzt, S. 110 ff., der in seiner Einleitung wenig sensibel von „eigenartigem Menschenmaterial“ spricht. Nds. Landtag, Ds 15/1192, S. 4. Romkopf/Riekenbrauck, in: Schwind/Böhm, StVollzG, § 58 Rdnr. 25. Zettel, Anstaltsarzt, S. 193, 194. Nds. Landtag, Ds 15/1192, S. 4. Romkopf/Riekenbrauck, in: Schwind/Böhm, StVollzG, § 58, Rdnr. 26.
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oder Drogenabhängigkeit erstmals von schon äußerlich stigmatisierenden Symptomen befreit und einer sachkundigen und regelmäßigen Gesundheitsfürsorge zugeführt werden, die sie von Abhängigkeiten löst und ihren Allgemeinzustand im Sinne der Normalisierung von Körpergewicht und Laborwerten deutlich verbessert.35 Deshalb von einer Gefahr zu sprechen, „die Strafanstalt (könne) zum Dorado der ärmeren Klassen der Bevölkerung“36 werden, ist aber kaum angebracht. Denn einerseits darf schnelle körperliche Erholung nicht zu dem voreiligen Schluss verleiten, die psychische Gesundung halte mit der physischen Schritt.37 Und andererseits hat die volkstümliche Behauptung, Knast mache krank, nach der Einschätzung von Experten trotz über die Jahrhunderte fraglos deutlich verbesserter Lebensbedingungen hinter Gittern kaum etwas von ihrer Gültigkeit verloren. Das gilt vornehmlich im Sinne der pathogenen Bedeutung dieser Aussage für psychische (Neu-)Erkrankungen mit nicht selten psychosomatischer Symptomatik.38 Es gilt aber auch für rein körperliche Erkrankungen, die z.B. durch ein Absinken der Abwehrkräfte, durch körperliche wie sexuelle Aggression oder durch die Häufung infektiöser Krankheiten im Vollzug begünstigt werden.39 Ist eine Erkrankung in einen kausalen Zusammenhang mit dem Vollzugsleben zu stellen, kuriert der Arzt an Symptomen, deren Auftreten der Institution zugeschrieben und deren Behandlung und Beherrschung in eben dieser Institution folglich aus der Sicht des Patienten nicht immer aussichtsreich eingeschätzt werden. Der hieraus folgende Vertrauensverlust in die Leistungsfähigkeit der Vollzugsmedizin und die mit ihm einhergehende, die Gesundung behindernde Passivität machen den ärztlichen Dienst schwer. Er trifft, auch ohne ein unmittelbares (subjektives) Zurückführen der Erkrankung auf die Lebensbedingungen im „Knast“, auf Patienten, deren Eingeschlossensein krank macht, Ängste verstärkt, nicht angemessen behandelt und im Notfall nicht rechtzeitig versorgt zu werden, und deren weitgehend fremdbestimmter und monotoner Alltag in eine durch Lethargie, Unselbständigkeit und Hilflosigkeit geprägte Versorgungshaltung führt.40 Ein aktives Mitwirken am Gesundungsprozess ist wie eine Mobilisierung der Selbsterhaltungskräfte unter solchen Bedingungen kaum zu erwarten. Sie sind auch durch die in § 56 II StVollzG bestehende Verpflichtung des Gefangenen, 35
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S. dazu Böhm, Strafvollzug, Rdnr. 238; Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rdnr. 10; Husen, Äztlicher Dienst, S. 574, 583; Karlheinz Keppler, Gesundbleiben in Haft, in: Deutsche AIDS-Hilfe e.V. (Hrsg.), Betreuung im Strafvollzug. Ein Handbuch. Berlin 1996, S. 83. Heinrich Kriegsmann, Einführung in die Gefängniskunde, Heidelberg 1912, S. 175. Keppler, Gesundbleiben, S. 83. S. z. B. Norbert Konrad, Psychisch Kranke im Justizvollzug, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 288; Laubenthal, Strafvollzug, Rdnrn. 228 ff.; Missioni, in: ZfStrVo, 1996, S. 143, 144 f.; Knut Tielking, Susanne Becker, Heino Stöver, Entwicklung gesundheitsfördernder Angebote im Justizvollzug, Oldenburg 2003, S. 43 ff; Walter, Strafvollzug, Rdnrn. 267 ff.; s. auch schon Leppmann, Gefängnisarzt, S. 23 ff. S. z. B. Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG vor § 56 Rdnr. 9. Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rdnr. 9; zu den beschriebenen Ängsten s. Michael Gähner, Medizinische Versorgung im Strafvollzug, in: Vorgänge 1986, S. 57, 60.
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„die notwendigen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Hygiene zu unterstützen“ nicht erzwingbar, da die Anwendung von Zwang oder die Anordnung von Disziplinarmaßnahmen zur Durchsetzung ärztlich-therapeutischer Verordnungen unzulässig und im Übrigen auch therapeutisch unsinnig sind.41 Wenn „Gesundheitsförderung“ auch jenseits aktueller Behandlung „auf einen Prozess (zielt), allen Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit zu ermöglichen und sie damit zur Stärkung ihrer Gesundheit zu befähigen“,42 stößt ein hierauf mitbegründetes „Health in Prisons Project“ in dieser Hinsicht auf einen eher spröde zu nennenden Boden.43 Zu den hier sogenannten Statusbelastungen zählt schließlich die tief in das Arzt-Patienten-Verhältnis hineinwirkende rechtliche Stellung und Rollenkonzeption, die das Strafvollzugsgesetz dem Anstaltsarzt zuschreibt. „Für die körperliche und geistige Gesundheit des Gefangenen“ haben die Institutionen des Strafvollzugs zu sorgen (§ 56 I 1 StVollzG). Der daraus für den Strafgefangenen erwachsende „Anspruch auf Krankenbehandlung […] umfasst insbesondere“ die ärztliche Versorgung (§ 58 I 1, 2 Nr. 1 StVollzG). Diese ist nach § 158 I 1 StVollzG in erster Linie „durch hauptamtliche Ärzte sicherzustellen“. Für den „normalen“44 Gefangenen entfällt infolgedessen die „draußen“ mögliche freie Arztwahl. Der Anstaltsarzt wird damit zum „Zwangsansprechpartner“.45 Das ist schon für sich genommen kein vertrauensbildender Faktor. Ihm gesellt sich hinzu, dass aufgrund der schon erwähnten Bifunktionalität der anstaltsärztlichen Tätigkeit der Gefange41
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Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, § 56 Rdnr. 2; Calliess/Müller-Dietz, StrVollzG, § 56 Rdnr. 5; Karlheinz Keppler, Grundlagen der Anstaltsmedizin, in: Deutsche AIDSHilfe e.V. (Hrsg.), Betreuung im Strafvollzug. Ein Handbuch. Berlin 1996, S. 111, 113; Romkopf/Riekenbrauck, in: Schwind/Böhm, StVollzG, § 56 Rdnr. 3. So der Beginn der Definition der „Gesundheitsförderung“ in der Ottawa-Charta vom 21. 11. 1986; s. auch die ähnliche Umschreibung in der Jakarta-Erklärung der WHO vom Juli 1997. Zum Health in Prisons Project (HIPP) der WHO (1995/1996) s. Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rdnr. 22; Heino Stöver, Healthy Prisons – Gesundheitsförderung im Strafvollzug als eine umfassende Perspektive, in: Gerhard Rehn, Regina Nanninga, Andreas Thiel, Freiheit und Unfreiheit, Herbolzheim 2004, S. 149 ff.; ferner H. Stöver, Healthy Prisons: Strategien der Gesundheitsförderung im Justizvollzug, Oldenburg 2000; Tielking/Becker/Stöver, Entwicklung, S. 41 f., 54 ff.; zur Empirie s. auch Joachim Marquart, D. Merianos u. a., Health Conditions and Prisoners, in: The Prison Journal, 1997, S. 184 ff. Stöver, Healthy Prisons – Gesundheitsförderung, S. 149, 157 f.; das Nds. Justizministerium stellt in seiner Antwort – Nds. Landtag, Ds 15/1192, S. 4 – einleitend fest: „Behandlungsbemühungen können nur dann effizient greifen, wenn Patienten aktiv an ihrer Gesundheit mitwirken“. Mit „normal“ gemeint ist: nicht ein in einem freien Beschäftigungsverhältnis (§ 39 I StVollzG) krankenversicherter Freigänger (§ 62 a StVollzG). Karlheinz Keppler, Grundlagen, S. 111; nur ausnahmsweise kann nach VV Nr. 3 zu § 158 StVollzG der Anstaltsleiter nach Anhörung des Anstaltsarztes dem Gefangenen gestatten, auf eigene Kosten einen beratenden Arzt hinzuzuziehen. Zu den Gründen der Entscheidung gegen eine freie Arztwahl s. SA BT-Ds 7/3998 S. 25 f.; Kaiser/Schöch, Einführung, § 7 Rdnr. 151.
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ne dem Anstaltsarzt nicht nur als einem dem Heilauftrag verpflichteten Helfer, sondern in mannigfacher Weise auch als einem in die Hierarchie des Anstaltspersonals eingereihten Träger von Vollzugsaufgaben begegnet, der beispielsweise die Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum oder eine Fesselung zu überwachen (§ 92 I StVollzG), einen Arrest zu beaufsichtigen (§ 107 I StVollzG) oder eine Zwangsmaßnahme auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge (§ 101 StVollzG) durchzuführen hat. Schon bei der Eingangsuntersuchung (§ 5 III StVollzG) erfährt bei einer korrekten Aufklärung der „gefangene Patient“, dass sie sich in ihrer Zielsetzung von einem „Gesundheitscheck“ in Freiheit unterscheidet und dass sich die Grenzen der ärztlichen Schweigepflicht zu Lasten des Untersuchten gegenüber dem Normalbürger verschieben.46 Trotz der skizzierten, auf unterschiedlichen Feldern liegenden Defizite und Problematiken der Gesundheitsfürsorge im Vollzug und des Berufsfeldes des Anstaltsarztes wird man der praktizierten intramuralen Medizin in Deutschland kein schlechtes Zeugnis ausstellen müssen. Sie birgt schon angesichts der über sie ausgeübten stetigen Kontrolle kein erhöhtes Mortalitätsrisiko. Auch wird sie von engagierten Ärztinnen und Ärzten betrieben, die trotz der berufsethischen Friktionen, der bisweilen überbordenden Verwaltungs- und Auskunftslasten und der verbreitet nicht als unproblematisch empfundenen Einbindung in eine rechtlich stark überformte und auf juristische Absicherung angewiesene Enklave in offenbar zunehmendem Maße bereit sind, sich für den Dienst im Vollzug zu entscheiden.47 Gleichwohl ist zu sehen, dass nicht nur der Strafvollzug selbst, sondern auch die in ihm betriebene Gesundheitsfürsorge von einem allseits befriedigenden Zustand noch deutlich entfernt sind.
B. Die rechtlichen Grundlagen der Gesundheitsfürsorge I. Geschichtlicher Überblick Obwohl zum „Innenpersonal“ des 1595 gegründeten Amsterdamer Zuchthauses schon ein Arzt gehört haben soll,48 werden die die Gesundheit der Gefangenen betreffenden „hygienischen Verhältnisse“ in den Strafanstalten bis zum ausgehenden 18. Jahrhundert durch das „Fehlen jeglicher sanitärer Einrichtungen und Vorkehrungen bei dürftigster Ernährung“ so beschrieben, dass die Gefängnisse eher 46
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S. zur schon bei der Eingangsuntersuchung nötigen Aufklärung nach § 182 II 5 StVollzG Klaus Lange-Lehngut, Schweigerecht versus Auskunftspflicht des Anstaltsarztes – Sicht des Anstaltsleiters, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 282, 286. Angesichts der Ärzteschwemme und dem sinkenden Einkommen frei praktizierender Ärzte nimmt das Interesse an der Tätigkeit im Strafvollzug offenbar zu, s. Romkopf/Riekenbrauck, in: Schwind/Böhm, StVollzG, § 158 Rdnr. 2; Walter, Strafvollzug, Rdnr. 228; skeptisch Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG § 158 Rdnr. 1. S. Hans-Dieter Schwind, Kurzer Überblick über die Geschichte des Strafvollzugs, in: Hans-Dieter Schwind, Günter Blau (Hrsg.), Strafvollzug in der Praxis, 2. Aufl., Berlin, New York 1988, S. 1, 5.
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„als Ort für Begräbnisse, als zur Unterbringung von Lebenden“ erscheinen.49 Erste Vorhaben, in dem bis dahin annähernd rechtsfreien Raum des Strafvollzugs einen „Generalplan […] zur Verbesserung der Gefängnis- und Strafanstalten“ durchzusetzen, scheiterten 1804, enthielten aber zu den hygienischen Verhältnissen und der Gesundheitsfürsorge ohnehin noch keine Vorstellungen.50 Das nur wenige vollzugsrelevante Vorschriften aufweisende Reichsstrafgesetzbuch von 1871 äußerte sich wie die in Landesgesetzen schon vor 1870 beginnende „Verrechtlichung des Strafvollzuges“51 zur Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug nicht. Ausführungsbestimmungen zum Reichsstrafgesetzbuch, wie die badische „Landesherrliche Verordnung“ vom 23. Dezember 1871,52 sahen zwar zum Beispiel die Mitwirkung des „Hausarztes“ bei der „Beköstigung“ (§ 21 VI) und bei der „Zuerkennung einer (Disziplinar-)Strafe“ (§ 29 II) vor, entbehrten aber jeder weiteren Aussage zur medizinischen Versorgung der Gefangenen. Die Stellung des Gefängnisarztes und seiner Aufgaben beschrieben dann zwar in den einzelnen Ländern erlassene Hausordnungen für die Strafanstalten oder Dienstvorschriften für die Ärzte genauer,53 führten aber zu einer unübersichtlichen Zersplitterung der Rechtslage. Nach dem Scheitern eines 1879 vom Reichsjustizamt erstellten „Entwurfs eines Gesetzes über die Vollstreckung von Freiheitsstrafen“ kam es auf von diesem Amt aufgenommenes Drängen von Vollzugspraktikern 1897 durch den Bundesrat zur Verabschiedung der „Grundsätze, welche bei dem Vollzuge gerichtlich erkannter Freiheitsstrafen bis zu weiterer gemeinsamer Regelung zur Anwendung kommen“ sollten.54 Hierin wurde festgelegt, dass die „Behandlung erkrankter Gefangener 49
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Bei Uwe Wesel, Geschichte des Rechts, München 1977, S. 455 nachzulesender Ausspruch des preußischen Justizministers v. Arnim aus dem Jahr 1799; dort auch zur Kennzeichnung der Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug dieser Zeit; s. ferner H. Fischer, in: Erwin Bumke (Hrsg.), Deutsches Gefängniswesen, Berlin 1928, S. 198 f.; Husen, Ärztlicher Dienst, S. 575 f. S. zu diesem Vorstoß aus dem Preußischen Justizministerium näher Schwind, Überblick, S. 1, 11. S. Kaiser/Schöch, Strafvollzug, § 2 Rdnr. 54 mit Beispielen. Ges.-Bl. Nr. 55, abgedruckt in: Deutsches Reichsstrafgesetzbuch nebst den badischen Einführungs- und Vollzugsbestimmungen, Mannheim 1872, S. 132; s. dazu auch Bettina Kirschke, Medizinische Versorgung im Strafvollzug, Hamburg 2003, S. 9. S. Kriegsmann, Einführung, S. 139 f.; Leppmann, Gefängnisarzt S. 20 f. und die dort im Anhang (nach S. 206) abgedruckte preußische „Dienstanweisung für die Aerzte bei den Strafanstalten und Gefängnissen im Ressort des Ministeriums des Inneren vom 15.04.1895“, die in 6 Paragrafen die Stellung und die Pflichten des Arztes, die Ausübung seines Amtes, die Beigesellung eines Lazarettaufsehers, die Hausapotheke und die Vertretung des Arztes regelt. Eine Zusammenstellung der Haus- und Dienstordnungen für die Strafanstalten findet sich auch in BR-Ds 1907, Nr. 89; s. dazu Kaiser/Schöch, Strafvollzug, § 2 Rdnr. 55. Abgedruckt in Zentralblatt für das Deutsche Reich, hrsgg. vom Reichsamt des Inneren, Berlin 1897, S. 308 ff.; die Grundsätze haben als einfache Ländervereinbarung weder Gesetzes- noch Verordnungskraft, s. dazu Kaiser/Schöch, Strafvollzug, § 2 Rdnr. 55; Kriegsmann, Einführung S. 140 f.; Leppmann, Gefängnisarzt, S. 9 ff.; zur Würdigung s. auch Kirschke, Versorgung, S. 10 ff., 14.
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[…] in der Regel innerhalb der Strafanstalt selbst oder in einer nur für erkrankte Gefangene bestimmten Anstalt“, in Ausnahmefällen auch in einer „von der Aufsichtsbehörde bestimmten Heilanstalt“ stattzufinden (§ 27) und dass der Gefangene in Einzelhaft Anspruch auf einen monatlichen Arztbesuch hat (§ 14). Kost und Arbeit hingen von der Begutachtung des Gesundheitszustandes ab (§§ 18, 23). Gegen Disziplinarmaßnahmen konnte der Arzt Einwände erheben (§ 35). Das Nähere festlegende Hausordnungen wurden für jede Anstalt zur Pflicht gemacht (§ 37).55 Sie und Dienstordnungen für Ärzte prägten das Bild. Die Grundsätze von 1897 wurden 1923 auf Initiative von Radbruch durch die „Grundsätze für den Vollzug von Freiheitsstrafen“ ersetzt.56 Hinter ihnen stand in Abkehr von einem reinen Vergeltungsstrafrecht der Gedanke, dass „die Freiheitsstrafe nicht zu einer Leibesstrafe“ werden darf, sondern dass es vielmehr das Bemühen des Strafvollzugs sein muss, „den Gefangenen mit dem Bestande an Gesundheit und Kraft in die Freiheit zu entlassen, über den er bei normalen Verhältnissen würde haben verfügen können“.57 § 11 sah erstmalig den „Arzt im Hauptamt“ vor, der nur in kleineren Anstalten durch Vertragsärzte ersetzt werden und der „auch psychiatrisch besonders ausgebildet“ sein sollte. Er entschied nach den alsbald erlassenen Dienst- und Vollzugsordnungen der Länder in ärztlichen Fragen unabhängig vom Anstaltsvorstand.58 In §§ 86-104 erfuhr die „Gesundheitsfürsorge“ eine ins Einzelne gehende Regelung, die sich einerseits mit Größe, Luftraum, Lichtfläche, Beheizung und Beleuchtung der Zellen, mit dem Recht auf ein Bad alle zwei Wochen, mit Hygiene, Desinfektion, Bewegung im Freien und Turnunterricht befasste, vor allem aber eine umfassende ärztliche Versorgung gewährleistete. Es sollten Krankenräume bzw. -abteilungen eingerichtet werden, in denen der Anstaltsarzt gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines weiteren (Fach-) Arztes für die körperliche, aber auch die „geistige Gesundheit“ Sorge zu tragen und gegebenenfalls die Verlegung in eine Krankenanstalt anzuregen hatte. Für Zahnbehandlung stand bei Bedürftigkeit notfalls die Anstalt ein. Schwangere Frauen sollten zur Entbindung in eine Entbindungsanstalt überführt werden. Bei Nahrungsverweigerung war Zwangsernährung unter Aufsicht des Arztes bei Lebensgefahr möglich. Obwohl im Dritten Reich der Vergeltungsgedanke wieder in den Vordergrund rückte, blieben durch die 1934 erlassene „Verordnung über den Vollzug von Frei-
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Zur – begrenzten – vereinheitlichenden Wirkung dieser Grundsätze s. Kriegsmann, Einführung, S. 141; Leppmann, Gefängnisarzt, S. 15. Sie waren wiederum eine Vereinbarung der Landesregierungen, s. RGBl. II, S. 263. Kriegsmann, Einführung, S. 175; zur Würdigung s. Kirschke, Versorgung, S. 15 ff. S. Fischer, Gesundheitsfürsorge, S. 202; dort – S. 201 ff. – auch zu weiteren Einzelheiten; dass Zwischenfälle möglich blieben, zeigt der Fall des Reichsministers a. D. Höfle mit der Folge der als „lex Höfle“ bezeichneten U-Haftnovelle vom 27. 12. 1926 (RGBl I, S. 529); s. dazu K. Peschke, Das neue Untersuchungshaft-Verfahren, in: Gesetz und Recht, Heft 3, 1927, S. 33 ff.
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heitsstrafen“, die die Vollzugsgrundsätze aus dem Jahre 1923 in Teilen modifizierte, die Vorschriften über die Gesundheitsfürsorge unberührt.59 1945 bestimmte die Kontrollrats-Direktive Nr. 1960 sehr pauschal, dass den Gefangenen umfassende „ärztliche, zahnärztliche und psychiatrische Fürsorge gegebenenfalls auch in Krankenhäusern“ zu gewähren sei. Neu war die Verpflichtung, „psychologische und psychiatrische Beurteilungen“ in die Behandlung der Strafgefangenen „voll“ mit einzubeziehen. Sie knüpfte freilich insoweit an die Grundsätze von 1923 an, als diese bereits die besondere Qualifikation des Anstaltsarztes in psychiatrischer Sicht empfohlen hatten (§ 11 III). In den Folgejahren setzte eine Reihe von Ländern die sehr allgemein gehaltene Direktive in Strafvollzugsverordnungen um, über die hier nicht im Einzelnen zu berichten ist.61 Bis zum Inkrafttreten des Strafvollzugsgesetzes im Jahr 1977 führte vor allem die von den Justizministern der Länder vereinbarte Dienst- und Vollzugsordnung (DVollzO) aus dem Jahre 1961 Regime und vereinheitlichte in einer 270 Einzelbestimmungen enthaltenen minutiösen Regelung die praktische Gestaltung des Strafvollzugs in Deutschland.62 Diese DVollzO sah bei Bedürfnis Anstaltsärzte im Hauptamt vor, die in der inneren Medizin, der kleinen Chirurgie, der Psychiatrie und der Psychologie erfahren sein und die amtsärztliche Prüfung abgelegt haben sollten. In kleineren Einheiten waren beamtete Ärzte im Nebenamt oder Vertragsärzte vorgesehen (Nr. 22). Die Aufgaben waren ausführlich beschrieben (Nr. 23), Gehilfen des Arztes vorgesehen (Nr. 24). Vorbeugende Gesundheitspflege (Nr. 59
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S. RGBl I, S. 383 ff; die Beibehaltung der Regelung aus dem Jahre 1923 heißt natürlich nicht, dass sich der in § 48 I und II zeigende neue Zeitgeist nicht auch in der Gesundheitsfürsorge auswirkte. § 48 lautete: „Durch die Verhängung der Freiheitsstrafe sollen die Gefangenen das begangene Unrecht sühnen. Die Freiheitsentziehung ist so zu gestalten, dass sie für die Gefangenen ein empfindliches Übel ist und auch bei denen, die einer inneren Erziehung nicht zugänglich sind, nachhaltige Hemmungen gegenüber der Versuchung, neue strafbare Handlungen zu begehen, erzeugt”. Nach Reichsminister R. Frank galt: „Der nationalsozialistische Staat verhandelt mit den Verbrechern nicht, er schlägt sie nieder” (Der Sinn der Strafe, in: BlGefK 66, 1935, S. 191, 192) und: „Der gemeine Verbrecher ist von der Gemeinschaft verurteilt und er findet weder Gnade noch Fürsorge“ (Strafrechts- und Strafvollzugsprobleme, in: BlGefK 68, 1938, S. 259, 267). Die „Allgemeine Verfügung zur Vereinheitlichung der Dienst- und Vollzugsvorschriften für den Strafvollzug” vom 22. 7. 1940 setzte die Dienst- und Vollzugsordnungen der Länder außer Kraft, s. hierzu Kaiser/Schöch, Strafvollzug § 2 Rdnr. 59; Kirschke, Versorgung, S. 22 ff; Laubenthal, Strafvollzug, Rdnrn. 121 f. Abgedruckt in ZfStrVo 1 (1950), S. 30-32; zuvor im Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, Nr. 3 vom 31.1.1946; s. dazu Kirschke, Versorgung, S. 25. S. dazu Kaiser/Schöch, Strafvollzug, § 2 Rdnr. 60. Zu den hier relevanten Teilen abgedruckt in Luchterhand Texte, Strafverfahren 2/Strafvollzug, Darmstadt 1969, S. 93 ff; vollständig in Theodor Grunau, Erläuterungen zur Dienst- und Vollzugsordnung (DVollzO), Köln, Berlin, Bonn, München 1972; zur Rechtslage in der DDR, die mit VO vom 16.11.1950 den Strafvollzug „zur Sache der Republik” erklärte (DDR GBl, S. 1165) und 1968 ein Strafvollzugs- und Wiedereingliederungsgesetz (DDR GBl I, S. 109) erließ, das 1977 ersetzt wurde, s. Kaiser/Schöch, Strafvollzug, § 2 Rdnr. 71 ff.; Kirschke, Versorgung, S. 29 ff.
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111), Sorge für die Gesundheit (Nr. 112) und eine ärztliche Behandlungspflicht (Nr. 115) waren geregelt. Auch die Verantwortlichkeit und Mitwirkungspflicht des Gefangenen fanden Erwähnung (Nr. 117). Die Zuziehung von Fachärzten war vorgesehen (Nr. 118). Das Verbringen in Krankenanstalten bei körperlicher oder geistiger Erkrankung war minutiös geregelt (Nrn. 119, 120). Sondervorschriften fanden sich zur zahnärztlichen Behandlung und zum Verfahren vor und nach Entbindung einer Gefangenen (Nrn. 122, 123). Bei Sicherungsmaßnahmen wie Beruhigungszelle oder Fesselung war ebenso wie bei dem Vollzug von Hausstrafen die Mitwirkung des Anstaltsarztes vorgesehen (Nrn. 178 II, 186). Zwangsuntersuchung, Zwangsbehandlung und Zwangsernährung waren kodifiziert (Nr. 193). Hier fand sich also alles in allem eine in der Detailgenauigkeit und Regelungsdichte das heutige Strafvollzugsgesetz teilweise vorwegnehmende, teilweise aber auch übertreffende Ausziselierung der die Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug anleitenden Grundsätze. II. Der international- und europarechtliche Rahmen Die Kriminal- und Vollzugspolitik ist schon seit längerem Teil einer „wachsenden Internationalisierung“. Es ist folglich üblich geworden, „zwei Ebenen des Strafvollzugsrechts zu unterscheiden“, nämlich die innerstaatliche (s. dazu u. III) und die internationale Ebene. Die Bemühungen auf der letzteren zielen in Europa auf die Durchsetzung der Menschenrechte und Grundfreiheiten auch im Strafvollzug auf einem „gemeinsamen europäischen Standard“ ab.63 Dabei tritt der Einfluss des verbindlichen Rechts angesichts seiner allgemein gehaltenen und namentlich die hier behandelte Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug nur mittelbar mitgestaltenden Regelungen gegenüber jenem mit mehr empfehlendem Charakter eher zurück. So wirken sich zwar naturgemäß die in der EMRK enthaltene Lebensschutzgarantie und das Verbot unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung ebenso wie die in den IPBPR aufgenommene Bestimmung, dass der Strafvollzug der sozialen Eingliederung des Gefangenen zu dienen habe, auf den Strafvollzug und die in ihm betriebene Gesundheitsfürsorge aus. Gleiches gilt für das Abschlussdokument des Wiener KSZE-Folgetreffens vom 15. Juni 1989, in dem menschliche Behandlung von Gefangenen unter Einschluss des Schutzes vor allen psychiatrischen und medizinischen Praktiken, die eine Verletzung der Menschenwürde oder der Grundfreiheiten bedeuten, vereinbart ist.64 Auch werden die Besuchsberichte des auf der Grundlage der „Europäischen Konvention zur Verhinderung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe“ 63
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Zitate aus Kaiser/Schöch, Strafvollzug, § 3 Rdnrn. 20, 24; Hintergrund der internationalen Harmonisierungsbemühungen ist auch der relativ hohe Ausländeranteil in den Vollzugsanstalten namentlich der Mitgliedsstaaten des Europarates s. Kaiser/Schöch, Strafvollzug, § 3 Rdnrn. 18, 24; zur Entwicklung des Ausländeranteils in Deutschland s. die Tabelle in Laubenthal, Strafvollzug, S. 35. S. zum Wiener Abschlussdokument EuGRZ 16 (1989), S. 85 ff. Kaiser/Schöch, Strafvollzug, § 3 Rndrn. 21, 25, 27; Laubenthal, Strafvollzug, Rdnrn. 25 ff.
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vom 26. November 1987 tätigen europäischen Anti-Folter-Ausschusses nebst seinen auch den deutschen Strafvollzug betreffenden Monita beachtet und zum Anlass von Verbesserungen und Reformen genommen.65 Als „Ausdruck internationalen Rechtsbewusstseins“66 einflussreicher sind aber die Vorgaben anzusehen, die sich aus den auf dem Ersten Kongress der Vereinten Nationen über Verbrechensverhütung und Behandlung Straffälliger 1955 in Genf angenommenen „Standard Minimal Rules for the Treatment of Prisoners“67 im Laufe der folgenden Jahrzehnte entwickelt haben. Schon in diesen Minimum Rules findet der wichtige Grundsatz der Angleichung der Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug an die extra muros vorfindbaren Standards Anklang, wenn gefordert wird, dass „the medical services should be organised in close relationship to the general health administration of the comunity or nation“. Die Mindestgrundsätze des Europarates für die Behandlung der Strafgefangenen von 1973 bauen auf diesen Minimum Rules auf und sind 1987 durch die „Europäischen Vollzugsgrundsätze“ in überarbeiteter Form und den kriminalpolitischen Wandlungen angepasster Weise verabschiedet worden.68 Bei diesem „soft-law“ handelt es sich keineswegs um wirkungslose „Menschenrechtslyrik“, sondern angesichts seiner sehr konkreten und detailreichen Desiderate um ein wirksames Instrument zur Erreichung eines zumindest „gemeinsamen europäischen“, wenn nicht weltweiten „Standards“.69 Aus den „Europäischen Vollzugsgrundsätzen“ von 1987 sind und bleiben zwei Zielvorgaben besonders hervorhebenswert. So ist es nach Nr. 3 das erstgenannte 65
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Nachweis der vier Deutschland betreffenden Besuchsberichte aus den 90er Jahren bei Kaiser/Schöch, Strafvollzug, § 3 Rdnr. 2 mit Fußnote 2; s. ferner Kaiser, Europäische Perspektive, S. 25, 26 f.; zu spezifisch die Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug betreffenden Rügen des CPT (auch) gegenüber anderen Ländern s. instruktiv R. Blank, Bekämpfung, S. 179 ff.; Günther Kaiser, Matthias Rebmann, Genügen die deutschen Regelungen zur Rolle des Arztes bei der Vorbeugung von Misshandlungen durch Polizei und Strafvollzugspersonal den europäischen Anforderungen? in: NStZ 1998, S. 105, 106. Den fehlenden Kranken- und Sozialversicherungsschutz deutscher Häftlinge rügte die Genfer Arbeitsorganisation ILO, s. International Labour Office, in: World Labour Report, Genf 1993, S. 16 f. Horst Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, Göttingen 1969, S. 69. S. dazu Hans-Heinrich Jescheck, Der Erste Kongress der Vereinten Nationen über die Verhütung von Verbrechen und die Behandlung der Straffälligen, in: ZStW 67 (1955), S. 659 ff.; die Minimum Standards gingen auf Vorschläge der Internationalen Strafvollzugskommission in Bern aus den Jahren 1926 und 1929 zurück. Empfehlung Nr. R (87) 3 des Ministerkomitees des Europarates, in deutscher Sprache abgedruckt in: Bundesamt für Justiz, Bern, Informationen über den Straf- und Maßnahmenvollzug, Sonderbeilage zu Heft 1/95. S. zu dieser Einschätzung Kaiser/Schöch, Strafvollzug § 3 Rdnr. 23; Frank Neubacher, Der internationale Schutz von Menschenrechten Inhaftierter durch die Vereinten Nationen und den Europarat, in: ZfStrVo 1999, S. 210, 215 f.; zur Gesundheitsfürsorge S. 216; s. auch Müller-Dietz, Welche Bedeutung hat das Gesundheitswesen im Justizvollzug? in: Gesundheitsfürsorge im Gefängnis – Tagung vom 25.-27. 11. 1996, Arbeitsbereich Politik und Recht, Bad Boll, 1997, S. 91, 98 ff.
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„Ziel der Behandlung der Gefangenen, […] ihre Gesundheit und Selbstachtung zu erhalten“. Sodann muss nach Nr. 32 „der ärztliche Dienst […] bestrebt sein, alle körperlichen und geistigen Erkrankungen oder Mängel, die der Wiedereingliederung eines Gefangenen nach der Entlassung hinderlich sein können, festzustellen und zu behandeln. Zu diesem Zweck müssen für den Gefangenen alle notwendigen ärztlichen, chirurgischen und psychiatrischen Einrichtungen, einschließlich jener außerhalb der Anstalt, zur Verfügung stehen“. Auf diese Weise wird die Gesundheitsfürsorge nicht nur für die Gesunderhaltung, sondern auch für den Resozialisierungsauftrag des Vollzugs in den Dienst genommen. Neben diesen Zielvorgaben bleiben namentlich die verstreuten Aussagen von Bedeutung, die den ärztlichen Dienst in Vollzugsaufgaben einbinden.70 Die zentral der „Gesundheitsfürsorge“ gewidmeten Vorschriften (Nrn. 26-32) haben demgegenüber eine Konkretisierung und Verfeinerung durch die 74 Einzelvorgaben enthaltende Empfehlung R (98) 7 des Ministerkomitees des Europarates „über ethische und organisatorische Aspekte der Gesundheitsversorgung im Gefängnisbereich“ vom 8. April 1998 erhalten.71 Nach Nr. 30.1 der Europäischen Vollzugsgrundsätze obliegt dem Arzt „die Sorge für die körperliche und geistige Gesundheit des Gefangenen“. Die Empfehlung R (98) 7 versteht darunter „medizinische, psychiatrische und zahnärztliche Pflege […] zu Bedingungen, die mit denjenigen, von denen der Rest der Bevölkerung profitiert, vergleichbar sind“ (Nr. 10). Dieser Angleichungsgrundsatz schließt neben der Behandlungsqualität (Nr. 19) auch die Qualifikation des Personals, Räumlichkeiten, Einrichtungen und Ausrüstungen der Vollzugsmedizin ausdrücklich mit ein (Nr. 11). Für die eingangs (A II) schon erwähnten Problemgruppen der Träger infektiöser Krankheiten, der Alkohol-, Drogen- und Medikamentenabhängigen, der psychisch Kranken und der wegen hohen Alters oder Suizidgefahr gefährdeten Gefangenen finden sich minutiöse Anleitungen für fachkundige präventive und kurative Behandlung unter Wahrung der Persönlichkeitsrechte und der Menschenwürde (Nrn. 36-58). Für weibliche Inhaftierte und Schwangere ist „spezielle Behandlung“ vorzusehen (Nr. 8). Nach einer „Eintrittsuntersuchung“ sollen Inhaftierte jederzeit (wenn nötig, „zu jeder Tages- und Nachtzeit“) und „ohne Verzögerung Zugang zu einem Arzt“ haben (Nrn. 1, 4). Auch ist der Zugang „zu psychiatrischen Konsultationen“ zu garantieren (Nr. 5). 70
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Verstreut finden sich Aussagen zur Dokumentation der Eingangsuntersuchung (Nr. 10. 2 mit 29), zur Klassifizierung der Gefangenen auch nach medizinischen Gesichtspunkten (Nr. 11.1), zur Verpflichtung des Gefangenen zur Hygiene (Nr. 20), zur Mitwirkung der Gesundheitsbehörde bei den Verpflegungsvorgaben (Nr. 25.1), zur Mitwirkung des Arztes bei Disziplinar- und Zwangsmaßnahmen (Nrn. 38.1, 3; 39), zur Arzneimittelverwendung (Nr. 48.4), zur Notfallversorgung (Nr. 61.1) und zu Arztbesuchen (Nr. 61.2), zum Angleichungsgrundsatz (Nr. 65 a), zur Feststellung der Arbeitseignung durch den Arzt (Nr. 71. 2), zur Entschädigung bei Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten (Nr. 74), zur Heilgymnastik (Nr. 85), zur ärztlichen Versorgung von U-Häftlingen (Nr. 98) und zur ärztlichen Versorgung von Geisteskranken und geistig abnormen Gefangenen (Nr. 100). In deutscher Sprache abgedruckt in: Informationen über den Straf- und Maßnahmenvollzug 2/98, Bundesamt für Justiz, Bern, S. 20 ff.
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Im Gefängnisbereich tätigen Ärzten wird zugesichert, dass für sie „die Gesundheitsbedürfnisse der Inhaftierten […], an erster Stelle stehen“ und dass sie ihre ärztliche Tätigkeit in beruflicher Unabhängigkeit ausüben können (Nrn. 19, 20). Auch sollen sie über eine gute fachliche Ausbildung in Allgemeinmedizin und Psychiatrie verfügen. Erwünscht ist „Verständnis für den Gefängnisbereich und dessen Auswirkungen auf die Ausübung des Arztberufes im Gefängnis“, Anleitung durch erfahrene Ärzte und regelmäßige Weiterbildung (Nr. 34). Reicht die eigene Qualifikation nicht aus, sollen „Spezialisten“ von außen hinzugezogen oder der Kranke in eine medizinische Einrichtung „außerhalb des Gefängnisses“ verlegt werden (Nr. 10). Auch soll der Gefangene eine „ärztliche Zweitmeinung“ einholen können (Nr. 17). Die ärztliche Behandlung setzt auch im Vollzug grundsätzlich Aufklärung und Einwilligung des Gefangenen voraus (Nrn. 14-16). Daraus folgt das Recht des Patienten, die Behandlung gegebenenfalls auch abzulehnen (Nr. 60). Das Arztgeheimnis ist zu wahren (Nr. 13). Bei Gewalteinwirkungen und schweren Zwischenfällen besteht insoweit Dispens gegenüber der Anstaltsdirektion (Nrn. 30-32). Die Einbeziehung des Arztes in den Vollzug zeigt sich auch in seiner Beteiligung an Zwangs- und Disziplinarmaßnahmen (Nrn. 63, 66). Auch soll er die Anstaltsleitung in Fragen der Ernährung, der Unterbringung und der Hygiene beraten (Nr. 24). Medizinische oder psychiatrische Gutachten sollen nur auf ausdrückliches Verlangen des Inhaftierten und eines Gerichts, nicht aber für die Strafverteidigung oder die Staatsanwaltschaft erstellt werden (Nr. 73). „Experimente“, die den Gefangenen „körperlich oder seelisch schädigen können“, untersagen schon die Europäischen Vollzugsgrundsätze (Nr. 27), medizinische Forschung lässt die Empfehlung R (98) 7 in engen Grenzen zu (Nr. 74). Von Interesse ist im Hinblick auf die auch vom CPT geforderte enge Zusammenarbeit der Vollzugsmedizin mit dem gesamtgesellschaftlichen Gesundheitssystem72 schließlich, dass die Empfehlung R (98) 7 die Gefängnisverwaltung anhält, „die gebotenen Kontakte und die Zusammenarbeit mit den öffentlichen und privaten medizinischen Einrichtungen“ auch extra muros herzustellen (Nr. 7). Andererseits ist bemerkenswert, dass das Anliegen des auf einem Londoner WHOMeeting im Oktober 1995 ins Leben gerufenen Health-in-Prisons-Projects (HIPP) der WHO insoweit in die Empfehlung Eingang gefunden hat, als „in allen Strafvollzugseinrichtungen […] ein Programm zur Gesundheitserziehung organisiert werden“ soll, das über Fragen der Gesundheitspflege von Menschen im Strafvollzug einschließlich der Erkennung, Prävention und Behandlung infektiöser Krankheiten aufklären und die Entwicklung gesunder Lebensstile ermöglichen soll, in denen Strategien und Verhaltensweisen gelernt werden, die die Risiken von „Abhängigkeit und Rückfall“ auf ein Minimum reduzieren (Nr. 27-29)73.
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S. dazu Kaiser/Rebmann, in: NStZ 1998, S. 105, 106. Nachweise zum HIPP s. oben Fußnote 42.
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III. Das nationale Recht Das Strafvollzugsgesetz hat die Gesundheitsfürsorge zentral und detailliert in den §§ 56-66 StVollzG geregelt. Ergänzt wird diese Regelung hinsichtlich des Datenschutzes und der ärztlichen Schweigepflicht namentlich durch § 182 StVollzG, in personell-organisatorischer Hinsicht durch § 158 StVollzG. Für Schwangere und Gebärende finden sich in §§ 76 ff StVollzG besondere Vorschriften. Dass „das Leben im Vollzug... den allgemeinen Lebensverhältnissen soweit als möglich angeglichen werden soll“ (§ 3 I StVollzG), gilt auch für die Gesundheitsfürsorge. Konkretisiert werden zahlreiche Bestimmungen durch die „Bundeseinheitlichen Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz“.74 Die Landesgesetzgeber haben ergänzende Ausführungsbestimmungen erlassen,75 in denen gleichfalls die Gesundheitsfürsorge bedacht ist. Darüber hinaus bestehen Dienstordnungen für das Gesundheitswesen im Justizvollzug in einzelnen Ländern.76 Die anstaltsärztliche Tätigkeit ist mit diesen Vorschriften zur Gesundheitsfürsorge – wie schon angedeutet – nicht abschließend beschrieben. Als Teil des Sozialstabes77 gehört der Anstaltsarzt vielmehr auch zu den Diensten, die an Vollzugsaufgaben beteiligt sind. Daraus ergeben sich zwei unterschiedliche Kreise, die im folgenden getrennt dargestellt werden. 1. Die Regelung der Gesundheitsfürsorge Die ärztliche Versorgung ist – wie schon erwähnt – „durch hauptamtliche Ärzte sicherzustellen“ und kann nach der Vorstellung des Gesetzgebers nur „aus besonderen Gründen nebenamtlichen oder vertraglich verpflichteten Ärzten übertragen werden“ (§ 158 I StVollzG). Die Unterstützung des Arztes in der Sprechstunde und die Pflege der Kranken sollen von Personen geleistet werden, „die eine Erlaubnis nach dem Krankenpflegegesetz besitzen“. Auch in der Krankenpflege ausgebildete Bedienstete des allgemeinen Vollzugs können im Bedarfsfall eingesetzt werden (§ 158 II StVollzG). Die Heranziehung von Gefangenen mit einer Ausbildung als Arzt oder Krankenpfleger ist aus nahe liegenden Gründen nicht zuläs74
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Sie sind in den Kommentaren zum Strafvollzugsgesetz in aller Regel im Anschluss an den jeweiligen Gesetzestext abgedruckt. In Arloth/Lückemann, StVollzG, finden sich unter Anh. 5 die „Bayerischen Verwaltungsvorschriften zum Strafvollzugsgesetz (BayVVStVollzG)“ vom 12. 12. 2002, unter Anh. 6 die „Hessischen Ausführungsbestimmungen (HAB) zum Strafvollzugsgesetz“ vom 9. 7. 2003. So z. B. die 64 Paragraphen enthaltende baden-württembergische Verwaltungsvorschrift „Gesundheitswesen im Justizvollzug“ vom 31. 01. 2003, abgedruckt in: Die Justiz 2003, S. 73 ff. oder die nordhein-westfälische „Dienstordnung für das Gesundheitswesen in den Justizvollzugsanstalten des Landes Nordrhein-Westfalen“ vom 10. 10. 1991, abgedruckt in: JMBl. NW 1991, S. 242 ff.; die hessische „Dienstordnung für das Gesundheitswesen in den Justizvollzugsanstalten des Landes Hessen“ vom 10. 02. 1984 ist formal außer Kraft, eine grundlegende Überarbeitung vorgesehen. S. zu diesem Begriff Kaiser/Schöch, Einführung § 11, Rdnr. 20.
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sig.78 Die Dienstaufsicht über den ärztlichen Dienst führt der Anstaltsleiter, der in bestimmtem Umfang Auskunft verlangen und Anregungen geben kann, in fachlicher Hinsicht aber kein Weisungsrecht hat. Die fachliche Aufsicht obliegt dem Justizministerium, das hieran eigene medizinische Fachkräfte zu beteiligen hat.79 Die ärztliche Versorgung findet im Grundsatz in der Vollzugsanstalt statt. Für die Sprechstunde80, die Diagnostik und Therapie steht der Sanitätsbereich zur Verfügung. In größeren Anstalten befinden sich neben der Ambulanz für eine stationäre Versorgung geeignete Krankenabteilungen. Ein kranker Gefangener kann gegebenenfalls in eine für die Behandlung seiner Krankheit besser geeignete Vollzugsanstalt oder in ein Anstaltskrankenhaus verlegt werden (§ 65 I StVollzG). Reichen deren diagnostische oder therapeutische Möglichkeiten nicht aus, ist der Gefangene in ein geeignetes Krankenhaus außerhalb des Vollzugs zu verbringen (§ 65 II StVollzG). Ist eine Vorstellung bei einem Facharzt geboten, kann der Gefangene dem Arzt im Wege einer Ausführung aus medizinischen Gründen zugeführt werden (§ 12 StVollzG). Die ärztliche Entscheidung darüber, ob ein externer Facharzt oder eine externe Klinik einzuschalten sind, wird von den Anstaltsärzten nach ärztlichem Ermessen im Rahmen eigenverantwortlicher fachspezifischer Tätigkeit getroffen und ist von der Anstaltsleitung, die die Ausführung oder Verlegungsentscheidung trifft, nur daraufhin überprüfbar, ob die Grenzen pflichtgemäßen Ermessens eingehalten sind.81 Das Verhältnis zwischen Arzt und Patient ist im Vollzug öffentlich-rechtlicher Natur. Anders als im freien Arzt-Patienten-Verhältnis ergeben sich Rechte und Pflichten daher nicht aus Vertrag, sondern aus dem durch Inhaftierung begründeten besonderen Vollzugsstatus (§ 4 StVollzG) einerseits und der die gesundheitlichen Belange umfassenden staatlichen Fürsorgepflicht (§ 56 StVollzG) andererseits. Zwar ist deshalb der gefangene Patient durch seinen Statuswechsel verpflichtet, „die notwendigen Maßnahmen zum Gesundheitsschutz und zur Hygiene zu unterstützen“ (§ 56 II StVollzG). Auch ergeben sich Mitwirkungs- und Duldungspflichten z. B. bezüglich der Eingangsuntersuchung (§ 5 II StVollzG), einer von der Anstaltsleitung angeordneten Verlegung, Ausführung oder Absonderung aus medizinischen Gründen oder im Hinblick auf die nach § 101 StVollzG zulässigen ärztlichen Zwangsmaßnahmen. Es bleibt aber auch angesichts dieser statusbedingten Einschränkungen stets zu beachten, „dass das Selbstbestimmungs78
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Zum Teil wird das aus § 158 i.V.m. § 155 I 1 StVollzG abgeleitet; in erster Linie stehen aber vollzugs- und haftungsrechtliche Gründe dagegen, s. OLG Nürnberg, NStZ 1981, S. 200; Frank Arloth, Der praktische Fall, in: JuS 2001, S. 566, 571; Kaiser/Schöch, Einführung, Rdnr. 283; Laubenthal, Strafvollzug, § 11 Rdnr. 22. S. §§ 156, 151 StVollzG mit den dazugehörigen VV sowie z. B. §§ 22, 23 der BadenWürttembergischen VwV, Gesundheitswesen im Justizvollzug, s. auch Rolf Busch, Die Schweigepflicht des Anstaltsarztes, in: ZfStrVo 2000, S. 344, 345. Eine Schilderung der Sprechstunde findet sich bei Romkopf/Riekenbrauck, in: Schwind/Böhm, StVollzG, § 56 Rdnr. 23 ff. KG, StV 1988, S. 539; dort auch zu den fachlichen Voraussetzungen der Ermessensentscheidung; Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, § 158 Rdnr. 5; zu den unterschiedlichen „Orten“ der medizinischen Behandlung s. auch Keppler, Grundlagen, S. 120 ff.
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recht und die personale Würde des Patienten es auch bei einem Strafgefangenen verbieten, ihm im Rahmen seiner Behandlung durch den Anstaltsarzt die Rolle eines bloßen Objekts zuzuweisen“.82 Daraus folgt zum einen, dass ärztlich-therapeutische Anordnungen jenseits der in § 101 StVollzG vorausgesetzten Sondersituation nicht mit Zwang durchsetzbar sind.83 Zum anderen gilt nicht anders als extra muros, dass die Behandlung auf einer Einwilligung nach hinreichender ärztlicher Aufklärung beruhen muss. Die Aufklärung als Voraussetzung der Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts gehört zu den aus § 56 StVollzG fließenden „Fürsorgeleistungsansprüchen“84 und zielt auf den auch im Vollzug zu fordernden „informed consent“.85 Trotz der Zwangssituation des Vollzugs als „totaler Institution“ wird allgemein und zu Recht an der Einwilligungsfähigkeit (und -bedürftigkeit) des Gefangenen nicht generell gezweifelt.86 Auch im Vollzug gilt deshalb keine „Vernunfthoheit“ des Arztes über den Patienten. Verweigert sich der Gefangene gegenüber einer Therapie, ist der Arzt selbst bei für lebensnotwendig erachteten Maßnahmen hieran gebunden.87 Die ärztliche Schweigepflicht ist dem Anstaltsarzt im Grundsatz „auch gegenüber der Vollzugsbehörde“ auferlegt. Allerdings ist der Arzt „zur Offenbarung ihm im Rahmen der allgemeinen Gesundheitsfürsorge bekannt gewordener Geheimnisse befugt, soweit dies für die Aufgabenerfüllung der Vollzugsbehörde unerlässlich oder zur Abwehr von erheblichen Gefahren für Leib oder Leben des Gefangenen oder Dritter erforderlich ist“ (§ 182 II 1 und 3 StVollzG).88 Wie dem freien Patienten, so steht auch dem Gefangenen bei berechtigtem Interesse ein
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KG, StV 1988, S. 539, 540. S. die Nachweise hierzu in Fußnote 41; zur Diskussion über eine Zwangsbehandlung vor Eintritt einer in § 101 StVollzG vorausgesetzten Lage s. Kirschke, Versorgung, S. 144 ff. So Geppert, Zum Einsichtsrecht des Strafgefangenen in die anstaltsärztlichen Krankenunterlagen, in: Festschrift zum 125-jährigen Bestehen der Juristischen Gesellschaft zu Berlin, Berlin, New York 1984, S. 151, 173; s. auch Calliess/Müller-Dietz, StrVollzG, § 56 Rdnr. 4; Hübner, in: ZStrVo 1991, S. 194 f.; Klaus Ulsenheimer, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, § 158 Rdnr. 38 c. S. zu ihm Adolf Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, § 6 Rdnrn. 21 ff.; zur Notwendigkeit der Einwilligung im Vollzug s. auch Empfehlung R (98) 7, Nrn. 14-16. Die Regelung des § 101 I 2 StVollzG setzt die Möglichkeit „freier Selbstbestimmung“ auch im Vollzug voraus; s. zur Problematik vor allem Knut Amelung, Die Einwilligung des Unfreien, in: ZStW 97 (1983), S. 1 ff.; dort wird das Verbot medizinischer Versuche an einem Gefangenen in § 40 AMG für gut geheißen (S. 17 f. mit Fußnote 65), der Ausschluß des Gefangenen von Heilversuchen (§ 41 AMG) dagegen für verfassungswidrig erklärt; ebenso Kirschke, Versorgung, S. 147, 151. Zur fehlenden Vernunfthoheit s. Adolf Laufs, Arztrecht, 6. Aufl., München 2001, Rdnr. 292; Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck, § 139 Rndnr. 45; speziell zum Arzt im Strafvollzug § 153 Rdnr. 43 f. S. hierzu Michael Bast, Die Schweigepflicht der Ärzte, Psychologen und Sozialarbeiter im Strafvollzug, Hamburg, 2003.
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Recht auf Einsicht in seine Krankenakte zu, das sich freilich nicht auf die schriftlich niedergelegten persönlichen Eindrücke und Wertungen des Arztes erstreckt.89 Nach § 56 StVollzG hat der Strafvollzug „für die körperliche und geistige Gesundheit des Gefangenen zu sorgen“, weil dem Gesundheitsschutz angesichts des engen Zusammenlebens mit anderen „erhöhte Bedeutung“ zukommt und der Gefangene den „Beeinträchtigungen seiner Gesundheit nicht in gleicher Weise durch eigene Initiative wie in Freiheit begegnen“ kann. Seiner Fürsorgepflicht soll der Vollzug vor allem durch die schon beschriebene „Einrichtung und Unterhaltung der ärztlichen Versorgung im Sinne des § 158 StVollzG“,90 aber auch durch „Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge nach(kommen), die im wesentlichen den Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung entsprechen“.91 Das hiermit und durch die §§ 58, 61 StVollzG für die Gesundheitsfürsorge und ihre Leistungen konkretisierte Äquivalenzprinzip (§ 3 I StVollzG) zeigt sich in der grundsätzlichen Zuerkennung ärztlicher und zahnärztlicher Behandlung, der Versorgung mit Arznei-, Verbands-, Heil- und Hilfsmitteln (§ 58 I 2 Nrn. 1-3 StVollzG), in dem Anspruch auf Gesundheitsuntersuchungen und Vorsorgeleistungen (§ 57 StVollzG) sowie in besonderen Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft einschließlich der Sorge für im Vollzug mit untergebrachte Kinder (§ 57 IV, §§ 76 ff. StVollzG). Das Angleichungspostulat des § 3 I StVollzG ist aber jenseits unvermeidbarer vollzugsbedingter Einschränkungen vor allem deshalb nicht vollends verwirklicht, weil es an der nach § 198 III StVollzG durch Bundesgesetz zu bewirkenden Eingliederung der Strafgefangenen in die gesetzliche Kranken- und Rentenversicherung bis heute noch fehlt.92 Während Freigänger, die in einem freien Beschäftigungsverhältnis ihrer Arbeit nachgehen (§ 39 StVollzG), hierdurch keine Nachteile erleiden, weil sie über das Arbeitsverhältnis gesetzlich krankenversichert und deshalb im Status eines freien Patienten der anstaltlichen Gesundheitsfürsorge entzogen sind, haben „normale“ Strafgefangene nebst ihren Angehörigen auch nicht vollzugsbedingte Einbußen hinzunehmen.93 Das ergibt sich aus einem hier im einzelnen nicht durchführbaren Vergleich zwischen den zentral in § 58 i.V.m. § 61 StVollzG angeführten und namentlich durch die §§ 57, 59 ff. und für den Frauenvollzug durch §§ 76 ff StVollzG ergänzten Katalog von medizini89
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S. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 56 Rdnr. 4; Romkopf/Riekenbrauck, in: Schwind/Böhm, StVollzG, § 56 Rdnr. 21 jeweils m.w.N.; das Akteneinsichtsrecht folgt jetzt wohl auch aus § 185 StVollzG, s. zum Streit genauer Kaiser/Schöch, Strafvollzug, § 7 Rdnr. 181 f. S. RegE-StVollzG, BT-Ds 7/918, Begr. S. 72. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 56 Rdnr. 1. Ein Zustand, der sich angesichts der herrschenden Finanznot auf absehbare Zeit nicht ändern dürfte, s. dazu Kaiser, Europäische Perspektive, S. 25, 27, 47; Kaiser/Schöch, StVollzG, § 2 Rdnr. 75 m.w.N.; zu den Gründen des Aufschiebens s. Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform, BT-Ds 7/3998, S. 3. Eingehend und kritisch dazu Kirschke, Versorgung, S. 91 ff., 139 ff., zsfsd. s. 179 ff.; Michael v. Savigny, Die Gesundheitsfürsorge im Strafvollzug unter besonderer Berücksichtigung der Gefangenen im freien Beschäftigungsverhältnis, Frankfurt/M. u. a. 1992; zur Benachteiligung der Angehörigen, s. Kaiser/Schöch, Strafvollzug, § 2 Rdnr. 75; § 7 Rdnr. 169; Kirschke, Versorgung, S. 184 ff.
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schen Leistungen im Vollzug und jenen Leistungen, die vor allem § 27 SGB V dem versicherten Arbeitnehmer gewährt. Danach entfallen im Vollzug zwar z. B. naturgemäß Ansprüche auf „häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe“ (§ 27 I 2 Nr. 4 SGB V). Auch ist der Anspruch auf „Krankenhausbehandlung“ (§ 27 I 2 Nr. 5 SGB V) durch § 65 StVollzG vollzugsbedingt modifiziert. Es werden dem Gefangenen aber auch beispielsweise Ansprüche auf Herstellung der Zeugungsoder Empfängnisfähigkeit oder auf künstliche Befruchtung (§ 27 I 2 Nr. 4, § 27 a SGB V) vorenthalten. Auch steht die „Versorgung mit Hilfsmitteln“ wie Seh- und Hörhilfen unter dem Vorbehalt, dass sie „nicht mit Rücksicht auf die Kürze des Freiheitsentzugs ungerechtfertigt“ erscheint. Eine notwendig werdende „Änderung, Instandsetzung oder Ersatzbeschaffung“ dieser Mittel macht § 56 StVollzG zudem davon abhängig, dass „die Belange des Vollzugs dem nicht entgegen stehen“.94 Unter diesen Vorbehalt stellt § 58 I 2 Nr. 4 StVollzG auch Leistungen zur Rehabilitation, Belastungserprobung und Arbeitstherapie. Am deutlichsten und in ihrer Berechtigung am umstrittensten zeigt sich die nicht einschränkungslose Verwirklichung des Äquivalenzprinzips in der durch die Übertragung der ärztlichen Versorgung auf den Anstaltsarzt (§ 158 I StVollzG) begründeten Versagung des Rechts auf einen Arzt freier Wahl,95 die sich auch auf den (approbierten) Psychotherapeuten erstreckt.96 Während der Regierungsentwurf und auch der Alternativentwurf zum Strafvollzugsgesetz in einer etwas unterschiedlichen Form dem Gefangenen die freie Arztwahl zubilligten,97 setzte sich 94
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S. genauer und kritisch zu dem Vergleich Arloth/Lückemann, StVollzG, § 58 Rdnr. 1; Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 58 Rdnr. 1; Kirschke, Versorgung, S. 91 ff.; s. dazu ferner z. B. die Baden-Württembergische AV d. JuM v. 11. 12. 1997, Die Justiz 1998, S. 585 ff., nach deren Nr. 18 die „Ausstattung eines Gefangenen mit Körperersatzstükken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln […] gemäß § 59 StVollzG […] ungerechtfertigt“ ist, „wenn die voraussichtliche Dauer des Freiheitsentzugs 6 Monate nicht übersteigt“; andererseits entfallen angesichts der abschließenden Regelung des § 50 StVollzG Praxisgebühr oder Zuzahlungen zu Arzneimitteln, s. Arloth/Lückemann, StVollzG, § 58 Rdnr. 1. Krit. hierzu Günter Bemmann, in: StV 2001, S. 61 ff = Festschrift für Dionysios Spinellis, 1. Bd., Athen 2001, S. 143 ff.; zust. dagegen Kirschke, Versorgung, S. 91 ff. S. OLG Nürnberg, NJW 2000, S. 889; Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck, Arztrecht, § 153 Rdnr. 46; zu Recht kritisch und eine Ausnahme anmahnend Kirschke, Versorgung, S. 121 f. § 53 II des RegE-StVollzG (Bundesministerium der Justiz, Entwurf eines Gesetzes über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung – Strafvollzugsgesetz (StVollzG) – mit Begründung, Bonn 1972 = BTDs. 7/918 vom 23. 7. 1973) lautet: „Dem Gefangenen kann gestattet werden, auf eigene Kosten einen Arzt seiner Wahl in Anspruch zu nehmen. Der Anstaltsarzt ist vorher zu hören“. Er räumte dem Gefangenen also bewusst keinen Anspruch ein (Begr., S. 118), verzichtete aber gegenüber dem Entwurf der im Herbst 1967 eingesetzten Strafvollzugskommission auf die Einschränkung „bei wichtigen Gründen“. Der AE-StVollzG (Jürgen Baumann u.a., Alternativ-Entwurf eines Strafvollzugsgesetzes, Tübingen 1973) bestimmte dagegen in § 106 III: „Der Insasse kann auf eigene Kosten einen Arzt seiner Wahl in Anspruch nehmen. Der Anstaltsarzt ist vorher zu hören.“ Beide Entwürfe sa-
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die Mehrheit des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform durch, die „die Gefahr des Missbrauchs einer solchen Vorschrift für zu gravierend“ ansah. Der Gefangene, so die Gründe, werde den freien Arzt für Bescheinigungen und Verschreibungen in Anspruch nehmen, die er vom Anstaltsarzt aus guten Gründen nicht erhalte und die ein nicht mit dem Vollzug vertrauter Arzt leichter ausstelle. Versuche, den Medikamentenmißbrauch einzuschränken, könnten unterlaufen, freie Ärzte gegen den Anstaltsarzt ausgespielt werden. Die Entlastung des Anstaltsarztes sei demgegenüber nicht von hinreichendem Gewicht.98 Eine Abmilderung erfährt dieser Gesetz gewordene Standpunkt durch die in VV Nr. 3 zu § 58 StVollzG dem Anstaltsleiter eröffnete Möglichkeit, „nach Anhören des Anstaltsarztes dem Gefangenen ausnahmsweise zu gestatten, auf eigene Kosten einen beratenden Arzt hinzuzuziehen“.99 2. Die Beteiligung des Anstaltsarztes an Vollzugsaufgaben Nach § 154 I sind alle im Vollzug Tätigen zur Zusammenarbeit und dazu verpflichtet, an der Erfüllung der Aufgaben des Vollzugs mitzuwirken. Das gilt auch für den Arzt, gleichgültig, ob er hauptamtlich, nebenamtlich oder nur vertraglich tätig ist.100 Zwar wird man den zuletzt genannten beiden Gruppen eine stärkere Konzentration auf die medizinische Versorgung einräumen müssen. Gleichwohl dürfen auch sie namentlich dort, wo ein hauptamtlicher Anstaltsarzt fehlt, als „Ansprechpartner und Mitwirkende in einem darüber hinausgehenden Behandlungsprozeß“ nicht ausfallen.101 Auch die Ärzte sind wie die anderen Fachdienste, soweit erforderlich, in die Vollzugskonferenzen (§ 151 StVollzG) und Dienstbesprechungen mit einzubeziehen.102 Die Pflichten des Anstaltsarztes als Mitglied des Vollzugsstabes ergänzen dessen primäre Aufgabe der medizinischen Versorgung der Gefangenen zu seiner Bifunktionalität. Sie besteht einerseits darin, dass dem Anstaltsarzt „die Überwa-
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hen daneben den Anstaltsarzt vor. S. auch § 53 II des Alternativentwurfs zum Vollzugsgesetz des Anstaltsinsassen Denis Pecic, hn-Magazin, Hamburg-Fuhlsbüttel, 1973; zur jüngsten Entstehungsgeschichte s. Kaiser/Schöch, Strafvollzug, § 2 Rdnrn. 64 ff.; Laubenthal, Strafvollzug, Rdnrn. 127 ff. S. Bericht des SA BT-Ds 7-3938, S. 26 sowie den Stenografischen Bericht der 41. Sitzung des SA vom 12.12.1974, S. 1856 ff. Auf diese Möglichkeit hatte der SA schon hingewiesen, s. BT-Ds 7-3938, S. 26; die Erlaubnis soll der Anstaltsleiter nur erteilen, wenn der Gefangene den zugezogenen und den Anstaltsarzt untereinander von der Schweigepflicht entbindet. Zeitpunkt und Häufigkeit werden von den Möglichkeiten der Anstalt abhängig gemacht. Es handelt sich hiernach um eine auf eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkte Ermessensentscheidung, s. dazu Arloth/Lückemann, § 58 Rdnr. 1; OLG Hamm, MDR 1979, S. 428. Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 154 Rdnr. 1. De facto wird das angenommen von Kaiser/Schöch, Strafvollzug, § 11 Rdnr. 22. S. Arloth/Lückemann, StVollzG, § 159 Rdnr. 1; Feest, in: AK-StVollzG, § 159 Rdnr. 4; Romkopf/Riekenbrauck, in: Schwind/Böhm, StVollzG, § 158 Rdnr. 6; in der Praxis nehmen Ärzte an Konferenzen allerdings offenbar eher selten teil, s. Böhm, Strafvollzug, Rdnr. 111.
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chung der gesundheitlichen und hygienischen Verhältnisse in der Anstalt“ (BayVVStVollzG zu § 158) obliegt,103 er die im Verpflegungsbereich tätigen Gefangenen und die Anstaltsernährung medizinisch überwacht (Bad.-Württemb. VwV Nrn. 35, 36), bei der „Festsetzung der Arbeitsanforderungen für weniger leistungsfähige und jüngere Gefangene“ mitwirkt (Bad.-Württemb. VwV Nr. 54) und auch im übrigen in allen gesundheitsrelevanten Fragen einschließlich der Gefangene und Personal betreffenden „Gesundheitsförderung“ die Anstaltsleitung berät.104 Dazu gehört auch die Anregung ärztlicher Behandlung zur sozialen Wiedereingliederung des Gefangenen (§ 63 StVollzG). Während diese allgemeinen Pflichten zwar den Ärzten angesichts ihrer relativen Einflusslosigkeit auf die Gestaltung der Vollzugsbedingungen105 unbequeme, dem ärztlichen Berufsethos aber noch weitgehend entsprechende Aufgaben zuweisen, produzieren andererseits die deutlich konkreteren und auf den einzelnen Gefangenen gerichteten Mitwirkungspflichten nicht selten einen Spannungen hervorrufenden Rollenkonflikt. So dient schon die Eingangsuntersuchung nicht nur der Erhebung des allgemeinen Gesundheitszustandes, sondern z. B. auch der der Schweigepflicht gegenüber der Anstaltsleitung nicht unterliegenden Feststellung der „Vollzugstauglichkeit, Arbeitsfähigkeit, Selbsttötungsgefahr ..., Gefährlichkeit für andere, Sporttauglichkeit“ und von Bedenken gegen eine Einzelunterbringung (Bad.-Württemb. VwV Nr. 27 I). Bei vorgesehener Verlegung hat der Arzt die “Transportfähigkeit“, bei der Entlassungsuntersuchung gegebenenfalls die Reise- oder Beförderungsfähigkeit festzustellen (Bad.-Württemb. VwV Nrn. 30 I, 32 II) und den Gesundheitszustand auch mit Blick auf denkbare Regressforderungen sorgfältig zu dokumentieren.106 In diesen Vorgängen, die „die Vollzugsverhältnisse auf die Gefangenen hin personalisieren und vereigenschaften“, 107 zeigt sich der „juristisch-absichernde Charakter“108 einer nicht mehr im eigentlichen Sinne ärztlichen Tätigkeit. Der Anstaltsarzt begegnet dem Gefangenen nicht mehr als „Hausarzt“. Das gilt zwar weniger deutlich, wenn der Arzt aus medizinischen Gründen z. B. eine Absonderung 103
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Die Hygiene erstreckt sich auf Küchenhygiene und Desinfektionsbereich (Kleidung, Wäsche, Betten, Räume, Geräte) sowie auf alle „Vorgänge und Umstände, von denen Gefahren für die Gesundheit von Personen in der Anstalt ausgehen können“, dazu die Beachtung der „Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes“, s. VV Nr. 2 und 3 zu § 56; Romkopf/Riekenbrauck, in: Schwind/Böhm, StVollzG, § 56 Rdnr. 24; s. auch Bad.Württemb. VwV Nrn. 34-36. S. Empfehlung R (98) 7 Nrn. 24, 25; Husen, Ärztlicher Dienst, S. 578 (Beratung des AL). S. dazu krit. Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, § 158 Rdnr. 2; Walter, Strafvollzug, Rdnr. 228 spricht von „Fremdbestimmung durch Juristen“ und Medizinern als „Erfüllungsgehilfen“, denen (Rdnr. 229) „die Kompetenz fehlt, auf solche Bedingungen entscheidenden Einfluss zu nehmen“. S. Husen, Ärztlicher Dienst, S. 580 (Entlassungsuntersuchung); die Entlassungsuntersuchung ist nur in VV Nr. 2 zu § 171 StVollzG erwähnt, wird aber auch im Normalvollzug regelmäßig durchgeführt. Walter, Strafvollzug, Rdnr. 229. Kaiser/Schöch, Strafvollzug, § 11 Rdnr. 22.
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(§ 17 III Nr. 1 StVollzG), eine Gemeinschaftsunterbringung (§ 18 I StVollzG), eine bestimmte Verpflegung (§ 21 StVollzG) oder eine Einkaufsbeschränkung (§ 22 II 2 StVollzG) empfiehlt. Die Bifunktionalität tritt aber wieder plastisch hervor, wo der Anstaltsarzt zur Überwachung und Kontrolle besonderer Sicherungsmaßnahmen wie der Einzelhaft, der Fesselung, der Unterbringung in einem besonders gesicherten Haftraum (BGH) oder der Beschränkung des Aufenthalts im Freien berufen ist (§ 92 StVollzG) oder die Vollziehung der Disziplinarmaßnahme des Arrests durch die Feststellung der „Arrestfähigkeit“ ermöglicht (§ 107 StVollzG). Auch die Vornahme von Zwangsmaßnahmen auf dem Gebiet der Gesundheitsfürsorge (§ 101 StVollzG) gehört hierzu.109 Abgerundet wird die Stellung als „gespaltener Arzt“ durch die vielen Ersuchen, die auf ihn um begutachtende Stellungnahmen zum Gesundheitszustand, zur Haft- oder Verhandlungsfähigkeit o. ä. von der Anstaltsleitung, von Gerichten, Staatsanwaltschaften, Verteidigern oder dem Gefangenen selbst zukommen. Hier ist nach Nr. 73 der Empfehlung R (98) 7 gegenüber Ersuchen von außen Zurückhaltung geboten, im Vollzug selbst die Besinnung auf „Rollenklarheit“.110
C. Fazit Lässt man den hier gegebenen Bericht über die tatsächliche Lage und die rechtliche Regelung der Gesundheitsfürsorge im deutschen Strafvollzug Revue passieren, kann man Wirklichkeit und gesetzliches Programm mit den Worten Adolf Laufs auf den Punkt bringen: „Die Anstaltsärzte […] stehen im Dienst der gebotenen staatlichen Fürsorgepflicht für Strafgefangene und Untersuchungshäftlinge. Die Vollzugsbehörde hat die Pflicht, für die körperliche und geistige Gesundheit des Gefangenen zu sorgen“.111 Die Problematik dieses Konzepts tritt hinter diesen Worten hervor. Sie liegt einerseits in der nicht hinreichenden Verzahnung zwischen extra- und intramuraler Medizin, deren Herstellung die Vollzugsmedizin in die extra muros geltende Qualitätssicherung einbeziehen, ihren Standard der medizinischen Versorgung der Bevölkerung stärker angleichen, den angesichts der Gefahren der „Routine und Betriebsblindheit“112 notwendigen fachlichen Aus109
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S. zur „Mitwirkung bei Vollzugsmaßnahmen“ im einzelnen Bad.-Württemb. VwV Nrn. 52 ff.; Keppler, Grundlagen, S. 111 ff.; Kirsten Neumann, Strafrechtliche Risiken des Anstaltsarztes, Hamburg 2004, S. 35 f.; vgl. auch schon Leppmann, Gefängnisarzt, S. 18 ff.; zur Kontrollfunktion s. auch Kaiser/Rebmann, in: NStZ 1998, S. 110; zu den Konsequenzen bezüglich der Schweigepflicht s. Heinz Schöch, in: ZStrVo 1999, S. 260 ff. S. Christoph Flügge, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 265 ff., 271; zur Zurückhaltung raten auch Jacques Bernheim, Ethische Probleme ärztlicher Tätigkeit im Strafvollzug, in: SchwZStr 108 (1991), S. 355, 364; Husen, Ärztlicher Dienst, S. 582; Keppler, Grundlagen, S. 125; Rex, in: ZaeFQ (2000) 94, S. 258, 260; Zettel, Anstaltsarzt, S. 202; s. auch schon Leppmann, Gefängnisarzt, S. 196 ff. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Arztrecht, § 12 Rdnr. 24. S. Baumann u.a., AE-StVollzG, Begr. S. 167 zu § 104.
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tausch befördern und dem Gefangenen so eine dem Äquivalenzprinzip und der allgemeinen Gesundheitsförderung besser entsprechende Gesundheitsfürsorge garantieren könnte.113 Um die Verzahnung herzustellen, ließe sich – auch wenn sich die Gesundheitsfürsorge im Vollzug angesichts ihrer Bifunktionalität einer vollständigen Privatisierung wohl widersetzt114 – an die stärkere Nutzung privatisierender Elemente wie die ohnehin schon breit praktizierte Einbeziehung von Vertragsärzten, die Einrichtung von Krankenrevieren für Gefangene in öffentlichen Krankenhäusern, aber auch die Gestattung, als Anstaltsarzt nebenher frei zu praktizieren, denken.115 Das würde auch den andererseits sichtbar gewordenen Vorbehalt mildern, der sich daraus ergibt, dass dem gefangenen Patienten ein gespaltener Arzt116 gegenübersteht, dessen Einbindung in die Vollzugshierarchie und in die Aufgaben des Vollzugs das nicht frei gewählte Arzt-Patienten-Verhältnis in erheblicher Weise belastet.117 Auch könnte es dazu beitragen, das vom Ministerkomitee des Europarates zu Recht eingeforderte Primat der Gesundheitsbedürfnisse gegenüber der medizinischen Absicherung vollzuglicher Zwänge zur Geltung zu bringen. In diesem Verhältnis muss gelten: salus aegroti suprema lex.118
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S. Keppler, Grundlagen, S. 126; die Anfrage der Grünen, die zur Antwort der Nds. Landesregierung führte, betont den Bedarf an „differenzierter Gesundheitsberichterstattung und eines Qualitätsmanagements für die Gesundheitsversorgung und die Gesundheitsförderung“, Nds. Landtag, Ds 15/1192, S. 1. S. zur Debatte um die Privatisierung des Strafvollzugs, die freilich bislang die hierfür jedenfalls partiell durchaus geeignete Gesundheitsfürsorge weitgehend (s. aber Christean Wagner, Privatisierung im Justizvollzug – Ein Konzept für die Zukunft, in: ZRP 2000, S. 169, 172) ausspart, nur die Beiträge in Rolf Stober, Privatisierung im Strafvollzug?, Köln, Berlin, Bonn, München, 2001 sowie Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, § 155 Rdnr. 2; Axel Kulas, Privatisierung hoheitlicher Verwaltung, 2. Aufl., Köln u. a. 2001; Laubenthal, Strafvollzug, Rdnrn. 35 ff. S. hierzu Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rdnr. 8; Stöver/Lesting, in: Recht und Psychiatrie 1999, S. 150 ff. mit Hinweisen zur stärkeren Einbeziehung der Vollzugsmedizin in das allgemeine Gesundheitswesen in England, Wales und Frankreich (S. 155). Eine personelle Teilung zwischen ausschließlich Vollzugsaufgaben wahrnehmendem Anstaltsarzt und ausschließlich die medizinische Versorgung gewährleistendem Gesundheitsdienst könnte die Spaltung aufheben, s. den Hinweis bei Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rn 7 auf Vertrauens- und Betriebsärzte, die nicht gleichzeitig behandelnde Ärzte sind. S. dazu Boetticher/Stöver, in: AK-StVollzG, vor § 56 Rdnr. 7; Husen, Ärztlicher Dienst, S. 577 (Anstaltsarzt). S. Empfehlung R (98) 7, Nr. 19; Keppler, Grundlagen, S. 126; zur Frage voluntas aut salus aegroti suprema lex s. Laufs, in Laufs/Uhlenbruck, Arztrecht, § 63 Rdnrn. 5 ff.
Verschärfung der Berufshaftung durch Beweisrecht – Der grobe Behandlungsfehler Christian Katzenmeier
A. Probleme der Beweisführung im Arzthaftungsprozess Das Kernproblem des Arzthaftungsprozesses bildet die Beweisführung und häufig die Beweisnot des Patienten. Aufgabe der Gerichte ist es, das Spannungsfeld zwischen dem Arzt, der den therapeutischen Erfolg oder glücklichen Verlauf eines Eingriffs nicht schulden kann und dem kaum über Informationen und medizinisches Wissen verfügenden Patienten durch eine ausgewogene Verhandlungsführung und differenzierte Handhabung des Beweisrechts auszugleichen. Der Beweislastverteilung kommt hier mehr als in anderen Rechtsgebieten eine verfahrensentscheidende Rolle zu. Die allgemeine Regel, wonach der Patient Behandlungsfehler, Schadenskausalität und Arztverschulden beweisen muss, ist von der Rechtsprechung im Laufe der Zeit zunehmend modifiziert und die Rechtsstellung des Patienten durch immer weitergehende Beweiserleichterungen ausgebaut worden.1 „Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr“ spielen in der Praxis der Berufshaftung heute eine überaus wichtige Rolle, sie prägen geradezu den Haftpflichtprozess gegen Ärzte und Krankenhausträger. Die Erleichterungen betreffen sowohl den Fehler- als auch den Kausalitäts- wie den Verschuldensnachweis. Dabei geht es dem BGH weniger um eine starre Beweislastumkehr als um ein ständig verfeinertes „Instrumentarium des Tatrichters, das dazu dient, unbillige Störungen der Waffengleichheit in einer nach Lage des Falles billig erscheinenden Weise auszugleichen.“2 Die Rechtsprechung gewährt dem Patienten Beweiserleichterung mittels ganz unterschiedlicher Methoden, nämlich der Regeln über den Anscheinsbeweis, einer großzügigen Inanspruchnahme des § 287 ZPO und mittels Beweislastumkehrungen. Eine Herausbildung fest umrissener, deutlich abgegrenzter Fallgruppen, die für künftig zu entscheidende Streitigkeiten eine Richtlinie abgeben könnten, ist kaum mehr möglich, wird aber auch nicht angeraten, da dies der im Fluss befindlichen Entwicklung abträglich sein könnte. Bereits vor drei Jahrzehnten betonte Hans Stoll in einer viel beachteten Abhandlung: „Die Vielgestaltigkeit der Haf1
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Umfassend Adolf Laufs, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, §§ 107 ff.; Christian Katzenmeier, Arzthaftung, Tübingen 2002, S. 416 ff. So der frühere Bundesrichter Walter Dunz, Aktuelle Fragen zum Arzthaftungsrecht, Köln 1980, S. 59. Das BVerfG hat dieser Rechtsprechung in seinem Arzthaftungsbeschluss BVerfGE 52, 131 = NJW 1979, 1925 ausdrücklich zugestimmt.
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tungsprobleme, die sich in einer von Technik und Massenverkehr bestimmten Sozialwelt stellen, nötigt zur ständigen Verfeinerung des Haftungsrechts und zu seiner Anpassung an neue Bedürfnisse. Der auf sich selbst gestellte und weithin vom Gesetzgeber im Stich gelassene Richter bedient sich hierbei mit Vorliebe beweisrechtlicher Mittel; denn diese Mittel erlauben es, ohne erklärte Abwendung vom materiellen Recht den Haftungsstandard bei bestimmten Konstellationen und Fallgruppen anzuheben.“3 Lange schon hebt die Literatur hervor, dass in der Handhabung der Beweisregeln der wesentliche Beitrag der Rechtsprechung zur Weiterentwicklung des Arzthaftungsrechts liegt. Weitgehend Einigkeit besteht darüber, dass „Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr“ keineswegs begrenzte prozessrechtliche Entwicklungen darstellen, dass diese sich vielmehr unmittelbar auf das materielle Recht auswirken und es wesentlich mitgestalten. Die Beweisregeln werden als das wichtigste Instrument richterlicher Rechtsfortbildung begriffen, sie werden bezeichnet als „Motor“,4 als „Gravitationszentrum“ für Haftungsverlagerungen.5
B. Die Beweislastsonderregel bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers I. Die Entwicklung der Rechtsprechung Am bekanntesten und wichtigsten – forensisch von größtem Gewicht6 – ist die Beweislastsonderregel bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers. Diese findet ihren Ursprung in der späten Rechtsprechung des RG, welches bereits darauf erkannte, dass eine „gerechte Interessenabwägung im Einzelfall“ dazu führen könne, dem Arzt die Beweislast für die Nichtursächlichkeit eines von ihm schuldhaft begangenen Fehlers aufzuerlegen, sofern er „den Kranken durch unsachgemäße Behandlung bewusst oder leichtfertig einer Gefahr ausgesetzt hat, die den äußeren Umständen nach gerade die Schädigung herbeiführen konnte, die dann eingetreten ist“.7 3
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Hans Stoll, Haftungsverlagerung durch beweisrechtliche Mittel, in: AcP 176 (1976), S. 145, 146. Hanns Prütting, Beweisprobleme im Arzthaftungsprozeß, in: Präs. d. LG Saarbrücken (Hrsg.), Festschrift 150 Jahre LG Saarbrücken, Köln 1985, S. 257, 274 (kritisch). Klaus Heinemann, Baustein anwaltlicher Berufshaftung: die Beweislast, in: NJW 1990, S. 2345, 2346. Vgl. Adolf Laufs, Entwicklungslinien des Medizinrechts, in: NJW 1997, S. 1609, 1613; ders., Nicht der Arzt allein muss bereit sein, das Notwendige zu tun, in: NJW 2000, S. 1757, 1762 f.; Dieter Giesen, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl., Tübingen 1995, Rdnr. 406; Gerda Müller, Beweislast und Beweisführung im Arzthaftungsprozeß, in: NJW 1997, S. 3049, 3052: „häufig prozessentscheidende Bedeutung“; dies., Spielregeln für den Arzthaftungsprozeß, in: DRiZ 2000, S. 259, 266. RG Warn. Rspr. 1941 Nr. 14, S. 29, 33, unter Berufung auf eine ungedruckte Entsch. v. 23. 3. 1937; RGZ 171, S. 168, 171.
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Der BGH hat die Rechtsprechung des RG übernommen8 und fortgeführt. Dabei verlangte er für die Beweislastumkehr zunächst ein „vorsätzliches oder grob leichtfertiges Verhalten“ des Arztes,9 dann ein „leichtfertiges Verhalten oder schuldhaften groben Behandlungsfehler“,10 etwa seit Mitte der sechziger Jahre nur noch das Vorliegen eines „groben oder schweren Behandlungsfehlers“11. Es fand also eine Entwicklung vom anfänglichen Abstellen auf subjektive Kriterien (qualifiziertes Verschulden) zur heute üblichen Anknüpfung an objektive Gesichtspunkte (grober Fehler) statt, wodurch der Anwendungsbereich der Beweislastregel erweitert wurde. Zwar wird bei einem schweren Behandlungsfehler des Arztes oftmals auch grobe Fahrlässigkeit vorliegen, diese ist jedoch keine Voraussetzung mehr für eine Beweislastumkehr, theoretisch reicht bereits leichte Fahrlässigkeit aus.12 Mittlerweile hat sich die Rechtsprechung des BGH so weit verfestigt, dass man von einer tatbestandsmäßig umschriebenen Beweislastsonderregel sprechen kann.13 Danach muss ein Arzt, dem schuldhaft ein grober Behandlungsfehler unterlaufen ist, der geeignet ist, einen Schaden der eingetretenen Art herbeizuführen, beweisen, dass seine Pflichtverletzung den Schaden nicht verursacht hat, es dazu vielmehr auch ohne seinen Fehler gekommen wäre. Für die Feststellung eines groben Behandlungsfehlers trägt grundsätzlich der Patient die Beweislast14 (die aber gegebenenfalls durch andere Beweiserleichterungen gemildert wird), ebenso für das Verschulden des Arztes15 (was dem Patienten i.d.R. keine besonderen Schwierigkeiten bereitet, da ein grob fehlerhaft handelnder Arzt zumeist auch die erforderliche Sorgfalt hat vermissen lassen). Die Beweislastsonderregel bzgl. der Kausalität gilt sowohl im Rahmen der vertraglichen als auch der deliktischen Haftung.16
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So ausdr. BGH, LM § 286 ZPO (C) Nr. 25 u. § 287 ZPO Nr. 15. So BGH, LM § 286 ZPO (C) Nr. 25; auch noch VersR 1965, S. 91, 92. So BGH, NJW 1959, S. 1583; VersR 1962, S. 528, 529; auch noch VersR 1967, S. 663, 664. Vgl. z. B. BGH, NJW 1965, S. 345, 346; 1967, S. 1508; 1969, S. 553, 554; 1970, S. 1230, 1231; 1975, S. 1463, 1464; 1979, S. 1933, 1935. BGH, VersR 1983, S. 729, 731; 1992, S. 754, 755. Gottfried Baumgärtel, Handbuch der Beweislast im Privatrecht, 2. Aufl., Bd. 1, Köln 1991, § 823, Anh. C II, Rdnr. 3; Andreas Spickhoff, Grober Behandlungsfehler und Beweislastumkehr, in: NJW 2004, S. 2345, 2347. BGH, NJW 1987, S. 2291, 2292; LM § 282 ZPO (Beweislast) Nr. 64. BGH, NJW 1980, S. 1333; 1991, S. 1540, 1541; 1999, S. 860, 861; abw. bei feststehendem (auch einfachem) Behandlungsfehler Christian Katzenmeier, Schuldrechtsmodernisierung und Schadensersatzrechtsänderung – Umbruch in der Arzthaftung, in: VersR 2002, S. 1066, 1068 f. m.w.N. BGH, VersR 1971, S. 227, 229. Zum Konkurrenzverhältnis und den Auswirkungen des Zweiten Gesetzes zur Änderung schadensersatzrechtlicher Vorschriften (v. 19. 7. 2002, BGBl I 2674) vgl. Erwin Deutsch, Die Medizinhaftung nach dem neuen Schuldrecht und dem neuen Schadensrecht, in: JZ 2002, S. 588; Andreas Spickhoff, Das System der Arzthaftung im reformierten Schuldrecht, in: NJW 2002, S. 2530; Katzenmeier, in:
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II. Anwendungsvoraussetzungen 1. Definitionsversuche Eine exakte Definition des Begriffs „grober“ Behandlungsfehler, unter den sich die einzelnen Lebenssachverhalte jeweils zweifelsfrei subsumieren ließen, ist bislang nicht gelungen und angesichts der vielen unterschiedlichen Fallgestaltungen auch kaum zu erreichen. Die Rechtsprechung bemüht sich um Konkretisierung durch eine zunehmende Fallgruppenbildung. Generell ist ein Behandlungsfehler nach einer feststehenden Wendung des BGH dann als grob zu bewerten, wenn ein medizinisches Fehlverhalten vorliegt, das „aus objektiver ärztlicher Sicht bei Anlegung des für einen Arzt geltenden Ausbildungs- und Wissensmaßstabes nicht mehr verständlich und verantwortbar erscheint, weil ein solcher Fehler dem behandelnden Arzt aus dieser Sicht schlechterdings nicht unterlaufen darf“.17 Erläuternd fährt das Gericht fort, dies könne etwa der Fall sein, „wenn auf eindeutige Befunde nicht nach gefestigten Regeln der ärztlichen Kunst reagiert wird, oder wenn grundlos Standardmethoden zur Bekämpfung möglicher, bekannter Risiken nicht angewandt werden, und wenn besondere Umstände fehlen, die den Vorwurf des Behandlungsfehlers mildern können“.18 Zugleich stellt der BGH ausdrücklich klar, „dass nicht schon ein Versagen genügt, wie es einem hinreichend befähigten und allgemein verantwortungsbewussten Arzt zwar zum Verschulden gereicht, aber doch ‚passieren kann’“.19 Gerechtfertigt ist die Feststellung grob fehlerhaften Verhaltens aber stets dann, wenn Verstöße gegen elementare medizinische Behandlungsstandards oder gegen elementare medizinische Erkenntnisse und Erfahrungen vorliegen.20 Die Beurteilung hat stets das ganze Behandlungsgeschehen zum Gegenstand, so dass auch mehrere Einzelfehler, die für sich genommen nicht
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VersR 2002, S. 1066, 1073 f.; Gerald Spindler, Oliver Rieckers, Die Auswirkungen der Schuld- und Schadensrechtsreform auf die Arzthaftung, in: JuS 2004, S. 272. BGH, NJW 1983, S. 2080, 2081; s. auch BGHZ 132, S. 47, 53; 138, S. 1, 6; BGH, NJW 1995, S. 778, 779; 1996, S. 2428; 1998, S. 814, 815 u. S. 1782, 1783; 2000, S. 2741, 2742; 2001, S. 2792 f.; S. 2794; S. 2795, 2796; aus dem Schrifttum vgl. etwa Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 110, Rdnr. 5; Johannes Hager, in: Staudinger, BGB, 13. Bearb., Berlin 1999, § 823, Rdnr. I 55; Gerhard Wagner, in: MünchKomm-BGB, 4. Aufl., München 2004, § 823, Rdnr. 734; Christian Katzenmeier, in: AnwKomm-BGB, Bonn 2005, § 823, Rdnr. 427. BGH, NJW 1983, S. 2080, 2081; s. auch OLG Düsseldorf, VersR 1987, S. 287, 288; OLG Oldenburg, NJW 1988, S. 1531; OLG Schleswig, VersR 1994, S. 310, 312. BGH, NJW 1983, S. 2080, 2081; i.d.S. auch Adolf Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., München 1993, Rdnr. 603. BGH, NJW 1986, S. 1540, 1541; 1992, S. 754, 755; 1993, S. 2375, 2377; 1997, S. 798, 799; 1998, S. 814, 815; 2001, S. 2794; 2795, 2796; OLG Frankfurt, VersR 1996, S. 584, 585; OLG München, VersR 1997, S. 577.
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besonders schwer wiegen, in der Gesamtwürdigung einen groben Behandlungsfehler begründen können.21 Der grobe Behandlungsfehler kann sich auch mittelbar aus einer Verletzung der Befunderhebungs- und -sicherungspflicht ergeben.22 Eine solche rechtfertigt zwar zunächst nur den Schluss, dass sich bei pflichtgemäßem Vorgehen ein reaktionspflichtiger Befund ergeben hätte.23 Ergibt sich jedoch mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein so gravierender Befund, dass seine Verkennung sich als fundamental fehlerhaft darstellen müsste, so kann auch hier von der Kausalität zwischen Behandlungsfehler und Gesundheitsschaden ausgegangen werden.24 Ebenso verhält es sich, wenn bereits die Unterlassung der Befunderhebung einen groben ärztlichen Fehler darstellt.25 2. Das Erfordernis der generellen Eignung zur Schadensverursachung Zu beachten ist, dass nicht jeder grobe Fehler des Arztes Beweiserleichterungen für den Patienten zur Folge hat. Nach ständiger Rechtsprechung wird die sachliche Reichweite der Beweislastumkehr dadurch begrenzt, dass der Behandlungsfehler geeignet gewesen sein muss, einen Gesundheitsschaden der Art herbeizuführen, wie er tatsächlich eingetreten ist.26 Dabei braucht der Fehler nur generell als geeignete Ursache in Betracht zu kommen, der Zusammenhang mit dem Schaden muss nur möglich, nicht aber naheliegend oder gar typisch sein.27 Vereinzelt erhobenen Forderungen nach einer gewissen Wahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhangs als Voraussetzung für eine Beweislastumkehr28 ist der
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BGHZ 85, S. 212, 220; BGH, NJW 1998, S. 1782; 2001, S. 2792, 2793; OLG Stuttgart, VersR 1990, S. 858, 859; 1997, S. 700; OLG Köln, NJW-RR 1991, S. 800; s. aber auch OLG Braunschweig, VersR 2000, S. 454, 455. Dazu Katzenmeier, Arzthaftung, S. 470 ff. BGHZ 132, S. 47, 51; BGH, NJW 1998, S. 1780. BGHZ 132, S. 47, 52 ff.; 159, S. 48, 56; BGH, NJW 1999, S. 3408, 3410; VersR 2003, S. 1256, 1257; klarstellend BGH, MedR 2004, S. 559: die hinreichende Wahrscheinlichkeit eines reaktionspflichtigen Befundes ist unabhängig von der Kausalitätsfrage zu beurteilen; Konkretisierung des Merkmals „hinreichend wahrscheinlich“ durch OLG Köln, VersR 2004, S. 247. BGH, VersR 1998, S. 457, 459; 1998, S. 585, 586. BGHZ 85, S. 212, 217; BGH, NJW 1978, S. 1683; 1986, S. 1540, 1541; 1997, S. 796, 797; 1997, S. 798, 799; 1998, S. 814, 815. BGHZ 85, S. 212, 216 f.; 144, S. 296, 303, 307; 159, S. 48, 54; BGH, NJW 1986, S. 1540, 1541; 1997, S. 796, 797 f.; OLG Karlsruhe, MedR 1983, S. 147, 149; OLG Stuttgart, VersR 1991, S. 821 f.; OLG Frankfurt, VersR 1996, S. 584, 585. So Hans-Joachim Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, Berlin 1975, S. 145 ff.; Volker Wahrendorf, Die Prinzipien der Beweislast im Haftungsrecht, Köln 1976, S. 99 ff., 107, 110 f.; Axel Hausch, Die neuere Rechtsprechung des BGH zum groben Behandlungsfehler – eine Trendwende?, in: VersR 2002, S. 671, 676 f.; auch G. Wagner, in: MünchKomm-BGB, § 823, Rdnr. 732 f., 737.
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BGH entgegengetreten.29 Dadurch würden an die Substantiierungspflicht des Patienten zu hohe Anforderungen gestellt, die Beweisführung würde erheblich erschwert und der angestrebte Zweck (Schutz des Patienten) konterkariert. Stattdessen soll die allgemeine Eignung des Fehlers zur Schadensherbeiführung ausreichen. Aus dem konkreten Geschehensablauf hergeleitete Zweifel an der Ursächlichkeit vermögen diese allgemeine Eignung nicht in Frage zu stellen. Sie haben bei der Erwägung ihren Platz, ob der dem Arzt obliegende Beweis für die Nichtursächlichkeit erbracht ist. Anderenfalls käme die von der Rechtsprechung entwikkelte Umkehr der Beweislast in dem Bereich, der infolge eines schwerwiegenden Behandlungsfehlers unaufklärbar ist, nur selten zur Anwendung. Doch auch wenn der schwere Behandlungsfehler nicht wahrscheinliche Ursache für den geltend gemachten Gesundheitsschaden des Patienten sein muss, um Beweiserleichterungen zu rechtfertigen, kann das Gewicht der Möglichkeit, dass der Fehler zum Misserfolg der Behandlung beigetragen hat, nicht schlechterdings unberücksichtigt bleiben.30 Auch nach Ansicht der Judikatur stellt die konkrete Schadensneigung des ärztlichen Fehlverhaltens ein wichtiges Kriterium dar. In Ausnahmefällen kann deshalb trotz genereller Eignung des Fehlers für den Schaden einer Umkehr der Beweislast entgegenstehen, dass aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls der Kausalzusammenhang äußerst unwahrscheinlich ist.31 Je ferner nämlich die Möglichkeit einer Ursächlichkeit liegt, desto geringer wirken sich die aus dem Behandlungsfehler resultierenden Aufklärungserschwernisse aus.32 Den Ausnahmefall gänzlicher Unwahrscheinlichkeit der Verursachung hat freilich die Behandlungsseite zu beweisen.33 Entstand ein besonders hoher Schaden, weil das Verhalten des Arztes auf eine schlechte Konstitution des Patienten traf oder andere nicht genau abgrenzbare Schadensursachen vorhanden waren, so führt dies nach den Regeln über die kumulative Kausalität nicht nur materiellrechtlich zur Haftung, sondern „strahlt auch auf die Regeln der Beweislast aus“.34 Die Rechtsprechung lastet in den Fällen, in denen mehrere mögliche Ursachen nicht abgrenzbar im Sinne einer Gesamtkausalität zusammenwirken, die durch den Behandlungsfehler mitgeschaffenen Unklarheiten bezüglich des Kausalzusammenhangs vollumfänglich den für den Behandlungsfehler verantwortlichen Personen an.35 Ist ein grober Fehler zur Herbeifüh29 30
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Vgl. BGHZ 85, S. 212, 216 f. BGH, NJW 1988, S. 2949, 2950; 1995, S. 778, 779; OLG Stuttgart, VersR 1992, S. 1134; OLG Oldenburg, VersR 1997, S. 1405, 1406. BGHZ 85, S. 212, 216 f.; 129, S. 6, 12 f.; 138, S. 1, 8; 159, S. 48, 55; BGH, VersR 1996, S. 1535, 1536; 1997, S. 362, 364; 1998, S. 585, 586; 2000, S. 1282, 1283. BGH, NJW 1988, S. 2949, 2950; 1994, S. 801, 803; 1995, S. 778, 779. BGHZ 159, S. 48, 55; BGH, NJW 1988, S. 2949, 2950. So J. Hager, in: Staudinger, BGB, § 823, Rdnr. I 54, mit Rspr.-Nachweisen; Katzenmeier, in: AnwKomm-BGB, § 823, Rdnr. 430. BGH, NJW 1990, S. 2882, 2884; 1997, S. 796, 797; anders bei (ausnahmsweise) abgrenzbaren Ursachenzusammenhängen im Sinne einer bloßen Teilkausalität, vgl. OLG Hamm, VersR 1996, S. 1371; auch BGH, NJW 2000, S. 2741, 2742; S. 3423, 3424; OLG Karlsruhe, VersR 2004, S. 244, 245.
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rung eines Gesundheitsschadens geeignet, so kommt eine Einschränkung der sich hieraus ergebenden Beweislastumkehr unter dem Blickpunkt einer Vorschädigung des Patienten nur dann in Betracht, wenn – was zur Beweislast der Behandlungsseite steht – eine solche Vorschädigung festgestellt ist und gegenüber einer durch den groben Fehler bewirkten Mehrschädigung abgegrenzt werden kann.36 Erst wenn auch eine bloße Mitursächlichkeit des groben Fehlers für den eingetretenen Schaden äußerst unwahrscheinlich ist, erscheint eine Beweisbelastung der Behandlungsseite nicht mehr gerechtfertigt.37 Neben gänzlicher Unwahrscheinlichkeit eines Kausalzusammenhangs zwischen grobem Behandlungsfehler und eingetretenem Schaden soll auch ein massives Mitverschulden des Patienten, oder besser gleichrangiges Mitverursachen von Unklarheiten in der Kausalitätsfrage – etwa durch Missachtung ärztlicher Anordnungen – einer Beweislastumkehr entgegenstehen.38 Hinter den verschiedenen Eingrenzungsbemühungen steht der Gedanke, dass auch bei groben Behandlungsfehlern Beweiserleichterungen nur insoweit in Frage kommen, als sich gerade das Risiko verwirklicht hat, dessen Nichtbeachtung den Fehler als grob erscheinen lässt.39 Damit wird der allgemeine Grundsatz des Schadensrechts, dass ein Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen Pflichtverletzung und geltend gemachtem Schaden bestehen muss, auf das Beweisrecht übertragen,40 auch hier kommen Schutzzwecküberlegungen zur Geltung. 3. Juristische Wertungsfrage – Die Rolle des medizinischen Sachverständigen Bei der Frage, ob ein Behandlungsfehler als grob zu qualifizieren ist, geht es um eine juristische Wertung, die nicht der Sachverständige, sondern das Gericht zu treffen hat.41 In jüngerer Zeit sah sich der BGH allerdings mehrfach veranlasst zu betonen, dass die Entscheidung des Gerichts auf tatsächlichen Anhaltspunkten beruhen muss, die sich in der Regel aus der medizinischen Bewertung des Behand-
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BGHZ 144, S. 296, 304. BGH, NJW 1997, S. 796, 797. KG, VersR 1991, S. 928, 929; OLG Köln, VersR 1997, S. 1102, 1103; OLG Braunschweig, VersR 1998, S. 459, 461; Karlmann Geiß, Hans-Peter Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl., München 2001, Rdnr. B 261; näher Adem Koyuncu, Das Haftungsdreieck Pharmaunternehmen – Arzt – Patient, Berlin 2004, S. 223 ff. BGHZ 159, S. 48, 55; BGH, NJW 1981, S. 2513; OLG Celle, VersR 1984, S. 444, 445; OLG Stuttgart, VersR 1991, S. 821. Peter Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, Göttingen 1971, S. 68 f.; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 418. BGHZ 72, S. 132, 135; 138, S. 1, 6; 144, S. 296, 304; BGH, NJW 1986, S. 1540, 1541; 1988, S. 1513, 1514; 1996, S. 2428; 1998, S. 814, 815; 2001, S. 2791 u. 2792, 2793; Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 110, Rdnr. 4; zur Rolle des medizinischen Sachverständigen im Zivilprozess Katzenmeier, Arzthaftung, S. 395 ff.
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lungsgeschehens durch den Sachverständigen ergeben.42 Dies deshalb, weil der Richter den berufsspezifischen Sorgfaltsmaßstab im Allgemeinen nur mit Hilfe eines medizinischen Sachverständigen ermitteln kann.43 Die Bewertung eines Behandlungsfehlers als grob muss daher in den Ausführungen des medizinischen Sachverständigen ihre tatsächliche Grundlage finden.44 Dies bedeutet nicht, dass der Richter die Bewertung dem Sachverständigen überlassen und nur die Fälle, in denen dieser das ärztliche Verhalten ausdrücklich als nicht nachvollziehbar bezeichnet, als grob werten darf. Vielmehr hat das Gericht aufmerksam darauf zu achten, ob der Sachverständige in seiner Würdigung einen Verstoß gegen elementare medizinische Erkenntnisse oder elementare Behandlungsstandards zu erkennen gibt oder lediglich von einer Fehlentscheidung in mehr oder weniger schwieriger Lage ausgeht. Die Annahme eines groben Behandlungsfehlers scheidet aus, wenn der Sachverständige bereits Zweifel äußert, ob überhaupt ein Fehlverhalten vorliegt.45 Nimmt der Sachverständige – an sich in Überschreitung seiner Kompetenz, in der Praxis aber durchaus nicht selten – selbst eine Bewertung des Fehlers als grob oder nicht grob vor, so ist der Richter an diese Qualifizierung nicht gebunden,46 wird aber regelmäßig nachvollziehbar begründen müssen, weshalb er von der Bewertung des Sachverständigen abweicht. III. Kritik an der Beweislastsonderregel Obwohl die Rechtsprechung zur Beweislastumkehr bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers seit vielen Jahrzehnten besteht und längst fest etabliert ist, bleibt sie umstritten. Bis heute wird vor allem das Fehlen einer dogmatischen Begründung kritisiert. Die Pflicht des Arztes zu sorgfältiger Behandlung sei zu unterscheiden von den Pflichten, die auf die Herstellung oder Erhöhung der Transparenz des Krankheitsgeschehens zielten. Das Gebot, schwere Fehler zu vermeiden, diene der Gesundheit des Patienten und sei nicht zu dem Zwecke vorgesehen, Beweisprobleme zu verhindern.47 Am Gesetzgeber vorbei sei von der Judikatur eine Regelung geschaffen worden, die mit Grundpositionen der Rechtsordnung nicht in Einklang zu bringen sei,48 daher einen „Fremdkörper im geltenden Recht“ bilde,49 eine Rechtsdurchbrechung, die sich auf nichts weiter als das Rechtsgefühl stützen 42
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BGHZ 132, S. 47, 53; 138, S. 1, 6 f.; 144, S. 296, 302; 159, S. 48, 56; BGH, VersR 1999, S. 231; 2001, S. 1030 f. u. 1116 f.; NJW 2001, S. 2792, 2793; S. 2794; S. 2795, 2796; 2002, S. 2944, 2945. BGH, NJW 1995, S. 776, 777; 1997, S. 798, 799; 2001, S. 2791. BGHZ 132, S. 47, 53; BGH, NJW 1996, S. 2428; 1997, S. 798. Vgl. etwa BGH, NJW 1995, S. 778, 779; S. 1611; 1996, S. 2428; 1997, S. 798 f. BGH, NJW 1994, S. 801, 802; 1996, S. 1589. Gottfried Schiemann, in: Erman, BGB, 11. Aufl., Münster 2004, § 823, Rdnr. 142; Albrecht Zeuner, in: Soergel, 12. Aufl., Stuttgart 1998, § 823, Rdnr. 325. Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 133. Joachim Sick, Beweisrecht im Arzthaftungsprozeß, Frankfurt/M. 1986, S. 108; ebenso Jörg Fastenrath, Arzthaftpflichtprozeß und Beweislastverteilung, Frankfurt/M. 1990, S. 70.
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könne.50 Die Grundlagen der BGH-Rechtsprechung seien unklar und verlören sich im Billigkeitsrecht.51 Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Gewaltenteilung und der Bindung des Richters an das Gesetz mute es seltsam an, dass die Frage nach den Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung in der zivilistischen Literatur weithin ungestellt und unbeantwortet bleibt.52 Inhaltlich wird der Position der Rechtsprechung entgegengehalten, in einer Rechtsordnung, die nicht einmal die materielle Haftung nach dem Verschuldensgrad abstuft, sei eine entsprechende Differenzierung der Beweisanforderungen systemwidrig.53 Durch das Kriterium des groben Arztverschuldens werde ein sachfremdes pönales Sanktionsdenken in das geltende Zivilrecht hineingetragen.54 Der Strafcharakter trete umso deutlicher hervor, je feiner die Beweisanforderungen abgestuft würden, da Verschuldensgrad und Verantwortlichkeit damit umso stärker korrelierten.55 Zudem bedeute die Spruchpraxis der Gerichte eine Gefahr für die Rechtssicherheit, weil die Grenze zwischen leichter und grober Fahrlässigkeit nur schwer zu ziehen sei.56 Im Übrigen habe die Intensität der ärztlichen Fehlleistung nichts mit der Nachvollziehbarkeit des Geschehens zu tun, von ihr hingen nicht die Aufklärungserschwernisse ab, derentwegen dem Patienten Beweiserleichterungen gewährt werden, weshalb die Rechtsprechung nicht einmal in sich schlüssig sei.57 50 51
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Sick, Beweisrecht im Arzthaftungsprozeß, S. 106. Erwin Deutsch, Andreas Spickhoff, Medizinrecht, 5. Aufl., Berlin 2003, Rdnr. 392; Erwin Deutsch, Karl-Heinz Matthies, Arzthaftungsrecht, 3. Aufl., Köln 1988, S. 61; Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 110, Rdnr. 1. Adolf Laufs, Unglück und Unrecht, Heidelberg 1994, S. 12, zum Beweisrecht S. 21. – Eine gesetzliche Regelung hält Hans-Ludwig Schreiber, in: Adolf Laufs, Christian Dierks, Albrecht Wienke, Toni Graf-Baumann, Günther Hirsch (Hrsg.), Die Entwicklung der Arzthaftung, Berlin 1997, S. 341, 344 für erforderlich; s. auch § 9 des Kodifikationsvorschlags des medizinischen Behandlungsvertrags von Erwin Deutsch, Michael Geiger, in: BMJ (Hrsg.), Gutachten und Vorschläge zur Überarbeitung des Schuldrechts, Bd. 2, Köln 1981, S. 1049, 1110. Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 133; ders., Anm. zu BGH, Urt. v. 11. 6. 1968 – VI ZR 116/67 –, in: NJW 1968, S. 2291; ebenso Prütting, in: Festschrift 150 Jahre LG Saarbrücken, S. 257, 266; Gert Brüggemeier, Deliktsrecht, Baden-Baden 1986, Rdnr. 683. Hermann Lange, Gottfried Schiemann, Handbuch des Schuldrechts, Bd. 1, Schadensersatz, 3. Aufl., Tübingen 2003, § 3 XIII 2 b., S. 168; Holger Fleischer, Schadensersatz für verlorene Chancen im Vertrags- und Deliktsrecht, in: JZ 1999, S. 766, 773; Helmut Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, Tübingen 1997, S. 235, 238 f.; Jürgen Prölss, Beweiserleichterungen im Schadensersatzprozeß, Karlsruhe 1966, S. 98; auch Brüggemeier, Deliktsrecht, Rdnr. 684: „moralische Wertung“. Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 134. Laufs, Arztrecht, Rdnr. 601; Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 133; Fleischer, in: JZ 1999, S. 766, 773. Brüggemeier, Deliktsrecht, Rdnr. 684; Karl Nüßgens, in: RGRK, BGB, 12. Aufl., Berlin 1989, § 823 Anh. II, Rdnr. 306; J. Hager, in: Staudinger, BGB, § 823, Rdnr. I 59; Lange/Schiemann, Schadensersatz, § 3 XIII 2 b., S. 168.
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Auch die Kritiker erkennen die Schwierigkeiten der Beweisführung für einen Medizingeschädigten und die Notwendigkeit einer Modifikation der allgemeinen Regeln im Arzthaftungsprozess. Sie sind deshalb um alternative Lösungswege bemüht. Peter Hanau schlägt den Rückgriff auf § 287 ZPO vor.58 Hans-Joachim Musielak hält in den Fällen, in denen die Rechtsprechung eine Beweislastumkehr vornimmt, die Voraussetzungen des Anscheinsbeweises für gegeben, weshalb kein Grund für eine Beweislastentscheidung bestehe.59 Weiter als diese Lösungsvorschläge geht die Forderung, bei jedem Behandlungsfehler dem Arzt den Nachweis fehlender Kausalität aufzuerlegen. Mehrere Autoren haben sich gegen die Einschränkung der Rechtsprechung gewandt, dass die Beweislastumkehr erst bei einem groben Fehler eintritt.60 Wenn die vom Arzt verursachte Gefährdung des Patienten den Anlass für weitergehende Pflichten bildet, dann könne innerhalb der zurechenbaren Gefährdungen kaum nachvollziehbar nach dem Grad der Schwere differenziert werden.61 IV. Dogmatische Begründungsversuche Unterzieht man die vorgeschlagenen Lösungsansätze einer kritischen Analyse,62 so erweist sich die von der Rechtsprechung unter den genannten Voraussetzungen vorgenommene Beweislastumkehr bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers als relativ beste Lösung zur Harmonisierung der im Prozess widerstreitenden Interessen und zur Herbeiführung materieller Gerechtigkeit, indem sie einerseits die Beweisschwierigkeiten des Patienten mildert, andererseits aber auch auf die spezifische Situation und die schutzwürdigen Belange des Arztes Bedacht nimmt. Akzeptabel ist sie jedoch nur, wenn sie sich dogmatisch begründen lässt. Auch die Tatsache, dass die Beweislastsonderregel längst fest etabliert ist, ändert nichts an der Notwendigkeit ihrer Legitimierung. Denn die Beweislastumkehr bedeutet eine 58
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Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 134; ders., in: NJW 1968, S. 2291, 2292. Musielak, Die Grundlagen der Beweislast im Zivilprozeß, S. 145 ff., insbes. S. 153 ff.; s. auch ders., Die Beweislast, in: JuS 1983, S. 609, 614; ansatzweise auch H. Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, S. 239 ff., 253 f.; Gottfried Schiemann, in: Staudinger, BGB, 14. Bearb., Berlin 2005, Vorbem. zu §§ 249 ff., Rdnr. 97; Hartmut Oetker, in: MünchKomm-BGB, 4. Aufl., München 2001, § 249, Rdnr. 417; Richard Giesen, Aktuelle Probleme des Arzthaftungsrechts, in: MedR 1997, S. 17, 20 f. Hans Stoll, Die Beweislastverteilung bei positiven Vertragsverletzungen, in: Josef Esser (Hrsg.), Festschrift für Fritz v. Hippel, Tübingen 1967, S. 517, 552; ders., in: AcP 176 (1976), S. 145, 157; Peter Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, Köln 1979, S. 452; Dieter Giesen, Arzthaftungsrecht im Umbruch, in: JZ 1982, S. 448, 452; Schiemann, in: Erman, BGB, § 823, Rdnr. 142; ders., Der freie Dienstvertrag, in: JuS 1983, S. 649, 658; s. auch Andreas Hänlein, Möglichkeiten der Weiterentwicklung der zivilrechtlichen Arzthaftung, in: ArztR 2001, S. 315, 326. Gottfried Schiemann, in: Hermann Lange (Hrsg.), Festschrift für Joachim Gernhuber, Tübingen 1993, S. 387, 401. Vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, S. 457 ff.
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Durchbrechung des Grundsatzes der uneingeschränkten Beweislast des Anspruchstellers für die tatsächlichen Voraussetzungen der ihm günstigen Norm im Wege richterlicher Rechtsfortbildung. Als Gesetzeskorrektur ist sie nur dann zulässig, wenn unter besonderen Voraussetzungen die dringende Notwendigkeit einer Abänderung der allgemeinen Beweislastverteilung hervortritt, der innere Grund einer speziellen Regel klar herausgearbeitet und in plausible Anwendungsvoraussetzungen umgemünzt wird.63 Indessen besteht in Rechtsprechung und Lehre nach wie vor wenig Klarheit über den legitimen Bereich der Beweiserleichterungen. Selbst wo eine echte Beweislastumkehr sich zweifellos durchgesetzt hat, wie bei der groben Verletzung ärztlicher Berufspflichten, ist die Rechtfertigung für diese Beweislastverteilung bis heute nicht recht gelungen.64 1. Argumente der Rechtsprechung Das RG und auch der BGH hatten sich zur Begründung zunächst auf eine nicht näher spezifizierte Billigkeit berufen.65 In den letzten Jahrzehnten bemühte sich die Judikatur um etwas genauere Angaben. Nachdem der Arzt, so der BGH, durch den schwerwiegenden Verstoß gegen die Regeln der ärztlichen Kunst die Lage geschaffen habe, die nicht mehr erkennen lasse, wie der Verlauf bei ordnungsgemäßer Hilfe gewesen wäre, sei er „näher dran“, das Beweisrisiko zu tragen, als der Patient, der kaum etwas zur Klärung des Sachverhalts beibringen könne.66 Es geht nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht um eine Sanktion für Arztverschulden, vielmehr knüpfen die Beweiserleichterungen daran an, dass die Aufklärung des Behandlungsgeschehens wegen des Gewichts des Behandlungsfehlers und seiner Bedeutung für die Behandlung in besonderer Weise erschwert worden ist,67 so dass nach Treu und Glauben dem Patienten der volle Beweis nicht zugemutet werden könne.68 Beweiserleichterungen bis zur Kausalitätsvermutung sollen einen Ausgleich dafür bieten, dass das Spektrum der für die Schädigung in Be63
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Dieter Leipold, Beweismaß und Beweislast im Zivilprozeß, Berlin 1985, S. 22; s. auch Gottfried Baumgärtel, Beweislastpraxis im Privatrecht, Köln 1996, Rdnr. 450; Hanns Prütting, in: MünchKomm-ZPO, 2. Aufl., Bd. 1, München 2000, § 286, Rdnr. 121; Reinhard Greger, in: Zöller, ZPO, 25. Aufl., Köln 2005, vor § 284, Rdnr. 17; Ulrich Foerste, in: Musielak, ZPO, 4. Aufl., München 2005, § 286, Rdnr. 37; Christian v. Bar, Verkehrspflichten. Richterliche Gefahrsteuerungsgebote im deutschen Deliktsrecht, Köln 1981, S. 294. Stoll, in: AcP 176 (1976), S. 145, 147; in jüngerer Zeit ebenso Michael Reinhardt, Die Umkehr der Beweislast aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: NJW 1994, S. 93, 95; Laufs, Unglück und Unrecht, S. 21, Note 60; Thomas M. J. Möllers, Zur dogmatischen Legitimation der Fortentwicklung des Haftungsrechts, in: Dieter Hart, Privatrecht im „Risikostaat“, Baden-Baden 1997, S. 189, 194 f. Vgl. RGZ 171, S. 168, 171; RG, HRR 1937, Nr. 1301; Warn Rspr. 1941, Nr. 14, S. 33; BGH, LM § 286 ZPO (C) Nr. 25; VersR 1971, S. 227, 229; NJW 1981, S. 2513, 2514. BGH, NJW 1967, S. 1508. BGHZ 85, S. 212, 216; BGH, NJW 1968, S. 1185; 1995, S. 778, 779; 1997, S. 794, 795. BGHZ 72, S. 132, 136; BGH, VersR 1983, S. 983; NJW 1996, S. 2429, 2431.
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tracht kommenden Ursachen gerade durch den Fehler besonders verbreitert oder verschoben worden ist.69 Auch wenn der BGH mit solchen Ausführungen „versucht, die Wertung auf eine etwas kontrollierbarere Grundlage zu stellen“,70 rekurriert er doch ersichtlich immer wieder auf Billigkeitserwägungen und den Gesichtspunkt eines „gerechten Interessenausgleichs“ als entscheidende Kriterien für eine Beweislastumkehrung.71 Nun besteht kein Grund, die Rechtsprechung insgesamt zu missbilligen, weil sie sich von den abstrakt-generellen Beweislastregeln zu einem Teil gelöst hat und sich darum bemüht, die jeweiligen sozialen Rollen der Beteiligten, die Interessengegensätze, Konfliktlagen und Schutzbedürftigkeiten zu berücksichtigen. „Es wäre“, so Dieter Leipold treffend, „geradezu unnatürlich, wenn das Streben nach konkreter Gerechtigkeit, das im materiellen Recht zu einer Fülle von Tatbestandsverfeinerungen, aber auch von echten Neuschöpfungen durch die Rechtsprechung geführt hat, vor dem Gebiet des Beweisrechts haltmachen würde.“72 Das Postulat eines möglichst geschlossenen, ausnahmslos geltenden Beweislastregelsystems verkennt das Bedürfnis nach einer flexiblen Handhabung haftungsrechtlicher Beweiserleichterungen zwecks angemessener Verarbeitung des Durchsetzungsrisikos von Schadensersatzansprüchen. Zugleich ist jedoch darauf hinzuweisen, dass unsere Rechtsordnung Beweiserleichterungen gewisse Grenzen setzt und setzen muss, will sie nicht jede Vorhersehbarkeit und Kalkulierbarkeit verlieren.73 Das Gebot der Rechtssicherheit verbietet nicht nur Abweichungen vom Grundsatz im Einzelfall, also Beweiserleichterungen im jeweiligen Prozess ohne normative Regelung allein aus Gründen unbestimmter Gerechtigkeit oder Billigkeit. Soweit nicht von anderen, tragfähigen Gesichtspunkten begleitet, sind Billigkeitserwägungen für sich genommen auch zu schwach und zu wenig aussagekräftig, als dass sie eine judikative Beweislastsonderregel methodisch und inhaltlich hinreichend legitimieren könnten. Auch die Rechtsprechung zum groben Behandlungsfehler lässt sich daher überzeugend nicht schon damit begründen, dass es Patienten hier regelmäßig besondere Schwierigkeiten bereitet, den Nachweis der Kausalität für den erlittenen Körperschaden zu führen, dass eine Beweisbelastung der Behandlungsseite eher angemessen sei, einem „gerechten“ Interessenausgleich entspreche, oder nach Treu und Glauben geboten erscheine. Zusätzliche Argumente sind nötig, soll ein Ab-
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BGHZ 132, S. 47, 52; BGH, NJW 1988, S. 2949, 2950; 1994, S. 801, 803; 1995, S. 778, 779; 1996, S. 2429, 2431. Erich Steffen, Beweislasten für den Arzt und den Produzenten aus ihren Aufgaben zur Befundsicherung, in: Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Festschrift für Hans-Erich Brandner, Köln 1996, S. 327, 335. Vgl. auch G. Müller, in: DRiZ 2000, S. 259, 266. Leipold, Beweismaß und Beweislast im Zivilprozeß, S. 21 f. Hanns Prütting, Beweiserleichterungen für den Geschädigten – Möglichkeiten und Grenzen –, in: Karlsruher Forum 1989, S. 3, 16; Dieter Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, 21. Aufl., Tübingen 1997, § 286, Rdnr. 47 ff.
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gleiten in eine konturenlose Billigkeitsrechtsprechung verhindert werden.74 Dies um so mehr, als der aufmerksame Beobachter sich eines gewissen Eindrucks nicht erwehren kann, dass die Gerichte bisweilen von dem eingetretenen Schaden, wenn dieser den Patienten hart trifft und stark belastet, auf die besondere Schwere des Behandlungsfehlers rückschließen, um ihm zu helfen.75 Der vom BGH angegebene Sachgrund, wegen des Gewichts des Behandlungsfehlers und seiner Bedeutung für die Behandlung sei die Aufklärung des Behandlungsgeschehens in besonderer Weise erschwert und das Spektrum der für die Schädigung in Betracht kommenden Ursachen verbreitert oder verschoben worden, wofür ein Ausgleich zu bieten sei, führt im Grund nicht über das reine Billigkeitsargument hinaus. Misst man ihm aber Bedeutung zu, vermag er eine Beschränkung der Beweiserleichterungen auf die Fälle grober Behandlungsfehler kaum zu erklären, da auch einfache Fehler (und vielleicht gerade diese, weil sie selten augenfällig und ihre Auswirkungen oft noch schwieriger exakt festzustellen sind) das Spektrum möglicher Schadensursachen verbreitern oder verschieben. 2. Wertungsgrundlagen der Literatur Wegen des bestehenden Begründungsdefizits sind in der Literatur zahlreiche Bestrebungen zu verzeichnen, die Wertungsgrundlagen für die Beweislastumkehr mit Hilfe anderer Rechtsgedanken zu erfassen: a) Das Waffengleichheitsgebot. Von einigen Autoren wird neben anderen Aspekten das Gebot der Waffengleichheit im Prozess erwähnt. Dieses lässt sich jedoch schwerlich als tragfähige Grundlage für eine Beweislastumkehr begreifen.76 Richtiger Ansicht zufolge beinhaltet es lediglich ein Gebot der Gleichwertigkeit der 74
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Diese Gefahr erkennt Leipold, Beweismaß und Beweislast im Zivilprozeß, S. 22 ff.; s. auch Gottfried Baumgärtel, Rez. der Schrift von Leipold, in: JZ 1986, S. 229, 230. Vgl. Erwin Deutsch, Beweis und Beweiserleichterungen des Kausalzusammenhangs im deutschen Recht, in: Dieter Medicus (Hrsg.), Festschrift für Hermann Lange, Tübingen 1992, S. 433, 442; Gerhard Walter, Freie Beweiswürdigung, Stuttgart 1979, S. 245; Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 133; krit. Einschätzung der gerichtlichen Praxis von Dietmar Franzki, Die Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, Berlin 1982, S. 65: Die Rechtsprechung stelle bei der Feststellung des Merkmals „grob“ keine allzu hohen Anforderungen, denn es gebe „nur wenige Fälle, in denen sie zwar eine Fehlbehandlung bejaht, die Feststellung einer derart gesteigerten Pflichtwidrigkeit aber ablehnt“; Sick, Beweisrecht im Arzthaftungsprozeß, S. 107 f., 193: Behandlungsfehler würden von der Rechtsprechung regelmäßig als grob eingestuft; entschieden dagegen Walter Dunz, Rez. der Schrift von Sick, in: MedR 1987, S. 152, 153; abw. auch die Einschätzung (nur) der höchstrichterlichen Rechtsprechung jüngeren Datums von Hausch, in: VersR 2002, S. 671 ff. So aber Henrik v. Wallenberg, Der zivilrechtliche Arzthaftungsprozeß aus beweisrechtlicher Sicht, Münster 1993, S. 82; tendenziell auch die vier „unterlegenen“ Richter in BVerfG, NJW 1979, S. 1925 f., mit der These, es müsse „von Mal zu Mal geprüft werden, ob dem Patienten ‚nach allem die regelmäßige Beweislastverteilung noch zugemutet werden darf’“.
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Parteien vor dem Richter, nicht durch den Richter, und es lassen sich hieraus keine verfassungsrechtlichen Folgerungen ableiten, insbesondere kein verfassungsrechtliches Gebot zu einer „gleichmäßigen Beweisrisikoverteilung“.77 b) Normzwecküberlegungen. Als weiterer Begründungsversuch für eine Erleichterung des Kausalitätsbeweises sind Normzwecküberlegungen angestellt worden. Aus dem Zweck einer Norm (respektive einer konkreten ärztlichen Verhaltenspflicht) könne sich ergeben, dass der Kausalzusammenhang zwischen Normverstoß und Verletzungserfolg (widerleglich) zu vermuten sei. Eine solche Kausalitätsvermutung sei gerechtfertigt, wenn mit dem pflichtwidrig geschaffenen Verletzungsrisiko typischerweise das Risiko der Unaufklärbarkeit des Kausalzusammenhangs verbunden ist. Die Vermeidung auch des Risikos der Beweislosigkeit sei dann vom Normzweck erfasst, der ansonsten regelmäßig frustriert würde.78 Dieser Vorstoß ist aber schon deshalb zweifelhaft, weil auch dann, wenn man anerkennt, dass ärztliche Sorgfaltspflichten nicht nur den Zweck verfolgen, den Patienten vor Schäden an Körper und Gesundheit zu schützen, sondern außerdem, ihn vor einer Beweisnot zu bewahren,79 sich nicht genau feststellen lässt, die Verletzung welcher Verhaltenspflichten typischerweise zu Beweisschwierigkeiten führt. Überdies sind Beweiserleichterungen ebenso dringend oder ebenso wenig erforderlich, wenn die Folgen einer Norm-(Verhaltenspflicht-)verletzung typischerweise auf der Hand liegen, im konkreten Fall aber einmal unklar sind. Für den Geschädigten, dessen Ersatzanspruch am Kausalitätsbeweis scheitert, ist es ein schwacher Trost, dass sich die Folgen der von ihm gerügten Pflichtverletzung in anderen Fällen leichter beurteilen lassen.80 c) Verbot eines venire contra factum proprium. Kaum mehr als eine bloße Umschreibung des gewünschten Ergebnisses stellt es dar, wenn vereinzelt das Verbot des Selbstwiderspruchs als Legitimationsgrundlage genannt und ausgeführt wird, es verletze § 242 BGB, wenn der Arzt aus den besonderen Erschwernissen, die er durch seinen Verstoß gegen elementare Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Kenntnisse in die Kausalitätsfeststellung getragen habe, im Haftungsprozess Nutzen ziehen könnte, Beweiserleichterungen seien zu gewähren, wenn der Arzt durch ein grobes Außerachtlassen des medizinischen Standards eine dominie-
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Rolf Stürner, Die Einwirkungen der Verfassung auf das Zivilrecht und den Zivilprozeß, in: NJW 1979, S. 2334, 2337; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, 21. Aufl. 1993, vor § 128, Rdnr. 63; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 378 ff. So vor allem Stoll, in: Esser, Festschrift f. v. Hippel, S. 517, 550 ff., 558 f.; zust. Edgar Hofmann, Zur Beweislastumkehr bei Verletzung vertraglicher Aufklärungs- oder Beratungspflichten, in: NJW 1974, S. 1641; Erich Steffen, Referat, in: Verhandlungen des 52. DJT, Wiesbaden 1978, S. I 8, I 24. Abl. Schiemann, in: Erman, BGB, § 823, Rdnr. 142; Zeuner, in: Soergel, BGB, § 823, Rdnr. 325. So Hanau, Die Kausalität der Pflichtwidrigkeit, S. 130.
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rende Ursache für die Unaufklärbarkeit der Kausalitätsfragen gesetzt habe und deshalb dem Patienten die normale Beweislast nicht mehr zuzumuten sei.81 V. Eigener Standpunkt Mit dem Waffengleichheitsgebot, Normzwecküberlegungen oder Verbot des venire contra factum proprium ist wenig gewonnen, maßgebend ist ein anderer Gesichtspunkt: die Einsicht in den starken wechselseitigen Bezug von materiellem Arzthaftungsrecht und Verfahrensrecht sowie die nahe Verwandtschaft zwischen Beweiserleichterungen und Haftungsverschärfung.82 Diese Einsicht führt weg von den Billigkeitsargumenten hin zu einer Beweisrisikozuweisung entsprechend der materiellrechtlichen Pflichtenstellung.83 Eine Beweislastumkehr darf auch im Arzthaftungsrecht nicht allein im Hinblick auf die, den Patienten bisweilen hart treffenden, Schadensfolgen und dessen Beweisnöte gewährt werden, sondern hat stets auch die Aufgaben- und Pflichtenrolle des Schädigers zu bedenken. Die Gesichtspunkte der Gefahrerhöhung und der Beherrschbarkeit des Geschehensablaufs erscheinen unverzichtbar, will man verhindern, dass auf dem Umweg über das Beweisrecht partiell eine Einstandspflicht des Arztes für den Erfolg der Behandlung eingeführt wird.84 Damit sind die Voraussetzungen für eine Beweisbelastung der Behandlungsseite wesentlich enger als nach der Gefahrenbereichslehre.85 Diese kann in ihrer Allgemeinheit auf Arzthaftungsfälle nicht angewendet werden, da oftmals gerade streitig ist und unaufklärbar bleibt, ob die Schadensursache aus dem Gefahrenbereich des Arztes oder aber aus der Sphäre des Patienten (Krankheit, besondere
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Vgl. Steffen, in: Pfeiffer, Festschrift f. Brandner, S. 327, 334 f.; ders., in: MedR 2004, S. 561; Wolfram Mirtsching, Haftung für den Einsatz von Technik in der Medizin, Frankfurt/M. 1980, S. 122; s. auch Walther J. Habscheid, Beweislast und Beweismaß – Ein kontinentaleuropäisch-angelsächsischer Rechtsvergleich, in: Hanns Prütting (Hrsg.), Festschrift f. Gottfried Baumgärtel, Köln 1990, S. 105, 109. Vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, S. 172 ff., 375 ff., 416 ff. S. auch Hanns Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, München 1983, S. 99 f., 243 f.; v. Bar, Verkehrspflichten, S. 282; Schiemann, in: Lange, Festschrift f. Gernhuber, S. 387, 398: „Weiterzukommen ist nur mit einer über die Topik der größeren Nähe zum Beweis hinausführenden Begründung. Sie muss sich aus der materiellen Wurzel der Haftung ergeben, also aus dem Verkehrspflichtgedanken“; Erich Steffen, Haftung im Wandel, in: ZVersWiss 1993, S. 13, 28 f. Die Beweislastverteilung sollte möglichst das vom Schuldner übernommene Leistungsrisiko zum Ausdruck bringen, vgl. grds. Stoll, in: AcP 176 (1976), S. 145, 149 ff.; Karl Larenz, Zur Beweislastverteilung nach Gefahrenbereichen, in: Ernst v. Caemmerer (Hrsg.), Festschrift für Fritz Hauß, Karlsruhe 1978, S. 225, 235 ff. Insoweit grundlegend J. Prölss, Beweiserleichterungen im Schadensersatzprozeß, S. 65 ff.; krit. Hans-Joachim Musielak, Beweislastverteilung nach Gefahrenbereichen, in: AcP 176 (1976), S. 465; zum Meinungsstand Karl Larenz, Lehrbuch des Schuldrechts, 14. Aufl., Bd. 1, München 1987, § 24 I. b., S. 371.
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Konstitution, abnorme Reaktion) stammt.86 Auch der BGH greift darauf wohl nicht zurück, wenn er erklärt, der grob fehlerhaft handelnde Arzt sei „näher dran“, das Beweisrisiko zu tragen als der Patient, der kaum etwas zur Klärung des Sachverhalts beibringen könne.87 Dass der Schaden möglicherweise durch einen Umstand verursacht wurde, der sich dem Gefahrenbereich des Arztes zuordnen lässt, ist Voraussetzung, keineswegs aber schon hinreichender Grund für eine Umkehr der Beweislast in der Kausalfrage. Es muss vielmehr feststehen, dass der Arzt den Patienten einer gegenüber den mit der Behandlung normalerweise verbundenen Risiken erhöhten Gefahr ausgesetzt hat. Risiken, die üblicherweise mit einer indizierten medizinischen Behandlung einhergehen, treten gewissermaßen an die Stelle der Gefahren der unbehandelten Krankheit. Sie sind als „Tauschrisiko“ vom Patienten zu tragen,88 Unklarheiten in Bezug auf ihre Schadensursächlichkeit können nicht der Behandlungsseite aufgebürdet werden. Wichtigstes Kriterium für eine Beweisbelastung des Arztes bei Verursachungszweifeln ist, dass der Geschehensablauf durch Einhaltung elementarer Berufspflichten generell beherrscht werden kann.89 Nur wenn dies der Fall ist, lässt sich der gleichwohl eingetretene Schaden dem Arzt noch gemäß den allgemein geltenden Haftungsgrundsätzen zurechnen.90 Das Verschuldensprinzip kann zwar nicht gerade als Argument für eine Beweislastumkehr herangezogen werden – Beweiserleichterungen bedeuten nun einmal Abschwächungen der Culpa-Doktrin, jede Aufweichung des beweisrechtlichen Grundsatzes erfolgt auf Kosten des Verschul86
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Ausdr. abl. in Fällen der Arzthaftung J. Prölss, Beweiserleichterungen im Schadensersatzprozeß, S. 89, 97; Karl Nüßgens, in: Ernst v. Caemmerer (Hrsg.), Festschrift f. Fritz Hauß, Karlsruhe 1978, S. 287, 300; a. A. D. Franzki, Die Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 87 ff.; Uwe Diederichsen, Zur Rechtsnatur und systematischen Stellung von Beweislast und Anscheinsbeweis, in: VersR 1966, S. 211, 218; Harald Franzki, Von der Verantwortung des Richters für die Medizin – Entwicklungen und Fehlentwicklungen der Rechtsprechung zur Arzthaftung, in: MedR 1994, S. 171, 175; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 378 ff., 381. Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, § 823, Anh. C II, Rdnr. 33. Anders das Verständnis der Rspr. von Jürgen Prölss, in: ZZP 82 (1969), S. 468, 475; Deutsch, in: Medicus, Festschrift f. Lange, S. 433, 441: hinter der Rechtsprechung stehe „wohl eine Art Sphärenbetrachtung“. Erich Steffen, Wolf-Dieter Dressler, Arzthaftungsrecht, 9. Aufl., Köln 2002, Rdnr. 128. Stoll, in: AcP 176 (1976), S. 146, 157; Adolf Laufs, Die klinische Forschung am Menschen nach deutschem Recht, in: VersR 1978, S. 385, 390; v. Bar, Verkehrspflichten, S. 294: „Prinzip der Beherrschbarkeit als wichtigstes beweisrechtliches Kriterium“. – Die hier genannten Fälle und ihre Voraussetzungen sind zu unterscheiden von den Beweiserleichterungen bei der Verwirklichung „voll beherrschbarer Risiken“, dazu Katzenmeier, Arzthaftung, S. 482 ff. Das Kriterium genereller Beherrschbarkeit des Geschehensablaufs markiert in ähnlicher Weise wie das Erfordernis prinzipieller Erfüllbarkeit der Berufspflichten (vgl. dazu Katzenmeier, Arzthaftung, S. 190 ff.) eine äußere Grenze der Fahrlässigkeitshaftung. Insoweit kann man von einer Verlängerung der Entstehungsgründe der Verkehrspflichten in die Problematik der Beweiserleichterungen sprechen, vgl. v. Bar, Verkehrspflichten, S. 282, 294.
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densprinzips selbst –, es wird bei der vorgeschlagenen Lösung aber noch am ehesten gewahrt. Schlagwortartig gesprochen: Das Verschuldensprinzip trägt nicht, aber es erträgt Beweiserleichterungen unter den genannten Voraussetzungen.91 Nun soll nicht behauptet werden, dass die Aspekte der Gefahrerhöhung und der generellen Beherrschbarkeit des Geschehensablaufs geeignet wären, eine Beweislastumkehr bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers zweifelsfrei und dogmatisch restlos überzeugend zu begründen. Weitere Gesichtspunkte wie Verursachungswahrscheinlichkeit,92 Gedanken der Berufshaftung (Enttäuschung des Vertrauens in die Zusage eines bestimmten Standards),93 Gewicht und Relation der geschützten Rechtsgüter,94 von denen keiner für sich allein genommen tragfähig ist, sind zur Legitimierung der Beweislastsonderregel heranzuziehen. Und auch dann handelt es sich bei einer Umkehr der Beweislast im Prozess immer noch um eine Billigkeitsentscheidung. Immerhin aber erscheint sie mit Hilfe der genannten Kriterien sachlich begründbar und – dem Postulat der Rechtssicherheit Rechnung tragend – hinreichend bestimmbar. Durch Anknüpfung an die materiellrechtliche Pflichtenstellung des Arztes erfolgt ein maßgeblicher Perspektivwechsel: An die Stelle eines hinter Begriffen wie Billigkeit, Treu und Glauben, Unzumutbarkeit etc. steckenden, sozial motivierten, an sich verständlichen, jedoch dem zivilen Haftpflichtrecht fremden Opferschutzdenkens treten zur Begründung einer (sich regelmäßig haftungsverschärfend auswirkenden) Beweislastumkehr wieder Kriterien der Schadenszurechnung und damit Aspekte, die originär zur Konkretisierung der Einstandspflicht des Schädigers bestimmt sind.95 91
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Zur Bedeutung des Verschuldensprinzips für eine freie, verantwortungsbewusste, wagnisbereite, sorgfältige Berufsausübung des Arztes vgl. Katzenmeier, Arzthaftung, S. 150 ff., 185 ff. D. Franzki, Die Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 90 f.; Wahrendorf, Die Prinzipien der Beweislast im Haftungsrecht, S. 86 ff., 90 ff.; auch Heinemann, in: NJW 1990, S. 2345, 2352. Stoll, in: AcP 176 (1976), S. 145, 155 ff., 196; Schiemann, in: Lange, Festschrift f. Gernhuber, S. 387, 397 ff. (allgemein, nicht auf grobe Fehler eines Arztes beschränkt). Adolf Laufs, in: Adolf Laufs, Christian Dierks, Albrecht Wienke, Toni Graf-Baumann, Günther Hirsch, Die Entwicklung der Arzthaftung, Berlin 1997, S. 1, 10; ders., Deliktische Haftung ohne Verschulden? – eine Skizze, in: Hermann Lange (Hrsg.), Festschrift f. Joachim Gernhuber, Tübingen 1993, S. 245, 255; Steffen, in: ZVersWiss 1993, S. 13, 29. – Die Rspr. hat eine Beweislastumkehr auch bei der groben Verletzung sonstiger Berufspflichten, die dem Schutz von Leben und Gesundheit dienen, bejaht, so z. B. BGH, NJW 1971, S. 243; OLG Oldenburg, VersR 1997, S. 749; OLG München, VersR 1997, S. 977: Krankenpflegepersonal; OLG Braunschweig, VersR 1987, S. 76: Hebamme; BGH, NJW 1962, S. 959: Bademeister. – Auf andere Berufe wird diese Rspr. aber nicht übertragen, so nicht auf die Anwaltshaftung, vgl. BGHZ 126, S. 217, 221 = NJW 1994, S. 3295, 3298; Anm. Wolfgang Teske, in: JZ 1995, S. 468. Ähnlich Luidger Röckrath, Kausalität, Wahrscheinlichkeit und Haftung, München 2004, S. 198 f.; entgegengesetzt der Vorschlag von Thomas M. J. Möllers, Rechtsgüterschutz im Umwelt- und Haftungsrecht, Tübingen 1996, S. 9 ff.; ders., in: Hart, Privatrecht im „Risikostaat“, S. 189, 195: Die Verkehrspflichten und die Beweiserleichterungen seien aus der Perspektive des Geschädigten zu begründen. Diese Herangehensweise
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VI. Rechtsfolge 1. „Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr“ Zu den Rechtsfolgen eines schweren ärztlichen Pflichtenverstoßes betonte der BGH bis in die jüngste Vergangenheit, es dürfe nicht nach einer starren Regel stets eine Beweislastumkehr vorgenommen werden, geboten seien vielmehr „Beweiserleichterungen, die bis hin zur Beweislastumkehr reichen können“.96 Immer dann habe das Gericht Vergünstigungen zu gewähren, wenn nach tatrichterlichem Ermessen dem Patienten die Beweislast für einen schadensursächlichen Arztfehler billigerweise nicht oder nicht voll zuzumuten sei, wobei das Ausmaß der Beweiserleichterung vornehmlich davon abhängen soll, inwieweit der Arzt durch seine Versäumnisse die nachträgliche Aufklärbarkeit der Kausalzusammenhänge erschwerte.97 Die beweisrechtlichen Reaktionen sollen also direkt mit den Besonderheiten des jeweiligen Falles korrelieren. Im Schrifttum ist die Formel von den „Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr“ überwiegend begrüßt worden als eine gegenüber der starren Regel flexiblere und genauere Lösung.98 Indem der BGH den Tatrichter auffordere, auch nach der Feststellung eines groben Behandlungsfehlers noch zu prüfen, ob der Einsatz der schärfsten Waffe (Beweislastumkehr) im Einzelfall notwendig ist oder ob nicht eine andere Beweiserleichterung den erstrebten Zweck erreicht – die Beweislastumkehr folglich nur als ultima ratio eingesetzt werden soll –, zeige er seine Bereitschaft, auch die Beweisschwierigkeiten des Arztes im Haftpflichtprozess zu berücksichtigen.99 Der frühere Bundesrichter Walter Dunz, von dem die
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scheint indes auch jüngeren Entwicklungen des Deliktsrechts auf europäischer Ebene zu entsprechen, vgl. Christian v. Bar, Konturen des Deliktsrechtskonzeptes der Study Group on a European Civil Code – Ein Werkstattbericht –, in: ZEuP 2001, S. 515, 519 f. So erstmals BGH, NJW 1972, S. 1520 im Zusammenhang mit einer lückenhaften Dokumentation; bei groben Behandlungsfehlern vgl. BGHZ 72, S. 132, 133 f.; 85, S. 212, 215 f.; BGH, VersR 1981, S. 954, 955; 1983, S. 983, 984; 1988, S. 721, 722; 1989, S. 701 f.; 1997, S. 362, 363. BGHZ 72, S. 32, 136 u. 139 (noch differenzierend zwischen den Rechtsfolgen bei einem groben Behandlungsfehler und bei unzulänglicher Dokumentation; in der Folgezeit wurden die beweisrechtlichen Reaktionen in beiden Fällen einander angeglichen); BGH, VersR 1983, S. 983, 984; 1989, S. 80, 81; 1994, S. 52, 53; 1995, S. 46, 47. Vgl. etwa Leo Rosenberg, Karl-Heinz Schwab, Peter Gottwald, Zivilprozessrecht, 16. Aufl., München 2004, § 114, Rdnr. 26 i.V.m. Rdnr. 21; Peter Gottwald, Grundprobleme der Beweislastverteilung, in: Jura 1980, S. 303, 308; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 361; ders., Wandlungen im Arzthaftungsrecht, in: JZ 1990, S. 1053, 1061; s. auch H. Franzki, in: MedR 1994, S. 171, 175; Franz-Joseph Pelz, Entwicklungstendenzen des Arzthaftungsrechts, in: DRiZ 1998, S. 473, 480; Martin Rehborn, Aktuelle Entwicklungen im Arzthaftungsrecht, in: MDR 1999, S. 1169, 1173. Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, § 823, Anh. C II, Rdnr. 22; ders., Beweislastpraxis im Privatrecht, Rdnr. 481.
Verschärfung der Berufshaftung durch Beweisrecht – Der grobe Behandlungsfehler
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Formel stammt,100 erklärt hierzu, der BGH habe „mehr und mehr auf den Begriff der nackten Beweislastumkehr verzichtet, der angesichts der unsicheren Abgrenzung des ‚groben’ Fehlers willkürlich werden kann“101 und mit der Formel zum Ausdruck gebracht, dass dem Tatrichter ein „Instrumentarium“ zur Verfügung stehe, „das dazu dient, unbillige Störungen der Waffengleichheit in einer nach Lage des Falles billig erscheinenden Weise auszugleichen“.102 2. Kritik und Reaktion der Rechtsprechung Unklar aber bleibt, an welche Beweiserleichterungen der BGH eigentlich denkt, ob an die Gewährung eines Anscheinsbeweises unter erleichterten Voraussetzungen,103 an eine Parteivernehmung unabhängig von den Voraussetzungen des § 448 ZPO104 oder an eine Senkung des Regelbeweismaßes auf eine überwiegende Wahrscheinlichkeit.105 Gerade die flexible Praxis und die gleitende Betrachtungsweise bedeuten Gefahren für die Rechtssicherheit,106 durch die jede Konkretisierungsbemühung auf Tatbestandsseite hinfällig wird und selbst die angestellten Überlegungen zum sachlichen Grund der Beweislastsonderregel entwertet werden. Ein derart „flexibler“ Umgang mit dem Beweisrecht lässt sich auch nicht mit einem Hinweis auf die vier im Arzthaftungsbeschluss des BVerfG dissentierenden Richter stützen.107 Diese meinten zwar, „dass die Gerichte sich im jeweiligen Einzelfall die typische beweisrechtliche Stellung der Parteien und mithin die beweisrechtliche Grundproblematik bewusst machen müssen, und ihre hieraus resultierende Verpflichtung, im konkreten Fall insgesamt gesehen für eine faire, zumutbare Handhabung des Beweisrechts Sorge zu tragen, nicht aus den Augen verlieren dürfen“. Sie setzten jedoch ausdrücklich hinzu, dies wolle „nicht besagen, dass 100 101 102 103
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Vgl. Erich Steffen, Nachruf, in: MedR 1997, S. 99, 100, Note 21. Dunz, Aktuelle Fragen zum Arzthaftungsrecht, S. 54. Dunz, Aktuelle Fragen zum Arzthaftungsrecht, S. 59. So versteht Leipold, Beweismaß und Beweislast im Zivilprozeß, S. 23 die Rechtsprechung (mit anschl. Kritik). Fragend D. Franzki, Die Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 62; s. aber BGH, NJW 1998, S. 814, 815. So die Interpretation der Rechtsprechung von G. Wagner, in: MünchKomm-BGB, § 823, Rdnr. 732; Gerhard Walter, Anm. zu BGH, Urt. v. 27. 6. 1978 – VI ZS 183/76 –, in: JZ 1978, S. 806, 808; Hans-Joachim Musielak, Max Stadler, Grundfragen des Beweisrechts, München 1984, Rdnr. 267; Brüggemeier, Deliktsrecht, Rdnr. 682 f.; ders., Prinzipien des Haftungsrechts, Baden-Baden 1999, S. 229 f., 231, 234. – Dazu Katzenmeier, Arzthaftung, S. 503 ff.; grds. zur Frage einer Bemeismassreduzierung im Zivilprozess ders., Beweismaßreduzierung und probabilistische Proportionalhaftung, in: ZZP 117 (2004), S. 187, 196 ff., 211 ff. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 110, Rdnr. 3; ders., Arztrecht, Rdnr. 601; Nüßgens, in: RGRK, BGB, § 823, Anh. II, Rdnr. 297; Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, § 823, Anh. C II, Rdnr. 3; D. Franzki, Die Beweisregeln im Arzthaftungsprozeß, S. 62 f.; Karl-Heinz Matthies, Schiedsinstanzen im Bereich der Arzthaftung, Berlin 1984, S. 73; Sick, Beweisrecht im Arzthaftungsprozeß, S. 108. Musielak/M. Stadler, Grundfragen des Beweisrechts, Rdnr. 264.
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Beweislastnormen nicht generell im Voraus bestimmt, sondern in jeder Prozesslage erst neu zu erstellen wären“.108 Auf deren tatbestandlich möglichst genaue Fixierung kann im Interesse der Rechtssicherheit nicht verzichtet werden.109 Letzten Endes ist die Formel von den „Beweiserleichterungen bis hin zur Beweislastumkehr“ sogar begrifflich falsch und irreführend, indem sie den Eindruck erweckt, der Richter könne zur Linderung einer im Einzelfall bestehenden Beweisnot aus einem Katalog von Hilfsmitteln auswählen und hierbei auch zur Verlagerung der Beweislast auf die Gegenseite greifen.110 Sie suggeriert eine Beliebigkeit oder ein freies Ermessen des Richters bei der Auswahl und Anwendung der jeweiligen Beweiserleichterungen, das in dieser Form nicht besteht.111 Beweiserleichterungen spielen im Rahmen der Beweiswürdigung eine Rolle und sind von der Beweislastumkehr strikt zu trennen.112 Durch eine gleitende Betrachtungsweise aber werden die Unterschiede hinsichtlich der rechtlichen Grundlagen und jeweiligen Anwendungsvoraussetzungen verwischt, Beweiswürdigung und Beweislastfragen werden dadurch unglücklich miteinander vermengt.113 Dies geschieht ohne Not, denn die vergleichsweise unbestimmte Definition des groben Behandlungsfehlers belässt dem erkennenden Gericht genügend Spielraum bei der Anwendung der Beweislastregel im konkreten Fall.114 Zu begrüßen ist, dass der VI. Zivilsenat des BGH in einem Urteil vom 27. April 2004 der geübten Kritik Rechnung trägt und den „Beweiserleichterungen“ keine eigenständige Bedeutung mehr beimisst.115 Freilich lässt die nunmehr bei Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers regelmäßig vorgenommene Umkehr der 108 109
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BVerfG, NJW 1979, S. 1925. Musielak/M. Stadler, Grundfragen des Beweisrechts, Rdnr. 264; Leipold, Beweismaß und Beweislast im Zivilprozeß, S. 25; jeweils entschieden gegen die Ansicht von Walter Dunz, LM § 282 ZPO (Beweislast) Nr. 29, „dass die billige Anpassung der Beweislast nicht nach der Formel ‚Alles oder Nichts’ erfolgen muss, vielmehr hier stufenlose Übergänge möglich sind, deren Bemessung im wesentlichen in den Wertungsbereich des Tatrichters gehört“; krit. auch Rolf Stürner, Entwicklungstendenzen des zivilprozessualen Beweisrechts und Arzthaftungsprozeß, in: NJW 1979, S. 1225, 1230; HansJoachim Musielak, Hilfe bei Beweisschwierigkeiten im Zivilprozeß, in: Claus-Wilhelm Canaris (Hrsg.), 50 Jahre BGH, Festgabe aus der Wiss., Bd. 3, Köln 2000, S. 193, 211. Greger, in: Zöller, ZPO, vor § 284, Rdnr. 22. Prütting, in: MünchKomm-ZPO, § 286, Rdnr. 127. Vgl. nur Prütting, in: MünchKomm-ZPO, § 286, Rdnr. 6 ff. u. 91 ff.; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 286, Rdnr. 10 ff. und 25 ff.; Hans-W. Laumen, Die „Beweiserleichterung bis zur Beweislastumkehr“ – Ein beweisrechtliches Phänomen, in: NJW 2002, S. 3739, 3743. Prütting, in: MünchKomm-ZPO, § 286, Rdnr. 127; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, § 286, Rdnr. 130; Greger, in: Zöller, ZPO, vor § 284, Rdnr. 22; s. auch H. Weber, Der Kausalitätsbeweis im Zivilprozeß, S. 212 Note 15. Leipold, Beweismaß und Beweislast im Zivilprozeß, S. 25. BGHZ 159, S. 48, 55 f., unter Bezugnahme auf die Kritik von Leipold, Beweismaß und Beweislast im Zivilprozeß, S. 21, 26; Baumgärtel, Handbuch der Beweislast, § 823, Anh. C II, Rdnr. 3; Laumen, in: NJW 2002, S. 3739, 3741; Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 110, Rdnr. 3; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 468 f.
Verschärfung der Berufshaftung durch Beweisrecht – Der grobe Behandlungsfehler
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Beweislast als besonders scharfe Waffe des Rechts Eingrenzungs- und Legitimationsüberlegungen dringlicher denn je erscheinen, soll eine Haftungsausuferung vermieden werden.116
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Vgl. zu dem Urteil die Anmerkungen von Andreas Spickhoff, in: NJW 2004, S. 2345; Bernd-Rüdiger Kern, in: LMK 2005, 7; Christian Katzenmeier, in: JZ 2004, S. 1030.
Medizin zwischen Ethik, Recht und Vorbehalt des Möglichen Paul Kirchhof
I. Recht und Ethik Recht sucht Gerechtigkeit in verbindlichen Verhaltensregeln sichtbar zu machen, die Ideen des Friedens, der Menschenwürde, der Freiheit und Gleichheit, der Lebensgemeinschaften und Arbeitsteilung wirksam zu ordnen und damit dem Menschen eine vertraute und verlässliche Grundlage individueller und gemeinschaftlicher Entfaltung zu bieten. Das Recht bündelt die historisch gewachsenen Werte, Bedürfnisse und Erfahrungen in Verhaltensanforderungen, die in einer freiheitlichen Ordnung dem Menschen in seinem eigenen Lebensbereich Selbstbestimmung belassen und seinem bekundeten Willen Rechtsverbindlichkeit zusprechen. Insoweit sind Recht und Ethik aufeinander bezogen und angewiesen, mögen sie auch aus unterschiedlichen Erkenntnisquellen erwachsen und sich in ihren Inhalten unterscheiden1: Die Ethik definiert die Verantwortlichkeit des freien Menschen, das Recht die verbindlichen Regeln zur Entfaltung und Begrenzung der Freiheit. Freiheit ist eine vom Recht vorgefundene Eigenart des Menschen, wird aber erst durch staatliche Anerkennung und Ausstattung mit Rechtsfolgen zum Freiheitsrecht, dann aber auch in die Gemeinschaft der Freien eingebettet, also definiert, begrenzt. Ethik erwächst aus Gewissen und Lebenserfahrung, begründet innere Verbindlichkeiten und Verantwortungen, definiert die Gesamtheit der gesellschaftlichen, aus Religion, Philosophie und Lebensdeutung entstandenen sittlichen Verhaltenserwartungen2. Ethische innere Bindung entsteht aus Wertebewusstsein, das sich in der Gesellschaft entwickelt, bewährt und erneuert, von der Ethik sodann geformt und gefasst wird. Ethik bietet Orientierung für ein gerechtes und gutes Gemeinschaftsleben, legt dem Einzelnen Maßstäbe nahe, ohne sie verbindlich anzuordnen und zu erzwingen. Die Ethik der Wissenschaft deutet Aufgabe und Wirkungen des Wissenschaftlers im Gesamtgefüge des menschlichen, geistigen-kulturellen und gesellschaftlichen Lebens3 und entwickelt Verantwortungsmaßstäbe für den Ein1
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Grundsätzlich zu Recht und Ethik als zwei sich schneidende Kreise Peter Häberle, Ethik im Verfassungsstaat, in: Detlef Merten u. a. (Hrsg.), Der Verwaltungsstaat im Wandel, Festschrift für Franz Knöpfle, München 1996, S. 119, 121 ff. Wolfgang Trillhaas, Ethik, in: Roman Herzog u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, 1. Bd., 3. Aufl., Berlin 1970, Sp. 734. Franz Böckle, Wissenschaft und Ethos, 1984, in: Industrie-Club e. V. Düsseldorf (Hrsg.), Offenheit und Öffentlichkeit. Reden vor den Mitgliedern des Industrie-Clubs Düsseldorf e. V., Köln 2001, S. 326, 338 unter Verweis auf Emmerich Coreth, Zur ge-
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zelnen im Umgang mit sich selbst und in der Begegnung mit anderen. Während die Naturwissenschaft die Frage beantwortet, wie wir unsere Lebensbedingungen verbessern, Leben und Entwicklung des Menschen vor Gefährdungen und Risiken bewahren, vielleicht medizinisch und technisch veredeln können, sucht die Ethik nach Maßstäben, welche dieser Fähigkeiten wir anwenden und weiter wissenschaftlich fortentwickeln sollen. Recht hingegen begründet äußere, in der Autorität des staatlichen Rechtsetzers verbindliche Regeln, die in einem allgemeinen, veröffentlichten Text überbracht werden. Die Allgemeinheit der rechtlichen Regeln beansprucht formal die Allgemeinverbindlichkeit des Gesetzes, begründet materiell den verbindlichen Gestaltungsanspruch gegenüber jedermann, sucht rational das Gemeinwohl zu verwirklichen, Staat und Gesellschaft auf das bonum commune zu verpflichten. Das allgemeine Gesetz ist Ergebnis einer notwendigen Übereinstimmung aller Vernunftwesen (Kant), der kollektiven moralischen Anstrengung aller freien Staatsbürger (Rousseau), Ausdruck der gemeinsamen Absicht bei der Gesellschaftsgründung (Locke)4. Die materielle Allgemeinheit streitet für die menschenrechtliche Gleichheit, die formale Allgemeinheit eher für eine Zuständigkeit des Gesetzgebers, die aus der demokratischen beteiligten Allgemeinheit bei der Legitimation des Gesetzgebers und aus der Allgemeingeltung dem Gesetz Autorität und Geltungsanspruch verleiht. Dabei bringt der Gesetzgeber das Gesetzesrecht nicht in einer Ursprungslage der Rechtlosigkeit und ethischen Orientierungsarmut hervor, sondern als Organ des Verfassungsstaats auf der Grundlage einer geschriebenen Verfassung, dem Gedächtnis der modernen Demokratie, die in ihrem Text die Kontinuität erprobter Werte, bewährter Institutionen und gesicherter politischer Erfahrungen wahrt. Ethik begründet die innere Verantwortlichkeit, nicht die äußere Verbindlichkeit5. Der moderne Verfassungsstaat allerdings ist so optimistisch, seine Grundsatzregeln, insbesondere die Grundrechte, stets im Einklang mit der Ethik zu sehen. Auf dieser Grundlage gewährleistet er das Recht der Gewissensfreiheit, ohne ein prinzipielles Auseinanderbrechen individuellen Wollens und allgemeinen Sollens befürchten zu müssen. Er bindet die Staatsorgane an „Gesetz und Recht“ (Art. 20 Abs. 3 GG), sieht die Ethik als Entstehensquelle und das Gesetz als Erkenntnisquelle für Recht6 prinzipiell im Einklang.
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sellschaftlichen, rechtlichen, und philosophischen Debatte dieses Gegenstandes, Dietmar Mieth (Hrsg.), Ethik und Wissenschaft in Europa, Freiburg/Breisgau, München 2000. Hasso Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes, in: Christian Starck (Hrsg.), Die Allgemeinheit des Gesetzes, Göttingen 1987, S. 9, 33 f. Immanuel Kant, Einleitung in die Metaphysik der Sitten, III (Von der Einteilung einer Metaphysik der Sitten), Königsberg 1797. Zur Unterscheidung zwischen Rechtserzeugungs-, Rechtswertungs- und Rechtserkenntnisquellen Paul Kirchhof, Rechtsquellen und Grundgesetz, in: Christian Starck (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Festgabe aus Anlaß des 25jährigen Bestehens des Bundesverfassungsgerichts, 2. Bd., Tübingen 1976, S. 50, 53, vgl. bereits Alf Ross, Theorie der Rechtsquellen, Leipzig 1929, S. 291 ff.
Medizin zwischen Ethik, Recht und Vorbehalt des Möglichen
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Im modernen Verfassungsstaat ist die Ethik eine stetige Kontrollinstanz für die Entwicklung des Rechts, regt bei der immer wieder erneuerten Frage nach dem richtigen Recht den Gesetzgeber an, beunruhigt die rechtsetzenden Organe in einer prinzipiellen Wertediskussion, stellt dem geltenden Gesetz die Alternative des besseren Rechts gegenüber. Ethik erwächst aus der freiheitsberechtigten Gesellschaft, die ihre Freiheitsvorstellungen an den freiheitsverpflichteten Staat heranträgt. Diese Ausrichtung der Ethik auf die Gesellschaft und nur mittelbar auf den Staat hat zur Folge, dass die zu ethischen Aussagen berufenen Gremien, insbesondere die Ethik-Kommissionen dem Einfluss staatlicher Macht nicht unterworfen7, insbesondere nicht dem Bundeskanzler zugeordnet werden dürfen. Die Ethik erneuert und verbessert das Recht, festigt und fundiert das positive Gesetz aber auch in seinem Anspruch ethischer Richtigkeit. Recht wird auf Dauer nur überzeugen und damit Verbindlichkeit nur beanspruchen können, wenn das positive Recht den ethischen Grundsatzwertungen entspricht. Dieser Zusammenklang zwischen Recht und Ethik ist bei der Begründung der Menschenrechtskonvention der Vereinten Nationen 1948 verdrängt worden, als die Konvention im Bemühen um ethischweltanschauliche Neutralität unter der Voraussetzung beschlossen worden ist, dass „keiner fragt warum“8. Ein Verzicht auf die Begründung von Normen oder gar deren Unbegründbarkeit nimmt einer Regel letztlich ihre normative Kraft; sie wird ernsten Belastungsproben nicht standhalten. Die Menschenrechtskonvention und die modernen Verfassungen bedürfen einer ideengeschichtlichen und einer aktuellen ethischen Begründung. In einem freiheitlichen Staat kommt der Ethik aber vor allem die Aufgabe zu, die verfassungsrechtlichen Freiheitsangebote in Maßstäben zur Freiheitswahrnehmung zu ergänzen. Die Gewährleistung von Grundrechten kennt nur selten ausdrückliche, auf die Ethik verweisende Bindungen9. Den Freiheitsverbürgungen liegen jedoch vielfach ungeschriebene Voraussetzungen zugrunde, die rechtlich nicht garantiert und nicht zu garantieren sind10. 7
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Ähnlich Franz Böckle, Wissenschaft und Ethos, in: Industrie-Club e. V. Düsseldorf (Hrsg.), Offenheit und Öffentlichkeit. Reden vor den Mitgliedern des Industrie-Clubs Düsseldorf e. V., Köln 2001, S. 326, 339 („Eine Ethik-Kommission ist keine juristische Schiedsstelle. Sie ist eher eine Art Problematisierungsinstanz.“). Zitiert nach Walter Kasper, Die theologische Begründung der Menschenrechte, in: Dieter Schwab (Hrsg.), Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft, Festschrift für Paul Mikat, Berlin 1989, S. 99, 100. Siehe insbesondere die Sozialbindung des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG); hierzu Josef Isensee, Demokratischer Rechtsstaat und staatsfreie Ethik, in: Essener Gespräche, 11. Bd., (Münster 1977, S. 92, 104 ff.; ders., Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen an die Grundrechtsausübung, in: Josef Isensee, Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 5. Bd., 2. Aufl., Heidelberg 2000, § 115, Rdnr. 163 ff. Herbert Krüger, Verfassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Horst Ehmke u. a. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Scheuner, Berlin 1973, S. 285-306.; ErnstWolfgang Böckenförde, Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, in: ders. (Hrsg.), Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt/M. 1992, S. 2, 112; Paul Kirchhof,
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Wenn der Freiheitsberechtigte das Angebot von Ehe und Familie annehmen oder ausschlagen darf, der freiheitliche Staat aber darauf angewiesen ist, dass die Mehrzahl der Menschen ihren Willen zum Kind betätigt und damit der Rechtsgemeinschaft ihre Zukunft in einer freiheitsfähigen Jugend sichert; wenn der Kulturstaat erwartet, dass die Menschen aus sich heraus sich für die Wissenschaft anstrengen, in der Kunst das Schöne in Formen ausdrücken, religiös immer wieder die Frage nach dem Unerforschlichen stellen, braucht dieser Staat eine innere, zur freiheitsbewussten Gestaltung drängende und durch langfristige Freiheitswahrnehmung gefestigte Bindung der Freiheitsberechtigten, will er nicht sein Gesicht und seine Sprache verlieren11. Und wenn die Demokratie ein Wahlrecht, keine Wahlpflicht begründet, bei mangelnder Wahlbeteiligung aber an dieser ihrer Freiheitlichkeit zugrunde ginge, baut auch das demokratische Prinzip darauf, dass die Bürger aus sich heraus Zugehörigkeit, Gemeinschaftsverantwortlichkeit, Gemeinwohlorientierung mitbringen12. Deshalb ist eine freiheitliche Demokratie nur als Staatsform von Hochkulturen geeignet, in der die Menschen ethische Bindungen empfinden, praktizieren und verlässlich in die Zukunft weitergeben, in der Freiheitsausübung auch eine moralische Vergewisserung und Verantwortlichkeit13 bedeutet. Freiheitsrechte gewinnen erst durch die innerliche ethische Ausrichtung der Freiheitsberechtigten, durch ihre Wahrnehmung in sittlicher Selbstverantwortung gestaltende Kraft. Ethische Verantwortlichkeit bewährt sich in der Begegnung mit den Mitmenschen, aber auch in einer Gesamtverantwortung für alle Menschen in Raum14 und Zeit15, also in ihrem Einfluss auf die Strukturen der menschlichen Lebensbedingungen. Die moderne Ethik befasst sich deshalb zu Recht zunehmend mit der Frage, ob gegenwärtig die Wirtschaftsordnung zur Gesellschaftsordnung zu werden droht, ob die Grundsatzphilosophie in einzelnen „Unternehmensphilosophien“ verkümmert, ob der „Generationenvertrag“ – der Schutz der Natur, die Sicherung von Bildung und Ausbildung, die weltpolitische Verteilungsgerechtigkeit, der Abbau der Überschuldung zu Lasten der nächsten Generation, der Schutz der Fami-
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Grundrechtsinhalte und Grundrechtsvoraussetzungen, in: Detlef Merten, Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, 1. Bd., Heidelberg 2004, § 21, S. 807 ff. Zum Angebotscharakter der Grundrechtsgewährleistungen Paul Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat – die Staatsform der Zugehörigen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 9. Bd., Heidelberg 1997, § 221, Rdnr. 59 ff, S. 957 ff. Paul Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat – die Staatsform der Zugehörigen, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 9. Bd., Heidelberg 1997, § 221. Walter Schmitt Glaeser, Ethik und Wirklichkeitsbezug des freiheitlichen Verfassungsstaates, Berlin 1999, S. 28. Hans Küng, Projekt Weltethos, München 1990; auch Hans Küng, Karl-Josef Kuschel (Hrsg.), Wissenschaft und Weltethos, München 1998. Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, Frankfurt/M. 1979; John Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, Berlin 1975; mit Blick auf die Genetik Harald zur Hausen, Gen-Ethik, in: ders., Genom und Glaube, Berlin, Heidelberg 2002, S. 159, 170 f.
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lien – sachgerecht entwickelt wird. Auch in der gegenwärtigen Diskussion über die Genforschung schützt die Ethik und insoweit die verfassungsrechtliche Garantie der Menschenwürde als „Fenster zur Ethik“ die Menschheit in dem einzelnen Menschen. Wenn nicht nur individuelles menschliches Leben zu schützen, sondern auch die Frage nach der Erzeugung von Schimären oder Hybriden zu beantworten ist, so muss sich die Idee der Menschenwürde in Ethik und Recht in überindividueller Wirksamkeit entfalten. Sittliche Freiheit bewährt sich hier auch im Dienst für zukünftige Generationen16. Adolf Laufs ist ein Wissenschaftler, der sich mit der Macht seines Wortes und der Gestaltungskraft seines Arguments der Aufgabe widmet, den Zusammenhalt von Recht und Ethik zu bewahren und zu stärken. Als Rechtshistoriker und Germanist versteht er das Recht in seiner Entwicklung, als brillanter Lehrer vermittelt er seinen Studenten das Recht in seinen Grundwertungen, seinem System und seinem ethischen Anspruch, als ein bedeutender Rektor der Heidelberger Universität hat er Forschungs- und Lehrfreiheit stets auch als Forschungs- und Lehrverantwortlichkeit eingefordert, als Mitglied einer medizinischen Ethik-Kommission die praktischen Erwartungen an Forschung und medizinisches Heilen prinzipientreu gegenwartsgerecht fortentwickelt und bewusst gemacht. Ich erlebe Adolf Laufs als Fakultätskollegen und in der gemeinsamen Mitgliedschaft der Heidelberger Akademie der Wissenschaften immer wieder als eloquenten und bedachten Streiter für ein ethisch fundiertes Recht. In seinem Handbuch des Arztrechts entwickelt Adolf Laufs die Rechtsmaßstäbe für ärztliches Heilen und Forschen, in denen Recht und Ethik im Gleichklang zur Wirkung kommen.
II. Der Auftrag des Arztes Seit Alters gründet – so beginnt Adolf Laufs sein Handbuch des Arztrechts17 – die Idee des Arztes auf Wissenschaft und Humanität. „Naturwissenschaftliche Erkenntnis und Nächstenliebe leiten den berufenen Arzt gleichermaßen. Nüchternes Wissen und technisches Können dürfen ihn nie die Würde des selbst entscheidenden Kranken und den unersetzlichen Wert jedes einzelnen Menschen vergessen lassen.“ Ärztliches Handeln rechtfertige sich aus drei Grundvoraussetzungen: Erstens die ärztliche Indikation, wonach der berufliche Heilauftrag die vorgesehene Maßnahme gebietet. Zweitens das Einverständnis des aufgeklärten Patienten, wobei das Einverständnis unter strengen Voraussetzungen durch dessen mutmaßliche Einwilligung oder die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters oder Pflegers ersetzt werden kann. Drittens schließlich hat der Arzt beim Vollzug seines Eingriffs
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Franz Böckle, Wissenschaft und Ethos, in: Industrie-Club e.V. Düsseldorf (Hrsg.), Offenheit und Öffentlichkeit. Reden vor den Mitgliedern des Industrie-Clubs Düsseldorf e.V., Köln 2001, S. 326, 341. Adolf Laufs, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, § 1 Rdnr. 1.
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den fachlichen Regeln und wachsenden Sorgfaltspflichten zu genügen, dieses auch zu dokumentieren18. Der Auftrag des Arztes liegt also im Heilen, im Lindern von Schmerzen, in der Wiederherstellung verminderter oder schwindender Körperfunktionen. Auch der Arzt achtet den Menschen in seiner vorgefundenen Körperlichkeit und Psyche; nur deren Abweichen von der Normalität (Krankheit)19 oder alters- und entwicklungsbedingte Funktionsminderungen, etwa der Sehkraft oder des Gehörs, begründen den ärztlichen Auftrag. Der Arzt hat den einzelnen Menschen nicht nach gesellschaftlichen und zeitbestimmten Maßstäben zu verändern, sondern in der vorgefundenen Normalität zu bestärken. Deshalb ist der Auftrag des Arztes und seine Eingriffsbefugnis wesentlich bestimmt vom Bild des Menschen. Der Arzt widmet sich dem einzelnen Menschen und wird an dessen Behandlung gemessen. Dabei stützt er sich allerdings auf das Wissen, die Erfahrung und Methoden der Medizin, muss grundsätzlich mit den Fortschritten der medizinischen Forschung und Praxis mitschreiten. „Medizinischer Fortschritt beruht auf Forschung, die sich letztlich zum Teil auch auf Versuche am Menschen stützen muss“, so sagt es die revidierte Deklaration des Weltärztebundes von Helsinki im Oktober 200020. Ein Arzt, der einen Menschen heilen, ein Forscher, der mehr über den Körper des Menschen wissen will, muss in die Körperintegrität eines anderen eingreifen, dabei teilweise Mächtigkeit über Leben und Tod übernehmen. Das Recht formt diese Macht von Arzt und Forscher zur Verantwortlichkeit und stemmt sich gegen ein Herrschaftsverhältnis. Es macht die medizinische Behandlungsbefugnis von der Einwilligung des Betroffenen abhängig, bindet jeden medizinischen Eingriff in dem rechtlichen Fünfklang von Indikation, Aufklärung, Einverständnis, Eingriff lege artis und Dokumentation. Dabei dient der Heilversuch stets dem Schutz des individuellen Lebens, der Heilung des einzelnen Menschen, der Linderung seiner Schmerzen oder der Erhaltung und Verbesserung seiner Körperfunktionen. Tritt neben den dem einzelnen Menschen dienenden Heilversuch, der nach gesicherten wissenschaftlichen Standards vollzogen wird, das wissenschaftliche Experiment, bei dem neue Methoden und Verfahren erprobt werden, um die Standards zu verbessern21, so wird der einzelne Patient einer gesteigerten Risikolage ausgesetzt, um die Fortschritte der Wissenschaft im Dienst zukünftiger Patienten möglich zu machen. Das Heilexperiment kann schon den beteiligten Patienten zugute kommen, wird aber einen Erkenntnisfortschritt vor allem für nachfolgende Patienten erbringen. Es bedarf deshalb klarer Maßstäbe zur Risikobegrenzung und angemessener Erkenntnischance, setzt auch eine besondere Einwilligung zur Mitwirkung an dem Forschungsvorhaben und Duldung des Forschungsexperiments 18 19
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Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 6 Rdnr. 1. Zum Krankheitsbegriff Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 1 Rdnr. 9 ff. Revidierte Deklaration des Weltärztebundes von Helsinki vom Oktober 2000, Ethische Grundsätze für die medizinische Forschung am Menschen, in: NJW 2001, S. 17741776, Abschnitt A Textziffer 4. Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 65 Rdnr. 5 f.
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voraus. Dieser strikte Rechtsmaßstab bewahrt vor Maßstabslosigkeit und damit vor Maßlosigkeit. Darüber hinaus sprengen die Erfordernisse moderner Medizin das Individualrechtsverhältnis zwischen Arzt und Patienten, wenn die Heilung eines Patienten auf die Mitwirkung anderer Menschen angewiesen ist. Hier begründet die Erwartung des Patienten auf Heilung nicht Herrschaft über die Körperintegrität eines anderen Menschen; nur ethische Prinzipien können den anderen zu Mitwirkung und Verzicht veranlassen. Wenn das Recht der Organtransplantation zu Recht eine Organentnahme nur bei Einwilligung des Spenders erlaubt, kann allein eine ethisch fundierte Spendebereitschaft den kranken Menschen helfen. Das Recht respektiert die Freiheit jedes Einzelnen; die Ethik verweist den Menschen zugleich auf die Auseinandersetzung mit der begrenzten Zeit des Lebens, auf Zuwendung und Verantwortlichkeit für andere, auf das Gebot einer Solidarität von Spendern und Spendenempfängern. Da nun aber tatsächlich nur wenige Menschen zu einer Spende bereit sind, sucht das deutsche Recht die zu geringe Zahl der ausdrücklichen Bereitschaftserklärungen durch einen unterstellten mutmaßlichen Willen wesentlich zu erweitern und verletzt damit das Freiheitsprinzip. Wenn das Recht den mutmaßlichen Willen maßgeblich sein lässt und dabei den Hinterbliebenen Wissens- und Erklärungslasten aufbürdet, letztlich aber eine nicht erklärte Einwilligung unterstellt, baut das Recht bewusst auf unbegründete Mutmaßungen. Wenn das österreichische Recht sogar Schweigen als Zustimmung deutet, verfehlt es gänzlich die Rechtswirklichkeit. Diese gesetzliche Unterstellung eines Willens, der ethisch nicht gepflegt wird und deshalb nicht vorhanden ist, macht nochmals exemplarisch deutlich, dass eine freiheitliche Ordnung auf einen ethisch begründeten Zusammenhalt, auf mitmenschliche Verantwortlichkeit und demokratische Zugehörigkeit angelegt und angewiesen ist. Die Struktur des freiheitlichen Staates aber wird durch die langfristig wahrgenommenen Freiheiten geprägt: Der Mensch übernimmt in seinem Lebensberuf fortdauernde Verantwortung für die Mitmenschen, schafft mit einer Firmengründung eine von ihm verantwortete Institution für Arbeitnehmer, Kunden und Lieferanten, tritt in Ehe und Familie in eine lebenslängliche Verantwortung für andere ein, trägt als Staatsangehöriger oder Mitglied einer Kirche zum Gelingen dieser Gemeinschaft nachhaltig bei. Bei diesen großen Zukunftsfreiheiten erwartet die Verfassung die Fähigkeit des Einzelnen, seine Freiheit zur langfristigen Bindung wahrzunehmen. Diese Freiheitskonzeption gelingt nur auf ethischem Fundament.
III. Das Menschenbild des Grundgesetzes Wenn die Frage zu entscheiden ist, ob der einzelne Mensch über seine Normalität hinaus verändert werden darf, etwa eine Schönheitsoperation vorgenommen oder die Leistungsfähigkeit durch Doping gesteigert werden soll; ob das menschliche Leben beim Ungeborenen zerstört oder beim Schwerkranken beschleunigt beendet
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werden darf, ob das medizinische Forschungsstreben den einzelnen Menschen in seinen Dienst stellen darf, ob Heilungschancen genetische Eingriffe und Reproduktionen zu rechtfertigen vermögen, inwieweit der Wille des Patienten zur Selbstheilung und zur Duldung medizinischer Eingriffe erheblich ist, und wann ein Dritter für die Heilung eines anderen Menschen belastet werden darf, braucht der Verfassungsstaat ein klares Bild vom Menschen, der in seiner Existenz, seiner Würde und Freiheit zu schützen ist. Das Grundgesetz, das Gedächtnis der Demokratie, beginnt mit der Garantie der unantastbaren Würde des Menschen, die zu beachten und zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist. Das deutsche Volk „bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt“ (Art. 1 Abs. 1 und Abs. 2 GG). Diese Gewährleistung macht bewusst, dass die Menschenwürde vorgegebene Ausgangsnorm, gleichsam juristisches Axiom eines Verfassungskonzeptes ist, das letztlich nicht begründet oder widerlegt, sondern nur in der Kontinuität der philosophischen, ethischen und rechtlichen Überlieferung22 verstanden und gehandhabt werden kann. In der Vorstellung des würdebegabten, deshalb in seiner Individualität und Personalität zu schützenden Menschen verdichtet sich Jahrtausende alte Kulturerfahrung in einem Elementarprinzip, stützt sich dabei vor allem auf die christliche Idee der Ebenbildlichkeit Gottes und auf die humanistisch-aufklärerische Vorstellung der mit Verstand begabten, zur selbstbestimmten Zwecksetzung befähigten Person. Diese Denkweisen finden ihre Mitte im abendländischen, also im christlich geprägten Menschenbild. Der Ausgangs- und Basistatbestand des Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ ist zunächst eine Feststellung, die Vorgefundenes und Vorgegebenes anerkennt, dann aber auch ein Rechtssatz, der für die Begegnung von Menschen die Achtung und den Schutz der Menschenwürde verbindlich fordert. Der Mensch ist, weil er existiert und wie er existiert, in der Rechtsgemeinschaft willkommen, gehört ihr als Berechtigter an, als zur Freiheit befähigte, seine eigenen Angelegenheiten selbst gestaltende Person, wird rechtlich in dieser seiner Entwicklung als Mensch geachtet und geschützt. Das Verfassungsrecht nimmt den Menschen so, wie er ist. Der Staat darf nicht einen Tatbestand des „richtigen“ oder „besseren“ Menschen definieren. Wenn das Grundgesetz die Menschenwürde gewährleistet, begründet es einen Sollenssatz, der sich in Konflikten unter Menschen zu bewähren hat. Eine bloße Selbstverständlichkeit wird nicht in den Verfassungstext aufgenommen. Das Recht, die Luft zu atmen, den Wald zu betreten oder in die Sterne zu schauen, bedarf keiner Regelung, weil das Atmen jedes Menschen selbstverständlich, das Betreten des Waldes historisch gewachsenes Recht, der freie Blick in das Firmament allgemein anerkannt ist. Erst wenn die Umweltverschmutzung uns die Luft zum 22
Vgl. im Einzelnen Christian Starck, in: Hermann v. Mangoldt, Friedrich Klein, Christian Starck (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, Kommentar, 1. Bd., 4. Aufl., München 1999, S. 58 ff.; Peter Häberle, Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Bd., Heidelberg 2004, § 22 Rdnr. 5 f., 84 f.
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Atmen nimmt, das Reiten im Walde gesetzlich beschränkt23, der freie Blick durch staatliche Straf- oder Zwangsmaßnahmen behindert wird, bedarf es der rechtlichen Regelung. Eine Verfassung, deren Basis- und Ausgangsnorm die Würde des Menschen garantiert, ist sich deren Gefährdung bewusst und will sie mit den Mitteln des Rechts stärken, durchsetzen und verteidigen. Sobald die Menschenwürde Gegenstand einer Rechtsgarantie ist, wird die Würde in der Begegnung mit anderen Menschen geschützt. Recht kennt immer einen Berechtigten und einen Verpflichteten, meint deshalb nicht den allein auf einer Insel lebenden Robinson Crusoe, sondern die Ordnung unter Menschen, die sich begegnen, sich miteinander auseinandersetzen, Konflikte austragen und schlichten. Darüber hinaus versteht das Grundgesetz den Menschen auch in der inhaltlichen Aussage der Menschenwürde, in der Zugehörigkeit zu einer Rechtsgemeinschaft, in der jeder Mensch in die Gemeinschaft eingebettet ist, von ihr getragen wird, aber auch auf die Gemeinschaft hin lebt. Das Menschenbild des Grundgesetzes ist deshalb „nicht das eines isolierten souveränen Individuums“; das Grundgesetz hat vielmehr „die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Personen entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten“24. Das Grundgesetz folgert deshalb aus der Menschenwürde nicht auf die Freiheit des einzelnen Menschen, sondern auf dessen Freiheitsrecht, versteht die individuelle Freiheit also als Teil der Gesamtrechtsordnung und gestaltet die freiheitliche Demokratie als Staatsform der Zugehörigen aus25. Allerdings lebt dieser Mensch nicht notwendig und ungeteilt in Gemeinschaften, empfängt nicht mehr allein als Glied dieser Gemeinschaft sein Recht, das durch Bindungen dieses Zusammenhalts geprägt wäre, sondern beansprucht Freiheit vom Staat. Historisch liegt dem vor allem das Anliegen der Menschen zugrunde, sich nach den Erfahrungen übermäßiger Besteuerung, willkürlicher Verhaftung und Zwangsrekrutierung, religiöser Unterdrückung26 aus der bisherigen Gemeinschaft und den bestehenden Abhängigkeiten zu lösen, durch Emigration Dienst- und Vasallenpflichten hinter sich zu lassen. So entwickelte sich der rechtlich freie und in der Ausgangschance gleiche, erwerbstätige und kapitalbildende, sich selbst ernährende und entfaltende Mensch zum Leitbild des Rechts. Das Recht einer Person war „die der einzelnen Person zustehende Macht: Ein Gebiet, worin ihr Wille herrscht, und mit unserer Einstimmung herrscht“27.
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BVerfGE 80, S. 137 ff. BVerfGE 4, S. 7, 15 f. Paul Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat – die Staatsform der Zugehörigen, in: Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 9. Bd., Heidelberg 1997, § 221. Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 4. Aufl., München 1927, S. 46 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Vom Wandel des Menschenbildes im Recht, Münster 2001, S. 8. Friedrich Carl von Savigny, System des heutigen römischen Rechts, 1. Bd., Darmstadt 1840, § 4, S. 7.
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Der neu zu begründende deutsche Verfassungsstaat wollte ursprünglich mit dem Satz beginnen: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“28. Diese eher organisationsrechtliche Perspektive ist dann durch eine Ausrichtung der gesamten Verfassung auf den einzelnen Menschen ersetzt worden, dessen Würde „unantastbar“ ist, also Geltung gegenüber jedermann beansprucht, nicht eingeschränkt werden darf und auch nicht zur Verfügung des Berechtigten steht29. Diese umfassende und verlässliche, auch durch Verfassungsänderung nicht aufhebbare (Art. 79 Abs. 3 GG) Garantie der Würde sichert dem einzelnen Menschen die selbstbestimmte Verantwortlichkeit, garantiert ihm Gleichheit in der Fähigkeit zur Freiheit und im schöpferischen Entfaltungsvermögen, sichert den Eigenwert des Menschen als Person, allein weil er existiert und unabhängig von seiner Nützlichkeit und einer Inzwecknahme, bettet den Einzelnen in eine Gemeinschaft des Achtens und Schützens ein. Die Art. 1 und 2 GG garantieren im Dreiklang der Tatbestände Mensch, Person und Persönlichkeit30 den gleichen Basisstatus aller Menschen in einer schützenden und friedensichernden Ordnung. Der „Mensch“ fordert Achtung und Schutz für jedes Individuum in seiner jeweiligen Existenz. Die „Person“ beansprucht Teilhabe an Gesellschaft und Rechtsverkehr; bestimmt sich selbst vor anderen durch die Maske, griechisch prosopon, lateinisch persona, durch die ein Schauspieler seine Rolle vor dem Publikum spricht31. Die „Persönlichkeit“ ist der zur Sittlichkeit und verantwortlichen Selbstbestimmung fähige Mensch32.
IV. Der Schutz des Lebens Das Basisprinzip der Menschenwürde und ihre gemeinschaftsbezogene Ausprägung in der Freiheit von Person und Persönlichkeit wirken exemplarisch in dem Regelungsgehalt der Würdegarantie (Art. 1 GG) und des Rechts auf Leben (Art. 2 Abs. 2 GG) zusammen, ohne das der Mensch nicht in Würde existieren kann. „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu“33. Diese Verbindung von Würde- und Lebensschutz untersagt dem Staat nicht nur unmittelbare Eingriffe in das Leben, sondern verlangt vom Staat, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen, es vor allem auch vor rechtswidrigen Eingriffen ande28
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Bericht über den Verfassungskonvent von Herrenchiemsee vom 10.-23. August 1948, o. J., S. 61. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 29 ff. m.w.N. Vgl. Hans Hattenhauer, „Person“ – Zur Geschichte eines Begriffs, in: JuS 1982, S. 405 ff. Thomas v. Aquin, IN I Sent., d. 23, q. I, a I. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, in: Kants Werke, herausgegeben von der königlich-preußischen Akademie der Wissenschaften, 5. Bd., Berlin 1913, S. 1, 1, 3, 71 ff.; Otto von Gierke, Deutsches Privatrecht, 1. Bd., Leipzig 1895, S. 702. BVerfGE 88, S. 203, 252; vgl. auch 39, S. 1, 41.
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rer zu bewahren34. Ihren Grund und ihren Elementarmaßstab hat diese Schutzpflicht in Art. 1 Abs. 1 GG; ihr Gegenstand und ihr Maß werden durch Art. 2 Abs. 2 GG näher bestimmt. Mit der Verankerung in Art. 1 GG wird der Lebensschutz in diese Ausgangs- und Richtungsnorm der gesamten Verfassung einbezogen, ohne deren Anerkennung die Verfassung ihre Basis verliert, die selbst durch den verfassungsändernden Gesetzgeber nicht abgeändert werden könnte (Art. 79 Abs. 3 GG). Ihren näheren Maßstab gewinnt diese Schutzpflicht durch Art. 2 Abs. 2 GG, wenn der Teilinhalt des Lebens betroffen und dieses auf andere Rechtspositionen abzustimmen ist. Dieses Abwägen und Ausgleichen zwischen Lebensrecht und anderen Rechtspositionen je nach dem Ziel menschlichen Handelns ist geläufig, insbesondere für Notwehr und Nothilfelagen, für den Kriegsfall, aber auch für staatliche Einrichtungen wie die Straßen, auf denen täglich Menschen fahrlässig getötet werden. Der Gesetzesvorbehalt des Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG betrifft das Recht auf Leben, nicht dessen Ursprung, die Menschenwürde. Er kann einen – würdebewussten – Ausgleich mit anderen Verfassungsgewährleistungen fordern. Die Regel, dass die unantastbare Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG) erst in den „nachfolgenden Grundrechten“ (Art. 1 Abs. 3 GG) ihre Ausprägung und konkrete Bedeutung gewinnt, wird in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ständig praktiziert. Der Schutz von Privat- und Intimsphäre35, das strafrechtliche Schuldprinzip36, die Unschuldsvermutung37 und das Verbot eines Zwangs zur Selbstbezichtigung38, der Anspruch des Straftäters auf Resozialisierung39, das Recht auf Kenntnis der eigenen Abstammung40, das Recht am eigenen Namen41, Bild42 und Wort43, das Grundrecht auf Datenschutz44, der Schutz der persönlichen Ehre45, das Recht auf schuldenfreien Eintritt in die Volljährigkeit46, die Gewährleistung einer menschenwürdigen Existenz47, auch der körperlichen wie geistig-seelischen Identität und Integrität48 haben ihre Wurzel jeweils in Art. 1 GG, finden ihre Verdeutlichung und ihre Anwendungsbedingungen im Einzelnen aber in einem besonderen Freiheitsrecht. Der verfassungsrechtliche Schutz des Lebens hatte sich in besonderer Weise beim ungeborenen menschlichen Leben zu bewähren. Dieses ist zwar schon ein individuelles, in seiner genetischen Identität und damit in seiner Einmaligkeit und 34 35 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48
BVerfGE 39, S. 1, 42; 88, S. 203, 251. BVerfGE 6, S. 32, 41; 38, S. 312, 320. BVerfGE 20, S. 323, 331; 45, S. 187, 259 f. BVerfGE 74, S. 358, 370 ff.; 82, S. 106, 114 f. BVerfGE 38, S. 105, 114 f.; 56, S. 37, 41 ff.; 95, S. 220, 241. BVerfGE 35, S. 202, 235 f. BVerfGE 90, S. 263, 270 f.; 96, S. 56, 63. BVerfGE 78, S. 38, 49. BVerfGE 35, S. 202, 220; BVerfG, NJW 2000, S. 1021, 1022. BVerfGE 54, S. 148, 155. BVerfGE 65, S. 1, 42 ff. BVerfGE 54, S. 208, 217 f. BVerfGE 72, S. 155, 170 ff. BVerfGE 82, S. 60, 85; 99, S. 246, 259 ff. BVerfGE 56, S. 54, 75.
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Unverwechselbarkeit bereits festgelegtes, nicht mehr teilbares Leben49, ist aber im Prozess des Wachsens und Sich-Entfaltens als Mensch auf die treuhänderische Wahrnehmung seiner Rechte durch andere angewiesen. Der nasciturus ist in seiner individuellen Menschenwürde geschützt und hat ein individuelles Recht auf Leben, kann dieses aber in Staat und Gesellschaft nicht selbst ausüben, sondern ist seiner Mutter anvertraut, die während der Schwangerschaft mit ihrem Kind eine „Zweiheit in Einheit“ bildet. Wird eine zur Tötung bereite Mutter zum Gegner ihres Kindes, muss die Rechtsgemeinschaft alle Anstrengungen unternehmen, um das grundsätzliche Verbot des Schwangerschaftsabbruchs und die korrespondierende grundsätzliche Pflicht zum Austragen des Kindes50 tatsächlich zur Wirkung zu bringen. Die Mutter muss das Kind austragen, die Rechtsgemeinschaft das Kind mittragen. Seit der In-vitro-Befruchtung findet die Rechtsordnung nun auch Frühformen menschlichen Lebens vor, bei denen sich die Verpflichtung, die Würde des Menschen „zu achten“, zwar auf eine vorgefundene, von der Mutter durch Hinnahme von strapaziösen Behandlungen begründete elterliche Beziehung des Hoffens und Bangens stützen kann, die weitere Entwicklung des Embryos aber von einer willentlich vollzogenen Einnistung abhängt. In diesem Frühstadium von Leben und Familie muss das Recht vorsorgen, dass sich die Entwicklung des Menschen im natürlichen Ablauf wie im willentlichen Handeln möglichst parallel in den Bindungen einer Elternschaft vollzieht. Der Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens kommt ihm jedenfalls seit der Nidation zu, weil „es sich bei dem ungeborenen um individuelles, bereits festgelegtes Leben“ handelt, das sich nicht erst zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt51. Die Gentechnik verlangt nunmehr auch eine Antwort auf die Frage, ob bereits mit der Verschmelzung von Ei- und Samenzelle der verfassungsrechtliche Schutz eingreift, ob also zwar weder dem männlichen Samen noch der weiblichen Eizelle Menschenwürde zukommt52, die befruchtete Eizelle – nach Verschmelzung der Zellkerne – aber schon menschliches Leben begründet und damit der verfassungsrechtliche Schutz beginnt. Wenn wir die Wirklichkeit wissend begreifen und den verfassungsrechtlichen Schutz auf jedes Entwicklungsstadium individuellen Lebens erstrecken, erfasst der Lebensschutz bereits das befruchtete Ei, mit dem die Entwicklung des Menschen in seiner abschließenden genetischen Prägung und der dadurch begründeten Individualität beginnt53. Mit der Befruchtung ist die Individualität begründet und ein
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BVerfGE 88, S. 203, 251 f.; 39, S. 1, 37. BVerfGE 88, S. 203, 253. Vgl. BVerfGE 39, S. 1, 37; 88, S. 203, 252. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 17 f.; Hans Dreier, in: ders., Grundgesetz, Kommentar, 1. Bd., München 1996, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 58. Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Das Bonner Grundgesetz, Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 18; Michael Herdegen, Die Menschenwürde im Fluss des bioethischen Diskurses, in: JZ 2001, S. 773, 774; Dieter Lorenz, Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, in:
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stetiger Entwicklungsprozess des Lebens begonnen. Mag dieses extrakorporal erzeugte Leben zur Begründung einer Schwangerschaft, zur Gewinnung von Material für eine diagnostische oder therapeutische Verwendung, für eine Nutzung zu Forschungszwecken geschaffen sein, mag der Embryo als Nebenprodukt einer lege artis durchgeführten Maßnahme künstlicher Reproduktion entstanden sein, mag seine Existenz auf rechtmäßiges oder rechtswidriges Verhalten zurückzuführen sein, stets trägt dieses existente menschliche Leben objektiv die Anlage in sich, sich als Mensch zu entwickeln. Deshalb greift hier der grundrechtliche Lebensschutz ein. Spräche man dem Embryo den Schutz der Menschwürde ab, weil er nicht über Ich-Bewusstsein, Vernunft, Fähigkeit zur Selbstbestimmung verfügt54, so müsste auch der nicht zur eigenverantwortlichen Lebensgestaltung fähige Geborene – etwa der Säugling oder der Geisteskranke – seine Würde verlieren. Dieser Embryo ist verfassungsrechtlich im Recht auf Leben geschützt, aber ohne weitere willentliche Akte der Ärzte und der Frau nicht auf den natürlichen Weg zum Leben gebracht. Nur wenn es Ethik und Rechtsordnung gelingt, den Embryo verlässlich zur Nidation zu bestimmen, gewinnt das Lebensrecht Realität. Der Embryonenschutz sucht den Embryo seiner Mutter zuzuordnen und dadurch das Recht zur Geburt zu stärken, vertraut das Kind dem besonderen Schutz durch seine Mutter an, ohne diese aber zur Nidation zu zwingen. Die Rechtsordnung hat hier so weit als möglich sicherzustellen, dass dieses Recht zum Leben, eingebettet in das Recht zur Familie, sich tatsächlich verwirklicht. Deshalb muss das Recht gewährleisten, dass eine befruchtete Eizelle grundsätzlich nur in dieser familiären Nähe, in der Bereitschaft der Eltern für eine Elternschaft entsteht. Existiert dennoch ein Embryo ohne Mutter, ist die Frage zu beantworten, ob er ohne tatsächliche Chance zum Leben aufbewahrt, vernichtet, Heil- und Forschungszwecken gewidmet werden darf oder muss.
V. Das Schutzgut „Gesundheit“ Ist die menschliche Existenz und die Identität des Menschen grundsätzlich gesichert, hat nach Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG jeder das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Dieses Grundrecht wehrt prinzipiell staatliche Eingriffe ab, sichert die Integrität des Menschen in Distanz zum Staat, meint aber in dem daseinssichernden und daseinsbegleitenden Sozialstaat, in dem niemand in Freiheit verhungert oder medizinisch verkümmert, auch ein „Recht auf Gesundheit“. Dieses Recht allerdings ist in seinem Gegenstand wie in seiner Rechtsfolge eher Rechtswertungsquelle als Rechtserkenntnisquelle. Es hat nicht nur den Arzt oder den Staat zum Adressaten, sondern hängt von Umwelt und Kultur, Berufsethos und Forschungsstand, Organisations- und Finanzkraft der Rechtsgemeinschaft ab.
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Isensee/Kirchhof, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 6. Bd., Heidelberg 1989, § 128 Rdnr. 21. So Dreier, in: ders., Grundgesetz, Kommentar, 1. Bd., Art. 1 Abs. 1 Rdnr. 50.
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1. Das „Recht auf Gesundheit“ Wenn wir von „Gesundheit“ sprechen, wissen wir nicht präzise, was Gesundheit ist55. Bei der Gesundheit verhält es sich ähnlich wie bei der Gerechtigkeit: Wer sie erlebt, nimmt sie für selbstverständlich. Fehlt sie ihm jedoch, sehnt er sich nach ihr. Der Arzt kann gut definieren, was eine Krankheit ist; die positive Definition von Gesundheit jedoch fällt ihm schwer. Ebenso kann der Jurist verlässlich erkennen, was Unrecht ist, tut sich aber schwer, allgemein auszudrücken, was Recht ist. Wenn wir sodann bei der Gesundheit nicht nur voraussetzen, dass die Elementarfunktion des Körpers erhalten sowie Krankheit und Schmerz beseitigt werden, sondern auch erwarten, dass die Normalwirkungen des Alterns abgefangen, beispielsweise durch Seh- und Hörhilfen oder durch eine neue Hüfte vermindert werden, so wird bereits in der Zielprojektion des Rechts auf Gesundheit bewusst, dass eine Ungewissheit auszuräumen ist. Der Anspruch auf Gesundheit drängt – wie alle verfassungsrechtlichen Leistungs- und Teilhabeansprüche – auf Gleichheit. Idealtypisch hat jeder Mensch in seiner Würde und Freiheit den gleichen Anspruch auf Gesundheit. Dieser Gleichheitssatz trifft allerdings auf die Realität, dass die Menschen unterschiedlich gesund sind, sie in gesunden oder schädigenden Umwelt- und Arbeitsbedingungen leben und sie auf unterschiedliche Ärzte und Medikamente treffen, die ihre Gesundheit wiederherstellen können. Diese Unterschiede kann ein Staat, insbesondere ein freiheitlicher Staat vermindern, aber nicht beseitigen. Deshalb ist die These vom individuellen Recht auf Gesundheit staatsrechtlich eher ein Auftrag als ein gesicherter Befund. Wenn wir wissen, dass jeder nicht die gleiche Leistung entgegennehmen kann, fragen wir nach Verteilungsmaßstäben und Verteilungsverfahren, die diese Auswahl möglichst gerecht treffen. Dabei gibt es zwei Alternativen: Die Marktwirtschaft, in der ein Anbieter sich einen Nachfrager sucht, der ihm einen angemessenen Preis zahlt. Dieses Verteilungssystem hat sich im Wirtschaftsleben bewährt, um individuelle Bedürfnisse zu erkunden und zu befriedigen. Das zweite Verfahren ist das demokratische: Der Staat erbringt seine Leistungen nicht um der Gegenleistung, sondern um des Bedarfes willen. Dieses zeigt sich insbesondere beim Sozialstaat. Würde dieser nach dem marktwirtschaftlichen System seine Leistungen verteilen, würde er sich selbst widerlegen, weil gerade der Bedürftige einen Preis nicht bezahlen kann. Das Instrument, um den Bedarf der Menschen zu erkunden und sachgerecht zu befriedigen, liegt hier im Erfordernis der demokratischen Legitimation; jedes hoheitliche Handeln muss durch eine unmittelbare Legitimationskette auf den Wähler zurückgeführt werden. Stellen wir nun die Frage, welches dieser beiden Verfahren – das marktwirtschaftliche oder das demokratische – auf die Verteilung des knappen Rechtsguts Gesundheit angewandt werden sollte, beobachten wir sehr bald, dass beide Verfahren nicht recht passen. Das marktwirtschaftliche genügt nicht, weil wir den Menschen, der nicht zahlen kann, nicht von der Gesundheitsvorsorge ausschließen dürfen. Das demokratische erscheint nicht hinreichend tauglich, weil wir dem Patienten die Entscheidung über55
Vgl. auch Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 1 Rdnr. 10.
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lassen wollen, ob und wie er selbstbestimmt Gesundheitsleistungen nachfragt, ihm insbesondere auch bei der Auswahl der benötigten Leistungen ein Entscheidungsrecht vorbehalten wollen. Die Gesundheit ist Gegenstand individueller Selbstbestimmung, aber auch gemeinschaftlich gepflegtes Gut. Das zeigt sich deutlich in der Tatsache, dass alle unsere Behandlungs- und Vorsorgesysteme auf den Generationenvertrag bauen. Dank der Leistungen der Medizin wird der Mensch immer älter, nimmt damit die Gesundheitsleistungen länger in Anspruch, als ursprünglich vorgesehen war. Zugleich haben wir zu wenig Kinder, so dass uns in Deutschland bald der eine Vertragspartner, die Jugend, zu einem erheblichen Teil fehlen wird. Im Vergleich der Staaten dieser Erde steht Deutschland im Kapitalreichtum deutlich im Vorderfeld, im Kindermangel hingegen unter den 191 Staaten fast an letzter Stelle. Deshalb müssen wir das Übel bei der Wurzel fassen und durch eine bessere Kinderund Familienpolitik unsere eigene Zukunft sichern. Selbst wenn das Gesundheitssystem in Zukunft kapitalgedeckt finanziert würde, werden auch dem privaten Versicherer demnächst Beitragszahler fehlen, so dass er sein Kapital zur Befriedigung der Versichertenansprüche einsetzen und damit seine Substanz verlieren wird. Auch hier stehen wir vor der Frage, ob wir eine im Erwerbsstreben sterbende oder eine im Kind vitale Gesellschaft sein wollen. Dabei verdient auch der medizinische Befund Aufmerksamkeit, dass die Menschen, die im Alter mit Kindern umgehen, weil sie Großeltern sind, weniger krankheitsanfällig sind. Der Mensch bewahrt sich ein Stück Jugend nicht nur im Fitnesscenter, sondern vor allem in der Begegnung mit Kindern. Ähnliches gilt für die Ehe als soziale Einrichtung. Wenn es in Zukunft nicht mehr eine Selbstverständlichkeit sein sollte, dass der Mensch bei einer Krankheit sich auf den vertrauten Arm und das gewohnte Wort des Ehepartners stützen kann, er vielmehr Hilfsleistungen gegen Entgelt erwerben muss, werden sich die Kosten dieses Sozialstaates zumindest verdoppeln. Dieses kann der Staat sich schlechthin nicht leisten. Ein „Recht auf Gesundheit“ verpflichtet deshalb auch zum besonderen Schutz von Ehe und Familie. Es handelt weniger von einer Sparte eines den Verteilungskämpfen ausgesetzten Gesamtbudgets, sondern von einer umfassenden, humanen Zukunftspolitik. 2. Das gleiche Recht auf medizinische Behandlung Wenn ein Recht auf Gesundheit somit weniger eine individuelle Rechtsbeziehung des einzelnen Menschen gegen den Staat begründet, vielmehr eher in seinen Voraussetzungen – Ehe und Familie, in dem System des Arbeitens und des Verkehrswesens, im Umweltschutz, in medizinischer Forschung und Behandlungskraft sowie in einem finanziellen Vorsorgesystem – angelegt ist, so hängt das Individualrecht auf medizinische Behandlung von der Leistungsfähigkeit und teilweise auch der Leistungsbereitschaft der Gesellschaft ab. Die Medizin steht unter dem Druck des Ökonomischen. Die daraus sich ergebende Verpflichtung zur sparsamen Bewirtschaftung knapper Ressourcen ist eine Selbstverständlichkeit. Jeder, der menschliche Arbeitskraft oder Wirtschaftsgüter
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in Anspruch nimmt, unterliegt dem Erfordernis wirtschaftlichen Handelns. Die daraus sich ergebende Pflicht zum sparsamen Umgang mit knappen Ressourcen trifft selbstverständlich auch die Medizin. Das herkömmliche Instrument, um eine kostenbewusste Inanspruchnahme von Arbeitskraft oder Kapital zu sichern, ist die Gewährung von Leistungen auf Nachfrage je nach Zahlungsbereitschaft. Dieses System eines freiheitlichen Wettbewerbs ist zur Verteilung medizinischer Leistungen nicht geeignet, weil es dem mittellosen Kranken die medizinisch notwendige Behandlung vorenthalten würde, dem nur begrenzt zahlungsfähigen Patienten einen geringeren medizinischen Standard anböte als dem finanzkräftigen. Eine solche unterschiedliche Behandlung je nach Zahlungsfähigkeit widerspräche der Statusgleichheit jedes Menschen in seiner Würde (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2 GG). Die Verfassung schützt jeden Menschen als Person und Persönlichkeit gleich, gibt ihm ein Recht auf Leben, körperliche Unversehrtheit, auf medizinisch herstellbare Gesundheit. Mag ein Mensch in der Bewertung der Gesellschaft ein Taugenichts oder ein Wohltäter sein, mag er handlungsunfähig oder zu gemeindienlichen Spitzenleistungen begabt sein, mag er als selbstverschuldeter Alkoholiker oder dank Disziplin als Asket leben, die Rechtsordnung heißt ihn als Mitglied dieser Rechtsgemeinschaft willkommen. Die Frage nach Wert und Würdigkeit zu leben, darf nicht gestellt werden, sobald menschliches Leben existiert. Eine unterschiedliche Zuteilung der für Existenz und Würde eines Menschen notwendigen medizinischen Leistungen nach Zahlungsfähigkeit, aber auch nach Alter, Geschlecht, Lebensführung und Verdienst ist deshalb ausgeschlossen. Damit verliert der Arzt ein Stück seiner Berufsfreiheit. Wenn er im Rahmen eines Pflichtversicherungs- und Pflichtbehandlungssystems grundsätzlich seine Leistung jedem Kranken erbringen muss, weil dieser behandlungsbedürftig ist, kann er seine Leistung nicht von der Entgeltzahlung des Patienten abhängig machen, also nicht selbst die Höhe seines Entgelts mit seinem Patienten vereinbaren. Die Verantwortlichkeit für ein der ärztlichen Leistung angemessenes Entgelt wächst dann dem Staat zu, der die medizinische Leistung verlangt. So wandelt sich der Inhalt der Berufsfreiheit: Aus dem Recht zur selbstbestimmten Erwerbsgrundlage wird ein Recht auf leistungsangemessene Teilhabe an gemeinschaftlichen Geldern. Der Staat sucht diese Verteilungsverantwortlichkeit in einem System der Sozialversicherung mit einer kollektiven Vorsorge zu verknüpfen. Er schöpft die Zahlungskraft potentieller Patienten in einer Zwangsversicherung ab und stellt sie kollektiv, nicht individuell für medizinische Leistungen zur Verfügung. In diesem Kassensystem entfällt das herkömmliche Leistungskorrektiv der Entgeltzahlung durch den Nachfrager. Arzt und Patient begegnen sich in ständigem Bemühen um Leistungsverbesserung, also um Verteuerung. Der Arzt möchte seinem Patienten die bestmögliche Behandlung zukommen lassen, der Patient kommt zum Arzt in der sicheren Gewissheit, dass für ihn das Beste gerade gut genug sei. Daraus ergeben sich stetige Kostensteigerungen, die Diskrepanz zwischen medizinisch Erwünschtem und Finanzierbarem wächst, der Erfolg der Medizin lässt die Lebenserwartung des Menschen wachsen und verändert die Altersstruktur der Rechtsgemeinschaft, der Fortschritt der Forschung vermehrt insbesondere das An-
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gebot von Apparate- und Präparatemedizin, chronische Zivilisationsschäden erweitern das Spektrum der Behandlungsbedürftigkeit, der Mensch wird an ständig verbesserte und vermehrte, öffentlich finanzierte medizinische Versorgung gewöhnt, seine Leistungserwartungen drängen deshalb ins Maßstablose, damit potentiell ins Maßlose. Die Kultur des Maßes ist neu zu entdecken, das Maß im Ausgleich zwischen dem gemeinschaftsfinanzierten Recht des Patienten auf Gesundheit und der Berufsfreiheit des Arztes zu suchen, das begrenzte Gesundheitsbudget also so zu verteilen, dass der hohe Anspruch der Gleichheit in Freiheit für Patient und Arzt wirksam wird. Dementsprechend erhofft sich der Patient eine Behandlung nach den Maßstäben der Spitzenforschung, nicht nur der normalen medizinischen Versorgung. Auch hier drängt die Gleichheit aller Menschen in der Unverletzlichkeit ihrer Menschenwürde, ihr gleicher grundrechtlicher Schutz von Leben und körperlicher Unversehrtheit auf immer mehr und immer bessere medizinische Leistungen. Deshalb ist die Kultur des Maßes für die Medizin neu zu entdecken. Es sind Leistungsmaßstäbe zu entwickeln, die den Maßstab des medizinisch Gebotenen nicht finanzwirtschaftlich verfremden, andererseits den ausgewogenen Einsatz von Finanzkraft nicht zu Lasten der nicht medizinischen Lebensbereiche verschieben. Das Maß ist im Rechtsverhältnis von Arzt und Patient zu suchen; die finanzierenden Kassen haben dienende Funktion. 3. Pflicht zur gesundheitsgerechten Lebensführung? Der erste Gedanke zur Entlastung des Medizinbudgets zielt auf die Selbstverantwortung des Patienten, der eine gesundheitsgefährdende Lebensführung unterlassen oder zumindest die Folgen der Selbstgefährdung finanziell tragen sollte. Selbstverständlich könnten wir den Unfallchirurgen entlasten, wenn wir nur noch Autos mit einer Spitzengeschwindigkeit von 30 km/h bauen würden. Wir könnten den Internisten von wesentlichen Aufgaben freistellen, wenn wir den Konsum von Alkohol und Tabak kategorisch verbieten würden. Wir könnten die Zahl der kardiologischen Betten reduzieren, wenn wir das Gewicht jedes Bürgers jeden Monat durch einen staatlichen Gewichtskommissar prüfen lassen würden. Allerdings wäre der Preis dieser Gesundheitsvorsorge ein elementarer Verlust an Freiheit. Freiheit heißt, sein Leben selbstbestimmt gestalten und sich dabei von anderen unterscheiden zu dürfen. Wer sich sportlich ertüchtigt, verfügt über besondere Körperkraft und eine gute Gesundheit, wer stattdessen ein Musikinstrument übt, erreicht einen besonderen Grad der Bildung, vielleicht aber auch gesundheitserhebliche Blässe. Wer sich im Erwerbsleben anstrengt, nutzt seine Freiheit zu Einkommen und Reichtum, kann dadurch aber auch seine Gesundheit gefährden; wer den Müßiggang bevorzugt, wählt die Freiheit von den Lasten des Erwerbsstrebens, kann aber zugleich wirtschaftliche Grundlagen einer gesunden Lebensführung entbehren müssen. Wer seine Freizeit für Risikosportarten einsetzt, sucht die Freiheit von Wagnis und Selbstgefährdung und sieht gerade darin eine Pointe seines Lebens; wer stattdessen die Beschaulichkeit pflegt, zieht die Freiheit zu Selbstbetrachtung und Nachdenklichkeit vor. Wollen wir nicht den Freiheitsge-
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danken als Elementarprinzip unserer Rechtsordnung aufgeben, werden wir hier die staatliche Intervention durch Ge- und Verbote abwehren. All diese Unterschiede in freiheitlichem Verhalten begründen Unterschiede auch im Gesundheitszustand der Menschen und Bevölkerungsgruppen. Die unterschiedlichen medizinischen Ausgangsbefunde sind zu einem wesentlichen Teil auf Unterschiede in den Sozialverhältnissen, etwa der Höhe des Einkommens, des Bildungsstands oder des Grads gesundheitlicher Selbstgefährdung, und nicht auf eine unterschiedliche medizinische Versorgung zurückzuführen. Diese jeweiligen Ausgangslagen sind von den Freiheitsberechtigten zu verantworten, soweit sie diese Wirkungen willentlich herbeigeführt und deshalb in die Wahrnehmung ihres Freiheitsrechts einbezogen haben. 4. Finanzielle Mitbeteiligung des Patienten? Deshalb wäre daran zu denken, die unmittelbare Selbstschädigung, etwa durch den Konsum von Tabak und Alkohol, durch ungesunde Ernährung oder Bewegungsmangel, durch die Risikobereitschaft von Sportlern und Verkehrsteilnehmern zum Ausgangspunkt einer speziellen Kostenverantwortung zu machen. Dabei ist weniger an gesundheitspolitische Prohibitivabgaben zu denken, wie wir sie von der Tabak- oder Alkoholsteuer her kennen; diese Steuern haben kaum einen Lenkungseffekt und sind ein unter dem Deckmantel der Gesundheitspolitik etwas sympathischer verpacktes Finanzierungsinstrument des Staates. Zu erwägen ist vielmehr, den Selbstschädiger vermehrt zu den Kosten seiner höchstpersönlichen Behandlung heranzuziehen. Auch hier setzt das Individualrecht auf Gesundheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) aber jeder Einschränkung notwendiger medizinischer Leistungen je nach Mitverursachung durch den Betroffenen Schranken. Eine Rationierung notwendiger medizinischer Leistungen nach Eigenverantwortlichkeit ist schlechthin ausgeschlossen. Möglich bleibt das Einfordern einer finanzwirtschaftlichen Mitverantwortung, etwa durch Sonderzuschläge auf die allgemeinen Beitragspflichten zur Krankenversicherung oder eine Selbstbeteiligung bei Risikoerhöhung oder die prohibitivabgabenrechtliche Verteuerung gesundheitsschädlicher Konsumgüter. Die finanzwirtschaftliche Eigenverantwortlichkeit des Patienten lässt sich deshalb am ehesten unabhängig von der Frage der Selbstschädigung stärken. Wenn jeder Patient für medizinische Leistungen einen gewissen Kostenanteil aus eigenem Vermögen zu zahlen hat, wird dadurch eine Mitkontrolle der medizinischen Leistung und ihres Preises durch den Nachfrager veranlasst. Soziale Härten könnten durch entsprechende Bemessung der Sozialleistungen aufgefangen werden. Selbst wenn der Patient letztlich nur den Betrag an den Arzt weitergäbe, den er vorher – in typisierender Bemessung – von der Sozialhilfe erhalten hätte, würde er doch sorgfältig über die Frage nachdenken, ob er dieses Geld zum Arzt tragen oder aber anderen Verwendungen zuführen wollte.
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5. Auftrag der Medizin Bei dieser finanziellen Mitbeteiligung des Patienten bleibt jedoch gesichert, dass die notwendige medizinische Leistung nicht wegen Nichtzahlung einer Selbstbeteiligung verweigert werden darf. Der Anspruch auf notwendige Behandlung steht nicht unter Finanzierungsvorbehalt. Damit wendet sich alle Aufmerksamkeit der zentralen Frage zu, welche medizinischen Leistungen verzichtbar oder unverzichtbar sind. Der Einsatz medizinischer Mittel rechtfertigt und begrenzt sich aus dem Ziel medizinischen Handelns, Krankheiten zu heilen, Schmerzen zu lindern, eine Verminderung der Körperfunktionen auszugleichen. Die Frage, was behandlungsbedürftig ist, beantwortet sich nach dem jeweiligen Stand der medizinischen Wissenschaft, also auf der Grundlage des gegenwärtig erreichten wissenschaftlichen Fortschrittes. Die Therapie folgt dem stets sich erweiternden und verbessernden Kenntnisstand der Medizin, gibt dem Patienten damit einen Anspruch auf Behandlung nach bestem medizinischen Wissen über Behandlungsgegenstand und Behandlungsmethode. Wie etwa die Methoden der Sonographie eine Früherkennung ermöglichen, bevor noch die natürlichen Warnsignale des Schmerzes beim Patienten einsetzen, wie die Möglichkeiten des Organersatzes nicht nur die Wiederherstellung, sondern die Verbesserung des vorpathologischen Zustandes erlauben, so kann und muss die medizinische Kunst auch ihre Fähigkeiten gegen das vorzeitige Altern, die Altersgebrechlichkeiten, den Abbau von Organfunktionen einsetzen. Gerade die kardiologischen Erfolge im Kampf gegen den Alterungsprozess des Herzens, insbesondere die koronare Herzerkrankung, lehren uns, dass wir heute einen wesentlichen Teil unserer Gesundheit medizinischen Eingriffen verdanken. Das Ziel der Medizin ist deshalb nicht nur, Krankheiten zu heilen und Schmerzen zu lindern, sondern auch, dem Menschen eine gesundheitlich zumindest kontinuierliche Lebensführung zu ermöglichen und eine selbstbestimmte Lebensgestaltung zu bewahren. 6. Differenzierung des Auftrages: notwendige, wünschenswerte, hilfreiche, überflüssige medizinische Leistung Dieser normativ-wertende Begriff der Behandlungsbedürftigkeit fordert die Unterscheidung zwischen der notwendigen, der wünschenswerten, der hilfreichen und der überflüssigen Behandlung. Notwendig ist die medizinische Verhinderung des vermeidbaren Todes, die Heilung und Linderung von Krankheiten und des damit verbundenen Schmerzes. Diese Grundversorgung ist Pflichtaufgabe einer beitragsfinanzierten Medizin. Der Patient hat einen Individualanspruch auf Gesundheit ungeachtet individueller Zusatzzahlungen. Wünschenswert ist die medizinische Behandlung bei der Unterstützung und Steuerung natürlicher Abläufe in der Entwicklung des menschlichen Lebens, insbesondere der medizinische Kampf gegen das Nachlassen der Sehfähigkeit, des Gehörs, des Gedächtnisses und anderer Vitalfunktionen. Auch diese medizinische Hilfe in besonderen Risikolagen und die Bewahrung der medizinischen Normalität
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gegen entwicklungsbedingte Minderungen der Gesundheit gehören nach heutigem wissenschaftlichem Standard und der Allgemeinerwartung gegenüber der Medizin zu den Aufgaben, die von der beitragsfinanzierten Krankenversicherung finanziert werden müssen. Die hilfreichen Leistungen umfassen Maßnahmen der Pflege, Betreuung und Gesundheitserziehung, auch der Bagatellbehandlung, etwa der alltäglichen Grippe, berühren den Grenzbereich zwischen Medizin und Sozialstaatspolitik. Wenn eine Klinik einen Süchtigen in mehrwöchiger Behandlung zu einer medizinisch selbstbestimmten Lebensführung in der Normalität erziehen will, eine Rehabilitationsklinik das Unfallopfer zur Rückkehr in das Arbeitsleben befähigt, eine Pflegestation dem altersgebrechlichen Menschen in seiner Hilflosigkeit ein Mindestmaß an Würde erhält, wenn die vorbeugende Impfung oder Vorsorgeuntersuchung zukünftige Krankheiten und damit eine medizinische Grundversorgung vermeiden, sind dieses wertvolle und für den Betroffenen oft freiheitsbestimmende Leistungen. Die Frage ist deshalb nicht, ob diese Leistungen erbracht werden sollen, sondern ob sie in die Verantwortlichkeit der Medizin und des Krankenversicherungssystems fallen. Die Lasten dieser Medizin erwachsen vielfach aus einem Verständnis der Familie, das individuelles berufliches Erwerbsstreben höher bewertet als die Erziehung der Kinder und ihre Begleitung in der Krise, das in der langfristigen beruflichen Bindung keinen Platz mehr lässt für die Pflege und Betreuung alter Menschen, obwohl familiäre Erziehung und Betreuung immer individueller und stetiger ist, die Würde mehr wahrt als institutionelle Pflege es könnte. Hier stellen sich grundsätzliche Fragen der auch finanzwirtschaftlich erheblichen Elternverantwortung für die Erziehung des Kindes, der Familienverantwortung für die Betreuung des alten Menschen, der Neuorientierung eines Wirtschafts- und Gesellschaftssystems, das für das Kind und die Mutter keinen Platz zu brauchen glaubt, finanzrechtlich vor allem auch der Zukunftsverantwortung der kinder- und familienlosen Bürger, die in Krankheit und Alter auf helfende Menschen hoffen, ohne dass sie für deren Existenz selbst etwas hätten beitragen können. Die Überforderung der Medizin und ihres Finanzbudgets hat ihre Ursache hier also in der primären Ausrichtung unserer Gesellschaft auf den beruflichen Erwerb und die Vernachlässigung der familiären Verantwortung. Die Kostenfolge betrifft Staat und Gesellschaft insgesamt, also nicht nur das System der Krankenversicherung, sondern letztlich den Steuerzahler. Medizinische Vorsorgeleistungen, die nur durch den Arzt erbracht werden können und eine zukünftige medizinische Grundversorgung erübrigen, sind teils notwendig, teils erwünscht, teils hilfreich. Die Palette der medizinischen Leistungen reicht von der notwendigen Impfung bis zur hilfreichen Aufklärung und Beratung in den Lebensgewohnheiten der Ernährung, der Bewegung und des Arbeitslebens. Hier stehen wir unmittelbar vor einem Kosten-Nutzen-Problem. Eine Untersuchung über eine Prävention koronarer Herzerkrankungen durch die Einführung der Statine hat ergeben, dass eine Behandlung aller therapiebedürftiger Menschen mehr als das Budget aller deutschen Universitätskliniken erforderte. Deshalb müssen wir wesentliche Bereiche der Vorsorgeuntersuchungen und Vorsorgemedizin heute in den Bereich der hilfreichen Aufgaben einbeziehen, die
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für eine nicht medizinspezifische allgemeine Finanzierung zugänglich sind, aber auch auf Zuzahlungen des Begünstigten ausgerichtet werden können. Gleiches gilt für die Zusatzversorgung, etwa mit höheren als normalen wissenschaftlichen Standards, oder eine Verbesserung der Rahmenbedingungen, etwa eines stationären Aufenthalts. Für diese Zusatzleistungen können marktähnliche Verteilungsprinzipien der Entgeltbereitschaft eingeführt werden; eine Zuteilung je nach Meistgebot ist nicht ausgeschlossen. Schließlich eröffnet die Kategorie der überflüssigen Leistungen ein großes Potential an Einsparmöglichkeit. Doppelerhebungen, Mehrfachdokumentationen, übersteigerte Dokumentationspflichten, eine schlecht abgestimmte ambulante und stationäre Behandlung, unnötige Weiterverweisungen, die Länge des stationären Aufenthalts eines Patienten, medizinisch nicht mehr erforderliche Gewohnheitsmedikamente, die Behandlung von Alltagsbeschwerden wie eines grippalen Infektes, die üppig ausgestattete Reiseapotheke und die Müllhalden ungenutzter Medikamente, auf denen nach Schätzung erfahrener Mediziner jede zweite Tablette landet, verletzen das Sparsamkeitsprinzip, das hier mit den Erfordernissen medizinischer Vernunft Hand in Hand geht. Auch ist kaum nachvollziehbar, dass neue Techniken wie der Patientenchip, auf dem die einmal erhobenen Daten festgehalten werden können, zur Erleichterung der Patientenlast und der Aufgabe des Arztes aus Datenschutzgründen nicht angemessen genutzt werden können. Wer seinem Arzt – dem Arzt seiner Wahl und seines Vertrauens – seinen Chip vorlegt, um ihn zu informieren und ihm damit eine Grundlage für eine gute Behandlung, auch für das Vermeiden übermäßig belastender Diagnosewiederholungen zu geben, ist individuell in seiner Privat- und Persönlichkeitssphäre nicht nachteilig betroffen. 7. Gesundheit als medizinisch herstellbarer Erfolg und als Teil einer schicksalhaften Entwicklung Ein Recht auf Gesundheit kann es somit nur in klaren, tatbestandlichen Begrenzungen geben, weil Staat und Recht, auch Arzt und medizinische Forschung die Bestimmung des Menschen zum Tode und die konstitutionsbedingte Krankheit nicht verhindern können. Deshalb bietet ein Recht auf Gesundheit allenfalls ein Teilhaberecht, nicht ein Leistungsrecht. Gesundheit und Krankheit sind zunächst Schicksal, sodann teilweise durch die menschliche Gemeinschaft steuerbare Entwicklung, stehen aber stets unter dem Vorbehalt des medizinisch und auch des nach Kultur und Leistungskraft der jeweiligen Gesellschaft Möglichen56. Diese Abwägungen zwischen dem Respekt vor Vorgefundenem und dem Auftrag zum Heilen, zwischen dem medizinisch Möglichen und dem vom Patienten Gewollten, zwischen individueller Hoffnung und gemeinschaftlicher Leistungskraft, zwischen Heilversuch und Forschungsexperiment, zwischen Tageserfolg 56
Zum Vorbehalt des Möglichen vgl. BVerfGE 15, S. 126, 140 f.; 27, S. 253, 283 ff.; 41, S. 126, 150 f.; Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung, Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 2. Bd., 3. Aufl., Heidelberg 2004, § 21 Rdnr. 33 ff.
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und langfristiger Prognose fordert Maßstäbe, die in nachdenklicher und selbstkritischer Beobachtung von Medizin und Forschung in der Kultur und Wertungssicherheit unseres Verfassungsstaates zu entwickeln sind. Diesen Auftrag des Medizinrechts erschlossen und vielfach erfüllt zu haben, ist das Verdienst von Adolf Laufs. Wir blicken seinen weiteren Einsichten, Erkenntnissen und Wegweisungen erwartungsvoll entgegen.
Medizinische Versorgungszentren – ein schwieriger Start Dieter Krauskopf
I. Vorgeschichte Die medizinischen Versorgungszentren (MVZ) nach § 95 Abs. 1 S. 2 SGB V i.d.F. des zum 01. 01. 2004 in Kraft getretenen Gesetzes zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14. 11. 2003 haben erkennbar ihre Vorläufer in den ärztlich geleiteten ambulanten Gesundheitseinrichtungen der früheren DDR. Dort wurde die ambulante ärztliche Versorgung der Bevölkerung im wesentlichen durch Polikliniken, Ambulatorien, Fachambulanzen sowie Einrichtungen des Betriebsgesundheitswesen sichergestellt. Nach der Übergangsbestimmung des § 311 Abs. 2 SGB V wurden diese Gesundheitseinrichtungen kraft Gesetzes zur ambulanten Versorgung zugelassen, soweit sie am 01. 10. 1992 noch bestanden. Die kirchlichen Fachambulanzen wurden noch bis zum 31. 12. 1995 zur ambulanten Versorgung zugelassen. Durch das GMG wurde § 311 Abs. 2 SGB V dahingehend geändert, daß die im Beitrittsgebiet bestehenden ärztlich geleiteten kommunalen, staatlichen und freigemeinnützigen Gesundheitseinrichtungen einschließlich der Einrichtungen des Betriebsgesundheitswesens (Polikliniken, Ambulatorien, Arztpraxen) sowie diabetologische, nephrologische, onkologische und rheumatologische Fachambulanzen weiterhin an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen, soweit sie am 31. 12. 2003 zugelassen sind. Für diese Einrichtungen soll dann auch die Vorschrift des § 95 SGB V, die sich auf die MVZ bezieht, entsprechend gelten1 . In den ersten Arbeits- und Referentenentwürfen zum GMG sprach man noch von „Gesundheitszentren“, die definiert wurden als fachübergreifend ärztlich geleitete Einrichtungen, in denen Ärzte, die in das Arztregister eingetragen sind, als Angestellte tätig werden. Nach der Begründung wollte man diese Gesundheitszentren nur im Bereich der haus-, frauen- und augenärztlichen Versorgungen an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmen lassen. Andere fachärztliche Leistungen konnte das Gesundheitszentrum nur aufgrund von Einzelverträgen mit niedergelassenen Fachärzten erbringen. Betreiber der Gesundheitszentren können private und öffentliche Träger sein2. Zu der schließlich verabschiedeten Fassung des § 95 Abs. 1 SGB V heißt es dann, daß die Gesundheitszentren sich aller zulässigen Organisationsformen be1 2
S. KassKomm-SGB V/Hess, § 311 Rdnr. 4, 5. Vgl. Rudolf Ratzel, Medizinische Versorgungszentren, in: Zeitschrift für das gesamte Medizin- und Gesundheitsrecht (ZMGR) 2004, S. 63.
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dienen können3. In der Begründung wird erwähnt, daß die Zulassung für den Ort der Betriebsstätte und nicht für den Ort des Sitzes des Trägers des Gesundheitszentrums erfolgt. Man beruft sich auf die BSG-Rechtsprechung zur Genehmigung von Zweigpraxen4, wonach ein Gesundheitszentrum, das Leistungen nicht nur in seiner Betriebsstätte, sondern parallel auch in einer örtlich getrennten Betriebsstätte anbieten will, der Genehmigung durch die Kassenärztliche Vereinigung (KV) bedarf. Dagegen seien ausgelagerte Praxisstätten ohne Genehmigung rechtlich zulässig. In dem ab 01. 01. 2004 gültigen Gesetzestext wird der Vorrang der zugelassenen Leistungserbringer betont. Gegründet werden kann das MVZ also nur von Vertragsärzten, Krankenhäusern, Heilmittelerbringern, Krankenpflege-Stationen und Apotheken – also Leistungserbringern, die durch Zulassung, Ermächtigung oder durch Verträge zur Versorgung von GKV-Patienten berechtigt sind. Die etwas bunte Vorgeschichte des jetzt in § 95 Abs. 1 SGB V beschriebenen MVZ läßt erkennen, daß der Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren nicht ganz klare Vorstellungen über das MVZ hatte. Daraus resultieren unvermeidlich Auslegungsprobleme. Man muß davon ausgehen, daß eine solche neue Versorgungsform in der vertragsärztlichen Versorgung Nachfrage besonders bei potenten Kapitalgebern entstehen läßt. Über die Beteiligung von Krankenhäusern kommen z. B. auch große Trägergesellschaften in den Genuß eines MVZ-Betreibers. Aus § 311 Abs. 2 SGB V (i.d.F. des GMG) wird klar, wer die geistigen Eltern des MVZ waren. Soweit die o. a. ärztlich geleiteten kommunalen, staatlichen und freigemeinnützigen Gesundheitseinrichtungen einschließlich der Einrichtungen des Betriebsgesundheitswesens (Polikliniken, Ambulatorien, Arztpraxen) sowie diabetologische, nephrologische, onkologische und rheumatologische Fachambulanzen nicht auf stetig ausgeübten Druck der KVen verschwunden waren, nehmen diese in dem Umfang weiter an der vertragsärztlichen Versorgung so teil wie sie am 31. 12. 2003 zugelassen waren. Für diese Einrichtungen gilt § 95 Abs. 1 und Abs. 6 SGB V entsprechend. Es handelt sich also in Wirklichkeit nicht um neue Organisationsformen in der vertragsärztlichen Versorgung, sondern um die Übernahme ambulanter Einrichtungen der früheren DDR. Die genannten ambulanten Einrichtungen der früheren DDR waren durch den Einigungsvertrag5 in den Kreis der an der vertragsärztlichen Versorgung zur Teilnahme Berechtigten einbezogen worden. Es handelte sich dabei um selbständig agierende Einrichtungen: – selbständige Polikliniken (auch als verselbständigte Organisationseinheiten in Krankenhäusern); – Ambulatorien (ähnlich wie Polikliniken); – staatliche Arztpraxen, die zwar ihre Vergütung vom Staat erhielten, aber selbständig tätig waren;
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BT-Drs. 15/1170. BSGE 77, S. 188. Vom 31. 8. 1990, BGBl II, S. 889, Anlage I Kapitel VIII, Sachgebiet G, Abschnitt II, 1.
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– Einrichtungen des betrieblichen Gesundheitswesens (Betriebspolikliniken, Betriebsambulatorien und Betriebsarzt-Sanitätsstellen); – Fachambulanzen mit Dispensaire-Auftrag, die für die zentrale medizinische Versorgung bestimmter chronischer Erkrankungen tätig waren und die nötigen Arzneimittel, Heilmittel usw. abgeben konnten; – kirchliche Fachambulanzen der DDR waren nur bis zum 31. 12. 1995 zugelassenund konnten sich danach in eine Gemeinschaftspraxis oder Praxisgemeinschaft umwandeln; die Zulassungsberechtigung war begrenzt auf acht Ärzte in dieser Fachambulanz6.
II. Voraussetzungen für die Neugründung von MVZ Während also die weiterbestehenden ehemaligen DDR-Einrichtungen der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung kraft Gesetzes zu MVZ wurden, ist die Neugründung eines MVZ an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Es handelt sich nach der Legaldefinition des § 95 Abs. 1 Satz 2 SGB V um fachübergreifende ärztlich geleitete Einrichtungen, in denen Ärzte, die in das Arztregister eingetragen sind, als Angestellte oder als Vertragsärzte tätig sind. Kennzeichnend für das MVZ ist nach Auffassung der Gesetzesreferenten der interdisziplinäre Charakter des Angebots von Gesundheitsleistungen in einheitlicher Trägerschaft und unter ärztlicher Leitung7. Gemeint sind damit Fachärzte, aber auch häusliche Pflegedienste, Physiotherapeuten, Apotheken usw. Die Grenzen zur Integrationsversorgung, die etwa von einer Managementgesellschaft gesteuert wird, sind fließend8. Der Hinweis auf die integrierte Versorgung knüpft an die ursprüngliche Absicht des Gesetzgebers an, daß die MVZ sich fehlende fachärztliche Kompetenz durch Verträge mit niedergelassenen Vertragsärzten in der Umgebung beschaffen sollten. Dies kann auch über die integrierte Versorgung nach § 140 b Abs. 1 Nr. 5 SGB V erreicht werden. Durch die mögliche Beteiligung eines Krankenhauses mit seiner Ambulanz am MVZ könnte der Träger des Krankenhauses auch in diesem Fall das Management zur Verfügung stellen. 1. Das Erfordernis der „ärztlichen Leitung“. Nach den bisher bekanntgewordenen Gründungen von MVZ hat aber eine solche Konstruktion noch nicht verwirklicht werden können. Im Gegensatz zum MVZ bedarf eine Managementgesellschaft nicht der ärztlichen Leitung, sondern kann etwa durch einen kaufmännischen Leiter betrieben werden.
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Vgl. dazu KassKomm-SGB V/Hess, § 311 Rdnr. 4, 5, Fn. 2. Ulrich Orlowski, in: ders., Jürgen Wasem, Gesundheitsreform 2004: GKV-Modernisierungsgesetz (GMG), Heidelberg 2003, S. 83. § 140 d Abs. 1 Nr. 5 SGB V; Orlowski, in: Orlowski/Wasem, Gesundheitsreform 2004, S. 83, Fn. 8.
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Der Begriff „ärztliche Leitung“ bedeutet (ähnlich wie in §§ 119, 119 a SGB V), daß nur ein Vertragsarzt die Verantwortung über die im MVZ erbrachten medizinischen Leistungen haben darf. Daneben kann der Träger der Einrichtung als GmbH oder als AG die finanzielle Verantwortung übernehmen9. Die „Betriebsgesellschaft“ eines MVZ kann also durchaus überwiegend in der Hand Dritter sein. Dies macht die in dem MVZ tätigen Vertragsärzte noch nicht zu „Scheinselbständigen“ mit fehlendem Unternehmerrisiko, solange die ärztliche Leitung des MVZ durch die Satzung, die vertraglichen Regelungen und sonstigen dokumentierten Absprachen die Kompetenzen des ärztlichen Leiters anerkennt. Dieser muß tatsächlich im Stande sein, die verantwortliche Leitung auszuüben. Dies ist z. B. nicht der Fall, wenn der ärztliche Leiter weit entfernt vom MVZ tätig ist10. Wenn also etwa Laborärzte sich in einer GmbH oder AG gesellschaftsrechtlich binden, d. h. finanzielle Entscheidungen über größere Investitionen und gravierende personalwirksame Entscheidungen nur in Übereinstimmung mit der Mehrheitsgesellschaft bzw. dem kaufmännischen Vorstand treffen können, so bleiben sie im Bereich ihrer vertragsärztlichen Tätigkeit persönlich in freier Praxis tätig – es sei denn, sie binden sich auch im Bereich der medizinischverantwortlichen Tätigkeit durch Verträge an die Entscheidungen Dritter. Insoweit kann also mit den (eher sozialversicherungsrechtlichen) Begriffen der „Scheinselbständigkeit“ und des „fehlenden Unternehmerrisikos“ die Zulassung als MVZ nicht versagt werden11. Da es aber auf die vertraglichen Regelungen zum MVZ (wie bei der Gemeinschaftspraxis) ankommt, kann der Zulassungsausschuß zur Prüfung der Selbständigkeit der beteiligten Ärzte in medizinischen Dingen alle Verträge über die geplante Kooperation vorgelegt verlangen12. Die MVZ können sich also aller zulässigen Organisationsformen bedienen, was außer auf juristische Personen des Privatrechts auch auf solche des öffentlichen Rechts und auf Personen, Handelsgesellschaften und Kapitalgesellschaften hinweist. Wegen des gewerblichen Charakters der OHG und KG wurden aus § 1 Abs. 2 Bundesärzteordnung rechtliche Bedenken hergeleitet. Diese Auffassung dürfte aber durch die Neufassung des § 105 Abs. 2 HGB überwunden sein: Diese Vorschrift eröffnet die Eintragungsfähigkeit für alle nichtgewerblichen (also auch freiberuflichen) Gesellschaften13. Die Partnerschaftsgesellschaft nach dem PartGG setzt allerdings voraus, daß die Gesellschafter Vertragsärzte sind; dieses Gesetz erlaubt in § 1 Abs. 3 auch die Anstellung von Ärzten. Nachdem der BGH die Ge9
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Vgl. Adolf Laufs, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, § 89 Rdnr. 21 ff. Vgl. Peter Peikert, Erste Erfahrungen mit Medizinischen Versorgungszentren, in: ZMGR 2004, S. 211, 214. Zu den genannten Kriterien vgl. BSG SozR 3-5520 § 20 Nr. 1; vgl. auch Friedrich E. Schnapp, Peter Wigge, Handbuch des Vertragsarztrechts, München 2002, § 5 Rdnr. 33; KassKomm-SGB/Hess, § 95 SGB V Rdnr. 43; SG Schwerin, Beschl. v. 8. 2. 2005 – S 3 ER 68/04 KA. BSG v. 16. 7. 2003 – B 6 KA 34/02 R. Peikert, in: ZMGR 2004, S. 211, 214, Fn. 11 unter Hinweis auf MünchKommHGB/Karsten Schmidt, München 2004, § 105 Rdnr. 50 m.w.N.
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sellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) als Außen-GbR als teilrechtsfähig bezeichnet hat, kommt auch diese als Trägerin eines MVZ in Frage14. 2. Ärztliche Berufsordnungen und Landesrecht Ein Hemmnis für die Zulassung bestimmter Gesellschaftsformen können allerdings noch die ärztlichen Berufsordnungen (evtl. auch die Heilkundegesetze der Länder) sein. Nachdem die Musterberufsordnung (MBO) der Bundesärztekammer neuerdings auf die veränderte Rechtssituation, insbesondere bei den MVZ Rücksicht genommen hat, haben die zuständigen Landesärztekammern bzw. Landesgesetzgeber (soweit es sich um Heilkundegesetze handelt) nur teilweise reagiert. Der BGH konnte etwa eine Zahnheilkunde-GmbH unter Hinweis auf fehlende Verbotsnormen im Berufsrecht als zulässig erklären15. Ob dies aber bei entgegenstehendem Berufsrecht noch möglich ist, bleibt zweifelhaft. Möglicherweise gilt der Grundsatz, daß Bundesrecht Landesrecht bricht. Allerdings ist zu beachten, dass auf dem Gebiet des ärztlichen Berufsrechts der Bund keine Gesetzgebungszuständigkeit hat. Es soll nicht verschwiegen werden, daß das BSG im Hinblick auf die Gestaltung von Gemeinschaftspraxen noch eine enge Auffassung vertritt. Insbesondere nach § 33 Abs. 2 S. 4 Ärzte-ZV kann die Genehmigung zur gemeinsamen Ausübung vertragsärztlicher Tätigkeit versagt werden, wenn landesrechtliche Vorschriften über die ärztliche Berufsausübung entgegenstehen. Die Länder haben durch Heilberufs- oder Kammergesetze die Ärztekammern ermächtigt, Einzelheiten der ärztlichen Berufsausübung zu regeln. Um zu möglichst einheitlichen ärztlichen Berufsordnungen zu kommen, hat der Deutsche Ärztetag eine Muster-Berufsordnung verabschiedet (MBO), die laufend an die sich verändernde Rechtslage angepasst wird16. Nach § 22 MBO sind zur gemeinsamen Berufsausübung die in Kap. D Nr. 7-11 geregelten Berufsausübungsgemeinschaften von Ärzten (Gemeinschaftspraxis, Ärztepartnerschaft), Organisationsgemeinschaften unter Ärzten (z. B. Praxisgemeinschaften, Apparategemeinschaften) und die medizinischen Kooperationsgemeinschaften sowie der Praxisverbund zugelassen. Das MVZ wird noch nicht genannt, müsste aber zu einer Ergänzung der Vorschrift führen, insbesondere, weil in Kap. D Nr. 8 MBO nur die Gesellschaft bürgerlichen Rechts und die Partnerschaftsgesellschaft für die Gemeinschaftspraxis als zulässig erklärt werden.17
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BGHZ 146, S. 341. BGH, MedR 1994, S. 152. Die MBO ist abgedr. bei Hans-Jürgen Rieger (Hrsg.), Lexikon des Arztrechts, 2. Aufl., Heidelberg 2001, Rdnr. 100. Vgl. dazu den Aufsatz von Klaus Engelmann über die Gemeinschaftspraxis, Die Gemeinschaftspraxis im Vertragsarztrecht, in: ZMGR 2004, S. 3 ff.
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III. Ausblick Es bleiben also nicht unbedeutende Fragen zur Gründung von und zur Beteiligung an MVZ offen. Es kann durchaus sein, daß diese noch ungeklärten Fragen dazu geführt haben, daß es noch nicht zu einer Vielzahl von Anträgen auf Zulassung als MVZ gekommen ist. Vielfach handelt es sich auch nur um frühere Gemeinschaftspraxen oder Praxisgemeinschaften, die sich in der Form eines MVZ erweiterte Möglichkeiten bei Investitionen und der Anstellung von Ärzten versprechen. Dennoch sind die Gemeinschaftspraxen offenbar immer noch die interessantere Form der Kooperation von Ärzten als ein MVZ. Nach Angaben von Engelmann18 wird die Gemeinschaftspraxis zunehmend von Ärzten bevorzugt: Die Zahl der Ärzte in Gemeinschaftspraxen nahm von 29.731 (1993) auf 36.037 (2001) bei einer Gesamtzahl von 115.500 Vertragsärzten zu. Ganz anders bei den MVZ: Peikert19 gibt aus einer Umfrage bei den Kassenärztlichen Vereinigungen an, dass es offenbar erst 17 genehmigte Zentren gibt und 88 noch offene Anträge. Die Verunsicherung bei den Antragstellern – viel eher aber noch bei den Zulassungsausschüssen – führt nicht zu einer stärkeren Bevorzugung dieser ärztlichen Kooperationsform. Gerade die Krankenhäuser, die man als Interessenten vermutet hatte, zeigen wenig Initiative oder finden bei den Ärzten wenig Anklang. Letztlich sind es Gemeinschaftspraxen, die in die Form des MVZ überwechseln. Es zeichnet sich für die Gründung von MVZ also gesetzgeberischer Bedarf zunächst bei den Ländern und Landesärztekammern ab, weil das Berufsrecht mit den verschiedenen Formen von MVZ harmonisiert werden muß. Weiterhin müßte es stärkere Anreize geben, die MVZ nicht nur auf Ärzte zu beschränken, sondern auch andere Leistungserbringer hereinzuholen. Insbesondere fehlt aber wohl der finanzielle Anreiz dafür, ein zugelassenes MVZ in die integrierte Versorgung z. B. mit einem Krankenhaus einzubinden. Gerade die Beteiligung der Krankenhäuser hatte der Gesetzgeber aber als einen der Gründe für die Schaffung von MVZ gesehen. Es ist tatsächlich auch erforderlich, daß die noch immer zwischen stationärer und ambulanter Versorgung bestehende Abschottung im Sinne von patientenbegleitendem Management zu organisieren ist. Hier konnten nur einige Aspekte bei der Einführung der neuen Berufausübungsgemeinschaft MVZ aufgezeigt werden. Ob diese Kooperationsform sich auf Dauer finanziell für alle ihre Mitglieder rechnet, ist wohl noch nicht belegt, wird aber für die weitere Zunahme der MVZ entscheidend sein. Für die Patienten wird es wichtig bleiben, daß sie den Arzt ihrer Wahl jeweils als „Ansprechpartner“ haben.
18 19
Engelmann, in: ZMGR 2004, S. 4. Peikert, in: ZMGR 2004, S. 211.
Zur Zukunft der Organ- und Gewebespende Hans Lilie Von Vielen wurde 1997 das Transplantationsgesetz mit Euphorie begrüßt. Die Erwartungen waren hoch und von politischer Seite war man sich sicher, dass durch die gesetzliche Regelung der Organtransplantation der allseits beklagte Organmangel zu beheben sei, mindestens aber, dass die Rechtssicherheit, die mit dem neuen Gesetz verbunden ist, dazu führt, dass die Zweifel gegenüber der Organspende zurücktreten und immer mehr Menschen ihre Spendebereitschaft bekunden1. In weiser Voraussicht und mit großem Nachdruck hat Adolf Laufs seine Zweifel an dieser These angemeldet2. Laufs hat darauf hingewiesen, dass es zweifelhaft sei, ob das damals geplante Gesetz überhaupt in der Lage sei, der unentbehrlichen Transplantationsmedizin aufzuhelfen. Wichtig ist der in dieser Bemerkung verbriefte Gedanke: Die Transplantationsmedizin wurde von Laufs als unentbehrlich herausgestellt, gleichzeitig zweifelt er aber, ob das Transplantationsgesetz, so wie wir es letztendlich heute haben, wirklich alle Probleme lösen kann. Er hat auch die entscheidenden Kriterien betont, die für eine Verbesserung der Lage der Patienten auf den Wartelisten maßgeblich sind. Laufs hat ausgeführt, dass eine verbesserte medizinische Zusammenarbeit, eine nachhaltige Aufklärung der Öffentlichkeit und insbesondere ein selbstverdientes Vertrauen die Maßstäbe sind, die der Bevölkerung die Sicherheit geben, damit das Vertrauen in die Transplantationsmedizin gewährleistet ist3. Die Zweifel, die Adolf Laufs damals angemerkt hatte, insbesondere dass eine Legislation unvermeidlich tief in das Medizinrecht eingreifen würde, scheint man damals nicht sonderlich ernst genommen zu haben. Dass Laufs Recht behalten hat, soll mit den nachstehenden Ausführungen gezeigt werden. Mit dem Inkrafttreten der Richtlinie 2004/23/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31. März 2004 zur Festlegung von Qualitäts- und Sicherheitsstandards für die Beschaffung, Konservierung, Lagerung, Spende, Testung, Verarbeitung und Verteilung von menschlichen Geweben und Zellen kommen auf die Organtransplantation in Deutschland ganz neue Anforderungen zu4. Die Richtlinie kann als Chance und Herausforderung verstanden werden, jene Probleme aufzugreifen, die seit dem Inkrafttreten des Transplantationsgesetzes aufgetreten sind und zugleich auch die inzwischen erkannten Defizite ausgleichen. Neben der klassischen Spende von soliden Organen nimmt die Bedeutung der Gewebespende in der Transplantationslandschaft der Bundesrepublik5, aber auch im europäischen 1
2 3 4 5
Vgl. Pressemitteilung Nr. 35 des Bundesministeriums für Gesundheit vom 10. April 1996. Adolf Laufs, Ein deutsches Transplantationsgesetz – jetzt?, in: NJW 1995, S. 2398 f. Laufs, in: NJW 1995, S. 2389. Amtsblatt der Europäischen Union L 102 vom 07. 04. 2004, S. 48 ff. Vgl. die Zahlen bei Klaus Püschel, Axel Tomforde, Praxis der Gewebeexplantation, in: Rechtsmedizin 2003, S. 365 ff.
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Raum, kontinuierlich zu. Mit der Geweberichtlinie und der Notwendigkeit ihrer Umsetzung in den nächsten Jahren steht eben nicht nur die Medizin, sondern auch das gesamte Umfeld der Transplantation, d. h. die rechtliche Einordnung, die ökonomische Ausrichtung und auch die psychologischen Aspekte der Organspende vor einer großen Herausforderung. Insbesondere wird man sich damit auseinandersetzen müssen, dass mit der jüngsten Betonung der Gewebespende durch die EU-Richtlinie eine besonders enge Verknüpfung von Organtransplantation und Gewebetransplantation entstanden ist. Wie eng Gewebe- und Organtransplantation miteinander verwoben sind, ergibt sich bereits aus dem Transplantationsgesetz selbst. Nach § 1 gilt das TPG für die Spende und Entnahme von menschlichen Organen, Organteilen und eben Geweben zum Zwecke der Übertragung auf andere Menschen. Die EU-Geweberichtlinie gibt nur in sehr geringem Umfang Auskunft darüber, wie die unterschiedlichen Formen der Transplantation, nämlich die Organtransplantation und nun die Gewebe- und Zelltransplantation voneinander zu trennen sind. Insbesondere die sich daraus ergebende enge Verknüpfung mit den Fragen des Arzneimittelrechts führt zu neuen und bislang ungelösten Problemen. Da zu den Arzneimitteln insbesondere auch die humanbiologischen Arzneimittel, also Gewebe- und Blutprodukte, gehören, könnte hier primär das Arzneimittelgesetz die eigentliche Regelungsmaterie sein. Deshalb ist letztendlich auch das Verbot des Organhandels nicht auf solche Arzneimittel erstreckt, die aus oder unter Verwendung von Organen hergestellt sind. Zu Recht ist deshalb darauf hingewiesen worden, dass diese Arzneimittelklausel beim Verkauf von Präparaten aus harter Hirnhaut und Oberflächenhaut und insbesondere bei Knochenpräparaten nicht gilt6. Vor diesem Hintergrund wird man für die Zukunft erwägen müssen, welche Auswirkungen die EU-Richtlinie haben wird. Es geht dabei um die Frage, ob die EU-Richtlinie zwangsläufig dazu führen muss, dass das Transplantationsgesetz oder eben das Arzneimittelgesetz die Aufbereitung und Verwendung gespendeter Gewebe und Zellen zu regeln hat. Es stellt sich die Frage, wie die Gewebespende überhaupt organisiert werden soll. Bei der Verabschiedung des Transplantationsgesetzes hatte man als Vorbild die durch Vorarbeiten der Transplantationsgesellschaft entstandene standesrechtliche Regelung des Transplantationskodex vor Augen7. Bei der Gewebespende ist die Situation aber nicht vergleichbar. Daher ist als Grundvoraussetzung für alle weiteren Entscheidungen zu klären, ob bei der Gewebespende ebenfalls wie bei der Organspende systematisch zwischen Spendekoordinierung und -vermittlung zu trennen ist. Konkret lautet die Frage, ob das Vorbild des Transplantationsgesetzes auch für die Umsetzung der europäischen Richtlinie zur Gewebe- und Zellspende geeignet ist. Deshalb muss grundsätzlich entschieden werden, ob das Transplantationsgesetz zu novellieren und zu überarbeiten ist.
6
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Vgl. dazu ausführlich Markus Parzeller, Claudia Hentze, Hansjürgen Bratzke, Gewebeund Organtransplantation – Verfehlte und praxisferne Regelung im Transplantationsgesetz, in: KritV 2004, S. 374. Vgl. dazu Laufs, in: NJW 1995, S. 2398.
Zur Zukunft der Organ- und Gewebespende
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Bevor sich der Blick freilich näher auf das Transplantationsgesetz konzentrieren kann, kann nicht unberücksichtigt bleiben, dass mit der 12. AMG-Novelle8 bereits eine Reihe von wesentlichen Veränderungen Gesetz geworden sind. Damit müssen nun Stoffe aus menschlicher Herkunft, die zur Arzneimittelherstellung verwendet werden sollen, als Wirkstoffe nach § 20a AMG behandelt werden, wobei es gleichgültig ist, ob sie sofort transplantiert werden sollen oder ob zunächst eine Konservierung und Lagerung in einer Gewebebank vorgesehen ist. Neben den vermittlungspflichtigen Organen nach § 9 TPG, nämlich Herz, Niere, Leber, Lunge, Bauchspeicheldrüse und Darm, wird durch die Gewebespende der Eingriff in den Leichnam nicht unerheblich erweitert. Schon § 1 TPG verdeutlicht, dass das Gesetz von einem sehr umfassenden Organbegriff ausgeht, das heißt, dass allgemeine Strukturen, die ihre Blutversorgung und ihre Fähigkeit zum Vollzug physiologischer Funktionen nicht mit deutlicher Autonomie aufrecht erhalten, dazu gehören. Die für die Gewebetransplantation in Betracht kommenden Körperteile sind dabei in erster Linie Augenhornhäute oder Teile von ihr, mit oder ohne Lederhaut, bzw. Augenäpfel sowie die Eihaut von gespendeten Mutterkuchen zur operativen Förderung der Wundheilung der Augenoberfläche. Groß ist auch das Interesse an Herzklappen und Herzbeuteln sowie anderer großer Gefäße. Die Forschung konzentriert sich gegenwärtig intensiv auf Leberbestandteile und insbesondere Leberzellen, auf die Hepatozyten. Gerade bei Brandverletzungen sind Haut- und Endothelzellen gefragt. Ein bislang wenig beachtetes aber immer stärkeres Interesse gilt Knochen und Knorpeln. Um überhaupt den Handlungsbedarf, aber auch den zur Verfügung stehenden Spielraum auszuloten, muss zunächst analysiert werden, wie sich gegenwärtig die Situation von Organspende und Gewebespende darstellt. Vorrangig geht es dabei um drei Komplexe: 1. Für die Zukunft spielt es zunächst eine Rolle, wer überhaupt als Interessenvertreter von Organspende und Gewebespende und den entsprechenden Transplantationen als wesentlicher Faktor zu berücksichtigen ist. Es geht um die Interessenlage der unterschiedlichen Gruppen. Hier sind zunächst die Empfänger, die bei der Gewebespende nicht auf Wartelisten erfasst sind, an der Spitze zu sehen. Den zentralen Gegenpol bilden potenzielle Organspender mit allen Problemen, die zwischen Spende und Transplantation liegen. Anders als bei der Organspende spielt darüber hinaus ein stärker ausgeprägtes Interesse der Industrie eine Rolle. Dabei muss berücksichtigt werden, dass die EUGeweberichtlinie die Begriffe von Gewebe und Zellen gebraucht, in erster Linie damit auch die aus Gewebe und Zellen hergestellten Produkte meint. Damit ist im Gegensatz zur herkömmlichen Organspende die Aufbereitung von Gewebespenden, ihre sachgerechte Lagerung und Allokation angesprochen. Konkret bedeutet das, dass gerade die EU-Richtlinie an die Aufbereitung von Gewebe besonders hohe Anforderungen stellt. Viele Kliniken, die etwa bislang Augenhornhäute aufbereitet und gelagert haben, werden wegen des hohen technischen Aufwandes und 8
Zwölftes Gesetz zur Änderung des Arzneimittelgesetzes vom 30. Juli 2004, BGBl. 2004 I/41 vom 5. August 2004, 2031.
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der damit verbundenen Kosten Probleme haben. Insofern sieht die Industrie hier ein möglicherweise gewinnträchtiges Marktsegment. 2. Ganz neue Probleme sind dadurch entstanden, dass nunmehr auch eine Allokation von Gewebe notwendig werden wird. Da bislang die Zuteilung von Geweben mehr oder weniger auf Zuruf erfolgt, wird für die Zukunft zu klären sein, welche Allokationsregeln hier Anwendung finden müssen. Bislang ist noch nicht in allen Details geklärt, ob hier wirklich ein so intensiver Mangel besteht, dass überhaupt Verteilungskriterien zu entwickeln sind. Bedeutsam ist freilich, dass für Erprobungsphasen keine langen Zeiträume zur Verfügung stehen, da die Richtlinie innerhalb von zwei Jahren seit dem Inkrafttreten am 31. März 2004 umzusetzen ist. 3. Ein weiterer Fragenkreis trifft die Entnahmevoraussetzungen nach dem Transplantationsgesetz. Es ist zu überlegen, ob die Entnahmevoraussetzungen für die Gewebespende immer identisch sein müssen mit denen für die Organentnahme von durchbluteten Organen. Nur stichwortartig sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die sehr komplexe und aufwendige Hirntoddiagnostik von zwei unabhängig voneinander tätigen Ärzten einen hohen Aufwand darstellt. Dieser ist sachgerecht und notwendig, wenn es um die Entnahme von durchbluteten Organen geht. Darüber hinaus ist freilich die Frage zu stellen, ob im Fall einer Gewebespende nach Todeseintritt bei nichtbeatmeten Patienten die gleichen hohen Sorgfaltskriterien erforderlich sind, wenn insbesondere der Herz-Kreislauf-Tod festgestellt und der Totenschein ausgefüllt ist.
I. Wer ist auf dem „Markt“? Das Transplantationsgesetz hat, insbesondere was die Institutionen angeht, ein bestehendes Kräfteverhältnis ohne tief greifende Veränderungen gesetzlich geregelt9. Das abgewogene Verhältnis zwischen Transplantationszentren, Koordinierungsstelle und Vermittlungsstelle war vor dem Transplantationsgesetz ein gut eingespieltes System. Die Regelung des Transplantationsgesetzes in § 12 Abs. 2 TPG lässt es zu, und das ist in Deutschland soweit ersichtlich eine einzigartige Lösung, dass die Vermittlungsstelle auch außerhalb des Geltungsbereiches dieses Gesetzes liegen kann. Dies war, und das kann man ohne jede Einschränkung sagen, eine eindeutige Regelung zugunsten von Eurotransplant. Vor dem Hintergrund dieser Regelung entsteht für die Gewebespende die Frage, ob man in vergleichbarer Weise ein jetzt bestehendes System gesetzlich regeln sollte. Sucht man aber nach einem bestehenden System im Bereich der Gewebespende, so muss man feststellen, dass die Situation mit der vor dem Gesetzgebungsverfahren zum Transplantationsgesetz vergleichbar ist. Zwar sind Augenhornhäute, Gehörknöchelchen, Herzklappen und Knochen und andere Gewebe 9
Vgl. Hans Lilie, Transplantationsgesetz – Was nun?, in: Medizin-Ethik-Recht, Rechtsphilosophische Hefte Nr. 8, 1998, S. 89, 90.
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Organe im Sinne des umfassenden Organbegriffes nach § 1 TPG. Das bedeutet, dass für die Entnahme von Organen, Organzellen und Geweben einheitliche Voraussetzungen gelten. Gleichwohl wird man von einem ganz eigenen Sektor der Gewebetransplantation sprechen müssen. Denn der weitere Transplantationsablauf nach der Entnahme ist für die Gewebe im Gegensatz zu den in § 9 genannten vermittlungspflichtigen Organen gerade nicht geregelt. Vermittlungspflichtig sind die vom Verstorbenen entnommenen Organe Herz, Niere, Leber, Lunge, Bauchspeicheldrüse und Darm. Nur für diese Organe ist die Entnahme in Transplantationszentren (§ 9 Abs. 1 TPG) und die Mitwirkung von Koordinierungs- (§ 11 TPG) und Vermittlungsstelle (§ 9 Abs. 2 TPG) vorgeschrieben. Auch die Führung der Wartelisten als eine Aufgabe der Transplantationszentren (§ 10 TPG) ist für andere als die vermittlungspflichtigen Organe daher nicht gesetzlich vorgeschrieben. Im Bereich der Gewebetransplantation gilt insbesondere auch nicht die Pflicht zur Meldung hirntoter Patienten (§ 11 Abs. 4 S. 2 TPG). Konkret bedeutet das, dass für die Gewebespende die Meldepflicht der Krankenhäuser – die in der Praxis in der Regel fast immer unterlaufen wird – für potenzielle Patienten, die als Gewebespender in Betracht kommen, nicht gilt. Vor diesem Hintergrund bleibt gegenwärtig nur festzustellen, dass die Situation der Gewebespende heute zwar partiell durch das Transplantationsgesetz erfasst ist, dass aber keine vergleichbare Ausdifferenzierung, die beim Transplantationsgesetz gegeben ist, von den Richtlinien zum Führen einer Hornhautbank einmal abgesehen10. Damit wird für den Problemkreis der rechtlichen Organisation der Hornhautspende zum Beispiel zugleich die Frage aufzuwerfen sein, ob weiterhin eine klinikinterne oder eine regional organisierte Regelung zu empfehlen ist11. Einige Aspekte für die Gewebespende sind vom Transplantationsgesetz erfasst. In weiten Bereichen sind jedoch Neuregelungen notwendig. Gerade für diese Neuregelungen sind indes weitergehende Erwägungen dahingehend anzustellen, ob eine gesetzliche Regelung notwendig ist, oder ob im TPG eine weitere Richtlinienkompetenz für die Bundesärztekammer einzurichten ist, die die Einzelfragen der Gewebespende klären könnte. Soweit die Regelung durch Richtlinien auf diesem Sektor für problematisch gehalten wird12, muss man freilich sehen, ob sich die gleichen Bedenken, selbst wenn man der Auffassung folgen wollte, auch auf die Gewebespende ausweiten lassen. Letztendlich geht es hier nicht um vergleichbar vitale Interessen. Unter diesen Voraussetzungen braucht man gerade für die Gewebespende flexiblere und differenzierte Regelungsinstrumente, die eine sachge10 11
12
DÄBl. 97 (2000), S. A 2122 ff. Zu Vorteilen der Regionalisierung vgl. Hans-Reinhard Zerkowski, Hans Lilie, Regionalisierung der Herztransplantation, in: DÄBl. 94 (1997), S. A 2397 f.; Hans Lilie, Ist das Lokal-Donar-Prinzip mit dem Transplantationsgesetz vereinbar? In: Christian Dierks, Peter Neuhaus, Albrecht Wienke (Hrsg.), Die Allokation von Spenderorganen, Berlin 1999, S. 53 f.; ausführlich dazu Christina Herrig, Die Gewebetransplantation nach dem Transplantationsgesetz. Entnahme – Lagerung – Verwendung, Frankfurt/M. u. a. 2002, S. 151 f. Jochen Taupitz, Richtlinien in der Transplantationsmedizin, in: NJW 2003, S. 11451150.
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rechte Grundregel, aber auch eine unkomplizierte Anpassung bei Veränderung der medizinischen Voraussetzungen möglich machen. Freilich muss in diesem Falle Berücksichtigung finden, dass die EU-Geweberichtlinie im Erwägungsgrund 19 die Freiwilligkeit und Unentgeltlichkeit der Gewebespende festgeschrieben hat. Diese und ähnliche Grundprinzipien, die sich aus der Geweberichtlinie ergeben, sind durchaus mit dem Grundcharakter des Transplantationsgesetzes vereinbar, sodass es sich empfiehlt, diese Prinzipien im Gesetz selbst aufzunehmen, während die weiteren Regeln hinsichtlich Aufbereitung und Allokation eher über die Richtlinienarbeit der Ständigen Kommission Organtransplantation der Bundesärztekammer sachgerecht zu regeln sind. Schon bislang hat die Bundesärztekammer durch ihre Richtlinienarbeit hier ein umfassendes Regelungswerk entwickelt13. Analysiert man vor dem Hintergrund den „Markt“, dann bleibt zunächst festzustellen, dass ca. zwanzig Hornhautbänke gegenwärtig 50% des Bedarfs an Augenhornhäuten in der Bundesrepublik decken. Im Zentrum stehen hier Augenkliniken, die bis auf wenige Ausnahmen in Universitätskliniken integriert sind und versuchen durch Spende und Aufbereitung der Gewebematerialien eine optimale Verteilung zu sichern. Man kann heute davon ausgehen, dass sich bei Augenhornhäuten in vielen Grundsatzfragen eine Routine entwickelt hat, wogegen die Aufbereitung von Hepatozyten noch in der Erprobungsphase zu sein scheint. Nachdem die Kliniken zunächst wohl eher im Wege der Selbstversorgung eigene Patienten bevorzugt haben, hat sich mit der Weiterentwicklung der Gewebespende und der weiteren Verbreitung der Hornhauttransplantationen die Frage der Versorgung in einer neuen Dimension gestellt. Daher hat die Deutsche Stiftung Organtransplantation 1997 die Gemeinnützige Gesellschaft für Gewebetransplantation gegründet. Diese einhundertprozentige Tochter der DSO arbeitet nach den Grundsätzen der Gemeinnützigkeit und sieht ihr Aufgabenfeld in einer bedarfsgerechten, qualitätsgesicherten, transparenten und kostengünstigen Versorgung der Patienten mit Gewebetransplantaten. Die DSO-G, hinter der die DSO steht, bietet den großen Vorteil, dass die Koordinierungsstelle aktiv in die Organspende eingebunden ist und ein funktionierendes Spendensystem aufgebaut hat. Dadurch ist ein optimaler Zugriff auf die Organspende gewährleistet, zumal die Koordinatoren der DSO in der Regel auch die Gespräche mit den Angehörigen der Verstorbenen führen und hier über eine unschätzbare Erfahrung verfügen. Daneben engagiert sich Bio-Implant-Services (BIS), eine Tochtergesellschaft von Eurotransplant, intensiv für die Gewebespende. Ausgangspunkt war, dass in den Niederlanden bereits im Jahre 2002 ein Gesetz mit Schutzmaßnahmen für die 13
Richtlinien zur Verwendung fetaler Zellen und fetaler Gewebe (1991), Richtlinien für die allogene Knochenmarktransplantation mit nichtverwandten Spendern (1994), Richtlinien zur Transplantation peripherer Blutstammzellen (1997), Richtlinien zur Transplantation von Stammzellen aus Nabelschnurblut (1991), Richtlinien zum Führen einer Hornhautbank (2000), Richtlinien zum Führen einer Knochenbank (2001), S. auch die Stellungnahme zur (Weiter-)Verwendung von menschlichen Körpermaterialien für Zwecke medizinischer Forschung (2003) der Zentralen Ethikkommission bei der Bundesärztekammer.
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Sicherheit und Qualität menschlichen Gewebes verabschiedet worden war. Dieses Gesetz, das Gewebespenden von Lebenden und Verstorbenen zum Gegenstand hat, nahm bereits in vielen Punkten die europäische Geweberichtlinie vorweg. Die Hauptinteressen von BIS liegen in der Allokation von Augenhornhäuten, Herzklappen, Knochen und Geweben. Hierfür hat BIS Allokationskomitees installiert und einen Schwerpunkt bei typisierten Hornhäuten und Geweben gesetzt. BIS importiert eine große Anzahl von Augenhornhäuten aus den USA und kann den Bedarf in den Niederlanden zurzeit hervorragend decken. Außerdem versorgt BIS deutsche Zentren ebenfalls in erheblichem Umfang. Dabei ist wohl BIS in einer Konkurrenzsituation zur DSO-G zu sehen, da beide ihr Hauptinteresse auf die Allokation von Gewebe auch im deutschen Raum lenken. BIS bietet den Vorteil einer partiellen europäischen Vernetzung, die freilich nicht über die bestehenden Verbindungen von Eurotransplant hinausgehen. Als vierte wesentliche Kraft auf dem Markt ist die Industrie zu sehen. Firmen können am leichtesten die hohen Ansprüche der Europäischen Geweberichtlinie erfüllen, da die Maßstäbe, die an die Qualität und Sicherheitsstandards für Spendebeschaffung und Testung von Augenhornhäuten angelegt werden, von kleinen Kliniken sicherlich nur schwer erfüllt werden können. Schon diese Konkurrenzsituation belegt, dass die Voraussetzungen auch hier nicht mit der Situation bei Verabschiedung des Transplantationsgesetzes vergleichbar sind. Wenn die Umsetzung der Geweberichtlinie in einem Gesetz ernsthaft in Betracht gezogen wird, sind deshalb zwangsläufig Überlegungen dazu nötig, in welche Hand die zentrale Verantwortung für die Gewebespende in Deutschland gelegt werden sollte. Dabei wird es letztendlich um einen Wettbewerb zwischen DSO-G und BIS gehen können. Dies bedeutet, dass der Gesetzgeber sich entscheiden muss, ob er, wie bei der Organspende, zwischen Koordinierungsstelle und Vermittlungsstelle unterscheiden will, oder ob eine dritte Ebene für die Aufbereitung von Geweben notwendig ist.
II. Allokation von Gewebe Vor diesem Hintergrund ist die Frage der Allokation von gewonnenem und aufbereitetem Gewebe neu zu überdenken. Selbst wenn man die Verantwortung für Verarbeitung, Aufbereitung und Konservierung entweder einzelnen Kliniken oder wegen der hohen Anforderungen und dem damit zwangsläufig notwendigen Kapital eher der Industrie überträgt, so bleibt unabhängig davon die Allokationsregel offen. Selbst dann, wenn die im Rahmen der Koordinierung der Organspende gewonnenen Organe Außenstehenden zur weiteren Aufbereitung übergeben werden, stellt sich anschließend die Frage der Allokation. Für die Klärung der hier in Betracht kommenden Konflikte sind die Beziehungen zwischen den o. g. Einrichtungen maßgeblich. Vor einer endgültigen Entscheidung sind jedoch Überlegungen zur Grundstruktur der Allokation von Geweben notwendig. Gerade weil eine vergleichbare lebensbedrohende Situation wie bei den vermittlungspflichtigen Organen nicht besteht, kann erwogen werden, ob neue Allokationssysteme möglicher-
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weise gerade auf der Basis der Erfahrungen des TPG hier ratsam erscheinen können. Zwangsläufig ist das Ergebnis dieser Überlegungen auch davon abhängig, wer sich in der Zukunft langfristig etabliert. Es muss also geklärt werden, wem man diese Aufgabe für die Zukunft übertragen kann, um eine effektive und verantwortungsbewusste Durchführung der Gewebespende zu gewährleisten. Dabei muss es sicherlich eine zentrale Rolle spielen, dass auch die Richtlinie des Europäischen Parlaments und Rates eine Kommerzialisierung der Gewebespende von vornherein, ebenso wie bei der Organtransplantation, ausschließt (Erwägungsgrund 18). Die Kliniken, die bisher sehr aktiv an der Allokation beteiligt sind und teilweise auch den Bedürfnissen ihrer eigenen Patienten gerecht werden, scheiden als Verantwortliche für die Allokation sehr schnell aus. Ihnen fehlt der organisatorische Hintergrund, die finanzielle Basis und schließlich ist der Aufgabenkreis originär ein anderer. Dem steht ein anderer Vorzug gegenüber. Auch wenn die organisatorische Verantwortung an vielen Punkten die Leistungsfähigkeit der Kliniken überfordert, so hat jedoch eine Konzentration auf die Kliniken den Vorteil, dass das lokale Engagement, das man auch mit dem Begriff Regionalisierung bezeichnen kann, ein hohes Gewebeaufkommen sichert und damit eine zuverlässige Basis für die Organspende liefert. Wenn man den Aspekten der Regionalisierung eine große Bedeutung zumessen möchte,14 so spricht das gleichwohl nicht gegen die zweite Möglichkeit, einer national organisierten Allokation. Dieser Weg, der in Deutschland etwa auf der Basis der vorhandenen Organisationsstruktur der DSO-G weiter ausgebaut werden könnte, vermag die Kooperation mit den Kliniken zu organisieren und dabei die Basis zu nutzen, die durch die Koordinierungsstellenarbeit bereits zu engen Kontakten zu den Krankenhäusern geführt hat. Eine nationale Allokation mit einer gewissen Regionalisierung könnte den Interessen der Patienten am ehesten gerecht werden, zumal die Gewebeverträglichkeit, die bei den vermittlungspflichtigen Organen einen breiteren Allokationsrahmen erforderlich macht, bei den hier maßgeblichen Geweben in der Regel nicht die gleiche Bedeutung hat. Auf dieser Basis ließe sich auch eine Verbindung von Organ- und Gewebespende sicherstellen und verantwortbar organisieren. Selbst wenn die europäische Richtlinie die Selbstversorgung innerhalb der Europäischen Gemeinschaft zum Gegenstand hat, spricht das nicht gegen eine nationale Regionalisierung. Den Anforderungen der Richtlinie wäre schon dadurch genüge getan, dass die Bürger der Europäischen Gemeinschaft gleiche Garantien zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung haben. Das Beispiel der holländischen BIS zeigt, dass auch durch eine stärker national orientierte Allokation eine zuverlässige Versorgung möglich ist. Ob darüber hinaus für bestimmte Gewebe, wie etwa typisierte Hornhäute, nach dem „Best Match“ gesucht werden muss, widerspricht nicht einer solchen Regelung. Insofern scheint ein gestuftes System denkbar, das wie in anderen europäischen Ländern einen ersten Schritt auf nationaler Ebene vorsieht, bevor die Gewebe international auf Eurotransplantebene angeboten werden.
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Vgl. zu solchen Ansätzen Lilie, Organtransplantationsgesetz – was nun?, S. 89 ff., 95 ff.
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Die Vorteile lägen dann in der Übersichtlichkeit und der besseren Kontrolle vor Missbrauch und einer zuverlässigen Marktregulierung. Auch die Vereinheitlichung der Standards der Organkonservierung wäre besser zu garantieren. Ein zweiter wichtiger Schritt könnte in einem internationalen Austausch liegen, wobei dann BIS bzw. Eurotransplant die ersten Ansprechpartner wären. Die Einzelheiten müssten durch Richtlinien der Bundesärztekammer sichergestellt werden, weil hier der Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft jederzeit flexibel umgesetzt werden kann. Eine zu weit gehende gesetzliche Regelung würde hingegen eine sachgerechte Patientenversorgung gefährden, wenn komplizierte Gesetzesänderungen zur Anpassung von medizinischen Standards erforderlich werden. Ferner wäre bei der Regelung der Allokation unbedingt zu berücksichtigen, dass die jeweiligen Wartelisten, wenn sie notwendig werden, unterschiedlichen Bedingungen unterliegen. So ist z. B. zu berücksichtigen, dass der Einsatz von Herzklappen bei Kindern, insbesondere bei Reoperationen, eine große Rolle spielt, sodass hier, anders als bei Erwachsenen, eine Warteliste entstehen wird. Demgegenüber wird bei der Cornea nur in ganz seltenen Ausnahmefällen eine hohe Dringlichkeit zu verzeichnen sein. Deshalb sollten die entsprechenden Richtlinien die Indikationen für die Wartelistenaufnahme und Wartelistenführung regeln. Im Bereich der Organspende müsste für die Organgewinnung außerdem eine Regelung vor dem Hintergrund getroffen werden, dass heute umstritten ist, wer bei einer Entnahme von Herzklappen über diese zu verfügen hat. Hier kommen sowohl das Spenderkrankenhaus wie das Organentnahmeteam in Betracht.
III. Probleme bei der Hirntodfeststellung Die Gewebe und auch Organe dürfen vom verstorbenen Spender nur entnommen werden, wenn der Tod eingetreten ist.15 Es ist notwendig, dass der Tod zweifelsfrei festgestellt worden ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 TPG und § 3 Abs. 2 Nr. 2 TPG). Da § 1 Abs. 1 Satz 1 TPG von einem umfassenden Organbegriff ausgeht, gilt dieses Feststellungsverfahren einheitlich für alle Organe im Sinne dieser Vorschrift. Danach können Gewebe und insbesondere auch Hornhäute nur entnommen werden, wenn bei dem Verstorbenen auch der Hirntod festgestellt und nachgewiesen worden ist. Dabei regelt sich das Nachweisverfahren nach den Voraussetzungen, wie sie in § 5 TPG festgelegt worden sind. Für die Todesdefinition und Todesfeststellung im Rahmen der Gewebespende verbirgt sich hinter dieser Systematik ein Fehler im Gesetzgebungsverfahren16. Der eigentliche Fehler liegt darin, dass nach Änderungen im Gesetzgebungsverfahren im Rahmen des § 3 des TPG übersehen worden war, dass in den früheren Entwürfen zum Transplantationsgesetz alterna15
16
Matthias Krüger, in: Karl Miserok, Ralf Sasse, Matthias Krüger, Transplantationsrecht des Bundes und der Länder, Wiesbaden 2001, § 3 Rdnr. 28 ff. Vgl. dazu ausführlich Herrig, Die Gewebetransplantation nach dem Transplantationsgesetz, S. 108 f.; Parzeller/Hentze/Bratzke, in: KritV 2004, S. 375.
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tiv die Feststellung von Herz-Kreislauf-Stillstand oder die Feststellung des irreversiblen Hirntodes als Entnahmevoraussetzung vorgesehen waren. Bei diesen Änderungen wurde die Bestimmung nicht mit übernommen, die vorsah, dass der Hirntod nur vor der Entnahme vermittlungspflichtiger Organe nachzuweisen ist. Die Konsequenz ist, dass gegenwärtig der Hirntodnachweis als zusätzliche Entnahmevoraussetzung neben dem Todesnachweis bei Herz-Kreislauf-Tod immer vor der Entnahme aller in Betracht kommenden Transplantate, also auch Gewebe, notwendig ist17. Aus dieser missglückten Gesetzesregelung ergibt sich, dass es gegenwärtig nicht möglich ist, für Gewebeentnahmen nur die Feststellung des HerzKreislauf-Stillstandes genügen zu lassen. Es ist ausführlich nachgewiesen worden, dass der Gesetzestext in § 5 Abs. 1 Satz 2 TPG zu einer Regelung geführt hat, die nicht beabsichtigt war und systemwidrig ist und gerade vor dem Hintergrund einer Neuregelung der Gewebespende einer sorgfältigen Überprüfung bedarf18. Gerade in den Fällen, in denen eine Entnahme von vermittlungspflichtigen Organen entweder vom Organspender ausgeschlossen wurde oder aus medizinischen Gründen nicht möglich ist, besteht ein dringender Regelungsbedarf. Hier sollte in der Zukunft nur für Gewebeentnahme genügen, dass nach eingetretenem Herz-KreislaufStillstand und einer ausreichenden Karenzzeit der Tod ordnungsgemäß festgestellt worden ist. Nur so ist auf Dauer sicherzustellen, dass insbesondere Augenhornhäute im notwendigen Umfang als Organspenden überhaupt zur Verfügung stehen werden.
IV. Weitere Fragen Eine stärkere Entwicklung der Gewebespende lässt befürchten, dass Organe und Gewebe zu einer „Dreiklassengesellschaft“ bei Organspenden führen. Auf einer höchsten Stufe mit präzisesten Ansprüchen an die Spende ist die bisherige Organspende von vermittlungspflichtigen Organen angesiedelt. Diese erstklassigen, gut protektierten Organe stehen für die Organtransplantation im herkömmlichen Sinne zur Verfügung. Inzwischen hat sich aber auf dem Markt eine zweite „Klasse“ von Organen etabliert. Soweit der große Organmangel flexiblere Kriterien fordert, sprechen wir inzwischen von so genannten „marginalen“ Organen und dem Programm „Old-for-Old“. Hier handelt es sich um Organe, die nicht die gleiche Qualität aufweisen wie die der „Ersten Klasse“. In einer dritten Kategorie geht es in der Zukunft um die Gewebespende. Es handelt sich um solche Organe, wie etwa problematische Lebern, die für die Leberspende selbst als marginale Organe nicht mehr in Betracht kommen. Diese können in der Zukunft für Hepatozytentransplantationen genutzt werden. Da gegenwärtig ein erheblicher Forschungsbedarf hinsichtlich des Einsatzes von Hepa17
18
Parzeller/Hentze/Bratzke, in: KritV 2004, S. 378; Tade M. Spranger, Die Rechte des Patienten bei der Entnahme und Nutzung von Körpersubstanzen, in: NJW 2005, S. 1084. Herrig, Die Gewebetransplantation nach dem Transplantationsgesetz, S. 110.
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tozyten besteht, könnte befürchtet werden, dass potenziell transpantable Lebern von vornherein als nicht transplantabel qualifiziert werden könnten, um so die Forschung an Hepatozyten zu fördern. Im Rahmen einer Regelung ist deshalb zu berücksichtigen, ganz gleichgültig, ob es sich um ein Gesetz oder eine Richtlinie handelt, dass für vermittlungspflichtige Organe immer ein absoluter Vorrang besteht, sodass Missbrauch und damit eine Verdrängung der Organspende zum Vorteil der Gewebespende von vornherein verhindert wird. Sieht man schon die heute entstehenden Schwierigkeiten bei der Identifizierung marginaler Organe und berücksichtigt dabei die Schwierigkeiten, die besondere Allokationsregeln mit sich bringen, so ist hier eine sorgfältige Abgrenzung notwendig. Gleiches gilt letztlich für die medizinische Definition von nicht transplantablen Organen, damit sichergestellt ist, wann Organteile, wie Herzklappen, für eine Gewebespende zur Verfügung stehen.
V. Aufklärung und Einwilligung Durch neu entstandene Möglichkeiten der Gewebespende hat die Organspende generell eine weitere Dimension erreicht. Allen Beteiligten muss deutlich werden, dass die Eingriffe in den Leichnam des Verstorbenen durch die Gewebespende weitergehen und ein größeres Maß annehmen, als im bisherigen Bild in der Bevölkerung von Organspende. Es geht nicht mehr nur um Niere, Herz und Leber, sondern der Eingriff in den Leichnam wird in Zukunft viel intensiver werden können. Ein immer drängenderes Problem ist dadurch entstanden, dass die Ärzte bei der Organspende hinsichtlich des Umfangs der zulässigen Entnahme verunsichert sind. Organspenderausweise gehen in der Regel auf die weit umfangreicheren Eingriffe bei der Organspende gerade hinsichtlich der Entnahme von Gewebe nur in den seltensten Fällen ein. Damit stellt sich die Frage, ob auch das Angehörigengespräch, in dem bislang nur nach einer Multiorganspende gefragt worden ist, auch auf die Gewebe auszudehnen ist, oder ob die im Einzelfall generell gezeigte Bereitschaft, einer Organspende zuzustimmen, ausreicht. Hierbei spielen eine Reihe von Aspekten eine wichtige Rolle. Organspende und damit Organtransplantation werden in Deutschland nur eine Zukunft haben, wenn alle Beteiligten die notwendige Transparenz für die Öffentlichkeit sicherstellen. Hier darf nichts hinter dem Rücken der Angehörigen und Anderen geschehen. Von daher ist es geradezu eine Selbstverständlichkeit, dass die Aufklärung umfassend, offen und in jedem Fall auch in ihrer vollen Tragweite zu erfolgen hat. Freilich sollte man gerade zur Schonung der Angehörigen auch berücksichtigen, dass Aufklärung über Organspende einen anderen rechtlichen Hintergrund hat, als die Selbstbestimmung vor Eingriffen am Patienten. Vor Operationen und anderen ärztlichen Eingriffen ist die Einwilligung Grundvoraussetzung, weil es um Selbst-
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bestimmungsaufklärung geht19. Nur wenn der Patient in allen Einzelheiten mit dem Eingriff einverstanden ist, gibt er dem Arzt das Recht zum Eingriff20. Bei der Organspende geht es freilich nicht um die Selbstbestimmung in einem vergleichbaren Umfang. Insbesondere dann nicht, wenn der konkrete Wille des Organspenders nicht in Form eines Organspendeausweises vorliegt. Haben die Ärzte es mit einem der seltenen Fälle zu tun, in dem ein Organspendeausweis vorliegt, regelt sich damit automatisch Inhalt und Umfang der Organspende. Sind die Ärzte vor einer Organ- und Gewebespende freilich auf ein Angehörigengespräch angewiesen und hat der Verstorbene zu Lebzeiten in keiner Weise erkennen lassen, was sein Interesse ist, dann geht es bei der Organspende nicht um Selbstbestimmungsaufklärung. Im Zentrum der Zustimmung der Angehörigen steht dann eigentlich nur noch die Wahrung des fortwirkenden Persönlichkeitsrechts des Verstorbenen21. Von daher müssen nicht zwangsläufig die gleichen strengen Anforderungen an Inhalt und Umfang der Aufklärung gestellt werden22. Damit soll freilich der Organspende nicht Tür und Tor geöffnet werden. Allerdings sollte man für einen schonenden Umgang mit den Angehörigen gerade in der konkreten Leidsituation nach dem oft überraschenden und schmerzlichen Tod keine bis ins Letzte detaillierte Aufklärung fordern. Wichtig ist, dass in diesem Zusammenhang die Interessen der Angehörigen geachtet und die Würde des Verstorbenen in jedem Zeitpunkt der Organspende gewahrt bleiben. Gleichzeitig sollten sich alle an der Organspende Beteiligten redlich darum bemühen, gegenüber der Öffentlichkeit die notwendige Transparenz zu wahren, damit das Vertrauen in diese medizinischen Behandlungsmethode nicht gefährdet wird.
VI. Würde des Organspenders Bei alledem muss berücksichtigt werden, dass mit zunehmender Gewebespende die Eingriffe in den Leichnam Verstorbener intensiver werden. Ging im vorigen Jahrhundert die kritische Frage nach der Organspende von der Nierenspende aus, so fand sie sehr schnell ihre Erweiterung über Herz, Leber, Lunge, Dünndarm und Knochenmaterial. Nunmehr wird die Problematik der Organspende noch um die der Gewebespende erweitert. Art. 13 der Europäischen Richtlinie schreibt ausdrücklich die Einwilligung der Spender oder der Angehörigen fest und regelt zugleich, dass die Betroffenen alle sachdienlichen Informationen erhalten. Der nationale Gesetzgeber ist im Rahmen der Umsetzung aufgerufen, die erforderlichen Maßnahmen gesetzlich zu regeln. Auch weist die Richtlinie in den Erwägungs19
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Adolf Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., München 1993, Rdnr. 168; Hans Forkel, Das Persönlichkeitsrecht am Körper, gesehen besonders im Lichte des Transplantationsgesetzes, in: Jura 2001, S. 74 ff. Laufs, Arztrecht, Rdnr. 168. Lars Christoph Nickel, Die Entnahme von Organen und Geweben bei Verstorbenen zum Zwecke der Transplantation, Diss. Bonn 1999, S. 141. Taupitz, Menschliche Körpersubstanzen nutzbar nach eigenem Belieben des Arztes?, in: DÄBl. 90 (1993), S. A 1106-A 1112.
Zur Zukunft der Organ- und Gewebespende
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gründen (Nr. 16) ausdrücklich darauf hin, dass die Würde des Spenders zu wahren und der Körper eines verstorbenen Spenders so zu rekonstruieren ist, dass die größtmögliche Ähnlichkeit mit der ursprünglichen anatomischen Form gewährleistet ist. Unter diesem Gesichtspunkt wird der ethische Aspekt, der mit der Erweiterung der Gewebespende verbunden ist, deutlich betont. Hier ist der Gesetzgeber aufgefordert, das Vertrauen in die Organ- und Gewebespende durch entsprechende Vorschriften sicherzustellen23. Sobald das Vertrauen der Bevölkerung in die Organspende auch nur ansatzweise beeinträchtigt wird, ist mit einem Spenderrückgang und damit einer Gesundheitsgefährdung für die wartenden Patienten zu rechnen24.
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Heike Jung, Organtransplantation im Licht der ethischen Herausforderung, in: JZ 2004, S. 559, 563. Laufs, Der Arzt – Herr über Leben und Tod, in: Dieter Schwab (Hrsg.), Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat, Berlin 1989, S. 146, 160.
Die zustimmende Bewertung einer Ethikkommission bei der klinischen Prüfung von Arzneimitteln nach dem novellierten Arzneimittelgesetz und der GCP-Verordnung Hans-Dieter Lippert
A. Einleitung Die langjährige Tätigkeit des Jubilars als Mitglied in der Ethikkommission der Landesärztekammer Baden-Württemberg ist aus seinem Leben nicht wegzudenken, ohne dass etwas fehlen würde. Sie hat in seinem wissenschaftlichen Werk auch deutliche Spuren hinterlassen1. Die aktuelle und grundlegende Umgestaltung des 6. Abschnitts des AMG, welcher den Schutz des Menschen bei klinischen Prüfungen regelt (§§ 40 bis 42a) sowie der Erlass der GCP-Verordnung bieten ausreichend Anlass, sich mit diesem wichtigen Feld der Forschung auf dem Arzneimittelsektor näher zu befassen, zumal die Neufassung der Vorschriften in der praktischen Umsetzung eine Fülle lösungsbedürftiger Probleme aufwirft. Kein Skandal wie derjenige um die Verordnung von Tierarzneimitteln, bei der 11. Novelle, sondern eine Richtlinie der Europäischen Union gab den Anlass für die 12. Novelle. Mit ihr wird in wesentlichen Teilen mit der schon fast gewohnheitsrechtlich gewordenen Verspätung in Deutschland der 6. Abschnitt des Arzneimittelgesetzes, der der klinischen Prüfung mit Arzneimitteln beim Menschen gewidmet ist, europatauglich gemacht. Eigentlich hätte die Änderung, die am 6. August 2004 in Kraft getreten ist, bereits zum 30. April 2003 verabschiedet sein und zum 1. Mai 2004 in Kraft getreten sein müssen2 .
B. Die klinische Prüfung von Arzneimitteln am Menschen Arzneimittel sollen ihren Anwender nicht schädigen. Sie sind daher so sicher und so wirksam wie möglich in den Verkehr zu bringen. Ehe dies der Fall ist, müssen sie zugelassen (oder registriert) werden. Bei Arzneimitteln hat der Zulassung (anders als im Bereich der Medizinprodukte wo die klinische Prüfung auch nur aus1
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Vgl. hierzu erst kürzlich Adolf Laufs, Die neue europäische Richtlinie zur Arzneimittelprüfung und das deutsche Recht, in: MedR 2004, S. 583. Gesetz vom 30. Juli 2004 (BGBl I S. 2031) sowie die GCP-V vom 9. August 2004 (BGBl I S. 2081). Paragrafen ohne weitere Gesetzesbezeichnung sind im folgenden solche des AMG.
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nahmsweise erforderlich sein kann) zwingend eine klinische Prüfung in mehreren Phasen, teilweise auch am Menschen, vorauszugehen. Mit ihr sollen Sicherheit und Wirksamkeit des Arzneimittels nachgewiesen werden. Mit der klinischen Prüfung konnte bisher erst begonnen werden, wenn sie einer nach Landesrecht gebildeten Ethik-Kommission zur Begutachtung vorgelegt und sie der Bundesoberbehörde angezeigt worden war. Hieran hat sich auch unter der neuen Rechtslage im Grundsatz nichts geändert, allerdings mit einer (wesentlichen) Einschränkung: die Bundesoberbehörde muss die klinische Prüfung nunmehr genehmigen, ehe mit ihr begonnen werden kann. I. Die gesetzlichen Grundlagen Mit der 5. Novelle zum Arzneimittelgesetz3 war in § 40 erstmals die Einschaltung einer Ethikkommission und der anzuwendende Maßstab für die Prüfung gesetzlich geregelt worden4. Der Gesetzgeber hat ersichtlich auf die berufsrechtlichen, in den Berufsordnungen der Ärztekammern enthaltenen Regelungen zurückgegriffen und diese adaptiert. Mit der nunmehr Gesetz gewordenen Regelung in §§ 40 bis 42a und der GCP-Verordnung hat er die Richtlinie 2001/20/EG, die die klinische Prüfung mit Arzneimitteln am Menschen regelt, in nationales Recht umgesetzt und inhaltlich mit deutscher Gründlichkeit noch verfeinert. Die Auswahl dessen, was davon ins Gesetz selbst und was in die Rechtsverordnung übernommen worden ist, scheint dabei eher zufällig getroffen worden zu sein5. Es stellt sich zum Beispiel die berechtigte Frage, warum der bedeutsame Bereich der Inspektionen (die wohl das bisherige Monitoring weitgehend ersetzen sollen) nur in der GCPVerordnung geregelt ist, nicht dagegen im Gesetz selbst. Bisher wenig thematisiert ist auch die Frage, ob sich die gesetzliche Neuregelung noch im Rahmen des Kompetenztitels von Art. 74 Nr. 19 GG hält, oder ob der Bund durch diese Regelung eines Bereiches klinischer Forschung nicht seine Zuständigkeit überschritten und in die Kompetenzen der Länder eingegriffen hat6. Die neueste Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zur Abgrenzung der
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Gesetz vom 9. August 1994 (BGBl I S. 2071). Im Medizinproduktegesetz, im Transfusionsgesetz und dem Transplantationsgesetz finden sich abweichende Regelungen für die Einschaltung von Ethikkommissionen. Vgl. hierzu die Ermächtigung in § 42 Abs. 3 Nr. 1 - 6. Vor dem Hintergrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur Frischzellenverordnung (BVerfG NJW 2000, S. 85) war Ipsen in einem (unveröffentlichten) Gutachten für die 11. Novelle zum AMG zu dem Ergebnis gekommen, dass der Gesetzgeber mit der Novelle gegen den Kompetenztitel aus Art. 74 Nr. 19 GG verstoßen habe. Vgl. hierzu auch Lippert, Die klinische Prüfung von Arzneimitteln nach der 12. Novelle zum AMG – eine erste Bestandsaufnahme, in: VersR 2005, S. 48, vgl. auch ders. Die 12. Novelle zur Änderung des AMG – Eine erste Bestandsaufnahme, in: GesR 2004, S. 505.
Ethikkommissionsvotum bei klinischer Prüfung nach AMG n. F. und GCP-VO
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Zuständigkeiten von Bund und Ländern lassen diesen Gedanken nicht so fern liegen7. II. Berufsrechtliche Grundlagen Gänzlich getrennt zu sehen ist aber die (inhaltlich zwar grundsätzlich weitgehend identische) berufs-(satzungs-) rechtliche Regelung für die Beratung durch Ethikkommissionen nach § 15 MBOÄ (und die gleichlautenden Regelungen in den jeweiligen Berufsordnungen der Ärztekammern aber auch den Satzungen der Universitäten) bei Forschungsprojekten, die Ärzte am Menschen durchführen. Die Rechtsgrundlage für den Erlass der Berufsordnungen findet sich in den Heilberufe- Kammergesetzen der Länder. Dabei ist mit der Neuregelung fraglich geworden, ob die Befassung der (berufsrechtlich organisierten) Ethikkommissionen mit klinischen Prüfungen von Arzneimitteln von der Zuständigkeit der Ethikkommissionen nach diesen jeweiligen Ermächtigungsnormen gedeckt ist. Man wird die landesrechtlichen Vorschriften dort wo dies fraglich ist anpassen müssen, wenn die Ethikkommissionen auch künftig diese Aufgabe wahrnehmen sollen. Ansonsten würde eine unzuständige Ethik-Kommission zur Bewertung von klinischen Prüfungen nach §§ 40 ff. herangezogen8. Die Zuständigkeit der berufsrechtlich organisierten Ethikkommissionen ist mit der nach § 40 (und im übrigen in § 20 MPG) nicht identisch, sondern sie greift sehr viel weiter: die Pflicht der Ärzte, sich durch eine Ethikkommission beraten zu lassen, erfasst alle Forschungsprojekte, die am Menschen durchgeführt werden sollen einschließlich epidemiologischer Studien und nicht nur klinische Prüfungen von Arzneimitteln und Medizinprodukten. III. Weitere landesrechtliche Vorschriften Auf hochschulrechtliche Vorschriften in den einschlägigen Hochschul- oder Universitätsgesetzen der Länder lässt sich die Ermächtigung zur Einrichtung von Ethikkommissionen an den Universitäten zurückführen. In Baden-Württemberg ergibt sich diese Ermächtigung der Universität eine Ethikkommission einzurichten aus § 5 Heilberufe-Kammergesetz. In ihm ist eine Verweisung auf § 7 LHGbw enthalten, die zum Erlass entsprechender Satzungen ermächtigt. Inhaltlich ist für die Satzung § 5 Abs. 2 Heilberufe-Kammergesetz maßgeblich. Die Ermächtigungsgrundlage enthält auch eine solche für die Erhebung von Gebühren für die Tätigkeit der Ethikkommissionen (§ 5 Abs. 2 Nr. 9 HeilbKG).
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Vgl. hierzu jüngst auch das Urteil zur Juniorprofessur im HRG: BVerfG, NJW 2004, S. 2803. Vgl. hierzu sogleich unten Näheres.
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IV. Das Verfahren vor der Ethikkommission bis zur zustimmenden Bewertung der klinischen Prüfung Zeitgleich mit dem Antrag auf Genehmigung der klinischen Prüfung bei der Bundesoberbehörde reicht der Sponsor bei der zuständigen Ethikkommission einen Antrag auf ihre zustimmende Bewertung ein. Mit der Neufassung von § 40 und der Verfahrensregelung in § 7 GCP - Verordnung ist ein allgemeines Ärgernis beseitigt worden, mit welchem Ethikkommissionen bisher immer wieder konfrontiert worden sind: der Leiter der klinischen Prüfung und/oder der lokale Prüfarzt reichte bisher den Antrag für die klinische Prüfung zur Begutachtung ein. Ergaben sich in der Beratung der Ethikkommission Beanstandungen oder Ergänzungswünsche, so schaltete sich dann häufig der industrielle Sponsor ein und übernahm den Part des Prüfarztes bei der Beantwortung der gestellten Fragen. Nicht wenige Ethikkommissionen verweigerten sich diesem Verfahren unter Hinweis darauf, dass nur der Leiter der klinischen Prüfung oder der Prüfarzt (berufsrechtlich) der Ansprechpartner der Ethikkommission sein könne9. Die nachträgliche Aufnahme weiterer Prüfzentren10, die bisher in der Praxis gar nicht so selten war, wird durch § 10 GCP-Verordnung gehörig erschwert, weil genehmigungspflichtig. Daher werden sich die Sponsoren das Design der klinischen Prüfung in der Zukunft sicher von Beginn an sehr viel genauer überlegen müssen, wollen sie diesen erheblichen Aufwand nicht in Kauf nehmen. Auf Drängen der pharmazeutischen Industrie bereits europarechtlich eingeführt, steht das Verfahren zur Bewertung der klinischen Prüfung durch die Ethikkommission(en) unter einem rigiden Zeitregime, jedenfalls bei multizentrischen Prüfungen. Bei einigen Ethikkommissionen hat dieses (neue) Verfahren dazu geführt, auch die Frage zu stellen, ob überhaupt eine (berufs-) rechtliche Pflicht besteht, diese Bewertung durchführen zu müssen. Man wird die Frage nach der Verpflichtung sicher dann mit einem Nein beantworten können, wenn weder die Satzung der Ethikkommission noch die gesetzliche Ermächtigung den Hinweis auf die Bewertung klinischer Prüfungen mit Arzneimitteln nach §§ 40 bis 42 enthält. In diesen Fällen bleibt es dann erst einmal bei der berufsrechtlichen bzw. berufsethischen Beratung durch die Kommission nach § 15 MBOÄ. Die angerufene Ethikkommission ist dann so lange keine zuständige Kommission im Sinne von § 40 AMG, ehe nicht die landesrechtlichen Vorschriften entsprechend geändert sind.
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Unter Eingeweihten hatten diese Projekte den Spitznamen „Briefträger- oder Marionettenstudien“, weil der Prüfarzt in ihnen keine eigentliche Funktion inne hatte. Die Frage nach seiner Befähigung für die Durchführung klinischer Prüfungen ist aber wohl in der Vergangenheit aufgrund dieser Vorkommnisse nicht ernsthaft geprüft (bzw. in Frage gestellt) worden. Sogenannte „Me-too-Studien“; häufig auch zur Einwerbung von Drittmitteln verwendet.
Ethikkommissionsvotum bei klinischer Prüfung nach AMG n. F. und GCP-VO
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Ansonsten läuft die 60-Tage-Frist nach § 42 Abs. 1 Nr. 3, bei monozentrischen Prüfungen die 30-Tage-Frist nach § 9 Abs. 3 GCP-Verordnung11. Der Katalog der dem Antrag beizufügenden Unterlagen umfasst nach § 7 Abs. 2 15 Positionen, wobei dem Antrag an die Ethikkommission noch weitere 19 Positionen beigefügt werden müssen (§ 7 Abs. 3 GCP-Verordnung). Wehe, es fehlt etwas: dann beginnt die Bearbeitungsfrist nicht zu laufen. Auf Unterlagen einer bereits genehmigten klinischen Prüfung des Prüfpräparates, kann der Sponsor zur Vereinfachung allerdings Bezug nehmen. Wie bisher auch schon kann die Ethikkommission bei ihrer Bewertung Sachverständige hinzuziehen. Fehlt ihr der erforderliche Sachverstand bei der klinischen Prüfung an Minderjährigen und in der Kinderheilkunde, so muss sie zwingend Sachverständige hinzuziehen. Die bereits derzeit von einigen Ethikkommissionen auf der Grundlage der ICH/GCP-Leitlinien eingeforderten jährlichen Berichte bei mehrjährigen Prüfungen sowie die Abschlussberichte sind nunmehr nach § 13 GCP-Verordnung Pflicht. Der Sponsor hat sie unaufgefordert zu erstatten. V. Das Verfahren bis zur Genehmigung der klinischen Prüfung Das Genehmigungsverfahren bei der Bundesoberbehörde und das Bewertungsverfahren bei der Ethikkommission laufen nach der GCP-Verordnung parallel. Es fällt auf, dass § 42 Abs. 2 Satz 4 die Genehmigung bereits binnen einer Frist von 30 Tagen nach Eingang der (genehmigungsfähigen) Unterlagen fingiert. Für multizentrische klinische Prüfungen von Arzneimitteln gilt nach § 42 Abs. 1 Satz 9 jedoch eine Frist von 60 Tagen. Dies bedeutete, dass bei multizentrischen Prüfungen (eine gleichzeitige Einreichung der Unterlagen bei der Ethik-Kommission und bei der Bundesoberbehörde unterstellt) die Genehmigung der Bundesoberbehörde bereits vorliegt, ehe für die Ethikkommission die Frist für deren Bewertung abgelaufen ist. Der insoweit eindeutige Wortlaut von § 40 Abs. 1 scheint dem aber zu widersprechen, wenn es dort heißt: „Die klinische Prüfung […] darf vom Sponsor nur begonnen werden […] wenn die zuständige Ethikkommission diese zustimmend bewertet und die zuständige Bundesoberbehörde diese genehmigt hat.“ Heißt dies, dass es bei multizentrischen Prüfungen von Arzneimitteln auf die Bewertung der Prüfung in den einzelnen Prüfstellen überhaupt nicht mehr ankommt? Ob es sich bei der Fristbestimmung um einen offensichtlichen (redaktionellen) Fehler des Gesetzgebers handelt, ist schwer zu sagen. Die 30-Tage-Frist findet sich nämlich bereits (ohne nähere Begründung) in der Bundestagsdrucksache 15/2109, welche die Grundlage für die Beratungen im Bundestag bildete. Sie ist unverändert auch in die Bundesratsdrucksache 748/03 übernommen worden und danach so in die Endfassung des Gesetzes eingegangen.
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Für die Prüfung von somatischen Zelltherapeutika und Arzneimitteln gilt eine Frist von 90 Tagen, für die klinische Prüfung von Gentransfer-Arzneimitteln beträgt die Frist höchstens 80 Tage. Für die Prüfung xenogener Zelltherapeutika gilt gar keine Frist.
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VI. Besonderheiten bei multizentrischen klinischen Prüfungen Was den Prüfungsumfang und die Prüfungstiefe der Bundesoberbehörde wie der Ethikkommission angeht, so besteht zwischen multizentrischen im Vergleich zu monozentrischen Prüfungen kein Unterschied. Bei der multizentrischen klinischen Prüfung kommt lediglich hinzu, dass die lokale zuständige Ethikkommission die Gegebenheiten vor Ort zu prüfen hat. Wer allerdings als beteiligte Ethikkommission glaubt, etwa auch die Patienteninformation oder die Einwilligung auf ihre Stimmigkeit hin prüfen zu können, wird eine herbe Enttäuschung erleben. Zu prüfen sind nach § 8 Abs. 5 GCP-Verordnung lediglich die Qualifikation der örtlichen Prüfer und die Eignung der Prüfstelle zur Durchführung der klinischen Prüfung. Für diese Prüfung steht der beteiligten Ethikkommission maximal ein Zeitraum von 30 Tagen zur Verfügung. Die Beteiligung der weiteren Ethikkommissionen an der Entscheidung der federführenden Ethikkommission ist rechtlich auf der geringst möglichen Ebene angesiedelt. Die federführende Ethikkommission entscheidet nämlich nur im Benehmen mit der beteiligten Ethikkommission. Eine Beteiligung ist also auch dann erfolgt, wenn die beteiligte Ethikkommission die 30-Tage-Frist schlicht verstreichen lässt. Das Verfahren bei multizentrischen Prüfungen ist vor dem Hintergrund von Art. 7 Richtlinie 2001/20/EG zu sehen. Danach soll bei multizentrischen Prüfungen in einem Mitgliedstaat ein einziges Votum ausreichen. Die Umsetzung dieses Postulats (welches im übrigen von der deutschen pharmazeutischen Industrie mit Verve gefordert worden ist) stößt in Deutschland auf durchaus ernst zu nehmende verfassungsrechtliche Bedenken, weil der Bund für eine solche Regelung keine Zuständigkeit besitzt12.
C. Allgemeine Voraussetzungen für klinische Prüfungen Durch die Umsetzung der Richtlinie 2001/20/EG hat sich an der Systematik der §§ 40 ff. nichts grundlegendes geändert. Nach wie vor sind die allgemeinen Voraussetzungen für klinische Prüfungen vorangestellt, ehe auf die besonderen Voraussetzungen bei bestimmten Personengruppen eingegangen wird. Der Prüfauftrag der Ethikkommissionen umfasst wie bisher schon beides. Auf einige, bedeutsame Veränderungen, die es auch hier durch die Umsetzung der Richtlinie gegeben hat, soll im folgenden eingegangen werden.
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Dass es auch anders geht, zeigt ein Blick über die Grenzen: Im Vereinigten Königreich kann in diesem Fall die befasste Ethikkommission den Geltungsbereich ihres Votums (landesweit oder nur regional) selbst bestimmen, vgl. Part 3 § 14 The Medicines for Human Use (Clinical Trials) Regulation v. 1. April 2004.
Ethikkommissionsvotum bei klinischer Prüfung nach AMG n. F. und GCP-VO
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I. Risikoabschätzung Nicht nur die Therapie mit Arzneimitteln ist von Risiken und Nebenwirkungen begleitet, sondern auch die klinische Prüfung von Substanzen, die künftig als Arzneimittel dienen sollen. Nachteile und Nutzen für den Teilnehmer an einer klinischen Prüfung gilt es gegeneinander abzuwägen, weil nur dann die Austestung der Substanz am Menschen ethisch vertretbar ist. Unter dieser Prämisse standen klinische Prüfungen mit Arzneimitteln bereits nach bisherigem Recht. Bei der Risiko-Nutzen-Abwägung nach dem bisherigen Recht handelte es sich um eine eher punktuelle, zudem häufig vom pharmazeutischen Unternehmer eher lustlos vorgenommene Darstellung warum das zu prüfende Präparat beim Prüfungsteilnehmer mehr Nutzen als Schaden stifte. Nach § 7 Abs. 3 GCP-V muss der Sponsor nicht nur die Risiko-Nutzen-Abwägung vornehmen und in den Prüfungsunterlagen darstellen, sondern auch eine Bewertung dazu liefern und hierin auch Personen einbeziehen, die künftig das Arzneimittel anwenden sollen. Zusammen mit der Pflicht, nachträgliche Änderungen der klinischen Prüfungen, welche sich auf die Sicherheit der Teilnehmer auswirken, melden zu müssen, § 10 Abs. 1 Nr. 1 GCP-V ist dies wohl ein Schritt in die Richtung einer kontinuierlichen Risiko-Nutzen-Abwägung während der gesamten Dauer der klinischen Prüfung. II. Die Prüfungsteilnehmer Der Kreis der möglichen Teilnehmer an einer klinischen Prüfung war unter dem bisherigen Recht wegen der eher zufälligen als durchdachten Systematik der §§ 40 ff. schon nicht leicht auszumachen. Daran hat sich auch unter der Neufassung im Grundsatz wenig geändert. Allerdings ist die Regelung, was aber schon zu erwarten stand, noch komplizierter geworden13. Als Teilnehmer an einer klinischen Prüfung eines Arzneimittels können (je nach seiner Qualifikation) folgende Personen in Betracht kommen: 1. für Diagnostika, Therapeutika und Prophylaktika: – völlig einwilligungsfähige, gesunde Erwachsene 2. für Diagnostika und Therapeutika: – einwilligungsfähige, gesunde Minderjährige 3. für Therapeutika: – kranke, aber völlig einwilligungsfähige Erwachsene, – kranke Minderjährige, – einwilligungsunfähige Erwachsene.
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Vgl. zur Systematik Erwin Deutsch, Andreas Spickhoff, Medizinrecht, 5. Aufl., Berlin 2004, Rdnr. 922 m. Nachw.
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Im Gegensatz zur bisherigen Rechtslage reicht bei völlig Einwilligungsunfähigen wie bei kranken Minderjährigen auch unter bestimmten weiteren Voraussetzungen ein Gruppennutzen für die Einbeziehung dieses Personenkreises in eine klinische Prüfung. Bis zuletzt war dieser Punkt im Gesetzgebungsverfahren heftig umstritten, wenngleich auch von der Richtlinie 2001/20/EG die Richtung bereits vorgezeichnet war. Einen deutschen Sonderweg wird es (auch hier) nicht geben. III. Eignung von Einrichtung und Prüfer Nach bisherigem Recht sollte der Prüfarzt wenigstens eine zweijährige Erfahrung in der klinischen Prüfung von Arzneimitteln nachweisen können. Man geht vermutlich nicht fehl in der Annahme, dass dieser Nachweis in der täglichen Praxis der Ethikkommissionen nicht allzu häufig eingefordert worden sein dürfte. Dies wird sich ändern. Der Sponsor hat der Ethikkommission nämlich nach § 7 Abs. 3 Nr. 6 GCP-V geeignete Informationen zur Qualifikation des Prüfers zugänglich zu machen. Auf die bisherige (starre) Zeitvorgabe für den Beleg der Erfahrung als klinische Prüfer wird verzichtet. Anders als bisher muss der Sponsor der Ethikkommission auch Angaben zur Eignung der Prüfstelle und vor allem zur Eignung des dort eingesetzten (ärztlichen wie nichtärztlichen) Personals machen (§ 7 Abs. 3 Nr. 8 GCP-V). Diese Angaben gewinnen insbesondere bei multizentrischen klinischen Prüfungen an Bedeutung. Denn die Prüfungskompetenz der beteiligten Ethikkommissionen in den einzelnen Prüfstellen gegenüber der (zuständigen) Ethikkommission beschränkt sich nach § 8 Abs. 5 GCP-V exakt auf diese beiden Punkte. Eine weiter gehende Prüf- und (Bewertungs-) befugnis wird ihr vom Gesetz nicht zugebilligt, auch wenn dies manche Ethikkommission wohl eher schwer zu akzeptieren vermag. IV. Ethik und Monetik Nach bisheriger Rechtslage mussten sich Ethikkommissionen bei ihrer Bewertung um finanzielle Aspekte der klinischen Prüfung nicht kümmern. Dabei gab es unter den einzelnen Ethikkommissionen auch Ausnahmen. Nach der neuen Rechtslage müssen den Ethikkommissionen für die Bewertung auch die Vereinbarungen zwischen Sponsor und Prüfarzt über die finanziellen Absprachen der klinischen Prüfung vorgelegt werden (§ 7 Abs. 3 Nr. 14 GCP-V). Zweckmäßigerweise legt der Sponsor auch weitere finanzielle Verflechtungen zwischen ihm und dem Prüfarzt offen (§ 7 Abs. 3 Nr. 7 GCP-V). Gleiches gilt auch für etwa gewährte Vergütungen an Patienten und vor allem an Probanden. Die Höhe der in Aussicht gestellten Vergütung könnte einen Anreiz für die Entscheidung über eine Teilnahme an der klinischen Prüfung sein. Dies soll aber gerade ausgeschlossen sein. Mehr als bisher die Kammerkommissionen werden sich die universitären Ethikkommissionen um diejenigen Klauseln in den Vereinbarungen kümmern müssen, die sich mit den Rechten an den Ergebnissen der klinischen Prüfung befassen und vor allem mit den unterschiedlichen Klauseln über die Veröffent-
Ethikkommissionsvotum bei klinischer Prüfung nach AMG n. F. und GCP-VO
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lichung von Ergebnissen der klinischen Prüfungen. Eine weitgehende oder gar völlige Entrechtung von Prüfarzt und Institution wie sie gelegentlich in entsprechenden Vereinbarungen zu finden sind, darf es nicht geben14. Weil nicht von der Novelle erfasst, aber gleichwohl zum Thema gehörig kurz auch einige Worte zu der Vergütung der Ethikkommissionen für ihre Tätigkeit: diese richtet sich nach unterschiedlichen (landesrechtlichen) Rechtsgrundlagen und wird zumeist (jedenfalls bei den Kammerkommissionen) als Gebühr erhoben. Zwingend ist dies aber nicht. Problematisch sind dabei die großen Unterschiede unter den Kommissionen, was die Höhe des Entgelts angeht. Es soll nicht verkannt werden, dass es schwierig sein dürfte, die Höhe der Vergütung zu quantifizieren. Dennoch ist hierbei der gebührenrechtliche Grundsatz der Äquivalenz von Leistung und Gegenleistung zu beachten. Am besten quantifiziert man den Zeitaufwand der Kommission und multipliziert ihn mit der Grundvergütung ihrer Mitglieder aus dem Hauptamt15. V. Die Begleitung der klinischen Prüfung durch die Ethikkommission Nach bisherigem Recht stellte das Votum der Ethikkommission eine (ethische) Momentaufnahme dar, in deren Folge eine kontinuierliche Begleitung der klinischen Prüfung durch die Ethikkommission nicht stattfand. Zwar erhielten die Ethikkommissionen Mitteilungen über unerwünschte Nebenwirkungen des Prüfmedikaments oder Änderungen des Prüfplans, aber schon der reguläre Abschluss der Prüfung war zumeist keine Mitteilung mehr wert. Zwar ist weder der Richtliniengeber noch der Gesetzgeber so weit gegangen, wie dies in der ICH/GCPLeitlinie der Fall ist und hat bei mehrjährigen klinischen Prüfungen keine jährliche neue Bewertung durch die Ethikkommission vorgeschrieben. Gleichwohl sieht die neue Rechtslage eine Reihe von Sachverhalten vor, die zu einer erneuten Bewertung der klinischen Prüfung durch eine oder wie bei multizentrischen Prüfungen durch eine federführende und weitere beteiligte Ethikkommission führen. Neben der Veränderung des Studienplanes ist dies die Hereinnahme neuer Prüfzentren, sowie weitere Veränderungen am Studiendesign, die sich auf die Sicherheit der betroffenen Personen auswirken können (§ 10 GCP-V). Neu geregelt ist auch das Verfahren der Mitteilung von Verdachtsfällen unerwarteter schwerwiegender Nebenwirkungen mit und ohne Todesfall und ihre Häufigkeit sowie die Veränderung der Nutzen-Risiko-Abwägung. Mitteilungspflichtig ist nunmehr auch der ordnungsgemäße Abschluss der Prüfung sowie deren vorzeitiger Abbruch. Über alle diese Vorgänge ist die zuständige Ethikkommission und sei es auch nur über die Bundesoberbehörde, zu informieren. Es ist dies zwar immer noch 14
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Vgl. hierzu Hans-Dieter Lippert, Rechtsprobleme der experimentellen Doktorarbeit, in: WissR 1998, S. 43, 45 ff.; ders., Der Krankenhausarzt als Urheber, in: MedR 1994, S. 135 ff. jeweils m.w.Nachw. In diesem Sinne schon Erwin Deutsch, Hans-Dieter Lippert, Ethikkommission und klinische Prüfung, Berlin 1998, S. 95 ff. m.w.Nachw.
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keine kontinuierliche Begleitung der klinischen Prüfung durch die Ethikkommission, aber die Pflicht zur Mitteilung der genannten Ereignisse führt zu einer weiteren, punktuellen Überprüfung der einmal gegebenen Bewertung durch die Ethikkommission. Selbst wenn es im Gesetz und in der Verordnung nicht ausdrücklich so gesagt ist, die Ethikkommission ist in jedem der genannten Fälle gezwungen, ihre einmal gegebene Bewertung auf Stichhaltigkeit zu überprüfen und diese gegebenenfalls zu ändern oder gar aufzuheben. VI. Verfahrensfragen, Versicherung Unter der bisherigen Rechtslage war im Schrifttum umstritten, ob es sich bei der (zustimmenden) Bewertung der klinischen Prüfung durch eine Ethikkommission um einen Verwaltungsakt handelte oder nicht16. Es sprach im Endergebnis mehr gegen denn für die Annahme eines Verwaltungsaktes. Auch nach neuem Recht ist das Ergebnis der Tätigkeit der zuständigen Ethikkommission eine (zustimmende oder ablehnende) Bewertung. Diese ist wie bisher auch schon der Bundesoberbehörde vorzulegen, § 8 Abs. 2 Satz 1 GCP-V. Mit der klinischen Prüfung kann allerdings nun erst nach deren Genehmigung durch die Bundesoberbehörde begonnen werden. Unstreitig handelt es sich bei dieser Genehmigung um einen Verwaltungsakt. Gegen die Ablehnung, die abschließend nur aus den in § 42 Abs. 2 Satz 3 Ziff. 1 bis 3 genannten Gründen erfolgen kann, kann der Sponsor den Verwaltungsrechtsweg beschreiten. Die ablehnende Bewertung der klinischen Prüfung durch eine Ethikkommission als Ablehnungsgrund ist nicht vorgesehen. Sie dürfte daher auch nicht möglich sein. Damit stellt die Bewertung der klinischen Prüfung durch die Ethikkommission nur einen Teilschritt der Entscheidung der Bundesoberbehörde dar. Dies alles spricht eher dafür, die Bewertung durch die Ethikkommission mangels Außenwirkung nicht als Verwaltungsakt anzusehen17.
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Dafür: Deutsch/Spickhoff Medizinrecht, 5. Aufl., Berlin 2004, Rdnr. 760; Wolfgang Rehmann, AMG, 2. Aufl., München 2003, § 40, Rdnr. 13, für die alte und die neue Rechtslage; Reinhard Bork, Das Verfahren vor den Ethikkommissionen der medizinischen Fachbereiche, Berlin 1998, S. 102 f. m.w.Nachw.; dagegen: Hans-Dieter Lippert, in: Rudolf Ratzel, Hans-Dieter Lippert, MBOÄ, 3. Aufl., Berlin 2002, § 15, Rdnr. 25; Katrin Stamer, Die Ethikkommissionen in Baden-Württemberg, Frankfurt/M. 1998, S. 111 (alte Rechtslage); Lippert, in: Ratzel/Lippert, MBOÄ, 4. Aufl., Berlin 2005, § 15, Rdnr. 35; Hägele, Arzneimittelprüfung am Menschen, 1. Aufl., Baden-Baden 2004, S. 684 m.Nachw. (neue Rechtslage) . Dagegen: Lippert, in: Ratzel/Lippert, MBOÄ, § 15, Rdnr. 25; Stamer, Die Ethikkommissionen in Baden- Württemberg, S. 111; Hans Heinrich Rupp, in: Karl-Hermann Kästner, Knut Wolfgang Nörr, Klaus Schlaich (Hrsg.), Festschrift für Martin Heckel, Tübingen 1999, S. 839 m.Nachw. (alte Rechtslage); Lippert in: Ratzel/Lippert, MBOÄ, 4. Aufl., 2005, § 15, Rdnr. 35; Hägele, Arzneimittelprüfung am Menschen, S. 684 m.Nachw., neuestens auch Laufs, in: MedR 2004, S. 583 (neue Rechtslage). Erste Stellungnahmen aus den Reihen der Ethikkommissionen lassen vermuten, dass hier und vor allem ohne Rücksicht auf die sich daraus ergebenden Folgen die Bewertung unkritisch
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Auch die Frage einer Haftung des Trägers für die Ethikkommission und diejenige ihrer Mitglieder für die fehlerhafte Bewertung einer klinischen Prüfung, die zu einem Schaden beim Sponsor führt, ist im Zuge der Neufassung von §§ 40 bis 42 zum wiederholten Mal thematisiert worden. Die zuständige Ethikkommission bei einer Universität oder einer Ärztekammer ist öffentlich-rechtlich organisiert. Die Haftung richtet sich, da Amtspflichten wahrgenommen werden, daher nach § 839 BGB, wobei über Art. 34 GG eine Freistellung der Kommissionsmitglieder zu erfolgen hat, weil zunächst der Träger für den Schaden einstehen muss. Allerdings kann er bei vorsätzlicher oder grob fahrlässiger Pflichtverletzung Rückgriff bei einem oder mehreren Mitgliedern der Kommission nehmen. Gegenüber Mitgliedern von Ethikkommissionen bei Ärztekammern funktioniert dieser Rückgriff allerdings mangels Rechtsgrundlage nicht in allen Bundesländern. Bei den Universitäten und ihren Ethikkommissionen ist das Haftungs- wie das Rückgriffsrisiko im Normalfall über die bestehende Betriebshaftpflichtversicherung der Universitätsklinika (mit-) versichert18.
D. Die Prüfungsteilnehmer und ihr Schutz Die Neufassung der §§ 40 bis 42 hat aber auch gegenüber dem bisherigen Recht weitere Vorschriften gebracht, die den Schutz der Prüfungsteilnehmer während der Teilnahme an der klinischen Prüfung erhöhen sollen. Dies beginnt bereits mit der Aufklärung und der Einwilligung, setzt sich über die Datenschutzvorschriften fort und bringt für die Prüfungsteilnehmer zusätzliche Informationsangebote. I. Einwilligung, Aufklärung und Datenschutz Wesentliche Voraussetzung für eine Einbeziehung von betroffenen Personen (Prüfungsteilnehmern) in eine klinische Prüfung mit Arzneimitteln war bereits nach bisherigem Recht eine Einwilligung nach zu voriger Aufklärung. Daran ändert sich auch unter den geänderten Vorschriften der §§ 40 bis 42a und der GCP-
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als Verwaltungsakt qualifiziert und der rechtliche Status der Ethikkommission ohne Not als der einer Behörde (!) geradezu herbeigeredet wird. Wenngleich möglicherweise nach der neuen Rechtslage auch nicht in der erforderlichen Höhe. Vgl. zur Anspruchsgrundlage (§ 839 BGB) bereits ausführlich: Manfred Kreß, Die Ethikkommissionen im System der Haftung bei der Planung und Durchführung von medizinischen Forschungsvorhaben am Menschen, Karlsruhe 1990 m.Nachw.; Auch Scholz kommt (folgerichtig) in seinem (leider bisher) unveröffentlichten Vortrag „Haftung (der Mitglieder) einer (Ethikkommission der) Landesärztekammer”, gehalten auf der Sommertagung 2004 des Arbeitskreises medizinischer Ethikkommissionen in München zu keinem anderen Ergebnis; vgl. hierzu neuestens (mit demselben nicht anders zu erwartenden Ergebnis) auch Patrick Gödicke, Beschränkung der Staatshaftung für Ethik-Kommissionen im Zuge der 12. Novellierung des Arzneimittelgesetzes, in: MedR 2004, S. 481.
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Verordnung im Grundsatz nichts. Allerdings ist zu beobachten, dass die Anforderungen sowohl an die Aufklärung als auch an die Einwilligung erheblich differenzierter und umfänglicher ausgefallen sind, als dies bisher bereits der Fall war. Der Prüfer, ein Arzt oder Zahnarzt, hat die betroffene Person über Wesen, Bedeutung, Risiken und die Tragweite der klinischen Prüfung aufzuklären, sowie über das Recht, die Teilnahme an der Prüfung jederzeit beenden zu können. Neu ins Gesetz aufgenommen ist, dass die betroffene Person über die Aufklärung eine (allgemein verständliche) Aufklärungsunterlage erhalten muss. Diese Unterlage ist der zuständigen Ethikkommission zur Bewertung vorzulegen (§ 7 Abs. 3 Nr. 9 GCP-V). Obwohl es bisher nicht so im Gesetz verankert war, erhielt die betroffene Person bereits derzeit eine entsprechende schriftlich verfasste Aufklärung. Allerdings waren diese Aufklärungsbogen in einer Vielzahl von Fällen weder verständlich noch allgemein verständlich abgefasst. Ob der Hinweis des Gesetzes hierauf eine Änderung der Realität bewirken wird, bleibt abzuwarten. Jedenfalls gehört die Aufklärungsunterlage in der Praxis der Ethikkommissionen zu der am häufigsten zu beanstandenden Unterlage, die der Sponsor vorlegt. Der betroffenen Person ist auch mitzuteilen, was mit ihren personenbezogenen, insbesondere ihren Gesundheitsdaten geschehen soll, wer sie wann und wo speichert, an wen sie warum und zu welchem Zweck weitergegeben werden, und wie lange sie aufbewahrt bleiben sollen. Will die betroffene Person aus der klinischen Prüfung ausscheiden und widerruft sie dazu ihre Einwilligung, so erfasst dieser Widerruf nicht die Einwilligung in die Erhebung und Verarbeitung der personenbezogenen Daten und der Gesundheitsdaten. Diese Einwilligung hat der Gesetzgeber unwiderruflich ausgestaltet und für die Weiterverwendung der Daten auch über den Zeitpunkt des Widerrufs der Teilnahme hinaus bis zum Ablauf der Aufbewahrungsfristen weitere Zulässigkeitskriterien geschaffen (§ 40 Abs. 2a Nr. 3). Ansonsten sind sie zu löschen. Man darf gespannt sein, wie es den Aufklärenden in der Praxis gelingt, den betroffenen Personen diesen nicht eben einfachen Sachverhalt plausibel zu machen. Minderjährige betroffene Personen haben Anspruch darauf, von einem im Umgang mit Minderjährigen erfahrenen Prüfer aufgeklärt zu werden (§ 40 Abs. 2 Nr. 3). Ob die unwiderrufliche Einwilligung in die Erhebung und Verarbeitung der personenbezogenen Daten und Gesundheitsdaten auch über den Widerruf der Teilnahme an der klinischen Prüfung hinaus ohne Nachteile mit der Garantie des jederzeitigen Widerrufs der Teilnahme (und dem endgültigen Ausscheiden aus der Prüfung) vereinbar ist, ist eine recht spannende Frage. II. Informationsangebote Dem Informationsbedarf der betroffenen Personen, die an einer klinischen Prüfung mit Arzneimitteln teilnehmen, wird im Gesetz an zwei Stellen versucht Rechnung zu tragen. Beide Angebote sind neu ins Gesetz gekommen. Zum einen ist der betroffenen Personen ergänzend zum Aufklärungsgespräch Gelegenheit zum Gespräch mit einem Prüfer zu geben, in dem die sonstigen Bedingungen der Durchführung der klinischen Prüfung besprochen werden können (§ 40 Abs. 2
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Satz 2). § 40 Abs. 5 sieht vor, dass bei der zuständigen Bundesoberbehörde (BfArM, PEI) eine Kontaktstelle zur Verfügung stehen soll, bei welcher die betroffene Person, ihr gesetzlicher Vertreter oder ein von ihr Bevollmächtigter Informationen über alle Umstände einholen kann, denen eine Bedeutung für die Durchführung der klinischen Prüfung beizumessen ist. Mit beiden Regelungen soll die Abhängigkeit der betroffenen Personen von den Prüfärzten abgemildert werden.
E. Auswirkungen der Änderung auf andere Bereiche der Arzneimittelforschung Im Gegensatz zur bisherigen Regelung enthält § 4 Abs. 23 nunmehr (in Umsetzung der Definition der Richtlinie 2001/20/EU) eine Definition dessen, was die klinische Prüfung eines Arzneimittels sein soll. Ehe also auf die Ausnahmen hierzu eingegangen werden soll, muss zunächst die Definition der klinischen Prüfung erläutert werden. Überall, wo im Gesetz der Begriff verwendet wird, ist darunter eine Untersuchung am Menschen zu verstehen, die das Ziel hat, die Wirksamkeit und die Unbedenklichkeit eines Arzneimittels festzustellen. In der Untersuchung werden im wesentlichen klinische und pharmakologische Wirkungen sowie Nebenwirkungen von Arzneimitteln erforscht oder nachgewiesen. Dass diese Untersuchungen auf der Grundlage eines vorab festgelegten Prüfplanes durchgeführt werden müssen, ergibt sich erst aus der Ausnahmeregelung in Satz 2 für nichtinterventionelle Prüfungen, für welche u. a. die §§ 40 bis 42a und die in GCPVerordnung nicht gelten sollen. I. Nicht-interventionelle Prüfung/Anwendungsbeobachtung Eine nicht-interventionelle Prüfung liegt dann vor, wenn nach einem vorab festgelegten Prüfplan für Behandlung, Diagnose und Überwachung Erkenntnisse aus der Behandlung von Personen mit Arzneimitteln im Rahmen seiner Zulassung mit epidemiologischen Methoden analysiert werden sollen. § 4 Abs. 23 Satz 2 bezieht sich damit nur auf zulassungs- (nicht registrierungs-) pflichtige Arzneimittel. Hinter der Definition verbergen sich die bisherigen Anwendungsbeobachtungen (Phase IV nach der Zulassung). Sie sind in der Vergangenheit mehr und mehr zu Marketinginstrumenten mutiert. Der wissenschaftliche Zweck geriet darüber völlig in Vergessenheit. In dieser Form sollten sie unter dem neuen Recht keinesfalls fortgeführt werden. Ansonsten können die Grenzen zur klinischen Prüfung (Phase IV) fließend sein. Wird systematisch geforscht, unterfallen derartige Anwendungsbeobachtungen nach allgemeiner Meinung den Vorschriften des Arzneimittelgesetzes.
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II. Off-Label-Use bei Kindern und Jugendlichen Nur auf den ersten Blick scheint der off-label-use (also die Anwendung von zugelassenen Arzneimitteln für Erwachsene bei Kindern und Jugendlichen) mit dem Thema „klinische Prüfung von Arzneimitteln“ nichts zu tun zu haben19. Dies ist nur solange der Fall, als die Behandlung dieses Patientenspektrums im Vordergrund steht. Sobald aber diese Medikation systematisch und planvoll erfolgt, um Erkenntnisse über die zu wählende Dosierung zu erlangen, werden die Berührungspunkte mit einer klinischen Prüfung eines Arzneimittels unschwer offenbar. Es stellt sich nun nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens für die 12. Novelle zum Arzneimittelgesetz die spannende Frage, welche Anregungen gerade im Bereich des off-label-use wie aufgegriffen worden sind und was sich dadurch an der Situation ändern wird. Allein die Einrichtung einer Kommission zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit für Kinder und Jugendliche (§ 25 Abs. 7a) dürfte in diesem Bereich noch nicht das letzte Wort sein. III. Klinische Prüfungen mit zugelassenen Arzneimitteln Im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens für die 12. Novelle wurde der Vorwurf erhoben, das Verfahren der klinischen Prüfung von Arzneimitteln sei zu aufwendig und zu bürokratisch. Die Richtlinie 2001/20/EU stellt Möglichkeiten, von ihr auch Ausnahmen vorzusehen, grundsätzlich in Aussicht. Nach dem Willen des nationalen Gesetzgebers sollte davon auch Gebrauch gemacht werden. In § 42 Abs. 3 ist daher der Hinweis auf Erleichterungen für zugelassene Arzneimittel enthalten. Diese Erleichterungen sollten aber in die Rechtsverordnung nach § 42 Abs. 3 aufgenommen werden. § 7 Abs. 5 GCP-V greift diesen Gedanken wieder auf und regelt für einzelne Fallgruppen, welche Nachweise bei der Genehmigung einer klinischen Prüfung von zugelassenen Arzneimitteln im Einzelnen der Bundesoberbehörde nicht (mehr) vorgelegt werden müssen. Vermutlich haben sich die Initiatoren von den angesprochenen Erleichterungen mehr (oder auch einfach anderes) versprochen, denn für nicht- kommerzielle klinische Prüfungen (in der Gesetzesbegründung werden sie als Therapieoptimierungsstudien bezeichnet) gelten die §§ 40 bis 42a sowie die GCP-Verordnung im Grunde uneingeschränkt. Es sind dies klinische Prüfungen im Sinne des Gesetzes und bedürfen einer Genehmigung durch die Bundesoberbehörde sowie einer zustimmenden Bewertung durch eine Ethikkommission. Auch die Probandenversicherung ist sonach kein Thema mehr: sie ist nachzuweisen. 19
Vgl. hierzu Hans-Jörg Fegert, Michael Kölch, Hans-Dieter Lippert, in: Sichere und wirksame Arzneimittel auch für Kinder – Eine Herausforderung für die 12. Novelle zum Arzneimittelgesetz, in: ZRP 2003, S. 446; BSG, ArztR 2002, S. 319. Vgl. auch die Entscheidung des BVerfG zum Off-Label-Use, NJW 2003, S. 1236; vgl. dazu auch passim Ruth Schimmelpfeng-Schütte, Vertragsarzt zwischen ärztlichem Eid und Pflichten als Leistungserbringer, in: GesR 2004, S. 361.
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Die Ausnahmen von der klinischen Prüfung im Sinne von § 4 Abs. 23 umfassen nur ein schmales Spektrum. Die Varianten von (klinischen) Studien, die nicht von pharmazeutischen Unternehmern initiiert (und gesponsert) sind, sind in der Praxis zahlreicher. Wegen des nunmehr nach der Novelle mit ihrer Durchführung verbundenen hohen Aufwandes werden die prüfer-initiierten klinischen Prüfungen künftig kräftig an Bedeutung verlieren, prophezeit man bereits. Werden sie nach einem (von GCP abweichenden) Standard durchgeführt, hieße dies eine klinische Prüfung „light“ durchzuführen. Ob ein derartiges Vorgehen allerdings ethisch noch vertretbar wäre, ist sehr zu bezweifeln, weil die so gewonnenen Ergebnisse schwerlich für die Zulassung eines Arzneimittels verwertbar sein dürften und die Prüfung im Zweifel nochmals durchzuführen wäre. Man wird sehen.
F. Zusammenfassung und vorläufige Bewertung Um das Positive vorwegzunehmen: Die 12. Novelle macht zusammen mit der GCP-Verordnung die klinische Prüfung mit Arzneimitteln am Menschen im deutschen Arzneimittelgesetz erst einmal europatauglich und dies hoffentlich für einen längeren Zeitraum. Allerdings ist der Preis für diese Einheitlichkeit ein hoher, denn sie wird gegenüber der bisherigen Rechtslage mit einem erheblich höheren Aufwand an Bürokratie erkauft, ein Aufwand, von dem vermutlich vor allem die Ethikkommissionen als primär Betroffene noch keine so richtige Vorstellung haben dürften. Mit der Neuregelung hat sich das Verfahren zur Bewertung von klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln am Menschen im Zuständigkeitsbereich der Ethikkommissionen gegenüber anderen Bereichen der klinischen Forschung vollständig verselbständigt. Es steht zu befürchten, dass diese neue Bürokratisierung Schule machen und auch auf andere Bereiche medizinischer Forschung übergreifen könnte. Die Ausnahme von der klinischen Prüfung im Sinne von § 4 Abs. 23 umfasst nur ein schmales Spektrum. Wegen des nunmehr nach der Novelle mit ihrer Durchführung verbundenen hohen Aufwandes werden die prüfer-initiierten klinischen Prüfungen künftig kräftig an Bedeutung verlieren, prophezeit man bereits. In Deutschland wird mit der Novelle forschungsrechtliches Neuland beschritten: erstmals ist künftig, wenn auch nur auf den Bereich der Forschung mit Arzneimitteln für therapeutische Zwecke beschränkt, Forschung an nichteinwilligungsfähigen Personen möglich, bei der nur ein Nutzen für eine ganze Patientengruppe zu erwarten steht.
Probleme der Selbstständigeninsolvenz am Beispiel der Insolvenz einer Arztpraxis Bemerkungen zu den Reformvorschlägen des Gesetzgebers Wolfgang Lüke
I. Einleitung Das Insolvenzreformgesetz 20051 sieht in seiner bislang vorgelegten Form des Referentenentwurfs die Möglichkeit vor, dass der Insolvenzverwalter, wenn der Schuldner eine selbstständige Tätigkeit ausübt oder auszuüben beabsichtigt, erklären kann, dass das Vermögen aus der selbstständigen Tätigkeit nicht zur Insolvenzmasse gehört und Ansprüche aus dieser Tätigkeit nicht im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können.2 Ziel des Vorschlags ist es, die zahlreichen Schwierigkeiten, die sich bei der Abwicklung von Insolvenzen mit Selbstständigen stellen, dadurch zu lösen, dass der Verwalter das Verfahren nicht mehr auf das „Betriebsvermögen“ des Selbstständigen erstreckt. Beispielhaft sei die Problematik anhand der Insolvenz eines Arztes erläutert: Der Arzt betreibt eine Praxis mit mäßiger technischer Ausstattung; hierzu gehören etwa medizinisch diagnostische und Behandlungsgeräte, wie ein Gerät zur Aufzeichnung von EKGs sowie ein Ultraschallgerät. Weitere Ausstattung von erheblichem Wert gibt es nicht. Fällt der Arzt nun in die Insolvenz, so ergeben sich Probleme vor allem in folgenden Bereichen: Zunächst ist zu klären, ob die Praxis als solche zur Insolvenzmasse gehört. Sofern sie nicht insgesamt vom Vollstreckungszugriff ausgeschlossen ist, muss geprüft werden, welche Gegenstände bei der Insolvenz des Selbstständigen nicht in die Insolvenzmasse fallen. Weitere Fragen, die sich stellen, sind jene nach der Behandlung der Forderungen und Verbindlichkeiten, die der Selbstständige während der Fortführung seiner Tätigkeit begründet. 1
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Insolvenzrechtsreformgesetz, s. Entwurf eines Gesetzes zur Änderung der Insolvenzordnung, des Kreditwesengesetzes und anderer Gesetze, in: ZVI 2004, Beil. 2; ebenfalls abzurufen auf der Homepage des RWS-Verlages: www.rws-verlag.de unter dem Link „Volltexte“ vom 17.9.2004. § 35 Abs. 2 des RefE lautet: „Übt der Schuldner eine selbstständige Tätigkeit aus oder beabsichtigt er, demnächst eine solche Tätigkeit auszuüben, so kann der Insolvenzverwalter erklären, dass das Vermögen aus der selbstständigen Tätigkeit nicht zur Insolvenzmasse gehört und Ansprüche aus dieser Tätigkeit nicht im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können. Die Erklärung ist öffentlich bekannt zu machen.“
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Wolfgang Lüke
Schon diese kurze Aufzählung zeigt die erheblichen Schwierigkeiten, die sich bei der Insolvenz des Selbstständigen stellen. Mit der Änderung der InsO will der Gesetzgeber offenbar diese Probleme lösen. Im Weiteren soll der Frage nachgegangen werden, ob der vom Gesetzgeber beabsichtigte Weg eine sachgerechte Lösung der Schwierigkeiten darstellt. Dazu sind zunächst in groben Zügen die Schwierigkeiten der Selbstständigeninsolvenz am Beispiel der Insolvenz eines praktizierenden Arztes darzustellen (Teil II). Anschließend (Teil III) werden die Ausführungen der vorgeschlagenen gesetzgeberischen Lösung, ihren Folgen und möglichen Alternativen gewidmet sein.
II. Arztpraxis als Gegenstand der Insolvenzverwertung 1. Gegenstand und Bestandteile der Arztpraxis Die Arztpraxis bezeichnet die Gesamtheit materieller und immaterieller Vermögenswerte, die zur freiberuflichen Ausübung des Arztberufs notwendig sind. Neben dem Inventar einer Praxis und ihren Mitarbeitern gehören hierzu vor allem der Patientenstamm, den die Praxis hat, und weitere Elemente, wie etwa Ansehen und Lage der Praxis etc., die unter dem Begriff des Goodwill3 zusammengefasst werden können. Ärztliche Approbation4, kassenärztliche Zulassung5 und Kassenarztsitz sind an die Person des Arztes geknüpft und daher nicht Gegenstände, die in das Vermögen des Insolvenzschuldners fallen.6 Die Praxis ist eine Sachgesamtheit, die zwar im Vergleich zu einem Unternehmen einige Besonderheiten aufweist, auf die noch einzugehen sein wird, die aber
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Zum Begriff im Zusammenhang mit Selbstständigentätigkeit: Thomas Kluth, Die freiberufliche Praxis „als solche“ in der Insolvenz – „viel Lärm um nichts“?, in: NJW 2002, S. 186. Die Insolvenz führt auch nicht etwa zum Entzug der Approbation, vielmehr ist dieser an die Unwürdigkeit und Unzuverlässigkeit zur Ausübung des ärztlichen Berufes geknüpft, vgl. § 5 Abs. 2 BÄO; allein die Insolvenz erfüllt keinen dieser beiden Tatbestände; hierzu ausführlich: Christian Braun, Mirko Gründel, Approbationsentzug wegen Unwürdigkeit und Anspruch auf Wiedererteilung der Approbation, in: MedR 2001, S. 396 ff. Zu Ärzte-ZulassungsV und SGB V s. Stephan Ries, Die Insolvenz des Freiberuflers. Tagungsbericht über einen Workshop des Arbeitskreises der Insolvenzverwalter Deutschland e. V. am 01. 04. 2004, in: ZVI 2004, S. 221, 223; die Vorschriften für Anwälte und Notare sind demgegenüber strenger. LSG NRW, NJW 1997, S. 2477; Hans-Jürgen Lwowski, in: MünchKomm-InsO, Bd. 1, München 2001, § 35, Rdnr. 510; Wilhelm Uhlenbruck, Gerhard H. Schlund, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, § 19, Rdnr. 1.
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grundsätzlich als Vermögenswert7 anzusehen ist und daher unter diesem Aspekt auch zur Insolvenzmasse gehört. Nach h.M.8 kann außerhalb der Insolvenz eine Praxis veräußert werden und stellt somit ein handelbares Gut dar.9 2. Insolvenzmasse und pfändbare Gegenstände Grundsätzlich ist damit die Arztpraxis vom Insolvenzbeschlag erfasst. Das FG Düsseldorf10 hat dagegen in einer Entscheidung zur gleichen Frage im Zusammenhang mit einer Anwaltskanzlei den gegenteiligen Standpunkt eingenommen. Das Gericht lehnte eine Zugehörigkeit der Anwaltskanzlei zur Masse unter Hinweis auf die Stellung des Rechtsanwalts als Organ der Rechtspflege ab. Damit sei es unvereinbar, wenn die Praxis im Gläubigerinteresse nur aus Gründen des Gelderwerbs weiter betrieben werde. Im Übrigen unterliege die persönliche Arbeitsleistung als Ausdruck des Persönlichkeitsrechts nicht dem Insolvenzbeschlag. Die Auffassung des FG Düsseldorf hat sich bislang nicht durchsetzen können.11 Die standesrechtlichen Verpflichtungen, die auch den Arzt treffen12, sagen nichts darüber aus, ob es sich bei der Praxis um Vermögen handelt, das als solches in die Masse fällt. Weshalb eine Praxis zwar vom Inhaber rechtsgeschäftlich veräußert, nicht aber vom Verwalter im Rahmen eines Insolvenzverfahrens verwertet werden kann, ist unerfindlich. Als Vermögen i. S. von § 35 InsO unterliegt die Praxis daher dem Insolvenzbeschlag. Kein Bestandteil der Arztpraxis und damit des in die
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BGH, FamRZ 1991, S. 1547; OLG Koblenz, FamRZ 1982, S. 280; kritisch zum Wert der Praxis unter dem Aspekt der Verschwiegenheitspflicht: Thomas Kluth, in: NJW 2002, S. 186 f. m.w.N. BGHZ 16, S. 71, 74; BGHZ 43, S. 46, 47; BGH, NJW 1973, S. 98, 99 ff.; MünchKomm-InsO/Lwowski, § 35, Rdnr. 510; a. A. wohl Axel Breutigam, in: Axel Breutigam, Jürgen Blersch, Hans Goetsch (Hrsg.), InsO, Berlin, Stand: August 2004, § 35, Rdnr. 18, der eine Zustimmung des Patienten verlangt; Johannes Holzer, in Bruno Kübler, Hanns Prütting (Hrsg.), InsO, Köln Stand: 11/04, § 35, Rdnr. 74 mit Blick auf § 811, Abs. 1 Nr. 5 ZPO, solange die berufsrechtlichen Vorschriften eine Ausübung der Tätigkeit gestatten. Dies war längere Zeit durchaus streitig. So sah das RG in der Veräußerung der Praxis eine Verletzung des vom Patienten entgegengebrachten Vertrauens, RGZ 66, S. 139, 140 f.; s. auch RGZ 75, S. 120. ZIP 1992, 635. Gegen eine Massezugehörigkeit freilich: Dieter Eickmann, in: Heidelberger Kommentar zur Insolvenzordnung, 3. Aufl., Heidelberg 2003, § 35, Rdnr. 28 mit ähnlicher Begründung; ablehnend dagegen: MünchKomm-InsO/Lwowski, § 35, Rdnr. 156. Zu berufsrechtlichen Aspekten der Insolvenz, s. Walter Schick, Der Konkurs des Freiberuflers. Berufsrechtliche, konkursrechtliche und steuerrechtliche Aspekte, in: NJW 1990, 2359; Wilhelm Uhlenbruck, Die Verwertung einer freiberuflichen Praxis durch den Insolvenzverwalter, in: Walter Gerhardt u. a. (Hrsg.), Festschrift für Henckel, Berlin u. a. 1995, S. 877, 884.
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Masse fallenden Vermögens ist jedoch die Arbeitskraft.13 Und auch der Gesetzgeber nimmt – wie der hier in Rede stehende Reformvorschlag zeigt – offensichtlich an, dass der Insolvenzbeschlag dieses Vermögen erfasst. Sonst bedürfte es der geplanten Freigabe nicht. Da aber der Beschlag nicht bezogen auf die Sachgesamtheit, sondern jeden einzelnen Gegenstand zu prüfen ist, bedarf dies einer genaueren Betrachtung. Gemäß §§ 36 Abs. 1 Satz 1 InsO, 811 Nr. 5 und 7 ZPO gehören solche Gegenstände nicht zur Insolvenzmasse, die der Schuldner für die Erzielung von Einkünften benötigt. Diese Vorschrift schützt den Erwerb durch persönliche Arbeit unabhängig davon, ob die Arbeit in abhängiger oder selbstständiger Stellung erbracht wird.14 Dem Schuldner soll auch im öffentlichen Interesse ermöglicht werden, seine Arbeitskraft zur Beschaffung des Lebensunterhalts für sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen einzusetzen.15 Geschützt wird durch § 811 Abs. 1 Nr. 7 ZPO im Besonderen16 die Tätigkeit des Arztes, wenn der Schuldner daraus seinen Erwerb zieht und die Geräte der persönlichen Tätigkeit des Arztes (im Gegensatz zur kapitalistischen Tätigkeit des Arztes) dienen.17 Maßstab für die Unpfändbarkeit ist die Erforderlichkeit, nicht die Unentbehrlichkeit des Gegenstandes für die Erwerbstätigkeit. Bei den beiden Geräten in dem eingangs genannten Beispiel wird man darauf abstellen müssen, inwieweit es für den Arzt möglich ist, die Untersuchungen am Ort bei einem anderen Berufskollegen vorzunehmen.18 Fehlt es hieran, so fallen die Geräte in das insolvenzfreie Vermögen des Schuldners und sind vom Insolvenzbeschlag nicht erfasst. Voraussetzung dafür ist, dass der Arzt seine Tätigkeit weiter ausübt oder auszuüben beabsichtigt. Das ergibt sich aus Sinn und Zweck des Vollstreckungsschutzes.19 Ist der Schuldner dagegen in ein Angestelltenverhältnis eingetreten oder hat er jegliche Tätigkeit als Arzt aufgegeben, so unterliegt die Einrichtung seiner Praxis nicht mehr § 811 Abs. 1 Nr. 5 und 7 ZPO und fällt ohne Einschrän13
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Unstr., s. nur: Uhlenbruck/Schlund, in: Uhlenbruck/Laufs, Handbuch des Arztrechts, § 19, Rdnr. 1. LG Heilbronn, NJW-RR 1995, S. 255; AG Köln, NZI 2003, S. 387, 388, hierzu Christian Tetzlaff, Anmerkung zu AG Köln, B. v. 14. 04. 2003 – 71 IN 25/02 – (kein Insolvenzbeschlag der Praxiseinrichtung eines Arztes), in: EWiR 2003, S. 1151. Kurt Stöber, in: Richard Zöller (Hrsg.), ZPO, 24. Aufl. Köln 2002, § 811, Rdnr. 24. Man wird von einer näheren Konkretisierung der Nr. 5 durch Nr. 7 ausgehen müssen, ohne dass dies im vorliegenden Zusammenhang Bedeutung hätte, Wolfgang Lüke, in: Bernhard Wieczorek, Rolf Schütze (Hrsg.), ZPO, Band IV 2, 3. Aufl., Berlin u.a. 1999, § 811, Rdnr. 40. Juristische Personen zählen als solche nicht zum geschützten Personenkreis, ZöllerZPO/Stöber, § 811, Rdnr. 26. Vgl. hierzu etwa OLG Hamm, JMBlNW 1953, S. 40 wegen der Erforderlichkeit eines Röntgengerätes für die Praxis eines Zahnarztes. Walter Gerhardt, Zur Reichweite der Vermögenshaftung – Dargestellt am Beispiel des vollstreckungs-, insolvenz-, und anfechtungsrechtlichen Zugriffs auf Unternehmen und Freiberuflerpraxen –, in: Eberhard Schilken (Hrsg.), Festschrift für Gaul, Bielefeld 1997, S. 139, 141; zustimmend: Wilhelm Uhlenbruck, Insolvenzrechtliche Probleme der vertragsärztlichen Praxis, in: ZVI 2002, S. 49, 50.
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kung in die Masse.20 Problematisch ist also nur die Situation, in der der Schuldner und Arzt seine Praxis fortführen möchte und deshalb die hierfür erforderlichen Geräte unpfändbar sind. 3. Teleologische Reduktion der Pfändungsschutzvorschriften Dieses Ergebnis wird teilweise für die Insolvenz von Selbstständigen missbilligt und eine telelogische Reduktion des § 811 Abs. 1 Nr. 5 ZPO vertreten. Dabei wird als Begründung vorgebracht, die uneingeschränkte Anwendung der Vorschrift führe dazu, dass der Schuldner nicht nur einen wesentlichen Teil seines Vermögens behalten, sondern als natürliche Person Restschuldbefreiung erlangen könne. Damit werde aber der Schuldner zu stark auf Kosten der Gläubiger geschützt.21 Dem ist entgegen zu halten, dass sich eine solche Beschränkung weder aus dem Wortlaut der Vorschrift, noch aus ihrem Zweck ergibt. Auch ist der Maßstab für „angemessenen“ Schuldnerschutz, von dem diese Auffassung ausgeht, unklar.22 Die Pfändungsschutzvorschriften sollen es dem Schuldner selbst in der Einzelzwangsvollstreckung ermöglichen, für seinen und seiner Angehörigen Unterhalt zu sorgen. Der Verweis in § 36 Abs. 1 InsO auf die einschlägigen Vorschriften des Einzelzwangsvollstreckungsrechts sieht keine Einschränkungen für die Insolvenz vor. Derartiges lässt sich auch nicht aus der Verpflichtung zur Zusammenarbeit (§ 97 InsO) ableiten.23 Die Arbeitskraft als solche aber fällt nicht in die Masse, ebenso wenig die für ihre Ausübung erforderlichen Geräte.24 Alles andere wäre entweder nicht durchsetzbar und daher wirkungslos oder widerspräche zumindest verfassungsrechtlichen Grundsätzen (Art. 12 Abs. 2, 3 GG), die Zwangsarbeit ausschließen und damit auch eine zwangsweise Verwertung persönlicher Arbeitsleistung.25 Der Unterschied zwischen einem herkömmlichen, kapitalistisch arbeitenden Unternehmen oder Betrieb und der Praxis eines Selbstständigen, etwa eines Arztes, besteht darin, dass letztere auf die persönliche Tätigkeit des Arztes zuge20 21
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Walter Gerhardt, in: Schilken (Hrsg.) Festschrift für Gaul, S. 139, 141. Bernd Peters, in: MünchKommInsO, § 36, Rdnr. 25; s. auch Christian Tetzlaff, in: EWiR 2003, S. 1151, 1152; zust. auch AG Köln, NZI 2003, S. 388, wenn auch mit unklaren Ausführungen, die zwar auf Peters Bezug nehmen, aber eher den gegenteiligen Standpunkt stützen; s. auch Christian Tetzlaff, Die Abwicklung von Insolvenzverfahren bei selbstständig tätigen natürlichen Personen, in: ZVI 2004, 2, 7 (der für eine teleologische Beschränkung ist); ablehnend dagegen Stephan Ries, in: ZVI 2004, S. 221, 224. Vgl. auch Ries, in: ZVI 2004, S. 221, 223, insbes. auch Fn. 29. Ries, in: ZVI 2004, S. 221, 223; Hans-Peter Runkel, Probleme bei Neuerwerb in der Insolvenz, in: Hanns Prütting, Heinz Vallender (Hrsg.), Festschrift für Wilhelm Uhlenbruck, Köln 2000, S. 315, 330 f. Wolfram Henckel, in: Ernst Jaeger (Hrsg.), Insolvenzordnung, Band 1, Berlin u. a. 2004, § 35, Rdnr. 19. Vgl. Manfred Gubelt, in: Ingo von Münch (Hrsg.), Grundgesetz, Band 1, 5. Aufl., München 2000, Art. 12, Rdnr. 77 ff.; Peter J. Tettinger, in: Michael Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Aufl., München 2002, Art. 12, Rdnr. 148 ff.; (das Verhältnis von Art. 12 Abs. 2 und Abs. 3 GG ist str.).
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schnitten ist. Erst wenn dies nicht mehr der Fall ist, scheidet eine Anwendung der Schuldnerschutzvorschriften aus. Nur dadurch und durch das Merkmal der Erforderlichkeit kann der Anwendungsbereich an die konkrete Situation angepasst werden. Selbst wenn man aber sich gegen eine Anwendung dieser Bestimmung entschiede, würde dies den Arzt nicht verpflichten, tatsächlich seinen Beruf auszuüben. Eine „Betriebsfortführung“ i. S. einer Fortführung der Praxis unter der Leitung des Verwalters setzt die Bereitschaft des Arztes zur Fortsetzung seiner Tätigkeit voraus. 4. Vom Schuldner nach Insolvenzeröffnung begründete Forderungen Die mögliche Pfändungsfreiheit der Gegenstände einer Arztpraxis nach § 811 Abs. 1 Nr. 5 und 7 ZPO hat keine Bedeutung für die Frage, ob die im Rahmen der Praxistätigkeit entstehenden Forderungen in die Masse fallen. Hier gelten vielmehr die allgemeinen Grundsätze. Danach gehört auch der Neuerwerb zur Masse (§ 35 2. Fall InsO).26 Es sind nur die Grenzen des § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO zu beachten, insbesondere die Bestimmungen über die Pfändungsfreigrenzen, soweit auf sie Bezug genommen wird.27 Diese Gesetzeslage ist auf heftige Kritik28 gestoßen, und es wurden zahlreiche Versuche unternommen, die Wirkungen schon de lege lata zu beschränken.29 Sie haben sich bislang nicht durchsetzen können. Das gilt insbesondere für die Auffassung, nach der die Forderung auf den Gewinn zu begrenzen sei.30 So hat auch der Bundesgerichtshof festgestellt, dass es einen unpfändbaren Anteil in Höhe der beruflich bedingten Ausgaben nicht gebe.31 Es ist 26
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BGH, NZI 2003, S. 389, 392, hierzu Christian Tetzlaff, in: EWiR 2003, S. 593; ebenso BGH, ZInsO 2004, S. 739, hierzu Gerrit Hölzle, in: EWiR 2004, S. 987; a. A. OLG Braunschweig, NJW 1997, S. 2454. Für die Honorarforderungen ist hier § 850i ZPO von Bedeutung, der Pfändungsfreigrenzen bei nicht wiederkehrend zahlbaren Vergütungen regelt. Für die danach erforderliche gerichtliche Entscheidung ist abweichend von § 850i ZPO das Insolvenzgericht zuständig; hierauf verweist auch der BGH, ZInsO 2004, S. 739. Z. B. Ludwig Häsemeyer, Die Aufrechnung nach der Insolvenzordnung, in: Kölner Schrift, 2. Aufl., Herne 2000, S. 645, Rdnr. 52; Peter Windel, Die Verteilung der Befugnisse zur Entscheidung über Vermögenserwerb zwischen (Gemein-)Schuldner und Konkurs-(Insolvenz-)verwalter bzw. Vollstreckungsgläubiger nach geltendem und künftigem Haftungsrecht, in: KTS 1995, S. 367, 400 ff.; Runkel, in: Prütting/Vallender, Festschrift für Uhlenbruck, S. 315, 326 ff. Für einen Überblick über den Meinungsstand Christian Tetzlaff, Entstehung von Masseverbindlichkeiten durch das Handeln des Schuldners in der Insolvenz der natürlichen Person? Haftungsrisiken für Verwalter bei fortgesetzter Ausübung einer selbstständigen Tätigkeit durch den Schuldner, in: ZVI 2002, S. 309 ff. So etwa: LG Rostock, NJW-RR 2002, 846 = ZInsO 2002, S. 290; Dirk Andres, in: Nerlich/Römermann, InsO, München Stand: Oktober 2004, § 35, Rdnr. 93. BGH, NZI 2003, S. 389, 392; ebenso BGH, NZI 2004, S. 444, = ZInsO 2004, S. 739; hierzu Tetzlaff, in: ZVI 2004, S. 2, 3.
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eben die Forderung als solche, die von Gesetzes wegen mit ihrer Entstehung in Beschlag genommen wird, und nicht etwa ein nach Abzug der betrieblich veranlassten Kosten verbleibender Gewinn. Der Grundgedanke des Gesetzgebers für die Einbeziehung dieser Forderung liegt darin, dass der Gesetzgeber einen Neubeginn des Schuldners schon während des Verfahrens nicht für sinnvoll erachtet, da das Einkommen ohnehin in der Regel jenseits der Pfändungsfreigrenzen abgetreten sei. Davon unabhängig beurteilt sich die Frage, ob der Selbstständige die Kosten der Fortführung der Praxis im Rahmen eines Antrags nach § 850i ZPO geltend machen kann. Auf diesen Weg verweist der Bundsgerichtshof. Der Schuldner, so das Gericht, könne bei der Bemessung des notwendigen Unterhalts Werbungskosten analog § 850a Nr. 3 ZPO geltend machen. Daneben ermöglicht vor allem § 850f Abs. 1 ZPO eine Berücksichtigung der Betriebsausgaben, wenn diese in der Vergütung enthalten sind.32 In einer späteren Entscheidung weist das Gericht im Übrigen darauf hin, dass hierin auch nicht etwa ein Verstoß gegen Grundrechte des Schuldners gesehen werden könne33, da der Zusammenhang mit den Bestimmungen über die Restschuldbefreiung zu sehen sei und im Übrigen dem Schuldner der dargestellte Pfändungsfreibetrag verbleibe.34 5. Verpflichtung zur Verschwiegenheit und Forderungseinziehung Sehr viel schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob der Verwalter derartige Forderungen überhaupt zur Masse einziehen oder aber der Arzt aufgrund seiner Pflicht zu beruflicher Verschwiegenheit die entsprechenden Angaben nicht weitergeben darf. Der Bundesgerichtshof hat hierzu in zwei Entscheidungen zur Pfändbarkeit von Honorarforderungen ausgeführt, dass die Verpflichtung zur Verschwiegenheit nicht etwa zur Unpfändbarkeit der Forderung führt.35 Hieran änderten auch für solche Forderungen bestehende gesetzliche Abtretungsverbote nichts.36 Selbst das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung rechtfertige keine Unpfändbarkeit solcher Forderungen. So sei allein der Umstand, dass der Mandant Dienstleistungen oder Geschäftsbesorgungen durch einen bestimmten Steuerberater vornehmen lasse, keine „überragend geheimhaltungsbedürftige Tatsache“.37 Vielmehr handele es sich um einen allgemein üblichen und sozial anerkannten Auftrag. Die für die Pfändung der Forderung notwendigen Informationen 32
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Ulrich Schmerbach, Rechtliche Aspekte der Selbstständigkeit natürlicher Personen im Insolvenzverfahren und in der Wohlverhaltensperiode, in: ZVI 2003, S. 256, 260 f.; die Schwierigkeiten dieser Regelung bestehen vor allem in ihrer praktischen Umsetzung, etwa bei Ermittlung des konkreten Bedarfs und den Verzögerungen des Verfahrens, Tetzlaff, in: ZVI 2004, S. 2, 5. So aber Rainer R. Roellenbleg, Verfassungswidrigkeit der InsO?, in: NZI 2004, S. 176, 178. BGH, NZI 2004, S. 444 = ZInsO 2004, S. 739. BGHZ 141, S. 173 (Steuerberaterhonorar); BGH, ZIP 2003, S. 2176 (Anwaltshonorar). Vgl. etwa § 64 Abs. 2 Satz 2 StBerG; § 49b BRAO. BGHZ 141, S. 173, 178.
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gehörten nicht zum Kreis der uneingeschränkt schutzwürdigen persönlichen Daten. Gleiches gelte für die Auskünfte, die der Drittschuldner erteilen müsse (§ 840 ZPO). Im Einziehungsrechtsstreit aber stehe dem Schuldner eine ausreichende Schutzmöglichkeit zur Verfügung, um seine Verschwiegenheit zu wahren (§ 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO). In der Sache wird der Schutz der Vertraulichkeit zu Gunsten der Gläubiger beschränkt und zeitlich auf den Einziehungsprozess verlegt. Meist wird für die Honorarforderungen des Arztes auf diese Entscheidungen des Bundesgerichtshofs verwiesen und die Grundsätze werden entsprechend übertragen oder unabhängig davon eine Verpflichtung des Schuldners zur Angabe befürwortet. Dies freilich erscheint zumindest sehr fraglich, denn der Rahmen der Verschwiegenheitspflichten unterscheidet sich bei den einzelnen Berufen durchaus. Für die ärztliche Behandlung ist nämlich unstreitig, dass auch der Name des Patienten sowie die Tatsache der Behandlung der ärztlichen Verpflichtung zur Verschwiegenheit unterliegen.38 Sofern der Patient der Weiterleitung dieser Information zustimmt, steht einer Geltendmachung kein Schutzbedürfnis des Patienten entgegen. Ohne eine solche Zustimmung wird man alle Maßnahmen für unzulässig ansehen müssen, die dem Verwalter einen Zugang zu der ärztlichen Verschwiegenheitspflicht unterliegenden Informationen ermöglichen.39 Das bedeutet letztlich, dass er weder die Unterlagen der Patienten ohne deren Zustimmung einsehen, noch die offenen Forderungen einziehen darf, die aus dem ArztPatienten-Verhältnis stammen. Teilweise wird von den Gerichten hierzu eine Art Interessenabwägung vorgenommen und den Interessen des oder der Gläubiger der Vorrang eingeräumt. Woraus sich ein solcher Vorrang ergibt, bleibt unklar. In einer Entscheidung wird gar festgestellt, der Schuldner sei Zahnarzt, es gehe „insoweit lediglich um zahnmedizinische Behandlungen“40 und daher, so sind die Ausführungen wohl zu verstehen, sei das Interesse an einem Geheimnisschutz des Patienten geringwertig. Hierfür spricht auch die Überlegung des Bundesgerichtshofs, wenn er feststellt, die Inanspruchnahme eines Steuerberaters sei „üblich und sozial anerkannt“.41 Es ist aber schon fraglich, ob der Patient nicht ein Interesse an der Vertraulichkeit auch dieser Informationen hat. Die Abgrenzung von Angaben, die der Geheimhaltung unterliegen und solchen, die in der Situation der Vollstrekkung herausgegeben werden dürfen, erscheint kaum möglich und für den Arzt wenig nachvollziehbar. So fragt sich, ob die psychiatrische Behandlung aufgrund der öffentlichen Meinung über psychische Krankheiten als solche der Geheimhaltung unterliegt, die urologische Behandlung aber nicht. Unklar ist auch, inwieweit die 38
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BGH, MedR 1985, S: 167; OLG Bremen, MedR 1984, S. 112; Adolf Laufs, Arztrecht, 6. Aufl., München 2000, Rdnr. 434, die aber nur von einem „grundsätzlichen“ Schutz vor Weitergabe dieser Angaben sprechen; Klaus Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 70, Rdnr.1; Gerhard H. Schlund, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 75, Rdnr. 59a, Fn. 45, gegen LG Oldenburg, ArztR 1992, S. 265, das die Weitergabe der bloßen Endabrechnung für zulässig hielt. Auch aus § 97 InsO lässt sich keine Begrenzung der Verschwiegenheitspflicht ableiten. LG Berlin, ZInsO 2004, S. 818 unter Hinweis auf die h. M. zu § 807 ZPO; ebenso LG Köln, ZInsO 2004, S. 756. BGHZ 141, S. 173, 178.
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Dauer der Behandlung, auf die schon die Höhe des Honorars Rückschlüsse ermöglicht, der Geheimhaltung unterliegt. Besucht jemand einen Hautarzt, der zugleich Facharzt für Geschlechtskrankheiten ist, stellt sich die Frage, ob der Patient selbst bei dermatologischer Behandlung nicht auch vor dem nach außen entstehenden Anschein einer zu behandelnden Geschlechtskrankheit zu schützen ist.42 Die Beispiele zeigen, dass eine Abgrenzung kaum überzeugend gelingen wird und vieles für ein weites Verständnis der Geheimhaltungspflicht spricht. Damit stellt diese aber für die Verwaltung von Arztpraxen ein wesentliches Hindernis dar. Hieran ändert auch der Umstand nichts, dass der Verwalter seinerseits zur Verschwiegenheit verpflichtet ist, da der Arzt schon mit der Weitergabe der Information ohne Zustimmung des Patienten seine Verschwiegenheitspflicht verletzt.43 Der Arzt als Schuldner erfährt im Falle der Fortführung der Praxis gegenüber anderen abhängig Tätigen, aber auch gegenüber Selbstständigen, die keiner oder einer geringeren Verschwiegenheitspflicht, als sie den Arzt trifft, unterliegen, eine privilegierte Behandlung als Reflex des Schutzes der Vertraulichkeit zwischen Arzt und Patient.44 Die vom Arzt erzielten Einkünfte gehören daher zwar in die Masse, können vom Verwalter aber nicht ohne Zustimmung des Patienten eingefordert werden.45 Im Übrigen darf der Arzt nicht bereits anderweit über die Einkünfte verfügt haben.46 Hier stellt sich das Problem, ob auf derartige Vorausabtretungen die Bestimmung des § 114 InsO entsprechend anzuwenden ist. Für den Arzt freilich, so ist allenthalben zu hören, ist unter den gegebenen Voraussetzungen die Neigung gering, weiter Einkünfte zu erzielen. Er wird sich möglicherweise gegen eine Fort42
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Grundsätzlich eine Geheimhaltungspflicht ablehnend, für spezialisierte Fachärzte aber eine Ausnahme erwägend, wenn ein Besuch in einer solchen Praxis den Patienten sozial stigmatisiere: Wolfgang Münzberg, in: Stein/Jonas, ZPO, Bd. 7, 22. Aufl., Tübingen 2002, Rdnr. 37, Fn. 256. S. auch BGH, MedR 1991, S. 327 mit Anm. Jochen Taupitz. Im Gegensatz zur Unpfändbarkeit führt in der Insolvenz der hier eingenommene Standpunkt zu unterschiedlichen Ergebnissen. Der Verwalter kann vom Arzt Herausgabe von auf solche Forderungen geleisteten Zahlungen verlangen. In der Einzelzwangsvollstrekkung führt der Standpunkt ohne entsprechende Zustimmung des Patienten zu einer faktischen Unpfändbarkeit, der der Arzt nur durch eine entsprechende Klausel im Behandlungsvertrag vorbeugen kann, die man dem Arzt zur Pflicht machen könnte. Insoweit gelten keine anderen Grundsätze als bei der Einziehung der Forderungen durch eine Verrechnungsstelle. Auch ein solches Vorgehen setzt die Einwilligung des Patienten voraus, so die wohl h. M.: BGH, MedR 1991, S. 327 mit Anm. Jochen Taupitz; BGH, MedR 1992, S. 330, an die strenge Anforderungen gestellt werden; ausführlich hierzu Gerhard H. Schlund, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 74, Rdnr. 57 m.w.N. Auf die hiermit zusammenhängenden Probleme kann nicht eingegangen werden, s. z. B. Jürgen Sander, Zur (Un-)Anwendbarkeit von § 114 InsO auf Honorare von Kassenärzten, in: ZInsO 2003, S. 1129; Wilhelm Uhlenbruck, in: ZVI 2002, S. 49, 50 ff.; Stephan Ries, Die Praxis des Vertragsarztes in der Insolvenz; die Masse zahlt alle Betriebskosten und die Bank kassiert das Honorar?, in: ZInsO 2003, S. 1079; Burghard Wegener, Jens Köke, Der Bestand der Forderungszession niedergelassener Ärzte in der Insolvenz, in: ZVI 2003, S. 382.
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führung der selbstständigen Tätigkeit entscheiden und sich stattdessen um eine Anstellung bemühen. Dann freilich fallen auch die Geräte in die Masse.47 6. Verbindlichkeiten im Rahmen der Praxisfortführung durch den Schuldner Eine weitere Schwierigkeit bilden die Verbindlichkeiten, die der Schuldner im Rahmen seiner Selbstständigentätigkeit begründet. Nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens scheidet eine Verpflichtung der Masse durch Rechtshandlungen des Schuldners aus. Dies ergab sich nach altem Recht aus § 7 KO. Der Gesetzgeber der InsO hat im Hinblick auf eine Straffung des Textes von einer ausdrücklichen Regelung abgesehen, da sich dies schon aus § 38 InsO ergebe.48 Wenn der Schuldner hierzu vom Verwalter nicht ausdrücklich ermächtigt wurde, scheidet eine Verpflichtung der Masse aus. Der Schuldner kann also nur sich selber mit seinem insolvenzfreien Vermögen verpflichten.49 Er hat nicht etwa die Möglichkeit, Masseverbindlichkeiten zu begründen.50 Dem steht schon § 81 InsO mit dem darin geregelten Schutz der Masse entgegen. Das allerdings schränkt die Erfolgsaussichten der Versuche einer Fortsetzung der Tätigkeit ein. Derartige Schwierigkeiten vergrößern sich, wenn die Praxisgegenstände noch im Eigentum des Verkäufers stehen und der Schuldner sie noch nicht bezahlt hat. 7. Sonderproblem Dauerschuldverhältnisse Auch die Behandlung von Dauerschuldverhältnissen in der Insolvenz des Selbstständigen gibt Probleme auf.51 Sind etwa die Praxisräume angemietet, so wird der Verwalter ein Interesse daran haben, den Vertrag möglichst rasch zu lösen, um zu verhindern, dass weitere Verbindlichkeiten die Masse belasten, ohne dass dem für die Masse nutzbare Vorteile gegenüberstehen. Damit ist aber die Möglichkeit für den Schuldner bedroht, die Praxis fortzuführen. Gem. § 109 InsO kann der Verwalter das Mietverhältnis kündigen. Im vertraglichen Wege kann der Verwalter zwar mit den anderen Beteiligten eine „Vertragsübernahme“ vereinbaren, sperrt 47
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Der Schuldner kann nach § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO stattdessen auch einen Antrag auf Erhöhung des Freibetrags stellen. Begründung, BT-Drs., 12/443, S. 135; hierzu auch Wolfgang Lüke, in: Kübler/Prütting, InsO, Stand: 04/03, § 81, Rdnr. 1. S. auch Joachim M. E. Voigt, Lars Gerke, Die insolvenzfreie selbstständige Arbeit, in: ZInsO 2002, 1054, 1059 f.; zur Frage der Bevollmächtigung, s. sub III 2. A. A. Schumacher, in: Frankfurter Kommentar, 3. Aufl., Neuwied u.a. 2001, § 55, Rdnr. 20 f.; MünchKomm-InsO/Lwowski, § 35, Rdnr. 65 befürwortet eine Art faktisch subsidiärer Haftung, wenn der Gläubiger aus dem freien Vermögen des Schuldners keine Befriedigung erlange, da diese dann ungerechtfertigt bereichert sei. Der Rechtsgrund für die Leistung besteht aber im Verhältnis zum freien Schuldner. Allgemein zu dem Schicksal gegenseitiger Verträge: Voigt/Gerke, in: ZInsO 2002, S. 1054.
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sich jedoch der Vermieter, so muss der Verwalter kündigen. Manches spricht dafür, diese Problematik durch Übernahme der Vorschriften für den gemieteten Wohnraum zu lösen. De lege lata wird man diese Ausnahmereglung aber kaum im Wege der Analogie heranziehen können.52 Für die Wohnung des Schuldners sieht § 109 Abs. 1 Satz 2 InsO gegenüber dem allgemeinen, für überlassenen Mietraum geltenden Sonderkündigungsrecht eine wichtige Besonderheit vor. Danach hat der Mieterverwalter kein Sonderkündigungsrecht nach § 109 Abs. 1 Satz 2 InsO, sondern er kann stattdessen erklären, dass Ansprüche, die nach Ablauf der gesetzlichen Kündigungsfrist fällig werden, „nicht im Insolvenzverfahren geltend gemacht werden können“. Mit der Erklärung verhindert der Verwalter die Entstehung von weiteren Masseverbindlichkeiten, obgleich der Mieter die Wohnung nach wie vor nutzt. Wenn der Verwalter eine solche Erklärung abgibt, besteht für den Vermieter nur noch die Möglichkeit, Schadensersatz gem. § 109 Abs. 1 S. 3 InsO gegenüber dem Verwalter als einfache Insolvenzforderung geltend zu machen. Der Zweck dieser Regelung lässt sich recht einfach schildern: Der Verwalter muss im Interesse der Insolvenzgläubiger die Masse möglichst erhalten und mehren. Das umfasst auch, gegebene Sicherheiten zur Masse zu ziehen. Er wird daher regelmäßig den Mietvertrag kündigen, wenn er die Räume für die Masse nicht benötigt. Das trifft bei der schuldnerischen Wohnung regelmäßig zu. So entlastet der Verwalter die Masse um eine Verbindlichkeit und schafft die Voraussetzungen, die vom Schuldner dem Vermieter gegebene Sicherheit zur Masse zu ziehen. Unterlässt er eine solche Kündigung, so läuft der Verwalter Gefahr, selbst auf Schadensersatz in Anspruch genommen zu werden (§ 60 InsO). Das Ergebnis ist für den Mieter nachteilig und widerspricht dem Grundgedanken des bürgerlichrechtlichen Kündigungsschutzes (§§ 573 ff.; 574 ff. BGB). Da der Verwalter nicht ohne Zustimmung des Vermieters den Mietvertrag aus dem Insolvenzbeschlag geben kann53, musste eine angemessene Lösung gefunden werden, die vor allem die Interessen des Mieters besser berücksichtigt, ohne für den Vermieter unzumutbar zu sein54. Darin liegt der Regelungszweck des nachträglich in das Gesetz eingefügten § 109 Abs. 1 Satz 2 InsO. 52 53
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A. A. Voigt/Gerke, in: ZInsO 2002, S. 1054, 1064. Zwar wurde eine solche Freigabe allgemein auf Aktivvermögen beschränkt, das für die Masse nicht gewinnbringend verwertet werden kann; mittlerweile wird aber von „Freigabe“ auch im Zusammenhang mit Vertragsverhältnissen gesprochen, Heinz Vallender, Michael Dahl, Das Mietverhältnis des Schuldners im Verbraucherinsolvenzverfahren, in: NZI 2000, S. 246, 249; Dirk Wegener, in: Frankfurter Kommentar zur InsO, 3. Aufl., Neuwied u. a. 2001, § 109, Rdnr. 8. Ob es sich dabei um eine Freigabe im eigentlichen Sinn handelt, muss bezweifelt werden, da selbst die Vorgenannten im Zusammenhang mit dem Mietvertrag eine für die Masse befreiende Wirkung nur bei Zustimmung des Vermieters annehmen; weitergehend aber offenbar Tetzlaff, in: ZVI 2004, S. 2, 7. Eine Freigabe ist im Hinblick auf die Kaution oder die Genossenschaftsanteile für die Masse auch regelmäßig nicht sinnvoll, da diese Sicherheiten möglicherweise gewinnbringend für die Masse verwertet werden können. Sie hat nur dann die Wirkung, die
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Der Mietvertrag, und dies ist nochmals klarzustellen, wird durch die Erklärung des Verwalters nach § 109 Abs. 1 S. 2 InsO nicht etwa – auch nur relativ für die Masse – beendet, sondern bleibt mit der Maßgabe bestehen, dass der Mieter die Miete aus dem ihm überlassenen pfändungsfreien, und damit vom Insolvenzbeschlag nicht erfassten Vermögen zahlen muss. Die bis zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens fälligen und noch nicht erfüllten Forderungen sind als einfache Insolvenzforderungen zur Tabelle anzumelden. Der Verwalter schuldet Überlassung des Mietgegenstandes an den Mieter. Vertragliche Störungen, etwa Verzug bei Zahlungen der Miete für spätere Zeiträume, sind von der Kündigungssperre des Vermieters (§ 112 InsO) nicht erfasst und ermöglichen es ihm, nach den allgemeinen Bestimmungen das Mietverhältnis zu beenden. Entstehen durch die Erklärung des Mieterverwalters Schäden, so können diese mit der Qualität einer Insolvenzforderung geltend gemacht werden. Die Besonderheit der Bestimmung liegt in der gespaltenen „Zuständigkeit“ von Mieter und Verwalter für Pflichten und Rechte auf Mieterseite, die etliche Fragen offen lässt, auf die im Weiteren im Zusammenhang noch zurückgekommen wird.55 8. Zusammenfassung Die Darlegungen machen deutlich, dass die Verwaltung der Insolvenz eines Selbstständigen erhebliche Schwierigkeiten aufgibt. Das Inventar einer noch betriebenen Praxis gehört nur zu einem geringen Teil zur Insolvenzmasse. Das gilt auch für die Patientenkartei. Zur Praxis gehören der Goodwill, die immateriellen Werte, wie etwa Lagevorteil, langfristige Bindungen an Lieferanten und Kunden, die sich aber letztlich nur mittels des Schuldners verwirklichen lassen, der hierzu im Rahmen seiner Pflicht zur Mitwirkung (§ 97 InsO) nicht gezwungen werden kann. Erzielt der Arzt weiterhin Einkünfte durch Fortführung der Praxis, so fallen diese zwar in die Insolvenzmasse. Die Geltendmachung dieser Forderungen durch den Verwalter stößt aber aufgrund der ärztlichen Pflicht zur Verschwiegenheit auf erhebliche Schwierigkeiten. Umgekehrt wird der Schuldner nur selten in der Lage sein, seine Tätigkeit als Arzt fortzusetzen, da er nicht einmal die vorhandene Masse verpflichten56 und daher nur mit dem insolvenzfreien Vermögen arbeiten kann, das ihm nur zu sehr beschränkten Zwecken und in begrenztem Umfang überlassen ist. Weitere Probleme ergeben sich aus den besonderen berufsrechtlichen Voraussetzungen, die in der Person des zugelassenen Arztes erfüllt sein müssen, um die ärztliche Tätigkeit überhaupt ausüben zu dürfen. Mag der Verwalter im Ausnahmefall einmal diese Voraussetzungen erfüllen, so wird es regelmäßig daran fehlen. Selbst in den vorgenannten Ausnahmesituationen ist die „Genehmigung“ für die ärztliche Tätigkeit der konkreten Person erteilt, so dass diese nicht einfach auf den
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Masse von den Mietansprüchen zu verschonen, wenn der Vermieter an ihr mitgewirkt hat. S. unten sub III 1. Zur Frage der rechtsgeschäftlichen Bevollmächtigung s. unten sub III 2.
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Insolvenzverwalter gem. § 80 InsO übergeht und von diesem fortgeführt werden kann.57 Das freilich beschränkt die Möglichkeit der Betriebsfortführung bei Arztpraxen. Die Insolvenzverwalter haben sich neben der Eigenverwaltung damit beholfen, dass der Arzt im Einvernehmen mit dem Verwalter die ärztliche Praxis fortführt. Der Schuldner arbeitet dann für die Masse und soll diese auch verpflichten können.58
III. Reformvorschlag nach dem Referentenentwurf 1. Inhalt des Gesetzesvorschlags und sein Vorbild Mit der angestrebten Gesetzesänderung in § 35 Abs. 2 InsO will der Gesetzgeber offenbar diese verwickelten Rechtsfragen dadurch lösen, dass dem Verwalter die Möglichkeit gegeben wird, den gesamten Bereich selbstständiger Tätigkeit gewissermaßen aus dem Kreis der Verwaltung herauszulösen. Teilweise wird hier von einer „Freigaberegelung“59 gesprochen und auf die Regelung des § 109 Abs. 1 Satz 2 InsO verwiesen. Diese Sonderregelung, in der manche – in der Sache unzutreffend – eine Freigabe sehen, soll nunmehr auf die Tätigkeit Selbstständiger übertragen werden. Die Parallele will auf den ersten Blick nicht recht einleuchten, geht es doch in § 109 InsO um sozialpolitische Erwägungen. Der Verwalter soll zur Schonung der Masse nicht gezwungen sein, das Mietverhältnis über den für die Masse nutzlosen Wohnraum des Schuldners mit entsprechenden Folgen für den Schuldner zu kündigen. Daher soll es dem Verwalter möglich sein, innerhalb der vorgenannten Frist, eine weitere Haftung für die Masse weitgehend (s. aber § 109 Abs. 1 Satz 3 InsO) zu vermeiden. Die Ausgangslage ist also eine offensichtlich andere als beim Selbstständigen. Die Rechtsfolgen sind es freilich auch, wenn man in § 109 Abs. 1 Satz 2 InsO keine Freigabe sieht, sondern eine Erklärung zur Haftungsbegrenzung, soweit es die Masse betrifft. Die Situation bei selbstständiger Tätigkeit ist nicht von sozialpolitischen Erwägungen gekennzeichnet. Diesen wird nämlich schon mit § 36 Abs. 1 Satz 1 InsO i. V. m. § 811 Abs. 1 Nr. 5 und Nr. 7 ZPO sowie § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO i. V. m. § 850i ZPO Rechnung getragen. Es besteht für den Schuldner kein Risiko, etwa keinen Anteil seines Honorars aus seiner Tätigkeit zu erhalten, um daraus seine Lebenshaltung zu bestreiten. § 850i ZPO dient gerade dem Zweck, Pfändungsfreigrenzen bei Einkünften in den sogenannten freien Berufen zu bestimmen60. Da57
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Ausführlich hierzu Jaeger-InsO/Henckel, § 35, Rdnr. 16 m.w.N.; dem stünde im Übrigen wiederum die Verschwiegenheitspflicht entgegen. Runkel, in: Prütting/Vallender, Festschrift für Uhlenbruck, S. 315, 329; s. auch Ries, in: ZVI 2004, S. 221, 224. Guido Stephan, Das InsO-Änderungsgesetz 2005, in: NZI 2004, S. 521, 525; so schon de lege lata: Tetzlaff, in: ZVI 2004, S. 2, 7; s. auch Ries, in: ZVI 2004, S. 221, 226. Wieczorek/Schütze-ZPO/Lüke, § 850i, Rdnr. 4.
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nach sind solche Vergütungen unpfändbar, soweit die Beträge für den Unterhalt erforderlich sind. Der Aspekt des Schuldnerschutzes, sei es durch Erhaltung seiner Wohnung oder seiner Erwerbsmöglichkeit, begründet zwar eine gewisse Ähnlichkeit, aus dem Blickwinkel der Masse fehlt es aber hieran. Es geht es nicht darum, die Masse vor Verbindlichkeiten zu schützen, denen für sie keine Vorteile gegenüberstehen. Weder Masse noch Schuldner können in den hier vorliegenden Situationen wirksam Befugnisse ausüben. Insoweit fehlt es daher an einer Vergleichbarkeit. Im Übrigen ist § 109 Abs. 1 Satz 2 InsO nicht gerade eine gelungene Vorschrift. Zweifelhaft sind nach ihr die rechtlichen Zuständigkeiten für den Mietvertrag. Dieser bleibt mit der Masse zwar bestehen, die Erfüllung aber muss der Schuldner aus seinem insolvenzfreien Vermögen leisten, da er auch die Leistung erhält. Fraglich ist aber, wer etwa die Befugnis zur Kündigung hat, wem die Mietkaution zusteht oder wer die Gewährleistungsrechte geltend macht. Die Person der Vertragspartei hat sich zwar nicht geändert, rechtszuständig sind aber zwei verschiedene Personen. Die Bestimmung erkennt das zwar in einer Hinsicht an, regelt aber die hieraus sich ergebenden Folgen nur unvollständig. So kann man schon sehr zweifeln, ob die Vorschrift als Modell für die Selbstständigeninsolvenz dienen sollte. Aus den Darlegungen ergibt sich auch, dass die Bestimmung nicht etwa die Freigabe eines Schuldverhältnisses vorsieht. Selbst wenn man eine solche nicht auf das Aktivvermögen beschränkt,61 so würden mit Freigabe des gesamten Mietvertrages sich die vorgenannten Probleme nicht ergeben. Eine Freigabe lässt sich weder aus dem Wortlaut des Gesetzes ableiten, noch entspräche sie dem Sinn der Bestimmung, wären mit ihr doch Folgen verbunden (z.B. Verlust einer Mietkaution für die Masse), die der Gesetzgeber erkennbar nicht gewollt hat. Man kann im Übrigen durchaus bezweifeln, ob das auch dem Sinn der Freigabe entspricht. Diese bezeichnet die Herauslösung eines oder mehrer Gegenstände aus dem beschlagnahmten Schuldnervermögen durch einseitige empfangsbedürftige Willenserklärung des Verwalters.62 Mit der Freigabe scheidet der Gegenstand aus dem haftenden Vermögen aus und der Insolvenzschuldner erlangt wieder volle Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis hierüber. Hieran wird der Verwalter dann Interesse haben, wenn der Gegenstand keinerlei Vorteile für die Masse hat, da mit 61
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Das ist schon unter dem Aspekt der Grundlage einer solchen Freigabe problematisch: Solange sich die Freigabe auf das Aktivvermögen beschränkt, kann § 80 InsO als Grundlage dienen. Diese Vorschrift ermöglicht aber nicht, Verbindlichkeiten oder – soweit es das haftende Vermögen betrifft – den Wechsel des Vertragspartners (vom Schuldner mit seinem insolvenzbefangenen Vermögen zum Schuldner mit dem insolvenzfreien Vermögen) ohne Mitwirkung des Schuldners und des Vertragspartners herbeizuführen, da für beide dies mit erheblichen Veränderungen der Verbindlichkeiten und des haftenden Vermögens verbunden ist. Selbst in dem einer Freigabe in mancher Hinsicht ähnlichen Fall bei Wohnungsmiete des Schuldners ist eine subsidiäre Haftung der Masse für künftige Mietforderungen vorgesehen (§ 109 Abs. 1 Satz 3 InsO). Wilhelm Uhlenbruck, in: Uhlenbruck, Insolvenzordnung, 12. Aufl., München 2003, § 35 Rdnr. 23 m.w.N.
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ihm nur Lasten verbunden sind, ohne dass ein angemessener Verwertungserlös zu erwarten ist. Es sind also Massegegenstände und nicht Verbindlichkeiten, die aus der Masse freigegeben werden können. Erstreckt man diese Möglichkeit auch auf Vertragverhältnisse oder gar nur Verbindlichkeiten, so gibt man dem Verwalter das Recht, die Schuldenmasse zugunsten der übrigen Gläubiger zu reduzieren, dem einzelnen Gläubiger das Haftungsvermögen zu entziehen.63 Diese Befugnis hat der Verwalter aber nicht, da er damit einzelne Gläubiger benachteiligen könnte und dem Grundsatz der Gläubigergleichbehandlung zuwider handelte. Wie die Ausfallhaftung nach § 109 Abs. 1 Satz 3 InsO zeigt, will auch die Ausnahmeregelung diese Folge verhindern. Man sollte daher die Freigabe auf die Enthaftung eines Gegenstandes im dargestellten Sinne beschränken. 2. Wirkungen einer Freigabe oder deren Unterlassung Im Weiteren sollen die Auswirkungen der vorgeschlagenen Vorschrift näher untersucht werden. Der Verwalter muss seine Tätigkeit an den allgemeinen Zielen des Insolvenzverfahrens ausrichten (vgl. § 1 InsO). Die Erklärung nach § 35 Abs. 2 InsO RefE kommt für ihn daher nur in Betracht, wenn für die Masse damit Vorteile verbunden sind. Wie bereits festgestellt, kann ohne ein Mitwirken des Schuldners der Verwalter die Praxis weder in ihren Bestandteilen verwerten – dies setzte voraus, dass der Schuldner seine Tätigkeit aufgibt – noch eine Fortführung der Praxis betreiben, da hierfür die Bereitschaft des Praxisinhabers zur Fortsetzung der Tätigkeit des Arztes erforderlich ist. Im Übrigen wäre seine Kontrollmöglichkeit einer solchen Fortführung ohnehin eingeschränkt, solange die Patienten nicht der Weitergabe ihrer Daten, soweit sie für die Einziehung der Forderungen erforderlich sind, zustimmten.64 Der vom Gesetzgeber eingeschlagene Lösungsweg ist letztlich eine Abkehr vom Insolvenzrecht, indem dem Verwalter die Befugnis gegeben wird, den Bereich der Erwerbstätigkeit und das Privatvermögen voneinander zu trennen und einen ganzen Bereich aus der Masse herauszulösen. Mit Freigabe im üblichen Sinne hat das nichts mehr zu tun. Eine solche Befugnis wäre in der InsO ohne Beispiel. Freigabe durch den Verwalter vorausgesetzt wären die Altgläubiger auf das noch im Beschlag befindliche „Privatvermögen“ verwiesen65, das der Verwalter nicht freigegeben hätte, während die neuen Gläubiger, die zu solchen durch Handlungen des Schuldners gemacht wurden, sich nur aus dem freigegebenen Vermö-
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S. schon o., Fn. 61. Kluth, in: NJW 2002, S. 186, 188. Im Falle der Restschuldbefreiung gilt zwar § 295 Abs. 2 InsO; danach ist der Gläubiger in der Wohlverhaltensphase so zu stellen, als wäre er ein angemessenes Dienstverhältnis eingegangen. Dies betrifft aber nur die Insolvenzmasse, zu der die Praxis mit Freigabe nicht mehr gehört.
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gen befriedigen könnten. Worin die Rechtfertigung für eine solche Trennung jenseits Praktikabilitätserwägungen liegt, bleibt unklar.66 Weigert der Verwalter sich freizugeben, so hat der Schuldner nach wie vor keine tatsächliche Möglichkeit, die Praxis fortzuführen, da er kein neues Vermögen durch seine Tätigkeit bilden kann. Den Verwalter freilich wird nicht diese Frage interessieren, sondern er wird darauf abstellen müssen, ob der Inhalt der Praxis zum Nutzen der Masse verwertet werden kann. Ist dem so, so muss er sich gegen eine Freigabe entscheiden, um damit zu erreichen, dass der Arzt seine Tätigkeit einstellt und die Praxis verwertet werden kann. Nach der bisher vorgeschlagenen Regelung ist unklar, welches die Folgen sind, wenn der Verwalter die Praxis freigibt, sie dann aber nach einiger Zeit nicht weitergeführt wird. In Betracht kommt ein Rückfall der Gegenstände in die Masse oder ein zweites Insolvenzverfahren, das nun die Verwertung des ehemals nicht in Beschlag befindlichen Vermögens betrifft. Dieses Problem stellt sich nach gegenwärtigem Recht nicht, da der Beschlag dieser Gegenstände nicht an einer Freigabe des Verwalters scheitert, sondern an bestimmten gesetzlichen Vorschriften, die die Zugehörigkeit eines Gegenstandes zur Masse regeln. Verändert sich diesbezüglich etwas, so fällt der Gegenstand „nachträglich“ in die Masse. Die Freigabe ist dagegen endgültig und unwiderruflich.67 Das spricht dagegen, dass das freigegebene Vermögen wieder in die Insolvenzmasse fällt, sofern das Verfahren noch nicht abgeschlossen ist. Allerdings wird man kaum begründen können, das insolvenzfreie Vermögen getrennt – sei es im Rahmen einer Insolvenz oder außerhalb einer Insolvenz – zu liquidieren. Hier wäre es jedenfalls im Falle der Restschuldbefreiung erforderlich, das Vermögen nach Befriedigung der Gläubiger an den Treuhänder herauszugeben. Bislang ist Entsprechendes nicht vorgesehen. Ebenfalls unklar ist die Situation bei unterbliebener Freigabe hinsichtlich der Passiva: Wie sich aus den Materialien ergibt, geht der Gesetzgeber davon aus, dass der Schuldner im Falle unterbliebener Freigabe in der Lage ist, Verbindlichkeiten für die Masse zu begründen. Er nimmt wohl an, dass dies aus der Duldung der Fortsetzung der Praxisfortführung folgt. Die mit dem Neuerwerb begründeten Verbindlichkeiten würden zu Masseverbindlichkeiten.68 Der Gesetzgeber sieht wohl eine Art Stellvertretung mittels Duldungsvollmacht und hält diese auch für offenkundig.69 Damit aber entsteht für die Masse und auch für den Verwalter ein kaum noch zu beherrschendes Risiko. Die Prüfungs- und Kontrollbefugnis sowie 66
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Tetzlaff, in: ZVI 2004, S. 2, 7 ff. erachtet diese Fragen offenbar als nicht relevant, sondern sieht das eigentliche Problem in der Bestimmung des Umfangs des freigegebenen Vermögens. Unstr., s. nur Kübler/Prütting-InsO/Lüke, Stand 8/01, § 80, Rdnr. 59 f.; Uhlenbruck, in: Uhlenbruck, Insolvenzordnung, § 35, Rdnr. 23 m.w.N. S. S. 20 der Begründung des RefE (zu Nr. 16), in: ZVI 2004, Beil. 2; ebenfalls abzurufen auf der Homepage des RWS-Verlages: www.rws-verlag.de unter dem Link „Volltexte“ vom 17. 9. 2004; hierzu: Stephan, in: NZI 2004, S. 521, 525. S. S. 19 der Begründung des RefE (zu Nr. 16 Abs. 1), in: ZVI 2004, Beil. 2; ebenfalls abzurufen auf der Homepage des RWS-Verlages: www.rws-verlag.de unter dem Link „Volltexte“ vom 17. 9. 2004; Stephan, in: NZI 2004, S. 521, 525.
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-pflichten des Verwalters sind angesichts der Besonderheiten, die durch die ärztliche Verschwiegenheitspflicht begründet sind, nur sehr eingeschränkt.70 Die Möglichkeit, dem Selbstständigen eine solche Tätigkeit mit Wirkung für die Masse zu untersagen, soll offenbar nicht gegeben sein. Dies widerspricht dem allgemeinen Grundsatz, dass gem. § 80 InsO im gesetzlichen Regelverfahren der Fremdverwaltung die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis beim Insolvenzverwalter liegt. Die Möglichkeit einer Verpflichtungsermächtigung wird überwiegend abgelehnt.71 Allein der Umstand, dass der Verwalter die Weiterführung der Praxis duldet, ermöglicht zwar, nach allgemeinen Grundsätzen eine Duldungsvollmacht zu erwägen. Angesichts der Unpfändbarkeit der Praxisgegenstände im oben dargestellten Rahmen wird man in der Fortführung nicht auch einen solchen Rechtsscheinstatbestand durch den Verwalter begründet sehen können, Rechtsgeschäfte für die Masse vorzunehmen. Gerade deshalb ist die Fortführung der Praxis ein Problem und das Ziel des § 811 Abs. Nr. 5 und 7 ZPO nur schwer erreichbar. Offenbar haben die Entwurfsverfasser sich durch das Erfordernis der öffentlichen Bekanntmachung der „Freigabe“ zu der unzutreffenden Annahme verleiten lassen, dass der Schuldner anderenfalls für die Masse Verbindlichkeiten begründet. Das aber widerspricht ohne Notwendigkeit allgemeinen Grundsätzen und wirft darüber hinaus die Frage auf, ob der Verwalter nicht ausdrücklich erklären sollte, dass der Schuldner nicht für die Masse auftreten darf. Ob der Gesetzgeber auch eine solche Variante, die der gegenwärtigen Gesetzeslage entspricht, noch für möglich hält, bleibt unklar. Ebenfalls als offenbar unproblematisch sehen die Verfasser des Entwurfes wohl die „Freigabe“ von Schuldverhältnissen an. Die damit etwa für den Gläubiger in einem Dauerschuldverhältnis verbundene Beeinträchtigung bleibt unerwähnt72, im Gegensatz zum Vorbild des § 109 Abs. 1 InsO sieht der Gesetzgeber offenbar auch keine Notwendigkeit einer wenigstens subsidiären Haftung der Masse. Unverändert bleibt die Rechtslage hinsichtlich der ärztlichen Schweigepflicht. Damit aber wird ein wesentliches Hindernis für die Durchführung der Praxisfortführung durch den Verwalter fortbestehen. Der Verwalter hat also letztlich trotz grundsätzlicher Pfändbarkeit und damit auch Insolvenzbefangenheit der Forderungen gegen Patienten keine Möglichkeit, die Praxis wirksam weiterzuführen. Damit aber steht im Grunde schon fest, dass er in der Regel die Praxis „freigeben“ wird, wenn der Insolvenzschuldner die Praxis fortführen will. Unklar sind die Folgen für die Altgläubiger. Der Gesetzgeber geht offenbar davon aus, dass ihnen nur das übrige Vermögen als Haftungsmasse zur Verfügung steht. Das aber ist nicht unproblematisch, sind sie doch möglicherweise Verbindlichkeiten mit Blick auf die offenen Forderungen oder den Patientenstamm eingegangen, der ein gewisses 70 71 72
Kluth, in: NJW 2002, S. 186, 188. Runkel, in: Prütting/Vallender, Festschrift für Uhlenbruck, S. 315, 327 f. S. 20 der Begründung des RefE (zu Nr. 1. Abs.), in: ZVI 2004, Beil. 2; ebenfalls abzurufen auf der Homepage des RWS-Verlages: www.rws-verlag.de unter dem Link „Volltexte“ vom 17. 9. 2004, dort heißt es nur: es handele sich um „eine Art ‚Freigabe’ des Vermögens, das der gewerblichen Tätigkeit gewidmet ist, einschließlich der Vertragsverhältnisse […]“.
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Einkommen des Arztes erwarten lässt. Weshalb der Verwalter nunmehr in der Lage sein soll, jenseits der Möglichkeiten der Restschuldbefreiung dem Schuldner einen (gegenüber nicht selbstständigen Schuldnern vorzeitigen) neuen Anfang zu ermöglichen, lässt sich kaum erklären. Die geplante gesetzliche Regelung wäre – soweit es die Freigabe betrifft – beispiellos und würde auch zu erheblichen Folgeproblemen führen. Sie beließe es darüber hinaus für den besonderen Fall der Insolvenz von Arztpraxen bei der zumindest zweifelhaften Rechtslage, soweit es den Umfang der ärztlichen Schweigepflicht angeht. 3. Alternative Lösung Eine alternative Lösung muss bei den in Teil II dargestellten Problemen anknüpfen. Wie auch immer man den Umfang der Schweigepflicht des Arztes zieht, stellt diese ein erhebliches Problem bei der Verwaltung einer Arztpraxis dar, da dem Verwalter jedenfalls eine Überprüfung der Liquidationspraxis des Schuldners nicht möglich ist. Zumindest insoweit ist nicht nur die Kooperationspflicht des Schuldners beschränkt, sondern ebenso auch die Möglichkeit der Verwaltung. Damit stellt sich die Frage, wie anders der Gesetzgeber die Problematik der Selbstständigeninsolvenz bei bestehender beruflicher Verschwiegenheitspflicht lösen sollte. Ziel muss es sein, dem Arzt eine Fortführung der Praxis unter hinreichendem Schutz der Gläubiger zu ermöglichen, denn nur dann steht die Schweigepflicht nicht im Weg. Hier ließe sich an eine Aufhebung des § 35 InsO denken, soweit er eine Insolvenzbefangenheit des Neuerwerbs vorsieht. Damit könnte der Arzt schon während der Insolvenz die Praxis fortführen, da die Zahlungen auf die neuen Forderungen gegen seine Patienten an ihn zu erfolgen hätten und er hieraus auch die Praxiskosten bestreiten könnte. Den Altgläubigern und ihren Interessen wäre in dem Beschluss der Restschuldbefreiung, soweit es den insolvenzbefangenen Teil angeht, Rechnung zu tragen, indem man den Schuldner verpflichtet, Einkünfte jedenfalls im Umfang des § 295 Abs. 2 InsO abzutreten. Sofern der Arzt die Forderungen nicht abtritt, ist die Restschuldbefreiung in der Insolvenz über das Restvermögen gem. § 296 InsO73 zu versagen.74 Die offenen Forderungen des Schuldners wären unabhängig davon Bestandteil der Masse und müssten eingezogen werden. Hier ließe sich an eine Einziehung durch den Verwalter denken, die aber aufgrund der Verpflichtung zur Verschwiegenheit das Problem einer effektiven Kontrolle durch den Verwalter mit sich brächte. Stattdessen wäre die Einschaltung der Standesorganisation denkbar, die 73 74
Hierzu Ulrich Schmerbach, in: ZVI 2003, S. 256, 263 ff. In diesem Sinne auch Irmtraut Pape, Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung der InsO – Anmerkungen zu den geplanten Neuregelungen, in: NZI 2004, S. 601, 603, die in den bisherigen Regeln eine ungerechtfertigte Besserbehandlung der selbstständigen Ärzte gegenüber den angestellten Ärzten sieht und im Übrigen überzeugend darauf hinweist, dass andernfalls dem angestellten Arzt Anreize zur Aufnahme einer für ihn günstigeren Selbstständigentätigkeit gegeben würden.
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dann freilich gesetzlich geregelt werden müsste. Der Arzt könnte befugt und verpflichtet werden, die offenen Forderungen gegenüber einem Vertrauensarzt zu erklären, der dann auch die Einziehung zu überprüfen hätte. Damit wäre die Verschwiegenheitspflicht weitestgehend eingehalten und der Verwalter könnte sich auf die Ordnungsmäßigkeit der Einziehung verlassen oder gegebenenfalls entsprechende Schritte unternehmen. Dieses Modell einer dazwischen geschalteten Vertrauensperson ist dem Arztrecht nicht gänzlich unbekannt, wie etwa die Regeln über den Praxisverweser bei Tod eines Vertragsarztes zeigen.75
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Uhlenbruck/Schlund, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 19, Rdnr. 14.
Gibt es eine ärztliche Pflicht zur Fehleroffenbarung? Hanns Prütting
A. Einleitung Adolf Laufs hat bekanntlich in den drei großen Bereichen der Rechtsgeschichte, des Bürgerlichen Rechts und des Medizinrechts große wissenschaftliche Erfolge aufzuweisen. Wenn man jedoch die Ehre und Freude hat, zum 70. Geburtstag dieses großen Gelehrten einen Beitrag zu leisten, dann kommt nach der persönlichen Einschätzung des Autors dieser Zeilen nur das Arztrecht in Betracht. Seit den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts hat Adolf Laufs das gesamte deutsche Arztrecht sowohl mit Spezialuntersuchungen und Überblicksaufsätzen wie mit seinen berühmten Standardwerken derart stark beeinflusst und geprägt, dass man ihn heute wohl mit Fug und Recht als den Papst des Arztrechts in Deutschland ansprechen kann. Bei der Suche nach einem besonders geeigneten und aktuellen Thema kam dem Verfasser dieser Zeilen der Gesetzgeber zur Hilfe, der am 09. 12. 2004 ein Gesetz zur Anpassung von Verjährungsvorschriften erließ, das zwar auf den ersten Blick trotz seiner 25 Artikel mit Änderungen etwa des AMG, der BRAO und des StBerG keinerlei direkte Bezugspunkte zum Arztrecht aufzuweisen scheint. Jedoch täuscht dieser erste Eindruck, wie im Folgenden noch nachzuweisen sein wird.
B. Problematik und Terminologie I. Problemstellung Das Stichwort der Berufshaftung ist nicht nur für den Arzt, sondern für alle freien Berufe ein besonders heikles Thema1. Verständlicherweise sind daher der Umfang der Berufspflichten, die möglichen Vertragsverletzungen, die Haftungstatbestände und ihr Umfang sowie die Haftungsbegrenzungen bis hin zur Verjährung von besonderem Interesse. Eine Frage, die vor allem bei Steuerberatern, Rechtsanwälten und Architekten seit langer Zeit für Aufregung und Diskussion gesorgt hat, die aber schon seit über 20 Jahren auch für den Arzt diskutiert wird, ist das Problem der Fehleroffenbarungspflicht. Die Fragestellung ist klar: Muss ein Arzt (Rechts1
Zur Berufshaftung eingehend insbesondere Heribert Hirte, Berufshaftung, München 1996.
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anwalt, Steuerberater, Architekt), der im Rahmen seiner vertraglichen Tätigkeit einen Fehler begangen hat, den Vertragspartner (Patient, Klient, Mandant) darauf hinweisen, damit dieser vor Ablauf eventueller Verjährungsfristen den möglichen vertraglichen Schadensersatzanspruch einklagen kann? Die weitere Fragestellung lautet: Gilt die rechtliche Beurteilung dieser Frage für alle freien Berufe in gleicher Weise oder gibt es zum Beispiel zwischen Rechtsanwalt und Arzt einen wesentlichen Unterschied? Die Beantwortung dieser Fragen ist schon deshalb schwierig und seit über 20 Jahren streitig, weil sich sehr vielfältige Gesichtspunkte im Rahmen einer möglichen Beantwortung überschneiden. II. Terminologie Die Verwirrung beginnt bereits bei der Terminologie. Begriffe wie Aufklärung, Auskunft, Hinweis, Offenbarung usw. stehen nicht selten in der Diskussion ohne eindeutige Abgrenzung nebeneinander. 1. Am ehesten klare Konturen hat der Begriff der ärztlichen Aufklärungspflicht erlangt. Dabei handelt es sich bekanntlich um die von der Rechtsprechung entwikkelte Voraussetzung für die Verwirklichung des Patientenwillens, bevor der Patient in die jeweilige medizinische Maßnahme einwilligt. Freilich gibt es im Einzelnen sehr unterschiedliche Bezugspunkte einer solchen Aufklärung. Unterschieden wird insbesondere zwischen Diagnoseaufklärung, Alternativaufklärung, Risikoaufklärung, Sicherheitsaufklärung und Selbstbestimmungsaufklärung2. Gemeinsam ist allen diesen Formen der Aufklärung, dass die Aufklärung zeitlich der Einwilligung des Patienten und dem ärztlichen Handeln im Bereich des Patienten vorausgeht. Zum Problem der Fehleroffenbarung stehen also die Fragen der ärztlichen Aufklärungspflicht weder terminologisch noch inhaltlich in Verbindung3. 2. Fehleroffenbarung in dem hier behandelten Sinne meint auch nicht die Beantwortung einer Frage, die der Patient oder Mandant dem Arzt bzw. Rechtsanwalt gestellt hat. Bei solchen spezifischen Auskunftspflichten im Rahmen eines dienstvertraglichen Verhältnisses handelt es sich um besondere Fallgestaltungen, deren
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Vgl. statt vieler Erwin Deutsch, Andreas Spickhoff, Medizinrecht, 5. Aufl., Berlin u. a. 2003, S. 139 ff. In diesem Sinne bereits die grundlegende Untersuchung von Jochen Taupitz, Die zivilrechtliche Pflicht zur unaufgeforderten Offenbarung eigenen Fehlverhaltens, Tübingen 1989, S. 7 f.
Gibt es eine ärztliche Pflicht zur Fehleroffenbarung?
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Beantwortung mit der von jeder Frage oder Anregung des Patienten losgelösten Fehleroffenbarungspflicht nicht im Zusammenhang steht4. 3. Nicht einschlägig für die vorliegende Problematik ist auch der Begriff der Wahrheitspflicht, der üblicherweise die Pflicht umfasst, wahrheitswidrige Aussagen zu unterlassen. Demgegenüber geht es im vorliegenden Fall nicht in erster Linie um Wahrheit oder Unwahrheit, sondern um die Frage, ob der Arzt bzw. Rechtsanwalt ein Recht zum Schweigen hat. 4. Wenig eindeutig und präzise erscheint weiterhin der Begriff der Hinweispflicht, die im Folgenden gänzlich außer Betracht bleiben soll5. 5. Im Recht des Auftrags (§§ 662 ff. BGB) ist mit § 666 BGB eine Norm enthalten, die dem Beauftragten die Pflicht zur Benachrichtigung, zur Auskunft und zur Rechenschaftslegung auferlegt. Der Zweck aller dieser Informationen des Auftraggebers besteht darin, dass dieser während und nach der Zeit der Geschäftsbesorgung stets über die tatsächliche Lage und die rechtlichen Konsequenzen informiert sein soll, um daraus Folgerungen ziehen zu können. Dementsprechend ist es anerkannt, dass § 666 auf Auskunftspflichten aus anderen Rechtsgründen nicht anwendbar ist6. Im Ergebnis kann die Spezialregelung des § 666 BGB also für Fragen der Fehleroffenbarungspflicht nicht fruchtbar gemacht werden7. 6. Der Begriff der Fehleroffenbarungspflicht meint also ausschließlich die denkbare Verpflichtung eines Freiberuflers, auf eigene, den Vertragspartner möglicherweise schädigende Vertragsverletzungen aus der Vergangenheit hinzuweisen, wenn er4
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Wie hier auch Taupitz, Die zivilrechtliche Pflicht zur unaufgeforderten Offenbarung eigenen Fehlverhaltens, S. 4. So wohl auch Taupitz, Die zivilrechtliche Pflicht zur unaufgeforderten Offenbarung eigenen Fehlverhaltens, S. 7. Vgl. Bamberger/Roth-BGB/Czub, München 2003, § 666, Rdnr. 1 mit Fn. 5; PalandtBGB/Sprau, 64. Aufl., München 2005, § 666, Rdnr. 1 a. E.; a. A. allerdings ErmanBGB/Ehmann, 11. Aufl., Münster 2004, § 666, Rdnr. 6 ff. Abweichend davon hat Taupitz, Die zivilrechtliche Pflicht zur unaufgeforderten Offenbarung eigenen Fehlverhaltens, S. 40 ff. versucht, § 666 BGB als Ansatzpunkt für eine solche Pflicht darzustellen. Dies überzeugt nicht. Allerdings hat auch Taupitz aus seinen Überlegungen nicht die Folgerung gezogen, für den Arzt gebe es eine generelle Fehleroffenbarungspflicht.
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kennbar der Vertragspartner die Ursache einer Schädigung nicht identifizieren kann.
C. Meinungsstand Das Problem einer in diesem Sinne verstandenen Fehleroffenbarungspflicht wird bekanntlich in vielen freien Berufen diskutiert. I. Steuerberater Anerkannt ist eine solche Fehleroffenbarungspflicht zunächst im Falle von Haftpflichtansprüchen gegen den Steuerberater8. Hintergrund dieser Rechtsprechung ist vor allem, dass nach § 68 StBerG Schadensersatzforderungen, die gegen einen Steuerberater gerichtet sind, innerhalb von drei Jahren ab dem Zeitpunkt der Entstehung des Schadens verjähren. Diese Norm läßt nicht selten auf Grund der im Besteuerungsverfahren geltenden Besonderheiten die Verjährung einer Schadensersatzforderung eintreten, bevor der geschädigte Mandant überhaupt von der Fehlleistung seines Steuerberaters Kenntnis erlangen konnte9. Seit langem hat die Rechtsprechung versucht, die in der Praxis entstandenen Härten durch die Zubilligung eines sog. sekundären Schadensersatzanspruches abzumildern, dessen Grundlage die hier diskutierte Fehleroffenbarungspflicht ist. Mit diesem Instrument wird dem Steuerberater die Berufung auf die Einrede der Verjährung abgeschnitten. Konstruktiv geschieht dies dadurch, dass die unterlassene Fehleroffenbarung als Verletzung einer vertraglichen Nebenpflicht eingestuft wird. Rechtsfolge der Verletzung ist ein neuer Schadensersatzanspruch (= sekundärer Ersatzanspruch), der mit Ablauf der Verjährungsfrist des primären Anspruchs entsteht und damit faktisch eine neue Dreijahresfrist gemäß § 68 StBerG eröffnet. II. Rechtsanwalt Ein ähnliches Bild ergibt sich, wenn man sich der Haftung des Rechtsanwalts gegenüber dem Mandanten zuwendet. Denn auch hier wurden schon in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zum früheren § 32a RAO von 1878 und dann zu § 37 RRAO von 1936 die Auswirkungen einer Verjährung, die unabhängig von der Kenntnislage des Mandanten ablaufen kann, nicht selten als unbefriedigend und 8
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Vgl. insbesondere BGH, NJW 1991, S. 2828 = ZIP 1991, S. 589; BGH, BB 1992, S. 170. Vgl. dazu Hanns Prütting, Verjährungsprobleme bei falscher rechtlicher Beratung, insbesondere in Steuersachen, in: WM 1978, S. 130; Gerd J. van Venrooy, Die Verjährung der Schadensersatzansprüche gegen Rechtsanwälte, Steuerberater, Wirtschaftsprüfer und Notare, in: DB 1981, S. 2364; Hanns Prütting, Jörg Michael Bern, Verjährung von Haftpflichtansprüchen gegen Steuerberater, in: StVJ 1992, S. 224.
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ungerecht empfunden. Hatte ursprünglich das Reichsgericht in solchen Fällen mit einer Arglisteinrede geholfen, entwickelte es in der Entscheidung vom 17. 05. 193810 den Gedanken, dass der Rechtsanwalt verpflichtet sei, die rechtliche Situation seines Mandanten nach jeder Richtung sorgfältig zu prüfen und mögliche Ansprüche zu sichern. Eine solche Verpflichtung dürfe (so das Reichsgericht) vor der eigenen Person des Rechtsanwalts nicht Halt machen. Die sich aus einem Anwaltsvertrag ergebende umfassende Pflicht des Anwalts zur rechtlichen Betreuung des Mandanten müsse in solchen Fällen dazu führen, dass dieser selbst seinem Mandanten einen Hinweis auf eigenes Fehlverhalten und die Möglichkeit des Regresses gebe. Unterlasse der Rechtsanwalt eine solche Prüfung und einen solchen Hinweis, dann hafte er wiederum auf Ersatz des Schadens (sekundärer Ersatzanspruch). Der Bundesgesetzgeber hat im heutigen § 51b BRAO die gesetzliche Verjährungsregelung aus der Zeit vor 1945 übernommen und auf drei Jahre festgesetzt. In einer Entscheidung vom 11. 07. 196711 hat der BGH die reichsgerichtliche Auffassung zum sekundären Ersatzanspruch übernommen und sie dann in ständiger Rechtsprechung fortgeführt12. In der Rechtsprechung des BGH kommt dabei durchaus zum Ausdruck, dass die behauptete Fehleroffenbarungspflicht zur Vermeidung von Härten und zum Schutz des Mandanten im Hinblick auf den Ausgleich für die kurze Verjährungsfrist erforderlich sei13. III. Architekt Ähnlich wie beim Steuerberater und beim Rechtsanwalt hat der BGH schon seit längerer Zeit auch dem Architekten die Pflicht auferlegt, die Ursachen entstandener Mängel zu prüfen und dabei dem Auftraggeber Fehler und Mängel des eigenen Architektenwerks zu offenbaren, damit der Bauherr seine Ansprüche gegenüber dem Architekten wahrnehmen könne14. Genau wie bei der Rechtsprechung zum Rechtsanwalt und zum Steuerberater hat auch beim Architekten die Rechtsprechung in der fehlenden Offenbarung eigener Fehler eine neue Pflichtverletzung gesehen, die einen sekundären Schadensersatzanspruch auslöst und damit zugleich den Lauf einer neuen Verjährungsfrist ermöglicht. Faktisch ist also wiederum eine Verlängerung der Verjährungsfrist erreicht worden.
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RGZ 158, S. 130. BGH, VersR 1969, S. 979. BGH, NJW 1975, S. 1655; zuletzt BGH, NJW 2003, S. 822; weitere Nachweise bei Martin Henssler, Hanns Prütting, BRAO, 2. Aufl., München 2004, § 51b, Rdnr. 66. Vgl. insbesondere BGH, NJW 1975, S. 1655. Vgl. insbesondere BGHZ 71, S. 144, 149; BGH, NJW 1996, S. 1278.
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IV. Tertiärer Ersatzanspruch gegen alle Freiberufler? Interessanterweise erkennen die Rechtsprechung und die allgemeine Meinung in der Literatur weder beim Rechtsanwalt noch beim Steuerberater oder beim Architekten einen tertiären Ersatzanspruch an. Niemand kann sich also darauf berufen, dass die zweite Verjährungsfrist im Hinblick auf den sekundären Ersatzanspruch abgelaufen sei, ohne dass der jeweils fehlerhaft handelnde Freiberufler auf den Sekundäranspruch hingewiesen habe15. V. Arzt Im Gegensatz zur gefestigten Rechtsprechung bei vielen freien Berufen ist die Frage, ob auch für den Arzt eine Fehleroffenbarungspflicht zu bejahen sei, seit langem umstritten. Die Rechtsprechung hat dies bisher stets verneint und Ausnahmen nur dort zugelassen, wo eine umfassende Information des Patienten erforderlich gewesen war, weil dieser selbst nachgefragt hatte oder weil das Erfordernis einer sachgerechten Nachbehandlung aus dem erfolglosen ärztlichen Eingriff herzuleiten war16. Auch in der Literatur wird in aller Regel eine Fehleroffenbarungspflicht des Arztes abgelehnt bzw. auf eng begrenzte Ausnahmefälle beschränkt17. Dem gegenüber bejahen einige Stimmen in der Literatur ausdrücklich eine solche Fehleroffenbarungspflicht des Arztes18. Auffallend ist dabei, dass alle Literaturstimmen, die eine Fehleroffenbarungspflicht des Arztes bejahen, diese auf der Basis der Haftung des Rechtsanwalts und in Analogie zur dortigen Rechtsprechung entwickeln. Es gehe sowohl beim Arzt wie beim Rechtsanwalt um das strukturelle Informations- und Kompetenzgefälle. Die Fehleroffenbarungspflicht sei damit eine Haftung, die auf der Expertenstellung und dem Vertrauensverhältnis des jeweilig freiberuflich Tätigen beruhe.
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Vgl. BGHZ 94, S. 380; OLG Frankfurt, AnwBl. 1990, S. 208; Henssler/Prütting, BRAO, § 51b Rdnr. 86 (m. w. N.). Vgl. BGH, NJW 1984, S. 661; OLG Koblenz, DMW 2004, S. 705; OLG Hamm, VersR 1984, S. 91; OLG Hamm, NJW 1985, S. 685. Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, § 22, Rdnr. 9; Adolf Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., München 1993, Rdnr. 231; Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, S. 110, Rdnr. 159; Hans-Jürgen Rieger, Lexikon des Arztrechts, Berlin u. a. 1984, Rdnr. 220; Gabriele Gubernatis, Zur Offenbarungspflicht bei ärztlicher Fehlbehandlung, in: JZ 1982, S. 363; grundlegend Taupitz, Die zivilrechtliche Pflicht zur unaufgeforderten Offenbarung eigenen Fehlverhaltens, S. 57 ff.; Jochen Taupitz, Aufklärung über Behandlungsfehler: Rechtspflicht gegenüber dem Patienten oder ärztliche Ehrenpflicht?, in: NJW 1992, S. 713. Robert Francke, Dieter Hart, Ärztliche Verantwortung und Patienteninformation, Stuttgart 1987; Michael Kleuser, Die Fehleroffenbarungspflicht des Arztes, Karlsruhe 1995 = Diss. jur. Köln 1994; zuletzt Michael Terbille, Stephan Schmitz-Herscheidt, Zur Offenbarungspflicht bei ärztlichen Behandlungsfehlern, in: NJW 2000, S. 1749.
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D. Die Einwirkungen des Verjährungsrechts I. Dogmatik und Verjährung Die Befürworter einer ärztlichen Fehleroffenbarungspflicht haben zwar regelmäßig Parallelen zur Anwaltshaftung gezogen, sie haben aber dabei nicht berücksichtigt, dass die Rechtsprechung zum sekundären Ersatzanspruch des Rechtsanwalts in der Literatur häufig deutliche Kritik erfahren hat19. Bei näherer Prüfung zeigt sich, dass die Rechtsprechung kein gesichertes dogmatisches Fundament für eine Fehleroffenbarungspflicht und einen darauf aufbauenden sekundären Ersatzanspruch aufweist. Kern der Rechtsprechung ist vielmehr erkennbar das Bemühen, die engen Verjährungsvorschriften der §§ 51b BRAO, § 68 StBerG auszuweiten. So ist der Rechtsprechung mit gutem Grund immer wieder vorgeworfen worden, dass sie allzu deutlich vom Ergebnis her argumentiert und im Grunde selbst einräumt, es gehe ihr mehr um die Korrektur der kurzen Verjährungsvorschriften als um eine sachgerechte Fortbildung der Haftung von Freiberuflern. II. Die Parallele zu anderen Freiberuflern Wie bereits angedeutet, gilt Vergleichbares auch für die Haftung des Steuerberaters, des Architekten und anderer Freiberufler. Besonders deutlich lässt sich beim Steuerberater die Tendenz der Rechtsprechung nachweisen, die in Einzelfällen außerordentlich engen Grenzen der Verjährungsnorm des § 68 StBerG zu überwinden20. III. Die gesetzlichen Änderungen Angesichts dieser Feststellungen kann es nicht ohne Bedeutung sein, dass der Gesetzgeber in jüngster Zeit das Verjährungsrecht tiefgreifend geändert hat. 1. Bekanntlich wurde das Verjährungsrecht durch das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 26. 11. 2001 (BGBl. I 3138) tiefgreifend umgestaltet. An die Stelle der früheren Regelverjährung von 30 Jahren tritt seit dem 01. 01. 2002 19
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Vgl. insbesondere Reinhard Zimmermann, „Sekundäre“ und „tertiäre“ Schadensersatzansprüche gegen den Rechtsanwalt, in: NJW 1985, 720; Jörn Eckert, Die Verjährung vertraglicher Schadensersatzansprüche gegen Rechtsanwälte und Steuerberater, in: NJW 1989, S. 2081; Ulrich Hübner, Die Berufshaftung – ein zumutbares Berufsrisiko?, in: NJW 1989, S. 10; Jan Bruns, Der „Schutzzweck der Sekundärhaftung“ des Rechtsanwalts – kenntnisunabhängiger Wegfall der sekundären Hinweispflicht, in: NJW 2003, S. 1498; Henssler/Prütting, BRAO, § 51b, Rdnr. 82 ff. Siehe oben C I.
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grundsätzlich eine Verjährungsfrist von drei Jahren, wobei allerdings der Gläubiger von den den Anspruch begründenden Umständen und der Person des Schuldners Kenntnis erlangt haben muss oder ohne grobe Fahrlässigkeit erlangt haben müsste (§ 199 Abs. 1 BGB). Diese grundlegende Umgestaltung des Verjährungsrechts durch die Schuldrechtsmodernisierung hat allerdings überraschenderweise die Normen des § 51b BRAO, des § 68 StBerG und anderer Verjährungsvorschriften für Freiberufler völlig unberührt gelassen. Darauf dürfte es beruhen, dass in den vergangenen Jahren eine besondere Diskussion über Haftungsansprüche und Verjährung gegen Freiberufler nicht entstanden ist. 2. Nunmehr hat allerdings der Gesetzgeber ein Gesetz zur Anpassung von Verjährungsvorschriften an das Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts vom 09. 12. 2004 (BGBl. I 3214) erlassen, mit dem er § 51b BRAO sowie § 68 StBerG ersatzlos gestrichen hat. Dieses Gesetz ist seit 15. 12. 2004 in Kraft. Schon vorher waren einzelne andere Sonderverjährungsregelungen wie § 51a WPO für die Wirtschaftsprüfer ersatzlos gestrichen worden. Nunmehr richtet sich die Verjährung von Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern nach den §§ 195, 199 BGB. Diese Regelung gilt für alle Freiberufler. In ersten Stellungnahmen in der Literatur ist jedenfalls für den Bereich des Rechtsanwalts zu Recht darauf hingewiesen worden, dass diese Gesetzesänderung zugleich zum Untergang des sekundären Schadensersatzanspruchs gegen den Anwalt führen muss21. Es kann kein Zweifel sein, dass die Streichung von § 51b BRAO in der Praxis zu erheblichen Umstellungen führen wird. Denn die Rechtsstellung der Rechtsanwälte ist durch die gesetzliche Neuregelung, wonach sich der Verjährungsbeginn auf Grund subjektiver Kriterien (Kenntnis) bestimmt, deutlich verschlechtert. IV. Zwischenergebnis Die gesetzlichen Änderungen des Verjährungsrechts zum 15. 12. 2004 machen deutlich, dass spätestens seit diesem Zeitpunkt eine Parallele der ärztlichen Fehleroffenbarungspflicht zur Situation des Rechtsanwalts oder anderer freier Berufe nicht mehr tragfähig ist. Um so mehr muss sich nunmehr die Frage stellen, auf welche dogmatischen Begründungsmöglichkeiten sich eine solche Pflicht zur Offenbarung eigener Fehler stützen lässt. 21
Brigitte Borgmann, Die Rechtsprechung des BGH zum Anwaltshaftungsrecht in der Zeit von Mitte 2002 bis Ende 2004, in: NJW 2005, S. 22, 30; Heinz-Peter Mansel, Christine Budzikiewicz, Verjährungsanpassungsgesetz: Neue Verjährungsfristen, insbesondere für die Anwaltshaftung und im Gesellschaftsrecht, in: NJW 2005, S. 321, 322; Frank-Michael Goebel, Die neuen Verjährungsfristen, Freiburg, Berlin u. a. 2005, S. 57; die Erwartung, dass die Rechtsprechung zum sekundären Ersatzanspruch nunmehr überholt sei, findet sich bereits in den Gesetzesmaterialien, vgl. BT-Drs. 15/3653, S. 14.
Gibt es eine ärztliche Pflicht zur Fehleroffenbarung?
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E. Das System der Vertragspflichten I. Übersicht Grundlage für echte Rechtspflichten des Arztes (wie aller anderen Freiberufler) im Rahmen seiner Vertragserfüllung mit dem Patienten kann nur das Pflichtenprogramm des Vertrags selbst sein. Es ist daher hier wie bei allen anderen Freiberuflern von zentraler Bedeutung, welche unterschiedlichen Pflichten sich aus Schuldverträgen und insbesondere aus gegenseitigen Verträgen ergeben können. In der Regel wird dabei zwischen Primär- und Sekundärpflichten unterschieden, ferner zwischen Haupt- und Nebenpflichten. Innerhalb der Nebenpflichten lassen sich regelmäßig die Nebenleistungspflichten von den Verhaltens- oder Schutzpflichten (weitere Nebenpflichten) trennen22. II. Einordnung der Pflicht zur Fehleroffenbarung in das System Versucht man eine denkbare Pflicht zur Fehleroffenbarung in das System dieser Vertragspflichten einzuordnen, so lässt sich Folgendes feststellen: 1. Die Trennung von Primär- und Sekundärpflichten ergibt sich daraus, dass die Primärpflichten auf Leistung gerichtet sind und sich unmittelbar aus dem jeweiligen Vertrag ergeben, ohne dass irgendwelche weiteren Umstände hinzutreten müssen. Die Erfüllung der Primärpflichten ist damit das eigentliche Ziel eines Vertrags. Dem gegenüber folgen die Sekundärpflichten oftmals erst aus der Störung von Primärpflichten23. Da es im Rahmen der Berufshaftung eine Pflicht zur Fehleroffenbarung denknotwendig nur geben kann, wenn zuvor ein Fehler im Sinne einer Leistungsstörung aufgetreten ist, handelt es sich bei der Fehleroffenbarungspflicht zwingend um eine Sekundärpflicht. 2. Die Aufteilung der Vertragspflichten in Haupt- und Nebenpflichten ist nicht mit der Einteilung der Primär- und Sekundärpflicht identisch. Vielmehr geht es regelmäßig darum, im Rahmen der gegenseitigen Verträge die Hauptpflichten der synallagmatischen Verknüpfung zuzuordnen, während die Nebenpflichten nicht dem Synallagma unterworfen sind. Im Rahmen selbständiger Dienstverträge sind 22
23
Zum Folgenden nach neuem Recht insbesondere MünchKomm-BGB/Kramer, Bd. 2a, 4. Aufl., 2003, § 241, Rdnr. 31 ff.; Bamberger/Roth-BGB/Grüneberg, 2003, § 241, Rdnr. 42 ff.; Erman-BGB/Westermann, 11. Aufl., 2004, § 241, Rdnr. 10 ff.; JauernigBGB/Mansel, 11. Aufl., 2004, § 241, Rdnr. 9 ff. Vgl. insbesondere Dieter Medicus, Bürgerliches Recht, 20. Aufl., Köln u. a. 2004, Rdnr. 205.
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die synallagmatischen Hauptpflichten regelmäßig durch die jeweilige geschuldete Dienstleistung und den damit von der Gegenseite verknüpften Zahlungsanspruch geprägt. Eine Pflicht zur Fehleroffenbarung kann in diesem Zusammenhang nicht Teil des Gegenseitigkeitsverhältnisses sein und muss daher zu den Nebenpflichten gehören. 3. Die generelle Trennung von Leistungs- und Verhaltenspflichten knüpft erkennbar an den konkreten Inhalt der jeweiligen Pflicht an. Diese Trennung hat Bedeutung zum Beispiel für die Frage der Klagbarkeit. Selbständig einklagbar in diesem Sinne sind grundsätzlich nur Leistungspflichten. Soweit man einengend die Trennung von Leistungs- und Verhaltenspflichten nur im Bereich der Nebenpflichten ansiedelt, lassen sich die Nebenleistungspflichten von den weiteren Nebenpflichten im Sinne von Verhaltens- und Schutzpflichten abgrenzen. Da eine Fehleroffenbarungspflicht erkennbar nicht unter dem Gesichtspunkt der Leistung an die Gegenseite konzipiert ist, sondern als Schutzpflicht im Hinblick auf die Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils gedacht ist, kann eine Fehleroffenbarungspflicht letztlich nur eine sogenannte weitere Verhaltens- und Schutzpflicht sein. III. Die Auffassung der Rechtsprechung Falls im Rahmen freiberuflicher Tätigkeit eine im jeweiligen Vertrag wurzelnde Fehleroffenbarungspflicht anzuerkennen wäre, muss es sich somit um eine Sekundärpflicht bzw. um eine Nebenpflicht im Sinne weiterer Verhaltens- und Schutzpflichten handeln. Wenn in der Rechtsprechung des BGH dem gegenüber manchmal formuliert wird, die Hinweispflicht des Rechtsanwalts auf eigene Fehler sei Teil einer gebotenen Gesamtberatung und damit vertragliche Hauptpflicht24, so dürfte es sich dabei um ein sprachliches Missverständnis handeln. Der Versuch des BGH, die anwaltliche Fehleroffenbarungspflicht der Gesamtpflicht des Anwalts zur Beratung zuzuweisen, macht diesen besonderen Teil einer Verpflichtung zu Hinweisen nicht zur primären Hauptpflicht. Es bleibt vielmehr der Gesichtspunkt, dass eine solche Offenbarungspflicht nur beim Vorliegen von Vertragsverletzungen und folglich nur sekundär aus Schutzgesichtspunkten in Betracht kommt. Man wird also die Rechtsprechung nicht so verstehen dürfen, dass sie eine Offenbarungspflicht zur Hauptleistungspflicht umfirmieren will.
24
Vgl. BGH, VersR 1967, S. 979, 980; BGH, WM 1990, S. 815, 817.
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F. Denkbare Grundlagen einer Fehleroffenbarungspflicht I. Ausgangspunkt Aus der Einordnung der Fehleroffenbarungspflicht als Nebenpflicht im Sinne einer weiteren Verhaltens- und Schutzpflicht folgt, dass eine solche Pflicht den §§ 241 Abs. 2, 242 BGB unterfallen muss. Damit ist jedoch noch nichts über die Frage ausgesagt, durch welchen Rechtsgrund eine solche Nebenpflicht Vertragsbestandteil geworden sein könnte. Wenn nicht im Einzelfall eine konkrete vertragliche Vereinbarung vorliegt (die im Falle einer Fehleroffenbarung praktisch wohl kaum denkbar ist), kommen vor allen folgende dogmatischen Gesichtspunkte in Betracht: Die ergänzende Vertragsauslegung gemäß §§ 133, 157 BGB, die Schadensminderungspflicht aus dem Rechtsgedanken des § 254 BGB sowie eine richterrechtlich oder gesetzlich festgelegte Nebenpflicht i.S. von §§ 241 Abs. 2, 242 BGB. In jedem Falle ist es erforderlich, die Behauptung solcher Nebenpflichten im Sinne weiterer Verhaltens- oder Schutzpflichten aus der besonderen vertraglichen Gefahren- oder Risikolage im Einzelnen zu begründen25. II. Die ergänzende Vertragsauslegung Führt die Auslegung von Willenserklärungen und Verträgen im Sinne einer Ermittlung des wirklichen erklärten Willens der Parteien nicht zum Erfolg, so kann mit der sogenannten ergänzenden Vertragsauslegung der Versuch gemacht werden, eine vertragliche Lückenfüllung durch Ermittlung des hypothetischen Parteiwillens vorzunehmen26. Dabei ist insbesondere zu erforschen, wie die Vertragspartner bei redlichem Verhalten die Vertragslücke ausgefüllt haben würden, wenn sie sie bedacht hätten. Es ist also ein individueller, nicht ein gesetzgeberisch generalisierender Maßstab anzulegen27. Im Falle einer möglichen Fehleroffenbarungspflicht kann entsprechend den genannten Grundsätzen eine ergänzende Vertragsauslegung deshalb ausgeschlossen werden. Denn es erscheint undenkbar, dass sich ein Arzt (Rechtsanwalt, Steuerberater, Architekt) bei Vertragsschluss selbst bei redlichem Verhalten darauf eingelassen hätte, eine solche vertragliche Vereinbarung zu verabreden, wenn die Parteien die Problematik einer Fehleroffenbarung bedacht hätten. Ein gemeinsamer hypothetischer Parteiwille auf Fehleroffenbarung hat deshalb auszuscheiden.
25 26
27
Vgl. Erman-BGB/Westermann, 11. Aufl., 2004, § 241, Rdnr. 14. Zur ergänzenden Vertragsauslegung vgl. Wolfram Henckel, Die ergänzende Vertragsauslegung, in: AcP 159, S. 106; Karl Larenz, Ergänzende Vertragsauslegung und dispositives Recht, in: NJW 1963, S. 737; Otto Sandrock, Zur ergänzenden Vertragsauslegung im materiellen und internationalen Schuldvertrag, Köln 1970. Vgl. statt aller MünchKomm-BGB/Mayer-Maly/Busche, 4. Aufl., 2001, § 157, Rdnr. 38 ff.
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III. Schadensminderungspflicht Anerkannt ist im gesamten Zivilrecht der Gedanke der Schadensminderungspflicht, der sich auf den Rechtsgedanken des § 254 BGB stützt28. Im Einzelnen kann diese Schadensminderungspflicht sehr unterschiedliche Ausprägungen annehmen. Immer wird freilich vorausgesetzt, dass eine Person es unterläßt, einen (drohenden) weiteren Schaden in irgendeiner Form dadurch abzuwenden oder zu vermindern, dass diese Person durch Warnung anderer, durch eigenes Handeln, durch Einsatz eigener Arbeitskraft, durch Einsatz von Geldmitteln, durch Einlegung von Rechtsbehelfen oder in irgendeiner anderen Weise schadenshemmend oder schadensmindernd wirkt. Im Normalfalle einer Situation der Fehleroffenbarung ist jedoch die schädigende Handlung abgeschlossen und der Schaden bereits eingetreten bzw. unabwendbar. Einziges Ziel einer Fehleroffenbarungspflicht ist es, dass der Geschädigte seinen Schaden im Wege eines Ersatzanspruches beim Schädiger geltend machen kann. Daraus ergibt sich, dass der Grundgedanke der Schadensminderungspflicht gerade nicht als Begründung für eine Fehleroffenbarungspflicht dienen kann. IV. Normativ verankerte Nebenpflicht Neben der vertraglichen Vereinbarung können sich Nebenpflichten aus einem Vertrag auch durch normative Bestimmung ergeben. Denkbar sind zum einen gesetzliche Einzelregelungen, die es allerdings im Falle einer Selbstbelastung durch Fehleroffenbarungspflicht nicht gibt. Denkbar sind andererseits Nebenpflichten, die sich richterrechtlich aus der Konkretisierung der Generalklausel des § 242 BGB ergeben. Tatsächlich gibt es anerkanntermaßen einen in langjähriger Rechtsprechung und Lehre verfestigten Rechtsstoff zu einzelnen Schutz- und anderen Nebenpflichten, die bis zum Jahre 2002 in aller Regel auf § 242 BGB gestützt wurden und die heute ohne grundlegende Änderung in der Sache auch als in § 241 Abs. 2 BGB enthalten angesehen werden können. Bei der Entwicklung dieser vertraglichen Nebenpflichten handelt es sich nicht um eine Auslegung von individuellem Parteiwillen, sondern um echte Normativbestimmung. Dies läßt sich neben anderem der Tatsache entnehmen, dass solche Nebenpflichten i. S. von § 241 Abs. 2 BGB bereits dann vorhanden sein können, wenn es noch nicht zu einem Vertragsschluss gekommen ist (so ausdrücklich § 311 Abs. 2 BGB). Im Rahmen der richterrechtlichen Konkretisierung von § 242 BGB hat die Rechtsprechung einen umfangreichen Katalog von Aufklärungs-, Beratungs-, Informations- und Hinweispflichten geschaffen. Dabei ist aber immer eine Bewertung des natürlichen Interessenwiderstreits der Parteien zu Grunde zu legen. Eine allgemeine und generelle Aufklärungspflicht kann es deshalb nicht geben29. Zwar ist einzuräumen, dass das Mittel der verletzten Aufklärungspflicht in der Rechtsprechung mehr und mehr zur nachträglichen Verlagerung verwirklichter Risiken 28 29
Statt aller vgl. Palandt-BGB/Heinrichs, 64. Aufl., 2005, § 254, Rdnr. 36 ff. Vgl. MünchKomm-BGB/Roth, Bd. 2a, 4. Aufl., 2003, § 241, Rdnr. 123.
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aus Billigkeitsgründen dient. Insbesondere im Bereich des Wirtschafts-, Bankund Kapitalmarktrechts wird damit das Rechtsschutzziel verfolgt, beim einzelnen Marktteilnehmer angefallene Verluste unter gewissen Umständen auf die Gegenseite zu überwälzen. Die Problematik dieser Rechtsprechungstendenz kann hier nicht im Einzelnen erörtert werden. Selbst wenn man dieser Rechtsprechung folgen wollte, könnte dies jedoch nicht zur Bejahung einer Fehleroffenbarungspflicht führen. Denn auch für eine sehr weit gefasste Aufklärungs-, Hinweis- oder Offenbarungspflicht gibt es allgemeine Grenzen im Rahmen des jeweiligen Persönlichkeitsrechts30. Niemand kann im Normalfall die Offenbarung besonders negativer persönlicher Merkmale der Gegenseite erwarten. Im Bereich der Persönlichkeit gibt es ein generelles Geheimhaltungsinteresse, das sich in der Regel in einem Verbot der Selbstbelastung ausdrückt31. Die Pflichten zur Wahrung der Interessen der jeweiligen Gegenseite enden nach einer ständig von der Rechtsprechung benutzten Formel dort, wo eine Aufklärung nach der Verkehrsauffassung nicht mehr erwartet werden kann32. Tatsächlich ist bisher in der Praxis noch nirgends generell behauptet worden, es gebe nach der Verkehrsanschauung ein allgemeines Gebot der Selbstbelastung. Die entgegenstehende Rechtsprechung zur Fehleroffenbarungspflicht der Rechtsanwälte, der Steuerberater und der Architekten beruht vielmehr (wie dargestellt) darauf, dass die bisherigen Verjährungsfristen als unzumutbar kurz empfunden wurden. Dies impliziert zugleich die Überlegung, dass mit einer sinnvollen Veränderung der Verjährungsvorschriften auch der Grundgedanke einer Fehleroffenbarungspflicht entfällt33.
G. Die entscheidenden Gesichtspunkte Ausgangspunkt aller Überlegungen zu einem vertraglichen Pflichtenprogramm war und ist die Forderung, dass jede einzelne Vertragspflicht und auch jede Nebenpflicht einer rechtlichen Absicherung und Begründung bedarf. Eine solche Begründung von Vertragspflichten lässt sich nur entweder durch den vertraglich verankerten Parteiwillen oder im Rahmen normativer Pflichten (durch Gesetz oder Richterrecht) feststellen. Von dieser Prämisse ausgehend war es schon immer fragwürdig, eine Fehleroffenbarungspflicht für den Arzt nur deshalb zu behaupten, weil es eine vergleichbare Rechtsprechung für Rechtsanwälte, Steuerberater und Architekten gegeben hat. Denn diese Rechtsprechung beruhte zu keiner Zeit auf einem gesicherten dogmatischen Fundament34. Jedenfalls ist es eindeutig, dass eine solche parallele Wer30 31 32
33
34
MünchKomm-BGB/Roth, Bd. 2a, 4. Aufl., 2003, § 241, Rdnr. 148. Im Einzelnen siehe unten G. Vgl. BGH, NJW 1979, S. 2243; BGH, NJW 1991, S. 1223; BGH, NJW 1992, S. 1222; BGH, NJW 1996, S. 1340. Diese Erwartung hat bekanntlich der Gesetzgeber selbst geäußert, vgl. BT-Drs. 15/3653, S. 14. Siehe oben D I.
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tung seit dem 15. 12. 2004 wegen der grundlegenden Veränderung des Verjährungsrechts entfallen ist35. Nicht denkbar dürfte eine ausdrückliche privatautonome Verankerung einer Selbstbelastungspflicht einer Partei im Vertrag sein. Aber auch auf eine ergänzende Vertragsauslegung läßt sich eine solche Selbstbelastungspflicht einer Partei mangels hypothetischen Parteiwillens in diese Richtung nicht stützen36. Schließlich kann eine normative Verankerung einer Fehleroffenbarungspflicht im Rahmen der anerkannten sonstigen Nebenpflichten des § 242 BGB nicht bejaht werden. Es ist anerkannt, dass es auch für Offenbarungspflichten Grenzen im Rahmen des eigenen Persönlichkeitsrechts, des eigenen Rechts zur Geheimhaltung sowie des Grundgedankens eigener Interessenwahrung gibt. Dementsprechend gibt es keine allgemeine Verkehrsauffassung, die von einer solchen Fehleroffenbarungspflicht ausginge37. Es ist deshalb auch kein Zufall, dass die bisherige Diskussion über die Fehleroffenbarungspflicht gerade nicht im Rahmen von § 242 BGB geführt wurde. Die frühere Diskussion im Rahmen des Ablaufs von Verjährungsfristen diente (teilweise erklärtermaßen) einer Gesetzeskorrektur der §§ 51 b BRAO, 68 StBerG, nicht einer Schaffung vertraglicher Nebenpflichten durch Konkretisierung von Generalklauseln. Die bisherigen Erwägungen und Ergebnisse zur Ablehnung einer Fehleroffenbarungspflicht werden ergänzt und verstärkt durch den Grundsatz des Selbstbelastungsverbotes („nemo tenetur se detegere“ bzw. „nemo tenetur se accusare“). Mit gewissen Differenzierungen im Einzelnen gibt es auch heute noch den Grundsatz im Strafrecht, im Prozessrecht sowie im Zivilrecht, dass niemand sich selbst einer strafbaren Handlung bezichtigen muss oder in sonstiger Weise Fehler offenbaren muss, die zu einer zivilrechtlichen Schadensersatzhaftung führen müssten38. Nicht berührt wird das Ergebnis der Verneinung einer Fehleroffenbarungspflicht durch denkbare Sonderfälle. Ohne Zweifel kann es Teil einer vertraglichen Pflicht sein, auf Nachfrage des Vertragspartners eine wahrheitsgemäße Auskunft zu geben. Ohne weiteres möglich ist auch eine Verpflichtung zur Offenbarung, soweit weitere Gefahren oder Schäden aus dem zu offenbarenden Ereignis drohen. Solche Sonderfälle sind jedoch nicht zur Begründung einer allgemeinen Fehleroffenbarungspflicht geeignet. Ihre jeweils ganz besonderen Anknüpfungspunkte legen es vielmehr nahe, einen Umkehrschluss dahin zu ziehen, dass außerhalb solcher Sonderkonstellationen eine allgemeine Offenbarungspflicht abzulehnen ist. Letztlich ist die Bejahung oder Verneinung von Offenbarungspflichten wie in allen Fällen von Nebenpflichten eine Frage der Interessenbewertung der Vertragsparteien. Da es sich bei der Fehleroffenbarungspflicht immer um einen Anspruch auf nachträglichen Ausgleich entstandenen Schadens durch Geldleistung handelt, 35 36 37 38
Im Einzelnen siehe oben D III und IV. Siehe oben F II. Siehe oben F IV. Vgl. Peter Winkler von Mohrenfels, Abgeleitete Informationsleistungspflichten im deutschen Zivilrecht, Berlin 1986, S. 52 ff.; Taupitz, Die zivilrechtliche Pflicht zur unaufgeforderten Offenbarung eigenen Fehlverhaltens, S. 30 ff.; grundlegend Bianca Fischer, Divergierende Selbstbelastungspflichten nach geltendem Recht, Berlin 1979.
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müsste die Bejahung einer Fehleroffenbarungspflicht zur Voraussetzung haben, dass der Verpflichtete eine umfassende Pflicht zur Vermögenssorge seines Vertragspartners hat. Nur in solchen Fällen wäre es denkbar, solchen umfassenden Vermögensbetreuungspflichten oder Vermögenssorgepflichten auch eine Pflicht zur Fehleroffenbarung zu entnehmen. Es kann daher nicht zweifelhaft sein, dass im Falle des Arztes eine solche Verpflichtung auszuscheiden hat. Selbst bei weitestgehender medizinischer Betreuung wird man die umfassende Vermögenssorge niemals zum Pflichtenprogramm des Arztes rechnen können. Bei interessengerechter Bewertung der Pflichten von Freiberuflern wird man darüber hinaus eine solche Verpflichtung zur umfassenden Vermögenssorge in der Regel auch dem Rechtsanwalt nicht zudiktieren können. Ob es davon Ausnahmen im Rahmen eines langjährig tätigen Hausanwalts, eines Steuerberaters oder anderer langjährig in der Vermögenssorge tätiger Personen gibt, mag an dieser Stelle dahinstehen. Jedenfalls müsste es sich dabei um Vertragsbeziehungen mit einem umfassenden und langjährigen Pflichtenprogramm handeln, so dass auf der Gegenseite ein berechtigter umfassender Vertrauenstatbestand geschaffen wäre.
H. Ergebnis 1. Eine allgemeine Fehleroffenbarungspflicht des Arztes ist dem deutschen Recht nicht bekannt. 2. Eine solche Fehleroffenbarungspflicht ist entgegen bisheriger Rechtsprechung aber auch für den Rechtsanwalt, den Steuerberater und den Architekten zu verneinen. Dies muss jedenfalls seit den Gesetzesänderungen vom 15. 12. 2004 gelten. 3. Ausnahmen von diesem Grundsatz sind in drei verschiedenen besonderen Fallgestaltungen denkbar: Der Grundgedanke der Schadensminderungspflicht gebietet eine Ausnahme, wenn aus dem zu offenbarenden Verhalten weitere Schädigungen drohen. Eine Fehleroffenbarung wird darüber hinaus durch die Verpflichtung zur Wahrheit erzwungen, wenn die andere Vertragspartei berechtigte Fragen stellt, deren Beantwortung nach der Vertragsgestaltung nicht verweigert werden kann. Schließlich ist eine Fehleroffenbarungspflicht dann gegeben, wenn sie von den Vertragsparteien im Einzelfall ausdrücklich oder konkludent vertraglich vereinbart war.
Aktuelle Entwicklungen im ärztlichen Werberecht unter besonderer Berücksichtigung der Klinikwerbung Hans-Jürgen Rieger
A. Rückblick Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hatte im Jahr 1985 über eine Verfassungsbeschwerde zu entscheiden, der folgender Sachverhalt zugrunde lag: Der Beschwerdeführer, ärztlicher Inhaber eines Privatsanatoriums für Frischzellenbehandlungen, veröffentlichte Anfang 1978 ein autobiographisch angelegtes Buch „Sieg über das Altern“ mit dem Untertitel „Frischzellentherapie heute“. Das Buch, das im Handel etwa 30,00 DM kostete, schildert nach dem Klappentext den Lebensweg des Beschwerdeführers als Arzt und Forscher von der Kindheit über die Studienzeit, die Erfahrungen als Frontarzt, die Erlebnisse in amerikanischer Kriegsgefangenschaft bis in den privaten Bereich als Ehemann und Familienvater. Der Beschwerdeführer wurde deshalb vom Berufsgericht wegen Verstoßes gegen das Werbeverbot verurteilt. Das Berufsgericht beurteilte es als standeswidrig, daß der Beschwerdeführer an zahlreichen Stellen seine Person und seine Leistungen als Arzt sowie die von ihm angewandte Frischzellentherapie anpreisend herausstellte und dabei lobende Äußerungen zahlreicher Prominenter, angeblich erfolgreich behandelter Patienten wiedergab. Der hiergegen erhobenen Verfassungsbeschwerde hat das Bundesverfassungsgericht stattgegeben und zur Begründung u. a. ausgeführt: „Charakteristisch für das Buch ist die Vermischung sachlicher und wertender Argumente mit autobiographischer Erzählung. Bei der Würdigung der Autobiographie als Meinungsäußerung darf nicht außer acht bleiben, daß durch Art. 5 Abs. 1 GG gerade auch die von vorherrschenden Vorstellungen abweichenden Meinungen geschützt werden […]. Bei einem Arzt, der eine von der Schulmedizin nicht anerkannte Behandlungsmethode praktiziert, verbindet sich der Kampf um die Anerkennung dieser von ihm angewandten Methode notwendig mit dem Kampf um die eigene Anerkennung. Auch die Wiedergabe lobender Äußerungen von Patienten dient in diesem Fall dem geistigen Kampf um seine Überzeugung. Die in dem Buch reproduzierten Fotographien, die teils die Herstellung und Anwendung der Frischzellenaufschwemmung, teils den Beschwerdeführer zusammen mit seiner Familie oder zusammen mit bekannten Patienten zeigen, können ebenfalls als Ausdrucksmittel des Plädoyers verstanden werden, welches das Buch als Ganzes sein will. Das Familienfoto soll ersichtlich belegen, daß
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der Beschwerdeführer bei seinem ‚Kampf’ für die Frischzellentherapie der Unterstützung seiner Familie sicher sein kann […].“1
Wer sich diese Passage aus dem sog. Frischzellenbeschluß des Bundesverfassungsgerichts schmunzelnd ins Gedächtnis ruft, könnte sich fragen, warum die Liberalisierung des Werberechts der Ärzte nach heutigem Stand fast 20 Jahre auf sich warten ließ. Mit dieser Entscheidung, die das berufsrechtliche Verbot „jeglicher Werbung“ im Lichte des Art. 12 Abs. 1 GG auf das Verbot „berufswidriger Werbung“ einschränkte, wurde, zusammen mit der sog. Sanatoriumsentscheidung vom selben Tag,2 der Grundstein gelegt für die weitere Entwicklung der Rechtsprechung, die nach anfänglichem Zögern gekennzeichnet ist durch immer umfangreichere Zugeständnisse an das Werbeverhalten der Ärzte, was am Ende zu „einer kräftigen Erosion der freiberufsspezifischen Schranken im Bereich des ärztlichen Werberechts geführt“ hat.3 Von Ärzteseite wurde diese Entwicklung lange Zeit teils unterschätzt, teils auch bewußt nicht zur Kenntnis genommen. Die Anpassung der Berufsordnung an das Richterrecht erfolgte im allgemeinen nur widerstrebend und mit großen zeitlichen Verzögerungen. So lautete § 25 Abs. 1 in der bis 1997 – also 12 Jahr nach den Beschlüssen des Bundesverfassungsgerichts v. 19. 11. 1985 – geltenden Fassung der ärztlichen Musterberufsordnung (MBO-Ä)4 unter der Überschrift „Werbung und Anpreisung“ noch: „Dem Arzt ist jegliche Werbung für sich und andere Ärzte untersagt.“ Erst gegen Ende der 90er Jahre hat die Ärzteschaft begonnen, die Liberalisierungstendenzen in der Judikatur allmählich zur Kenntnis zu nehmen. In der von 1997 bis 2000 geltenden Fassung5 heißt es bereits: „Der Arzt darf für seine berufliche Tätigkeit oder die berufliche Tätigkeit anderer Ärzte nicht werben. Sachliche Informationen sind in Form, Inhalt und Umfang gemäß den Grundsätzen des Kapitels D I Nrn. 1-6 zulässig.“ Durch diese Änderung wurde der Begriff „sachliche Informationen“ erstmals in die MBO-Ä aufgenommen. Eine weitere Lockerung hat das Werbeverbot durch die Novellierung der Generalnorm des § 27 durch den 103. Deutschen Ärztetag 2000 erfahren, die nachstehende Fassung erhielt.6 „(1) Dem Arzt sind sachliche Informationen über seine Berufstätigkeit gestattet. Für Praxisschilder, Anzeigen, Verzeichnisse, Patienteninformationen in Praxisräumen und öffentlich abrufbare Arztinformationen in Computerkommunikationsnetzen gelten hinsichtlich Form, Inhalt und Umfang die Grundsätze des Kap. D I Nrn. 1-5. Berufswid-
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BVerfG, Beschl. v. 19. 11. 1985 - 1 BvR 934/82, BVerfGE 71, S. 162, 180 = NJW 1986, S. 1533. BVerfGE 71, S. 183 ff. Michael Quaas in: Michael Quaas, Rüdiger Zuck, Medizinrecht, NJW-Schriftenreihe, München 2005, § 12 Rdnr. 74. DÄBl. 1994, S. A-53 ff. DÄBl. 1997, S. B-1920 ff. DÄBl. 2000, S. A 2730.
Aktuelle Entwicklungen im ärztlichen Werberecht
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rige Werbung ist dem Arzt untersagt. Berufswidrig ist insbesondere eine anpreisende, irreführende oder vergleichende Werbung. (2) Der Arzt darf eine berufswidrige Werbung durch andere weder veranlassen noch dulden. Dies gilt auch für die anpreisende Herausstellung von Ärzten in Ankündigungen von Sanatorien, Kliniken, Institutionen oder anderen Unternehmen. Der Arzt darf nicht dulden, daß Berichte oder Bildberichte veröffentlicht werden, die seine ärztliche Tätigkeit oder seine Person berufswidrig werbend herausstellen.“
Damit wurde die bisherige Werbeverbotsregel auf den Kopf gestellt: aus dem generellen Verbot mit Erlaubnisvorbehalt wurde eine generelle Erlaubnis mit Verbotsvorbehalt.
B. Das neue Werberecht nach den Beschlüssen des 105. Deutschen Ärztetags 2002 in den Grundzügen Unter dem weiter zunehmenden Druck der Judikatur („Kaskaden von monatlichen Entscheidungen“)7 hat der 105. Deutsche Ärztetag in Rostock 2002 sich schließlich zu einer als revolutionär zu bezeichnenden Umgestaltung des Werberechts der Ärzte, „eines der Kernstücke der ärztlichen Berufsordnung“8 durchgerungen.9 Gleichzeitig wurde Stimmen, die einen gänzlichen Verzicht auf besondere Regelungen über die Arztwerbung in der Berufsordnung verlangten, als unvereinbar mit freiberuflicher ärztlicher Tätigkeit eine eindeutige Absage erteilt. Die Neuregelung beschränkt sich auf eine generalklauselartige Abgrenzung zwischen zulässiger Information und berufswidriger Werbung unter Verzicht auf Detailregelungen.10 Alle Werbeträger (z.B. Praxisschild, Internetpräsentationen, 7
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Prof. Dr. Ingo Flenker in seinem Referat auf dem 105. Deutschen Ärztetag, stenographischer Wortbericht, abrufbar im Internet unter http://www.bundesaerztekammer.de\ cgi-bin\printVersion.dgi. Rudolf Ratzel, in: Rudolf Ratzel, Hans-Dieter Lippert, Kommentar zur Musterberufsordnung der deutschen Ärzte, 3. Aufl., Berlin 2002, §§ 27, 28, Rdnr. 1. Der Text der MBO-Ä 2002 ist abrufbar im Internet unter http://www.bundesaerztekammer.de\cgibin\printVersion.dgi.; dazu Rudolf Ratzel, Hans-Dieter Lippert, Das Werberecht der Ärzte nach den Beschlüssen des 105. Deutschen Ärztetages in Rostock, in: MedR 2002, S. 607 ff.; zu weiteren Einzelheiten vgl. auch die „Hinweise und Erläuterungen zu den §§ 27 ff. der (Muster-)Berufsordnung, beschlossen von den Berufsordnungsgremien der Bundesärztekammer am 12. 08. 2003, DÄBl. 2004, S. A 292 ff.; zur geschichtlichen Entwicklung des berufsrechtlichen Werbeverbots bis zum Jahr 2001 ausführlich Gaidzik, in: AusR 2001, S. 6 ff. Die Neufassung des § 27 MBO-Ä (DÄBl. 2004, A 293) lautet: „§ 27 Erlaubte Information und berufswidrige Werbung. (1) Zweck der nachstehenden Vorschriften der Berufsordnung ist die Gewährleistung des Patientenschutzes durch sachgerechte und angemessene Information und die Vermeidung einer dem Selbstverständnis des Arztes zuwiderlaufenden Kommerzialisierung des Arztberufes.
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Anzeigen in Zeitungen) werden gleich behandelt. Es wird nicht mehr zwischen elektronischen Medien und Papiermedien unterschieden. Die Beschränkung auf anlassbezogene Informationen (z. B. Anzeige von Urlaub, Praxisvertretung) wird aufgehoben. Auf eine besondere Regelung der Informationsmöglichkeiten unter Ärzten wird verzichtet. Wegfall auch der Regelungen zur Größe und Anzahl der Praxisschilder. Für Verzeichnisse wurde die bisherige Regelung beibehalten (§ 28 MBO-Ä).11 Besonders hervorzuheben und wohl nicht ohne praktische Auswirkungen ist der Verzicht auf die bisherige Sonderregelung für die Werbung von Kliniken (vgl. § 27 Abs. 2 Satz 2 MBO-Ä 2000; dazu unten C. I).
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(2) Auf dieser Grundlage sind dem Arzt sachliche berufsbezogene Informationen gestattet. (3) Berufswidrige Werbung ist dem Arzt untersagt. Berufswidrig ist insbesondere eine anpreisende, irreführende oder vergleichende Werbung. Ärztinnen und Ärzte dürfen eine solche Werbung durch andere weder veranlassen noch dulden. Werbeverbote aufgrund anderer gesetzlicher Bestimmungen bleiben unberührt. (4) Der Arzt kann 1. nach der Weiterbildungsordnung erworbene Bezeichnungen, 2. nach sonstigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften erworbene Qualifikationen, 3. Tätigkeitsschwerpunkte und 4. organisatorische Hinweise ankündigen. Die nach Nr. 1 erworbenen Bezeichnungen dürfen nur in der nach der Weiterbildungsordnung zulässigen Form geführt werden. Ein Hinweis auf die verleihende Ärztekammer ist zulässig. Andere Qualifikationen und Tätigkeitsschwerpunkte dürfen nur angekündigt werden, wenn diese Angaben nicht mit solchen nach geregeltem Weiterbildungsrecht erworbenen Qualifikationen verwechselt werden können. (5) Die Angaben nach Abs. 4 Nr. 1 bis 3 sind nur zulässig, wenn die Ärztin oder der Arzt die umfaßten Tätigkeiten nicht nur gelegentlich ausübt. (6) Ärztinnen und Ärzte haben der Ärztekammer auf deren Verlangen die zur Prüfung der Voraussetzungen der Ankündigung erforderlichen Unterlagen vorzulegen. Die Ärztekammer ist befugt, ergänzende Auskünfte zu verlangen.“ Diese Bestimmung lautet: „Ärztinnen und Ärzte dürfen sich in Verzeichnisse eintragen lassen, wenn diese folgenden Anforderungen gerecht werden: 1. Sie müssen allen Ärztinnen und Ärzten, die die Kriterien des Verzeichnisses erfüllen, zu denselben Bedingungen gleichermaßen mit einem kostenfreien Grundeintrag offenstehen. 2. Die Eintragungen müssen sich auf die ankündigungsfähigen Informationen beschränken und 3. die Systematik muß zwischen den nach der Weiterbildungsordnung und nach sonstigen öffentlich-rechtlichen Vorschriften erworbenen Qualifikationen einerseits und Tätigkeitsschwerpunkten andererseits unterscheiden.“
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C. Weiterhin offene Fragen I. Festhalten der Rechtsprechung am sog. Werbeprivileg für Kliniken und Sanatorien? 1. Die „betriebswirtschaftlichen Unterschiede“ als Rechtfertigungsgrund Das BVerfG hat in st. Rspr. entschieden, daß für Kliniken und Sanatorien nicht dieselben Werbebeschränkungen gelten wie für niedergelassene Ärzte. Gerechtfertigt wird dies mit den zwischen beiden bestehenden „betriebswirtschaftlichen Unterschieden“. Das BVerfG geht davon aus, daß Sanatorien und Kliniken infolge des höheren sachlichen und personellen Aufwands und der laufenden Betriebskosten typischerweise stärker belastet werden als die Gruppe der niedergelassenen Ärzte und deshalb zur Sicherung ihrer wirtschaftlichen Existenz darauf angewiesen sind, auf ihr Leistungsangebot aufmerksam zu machen. Eine Verletzung des Grundsatzes der Chancengleichheit wird verneint mit der Begründung, daß „zwischen beiden Gruppen wegen des unterschiedlichen Leistungsangebots von stationärer und ambulanter Behandlung ein unmittelbarer Wettbewerb selten sein dürfte.“12 Privilegiert sind insoweit nicht nur ärztliche Betreiber von Kliniken und Sanatorien, sondern auch die nichtärztlichen Betreiber hinsichtlich der bei ihnen angestellten Ärzte.13 Werbeerleichterungen gelten im Grundsatz auch für solche Kliniken, die neben stationären Behandlungen auch ambulante Eingriffe durchführen und bewerben, solange die Klinik weder durch Namensnennung noch durch Telefonnummern oder sonstige Kontakte auf einen bestimmen Arzt hinweist. Sofern auch ambulante Leistungen von der Klinik abgerechnet werden, handelt es sich um gewerbliche Umsätze.14 Diese Rechtsprechung ist mit Recht auf Kritik gestoßen. Sie entspricht jedenfalls heute nicht mehr den wirtschaftlichen Realitäten.15 Die Investitions- und Betriebskosten für hochspezialisierte Arztpraxen mit moderner Technologie können 12
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Grundlegend BVerfGE 71, S. 183, 199 f.; vgl. auch BVerfG, NJW 2000, S. 2734, 2735 = MedR 2000, S. 523, 524. Henning Piper, Zur wettbewerbs- und berufsrechtlichen Bedeutung des Werbeverbots der ärztlichen Berufsordnungen, in: Gerd Pfeiffer (Hrsg.), Festschrift für Hans Erich Brandner, Köln 1996, S. 449, 462; Knut Schulte, Das standesrechtliche Werbeverbot für Ärzte, Frankfurt/M. 1992, S. 88 f. BVerfG, NJW 2000, S. 2734 f. = MedR 2000, S. 523 m. krit. Anm. Rieger („Implantatentscheidung“); vgl. auch BVerfG, GesR 2003, S. 384. Durch diese Entscheidung wurde die werberechtliche Privilegierung im Ergebnis auf sog. „Zimmerkliniken“ ausgeweitet, so zutreffend auch Miriam Balzer, Arzt- und Klinikwerberecht, Berlin, Heidelberg 2003, S. 236; kritisch dazu auch Mandy Schwerin, Das ärztliche Werbeverbot – was bleibt?, in: NJW 2001, S. 1770. Näher dazu Balzer, Arzt- und Klinikwerbung, S. 231 f.; Dieter Barth, MedizinerMarketing, Berlin 1999, S. 261 f.
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– im Verhältnis zu den Einnahmen – zumindest genau so hoch, teilweise sogar höher liegen als bei einem einfach ausgestatteten Sanatorium oder einer „Miniklinik“. Bereits in den Jahren 1995/1996 lagen die Kosten für die Neueinrichtung einer chirurgischen Praxis im Durchschnitt bei 650.000,00 DM und bei einer orthopädischen Praxis bei 575.000,00 DM.16 Die Investitionskosten für eine moderne voll ausgestattete radiologische Praxis mit CT und MRT betragen heute ca. 3 Mio. Euro.17 Immerhin war jedoch die alte Fassung des § 27 Abs. 2 MBO-Ä selber davon ausgegangen, daß bei der Bewertung von Marketingaktivitäten mit zweierlei Maß gemessen wird: Während dem niedergelassenen Arzt jede berufswidrige Werbung verboten war, untersagte § 27 Abs. 2 Satz 2 MBO-Ä a.F. dem Klinikarzt lediglich die „anpreisende Herausstellung“. Diese unterschiedliche Formulierung „stellt einen feinen, aber doch bedeutsamen Unterschied dar“.18 Anpreisend ist eine gesteigerte Form der Werbung, insbesondere eine solche mit reißerischen und marktschreierischen Mitteln.19 Diese Fassung des § 27 Abs. 2 MBO-Ä geht zurück auf § 25 Abs. 1 MBO-Ä, mit dem die „Sanatoriumsentscheidung“, durch die „gewisse Kommerzialisierungstendenzen im standesrechtlichen Bereich vom BVerfG ausdrücklich anerkannt“ wurden,20 vom Deutschen Ärztetag 1988 umgesetzt wurde. Sie ließ den Kliniken und Sanatorien und den bei ihnen tätigen Ärzten im Vergleich zu ihren niedergelassenen Kollegen mehr Spielraum bei der aktiven Werbung oder bei der Duldung von Marketingmaßnahmen der Einrichtung.21 2. Wegfall des Rechtfertigungsgrundes nach Einführung Medizinischer Versorgungszentren Die Streichung der Vorschrift des § 27 Abs. 2 MBO-Ä a.F. in der MBO-Ä 2002 sollte für die Rspr. Anlaß sein, die bisherige Aufspaltung des ärztlichen Werbeverbots, weil nicht mehr tragfähig, aufzugeben. Nach Einführung neuer Versorgungsstrukturen durch das in seinen wesentlichen Teilen am 01. 01. 2004 in Kraft getretene GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) ist der Spruchpraxis der Gerichte zum Recht der Klinikwerbung die Grundlage entzogen. Wurde von der Möglichkeit der Durchführung ambulanter Operationen im Krankenhaus (§ 115b SGB V) und der Schaffung integrierter Versorgungsformen (§§ 140a ff. SGB V) durch das Gesundheitsreformgesetz (GRG) aus dem Jahr 2000 bisher insgesamt nur zögerlich Gebrauch gemacht, so sprechen jetzt alle Anzeichen dafür, daß vor allem das Interesse an der Errichtung Medizinischer Versorgungszentren (MVZ) nach § 95 Abs. 1 SGB V gerade bei Krankenhäusern in nicht unerheblichem Maße vorhanden ist, bietet ihnen doch diese neue Versorgungsform im Bereich der vertrags16 17 18 19
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Vgl. Deutsch/Brenner, in: DÄBl. 1996, S. A-2022; 1997, S. A-2581 f. Auskunft des Berufsverbandes Deutscher Radiologen im März 2005. Schulte, Das standesrechtliche Werbeverbot für Ärzte, S. 87. Hinweise und Erläuterungen zu den §§ 27 ff. MBO-Ä v. 12. 08. 2003, DÄBl. 2004, S. A 292, 293. Gerhard Ring, Werberecht der Kliniken und Sanatorien, Baden-Baden 1992, Rdnr. 447. Vgl. Schulte, Das standesrechtliche Werbeverbot für Ärzte, S. 83.
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ärztlichen Versorgung ein Instrument zur Überwindung der seit langem beklagten starren Trennung zwischen stationärem und ambulantem Sektor im Medizinbetrieb.22 Damit hat der Gesetzgeber bewußt Konkurrenz für die niedergelassenen Ärzte auf den Plan gerufen. Dies geht deutlich aus der amtlichen Begründung zum GMG23 hervor, wo es heißt, in der ambulanten Versorgung solle künftig „ein Wettbewerb zwischen verschiedenen Versorgungsformen ermöglicht werden mit dem Ziel, daß Patienten jeweils in den ihren Erfordernissen am besten entsprechenden Versorgungsformen versorgt werden können […] Medizinische Versorgungszentren müssen unternehmerisch geführt und von zugelassenen Leistungserbringern gebildet werden“. Voraussetzung für die Erfüllung dieses gesetzgeberischen Auftrags ist die Möglichkeit zur Entwicklung effizienter Marketingaktivitäten im Rahmen des geltenden Berufs- und Wettbewerbsrechts. Damit die Patienten in Ausübung ihres Rechts auf Selbstbestimmung und freie Arztwahl die ihren „Erfordernissen am besten entsprechende Versorgungsform“ wählen können, benötigen sie umfassende Informationen darüber, welche Leistungen bei welcher Qualität sie von welchem Leistungserbringer erwarten können. Angesichts dieser Entwicklung ist die Unterscheidung stationär/ambulant als alleiniges Kriterium für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Werbemaßnahme sachlich nicht mehr gerechtfertigt. Es kann ernsthaft nicht in Frage gestellt werden, daß auch ausschließlich auf dem ambulanten Sektor tätige medizinische Einrichtungen wie große Gemeinschaftspraxen und Partnerschaftsgesellschaften, die auf die Erbringung von Sachleistungen (vor allem Röntgen-, Labor- und Dialyseleistungen) konzentriert sind, und künftig vor allem große Medizinische Versorgungszentren mit erhöhtem sachlichen und personellen Aufwand arbeiten, vor allem wenn ihr Leistungsangebot teilweise Leistungen umfaßt, die bisher überwiegend im Krankenhaus erbracht wurden. Die Fortführung der werberechtlichen Privilegierung von stationären Einrichtungen durch die Rspr. würde gegenüber ausschließlich ambulanten Leistungserbringern in Zukunft verstärkt zu Wettbewerbsverzerrungen und Ungleichbehandlungen führen: einmal durch die sich bereits jetzt abzeichnende beträchtliche Vermehrung der MVZs und darüber hinaus auch durch das inhaltlich und umfangmäßig nicht begrenzte – wohl aber auf den ambulanten Sektor beschränkte – Leistungsangebot dieser Einrichtungen, in denen bei entsprechender Größe angestellte Ärzte, Vertragsärzte unter Beibehaltung ihrer Zulassung sowie Angehörige der nichtärztlichen Gesundheitsberufe zusammenarbeiten und teilweise Leistungen erbringen, die bisher überwiegend im Krankenhaus erbracht wurden. Damit wird evident, daß das Argument des Bundesverfassungsgerichts, der Grundsatz der Chancengleichheit werde nicht verletzt, da ein
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Eine Umfrage des Instituts für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie der Universität zu Köln hat ergeben, daß im Oktober 2004 immerhin 17 von 77 befragten Krankenhäusern (22%) konkrete Pläne für die Einrichtung eines MVZ hatten; vgl. Flintrop u. a., in: DÄBl. 2004, S. A 3303. BT-Drs. 15/1525, S. 74.
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direkter Wettbewerb wegen der Unterschiedlichkeit des ambulanten und des stationären Leistungsangebots eher selten sei, nicht mehr greifen kann. Für die Zukunft kommen theoretisch zwei Lösungsmöglichkeiten in Betracht: Zumindest größere Zusammenschlüsse von Leistungserbringern zu einem MVZ oder im Rahmen der integrierten Versorgung gem. §§ 140a ff. SGB V werden unter weiterer „Ausdehnung des verfassungsrechtlichen Klinikbegriffs“24 durch die bisherige Rspr. hinsichtlich des Umfangs ihrer Werbemöglichkeiten ebenso behandelt wie „Minikliniken“. Eine andere Variante wäre die werberechtliche Gleichstellung von stationären und ambulanten Einrichtungen, ausgerichtet am Maßstab der ärztlichen Berufsordnung. Gangbar, weil allein sachgerecht und praktikabel, erscheint nur der zweite Weg. Die betriebswirtschaftliche Argumentation als alleiniges Abgrenzungskriterium für die Zubilligung des Werbeprivilegs auch an ambulante Einrichtungen würde zu unüberwindbaren Abgrenzungsproblemen führen, weil es – anders als bei der Abgrenzung stationär/ambulant – an „griffigen“ Abgrenzungsmerkmalen zur „normalen“ Arztpraxis fehlt.25 Ab welcher Umsatzgröße oder welchem Kostenvolumen im Verhältnis zum Umsatz ist die Feststellung gerechtfertigt, daß eine ambulante Einrichtung im Vergleich zu einer „normalen“ Arztpraxis stärker mit Kosten belastet wird und deshalb zur Existenzsicherung auf Werbung angewiesen ist? Der Status als MVZ beispielsweise kann per se kein Abgrenzungskriterium darstellen, weil die Größe eines MVZ schwanken kann von einem Zweimann-Betrieb bis zu einem Großprojekt mit 100 oder mehr Beschäftigten. Nach Aufgabe der Unterscheidung zwischen stationär und ambulant in der MBO-Ä 2002 scheint der künftige Verzicht auf das Messen mit zweierlei Maß durch die Rechtsprechung die praxistauglichere und materiell gerechtere Alternative zu sein. Durch die Gleichbehandlung von stationären Einrichtungen und Arztpraxen würde gleichzeitig auch mehr Rechtssicherheit geschaffen. Zutreffend wird darauf hingewiesen, daß durch die Aufspaltung des Werbeverbots die Rechtslage im einzelnen unklar ist, da die Rspr. bislang nur die Zulässigkeit kasuistischer Fallkonstellationen abgeklärt, den Krankenhäusern jedoch keine verläßlichen Grundlagen aufgezeigt hat, worin das ihnen zugestandene Mehr an Werbemöglichkeiten konkret bestehen soll.26 24
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Balzer, Arzt- und Klinikwerberecht, S. 234 f. In der „Implantatentscheidung“ hat das BVerfG das Werbeprivileg auf eine „Klinik“ ausgedehnt, in der durch einen einzigen Zahnarzt, der im selben Haus eine Praxis als niedergelassener Zahnarzt betrieb, vorwiegend ambulante Implantatbehandlungen durchgeführt wurden. Der Zahnarzt hatte sich auf die Möglichkeit einer auch stationären Behandlung seiner Patienten in zwei dafür vorgesehenen Einzelzimmern berufen; BVerfG, NJW 2000, S. 2735 = MedR 2000, S. 523; vgl. auch BVerfG, GesR 2003, S. 384. Vgl. Hans-Jürgen Rieger, Anm. zu BVerfG v. 04. 07. 2000, in: MedR 2000, 525, 526 a. E.; zustimmend Balzer, Arzt- und Klinikwerberecht, S. 231 f. Vgl. Balzer, Arzt- und Klinikwerberecht, S. 221; vgl. auch Horst Bonvie, Die Umgehung des ärztlichen Werbeverbots – von der Rechtsprechung sanktioniert?, in: MedR 1994, 308. 311, der auf ein ausgesprochen uneinheitliches Bild der Rspr. hinweist, die nicht klarmache, ob es für die Abgrenzung zwischen ambulanter und stationärer Be-
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3. Gleichbehandlung von stationären und ambulanten Einrichtungen auf der Grundlage des § 27 Abs. 3 MBO-Ä 2002 Der Zugrundelegung dieser Vorschrift für das Werbeverhalten stationärer Einrichtungen nichtärztlicher Betreiber steht nicht entgegen, daß diese nicht an die Standesregeln der Ärzte gebunden sind.27 Aus der arbeitsrechtlichen Fürsorgepflicht ergibt sich deren mittelbare Bindung an das ärztliche Werberecht dergestalt, daß der Krankenhausträger als Arbeitgeber den Verstoß gegen die einschlägigen berufsrechtlichen Vorschriften nicht aktiv veranlassen oder ermöglichen darf. Was den Ärzten nach § 27 Abs. 3 MBO-Ä verboten ist, ist auch den nichtärztlichen Betreibern stationärer Einrichtungen untersagt. Andernfalls haften sie neben den Ärzten als wettbewerbsrechtliche Störer nach § 3 UWG (früher § 1 UWG).28 Probleme bereitet nach wie vor die Abgrenzung zwischen (erlaubter) sachgerechter und sachangemessener Information, die keinen Irrtum erregt, und (verbotener) berufswidriger Werbung.29 Ob eine Werbemaßnahme als berufswidrig zu qualifizieren ist, kann nicht generalisierend-abstrakt, sondern stets nur durch eine Gesamtabwägung im Rahmen des gesamten Lebensvorgangs getroffen werden, in dem die fragliche Werbemaßnahme ihre Relevanz entfaltet.30 Soweit es um die berufsrechtlichen Verbote der Anpreisung und Irreführung geht, dürften diese Formen der Werbung auch nichtärztlichen Betreibern stationärer Einrichtung schon weitgehend durch das allgemeine Wettbewerbsrecht untersagt sein. Bei der Werbung auf dem Gesundheitssektor gelten wegen der Bedeutung des Rechtsguts der Gesundheit und die hohe Werbewirksamkeit gesundheitsbezogner Aussagen31 besonders strenge Anforderungen an die Richtigkeit, Eindeutigkeit und Klarheit der Aussagen. Neben dem allgemeinen Irreführungsverbot nach § 5 UWG kommen spezielle Werbeverbote vor allem im Heilmittelwerbegesetz (insbes. §§ 3, 11 und 12 HWG) in Betracht. So gesehen dürften die Werbemöglichkeiten von Krankenhäusern und Arztpraxen nicht mehr allzu sehr differieren. Etwas anders gestaltet sich die Rechtslage bei der vergleichenden Werbung, die dem Arzt nach wie vor generell verboten, Krankenhäusern dagegen in dem vom allgemeinen Wettbewerbsrecht (§ 6 UWG) und einigen speziellen Vorschriften gesetzten Rahmen erlaubt ist.32 So besteht nach § 39 Abs. 3 SGB V für Kliniken
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handlung auf die Höhe der Investitions- und Betriebskosten ankomme oder ob die Chancengleichheit entscheidend sei. Bereits vor Einführung Medizinischer Versorgungszentren skeptisch in Bezug auf eine Änderung der Rspr. Balzer, Arzt- und Klinikwerbung, S. 62, 238; Balzer, in: NJW 2003/Heft 19, S. XII, XIV. BVerfG, MedR 2000, S. 524. Vgl. BGH, MedR 1995, S. 113; Koch, in: GesR 2003, S. 161, 162. BVerfG, MedR 1993, S. 348 f. Vgl. Piper, in: Pfeiffer, Festschrift für Brandner, S. 455. Vgl. Adolf Baumbach, Wolfgang Hefermehl, Joachim Bornkamm, Wettbewerbsrecht, 23. Aufl., München 2004, § 5 UWG, Rdnr. 4, 176 m.w.N. Näher dazu und zum Folgenden Koch, in: GesR 2003, S. 161, 163 f.; Hans Jürgen Rieger in: Cornelia Engler, Stephan Geserich, Thilo Räpple (Hrsg.), Werben und Zuwenden im Gesundheitswesen, 2. Aufl., Heidelberg 2000, Rdnr. 398 f.
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die Verpflichtung, unter Mitwirkung der Landeskrankenhausgesellschaft und der Kassenärztlichen Vereinigung ein Verzeichnis der von den zugelassenen Krankenhäusern in einem Bundesland angebotenen stationären Leistungen und Entgelte zu erstellen, wobei die Entgelte so zusammenzustellen sind, daß sie miteinander verglichen werden können. Mit der das einzelne Krankenhaus in diesem Zusammenhang treffenden Mitwirkungspflicht korrespondiert das Recht des Krankenhauses, die betreffenden Daten im Rahmen des allgemeinen Wettbewerbsrechts für die eigene Imagewerbung zu nutzen. Gleiches gilt für die Qualitätsberichte der einzelnen Krankenhäuser gem. § 137 Abs. 1 Nr. 6 SGB V. Im übrigen ist Kliniken ein objektiver, sachlicher und für die angesprochenen Verkehrskreise nachvollziehbarer und überprüfbarer Vergleich ihres Leistungsangebots unter Verzicht auf die namentliche Herausstellung der im Krankenhaus tätigen Ärzte im Rahmen des § 6 UWG nicht untersagt.33 Unter diesen Voraussetzungen dürfte bei verfassungskonformer Auslegung auch ein Verstoß gegen das berufsrechtliche Verbot der vergleichenden Werbung zu verneinen sein.34 Insgesamt ist die Tendenz der Rspr. zu einer immer stärkeren Ausweitung des Begriffs der aufklärenden Sachinformation im Werberecht der freien Berufe allgemein unverkennbar (vgl. unten II. 2), so daß die Grenzen zur berufswidrigen Werbung praktisch immer mehr verwischen und die Fälle, in denen einem Krankenhaus nach der bisherigen Rspr. weitergehende Werbemöglichkeiten zugestanden wurden, schon dadurch in Zukunft immer seltener werden dürften.35 II. Übertragbarkeit der Rechtsprechung zum Werbeverbot anderer Freiberufler auf Ärzte? 1. Die ältere Rechtsprechung Nach wie vor ungeklärt ist die Frage, ob und ggf. inwieweit die mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 14. 07. 198736 eingeleitete sehr weitgehende Lockerung des Werbeverbots für Rechtsanwälte auf das Verbot der Arztwerbung übertragbar ist. Das OLG Hamburg hat dies generell verneint mit der Begründung, die durch das Werbeverbot für Ärzte „geschützten Interessen der Volksgesundheit und des Schutzes vor Beeinflussung und Verunsicherung durch Werbemethoden“ hätten „eine andere und erheblich gewichtigere Bedeutung als das durch das anwaltliche Werbeverbot betroffene Verhältnis zwischen einem Anwalt und dem Rechtsuchenden.“37 Im Gegensatz hierzu hat das LG Kiel in ei33 34
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Vgl. Koch, in: GesR 2003, S. 163. Beispiele aus der Rspr. für Verstöße gegen das berufsrechtliche Werbeverbot in diesem Zusammenhang bei Beate Bahner, Das neue Werberecht für Ärzte, 2. Aufl., Berlin 2003, S. 260 ff. Im Ergebnis ebenso Balzer, Arzt- und Klinikwerbung, S. 227. BVerfG, NJW 1988, S. 194. OLG Hamburg, MedR 1997, S. 177, 179 (Bezeichnungen „Tagesklinik für Biologische Immuntherapie, Biologische Krebsnachsorge, Schmerztherapie“ auf Praxisschild); im
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nem Urteil vom 10. 11. 199838 die hier maßgeblichen Sachverhalte bei Ärzten und Anwälten als „durchaus vergleichbar“ angesehen und infolgedessen die Beteiligung von Ärzten an einem Arztsuchservice für zulässig erachtet.39 In jüngerer Zeit hat der ÄrzteGH Saarland40 im Anschluß an die Rspr. des Bundesverfassungsgerichts zum anwaltlichen Sponsoring41 Maßnahmen einer auf die Fortpflanzungsmedizin spezialisierten Frauenarztpraxis bei einem „Wunschkindfest“ nicht als berufswidrige Werbung angesehen.42 In der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts aaO. S. 3196 heißt es u. a.: „Der BGH hat erst kürzlich das Verhalten von Rechtsanwälten nicht als ‚berufswidrige Werbung’ beanstandet, die zu einer Informationsveranstaltung mit kostenloser Bewirtung in ein Hotel geschäftsansässige Einzelhändler ihres Kanzleisitzes, mit denen sie nicht mandatsrechtlich verbunden waren, eingeladen hatten […] Für Ärzte kann im Lichte des Art. 12 Abs. 1 GG schwerlich anderes gelten […].“
Bei verfassungskonformer Auslegung dürfte die Rspr. zum Werbeverbot für Rechtsanwälte insoweit auf das berufsrechtliche Werbeverbot für Ärzte übertragbar sein, als von einer Werbemaßnahme Gefahren für die Volksgesundheit nicht ausgehen.43 „Ob letzteres im Einzelfall angenommen werden kann, erfordert eine wertende Betrachtung unter Berücksichtigung des Anlasses, des Mittels, des Zwecks und der Begleitumstände der konkreten Werbemaßnahmen. Maßgeblich für die Beurteilung des Werbeverhaltens ist der Standpunkt der angesprochenen Verkehrskreise, nicht die möglicherweise besonders strenge Auffassung des jeweiligen Berufsstandes.44 Interessant in diesem Zusammenhang ist der Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 23. 07. 2001 - 1 BvR 873/00 -45, wo es u. a. heißt: „Denn durch den Zusatz ‚Tätigkeitsschwerpunkt Implantologie’, […] wird schon deutlich gemacht, daß es sich lediglich um einen Tätigkeitsschwerpunkt handelt und nicht um eine Gebietsbezeichnung im Sinne der Weiterbildungsordnung […]. Der Verkehr wird diese Angabe ähnlich interpretieren wie bei den Rechtsanwälten: Der Zahnarzt verfügt auf diesem Gebiet über besondere Erfahrungen und ist auf diesem Gebiet nachhaltig tätig. Eine Irreführung käme nur dann in Betracht, wenn die Beschwerdeführer tatsächlich nicht ihren Tätigkeitsschwerpunkt und besondere Kenntnisse auf dem Gebiet der Implantologie hätten […]“.
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Prinzip ebenso OLG Köln, Urt. v. 01. 12. 2000 – 6 U 99/00 (Zusatz „Schwerpunkt Implantologie“ auf Praxisschild). LG Kiel, MedR 1999, S. 279 (Arztsuchservice); a. A. OLG München, MedR 2000, S. 370. Ebenso OLG Schlesw.-Holst., Urt. v. 05. 12. 2000 – 6 U 64/2000. ÄrzteGH, NJW 2002, S. 839, 840. BVerfG, NJW 2000, S. 3195. ÄrzteGH, NJW 2002, S. 839, 840. Zustimmend Balzer, Arzt- und Klinikwerbung, S. 84 f. BVerfG, NJW 2000, S. 3195, 3196. BVerfG, MedR 2001, S. 569.
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Bemerkenswert erscheint, daß das BVerfG die Frage der Gefährdung des Gemeinwohlbelangs Volksgesundheit im Vergleich zu dem durch das anwaltliche Werbeverbot geschützte Rechtsgut erstaunlich großzügig beurteilt. Das Gericht sieht hier offensichtlich nicht die doch nicht ganz fernliegende Gefahr, daß einem durchschnittlich gebildeten Bürger nicht bewußt ist, daß es sich bei einem Tätigkeitsschwerpunkt nicht um eine in einem förmlichen Weiterbildungsgang erworbene Qualifikation, sondern um die Ankündigung aufgrund einer Selbsteinschätzung handelt. Eine entsprechende Irreführungsgefahr besteht bei der Führung von Tätigkeitsschwerpunkten durch Rechtsanwälte (z.B. „Tätigkeitsschwerpunkt Arbeitsrecht“ im Verhältnis zum „Fachanwalt für Arbeitsrecht“), nur mit dem Unterschied, daß die Folgen einer solchen Irreführung deutlich weniger gravierend sein können als beim Arzt, wo das höchstrangige Rechtsgut Gesundheit betroffen ist. Insgesamt bietet die bisherige Rechtsprechung somit ein uneinheitliches Bild.
2. Rechtsprechung aus jüngster Zeit a) Straßenbahnwerbung durch Steuerberater. Eine Steuerberatungsgesellschaft (GmbH) ließ auf einem Straßenbahnwagen über dessen Länge ihr Firmenlogo, den vollständigen Namen, Anschrift sowie Telefon- und Faxnummer des Unternehmens anbringen. Ergänzt wurden die Angaben um die Zusätze: „Ihr Partner in Sachen Steuer- und Wirtschaftsberatung im Charlottenviertel“ und „Ihr Dienstleistungszentrum im Herzen von […]“. Die Steuerberaterkammer war gegen diese Werbung mit der wettbewerbsrechtlichen Unterlassungsklage vorgegangen, die zur Verurteilung durch das OLG führte. Die hiergegen erhobene Verfassungsbeschwerde hatte Erfolg.46 In den tragenden Entscheidungsgründen heißt es: „[…] Als wesentliche Grundlage des zur Wahrung der Gemeinwohlbelange essentiellen Vertrauensverhältnisses nennt § 57 StBerG insbesondere die unabhängige, eigenverantwortliche, gewissenhafte und verschwiegene Aufgabenerfüllung. Diese wird durch die Werbung als solche nicht beeinträchtigt […] Als berufswidrig kann Werbung von der Kammer unterbunden werden […] Welche Werbeformen als sachlich oder als übertrieben bewertet werden, unterliegt zeitbedingten Veränderungen. Allein aus dem Umstand, daß eine Berufsgruppe ihre Werbung anders als bisher üblich gestaltet, kann nicht gefolgert werden, daß dies berufswidrig wäre […] Der einzelne Berufsangehörige hat es in der Hand, in welcher Weise er sich für die interessierte Öffentlichkeit darstellt, solange er sich in den durch schützenswerte Gemeinwohlbelange gezogenen Schranken hält. Selbstdarstellungen, die den interessierten Personenkreis positiv ansprechen, sind nicht von vornherein unzulässig […].“
Zu der Ansicht des OLG, daß Steuerberater zwar auf einer Straßenbahn werben dürfen, aber die Werbung schon ihrer Art nach von üblicher Straßenbahnwerbung verschieden gestaltet werden müßte, führt das BVerfG aus: „Diese Argumentation ist weder in sich stimmig noch vor Art. 12 Abs. 1 GG zu rechtfertigen. Sie schränkt die grundsätzlich eröffneten Möglichkeiten der Präsentation ein, 46
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ohne einen Bezug zu den hiermit verbundenen Gefährdungen für das berufliche Verhalten und das Bild der Berufsangehörigen in der Öffentlichkeit herzustellen […] Der neben Logo und Anschrift angebrachte Zusatz ‚Ihr Partner in Sachen Steuer- und Wirtschaftsberatung’ kann unter keinem Gesichtspunkt als reklamehafte Anpreisung gewertet werden. Mit ihm informiert die Beschwerdeführerin über die Art und Weise wie sie ihre Dienstleistungen zu erbringen gedenkt. Diese Absicht ist für Mandanten nicht ohne Interesse und kennzeichnet die beabsichtigte Berufsausübung als partnerschaftlich; das aber steht mit den Berufspflichten des Steuerberatergesetzes in Einklang.“
Unter Zugrundelegung dieser Ausführungen könnte wohl auch eine entsprechende Werbung eines Orthopäden über die Länge eines Straßenbahnwagens mit dem Zusatz „Ihr Partner in Sachen Orthopädie im Gesundheitszentrum im Herzen von Karlsruhe“ schwerlich als reklamehaft angesehen werden und die Annahme nahelegen, daß der auf diese Art werbende Arzt eine Gefahr für die medizinische Versorgung der Bevölkerung darstellt. Damit erhebt sich die Frage, inwieweit der Begriff der „sachangemessenen Information“ auch weiterhin ein tragfähiges Abgrenzungskriterium bei der Bewertung ärztlicher Werbemaßnahmen darstellt. b) Arzt als Experte bei Telefonaktionen auf Verbrauchermessen. Einem Urteil des LG Gießen vom 10. 08. 2004 - 6 O 7/04 - liegt, soweit hier von Interesse, folgender Sachverhalt zugrunde: Die Beklagte, eine Mediendienstleistungs-GmbH, beschaffte sich im Rahmen der Aktion „Darmkrebsmonat“ von Kassenärztlichen Vereinigungen Anschriften von Ärzten, die die Genehmigung zur präventiven Koloskopie besitzen. Diesen Ärzten bot die Beklagte schriftlich gegen Zahlung von 850,00 € zuzüglich Mehrwertsteuer im Rahmen eines Gesamtpaketes die Beteiligung an einer von einer regionalen Zeitung veranstalteten Telefonaktion in BadenWürttemberg an. In der Ankündigung hieß es: „Wir bieten Ihnen die Möglichkeit, die Bevölkerung durch sachgerechte Information zum Thema Darmkrebsvorsorge zu informieren. Hierdurch präsentieren Sie sich zum einen als der Experte für ‚Darmkrebsprävention’ und positionieren zum anderen Ihre Praxis in Ihrem Einzugsgebiet. In der Vorankündigung erscheinen Sie mit Bild und Ihrem Namen. Die redaktionellen Inhalte werden von uns in Absprache mit dem Qualitätsnetz verfaßt. Im Rahmen der Nachberichterstattung erscheinen Sie erneut mit Bild und Namen.“
Das Gericht sah hierin eine nach § 4 Ziff. 3 UWG (§ 1 UWG a.F.) unzulässige Schleichwerbung seitens der Beklagten. Da die Ärzte für die Teilnahme an der Aktion zahlen mußten, handele es sich in Wirklichkeit um eine kommerzielle Werbemaßnahme, was jedoch für die Leser der Zeitung nicht erkennbar sei. Das Verschweigen des kommerziellen Charakters mache das Handeln sittenwidrig. Die Aktion sei jedoch zulässig, wenn sie in ihrer äußeren Gestaltung als Werbeanzeige erkennbar sei oder wenn durch einen Zusatz darauf hingewiesen werde, daß die Aktion von den Ärzten finanziert wird. Auch die teilnehmenden Ärzte handelten wettbewerbswidrig, indem sie für die Teilnahme an der Veranstaltung bezahlten. Hieran werde deutlich, daß es auch ihnen nicht nur um die Information gehe, sondern um die Akquise von Patienten,
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was diesen jedoch ebenso verborgen bleibe. Dafür sei die Beklagte als wettbewerbsrechtlicher Störer verantwortlich. c) „Einkauf“ von Vorträgen auf Verbrauchermessen. Im Vorfeld der Messe „Aesthetika“ im April 2005 in Dortmund hat die Ärztekammer Westfalen-Lippe unter Hinweis auf das vorerwähnte Urteil des LG Gießen ihre Mitglieder im Westfälischen Ärzteblatt47 davor gewarnt, sich Vortragszeit auf Verbrauchermessen zu „kaufen“. Der Veranstalter hatte Ärzten angeboten, bei dieser Messe halbstündige Vorträge zu halten und dafür ein Entgelt von 290,00 € an den Veranstalter zu entrichten. Die Ärztekammer sah hierin – mit Recht – einen dem Urteil des LG Gießen zugrundeliegenden vergleichbaren Sachverhalt. Auch in diesen Fällen bestehen jedoch gegen das Verhalten der Ärzte keine Bedenken, wenn die Besucher der Messeveranstaltung über die Tatsache der Kostenübernahme durch die vortragenden Ärzte informiert werden.48 III. Eintragung in Verzeichnisse Nach § 28 Nr. 1 MBO-Ä (vgl. oben Fn. 11) dürfen Ärzte sich in Verzeichnisse eintragen lassen, wenn diese allen Ärzten, die die Kriterien des Verzeichnisses erfüllen, zu denselben Bedingungen gleichermaßen mit einem kostenfreien Grundeintrag offenstehen. Diese Regelung steht im Widerspruch zu dem Beschluß des Bundesverfassungsgerichts vom 18. 10. 2001 - 1 BvR 881/00.49 In dieser Entscheidung ging es um die Zulässigkeit eines Zahnarzt-Suchservices im Bereich der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg. Der Beschwerdeführer, ein nicht mehr berufstätiger Zahnarzt, hatte zusammen mit anderen Personen einen Verein gegründet, zu dessen Zielen u.a. die Weitergabe von Informationen über Zahnärzte mit besonderer fachlicher Qualifikation oder Orientierung gehört. Im Frühjahr 1998 übersandte der Beschwerdeführer „zahlreichen Zahnärzten“ in Baden-Württemberg ein Schreiben, mit dem die Ziele des Vereins dargestellt wurden. Diesem lag ein Fragebogen bei, in dem Aussagen zur zahnärztlichen Tätigkeit und zur fachlichen Qualifikation des Zahnarztes nach eigener Einschätzung zu vermerken waren. Der monatliche Beitrag für die Annahme und Bereitstellung der Angaben sollte 7,50 DM kosten. Die auf diese Weise gesammelten Praxisinformationen waren im Internet öffentlich abrufbar. Wegen dieser Aktivitäten wurde der Beschwerdeführer in einem berufsgerichtlichen Verfahren u. a. wegen Verstoßes gegen das Werbeverbot zu einer Geldbuße verurteilt. Das Landesberufsgericht hatte u. a. beanstandet, daß mögliche Patienten Auskünfte aus einer Datei erhalten, die nur einen Teil der Zahnärzte erfaßt, und die im übrigen auf einer Selbsteinschätzung der Zahnärzte beruhen. Das BVerfG
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Westf. Ärztebl. 2004/12, S. 4. Vgl. hierzu auch den Artikel von Oliver Bechtler in der ÄrzteZeitung v. 25. 01. 2005. BVerfG, NJW 2002, S. 1864.
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hat eine Irreführungsgefahr u. a. wegen der Unvollständigkeit der erfaßten Zahnarztpraxen verneint und dazu ausgeführt: „Im übrigen gäbe es mildere Mittel, um einer Irreführung der Patienten, die durch die Unvollständigkeit der erfaßten Daten hervorgerufen werden könnte, entgegenzuwirken. Den Anfragenden könnte bei der Auskunft auch die Anzahl der erfaßten Zahnärzte mitgeteilt und auf die Unvollständigkeit der Datenbank hingewiesen werden.“50
Obwohl die im Zeitpunkt des dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Verhaltens geltende Berufsordnung 1996 der Landeszahnärztekammer Baden-Württemberg noch keine dem § 28 Nr. 1 MBO-Ä entsprechende Bestimmung enthielt, wird man aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts schließen müssen, daß die in dieser Vorschrift getroffene Regelung aus der Sicht des Gerichts nicht mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar ist. Gerichtsentscheidungen zu dem Problemkreis sind, soweit ersichtlich, bisher nicht bekannt geworden.
D. Ergebnis, Ausblick Vom Familienfoto als Beleg, „daß der [Arzt] bei seinem ‚Kampf’ für die Frischzellentherapie der Unterstützung seiner Familie sicher sein kann“ bis zur Straßenbahnwerbung – so ließe sich die Entwicklung des ärztlichen Werberechts in den vergangenen 20 Jahren karikieren. Die Gegenüberstellung zeigt, daß die Ausgangs- und (vorläufige) Endposition erstaunlicherweise so weit nicht auseinander liegen. Die Lockerung des ärztlichen Werbeverbots in bisher ungeahntem Ausmaß ist nicht nur die Folge des wachsenden Informationsbedürfnisses der Patienten, hervorgerufen durch die Zunahme ärztlichen Spezialistentums, sondern ebenso Begleiterscheinung im Zuge der Anpassung des Medizinbetriebs an ökonomische Zwänge und der damit einhergehenden Mutation des traditionellen ärztlichen Berufsbildes zum Arzt als Unternehmer unter zunehmendem Verlust der Freiberuflichkeit. Angesichts dieser Entwicklung erscheint die Herstellung von „Waffengleichheit“ ebenso wie im Arzthaftungsrecht auch im Werberecht dringend geboten. Spätestens seit Einführung Medizinischer Versorgungszentren und der integrierten Versorgung als neue Formen der Leistungserbringung in der vertragsärztlichen Versorgung ist die sachliche Rechtfertigung für die Unterscheidung ambulant/stationär bei der Bewertung von Webemaßnahmen entfallen. Freilich ist nicht zu verkennen, daß angesichts der zunehmenden Ausweitung des Begriffs der angemessenen Sachinformation durch die Rechtsprechung – besonders augenfällig wird dies bei der Zulassung der Straßenbahnwerbung – die Unterscheidungskriterien immer weiter verwischen. Trotzdem ist die prinzipielle Aufgabe der Rspr. zum Werbeprivileg für stationäre Einrichtungen nicht zuletzt auch im Interesse der Beendigung der durch sie hervorgerufenen Unsicherheit der Rechtslage im Einzelfall (fehlende allgemeine Beschreibung, worin das „Mehr an Werbemöglichkei50
BVerfG, NJW 2002, S. 1866 re. Sp.
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Hans-Jürgen Rieger
ten“ konkret besteht; Unmöglichkeit einer verläßlichen Vorausschau, ob ein Gericht eine Einrichtung dem ambulanten oder dem stationären Sektor zuordnen wird) dringend erwünscht. Bei aller Liberalisierung des ärztlichen Werberechts durch die Rspr. nach heutigem Stand erscheint es – entgegen mancher Stimmen51 – jedenfalls derzeit noch verfrüht, um von einem „Ende des Werbeverbots“ zu sprechen. Das Urteil des LG Gießen aus dem Jahr 2004 und der „Einkauf von Vorträgen“ auf Verbrauchermessen durch Ärzte demonstrieren dies anschaulich. Die Kreativität der Marketingexperten beim Ersinnen immer neuer Varianten der Außendarstellung wird auch in Zukunft nicht erlahmen. Bei den Ärztekammern, darunter auch solchen, die in Sachen Werbung seit jeher eine strenge Linie verfolgten, macht sich in jüngster Zeit zunehmend Resignation breit. Dabei sollte die ärztliche Selbstverwaltung jedoch einen Gesichtspunkt nicht vergessen, auf den der Delegierte Dr. Eisenkeil beim 105. Deutschen Ärztetag 2002 hinwies, indem er u. a. ausführte:52 „Das Recht auf Werbung führt nämlich nach meiner Überzeugung zu einer Notwendigkeit der Werbung. Es erhöht den Kostendruck gerade auf kleinere und wirtschaftlich nicht so stabile Praxen, die sich dem allgemeinen Trend werden anschließen müssen. Wenn sie es nicht tun, werden sie einen Nachteil gegenüber den konkurrierenden Kollegen erleiden. Das stört meiner Überzeugung nach die Kollegialität ganz ausdrücklich […]. Eine kleine bescheidene Praxisanzeige mit Angabe der Sprechstundenzeiten kostet im Örtlichen Telefonbuch bereits heute an die 1.000,00 DM. Wenn man sich auch noch in anderen Bereichen engagieren muß, weil die anderen es ebenfalls tun, wird es teuer.“
Adolf Laufs schrieb bereits im Jahr 1998:53 „Eine weitere Lockerung oder gar Preisgabe des Werbeverbotes veränderte das Berufsbild des Arztes wesentlich und brächte beträchtliche Gefahren für den Gesundheitsdienst und am Ende für die Volksgesundheit mit sich.“
Seitdem hat sich die Liberalisierung rasant fortgesetzt, bis hin fast zur totalen Freigabe der Arztwerbung. Der Wandel des hergebrachten ärztlichen Berufsbildes hat längst eingesetzt. Welche Folgen sich daraus für den modernen Medizinbetrieb im allgemeinen und das gesundheitliche Wohl der Bevölkerung ergeben, wird die Zukunft weisen.
51 52
53
Vgl. Quaas in: Quaas/Zuck, Medizinrecht, § 12, Rdnr. 76. Stenographische Wortberichte Deutscher Ärztetage, abrufbar im Internet unter http:// www.bundesaerztekammer.de\cgi-bin\printVersion.dgi. Adolf Laufs, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 2. Aufl., München 1999, § 15, Rdnr. 20.
Der inkompetente medizinische Sachverständige und Gutachter: Möglichkeiten der Abwehr Gerhard H. Schlund
I. Vorbemerkungen Es gibt ein bekanntes Sprichwort, das da lautet: „Bei Gericht und auf hoher See ist man in Gottes Hand“. Das mag bei hoher See stimmen; bei oder vor Gericht – und ich habe dazu eine jahrzehntelange Erfahrung – trifft dies nicht zu. Denn dort bekommt man „sein Recht“ wohl nicht aus göttlicher Hand und Voraussicht, sondern von ab und zu fehlsamen Richterkollegen „Im Namen des Volkes“ gesprochen. Und ob das erstrittene, das erbetene und oft teuer erkaufte Recht dann auch gerecht ist, steht bekanntlich auf einem anderen Blatt. Aber nicht allein die psychische oder physische Überforderung, die ab und zu platzgreifende Lustlosigkeit, nur noch über streitige Sachen entscheiden zu müssen, kennzeichnet meine Richterkollegen; manch richterliches Erkenntnis, das vermeintlich oder tatsächlich falsch ist, muss gemäß der Verfassungsverankerung, wonach alle rechtsprechende Gewalt von den Richtern ausgeht, aber vom Richter selbst gesprochen und verkündet werden. Es beruht jedoch in sehr vielen Fällen überwiegend, wenn nicht gar ausschließlich, auf einem oder mehreren Sachverständigengutachten. Meine Richterkollegen in der Zivilgerichtsbarkeit, die heute über einen Massenunfall auf der Autobahn, morgen über einen Brückeneinsturz, übermorgen über die Bewertung eines Grundstücks und drei Tage später über einen vermeintlichen ärztlichen Behandlungsfehler judizieren müssen, sind sowohl auf dem Gebiet der Unfallverursachung, der Statik, der Grund- und Bodenschätzung als auch auf dem medizinischen Bereich absolute Laien, bleiben dies, und wollen sich in der Regel auch nicht mit Spezialwissen überfrachten. Selbst wenn Fragen ausländischen Rechts spruchreif werden, greifen meine Richterkollegen zur Feder und beauftragen ein Institut oder einen Universitätsprofessor für Internationales Recht, der ihnen dann ein Gutachten über die Rechtslage in der Türkei, Mongolei oder „sonst wo noch“ erstattet. Um es noch einmal auf den Punkt zu bringen: Der gerichtliche Sachverständige weist dem Richter mit seinem Gutachten den Weg zur – hoffentlich richtigen – Entscheidung. Aber: Wo Menschen arbeiten, da geschehen bekanntlich auch Fehler, da treten Unzulänglichkeiten zu Tage, die für den einen oder anderen dann maßlos enttäuschend sind, oder gar Schäden anrichten können. Und noch eines: Menschliche Unzulänglichkeit macht nicht vor Richterroben halt. Auch richterliche Arbeit kann dazu führen, dass täglich Fehlurteile verkündet werden, dann nämlich, wenn falsche Schlussfolgerungen, Ungereimtheiten oder
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fehlendes Wissen in einem Sachverständigengutachten „heimlich“ Eingang finden und vom Richter nicht erkannt werden.
II. Das Thema Und damit zum Thema, dem inkompetenten medizinischen Sachverständigen und Gutachter und den Möglichkeiten, wie man sich seiner erwehren kann. 1. Wie wird man Sachverständiger bzw. Gutachter? Ehe sich aber dem inkompetenten Gutachter und Sachverständigen in concreto gewidmet wird, noch einige Bemerkungen voraus zur Frage, wie man eigentlich Gutachter und Sachverständiger wird. Als Sachverständiger wird man in der Tat nicht geboren, sondern man erwirbt im Laufe seines beruflichen Werdegangs den Status eines Sachverständigen oder Gutachters. Es gibt leider keine gesetzliche Definition, was man unter einem Sachverständigen oder Gutachter zu verstehen hat. Im weiteren Sinne gilt derjenige als Sachverständige, der von den Dingen eines bestimmten Faches oder Sachgebietes auf Grund seiner Ausbildung oder auch nur seiner praktischen Erfahrung besondere Sachkunde vorzuweisen hat. Als Sachverständiger im engeren Sinne werden hingegen alle jene Personen bezeichnet, die haupt- oder nebenberuflich damit befasst sind, ihre Fach- und Spezialkenntnisse in Gutachten für Gerichte, Verwaltungsbehörden sowie Privatpersonen und Firmen einzubringen. Daher lässt sich der Sachverständige auch definieren „als eine natürliche Person, die auf einem abgrenzbaren Gebiet der Geistes- oder Naturwissenschaften, der Technik, der Wirtschaft, der Kunst oder in einem sonstigen Bereich über überdurchschnittliche Kenntnisse und Erfahrungen verfügt und diese besondere Sachkunde jedermann auf Anfrage persönlich, unabhängig, unparteilich und objektiv zur Verfügung stellt.“ 2. Wie wird man ein gerichtlicher Sachverständiger? Zum gerichtlichen Sachverständigen werden diejenigen Personen ernannt/bestimmt, die im Einzelfall als prozessual zulässiges Beweismittel (neben dem Zeugen- und Urkundenbeweis, dem Augenschein und der so genannten Parteieinvernahme) vom Richter zur Entscheidung eines gerichtlichen Verfahrens – sei es ein Zivil-, ein Straf-, ein Sozialgerichts-, ein Verwaltungsgerichts- oder ein Finanzoder Arbeitsgerichtsverfahren – herangezogen werden (können).
Der inkompetente medizinische Sachverständige und Gutachter
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3. Aufgaben und Tätigkeit des medizinischen Sachverständigen und Gutachters Bei den Aufgaben und der Tätigkeit eines medizinischen Sachverständigen und Gutachters geht es beispielsweise: – um die psychiatrische Begutachtung im Strafprozess hinsichtlich Schuld oder verminderte Schuldfähigkeit des Beschuldigten oder Angeklagten; – um rechtsmedizinische Gutachten über Verletzungsfolgen und Todesursachen; – um serologische Gutachten zur Blutalkohol- oder Blutgruppenbestimmung; – um Gutachten über die Geschäfts- oder Prozessfähigkeit im Zivilprozess oder im Entmündigungsverfahren; – um die Testierfähigkeit im Nachlassverfahren oder über die Berufs- und Erwerbsfähigkeit im sozialgerichtlichen Prozess; – um die Frage der Kausalität zwischen Operationsmisserfolg und eingetretenem Tod des Patienten, aber auch um die Frage fehlerhafter Aufklärung über Eingriffsrisiken im Arztstraf- oder -haftungsprozess.
Der Sachverständige hat primär die Aufgabe, seinem Auftraggeber, dem Gericht oder der Staatsanwaltschaft, das fehlende Fachwissen zur Beurteilung der für die Entscheidung des Prozesses maßgeblichen Beweisfrage zu erschließen. Er hat dem Gericht aber auch die Kenntnis von Erfahrungssätzen aus seinem speziellen Wissen zu vermitteln. Beispiel: Auskünfte über heute verfügbare diagnostische Hilfsmittel bei klinischer Beobachtung von Kreislaufstörungen; über statistische Häufigkeiten bestimmter Komplikationen; über persönliche Qualifikationserfordernisse und sachliche Voraussetzung für einen medizinischen Eingriff; über die Frage, ob eine allgemein verbindliche Methode der Behandlung, eine Kunstregel, existiert.
Der Sachverständige kann aber auch auf Grund seiner Sachkunde Tatsachen feststellen und diese dem Gericht übermitteln. Beispiel: Feststellung eines medizinischen Sachverhalts mittels einer Röntgen- oder Sonographieaufnahme zur Frage, ob nach einer Operation im Körper des Patienten etwas zurückgelassen wurde.
Der Sachverständige muss jedoch auch bestimmte Tatsachen auf Grund dieser Erfahrungssätze seines Wissens und unter Anwendung seiner besonderen Sachkunde beurteilen und aus der Tatsache bestimmte Schlussfolgerungen ziehen. Beispiele: Feststellung der Blutalkoholkonzentration; Auskünfte über Art und Ursachen einer Erkrankung oder darüber, ob die einer Person zugefügte Körperverletzung deren gegenwärtigen Zustand herbeigeführt und in welchem Maße und auf welche Dauer sie dessen Arbeitsfähigkeit herabgesetzt hat; Schlussfolgerung von einer Fehlintubation auf die Kausalität hinsichtlich eines Hypoxieschadens; Feststellung, ob auf Grund bestimmter und zu einem bestimmten Zeitpunkt vorliegender Krankheitssymptome eine Operation indiziert war oder nicht.
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Es kann jedoch auch sein, dass der Sachverständige, um seinen gerichtlichen Auftrag ordnungsgemäß erfüllen zu können, selbst erst seiner besonderen Fachkunde wegen die für die Gutachtenserstellung relevanten medizinischen Daten und Befunde ermitteln muss. Beispiel: Aufschlüsse darüber, ob eine allergische Reaktion vorliegt, oder der behauptete Schaden tatsächlich gegeben und eingetreten ist.
Rechtliche und sachliche Grundlage seiner Tätigkeit ist der an ihn erteilte Auftrag, den das Gericht so exakt wie möglich und so umfassend wie nötig zu formulieren hat. Der Sachverständige hat sich dann auf die gestellten konkreten Einzelfragen zu beschränken. Er ist – zumindest im Zivilprozess – an die Fragestellung und das Beweisthema des Beweisbeschlusses absolut gebunden. Da aber nicht selten dem Gericht die entsprechende Sachkunde fehlt, kann das dem Sachverständigen vorgegebene Beweisthema etwa Lücken oder Ungereimtheiten bzw. Unverständlichkeiten enthalten. In einem solchen Fall ist deshalb der Sachverständige verpflichtet, von sich aus das Gericht auf diese Mängel im Beweisthema aufmerksam zu machen und auf eine Ergänzung oder Richtigstellung desselben zu drängen. Ohne gerichtliche Erlaubnis ist es dem Sachverständigen jedoch verwehrt, von sich aus eigenmächtig die gerichtliche Fragestellung abzuwandeln und etwa das Beweisthema abzuändern. Auch eine Überschreitung der durch den Beweisbeschluss abgesteckten Grenzen seines Auftrags ist dem Sachverständigen untersagt. Eine gewisse „Ordnungsfunktion“ haben seit ihrer Einführung durch Art 1 Nr.25 des Rechtspflegevereinfachungsgesetzes (in Kraft seit 1. 4. 1991) die §§ 404a und 407a ZPO übernommen, die dem Richter die Leitung der Tätigkeit des Sachverständigen an die Hand geben, bzw. den Pflichtenkatalog des Sachverständigen regeln. 4. Der inkompetente Sachverständige und Gutachter Die Inkompetenz eines Sachverständigen oder Gutachters kann bekanntlich auf mannigfaltigen Tatsachen und Ursachen beruhen bzw. zurückzuführen sein und zu Tage treten. Hier seien nur einige wenige beispielhaft aufgelistet, ohne dass diese Aufzählung vollständig wäre: – – – – –
fehlende Sachkunde generell; fehlende Spezialkenntnisse im zum begutachtenden Fall; fehlende Fort- und Weiterbildung; Überschätzung eigenen Fachwissens; unzulängliches Wissen von regionalen Unterschieden etwa zwischen einem Praktiker in der „Provinz“ einerseits und dem High-Tech-Unternehmen Universitätsklinik andererseits; – verloren gegangenes Wissen um Abläufe in Praxen- und Krankenhäusern, weil der Gutachter zu lange schon emeritus bzw. in Pension ist; – Nachlassen der geistigen Kräfte und des Verstandes wegen fortschreitenden Alters;
Der inkompetente medizinische Sachverständige und Gutachter
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– nicht mehr Beherrschen der Technik oder das Nicht-mehr-Wissen um den medizinischen Standard zum Schadensereigniszeitpunkt, wenn etwa die Begutachtung erst fünf oder zehn Jahre später erfolgt; – fehlende eigenhändige Begutachtung und das blinde Vertrauen auf Mitarbeiter, die jedoch dem Standard eines gerichtlich bestellten Sachverständigen oder Gutachter noch nicht entsprechen; – Nichtakzeptieren und damit absichtliche Verschweigen bzw. Unterdrücken anders lautender, aber durchaus noch vertretbarer Ansichten/Meinungen/Bewertungen; – Nichtoffenbaren: von Freundschaft zu einer der Parteien; von Feindschaft zu einem der Verfahrensbeteiligten; dass der Sachverständige in Verwandtschaft oder Schwägerschaft zu einem der Parteien steht, ehemaliger Ehegatte oder Abkömmling in gerader Linie etc. pp. einer der Parteien ist; – Unterdrücken der Tatsache, dass zu einer der Parteien eine berufliche Verflechtung besteht, wie Promotion, Habilitation, Buch- oder Zeitschriftenbeiträge, sowie Kongressprojekte oder Forschungsvorhaben jeglicher Art, gemeinsam oder als Konkurrenten usw.
Es wäre hier nicht zielführend, noch weitere Beispiele zu bieten bzw. vorzutragen. 5. Beispiele aus der Praxis Hier sollen nunmehr aber doch noch einige Beispiele eines inkompetenten Sachverständigen oder Gutachters gegeben und diese mit Fakten aus meinem beruflichen Leben und aus Publikationen unterlegt werden. Inkompetent kann ein Gerichtsgutachter sein, wenn – das Gericht in seinem Beweisbeschluss den falschen Sachverständigen bestellt – so geschehen in München, als eine Zivilkammer beim Landgericht München I für die Begutachtung einer durch einen Verkehrsteilnehmer vom Rad gestoßenen Beamtin des Oberlandesgerichts München, die sich dabei im Kieferbereich schwer verletzte, ein kieferorthopädisches statt ein kieferchirurgischen Gutachten bestellte (hier liegt aber ganz eindeutig die Inkompetenz bei den Richterkollegen); – die gutachterliche Stellungnahme zur Frage, ob eine hysterektomierte Patientin, bei der es postoperativ zu Komplikationen kam, zu lange im Krankenhaus verweilte oder nicht, von einem Facharzt für Hals-, Nasen- und Ohrenerkrankungen stammt, der vor mehr als fünf Jahren seine eigene Praxis aufgegeben hat und inzwischen als Gutachter für den Medizinischen Dienst der Krankenkassen tätig ist; – die Begutachtung im Rahmen schwierigster gynäkologischer, urologischer und anästhesiologischer bzw. unfallchirurgischer Vorkommnisse (wohlgemerkt in einem Zivilverfahren) durch einen Gerichtsmediziner vorgenommen wird – so etwas kann dann zu heillos falschen und inkompetenten Ergebnissen im Urteil führen; – die gutachterliche Stellungnahme zu klinikorganisatorischen Fragen und zum Einsatz sich ständig erneuernder bzw. verbesserter Medizingerätschaften von einem ehemaligen, inzwischen über 75-jährigen Professors der Frauenheilkunde stammt, der bereits vor mehr als zehn Jahren seine Klinik verlassen hatte.
Zur Inkompetenz führt aber auch der nicht zu selten noch immer anzutreffende skandalöse Umstand, dass der seiner wissenschaftlichen Reputation oder gerade seines Spezialwissens wegen vom Gericht in concreto ausgewählte Universitäts-
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professor oder Klinikchef die Patientin nicht einmal selbst untersucht, und dies im Gutachten auch nicht aufscheint; der vermeintliche Gutachter lediglich sein „Gutachten“ mit dem Satz „garniert“ und eigenhändig unterschreibt: „Gelesen und einverstanden“. Zur Inkompetenz führt jedoch auch die Tatsache, wenn der Sachverständige keine wissenschaftlichen Expertisen und Veröffentlichungen auf diesem vom Gericht „abgefragten“ Spezialbereich hat und er dies in seinem Gutachten auch nicht zu erkennen gibt. Wenn man weiß, dass es allein z.B. im Fach Gynäkologie 18 verschiedene wissenschaftliche Unterabteilungen und Bereiche gibt, dann kann dies nur zu „Verwerfungen“ im Gutachten eines inkompetenten Sachverständigen führen; oder aber, was jedoch nicht zur Inkompetenz zählt, wie sie hier verstanden wird, hingegen jedoch für den Ausgang eines Gerichtsverfahrens (Haftungsprozess) von ausschlaggebender Bedeutung sein kann: Zitiert sei hier insoweit die wahre Begebenheit, die der frühere Chefarzt einer Frauenklinik, Prof. Bräutigam, in der gynäkologischen praxis 1995, S. 611 bis 613 mit der Headline „Vom Saulus zum Paulus“ überschrieb, in dem er berichtete, dass der renommierte Gynäkologe Prof. Fritz Beller dem Senatsvorsitzenden beim OLG Koblenz in einem Schadensersatzprozess gegen einen Gynäkologen gestehen, bekennen oder offenbaren musste, dass er sich jahrelang bei der Bewertung geburtshilflicher Behandlungsfehler geirrt habe und dass er nunmehr der Ansicht sei, dass man von CTGKurven abgeleitete Unregelmäßigkeiten kindlicher Herztöne nicht immer – wie er vormals meinte –, sondern nur mehr selten mit kindlichen Hirnschäden in Verbindung bringen dürfte/könnte/sollte. 6. Wie wird man einen inkompetenten Sachverständigen und Gutachter los? Es ist in der Tat nicht leicht und einfach, einen inkompetenten gerichtlich bestellten Sachverständigen und Gutachter z.B. aus einem Zivil- oder Strafverfahren „hinausfeuern“ zu können. Es bieten sich jedoch folgende Maßnahmen an, dass ein Gutachter nicht oder zumindest nicht in Teilen zur „Säule“ der Rechtsfindung des/der Richter genommen wird. Man kann als beklagter Arzt selbst – besser aber über den eigenen Anwalt – gegen die Thesen und das erarbeitete Ergebnis des Sachverständigen mit substantieller Kritik und Zitaten aus wissenschaftlichen Veröffentlichungen vorgehen. Der Prozessbevollmächtigte des beklagten Arztes kann aber auch ein zu anderen Ergebnissen kommendes medizinisch-wissenschaftliches Gutachten vorlegen, das die Schlussfolgerung des gerichtlich bestellten Gutachters „zerpflückt“ und ad absurdum führt. In einem solchen Fall muss der Richter die beiden Gutachter gemäß § 411 Abs. 3 ZPO zur mündlichen Erläuterung ihrer Gutachten laden und gegenüberstellen; alle Verfahrensbeteiligten können diese beiden Gutachter dann ausreichend befragen, bis die Differenzen geklärt und ausgeräumt sind. Bleiben jedoch letztlich noch immer Zweifel, wird der Richter ein weiteres (nicht ein Ober-) Gutachten erholen und diesen Sachverständigen bitten, zu beiden bereits vorliegenden Gutachten Stellung zu beziehen.
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Fühlt sich der beklagte Arzt auch von diesem quasi „Obergutachter“ zu Unrecht „vorverurteilt“, bleibt ihm in aller Regel nur mehr das Rechtsmittel der Berufung, damit die Berufungskammer oder der Berufungssenat sich eines weiteren Sachverständigen bedient. Diese Berufung ist jedoch seit 1. 1. 2002 eingeschränkt und kann nur noch darauf gestützt werden (§ 513 ZPO n.F.), dass die Erstentscheidung auf einer Rechtsverletzung im Sinne von § 546 ZPO beruht, oder dass die nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung gerechtfertigt hätten. Und das Rechtsmittel der Revision gegen OLG-Berufungs-Entscheidungen hat bekanntlich seit jenem Jahr auch eine gravierende Veränderung erfahren. Es gibt nur noch die so genannte Zulassungsrevision, wie sie in § 543 ZPO n.F. vorgesehen ist. Dieses Rechtsmittel dürfte vom BGH aber restriktiv gehandhabt werden. Was bleibt dann, so fragt man sich? Die Antwort lautet: Kaum etwas, denn die Ablehnung eines Sachverständigen (§ 406 ZPO) wird von den Gerichten „engherzig“ praktiziert und ein tatsächlich oder auch nur vermeintlich falsch votierender Gutachter ist in der Regel nicht ablehnbar. Abgelehnt werden können Gutachter nur, wenn – so genannte absolute Ablehnungsgründe (i.S.v. § 41 ZPO) vorliegen; z. B. ist der Sachverständige in einer Sache selbst Partei, oder es ist eine Sache seines (bzw. ehemaligen) Ehegatten, oder er ist mit einer der Prozessparteien in gerader Linie verwandt oder verschwägert bzw. in der Seitenlinie bis zum dritten Grad verwandt; – relative Ablehnungsgründe gegeben sind (§ 42 ZPO): d. h. Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit.
Eine Ablehnung wegen der Besorgnis der Befangenheit findet mit Erfolg aber nur dann statt, wenn ein Grund in der Person des Sachverständigen gegeben ist, der Misstrauen in seine Unparteilichkeit rechtfertigen würde. Derartige Ablehnungsgründe werden von der Rechtsprechung seit Jahren äußerst restriktiv befürwortet. Gründe hierfür können sein: – – – – – – –
verwandtschaftliche Beziehungen im weiteren Sinne; berufliche Verbindungen; freundschaftliche Beziehungen; Feindschaften; wirtschaftliche und/oder wissenschaftliche Konkurrenz; unbesonnene Erklärungen über den vermutlichen Prozessausgang; einseitige Untersuchungs- und Materialbeschaffung von einer Partei, ohne die andere davon in Kenntnis zu setzen; – unbedachte Sympathie- oder Antipathieäußerung einer der Parteien gegenüber; – unsachliche und/oder abfällige Bemerkung im schriftlichen Gutachten.
III. Schlussbetrachtung Einen inkompetenten Gutachter oder Sachverständigen „los zu werden“, gestaltet sich nicht einfach.
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Gerhard H. Schlund
Meine Thesen zum Verhältnis Richter und Sachverständiger sind folgende: Richter und medizinische Sachverständige sind keine Antipoden; sie sitzen vielmehr „im gleichen Schiff“, dessen „Kapitän“ aber der Richter bleibt. D. h., der ärztliche Gutachter ist und bleibt Gehilfe des Richters und ist kein „Richter im weißen Kittel“, er schlüpft auch nicht im Strafverfahren in die Robe eines „medizinischen Staatsanwalts“. Der Richter darf nicht so ohne weiteres seine eigene Auffassung an die Stelle des Gutachters setzen, denn die Gutachter haben ein besonderes (Spezial-)Wissen, verfügen auf ihrem Fachgebiet über eine große Erfahrung und können damit ein weit zuverlässigeres Bild als jeder Laie, auch wenn er Richter ist, abgeben. Das soll aber nicht heißen, dass sich der Richter nicht auch seine eigene Meinung und Rechtsauffassung zu den medizinischen Sachfragen bilden darf und muss. Jeder Richter sollte zudem wissen: Folgt er allzu bereitwillig dem Sachverständigen, droht ihm die Aufhebung seines Urteils durch die Oberinstanz. Widersetzt er sich hingegen dem Erkenntnis des Experten, wird ihm u.U. die höhere Kollegenschaft vorwerfen, er habe in diesem Fall seine eigene Fachkunde überschätzt. Das Mittelmaß zu finden, verlangt vom Richter hier eine gehörige Portion an Fingerspitzengefühl, Berufserfahrung, Hinzulern-Motivation und auch richterliche Bescheidenheit. Der medizinische Sachverständige muss sich hüten vor fachlicher Eitelkeit, unzulässiger Delegation der Verantwortung, unzulässiger Amtsermittlung, Überforderung richterlichen Verständnisses, unzulässige Ausflüchte in rechtliche Fragen und vor allem vor einem irreführenden Gutachten. Dies liegt auf alle Fälle dann vor, wenn sich die Zusammenfassung nicht mit den davor stehenden Ausführungen deckt. Literatur Gerhard H. Schlund, in: Zentralblatt für Gynäkologie 2002, S. 249-253, Gerhard H. Schlund, in: Alexander Ehlers (Hrsg.), Medizinisches Gutachten im Prozess, 3. Aufl., München 2005, S. 7-49.
Organisationsformen des medizinischen Sachverstandes im Transplantationsrecht Eberhard Schmidt-Aßmann
A. Demokratie, Selbstverwaltung und Sachverständigenberatung: Verfassungsrechtliche Maßstäbe Entscheidungen im Transplantationswesen sind in besonders hohem Maße Verteilungsentscheidungen. Sie müssen zwischen herausragend wichtigen Rechtsgütern einen Ausgleich finden. Das Transplantationsgesetz von 1997 hat mit seinen Grundentscheidungen für eine erweiterte Zustimmungslösung und das HirntodKonzept in wichtigen Punkten Rechtssicherheit geschaffen; doch anderes, z. B. die Frage der Verteilungskriterien für Organspenden, ist offen geblieben1. Für die entsprechenden Entscheidungen sind Fachkunde, Objektivität und Transparenz eine Grundvoraussetzung. So wichtig es ist, die ärztliche Verantwortung und Professionalität in den Mittelpunkt zu rücken, so entschieden sollte aber auch herausgestellt werden, daß beide ihrer Absicherung im Recht und durch rechtlich geordnete Verfahren bedürfen. Adolf Laufs hat in seinen arztrechtlichen Schriften auf dieses von Gegenseitigkeiten und Spannungen geprägte Verhältnis zwischen dem Arztberuf und dem staatlichen Recht immer wieder aufmerksam gemacht. „Die Medizin bedarf der rechtlichen Kontrolle, für deren Umfang es keine Zauberformel gibt“2. Um diese Gegenseitigkeit geht es auch uns, wenn wir im folgenden nach der Organisation medizinischen Sachverstandes im Transplantationsrecht fragen. Organisationsformen der Staats- und Selbstverwaltung sollen den ärztlichen Entscheidungen einen Rahmen und Möglichkeiten der Selbstvergewisserung und Selbstkontrolle bieten. Umgekehrt ist jede Entscheidung öffentlicher Stellen in diesem so schwierigen Bereich auf die Einbeziehung medizinischen Sachverstandes angewiesen. Den Ausgangspunkt der weiteren Untersuchungen bilden Überlegungen zur Rolle des parlamentarischen Gesetzes (I). Näher zu untersuchen sind sodann die Anforderungen der demokratischen Legitimation für die berufsständische Selbstverwaltung und für pluralistische Sachverständigengremien (II). Schließlich soll nach verfassungsrechtlichen Vorgaben für die Organisationen gesellschaftlicher Selbstregulierung gefragt werden, die im Transplantationswesen jedenfalls anfangs eine große Bedeutung hatten (III). 1
2
So Adolf Laufs, Arzt, Patient und Recht am Ende des Jahrhunderts, in: NJW 1999, S. 1758, 1765, in seiner Bewertung des TPG. Adolf Laufs, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, § 2 Rdnr. 13.
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Eberhard Schmidt-Aßmann
I. Die Rolle des parlamentarischen Gesetzes Für den demokratischen Rechtsstaat ist das parlamentarische Gesetz das wichtigste Gestaltungsmittel. Rechtsklarheit und Vorhersehbarkeit sollen sich im Gesetz mit den Ansprüchen demokratischer Entscheidungsfindung verbinden3. Gesetze sollen die Konkurrenz und die Kollision privater Interessen lösen und der freiheitlichen Entfaltung den erforderlichen Rahmen setzen. Die erfolgte gesetzliche Ordnung der zunächst frei entwickelten Transplantationspraxis war daher ein richtiger Schritt. 1. Der Wesentlichkeitsgedanke als Richtschnur Systematisch ist die herausragende Rolle des Gesetzes durch den Wesentlichkeitsgedanken abgesichert. Das Bundesverfassungsgericht hat ihn seit den 70er Jahren immer wieder herausgearbeitet. Gelegentlich hat es in jüngerer Zeit zwar den Anschein, das Gericht wolle sich von ihm wieder trennen4. Aber dann bricht er erneut durch – nicht als festes Dogma, aber doch als Orientierungslinie5. Die unterschiedlichen Ansätze der Lehren vom Gesetzesvorbehalt finden in dieser Doktrin ihren zusammenführenden Bezugspunkt: Das Rechtsstaatsprinzip und das Demokratieprinzip verpflichten den Gesetzgeber, die wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen und sie nicht anderen Instanzen zu überlassen – diese Instanzen mögen staatliche Behörden oder private Organisationen sein6. Der Verdeutlichung bedarf diese Grundlinie an zwei Stellen: Zum einen bereitet es Schwierigkeiten zu bestimmen, was „wesentlich“ ist. Die Tatsache, daß eine Frage politisch umstritten ist, kann für sich genommen dieses Kriterium noch nicht ausmachen7. Die verfassungsrechtlichen Wertungskriterien, die eine Angelegenheit als wesentlich einzustufen gestatten, sind „den tragenden Prinzipien des Grundgesetzes, insbesondere den dort verbürgten Grundrechten zu entnehmen“8. Die Umgestaltung des älteren Transplantationswesens und die Einführung einer Genehmigungspflicht für die Vornahme von Organtransplantationen bedurfte deshalb selbstverständlich einer gesetzlichen Grundlage (§ 9 Abs. 1 TPG)9. Unterstrichen werden muß zum zweiten, daß die Wesentlichkeitslehre nicht das Ziel verfolgt, „einen Gewaltenmonismus in Form eines umfassenden Parlamentsvorbehalts“ zu rechtfertigen10. Das Grundgesetz verfolgt mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung eine Unterscheidung und Trennung der Gewalten, die eigenstän3
4 5 6 7 8
9 10
Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl., Berlin, Heidelberg 2004, S. 183 ff. Vgl. z. B. BVerfGE 98, S. 218, 251. BVerfGE 108, S. 282, 311: „Parlamentsvorbehalt“. BVerfGE 34, S. 165, 192 f.; 47, S. 46, 78 f. BVerfGE 49, S. 89, 126; 98, S. 218, 251. So BVerfGE 98, S. 218, 251; 108, S. 282, 312; ähnlich bereits 40, S. 237, 248 ff.; 95, S. 267, 307 f. Vgl. dazu BVerwG, MedR 2002, S. 586 ff. BVerfGE 68, S. 1, 86 f.; 98, S. 218, 252.
Organisationsformen des medizinischen Sachverstandes im Transplantationsrecht
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dige Funktionsträger gerade voraussetzen und folglich nicht in ein Entscheidungsmonopol des Parlaments ausmünden dürfen. Gewaltenteilung zielt zudem darauf, daß staatliche Entscheidungen möglichst richtig, das heißt von den Organen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen11. Das muß nicht notwendig stets und in jeder Hinsicht das Parlament sein – oder präziser formuliert: Unter Umständen werden innerhalb eines Regelungsbereichs vom Parlament nur einige Fixpunkte festgelegt werden müssen, während die Konkretisierung anderen Verfahren überlassen werden kann, die dafür eine besondere Eignung und Qualität aufweisen. Wann und in welchem Umfang es einer Regelung durch parlamentarisches Gesetz bedarf, „läßt sich nur im Blick auf den jeweiligen Sachbereich und auf die Eigenart des betroffenen Regelungsgegenstandes beurteilen“12. 2. Die Fixierung materieller Ziele und Verteilungskriterien durch Gesetz Inwieweit sollte der parlamentarische Gesetzgeber selbst Gesundheitsziele, Qualitätsstandards und Leistungsgrenzen formulieren? Sollte er z. B. für die Vergabe knapper Organe in der Transplantationsmedizin feste Altersgrenzen festlegen? In der Argumentationslinie der Wesentlichkeitsdoktrin läge das13. Wo sind Entscheidungen von so grundlegender Bedeutung für den einzelnen Menschen und für die staatliche Gemeinschaft zu treffen wie im Gesundheitswesen? Auf der anderen Seite liegen mehrere Einwände gegen eine solche Entwicklung nahe: Bezweifeln ließe sich schon die Kompetenz des Parlaments zur Regelung so komplizierter naturwissenschaftlicher Fragen. Bezweifeln könnte man außerdem, ob die parlamentarische Gesetzgebung flexibel genug ist, den schnellen Wandel der wissenschaftlichen Erkenntnisse und die Fortschritte der einschlägigen Techniken zu verarbeiten. Auf die spezifischen Anforderungen eines „dynamischen Grundrechtsschutzes“ hatte das Bundesverfassungsgericht schon 1978 in seiner KalkarEntscheidung hingewiesen: „Die gesetzliche Fixierung eines bestimmten Sicherheitsstandards durch die Aufstellung starrer Regeln würde demgegenüber, wenn sie sich überhaupt bewerkstelligen ließe, die technische Weiterentwicklung wie die ihr jeweils angemessene Sicherung der Grundrechte eher hemmen als fördern. Sie wäre ein Rückschritt auf Kosten der Sicherheit“14. Es sprechen einige gute Gründe dafür, diesen für das technische Sicherheitsrecht formulierten Einwänden gegen eine Vergesetzlichung materieller Standards auch für das Transplantationswesen Bedeutung beizumessen. Wahrscheinlich ließe sich hier sogar mit noch mehr Überzeugungskraft als dort auf das hohe Maß an persönlicher Betroffenheit und Emotionalität hinweisen, das durch gesundheitspo11 12 13
14
BVerfGE 68, S. 1, 86 f. BVerfGE 98, S. 218, 251. Thomas Gutmann, Bijan Fateh-Moghadam, Rechtsfragen der Organverteilung, in: NJW 2002, S. 3365 ff. BVerfGE 49, S. 89, 137.
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litische Entscheidungen ausgelöst wird und das es – so ließe sich fortsetzen – nicht opportun erscheinen läßt, solche Entscheidungen vor das Forum einer kritischaufgeregten Öffentlichkeit zu ziehen. Gerade Transplantationen sind es, die diese bohrende Frage nach dem möglichen Maß an Transparenz und Öffentlichkeit ausdrücklich thematisiert, indem den expliziten Verteilungsentscheidungen die impliziten gegenübergestellt werden, die hinter einem „Grauschleier“ von medizinischen Sachnotwendigkeiten getroffen und von den Beteiligten als naturwissenschaftlich-technisch unvermeidbar akzeptiert werden. Muß das Explizitmachen solcher Entscheidungen, wie es mit einer Vergesetzlichung notwendig verbunden wäre, die gesellschaftlichen Konflikte nicht auf ein ebenso unnötiges wie unerträgliches Maß steigern? Auf der anderen Seite bietet die gesundheitsrechtliche Gesetzgebung der letzten Jahre Beispiele dafür, wie gesellschaftlich sehr kontroverse Fragen durch materielle parlamentarische Entscheidung beantwortet worden sind. Der beste Beleg ist das Transplantationsgesetz selbst. Es hat die sehr streitige Frage des Todeszeitpunkts für Organentnahmen mit dem Hirntodkriterium substantiell beantwortet (§ 3 Abs. 2 Nr. 2). Ähnliches gilt für die sog. erweiterte Zustimmungslösung zur Organentnahme nach § 4 TPG. Die Auseinandersetzungen sind in der Öffentlichkeit und in den parlamentarischen Beratungen mit großem Engagement und beachtlichem Sachverstand geführt worden15. Selbst wenn nicht alle ethisch fundierten Einwände ausgeräumt sind, so ist mit dem Gesetz doch ein erhebliches Maß an Rechtssicherheit erreicht worden. Der Einwand, das Parlament sei nicht hinreichend sachverständig oder einem zu großen Druck der Öffentlichkeit ausgesetzt, kann nach diesen Erfahrungen folglich nicht bestätigt werden. Erst recht kann dieser Einwand verfassungsrechtlich nicht anerkannt werden. Das Parlament besitzt genügend Möglichkeiten, sich Sachverständigenwissen durch Enquêtekommissionen, Gutachten und Anhörungen zu beschaffen. 3. Die gesetzliche Festlegung von Verfahrens- und Organisationsstrukturen Diese positiven Beispiele substantieller gesundheitspolitischer Gesetzgebung betreffen freilich Grundpositionen, die einem schnellen Wandel medizinischer Kenntnisse oder gesellschaftlicher Auffassungen nicht unterworfen sind. Für andere Fragen, die sich im Zusammenhang mit der Festlegung von Gesundheitszielen, Standards und Zuteilungskriterien ergeben und für die ebenfalls an eine gesetzgeberische Fixierung gedacht werden könnte, gilt das nicht in gleichem Maße. Über Evidenzen für veranlaßte Interventionen oder über Risiken und Alternativen läßt sich verantwortlich nur urteilen, wenn man fortlaufend neu gewonnene Erkenntnisse einbezieht. Jede gesetzliche Fixierung hieße hier Stillstand und alsbald Rückschritt.
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Vgl. Otfried Seewald, Ein Organtransplantationsgesetz im pluralistischen Verfassungsstaat, in: VerwArch 1997, S. 199 ff.; Michael Anderheiden, Transplantationsmedizin und Verfassung, in: Der Staat 2000, S. 509 ff.
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Auch hier ist aber der Wesentlichkeitsgedanke hilfreich: Er verlangt nämlich nicht, daß alle wesentlichen Entscheidungen umfassend gesetzlich getroffen werden. Er ist zudem nicht auf materielle Regelungstechniken festgelegt, sondern bezieht die Möglichkeiten der sog. Kontextsteuerung ein. In der Rechtsprechung ist das vor allem für die gesetzgeberische Kollisionslösung im Bereich der Rundfunkfreiheit herausgearbeitet worden16: „Zu der positiven Ordnung des Rundfunkwesens, die dem Gesetzgeber durch Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG aufgegeben ist, gehören auch geeignete organisatorische Vorkehrungen, die im Rahmen des zugrunde gelegten Ordnungsmodells sicherstellen, daß der Rundfunk nicht einer oder einzelnen gesellschaftlichen Gruppen ausgeliefert wird und daß die in Betracht kommenden Kräfte im Gesamtangebot zu Wort kommen können“17. Bei der Ausgestaltung der Verfahrens- und Organisationsstrukturen hat der Gesetzgeber einen erheblichen Spielraum, der jedoch nicht erst an der Willkürgrenze des Art. 3 Abs. 1 GG endet18, sondern an plausiblen Organisationsmustern und am Maßstab der Regelungskonsistenz ausgerichtet sein muß. Verlangt wird, daß der Gesetzgeber das von ihm gewählte Kriterium, z. B. für die zu beteiligenden Interessengruppen, „gleichmäßig anwendet und nicht ohne sachlichen Grund verläßt“19. Die Ausführungen lassen sich auf unseren Untersuchungsgegenstand übertragen20. Die hohe Abhängigkeit staatlicher Entscheidungen von der Expertise der medizinischen Wissenschaft legt es nahe, die einschlägigen Entscheidungsverfahren so zu organisieren, daß diese Expertise hinreichend zum Tragen kommen kann. Der parlamentarische Gesetzgeber öffnet staatlich zu verantwortende Entscheidungen so der fortlaufenden Mitgestaltung, Überprüfung und Anpassung durch den medizinischen Sachverstand. Korrespondierend hat er dafür zu sogen, daß das Expertenwissen in transparenten und fairen Verfahren gewonnen wird. Sachverständigenberatung ist nämlich nur selten ein Vorgang rein naturwissenschaftlicher oder technischer Rationalität21. Auch das, was medizinisch notwendig erscheint, ist dies jeweils nur in einem bestimmten Bezugsrahmen, der (mehr oder weniger eingestanden) durch Konventionen gesetzt ist. Das alles mindert nicht die Bedeutung von Sachverstand. Aber es veranlaßt dazu, ihn in Organisationen und Verfahren so einzubringen, daß seine eigenen Bedingtheiten bewußt gehalten werden und Alternativen formulierbar bleiben22. Wird dieses beachtet, so ist die Einbeziehung nicht-staatlichen Sachverstandes in staatliche Entscheidungsprozesse kein Fremdkörper, sondern entspricht dem fachlichen Zuschnitt des Regelungsbereichs. Vorrangige Aufgabe des Gesetzgebers ist es, die Kompetenzen, die Zu16 17 18 19 20
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Vgl. BVerfGE 12, S. 205, 261 ff.; 73, S. 118, 171; 83, S. 238, 332 ff.; 90, S. 60, 98 ff. BVerfGE 83, S. 238, 332 f.; ähnlich bereits zuvor 57, S. 295, 325. BVerfGE 83, S, 238, 334. BVerfGE 83, S. 238, 337. Vgl. Ray Junghanns, Verteilungsgerechtigkeit in der Transplantationsmedizin, Frankfurt/M. u. a. 2001, S. 186 ff. Vgl. Ralf Kleindiek, Wissenschaft und Freiheit in der Risikogesellschaft, Berlin 1998, bes. S. 118 ff. Dazu grundlegend Gralf-Peter Calliess, Prozedurales Recht, Baden-Baden 1999, bes. S. 181 ff.
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sammensetzung und das Verfahren der beteiligten Gremien zu regeln und für die erforderliche Neutralität und Unabhängigkeit der Mitglieder gesetzlich Sorge zu tragen23. II. Demokratische Legitimation und angemessene Interessenrepräsentation An diesem Punkte trifft sich die Wesentlichkeitslehre mit der Lehre von der demokratischen Legitimation24. Legitimation fragt nach der Rechtfertigung von Herrschaft. Die Demokratie antwortet darauf mit dem Konzept, die Herrschaftsunterworfenen an der Konstituierung und Ausübung von Herrschaft mitwirken zu lassen. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus. Dies ist die Kernaussage, die das Grundgesetz in Art. 20 Abs. 2 zu diesem Thema trifft. Die Grundlage aller demokratischen Legitimation ist die Legitimation durch das Volk als ein nach allgemeinen Merkmalen bestimmtes, gebietskörperschaftlich verfasstes Legitimationssubjekt25. Inwieweit daneben Selbstverwaltungskörperschaften wie Ärztekammern und andere berufsständische Organisationen eine eigene Legitimation vermitteln können, ist gesondert zu untersuchen (2). Besonderheiten sind für Sachverständigengremien zu beachten (3). 1. Demokratische Legitimation des Art. 20 Abs. 2 GG Die demokratische Legitimation des Art. 20 Abs. 2 GG soll sicherstellen, daß die Akte der Staatsgewalt sich auf den Willen des Volkes zurückführen lassen und ihm gegenüber verantwortet werden26. Als Ausübung von Staatsgewalt gilt dabei jedes amtliche Handeln mit Entscheidungscharakter. Mitentscheidungsrechte, die Wahrnehmung von Vorschlagsrechten und die Erteilung von Weisungen sind eingeschlossen. Dagegen gehören rein konsultative und vorbereitende Tätigkeiten nicht dazu27. Im einzelnen werden die Formen der sachlich-inhaltlichen und der personell-organisatorischen Legitimation unterschieden28. Die sachlich-inhaltliche Legitimation soll den Einfluß des demokratisch legitimierten Parlaments auf die jeweiligen Fachpolitiken gewährleisten. Sie wird vor allem durch das parlamentarische Gesetz vermittelt, das der Exekutive mit seinen einzelnen Tatbestandsmerkmalen Entscheidungsprogramme an die Hand gibt, die sie zu verwirklichen hat. Das setzt ein hinreichendes Maß gesetzlicher Bestimmt23 24
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Vgl. BVerfGE 83, S. 130, 151 ff.; 90, S. 60, 103. Zum folgenden Eberhard Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen und Legitimationsfragen im öffentlichen Gesundheitswesen, Berlin 2001, S. 64 ff. BVerfGE 107, S. 59, 87: „Gesamtheit der Bürger als Staatsvolk“. BVerfGE 83, S. 60, 72. Horst Dreier, in: Horst Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 2, Tübingen 1998, Art. 20 (Demokratie) Rdnr. 79 ff. mit weiteren Nachweisen. Vgl. BVerfGE 83, S. 60, 72 f.; Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, S. 90 ff. mit weiteren Nachweisen.
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heit voraus. Wo gesetzgeberisch mit unbestimmten Gesetzesbegriffen und mit Generalklauseln gearbeitet werden muß, läßt die sachlich-inhaltliche Legitimation nach. Trotzdem ist verfassungsrechtlich kein Höchstmaß an Gesetzesbestimmtheit geboten. Um so wichtiger ist es, daß solchenfalles durch die Schaffung entsprechender Entscheidungsstrukturen ein möglichst sachgerechter Vollzug der Gesetzesprogramme sichergestellt wird. Die zweite Form demokratischer Legitimation ist die personell-organisatorische Legitimation. Sie zielt auf Rückbindung der tätigen Amtswalter an das Volk. Unmittelbare Volkswahl ist dabei nicht notwendig vorausgesetzt. In der Regel genügt „ein mittelbarer Legitimationszusammenhang, der durch eine ununterbrochene Legitimationskette vom Volk über die von diesem gewählte Vertretung zu den mit staatlichen Aufgaben betrauten Organen und Amtswaltern hergestellt wird“29. Sie ist besonders an den Verhältnissen der hierarchisch organisierten Behördenverwaltung ausgerichtet. Hier ist die ununterbrochene Legitimationskette durch die entsprechenden Ernennungsakte besonders leicht einsichtig zu machen. Auf Kollegialgremien lassen sich diese Anforderungen nicht unbesehen übertragen30. Das gilt insbesondere dort, wo die Mitglieder solcher Gremien sich ihrerseits auf unterschiedliche Legitimationssubjekte stützen. Die herrschende Ansicht will dem dadurch Rechnung tragen, daß sie gemäß dem „Prinzip der doppelten Mehrheit“ verlangt, daß die Mehrheit der Gremiumsmitglieder demokratisch durch das Volk legitimiert sein muß und die konkrete Entscheidung wiederum von der Mehrheit der solchermaßen Legitimierten getragen sein muß31. 2. Die Legitimation der berufsständischen Selbstverwaltung: Ärztekammern Das Erfordernis demokratischer Legitimation schließt andere Legitimationsformen nicht schlechthin aus. Das gilt z. B. für die Träger der berufsständischen Selbstverwaltung, im Gesundheitswesen für die mit wichtigen Aufgaben betrauten Kammern der Heilberufe. Sie haben „eine entscheidende Aufgabe durch Gewährleistung, Weiterentwicklung und Überwachung der professionellen Standards. Die Ärzteschaft wird ihre berufsständische Autonomie in dem Maße behaupten, in dem sie das der Gesellschaft gewährte Versprechen effektiver Selbstregulierung und -kontrolle tatsächlich einlöst.“32 Systematisch ist sie Teil der sog. funktionalen
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BVerfGE 83, S. 60, 72 f. Kritik am Schematismus der Kettenvorstellung bei Brun-Otto Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis Bd. 5 (1994), S. 305 ff. Dazu Thomas Groß, Das Kollegialprinzip in der Verwaltungsorganisation, Tübingen 1999, S. 163 ff. und 233 ff. BVerfGE 93, S. 37, 72; BVerwGE 106, S. 64, 84. So Adolf Laufs, Zur Entwicklung des Arztberufes im Spiegel des Rechts, in: HeinzPeter Mansel, Thomas Pfeiffer, Herbert Kronke, Christian Kohler, Rainer Hausmann (Hrsg.), Festschrift für Erik Jayme, München 2004, S. 1501, 1509.
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Selbstverwaltung33, die das demokratische Prinzip ergänzen und verstärken soll. Das Bundesverfassungsgericht hat das in der Entscheidung vom 5. 12. 2002 klargestellt34. Der Gesetzgeber dürfe – so heißt es – ein wirksames Mitspracherecht der Betroffenen schaffen und verwaltungsexternen Sachverstand aktivieren, einen sachgerechten Interessenausgleich erleichtern und so dazu beitragen, daß die von ihm beschlossenen Zwecke und Ziele effektiver erreicht werden. a) Notwendigkeit demokratischer Legitimation. Schon um der öffentlichrechtlichen Attribute ihrer Herrschaft willen bedürfen funktionale Selbstverwaltungsträger allerdings auf jeden Fall einer demokratischen Legitimation im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG. Die Verbandsmitglieder sind nicht „Volk“ und können daher demokratische Legitimation im Sinne dieser Bestimmung nicht vermitteln. Vielmehr wird letztere allein dadurch gewährleistet, daß die entsprechenden Körperschaften durch parlamentarisches Gesetz oder auf der Grundlage eines solchen Gesetzes durch staatliche Entscheidung gegründet worden sind, daß sie einer staatlichen Aufsicht unterstehen und an die staatlichen Gesetze gebunden sind, die ihrem Handeln einen äußeren Rahmen und im Regelfall auch gewisse materielle Determinanten vorgeben. Freilich kann nicht übersehen werden, daß die sachlichinhaltliche Legitimation durch das staatliche Gesetz lückenhaft bleibt, ja bewußt lückenhaft angelegt ist, insofern die Gesetze einen Selbstverwaltungsraum gerade belassen sollen. Ebenso ist unübersehbar, daß die in der funktionalen Selbstverwaltung tätigen Amtsträger keine den Amtsträgern der Staatsverwaltung entsprechende personell-organisatorische Legitimation im Sinne des zu Art. 20 Abs. 2 GG entwickelten Modells besitzen. Sie leiten ihren Amtsstatus nicht aus einer Kette von Ernennungsakten her, die letztlich auf das Volk zurückführt. b) Autonome Legitimation. Neben der an Art. 20 Abs. 2 GG ausgerichteten Legitimation verfügt die funktionale Selbstverwaltung aber über einen zweiten, einen eigenen Legitimationsmechanismus, der regelmäßig auf Wahl seitens der Mitglieder der Körperschaften zurückgeht. Ihr Legitimationskonzept ist eine duale Ordnung, die zu zwei unterschiedlichen Legitimationssubjekten führt, dem Volk einerseits und den Mitgliedern der Körperschaft andererseits. In der Ausgestaltung der Mitwirkungsrechte folgt die autonome Legitimation ihren eigenen Regeln, die nach den unterschiedlichen Funktionen universitärer, berufsbezogener oder sozialer Selbstverwaltung variieren. Die Stimmengewichtung braucht nicht auf Egalität gegründet zu sein. Auf jeden Fall aber müssen die Regelungen über die Organisa-
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Umfassend dazu Winfried Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, Tübingen 1997, S. 82 ff. BVerfGE 107, S. 59, 91 ff.; krit. dazu aber Matthias Jestaedt, Funktionale Selbstverwaltung und Demokratieprinzip im Lichte der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Winfried Kluth (Hrsg.), Jahrbuch des Kammerrechts, Baden-Baden 2003, S. 9 ff.
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tionsstruktur sicherstellen, daß die betroffenen Interessen angemessen berücksichtigt und nicht einzelne Interessen bevorzugt werden35. c) Beachtung des „Korrespondenzgebots“. Besondere Schwierigkeiten entstehen dort, wo Selbstverwaltungsträger Entscheidungen treffen, die sich nicht allein auf ihre Mitglieder beziehen, sondern in einer mehr als marginalen Weise auf Dritte übergreifen, die in den Verbandsorganen nicht vertreten sind. Hier ist ein „Korrespondenzgebot“ beachtlich, demgemäß die Entscheidungswirkungen im wesentlichen auf den Kreis der legitimationsstiftenden Mitglieder beschränkt bleiben müssen36. Soll der Selbstverwaltungsträger zu darüber hinausgreifenden Akten rechtlich befugt sein, so kann eine auf die Mitglieder zurückgeführte Legitimation nicht genügen. Entweder muß solchenfalles die Gremienzusammensetzung geändert und für eine angemessene Repräsentanz aller Betroffenen gesorgt werden. Die Einräumung bloßer Anhörungsrechte genügt dazu nicht. Wo dieser Weg einer Erweiterung der Gremienstruktur nicht beschritten wird oder rechtlich nicht beschritten werden kann, weil die Interessen zu disparat sind, sind Träger funktionaler Selbstverwaltung zur Alleinentscheidung nicht befugt. Dann müssen staatliche Amtsträger am Erlaß der betreffenden Rechtsakte in qualifizierter Weise, z. B. durch einen Einvernehmensvorbehalt, beteiligt werden und damit im Blick auf die nicht repräsentierten Dritten die Verantwortung übernehmen. 3. Die Legitimation von Sachverständigengremien Anders als bei der berufsständischen Selbstverwaltung stellen sich die Legitimationsprobleme von Sachverständigengremien. Während erstere neben der demokratischen Legitimation durch das Volk über eine autonome Legitimation durch die Verbandsmitglieder verfügt, die sie zu verbindlichen Entscheidungen (nur) gegenüber diesen befähigt, geht es bei Sachverständigengremien allein um ihre demokratische Legitimation im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG und deren interessengerechte Spezifizierung. Die Schlüsselbegriffe heißen Sachkunde, Objektivität und Neutralität37. Die Lösung wird von der Art der Sachverständigentätigkeit und der Intensität bestimmt, mit der ihre Ergebnisse als staatliche Entscheidungen wirken oder in solche Entscheidungen eingehen sollen. Die Rechtslage stellt sich für Entscheidungsgremien (a) und Beratungsgremien (b) unterschiedlich dar. a) Entscheidungsgremien. Am ehesten akzeptabel sind Entscheidungsgremien dann, wenn ihre Mitglieder ohnehin staatliche Amtsträger sind oder wenn die Exekutive in der Auswahl der Sachverständigen an Vorschlags- oder Benennungs35
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BVerfGE 107, S. 59, 93 sowie Beschluß des 1. Senats v. 13. Juli 2004, Rdnr. 152, NJW 2005, S. 45, 47; Thomas Groß, Interessenausgleich durch Kollegialverfahrensrecht in den Kammern, in: Kluth, Jahrbuch des Kammerrechts 2003, S. 26 ff. Begriff bei Peter Tettinger, Thomas Mann, Wasserverbände und demokratische Legitimation, München 2000, S. 62. Ausführlich Martin Schwab, Rechtsfragen der Politikberatung im Spannungsfeld zwischen Wissenschaftsbereich und Unternehmensschutz, Tübingen 1999, S. 564 ff.
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rechte Dritter nicht gebunden ist. Die staatliche Ernennung der frei ausgewählten Sachverständigen und ihre Zusammenfassung zu einem behördlichen Gremium machen diese für spezielle Aufgaben zu Teilen der öffentlichen Verwaltung, die bei entsprechender gesetzlicher Grundlage und bei sichergestellter Neutralität eine hinreichende personell-organisatorische Legitimation vorweisen können. Schwierigkeiten entstehen, wo die Sachverständigenauswahl durch feste Vorschlags- oder Benennungsrechte nicht beim Staat, sondern bei Verbänden und anderen Institutionen des gesellschaftlichen Bereichs liegt, die als solche keine demokratische Legitimation vermitteln können. Auch der rein formale Vorgang der staatlichen Ernennung kann diesen Mangel nicht völlig ausgleichen. Auf der anderen Seite ist es um der sachlichen Richtigkeit staatlichen Entscheidens willen oft notwendig, gesellschaftlichen Sachverstand in die Verwaltung hineinzunehmen. In herausgehobenen Fällen, z. B. zum Schutze der besonderen Staatsferne der Kunstoder Wissenschaftsfreiheit, können solche Gremien „Distanzgaranten“, in anderen Fällen, z. B. bei der Artikulation des Standes der medizinischen Wissenschaft, können sie „Qualitätsgaranten“ sein. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich mit dieser Thematik in der Entscheidung vom 27. 11. 1990 zu beschäftigen38. Es hat auf der Basis der auch hier vertretenen prozedural-organisatorischen Fassung der Wesentlichkeitslehre Anforderungen vor allem an die sachgerechte Auswahl der Sachverständigen und an die parlamentarisch-gesetzliche Fixierung der Auswahlregelung gestellt: „Das rechtssatzförmig festzulegende Verfahren muß den Interessen an einer möglichst umfassenden Ermittlung aller bei der Indizierungsentscheidung zu beachtenden Gesichtspunkte Rechnung tragen“ 39. Dabei muß der Gesetzgeber anstreben, „daß die in den beteiligten Kreisen vertretenen Auffassungen zumindest tendenziell vollständig erfaßt werden“. Das, was Sachverständige in dieser ihrer Eigenschaft bieten können, muß sich in den vorgesehenen Verfahrens- und Organisationsstrukturen wirksam entfalten können. Man kann von einem „Konsistenzgebot“ sprechen, dem das Legitimationsmodell der Sachverständigengremien genügen muß. b) Gremien mit privilegierten Beratungsaufgaben. Für rein beratende Tätigkeiten gilt das Legitimationsgebot nicht; denn sie sind als solche nicht Ausübung von Staatsgewalt im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG40. Es wäre jedoch falsch, damit alle Beratungsaufgaben, die Sachverständigengremien auf gesetzlicher Grundlage wahrnehmen, von allen legitimatorischen Anforderungen freizustellen. Ihre gesetzliche Anerkennung und die gesetzliche Formulierung ihres Beratungsauftrages verleihen solchen Instanzen vielmehr eine privilegierte Stellung im staatlichen Entscheidungsgefüge, die nicht ohne Rückwirkungen auf die verfassungsrechtlichen Anforderungen an ihre Organisation bleiben kann. Das gilt z. B. für die Rolle der nach Landesrecht gebildeten institutionellen Ethik-Kommissionen im Arznei-
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Dazu BVerfGE 83, S. 130, 149 ff. BVerfGE 83, S. 130, 153; vgl. auch den Beschluß vom 13. Juli 2004, Rdnr. 153, NJW 2005, S. 45, 47. BVerfGE 83, S. 60, 74; auch schon 47, S. 253, 273.
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mittelrecht41. Die Intensitätsgrade, in denen sich die Wirkungen privilegierter Sachverständigenberatung zeigen, variieren: Oft sind die Ergebnisse ihrer Beschlußfassung für die beratenen staatlichen Stellen faktisch bindend. Nicht selten ist ihnen gesetzlich sogar ausdrücklich die Bedeutung einer formalisierten Vorentscheidung innerhalb eines gestuften Verfahrenskonzepts zugewiesen oder eine Vermutungswirkung beigelegt worden. Darauf wird bei der Erörterung des § 16 TPG zurückzukommen sein (unter B III). Entsprechend variabel müssen die Legitimationsanforderungen gefaßt werden, die der Staat, wenn er sich dieser Beratung bedient, vorwirkend zur Geltung bringen muß. Die Grundlinie wird durch eine je-desto-Formel vorgezeichnet: Je nachhaltiger der faktische oder der rechtliche Einfluß ist, desto stärker nähern sich die Anforderungen den für Entscheidungsgremien geltenden Maßstäben an. Im Regelfall dürfte es genügen, daß sich der Staat entweder ex ante hinreichende Einflußmöglichkeiten auf die Besetzung der Gremien sichert oder sich eine substantielle Kontrolle der Beratungsergebnisse vorbehält, in der seine Letztverantwortung wirksam zum Ausdruck kommen kann. Demokratisch und rechtsstaatlich veranlaßt sind darüber hinaus Regelungen, die die jeweiligen Interessenpositionen der Sachverständigen deutlich und das Beratungsverfahren transparent machen. Bei kontroversen Themen ist auf die Einbeziehung von Gegengutachtern Wert zu legen. In keinem Fall dürfen staatlich zu verantwortende Entscheidungen durch die Einschaltung von Beratungsgremien dem unkontrollierten Zugriff partikularer Interessen, die sich hinter dem Sachverstand verbergen, ausgeliefert werden. III. Gesellschaftliche Selbstregulierung und ihre staatliche Ordnung An dieser Stelle berühren sich die Legitimationsanforderungen öffentlich-rechtlich verfaßter Selbstverwaltungsträger und Sachverständigengremien mit der staatlichen Ordnung gesellschaftlicher Selbstregulierung: Als solche gehören Selbstregulierungsinstanzen nicht zur organisierten Staatlichkeit. Ihre kollektiven Ordnungsmuster sind primär Ausdruck grundrechtlicher Freiheiten. Sie dienen daneben aber auch öffentlichen Interessen, insofern sie, z. B. in Regeln guter Praxis, übergreifende Ordnungen ausbilden42. Auch im Gesundheitswesen lassen sich neben Formen von Selbstverwaltung durch Kammern und Kassen vielfältige Vorgänge von Selbstregulierung beobachten, vor allem im Wirken von Fachgesellschaften oder in der Erarbeitung von fachlichen Standards, z. B. von Leitlinien
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Zu ihnen Erwin Deutsch, Andreas Spickhoff, Medizinrecht, 5. Aufl., Berlin u. a. 2003, Rdnr. 716 ff.; Kathrin Stamer, Die Ethik-Kommissionen in Baden-Württemberg, Frankfurt/M. u. a. 1998, S. 126 ff.; auch Adolf Laufs, Emil Reiling, Ethik-Kommissionen – Vorrecht der Ärztekammern?, Berlin u. a. 1991. Vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Regulierte Selbstregulierung als Element verwaltungsrechtlicher Systembildung, in: Regulierte Selbstregulierung als Steuerungskonzept des Gewährleistungsstaates, Die Verwaltung 2001, Beiheft 4, S. 253 ff.
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oder Richtlinien43. Hierher gehören auch die sog. freien Ethik-Kommissionen. Auch das Transplantationswesen vor dem Erlaß des Transplantationsgesetzes war von Selbstregulierungsinstanzen geprägt. Selbstregulierung bietet Vorteile der Staatsentlastung. Sie bewegt sich im Rahmen der allgemeinen Rechtsordnung, vor allem des Vertrags- und Vereinsrechts. Der Staat kann sich insofern auf ein Wächteramt beschränken, um zu verhindern, daß Verbandsmacht zu Monopolbildung und Diskriminierung ausgenutzt wird. Eine wichtige Gewährleistungsaufgabe hat insofern das Wettbewerbsrecht. Das für die staatliche Verwaltung beachtliche Gebot demokratischer Legitimation gilt für die gesellschaftliche Selbstregulierung grundsätzlich nicht. Die rechtliche Situation ändert sich jedoch, wenn sich Staat und Gesellschaft in spezielle Kooperationsverhältnisse begeben. So kann es für den Staat attraktiv sein, gesellschaftliche Expertisen für den Erlaß eigener Normsetzungsakte zu nutzen, wie das im Technischen Sicherheitsrecht oft der Fall ist. In diesen Fällen eines besonderen Einflusses gesellschaftlicher Selbstregulierung hat der Staat aus einer vorwirkenden Legitimationsverantwortung heraus dafür Sorge zu tragen, daß sich schon im selbstregulativen Vorfeld Neutralität und Objektivität durchsetzen können: Freie Selbstregulierung wird hier zur staatlich regulierten Selbstregulierung, die folgende Grundsätze zu beachten hat44: Die involvierten Interessen müssen kompetent repräsentiert sein und Minderheitenpositionen müssen zu Wort kommen können. Die Entscheidungen müssen in einem transparenten öffentlichen Verfahren getroffen werden, in ihren Wirkungen rechtlich klar definiert und in ihrer Bedeutung dem Interessengewicht adäquat sein. Konsequent schreibt z. B. § 20 des Medizinproduktegesetzes für freie Ethik-Kommissionen vor, daß sie unabhängig und interdisziplinär besetzt sein müssen. Weitergehende Anforderungen stellen sich dann, wenn der Staat einzelne Organisationen des Selbstregulierungsgefüges mit der eigenständigen Wahrnehmung staatlicher Aufgaben förmlich betraut, wie das in § 16 TPG geschieht. IV. Zwischenergebnisse Die grundgesetzliche Legitimationsordnung ist um das Zentrum demokratischer Legitimation im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG angelegt. Ohne die dort verlangte demokratische Legitimation dürfen staatliche Entscheidungen nicht getroffen werden. Allerdings ist die allgemeine demokratische Legitimation nicht die einzige anerkannte Legitimationsform. Träger funktionaler Selbstverwaltung bringen eine eigene autonome Legitimation ein. Für ihren Selbstverwaltungsbereich können sie auf der Grundlage dieser dualen Legitimation verbindliche Entscheidungen treffen, die in ihren Wirkungen das „Korrespondenzgebot“ beachten müssen. Sachverständigengremien besitzen keine autonome Legitimation. Die für sie notwendige Legitimation kann allein über ihre Rückbindung an das Volk im Sinne 43
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Dazu anschaulich die Beiträge in Dieter Hart (Hrsg.), Ärztliche Leitlinien, BadenBaden 2000. Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee, S. 272 ff.; Schwab, Politikberatung, S. 566 ff.
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des Art. 20 Abs. 2 GG erfolgen. An eine Korrespondenzregel sind sie nicht gebunden. Für sie gilt jedoch ein „Konsistenzgebot“. Gremien gesellschaftlicher Selbstregulierung unterliegen als solche nicht den Anforderungen staatlicher Legitimation. Sollen ihren Entscheidungen und Regelwerken jedoch Rechtswirkungen in staatlichen Entscheidungszusammenhängen zugewiesen werden, ist für eine transparente und interessengerechte Ordnung der einschlägigen Verfahren zu sorgen.
B. Drei Organisationsmodelle des Transplantationsgesetzes Das Transplantationsgesetz hat – wie es das Bundesverwaltungsgericht in einer Entscheidung aus dem Jahre 2001 formulierte – die Befugnis zur Vornahme von Organtransplantationen auf eine völlig neue Grundlage gestellt45. Aber es hat das in Anknüpfung an schon bekannte Vorgehensweisen und Akteure getan. Entstanden ist ein Regelungsgefüge, für das das staatliche Gesetz selbst den Rahmen bietet und innerhalb dessen nicht nur staatliche, sondern auch private Entscheidungen, nicht nur Verwaltungsinstanzen, sondern auch private Institutionen, nicht nur nationale, sondern auch transnationale Organisationen wirksam werden46. „Die §§ 9-12 TPG bilden das organisationsrechtliche Herzstück des durch das TPG verfaßten Transplantationswesens. Die Regelungen geben der transplantationsmedizinischen Praxis normative Strukturen und so eine verbindliche Form“47. Der Angelpunkt des Regelungssystems ist die Konzentration der Übertragung der wichtigsten Organe auf zugelassene Transplantationszentren (§ 9 S. 1 TPG). Für Organe toter Spender wird eine Vermittlungspflicht begründet, die von Eurotransplant als Vermittlungsstelle wahrzunehmen ist. Im Falle lebender Organspender werden die erforderlichen Ordnungsleistungen des Rechts dadurch erbracht, daß die Fälle zulässiger Organentnahme im Gesetz restriktiv formuliert und mit dem Votum einer besonderen Kommission verbunden sind (§ 8 TPG)48. Im Folgenden sollen die Transplantationszentren (I), die LebendspendeKommissionen (II) und die als Richtliniengeber beteiligte Bundesärztekammer untersucht werden (III). In ihnen treten uns drei Organisationsformen medizinischen Sachverstandes im Transplantationswesen entgegen, die im Grenzbereich zwischen staatlicher Aufgabenerfüllung und gesellschaftlicher Selbstregulierung an45 46
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BVerwG, MedR 2002, S. 586, 587. Vgl. Schmidt-Aßmann, Grundrechtspositionen, S. 95 ff.; Junghanns, Verteilungsgerechtigkeit, S. 168 ff. So Stephan Rixen, in: Wolfram Höfling (Hrsg.), Kommentar zum TPG, Berlin 2003, Vorbem. zu §§ 9 ff. Rdnr. 1. Bijan Fateh-Moghadam, Ulrich Schroth, Christiane Gross, Thomas Gutmann, Die Praxis der Lebendspendekommissionen – Eine empirische Untersuchung zur Implementierung prozeduraler Modelle der Absicherung von Autonomiebedingungen im Transplantationswesen, in: MedR 2004, S. 19 ff.
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gesiedelt sind. Entsprechen sie in ihrer gesetzlichen Ausgestaltung den verfassungsrechtlichen Anforderungen an Legitimation und Verfahrensfairneß? Eine Antwort auf diese Frage verlangt, ihre Aufgaben, die Auswirkungen ihrer Entscheidungen und ihre Binnenorganisation zu untersuchen. I. Aufgaben der Transplantationszentren Als solche nicht Träger öffentlicher Gewalt sind die Transplantationszentren. Das gilt selbst dann, wenn sie z. B. als Hochschulkliniken öffentlich-rechtlich organisiert sein sollten. Rechtlich entfalten sie ihre Kompetenzen für Privatpatienten im Rahmen eines privatrechtlichen Dienstvertrages im Sinne des § 611 BGB, für Kassenpatienten im Rahmen eines Krankenversicherungsverhältnisses nach dem SGB V49. Daß die Übertragung der vermittlungspflichtigen Organe allein ihnen zukommt, begründet noch keine staatliche Stellung. Ihre Zulassung nach Maßgabe des SGB V oder nach der Gewerbeordnung tut das nicht; es geht insofern um präventive Aufsicht, nicht um Beleihung. Die Tätigkeitsfelder der Zentren liegen schwerpunktmäßig im medizinischen Bereich. Daß sie hier grundrechtlich hoch bedeutsame Leistungen erbringen und Entscheidungen treffen, steht außer Frage. Aber es sind keine legitimationsbedürftigen Aufgaben. Das trifft auch für ihre Pflichten zur psychischen Betreuung der Patienten und zur Qualitätssicherung zu. Nicht ganz sicher erscheint dagegen die Einstufung derjenigen Tätigkeiten, die die Transplantationszentren im Blick auf die Wartelisten wahrnehmen (§ 10 Abs. 2 TPG). Sie entscheiden dabei über die Annahme der Patienten zur Organübertragung und über ihre Aufnahme, eventuell auch über ihre spätere Herausnahme aus der Warteliste. Man könnte darin eine typische Tätigkeit verteilender Verwaltung sehen. Die Gesetzesbegründung qualifiziert die Entscheidungen jedoch als Bestandteil des jeweiligen Behandlungsvertrages mit dem Krankenhaus50. Sie erscheinen dann eher als ein Annex der Behandlung als eines Realvorgangs. Die Vorstellung, hier dominiere ganz die Rationalität ärztlichen Handelns, greift jedoch zu kurz. In der Literatur wird zutreffend darauf hingewiesen, daß es sachgerechter sei, sich „zu einer auch subjektiv konnotierten Auswahlentscheidung zu bekennen“ und zur Abwehr damit verbundener Gefahren die Auswahlentscheidung verfahrensrechtlich abzusichern51. Dazu gehören erweiterte Dokumentationspflichten sowie die Anhörung, die Entscheidungsbegründung und die Gewährung von Akteneinsicht.
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So auch Johannes Baltzer, Transplantationsgesetz und Rechtsschutz, in: Die Sozialgerichtsbarkeit 1998, S. 437, 439 f. So BT-Drs. 13/4355, S. 22 zu Abs. 2 Nr. 1. So Heinrich Lang, in: Höfling, TPG, § 10 Rdnr. 56.
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II. Die Rolle der Lebendspende-Kommissionen Die Entnahme von Organen bei Lebenden darf nach § 8 Abs. 3 TPG erst durchgeführt werden, wenn eine Kommission gutachtlich dazu Stellung genommen hat, ob begründete tatsächliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß die Einwilligung des Spenders nicht freiwillig erfolgt oder sonst Organhandel im Spiel ist. Die Lebendspende-Kommissionen stehen in einer Reihe von Sicherungsmitteln, die den besonderen Gefährdungen und Krisenlagen begegnen, die bei Organspenden unter Lebenden auftreten können. Ihre Bildung ist bundesgesetzlich obligatorisch vorgeschrieben, in der praktischen Durchführung aber den Ländern überlassen. Diese haben die Kommissionen durchgängig als unselbständige Einrichtungen der Ärztekammern errichtet52. Die Zuordnung der Kommissionen zum Bereich der organisierten Staatlichkeit ist damit eindeutig; denn die Kammerverwaltung ist unbeschadet ihrer Selbstverwaltungssubstanz im organisationsrechtlichen Dualismus zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen den ersteren zuzurechnen. Inwieweit die oben entwickelten Legitimationsmaßstäbe beachtlich sind, ist damit freilich noch nicht entschieden. Die Voten der Kommissionen sind nämlich rechtlich nicht verbindlich. Die Verantwortung für die Organentnahme bleibt allein bei dem behandelnden Arzt. Die Stellungnahme der Kommission soll diesem „lediglich eine zusätzliche verfahrensrechtliche Sicherheit“ bieten53. Ob damit allerdings die Bedeutung der Kommission richtig erfaßt ist, erscheint zweifelhaft. Die Rechtsprobleme ähneln denjenigen der Ethik-Kommissionen. Auch deren Voten haben den einschlägigen Vorschriften entsprechend eine bestimmte prozedurale, aber keine materiell-entscheidende Funktion. Trotzdem wird ihnen in der Praxis ein erhebliches Gewicht beigemessen. Nicht selten werden sie sogar als Entscheidungen in Form eines Verwaltungsakts im Sinne des § 35 VwVfG angesehen54. Damit werden Gehalt und Wirkung der Kommissionsvoten allerdings überinterpretiert55. Daß Lebendspende-Kommissionen jedoch ebenso wie die auf landesrechtlicher Grundlage eingerichteten Ethik-Kommissionen öffentliche Gewalt ausüben, weil sie Aufgaben qualifizierter Beratung wahrnehmen, ist nicht zu bestreiten56. Die erforderliche demokratische Legitimation wird durch ihre gesetzlichen Grundlagen und durch die gesetzliche Festlegung eines (in seinem Umfang begrenzten und spezifizierten) Prüfungsauftrags geschaffen. Auf eine autonome Legitimation, wie sie den berufsständischen Kammern zukommt, können sich die Kommissionen dagegen nicht stützen. Statt dessen ist auf eine aufgabengerechte Besetzung und unabhängige Stellung der Kommission zu achten. § 8 Abs. 3 S. 3 52
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Bijan Fateh-Moghadam, Zwischen Beratung und Entscheidung – Einrichtung, Funktion und Legitimation der Verfahren vor den Lebendspendekommissionen gemäß § 8 Abs. 3 S. 2 TPG im bundesweiten Vergleich, in: MedR 2003, S. 245, 247. So die amtliche Begründung des TPG-Entwurfs, BT-Drs. 13/4355, S. 21. Vgl. Deutsch, Spickhoff, Medizinrecht, Rdnr. 773. So im Ergebnis auch Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 4 Rdnr. 32 („Stellungnahmen mit Gutachtencharakter“). So auch Fateh-Moghadam, in: MedR 2003, S. 245, 252 f.
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TPG gibt dazu die Grundlinie vor: Der Kommission muß ein Arzt angehören, der weder an der Entnahme noch an der Übertragung von Organen beteiligt ist, sowie ein Mitglied mit der Befähigung zum Richteramt und eine in psychologischen Fragen erfahrene Person. Vom Landesrecht ist zu verlangen, daß es den Kreis der Kommissionsmitglieder unter Beachtung dieser Grundlinie vollständig fixiert. Die weiterhin erforderlichen prozeduralen Standards müssen „rechtsstaatlichen Erfordernissen genügen und zu angemessenen Ergebnissen in angemessener Zeit führen“57. Sie lassen sich dem allgemeinen Verfahrensrecht der Kollegialorgane entnehmen58. Insgesamt wird dieser Organisationsform, die medizinischen, juristischen und psychologischen Sachverstand verbindet, ein positives Votum ausgestellt. In einer jüngst publizierten Studie heißt es59: „Die Kommissionslösung des Transplantationsgesetzes erscheint auch nach der empirischen Untersuchung und normativen Analyse der Praxis der Lebendspendekommissionen als sinnvolles – weich paternalistisches – Modell für einen schonenden Ausgleich zwischen den berechtigten Interessen von Spendern und Empfängern an der Durchführung von Lebendorganspenden und dem Interesse an der Verhinderung von substantiell nicht autonomen (und kommerziellen) Lebendorganspenden. Das Kommissionsverfahren löst den Entscheidungsfindungsprozess der Beteiligten aus dem interessegeleiteten Kontext der Transplantationszentren und ermöglicht über die Einschaltung unabhängiger Gutachter die kritische Aufbereitung der Informationsbasis für eine autonome Entscheidung“. III. Die Richtlinien der Bundesärztekammer nach § 16 TPG Eine wichtige Funktion weist das TPG den Richtlinien zu, die die Bundesärztekammer zu erstellen hat (§ 16). Die Richtlinien sollen den „Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft“ feststellen. Die Einhaltung des Standes der Erkenntnisse wird vermutet, wenn die Richtlinien beachtet worden sind. Für die Organvermittlung sind die Richtlinien, die die Regeln zur Aufnahme in die Wartelisten festlegen (Nr. 2), und die Richtlinien über die eigentlichen Verteilungsregeln (Nr. 5) von herausragender Bedeutung. An der Erarbeitung der Richtlinien müssen Personen mit der Befähigung zum Richteramt und Personen aus dem Kreis der Patienten angemessen vertreten sein (§ 16 Abs. 2 TPG). Weitere Verfahrensregeln trifft das Gesetz allerdings insofern nicht. Über eine Mitwirkung staatlicher Stellen ist nichts gesagt. Die Bundesärztekammer hat im November 1999 ein entsprechendes Regelwerk von insgesamt acht organspezifischen Richtlinien für Wartelisten und für die Organvermittlung verabschiedet60 und in den Folgejahren mehrfach fortgeschrie-
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So Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 4 Rdnr. 32 mit Blick auf die Ethik-Kommissionen im Arzneimittelrecht. Dazu Groß, Kollegialprinzip, S. 280 ff. Fateh-Moghadam, Schroth, Gross, Gutmann, in: MedR 2004, S. 19, 34. Bekanntgemacht in: DÄBl., 97. Jahrgang, 2000, Heft 7.
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ben61. Neben manchem Selbstverständlichen, z. B. zu Melde-, Dokumentationsund Qualitätssicherungspflichten, legen erst diese Richtlinien die notwendigen „harten“ Auswahlkriterien fest. In den Wartelisten-Richtlinien sind z. B. die sog. Kontraindikationen, in den Richtlinien zu den Allokationsentscheidungen z. B. die Bedeutung von Wartezeiten und die Rolle der sog. hohen Dringlichkeit festgelegt. 1. Richtlinien nach § 16 TPG als Akte öffentlicher Gewalt Bei der Bundesärztekammer und ihrer Richtliniengebung herrschen dem äußeren Bilde nach Merkmale privater Selbstregulierung vor: Die Kammer ist eine Arbeitsgemeinschaft der Landesärztekammern. Sie besitzt keine eigene Rechtsfähigkeit, insbesondere ist sie selbst keine Körperschaft des öffentlichen Rechts; darin unterscheidet sie sich grundlegend z. B. von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Die Literatur bezeichnet sie als nicht rechtsfähigen Verein privaten Rechts62, dessen Mitglieder freilich juristische Personen des öffentlichen Rechts sind. Die Mitgliedschaft ist aber nicht obligatorisch. In Gesetzen wird die Bundesärztekammer mehrfach in Bezug genommen; eine eigene gesetzliche Grundlage besitzt sie jedoch nicht. Ihre Basis ist vielmehr eine vom Deutschen Ärztetag beschlossene Satzung63, die unbeschadet der öffentlich-rechtlichen Natur der hinter ihr stehenden Landesärztekammern nicht Ausdruck gesetzlich verliehener Satzungsmacht, sondern Ergebnis vereinsrechtlicher Gestaltung ist. Die Kammer besitzt zwei Organe, die Hauptversammlung und den Vorstand (§ 3 Satzung). Die Hauptversammlung, der Deutsche Ärztetag, setzt sich aus den Vertretern der Ärztekammern zusammen. Sie faßt ihre Beschlüsse mit einfacher Mehrheit. Zur Bearbeitung einzelner Sachgebiete kann sie Ausschüsse bilden. Eine reiche Erfahrung bei der Formulierung medizinischer Standards in Empfehlungen, Leitlinien und Richtlinien kennzeichnet seit Jahren die Arbeit der Kammer. Unbeschadet des hohen Maßes ihrer Anerkennung sind alle diese Normen jedoch keine Rechtsakte des öffentlichen Rechts, sondern der privaten Normsetzung. Angesichts dieses Regelbefundes liegt es nicht fern, auch in den Richtlinien nach § 16 TPG Ergebnisse privater Normierungstätigkeit zu sehen. Auf der anderen Seite haben gerade diese Richtlinien für das gesamte Verteilungssystem des TPG eine gesetzlich besonders zuerkannte Schlüsselfunktion. Das belegt schon die in § 16 Abs. 1 S. 2 TPG angesprochene Vermutungswirkung. Im Umfang dieser Wirkung entscheidet die Kammer „über die grundlegenden Eckdaten des gesamten durch das TPG verfaßten Transplantationssystems“64. Die Bedeutsamkeit der Regelungsmaterie, die Staatsnähe der Regelungsinstanz und der spezifische Bindungscharakter der Regelungswirkungen – alle diese drei Faktoren führen dazu, in der Richtliniengebung nach § 16 TPG Ausübung öffentlicher Ge61 62
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Vgl. die Nachweise bei Höfling, TPG, Anhang, S. 575 ff. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 13 Rdnr. 13; Kluth, Funktionale Selbstverwaltung, S. 484 ff. Heute in der vom 104. Deutschen Ärztetag 2001 beschlossenen Fassung: abgedruckt in: DÄBl., 98. Jhg., 2001, Heft 28-29, S. A 1910. Höfling, in: Höfling, TPG, § 16 Rdnr. 12.
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walt zu sehen, die der demokratischen Legitimation im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG bedarf. Mit den üblichen Richtlinien berufsrechtlichen Inhalts läßt sich die solchermaßen herausgehobene transplantationsrechtliche Normsetzung nicht vergleichen65. 2. Lücken sachlich-inhaltlicher Legitimation Daß die derzeitigen Regelungen ein hinreichendes Legitimationsniveau sicherstellen, erscheint jedoch äußerst zweifelhaft. Problematisch ist zum einen die sachlich-inhaltliche Legitimation. Dabei ist zunächst noch einmal hervorzuheben, daß die Richtlinieninhalte keineswegs nur rein medizinische Erkenntnisse wiedergeben, sondern manche Wertungen einschließen. Der Text des § 16 Abs. 1 TPG ist insofern irreführend, als er Aufgaben der „Feststellung“ zuweist, und damit nahezulegen scheint, daß hier eine reine Notariatsfunktion ausgeübt wird. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Richtlinien treffen substantiell eigene Festlegungen66. Die darin umgriffenen Wertungsmargen werden aber auch nicht durch aussagekräftige parlamentarische Vorgaben gesteuert. Wenn § 12 Abs. 3 TPG den Stand der medizinischen Wissenschaft „insbesondere nach Erfolgsaussicht und Dringlichkeit für geeignete Patienten“ definiert wissen will, dann sind der Kammer damit alles andere als klar subsumierbare Gesetzesbegriffe an die Hand gegeben. Die Amtliche Begründung des Gesetzentwurfs wird etwas deutlicher: Sie nennt für die Definition der „Erfolgsaussichten“ u. a. die Gewebeverträglichkeit (insbesondere bei Nieren). Weiter heißt es aber: „Darüber hinaus sind in angemessener Gewichtung weitere Umstände, die nach medizinischer Beurteilung Einfluß auf Dringlichkeit und Erfolg einer Transplantation haben können“, einzubeziehen. Genannt wird beispielhaft die Wartezeit. Gerade diese Formulierungen machen deutlich, wie wenig der Gesetzgeber selbst vorentschieden und wie weit er der Richtliniengebung der Kammer die Konkretisierung zugewiesen hat. Entsprechend finden sich in den 1999 erlassenen Richtlinien neben medizinischen Aussagen, z. B. zur Blutgruppenkompatibilität, zahlreiche wertende Aussagen, z. B. zur Gewichtung von Wartezeiten und zu psychosozialen Faktoren der Organempfänger (sog. Compliance-Regelungen). Das sind durchaus sinnvolle oder mindestens vertretbare Erwägungen, die (auch) vom Fortschritt der medizinischen Wissenschaft abhängen und folglich nach dem, was oben über die Rollenverteilung zwischen parlamentarischem Gesetz und medizinischem Sachverstand gesagt worden ist, durch das TPG selbst kaum fest definiert werden könnten. Nur: Die sachlich-inhaltliche Legitimation der Richtliniengebung ist für sich genommen zu schwach. Sie müßte schon durch organisatorisch-personelle Elemente nachhaltig ausgeglichen werden, um insgesamt ein hinreichendes Legitimationsniveau zu gewährleisten.
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So zutreffend Höfling, in: Höfling, TPG, § 16 Rdnr. 14. Laufs, in: NJW 1999, S. 1758, 1765; Thomas Gutmann, Bijan Fateh-Moghadam, Rechtsfragen der Organverteilung, in: Thomas Gutmann u. a., Grundlagen einer gerechten Organverteilung, Berlin, Heidelberg 2003, S. 37, 41 ff.
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3. Mängel personeller Legitimation Immerhin läßt sich insofern darauf verweisen, daß das Parlament selbst in § 16 TPG eine entsprechende Betrauung der Bundesärztekammer vorgenommen hat. Die organisatorische Stellung der Kammer kann damit als parlamentarisch akzeptiert angesehen werden. Jedenfalls spricht die privatrechtliche Rechtsform noch nicht notwendig gegen die Fähigkeit der Kammer, demokratisch legitimierte Entscheidungen zu treffen67. Die Mängel betreffen vielmehr das Verfahren der Richtliniengebung: Soweit es um die Ausarbeitung geht, liegt diese zwar bei einem Gremium, der „Ständigen Kommission Organtransplantation“, in dem Experten versammelt sind. Das Gesetz trifft aber keine Regelungen dazu, wie diese Sachverständigen auszuwählen und dabei die in § 16 Abs. 2 genannten besonderen Anforderungen zu erfüllen sind. Die Verabschiedung der Richtlinien erfolgt durch den Vorstand der Bundesärztekammer. Dessen Mitglieder sind Repräsentanten funktionaler Selbstverwaltung. Doch um Selbstverwaltungsaufgaben der Ärzteschaft geht es hier nicht und folglich greift das oben aufgezeigte „Konsistenzgebot“. Gefragt ist eine spezielle Expertenkompetenz im Transplantationswesen, die – wie § 16 Abs. 2 TPG indiziert – medizinische und ethische Kompetenzen in diesem Bereich voraussetzt. Mit der Amts- oder Wahlmitgliedschaft in Kammergremien des ärztlichen Berufswesens sind diese Kompetenzen keineswegs zwingend verbunden. Allgemeine medizinische Berufserfahrungen mögen bei der Beantwortung mancher Bewertungsfragen nützlich sein. Sie rechtfertigen angesichts der hochkomplizierten Materie die vorgesehene Entscheidungskompetenz des Vorstandes jedoch nicht. Vielmehr hat man hier zwei heterogene Legitimationskriterien, Sachverstand und Selbstverwaltung, in einer Weise verbunden, die dysfunktional wirkt68. Ein Ausgleich der lückenhaften sachlich-inhaltlichen Legitimation der Richtliniengebung ist damit de lege lata nicht zu erreichen69. 4. Verfassungsrechtlich gebotene Verfahrensänderungen Die Entscheidungsorganisation muß folglich umgebaut werden, wenn die Richtlinien ihre im Gesetz vorgesehene zentrale Steuerungsfunktion wirksam sollen ausüben können: Zum einen erscheint es notwendig, die pluralistische Organisation des Sachverstandes im Gesetz selbst deutlicher zu regeln, als das in § 16 Abs. 2 TPG geschehen ist. In das Zentrum ist die „Ständige Kommission Organtransplantation“ zu rücken. Ihre Zusammensetzung und ihre Verfahrensweisen müssen, nach Maßgabe dessen, was das Bundesverfassungsgericht zum Rundfunk- und 67
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Kritisch auch zu diesem Punkte Adolf Laufs, Arzt und Recht – Fortschritt und Aufgaben, in: NJW 1998, S. 1750, 1755: „Der privatrechtliche Einschlag des Systems fällt auf und weckt Bedenken“. Kritisch auch Görg Haverkate, Verantwortung für Gesundheit als Verfassungsproblem, in: Heinz Häfner (Hrsg.), Gesundheit – unser höchstes Gut?, Berlin u. a. 1999, S. 119, 126; Höfling, in: Höfling, TPG, § 16 Rdnr. 1-30. Vgl. auch Erwin Deutsch, Das Transplantationsgesetz vom 5. 11. 1997, in: NJW 1998, S. 777, 780; Hermann Christoph Kühn, Das neue deutsche Transplantationsgesetz, in: MedR 1998, S. 455, 459.
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zum Indizierungsrecht gesagt hat70, gesetzlich festgelegt werden. Außerdem muß eine Mitwirkung staatlicher Instanzen vorgesehen werden. Das könnte dadurch geschehen, daß der Erlaß der Richtlinien an das Einvernehmen der zuständigen Bundesoberbehörde gebunden wird. Im Gesetz zur Regelung des Transfusionswesens (TFG) von 1998 ist das zutreffend so vorgesehen worden (§ 12 Abs. 1, § 18 Abs. 1). Es fällt auf, daß das Transplantationsgesetz eine vergleichbare Regelung unterlassen hat. Ersichtlich wollte man jeden Anstrich von Staatlichkeit vermeiden, um die privatrechtlichen Konstruktionen zur Einbeziehung der ausländischen Stiftung Eurotransplant nicht zu gefährden. Damit hat der Gesetzgeber angesichts der weitreichenden Bedeutung der Richtlinien jedoch das verfassungsrechtlich gebotene Mindestmaß gesetzlicher Normierung unterschritten.
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Vgl. BVerfGE 83, S. 130, 151 ff.
Ist der Mensch für sein Verhalten rechtlich verantwortlich? Hans-Ludwig Schreiber
A. Verantwortlichkeit, Handlungsfähigkeit, Freiheit der Willensbestimmung sind bestimmende zentrale Kategorien des Rechts und der Rechtspraxis. Das gilt nicht nur für das Strafrecht, sondern für das Zivil- und auch für das Staatsrecht. Die Schuld bildet die Basis des Strafrechts. Grundlage der Bestrafung ist die willentlich erfolgende Verletzung einer strafrechtlichen Norm. Sie erlaubt und begrenzt zugleich den staatlichen Zugriff auf den Täter. Strafrechtliche Repression ohne Schuld ist nach einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts rechtsstaatswidrig und verletzt den Menschen in seiner Würde und in seiner Handlungsfreiheit (Art. 1 und Art. 2 GG). In seinem bis heute allenthalben zitierten Grundsatzurteil hat der Bundesgerichtshof einen indeterministischen Schuldbegriff übernommen und wie folgt wörtlich formuliert: „Strafe setzt Schuld voraus. Schuld ist Vorwerfbarkeit. Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten, dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich rechtmäßig verhalten, sich für das Recht hätte entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden, sobald er die sittliche Reife erlangt hat und solange die Anlage zur freien sittlichen Selbstbestimmung nicht durch die in § 51 StGB – heute §§ 20, 21 StGB – genannten krankhaften Vorgänge gelähmt oder auf Dauer zerstört ist (BGHSt 2, 194 (200)). Im bis 1975 geltenden Strafgesetzbuch von 1871 wurde eine strafbare Handlung dann ausgeschlossen, wenn der Täter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande der Bewusstlosigkeit oder einer krankhaften Störung der Geistestätigkeit befand, durch welche seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war. In § 20 StGB heißt es der Sache nach nicht anders, allerdings unter Vermeidung des Ausdrucks „freie Willensbestimmung“, ohne Schuld handele, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig sei, – in moderner Formulierung – das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Danach haben Schuld und Schuldfähigkeit ihre Grundlagen darin, dass der Täter aufgrund eigener Entscheidung auch anders hätte handeln können, als er es getan hat. Wenn die Freiheit auch nicht wissenschaftlich beweisbar sei, sei es doch dem Gesetzgeber nicht verwehrt, normativ von der persönlichen Verantwortlich-
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keit des Menschen auszugehen und die Freiheit vorauszusetzen. Die Freiheitsfrage sei also für das geltende Recht nicht mehr offen. Auch im Zivilrecht und seinen Grundlagen wird Handlungsfreiheit vorausgesetzt und angenommen. Nach § 104 des BGB ist geschäftsunfähig, wer noch nicht das siebente Lebensjahr vollendet oder sich in einem die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender ist. Willenserklärungen von Geschäftsunfähigen sind nichtig. Sie können nicht zivilrechtlich zurechenbar handeln. Auch Geschäfte des täglichen Lebens sind ihnen nicht möglich. Geschäftsunfähige können nicht kaufen und verkaufen, können nichts erwerben und rechtlich bewirken. Auch das Verfassungsrecht setzt die willentliche Handlungsfähigkeit voraus. Wer nicht geschäftsfähig ist, ist auch nicht wahlfähig. Unser demokratisches System setzt die allgemeine Handlungsfähigkeit des Menschen als Basis seiner Gründung voraus.
B. Ein sich selbst initiierender Wille, ein Bewusstsein, das nicht nur eine Folge bloß körperlicher Vorgänge ist, wird als Grundlage des Rechtssystems angesehen (Lüderssen, S. 33). Nach Teilen neuerer deutscher Hirnforschung gibt es jedoch ein solches Bewusstsein nicht. Freiheit ist Schall und Verantwortung Rauch. Die Gesellschaft darf niemanden bestrafen, nur weil er in irgendeinem moralischen Sinne schuldig geworden sei, da dies nur Sinn hätte, wenn dieses denkende Subjekt Mensch die Möglichkeit gehabt hätte, auch anders handeln zu können. Doch diese Möglichkeit gerade gäbe es nicht. Singer trägt vor, dass Phänomene wie Intentionalität – einfach das absichtsvolle Handeln – allein neuronalen Vorgängen im Gehirn folgen und diese nicht etwa anstoßen und dass wir uns den freien Willen eben nur einbilden. Unser Wille könne nicht frei sein. Freiheitserlebnisse seien, wie es Lüdersen formuliert, nach dieser Auffassung ein leerer Wahn. Für Singer ist das Erlebnis, sich frei für dieses oder jenes entscheiden zu können, also auch die rechtliche Handlungsfreiheit nur ein soziales und kulturelles Konstrukt, das tradiert ist und welches unsere Vorfahren irgendwann einmal entwickelt haben und dann nur noch von den Eltern an ihre Kinder weitergegeben wurde, ein Konstrukt, das sich irgendwann im Laufe der kulturellen Evolution ausgebildet hat. Roth bezeichnet die Überzeugung, freie Willensentscheidungen treffen zu können, als Irrglauben, in dem wir alle uns befänden, tatsächlich träfe aber das limbische System im wesentlichen unsere Entscheidungen. Die unbewusste Entscheidung des limbischen Systems sei die determinierte Resultante aller bisherigen biographischen Erfahrungen dieser Person. Anatomische und funktionelle Strukturen würden sozusagen beseelt und in die Position eines Homunculus befördert,
Ist der Mensch für sein Verhalten rechtlich verantwortlich?
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eines kleinen Menschen im Menschen, der mit anderen zerebralen Homunculi im Widerstreit oder Austausch steht und schließlich auch Regierungsmacht über die ganze Person gewinnt. Schließlich, wie es freilich ein Kritiker dieser Position, der Psychiater Kröber formuliert hat, gewinnt das limbische System sogar gegen das Gesamthirn und gegen die ganze Person. Kognitive Prozesse, in denen wir Gründe erwägen, bzw. unser Handeln durch Gründe rechtfertigen, sind durch Prozesse im Gehirn realisiert. Es handele sich mithin um zwei Seiten desselben Gesamtprozesses, der nach heutigem Wissen determiniert abläuft (Roth). Das Strafrecht ist erschrocken. Die Meisten stellen freilich fest, dass es sich um nichts Neues handele und dass es nur ein Wiederaufwärmen der alten Determinismusdebatte sei. Roth sieht in der Debatte die Chance, die im Strafrecht seit langem schwelende und aus pragmatischen Gründen verdrängte Diskussion wiederzubeleben und die Strafrechtler zu zwingen, über diesen Widerspruch von empirischen Evidenzen der Hirnforscher und der Existenz eines Alternativismus nachzudenken und ihn aufzulösen. Wie die Lösung aussehen soll, vermag er nicht anzugeben. Es bedürfe aber einer Änderung, da wir keinen bewusst freien Willen hätten, auch anders zu handeln, als wir gehandelt haben. Unser Wollen werde uns erst bewusst, wenn im Gehirn die Entscheidung, was wir tun werden, schon längst gefallen sei. Wir müssten eigentlich auf den Schuldbegriff verzichten. Auch Singer spricht sich dagegen aus, den Täter angesichts der neuronalen Prozesse in seinem Gehirn den Prozess zu machen. Allein die Sicherung der öffentlichen Ordnung zwinge zu diesem unwissenschaftlichen Verhalten. Im Gehirn des Täters sei kein Grund zu finden, der ihn je hinter Gitter bringen könnte. Neuronale Prozesse seien determiniert und die Annahme, wir seien voll verantwortlich für das, was wir tun, weil wir es ja auch anders hätten machen können, sei aus neurobiologischer Perspektive nicht haltbar. Nicht ganz so strikt formuliert Prinz, der ein Beibehalten des bestehenden Systems für möglich hält, solange wir die Inkompatibilität der alltagspsychologischen Intuitionen hinsichtlich der Handlungsfreiheit und der wissenschaftlichen Erkenntnisse aushalten können. Doch auch er strebt die Etablierung eines anderen Rechtssystems an und zwar eines, das nicht auf dem Schuld- und Verantwortungsprinzip beruht, sondern darauf, dass man für Handlungen, die anderen schaden können, zahlen muss, dass man also für gezeigtes sozialschädliches Verhalten einstehen muss, ohne dass man freilich dem Handelnden Freiheit und Schuldfähigkeit unterstellt. Darin liegt eine erkennbare Tendenz zu einem Maßnahme- oder auch Maßregelrecht, das von manchen als eine Alternative zum Strafrecht angesehen wird. Wie es freilich im Zivilrecht aussehen soll und wie man hier die Handlungsfähigkeit bestimmen soll, das wird nicht gesagt, soll aber nach Prinz offenbar ähnlich pragmatisch weiter betrieben werden.
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C. Eine besondere Rolle spielen in der Diskussion die Experimente Benjamin Libets. Diese Experimente werden als Beleg immer wieder dafür angeführt, dass nicht wir, sondern unsere Gehirne entscheiden, was wir tun. Libet führte eine Testreihe mit Studenten durch. Er forderte sie auf, eine einfache Handbewegung, und zwar einen Druck auf einen Knopf, vorzunehmen zu einem Zeitpunkt ihrer Wahl und den Zeitpunkt des Entschlusses dazu zu notieren. Mit Apparaten maß Libet dabei einerseits die elektrischen Aktivitäten in Hand und Gehirn, andererseits ermöglichte eine spezielle Uhr den Studenten, sich präzise den Zeitpunkt ihre Entscheidung zu merken. Das Ergebnis war, dass die Handlungen unbewusst offenbar in den primären Hirnrindenarealen einsetzten, vor einem bewussten Akt, den die Testperson als ihren eigenen Entschluss erfährt. Das Bewusstsein, etwa den Finger krümmen zu wollen, setzte bei den Studenten fast eine halbe Sekunde nach dem Moment ein, in dem das Gehirn bereits seine Vorbereitungen zur Handlung begonnen hatte. Also entstand erst das Bereitschaftspotential und dann erst erlebten die Versuchspersonen ihren Willensakt, auf den Knopf zu drücken, danach setzte die Muskelaktivität ein und der Finger drückte auf den Knopf. Libet schlussfolgerte daraus, dass der Wille nicht frei, sondern im Gehirn schon vorgefertigt sei und dann erst bewusst werde, sozusagen eine als freier Willensakt erlebte Selbsttäuschung, da die Entscheidung im Gehirn schon vorher gefallen sei, wie der unbewusste Aufbau des Bereitschaftspotentials zeigte. Habermas formuliert, dass nach Libet sein Befund der zeitlichen Folge von neuronalem Geschehen und subjektiven Erleben zu belegen scheinen, dass Gehirnprozesse bewusste Handlungen determinieren, ohne dass der Willensakt, den sich der Handelnde selbst zuschreibe, eine ursächliche Rolle spiele. Prozesse laufen also im Gehirn vor Beginn von Handlungen ab, die dann selbst als willentlich verursacht berichtet werden können. Roth folgert aus den Libet-Experiment und aus anderen Untersuchungen von Sozialpsychologen, dass die Überzeugung einer Person, sie habe eine bestimmte Handlung frei und willentlich ausgeführt nicht den Tatsachen entspreche. Die als kausal empfundene Beziehung von freiem Willensakt und Handlung sei einerseits das Resultat komplizierter neuronaler Zuschreibungsmechanismen und zum anderen das Ergebnis eines erlebnispsychologischen Erklärungs- und Legitimierungsdranges (vgl. Roth, Fühlen, Denken, Handeln, S. 518 ff.). Habermas kritisiert die Deutung der Libet-Experimente in Übereinstimmung mit Helmrich. Die eigentliche Entscheidung bei dem Experiment innerhalb einer kurzen Zeitspanne von maximal drei Sekunden auf einen Knopf zu drücken, würde so Helmrich, vorher Justizminister in Mecklenburg, bereits gefällt, wenn sich die Versuchsperson bereit erklärt, an dem Experiment entsprechend der Versuchsanleitung teilzunehmen. Mit den Versuchspersonen wurde in diesen Experimenten die Prozedur vorher einstudiert. Sie wussten genau, was sie zu tun hatten, kannten die Versuchsapparate, den Knopf auf den sie drücken sollten, kannten das Gerät, sie hatten den genauen Ablauf im Gehirn schon vorher abgespeichert. Es bestand eine engagierte Konzentration auf eine unmittelbar bevorstehende Aufgabe, die
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den Versuchspersonen deutlich vor Augen war und damit im Arbeitsgedächtnis präsent gewesen sei. Das Bereitschaftspotential zu der sofort auszuführenden Handlung entstand also vorher. Das bewusste Fingerdrücken war nur der letzte Exekutivakt, er war nur noch eine kleine Teilentscheidung und zwar nicht mehr über das Ob, sondern über das Wann, und das festgelegt auf eine kurze Zeitspanne von drei Sekunden. Anderes wurde nicht gemessen. Man sieht offenbar nicht, was wirklich im Gehirn geschieht. Angesichts der Voraktivierung des Bereitschaftspotentials deute alles darauf hin, dass Planung und Entscheidung zu einer Handlung bewusst erfolgen konnten, dass das Bereitschaftspotential sich unbewusst als Voraktivierung aufgebaut habe und dann der bewusste Willensakt dem schon aufgebauten Bereitschaftspotential folge. Habermas formuliert, das Design des Experimentes scheine die Möglichkeit zuzulassen, dass sich die über den Ablauf des Experiments bereits unterrichteten Versuchspersonen bereits auf den Handlungsplan konzentriert hätten, bevor sie sich zur Ausführung der aktuellen Handlung entschlossen. Dann aber würde der neurologisch beobachtete Aufbau des Bereitschaftspotentials – Roth folgert daraus, dass ohne das Bewusstsein ein solches Bereitschaftspotential aufgebaut werde – der neurologisch beobachtete Aufbau nur die Planungsphase wiederspiegeln. Habermas wendet sich auch gegen die künstliche Erzeugung von abstrakten Entscheidungssituationen. Er wendet mit Recht ein, dass Handlungen in der Regel das Ergebnis einer komplexen Verkettung von Intentionen und Überlegungen sind, die Ziele und alternative Mittel im Lichte von Gelegenheiten, Ressourcen und Hindernissen abwägen. Ein Design, das Planung, Entscheidung und Ausführung einer Körperbewegung zeitlich eng zusammenpresse und aus jedem Kontext von weiterreichenden Zielen und begründeten Alternativen herauslöse, könne nur Artefakte erfassen, denen genau das fehle, was Handlungen ausmache, nämlich der interne Zusammenhang mit Gründen. Nun hat sich freilich die Erkenntnisbasis der neuen Hirnforschung mit dem Einsatz moderner bildgebender Verfahren wie der funktionellen Kernspintomographie grundlegend verändert. Es haben sich immer tiefere und genauere Einblikke in das Gehirn gefunden. Sowohl die Struktur als auch die Funktionen einzelner Hirnregionen sind am Computer deutlich zu machen. Man kann direkt und ohne zeitliche Verzögerung in das lebende Gehirn eines Menschen blicken. Insbesondere die Magnetenzephalographie, die Positionenemissionstomographie und das Magnetresonanz-Tomogramm haben hier zu vielen neuen Einsichten geführt. Veränderungen der Hirnaktivität sind durch die Magnetresonanz abbildbar. Wenn man aber fragt, wo denn nun ein konkreter Handlungsentschluss abgebildet werde, dann kommt man im Gespräch mit der Hirnforschung zu keinem Ergebnis. Dass es dort irgendwo stattfinde, das könne man sagen. Wie aber und wo, das wisse man im Einzelnen nicht. Zwar werden bestimmten Hirnregionen bestimmte Prozesse zugeordnet, über diese Allgemeine geht es aber kaum hinaus. Nicolekis, Physiologe und Hirnforscher, hat formuliert, das komplexe Zusammenspiel der Neuronen sei mit einer Oper zu vergleichen, deren Libretto wir nicht kennen. Wir wüssten nicht, wie viele Instrumente in diesem Orchester spielen und auch nicht, wer welches Instrument spielt. Wenn Roth im Interview mit dem Spiegel zum Ergebnis kommt, bei der Entscheidung etwa über eine Heirat komme es zu einem
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„langwierigen, quälerischen Hin- und Her-Abwägen hunderter Argumente“, dann kann man Determiniertheiten offenbar nicht erkennen. Roth sagt auch, ein Kind lerne erst Kompetenzen wie Vernunft und Abwägen. Wie vertragen sich solche Dinge wie Vernunft und Abwägen mit einem einseitigen Determinismus? Offenbar kann die psychische- und Handlungsdimension auch nach Roth nicht allein von den Neurowissenschaften erklärt werden.
D. Freilich muss andererseits eingeräumt werden, dass rechtlich hinsichtlich der Verantwortlichkeit wenig gesagt werden kann. Strafrechtlich ist zu sagen, dass hinsichtlich eines konkreten Täters mit wissenschaftlichen Mitteln Freiheit des Willens, ihr Fehlen oder ihr Vorliegen bzw. ihre Einschränkung über Maß nicht festgestellt werden können (so schon Witter, 1983, S. 455). Auch ein so nachdrücklicher Vertreter eines indeterministischen Schuldbegriffes wie Lange räumt ein, dass uns ein durchgreifendes Kriterium dafür fehlt, wie weit im einzelnen Fall dem Menschen eine Freiheit des Handelns zustand. Die individuelle Schuld und ihr Maß in einer zuverlässigen, rückblickenden wissenschaftlichen Ermittlung sind jedenfalls im Strafverfahren nicht zugänglich. Niemand vermag den Überstieg in eine fremde Individualität, eine fremde Situation, derart zu vollziehen, dass er den für einen anderen etwa gegebenen Spielraum einer Willensfreiheit verlässlich bestimmen könnte (Stratenwerth, S. 213). Zutreffend hat Bockelmann, wahrlich kein Vertreter des Determinismus, es als baren Unsinn bezeichnet, die Zumutung an den Psychiater zu richten, das Freiheitsproblem, das schon theoretisch unlösbar sei, mit Bezug auf einen konkreten Fall und einen bestimmten Menschen zu lösen. Ist damit aber die Willensfreiheit und die Willensbestimmung grundsätzlich aufgegeben? Aus der Unbeweisbarkeit des Maßes von Willensfreiheit ist nicht der Schluss zu ziehen, dass das Schuldprinzip keine tragfähige Basis der strafrechtlichen Zurechnung sei und aufgegeben werden müsse. Freilich vertritt das eine verbreitete Meinung in der Literatur. Es sollte festgehalten werden, dass individuelles Verhalten nicht allein einem sozialen System, sondern auch dem einzelnen zugerechnet werden kann. Soll menschliches Verhalten wechselseitig voraussehbar sein und soll das Zusammenleben nicht zu einem Chaos werden oder letztlich der gewaltsamen Durchsetzung von einzelnen oder Gruppen überlassen bleiben, so bedarf es der Steuerung des Verhaltens mittels sozialer Normen. Die für das Verhalten geltenden Normen müssen grundsätzlich annehmbar und durchsetzbar bleiben. Zur Durchsetzung der Normgeltung bzw. des der Norm entsprechenden Verhaltens ist eine Sanktionierung des von der Norm abweichenden Verhaltens erforderlich. Diese Sanktionierung kann nur im Wege subjektiver Zurechnung in Anknüpfung an das Verhalten des Einzelnen und seine Verantwortung dafür durchgeführt werden.
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Schuld bedeutet danach das Prinzip subjektiver Zurechnung normabweichenden Verhaltens. Eine normverletzende Tat kann nicht ignoriert oder einfach dem Ganzen angelastet werden. Eine bloße Erfolgszuschreibung kann andererseits nicht der Weg der Zurechnung an den Einzelnen sein. Voraussetzung ist vielmehr, sollen Normen beeinflussen können, ein „Dafürkönnen“ (vgl. Hassemer 1981, S. 202). Nicht wenn ein Schaden ohne Zutun des Einzelnen zufällig eingetreten ist, sondern wenn der Einzelne auch anders hätte handeln können, wird der Täter verantwortlich gemacht. Dieses Anders-Handeln-Können darf freilich nicht im Sinne eines indeterministischen Freiheitsbegriffes aufgefasst werden.
E. Nun haben sicher alle menschlichen Entscheidungen und Regungen, Vernunft, Wille und Handlungen neuronale Substrate, haben eine im Gehirn liegende physiologische, organische Basis. Wille und Handlungen ruhen in naturwissenschaftlich beschreibbaren organischen Abläufen. Der Mensch ist ein Naturwesen, eingebunden in naturwissenschaftliche Kausalverknüpfungen und ist damit determiniert in kausale Abläufe. Andererseits zeigt die Erfahrung darüber hinaus ein Zusätzliches, eine verantwortliche Urheberschaft für unsere Handlungen, wie es Habermas formuliert. Mentale Vorgänge sind nicht allein aus Beobachterbedingungen zu erklären. Verhalten ist nicht nur ein neuronaler Prozess. Neuronale Vorgänge können von Überlegungen insbesondere durch Normen bestimmt werden. Es bedarf der Steuerung des Verhaltens mittels sozialer Normen, wenn das Zusammenleben nicht zu einem Chaos werden oder lediglich gewaltsamer Durchsetzung von Einzelnen oder Gruppen überlassen bleiben soll. Neuronale Prozesse sind nicht nur chemische Abläufe. Es gibt Bedeutungen, eine Überdetermination durch Sinn. Verhalten wird durch Gründe beeinflusst. Das neuronale System reagiert auf Überlegungen, auf Abwägungen. Wie das abläuft, ist freilich ein Problem. Wie die Verknüpfung zwischen der – kantisch gesprochen – Welt des Inteligiblen und der Welt der Erscheinungen in ihrer Naturkausalität stattfindet, vermag niemand verläßlich anzugeben. Man kann aber wohl eine Verbindung von Determination aus Natur und Handlungsfreiheit im Sinne einer Kausalität aus Gründen annehmen. Wie aber bringt man neuronal verursachtes Geschehen und Gründe zusammen? Nicht in dem Sinne, dass Gründe in einem monistischen System sozusagen die subjektive Gestalt des neurologisch ablaufenden Geschehens wären. Es bleibt die Differenz zwischen Ursachen und Gründen, zwischen neurologisch beobachtbarem Geschehen und mentaler Ebene. Wie aber sollen Gründe wirken? Wie dieser epistemische Dualismus (so Habermas) nur einen methodischen, nicht aber einen ontologischen Bezug haben soll, ist nur schwer zu erklären. Alles Handeln ist für die beteiligten Subjekte nicht nur mit neurologischen Ursachen, sondern auch mit Gründen verknüpft. Gründe aber können nicht nur Epiphänomene sein, mentale Gründe müssen eine Kraft zur Intervention haben. Es geht um den Versuch einer Einheit von erfahrungswissenschaftlich objektivierter Natur und einer intersubjektiv geteilten
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Kultur. Habermas spricht von der Nichthintergehbarkeit der Sprachspiele kausaler und rationaler Erklärung. Es muss ausgedrückt in den Programmierungen des Gehirns (Singer) Interaktionen von Geist und Gehirn geben. Das Gehirn als System von vernetzten Informationen ist nicht in sich geschlossen, es nimmt auf, es lernt, kann sich entwickeln. Es gibt die Möglichkeit der Information durch Sinn und Gründe. Determination durch genetische und neurologische Information und freier Wille können vereinbar sein, wenn beide nicht „Totallösungen“ sind. Totaler Indeterminismus übergibt die Welt dem Zufall und löst das verantwortliche Subjekt auf. Es muß aber im determinierten System Spielräume geben. Wie im einzelnen Determination und Freiheit miteinander vereinbar sind, so Pauen, wie Kausalität und die Welt des Mentalen vereinbar sind, ohne einen anzunehmenden Homunculus kann schwer erklärt werden. Freilich kann der jeweils gegebene Spielraum von indeterministisch verstandener Willensfreiheit für den Einzelfall nicht festgestellt werden. Das können offenbar nur Philosophen. Es kann aber generell subjektiv normabweichendes Verhalten zugerechnet werden. Eine bloße Zuschreibung von Erfolgen im bloßen Wege der Naturkausalität kann nicht der Weg der Zurechnung an den Einzelnen sein, sollen Normen menschliches Verhalten beeinflussen können. Nicht wenn ein Schaden ohne Zutun des Täters zufällig eingetreten ist, sondern wenn er auch anders hätte handeln können, wenn er dafür kann, wird der Täter verantwortlich gemacht. Es wird davon ausgegangen, dass generell Menschen in bestimmt beschreibbaren äußeren und inneren Situationen anders hätten handeln können, dass ihnen Entscheidungen möglich gewesen sind, bei denen man hätte innehalten, überlegen und anders handeln können. Der strafrechtliche Vorwurf drückt dabei nur aus, dass die Erwartung des Rechts gegenüber dem durchschnittlich normalen Bürger enttäuscht worden ist, dass er sich nach den Rechtsnormen richte. Grundlage für einen solchen Schuldvorwurf ist nur die normale Motivierbarkeit durch soziale Normen. Das Recht geht von ihr generell aus und macht ein Zurückbleiben hinter seinen für den Durchschnittsfall aufgestellten Anforderungen zum Vorwurf. Damit ist das Schuldurteil des Rechts auch im Strafrecht in gewissem Maße generalisiert. Es umfasst nur das Zurückbleiben hinter dem Verhalten, das vom Bürger unter normalen Bedingungen erwartet werden kann. Ein Schuldvorwurf kann nur in generalisierenden Kategorien gefasst werden. Freilich haben sich immer mehr psychologische, genetische und lebensgeschichtliche Ursachen für menschliches Handeln finden lassen. Es gibt eine Fülle von physiologischen und lebensgeschichtlichen Bedingungen für menschliches Handeln. Aber eine allein neuronale und genetische Determination der Welt ist nicht annehmbar. Ein kognitives System macht sich trotz vieler feststellbaren Bedingtheiten ein Bild von sich selbst und empfindet sich als entscheidendes Moment. Freilich kann die Schuld im konkreten Einzelfall mit wissenschaftlichen Mitteln nicht festgestellt werden. Das Gesetz formuliert in § 20 StGB nicht positiv, worin Schuld besteht, sondern dass ohne Schuld handle, wer an einer krankhaften seelischen Störung oder vergleichbaren Zuständen leidet. Der Schuldvorwurf entfällt, wenn außergewöhnliche Umstände in der Person des Täters oder der Tatsituation gegeben sind. Sie sind als Ausnahmen formuliert. Die persönliche Situation des Täters wird dabei nicht etwa ausgeklammert, aber nur in generalisie-
Ist der Mensch für sein Verhalten rechtlich verantwortlich?
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renden Kategorien wie der krankhaften seelischen Störung, die die Einsicht bzw. Steuerungsfähigkeit ausschließen, rechtlich erfasst. Das Recht mutet nicht die positive Feststellung der Schuldfähigkeit zu, sondern fragt lediglich, ob abnorme Ausnahmetatbestände vorliegen, die die allgemein vorausgesetzte Verantwortlichkeit ausschließen oder einschränken. Ob ein Täter „wirklich“ schuld ist, weiß niemand. Strafrechtliche Schuld steht zu solch wirklicher Schuld lediglich im Verhältnis der Analogie, weil definitive Aussagen darüber nicht möglich sind. Es gibt aber in unserer Welt Handlungsfreiheit und Verantwortung. Verhalten kann rechtlich zugerechnet werden. Es gibt wohl Spielräume, unser Verhalten läuft nicht nur ab. Literatur Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit, München 2001 Peter Bieri, Unser Wille ist frei, Der Spiegel 2005, Heft 2 (10. Januar 205) Paul Bockelmann, Willensfreiheit und Zurechnungsfähigkeit, in: ZStW 75 (1963), S. 372 ff. Christian Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt/M. 2004 Jürgen Habermas, Freiheit und Determinismus, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2004, S. 871 ff. Wolfgang Hassemer, Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 2. Aufl., München 1990 Herbert Helmrich, Das verbiete ich mir, in: F.A.Z. v. 30. 12. 2003 Thomas Hillenkamp, Strafrecht ohne Willensfreiheit? Eine Antwort auf die Hirnforschung, in: JZ 2005, S. 313 ff. Hans-Ludwig Kröber, Das limbische System – ein moralischer Limbus? in: F.A.Z. v. 11. 11. 2003, S. 37 H.-P. Krüger: Das Hirn im Kontext exzentrischer Positionierungen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2004, S. 257 ff. Richard Lange, Ist Schuld möglich?, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Festschrift für Paul Bockelmann, München 1979 Benjamin Libet, Haben wir einen freien Willen? in: Christian Geyer (Hrsg.), Hirnforschung und Willensfreiheit, Frankfurt/M. 2004, S. 209 ff. Klaus Lüderssen, Wir können nicht anders, in: F.A.Z. v. 4. 11. 2003, S. 33 Michael Pauen, Illusion Freiheit?, Frankfurt/M. 2004 Michael Pauen, Gerhard Roth (Hrsg.), Neurowissenschaften und Philosophie, München 2001 Wolfgang Prinz, Freiheit oder Wissenschaft, in: Mario v. Cranach, Klaus Poppe (Hrsg.), Freiheit des Entscheidens und Handelns, Heidelberg 1996, S. 86 ff. R. Rorty, The Brain as Hardware, Culture as Software, in: Inquiry 2004, S. 219 ff. Gerhard Roth, Fühlen, Denken, Handeln, Frankfurt/M. 2003 Gerhard Roth, Worüber Hirnforscher reden dürfen – und in welcher Weise, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2004, S. 223 ff. Martin Seel, Sich bestimmen lassen, Frankfurt/M. 2002 Wolf Singer, Ein neues Menschenbild?, Frankfurt/M. 2003 Wolf Singer, Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschreibung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2004, S. 235 ff.
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Hans-Ludwig Schreiber, Henning Rosenau, Grundlagen der psychiatrischen Begutachtung, in: Ulrich Venzlaff, Klaus Förster (Hrsg.), Psychiatrische Begutachtung, 4. Aufl., München 2004, S. 53 ff. Günter Stratenwerth, Die Zukunft des staatlichen Schuldprinzips, Heidelberg 1977 Michael Tomasello, Die kulturelle Entwicklung des menschlichen Denkens. Zur Evolution der Kognition, Frankfurt/M. 2002 Hermann Witter, Der psychiatrische Sachverständige im Strafrecht, Berlin 1987
Gedanken zur Zulässigkeit von Sektionen1 Brigitte Tag
A. Vorbemerkung Das Vorhaben, in der Festschrift zu Ehren des prominenten Arztrechtlers, Gelehrten, Wissenschaftlers und akademischen Lehrers, Prof. Dr. Dr. h.c. Adolf Laufs, über das ethisch nicht unproblematische und rechtlich weit gespannte Thema der Zulässigkeit von Sektionen zu schreiben, mag erstaunen. Dieses Risiko einzugehen und einige brennende Fragenkreise anzusprechen, ist durch das Œuvre des Jubilars motiviert. Es zeigt unter vielen Facetten die Notwendigkeit, drängende Themen aufzugreifen und kritisch zu hinterfragen. Mit deutlichen Worten, aber auch mit großer Sensibilität für andere Sichtweisen wird Stellung bezogen – unbelastet davon, ob die Thematik heikel ist und ob die eigene Position sich mit oder gegen den Zeitgeist bewegt. Ein solches aufrechtes Vorbild motiviert – nicht zum bloßen Nachahmen, sondern darin, die größeren und kleineren Steine am Wegesrand der Forschung als Herausforderung zu begreifen und bei jedem Schritt die Wahrhaftigkeit und Integrität der Wissenschaft als Grundvoraussetzung vor Augen zu haben. In diesem Sinne sei dem geehrten Jubilar ein Festschriftenbeitrag gewidmet, der das Neben- und Miteinander von Medizin-, Sektions- und Strafrecht zum Inhalt hat und hier einige Diskussionsanstöße geben möchte.
B. Einführung in den Fragenkreis I. Vorhandenes Regelwerk Durchforstet man das geltende Recht nach den Voraussetzungen und Grenzen von Sektionen und damit implizit dem Rechtsstatus der menschlichen Leiche, so ist der Ertrag karg. Das Bürgerliche Gesetzbuch, die zahlreichen Bestattungs- und Friedhofsgesetze2 und die wenigen vorhandenen Sektionsgesetze3 schweigen zum Rechtsstatus der Leiche und ihrer Teile. Aber auch die Kriterien zulässiger Sekti1
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Frau wiss. Ass. Stephanie Wiesner sei Dank für die vielfältigen und umsichtigen Vorund Nacharbeiten. Z. B. BestattungsG M-V v. 3. 7. 1998, GVOBl. M-V, S. 617, § 5; BestattungsG LSA v. 5. 2. 2002, § 9, §§ 8 ff.; BbgBestG v. 7. 11. 2001, GVBl. I/01, S. 226. Sektionsgesetz Berlin i.d.F. v. 7. 3. 1997, GVBl. v. 15.3.1997, S. 54; neugefasst durch Art. 1 Nr. 1 G. v. 4. 7. 2001, GVBl., S. 302; Hamburgisches Sektionsgesetz v. 9. 2. 2000, GVBl., S. 38 ff.
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onen, sei es für anatomische Zwecke oder solche der Forschung, Qualitätssicherung und für epidemologische und gesundheitspolitische Fragestellungen, oder zur Aufklärung der natürlichen wie unnatürlichen oder gewaltsamen Todesursachen sind nur rudimentär geregelt. Einige untergesetzliche Regelungen, wie z.B. Berufsordnungen, Empfehlungen und Richtlinien,4 versuchen diese Lücke zu schließen und bei der Herausarbeitung einheitlicher Maßstäbe und berufsrechtlicher Selbstbindung wegbereitend zu wirken – ohne jedoch unmittelbare Geltung für den (nicht) über seine Leiche Disponierenden oder dessen Angehörige zu entfalten. Ein vergleichbar spärliches Ergebnis ergibt sich beim Durcharbeiten europäischer Regelwerke. Die Konventionen, Zusatzprotokolle, Richtlinien und Empfehlungen, die zudem von Deutschland nicht durchweg ratifiziert wurden, beschäftigen sich bislang nur fragmentarisch mit dem toten menschlichen Körper. Der Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Qualitäts- und Sicherheitsstandards für die Spende, Beschaffung, Testung, Verarbeitung, Lagerung und Verteilung von menschlichen Geweben und Zellen5, der inzident auch Rahmenbedingungen der Forschung mit Substanzen Verstorbener unterbreitet, wird derzeit auf nationaler Ebene diskutiert.6 Die hierauf Bezug nehmenden Vorarbeiten zu sogenannten Humanforschungsgesetzen und Biobanken7 lassen bislang erst Tendenzen zum legislativ gesollten Umgang mit der Leiche und ihren Teilen erkennen. II. Bundeseinheitlicher Regelungsbedarf Die mit der inhomogenen Rechtslage8 einhergehende Rechtsunsicherheit ist besonders im Hinblick auf die Sektionen9 misslich.10 Denn einerseits belegen natio-
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Vgl. z. B. Zentrale Ethikkommission bei der BÄK, Stellungnahme zur (Weiter-)verwendung von menschlichen Körpermaterialien von Verstorbenen für Zwecke medizinischer Forschung, in: DÄBl. 100 (2003), S. A 2251; Einbecker Empfehlungen zu Rechtsfragen der Obduktion, in: MedR 1991, S. 76; Sektionsrichtlinie BadenWürttemberg als Teil der Berufsordnung der baden-württembergischen Ärzteschaft, Bekanntmachung ÄBW 4/2003, S. 22 ff. Abl C 227 E/505 ff. (2002/C 227 E/28) KOM(2002) 319 endg. – 2002/0128 (COD). Gutachtliche Stellungnahme der Enquete-Kommission „Ethik und Recht der modernen Medizin“ des Deutschen Bundestages vom 3. 11. 2003 (8. Sitzung). Biobanken für die Forschung, Stellungnahme Nationaler Ethikrat, 17. 3. 2004; ergänzende gemeinsame Erklärung des NER und des CCNE zu ihren Stellungnahmen über Biobanken vom 2. 10. 2003; Samir Rabatta, Biobanken: Eine Frage des Umgangs, in: DÄBl. 99 (2002), S. A 1863 f.; zum Forschungsprojekt eines deutschen forensischen Sektionsregisters vgl. Hansjürgen Bratzke, Markus Parzeller, Franz Köster, Deutsches Forensisches Sektionsregister startet: Ein Beitrag zur Qualitätssicherung, in: DÄBl. 101 (2004), S. A 1258 ff. Reinhard Dettmeyer, Burkhard Madea, Obduktionen: Unsichere und uneinheitliche Rechtslage, in: DÄBl. 99 (2002), S. A 2311 ff.
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nale und internationale Studien sinkende Sektionsraten.11 Andererseits sind Sektionen trotz der modernen bildgebenden Verfahren unabdingbar,12 um die Todes-, Krankheitsursachen und -zusammenhänge festzustellen, Diagnosen und angewandte Therapien zu überprüfen, die Weiterentwicklung der ärztlichen Wissenschaft zu fördern und damit anderen Patienten zu helfen.13 Die Sektionen dienen aber nicht nur den Interessen der Wissenschaft; sie entsprechen oft auch dem individuellen Interesse der Spender, die ihren Körper aus Gründen der Solidarität postmortal zur Verfügung stellen. Zugleich stoßen Sektionen bei vielen Menschen auf Misstrauen und Vorbehalte. Zuvorderst steht die Sorge um den Schutz der Spenderinteressen. Befürchtet wird, dass der tote Körper und persönliche Informationen unkontrolliert verwendet werden, der Datenschutz nicht eingehalten wird, die Hinterbliebenen vor genetischer oder sonstiger Diskriminierung und Stigmatisierung nicht geschützt sind. Das geltende Recht, das die involvierten Interessen in Ausgleich bringen muss, bietet bislang nur die Kontexte der Regelungsfragmente. Die in den Bestimmungen angeordneten Rechtsfolgen dienen lediglich als Anhaltspunkt, unter welchen Voraussetzungen Sektionen, das Aufbewahren sowie die Weiterverwendung von entnommenen Substanzen und Gewebe zulässig sind. III. Gründe legislativer Zurückhaltung Die bisherige legislative Reserviertheit beruht auf vielen Säulen. Die Grundrechtsgarantie der Menschenwürde (Art. 1 GG), des allgemeinen Persönlichkeitsschutzes und das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 GG, entsprechend Art. 8 EMRK) stehen dafür, dass neue bzw. neu bewertete Entwicklungen im Lichte der Werte der Gemeinschaft und der Individualgarantien zu betrachten und Spannungsverhältnisse im Sinne eines verfassungsrechtlich erstrebten Wertungsgleichklangs aufzulösen sind. Die Erkenntnisse zum Umgang mit dem menschlichen Körper, seinen Teilen und dem Gewebe werden aber nicht nur national, sondern international gewonnen, verarbeitet und in einen supranationalen Gesamtkontext eingebracht. Dass hierbei sowohl auf nationaler wie internationaler Ebene 9
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Zur historischen Entwicklung vgl. Dominik Groß, Die Entwicklung der inneren und äußeren Leichenschau in historischer und ethischer Hinsicht, Würzburg 2002. Adolf Laufs, Die Entwicklung des Arztrechts 1990/91, in: NJW 1991, S. 1516, 1520. Ernst-Wilhelm Schwarze, Jörg Pawlitschko, Autopsie in Deutschland: Derzeitiger Stand, Gründe für den Rückgang der Obduktionszahlen und deren Folgen, in: DÄBl. 100 (2003), S. A 2802 ff. m.w.N.; Burkhard Madea, Ärztliche Leichenschau und Todesbescheinigung: Kompetente Durchführung trotz unterschiedlicher Gesetzgebung der Länder, in: DÄBl. 100 (2003), S. A 3161 ff. S. Fluri, Jan Olaf Gebbers, Glanz, Sinn (und Elend) der Autopsie, in: Forum Med Suisse 2002, S. 79 ff. Vgl. z. B. Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Pathologie bezüglich einer fachbezogenen Unter-, Über- oder Fehlversorgung in Deutschland, http://www.svrgesundheit.de/befragung/id-nummern/149.pdf (Datum des Abrufs: 19. 4. 2005).
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mannigfache kulturelle, ethische und weltanschauliche Wertvorstellungen aufeinander treffen, führt zu neuen Einsichten, zu wünschenswerten Synergien, aber auch zu Konflikten. Eine umfassende in Gesetzesform gekleidete Chancen-RisikoAbwägung muss daher sehr verschiedene Kriterien beachten, vielfältige Interessen einander zuordnen und ausgleichen. Aufgabe des Rechts ist es jedoch grundsätzlich nicht, bei Werteunsicherheit eine der Positionen für allgemeinverbindlich zu erklären und andere vertretbare Positionen damit endgültig auszuschließen. Denn zum einen unterliegt die Einsicht in das, was Recht ist und sein soll, einem ständigen Wertewandel. Zum anderen kann das Recht nur dann eine Akzeptanz durch die Gesellschaft erwarten und auf eine positive Aufnahme vertrauen, wenn es gemeinschaftsdienlichen Werten entspricht, wenn es von der Bevölkerung als richtig und damit auch rechtsethisch vertretbar anerkannt wird.
C. Zulässigkeitsvoraussetzungen von Sektionen im Einzelnen I. Gesetzgebungskompetenz zum Umgang mit der Leiche Die Frage nach den Zulässigkeitsvoraussetzungen von Sektionen wird auf nationaler Ebene zunächst von der Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern bestimmt. Denn die Regelungskompetenz hinsichtlich des Bestattungs- und Friedhofswesens, der Sektion und Leichenschau liegt in Deutschland bei den Ländern.14 Dem Bundesgesetzgeber steht es freilich offen, auf das Sektionsrecht im Rahmen seiner Kompetenz Einfluss zu nehmen, so z.B. im bürgerlichen Recht, Strafrecht und im gerichtlichen Verfahren, Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG, Personenstandswesen, Art. 74 Abs. 1 Nr. 2 GG, Infektionsschutz, Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG, bezüglich der künstlichen Befruchtung beim Menschen und der Transplantation von Organen und Geweben, Art. 74 Abs. 1 Nr. 26 GG. II. Status der Leiche Materieller Ausgangspunkt der Überlegungen zur Zulässigkeit von Sektionen sowie zur Nutzung von Geweben und Substanzen menschlicher Herkunft ist der Rechtsstatus der Leiche. Nach dessen Klärung ist zu analysieren, welche Pflichten der Gesellschaft und dem Einzelnen obliegen, welcher Schutzstandart einzuhalten ist. Unter biologischen Gesichtspunkten kann es kaum bestritten werden, dass der Tod dem konkreten „Mensch-Sein“ ein unumstößliches Ende setzt. Ist der „point of no return“ überschritten, die Einheit von Geist, Seele und Körper unwiederbringlich zerstört, bleibt der tote Körper als vergängliche Hülle zurück. In Jurisdiktion und Schrifttum findet sich bislang keine übereinstimmende Meinung dar14
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über, ob die Leiche dem Sachbegriff des § 90 BGB zuzuordnen, ob sie verkehrsfähig und damit auch eigentumsfähig ist. Einige Stimmen interpretieren die Rechtsstellung der Leiche zumindest bis zum Erlöschen der Pietätsbindung rein persönlichkeitsrechtlich,15 andere16 bewerten sie als grundsätzlich nicht verkehrsfähige Sache17 oder gar als res extra commercium.18 Um dem faktischen Umstand Rechnung zu tragen, dass in öffentlichen und nichtöffentlichen anatomischen, pathologischen und rechtsmedizinischen Sammlungen unzählige konservierte Leichen- und Leichenteile aufbewahrt sind, soll der Persönlichkeitsbezug bei nicht mehr identifizierbaren Knochen und Skeletten sowie bei den in der Pathologie anonymisierten Leichen fehlen.19 Obgleich für alle Positionen sachlich nachvollziehbare Argumente streiten, scheint es geboten, den Ausgangspunkt der normativen Beurteilung bei den realen Gegebenheiten zu setzen. Gegen die persönlichkeitsrechtliche Lösung spricht, dass mit dem Tod der Person das Rechtssubjekt sein Ende gefunden hat. Will man nicht auf fernliegende altgermanische mystizistische Auffassungen20 zurückgreifen, müsste ein subjektloses Recht oder eine Teilrechtsfähigkeit des Toten anerkannt werden. Dem steht der Umstand entgegen, dass im Bereich der Persönlichkeitsrechte aufgrund der Verbindung von Person und Recht ein subjektloses Recht ausscheidet.21 § 1922 BGB, wonach mit dem Tod des Erblassers das Vermögen auf die Erben übergeht, impliziert, dass der Tod die Eigenschaft beendet, Träger von Rechten und Pflichten zu sein. 15
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Heinz Hübner, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Gesetzbuches, 2. Aufl., Berlin 1996, S. 165; Karl Larenz, Allgemeiner Teil des deutschen Bürgerlichen Rechts, 7. Aufl., München 1989, § 16 II, Fn. 4; Reinhard Maurach, Friedrich-Christian Schroeder, Manfred Maiwald, Strafrecht Besonderer Teil, Ein Lehrbuch, 9. Aufl., Teilband 1, Heidelberg 2003, § 32/19, Rdnr. 19; Knut Müller, Postmortaler Rechtsschutz – Überlegungen zur Rechtssubjektivität Verstorbener, Frankfurt/M., Bern 1996, S. 113 ff. Zum Streit vgl. bereits Hermann Schünemann, Die Rechte am menschlichen Körper, Frankfurt/M., Bern 1985, S. 57 ff. Wolfgang Mitsch, Strafrecht – Besonderer Teil, 2. Aufl., Teilband 2, Berlin 2002, § 1, Rdnr. 13; Andreas Hoyer, in: Hans-Joachim Rudolphi, Eckhard Horn u. a., Systematischer Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 2: Besonderer Teil §§ 80-358, § 242, Rdnr. 4; Brigitte Tag, Zum Umgang mit der Leiche: Rechtliche Aspekte der dauernden Konservierung menschlicher Körper und Körperteile durch die Plastination, in: MedR 1998, S. 387, 387 f.; Bamberger/Roth-BGB/Fritzsche, München 2004, § 90, Rdnr. 32; Staudinger-BGB/Dilcher, 13. Bearbeitung, Erstes Buch Allgemeiner Teil §§ 21-103, Berlin 1995, § 90, Rdnr. 20 ff. m.w.N; z.T. abweichend Hans-Josef Wieling, Sachenrecht, 3. Aufl., Berlin 1997, Teil 2 § 2 II 2., S. 22 (Leiche als Gegenstand eines Totensorgerechts eigener Art). Burkhard Madea, Die ärztliche Leichenschau: Rechtsgrundlagen, praktische Durchführung, Problemlösungen, Berlin, Heidelberg 1999, S. 21. Palandt-BGB/Edenhofer, 64. Aufl., München 2005, § 1922, Rdnr. 45 f. m.w.N. Nikolaus Englert, Todesbegriff und Leichnam als Element des Totenrechts, München 1979, S. 118 ff. m.w.N. Schünemann, Die Rechte am menschlichen Körper, S. 237 ff.
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Für eine rein sachenrechtliche Qualifizierung der Leiche vermag zwar der immer wieder anzutreffende, nüchterne Umgang mit Leichen22 sprechen. Die hiermit verbundenen Rechtsfolgen, insbesondere die unbeschränkte Eigentums- und Verkehrsfähigkeit,23 sind der Leiche als Rückstand einer ehemaligen Person aber nicht angemessen.24 Zu Recht sprechen etliche Bestimmungen, welche auf die über den Tod hinaus Geltung beanspruchende und damit analog zu verstehende Menschenwürde zurückzuführen sind, gegen eine vollumfängliche Anwendung des Sachenrechts: So sind Verfügungen des Verstorbenen über Art und Ort seiner Bestattung zu beachten.25 Das TPG hat sich in Anerkennung der Fortgeltung der durch Art. 1 Abs. 1 GG garantierten Menschenwürde auch über den Tod hinaus26 gegen die Widerspruchslösung und für die erweiterte Zustimmungslösung entschieden. § 6 TPG ordnet an, die Organentnahme und alle mit ihr zusammenhängenden Maßnahmen müssen unter Achtung der Würde des Organspenders in einer der ärztlichen Sorgfaltspflicht entsprechenden Weise durchgeführt werden. Aufgrund der besonderen Rechtsstellung der sterblichen Hülle – bereits das Reichsgericht hat für den Leichnam des Menschen wegen seiner „Besonderheit eine eigenartige rechtliche Lösung“ verlangt27 – ist die Leiche demnach zwar eine Sache, die mit dieser Qualifizierung herkömmlicherweise verbundenen Rechtsfolgen werden aber durch persönlichkeitsrechtliche Regelungen modifiziert.28 Die noch weitergehende Ansicht, die Leiche sei „res extra commercium“29 und somit insgesamt ausgenommen von der allgemeinen Verkehrsfähigkeit, findet aus moralischer Sicht zwar Verständnis, in Recht und Rechtswirklichkeit aber keine hinreichende Stütze.30 Zwar gehört der menschliche Körper mit Eintritt des Todes nicht zum Nachlass.31 Er wird vielmehr herrenlos. Dies bedeutet, dass an der Leiche zunächst kein Eigentum besteht, nicht aber, dass die Sache dem Rechtsverkehr insgesamt und auf Dauer entzogen ist. Vielmehr anerkennt das Recht grundsätzlich die Aneignung herrenloser Sachen32 und insbesondere auch die von Leichen 22 23
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Volkmar Schneider, Leichenschau, in: Rechtsmedizin 2002, S. 339, 350. So z. B. Johannes Brunner, Theorie und Praxis im Leichenrecht, in: NJW 1953, S. 1173 f. MünchKomm-BGB/Holch, 4. Aufl., Band 1 Allgemeiner Teil §§ 1-240, AGB-Gesetz, München 2001, § 90, Rdnr. 30. Vgl. § 2 FeuerbestattungsG v. 15. 5. 1934, RGBl. I, S. 380. Vgl. z. B. BT-Dr. 13/4355, S. 19. RGSt 64, S. 313 ff. Vgl. z. B. Staudinger-BGB/Dilcher (1995), § 90, Rdnr. 20 ff.; Schünemann, Die Rechte am menschlichen Körper, S. 248 ff. Klaus Bergdolt, Das Unbehagen an den „Körperwelten“, in: Franz Josef Wetz, Brigitte Tag (Hrsg.), Schöne neue Körperwelten, Stuttgart 2001, S. 204-213, 210. So auch MünchKomm-BGB/Holch, Band 1, § 90, Rdnr. 31. Urs Kindhäuser, in: Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, Baden-Baden 1995, § 242, Rdnr. 27; Klaus Ulsenheimer, Strafrechtliche Aspekte der Organtransplantation, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, § 142, Rdnr. 6. § 958 Abs. 1 BGB: „Wer eine herrenlose bewegliche Sache in Eigenbesitz nimmt, erwirbt das Eigentum an der Sache.“
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bzw. Leichenteilen – was sich an den von den Fachkreisen33 und der Bevölkerung34 für zulässig anerkannten Anatomieverträgen und -leichen deutlich zeigt.35 Dass einige anatomische Einrichtungen seit der Streichung des durch die Krankenkassen gewährten Sterbegeldes von den Alt- und Neuspendern nun – zusätzlich zu der wohltätigen Körperspende – auch die Kostenübernahme für eine spätere Bestattung verlangen, ändert nichts an dem Rechtsstatus der Leiche, sondern scheint Auswirkung des moralischen Prinzipien nicht zwingend verpflichteten Einspargeistes zu sein.36 Parallel zu dieser Entwicklung wächst das Spektrum kommerzieller und nichtkommerzieller Nutzung postmortal entnommener Körperund Gewebeteile oder auch die Verwendung von Leichen zu wissenschaftlichen oder industriellen Forschungszwecken.37 Diese nicht abschließend benannten Fakten sprechen eine klare Sprache: die Leiche ist Bezugsobjekt von Rechten und Pflichten und damit eine grundsätzlich eigentums- und verkehrsfähige Sache.38 Dieses Zwischenergebnis steht im Einklang mit der Stellungnahme der Zentralen Ethikkommission bei der BÄK zur „(Weiter-)Verwendung von menschlichen Körpermaterialien für Zwecke medizinischer Forschung“39 sowie der hierzu ergangenen ersten Ergänzung zur „(Weiter-)Verwendung von menschlichen Körpermaterialien Verstorbener für Zwecke medizinischer Forschung“40. Danach wird zu Recht festgestellt, dass ein Körperteil mit der Trennung vom lebenden Körper eine Sache wird und das Eigentum daran zunächst demjenigen zusteht, dem die Substanz entnommen wurde. Dieses Eigentum kann an den Arzt oder die Klinik übertragen, aufgegeben oder behalten werden. Die Zentrale Ethikkommission weist darauf hin, dass für postmortal entnommene Körpersubstanzen grundsätzlich die gleichen ethischen und rechtlichen Prinzipien wie bei der Verwendung von Körpersubstanzen Lebender gelten. Diese Position reiht sich in den auf europäischer und internationaler Ebene angestrebten Konsens ein. Weder das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin41 noch das entsprechende Zusatzprotokoll bezüglich der Transplantation42 sprechen Körperteilen die Verkehrsfähigkeit ab, sondern verbieten lediglich die 33
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RGSt 64, S. 313; Schönke/Schröder-StGB/Eser, 26. Aufl., München 2001, StGB, § 242, Rdnr. 21. Vgl. Berliner Zeitung v. 27. 9. 1999, „Auch mit geschlossenen Augen schauen“. Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 142, Rdnr. 6. Näher Berliner Zeitung v. 20. 12. 2004, „Körperspender sollen für ihre eigene Bestattung bezahlen; Charité will die Kosten nicht mehr übernehmen.“ Frank Pluisch, Ulrich Heifer, Die rechtliche Zulässigkeit von Leichenversuchen, in: NJW 1994, S. 2377, 2377 f., sowie LT Baden-Württemberg, Drs. 11/2978 vom 24. 11. 1993. Peter König, Strafbarer Organhandel, Frankfurt/M. 1999, S. 27 ff. Vom 20. 2. 2003, http://www.zentrale-ethikkommission.de/10/PDF/Koerpermat.pdf. Vom 19. 5. 2003, http://www.zentrale-ethikkommission.de/10/PDF/KoerpermatErg01. pdf. Vom Europarat angenommen am 19. 11. 1996, CDBI (96) S. 26. Additional Protocol to the Convention on Human Rights and Biomedicine, on Transplantation of Organs and Tissues of Human Origin, Strasbourg, 24. 1. 2002.
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Verwendung zur Erzielung von Gewinn oder vergleichbaren Vorteilen.43 Auch der Vorschlag für eine Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung von Qualitäts- und Sicherheitsstandards für die Spende etc. von menschlichen Geweben und Zellen beruht inzident auf der Annahme der Verkehrsfähigkeit auch von postmortal entnommen Substanzen und damit der Leiche insgesamt. III. Verfügung von Todes wegen Die Feststellung, dass mit dem Eintritt des Todes die Leiche zur eigentumsfähigen Sache wird, ist allerdings nicht gleichbedeutend mit derjenigen, dass von einer logischen Sekunde zur anderen die bestehenden persönlichkeitsrechtlichen Bezüge erlöschen. Dass der leblose Körper nicht zur beliebigen Sache wird, findet mannigfaltigen Ausdruck: Zum einen zeugt er von der durchlebten Geschichte eines konkreten Menschen, ist für die Hinterbliebenen Gegenstand von Trauer, Respekt und Pietät. Sodann spricht der Umstand, dass aufgrund eines „genetischen Fingerabdrucks“ unter Verwendung von Vergleichsmaterial die Identität des früheren Trägers ermittelt und damit Rückschlüsse auf seine Person oder Familienangehörige gezogen werden können, eindeutig für ein Nachwirken persönlichkeitsrechtlicher Bezüge. Ganz plastisch wird dies, wenn möglicherweise in Zukunft durch Zellkerntransfer ein Klon des früheren Trägers geschaffen werden kann. Merkmale der genetischen Identität des Menschen berühren den Schutzbereich der Menschenwürde, des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung der Lebenden. In analoger Weise berühren sie auch den Umgang mit dem Toten. Die Sektion, Verwendung und Aufbewahrung von Leichen(-teilen) können diese Rechte verletzen oder auch durch sie legitimiert werden. Daher ist auch die Befugnis, den eigenen Körper postmortal der Anatomie und Pathologie zu spenden und damit auch zu verfügen, dass eine Sektion durchgeführt wird, verfassungsrechtlich abgestützt. Zwar hat die Rechtsprechung den Inhalt des allgemeinen Persönlichkeitsrechts44 nicht lückenlos herausgearbeitet, sondern seinen Schutzbereich jeweils anhand des zu entscheidenden Falles bestimmt.45 Die Organspende ist jedoch als Schutzgut des allgemeinen Persönlichkeitsrechts anerkannt. In gleicher Intensität wird aber das Recht auf individuelle Selbstbestimmung berührt, wenn der Urteilsfähige über die postmortalen Eingriffe in seinen Körper und die Weiterverwendung der entnommenen Gewebe und Substanzen entscheidet, diese ausdrücklich ablehnt oder dazu schweigt.
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Vgl. Art. 21 Bioethikkonvention und Art. 21 Zusatzprotokoll. Konvention und Protokoll wurden von Deutschland noch nicht ratifiziert. Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG. BVerfGE, 54, S. 148, 153 f.
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IV. Fehlende Willensäußerung des Verstorbenen zu Lebzeiten 1. Vorüberlegungen Die Frage, wie zu verfahren ist, wenn eine postmortale Verfügung nicht vorliegt, ist komplex und nicht abschließend geklärt. Dennoch war die Antwort hierauf zu früheren Zeiten rasch gefunden.46 Das Recht, den Körper des Verstorbenen an anatomische oder pathologische Einrichtungen weiterzugeben, wurde ohne weitere Vorgaben den Angehörigen und Verwaltungsträgern zugesprochen. So finden sich – unter verfassungsrechtlichen Aspekten bedenkliche – behördliche Erlasse, wonach es den Gemeinden oblag, darauf hinzuwirken, dass, soweit der Wille des Verstorbenen nicht entgegenstand, unbekannte Leichen oder Leichen Verstorbener, deren Angehörige nicht bekannt waren bzw. sich nicht um die Bestattung kümmerten, medizinischen Hochschulen zu Ausbildungszwecken übergeben werden sollten.47 Das Gleiche galt, wenn den Gemeinden von Kranken- oder Strafvollzugsanstalten Leichen zugewiesen wurden.48 Die „Anordnung über die ärztliche Leichenschau“ von 1978, die dem zu Lebzeiten geäußerten Willen des Verstorbenen oder dem seiner Angehörigen praktisch keine Relevanz zumaß, führte in der ehemaligen DDR zu einer fast flächendeckende Obduktionsquote von 90%.49 Gleichwohl kann diese Faktizität heute nicht unbesehen als Modell für zukünftige Sektionsregelungen übernommen werden – auch wenn in den Fachkreisen Lösungsansätze diskutiert werden, die von den früheren nicht allzu sehr entfernt scheinen.50 Es bedarf keiner weitschweifenden Begründung, dass der Wunsch nach bzw. Bedarf von steigenden Sektionsraten eine rechtliche Würdigung nicht zu ersetzen vermag. Der Übersichtlichkeit halber erscheint es daher angezeigt, in einem ersten Schritt die vorhandenen Regelungen zum Schutz der menschlichen Leiche und der körperbezogenen Autonomie im Überblick darzustellen, um daraus in einem zweiten Schritt allfällige Rückschlüsse für zulässige und gebotene Vorgehensweisen zu ziehen.
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RGSt 64, S. 313; Schönke/Schröder-StGB/Eser, § 242, Rdnr. 21. Vgl. Runderlass des Sozialministeriums Niedersachsen vom 8. 8. 1962, Nds Mbl., S. 280; für Bayern Entschließung vom 19. 6. 1961 (MABl., S. 448) i. d. F. v. 14. 3. 1973 (MABl., S. 274); für Nordrhein-Westfalen Runderlass vom 4. 4. 1985, MBl., S. 537. Jürgen Gaedke, Joachim Diefenbach, Handbuch des Friedhofs- und Bestattungsrechts: Mit ausführlicher Quellensammlung des geltenden staatlichen und kirchlichen Rechts, 9. Aufl., Köln 2004, S. 119 m.w.N. ÄK Berlin Pressemitteilung „Dramatischer Rückgang von Obduktionen in Berlin“, 2001. Zur Görlitzer Studie vgl. Dieter Modelmog, Roland Goertchen u. a., in: Zeitschrift für Klinische Medizin 1989 (44), S. 2163 ff. Symposium der 5. Fortbildungstagung der LÄK Brandenburg, Ärzteblatt Sachsen 2002, Heft 2, S. 52, insbes. die Forderung von Goertchen, S. 55 f., nach einer gesetzlich verbindlichen und bezahlbaren „Indikationsliste“ von Todesursachen mit den Kriterien „unklar, kindlich/jugendlich, mütterlich, AIDS, Prionenkrankheit“.
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2. Regelungen zum Schutz der menschlichen Leiche a) Strafrechtlicher Schutz. Die Leiche ist im Wesentlichen von dem Straftatbestand „Störung der Totenruhe“ gegen unbefugte Handlungen geschützt. Pönalisiert ist in § 168 Abs. 1 1. Alt. StGB die Wegnahme und damit die Entziehung der Leiche aus dem Obhutsverhältnis des Berechtigten. Nach überwiegender,51 wenngleich nicht unbestrittener52 Meinung ist hierzu eine faktische Beziehung zur Leiche bzw. toten Leibesfrucht erforderlich. Verstirbt der Patient im Krankenhaus, kommt die tatsächliche Obhut zunächst der Anstaltsleitung zu. Gewahrsam der Angehörigen entsteht mit Herausgabe der Leiche53 oder frühestens mit der Mitteilung, dass die Leiche abgeholt werden kann.54 § 168 StGB erweist sich daher als lückenhaft, wenn im Einvernehmen mit der Klinikleitung, aber ohne Zustimmung oder gegen den Willen der Angehörigen bzw. des Verstorbenen eine Sektion durchgeführt und Gewebe entnommen wird. Dasselbe gilt, wenn von einer beschlagnahmten Leiche Organteile asserviert und zu allgemeinen Forschungszwekken verwendet werden.55 Die 1987 als Schutzobjekt in § 168 StGB mitaufgenommene Leibesfrucht soll nach der Gesetzesbegründung die menschliche Frucht vom Zeitpunkt der Einnistung an erfassen, um die tote Leibesfrucht und Teile derselben vor unbefugter Wegnahme aus dem Gewahrsam des Berechtigten zu schützen. Diesem Anliegen wurde durch die Neuregelung nicht in ausreichendem Maße Rechnung getragen. Denn aus einem Schwangerschaftsabbruch stammende Feten unterliegen nur im Ausnahmefall den Bestattungsgesetzen.56 § 29 Abs. 1, 2 PStV definiert eine Leibesfrucht als Totgeburt, wenn sich nach der Scheidung vom Mutterleib keine Lebenszeichen – Herzschlag, Pulsieren der Nabelschnur, natürliche Lungenatmung – gezeigt haben, das Gewicht der Leibesfrucht jedoch mindestens 500 Gramm beträgt, nach Abs. 3 ist die Frucht eine Fehlgeburt, wenn sich keines der Lebensmerkmale gezeigt hat und das Gewicht der Leibesfrucht weniger als 500 Gramm 51
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Tröndle/Fischer-StGB, 52. Aufl., München 2004, § 168, Rdnr. 8; Schönke/SchröderStGB/Lenckner, 26. Aufl., München 2001, § 168, Rdnr. 6; Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 142, Rdnr. 11; OLG München, NJW 1976, S. 1805; AG Tiergarten, NJW 1996, S. 3092. Karlhans Dippel, in: Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar. Großkommentar, 10. Aufl., Vierter Band §§ 80-184c, Berlin, New York 1988, § 168, Rdnr. 24; Detlev Sternberg-Lieben, Strafrechtlicher Schutz der toten Leibesfrucht (§ 168 n. F. StGB), in: NJW 1987, S. 2062. OLG Stuttgart, Justiz 1977, S. 313; OLG München, NJW 1976, S. 1805. KG, NJW 1990, S. 782. Zur Diskussion um die Aufbewahrung und Verwendung des Gehirns von Ulrike Meinhof zu Forschungszwecken vgl. Dettmeyer/Madea, in: DÄBl. 99 (2002), S. A 3376; Kathrin Holzner, Organasservation: Fragwürdig, in: DÄBl. 100 (2003), S. A 251; zur Einstellungsverfügung im Fall Ulrike Meinhof vgl. Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft Tübingen vom 5. 8. 2003. Tade Matthias Spranger, Die ungenehmigte Verfügung der Krankenhäuser über Fehlgeborene, in: MedR 1999, S. 210 ff.; Lars Christoph Nickel, Angelika SchmidtPreisigke, Helmut Sengler, Transplantationsgesetz, Stuttgart 2001, § 1, Rdnr. 7.
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beträgt. Sofern die landesrechtlichen Bestattungsgesetze diesbezügliche Regelungen enthalten, ist diese Unterscheidung idR übernommen worden. Nur Totgeborene, nicht aber Fehlgeborene, werden danach als der Bestattungspflicht unterliegende menschliche Leichen behandelt.57 Fehlgeborene Kinder werden daher von den Eltern regelmäßig im Krankenhaus zurückgelassen. Die tatsächliche Obhut liegt dann bei der Leitung des Krankenhauses, bei dem die tote Leibesfrucht angefallen ist.58 Nur wenn dieser Gewahrsam unbefugt verletzt wird, droht Strafe. Die im Einverständnis mit der Anstaltsleitung vorgenommene Gewebeentnahme vor Ort oder die Weggabe toter Feten59 an Forschungszentren wird nicht von § 168 StGB erfasst,60 gleichgütig, ob die Eltern hiermit einverstanden sind. Die weitere Tathandlung von § 168 StGB, das Verüben beschimpfenden Unfugs an der Leibesfrucht bzw. der Leiche, ist durch eine grobe Gesinnung und ein besonderes Maß an Missachtung gegenüber dem nie geborenen Kind bzw. dem Verstorbenen gekennzeichnet. Weder die Verwendung der Leibesfrucht zu Forschungszwecken noch die Sektion einer Leiche sind im Regelfall Ausdruck der Verachtung, die Voraussetzungen von Art. 168 Abs. 1 2. Alt. StGB liegen in diesem Kontext mithin regelmäßig nicht vor.61 Das Strafgesetzbuch schützt weiterhin vor Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, § 189 StGB. Diese erfordert nach Form, Inhalt oder Motiv eine besonders schwere Kränkung,62 welche auch tätlich gegenüber der Leiche begangen werden kann.63 Die anatomische und klinische Sektion sind aber ebenso wie die strafprozessuale Sektion mögliche und übliche Umgangsformen mit der Leiche. Solange sie nicht in herabwürdigender Weise vollzogen werden, wird das Andenken des Verstorbenen durch den bloßen Eingriff in den leblosen Körper nicht verunglimpft. Sollte der Tatbestand dennoch im Ausnahmefall vorliegen, ergibt sich eine weitere Begrenzung daraus, dass das Gesetz im Regelfall das Antragsrecht auf bestimmte Angehörige beschränkt.64 b) Transplantationsgesetz65. Das auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 26 GG gestützte Transplantationsgesetz66 regelt die postmortale Entnahme von menschlichen Organen, Organteilen oder Geweben zum Zwecke der Übertragung auf andere Menschen, 57 58 59 60
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So etwa §§ 9 I 3 Nr. 2, 18 I 1 des sächsischen Bestattungsgesetzes. BT-Drs. 10/3785, S. 4. BT-Drs. 10/3758, S. 4; BT-Drs. 10/6568, S. 3. Rudolphi, in: Studienkommentar StGB, 6. Aufl. 1999, § 168, Rdnr. 3; Schönke/Schröder-StGB/Lenckner, § 168, Rdnr. 6; a. A. Dippel, in: Leipziger Kommentar zum StGB, § 168, Rdnr. 24. Vgl. auch BVerfG, NJW 1994, S. 783, 784. Tröndle/Fischer-StGB, § 189, Rdnr. 2 m.w.N. Lackner/Kühl-StGB, 25. Aufl., München 2004, § 189, Rdnr. 3; einschränkend Rainer Zaczyk, in: Nomos Kommentar zum Strafgesetzbuch, Baden-Baden 1995, § 189, Rdnr. 5. OLG München, Beschl. v. 6. 4. 2000, Az 21 W 1286/00. Brigitte Tag, Transplantationsgesetz, in: Münchner Kommentar zum Strafgesetzbuch, Band 5 (im Druck). Vom 5. 11. 1997, BGBl I, S. 2631.
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vgl. §§ 3 ff. TPG, sowie die Übertragung der Organe einschließlich der Vorbereitung dieser Maßnahmen und normiert in engen Grenzen die Lebendspende, § 8 TPG. Liegt bei der postmortalen Entnahme eine wirksame Organspendeerklärung – sei es seitens des Spenders, vgl. § 3, oder subsidiär seiner Angehörigen gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 – nicht vor, sog. erweiterte Zustimmungslösung, ist die Explantation in § 19 Abs. 1 TPG mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bedroht.67 c) Fazit. Damit ist festzuhalten: Der kurze Überblick zeigt, dass die vorhandenen Straftatbestände des Kernstrafrechts und des Transplantationsgesetzes im Hinblick auf den Schutz der menschlichen Leiche fragmentarisch sind und nur wenig Rückschlüsse auf die Kriterien zulassen, unter denen eine nicht durch ausdrückliche Körperspende legitimierte Sektion zulässig sein soll. Die vorhandenen Bestimmungen spiegeln jedoch die zunehmende Dringlichkeit wider, durch gesetzgeberisches Handeln in diesem Bereich mehr Rechtsklarheit und Rechtssicherheit zu schaffen. d) Landesrechtliche Sektionsregelungen. Vergleichbare Ergebnisse ergibt das Sektionsrecht der Bundesländer. Soweit überhaupt vorhanden, zeichnet es sich durch unterschiedliche Regelungsdichte und -inhalte aus. Das hamburgische Sektionsgesetz68 differenziert nach den Sektionsarten: bei der anatomischen Sektion wird die Zustimmung des Verstorbenen vorausgesetzt, bei der klinischen und rechtsmedizinischen Sektion kommt die Kombination von erweiterter Zustimmungs- und Widerspruchslösung zum Tragen. Letztere normiert das weite Berliner Sektionsgesetz für die klinische und anatomische Sektion.69 Die Sektionsrichtlinien der Landesärztekammer Baden-Württemberg70 unterstellen die anatomische Sektion der erweiterten Zustimmungslösung, die klinische Sektion einer kombinierten Zustimmungs- und Widerspruchslösung. Demgegenüber sehen das Thüringer Bestattungsgesetz71 und der Entwurf des Bestattungsgesetzes Schleswig-Holstein für die klinische Sektion die erweiterte Zustimmungslösung und für die anatomische Sektion die enge Zustimmungslösung vor.72 e) Gesetz über die Feuerbestattung und die Strafprozessordnung. Das zum Teil noch in den Bundesländern geltende Gesetz über die Feuerbestattung73 trifft indirekt Aussagen zur Sektion. Es regelt u.a., dass eine Feuerbestattung nur genehmigt werden darf, wenn sich ein Verdacht, der Verstorbene sei eines nicht-natürlichen 67
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BT-Drs. 13/8027, Begründung zu § 4 Abs. 3, S. 11. Im Fall der Lebendentnahme gilt § 19 Abs. 2 TPG mit einer Strafdrohung von bis zu fünf Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe. §§ 4, 9, 13 hamburgisches Sektionsgesetz. §§ 3, 8 Sektionsgesetz Berlin. ÄWB 4/2003, S. 22 ff. Vom 19. 5. 2004, vgl. §§ 8 ff.; 13 f. § 9 Entwurf BestattG Schleswig-Holstein. Gesetz vom 15. 5. 1934, RGBl. 1, S. 380.
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Todes gestorben, nicht ergeben hat. Lassen sich die bestehenden Zweifel auch durch Recherche nicht beseitigen, so ist die Leichenöffnung vorzunehmen. Die bundesrechtliche StPO normiert einen vergleichbaren Sachverhalt. Es geht um die Leichenöffnung, wenn Anhaltspunkte vorliegen, dass jemand eines nichtnatürlichen Todes gestorben ist, oder wenn der Leichnam eines Unbekannten gefunden wird, §§ 87 ff. StPO. In diesem Fall sind die Polizei- und Gemeindebehörden zur sofortigen Anzeige an die Staatsanwaltschaft oder an das Amtsgericht verpflichtet. Die Leichenöffnung dient der Feststellung der Todesursache oder der Todeszeit, falls ein strafbares fremdes Verschulden am Tod eines Menschen in Betracht kommt.74 Sie darf nur angeordnet werden, wenn sie zur Erfüllung der den Strafverfolgungsorganen obliegenden Aufgaben erforderlich und geeignet und ein geringerer Eingriff – etwa eine Leichenschau – im konkreten Fall nicht möglich oder weniger geeignet ist. f) Infektionsschutzgesetz, IfSchG75. Ergibt sich, dass ein Verstorbener an einer übertragbaren Krankheit erkrankt war oder Symptome bestehen, welche das Vorliegen einer bestimmten übertragbaren Krankheit vermuten lassen, oder er Ausscheider war, so ist den Ärzten des Gesundheitsamtes und dessen ärztlichen Beauftragten vom Gewahrsamsinhaber die Untersuchung des Verstorbenen zu gestatten. Die zuständige Behörde kann gegenüber dem Gewahrsamsinhaber die innere Leichenschau anordnen, wenn dies vom Gesundheitsamt für erforderlich gehalten wird, §§ 1, 25 und 26 IfSchG. g) Versicherungssektion. Im Geltungsbereich der gesetzlichen Unfallversicherung weist § 63 SGB VII darauf hin, dass bei Unfalltod des Versicherten die Entnahme einer Blutprobe angeordnet werden darf und unter bestimmten Voraussetzungen die Versicherungssektion zulässig ist.76 Obduktionen dürfen jedoch nach § 63 Abs. 2 S. 2 2. HS SGB VII nur dann vom Unfallversicherungsträger durchgeführt werden, wenn die Hinterbliebenen seiner Bitte freiwillig entsprechen.77 Die Verweigerung hat freilich Einfluss auf die Beweislast, wenn nicht geklärt werden kann, ob die Folgen eines Arbeitsunfalls wesentliche Todesursache gewesen sind.78 Bei privatversicherungsrechtlichen Verträgen gemäß den allgemeinen UVA ist dem Versicherer das Recht zu verschaffen, bei Unfalltod eine Obduktion durch einen von ihm beauftragten Arzt vornehmen zu lassen. Verweigern die Angehörigen die Obduktion, so führt diese Obliegenheitsverletzung im Regelfall zu nachteiligen Konsequenzen bei der Beweislastverteilung,79 wenn die begehrte Maßnahme zu einem entscheidungserheblichen Beweisergebnis führen kann und wenn mit ihr 74 75 76
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BVerfG, NJW 1994, S. 783, 784. Gesetz vom 20. 7. 2000, BGBl. I 2000, S. 1045. § 1559 RVO wurde durch Art. 35 Abs. 1 UVEG v. 7. 8. 1996 (BArbBl. 10/1996 S.73) aufgehoben. Jochen Schmitt, SGB VII – Gesetzliche Unfallversicherung, 2. Aufl., München 2004. Bertram Schulin, Handbuch des Sozialversicherungsrechts, 2. Bd., München 1996, § 49, Rdnr. 10. BGH, VersR 1991, S. 1365; LG Köln, NJW 1991, S. 2974.
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das letzte noch fehlende Glied eines vom Versicherer zu führenden Beweises geliefert werden soll. h) Vorformulierte Sektionsklauseln. Das Zivilrecht gibt nur wenig Anhaltspunkte im Hinblick auf die Sektion, die Entnahme von Geweben und Aufbewahrung von Asservaten. Tritt der Tod im Zusammenhang mit einem Klinikaufenthalt ein, gewinnen vorformulierte Sektionsklauseln in allgemeinen Krankenhausaufnahmebedingungen Relevanz. Ihr regelmäßig gleich lautender Inhalt besagt, dass einer Sektion grundsätzlich zugestimmt wird, sofern nicht der Patient unmittelbar vor seinem Ableben oder die Angehörigen binnen kurzer Zeit nach dem Eintritt des Todes oder der Mitteilung des Todes widersprechen. Der BGH hat noch zum früheren AGBG die grundsätzliche Zulässigkeit von Sektionsklauseln bejaht,80 aber explizit keine Stellung bezogen, wann eine solche Klausel im Einzelfall ungewöhnlich und überraschend für den Patienten ist und damit nicht Bestandteil des Vertrages wird.81 Das Schrifttum ist insoweit klarer in der Absage an derartige Klauseln.82 Nach § 305c BGB werden Bestimmungen, die nach den Umständen, insbesondere nach dem äußeren Erscheinungsbild des Vertrags so ungewöhnlich sind, dass der Vertragspartner des Verwenders mit ihnen nicht zu rechnen braucht, nicht Bestandteil des Vertrages. Dies ist bei Krankenhausaufnahmeverträgen der Fall, weil der „durchschnittliche Patient“ nicht erwartet, dass mit Unterzeichung des Behandlungsvertrages zugleich seine (fingierte) Zustimmung zu einer Sektion abgefordert wird. Deshalb ist zumindest eine eindeutige Kennzeichnung oder Hervorhebung der Sektionsklausel angezeigt. Zudem darf eine Klausel den Vertragspartner nicht unangemessen benachteiligen, § 307 BGB. i) Anordnung über die ärztliche Leichenschau. Die ehemalige DDR verfügte – im Gegensatz zur Bundesrepublik – über eine umfassende rechtliche Regelung des Sektionswesens. Die „Anordnung über die ärztliche Leichenschau“,83 enthält detaillierte Regelungen zugunsten der Leichenöffnung, wobei dem ehemaligen Willen des Verstorbenen keine, dem Willen der Angehörigen nur rudimentäre Bedeutung zukommt. Zwar trat nach der Wiedervereinigung bundesdeutsches Recht in Kraft. Der Einigungsvertrag (EV)84 macht hiervon allerdings einige Ausnahmen. Nach Art. 9 Abs. 1 gilt ehemaliges DDR-Recht als Landesrecht in den neuen Bundesländern fort, wenn es „nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes Landesrecht“ ist oder „nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes Bundesrecht ist und […] nicht bundeseinheitlich geregelte Gegenstände betrifft“. Die Sektionsverordnung der ehemaligen DDR gilt danach als Landesrecht in den neu-
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A. A. LG Mainz, VersR 1988, S. 724 f. BGH, NJW 1990, S. 2313. Vgl. Hans-Peter Ackermann, Anm. in: JZ 1990, S. 925, 927: „Fehlentscheidung“; Günter Solbach, Zur Frage der Zulässigkeit vorformulierter Einwilligungserklärungen für eine Sektion in Krankenhausaufnahmeverträgen, in: MedR 1991, S. 27, 28. Vom 4. 12. 1978, GBl. der DDR 1978 I, S. 4. Art. 9 Abs. 1 EV, BGBl. 1990 II, S. 892.
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en Ländern fort,85 soweit sie nicht aufgehoben wurde86 oder höherrangigem Bundesrecht widerspricht87 – was aufgrund der flächendeckenden, das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen nur ansatzweise berücksichtigenden und daher in weiten Teilen unverhältnismäßigen Regelungen nahe liegt. 3. Regelungsmodelle Der Überblick zeigt, dass die Frage, ob und inwieweit die nachwirkende Autonomie des ehemals lebenden Menschen als Zulässigkeitsvoraussetzung einer Sektion Beachtung finden soll, eine offene ist. Die Antwort ist derzeit aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen und Vergleichen mit bereits anerkannten Lösungsansätzen bei ähnlich gelagerten Themenkreisen abzuleiten. Um die involvierten Interessen in einen angemessenen Ausgleich bringen zu können, sollen in einem ersten Schritt die drei wesentlichen Sektionsarten und die hiermit verbundenen Zwecke voneinander unterschieden werden. a) Sektionsarten. In den bisherigen Regelungszusammenhängen wird die Zergliederung von Leichen oder Leichenteilen in anatomischen Instituten als anatomische Sektion bezeichnet. Ihr Ziel ist, der Lehre und Forschung über den Aufbau des menschlichen Körpers zu dienen.88 Die gerichtliche oder auch strafprozessuale Sektion ist in der StPO und den RiStBV geregelt. Sie wird im behördlichen Auftrag durchgeführt mit dem Ziel abzuklären, ob ein Mensch eines nicht-natürlichen Todes gestorben ist und ob ein Verschulden Dritter nahe liegt. Zudem sollen Beweisunterlagen für einen eventuellen Strafprozess gesichert werden, vgl. §§ 87 ff. StPO. Bundeseinheitliche Legaldefinitionen der Begriffe „natürlicher Tod“ beziehungsweise „nicht-natürlicher Tod“ existieren nicht. Landesgesetze bzw. das Schrifttum beschreiben den „natürlichen“ Tod als aus krankhafter Ursache eingetretenen, unabhängig von rechtlich bedeutsamen äußeren Faktoren. „Nicht-natürlich“ ist demgegenüber ein Todesfall, der auf ein von außen verursachtes, ausgelöstes oder beeinflusstes Geschehen zurückzuführen ist.89 Auf die Frage des fremden Verschuldens kommt es nicht an. Nicht-natürliche Todesfälle sind daher tödliche Unfälle, vorsätzliche und fahrlässige Tötungsdelikte, Suizide, tödlich verlaufende Behandlungsfehler.90 Die klinische Sektion ist die ärztliche fachgerechte Öffnung einer Leiche, die Entnahme und Untersuchung von Teilen sowie die äußere Wiederherstellung des 85
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Gesetz zur Bereinigung des zu Landesrecht gewordenen Rechts der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, 1. BbgRBG vom 3. 9. 1997 (GVBl.II/97 S. 104), geändert durch Gesetz vom 21. 12. 1998 (GVBl. I/98 S.254), Anlage zu § 1. So z. B. durch § 22 BestattG M-V v. 3. 7. 1998, GVOBl. M-V S. 617. §§ 8 ff.; BbgBestG v. 7. 11. 2001, GVBl.I/01, S. 226; ThürBestG v. 19. 5. 2004, GVBl., S. 505. Adolf Laufs, Die Entwicklung des Arztrechts 1991/92, in: NJW 1992, S. 1529, 1537 f. So z. B. § 13 Thüringer Bestattungsgesetz; Wilhelm Uhlenbruck, Klaus Ulsenheimer, Die Leichenschau, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 133, Rdnr. 25. § 2 Nr. 6 Entwurf Bestattungsgesetz Schleswig-Holstein, Drs. 15/3561, S. 6. Madea, in: DÄBl. 100 (2003), S. A 3161, 3178.
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Leichnams. Sie wird durchgeführt zum Zweck der Qualitätssicherung und Überprüfung ärztlichen Handelns im Hinblick auf Diagnose, Therapie und Todesursache, sie dient weiterhin Lehre und Ausbildung, der Epidemiologie sowie der medizinischen Forschung.91 b) Diskussionsmodelle. Die einzelnen Sektionsarten verdeutlichen, dass der tote Körper zu unterschiedlichen Zwecken in Dienst genommen wird. In der Rechtsmedizin dient er weitgehend als Augenscheinsobjekt zur Abklärung der näheren – ggf. unnatürlichen – Todesumstände, in der Anatomie ist er Lehr- und Studienobjekt, bei der klinischen Sektion soll die zu Lebzeiten erstellte Diagnose und die angewandte Therapie überprüft werden. Zu diesen Hauptzwecken bzw. Nahzielen treten weitere Nebenzwecke oder Fernziele hinzu, die je nach Interesse und Ausrichtung des Anatomen, Pathologen oder Rechtsmediziners mehr oder weniger stark ausgeprägt sein können. Es geht hierbei insbesondere um die Nutzung des Körpers und die Verarbeitung und Speicherung der hierbei gewonnenen Daten im Rahmen der Grundlagen- und angewandten Forschung. Diese Forschung wird sowohl mit öffentlichen Einrichtungen wie mit privaten Kooperationspartnern, national und international durchgeführt. Die erhobenen Daten sollen künftig in Biobanken unterschiedlichster Zweckrichtung gespeichert werden. Vor diesem Hintergrund kann bei Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorgaben kaum bestreitbar sein, dass eine ungefragte Nutzung der Leiche nicht in Betracht kommt. Geht man davon aus, dass die Leiche eine mit besonderem Bedacht zu behandelnde Sache ist und durch das postmortale Persönlichkeitsrecht der Wille des Verstorbenen den natürlichen Tod überdauert, bedarf es keiner weitschweifenden Erklärung, dass der Rechtsgutsträger durch wirksame Körperspendeverfügung seine spätere Leiche zur anatomischen, klinischen, aber auch rechtsmedizinischen Sektion freigeben kann. Liegt eine solche Erklärung nicht vor, ist zu klären, ob an ihre Stelle die Einwilligung privater Dritter oder die Erlaubnis bzw. Anordnung einer mit öffentlichrechtlicher Hoheitsgewalt ausgestatteten Person treten kann und welchen Bindungen diese Eingriffsgestattungen unterliegen. Die Einwilligung von Privatpersonen bezieht sich im Wesentlichen auf die nahen Angehörigen des Verstorbenen, die regelmäßig zugleich totensorgeberechtigt sind. In Betracht kommen zudem sonstige Personen, die entweder vom Verstorbenen zu Lebzeiten ausdrücklich bzw. konkludent bevollmächtigt wurden, Entscheidungen über den Umgang mit der Leiche zu treffen, oder die den postmortalen Willen kennen und zuverlässig hierüber Auskunft geben können. Diese zur eigenen Willensäußerung des verstorbenen Rechtsgutsträgers subsidiäre Entscheidungssituation birgt grundsätzlich die Gefahr, den wahren Willen des ehemals Lebenden zu verfehlen oder durch Beeinflussung aufgrund vielfältiger Eigen- bzw. Drittinteressen zu verdrängen. Zudem war der Verstorbene zu Lebzeiten nicht gehalten, die Entscheidung für oder gegen eine Sektion mit nahen Angehörigen oder Dritten abzustimmen. Dies zeigt, welche Schwierigkeiten beim 91
Ähnlich § 8 Thüringer Bestattungsgesetz, § 9 Entwurf Bestattungsgesetz SchleswigHolstein.
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Ringen um die wohl ausgeloteten Grenzen von Sektionen und dem Stellenwert des postmortalen Persönlichkeitsrechts zu lösen sind. Es wäre ein Widerspruch in sich, wollte man zur Stärkung der dem Menschen dienenden Forschungs-, Nutzungsund Aufklärungsinteressen tragende Rechtsgrundsätze aufgeben und das Selbstbestimmungsrecht mit dem Tod enden lassen. Denn die Aufklärung über den anatomischen Aufbau des Menschen, die Aufklärung von Todesursachen, die Qualitätsverbesserung und -sicherung in der Medizin, das (Zurück-)Gewinnen von Vertrauen in die Medizin und das Schaffen von Compliance, die Bereitschaft der Patienten, für sich und andere Verantwortung zu tragen – dies alles setzt voraus, zu Lebzeiten und im Tod als (ehemaliger) Mensch und in seinen (nachwirkenden) Menschenrechten geachtet zu werden. Dadurch wird die Möglichkeit der Sektion gegen den (hypothetischen) Willen des Verstorbenen nicht vollständig ausgeschlossen. In Frage steht aber, welche dem postmortalen Persönlichkeitsrecht entgegenstehenden Belange bei abstrakter und konkreter Betrachtung von derartigem Gewicht sind, dass sie auch mit unantastbaren Grundrechten ins Verhältnis gesetzt werden können. aa) Strafprozessuale Sektion. Besteht der hinreichende Verdacht, dass der Verstorbene durch Einwirkung Dritter zu Tode gekommen und damit im Regelfall eine Straftat gegen das Leben und die körperlichen Unversehrtheit gegeben ist, regelt § 87 StPO die Leichenöffnung. Zwar kommt das Strafrecht insoweit zu spät, als dass die Aufklärung des ggf. vorliegenden Verbrechens den Verstorbenen nicht wieder zum Leben erwecken vermag. Der strafrechtliche Schutz bezieht sich aber gleichermaßen auf das konkrete Handlungsobjekt und das abstrakte Rechtsgut Leib und Leben. Der hiermit verbundene Schutzauftrag des Strafrechts gebietet, Straftaten auch dann aufzuklären, wenn die Rechtsgutsverletzung irreversibel ist. Der verwirkte Strafanspruch gegen den Täter ist durchzusetzen, der generalwie spezialpräventiven Wirkung des Strafrechts in der Gesellschaft ist Raum zu geben. Selbst wenn der hypothetische Wille des Verstorbenen der Leichenöffnung entgegenstehen sollte, ist sie – obzwar unter größtmöglicher Schonung und Wahrung der Pietät – durchzuführen. Dass der (postmortale) Wille des Opfers hinter das staatliche Strafverfolgungsinteresse zurücktritt, bedeutet keinen Verzicht des Gesetzgebers, die Leiche vor unbefugten Eingriffen zu schützen. Denn das Zurücktreten der Autonomie hinter die Strafverfolgungsinteressen gilt bereits in abgeschwächter Form zu Lebzeiten des menschlichen „Augenscheinobjekts“. Überlebt das Opfer einen Angriff auf sein Leben bzw. seine körperliche Unversehrtheit, besteht die strafprozessuale Aufklärungspflicht des Staates – unabhängig davon, ob das Opfer mit der Strafverfolgung einverstanden ist. Mit der Offizialmaxime verbunden ist das Recht der Strafverfolgungsbehörden zu untersuchen, ob sich an dem Körper des Opfers eine bestimmte Spur oder Folge einer Straftat befindet. Untersuchungen zur Feststellung der Abstammung und die Entnahme von Blutproben ohne Einwilligung des zu Untersuchenden sind zulässig, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten und die Maßnahme zur Erforschung der Wahrheit unerlässlich ist, § 81c StPO. Ausnahmen bestehen nur für den Bereich der einfachen bzw. fahrlässigen Körperverletzung, wenn das Opfer bewusst kei-
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nen Strafantrag stellt und mit dieser Entscheidung auf den Fortgang oder die Einstellung des Verfahrens Einfluss nimmt. Dieser Regelungszusammenhang zeigt die im Rahmen gesetzgeberischen Ermessens liegende Wertentscheidung, das körperbezogene Selbstbestimmungsrecht mit den Zielen der Strafverfolgung ins Verhältnis zu setzen. Unter Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ist die strafprozessuale Sektion daher auch ohne oder gegen den hypothetischen Willen des Rechtsgutsträgers oder dessen Angehörigen zulässig. Die (Weiter-)Verwendung der hierbei gewonnenen Körpersubstanzen und Materialien wird durch die strafprozessualen Zwecksetzungen bestimmt. Für die Dauer der zu Beweiszwecken durchgeführten Beschlagnahme unterliegen sie amtlicher Verwahrung und dürfen nicht für sonstige Zwecke verwendet werden. Nach Aufhebung der Beschlagnahme sind konservierte Körperteile, Organe bzw. Substanzen keineswegs als herrenlose Sache beliebiges Forschungsobjekt, sondern angemessen und würdig zu bestatten bzw. in anderer Weise würdig zu beseitigen. Nur wenn nachweisbare gewichtige übergeordnete Gesichtspunkte dem entgegenstehen, kann im Einzelfall davon abgesehen werden. Diese Entscheidung sollte jedoch einer Fachkommission zur Begutachtung unterbreitet werden92 und nicht der einsamen Entscheidung des Forschers obliegen. bb) Anatomische Sektion. Anders ist die Rechtslage im Hinblick auf eine anatomische Sektion zu bewerten. Der Stellenwert der postmortalen Entscheidungsbefugnis ergibt sich aus den eingangs ausgeführten Anmerkungen. Der Wille des Verstorbenen überdauert seinen biologischen Tod. Und zwar unabhängig davon, ob er sich für oder gegen die anatomische Nutzung der Leiche entschieden hat. Aufgrund der Fremdnützigkeit der anatomische Sektion ist der zu Lebzeiten geäußerte Wille des Verstorbenen bindend. Eine Durchführung gegen den Willen des ehemals Lebenden ist ebenso unzulässig wie der Widerruf der wirksamen Spendeverfügung durch Dritte. Diese Einschränkung gilt als ethische und rechtliche Mindestgrenze sowohl bei der Organspende93 als auch bei der Körperspende zugunsten der Anatomie. Liegt eine Körperspendeverfügung nicht vor, darf die frühere Faktizität im Umgang mit Leichen nicht eine rechtliche Bewertung ersetzen. Das diskutierte subsidiäre Entscheidungsrecht der Angehörigen findet seine Rechtsgrundlage im Totensorgerecht und der Pietät.94 Ersteres beinhaltet, die Anordnungen des Verstorbenen bezüglich seines Leichnams durchzuführen und unberechtigte Einwirkungen Dritter auszuschließen.95 Pietät steht für die Achtung der Totenruhe sowie das Andenken des Verstorbenen, das Zusammengehörigkeitsgefühl mit ihm, welches mit dem Tode nicht erlischt.96 Diese Pflichtrechte gewähren kein 92
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Vgl. hierzu die sog. „Stuttgarter Empfehlungen zum Umgang mit Präparaten aus menschlichem Gewebe in Sammlungen, Museen und öffentlichen Räumen“, von Robert Jütte, Thomas Schnalke, Brigitte Tag u. a. (Hrsg.), Stuttgart, 2003, deren Grundsätze hier entsprechend Anwendung finden sollten. Vgl. § 3 Abs. 2 Nr. 1 TPG sowie BT- Drs. 13/4355, S. 18. BT-Drs. 8/2681, S. 13 ff. Brita Lehmann, Postmortaler Persönlichkeitsschutz, Bonn 1973, S. 92. Horst Trockel, Die Rechtswidrigkeit klinischer Sektionen, Berlin 1957, S. 25 f.
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unbeschränktes Verfügungsrecht, sondern sind unter Beachtung des Willens des Verstorbenen wahrzunehmen.97 Ob das subsidiäre Entscheidungsrecht von Angehörigen auch eine Körperspende zur anatomischen Sektion und Präparation legitimieren soll, kann nicht isoliert beantwortet, sondern muss im Zusammenhang mit ihrem Zweck gesehen werden. Wenngleich die anatomische Sektion zum Ziel hat, über die vitale Grundlage eines jeden Menschen aufzuklären und die Leiche zudem anonymisiert wird, ist eine Fremdbestimmung – gemäß den Grundsätzen menschlicher Würde auch im Tode98 – abzulehnen. Im Unterschied zur Pathologie steht in der Anatomie nicht die individuelle Krankheitsgeschichte des Verstorbenen im Vordergrund. Vielmehr interessieren allein der Aufbau des Körpers und seine Funktionslogik. Die Entpersonalisierung, die sich in der Wahrung der Anonymität der ehemaligen Person niederschlägt, schützt zugleich das Andenken an den Verstorbenen, das Pietätsempfinden der Angehörigen oder auch das der Allgemeinheit. Dennoch mag es für den Einen ein beklemmendes, belastendes Gefühl sein, wenn sein Körper postmortal Studierenden, Auszubildenden und sonstigen Interessierten als Anschauungs- und Zergliederungsobjekt dienen soll – für den Anderen mag dies der letzte ehrenvolle Dienst an den Zurückgebliebenen und der Wissenschaft sein. Dieses Spannungsfeld, das sich durch weltanschauliche, moralische und religiöse Positionen speist, schließt ein subsidiäres Entscheidungsrecht der Angehörigen aus. Obliegt die Letztentscheidungskompetenz dem einsichtsund willensfähigen Körperspender, sind weder Angehörige noch Dritte befugt, Leichen zur anatomischen Sektion freizugeben. Bei Fehlgeborenen, Totgeborenen und bei minderjährig verstorbenen Kindern obliegt die Entscheidung grundsätzlich den Eltern. cc) Klinische Sektion. In Theorie und Praxis sind die Voraussetzungen der klinischen Sektion sehr strittig. Die Pathologie versteht die klinische Sektion als letzten Dienst am Patienten, erweitert diese Zwecksetzung aber sukzessive durch zahlreiche andere Zielsetzungen mit unterschiedlichem Gewicht. Daher ergibt es sich beinahe von selbst, dass die Bandbereite der vorgeschlagenen und zum Teil realisierten Sektionsklauseln außerordentlich weit ist. Praktisch alle der im Rahmen der Vorarbeiten zum Transplantationsgesetz erörterten Lösungen, von der Widerspruchs-, Erklärungs-, Informations-, über die enge und die erweiterte Zustimmungslösung, werden zum Teil mit Verve auch bei der klinischen Sektion zur Diskussion gestellt und gegen anderen Modelle verteidigt. Strukturiert man die unterschiedlichen Lösungsansätze, so differieren sie vor allem im Stellenwert, der dem Selbstbestimmungsrecht des Betroffenen und dem subsidiären Entscheidungsrecht der Totensorgeberechtigten eingeräumt wird. Nach der engen Widerspruchslösung soll die Sektion zulässig sein, wenn sie der Verstorbene zu Lebzeiten nicht ausdrücklich verweigert hat.99 Die Erklärungs97 98 99
BGH NJW-RR 1992, S. 834; OLG Zweibrücken NJW-RR 1993, S. 1482. Vgl. Hermann Lübbe, in: Wetz/Tag, Schöne neue Körperwelten, S. 85 f. Zur Transplantation vgl. Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 142, Rdnr. 21; Hermann Christoph Kühn, Die Motivationslösung: neue Wege im Recht der Organtransplantation, Berlin 1998, S. 125.
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lösung hingegen verpflichtet, innerhalb eines bestimmten Verfahrens, z.B. der Beantragung eines Personalausweises, eine positive oder negative Stellungnahme zur Sektion abzugeben. Fehlt eine derartige Erklärung, sind die Angehörigen zur Entscheidung befugt.100 Die Informationslösung, eine Kombination aus Zustimmungsund Widerspruchslösung, nimmt ihren Ausgang in der ausdrücklichen Einwilligung des potentiellen Spenders. Hat er im Falle des Todes keine Erklärung hinterlassen, soll statt des ausdrücklichen Zustimmungserfordernisses der Angehörigen zunächst eine ärztliche Information genügen, wonach Sektionsabsichten bestehen und sie in bestimmter Frist zum Widerspruch berechtigt sind. Den Angehörigen ist sodann eine angemessene Bedenkzeit zuzubilligen, wobei sie i. d. R. verpflichtet sind, bei ihrer Entscheidung den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen zu beachten. Existieren keine nächsten Angehörigen oder keine diesen gleichgestellten Personen oder sind sie nicht erreichbar, so besteht sowohl das Modell, dass eine Sektion unzulässig ist101 oder auch zulässig ist.102 Demgegenüber stellt die enge Zustimmungslösung allein auf das Vorliegen einer wirksamen Zustimmungserklärung des Verstorbenen ab.103 Ohne diese Einwilligung ist eine Sektion unzulässig. Die erweiterte Zustimmungslösung erachtet die Sektion auch dann für zulässig, wenn der Verstorbene zu Lebzeiten keine Erklärung abgegeben hat, die Angehörigen aber der Entnahme ausdrücklich zustimmen.104 Die Erklärung hat unter Beachtung des mutmaßlichen Willens des Verstorbenen zu erfolgen. c) Diskussion der verfassungsrechtlichen Implikationen. Im Kontext der klinischen Sektion ergeben sich folgende Überlegungen: die von der Praxis als Antwort auf die sinkenden Sektionszahlen105 häufig favorisierte enge oder auch modifizierte Widerspruchslösung ist verfassungsrechtlichen Bedenken ausgesetzt. Im Zusammenwirken mit der bislang nicht vorhandenen angemessenen Information der Bevölkerung besteht die naheliegende Vermutung, dass mangels Wissens um die Möglichkeit bzw. bei ablehnender Entscheidung um die Notwendigkeit eines Widerspruchs kaum jemand von diesem Recht Gebrauch machen wird. Damit verliert der später Verstorbene praktisch seine Entscheidungsfreiheit hinsichtlich des Umgangs mit seiner Leiche und wird bereits zu Lebzeiten ein Stück weit zum bloßen Objekt der Gesellschaft bzw. der an der Sektion interessierten Fachrichtungen 100
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Gerhard Dannecker, Monika Görtz-Leible, Die rechtliche und rechtspolitische Situation im Bereich von Transplantation und Sektion, in: Peter Oberender (Hrsg.), Transplantationsmedizin, Ökonomische, ethische, rechtliche und medizinische Aspekte, Gesundheitsökonomische Beiträge, 23. Bd., Baden-Baden 1995, S. 189 f. Dannecker/Görtz-Leible, in: Oberender, Transplantationsmedizin, S. 190. So z. B. § 9 Abs. 2 Entwurf des Schleswig-Holsteinischen Bestattungsgesetzes bzgl. der klinischen Sektion, § 13. Zur Transplantation vgl. Kühn, Die Motivationslösung, S. 133. Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 142, Rdnr. 21; Regelung im derzeitigen TPG. Die sinkenden Zahlen allein auf eine Verweigerung der Bevölkerung zurückführen zu wollen, ist aufgrund der Vielfalt der maßgebenden Gründe nicht überzeugend, vgl. Schwarze/Pawlitschko, in: DÄBl. 2003, S. A 2807.
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degradiert.106 Diesem Umstand kann nicht mit Erfolg entgegen gehalten werden, der nichtvorhandene Widerspruch lasse auf das Desinteresse des Rechtsgutsträgers am Schicksal seiner späteren Leiche schließen.107 Denn diese Annahme liefe auf eine bloße Spekulation hinaus.108 Weiterhin besteht als Kehrseite der aktiven Selbstbestimmung das Recht des Einzelnen, sich mit bestimmten persönlichen Fragestellungen nicht zu beschäftigen, von bestimmten Umständen keine Notiz nehmen zu müssen.109 Dieses Recht auf Nichtwissen findet eine Parallele im Zivilrecht. Schweigen ist nur in eng umgrenzten Ausnahmefällen als Zustimmung zu werten.110 Dem Grundrechtsträger verbleibt somit ein privater Bereich, den er frei von jedem hoheitlichen und ärztlichen Einfluss gestalten kann. Die Widerspruchslösung greift in dieses Recht ein, da sie dem Betroffenen faktisch die Verpflichtung auferlegt, sich auch gegen seinen Willen mit dem eigenen Tod zu beschäftigen.111 Zugleich wird ihm die „Last der Verdrängungsangst“ auferlegt.112 Dies bedeutet denjenigen zu bevormunden, der sich nicht für einen ausdrücklichen Widerspruch entscheiden kann oder möchte.113 Wenn aber bei fehlendem Widerspruch eine Sektion für zulässig erklärt wird, besteht die unmittelbare Gefahr, das negative Selbstbestimmungsrecht des Rechtsgutsträgers zu verletzen.114 Von den
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Zum TPG vgl. Karsten Kloth, Rechtsprobleme der Todesbestimmung und der Organentnahme von Verstorbenen: eine vergleichende Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung ausgewählter Jurisdiktionen des kontinentaleuropäischen und des angloamerikanischen Rechtskreises, Berlin 1994, S. 156 f. Daran wäre nur dann zu denken, wenn eine Aufklärung sowohl über die Art des Eingriffs als auch über die Bedeutung des Schweigens erfolgt wäre; vgl. dazu auch Wolfgang Gucht, Zur Sektionsklausel in den Aufnahmebedingungen von Krankenhäusern, in: JR 1973, S. 234, 235. Volker Albrecht, Die rechtliche Zulässigkeit postmortaler Transplantatentnahmen, Kriminalwissenschaftliche Studien, 5. Bd., Marburg 1986, S. 51. BVerfGE, 27, S. 1, 6; 44, S. 197, 203; Andrea Schmidt-Didczuhn, Transplantationsmedizin in Ost und West im Spiegel des Grundgesetzes, in: ZRP 1991, S. 264, 266, 268; Albrecht, Die rechtliche Zulässigkeit postmortaler Transplantatentnahmen, S. 50. Hartmut Maurer, Die medizinische Organtransplantation in verfassungsrechtlicher Sicht, Bemerkungen zum Entwurf eines Transplantationsgesetzes, in: DÖV 1980, S. 7, 12; siehe auch (schweizer.) BGE 101 II, 177, 196. Wilfried Bottke, Strafrechtliche Probleme am Lebensbeginn und am Lebensende, Bestimmungsrecht versus Lebenserhaltung?, in: Wilfried Bottke, Paul Fritsche u. a., Lebensverlängerung aus medizinischer, ethischer und rechtlicher Sicht, Rechtsstaat in der Bewährung, 30. Bd., Heidelberg 1995, S. 35 ff., 92, der selbst den Zwang zur Erklärung noch innerhalb der vom Grundgesetz vorgegebenen Schranken sieht. Karl-Heinz Kunert, Die Organtransplantation als legislatorisches Problem, in: Jura 1979, S. 350, 354. BT-Drs. 8/2681, S. 16 (Stellungnahme des Bundesrates); Wilfried Behl, Organtransplantation, in: DRiZ 1980, S. 342, 342 f. Kühn, Die Motivationslösung, S. 126.
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Rechtsunterworfenen müssen jedoch nur solche Eingriffe hingenommen werden, die verhältnismäßig und zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich sind.115 Beachtung finden muss zudem die positive wie negative Glaubens- und Gewissensfreiheit.116 Hiernach ist jeder berechtigt, nach den Grundsätzen seiner Religion bzw. Weltanschauung zu leben, sich zu diesen Themen zu äußern oder zu schweigen. Diese Rechtsposition bleibt auch im Angesicht des sich nähernden Todes bestehen und wirkt über den Tod hinaus in das Bestattungsrecht hinein.117 Zudem stehen nicht alle Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften den Sektionen offen gegenüber und nicht jeder Angehörige einer solchen Gemeinschaft möchte sich Dritten gegenüber im Rahmen eines „Widerspruchs“ über seine persönliche Einstellung mitteilen. Wenn aber ein einfaches Gesetz verlangt, sich über die (Nicht-)Einwilligung zu einer Sektion zu erklären,118 ist die nur verfassungsimmanenten Schranken unterliegende Glaubens- und Gewissensfreiheit in ihrem Kernbereich gefährdet. Im Unterschied zum dringenden öffentlichen Interesse, Seuchen zu bekämpfen oder einen unnatürlichen oder gar gewaltsamen Todesfall aufzuklären – in diesen Fällen kann zudem grundsätzlich der nachwirkende hypothetische Wille des Rechtsgutsträgers für die Sektion unterstellt werden – sind die Zielsetzungen klinischer Sektionen weder geeignet noch der mit der Widerspruchslösung verbundene Eingriff in die verfassungsrechtlich tangierten Rechtspositionen erforderlich und angemessen. Dieses Abwägungsergebnis kann auch nicht durch einen Umkehrschluss von der Unzulässigkeit der Widerspruchslösung bei der Transplantation auf die Zulässigkeit derselben bei der Sektion in berechtigte Zweifel geraten. Denn die Organtransplantation dient der Rettung fremden Lebens. Wenn aber schon zu diesem hochrangigen Zweck eine Organentnahme ohne den Willen des Spenders gegen geltendes Verfassungsrecht verstößt und die erweiterte Zustimmungslösung nur einen Kompromiss darstellt, um dem unmittelbar todesbringenden Organmangel in noch vertretbarer Weise entgegenzutreten, so gilt dies nicht für die klinische Sektion. Denn sie steht nicht im unmittelbaren Heilkontext und bezweckt allenfalls als mittelbares Fernziel die Lebensrettung. Häufiger stehen jedoch die Entwicklung medizinischer Forschung119 und sonstige – selbst kommerzielle – Zwekke im Vordergrund.120 Schließlich steht die Widerspruchslösung, auch in Gestalt der Informationslösung, im Spannungsverhältnis zu den Rechten der Angehörigen. Liegt bei der en115
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Brigitte Tag, Hier dient der Tod dem Leben – Rechtsfragen zur Anatomie im Museum, in: DÄBl. 2002, S. A 1001, A 1001. BVerfGE, 46, S. 266, 267; 65, S. 1, 39. Günter Hirsch, Andrea Schmidt-Didczuhn, Transplantation und Sektion: die rechtliche und rechtspolitische Situation nach der Wiedervereinigung, Heidelberg 1992, S. 48. Jochen Taupitz, Um Leben und Tod: Die Diskussion um ein Transplantationsgesetz, in: JuS 1997, S. 203 ff. Kloth, Rechtsprobleme der Todesbestimmung und der Organentnahme von Verstorbenen, S. 166. „Geplündert bis ins Grab“, Der Spiegel, Nr. 49/1993 v. 6. 12. 1993, S. 68 ff.
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gen Lösung ein Widerspruch nicht vor, dann sind die Angehörigen als Sachwalter der postmortalen Interessen des Verstorbenen von einer Entscheidung ausgeschlossen.121 Die weite Lösung berücksichtigt zwar der Form nach die Rechte der Angehörigen, schließt sie dann faktisch wieder aus, indem entweder eine ausreichende Information gänzlich fehlt oder aufgrund der emotional belasteten Situation nur ansatzweise gegeben wird – zum Teil durchaus wohlmeinend, um die Angehörigen zu schonen oder sie von der Entscheidung zu entlasten.122 Welch lang anhaltender Schock und damit verbunden die Verweigerung und das tiefgreifende Misstrauen gegenüber der Medizin eintritt, wenn die Eltern ihr verstorbenes Kind, die Angehörigen den verstorbenen Vater oder die Mutter ohne ihre Zustimmung obduziert und ggf. ohne die Organe vorfinden, zeigen Erfahrungsberichte der Betroffenen.123 Die Informationslösung unterscheidet sich im Hinblick auf die Gefährdung des postmortalen Selbstbestimmungsrechts des Verstorbenen und des Totensorgerechts der Angehörigen kaum von der erweiterten Widerspruchslösung und erfährt daher aus den gleichen Gründen Kritik.124 Gegen die Erklärungslösung sprechen im Wesentlichen die gleichen Argumente wie gegen die Widerspruchslösung. Darüber hinaus kommen Aspekte des Datenschutzes zum Tragen. Denn wenn eine Einwilligung bzw. Ablehnung im Hinblick auf eine Sektion z.B. im Personalausweis vermerkt würde, wäre diese Information – zudem ohne Möglichkeit der raschen Kundgabe der Willensänderung – einer Vielzahl von Menschen zugänglich. Würde diese Art der Erklärung Bedingung für die Rechtswirksamkeit der Erklärung sein, wäre der Erklärende seiner informationellen Selbstbestimmung beraubt.125 Weiterhin besteht die Besorgnis, dass dem erklärten Widerspruch nur dann Beachtung zukommt, wenn den Pathologen oder sonstigen zuständigen Arzt eine spezielle Nachforschungspflicht trifft. Häufig wird es jedoch für den Arzt unmöglich oder aufgrund des Rechercheaufwandes unzumutbar sein, den Widerspruch in Erfahrung zu bringen. Dies aber führt unweigerlich zu der konkreten Gefahr, die (postmortalen) Interessen des in die Pflicht Genommenen zu verletzen. Geht man weiterhin davon aus, dass anlässlich von Sektionen Gewebe entnommen, untersucht, verarbeitet und zu mannigfaltigen Forschungszwecken verwendet wird, die hierbei gewonnenen Daten in Datenbanken gespeichert und zwischen solchen übertragen werden, und dabei Rückschlüsse auf die überlebenden Familienangehörigen gezogen werden können,
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BT-Drs. 8/2681, S. 9. Hirsch/Schmid-Didczuhn, Transplantation und Sektion, S. 64. Vgl. auch KG, NJW 1990, S. 782 ff. Kühn, Die Motivationslösung, S. 130; Doris Voll, Die Einwilligung im Arztrecht, Eine Untersuchung zu den straf-, zivil- und verfassungsrechtlichen Grundlagen, insbesondere bei der Sterilisation und der Transplantation unter Berücksichtigung des Betreuungsgesetzes, Frankfurt/M. 1996, S. 297. Dannecker/Görtz-Leible, Die rechtliche und rechtspolitische Situation im Bereich von Transplantation und Sektion, in: Oberender, Transplantationsmedizin, S. 189.
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unterliegt es keinem begründeten Zweifel, dass hierzu im Regelfall die positive Legitimation der Betroffenen erforderlich ist.126 Dem würde die für die anatomische Sektion geltende enge Zustimmungslösung Rechnung tragen. Denn die Selbstbestimmung über den Tod hinaus konkretisiert das individuelle Werteverhältnis und somit auch das Verfügungsinteresse am eigenen Körper.127 Der Verstorbene, der zu Lebzeiten eine rationale Entscheidung zugunsten der Sektion getroffen hat, kann den ethischen und rechtlichen Anspruch erheben, in diesem höchstpersönlichen Entschluss auch nach dem Tode respektiert zu werden. Dass sich der Gesetzgeber im Rahmen des Transplantationsgesetzes dennoch für die erweiterte Zustimmungslösung entschieden hat,128 beruht auf einer Interessenabwägung. Nach den bisherigen Erfahrungen würde die enge Zustimmungslösung nicht zu einem ausreichenden Spendeaufkommen führen. Die erweiterte Zustimmungslösung kennzeichnet daher einen Kompromiss, der die unterschiedlichen Rechte und Interessen in einen Ausgleich zu bringen versucht. Dieser Kompromiss kann mit guten Gründen auf die klinische Sektion übertragen werden. Zwar tritt an die Stelle der akuten Lebens- und Gesundheitsgefahr für das Erhaltungsgut „Leben und Gesundheit des Organempfängers“ bei zu geringer Sektionsrate eine latente Dauergefahr für das Gesundheitswesen, so dass die Notstandslage zwar in beiden Fällen vorhanden, bei der Sektion aber weniger konkret ist. Andererseits wird die Explantation regelmäßig am Hirntoten vorgenommen, der zwar künstlich beatmetet, aber warm, „rosig“, mit schlagendem Herzen im Bett liegt.129 Die Sektion hingegen hebt die Unversehrtheit einer Leiche auf, bei der Vitalfunktionen eingestellt sind und ggf. erste Zersetzungsprozesse beginnen. Diese Interessenlage rechtfertigt es, die erweiterte Zustimmungslösung auch für die klinische Sektion zu postulieren und damit zu verhindern, dass die Sektionsrate in Krankenhäusern unter das unverzichtbare Minimum sinkt. Die erweiterte Zustimmungslösung trägt zugleich dem fortwirkenden Persönlichkeitsrecht als auch dem Totensorgerecht und Pietätgefühl der Angehörigen angemessen Rechnung. Die Befürchtung, die Zahl der notwendigen Sektionen würde durch die Abhängigkeit der Sektion von der Einwilligung des Verstorbenen oder seiner nahen Angehörigen sinken, ist ernst zunehmen. Dennoch sollte der Vertrauensgewinn nicht unterschätzt werden, der entsteht, wenn durch ein der Situation angemessenes Gespräch mit den Angehörigen und eine gezielte, umfassende Information der Bevölkerung über die Notwendigkeit von Sektion dieselbe erkannt und positiv aufgenommen wird. Das im Arzt-Patienten-Verhältnis selbstverständliche Gespräch, 126
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So auch der Nationale Ethikrat in seiner Stellungnahme zu den Biobanken, Punkt D. 9.2 (S. 54) und D 1 (S. 34. Tag, in: Münchner Kommentar StGB, TPG, § 4, Rdnr. 5. Zur Zulässigkeit vgl. BVerfG, NJW 1999, S. 3403 f.; Karl Albrecht Schachtschneider, Dagmar I. Siebold, Die „erweiterte Zustimmungslösung“ des Transplantationsgesetzes im Konflikt mit dem Grundgesetz, in: DÖV 2000, S. 129, 135, bewerten die erweiterte Zustimmungslösung als rechtswidrig. Johann Friedrich Spittler, Der menschliche Körper im Hirntod, ein dritter Zustand zwischen Lebendem und Leichnam?, in: JZ 1997, S. 747, 749.
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die Aufklärung und Einwilligung in die ärztliche Behandlung muss als Modellfall auch für den letzten ärztlichen Dienst am Patienten gelten. Würde es dem Belieben des behandelnden Arztes oder des Pathologen obliegen, die Sektion durchzuführen, würde der Schatten des Misstrauens sich auf das sorgfältig ausgelotete Arzt-Patienten-Verhältnis legen.130 Die erweiterte Zustimmungslösung erscheint daher als eine den ggf. widerstreitenden Interessen angemessene Vorgehensweise. Damit wird rechtlichen, aber auch ethischen Vorbehalten gegen eine Degradierung des menschlichen Körpers oder gar seiner Kommerzialisierung entsprochen und es kann verhindert werden, dass die Bereitschaft zur Solidarität untergraben wird. Dennoch verbleibt ein Grenzbereich, wenn nahe Angehörige oder ihnen gleichgestellte Personen nicht vorhanden oder unauffindbar sind und der Verstorbene die Sektion nicht ausdrücklich abgelehnt hat. Im Einzelfall sind Fälle denkbar, bei welchen das Interesse an der Durchführung einer klinischen Sektion so gewichtig sein kann, dass im Rahmen der umfassenden und sorgfältigen Abwägung andere ggf. widerstreitende Interessen verdrängt werden. Um einen Wertungsgleichklang mit den Sachverhalten der erweiterten Zustimmungslösung zu erreichen, muss das Interesse an der Sektion von so großem Gewicht sein, dass es die Gefahr der Verletzung des postmortalen Selbstbestimmungsrechtes eindeutig überwiegt. Fehlt eine Erklärung des Verstorbenen oder der nächsten Angehörigen bzw. der sonst Bevollmächtigten, ist es eine Frage des Einzelfalles, ob das Interesse an der klinischen Sektion das postmortale Vakuum auszufüllen vermag. Sicherlich kann es aber keinen Automatismus dergestalt geben, dass bei fehlender Einwilligung der Angehörigen stets von einem Überwiegen der Sektionsinteressen ausgegangen werden kann. Auch gibt es keine gewohnheitsrechtliche Rechtfertigung der eigenmächtigen Sektion.131 Anderenfalls würde die erweiterte Zustimmungslösung unterlaufen und in eine Widerspruchslösung umdeklariert. Wann jedoch die Angemessenheit der notstandsähnlichen Sektion vorliegt, bleibt der Entscheidung im Einzelfall vorbehalten. d) Regelungsvorschläge. Die Überlegungen zusammengefasst ergeben folgende Vorschläge zur Regelung der anatomischen, klinischen und strafprozessualen Sektion:132 aa) Anatomische Sektion. Die anatomische Sektion darf nicht gegen bundesrechtliche Vorgaben verstoßen. Sie darf nur mit schriftlicher Zustimmung des Verstorbenen zu Lebzeiten oder mit schriftlicher Zustimmung der Eltern bei Fehlgeborenen, Totgeborenen und bei minderjährig verstorbenen Kindern zum Zwecke der
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Lothar Haas, Die Zulässigkeit klinischer Sektionen, in: NJW 1988, S. 2929, 2932. Uhlenbruck/Ulsenheimer, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 133, Rdnr. 24. Zurzeit sind ähnliche Regelungen in den Landes- bzw. bundesrechtlichen Bestimmungen bereits umgesetzt. Zudem werden z. Z. Empfehlungen des wissenschaftlichen Beirates der Bundesärztekammer erarbeitet, die sich mit diesen Fragen auseinandersetzen.
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Lehre und Forschung über den Aufbau des menschlichen Körpers durchgeführt werden. Die anatomische Sektion eines Unbekannten ist unzulässig. bb) Klinische Sektion. Die klinische Sektion ist außer in den bundesrechtlich geregelten Fällen zulässig, wenn (1) der Verstorbene vor seinem Tode schriftlich eingewilligt hat oder, (2) der Verstorbene keine schriftliche Entscheidung hierüber getroffen hat und der in der Rangfolge des § 4 Abs. 1 S. 1 TPG nächste Angehörige des Verstorbenen einwilligt. Bei mehreren gleichrangigen Angehörigen genügt die Einwilligung eines Angehörigen, sofern keiner den anderen widerspricht. Hat der Verstorbene die Entscheidung über die klinische Sektion einer bestimmten Person übertragen, so ist ihre Entscheidung maßgebend. Die nächsten Angehörigen und die bevollmächtigte Person haben bei ihrer Entscheidung den mutmaßlichen Willen des Verstorbenen zu beachten. Sind die nächsten Angehörigen bzw. die bevollmächtigte Person nicht binnen 24 Stunden zu erreichen, kann die klinische Sektion im Einzelfall auch ohne Einwilligung durchgeführt werden, wenn sie zur Fürsorge der Hinterbliebenen oder zur Qualitätssicherung als so dringend angesehen wird, dass bei Abwägung der widerstreitenden Interessen das Interesse an der Sektion die sonstigen Interessen wesentlich überwiegt. Der Versuch der rechtzeitigen Information nach Satz 5 ist zu dokumentieren. (3) Die klinische Sektion ist unzulässig, wenn die Person, deren Tod eingetreten ist, der klinischen Sektion widersprochen hat. cc) Strafprozessuale Sektion. Die Zulässigkeit der strafprozessualen Sektion richtet sich nach der Strafprozessordnung sowie den entsprechenden Ausführungsbestimmungen.
D. Zusammenfassung Damit bleibt festzuhalten: Die rudimentäre und uneinheitliche Rechtslage bezüglich der Zulässigkeit von Sektionen bedarf dringend der Reform durch bundeseinheitliche Regelungen. Derzeit bildet das auf Bundes- und Länderebene angesiedelte, zersplitterte Sektions-, Bestattungs- und Friedhofsrecht den rechtlichen Rahmen. Er ist durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze auszufüllen und durch die im Lichte der Verfassung entwickelten Rechtsgrundsätze zum Schutz der Leiche auszulegen. Angesichts des hohen Ranges, der dem (nachwirkenden) Persönlichkeitsschutz zukommt, ist auch für den Eingriff in die Leiche und die Aufbewahrung sowie sonstige Verwendung entnommenen Körpermaterials grundsätzlich eine Einwilligung erforderlich. Sie wird im Bereich der anatomischen Sektion durch letztwillige Verfügung des Rechtsgutsträgers erteilt. Bei der klinischen Sektion, die im weitesten Sinne noch dem Verstorbenen bzw. seinen nahen Angehörigen
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dienen kann, ist die erweiterte Zustimmungslösung angemessen. Bei Leichen nichteinwilligungsfähiger Personen entscheidet der gesetzliche Vertreter im Rahmen seiner Befugnisse. Im Bereich der strafprozessualen Sektion ist die Anordnung der zuständigen Stelle maßgebend. Führt die Abwägung zwischen den Zielen der klinischen Autopsie und den (nachwirkenden) persönlichen Interessen und Belangen des Verstorbenen oder Dritter ausnahmsweise dazu, dass aufgrund der konkreten Umstände des Einzelfalles das Interesse an der Sektion die sonstigen involvierten Interessen wertmäßig wesentlich überwiegt und liegt keine Willensäußerung der Betroffenen vor, kann im Einzelfall auf eine Einwilligung verzichtet werden. Gesetzliche Wertungen – hilfsweise auch Richtlinien und Stellungnahmen – in vergleichbaren Zusammenhängen können hier Hinweise für die Abwägung bieten. Die Nutzung der gewonnenen Körpermaterialien ist auf den Kontext beschränkt, in welchem der Betroffene oder Angehörige die Einwilligung bzw. im Rahmen von § 87 StPO die Behörde die Erlaubnis gaben. Allerdings rechtfertigt auch eine weit gefasste Einwilligung bzw. Anordnung keine Maßnahmen, die zum Zeitpunkt der Erklärung von Rechts wegen verboten waren und auch keine Maßnahmen, die zum Zeitpunkt der Durchführung der Maßnahme verboten sind. Für die Weiterverwendung von entnommenen Körpersubstanzen von Verstorbenen ohne individuelle Einwilligung bieten die von der Zentralen Ethikkommission der Bundesärztekammer ausgearbeiteten Grundsätze zur (Weiter-)verwendung von menschlichen Körpermaterialien von Verstorbenen für Zwecke medizinischer Forschung ausgewogene Leitlinien.133
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DÄBl. 100 (2003), S. A 2251.
Zur Verbindlichkeit von Patientenverfügungen Jochen Taupitz* und Kristiane Weber-Hassemer**
I. Einleitung Seit Jahren wird innerhalb der Rechtswissenschaft und -praxis, aber ebenso in der Medizin1 wie auch in der gesamten Gesellschaft über die Frage gestritten, innerhalb welcher Grenzen und wie verbindlich jemand über sein eigenes Schicksal an der Grenze zwischen Leben und Tod soll bestimmen dürfen. Zunehmend in den Vordergrund getreten ist dabei die Frage nach der Verbindlichkeit von Vorausverfügungen, durch die jemand vorsorglich in „guten Tagen“ für die Zukunft festlegen möchte, in welchem Ausmaß eine medizinische Behandlung erlaubt sein soll, über deren Durchführung in der konkreten Situation (z. B. wegen Bewußtlosigkeit oder Demenz) keine selbstbestimmte Entscheidung mehr möglich ist. Zu Recht hat sich für diese Art der Vorausverfügung der Begriff „Patientenverfügung“ durchgesetzt. Es stellt sich aber die Frage, ob die Rechtsordnung mit der Patientenverfügung ein „lebensgefährliches Rechtsinstrument“ bereit stellt2 oder ob die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen nicht selbstverständliche Konsequenz des heute nahezu verabsolutierten Grundsatzes „voluntas aegroti suprema lex“ ist3. Der angesprochene Streit hat inzwischen seinen Widerhall auch in der politischen Diskussion gefunden: Die Enquete-Kommission Ethik und Recht der modernen Medizin des Deutschen Bundestages hat in ihrem umfangreichen Zwischenbericht vom 13. 9. 2004 Vorschläge zur Regelung der Patientenverfügungen unterbreitet. Die Mehrheit der Kommission empfiehlt u. a., im Rahmen einer gesetzlichen Regelung die Gültigkeit von Patientenverfügungen, die einen Behandlungsabbruch oder -verzicht vorsehen, der zum Tode führen würde, auf
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Geschäftsführender Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim. Staatssekretärin a. D., Vorsitzende Richterin am OLG a. D. Vgl. die Grundsätze der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung, in: DÄBl. Heft 19/2004; vorhergehende Fassung in: NJW 1998, S. 3406. Vgl. Adolf Laufs, Zivilrichter über Leben und Tod, in: NJW 1998, S. 3399, der das sog. Kemptener Urteil des BGH als „lebensgefährliches Strafurteil“ bezeichnet hat. Kritisch dazu etwa Adolf Laufs, Arzt, Patient und Recht am Ende des Jahrhunderts, in: NJW 1999, S. 1758.
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Fallkonstellationen zu beschränken, in denen das Grundleiden irreversibel ist und trotz medizinischer Behandlung nach ärztlicher Erkenntnis zum Tode führen wird, zu regeln, dass eine Patientenverfügung schriftlich niedergelegt sein und eine Unterschrift enthalten muss, durch eine gesetzliche Regelung sicherzustellen, dass der Betreuer/Bevollmächtigte durch ein (näher beschriebenes) Konsil beraten wird, wenn es um die Verweigerung der Aufnahme oder Fortsetzung einer medizinisch indizierten lebenserhaltenden Maßnahme geht; zu regeln, dass die Ablehnung der Einwilligung des Betreuers oder Bevollmächtigten in eine medizinisch indizierte lebenserhaltende Maßnahme der Genehmigung durch das Vormundschaftsgericht bedarf4; eine Regelung einzuführen, die klarstellt, dass ein Betreuer zu bestellen ist, wenn eine Willensäußerung umgesetzt werden soll, in welcher auf medizinisch indizierte lebenserhaltende Maßnahmen verzichtet werden soll.
Auch von Seiten des Bundesministeriums für Justiz wurde nach Vorarbeiten einer vom Bundesministerium für Justiz und vom Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherheit eingesetzten und vom Vorsitzenden Richter am BGH a. D. Klaus Kutzer geleiteten Arbeitsgruppe ein (Arbeits-)Entwurf eines 3. Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts (Stand: 1. 11. 2004) in die öffentliche Diskussion eingebracht, der sich in den wesentlichen Punkten allerdings deutlich von dem Vorschlag der Enquete-Kommission unterscheidet: Die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen wird nicht vom irreversiblen Verlauf des Grundleidens abhängig gemacht; eine besondere Form der Patientenverfügung wird nicht vorausgesetzt; die Umsetzung der in einer Patientenverfügung getroffenen Festlegungen wird nicht von der vorherigen Beratung durch ein Konsil abhängig gemacht; hinsichtlich des Erfordernisses einer Genehmigung von Seiten des Vormundschaftsgerichts wird zwischen Betreuer und Bevollmächtigtem unterschieden.
Inzwischen hat sich das Bundesministerium für Justiz allerdings wieder aus der öffentlichen Diskussion zurückgezogen; der Gesetzentwurf wird vorerst nicht offiziell weiter verfolgt. Vielmehr will man dem Parlament die Initiative überlassen (wobei nicht ausgeschlossen ist, dass der Entwurf des Ministeriums von Teilen des Parlaments als eigener Entwurf aufgegriffen wird). Ob es im Rahmen der laufenden Legislaturperiode zur förmlichen Einleitung eines Gesetzgebungsverfahrens kommen wird, ist derzeit nicht abzusehen. Mit den nachfolgenden – angesichts 4
Adolf Laufs, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, § 66, Rdnr. 12, bejaht das Genehmigungserfordernis im Falle besonderer Gefahr.
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des begrenzten zur Verfügung stehenden Raumes nur thesenartigen – Ausführungen möchten die Verfasser auf der Grundlage von Diskussionen, die sie mit den übrigen Mitgliedern des Nationalen Ethikrates zu Fragen der Selbstbestimmung am Lebensende und zur Verantwortung gegenüber Sterbenden geführt haben5, einen kleinen Beitrag zu der aktuellen Debatte leisten. Die Ausführungen sind dem verehrten Jubilar in dankbarer Verbundenheit gewidmet6.
II. Rechtsdogmatische Grundlagen 1. Ausgangspunkt jeder Erörterung um die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen muss das Recht zur Selbstbestimmung über den eigenen Körper sein. Dieses Recht gehört zum Kernbereich der Würde und Freiheit des Menschen7. Es ist verfassungsrechtlich im Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) 8, im allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG) und nicht zuletzt in der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 GG) verankert.
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Der Nationale Ethikrat hat im Herbst 2004 mit der Ausarbeitung einer Stellungnahme zu den angesprochenen Fragen begonnen; diese war zum Zeitpunkt der Fertigstellung dieses Beitrags noch nicht abgeschlossen. Aus diesem Grund werden aus der nahezu unübersehbaren Fülle von Beiträgen zu dem Thema vor allem jene des Jubilars zitiert. Siehe im Übrigen etwa den Bericht „Sterbehilfe und Sterbebegleitung“ der Bioethik-Kommission Rheinland-Pfalz vom 23. 4. 2004; ferner z. B. die folgenden Monographien: Axel Bauer, Patientenverfügungen/Vorsorgevollmachten – richtig beraten?, Heidelberg 2003; Jan Bittler, Michael Rudolf, Wolfgang Roth, Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung, Patientenverfügung, Bonn 2000; Bettina Eisenbart, Patiententestament und Stellvertretung im Gesundheitsangelegenheiten, 2. Aufl., Baden-Baden 2000; Andrea Hoß, Behandlungsabbruch und Patientenverfügungen – § 1904 BGB analog bei Behandlungsabbruch?, Bonn 2003; Carmen Kaminsky, Gesagt, gemeint, verstanden?: zur Problematik der Validität vorsorglicher Patientenverfügungen, Bochum 1997; Rita Kielstein, Hans-Martin Sass, Die persönliche Patientenverfügung, 5. Aufl., Münster, Hamburg u. a. 2005; Volker Lipp, Patientenautonomie und Lebensschutz, Göttingen 2005; Wolfgang Putz, Beate Steldinger, Patientenrechte am Ende des Lebens, 1. Aufl., München 2003, Hans-Martin Sass, Rita Kielstein, Patientenverfügung und Betreuungsvollmacht, 2. Aufl., Münster 2003; Dagmar Schäfer, Patientenverfügungen, Lage 2001; Jochen Taupitz, Empfehlen sich zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens? (Gutachten zum 63. DJT 2000), München 2000 mit weiteren Nachweisen. Bernd-Rüdiger Kern, Adolf Laufs, Die ärztliche Aufklärungspflicht, Berlin u. a. 1983, S. 9; Adolf Laufs, Berufsfreiheit und Persönlichkeitsschutz im Arztrecht, Heidelberg 1982, S. 17. Adolf Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., München 1993, Rdnr. 241; Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 68, Rdnr. 1; Kern/Laufs, Aufklärungspflicht, S. 9; Laufs, Berufsfreiheit, S. 17.
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2. Das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper gilt für Gesunde und Kranke gleichermaßen. Am Lebensende kommt ihm eine besondere Bedeutung zu9. Vor diesem Hintergrund hat jeder selbstbestimmungsfähige Mensch das Recht, eine medizinische Behandlung zu gestatten oder auch zu verweigern10. Dies gilt selbst dann, wenn die Verweigerung aus der Sicht anderer noch so unvernünftig bzw. unmittelbar lebensbedrohlich ist11. Auch auf die Frage, ob die Situation für den Patienten „hoffnungslos“ ist, ob ein „irreversibel tödlicher Krankheitsverlauf“ gegeben ist oder ob der Patient unter „qualvollen Schmerzen“ leidet, kommt es nicht an. Damit steht das Selbstbestimmungsrecht des Menschen über seinen Körper, das es ihm erlaubt, einem natürlichen Geschehensablauf bis ggf. zum Tod seinen Lauf zu lassen12, über einer wie auch immer gearteten Schutzpflicht anderer für seinen Körper und letztlich auch sein Leben. 3. Das Selbstbestimmungsrecht über den eigenen Körper umfasst von Verfassungs wegen auch die eigenverantwortliche Selbsttötung. Ein Recht auf aktive Mitwirkung anderer Personen bei der Selbsttötung kann aus der Verfassung jedoch nicht abgeleitet werden. 4. Selbstbestimmung bedeutet zugleich Selbstverantwortung13. Selbstverantwortung setzt näher zu bestimmende Fähigkeiten, und zwar insbesondere die Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Willensbildung voraus14. Selbstverantwortung kann auch zu einer schwer tragbaren Bürde werden. Dies gilt insbesondere für Schwerkranke und Sterbende. Das Prinzip der Selbstbestimmung bedarf deshalb sowohl der unterstützenden Absicherung als auch der Ergänzung durch das Prinzip der Solidarität. Diese Solidarität wird sowohl von der Rechtsordnung als auch von der Gesellschaft und vom einzelnen Mitmenschen (insbesondere im sozialen Umfeld des Hilfsbedürftigen) geschuldet. 5. Selbstbestimmung kann nicht isoliert verstanden werden; sie steht insbesondere nicht außerhalb von sozialen Kontexten. Allerdings können Selbstbestimmung und Solidarität im konkreten Fall in einem Spannungsverhältnis zueinander ste9 10
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Vgl. Laufs, Arztrecht, Rdnr. 172. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 67, Rdnr. 2; Adolf Laufs, Selbstverantwortetes Sterben?, in: NJW 1996, S. 763; Kern/Laufs, Aufklärungspflicht, S. 10. Laufs, Arztrecht, Rdnr. 163; Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 62, Rdnr. 3; Laufs, in: NJW 1998, S. 3399, 3400; s. aber auch Adolf Laufs, Entwicklungslinien des Medizinrechts, in: NJW 1997, S. 1609 , 1613: Der Arzt habe nach einiger Zeit erneut auf den Patienten einzuwirken. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 68, Rdnr. 1; Laufs, Berufsfreiheit, S. 17. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 62, Rdnr. 6; s. auch Laufs, in: NJW 2000, S. 1757, 1760 im Anschluss an Hippokrates: „Nicht der Arzt allein muss bereit sein, das Notwendige zu tun“. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 68, Rdnr. 6; vgl. auch Kern/Laufs, Aufklärungspflicht, S. 120.
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hen. Eigenverantwortlich ausgeübte Selbstbestimmung muss dann letztlich den Vorrang haben. 6. Aus dem Selbstbestimmungsrecht folgt lediglich ein Abwehrrecht gegen Eingriffe in die eigene körperliche Sphäre, jedoch kein Anspruch auf aktive Handlungen anderer. Deshalb kann eine medizinisch nicht indizierte Maßnahme vom behandelnden Arzt verweigert werden. Auch kann sich der Arzt auf seine Gewissensfreiheit berufen. Er kann deshalb z. B. aktive Handlungen zur Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen ablehnen.
III. Konkretisierungen 1. Auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts über den eigenen Körper bedürfen die medizinische Behandlung und damit auch die Weiterbehandlung einer legitimierenden Einwilligung des Patienten15. Ausgehend davon stellt sich entgegen gängiger Fragestellung grundsätzlich nicht die Frage nach der Zulässigkeit eines Behandlungsabbruchs, sondern diejenige nach der Zulässigkeit einer Weiterbehandlung. Dies gilt auch dann, wenn die Behandlung der Lebensverlängerung, der Lebenserhaltung oder der palliativmedizinischen Versorgung dient. 2. Garanten- oder sonstige Hilfeleistungspflichten (etwa gemäß dem Straftatbestand der Unterlassenen Hilfeleistung, § 323c StGB) dürfen das Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht unterminieren. Sie finden ebenso wie die vertraglichen Rechte und Pflichten des Arztes ihre Grenze am Selbstbestimmungsrecht des Patienten: Nur wenn zusätzlich eine (tatsächliche oder mutmaßliche) Einwilligung des Betroffenen bzw. die Einwilligung eines Vertreters gegeben ist, ist die Frage zu beantworten, ob der Arzt von seinem aufgrund der Einwilligung gegebenen Behandlungsrecht (als Recht zum Eingriff in den Körper des Patienten) Gebrauch machen muss16, er nämlich aus dem Behandlungsvertrag oder aus sonstigem Grund eine zumutbare Pflicht zum Handeln hat. 3. Auch § 216 StGB, wonach die Tötung auf Verlangen strafbar ist, darf nicht in einer Weise ausgelegt werden, dass die im vorstehend dargelegten Umfang bestehende „Freiheit des Sterbens“ faktisch beseitigt wird. In der Tat kann sich die Einwilligungssperre dieser Norm richtigerweise nur gegen die aktive Fremdtötung richten, so dass der Straftatbestand der Tötung auf Verlangen nicht durch Unterlassen verwirklicht werden kann. In der konkreten Situation kann die Abgrenzung zwischen aktivem Tun und Unterlassen schwierig oder willkürlich erscheinen17. 15
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Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 63, Rdnr. 1, 2; Laufs, in: NJW 1998, S. 3399, 3400; Laufs, in: NJW 1997, S. 1609, 1616; Kern/Laufs, Aufklärungspflicht, S. 9. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 63, Rdnr. 2, § 64, Rdnr. 12. Laufs, in: NJW 1998, S. 3399.
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Dies ist im Strafrecht aber nichts Ungewöhnliches; ihre Unterscheidungsfunktion ist unverzichtbar. 4. Jede Rechtsordnung stellt bestimmte Voraussetzungen auf, von denen die rechtliche Anerkennung der Ausübung des Selbstbestimmungsrechts abhängt. Hierzu gehört insbesondere die Fähigkeit zur Eigenverantwortung, nämlich die so genannte Einsichts-, Einwilligungs- oder Selbstbestimmungsfähigkeit18. Im Hinblick auf medizinische Maßnahmen bestimmt sich die Selbstbestimmungsfähigkeit im deutschen Recht nicht nach den Regeln der Geschäftsfähigkeit, wonach es u. a. auf feste Altergrenzen ankommt, sondern nach der Fähigkeit eines Menschen, Wesen, Bedeutung und Tragweite der Maßnahme jedenfalls in groben Zügen zu erfassen, das Für und Wider der Maßnahme abzuwägen und sich nach der gewonnenen Einsicht entscheiden zu können19. Vor diesem Hintergrund sind Erklärungen, die eine Einwilligung in eine medizinische Maßnahme, einen Widerruf der Einwilligung oder eine Ablehnung einer medizinischen Behandlung beinhalten, nur wirksam, wenn der Betroffene zum Zeitpunkt seiner Erklärung im Rechtssinne selbstbestimmungsfähig ist. 5. Allerdings enthält die Rechtsordnung keine allgemeingültigen Parameter zur Beantwortung der Frage, wann ein Mensch ausreichend fähig ist, Wesen, Bedeutung und Tragweite einer bestimmten Maßnahme zu erfassen, ihr Für und Wider abzuwägen und sich nach der gewonnenen Einsicht zu entscheiden. Deshalb ist es nicht ausgeschlossen, an die Einwilligung in eine ärztliche Behandlung andere Maßstäbe der Einsichtsfähigkeit anzulegen als an den Widerruf der Einwilligung oder an die Ablehnung der Behandlung20. 6. Die Einwilligung des Patienten in eine Behandlung ist nach allgemeinen medizinrechtlichen Grundsätzen nur dann wirksam, wenn ihr eine hinreichende – vom
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Laufs, Arztrecht, Rdnr. 170; Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 66, Rdnr. 9. Laufs, Arztrecht, Rdnr. 170, 222; Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 66, Rdnr. 9; Laufs, Berufsfreiheit, S. 17. Z. B. kann die Einwilligung in eine Organspende nach dem Tode des Spenders gemäß § 2 II TPG bereits vom vollendeten 16. Lebensjahr an, der Widerspruch aber bereits vom vollendeten 14. Lebensjahr an erklärt werden. In ähnlicher Weise kann nach § 5 S. 2 des Gesetzes über die religiöse Kindererziehung das religiöse Bekenntnis eines Kindes ab dem 12. Lebensjahr nicht gegen den Willen des Kindes geändert werden, obwohl das Kind erst mit 14 Jahren die uneingeschränkte „positive“ Bekenntnisfähigkeit erlangt. Nach § 1905 I Nr. 1 BGB kann auch der nicht einwilligungsfähige Betreute eine Sterilisation verweigern; hierfür genügt jede Art von Ablehnung oder Gegenwehr. Gleichartig sieht das (von Deutschland allerdings bisher nicht unterzeichnete) Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates vor, dass auch eine nicht einwilligungsfähige Person Eingriffe zu Forschungszwecken ablehnen kann (Art. 17 I lit. v).
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Arzt ggf. zu beweisende – Aufklärung seitens des Arztes vorangegangen ist21. Dies gilt zwar nicht für die Ablehnung einer Behandlung durch den Patienten; jedoch ist der Arzt auch insoweit aus vielfältigen Gründen verpflichtet, den Patienten deutlich auf eine mögliche Selbstschädigung aufmerksam zu machen22. 7. Der Patient kann in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechts auf die Aufklärung verzichten23. Er kann die Entscheidung über seine Behandlung damit im Vertrauen auf die ärztliche Kompetenz faktisch delegieren24. Allerdings ist ein Blankoverzicht nicht möglich; Bedeutung und Tragweite der Maßnahme müssen dem Patienten in groben Umrissen bekannt sein25. 8. Eine nicht aufschiebbare medizinisch indizierte Maßnahme kann bei einem nicht Selbstbestimmungsfähigen, für den nicht rechtzeitig ein Vertreter handeln kann, durch eine mutmaßliche Einwilligung gerechtfertigt sein26. Aufgrund der vom Betroffenen früher geäußerten Vorstellungen, Einstellungen und Wünsche ist zu untersuchen, ob er, wenn er jetzt gefragt werden könnte, vermutlich seine Einwilligung zu der fraglichen Maßnahme geben würde. Zwar besteht wegen der unsicheren Entscheidungsgrundlage der mutmaßlichen Einwilligung die Gefahr, dass mit ihrer Hilfe letztlich jene Entscheidung legitimiert wird, die der Handelnde durchzuführen wünscht. Jedoch bedeutet eine rein objektive Interessenabwägung reine Fremdbestimmung – und kann man umgekehrt demjenigen, der nicht rechtzeitig eine eigene Entscheidung getroffen hat oder treffen konnte, eine notwendige medizinische Hilfe nicht allein deshalb verweigern, weil er keine wirksame Einwilligung dazu erteilt hat. 9. Bei der Abgrenzung des „tatsächlichen Willens“ vom „mutmaßlichen Willen“ ist entscheidend, ob der Betroffene für eine bestimmte Situation (trotz ggf. unsicherer Entscheidungsgrundlage) mit Rechtsbindungswillen eine „Entscheidung“ getroffen hat, oder ob er lediglich mehr oder weniger vage Vorstellungen, Wünsche, Einstellungen zu erkennen gegeben hat, die auf die vom Betroffenen nicht konkret vorhergesehene oder –gedachte Situation projiziert und extrapoliert werden müssen. Daraus resultiert für die Praxis vor allem ein Auslegungsproblem. Dagegen kann für die Abgrenzung nicht darauf abgestellt werden, ob der Betroffene zu dem Zeitpunkt, zu dem die Entscheidung Wirkung entfalten soll, (noch) 21
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Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 63, Rdnr. 5; Laufs, in: NJW 1998, S. 3399, 3400. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 62, Rdnr. 3. Laufs, Arztrecht, Rdnr. 259; Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 64, Rdnr. 17; Laufs, in: NJW 1999, S. 1758, 1765; Kern/Laufs, Aufklärungspflicht, S. 118. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 64, Rdnr. 17; Kern/Laufs, Aufklärungspflicht, S. 118. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 64, Rdnr. 18; Kern/Laufs, Aufklärungspflicht, S. 119. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 64, Rdnr. 11.
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selbstbestimmungsfähig ist. Denn sonst wären Operationen unter Vollnarkose niemals durch eine tatsächliche, sondern lediglich („hilfsweise“) durch eine mutmaßliche Einwilligung gedeckt. 10. Hilfsbedürftige Menschen sollten darauf vertrauen können, dass ihnen die notwendige Hilfe zuteil wird27. Dies gilt insbesondere in lebensbedrohlichen Situationen. Daraus folgt der Grundsatz „in dubio pro vita“28, der die medizinische Indikation beeinflusst und auch bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens des Patienten nicht außer Acht gelassen werden darf29. Allerdings findet der Lebensschutz auch hier seine Grenze am Selbstbestimmungsrecht des Patienten. Sofern hinreichend deutliche Anhaltspunkte für einen gegenteiligen Willen gegeben sind, darf ihm Hilfe nicht aufgezwungen werden. 11. Menschliche Willensäußerungen können mehr oder weniger konkret sein. Bei ihrer Auslegung muss versucht werden, den wirklichen Willen zu erfassen. Dies rechtfertigt allerdings keine bloßen Spekulationen und keine Kontrolle am Vernünftigkeitsmaßstab anderer. Dies gilt auch, wenn sich die Willensäußerung auf zukünftige Situationen bezieht. Und es gilt auch dann, wenn sich die Willensäußerung auf noch nicht konkret absehbare zukünftige Situationen bezieht, sich der Erklärende einer damit verbundenen unsicheren Entscheidungsgrundlage aber erkennbar bewusst war und gleichwohl eine eigene Entscheidung getroffen hat. 12. Erklärungen können auch bloße Richtungsvorgaben für die Entscheidungen anderer enthalten. Der Erklärende kann sich auch auf die Festlegung einzelner Entscheidungskriterien beschränken (z. B. Erreichung oder Verhinderung bestimmter Zustände, Durchführung oder Unterlassung bestimmter Maßnahmen). Insgesamt reicht die Bindung einer Entscheidung nur so weit, wie der Betroffene selbst dies erkennbar gewollt hat. 13. Angesichts der Vielfältigkeit menschlicher Erklärungen wird es immer Fälle geben, in denen der Wille des Erklärenden nicht hinreichend sicher zu ermitteln ist. Dabei handelt es sich um ein allgemeines ethisches und rechtliches Problem. Ihm kommt wegen der Tragweite existenzieller Entscheidungen zwischen Leben und Tod hier allerdings eine besondere Bedeutung zu. Es ist dann nach bestem Wissen und Gewissen entsprechend dem mutmaßlichen Willen des Betroffenen zu verfahren30. Sofern selbst dafür keinerlei Anhaltspunkte bestehen, sollte dem Lebenserhalt der Vorrang gebühren31.
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Laufs, in: NJW 1996, S. 763. Dazu Adolf Laufs, Medizinrecht im Wandel, in: NJW 1996, S. 1571, 1573. Adolf Laufs, Arzt und Recht – Fortschritte und Aufgaben, in: NJW 1998, S. 1750, 1753. Laufs, in: NJW 1996, S. 1571, 1573: Es gelten strengste objektive und subjektive Voraussetzungen. Laufs, in: NJW 1996, S. 1571, 1573.
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IV. Patientenverfügungen als Instrument der Selbstbestimmung 1. Das Recht zur Selbstbestimmung ist auch in Form antezipativer, zukunftswirksamer Festlegungen in Gestalt von Patientenverfügungen anzuerkennen. Der Betroffene kann mit einer solchen Verfügung festlegen, welche Adressaten (z. B. Ärzte, Pflegepersonen, Angehörige, gesetzliche Vertreter, Bevollmächtigte) durch sie in welchem Ausmaß gebunden werden sollen32. Das Rechtsinstrument der Patientenverfügung sollte zur Stärkung der Patientenautonomie gesetzlich geregelt werden. 2. Patientenverfügungen sind nicht nur Instrumente der Patientenautonomie. Sie sollen auch zur Rechtssicherheit beitragen in einer Phase, in der die Selbstbestimmung z. B. gegenüber Ärzten, Pflegekräften und Angehörigen nicht mehr ausgeübt werden kann. Rechtssicherheit kann allerdings auch mit dem Bedürfnis in Konflikt stehen, individuellen Besonderheiten und aktuellen Änderungen der Entscheidungsgrundlage Rechnung tragen zu können33. 3. Es gibt keine trennscharfe Grenze zwischen Entscheidungen, die sich auf eine aktuell anstehende medizinische Behandlung beziehen, und Vorausverfügungen, die mehr oder weniger weit in die Zukunft wirken sollen. Ebenso ist die Unterscheidung zwischen einer konkret bekannten und einer mehr oder weniger unsicher absehbaren (befürchteten) Behandlungsnotwendigkeit (etwa bei progredienten Erkrankungen) fließend. Schließlich sollen auch „aktuelle“ Entscheidungen nicht selten erst in dem Moment ihre Wirkung entfalten, in dem der Betroffene nicht mehr selbstbestimmungsfähig ist; dies gilt etwa für die Einwilligung in eine Operation, die unter Vollnarkose durchgeführt werden soll, so dass die Einwilligung dazu bezogen auf den dann durchgeführten körperlichen Eingriff eine „Vorausverfügung“ enthält. Wenn man von daher überhaupt eine begriffliche Unterscheidung zwischen „aktuellen“ Entscheidungen und „Patientenverfügungen“ treffen will, dann bietet es sich an, gemäß dem offenbar ohnehin verbreiteten Verständnis nur dann von einer „Patientenverfügung“ zu sprechen, wenn es sich um eine schriftlich niedergelegte Verfügung handelt. Dabei handelt es sich an dieser Stelle allerdings nur um eine Begriffsfestsetzung (die mehr oder weniger sinnvoll sein kann), nicht aber um eine Frage der „Gültigkeit“. 32
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Einschränkend Laufs, in: NJW 1997, S. 1609, 1616: In der Konjunktur der „Patientenverfügungen“ darf sich der Blick auf die verantwortliche Rolle des Arztes nicht trüben. Laufs, in: NJW 1998, S. 3399, 3400: Die Patiententestamente könnten die kritische Lage in ihrer jeweiligen – auch prognostischen – Eigenart nicht antizipieren. Überdies hätten erfahrene Ärzte und Richter längst erkannt, dass ein Patiententestament nie mehr als einen Anhaltspunkt liefern könne, der um so weniger Gewicht besitze, je älter es ist. Siehe auch Laufs, in: NJW 1999, S. 1758, 1762: Patiententestamente wirkten als Indiz umso mehr, je zeitnäher sie abgefasst wurden und je konkreter sie die kritische Lage vorwegnähmen.
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4. Nicht zuletzt wegen der unsicheren Grenze zwischen „aktuellen“ Entscheidungen und Vorausverfügungen sollten für Patientenverfügungen die auch sonst geltenden Grundsätze der Patientenautonomie (siehe vorstehend unter II. und III.) gelten. Das bedeutet: a) Soweit mit Hilfe der Patientenverfügung eine Einwilligung in eine medizinische Maßnahme erteilt wird, sollte diese Einwilligung gemäß den allgemeinen Anforderungen an eine Einwilligung des Patienten nur wirksam sein, wenn sich die Einwilligung auf eine hinreichend konkret beschriebene Maßnahme in einer hinreichend konkret beschriebenen Situation der Behandlungsnotwendigkeit bezieht34 und der Einwilligung eine hinreichende Aufklärung von Seiten eines Arztes vorangegangen ist. b) Eine mit Hilfe der Patientenverfügung zum Ausdruck gebrachte Ablehnung einer (Weiter-) Behandlung hindert den Rückgriff auf eine mutmaßliche Einwilligung des Betroffenen in eine aus medizinischer Sicht indizierte (Weiter-) Behandlung, wenn sich die Ablehnung auf eine hinreichend konkret beschriebene Maßnahme in einer hinreichend konkret beschriebenen Situation der Behandlungsnotwendigkeit bezieht und diese Situation der tatsächlich eingetretenen Situation entspricht. Nach allgemeinen Grundsätzen darf der Patient dann nicht entgegen seinem Willen behandelt werden. Nach allgemeinen Grundsätzen ist die Ablehnung einer medizinischen Behandlung in ihrer Wirksamkeit nicht von einer vorangehenden ärztlichen Aufklärung abhängig. Allerdings kann eine fachkundige Beratung vor Abfassung der Patientenverfügung wesentliche Anhaltspunkte für die gewollte Reichweite und das Ausmaß des Bindungswillens liefern. Von Verfassung wegen kann die Patientenautonomie nicht auf bestimmte Stadien der Erkrankung beschränkt werden. Dies gilt für die in einsichtsfähigem Zustand erklärte Einwilligung in eine medizinische Maßnahme ebenso wie für deren Ablehnung. Deshalb kann eine Patientenverfügung in ihrer Wirkung nicht von vornherein auf die letale Phase oder einen irreversibel tödlichen Krankheitsverlauf beschränkt werden, so dass z. B. auch Behandlungsmaßnahmen während Demenz und Wachkoma Gegenstand einer bindenden Patientenverfügung sein können. Dem wird zwar entgegengehalten, dass derartige Situationen nicht vorweggenommen werden können. Auch wird argumentiert, dass sich der spätere Kranke von dem früher Gesunden in seinem Willen und Wollen und damit in seiner so verstandenen Identität unterscheide, so dass mit einer Patientenverfügung im Grunde Fremdbestimmung ausgeübt werde. Dennoch rechtfertigen diese Argumente nicht, Vorausverfügungen für derartige Situationen generell dem Bereich rechtswirksam ausgeübter Selbstbestimmung zu entziehen. Entscheidungen unter Unsicherheit mit durchaus weit reichenden Folgen werden von der Rechtsordnung auch in anderen Bereichen nicht nur toleriert, sondern vielfach vorausgesetzt. Und selbst wenn man eine Patientenvorausverfü34
Laufs, in: NJW 1998, S. 1750, 1753; vgl. zum Erfordernis der Konkretheit auch Kern/Laufs, Aufklärungspflicht, S. 105.
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gung für die angesprochenen Konstellationen nicht als hinreichenden Ausdruck fortwirkender Selbstbestimmung ansähe, verböte es sich, sie ohne weiteres durch die u. U. von anderen Maßstäben geleitete Entscheidung eines Dritten zu ersetzen. Deshalb sollte der Gesetzgeber die Verbindlichkeit von Patientenverfügungen nicht auf bestimmte Krankheitssituationen beschränken. c) Willensänderungen des Betroffenen sollten bezogen auf seine früher erklärte Behandlungsablehnung ebenso möglich und rechtserheblich sein wie bezogen auf seine früher erklärte Einwilligung in eine Behandlung (Widerruf). Auch der Widerruf einer Behandlungsablehnung darf aber nicht auf bloße Mutmaßungen gestützt werden. aa) Fraglich ist allerdings, welche Anforderungen an einen wirksamen Widerruf zu stellen sind. Selbstverständlich ist, dass jeder Selbstbestimmungsfähige eine eigene frühere Erklärung zur medizinischen Behandlung oder zum Unterlassen einer Behandlung jederzeit mit Wirkung für die Zukunft widerrufen kann. Dabei bedeutet Widerruf nicht, dass sich der „Widerrufende“ der früheren Erklärung bewusst sein muss. Als Widerruf in diesem Sinne ist vielmehr jede Entscheidung anzusehen, die einen anderen Inhalt als die frühere Erklärung hat. Problematisch ist allerdings, ob dies auch für einen nicht mehr Selbstbestimmungsfähigen gilt. So stellt sich z. B. die Frage, ob ein Demenzkranker, der in seinem jetzigen Zustand Anzeichen für Lebensfreude zeigt, damit rechtswirksam eine frühere Erklärung widerruft, mit der er die Verlängerung seines Lebens in dementem Zustand verhindern wollte. Offenbar besteht ein verbreitetes Bedürfnis, Äußerungen eines nach allgemeinen Grundsätzen nicht einsichtsfähigen Betroffenen vor allem dann zu respektieren, wenn sie im Ergebnis auf Lebenserhaltung gerichtet sind oder jedenfalls in diesem Sinne interpretiert werden können. Umgekehrt bestehen erkennbare Vorbehalte, Äußerungen eines nach allgemeinen Grundsätzen nicht einsichtsfähigen Betroffenen auch dann zu befolgen, wenn damit eine medizinisch indizierte Maßnahme unterlassen oder abgebrochen wird. Im Hintergrund dürfte zum einen der Grundsatz „in dubio pro vita“ stehen, zum anderen aber die Überlegung, dass eine medizinisch indizierte Maßnahme jedenfalls nach den Regeln der ärztlichen Profession im Zweifel dem Interesse des Patienten entspricht. Allerdings besteht dann zugleich die Gefahr, dass das dem jeweiligen Individuum zukommende Selbstbestimmungsrecht, das auch ein Recht zur Unvernunft beinhaltet, unterlaufen wird. Dieses Selbstbestimmungsrecht umfasst auch das Recht, in entscheidungsfähigem Zustand eine Entscheidung gerade für den Fall der zukünftigen eigenen Selbstbestimmungsfähigkeit zu treffen und dabei anderen vorzugeben, spätere z. B. nonverbale Reaktionen und Äußerungen etwa des Wohlbefindens wie Lächeln nicht als Widerruf einer früheren Erklärung zu interpretieren. Eine so weit reichende Selbst- und Fremdbindung hängt allerdings davon ab, dass sie in der Patientenverfügung klar zum Ausdruck kommt. Der Betroffene muss deutlich gemacht haben, für welche Behandlungssituationen und -maßnahmen zur Erreichung oder Verhinderung welchen Zustandes unter welchen
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Voraussetzungen er eine bindende Entscheidung treffen wollte. Die Patientenverfügung kann nur so verbindlich sein, wie es der Betroffene erkennbar gewollt hat. Besondere Bedeutung bei der Auslegung und damit Verbindlichkeit erlangt der Umstand, ob sich der Betroffene ihrer Tragweite auch unter dem Gesichtspunkt von Unsicherheiten bewusst gewesen ist. Auslegungsgesichtspunkt kann nicht zuletzt der Umstand sein, ob dem Abfassen der Verfügung eine fachkundige Beratung vorangegangen ist. Sofern die Patientenverfügung keine klaren Vorgaben im vorstehenden Sinne enthält (also die jetzt gegebene Situation nicht konkret genug erfasst), bleibt sie als Instrument zur Ermittlung des mutmaßlichen Willens bedeutsam. Insgesamt ist deshalb aus dem Blickwinkel eines möglichen Widerrufs zunächst durch Auslegung zu ermitteln, mit welcher Reichweite und Bindungskraft, für welche Situationen sowie unter welchen Voraussetzungen und Bedingungen der Betroffene seinerzeit im Zustand der Selbstbestimmungsfähigkeit eine eigene Entscheidung getroffen hat. bb) Für die Frage des Widerrufs bleibt also nur jene Situation übrig, in der der Patient eine hinreichend klare Entscheidung getroffen hat, sich aber die Frage stellt, ob er diese Erklärung nicht doch später in nicht einsichtsfähigem Zustand wirksam widerrufen hat. Zwar wird mitunter die Auffassung vertreten, dass es zur Willensfreiheit des Menschen gehöre, auch in nicht einsichtsfähigem Zustand eine Willenserklärung zu widerrufen, die in einsichtsfähigem Zustand abgegeben wurde. Jedoch ist es nicht begründbar, die rechtliche Wirksamkeit von Äußerungen eines Menschen von seiner Einsichtsfähigkeit abhängig zu machen, zugleich aber auch Äußerungen eines nicht Einsichtsfähigen gleichermaßen für rechtlich erheblich zu erklären. Zwar ist es, wie bereits unter III. 5. dargestellt, nicht ausgeschlossen, die Maßstäbe hinsichtlich der Einsichtsfähigkeit unterschiedlich hoch anzusetzen je nachdem, um was für eine Maßnahme es geht. Für die Wirksamkeit einer Erklärung ist jedoch ein Mindestmaß an Einsichtsfähigkeit zu verlangen. Dies muss auch für den wirksamen Widerruf einer Behandlungsablehnung gelten. Bei einem Wachkomapatienten oder schwer Demenzkranken kann von dieser Einsichtsfähigkeit nicht ausgegangen werden. Von Rechts wegen können derartige Betroffene deshalb eine eigene frühere als bindend gewollte Entscheidung nicht revidieren. Dieser Umstand nötigt allerdings dazu, ihre frühere Erklärung besonders sorgfältig darauf zu prüfen, ob wirklich eine derart starke Selbstbindung gewollt war. d) Einwilligung und Behandlungsablehnung wie auch der entsprechende Widerruf bedürfen nach allgemeinen Grundsätzen keiner Form. Auch kann eine schriftliche Erklärung durchaus in mündlicher Form widerrufen werden, sofern dies nicht durch Gesetz oder Vertrag ausgeschlossen ist. Allerdings können mündliche Erklärungen zu besonders gravierenden Auslegungsproblemen führen. Dies gilt insbesondere dann, wenn die mündliche Erklärung von anderen Personen übermittelt wird und/oder zwischen der Erklärung und der Situation, in der es auf die Erklärung ankommt, eine längere Zeit verstrichen ist. Mündliche Erklärungen sind zudem anfällig für bewusste und unbewusste
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Falschwiedergabe. Von daher können schriftliche Erklärungen zu größerer Rechtssicherheit führen. Es spricht viel dafür, dass der Gesetzgeber dies bei der Frage, in welchem Ausmaß er eine Patientenverfügung für verbindlich erklärt, berücksichtigt. 5. Ein Vertreter des Patienten (Bevollmächtigter, gesetzlicher Vertreter35) hat den in einer Patientenverfügung niedergelegten Willen des Patienten umzusetzen, soweit dieser Wille reicht und soweit dies im Rahmen der objektiven Rechtsordnung zulässig ist. Soweit dem Vertreter eine Umsetzung des Patientenwillens aus persönlichen Gründen unzumutbar erscheint, hat er für eine anderweitige Vertretung des Betroffenen, ggf. durch Bestellung eines (anderen) Betreuers von Seiten des Vormundschaftsgerichts, zu sorgen. Die Umsetzung des Patientenwillens sollte nicht zwingend von einer Beratung durch Dritte (etwa eines Ethikkonsils) abhängig sein, weil dies dem Willen des Betroffenen zuwiderlaufen kann. Eine Vollmacht sollte aus Gründen der Rechtssicherheit und wegen der mit ihr verliehenen Rechtsmacht der Schriftform bedürfen, sofern sie Entscheidungen umfassen soll, deren Umsetzung den Betroffenen in die begründete Gefahr des Todes oder eines schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schadens bringt. Dies und die Forderung, dass die Vollmacht die vorgenannten Entscheidungen ausdrücklich umfassen muss, entspricht der geltenden Rechtslage in § 1904 Abs. 2 BGB. Das Vormundschaftsgericht hat (wie auch in anderen familienrechtlichen Situationen) die Entscheidung des Vertreters auf Missbrauch zu überwachen36. Art und Ausmaß der Überwachung sollten allerdings von der Art der Vertretung abhängen: Sofern der Betroffene im Wege einer Bevollmächtigung eine Person seines Vertrauens bestellt hat, kann im Zweifel davon ausgegangen werden, dass diese Person dem in sie gesetzten Vertrauen gerecht wird und entsprechend den Wünschen des Betroffenen handelt. Der Tätigkeit des Vormundschaftsgerichts bedarf es deshalb nur, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine Missachtung des Willens des Betroffenen vorliegen. Ein gesetzlicher Vertreter sollte einer stärkeren Aufsicht durch das Vormundschaftsgericht unterworfen sein, weil er nicht vom Betroffenen selbst mir Rechtsmacht ausgestattet wurde. Jedenfalls in Fällen, in denen zwischen gesetzlichem Vertreter und den in die Behandlung einbezogenen Personen kein Einvernehmen darüber besteht, dass die fragliche Maßnahme (medizinische Behandlung oder deren Unterlassung/Abbruch) dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten entspricht, sollte der gesetzliche Vertreter für aufschiebbare Entscheidungen einer vormundschaftsgerichtlichen Genehmigung bedürfen, sofern die Umsetzung
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Betreuer oder z. B. auch gesetzlicher Vertreter nach §§ 1358, 1358a, 1618b BGB in der Fassung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts vom 12. 2. 2004, BT-Drucksache 15/2494. Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 66, Rdnr. 11.
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der Entscheidung den Betroffenen in die begründete Gefahr des Todes oder eines schweren und länger dauernden gesundheitlichen Schadens bringt. 6. Der Bestellung eines Betreuers bedarf es nach dem u. a. in § 1896 Abs. 2 S. 2 BGB verankerten Prinzip der Subsidiarität der Betreuung grundsätzlich nicht, wenn der Betroffene für die fragliche Situation hinreichend deutlich eine eigene wirksame Entscheidung getroffen hat (dann ist ohnehin sein Wille maßgeblich und nicht der einer anderen Person) oder wenn er einen Vertreter bestellt hat und dieser für ihn entscheiden kann. Dies gilt für die Einwilligung in eine medizinische Behandlung ebenso wie für ihre Ablehnung.
V. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf 1. Das Rechtsinstrument der Patientenverfügung sollte zur Stärkung der Patientenautonomie gesetzlich geregelt werden. 2. Man sollte sich allerdings bewusst sein, dass die Frage der Verbindlichkeit von Patientenverfügungen primär ein Auslegungsproblem ist: Die Verbindlichkeit kann nur so weit reichen, wie sie der Betroffene selbst gewollt hat – aber sie sollte auch so weit reichen, wie sie der Betroffene gewollt hat. Dieses Auslegungsproblem kann der Gesetzgeber nicht lösen37. Der Gesetzgeber kann ebenso wenig allgemein vorgeben, welche (spätere) Erklärung als Widerruf auszulegen ist. Auch Formvorschriften lösen diese Auslegungsprobleme nur sehr begrenzt. 3. Der Gesetzgeber kann und sollte allerdings eine Vermutungsregel aufstellen, wonach im Zweifel das in der (schriftlichen) Patientenverfügung Niedergelegte (noch) dem tatsächlichen Willen des Patienten entspricht. Die Beweislast für einen vom Wortlaut abweichenden Inhalt sollte danach bei demjenigen liegen, der vom Wortlaut der Erklärung abweichen möchte. Im Zweifel sollte danach zudem ein korrigierender Rückgriff auf den unsicheren „mutmaßlichen Willen“ versperrt sein. 4. Das strafrechtliche Verbot aktiver Sterbehilfe sollte bestehen bleiben38. Es wird durch die hier skizzierten Regelungsmodalitäten für eine gesetzlich verankerte Patientenverfügung nicht in Frage gestellt. Insbesondere geht mit den vorgeschlagenen Modifikationen und Ergänzungen des Betreuungsrechts nicht die von man37
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Wenn er nicht eine Regelung wie in Dänemark wählt, wonach verbindlich nur eine Entscheidung mit einem von vornherein festgelegten Inhalt (Wortlaut) ist, s. Ulla Hybel, Country Report Denmark, in: Jochen Taupitz (Hrsg.), Zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens, Berlin, Heidelberg u. a. 2000, Rdnr. DK 56 ff.; die Patientenverfügung ist in Dänemark zudem in einem Register zu hinterlegen. So auch Laufs, in: NJW 1998, S. 1750, 1753; Laufs, in: NJW 1997, S. 1609, 1616; Laufs, in: NJW 1996, S. 763.
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chen geäußerte Gefahr eines Dammbruchs insoweit einher, als die Grenzen zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe verwischt würden. Nach den eindeutigen Vorschriften des Strafgesetzbuchs ist die gezielte Tötung von Patienten unzulässig, selbst wenn sie vom Patienten verlangt wird (§ 216 StGB). Eher bestehen Zweifel, ob die Handhabung der strafrechtlichen Normen dem verfassungsrechtlichen Gehalt des Patientenselbstbestimmungsrechts bezogen auf die passive Sterbehilfe hinreichend gerecht wird. Von Seiten der Ärzteschaft wird nicht zu Unrecht die Sorge geäußert, dass sich Ärzte strafrechtlicher Verfolgung aussetzen, wenn sie eine medizinische Maßnahme unterlassen oder abbrechen, weil dies vom Patienten so gewollt ist39. Erst recht gilt dies bei Anwendung fachgerechter Schmerz- und Symptombehandlung oder Sedierung unter Inkaufnahme einer Lebensverkürzung (sog. indirekte Sterbehilfe)40. Auch wenn eine stärkere Verankerung der Patientenautonomie im Betreuungsrecht nicht ohne Rückwirkungen auf die Auslegung strafrechtlicher Normen in der Praxis bleiben dürfte, sprechen doch gewichtige Argumente dafür, auch im Strafrecht eine klarstellende Regelung vorzusehen, dass die Befolgung eines expliziten Patientenwillens, lebensverlängernde Maßnahmen zu unterlassen, nicht den Tatbestand der Tötung auf Verlangen nach § 216 StGB oder etwa den Tatbestand der unterlassenen Hilfeleistung nach § 323c StGB erfüllt.
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Das Postulat selbstverantworteten Sterbens verdient nach der Auffassung von Laufs skeptische Aufnahme, da von Rechts wegen an die dem Leben verpflichtete Verantwortlichkeit des Arztes zu erinnern bleibe: Laufs, in: NJW 1996, S. 1571, 1573. Laufs, in: NJW 1996, S. 763.
Formulargesteuerter Medizinbetrieb – haftungsrechtliche Prävention oder Haftungsfalle? Wilhelm Uhlenbruck
A. Vorbemerkung In einem Bericht der FAZ v. 26. 06. 2003 (S. 36) hat Stephan Sahm darauf hingewiesen, dass Ärzten und Kliniken in den Vereinigten Staaten eine Haftpflichtkrise droht. Die Prämien für die Versicherungen seien derart gestiegen, dass selbst gut verdienende Mediziner sie sich kaum mehr leisten könnten. Vornehmlich Frauenärzte, Chirurgen, Notfallmediziner und Röntgenärzte seien betroffen. Sie gelten als „Hochrisiko-Spezialisten“1. In einigen Staaten, darunter New York, Florida, Pennsylvania und Texas, haben Ärzte ihre Arbeit vorübergehend niedergelegt, um auf die dramatische Situation aufmerksam zu machen. Schon haben Krankenhäuser angedroht, mit hohem Regressrisiko behaftete Abteilungen zu schließen. In Deutschland vollzieht sich eine ähnliche Entwicklung, obwohl Schadensersatzansprüche davon abhängig sind, dass die Klinik oder die Ärzte ein nachweisbares Verschulden trifft2. Schadensersatzansprüche in Millionenhöhe sind keine Ausnahme mehr. Das „Kind als Schaden“ stellt sich im Bereich der Gynäkologie als Horrorvision dar3. Angesichts weitgehender Verrechtlichung der Medizin verwundert es nicht, dass Kliniken und Ärzte in zunehmendem Maße versucht haben, sich durch ein umfassendes Formularsystem vor deliktischer und vertraglicher Haftung zu schützen. Aber nicht allein haftungsrechtliche Gesichtspunkte, sondern auch der Einzug der Ökonomie in dem Bereich der Medizin, das Erfordernis eines Qualitätsmanagements und einer Evidence-based-Medicine erfordern Leitlinien und Pathways, die dem Arzt bestimmte Verhaltens- und Vorgehensweisen formularmäßig vorschreiben. Angesichts dieser Entwicklung stellt sich die Frage, ob und in welchem Umfang die ärztliche Haftung durch Formularbedingungen ausgeschlossen werden kann und ob die Einhaltung so genannter Pathways den Arzt vor haftungsrechtlicher Inanspruchnahme durch den Patienten schützt.
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S. auch Christian Katzenmeier, Arzthaftung, Tübingen 2002, S. 43 ff. Zum Verschuldensprinzip s. Katzenmeier, Arzthaftung, S. 150 ff. Vgl. BGHZ 76, S. 249 ff.; 86, S. 240 ff.; 95, S. 199 ff.; 124, S. 128 ff.; 143, S. 389 ff.; 151, S. 133 ff.; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 44 ff. u. 199.
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B. Haftungsbeschränkungen in Krankenhausaufnahmeverträgen Schon bei der Krankenhausaufnahme werden dem Patienten oder seinen Angehörigen vorformulierte Krankenhausaufnahmeverträge vorgelegt. In diesen sind die Rechte und Pflichten beider Vertragspartner detailliert geregelt. Im Allgemeinen handelt es sich um Verträge, die dem Muster Allgemeiner Vertragsbedingungen (AVB) für Krankenhäuser entsprechen. Das am 29.11.2001 in Kraft getretene Gesetz zur Modernisierung des Schuldrechts hat die materiell-rechtlichen Vorschriften des AGBGB als §§ 305-310 in das BGB übernommen. Nach § 305 Abs. 2 Nr. l BGB sind vorformulierte Verträge und Benutzungsordnungen nur wirksam, wenn der Patient oder seine Angehörigen die Möglichkeit haben, in zumutbarer Weise von ihrem Inhalt Kenntnis zu nehmen. Überraschende und mehrdeutige Klauseln, mit denen der Patient nicht zu rechnen braucht, werden nicht Vertragsbestandteil (§ 305 c Abs. l BGB). Klauseln, die die Haftung des Krankenhauses oder Arztes einschränken oder ausschließen, widersprechen grundsätzlich dem Leitbild des auf den Schutz der Gesundheit des Patienten angelegten Vertrages. Sie verschieben nach Auffassung der Gerichte die Risikolasten in unzulässiger Weise auf den Patienten4. Zutreffend der Hinweis von A. Laufs5, dass, wenn der Krankenhausträger Formulare für die Aufnahme- und Behandlungsverträge gebraucht, ihn zusätzlich Beratungspflichten treffen können. Auch Vordrucke, die Begleitpersonen anlässlich der stationären Aufnahme des Patienten für diesen auszufüllen haben, unterliegen der Inhaltskontrolle nach den §§ 307 bis 309 BGB, denn sie sollen davor bewahrt werden, dass sie selbst in das durch die stationäre Aufnahme des anderen begründete Vertragsverhältnis mit persönlichen finanziellen Auswirkungen hineingezogen werden. Ohne verwandtschaftliche oder partnerschaftliche Beziehung der Begleitperson zum Patienten kann eine Klinik nicht davon ausgehen, dass der Dritte zur Abgabe von Willenserklärungen bevollmächtigt ist6. Im Einzelfall kann eine Erklärung, durch die sich eine Begleitperson bereit erklärt, gegebenenfalls neben dem Patienten gesamtschuldnerisch für die Kosten
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Vgl. Erich Steffen, Wolf-Dieter Dressler, Arzthaftungsrecht, 9. Aufl., Köln 2002, Rdnr. 21; Adolf Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., München 1993, Rdnr. 92; Erwin Deutsch, Haftungsfreistellung von Arzt oder Klinik und Verzicht auf Aufklärung durch Unterschrift des Patienten, in: NJW 1982, S. 1351 ff.; Bernd-Rüdiger Kern, Rechtliche Grenzen der Wirksamkeit von Krankenhausaufnahmeverträgen, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3. Aufl., München 2002, § 94, Rdnr. 11; Andreas Spickhoff, Ausschluss d. Haftung des Krankenhausträgers für ärztliche Leistungen durch AGB, in: VersR 1998, S. 1189 ff.; einschränkend noch Dieter Giesen, Arzthaftungsrecht, Tübingen 1995, Rdnr. 18. Laufs, Arztrecht, Rdnr. 92. LG Düsseldorf, NJW 1995, S. 3062; Kern, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 94, Rdnr. 7.
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zu haften, gem. § 138 BGB nichtig sein7. Vorformuliert sind Vertragsbedingungen bereits dann, wenn sie für eine mehrfache Verwendung schriftlich aufgezeigt oder in sonstiger Weise, wie z. B. Schreibautomat oder Tonband, fixiert sind. Ausreichend kann schon die Niederlegung einer Richtlinie für den internen Gebrauch sein. Bereits fünf Verwendungen reichen aus, um das Vorliegen von AGB zu bejahen8. Auch ein in der Klinik oder Arztpraxis ausgelegtes „Merkblatt“ kann im Einzelfall schon als AGB angesehen werden. Haftungsausschlussklauseln hinsichtlich leicht fahrlässiger Behandlungsfehler verstoßen nach der Rechtsprechung gegen § 309 Nr. 7 a BGB9. Nach dieser Vorschrift ist eine Bestimmung in den AGB unwirksam, die einen Ausschluss oder eine Begrenzung der Haftung für Schäden aus der Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit vorsieht, die auf einer fahrlässigen Pflichtverletzung des Verwenders oder einer vorsätzlichen oder fahrlässigen Pflichtverletzung eines gesetzlichen Vertreters oder Erfüllungsgehilfen des Verwenders beruhen. Auch standardisierte Honorarvereinbarungen mit Ärzten sind als AGB anzusehen10. Zulässig dürften aber sog. haftungssplittende Formularbedingungen im Rahmen eines aufgespaltenen Krankenhausaufnahme-vertrages sein, soweit sie den Krankenhausträger aus einer Mithaftung für die Fehler des selbst liquidierenden Chefarztes entlassen11. Unzulässig, weil überraschend, wäre aber eine Klausel in den Aufnahmebedingungen des Krankenhauses, wonach von der Haftung des Krankenhausträgers solche Schäden ausgenommen sind, die durch liquidationsberechtigte Professoren sowie deren Beauftragte infolge der persönlichen privaten Behandlung durch diese verursacht werden. Etwas anderes gilt nur, wenn über die Leistungen von Arzt und Krankenhausträger getrennte Verträge geschlossen werden und der besonders unterschriebene Haftungsausschluss klar und unmissverständlich durch die Unterschrift des Patienten gedeckt ist12.
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Vgl. OLG Hamm, NJW 2001, S. 1797; LG Düsseldorf, NJW 1985, S. 3062; Kern, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 94, Rdnr. 7; s. auch Nina Paulic, Allgemeine Geschäftsbedingungen im Arztvertrag, Aachen 2003. BGH, NJW 1998, S. 2286; BGH, NJW 2002, S. 138. OLG Stuttgart, Urt. v. 09. 11. 1988, VersR 1989, S. 372 (beide zu § 9 AGBG); Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 21. BGHZ 115, S. 391, 394. So auch Laufs, Arztrecht, Rdnr. 92 unter Berufung auf BGHZ 85, S. 393 und BGHZ 89, S. 263. So z. B. BGHZ 121, S. 107, 113; OLG Köln, NJW 1990, S. 776; OLG Koblenz, NJW 1998, S. 1359; OLG Bamberg, Urt. v. 14. 12. 1992 – 4 U 60/92 und den NA-Beschl. des BGH v. 08. 02. 1994 – VI ZR 50/93, VersR 1994, S. 813; Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 22.
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C. Honorarvereinbarungen und Sektionsklauseln Häufiger Gegenstand von Gerichtsentscheidungen sind formularmäßige Honorarvereinbarungen, die die Vorschriften der GOÄ abändern oder ergänzen13 sowie eine Klausel, dass die Operation statt durch den Chefarzt von einem Assistenzarzt durchgeführt werden kann14. Dies hat nichts mit der Frage zu tun, ob ein Chefarzt berechtigt ist, einzelne Maßnahmen auf angeleitetes und überwachtes qualifiziertes ärztliches Personal zu delegieren. In der von einem Chefarzt vorbereiteten schriftlichen Erklärung, der Patient wünsche Unterbringung in einem Zwei-BettZimmer in Verbindung mit gesondert berechenbaren ärztlichen Leistungen, ist nach Auffassung des OLG Köln15 nur dann eine Offerte zum Abschluss eines Behandlungsvertrages als Privatpatient zu sehen, wenn der Patient die formularmäßige Erklärung in diesem Sinne auch verstanden hat. Eine mündliche Vereinbarung dieser Art begründet keine Zahlungspflicht. Nach AG Michelstadt16 ist die Verknüpfung von Aufnahmeerklärung und Anerkennung einer zusätzlichen Zahlungspflicht gegenüber Chefärzten eines Krankenhauses überraschend im Sinn von § 305c Abs. l BGB und daher nichtig17. Im Rahmen von Krankenhausaufnahmeverträgen sind vor allem Wahlleistungsvereinbarungen umstritten. Grundsätzlich ist der Patient vor dem Abschluss einer Wahlleistungsvereinbarung über die Höhe der Entgelte und den Inhalt der wahlärztlichen Leistungen vom Krankenhaus zu unterrichten18. Allerdings erreicht die Übergabe einer teilweise standardisierten formularmäßigen Patienteninformation aus, wenn in dieser der voraussichtliche Inhalt der wahlärztlichen Leistung charakterisiert wird und die konkreten Nummern des Gebührenverzeichnisses angegeben werden mit dem Hinweis, dass die Möglichkeit besteht, die jeweiligen Gebührenordnungen einzusehen19. Eine detaillierte Mitteilung der Höhe voraussichtlich entstehender Arztkosten wird nicht verlangt20. Eine formularmäßige Vereinbarung, wonach alle an der Behandlung des Patienten irgendwie beteiligten Ärzte als Wahlärzte anzusehen sind, ist unwirksam21. Umstritten ist auch die Zulässigkeit von Sektionsklau13
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Vgl. BGHZ 115, S. 391. Zur wirksamen Wahlleistungsvereinbarung und Mitteilung der voraussichtlich entstehenden Arztkosten s. BGH, Urt. v. 08. 01. 2004, NJW 2004, S. 686; BGH, Urt. v. 27. 11. 2003, NJW 2004, S. 684; BGHZ 138, S. 91, 94. Instruktiv OLG Düsseldorf, NJW 1995, S. 2421. VersR 1989, S. 1264. VersR 1983, S. 192. S. Gerhard Schlund, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 96. Instruktiv auch Gerhard Schlund, Standardisierte Kankenhausaufnahmeverträge im Fokus des AGB-Gesetzes und auf dem Prüfstand der Gerichte, in: Friedrich Graf v. Westphalen, Otto Sandrock (Hrsg.), Festschrift für R. Trinkner, Heidelberg 1995, S. 337 ff. Vgl. Andreas Spickhoff, Die Entwicklung des Arztrechts, in: NJW 2004, S. 1710, 1712. Vgl. BGH, NJW 2004, S. 684, 685 f.; BGH Urt. v. 08. 01. 2004 – III ZR 375/02; MedR 2004, S. 442. Vgl. BGH, NJW 2004, 686; a. A. OLG Jena, VersR 2002, S. 1499, 1500 f., s. auch Paulic, Allgemeine Geschäftsbedingungen im Arztvertrag. LG Konstanz, VersR 2003, S. 867; Spickhoff, in: NJW 2004, S. 1710, 1713.
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seln in den Aufnahmebedingungen eines Krankenhauses. Nach Auffassung des BGH22 steht folgende Sektionsklausel mit dem Gesetz in Einklang: „Die innere Leichenschau kann vorgenommen werden, wenn sie zur Feststellung der Todesursache aus ärztlicher Sicht notwendig ist oder wenn ein wissenschaftliches Interesse besteht“. Diese auf der „Widerspruchslösung“ basierende Entscheidung hat in der Literatur erhebliche Kritik erfahren23. Ein Patient, der sich in der Hoffnung auf Heilung in eine Klinik begibt, rechnet nicht damit, dass er bei der Krankenhausaufnahme Entscheidungen für den Fall seines Todes trifft24. Oftmals wird in den Aufnahmebedingungen formularmäßig die Zustimmung des Patienten zur Übergabe der Abrechnungsunterlagen an eine gewerbliche Verrechnungsstelle oder zur Weitergabe der Patienten- und Beratungskartei an den Nachfolger nach Veräußerung der Arztpraxis verlangt. Wenn der Patient nicht besonders auf diese Klausel hingewiesen wird, dürfte die Vereinbarung insoweit unwirksam sein (§ 305 c Abs. l BGB)25.
D. Formularmäßiger Haftungsausschluss im nichtmedizinischen Bereich In gewissen Grenzen werden formularmäßige Haftungsausschlüsse durch Krankenhausaufnahmevertrag als zulässig angesehen. Dies gilt vor allem für sog. Verwahrungsklauseln. So wird z. B. ein Haftungsausschluss für eingebrachte Sachen anerkannt, die sich in der Obhut des Patienten befinden oder für Fahrzeuge von Patienten, die auf dem Krankenhausgrundstück oder auf einem vom Krankenhaus bereitgestellten Parkplatz abgestellt werden. Das gilt auch für den Verlust von Geld und Wertsachen, die nicht der Krankenhausverwaltung zur Verwahrung übergeben werden26. Unwirksam ist dagegen die Formularbedingung, dass der Krankenhausträger für Schäden, die bei der Reinigung, Desinfektion und Entsorgung eingebrachter Sachen entstehen, nur bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit haftet27. Hierzu Bernd-Rüdiger Kern28:
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BGH, NJW 1990, S. 2313. S. auch Kern, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 94, Rdnr. 12. Vgl. z. B. Erwin Deutsch, Anmerkung zu BGH, NJW 1990, S. 2313, in: NJW 1990, S. 2315; Hans-Peter Ackmann, Zur Zulässigkeit vorformulierter Einwilligungserklärungen für eine innere Leichenschau (Sektionseinwilligung) in Krankenhausaufnahmeverträgen, in: JZ 1990, S. 925 ff. So zutreffend Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 18. Vgl. auch BGHZ 115, S. 123; BGHZ 116, S. 268. BGH, VersR 1990, S. 91, 93; Kern, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 94, Rdnr. 14 Vgl. BGH, NJW 1990, S. 761. Kern, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 94, Rdnr. 14.
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„Eine solche Vertragsklausel würde den Patienten in den Fällen, in denen die Notwendigkeit der Reinigung vom Krankenhauspersonal selbst verursacht wurde, unangemessen benachteiligen.“29
Zulässig dürfte dagegen eine Formularbedingung sein, dass zurückgelassene Sachen des Patienten in das Eigentum des Krankenhauses übergehen, wenn sie nicht innerhalb von 12 Wochen nach Aufforderung abgeholt werden30. Festzustellen ist, dass grundsätzlich weder die deliktische noch die vertragliche Haftung von Krankenhausträgern und Ärzten formularmäßig ausgeschlossen oder eingeschränkt werden kann. Die Eigenart des Verhältnisses zwischen Arzt und Patient erfordert es, besonders strenge Anforderungen an Inhalt und Form einer haftungseinschränkenden Vereinbarung zu stellen. Hierzu Adolf Laufs31: „Schon die leichteste Fahrlässigkeit des Arztes kann für den Patienten unabsehbare Folgen haben. Eine Beschränkung der Haftung auf grobe Fahrlässigkeit kann dem Patienten, der im Krankheits- oder Unglücksfall keine andere Wahl hat als ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen, nicht zugemutet werden. Hingegen ist den Krankenhausträgern und Ärzten der Abschluss einer die Folgen auch leichter Fahrlässigkeit deckenden Haftpflichtversicherung durchaus zuzumuten.“32
Ein Ausschluss der Arzthaftung für leichte Fahrlässigkeit ist auch dann stets unwirksam, wenn er sich auf die ärztliche Aufklärung und das Selbstbestimmungsrecht des Patienten bezieht33. Dass aber formularmäßige Aufnahmeklauseln und Hinweisschilder nicht gänzlich überflüssig sind, zeigt ein Fall, den das LG Dortmund34 zu entscheiden hatte: Eine Besucherin hatte auf der Intensivstation eines Krankenhauses einen wertvollen Pelzmantel in der Schleuse abgelegt, obgleich gut lesbare Schilder angebracht waren, die dazu aufforderten, alle Wertgegenstände nicht in der Schleuse liegen zu lassen. Zudem wurde keiner der Besucher angehalten, seine Oberbekleidung vor dem Betreten der Schleuse zur Intensivstation abzulegen. Das LG Dortmund hat eine Haftung des beklagten Krankenhausträgers verneint, weil die jeweiligen Besucher der Intensivstation lediglich ersucht wurden, einen Schutzkittel überzuziehen. Rechtlich keineswegs unbedenklich ist allerdings die überwiegend vertretene Auffassung, eine Klausel in den Aufnahme-
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So auch Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 17. Vgl. auch § 15 der Empfehlungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), abgedr. bei Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 96, Rdnr. 10 ff. Einzelheiten zur Haftungsfreizeichnung: Schlund, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 96, Rdnr. 14 ff. BGH, NJW 1990, S. 761; Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 17. Adolf Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 98, Rdnr. 17. So auch OLG Stuttgart, NJW 1979, S. 2355. Vgl. OLG Stuttgart, NJW 1979, S. 2355; Schlund, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 96, Rdnr. 16. VersR 1987, S. 1023.
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verträgen, die die Zulässigkeit eines HIV-Tests vorsieht, sei überraschend und daher nichtig35.
E. Formulare als Haftungsprävention Leon Battista Albertini hat bereits vor 500 Jahren festgestellt: „Nicht mehr als 10 Gesetze hielten das ganze jüdische Volk viele Jahrhunderte hindurch in der Gottesfurcht, der Übung der Tugend und der Gerechtigkeit. Den Römern genügten allein 12 kurze Tafeln. Wir haben 60 Schränke voll Statuten und jeden Tag produzieren wir neue Verordnungen.“
Das Zitat besitzt heute mehr Gültigkeit als ehedem. Auch die Medizin ist von dem allgemeinen Trend zur Verrechtlichung nicht verschont geblieben. Richtig ist, dass es eine rechtsfreie Medizin nicht geben kann. Auch ärztliches Verhalten muss sich eine gerichtliche Kontrolle gefallen lassen. Bedenklich stimmt aber eine Rechtsprechung, die den zweifellos bestehenden Beweisschwierigkeiten im ärztlichen Haftungsprozess mit wenig überzeugenden Konstruktionen zu begegnen sucht. So hat der BGH viele Jahre hindurch die ärztliche Aufklärungspflicht als „Auffangtatbestand“ für nicht beweisbares ärztliches Verschulden benutzt36. Immer wieder musste die schuldhafte Verletzung ärztlicher Aufklärungspflicht dafür herhalten, um einen – im Ergebnis sicherlich gerechtfertigten – Schadensausgleich zwischen dem Arzt bzw. seiner Versicherung und dem Patienten zu rechtfertigen. Dabei ist die Beweislage eindeutig. Instruktiv hierzu Adolf Laufs37: „Hat der Patient grundsätzlich einen Behandlungsfehler zur Überzeugung des Gerichts nachzuweisen, so muss umgekehrt der Arzt die Einwilligung des Patienten und damit dessen hinreichende Aufklärung beweisen, will er den Prozess nicht verlieren. Das gilt
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Vgl. zum HIV-Test Wilhelm Uhlenbruck, Adolf Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 49, Rdnr. 12; Wilhelm Uhlenbruck, Schmerzensgeld wegen HIV-Test ohne Einwilligung des Patienten, in: MedR 1996, S. 206 Zu Beweisproblemen im ärztlichen Haftungsprozess: Laufs, Arztrecht, Rdnr. 586 ff.; ders., in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, §§ 107 ff.; Giesen, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 353 ff.; Erwin Deutsch, Medizinrecht, 4. Aufl., Berlin, Heidelberg 1999, Rdnr. 300 ff.; ders., Schutzbereich und Beweislast der ärztlichen Aufklärungspflicht, in: NJW 1984, S. 802 ff.; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 416 ff.; Wilhelm Uhlenbruck, Beweisfragen im ärztlichen Haftungsprozess, in: NJW 1965, S. 1057; Hanns Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, München 1983; ders., Beweisprobleme im Arzthaftungsprozess, in: Präs. d. LG Saarbrücken u. a. (Hrsg.), Festschrift 150 Jahre Landgericht Saarbrücken, Köln, Berlin, Bonn, München 1985, S. 257 ff.; ders., Prozessuale Aspekte richterlicher Rechtsfortbildung, in: Rechtswissenschaftliche Fakultät Köln (Hrsg.), Festschrift der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-Jahr-Feier der Universität Köln, Köln 1988, S. 305 ff. Laufs, Arztrecht, Rdnr. 173.
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Wilhelm Uhlenbruck
nach der Rechtsprechung auch dann, wenn der Prozessverlauf das Nichtvorliegen eines ärztlichen Behandlungsfehlers ergeben hat.“38
Auf Grund der teilweise massiven Kritik, der sich der VI. Zivilsenat des BGH ausgesetzt sah, muss seit einigen Jahren die schuldhafte Verletzung der ärztlichen Dokumentationspflicht als Nebenpflicht des Arztes aus dem Behandlungsvertrag herhalten, um eine Haftung des Arztes bei unaufklärbaren Sachverhalten zu rechtfertigen39. Ohne näher auf diese Entwicklungen einzugehen, ist festzustellen, dass Kliniken und Ärzte dem haftungsrechtlichen Risiko in zunehmendem Maße durch Formulare zu begegnen suchten. Zu dieser Entwicklung Adolf Laufs40: „Während das Formular im allgemeinen zivilrechtlichen Publikumsverkehr auf wachsende Bedenken stößt, breitet es sich in der klinischen Praxis aus.“
Richtig ist, dass der Arzt heute oftmals verpflichtet ist, bestimmte Vordruckmuster zu verwenden, wie z. B. für Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigungen41. Obgleich medizinisches Handeln nur begrenzt standardisierbar ist, haben Spezialisierung, Arbeitsteilung, Ökonomisierung sowie die Verrechtlichung im Medizinbereich dazu geführt, nicht nur traditionelle Instrumente in Krankenhäusern zu bilden, wie z. B. Hygiene-, Arzneimittel- oder Ethikkommissionen, sowie Leitlinien für ein effektives Qualitätsmanagement zu entwickeln, sondern zugleich auch sog. „Pathways“. Inzwischen stellen Arzneimittelfirmen solche formularmäßigen „Pathways“ zur Verfügung, die eine standardisierte Vorgehensweise bei Untersuchungen und Eingriffen vorschreiben. So wird z. B. auf Geburtsstationen teilweise nur noch nach Checklisten gearbeitet. Ein solcher Behandlungspfad (Pathway) umfasst bei der vaginalen Hysterektomie 13 Seiten. In den Formularen wird auf weitere Dokumente hingewiesen, wie z. B. Laborstandard ACHT2, Pflegestandard Grundpflege K2, Pflegestandard Pneumonieprophylaxe, Pflegestandard postoperative Pflege sowie Pflegestandard Thromboseprophylaxe. Für die ärztliche Entlassung gilt wiederum eine besondere Checkliste. Der Gynäkologe Michael Scheele42 erinnert sich daran, dass früher nach einer normalen Entbindung fast ein leeres Blatt zurückblieb. Heute umfasst die durchschnittliche Geburtsakte mit Einverständniserklärungen, Medikamentendosierungen und Wehenschreibaufzeichnungen 50 Seiten. Inzwischen gibt es ein „Modell integrierter Patientenpfade“ („mipp“) als 38
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40 41
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Vgl. auch Laufs, Arztrecht, Rdnr. 589 ff., 591 u. Rdnr. 627 ff.; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 494 ff. Zur ärztlichen Dokumentationspflicht s. Wilhelm Uhlenbruck, Gerhard Schlund, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 59, Rdnr. 1 ff.; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 470 ff. Laufs, Arztrecht, Rdnr. 178. Nach einem Urteil des SG Hamburg v. 31. 05. 2002 – S 21 KR 466/00 – verhalten sich Vertragsärzte, die die derzeit gültigen Vordruckmuster 1a (für den Arbeitgeber bestimmte AU-Bescheinigung) bei Patienten verwenden, die unter das EFZG fallen, gesetzwidrig und können sich u. U. sogar schadensersatzpflichtig machen, wenn ein Arbeitgeber sich auf ein Leistungsverweigerungsrecht berufen sollte. Die Zeit, Nr. 41 v. 01. 10. 2003, S. 41.
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Konzept zur Prozessoptimierung, Kostenermittlung und Qualitätsmanagement auf der Grundlage von Leitlinien43. Unabhängig von der Gefahr, dass eine „Evidence based Medicine“ Gefahr läuft, in eine formulargesteuerte Gesundheitsökonomie abzugleiten, ist festzustellen, dass auch der umfassendste „Clinical Pathway“ und seine strikte Einhaltung den Arzt nicht von jeglicher Haftung freistellt. Jedes Krankheitsbild und jeder ärztliche Eingriff weist Besonderheiten auf, die sich formularmäßig nicht erfassen lassen und eine individuelle Entscheidung des Arztes verlangen.
F. Formularwesen im Rahmen ärztlicher Aufklärung I. Formular und ärztliches Aufklärungsgespräch Besondere Bedeutung in der klinischen Praxis haben in den letzten Jahren fachkundig erstellte Formblätter und Aufklärungsbögen gewonnen, die im juristischen Schrifttum teilweise als unangemessene Belastung für den Patienten und Flucht in die Formularjurisprudenz kritisiert werden. Nach Feststellung von Gerhard H. Schlund44 hat die Rechtsprechung ein „fast gestörtes Verhältnis zu Aufklärungsformblättern und -bögen entwickelt“. Zwar hat der BGH45 darauf hingewiesen, dass schriftliche Aufzeichnungen im Krankenblatt über das Aufklärungsgespräch mit seinem wesentlichen Inhalt „nützlich und dringend zu empfehlen“ sind. Ihr Fehlen dürfe aber nicht dazu führen, dass der Arzt regelmäßig beweisfällig für die behauptete Aufklärung bleibe. Ein Rückzug des Arztes auf Formulare und Merkblätter, die er vom Patienten unterzeichnen lässt, kann nach Auffassung des BGH nicht ausreichen und würde zu Wesen und Sinn der Patientenaufklärung geradezu in Widerspruch stehen. Das „vertrauensvolle Gespräch zwischen Arzt und Patient“ sollte möglichst von jedem bürokratischen Formalismus frei bleiben. Hierzu gehört u. a. auch das Beharren auf einer Unterschrift des Patienten46. Nach Feststellung des Strafrechtlers Klaus Ulsenheimer47 sind die auch heute noch vielfach benutzten Einwilligungserklärungen des Patienten meistens viel zu allgemein abgefasst und weithin inhaltslos. Ihre Unterzeichnung beweise daher für sich allein noch nicht, dass der Patient sie auch gelesen und verstanden hat, geschweige denn, dass der Inhalt mit ihm erörtert worden ist. Die Aushändigung und Unterzeichnung von Formularen und Merkblättern ersetzt keinesfalls das erforderliche ärztliche Aufklärungsgespräch. Die in Arztpraxen und Kliniken verwendeten Aufklärungsformulare dienen in erster Linie der Beweisvorsorge des Arztes und der 43
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Vgl. C. Camli, E. Rieben, D. Conen, Leitlinien und Clinical Pathways in der Fallkostenkalkulation, in: Karl Lauterbach, Mathias Schrappe (Hrsg.), Gesundheitsökonomie, Qualitätsmanagement und Evidence based Medicine, Stuttgart 2001, S. 495 ff. VersR 1993, S. 753. Vgl. auch Giesen, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 332 ff., Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 66, Rdnr. 14. BGH, NJW 1985, S. 1399 und JZ 1986, S. 241 mit Anmerkungen v. Dieter Giesen. Vgl. BGH, MedR 1985, S. 169; Laufs, Arztrecht, Rdnr. S. 629. Klaus Ulsenheimer, Arztstrafrecht in der Praxis, 2. Aufl., Heidelberg 1998, Rdnr. 119.
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Klinik48. Die Tatsache, dass eine formularmäßige Einverständniserklärung des Patienten vorliegt, ist lediglich Indiz, dass vor der Unterzeichnung überhaupt ein Aufklärungsgespräch über den Eingriff und die möglichen Folgen stattgefunden hat49. Behauptet der Patient im Prozesskostenhilfeverfahren oder im Haftungsprozess, die ihm erteilte ärztliche Aufklärung stimme nicht mit dem allgemein gehaltenen Aufklärungsformular überein, so entfällt der Indizwert des Formulars50. Bei der Benutzung von Aufklärungsformularen muss sich der Arzt davon überzeugen, dass der Patient die schriftlichen Hinweise gelesen und auch verstanden hat. Weiterhin muss dem Patienten die Möglichkeit gegeben werden, seine individuellen Belange und Wünsche vorzubringen sowie Antwort auf eventuelle Fragen zu erhalten51. Allerdings gebietet das Erfordernis eines Aufklärungsgesprächs nicht in jedem Fall eine mündliche Erläuterung der Risiken. Bei Routinemaßnahmen, wie z. B. einer Impfung, kann es genügen, dass dem Patienten nach schriftlicher Aufklärung Gelegenheit zu weiteren Informationen durch ein Gespräch mit dem Arzt gegeben wird52. Besondere Sorgfalt ist bei der Anwendung von Aufklärungsformularen geboten, wenn der Patient die deutsche Sprache nicht beherrscht. Gleiches gilt, wenn der aufklärende Arzt nur gebrochen Deutsch spricht53. Im Zweifel ist nicht zuletzt auch im Hinblick auf eine notwendige Befundbesprechung für das ärztliche Gespräch ein Dolmetscher hinzuzuziehen. Rechtliche Bedeutung hat eine Patienteninformation – sei es als Formular oder als Aushang – auch für Verhaltensweisen von Patienten, die mit der Behandlung bzw. Operation nicht in unmittelbaren Zusammenhang stehen. Befindet sich z. B. auf einer Bettenstation ein Fitnessraum, so genügt ein schriftlicher Hinweis, dass der Patient oder sonstige Dritte den Fitnessraum auf eigene Gefahr und in eigener Verantwortung benutzen. Gefährdete Patienten (Herzpatienten und ältere Patienten) sollten darauf hingewiesen werden, dass sie den Fitnessraum nur dann benutzen sollten, wenn ihnen die zumutbare Belastung von ärztlicher Seite attestiert worden ist. Empfehlenswert ist auch der Hinweis, dass Patienten mit bekannter koronarer Herzkrankheit den Fitnessraum nicht benutzen dürfen. Bestätigt der Patient mit seiner Unterschrift die Erklärung, dass er den Fitnessraum auf eigenes Risiko benutzt, so ist der formularmäßigen Haftungsprävention Genüge getan. § 309 Nr. 7 BGB findet insoweit keine Anwendung. Die schriftliche Bestätigung ist jedoch kein zwingendes Erfordernis für den Haftungsausschluss. 48
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Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 66, Rdnr. 15; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 342. Empirische Untersuchungen haben ergeben, dass schon einen Tag später nicht mehr als die Hälfte der Patienten wusste, ob sie überhaupt aufgeklärt waren und worüber. Instruktiv hierzu die Studie von Alexander Ehlers, Die ärztliche Aufklärung vor medizinischen Eingriffen, Köln 1987, S. 120 ff. Vgl. BGH, NJW 1999, S. 863 f. = ArztR 1999, S. 109; Saarl. OLG, Urt. v. 04. 06. 2003 – W 110/03, ArztR 2004, S. 264. Vgl. BGH, Urt. v. 15. 02. 2000, NJW 2000, S. 1784. BGH, Urt. v. 22. 02. 2000, NJW 2000, S. 1784, 1787. Instruktiv AG Leipzig, Urt. v. 30. 05. 2003 – 17 C 344/03, MedR 2003, S. 382.
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II. Zur Beweiskraft von Aufklärungsformularen Benutzen Krankenhaus oder Arzt keine formularmäßigen Aufklärungsbögen, so haben sie in einem Haftungs- oder Strafprozess später nur sich selbst als Zeugen. In diesen Fällen muss der Arzt nach Auffassung des BGH trotzdem eine faire und reale Chance haben, den Beweis für die Durchführung und den Inhalt des Aufklärungsgesprächs zu führen. Wörtlich hat der BGH ausgeführt54: „Der Senat hat wiederholt darauf hingewiesen, dass an den dem Arzt obliegenden Beweis der ordnungsgemäßen Aufklärung des Patienten keine unbilligen und übertriebenen Anforderungen gestellt werden dürfen. Danach hat der Richter die besondere Situation, in der sich der Arzt während der Behandlung des Patienten befindet, ebenso zu berücksichtigen wie die Gefahr, die sich aus dem Missbrauch seiner Beweislast durch den Patienten zu haftungsrechtlichen Zwecken ergeben kann. Ist einiger Beweis für ein gewissenhaftes Gespräch erbracht, sollte dem Arzt im Zweifel geglaubt werden, dass die Aufklärung im Einzelfall auch in der gebotenen Weise geschehen ist; dies auch mit Rücksicht darauf, dass aus vielerlei verständlichen Gründen Patienten sich im Nachhinein an den genauen Inhalt solcher Gespräche, die für sie etwa vor allem von therapeutischer Bedeutung waren, nicht mehr erinnern.“
Je gründlicher und individueller ein Formular gestaltet ist, desto beweiskräftiger wirkt es in einem späteren Haftungsprozess. Bedient sich der Arzt eines Formulars, sollte dieses Raum für individuelle Einträge bieten. Wie Instanzgerichte die Beweiskraft einer Urkunde über das ärztliche Aufklärungsgespräch einschätzen, zeigt ein nicht veröffentlichtes Urteil des OLG Koblenz vom 07. 08. 2003 (5 U 1284/02). Enthält die Urkunde über ein ärztliches Aufklärungsgespräch Eintragungen, die ersichtlich mit verschiedenen Kugelschreibern gefertigt worden sind, und behauptet der Anspruchsteller, bestimmte Risiken seien nachgetragen worden und daher nicht von der Unterschrift des Patienten gedeckt, ist nach Auffassung des OLG Koblenz die damit behauptete Urkundenfälschung nicht entscheidungserheblich, wenn das Gericht auf anderem Wege die Überzeugung einer allumfassenden Aufklärung gewinnt. Im Übrigen entspricht es ständiger Rechtsprechung des BGH, dass dem Patienten die Risiken einer Behandlung oder eines Eingriffs nicht medizinisch exakt und nicht in allen denkbaren Erscheinungsformen dargestellt werden müssen. Vielmehr genügt es, ihm ein allgemeines Bild von der Schwere und Richtung des konkreten Risikospektrums zu verschaffen. Die ärztliche Aufklärung sollte dem Patienten kein kostenloses Medizinstudium ermöglichen. Formularmäßige Einverständniserklärungen sind nach verbreiteter Ansicht Allgemeine Geschäftsbedingungen. Ihre Rechtswirksamkeit orientiert sich dementsprechend an den §§ 305-307 BGB. Adolf Laufs55: „Ob die formularmäßige Aufklärung den medizinrechtlichen Erfordernissen entspricht, bestimmt sich letztlich nicht nach dem auf Willenserklärungen zugeschnittenen AGB-
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MedR 1985, S. 169. S. auch OLG München, Urt. v. 18. 01. 1990 – 1 U 3574/89 und NA-Beschl. d. BGH v. 30. 10. 1990 – VI ZR 98/90, VersR 1991, S. 190 (Ls). Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 66, Rdnr. 17.
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Gesetz (jetzt §§ 305 ff. BGB), sondern nach den speziellen für die Einwilligung geltenden Voraussetzungen, die sich von denen der Willenserklärung unterscheiden.“
Es entspricht ständiger Rechtsprechung, dass die vom Patienten gelegentlich sogar schon bei der Krankenhausaufnahme erteilte formularmäßige Bestätigung einer ärztlichen Aufklärung „durchweg unzureichend ist, da die Formulare meistens zu pauschal sind oder die Risiken zu generell benennen, um zu belegen, dass er ein zutreffendes Bild über seinen Behandlungsfall erhalten hat. Auch beweist die Unterzeichnung solcher Schriftstücke nicht, dass der Patient sie auch gelesen unverstanden hat.“56
III. Fälle untauglicher Formularerklärung Es gibt Fälle, in denen Aufklärungsformulare und Merkblätter nichts oder nur wenig nützen. Besteht z. B. die Möglichkeit, eine Operation durch eine konservative Behandlung zu vermeiden, und ist die Operation deshalb nur relativ indiziert, so muss nach einem Urteil des BGH v. 22. 02. 200057 der Patient hierüber aufgeklärt werden. Die Aufklärung über alternative Behandlungsmethoden lässt sich formularmäßig nicht in den Griff bekommen. Schließlich lässt sich auch die Organisationsaufklärungspflicht58 nicht formularmäßig erfüllen. Unter Organisationsaufklärung versteht man die Pflicht zu Patienteninformationen, die sich auf die Organisation der Behandlungssituation „Krankenhaus“ oder „Praxis“ beziehen, also auf die organisatorische Gewährleistung von Behandlungsvoraussetzungen oder Standards. Die Organisationsaufklärung umfasst Fälle der Prozess-, Struktur- und Versorgungsqualität ärztlicher Behandlungen im Krankenhaus. Hierzu gehören auch die personellen Mittel, wie z. B. Organisation des Nachtdienstes, der Vertretung, der Kooperation auf horizontaler oder vertikaler Ebene sowie die Überwachung und Anleitung von Ärzten in der Ausbildung. Hat z. B. eine Klinik keine Möglichkeit, organisatorisch die ausreichende palliative Versorgung des Patienten zu gewährleisten, so hat sie den Patienten darauf hinzuweisen. Dem Patienten und seinen Angehörigen muss die Möglichkeit gegeben werden, die Verlegung in eine Klinik mit ausreichender Schmerztherapie oder in palliative Einrichtungen zu ver56
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Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, Rdnr. 437; BGH, NJW 1984, S. 1397; BGH, NJW 1985, S. 1399, BGH, VersR 1999, S. 190, OLG München, VersR 1988, S. 525; OLG Düsseldorf, VersR 1999, S. 61. VersR 2000, S. 766 = NJW 2000, S. 1788. Zur Aufklärung über Behandlungsalternativen vgl. auch OLG Bremen, NJW-RR 2001, S. 671; OLG Nürnberg, MedR 2001, S. 577 u. MedR 2002, S. 29; OLG Dresden, VersR 2002, S. 440; Philip Schelling, Rainer Erlingen, Die Aufklärung über Behandlungsalternativen, in: MedR 2003, S. 331 ff.; Kern, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 162, Rdnr. 101 ff. Zur Aufklärung über Behandlungsalternativen s. auch Laufs, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch der Arztrechts, § 64, Rdnr. 4 ff. Vgl. zur Organisationsaufklärung Dieter Hart, „Organisationsaufklärung“, in: MedR 1999, S. 47 ff.
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anlassen. Formularmäßig lässt sich auch die ärztliche Aufklärung in der Palliativmedizin nicht erfassen. Ist der Patient austherapiert, so ist er über die notwendige Änderung des Behandlungsziels (palliative Maßnahmen) aufzuklären. In den Grundsätzen der Bundesärztekammer i. d. Fassung Mai 2004 (NJW Heft 22/2004, S. XXIX ff. = DÄB1. l v. 07. 05. 2004) heißt es insoweit: „Die Unterrichtung des Sterbenden über seinen Zustand und mögliche Maßnahmen muss wahrheitsgemäß sein, sie soll sich aber an der Situation des Sterbenden orientieren und vorhandenen Ängsten Rechnung tragen. Der Arzt kann auch Angehörige oder nahe stehende Personen informieren, wenn er annehmen darf, dass dies dem Willen des Patienten entspricht. Das Gespräch mit ihnen gehört zu seinen Aufgaben.“
Auch diese Aufklärung lässt sich nicht formularmäßig durchführen. Rixen/Höfling/Kuhlmann/Westhofen59 haben neuerdings Vorschläge zur Neustrukturierung des Aufklärungsgesprächs zum rechtlichen Schutz der Patientenautonomie in der ressourcenintensiven Hochleistungsmedizin gemacht. An der Matrix für den Entscheidungsprozess ist nichts auszusetzen. Allerdings wird angesichts der Arbeitszeitregelungen in Kliniken kaum jemals ein Arzt die Zeit aufbringen, ein solches „autonomieermöglichendes Gespräch“ zu realisieren60.
G. Formularmäßige Dokumentation als Haftungsprävention? Wie bereits oben ausgeführt wurde, ist seit Ende der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts anstelle der Verletzung der Aufklärungspflicht die schuldhafte Verletzung ärztlicher Dokumentationspflicht in den haftungsrechtlichen Vordergrund getreten61. Festzustellen ist, dass neuere Methoden des „Clinical Pathway“ ebenso wie krankenhausinterne Leitlinien oder Kerndatensätze allenfalls geeignet sind, Indikatoren für eine bestimmte Qualitätssicherung und das Vorliegen eines Qualitätsmanagements zu sein. Auch sie dienen lediglich der Beweisvorsorge. So ist z. B. gemeinsam von der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI) und der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensivund Notfallmedizin (DIVI) am 07. 11. 2001 ein Kerndatensatz „Intensivmedizin“ 59
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Stephan Rixen, Wolfram Höfling, Wolfgang Kuhlmann, Martin Westhofen, Zum rechtlichen Schutz der Patientenautonomie in der ressourcenintensiven Hochleistungsmedizin: Vorschläge zur Neustrukturierung des Aufklärungsgesprächs, in: MedR 2003, S. 191 ff. S. Giebel/Wienke/Sauerborn/Edelmann/Menningen/Diedenich, Das Aufklärungsgespräch zwischen Wollen, Können und Müssen, in: NJW 2001, S. 863 ff. BGH, NJW 1978, S. 1681; BGHZ 72, S. 132; Uhlenbruck/Schlund, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 59, Rdnr. 1 ff.; Katzenmeier, Arzthaftung, S. 470 ff.; Karl-Otto Bergmann, in: Karl-Otto Bergmann, Hans Friedrich Kienzle, Krankenhaushaftung: Organisation, Schadensverhütung und Versicherung, Düsseldorf 1996, Rdnr. 161 ff.; Laufs, Arztrecht, Rdnr. 420, 454 ff., 616.
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verabschiedet worden, der neben den Strukturdaten der beteiligten Intensivstationen, den Patientenstammdaten, den Verlaufsdaten und dem Behandlungsaufwand auch das Ergebnis (Outcome) der intensivmedizinischen Behandlung auf der Basis international anerkannter und evaluierter Scoring-Systeme erfasst62. In der Literatur wird betont, dass die Kerndatensätze nicht nur der Qualitätssicherung, der innerbetrieblichen Ressourcenplanung und der Entgeltsicherung dienen, sondern zugleich auch der medikolegalen Absicherung63. Das Ankreuzen in formularmäßig gefassten Verhaltensanweisungen stellt im Haftungsprozess lediglich ein Indiz dafür dar, dass die entsprechende Maßnahme durchgeführt worden ist. Der Beweis ist damit jedoch noch nicht geführt.
H. Formularmäßige Reaktionen der Patienten Inzwischen reagieren die Patienten in Teilbereichen der Medizin ebenfalls mit Formularen. So z. B. mit formularmäßigen Patientenverfügungen oder formularmäßigen Vorsorgevollmachten64. Die inzwischen auch von den Ärztekammern 62
63
64
Vgl. Jörg Martin u. a., Der Kerndatensatz Intensivmedizin: Mindestinhalte der Dokumentation im Bereich der Intensivmedizin, in: Anästhesiologie & Intensivmedizin 2004, S. 207 ff.; Schmitz/Weiler/Heinrichs, Mindestinhalte und Ziele der Dokumentation in der Intensivmedizin, in: Anästhesiologie & Intensivmedizin 1995, S. 162 ff. Vgl. Jan-Peter Braun u. a., Der Kerndatensatz Intensivmedizin – Nur zur Qualitätssicherung?, in: Anästhesiologie & Intensivmedizin 2004, S. 217 ff. Vgl. Wilhelm Uhlenbruck, Selbstbestimmtes Sterben durch Patienten – Testament, Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung, Berlin 1997, S. 299 ff.; ders., Der Patientenbrief – die privatautonome Gestaltung des Rechtes auf einen menschenwürdigen Tod, in: NJW 1978, S. 566 ff.; ders., Die Altersvorsorge-Vollmacht als Alternative zum Patiententestament und zur Betreuungsverfügung, in: NJW 1996, S. 1583; ders., Patiententestament, Betreuungsverfügung und Vorsorgevollmacht: Zur Selbstbestimmung im Vorfeld des Todes, Heft 8 der Berliner Medizinethischen Schriften, Berlin 1996; Matthias Winkler, Vorsorgeverfügungen, Band 44, Beck´sche Musterverträge, München 2003; Michael Rudolf, Jan Bittler, Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung, Patientenverfügung, Angelbachtal 2000; Ursula Stier, Patiententestament. Ein Ratgeber zu Verfügungen und Vollmachten aus medizinischer, juristischer und theologischer Sicht, Bonn 2001; Jochen Taupitz, Empfehlen sich zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens?, in: Verhandlungen des 63. DJT 2000, Bd. 1 (Gutachtenteil A), München 2000; Peter Michael Hoffmann, Bettina Schumacher, Vorsorgevollmachten und Betreuungsverfügung, in: Betreuungsrechtliche Praxis, Bd. 11, Köln 2002, S. 191 ff.; Andrea Langenfeld, Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung und Patiententestament nach dem neuen Betreuungsrecht, Konstanz 1994; Ute Walter, Die Vorsorgevollmacht, Bielefeld 1997; Thorsten Jacobi u. a. (Hrsg.), Ratgeber Patientenverfügung, Münster 2001; Julia Röver, Einflussmöglichkeiten des Patienten im Vorfeld einer medizinischen Behandlung, Frankfurt/M. 1997; Rolf Coeppicus, Sachfragen des Betreuungs- und Unterbringungsrechts, Stuttgart 2000, S. 45 ff.; Wolfgang Putz, Beate Steldinger, Patientenrechte am Ende des Lebens, Mün-
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und den christlichen Kirchen herausgegebenen Formulare sind unter den Juristen umstritten. Auch viele Ärzte stehen den formularmäßigen Patientenverfügungen kritisch gegenüber oder lehnen sie ganz ab. Die Einstellung deutscher Vormundschaftsrichterinnen und -richter zur Rechtsverbindlichkeit von Patientenverfügungen ist durchweg positiv65. 92,8% der Richter bzw. Richterinnen stehen auf dem Standpunkt, dass grundsätzlich der in einer Patientenverfügung geäußerte Wille gilt, es sei denn, es lägen im Einzelfall konkrete Anhaltspunkte vor, die auf eine Willensänderung schließen lassen. Skepsis wird dagegen geäußert gegenüber mündlichen Aussagen von Dritten, wie z. B. Angehörigen oder Stellvertretern und zum mutmaßlichen Willen des Patienten. Dies zeigt, welche Bedeutung neben der eigentlichen Patientenverfügung der Vorsorgevollmacht zukommt, die Dritte bevollmächtigt, im Interesse des Patienten dessen Selbstbestimmungsrecht für den Fall der Entscheidungsunfähigkeit auszuüben. Der XII. Zivilsenat des BGH hat in einem Urteil vom 17. März 200366 grundsätzlich die Rechtsverbindlichkeit einer Patientenverfügung anerkannt. Durch das am 01. Januar 1999 in Kraft getretene Betreuungsrechtsänderungsgesetz (BGBl. I 1998, 1580) ist allerdings das Selbstbestimmungsrecht des Patienten vor allem im Bereich der Vorsorgevollmacht zugunsten richterlicher Entscheidungshoheit weitgehend ausgehebelt worden67. Die von der Bundesjustizministerin 2003 eingesetzte Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ hat ihren Bericht am 10. Juni 2004 vorgelegt. Die Arbeitsgruppe kommt zu dem Ergebnis, dass das Recht zur Selbstbestimmung über den eigenen Körper zum Kernbereich der durch das Grundgesetz geschützten Würde und Freiheit des Menschen gehört. Dieses Recht gilt auch am Lebensende. Die Patientin oder der Patient kann daher die Vornahme oder Fortsetzung einer lebenserhaltenden oder lebensverlängernden Behandlung bzw. Maßnahme auch dann ablehnen, wenn deren Beginn oder Fortsetzung ärztlich indiziert ist. Die künstliche Flüssigkeits- und Nahrungszufuhr, die z. B. durch die Speiseröhre (Magensonde) oder Bauchdecke (PEG) in den Magen oder intravenös erfolgt, die maschinelle Beatmung, die Dialyse oder die Bekämpfung einer zusätzlich auftretenden Krankheit, wie z. B. Lungenentzündung, sind Eingriffe, die ebenfalls der Einwilligung des Patienten bedürfen und vom Patient deshalb abgelehnt werden können. Nach Feststellung der Arbeitsgruppe gilt eine frühere Willensbekundung des Patienten auch bei Einwilligungsunfähigkeit fort, wenn keine konkreten Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Patientin oder der Patient sie widerrufen hat.
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chen 2003; Ralph Weber, Die Patientenverfügung – eine Hilfe für Mediziner und Juristen?!, in: ArztR 2004, S. 300 ff. Vgl. Alfred Simon, Volker Lipp, Andrea Tietze, Nicole Nickel, Birgitt van Oorschot, Einstellungen deutscher Vormundschaftsrichterinnen und -richter zu medizinischen Entscheidungen und Maßnahmen am Lebensende, in: MedR 2004, S. 303 ff. BGH, NJW 2003, S. 1588. Vgl. Wilhelm Uhlenbruck, Entmündigung des Patienten durch den Gesetzgeber?, in: ZRP 1998, S. 46; ders., Brauchen wir in Deutschland ein Gesetz zur aktiven Sterbehilfe?, in: NJW 2001, S. 2770, 2772; ders., Bedenkliche Aushöhlung der Patientenrechte durch die Gerichte, in: NJW 2003, S. 1710, 1711.
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Der Bericht der Arbeitsgruppe enthält Textbausteine zur Erstellung einer individuellen schriftlichen Patientenverfügung. Die Bundesministerin der Justiz Brigitte Zypries hat sich für die Verbindlichkeit eines schriftlich, also auch formularmäßig geäußerten Patientenwillens ausgesprochen und eine entsprechende Änderung des Betreuungsrechts vorgeschlagen.67a Die gesetzliche Regelung soll die bestehenden Rechtsunsicherheiten beseitigen, die hinsichtlich der Verbindlichkeit der inzwischen etwa 180 im Umlauf befindlichen Formulare noch bestehen. Wie bei der formularmäßigen Aufklärung besteht auch bei formularmäßigen Patientenverfügungen die Gefahr, dass der Patient etwas unterschreibt, was er inhaltlich nicht oder nur teilweise versteht. Zutreffend stellt die Arbeitsgruppe „Patientenautonomie am Lebensende“ in ihrem Bericht v. 10. Juni 2004 fest, dass die Wirksamkeit der Ablehnung bestimmter Maßnahmen nicht von einer vorausgegangenen ärztlichen Aufklärung abhängt. Dennoch sollte sie stattfinden, „um Zweifel zu vermeiden, ob die Patientin oder der Patient die Tragweite des Verbots oder die in Betracht kommenden Behandlungsalternativen erkannt hat.“ Eine beratende Ärztin oder ein beratender Arzt sollten nach Vorstellungen der Kommission die Beratung dokumentieren und die Einwilligungsfähigkeit zum Zeitpunkt der Abfassung in der Patientenverfügung bestätigen. Entsprechendes soll gelten für die „Beratung durch nichtärztliche, im Umgang mit Patientenverfügungen erfahrene Einrichtungen oder Personen“, wie z. B. Hospizvereine oder Notare. Anders als bei der formularmäßigen ärztlichen Aufklärung ist das ärztliche oder fachkundige Beratungsgespräch aber nicht zwingende Voraussetzung für die Wirksamkeit einer Patientenverfügung. Ungeachtet der bestehenden Rechtsunsicherheit hinsichtlich der inhaltlichen Gestaltung von Patientenverfügungen ist festzustellen, dass solche Verfügungen zumindest den mutmaßlichen Patientenwillen zum Ausdruck bringen68. Stellt der Arzt einen mutmaßlichen Patientenwillen fest, wozu er nach den Grundsätzen der Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung (Ziff. IV) verpflichtet ist, ist er hieran gebunden. Die Nichtbeachtung solcher Verfügungen kann im Einzelfall strafbare Körperverletzung i. S. von § 223 StGB sein. Letztlich ist auch das Formular einer Patientenverfügung oder Vorsorgevollmacht für den Arzt hilfreich. Er braucht keine einsamen Entscheidungen zu treffen. Im Haftungsfall oder in einem Strafverfahren kann er sich darauf berufen, die Weiterbehandlung oder der Behandlungsabbruch habe dem tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen des Patienten bzw. dem Willen des Bevollmächtigten entsprochen. Über die palliative Behandlung und Versorgung des Patienten hinaus treffen Ärzte und Krankenhausträger zugleich organisatorische Pflichten, zu denen auch die Schaffung der Voraussetzungen für die Errichtung eines wirksamen vermögensrechtlichen Testa67a
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Zum Entwurf eines 3. Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts v. 1. 11. 2004 (BtÄndG) siehe Christian v. Dewitz, Meinhard Kirchner, Der Entwurf eines 3. Gesetzes zur Änderung des Betreuungsrechts vom 1. November 2004 und das Grundgesetz, in: MedR 2005, S. 134 ff. Zum mutmaßlichen Patientenwillen am Lebensende vgl. Michael Wunder, Medizinische Entscheidungen am Lebensende und der „mutmaßliche Wille“, in: MedR 2004, S. 319 ff.
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ments gehört69. In einem Urteil vom 13. 02. 195870 hat der BGH die Möglichkeit einer Amtshaftung bei dem Träger eines kommunalen Krankenhauses bejaht, der die Pflicht verletzt hatte, einem testierwilligen Patienten die Erfüllung seines Wunsches durch geeignete organisatorische Maßnahmen in der Klinik zu erleichtern. Zwar ist das Krankenhaus nicht verpflichtet, den Patienten, der vor einer Operation ein Testament zu errichten wünscht, rechtlich zu belehren71; wird jedoch unter pflichtwidriger Mitwirkung des Krankenhauspersonals ein formunwirksames Testament errichtet, so ist das Personal verpflichtet, die geschaffene Gefahrenlage durch geeignete und zumutbare Maßnahmen wieder zu beseitigen. Es hat u. U. auf den Patienten einzuwirken, ein wirksames Testament zu errichten, um die bisherige Rechtslage zu korrigieren. Bislang ist nicht geklärt, ob Kliniken und palliativmedizinische Einrichtungen verpflichtet sind, formularmäßige Patientenverfügungen bereitzuhalten und den Patienten zur Verfügung zu stellen. Sollte aber entsprechend dem dänischen Vorbild eine Zentralstelle für die Aufbewahrung von Patientenverfügungen auch in Deutschland eingerichtet werden, wird man den Arzt als verpflichtet ansehen müssen, eine Patientenverfügung dort oder im Internet abzurufen72.
J. Abschließende Bemerkungen Die zunehmende Flut von Formularen und Merkblättern, wie sie in Arztpraxen und Kliniken verwandt werden, vermag die Haftung des Arztes oder der Klinik im Einzelfall nicht auszuschließen. Vor allem vermögen noch so gründlich ausgearbeitete und gut formulierte Aufklärungsformulare das ärztliche Aufklärungsgespräch nicht zu ersetzen. Formulare haben haftungsmäßig lediglich Indizfunktion. Sie dienen der Beweisvorsorge für einen eventuellen Haftungsprozess. Zudem sparen sie dem Arzt viel Zeit. Dem Patienten oder seinen Angehörigen sollten die Formulare jedoch vor dem Aufklärungsgespräch ausgehändigt werden, damit Zweifelsfragen im Gespräch geklärt werden können. Leben, Körper und Gesundheit des Patienten sind derart kostbare Güter, dass bei Verletzung auch die Haftung für leichte Fahrlässigkeit formularmäßig nicht ausgeschlossen werden kann (§ 309 Nr. 7 a BGB). Der heutige Krankenhausarzt verbringt etwa 30-40 % seiner Arbeitszeit mit Dokumentation und Beantwortung von Anfragen der Versicherungen. Angesichts zunehmender Mündigkeit der Patienten und wachsender bürokra69
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Uhlenbruck , in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 95a; Gerhard Schlund, Die Testamentserrichtung im Krankenhaus, in: Informationen des Berufsverbandes der Deutschen Chirurgen e.V., Nr. 11/1978, S. 167; Peter Behrend, Die Testamentserrichtung im Krankenhaus, in: Krankenhaus 1997, S. 600. NJW 1958, S. 2107. BGH, Urt. v. 08. 06. 1989, NJW 1989, S. 2945. Vgl. auch Kern, in: Laufs/Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, § 95, Rdnr. 1 ff.; Schlund, Die Testamentserrichtung im Krankenhaus, S. 167. Breves, Rochelle, Meister, in: Krankenhaus 2003, S. 552 ff. sprechen insoweit bereits von einer „Haftungsfalle für Ärzte und Krankenhäuser“.
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Wilhelm Uhlenbruck
tischer Erfordernisse wird die Schreibarbeit nicht weniger. Ärzte und Krankenhäuser werden künftig immer mehr formularmäßige „Abwehrschlachten“ gegen haftungsrechtliche Inanspruchnahme führen müssen. Dabei ist festzustellen, dass noch so ausgefeilte Formulare keinen absoluten Schutz gegen eine haftungsrechtliche Inanspruchnahme bieten. Bedrückend ist, dass angesichts der Ressourcenknappheit im Gesundheitswesen Ärzte und Klinikpersonal durch Haftungsvorsorge und Verwaltungsarbeit ihrer eigentlichen Aufgabe weitgehend entzogen werden. Es ist primär Sache der Juristen bzw. der Rechtsprechung, wie in früheren Zeiten den Besonderheiten ärztlicher Tätigkeit Rechnung zu tragen und die rechtlichen Anforderungen auf das absolut notwendige Mindestmaß zu reduzieren. Oder anders: vom heutigen mündigen Patienten kann und muss ein Mindestmaß an Eigeninformation und Verantwortung verlangt werden. Die ärztliche Aufklärung darf nicht zu einem kostenlosen Medizinstudium für Laien mutieren. Die Überreglementierung ärztlicher Verhaltensweisen führt zwangsläufig zu einer Defensivmedizin. Diese aber bedeutet Stillstand statt Fortschritt in der Medizin. Solches kann nicht im Interesse der Ärzte und Patienten liegen. Bedenklich ist insoweit ein Urteil des BGH vom 08. 04. 200373. In dem entschiedenen Fall war bei einem Patienten eine Magenspiegelung vorgenommen worden. Vor der Sedierung wurde der Patient vom Arzt über die Risiken des invasiven Eingriffs aufgeklärt und belehrt, dass er nach dem Eingriff kein Kraftfahrzeug führen dürfe. Eine entsprechende Belehrung hatte der Patient bereits durch seinen Hausarzt erhalten. Dem Chefarzt gegenüber erklärte der Patient, er sei zwar mit dem eigenen Wagen ins Krankenhaus gekommen, werde aber mit dem Taxi nach Hause fahren. Nach Durchführung der Untersuchung hielt sich der Patient längere Zeit auf dem Flur vor den Dienst- und Behandlungsräumen des beklagten Chefarztes auf, der wiederholt Blick- und Gesprächskontakt mit ihm hatte. Ohne vorher entlassen worden zu sein, entfernte sich der Patient trotz mehrfachen Hinweises aus dem Krankenhaus und geriet mit seinem Pkw aus ungeklärter Ursache auf die Gegenfahrbahn, wo er mit einem Lkw zusammenstieß. Er verstarb an der Unfallstelle. Der BGH hat der Haftungsklage der Angehörigen in vollem Umfang stattgegeben. Zum Zeitpunkt der Entfernung aus dem Krankenhaus sei der Patient zwar nicht mehr vital gefährdet gewesen, aber im Sinne der Fachterminologie nur „home ready“, nicht jedoch „street ready“ gewesen. Angesichts des Gefahrenpotentials sei die Unterbringung auf dem Flur vor den Dienst- und Behandlungsräumen des beklagten Chefarztes nicht geeignet gewesen, die nach den Gesamtumständen bestehenden Überwachungspflichten zu erfüllen. Dieses Urteil hat der Jubilar zutreffend mit folgenden Sätzen kritisiert74: „Das Urteil wird verantwortliche Mediziner wie Verwaltungen in den Krankenhäusern, auch viele pflichtbewusste niedergelassene Ärzte verunsichern und deren Überbeanspruchung weiter verschärfen. Möglicherweise wird es die Formularpraxis noch mehr erweitern durch Klauseln, die den Patienten vertraglich in eine Pflicht für sich selbst zu nehmen suchen, die ihm im Grunde ohnehin obliegt.“
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BGH, NJW 2003, S. 2309. Vgl. Adolf Laufs, Der mündige, aber leichtsinnige Patient, in: NJW 2003, S. 2288.
Formulargesteuerter Medizinbetrieb
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Dies bedeutet letztendlich formularmäßige Abwehrklauseln auch hinsichtlich der Pflichten angeblich mündiger Patienten. Es ist zu hoffen, dass der vom BGH entschiedene Fall ein Ausnahmefall bleiben wird. Sonst erwächst die Gefahr, dass der Medizinbetrieb zum defensiven Formularbetrieb erstarrt.
Die ärztliche Aufklärungspflicht nach dem türkischen Recht Zafer Zeytin
A. Einleitung Es ehrt und freut mich, an der Festschrift für den Jubilar, der als leidenschaftlicher Jurist mein Leben während meiner Heidelberger Zeit und auch danach prägte, mitwirken zu dürfen. Vorweg sollte ich darauf hinweisen, dass es sich im Beitrag um eine Bestandsaufnahme der Behandlungsverhältnisse zwischen Arzt und Patienten und die Aufklärungspflicht im türkischen Recht handelt, was wegen der relativ kurzen Vorbereitungsphase bevorzugt werden musste. Bereits 1750 v. Chr. kannte der Kodex Hammurabi die Arzthaftung: Wenn ein Arzt einem Patienten eine Wunde mit dem Operationsmesser verursacht und ihn tötet oder einem Patienten eine Höhlung mit dem Operationsmesser öffnet und ihm das Auge zerstört, so sollen ihm die Hände abgehauen werden (Art. 219).1 Vor derartigen Sanktionen brauchen sich Ärzte nicht mehr fürchten. Der Arzt gilt aus guten Gründen als Helfer, nicht als Beherrscher des Kranken, nicht als Schöpfer und Richter und nicht als Herr über Leben und Tod.2 Ärztliches Handeln ist durch Patienteninteressen, soziale und wirtschaftliche Interessen und normative Rechtsinteressen beeinflusst.3 Es gibt kaum einen anderen Beruf, dessen Ausübung den rechtlich geschützten menschlichen Rechtsgütern wie Körper, Gesundheit sowie Bewegungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht dient und der mit großem Abstand zu anderen Berufen ein hohes Ansehen in der Gesellschaft genießt, der aber zugleich auch der Gefahr der Körper- und Gesundheitsverletzung sowie Freiheitsentziehung und der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechtes ausgesetzt ist. Trotz der Universalität der naturwissenschaftlichen Medizin, sowie der ärztlichen Berufsethik kann von der Universalität der medizinischen Leistungen und der rechtlichen Gestaltung der ärztlichen Haftung nicht ausgegangen werden. So stehen in der Türkei pro 10.000 Einwohner 25,5 Krankenbetten zur Verfügung, während sich die Zahl in Griechenland auf 51 und in den USA auf 53 Krankenbetten beläuft. Die Quote verstorbener Kinder beläuft sich auf 47 Prozent der Todes-
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Mehr dazu bei Köksal Bayraktar, Hekimin Tedavi Nedeniyle Cezai Sorumluluþu, ćstanbul 1972, S. 41. Adolf Laufs, Arztrecht, 5. Aufl., München 1993, Rdnr. 4. Dieter Hart, Ärztliche Leitlinien – Definitionen, Funktionen, rechtliche Bewertungen, in: MedR 1998, S. 8.
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fälle, während sie in Europa im Bereich zwischen 5-10 Prozent liegt.4 Im Jahr 2003 stand in der Türkei für 748 Einwohner ein Arzt zur Verfügung.5 Vom Berufstand her mag sich die türkische Medizin im internationalen Wettbewerb behaupten, jedoch sind die übrigen medizinischen Dienstleistungen und das Medizinrecht noch in der Entwicklungsphase. Insbesondere unterscheiden sich die medizinischen Dienstleistungen von privaten Krankenhäusern im Vergleich zu staatlichen erheblich. Das Medizinrecht insbesondere im Hinblick auf die zivilrechtliche Haftung ist zurückgeblieben. Das liegt einerseits daran, dass Ärzte wegen Behandlungsfehlern bei ihrer beruflichen Tätigkeit meist nur strafrechtlich verfolgt werden. Andererseits genießen sie großen Respekt in der Gesellschaft, welcher insbesondere eine schadensersatzrechtliche Verfolgung gegen sie verhindert. Zusammengefasst beschreibt der Ausdruck „Götter in weiß“ die Stellung der Ärzte in der türkischen Gesellschaft weitgehend zutreffend. Obwohl keine genauen statistischen Angaben wie in Deutschland zur Verfügung stehen6, kann angenommen werden, dass Arzthaftungsprozesse vergleichsweise nicht so oft stattfinden. So sind in der Türkei im Jahr 2003 insgesamt 74.920 Schadensersatzprozesse, die anteilmäßig nicht sicher eruierbare Arzthaftungsprozesse mit beinhalten, registriert worden.7 Diese Annahme rechtfertigt sich vielmehr dadurch, dass der Yüsek Saþlık Ĩurası (YSĨ = Hochheitsbeirat für Gesundheitswesen)8 nur über 33 strafrechtliche Arzthaftungsfälle im Jahr 2004 zu entscheiden hatte. In der Türkei liegt dementsprechend die Geltendmachung der ärztlichen Aufklärungspflichtverletzung im Vergleich zum Behandlungsfehler weitgehend zurück.9 Unter anderem soll das daran liegen, dass sich das Selbstbestimmungsrecht des Patienten noch nicht wie die Menschenrechte, welche rechtspolitisch immer wieder in den 4 5 6
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Siehe dazu Cemal Öztürkler, Tibbi Sorumluluk, Ankara 2003, S. 18 f. http://www.saglik.gov.tr/extras/istatistikler/ytkiy2003/icindekiler-2003.htm. Vgl. die Studie von Pia Rumler-Detzel, Die Aufklärungspflichtverletzung als Klagegrundlage, in: Hans-Jürgen Ahrens u. a. (Hrsg.), Festschrift für Erwin Deutsch zum 70. Geburtstag, Köln u. a. 1999, S. 699, 704 f.; Rolf Sethe, Hans Georg Krumpaszky, Arzthaftung und Qualitätsmanagement in der Medizin, in: VersR 1998, S. 420, 423 ff.; Philip Schelling, Rainer Erlinger, Die Aufklärung über Behandlungsalternativen, in: MedR 2003, S. 331. In den USA waren im Jahre 1992 etwa 190.000 zivilrechtliche Arzthaftungsprozesse dokumentiert (zit. nach Öztürkler, Tıbbi Sorumluluk, S. 18). Der YSĨ (Hochheitsbeirat für Gesundheitswesen) tritt jedes Jahr einmal zusammen und entscheidet über Verschuldensfragen des medizinischen Personals bei Behandlungsfehlern. Der YSĨ besteht aus 11 Mitgliedern, welche u. a. aus medizinischen Wissenschaftlern ausgewählt werden. Der YSĨ muss als Gutachtenstelle nach Art. 75 TĨćDK bei Behandlungsfehlern bei Strafprozessen, nicht jedoch bei zivilrechtlichen Haftungsprozessen (Yargıtay 4.HD 13. 3. 1973 K.2978) einberufen werden. Die Stellungnahme des YSĨ ist für Gerichte wie solche anderer Sachverständigen rechtlich nicht bindend (Yargıtay 2. CD (Strafsenat) 8. 3. 1989, K. 1559. Der YSĨ hat in einem Fall, wo der Arzt bei der Operation eine Koherschere in der Bauchhöhle vergessen hat, kein Verschulden des operierenden Arztes gesehen, weil es bei derartigen kompilizierten Operationen vorkommen könne (Yargıtay 4.HD 11. 2. 1976, K. 1976/1393). Vgl. Hamit Hancı, Malpraktis, Ankara 2002, S. 20 ff.
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Vordergrund gestellt werden, als ein absolutes Recht bei der Arzthaftung durchgesetzt hat. Was uns immer im Vergleich zu europäischer Rechtspraxis prägt, ist die Umsetzung der Rechte, welche längst in Gesetzestexten und in Köpfen der Juristen, aber nicht in den Köpfen der Berechtigten und Verpflichteten verankert sind. Bevor auf die ärztliche Aufklärungspflicht eingegangen wird, sollte das ArztPatienten-Verhältnis nach türkischem Recht in groben Zügen kurz dargestellt werden.
B. Rechtliche Qualifikation des Arzt-PatientenVerhältnisses nach Türkischem Recht Das Arzt-Patienten-Verhältnis ist in aller Regel privatrechtlicher Natur und hat seinen eigentlichen Sitz im Vertragsrecht.10 Wie im europäischen Rechtsgebrauch beruft sich die schadensersatzrechtliche Arzthaftung entweder auf die Geschäftsführung ohne Auftrag nach türkischem Obligationengesetz (Borçlar Kanunu) in Art. 410 ff., auf die unerlaubten Handlungen nach Art. 41 türk. OG oder auf den Behandlungsvertrag (Auftrag). Der letzte Haftungsgrund kommt meist zur Anwendung. Das Behandlungsverhältnis wird als ein vertragliches Verhältnis gesetzlich nicht besonders geregelt. Für das vertragliche Behandlungsverhältnis zwischen Arzt und Patienten finden im Türkischen Recht nach ständiger Rechtsprechung und herrschender Meinung11 die Bestimmungen des Auftrags nach Art. 386 ff. türk. OG Anwendung, wonach der Arzt im Rahmen seines beruflichen Standards die Behandlung vorzunehmen hat und der Patient sich als Gegenleistung für die Zahlung des Honorars, entweder nach Vertrag oder Gebrauch, verpflichtet. Art. 386 II türk. OG regelt, dass für Verträge über Arbeitsleistungen, die keiner besonderen Vertragsart dieses Gesetzes unterstellt sind, die Vorschriften über den Auftrag gelten. Der Gegenstand der vertraglichen Pflicht ist die Behandlung an sich nach dem medizinischen Standard, nicht der Erfolg der Heilung. Der Artikel 13 der TDN (Verordnung für medizinische Berufsregelung = Tıbbi Deontoloji Nizamnamesi) bestimmt auch, dass Arzt und Zahnarzt nach aktueller medizinischer Wissenschaft zu diagnostizieren und die erforderliche Behandlung durchzuführen haben. Tritt der Heilungserfolg trotzdem nicht ein, kann dies nach der medizinischen Berufsregelung nicht zu einer Haftung führen. In Behandlungsverhältnissen wird aber ein Erfolg dann erwartet, wenn es sich um eine bestimmte 10 11
Laufs, Arztrecht, Rdnr. 86 f. Fahrettin Aral, Borçlar Hukuku Özel Borç ćliĩkileri, 4. Bası, Ankara 2002, S. 405; Aydın Zevkliler, Borçlar Hukuku (Özel Borç ćliĩkileri), 7. Bası, Ankara 2002, S. 370; Cevdet Yavuz, Türk Borçlar Hukuk Özel hükümler, ćstanbul 1996, S. 587 ff.; Halûk Tandoþan, Borçlar Hukuk Özel Borç ćliĩkileri, Bd. 2, ćstanbul 1999, S. 384 ff.; Mehmet Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, S. 49 ff.; Çetin Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, Ankara 1993, S. 15 ff.; Hancı, Malpraktis, S. 121 vd.; Öztürkler, Tıbbi Sorumluluk, S. 55 ff. 57; Zarife Ĩenocak, Özel Hukukta Hekimin Sorumluluþu, Ankara 1998, S. 17 ff.
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technische und handwerkliche Leistung, wie etwa die Herstellung einer Prothese, handelt. Beim Behandlungsverhältnis gelten dann die Bestimmungen des Werkvertrags entsprechend.12 Abgesehen von der vertraglichen Haftung kommt auch die schadensersatzrechtliche Haftung basierend auf Verwaltungsrecht in Frage, bei der die Ärzte als Beamte oder öffentliche Angestellte in einem Behandlungsverhältnis und in Ausführung eines öffentlichen Dienstes auftreten.13 Trifft die Ärzte im öffentlichen Dienst jedoch ein schwerwiegendes schuldhaftes Verhalten, das zugleich einen Straftatbestand darstellt, kommt eine verwaltungsrechtliche Schadensersatzhaftung des öffentlichen Leistungsträgers nach der ständigen Rechtsprechung des türkischen Verwaltungshofs sowie des türkischen Kassationshofs14 und nach der einhelligen Meinung in der Literatur nicht in Frage,15 zumal es sich dabei um „eigenes Verschulden“ (kiĩisel kusur) der Ärzte handelt, das nicht in einem Zusammenhang mit der Ausführung des öffentlichen Dienstes steht. Im Übrigen darf aber eine Schadensersatzklage gegen Ärzte nach Art. 129 V des türkischen Grundgesetzes (Anayasa) und Art. 13 des Beamtengesetzes nicht erhoben werden.16 Gegebenenfalls wird die Klage gegen den öffentlichen Krankenhausträger, wie die Universitätskliniken oder das Ministerium für Gesundheitswesen, erhoben. Zugleich besteht aber ein verfassungsrechtlich geregeltes Rückgriffsrecht zugunsten öffentlicher Träger, wenn der Arzt sich schuldhaft verhalten hat. Geht es dagegen bei der ärztlichen Tätigkeit nicht um eine Ausführung eines öffentlichen Dienstes, sondern um eine Ausführung des entgeltlichen ärztlichen Dienstes, den jeder auf dem freien Markt erhalten kann, dann soll eine Schadensersatzhaftung der Ärzte neben der Haftung des öffentlichen Krankenhausträgers vor den Zivilgerichten aufgrund des schuldhaften Verhaltens der im öffentlichen Dienst tätigen Ärzte nach Art. 129 V Anayasa und Art. 13 des türk. BeamtG nicht ausgeschlossen sein. Es handelt sich nämlich dabei nur um ein vertragliches Schuldverhältnis, wonach der Arzt seine diagnostischen und therapeutischen Behandlungstätigkeiten vornimmt, was nur noch nach zivilrechtlichen Vorschriften zu regeln ist.17 Es kommt dabei nicht darauf an, wie die rechtliche Beziehung zwischen dem angestellten Arzt und den öffentlich-rechtlichen Krankenhausträger zu 12
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Hancı, Malpraktis, S. 124 ff.; Aĩcıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 15 ff.; Bayraktar, Hekimin Tedavi Nedeniyle Cezai Sorumluluþu, S. 31 ff., Fn. 52 ff. Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, S. 272; Gürsel Kaplan, ćdarenin Saþlık Kamu Hizmetinin Yürütülmesinden Kaynaklanan Hukuki Sorumluluþu, KHukA 2003, 162. Yargıtay (türk. Kassationshof) 4. HD (4. Zivilsenat) vom 14. 12. 1985, K. 1985/9399; 13. 05. 1986, K. 1986/4066. Danıĩtay (türk. Verwaltungsgerichtshof) 12. D (12. Senat), 28. 10. 1971, K. 971/2418 mehr dazu bei Ĩeref Gözübüyük, Turgut Tan, ćdare Hukuku, Bd. 2 (ćdari Yargılama Hukuku), Ankara 2003, S. 670 ff.; Kemal Gözler, ćdare Hukuku, Bursa 2003, S. 1030 ff.; Ethem Atay, Hasan Odabaĩı, H.Tahsin Gökcan, ćdarenin Sorumluluþu ve Tazminat Davaları, Ankara 2003, S. 59 ff. Gözler, ćdare Hukuku, S. 1048 ff. So auch Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 23 f.
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qualifizieren ist18 und ob ein Sozialversicherungsträger, eine private Krankenversicherungsgesellschaft oder der Patient selbst das Entgelt für die Inanspruchnahme der ärztlichen Tätigkeiten entrichtet. Vielmehr kann gegebenenfalls eine schadensersatzrechtliche Haftung des öffentlichen Krankenhausträgers nach Art. 100 türk. OG für Erfüllungsgehilfen zur Anwendung kommen, wonach auch der behandelnde Arzt gemeinsam neben dem öffentlichen Krankenhausträger dem Geschädigten gegenüber persönlich haften kann. Eine Klageerhebung ist somit gegenüber Ärzten als Beamten oder Angestellten im öffentlichen Dienst nach Art. 129 V Anayasa und Art. 13 BeamtG nicht ausgeschlossen. Vor Kurzem hat der Gesetzgeber beim Verbraucherschutzgesetz19 (TKHK) weitgehende Änderungen vorgenommen, welche im Vergleich zur bisherigen rechtlichen Gestaltung das Verbraucherrecht anders regeln und sich auch auf das Arzt-Patienten-Behandlungsverhältnis auswirken können. Das Verbraucherschutzgesetz bestimmt in Art. 1 die Ziele des Gesetzgebers, wonach u. a. auch der Schutz der Gesundheit und körperlichen Unversehrtheit des Verbrauchers aufgeführt sind.20 Nach Art. 2 TKHK gelten die Bestimmungen für alle (Verbraucher-) Rechtsgeschäfte, welche im Waren- und Dienstverkehr zustande kommen und in denen Verbraucher als Geschäftspartner auftreten. Verbraucherrechtsgeschäfte sind alle Rechtsgeschäfte, welche zwischen Verkäufer und Dienstanbieter im Waren und Dienstverkehr zustande kommen (Art. 3/h TKHK). Von einem Verbraucher im Sinne dieses Gesetzes wird gesprochen, wenn eine natürliche oder juristische Person eine Ware oder Dienstleistung nicht zum Zweck ihrer beruflichen und gewerblichen Tätigkeit erwirbt, verwendet und nutzt. Dies ist meist der Fall, wenn wir von einem Patienten in einem Behandlungsverhältnis ausgehen. Bei dem Behandlungsverhältnis handelt es sich zumeist um einen Dienst oder eine dienstgebundene bestimmte Sachleistung, welche aber das Behandlungsverhältnis nicht ausschlaggebend charakterisiert. Das TKHK definiert auch den Dienstanbieter u. a. in Art. 3/g TKHK, wonach alle natürlichen und juristischen Personen, eingeschlossen öffentlich-rechtliche juristische Personen, welche im Rahmen ihrer beruflichen und gewerblichen Tätigkeit dem Verbraucher Dienstleistungen anbieten, darunter fallen. Alle privaten Ärzte, sowie private und öffentlich-rechtliche Krankenhausträger fallen dann nach TKHK unter den Begriff „Dienstanbieter“. Das Verbraucherschutzgesetz regelt auch, was einen Dienst im Sinne des TKHK darstellt. Danach stellen alle entgeltlichen oder gegen eine Leistung entrichteten Tätigkeiten außer dem Warenhandel einen Dienst im Sinne des TKHK dar (Art. 3/d TKHK). Ein Arzt-Patienten-Behandlungsverhältnis kann sich nicht mehr der Anwendung des türkischen Verbraucherschutzgesetzes entziehen. Somit wird der Anwendungsbereich des türk. OG bzw. die Bestimmungen des Auftrags nach OG
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A.M. Kaplan, KHukA 2003, 162. Verbraucherschutzgesetz von 1995, welches durch das Gesetz Nr. 4822 vom 6. 3. 2003 weitgehend geändert wurde. Zum Verbraucherschutzgesetz siehe Aydın Zevkliler, Murat Aydoþdu, Tüketicinin Korunması Hukuku, 3. Bası, Ankara 2004, S. 32 ff.; Zur Anwendung des Verbraucherschutzgesetzes auf den Auftrag siehe Zevkliler, Borçlar Hukuku, S. 356.
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darauf beschränkt, dass es sich im Behandlungsverhältnis um eine unentgeltliche Tätigkeit der Ärzte handelt. Ob es sich bei dem Arzt-Patienten-Verhältnis um einen Verbrauchervertrag, einen Auftrag nach türk. OG oder um eine öffentlichen Dienstleistung handelt, macht keinen Unterschied, wenn es um die Aufklärungspflicht geht. Denn die Aufklärungspflicht der Ärzte wird nicht nur dem Behandlungsvertrag als eine der anerkannten vertraglichen Nebenpflichten zugeordnet, sondern sie wird nach ständiger Rechtsprechung und nach den ausdrücklichen gesetzlichen Regelungen im türkischen Recht auch als Voraussetzung für die wirksame Einwilligung des Patienten in den ärztlichen Heileingriff verlangt.
C. Einwilligung des Patienten Herrschende Lehre und Rechtsprechung gehen davon aus, dass die Verletzung eines absoluten Rechts immer den Tatbestand der Widerrechtlichkeit erfüllt, soweit sie durch aktives Handeln erfolgt.21 Dagegen wird im Falle von Verletzungen durch Unterlassen oder unmittelbare Schädigungen eine allgemeine, besondere Pflicht zum Handeln bzw. eine entsprechende Verhaltensnorm gesucht22, welche für Ärzte insbesondere in Fällen, in denen es sich um einen medizinischen Notfall handelt, immer gegeben ist (Art. 3 TDN). Eine Verletzung der persönlichen absoluten Rechtsgüter ist an sich rechtswidrig, wenn ein Rechtfertigungsgrund nicht vorliegt. Der lege artis ausgeführte ärztliche Heileingriff23 stellt eine Körperverletzung bzw. eine Gesundheitsverletzung dar.24 Er ist dann nicht widerrechtlich, wenn und soweit eine wirksame Einwilligung vom Patienten, oder gegebenenfalls von seinem gesetzlichen Vertreter, erteilt wurde (Art. 17 türk. GG25, 24/II türk. ZGB26).27 Wo eine Einwilligung aus be21
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Ahmet Kılıçoþlu, Borçlar Hukuku Genel Hükümler, 4. Bası, Ankara 2004, S. 177 ff.; Fikret Eren, Borçlar Hukuku Genel Hükümler, 7. Bası, ćstanbul 2001, S. 568; BGE 82 II 25, 28, Peter Gauch, Der Werkvertrag, 4. Aufl., Zürich 1996, S. 128. Ingeborg Schwenzer, Schweizerisches Obligationenrecht, Bern 1998, Rdnr. 50.29. Die lege artis durchgeführten ärztlichen Heileingriffe sind nach herrschender Meinung unter Strafrechtlern an sich ein Rechtfertigungsgrund. Es wird aber zusätzlich die Zustimmung des Patienten, wo sie rechtlich und tatsächlich möglich ist, aufgrund des Selbstbestimmungsrechts verlangt (Nur Centel, Türk Ceza Hukukuna Giriĩ, ćstanbul 2002, S. 27; Recep Gülĩen, Hürriyeti Tahdit Suçları, Ankara 2002, S. 67); a. A. Timur Demirbaĩ, Ceza Hukuku Genel Hükümler, Ankara 2002, S. 237: „Der lege artis ausgeführte Heilangriff ist nämlich eine Ausübung eines Rechts oder einer rechtlichen Aufgabe, so dass der Heileingriff rechtmäßig ist, auch wenn die Zustimmung verweigert wurde.“ BGE 108 II 59, S. 62; Hancı, Malpraktis S. 53; Schwenzer, Schweizerisches Obligationenrecht, Rdnr. 50.12; Centel, Türk Ceza Hukukuna Giriĩ, S. 272. Die Erforderlichkeit einer Einwilligung wird im Grundgesetz in Art. 17 erwähnt: Abgesehen von Fällen, in denen der Eingriff aus der medizinischen Notlage oder von Gesetzes wegen vorgesehen ist, kann in die körperliche Integrität ohne die Einwilligung der-
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stimmten Gründen nicht zu erteilen ist, kann man von einer mutmaßlichen Einwilligung des Betroffenen wie bei der GoA ausgehen, so dass eine Einwilligung als Rechtfertigungsgrund nicht grundsätzlich abgelehnt zu werden braucht.28 Abgesehen von gesetzlich bestimmten Fällen29 hat der Patient das Recht, die Behandlung abzulehnen oder zu unterbrechen. Gegebenenfalls sollte er, oder sein gesetzlicher Vertreter über die Folgen der Ablehnung und Unterbrechung der Behandlung informiert und dies dokumentiert werden (Art. 25 HHY). Wie in den verfassungs- und zivilrechtlichen Regelungen kommt die Erforderlichkeit der Einwilligung in die Behandlung ferner in speziellen Anordnungen zum Ausdruck. Nach Art. 70 des TĨćDK (Tababet ve Ĩuabatı Sanatlarının Tarzı ćcrasına Dair Kanun = Gesetz über Ordnung und Erfüllung des humanmedizinischen Berufs vom 11. 4. 1928 mit Gesetz-Nr.: 1219) ist eine Einwilligung in Heileingriffe ausdrücklich verlangt: Ärzte, Zahnärzte und Zahnarzttechniker haben eine Einwilligung des Patienten – ist dieser minderjährig oder steht er unter Vormundschaft die seines gesetzlichen Vertreters – einzuholen. Geht es um wichtige Heileingriffe, so ist die Einwilligung schriftlich einzuholen. Ist der gesetzliche Vertreter nicht anwesend oder konnte er nicht ausfindig gemacht werden, kann von einer Einwilligung abgesehen werden, wenn der Betroffene nicht imstande ist, die Einwilligung hierin zu erteilen. Eine entsprechende Regelung befindet sich auch in der Verordnung für Patientenrechte (Art. 24/I HHY). In den Fällen, in denen von einer Einwilligung abgesehen wird, sollte es sich aber um medizinische Notfälle handeln, welche entsprechend dem mutmaßlichen Willen des Patienten den Eingriff ohne Einwilligung rechtfertigen. Verweigert der gesetzliche Vertreter die Einwilligung, ist aber der Eingriff aus der Sicht der Medizin erforderlich, hat der Arzt das Gericht (gemäß Art. 346 und 482 TMK = türkisches Bürgerliches Gesetzbuch) zu suchen. In Notfällen, in denen das Urteil Zeit in Anspruch nimmt und dies das Leben des Patienten gefährden würde, kann von einem Urteil abge-
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jenigen Person nicht eingegriffen werden und sie darf einer medizinischen oder wissenschaftlichen Untersuchung nicht unterworfen werden. Nach Art. 24/II TMK ist ein Eingriff widerrechtlich, wenn er nicht durch Einwilligung des Verletzten, durch überwiegendes privates oder öffentliches Interesse oder durch eine Ausführung der gesetzlichen Aufgabe gerechtfertigt ist. Hancı, Malpraktis, S. 53; Schwenzer, Schweizerisches Obligationenrecht, Rdnr. 50.05 ff., 50.12. Ärztliche (Heil-) Eingriffe an sich seien rechtmäßig und bedürften keiner Einwilligung zu ihrer Rechtsmäßigkeit, weil Art. 70 TĨćDK von der Einwilligung dann absehe, wenn sie nicht erteilt werden kann. Sie sei sogar dann als Rechtfertigungsgrund nicht erforderlich, wenn sie erteilt zu werden vermöge. Die Einwilligung könne gegebenenfalls das Recht auf ärztliche Berufsausübung begründen (Sulhi Dönmezer, Sahir Erman, Nazari ve Tatbikî Ceza Hukuku, Bd. 2, ćstanbul 1999, Rdnr. 724 ff., insbesondere 729; Bayraktar, Hekimin Tedavi Nedeniyle Cezai Sorumluluþu, S. 82). Es gibt gesetzlich geregelte Fälle, in denen ein Eingriff und eine Behandlung ohne Einwilligung im Interesse der Allgemeinheit vorzunehmen ist: Art. 22/II HHY; Umumi Hıfzısıhha Kanunu Art. 57, 67, 72, 73, 75, 103-112, 113-119 ve 284; TCK 191/II, 195.
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sehen werden (Art. 24/III HHY).30 Die Einwilligung umfasst grundsätzlich auch mit dem Heileingriff verbundene andere übliche medizinische Maßnahmen (Art. 31/II HHY). Nach Art. 6 des Organtransplantationsgesetzes (OrgTranspG) hat der lebende Organspender seine Einwilligung in die Transplantation zu erteilen. In dem Fall muss der Spender das achtzehnte Lebensjahr vollendet haben und urteilsfähig sein. Die Einwilligung des Spenders, der sie ausdrücklich, im Bewusstsein der Bedeutung seiner Entscheidung und ohne Einflüsse erteilt, kann im Voraus schriftlich erfolgen oder mündlich vor zwei Zeugen abgegeben werden, die unverzüglich niedergeschrieben und vom Arzt bestätigt werden muss. Eine Einwilligung des lebenden Spenders in eine Transplantation seiner lebenswichtigen Organe ist demgegenüber nicht zulässig (Art. 8 OrgTranspG). In einem Urteil von 197731 hat der türkische Kassationshof jeder Person das Selbstbestimmungsrecht über ihren Körper, auch bei ärztlichen Heileingriffen, eingeräumt. Ärztliche Eingriffe betreffen den Körper und die Gesundheit und sie sind mit Risiken verbunden, so dass nicht dem Arzt, sondern dem Patienten das Recht zusteht, darüber zu entscheiden, ob ein ärztlicher Eingriff durchgeführt wird. Die Einwilligung kann in der Regel dann als ein Rechtfertigungsgrund gelten, wenn der Patient geschäftsfähig ist. Die Einwilligung in Heileingriffe bedeutet die Ausübung eines höchstpersönlichen Rechts, dessen Ausübung ausschließlich dem Inhaber zusteht und das in der Regel keine Vertretung oder Übertragung zulässt (Art. 16 TMK). Art. 70 TĨćDK regelt, dass eine Einwilligung des Patienten, bei Minderjährigkeit oder Vormundschaft seines gesetzlichen Vertreters, in Heileingriffe einzuholen ist. Obwohl diese Regelung darauf hindeutet, dass die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters ausreicht32, sollte unbedingt die Einwilligung des urteilsfähigen minderjährigen Patienten in Betracht gezogen werden, egal ob er unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht. So verlangt Art. 6 NPHK (Nüfus Planlaması Hakkında Kanun = Gesetz über Bevölkerungsplanung) ausdrücklich u. a. die Einwilligung des urteilsfähigen Minderjährigen in die Abtreibung neben der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters. Besteht Uneinigkeit bei den Einwilligungen, kann die Entscheidung des urteilsfähigen Patienten der des
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In einem Fall, in dem einem Kind ein Bein amputiert werden musste, wurden die Eltern über den Eingriff und die Dringlichkeit informiert. Jedoch lehnten sie die Beinamputation ab. Demzufolge erkundigte sich der leitende Direktor bei der Staatsanwaltschaft nach einer Erlaubnis, die ihm mitteilte, den Eingriff bei dem fünfjährigen Kind nicht durchzuführen und es nicht im Krankenhaus zu behalten, wenn die Eltern hierin nicht einwilligten. Nach der Entlassung aus dem Krankenhaus erlag das Kind seinen Verletzungen; Hancı, Malpraktis, S. 69 f. Yargıtay (Kassationshof) 4. HD (4. Senat) vom 7. 3. 1977, K. 1976/6297, in: YKD 1978, Heft 6, S. 905 ff. Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 26; Bayraktar, Hekimin Tedavi Nedeniyle Cezai Sorumluluþu, S. 133.
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gesetzlichen Vertreters bevorzugt werden33, falls die Umstände des Einzelfalls, etwa unbegründete Angst des urteilsfähigen Minderjährigen, den Vorzug der Entscheidung des gesetzlichen Vertreters nicht rechtfertigt. Steht der Patient unter Vormundschaft, ist nach den Gründen, die zur Vormundschaft führten, zu unterscheiden. Steht der minderjährige, nicht urteilsfähige Patient unter Vormundschaft, weil er nicht unter elterlicher Sorge ist (Art. 404 TMK) oder ist der volljährige Patient wegen einer psychischen Krankheit oder geistigen Behinderung (Art. 405 TMK) bevormundet, kann gegebenenfalls die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters ausreichen.34 Demgegenüber sollte die Einwilligung des mündigen Patienten genügen oder die des gesetzlichen Vertreters bevorzugt werden, wenn er wegen Verschwendung, Trunk- oder Drogensucht, lasterhaften Lebenswandels, Misswirtschaft (Art. 406 TMK), wegen Freiheitsentzugs (Art. 407 TMK) oder aufgrund eigenen Verlangens (Art. 408 TMK) bevormundet ist.35 Im Übrigen setzt die Wirksamkeit der Einwilligung voraus, dass der Einwilligende weiß, worin er einwilligt. Deshalb ist für eine ordnungsgemäß erteilte Einwilligung eine vorausgehende Aufklärung über den Heileingriff unabdingbar.36 Die gesetzliche Regelung hierüber unterscheidet sich von der europäischen nicht viel. Ein wesentlicher Unterschied liegt demgegenüber in der Erfüllung der Aufklärungspflicht.
D. Ärztliche Aufklärungspflicht I. Allgemeines Eine allgemeine Aufklärungspflicht, wenn sie nicht von den Vertragsparteien oder vom Gesetz ausdrücklich bestimmt ist (etwa nach Art. 77/II ćĩ Kanunu (Arbeitsgesetz))37, wird in Schuldverhältnissen bejaht, in denen sie nach Treu und Glauben
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Haben die Eltern das Sorgerecht gemeinsam, sollten sie gemeinsam die Einwilligung in Heileingriffe erteilen (Art. 336 TMK). Besteht Uneinigkeit zwischen den Eltern des Patienten, haben sie dann nach Art. 195 TMK das Gericht zu suchen. Art. 6 NPHK verlangt auch die Zustimmung des Vormundschaftsgerichts zur Abtreibung. Zur Abtreibung und Sterilisation wird auch die Zustimmung des anderen Ehegatten verlangt, wenn die betroffene Person verheiratet ist. Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 26. Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 27; Yargıtay 4. HD vom 7. 3. 1977, K. 1977/2541, in: YHD Bd. 4, Heft 6, 1978, S. 907; Bayraktar, Hekimin Tedavi Nedeniyle Cezai Sorumluluþu, S. 80 ff. Die Einwilligung könne kein Rechtfertigungsgrund sein, weil Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit eines Menschen auch im Interesse der Allgemeinheit geschützt und nicht so wie das Eigentum zu bewerten sind; siehe Dönmezer/Erman, Nazari ve Tatbikî Ceza Hukuku II, Rdnr. 70 ff. Nuri Çelik, ćĩ Hukuku Dersleri, 17. Bası, ćstanbul 2004, S. 153 ff.
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zur ordnungsgemäßen Erfüllung der Hauptpflicht oder zum Schutz der Rechtsgüter der Beteiligten für erforderlich zu halten ist.38 Eine derartige Nebenpflicht dient den Interessen der Beteiligten.39 Die Nichterfüllung der Aufklärungspflicht führt zum Schadensersatz, wenn dadurch dem Beteiligten ein Schaden, sei es materiell oder immateriell, zugeführt wurde. Eine Klage auf Erfüllung der Aufklärungspflicht wird generell dann bejaht, wenn es sich um eine selbständige Nebenpflicht handelt. Bei unselbständigen Nebenpflichten – wie Schutzpflichten – wird eine selbständig durchsetzbare Klage demgegenüber grundsätzlich verneint.40 Die Aufklärungspflicht, wenn sie auch als eine Schutzpflicht der Wahrung der Grundrechte dient, lässt sich als eine selbständige Nebenpflicht betrachten, wenn sie nicht als eine ausschließlich persönliche Leistung des Schuldners qualifiziert werden kann bzw. von anderen auch erfüllbar ist.41 Der Aufklärungspflicht kommt eine besondere Bedeutung in Fällen zu, in denen das Recht auf Leben, Schutz und Entfaltung der materiellen und immateriellen Persönlichkeit nach Art. 17/I türk. GG berührt wird.42 Diese Betroffenheit ist in Behandlungsverhältnissen zwischen Arzt und Patienten immer gegeben. Was die Begründung für gerichtliche Urteile bedeutet, gilt für die ärztliche Aufklärung entsprechend.43 II. Ärztliche Aufklärung als Rechtsfertigungsgrund Eine Einwilligung in Heileingriffe kann erst dann als wirksamer Rechtfertigungsgrund gelten, wenn ihr eine vorangegangene ordnungsgemäß durchgeführte ärztliche Aufklärung zugrunde liegt. Nur wer über Therapiemethoden, Vorteile und Risiken des Eingriffs, Folgen bei Ablehnung der Therapie und Verlauf informiert ist, kann eine wirksame Einwilligung, als auf seiner freien Entscheidung basierend, abgeben.44 So hat auch der türkische Kassationshof in seinem Urteil vom 7. 3. 197745 zur rechtlichen Wirksamkeit der Einwilligung gefordert, dass der Patient über seinen Gesundheitszustand, über den durchzuführenden Heileingriff mit Ne38 39 40
BGE 114 II 57, S. 65 f. Kılıçoþlu, Borçlar Hukuku Genel Hükümler, S. 19 vd. Schwenzer, Schweizerisches Obligationenrecht, Rdnr. 4.22 ff.; Theo Guhl, Alfred Koller, Das Schweizerische Obligationenrecht, 8. Aufl., Zürich 1991, S. 14 ff.
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So kann der Patient sein Recht auf ärztliche Aufklärung nach Art. 15/III gegen einen anderen Arzt als den behandelnden Arzt auch geltend machen.
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Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, S. 73. Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 28. Sefa Reisoþlu, Hekimlerin Hukuki Sorumluluþu, Sorumluluk Hukukundaki Yeni Geliĩmeler V. Sempozyumu, ćstanbul 1983, S. 5; Ömer Köprülü, Hekimin Hukuki Sorumluluþu, in: ćBD, Bd. 58, S. 589; Ĩeref Ertaĩ, Alman Hukukunda Hekimin Mesleki Kusurundan Sorumluluþu, in: EÜHFD, Bd. 1, Heft 1, 1980, S. 188; Enis Sarıal, Saþlararası Organ Nakillerinden Doþan Hukuksal ćliĩkiler, ćstanbul 1986, S. 63; Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, S. 72. Yargıtay, 4. HD, K. 1977/2541, in: YHD, Bd. 4, Heft 6, 1978, S. 907.
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benwirkungen und Risiken ordnungsgemäß aufgeklärt und bei der Abgabe seiner zustimmenden Erklärung frei ist bzw. nicht unter Druck gesetzt wird. So kann eine freiwillig abgegebene Einwilligung nur nach ordnungsgemäßer Aufklärung rechtlich wirksam sein.46 Das Behandlungsverhältnis, gleich ob vertrags- oder verwaltungsrechtlich begründet, berührt als ein Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient die wichtigsten Rechtsgüter des Patienten, welche von der Rechtsordnung im höchsten Rang, auch im zivilrechtlichen Bereich geschützt werden. Arzt und Patient müssen einander zuhören und sich wechselseitig mitteilen. Die beiderseitige Zuwendung und Gemeinschaft wahren Freiheit und Würde des Patienten, sowie des Arztes und stellen eine Garantie der Grundwerte zu ihrem Schutz dar.47 Von Seiten des Patienten ist ein Verzicht auf diesen Schutz der persönlichen Rechtsgüter, sei es ganz oder zum Teil, sowie auch eine rechtswidrige oder sittenwidrige Einschränkung der Grundrechte und Freiheiten grundsätzlich nicht zulässig (Art. 23/I türk. ZGB). Die ärztliche Aufklärungspflicht dient somit der Wahrnehmung des in Art. 17/I türk. GG garantierten Selbstbestimmungsrechts des Patienten über sich selbst im Hinblick auf das Leben und auf seine körperliche und geistige Integrität. Folglich handelt es sich um eine Schutzpflicht, die nicht nur bei Nichterfüllung zum Schadensersatz führt, sondern auf deren Erfüllung auch geklagt werden kann. Die ärztliche Aufklärung ist nicht nur eine Pflicht, sondern auch das Recht des Patienten, das nicht nur zwingend gegen den behandelten Arzt, sondern auch gegen einen anderen Arzt, geltend gemacht werden kann (Art. 15/III HHY). III. Ärztliche Aufklärungspflicht und das Recht des Patienten auf Auskunft im Gesetzestext Obwohl die Einwilligung in ärztliche Eingriffe in alten Rechtsordnungen wie etwa der TĨćDK aus dem Jahr 1928 ausdrücklich geregelt ist, wird eine Aufklärungspflicht bzw. das Recht auf Auskunft in den alten Rechtsordnungen nicht erwähnt. Nach Atabek/Sezen hat der Gesetzgeber den Ärzten die Aufklärungspflicht indirekt zugewiesen, indem er nach Art. 70 TĨćDK eine Einwilligung des Patienten in Heileingriffe verlangt.48 Das TDN von 1960 regelt in Art. 14 die therapeutische Aufklärung und die Sicherungsaufklärung, welche einen wesentlichen Bestandteil des ärztlichen Gesundheitsdienstes ausmachen.49 Unter Berufung auf die verfassungsrechtlichen Grundrechte, auf allgemeine schuldrechtliche Prinzipien und auf ihre Anerkennung sowohl in der Literatur als auch in ständiger Rechtsprechung, ist die ärztliche Aufklärungspflicht in der Verordnung über Patientenrechte (HHY) von 1998 ausdrücklich geregelt worden. Die 46
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So auch Hüseyin Durdu, Saþlık Mesleþinde Hukuki Sorumluluk, Bd. 1, ćzmir 1986, S. 81. Laufs, Arztrecht, Rdnr. 160 ff. Atabek/Sezen, Hekimin Mesuliyeti, in: ćBD, Heft 2, 1954, S. 150. Ein Verstoß gegen eine therapeutische Aufklärung oder Sicherungsaufklärung ist als ein Behandlungsfehler zu werten; Laufs, Arztrecht, Rdnr. 167.
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HHY regelt das Recht auf allgemeine Auskunft über den Gesundheitszustand in Art. 15/I. Danach ist der Patient berechtigt, sich über seinen Gesundheitszustand, über die durchzuführenden medizinischen Maßnahmen, über Vorteile und mögliche Nachteile der medizinischen Maßnahmen, alternative Methoden, möglicherweise eintretende Folgen im Falle der Ablehnung der Behandlung bzw. des Eingriffs, sowie über den Verlauf der Krankheit und die Folgen, mündlich und schriftlich zu informieren. Eine Aufklärungspflicht wird auch in Art. 7 OrgTranspG geregelt, wonach der Spender in einer angemessenen Art und in einem angemessenen Umfang über die möglichen Risiken der Organtransplantation, sowie über medizinische, psychische, familiäre und soziale Folgen informiert werden muss. Ausführlicher wird auf die Aufklärungspflicht in den „Grundsätzen für medizinische Berufsethik“ der Türkischen Ärztekammer-Union eingegangen.50 So ist der Umfang der Aufklärung in Art. 26 der „Grundsätze für medizinische Berufsethik“ geregelt. Danach ist die Aufklärung in angemessener Art, unter Beachtung des kulturellen, sozialen und psychischen Zustandes des Patienten durchzuführen. Der Arzt kann außer dem Patienten mit dessen Zustimmung auch andere Personen aufklären. Alle medizinischen Eingriffe können nur unter Vorbehalt der freien, nach Aufklärung eingeholten Einwilligung des Patienten durchgeführt werden. Wird die Einwilligung unter Drohung, pflichtwidriger Aufklärung oder Täuschung erteilt, ist sie unwirksam. IV. Aufklärungspflichtige Der behandelnde Arzt als Vertragspartner hat den Patienten im Behandlungsverhältnis aufzuklären.51 Stehen in einem Behandlungsverhältnis mehrere Ärzte nach beruflicher Qualifikation dem Patienten nebeneinander gegenüber, dann hat jeder Arzt, der den Patienten behandelt oder bei ihm einen Heileingriff vornimmt, aufzuklären. Für eine Blinddarmoperation hat etwa nicht nur der zu operierende Chirurg, sondern auch der Anästhesist den Patienten über jeden vorzunehmenden Eingriff aufzuklären. Stehen in einem Behandlungsverhältnis mehrere Ärzte dem Patienten nicht nebeneinander, sondern untereinander abgestuft gegenüber, hat in der Regel der verantwortliche Arzt die Aufklärung vorzunehmen. Werden jedoch die Aufgaben der Ärzte intern verteilt, so kann der dazu intern beauftragte Arzt, vorausgesetzt er ist fachlich und rechtlich dazu imstande,52 die Aufklärung durchführen.53 Krankenschwestern oder medizintechnisches Personal dürfen die Aufklärungspflicht nicht erfüllen. Ebenso darf die Erfüllung der Aufklärungspflicht nicht auf sie übertragen werden, da sie fachlich dazu nicht geeignet sind und sie ferner die Aufklärungsfragen des Patienten über den Eingriff und Behandlung nicht beantworten dürfen. Eine Aufklärungspflicht darf nur dann auf einen anderen Arzt 50 51 52 53
47. Hauptversammlung der Türkischen Ärztekammer vom 10.-11. Oktober 1998. Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, S. 81. Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, S. 82. Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 39.
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übertragen werden, wenn er fachlich dazu imstande ist. Wird die Erfüllung der Aufklärungspflicht auf einen anderen Arzt, der fachlich dazu nicht imstande ist, oder auf eine andere Hilfsperson – etwa auf eine Krankenschwester – übertragen, ist dies rechtlich nicht vertretbar, so dass dies zur Haftung der verantwortlichen Ärzte oder Krankenhausträger aufgrund pflichtwidriger Aufklärung führen kann. Der verantwortliche Arzt oder Krankenhausträger muss alle erforderlichen Maßnahmen treffen, damit eine ordnungsmäßige Aufklärung der Patienten stattfindet. Ist dies nicht der Fall, kann dies dem verantwortlichen Arzt oder dem haftenden Krankenhausträger als Organisationsfehler zugerechnet werden.54 V. Aufklärungsempfänger Heileingriffe sind Eingriffe in die Grundrechte des Patienten, so dass nur der betroffene Patient wirksam in den Heileingriff einwilligen und diesen somit rechtfertigen kann. Bei der Einwilligung in Heileingriffe handelt es sich um ein höchstpersönliches Recht, dessen Ausübung ausschließlich dem Inhaber zusteht und in der Regel keine Vertretung oder Übertragung zulässt. So muss zur Wirksamkeit der Einwilligung auch eine pflichtgemäße Aufklärung gegenüber dem einwilligenden Patienten erfolgen.55 Die Einwilligung, der die Aufklärung zugrunde liegen muss, kann als eine einseitige rechtsgeschäftsähnliche Willenserklärung angesehen und nur von einem geschäftsfähigen und u. a. urteilsfähigen Patienten wirksam abgegeben werden. Deshalb muss der Patient imstande sein, die Aufklärung über Risiken und Vorteile des Eingriffs, sowie dessen Umfang und Bedeutung abwägen zu können.56 Dabei kommt es grundsätzlich nicht darauf an, ob der Patient unter elterlicher Sorge oder unter Vormundschaft steht, weil es sich dabei um die Ausübung eines höchstpersönlichen Rechts handelt, dessen Ausübung nach Art. 16/I TMK keiner Zustimmung des gesetzlichen Vertreters bedarf. Nach Art. 70 TĨćDK und Art. 24 HHY muss aber auch die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters eingeholt werden, wenn der zu behandelnde Patient minderjährig ist oder unter Vormundschaft steht, so dass auch der gesetzliche Vertreter aufgeklärt werden muss. Verweigert der gesetzliche Vertreter die Einwilligung und ist der Heileingriff erforderlich, dann hängt die Durchführung des Heileingriffs des bevormundeten, unter elterlicher Sorge stehenden Patienten vom gerichtlichen Urteil nach Art. 346 TMK57 und 486 TMK ab. Gegebenenfalls soll die Aufklärung dann durch den zur Entscheidung berufenen Richter erfolgen. 54 55
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Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 40. Das verfassungsrechtlich geschützte Selbstbestimmungsrecht des Patienten wirkt sich weitgehend auf das Behandlungsverhältnis aus. Die Mitwirkung der Minderjährigen und Bevormundeten sollte so auch dort gewährleistet werden, wo nur die Einwilligung des gesetzlichen Vertreters erforderlich ist und ausreicht (Art. 26 HHY ). Sarıal, Saþlararası Organ Nakillerinden Doþan Hukuksal ćliĩkiler, S. 61; Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, S. 82. Zeytin Zafer, Das neue Türkische Bürgerliche Gesetzbuch, in: FPR, S. 126 f.
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Ist die Urteilsunfähigkeit nur vorübergehend und handelt es sich nicht um einen medizinischen Notfall, muss mit der Aufklärung und folglich mit Einwilligung gewartet werden. Geht es um medizinische Notfälle, dann rechtfertigt dies den Eingriff ohne Einwilligung und Aufklärung. Ist die Urteilsunfähigkeit dauerhaft, dann ist der gesetzliche Vertreter aufzuklären. Das Recht auf Auskunft über den gesundheitlichen Zustand kann der Patient selbst, im Falle der Minderjährigkeit, der Urteilsunfähigkeit oder der Vormundschaft, der gesetzliche Vertreter geltend machen. Es ist sogar möglich, das Recht auf Auskunft gegenüber einen Dritten geltend zu machen, wenn er dazu beauftragt ist. Wenn es erforderlich scheint, kann gegebenenfalls die Vorlage einer Bescheinigung über diesen Auftrag verlangt werden (Art. 15/II HHY). Die Möglichkeit, das Auskunftsrecht auf einen Dritten zu übertragen, ändert an der Höchstpersönlichkeit der Einwilligung in Heileingriffe und somit auch der Aufklärung nichts. Es muss aber darüber informiert werden, dass es sich nicht um einen Verzicht auf die Rechts- und Geschäftsfähigkeit handelt, der nach Art. 23 ff. TMK nicht zulässig ist. VI. Aufklärungszeit Über die Aufklärungszeit gibt es keine ausdrückliche gesetzliche Regelung und keine gerichtliche Entscheidung. Von einer wirksamen Einwilligung in den Heileingriff kann jedoch dann die Rede sein, wenn sie vor dem Eingriff vorliegt.58 Eine nachträglich erteilte Zustimmung kann zwar die Rechtswidrigkeit des Eingriffs nicht aufheben59, kann aber als Verzicht auf einen Schadensersatzanspruch oder als Schuldbefreiung betrachtet werden.60 Eine nachträglich wirksame Zustimmung des Berechtigten kann die durch einoder zweiseitige Willenserklärung zustande kommenden mangelhaften Rechtsgeschäfte in gesetzlich vorgesehenen Fällen heilen. Diese für Rechtsgeschäfte vorgesehene rückwirkend heilende Zustimmung kann aber auf Fälle der rechtswidrigen Verletzung der Rechtsgüter nicht übertragen werden. Aĩcıoþlu vertritt hierzu die Ansicht, dass die nachträglich erteilte Zustimmung wirksam sei, wenn es sich um einen medizinisch erwarteten üblichen Schaden aus dem lege artis durchgeführten Eingriff handelt.61 Je nach Behandlungsverhältnis muss eine angemessene Zeit für die Aufklärung bestimmt werden. 58
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Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 39; Bayraktar, Hekimin Tedavi Nedeniyle Cezai Sorumluluþu, S. 142. Laufs, Arztrecht, Rdnr. 234; OLG Stuttgart, VersR 1989, 1150. Eren, Borçlar Hukuku Genel Hükümler, S. 588; Selahattin S. Tekinay, Sermet Akman, Haluk Burcuoþlu, Atilla Altop, Borçlar Hukuku, 7. Bası, ćstanbul 1993, S. 490; Kemal Oþuzman, Turgut Öz Borçlar Hukuku Genel Hükümler, S. 481; Hugo Oser, Wilhlem Schönenberg, Das Obligationenrecht, AT, 2. Aufl., Zürich 1929, Art. 41 Rdnr. 24. Er bringt auch zum Ausdruck, dass die rechtszeitig oder nachträglich erteilte Zustimmung zum Heileingriff bei Behandlungsfehlern die Arzthaftung nicht ausschließt (Aĩcıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 39). Ein im Vor-
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VI. Art und Weise der Aufklärung Ein zur Unterschrift vorgefertigter Aufklärungsbogen reicht für eine ordnungsgemäße Aufklärung nicht aus. Die Aufklärung soll nach den Umständen des Einzelfalls, auf den Patienten bezogen, durchgeführt werden. Dabei sollen Art und Umfang, Risiken und Vorteile des Eingriffs in groben Zügen dargestellt werden. Eine darüber hinausgehende, ausführliche Aufklärung ist grundsätzlich nicht erforderlich. Liegt dagegen ein Eingriff oder eine Untersuchung zu Forschungszwecken vor, so ist eine eingehende Aufklärung insbesondere über Risiken und Nebenwirkungen unabdingbar. Bei der Aufklärung sollen Verständnisfähigkeit, Alter, Beruf, Ausbildung und Psyche des Patienten berücksichtigt werden. Nach Art. 18 HHY soll die Aufklärung, wenn dies erforderlich ist, auch übersetzt werden. Im Übrigen soll sie so erteilt werden, dass der Patient sie ohne Mühe und Zweifel verstehen kann. Fachwörter sollten bei der Aufklärung möglichst nicht verwendet werden. Eine Aufklärung über das Risiko des Eingriffs anhand eines sinnlosen Vergleichs (etwa: „Das Risiko des Eingriffs ist so groß, wie die Wahrscheinlichkeit, auf der Straße von einem herabfallenden Ziegelstein getroffen zu werden“) ist nicht wirksam, auch wenn der Patient unausgebildet und Analphabet ist. VII. Form der Aufklärung Die Aufklärung kann mündlich oder schriftlich erfolgen. Aufgrund der Besonderheiten des Behandlungsverhältnisses erfolgt sie meist in mündlicher Form und wird nachträglich dokumentiert. Die Einwilligung nach Art. 28/I HHY kann formfrei, mündlich oder schriftlich abgegeben werden. Nur in bestimmten Fällen wird eine besondere Form zur Wirksamkeit der Einwilligung verlangt. So bedarf die Einwilligung eines Organspenders zu ihrer Gültigkeit der Schriftform. Nach Art. 34/II HHY hat ferner die Einwilligung in eine medizinische Forschung schriftlich zu erfolgen. Im Übrigen verlangt das TĨćDK in Art. 70 bei großen Eingriffen eine schriftliche Einwilligung. Was unter dem Begriff der „großen Eingriffe“ zu verstehen ist, wurde nicht geregelt. Bei den großen Eingriffen sollte es sich um Eingriffe handeln, die das Leben des Patienten bedrohen oder zu großen gesundheitlichen und bleibenden Schäden führen können. Wo eine Einwilligung in gesetzlich vorgeschriebener Form verlangt wird, ist aber keine Regelung über die Form der Aufklärung getroffen worden. In Fällen, in
aus vereinbarter Haftungsausschluss ist bei Behandlungsfehlern aufgrund grober Fahrlässigkeit oder Vorsatz nach Art. 99/I türk. OG und auch aufgrund leichter Fahrlässigkeit nach Art. 99/II türk. OG nicht zulässig, wenn die Ärzte durch eine obrigkeitliche Zulassung ihre Tätigkeiten ausüben oder der Geschädigte zur Zeit seiner Erklärung im Dienst der Verantwortlichen gewesen ist. Jedoch kann der Geschädigte nachträglich auf den Anspruch auf Schadensersatz, auch bei Behandlungsfehlern aufgrund des schweren Verschuldens in schuldrechtlichen Behandlungsverhältnissen, verzichten.
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denen die Gültigkeit der Einwilligung einer Schriftform bedarf, muss die Aufklärung zur Wirksamkeit nicht schriftlich erfolgen. Die durchgeführte Aufklärung kann mit allen Mitteln bewiesen werden. Die Schriftlichkeit der Aufklärung kann aber zur Beweiserleichterung erheblich beitragen. Jedoch reicht die bloße Vorlage einer schriftlichen Einwilligung oder eines unterschriebenen Aufklärungsbogens nicht aus, um eine patientengerecht durchgeführte Aufklärung zu beweisen. Das Gericht hat dabei nach seinem Ermessen zu entscheiden, ob eine ordnungsgemäß durchgeführte Aufklärung vorliegt.62 Eine bestimmte Form bzw. Vordrucke zu Aufklärung und Einwilligung sind bei Abtreibung und Sterilisation vorgeschrieben (Art. 5/IV NPHK). Nach einer Umfrage unter Ärzten in öffentlichen Krankenhäusern63 ließ sich feststellen, dass nur 5 von 55 befragten Ärzten bei ihrer Aufklärung Aufklärungsformulare anwenden. VII. Umfang der Aufklärung Eine allgemein geltende Regelung hierüber lässt sich nicht leicht treffen, zumal sich die Arzt-Patienten-Behandlungsverhältnisse nach den jeweiligen Umständen erheblich unterscheiden können. Es lässt sich allerdings eine allgemeine Regelung für den Umfang der Aufklärung treffen. Zunächst sollte für eine wirksame Einwilligung der Patient und gegebenenfalls sein gesetzlicher Vertreter über den Heileingriff und dessen Folgen informiert werden (31/I HHY). Der Umfang der Aufklärung bestimmt sich nach Art. 15 ff. HHY und Art. 26 der Grundsätze für medizinische Berufsethik. Danach hat der Arzt den Patienten über die Diagnose, den aktuellen Gesundheitszustand, die Methoden der vorgeschlagenen Therapie mit den jeweiligen Erfolgsquoten, der Dauer und den Risiken, sowie über die Anwendung der verschriebenen Medikamente mit den jeweiligen Nebenwirkungen, die Folgen bei Ablehnung der Behandlung und mögliche Alternativtherapiemethoden mit den jeweiligen Risiken aufzuklären. Eine Entscheidung kann letztlich nur anhand des Einzelfalls, unter Berücksichtigung der jeweiligen Umstände, nach einer Nutzen-Risiko-Abwägung getroffen werden. So soll sich der Umfang der Aufklärung grundsätzlich und in erster Linie nach dem Schweregrad des Risikos und der Dringlichkeit des Heileingriffs bestimmen. Ist der Eingriff dringlich durchzuführen, dann verringert sich der Umfang der Aufklärung. Umgekehrt wird der Umfang der Aufklärung bei Eingriffen, etwa bei Schönheitsoperationen oder bei Eingriffen zu Forschungszwecken erweitert.64 62 63
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Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 28. Die Umfrage, deren Ergebnisse noch nicht veröffentlich sind, wurde im Rahmen einer sozial- und rechtswissenschaftlichen Zusammenarbeit in öffentlich-rechtlichen Krankenhäusern der Stadt Diyarbakir und der Universität Dicle durchgeführt. Ergun Özsunay, Alman ve Türk Hukuklarında Hekimin Hastayı Aydınlatma Ödevi ve ćstisnaları, Sorumluluk Hukukundaki Yeni Geliĩmeler V. Sempozyumu, ćstanbul 1983, S. 39 f.
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Beinhaltet der Heileingriff große Risiken, wirken sich diese auf den Umfang der Aufklärung aus. So soll über die Risiken des Eingriffs eingehend aufgeklärt werden65, wenn der Eingriff mit zum Tode führenden Risiken oder mit bleibenden schweren körperlichen oder geistigen Schäden verbunden ist. Ist der Eingriff hingegen nur mit vorübergehenden oder unwichtigen Risiken verbunden, kann die Aufklärung über diese Risiken ausbleiben, zumal auch davon auszugehen ist, dass derartige Risiken keinen Einfluss auf die Entscheidung des Patienten (von einem durchschnittlichen Patientenprofil ausgehend) haben.66 Allerdings sollen sich nicht nur die objektiven Risiken des Eingriffs auf den Umfang der Aufklärung auswirken, sondern auch die subjektiven Umstände des Patienten. Während eine Aufklärung etwa für ein Mannequin über eine kleine mögliche zurückbleibende Narbe im Rahmen einer Schönheitsoperation am Gesicht unabdingbar ist, kann eine Aufklärung über eine mögliche derartige Narbe wegen einer Meniskusoperation am Bein eines Radfahrers unterbleiben.67 In einem Urteil des türkischen Kassationshofs wurde es für eine Aufklärungspflichtverletzung gehalten, dass die Aufklärung über die mögliche Verletzung des Jungfernhäutchens durch den Eingriff ausblieb.68 So sollte die Einstufung einer Folge des Eingriffs als großes Risiko nicht nur nach medizinischen, sondern auch nach gesellschaftlichen Gesichtspunkten erfolgen.69 Wenn ein Eingriff nicht aus Heilungsgründen, sondern etwa wie bei der Sterilisation zum Zwecke der Familienplanung vorzunehmen ist, muss die Aufklärung über alle möglichen intraoperativen und postoperativen Risiken, die zukünftigen Folgen für den Patienten selbst und für die Familienmitglieder ausführlich erfolgen.70 Wird ein noch nicht in der Medizin anerkannter Heileingriff durchgeführt, erhöht sich der Umfang der Aufklärungspflicht. Die ärztliche Aufklärungspflicht lässt sich auf wirtschaftliche Bewandtnisse erweitern. Diese Erweiterung kann etwa aus den vertraglichen Pflichten des Arztes hergeleitet werden.71 Eine ärztliche Schutzpflicht vor wirtschaftlicher Ausbeutung des Patienten wurde ausdrücklich im TDN geregelt, wonach vom Arzt verlangt wird, dass dem Patienten kein teureres Medikament verschrieben wird, wenn es medizinisch nicht erforderlich ist (Art 20/II TDN). Ferner ist der Arzt zur Ver65 66 67 68 69
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Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 29. Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 34. Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, 77. Yargıtay 4. HD vom 7. 3. 1977, K. 1976/6297 in: YKD 1978, Heft 6, S. 905 ff. So etwa Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 30; Kritik an dem Urteil von Selim Kanati, Alman ve Türk Hukuklarında Hekimin Hukuksal Sorumluluþunda Kusur ve ćspat Yükü, Sorumluluk Hukukundaki Yeni Geliĩmeler V. Sempozyumu, MHAUM ćstanbul 1983, S. 61 ff., 69. Der Arzt sollte sich auf rechtmäßiges Alternativverhalten berufen und sich von der Haftung für Aufklärungspflichtverletzungen befreien können. Sarıal, Saþlararası Organ Nakillerinden Doþan Hukuksal ćliĩkiler, S. 57; Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, S. 77. Laufs, Arztrecht, Rdnr. 232 ff.; BGH, NJW 1983, S. 2630; LG Düsseldorf, MedR 1986, S. 208; OLG Koblenz, MedR 1991, S. 335.
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meidung unnötiger Heilungskosten für den Patienten verpflichtet (Art. 20/III). Weiterhin darf der Arzt dem Patienten keine Therapiemethode vorschlagen, die keine Aussicht auf Behandlungserfolg hat und zudem über die wirtschaftlichen Verhältnisse des Patienten hinausgeht. Besteht der Patient auf einer ausführlichen Aufklärung über den Eingriff, wirkt sich dies auf den Umfang der Aufklärungspflicht aus. So hat der Arzt auf die Fragen des Patienten einzugehen und sie richtig und verständlich zu beantworten.72 Das Recht des Patienten auf Auskunft kann aber nicht allein den Umfang der Aufklärung bestimmen. Macht der Patient sein Recht auf Auskunft nicht geltend, beschränkt sich die Aufklärungspflicht der Ärzte auf den üblichen Umfang und den Umständen des Einzelfalles entsprechend.73
E. Aufhebung der Aufklärungspflicht I. Durch Verzicht des Patienten Ärztliche Aufklärung bedeutet die Pflicht und zugleich aber auch das Recht des Patienten auf Auskunft, wobei deren Geltendmachung grundsätzlich dem Patienten zusteht. Eine Aufhebung der Aufklärungspflicht durch einen Verzicht des Patienten kann generell nicht zugelassen werden74, da sie zur Wirksamkeit der Einwilligung des Patienten und somit auch zur Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten über sich selbst im Hinblick auf das Leben und auf seine körperliche und geistige Integrität (Art. 17 türk. GG) dient. Ein Verzicht auf die Aufklärung kann ein Verzicht auf das Selbstbestimmungsrecht, sei es ganz oder zum Teil, sowie auch eine rechtswidrige Einschränkung der Grundrechte bedeuten, was nach Art. 23/I TMK nicht zulässig ist. Deshalb kann ein Verzicht auf Aufklärung den Arzt von seiner Pflicht nur dann befreien, wenn dies nicht zugleich einen Verzicht auf das Selbstbestimmungsrecht bedeutet.75 Zum einen
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Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, S. 77; Sarıal, Saþlararası Organ Nakillerinden Doþan Hukuksal ćliĩkiler, S. 59, 61. Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, 77. Laufs, Arztrecht, Rdnr. 207; Hans-Jürgen Roßner, Verzicht des Patienten auf eine Aufklärung durch den Arzt, in: NJW 1990, S. 2291 ff. Aktive Euthanasie mit oder ohne Verlangen des Patienten wird unter Ärzten nach einer Umfrage weitgehend abgelehnt, während sich die Hälfte der befragten Ärzte für eine passive Euthanasie befürwortet (Aksion, Bd. 4, Heft 161, S. 27). Art. 13 HHY regelt das Euthanasievebot, wonach ein Verzicht auf das Leben, sei es aus medizinischen oder anderen Gründen, nicht zulässig ist. Auf Verlangen der Person selbst oder eines anderen darf das Leben nicht beendet werden. Eine sogenannte Patientenverfügung, welche dem Patienten die Ablehnung der lebensverlängernden Maßnahmen und somit die Beendigung des Lebens ermöglicht, kann jedoch nach Art. 25 HHY als eine Therapieablehnung angenommen werden. Die Patientenverügung sollte aber in einem Gesetz und besonders geregelt werden, um die Sicherheit für die Beteiligten zu
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kann ein Verzicht nur rechtlich wirksam sein, wenn er auf einer freien Entscheidung des Patienten beruht und der Patient urteilsfähig ist. Unter Umständen kann ein Verzicht unter Drohung oder Täuschung stattgefunden haben. Ein solcher Verzicht wird jedoch entweder nicht wirksam oder er kann (abgesehen von einem Rücktrittsrecht des Patienten von der Einwilligung) nachträglich nach Art. 28, 29 ff. türk. OG angefochten werden. Ein stillschweigender Verzicht kann generell nicht zugelassen werden.76 HHY regelt in Artikel 20 das Aufklärungsverbot, wonach der Patient die Aufklärung über den Gesundheitszustand für sich und seine Verwandten verbieten kann. Das Aufklärungsverbot beschränkt sich hiernach aber nur auf die Diagnosemitteilung, während die Sicherungs- und Rechtfertigungsaufklärung für Heileingriffe immer noch gilt. Beinhaltet der Heileingriff Risiken, welche lebensbedrohlich sind oder zu schweren Folgen für den Patienten führen können, sollte eine Befreiung des Arztes von der Aufklärungspflicht durch ein Verzicht des Patienten auf Aufklärung nicht zugelassen werden. Eine Aufklärung wirkt sich allerdings auf das Selbstbestimmungsrecht des Patienten nicht aus, wenn er nicht zuhören möchte. Es kommt aber bei der ordnungsgemäßen Erfüllung der ärztlichen Aufklärungspflicht nicht darauf an, ob der Patient gegebenenfalls zuhören möchte oder nicht. Vielmehr soll es entscheidend sein, ob der Arzt seiner Aufklärungspflicht entsprechend der einzelnen Umstände nachgekommen ist oder nicht. Werden Eingriffe vorgenommen, welche sich in der Medizin noch nicht durchgesetzt haben oder noch in der Entwicklungsphase sind, sollte auch ein Verzicht des Patienten den Arzt von seiner Aufklärungspflicht nicht befreien. Hat der Patient die erforderlichen Informationen über den Heileingriff, weil er selbst im Arztberuf tätig ist, bedarf es keiner Aufklärung, wenn der Patient darauf verzichtet.77 Wurde der Patient bereits denselben Heileingriffen unterzogen und darüber ordnungsgemäß informiert, kann sein Verzicht gegebenenfalls ebenfalls wirksam sein. Jedoch muss im Einzelfall überprüft werden, ob der Gesundheitszustand des Patienten und der geplante Heileingriff Besonderheiten, welche zusätzliche Aufklärungen fordern, im Vergleich zu vorherigen Eingriffen, aufweisen.78
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schaffen. Als Persönlichkeitsrecht sollte eine derartige Verfügung nur dem Patienten und nicht seinem gesetzlichen Vertretern zustehen. Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, S. 79. Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, S. 79; Sarıal, Saþlararası Organ Nakillerinden Doþan Hukuksal ćliĩkiler, S. 58; Özsunay, Alman ve Türk Hukuklarında Hekimin Hastayı Aydınlatma Ödevi ve ćstisnaları S. 45; Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 34. Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, S. 79; Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 34.
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II. Durch andere Besonderheiten des Einzelfalles Eine völlige Aufhebung der Aufklärungspflicht ergibt sich im Einzelfall aus der Dringlichkeit des Heileingriffs (Art 24/III HHY).79 Eine Einwilligung in weitere Heileingriffe während der Operation kann vom Patienten im Voraus wirksam erteilt werden, wodurch der Arzt zur Eingriffserweiterung berechtigt ist. Wird allerdings intraoperativ ein neuer, medizinische Weiterungen verlangender Befund festgestellt, muss der Arzt die Interessen des Patienten bezüglich seines Selbstbestimmungsrechts gegenüber der Mehrbelastung durch einen erneuten Eingriff abwägen. Ist die Verwirklichung des Selbstbestimmungsrechts des Patienten höher anzusiedeln, als die Mehrbelastung, hat der Arzt die Eingriffserweiterung ohne Einwilligung und Aufklärung zu unterlassen. Vor einer medizinisch begründeten Zweckmäßigkeit hat das Selbstbestimmungsrecht des Patienten den Vorrang.80 Im Übrigen kann die Eingriffserweiterung auch entsprechend der mutmaßlichen Einwilligung des Patienten vorgenommen werden, wenn ein entgegenstehender Wille des Patienten nicht vorliegt oder sich ernsthaft nicht vermuten lässt.81 Art. 4 Abs. 3 des NPHK regelt, dass eine Kastration, wenn sie aus medizinischen Gründen intraoperativ notwendig wird, ohne die Einwilligung des Patienten durchgeführt werden kann.
F. Beweisprobleme bei der ärztlichen Aufklärung Bei den Beweisproblemen der ärztlichen Aufklärung ergeben sich zwei grundlegende Fragen: Zum ersten muss geklärt werden, wen die Beweislast82 trifft und was es zu beweisen gibt. Zum zweiten muss darüber entschieden werden, mit welchen Mitteln die ärztliche Aufklärung bewiesen werden darf. I. Zur Beweislast Nach der allgemeinen Beweisregelung des Art. 6 TMK hat derjenige das Vorhandensein einer behaupteten Tatsache zu beweisen, der aus ihr Rechte ableitet, so79
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Ertaĩ, Alman Hukukunda Hekimin Mesleki Kusurundan Sorumluluþu, S. 189; Reĩat Atabek, M. Sezen, in: ćBD, Heft 2, 1954, S. 151; Reisoþlu, Hekimlerin Hukuki Sorumluluþu, S. 7; Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, S. 79. Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 35. Laufs, Arztrecht, Rdnr. 227; Dieter Giesen, Zum Anwendungsbereich mutmaßlicher Einwilligung bei Operationserweiterung, in: JZ 1988, S. 1031. Abgesehen von gesetzlich bestimmten Fällen hat der Patient das Recht, die Behandlung abzulehnen oder zu unterbrechen. Gegebenenfalls sollten er oder sein gesetzlicher Vertreter über die Folgen der Ablehnung und Unterbrechung der Behandlung informiert und dies bescheinigt werden (Art. 25 HHY). Siehe zum Begriff „Beweislast“ Yilmaz Umar, ćspat Yükü, 2. Bası, Büyükçekmece 1980, S. 1 ff., 17 ff.; Sema Taĩpınar, ćspat Sözleĩmeleri, Ankara 2001, S. 159 ff.
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fern das Gesetz nichts anderes bestimmt. Art. 6 TMK stellt eine allgemeine Beweislastregelung dar, wobei er nicht ausreicht, eine Entscheidung darüber zu treffen, was es zu beweisen gibt. Dazu müssen noch andere materiell-rechtliche Bestimmungen in Betracht gezogen werden, die die Forderungen des Anspruchsberechtigten regeln. Hat etwa der Patient vor, einen Schadensersatzanspruch (Art. 41 ff. türk. OG aus unerlaubter Handlung) geltend zu machen, dann muss er den Behandlungsfehler mit den entstandenen immateriellen und materiellen Schäden, die Kausalität zwischen dem Heileingriff und dem daraus entstandenen Schaden, die Rechtswidrigkeit des Heileingriffs, sowie das Verschulden des Arztes beweisen. Von dieser grundlegenden Beweislastregelung macht das Gesetz aber Ausnahmen. Weil es sich bei der Arzthaftung meist um ein vertragliches Behandlungsverhältnis handelt, sieht Art. 96 türk. OG eine Ausnahmeregelung vor83: Kann die Erfüllung der Verbindlichkeit für den Gläubiger (Patienten) überhaupt nicht oder nicht gehörig bewirkt werden kann, so hat der Schuldner (Arzt) für den daraus entstehenden Schaden Ersatz zu leisten, sofern er nicht beweisen kann, dass ihm keinerlei Verschulden zur Last fällt. So muss der Arzt bei Arzthaftungsprozessen beweisen, dass ihn kein Verschulden trifft. Der Patient sollte aber die Verletzung der vertraglichen Pflicht beweisen, so dass die Beweislast zur Aufklärungspflichtverletzung den Patienten trifft.84 Eine andere Ausnahme von der grundlegenden Beweislastregelung macht ferner die Regelung des TMK in Art 24, in dem die Rechtswidrigkeit einer Persönlichkeitsverletzung geregelt ist. Nach Art. 24/II TMK ist eine Verletzung dann widerrechtlich, wenn sie nicht durch Einwilligung des Verletzten, durch ein überwiegendes privates oder öffentliches Interesse oder durch Ausführung einer gesetzlichen Aufgabe (Gesetz) gerechtfertigt ist. Artikel 5 des TMK regelt, dass die allgemeinen Bestimmungen des Obligationenrechts, sowie dieses Gesetzes auch auf andere zivilrechtliche Verhältnisse entsprechend Anwendung finden. So ist auch Art. 24/II TMK als allgemeine Bestimmung auf schuldrechtliche Beziehungen des türk. OG entsprechend anzuwenden. Demzufolge muss der Arzt, wenn er die Rechtswidrigkeit seines Heileingriffs widerlegen möchte, beweisen, dass er die wirksame Einwilligung des Verletzten (des Patienten) in den Heileingriff zuvor eingeholt hat. Der Rechtmäßigkeitsbeweis dient den Interessen des Arztes, so dass er die Beweislast tragen soll.85 Wie oben erläutert, kann eine Einwilligung des Patienten dann wirksam erteilt sein, wenn ihr u. a. eine pflichtmäßige ärztliche Aufklärung zugrunde liegt. So liegt die Beweislast, auch in der vertraglichen Arzthaftung, bei der Einwilligung und der dazu gehörigen Aufklärung, beim Arzt.
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Yargıtay HGK (Großer Zivilsenat) vom 28. 6. 1978, K. 1978/696; Aĩçıoþlu, Tıbbi Yardım ve El Atmalardan Doþan Sorumluluklar, S. 139. So Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, S. 87; Moritz Kuhn, Die Entwicklung in der Haftpflicht des Arztes, in: ZSR 105 I, S. 480. Ayan, Tıbbî Müdahalelerden Doþan Hukukî Sorumluluk, S. 86.
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II. Zum Beweismittel Bei Heileingriffen handelt es sich meist um Tatsachen und nicht etwa um Rechtsgeschäfte, so dass die Umstände des Einzelfalles in der Regel mit allen Mitteln bewiesen werden dürfen. Besteht Unstimmigkeit zwischen dem vorgelegten Gesagten und den bewiesenen Tatsachen, sollten die bewiesenen Tatsachen in Betracht gezogen werden, während das Gesagte in einem ärztlichen Attest für eine Behauptung oder Stellungnahme zu halten ist.86 Eine allgemeine Beweiswürdigung wie im deutschen Prozessrecht gilt im türkischen Zivilprozeßrecht nur beschränkt. Das Zivilprozessgesetz (HMUK) rechnet einigen Beweismitteln (Art. 287-336 HMUK) absolute Beweiskraft zu, so dass dem Gericht keine Beweiswürdigung mehr zusteht. Das Gesetz lässt nur Urkunden als Beweismittel zu, wenn es sich um ein Rechtsgeschäft (Art. 288 HMUK) handelt, welches den Wert von 40 YTL übersteigt. Gegebenenfalls kann das Rechtsgeschäft dann nur durch Vorlage der Urkunde, nicht etwa durch Zeugenaussage, und in der Regel auch nicht anders bewiesen werden, Art. 287 HMUK. Ausnahmen davon finden sich in Artt. 287/II 289, 292, 293, 294 HMUK.87 Abgesehen von den gesetzlichen Fällen, in denen die Einwilligung schriftlich erfolgen muss, um wirksam zu sein,88 kann die Einwilligung mündlich oder stillschweigend und auch die dazugehörige Aufklärung mündlich erfolgen (Art. 28 HHY). Besteht Streit über die Einwilligung oder über den Umfang der Einwilligung in den Heileingriff und über die dazu gehörige Aufklärung89, kann dies problematisch werden, wenn Einwilligung und Aufklärung mündlich erfolgt sind. Wird die Einwilligung und Aufklärung als ein Rechtsgeschäft qualifiziert, können die Beteiligten ihre Behauptungen, etwa die erteilte Einwilligung und durchgeführte Aufklärung, nur durch Vorlage einer Urkunde90 beweisen. Unbestritten ist es, dass es sich bei der Einwilligung um eine Willenserklärung handelt. Dies reicht aber nicht aus, um sie als ein Rechtsgeschäft zu bewerten, da sie nicht auf eine bestimmte Rechtsfolge gerichtet ist. Nach herrschender Meinung ist die Einwilligung kein Rechtsgeschäft, weshalb auch in der dazu gehörigen Aufklärung kein Rechtsgeschäft gesehen wird.
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Yargıtay 4. HD vom 25. 6. 1981, K. 1981/9136; Danıĩtay 12.D vom 29. 6. 1977, K. 490/1661. Baki Kuru, Ramazan Arslan, Ejder Yilmaz, Medenî Usul Hukuku, 10. Basi, Ankara 1998, S. 350 ff.; Taĩpınar, ćspat Sözleĩmeleri, S. 44. So ist es nach Art. 6 OrgTranspG und Art 29 HHY. Eine allgemeine Dokumentationspflicht der Ärzte ist nicht geregelt. In einzelnen Vorschriften, etwa NPHK Art. 5/III und IV, wird aber eine Dokumentationspflicht für Ärzte vorgesehen, wenn es sich insbesondere um die Verläufe der Krankheit, medizinische Maßnahme, Befunde, Therapiemaßnahmen und verschriebene Medikamente handelt. Als Urkunde wird die in schriftlicher Form erteilte Willenserklärung mit Unterschrift des Verpflichteten bezeichnet, gegen den sie eingesetzt werden kann.
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G. Schluß Die Ausführungen haben gezeigt, dass sich das Medizinrecht und die ärztliche Aufklärungspflicht in der Türkei nicht erheblich von der rechtlichen Gestaltung des Medizinrechts und der ärztlichen Aufklärungspflicht im europäischen Vergleich abheben. Das liegt in erster Linie daran, dass das türkische Rechtssystem dem europäischen seit Jahren folgt und sich anpasst. Andererseits ergeben sich aber in der Praxis Unterschiede bezüglich der Handhabung des Rechts und der Erfüllung der Pflichten. Diese Unterschiede basieren auf den vielen persönlichen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Aspekten des Landes. Wo die medizinischen Leistungen privat erbracht werden, werden die Rechte und Pflichten der Beteiligten in der Regel beachtet. Demgegenüber kann das Gesagte leider grundsätzlich nicht gelten, wenn medizinische Leistungen von öffentlichen Einrichtungen erbracht werden, welche einen großen Anteil am Gesundheitswesen ausmachen. Von einem Menschen, der sich mit dem durchschnittlich Notwendigen zu versorgen imstande ist, kann nicht erwartet werden, dass er von seinem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch macht und auf einer Aufklärung besteht. Er fühlt sich weitgehend versorgt, wenn ihm eine angemessene, ärztliche Behandlung zur Verfügung gestellt wird. Im Übrigen sollte auch darauf hingewiesen werden, dass es einem Arzt nicht immer zuzumuten ist, dass er der Aufklärungspflicht ordnungsgemäß nachkommt, wenn er mit seinen zu erbringenden medizinischen Leistungen überfordert ist. Auf der Tagesordnung eines Arztes in einem öffentlichen Krankenhaus stehen pro Sprechstunde vierzig oder fünfzig Patienten, wobei diese Krankenhäuser leider als erste Stufe des medizinischen Dienstes in Anspruch genommen werden. Die Sozialversicherungsträger zahlen grundsätzlich kein Honorar an die niedergelassenen Ärzte an privaten Krankenhäusern, so dass diese fast ausschließlich nur Privatpatienten behandeln. Demzufolge werden Ärzte in öffentlichen Krankenhäusern immer überfordert. Dieses Bild ändert sich mittlerweile. Dies geschieht jedoch nicht so schnell wie die Medizin selbst sich ändert. Eine grundlegende Änderung des Gesundheitssystems in der Türkei ist die Voraussetzung für die Wahrung der Patientenrechte. Im Übrigen sollte der raschen Entwicklung der Medizin auch das Medizinrecht entsprechend angepasst werden. Dies kann nur dann in Kürze erreicht werden, wenn die Verhältnisse zwischen der Medizin und dem Recht entsprechend ihrer Bedeutung in die medizinische und juristische Ausbildung eingegliedert werden.
Varia
Der Antagonismus zwischen der Business Judgement Rule des Gesellschaftsrechts und der Anwendung des § 266 StGB durch Strafverfolgungsbehörden und -gerichte Dieter Feddersen
A. Einleitung In wirtschaftlich schwierigen Zeiten, die geprägt sind durch Unternehmenskrisen und -zusammenbrüche und einen Verfall der Aktienkurse, besteht seitens der Anleger das durchaus nachvollziehbare Bedürfnis, hierfür einen Schuldigen auszumachen, der gegebenenfalls für die eingetretenen Verluste und Schäden einsteht. Es liegt nahe, daß sich das Augenmerk dabei auf die Unternehmensleitung richtet, wenn deren Handlungen nicht zu dem gewünschten wirtschaftlichen Erfolg oder sogar zu einem wirtschaftlichen Schaden geführt haben. Noch verständlicher wird dieser Anspruch auf Wiedergutmachung, wenn offensichtliche Gesetzesverstöße, fraudulente Handlungen und Selbstbedienungsmaßnahmen zur Schädigung des Vermögens börsennotierter Gesellschaften geführt haben.
B. Haftung von Organmitgliedern im deutschen Aktienrecht I. Stand der Praxis Die Möglichkeiten von Aktionären deutscher Aktiengesellschaften, vermeintlich haftungsrelevante Handlungen von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern einer gerichtlichen Prüfung zuzuführen, sind beschränkt, auch wenn sich frühere Aussagen,1 daß Schadenersatzansprüche in der Praxis wenig bedeutsam sind, so wohl nicht mehr halten lassen.2
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Der Autor ist Rechtsanwalt und Notar a. D. in Frankfurt am Main und Honorarprofessor an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Der Verfasser wurde tatkräftig unterstützt durch Frau Rechtsanwältin Cornelia Wendel, White & Case, Düsseldorf, sowie Herrn Rechtsanwalt Jürgen Detlef Klengel, White & Case, Frankfurt/M. Thomas Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 2. Aufl., München 1992, § 14 Rdnr. 76. Raiser, Recht der Kapitalgesellschaften, 3. Aufl., München 2001, § 14 Rdnr. 90 führt nunmehr aus, daß die Zahl der Schadenersatzprozesse deutlich zunimmt.
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1. Eine allgemeine Haftung der Organmitglieder unmittelbar gegenüber den Aktionären der Aktiengesellschaft ist im Aktiengesetz nicht geregelt. Mögliche Haftungstatbestände sind vielmehr über zahlreiche Gesetze verstreut. In Betracht kommt insbesondere ein Anspruch auf Ersatz von Schäden des Aktionärs auf der Grundlage von § 826 BGB oder § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit einem Schutzgesetz, namentlich wegen Untreue oder Betrug (§§ 266, 263 StGB). 2. Die Vermögensinteressen der Aktionäre bei einem haftungsrelevanten Verhalten der Organmitglieder werden aktienrechtlich mittelbar über das Gesellschaftsvermögen geschützt, und zwar im Rahmen der Haftung der Organmitglieder gegenüber der Gesellschaft gemäß § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG für Vorstandsmitglieder, der über § 116 AktG sinngemäß auch für Aufsichtsratsmitglieder gilt. Die Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen ist dabei jedoch grundsätzlich dem jeweils anderen Verwaltungsorgan überantwortet (§§ 112, 78 AktG). Daß angesichts der kollegialen und geschäftlichen Verbundenheit hier zumindest die Gefahr einer sozialen „Bißsperre“3 besteht, lässt sich nicht ganz von der Hand weisen,4 allerdings hat auch hier die ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH,5 auf die unten6 noch näher einzugehen sein wird, den Aufsichtsratsmitgliedern ihre Verantwortung deutlich vor Augen geführt. Der einzelne Aktionär kann Schadenersatzansprüche der Gesellschaft weder im eigenen Namen noch im Namen der Gesellschaft geltend machen, auch nicht im Wege einer Feststellungsklage.7 Gemäß § 147 Abs. 1 S. 1 AktG müssen allerdings Ansprüche der Gesellschaft aus der Geschäftsführung gegen Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder geltend gemacht werden, wenn dies die Hauptversammlung mit einfacher Stimmenmehrheit beschließt oder es eine Minderheit verlangt, deren Anteile zusammen den zehnten Teil des Grundkapitals erreichen. Nach dem durch das Gesetz zur Kontrolle und Transparenz im Unternehmensbereich (KonTraG) vom 27. 4. 1998 eingefügten § 147 Abs. 3 AktG kann außerdem eine Minderheit, deren Anteile zusammen den zwanzigsten Teil des Grundkapitals der Aktienge3
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Martin Peltzer, Die Haftung des Aufsichtsrats bei Verletzung der Überwachungspflicht, in: WM 1981, S. 346, 349; Karl Trescher, Aufsichtsratshaftung zwischen Norm und Wirklichkeit, in: DB 1995, S. 661. Diese Erkenntnis fand auch Berücksichtigung in der Regierungsbegründung des Entwurfes eines Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG, BT-Drs. 15/5092 – im Internet abzurufen unter http://dip.bundestag.de/btd/15/1505092.pdf zu §§ 147, 148 AktGE, S. 43. BGHZ 135, S. 244 (ARAG/Garmenbeck). C. II. 2. c) bb). BGHZ 83, S. 122, 133 ff.; OLG Frankfurt/M., NZG 2003, S. 331, 333; Uwe Hüffer, Aktiengesetz, 6. Auflage, München 2004, § 93 Rdnr. 19; Wolfgang Hefermehl, Gerald Spindler, in: Bruno Kropff, Johannes Semler (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, 2. Aufl., Bd. 3, München 2004, § 93 Rdnr. 168 ff. m.w.N.
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sellschaft oder den anteiligen Betrag von 500.000 € erreichen, die gerichtliche Bestellung besonderer Vertreter zur Geltendmachung von Ersatzansprüchen verlangen, wenn Tatsachen vorliegen, die den dringenden Verdacht rechtfertigen, daß der Gesellschaft durch die Unredlichkeiten oder grobe Verletzungen des Gesetzes oder der Satzung Schaden zugefügt wurde.8 II. Weitere Entwicklung Unter dem Eindruck der Übertreibungen und Skandale an den Aktienmärkten in den Jahren 1999 und 2000 hat sich der Druck, die Durchsetzung von Ersatzansprüchen gegen Gesellschaftsorgane noch weiter zu erleichtern, verstärkt. Die Bundesregierung hat im Januar 2005 den Entwurf eines Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) vorgelegt.9 Nach diesem Gesetzesentwurf soll die Innenhaftung der Organe, also die Haftung von Vorstand und Aufsichtsrat gegenüber der Aktiengesellschaft, neu geregelt werden. Aktionärsminderheiten soll es erleichtert werden, Klagen gegen die Organe der Aktiengesellschaft durchzusetzen. Künftig sollen Aktionäre, und zwar im eigenen Namen, nach Durchführung eines Klagezulassungsverfahrens Ersatzansprüche der Gesellschaft gemäß § 147 Abs. 1 Satz 1 AktG geltend machen können, wenn sie zusammen nur ein Prozent des Grundkapitals halten oder ihre Aktien zusammen einen Börsenwert von mindestens 100.000 € erreichen (§ 148 AktG-E). Die für die Bildung eines Quorums notwendige Kommunikation unter den Aktionären soll durch einen neuen § 127a AktG-E erleichtert werden, der die Möglichkeit der Einrichtung eines Aktionärsforums im elektronischen Bundesanzeiger vorsieht. Das UMAG soll in seinen wesentlichen Teilen voraussichtlich zum 1. 11. 2005 in Kraft treten.10 III. Strafrechtliche Parallelwertungen Es scheint aber, als ob diese Anstrengungen des Gesetzgebers durch eine andere Entwicklung überholt werden könnten: In jüngster Zeit ist eine vermehrte Anrufung der Strafverfolgungsbehörden und eine verstärkte Bereitschaft dieser Behörden zu beobachten, unternehmerische Handlungen von Organmitgliedern im Rahmen eines Strafverfahrens zu überprüfen. Vorwürfe gegen Führungskräfte wegen Untreue sind in letzter Zeit fast an der Tagesordnung. Dabei geht es nicht etwa wie beispielsweise in den Fällen Comroad oder Flowtex oder Infomatec nur um die Überprüfung von betrügerischen Entscheidungen des Managements im Zusammenhang mit den zahlreichen und spektakulären Unternehmenskrisen der letzten Jahre. Es läßt sich vielmehr eine Tendenz beobach8 9
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Vgl. jüngst OLG Frankfurt/M., DB 2004, S. 177 f. Die aktuelle Fassung des Gesetzesentwurfs vom 14. 3. 2005 (BT-Drs. 15/5092) ist im Internet abzurufen unter http://dip.bundestag.de/btd/15/1505092.pdf. Art. 3 des Gesetzesentwurfs.
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ten, auch unabhängig von solchen Krisen, Unternehmensentscheidungen, insbesondere im Zusammenhang mit Vergütungsfragen, durch die Strafgerichte prüfen zu lassen.11 Im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung steht dabei das laufende Verfahren gegen Vorstände und Aufsichtsräte der Mannesmann AG im Zusammenhang mit der Übernahme durch Vodafone. Dieses ist aber bei weitem kein Einzelfall. So hat der aus Hauptversammlungen bekannte Würzburger Professor Wenger angekündigt, gegen die Wella AG wegen des Verdachts der Untreue im Zusammenhang mit dem Verkauf von Aktienoptionen im Vorfeld der Übernahme durch Procter&Gamble12 und gegen den Aufsichtsrat von DaimlerChrysler im Zusammenhang mit den angeblich verfrühten Vertragsverlängerungen des Vorstandvorsitzenden Strafanzeige zu erstatten.13 Ein Kleinaktionär der HIT International Trading AG hat Strafanzeige gegen deren Vorstände und Aufsichtsräte erhoben.14 Die Staatsanwaltschaft ermittelt u. a. wegen Untreue gegen ehemalige und amtierende Vorstände und Aufsichtsräte des insolventen Maschinen- und Energietechnikkonzerns Babcock Borsig und des in Konkurs gegangenen Bauunternehmens Holzmann.15 Bei den strafrechtlichen Ermittlungen gegen die WestLB geht es um den Verdacht der Untreue wegen eines verlustreichen Engagements der Bank bei Boxclever.16 Gegen den Gründer und ehemaligen Vorstand der Mobilcom AG Schmid ermittelt die Staatsanwaltschaft u. a. wegen Untreue im Zusammenhang mit einem Aktienoptionsprogramm zugunsten einer Firma Millenium, die seiner Ehefrau gehörte.17 Das Ermittlungsverfahren gegen den SAP-Mitgründer und Großaktionär Dietmar Hopp wegen Untreue hat die Staatsanwaltschaft Mannheim letztlich eingestellt.18 Vor dem Landgericht München wurde gegen den Vorstand der Kinowelt AG nunmehr u. a. wegen Untreue der Strafprozeß eröffnet.19 Der ehemalige Vorstandsvorsitzende der Südmilch AG wurde wegen Untreue angeklagt und nach einem Geständnis auch verurteilt, weil er offenbar wertloses Fachwissen in Höhe von 38 Mio. € eingekauft hatte.20 Es scheint, als ob die Entwicklung von Grundsätzen zu der Frage, wo der Handlungsspielraum für freie unternehmerische Entscheidungen von Organmitgliedern endet und ihre Haftung beginnt, nicht etwa durch die Zivilgerichte, sondern durch die Strafgerichte erfolgen wird. Ob dies eine glückliche Entwicklung ist, mag bezweifelt werden. Sie ist jedenfalls Anlaß für eine Bestandsaufnahme. 11
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Manager Magazin Heft 08/2003 vom 01. 08. 2003, Editorial – Manager am Pranger: „[Staatsanwälte] greifen sich längst nicht nur Manager, die bestechen oder betrügen, sondern mischen sich in Grundsatzfragen der Unternehmensführung ein […].“ www.manager-magazin.de vom 29. 02. 2004. F.A.Z. vom 26. 04. 2004. Süddeutsche Zeitung vom 23. 03. 2004. Die Welt vom 02. 04. 2004. Börsen-Zeitung vom 24. 12. 2003. Die Welt am Sonntag vom 26. 01. 2003. Börsen-Zeitung vom 24. 12. 2003, siehe auch unten zu Fn. 81. Handelsblatt vom 20. 04. 2004. Die Welt vom 31. 10. 2003.
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C. Unternehmerisches Ermessen im Gesellschaftsrecht – die Business Judgement Rule Im Gesellschaftsrecht findet seit einigen Jahren eine intensive, systematische Auseinandersetzung mit der Frage statt, welcher Haftungsfreiraum Vorstand und Aufsichtsrat zusteht, wenn diese unternehmerische Entscheidungen treffen.21 In der Rechtsprechung sticht bislang allein die Entscheidung des BGH in dem Fall ARAG/Garmenbeck22 heraus, auf die unten noch näher einzugehen sein wird.23 Allerdings sind hier noch viele Fragen offen, und auch der Versuch, den Haftungsfreiraum für unternehmerisches Ermessen gesetzlich zu fixieren, der nun in § 93 Abs. 1 S. 2 AktG-E unternommen wurde, dürfte wahrscheinlich eher der Ausgangspunkt für weitere Diskussionen als ein Schlußstrich zu dieser Frage sein.24 I. Ermessen des Vorstandes Die Frage nach dem unternehmerischen Handlungsspielraum der Vorstandsmitglieder beginnt in § 76 Abs. 1 AktG, der dem Vorstand die Leitung der Gesellschaft unter eigener Verantwortung zubilligt. 21
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Vgl. nur Stefan Mutter, Unternehmerische Entscheidungen und Haftung des Aufsichtsrats der Aktiengesellschaft, Köln 1994, S. 1 ff.; Markus Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung des Vorstands, München 2001, S. 1 ff.; Hartwin Bungert, Feindliche Übernahmeangebote und Verhaltenspflichten der Leitungsorgane, in: ZHR 1995, S. 261 ff.; Sebastian Barta, Buchbesprechung, in: AG 2002, S. 695 f.; Holger Fleischer, Unternehmensspenden und Leitungsermessen des Vorstands im Aktienrecht, in: AG 2001, S. 171 ff.; Hartwig Henze, Entscheidungen und Kompetenzen der Organe in der AG: Vorgaben der höchstrichterlichen Rechtsprechung, in: BB 2001, S. 53 ff.; Peter W. Heermann, Unternehmerisches Ermessen, Organhaftung und Beweislastverteilung, in: ZIP 1998, S. 761 ff.; Peter W. Heermann, Wie weit reicht die Pflicht des Aufsichtsrats zur Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen gegen Mitglieder des Vorstands?, in: AG 1998, S. 201 ff.; Peter Kindler, Unternehmerisches Ermessen und Pflichtenbindung, in: ZHR 1998, S. 101; Marcus Lutter, Haftung und Haftungsfreiräume des GmbH-Geschäftsführers, in: GmbHR 2000, S. 301 ff.; ders., Zum unternehmerischen Ermessen des Aufsichtsrats, in: ZIP 1995, S. 441; Johannes Semler, Entscheidungen und Ermessen im Aktienrecht, in: Mathias v. Habersack, Peter Hommelhoff, Uwe Hüffer, Karsten Schmidt (Hrsg.), Festschrift für Peter Ulmer, Berlin 2003, S. 627 ff.; Manuel R. Theisen, Buchbesprechung, in: AG 1996, S. 95; Axel Jäger, Grundsätze der Ermessensausübung für den Aufsichtsrat der Aktiengesellschaft und die Gesellschafterversammlung der GmbH am Beispiel der „ARAG“-Entscheidungen, in: WiB 1997, S. 10 ff.; Meinrad Dreher, Das Ermessen des Aufsichtsrats, in: ZHR 158 (1994) S. 614 ff. BGHZ 135, S. 244. C. II. 2. c) bb). Holger Fleischer, Die „Business Judgment Rule“: Vom Richterrecht zur Kodifizierung“, in: ZIP 2004, S. 685- 687, sieht daher die Kodifizierung angesichts des noch nicht abgeschlossenen Dogmatisierungsprozesses durchaus kritisch.
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Die unternehmerische Freiheit der Organmitglieder ist dabei zunächst Ausdruck der durch Art. 2, 12 und 14 GG abgesicherten privatwirtschaftlichen Unternehmensordnung. Bei der Befassung staatlicher Organe, und dazu gehören auch die Gerichte, ist also grundsätzlich Zurückhaltung geboten.25 Ein weiter unternehmerischer Ermessensspielraum ist aber auch Voraussetzung dafür, daß ein unternehmerisches Handeln überhaupt möglich ist.26 Die Erkenntnis, daß dem Vorstand durch zu strenge Haftungsregeln nicht „jeder Mut zur Tat“ genommen werden sollte, hatte bereits der historische Gesetzgeber.27 Die Unternehmenswirklichkeit ist häufig komplex, so daß in den meisten Fällen nicht nur eine Entscheidungsalternative des Vorstands angemessen erscheint. Das Vorstandsmitglied muß in solchen Situationen unternehmerisch handeln und eigenverantwortlich eine Entscheidung treffen, die ganz anders aussehen kann als die des Wettbewerbers in der gleichen Situation. Auch darf nicht verkannt werden, daß unternehmerische Entscheidungen häufig auf Instinkt und Erfahrung sowie einer Einschätzung künftiger Entwicklungen und der Reaktion des Marktes bzw. der Wettbewerber beruhen.28 Es ist nicht nur erlaubt, sondern je nach der Art des geführten Unternehmens sogar erforderlich, daß gewisse Risiken eingegangen werden. Dem Vorstand obliegt es, unternehmerische Chancen zu suchen und auch zu nutzen. Ein Vorstand, der aus Furcht vor Risiken „seine Hände in den Schoß“ legt, unterschreitet sein unternehmerisches Ermessen und wird seiner Leitungsaufgabe nicht gerecht.29 Bereits vor seiner ARAG/Garmenbeck-Entscheidung führte der BGH aus, daß die Sorge vor persönlicher Haftung den Unternehmensleiter auch zu einem übertrieben defensiven Verhalten veranlassen kann, das zum Schaden der Gesellschafter und Gläubiger der Gesellschaft dazu führt, daß das Unternehmen im schlimmsten Fall den Anschluß an die wirtschaftliche Entwicklung verpaßt.30 Unbestritten ist, daß Vorstände nicht für jede Fehlentwicklung des Unternehmens einzustehen haben.31 Es gehört zum unternehmerischen Handeln, daß sich Entscheidungen des Vorstands im Nachhinein als falsch herausstellen.
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Mutter, Unternehmerische Entscheidungen, S. 246 f. In diesem Sinne auch OLG Düsseldorf, BB 1996, S. 230, 232; Börsen-Zeitung vom 22. 01. 2004: „Wenn die MarktWirtschaft abgelöst wird durch eine Justiz-Wirtschaft, können wir alle nur verlieren.“ BGHZ 135, S. 244 (ARAG/Garmenbeck). Amtliche Begründung zu § 84 AktG 1937, zitiert nach Wulf Goette, Leitung, Aufsicht, Haftung – zur Rolle der Rechtsprechung bei der Sicherung einer modernen Unternehmensführung, in: Karlmann Geiß, Kay Nehm, Hans Erich Brandner, Horst Hagen (Hrsg.), 50 Jahre Bundesgerichtshof, Köln 2000, S. 123, 124. Vgl. auch die Regierungsbegründung zu § 93 Abs. 1 S. 2 AktG-E, S. 23. Vgl. zu dem Vorstehenden Hefermehl/Spindler in: Münchener Kommentar zum Aktienrecht, Bd. 3, § 93 Rdnr. 29; Semler, in: FS Ulmer, S. 627, S. 640; ders., Leitung und Überwachung der Aktiengesellschaft, 2. Aufl., Köln 1996, § 116 Rdnr. 694. BGHZ 134, S. 392, 398. Roderich C. Thümmel, Organhaftung nach dem Referentenentwurf des Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts (UMAG) – Neue Risiken für Manager?, in: DB 2004, S. 471.
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Niemand kann nur gewinnen. Das reflektiert sogar der Volksmund: „Wer nicht wagt, der nicht gewinnt“. – „No gain without pain“.32 II. Abgrenzung von gesetzlichen Pflichten Der grundsätzlich weite Entscheidungsfreiraum des Vorstands wird allerdings begrenzt durch den Handlungsspielraum, den das Aktiengesetz den Gesellschaftsorganen zuweist.33 1. Nicht vom unternehmerischen Ermessen erfaßt sind danach zunächst die den Organen zugewiesenen Treuepflichten, Informationspflichten sowie sonstigen allgemeinen Pflichten aufgrund von Gesetz und Satzung. Bei den durch Gesetz auferlegten Pflichten ist selbstverständlich nicht nur an gesellschaftsrechtliche Normen des Aktienrechts, sondern auch an Vorschriften des allgemeinen Zivilrechts, des öffentlichen Rechts, insbesondere des Steuer- und Umweltrechts, aber auch an spezielle Gesetze zu denken, die den Geschäftsgegenstand des Unternehmens regulieren, wie die Spezialgesetze für Banken und Versicherungsgesellschaften (KWG und VAG). Die Differenzierung zwischen einer fehlgeschlagenen unternehmerischen Entscheidung einerseits und der Verletzung sonstiger Pflichten (Treuepflichten, Informationspflichten und sonstigen allgemeinen Gesetzes- und Satzungsverstößen) andererseits, die der Gesetzgeber des UMAG ausweislich der Gesetzesbegründung vornehmen will,34 vermag hingegen nicht zu überzeugen. Auch im Rahmen einer (fehlgeschlagenen) unternehmerischen Entscheidung kann gegen das Gesetz verstoßen und können sonstige Pflichten verletzt werden. 2. Jenseits dieser von Gesetz und Satzung bestimmten Pflichten liegt der Bereich des unternehmerischen Ermessens. Aber auch hier ist der Vorstand nicht völlig frei: Sein Ermessenspielraum wird vielmehr beschränkt durch die Verpflichtung in § 93 Abs. 1 S. 1 AktG, bei der Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters anzuwenden. Der Bereich des freien unternehmerischen Ermessens endet also dort, wo die Sorgfaltsverpflichtung beginnt. Umgekehrt können die haftungsrechtlichen Folgen aus § 93 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 AktG insofern nicht eingreifen, als das Vorstandsmitglied von dem Handlungs- und Entscheidungsspielraum Gebrauch macht, der zur Erfüllung seiner Aufgaben im Sinne von § 76 Abs. 1 Satz 1 AktG erforderlich ist. Damit ist aber noch immer nichts für die entscheidende und in den vergangenen Jahren intensiv diskutierte Frage gewonnen, wo die Grenze zwischen haftungs32 33 34
Lutter, in: ZIP 1995, S. 441. Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung, S. 57. Vgl. Regierungsbegründung zu § 93 Abs. 1 S. 2 AktG-E, S. 21 f.
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freien und haftungsrelevanten Fehlentscheidungen des Vorstands verläuft und in welchem Umfang und anhand welchen Maßstabs unternehmerische Entscheidungen dabei einer gerichtlichen Prüfung unterzogen werden können. a) Auf den ersten Blick erschien es naheliegend, betriebswirtschaftliche Erkenntnisse auch zur Beurteilung der Entscheidungsfindung eines Organmitglieds heranzuziehen.35 Die Betriebswirtschaft verfügt über eine Vielzahl von Theorien zur Entscheidungsfindung. Allerdings kann keine dieser Theorien für sich einen allgemeinen Geltungsanspruch erheben, gegen jede der Theorien lassen sich Einwände erheben. Als Grundlage zur verbindlichen Bestimmung, wann die Entscheidung eines Organmitglieds dessen Sorgfaltspflichten verletzt, sind sie damit letztlich nicht geeignet.36 b) Mangels spezifischer gesellschaftsrechtlicher Anhaltspunkte lag es dann nahe, sich zur Bestimmung des Ermessensspielraums der Organmitglieder der Gesellschaft dem öffentlichen Recht zuzuwenden. Dort haben sich die Gerichte traditionell mit nichtjustitiablen Freiräumen der Verwaltung zu befassen, und zwar sowohl im Zusammenhang mit der Frage der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns (Verwaltungsaktes) als auch im Zusammenhang mit der Haftung des Beamten wegen einer Amtspflichtverletzung gemäß § 839 BGB, Art. 34 GG.37 Ebenso wie die Gesellschaftsorgane hat die Verwaltung in bestimmten Fällen Entscheidungsspielräume, d. h. sie kann, wenn ein bestimmter gesetzlicher Tatbestand verwirklicht ist, zwischen verschiedenen Verhaltensweisen wählen (Entschließungs- und/oder Auswahlermessen).38 Bei ihrer Entscheidung darf die Verwaltung nicht willkürlich verfahren, sondern muß die Grenzen ordnungsgemäßer Ermessensausübung (§§ 40 VwVfG, 114 35
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So etwa Thomas Raiser, in: Max Hachenburg (Begr.), Peter Ulmer, Peter Behrens (Hrsg.), Gesetz betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung, 6. Aufl., 2. Bd., Berlin u. a. 1997, § 52 Rdnr. 134; Hans-Joachim Mertens, in: Wolfgang Zöllner, Carsten Peter Claussen (Hrsg.), 2. Aufl., 2. Bd., Köln 1988, § 93 Rdnr. 45: „Die Vorstandsmitglieder haben das Unternehmen unter Berücksichtigung gesicherter und praktisch bewährter betriebswirtschaftlicher Erkenntnisse […] zu leiten“. Mit diesem Ergebnis: Mutter, Unternehmerische Entscheidungen, S. 204 ff.; zustimmend Semler, in: FS Ulmer, S. 627, Fn. 2. Auf verwaltungsrechtliche Grundsätze hat auch das OLG Düsseldorf, BB 1996, S. 230, 232 in seiner vorinstanzlichen Entscheidung des Falles ARAG/Garmenbeck abgestellt, die nachfolgend durch das Urteil des BGH, auf das unten (C. II. 2. c) cc)) näher eingegangen wird, aufgehoben wurde. Im Schrifttum sind die Parallelen zum Verwaltungsrecht weitestgehend auf Ablehnung gestoßen: vgl. nur Jäger, in: WiB 1997, S. 10, 13; Mutter, Unternehmerische Entscheidungen, S. 253 f. Zu den Anforderungen an die Ermessensentscheidung im Rahmen der Haftung bei Amtspflichtverletzungen siehe: Hans-Jürgen Papier, in: Kurt Rebmann, Franz Jürgen Säcker, Roland Rixecker (Hrsg.), Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, 4. Aufl., Bd. 5, München 2004, § 839 Rdnr. 198 m.w.N. Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 9. Auflage, München 1994, § 7 Rdnr. 7.
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VwGO) beachten. Sie handelt danach rechtswidrig, wenn sie die Grenzen des Ermessens überschreitet („Ermessensüberschreitung“) oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch macht („Ermessensfehlgebrauch“ oder „Ermessensmißbrauch“). Eine Ermessensüberschreitung liegt vor, wenn die Behörde eine nicht mehr im Rahmen ihres Ermessens liegende Rechtsfolge anordnet. Ermessensmißbrauch liegt vor, wenn die Behörde sich nicht ausschließlich vom Zweck der Ermessensnorm leiten läßt, insbesondere sachwidrige und verfassungswidrige Gesichtspunkte in ihre Entscheidung einfließen lässt oder entscheidungsmaßgebliche Punkte außer acht lässt. Im Gesetz nicht genannt ist ein dritter Ermessensfehler: der „Ermessensnichtgebrauch“, der vorliegt, wenn die Verwaltung ein ihr zustehendes Ermessen nicht ausübt, etwa aus Nachlässigkeit oder weil sie irrtümlich annimmt, sie sei zum Handeln nicht verpflichtet. Für die Ermessensausübung von Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern einer Gesellschaft läßt sich aus dieser Klassifizierung des öffentlichen Rechts jedoch wenig gewinnen.39 Eine Ermessensüberschreitung der Gesellschaftsorgane kommt eigentlich nur in Betracht, wenn diese Entscheidungen treffen, die nicht mehr dem Unternehmensinteresse dienen. Hinsichtlich des Ermessensnichtgebrauchs ist allenfalls denkbar, daß der Vorstand völlig untätig bleibt oder sich der Aufsichtsrat die Ansichten und Vorschläge des Vorstands unreflektiert zu eigen macht. Aufschlußreicher ist allenfalls der Ermessensfehlgebrauch. Sachfremde Erwägungen sind, übersetzt in das Gesellschaftsrecht, sämtliche Erwägungen, die sich nicht am Unternehmensinteresse orientieren, insbesondere Aspekte des Eigeninteresses. c) Die größte Resonanz bei der Bestimmung des unternehmerischen Ermessensspielraums hat in der gesellschaftsrechtlichen Literatur die sog. Business Judgement Rule des US-amerikanischen Gesellschaftsrechts gefunden, die mit der Entscheidung im Fall ARAG/Garmenbeck im Jahre 1997 die Anerkennung des BGH gefunden hat und die nun nach dem Willen des Gesetzgebers mit § 93 Abs. 1 S. 2 AktG-E auch gesetzlich festgeschrieben werden soll. aa) Die Business Judgement Rule ist ursprünglich ein gewohnheitsrechtliches Prinzip des US-amerikanischen Gesellschaftsrechts.40 Sie läßt sich dort bis in das frühe 19. Jahrhundert zurückverfolgen und hat seit Mitte der 70er Jahre erhebliche Bedeutung vor allem im Bereich von Unternehmensübernahmen und Verschmelzungen gewonnen.41 Da es kein Bundesgesellschaftsrecht in den USA gibt, wird die Business Judgement Rule als rein richterrechtliche Figur in den einzelnen Bundesstaaten eigenständig entwickelt und in Nuancen auch unterschiedlich gehandhabt.42 39 40
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Mutter, Unternehmerische Entscheidungen, S. 252. Axel v. Werder, Christa Feld, Sorgfaltsanforderungen der US-amerikanischen Rechtsprechung an das Top Management, in: RIW 1996, S. 481, 482. Friedrich Trockels, „Business Judgement Rule“ und „Corporate Take-overs“, in: AG 1990, S. 139, 140. Mutter, Unternehmerische Entscheidungen, S. 209.
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Allgemein anerkannt ist jedoch, daß die Business Judgement Rule, die im wesentlichen eine Beweisregel darstellt43, einen haftungsfreien Handlungsspielraum schaffen soll, innerhalb dessen auch risikobehaftete Entscheidungen ohne die Gefahr von Regreßansprüchen getroffen werden können. Sie besagt, daß die „unternehmerische Entscheidung“ („business judgement“) eines Managers der gerichtlichen Prüfung entzogen ist bzw. dieser nicht haftet, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind: (i) Der Manager hat kein eigenes relevantes Interesse an der unternehmerischen Entscheidung („disinterested judgement“), (ii) er hat sich zur Vorbereitung einer unternehmerischen Entscheidung hinreichend informiert („informed judgement“) und (iii) er hat nachvollziehbar nach seiner Überzeugung im besten Interesse des Unternehmens („rational belief and good faith“) gehandelt.44
Eine unternehmerische Entscheidung kann hierbei auch in einer Untätigkeit liegen, sofern nur der Manager sich für die Untätigkeit bewußt entschieden hat; nicht mehr nachvollziehbar ist eine unternehmerische Entscheidung beispielsweise, wenn diese zur Verschwendung von Gesellschaftsmitteln führt.45 Die Business Judgement Rule beinhaltet die Vermutung, daß ein sorgfältiges, pflichtgemäßes unternehmerisches Handeln bzw. im einzelnen die vorgenannten Voraussetzungen vorliegen; eine inhaltliche Prüfung der unternehmerischen Entscheidung durch die Gerichte findet nicht statt. Insbesondere sollen Richter, die für gewöhnlich in Fragen der Unternehmensführung unbedarft und unerfahren sind, nicht „mit der Gunst der Rückschau ihr laienhaftes Urteil an die Stelle der unter Wettbewerbs- und Zeitdruck agierenden Geschäftsführung setzen“46. Kann ein Anspruchsteller jedoch nachweisen, daß es an einer der (gerichtlich überprüfbaren) Voraussetzungen der Business Judgement Rule fehlt, trägt der betroffene Manager wiederum die Beweislast für eine ordnungsgemäße unternehmerische Entscheidung, die auch inhaltlich nunmehr durch die Gerichte überprüft werden kann.47 43 44
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Mutter, Unternehmerische Entscheidungen, S. 215. Hefermehl/Spindler in: Münchener Kommentar zum Aktiengesetz, § 93 Rdnr. 33 m.w.N.; Michael Kort, in: Wilhelm Gadow, Eduard Heinichen (Begr.), Großkommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl., 19. Lieferung, §§ 76-83, Berlin u. a. 2003, § 76 Rdnr. 51 m.w.N.; Klaus-J. Hopt in: Gadow/Heinichen, Großkommentar zum Aktiengesetz, 4. Aufl., 11. Lieferung, §§ 92-94, Berlin u. a. 1999, § 93 Rdnr. 83 m.w.N.; Claus Luttermann, Unternehmensfinanzierung, Geschäftsleiterpflicht und Haftkapital bei Kapitalgesellschaften, in: BB 2001, S. 2433, 2436 m.w.N.; Lutter, in: GmbHR 2000, S. 301, 308. Mutter, Unternehmerische Entscheidungen, S. 211; Trockels, in: AG 1990, S. 139, 141 f. Walter G. Paefgen, Eine Morphologie des US-amerikanischen Rechts der Aktiengesellschaft – Teil II, in: AG 1992, S. 169, 170. Trockels, in: AG 1990, S. 139, 141 f.; Mutter, Unternehmerische Entscheidungen, S. 215 f.; Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung, S. 37; Heermann, in: AG 1998, S. 201, 205; Lutter, in: GmbHR 2000, S. 301, 308; v. Werder/Feld, in: RIW
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Allerdings soll nicht verschwiegen werden, daß in den USA, insbesondere im Staat Delaware, in dem wegen seines flexiblen Gesellschaftsrechts die meisten Gründungen von Kapitalgesellschaften zu verzeichnen sind, gerichtliche Tendenzen zu beobachten sind, Managemententscheidungen losgelöst von rein formellen Kriterien auch inhaltlich zu betrachten und die Beweislast für die Manager zu verschärfen.48 bb) Durch das ARAG/Garmenbeck-Urteil des BGH aus dem Jahre 199749 erhielt die Business Judgement Rule für Deutschland ihren „höchstrichterlichen Ritterschlag”.50 Der Entscheidung lag der folgende Sachverhalt zugrunde: Der damalige Vorstandsvorsitzende der ARAG AG nahm Geschäftsbeziehungen zu einer in London gegründeten, dort jedoch nur eine Briefkastenadresse unterhaltenden Garmenbeck Ltd. auf, deren geschäftsführender Direktor ein mehrfach vorbestrafter Elektroinstallateur war, der im wesentlichen über diese Gesellschaft vor allem von der Schweiz aus Anlagen- und Anlagenvermittlungsgeschäfte abwickelte. Die Gesellschaft nahm einerseits Kapital zu erheblich über dem Kapitalmarktniveau liegenden Zinsen entgegen und gewährte andererseits unterhalb des marktüblichen Zinsniveaus liegende Billigkredite. Die Verluste aus dieser Geschäftstätigkeit konnten nur für eine begrenzte Zeit durch Ausweitung des Geschäftsumfangs nach Art eines „Schneeballsystems“ aufgefangen werden und führten schließlich zum Zusammenbruch der Gesellschaft. Der ARAG war aus dieser Geschäftsverbindung ein Schaden in Höhe von mehr als DM 80 Mio. entstanden. Der BGH hatte darüber zu entscheiden, ob der Aufsichtsrat der ARAG AG zur Prüfung und Geltendmachung von Schadenersatzansprüchen gegenüber dem Vorstandsvorsitzenden verpflichtet war. In diesem Zusammenhang führte der BGH aus, daß der Aufsichtsrat im Rahmen dieser Prüfung zu berücksichtigen habe, „daß dem Vorstand bei der Leitung der Geschäfte des Gesellschaftsunternehmens ein weiter Handlungsspielraum zugebilligt werden muß, ohne den eine unternehmerische Tätigkeit schlechterdings nicht denkbar ist. Dazu gehört neben dem bewussten Eingehen geschäftlicher Risiken grundsätzlich auch die Gefahr von Fehlbeurteilungen und Fehleinschätzungen, der jeder Unternehmensleiter, mag er auch noch so verantwortungsbewußt handeln, ausgesetzt ist.“
Nach der Auffassung des BGH kommt eine Schadenersatzpflicht erst in Betracht, wenn die Grenzen, in denen sich ein von Verantwortungsbewußtsein getragenes, (i) ausschließlich am Unternehmenswohl orientiertes, (ii) auf sorgfältiger Ermitt-
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1996, S. 481, 482 (differenzierend zum Umfang der inhaltlichen Prüfung der unternehmerischen Entscheidung nach Entkräftung der Vermutung und Fallbeispiele aus der amerikanischen Rechtsprechung). Meredith M. Brown, William D. Regner, Jesko T. Kornemann, Geschäftsführerhaftung in den USA – die Business Judgement Rule im Umbruch, abzurufen unter http://www. der-syndikus.de/briefings/us/us_010.htm. BGHZ 135, S. 244 ff. Fleischer, in: ZIP 2004, S. 685, 686 m.w.N.
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lung der Entscheidungsgrundlagen beruhendes unternehmerisches Handeln bewegen muß, (iii) deutlich überschritten sind, die Bereitschaft, unternehmerische Risiken einzugehen, in unverantwortlicher Weise überspannt worden ist oder (iv) das Verhalten des Vorstandes aus anderen Gründen als pflichtwidrig gelten muß.51 Im Ergebnis verwies der BGH die Sache zur erneuten Prüfung und Entscheidung, ob ein Schadenseratzanspruch gegen den Vorstandsvorsitzenden bestand und ob Gesichtspunkte vorliegen, die dem Aufsichtsrat eine Ermessensentscheidung darüber eröffnen, ausnahmsweise von der Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen abzusehen,52 an die Vorinstanz zurück.53 Festzuhalten bleibt, daß der BGH dem Vorstand einer AG ein weites Handlungsermessen einräumt.54 Der Inhalt einer unternehmerischen Entscheidung ist gerichtlich überprüfbar, wirkt jedoch erst dann haftungsbegründend, wenn die Grenzen „deutlich überschritten“ sind oder die Risikobereitschaft in „unverantwortlicher Weise“ überspannt worden ist. Hier liegt bereits ein gewichtiger Unterschied zwischen der Rechtsprechung des BGH und der US-amerikanischen Business Judgement Rule, bei der eine inhaltliche Prüfung der unternehmerischen Entscheidung überhaupt erst nach Zerstörung der Vermutungsregel möglich ist. Ein weiterer wesentlicher Unterschied besteht in der Beweislastverteilung. Während die US-amerikanische Business Judgement Rule grundsätzlich eine Vermutung zu Gunsten des Managers für eine rechtmäßige unternehmerische Entscheidung aufstellt, muß nach § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG vielmehr das Vorstandsmitglied ein sorgfaltsgemäßes Handeln beweisen.55 cc) Die Erwägungen aus dem ARAG/Garmenbeck-Urteil, aber auch zur amerikanischen Business Judgement Rule, sollen nunmehr auch im Rahmen des Entwurfs des UMAG ihren gesetzlichen Niederschlag in § 93 Abs. 1 AktG finden.56 § 93 Abs. 1 S. 2 AktG-E setzt dabei zunächst eine Handlung auf Grund einer unternehmerischen Entscheidung voraus, wodurch sichergestellt werden soll, daß die Regelung bei Verstößen gegen sich aus Gesetz, Satzung, Geschäftsordnung oder Anstellungsvertrag ergebende Pflichten nicht eingreift.57 „Handeln“ im Sinne dieser Vorschrift ist weit zu verstehen, es umfaßt alle Umsetzungen unternehmeri-
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BGHZ 135, S. 244, 253 f. Näher zum Ermessensspielraum des Aufsichtsrats bei der Wahrnehmung seiner Kontroll- und Überwachungsaufgaben siehe unten C. III. BGHZ 135, S. 244, 256 f. Henze, Prüfungs- und Kontrollaufgaben des Aufsichtsrates in der Aktiengesellschaft – Die Entscheidungspraxis des Bundesgerichtshofs, in: NJW 1998, S. 3309-3310 f.; Lutter, in: GmbHR 2000, S. 301, 308; Kindler, in: ZHR 1998, S. 101, 107. Siehe auch Lutter, in: GmbHR 2000, S. 301, 308 m.w.N. zur Beweislastverteilung. So ausdrücklich die Regierungsbegründung zu § 93 Abs. 1 S. 2 AktG-E, S. 17. Kritisch angesichts des noch nicht abgeschlossenen Dogmatisierungsprozesses, hierzu: Fleischer, in: ZIP 2004, S. 685, 687 für grundsätzlich begrüßenswert hält Thümmel, in: DB 2004, S. 471, 472 die Kodifizierung. Kritisch dazu oben unter C. II. 1.
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scher Entscheidungen, egal, ob dies durch Rechtsgeschäft oder tatsächliche Handlung bzw. Unterlassung geschieht.58 Das Vorstandsmitglied muß darüber hinaus vernünftigerweise angenommen haben, zum Wohle der Gesellschaft zu handeln.59 Die Annahme ist ein subjektives Tatbestandsmerkmal, das durch das „annehmen Dürfen“ begrenzt und objektiviert wird. Damit sollen nach der Gesetzesbegründung Extremfälle von der Business Judgement Rule ausgeschlossen werden, in denen das mit der unternehmerischen Entscheidung verbundene Risiko in völlig unverantwortlicher Weise falsch beurteilt wurde. 60 Ein Handeln „zum Wohle der Gesellschaft“ liegt nach der Gesetzesbegründung vor, wenn es der langfristigen Ertragsstärkung und Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens und seiner Produkte oder Dienstleistungen dient. Entscheidend ist auch hier das vom Vorstand zum Zeitpunkt der Vornahme der Handlung in gutem Glauben angestrebte Gesellschaftswohl. Das Handeln muß dabei unbeeinflußt von Interessenkonflikten, Fremdeinflüssen und ohne unmittelbaren Eigennutz sein. Im Gesetzesentwurf nicht ausdrücklich erwähnt ist, daß das Handeln frei von sachfremden Einflüssen und Sonderinteressen sein muß, da diese Voraussetzung bereits in dem Handeln zum Wohle der Gesellschaft enthalten ist.61 Schließlich muß das Vorstandsmitglied für die Anwendbarkeit des § 93 Abs. 1 S. 2 AktG-E vernünftigerweise angenommen haben, auf der Grundlage angemessener Information zu handeln. Dies soll reflektieren, daß Entscheidungen häufig auch auf Instinkt, Erfahrung, Phantasie und Gespür für künftige Entwicklungen beruhen, die sich nicht vollständig durch objektive Informationen ersetzen lassen. Welche Intensität der Informationsbeschaffung i.S.d. § 93 Abs. 1 S. 2 AktG-E „angemessen“ ist, ist anhand des Zeitvorlaufs, des Gewichts und der Art der zu treffenden Entscheidung und unter Berücksichtigung anerkannter betriebswirtschaftlicher Verhaltensmaßstäbe vom einzelnen Vorstandsmitglied ohne groben Pflichtenverstoß selbständig zu entscheiden. Ihre Grenze findet diese freie Entscheidung dort, wo der Vorstand unbesonnen und leichtsinnig auf Kosten der Kapitalgeber und Arbeitnehmer handelt. Im Ergebnis kommt damit dem Vorstand ein großer unternehmerischer Freiraum zu, der aufgrund der subjektiven Komponenten noch über die ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH hinausgeht.62 Der Entwurf sieht auch anders als 58 59
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Vgl. Regierungsbegründung zu § 93 Abs. 1 S. 2 AktG-E, S. 22. Das Kriterium der „groben Fahrlässigkeit“, das ursprünglich in dem Referentenentwurf vorgesehen war, wurde im Regierungsentwurf nicht übernommen, da hiergegen geltend gemacht worden war, daß es eine Vermengung von Pflichten- und Sorgfaltsmaßstab bedeutet hätte (vgl. Regierungsbegründung zu § 93 Abs. 1 S. 2 AktG-E, S. 22 f.). Vgl. Regierungsbegründung zu § 93 Abs. 1 S. 2 AktG-E, S. 22; kritisch hierzu: BörsenZeitung vom 11. 02. 2004; Thümmel, in: DB 2004, S. 471, 472. Vgl. Regierungsbegründung zu § 93 Abs. 1 S. 2 AktG-E, S. 23. Ulrich Seibert, Carsten Schütz, Der Referentenentwurf eines Gesetzes zur Unternehmensintegrität und Modernisierung des Anfechtungsrechts – UMAG, in: ZIP 2004, S. 252, 254; ablehnend: Thümmel, in: DB 2004, S. 471, 471. Die grobe Fahrlässigkeit als Verschuldensmaßstab für die Voraussetzungen der unternehmerischen Entscheidung,
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noch die ARAG/Garmenbeck-Entscheidung des BGH keine objektive inhaltliche Prüfung der Entscheidung vor.63. Abweichend vom US-amerikanischen Vorbild begründet Abs. 1 Satz 2 AktG-E aber keine Beweislastumkehr gegenüber dem bisherigen Recht (§ 93 Abs. 1 Satz 2 AktG). 64 Es bleibt abzuwarten, ob der Regierungsentwurf in der vorgesehen Fassung letztlich auch Gesetz wird. Insgesamt läßt sich aber festhalten, daß eine bloße Kontrolle der Formalien der Entscheidungsfindung, wie sie der Business Judgement Rule in ihrer ursprünglichen US-amerikanischen Intention entspricht und wie sie sich wohl auch im UMAG – abgesehen von der indirekten Kontrolle durch die ex post erfolgende Nachprüfung der Sorgfalt bei der Vorbereitung der unternehmerischen Entscheidung – widerspiegelt, wohl nicht ausreicht. Eine gewisse inhaltliche Kontrolle, wie sie sich aus dem ARAG/Garmenbeck-Urteil ableiten lässt und wie sie auch neuen Tendenzen in den USA entspricht, wird wohl angezeigt sein. Hier ist aber äußerste Zurückhaltung geboten und nur Extremfälle dürfen erfaßt werden. 65 III. Ermessen des Aufsichtsrats In der obigen Darstellung des Handlungsfreiraums ging es ausschließlich um Entscheidungen des Vorstands, der gemäß § 76 AktG zur Leitung der Gesellschaft berufen ist. Offen und in höchstem Maße umstritten bleibt die Frage, ob die Grundsätze des freien Ermessensspielraums auch für das zweite Organ der Aktiengesellschaft, den Aufsichtsrat gelten. Da ein Ermessen grundsätzlich nur im
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die in dem Referentenentwurf noch enthalten war, ist in dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung nicht übernommen worden. Positiv hierzu Thümmel, in: DB 2004, S. 471, 472. Dies kritisiert der Bundesverband der deutschen Industrie in seiner Stellungnahme zum Referentenentwurf vom 2. April 2004 und fordert, in § 93 Abs. 1 AktG-E einen Satz zwei mit folgendem Wortlaut aufzunehmen: „Absatz 2 Satz 2 findet in den Fällen des Satzes 1 keine Anwendung.“ Kritisch zum UMAG und zum AktG-E äußert sich Rainer Funke, der frühere parlamentarische Staatssekretär im Bundesjustizministerium, wie folgt: „Mit dem UMAG hat uns die Regierung eine Praline mit Senffüllung vorgesetzt. Mit der Einführung der „Business Judgement Rule“ zeigt der Gesetzgeber zwar, dass er dem Management eines Unternehmens bei unternehmerischen Entscheidungen den notwendigen Handlungsspielraum und Haftungsfreiraum zugestehen will. Durch die konkrete Formulierung der Vorschrift benachteiligt die Bundesregierung deutsche Managements im Gegensatz zu zum Beispiel den amerikanischen Konkurrenten. Der Entwurf legt den Geschäftsleitern quasi die Beweislast für die Richtigkeit ihrer Entscheidung auf, während in den USA die klagenden Gesellschafter beweisen müssen, dass die Managemententscheidung nicht richtig war. Durch diese Beweislastregelung entwertet die Regierung die „Business Judgement Rule“ als geplanten Schutz des Managements und als Ausgleich für die ebenfalls in dem Entwurf vorgesehene Ausweitung des Anfechtungsrechts der Aktionäre. Das notwendige und traditionelle Gleichgewicht in einem Unternehmen wird so zerstört.“ (Plenarprotokoll 15/167 vom 18. 03. 2005, S. 15684).
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Bereich unternehmerischer Entscheidungen in Betracht kommt, kreist die Diskussion letztlich um die Frage, ob der Aufsichtsrat unternehmerische Entscheidungen trifft. Unter einer unternehmerischen Entscheidung wird teilweise – unter Rückgriff auf betriebswirtschaftliche Begrifflichkeiten – eine „bewußte Auswahl einer unternehmerischen Handlungsmöglichkeit von besonderer Tragweite aus mehreren Handlungsalternativen“66, teilweise eine „zukunftsbezogene und durch Prognosen und Einschätzungen geprägte Entscheidung"67, teilweise eine Entscheidung „bei der Festlegung der Unternehmensstrategie“68 verstanden.69 Da der Vorstand im Rahmen der Ausübung seiner Leitung im Zweifel stets unternehmerisch tätig wird, ergibt sich die Erfüllung dieser Voraussetzungen beim Vorstand von selbst.70 Für den Aufsichtrat ist Ausgangspunkt § 111 Abs. 1 AktG, wonach der Aufsichtsrat den Vorstand zu überwachen hat, und §111 Abs. 3 Satz 1 AktG, wonach der Aufsichtsrat nicht selbst zum geschäftsführenden Organ werden bzw. auch nur teilweise unmittelbar eigenständig Geschäftsführungsaufgaben wahrnehmen darf. Auf der anderen Seite stehen dem Aufsichtsrat aber durchaus originäre oder vom Vorstandshandeln unabhängige, jedenfalls nicht zum engeren Bereich der Geschäftsführung gehörende Mitwirkungsrechte zu. Ein unternehmerisches Ermessen kommt in diesen Bereichen sehr wohl in Betracht. Das gilt für die Berufung und Abberufung von Vorstandsmitgliedern, die Gestaltung der Anstellungsverträge und Sondervergütungen für Vorstände, für die Vertragsabschlüsse mit den Abschlußprüfern, die Entscheidung über die Einstellung eines Teils des Jahresüberschusses in die Gewinnrücklage, aber auch Entscheidungen in Ausübung von Ermächtigungen bei genehmigtem Kapital und bei Entscheidungsvorschlägen an die Hauptversammlung, insbesondere solchen, die allein dem Aufsichtsrat zustehen (§ 124 Abs. 3 Satz 1 AktG). Auch bei der Billigung von Jahresabschluß und Konzernabschluß und bei der Aufdeckung von Interessenkonflikten und deren Behandlung ist unternehmerisches Ermessen anzuwenden. Für die Überwachungstätigkeit und Kontrollentscheidungen, wie etwa die Prüfung und Durchsetzung von Ersatzansprüchen der Gesellschaft durch den Aufsichtsrat, gehen der BGH in seiner ARAG/Garmenbeck-Entscheidung und die wohl herrschende Meinung hingegen davon aus, daß dem Aufsichtsrat ein unternehmerisches Ermessen nicht zusteht.71 66
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Mutter, Unternehmerische Entscheidungen, S. 7 m.w.N. zum betriebswirtschaftlichen Schrifttum. Thümmel, in: DB 2004, S. 471, 472. Hanno Merkt, Die monistische Unternehmensverfassung für die Europäische Aktiengesellschaft aus deutscher Sicht, in: ZGR 2003, S. 650, 671. Weitere Definition auch bei Lutter, in: GmbHR 2000, S. 301, 306 f. Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung, S. 74. In diesem Sinne wurde jedenfalls das ARAG/Garmenbeck-Urteil von der wohl h. M. interpretiert: Heermann, in: AG 1998, S. 201, 203, 206 f.; Kindler, in: ZHR 1998, S. 101, 109 f., 113; Norbert Horn, Die Haftung des Vorstands der AG nach § 93 AktG und die Pflichten des Aufsichtsrats, in: ZIP 1995, S. 1129, 1137 ff.; Merkt, in: ZGR 2003,
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Diese These ist in Frage zu stellen. Zwar kann der Aufsichtsrat eine nicht ordnungsgemäße Entscheidung des Vorstands nicht durch eine eigene Entscheidung ersetzen; er kann aber eine noch nicht getroffene Entscheidung seiner Zustimmungspflicht unterwerfen und in Fällen, in denen dies ohne größeren zusätzlichen Schaden möglich ist, vom Vorstand – wenn auch ohne Zwangsmittel zur Durchsetzung im Falle der Weigerung – die Rücknahme einer Entscheidung verlangen. Auch angesichts des Leitsatzes und des Inhaltes der ARAG/GarmenbeckEntscheidung erscheint es fraglich, ob die These, daß der Aufsichtsrat bei der Feststellung eines gesetzeswidrigen Verhaltens des Vorstands im Hinblick auf ein Einschreiten kein Ermessen habe72, zutreffend ist.73 Richtig dürfte es vielmehr sein, in Übereinstimmung mit der Vorinstanz74von einer Ermessensentscheidung zu sprechen75, die dann aber (nahezu) auf Null reduziert ist. Bei der Anwendung der Business Judgement Rule auf Entscheidungen des Aufsichtsrats – etwa bei der Zustimmung zu einer Handlung des Vorstandes, bei der eine spätere Überprüfung ergibt, daß die Entlastung aufgrund der Business Judgement Rule nicht eintreten kann – ist schließlich zu beachten, daß der Aufsichtsrat bei der Entscheidung über Vorschläge des Vorstandes und der Risikoüberprüfung keine Möglichkeit zu einer unabhängigen Informationsbeschaffung hat und daß daher weitgehend die Plausibilität und Lückenfreiheit der Information des Vorstandes an den Aufsichtsrat die Grundlage seiner kritischen Entscheidung bilden muß. Das gilt umso mehr in Fällen, in denen Täuschungshandlungen des Vorstandes oder durch Plausibilitätsüberlegungen nicht festzustellende Fehlinformationen des Vorstandes vorliegen.76 Bei der Prüfung der Beachtung der Business Judgement Rule durch den Aufsichtsrat können daher die Anforderungen an den Aufsichtsrat niemals mit denen an den Vorstand identisch sein.77
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S. 650, 671 f.; nach a. A. soll aber auch die Entscheidung über die Verfolgung von Schadenersatzansprüchen gegen den Vorstand eine unternehmerische sein, das Ermessen des Aufsichtsrats aber unter verschiedenen Gesichtspunkten begrenzt sein: Roth, Unternehmerisches Ermessen und Haftung, S. 121 f.; Semler, in: FS Ulmer, S. 627, 629 f.; Lutter, in: ZIP 1995, S. 441, 442; für einen weiten Ermessensspielraum Dreher, in: ZHR 158 (1994), S. 614, 637 ff. Goette, in: FS 50 Jahre BGH, S. 123, 128 f.; Semler, in: FS Ulmer, S. 627, 629 f.; Karlheinz Boujong, Rechtliche Mindestanforderungen an eine ordnungsgemäße Vorstandskontrolle und -beratung, in: AG 1995, S. 203, 205 f. BGHZ 135, S. 244 in Leitsatz d), der wie folgt lautet: „Stehen der AG nach dem Ergebnis dieser Prüfung durchsetzbare Schadenersatzansprüche zu, hat der Aufsichtsrat diese Ansprüche grundsätzlich zu verfolgen. Davon darf er nur dann ausnahmsweise absehen, wenn gewichtige Gründe des Gesellschaftsrechts dagegen sprechen und diese Umstände die Gründe, die für eine Rechtsverfolgung sprechen, überwiegen oder ihnen zumindest gleichwertig sind.“ OLG Düsseldorf, BB 1996, S. 230, 233. So auch Dreher, in: ZHR 158 (1994), S. 614, 645. Siehe Dieter Feddersen, in: Peter Hommelhoff, Klaus J. Hopt, Axel v. Werder (Hrsg.), Handbuch Corporate Governance, Stuttgart 2003, S. 441, 470. Siehe Mutter, Unternehmerische Entscheidungen, S. 264.
Business Judgement Rule und Anwendung des § 266 StGB
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D. Die Business Judgement Rule in Anwendung des § 266 StGB I. Die Ermittlungspraxis der Strafverfolgungsbehörden in Fällen von vermuteten unternehmerischen Fehlentscheidungen 1. Wenn auch im Gesellschaftsrecht Entwicklungen deutlich werden, die zu einer verstärkten persönlichen Inanspruchnahme von Mitgliedern der Leitungsorgane führen können und werden, so wird doch aus den vorstehenden Ausführungen78 mehr als deutlich, daß die angekündigten gesetzgeberischen Maßnahmen die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes und auch nahezu einhellig die gesamte gesellschaftsrechtliche Lehre von der grundsätzlichen Entscheidungsfreiheit des Vorstandes und des Aufsichtsrats ausgehen, soweit nicht die Grenzen der Business Judgement Rule überschritten sind. Mit dieser Situation, so scheint es, müßten alle Beteiligten leben können. 2. Aus dem Blätterwald der Tages- und Magazinpresse ergibt sich ein völlig anderes Bild. Schon oben79 wurde unter Aufzählung von Beispielen erwähnt, daß Vorwürfe gegen Führungskräfte wegen Untreue (§ 266 StGB) an der Tagesordnung sind. Das nicht gerade managerhörige Manager Magazin beschreibt diesen Zustand in einem Editorial im August 2003 wie folgt80: „Wie steht es um die Gesetzestreue unserer Wirtschaftselite? Wenn die Anzahl der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen Manager ein Indikator sein soll, kann es nur eine Antwort geben: schlimm. Die Liste der Beschuldigten liest sich wie das ‚Who’s Who’ der Deutschland AG. In der Öffentlichkeit muß der Eindruck entstehen, die Chefetagen deutscher Konzerne seien von Kriminellen unterwandert, kleine und größere Sauereien gehörten wie selbstverständlich zum Repertoire unserer Wirtschaftsführer. Daß die Justiz unnachsichtig gegen Wirtschaftskriminalität vorgehen muß, ist klar. Bei einigen der laufenden Ermittlungen drängt sich aber der Verdacht auf, daß weltfremde Staatsanwälte mit den Mitteln des Strafrechts die Trennlinie zwischen unternehmerischer Handlungsfreiheit und Kriminalität verschieben wollen. Sie greifen sich längst nicht nur Manager, die bestechen oder betrügen, sondern mischen sich in Grundsatzfragen der Unternehmensführung ein – in einer Marktwirtschaft eigentlich Sache von Aufsichtsrat und Aktionären. Und sie nehmen in Kauf, daß ein ganzer Berufsstand am Pranger steht. Mit fatalen Folgen für den Wirtschaftsstandort Deutschland.“
78 79 80
Siehe oben B III. Siehe oben B III. Manager Magazin Heft 08/2003, S. 83 ff.: Kalte Wut – Aggressiv verfolgt die Justiz Deutschlands Wirtschaftselite.
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Weiter das Managermagazin: „Besonders heikel wird es, wenn Staatsanwälte mit dem so genannten UntreueParagraphen hantieren. Der behandelt Verfehlungen im Umgang mit dem fremden Vermögen und ist in etwa so konturenscharf wie Babybrei.“81 Unbescholtene Unternehmerpersönlichkeiten wie der SAP-Gründer Dietmar Hopp, ein Mann, der ein unternehmerisches Vorbild für die nachfolgende Generation sein sollte, werden mit Ermittlungsverfahren wegen § 266 StGB überzogen, die später kleinlaut eingestellt werden müssen.82 Ein verfolgter Manager fragt den ermittelnden Staatsanwalt, warum der ihn während der Ermittlungen nicht mal angerufen habe; dann hätte er sich so manchen Irrtum ersparen können. Die Antwort: „Einen Drogendealer rufe ich ja auch nicht an, wenn ich gegen ihn vorgehe“.
3. Selbstverständlich haben Führungskräfte wie alle Bürger das Gesetz zu beachten und sind deshalb von Strafverfolgungsbehörden genau so zu behandeln wie andere Verdächtige. In vielen Fällen wird in Wirtschaftsstrafsachen von den Behörden behutsam und mit Augenmaß vorgegangen, was sicher auch durch die inzwischen erreichte hohe Qualität der Ermittler in den Schwerpunktstaatsanwaltschaften begründet ist, die sich im üblichen überwiegend auch mit schwerwiegenden Gesetzesverstößen zu befassen haben. Es stellt sich dennoch letztlich die Frage, ob nicht bei einzelnen Behörden der hier behandelte Personenkreis über die schwerwiegenden Folgen eines eingeleiteten Ermittlungsverfahrens hinaus einen Malus bei der täglichen Behandlung solcher Untreueverfahren erleidet. Das Manager Magazin zitiert hierzu aus einem Gespräch mit einem prominenten Strafverteidiger in Wirtschaftsfällen:83 „Die Einstellung eines Verfahrens, womöglich nach Jahren, hilft den Mandanten wenig, der Schaden ist schon früher eingetreten. Kaum haben sie begonnen, avancieren strafrechtliche Ermittlungen häufig zum gigantischen Medienereignis. Fast jede größere Durchsuchung bei Wirtschaftsführern beleuchten Scheinwerfer der TV-Sender, Verdunkelungsgefahr ausgeschlossen. Anschließend peinigen die Strafverfolger die Manager bisweilen mit rüden Methoden. Trickreich gehen sie vor, könnte man auch sagen. Die Beschuldigten müssen oft lange warten, bis sie Akten einsehen können, weil die Staatsanwälte noch nicht wissen, was sie den Managern genau vorhalten. Bestechlichkeit, Käuflichkeit, Verschwörung – im Fall Mannesmann änderten sich die Vorwürfe gegen Esser & Co. nahezu alle paar Monate. Wohnungen durchforsten die Ermittler gern ‚nach dem Staubsaugerprinzip’ (ein Strafverteidiger). Sie ziehen so viel Material wie möglich ein, unabhängig vom konkreten 81
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83
Manager Magazin 08/2003: Kalte Wut – Aggressiv verfolgt die Justiz Deutschlands Wirtschaftselite. Hopp hat nach diesen Erfahrungen eine neue Stiftung gegründet und mit € 5 Mio. ausgestattet, um gegen Rechtlosigkeit von Beschuldigten im Ermittlungsverfahren zu kämpfen (Manager Magazin 05/2004 S. 22 f.). Manager Magazin 08/2003: Kalte Wut – Aggressiv verfolgt die Justiz Deutschlands Wirtschaftselite.
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Vergehen – vielleicht können ja die Kollegen Steuerfahnder die Unterlagen gebrauchen. Beim eiligen Zusammenklauben werden auch schon mal Aktentaschen der eigenen Beamten beschlagnahmt. Wer darauf setzt, dem Staatsanwalt früh seine Sicht der Dinge darlegen zu können, hofft oft vergebens. Viele Ermittler vernehmen Topmanager erst zum Ende ihrer Recherchen. Sie wollen sich nicht beirren lassen: ‚Im Gespräch’, erzählt ein Strafverteidiger, ‚machen die doch alle immer einen blendenden Eindruck’. Damit aus einem kleinen ein großer, schlagzeilenreicher Fall wird, muß der Kreis der Beschuldigten möglichst weit gezogen werden. Das passende Delikt: Komplott.“
Hinter diesem bedrohlichen Schlagwort verbirgt sich die Annahme, Vorstände und Aufsichtsräte hätten sich zum Schaden des Unternehmens verschworen. Die Hypothese wirkt bisweilen arg konstruiert. Im Einzelfall werden die Rechte eines Beschuldigten so mit Füßen getreten, daß Zivilkammern dem Beschuldigten Schmerzensgeldansprüche zusprechen. So hat das Landgericht Düsseldorf im Fall Esser Handlungen der Staatsanwaltschaft Düsseldorf wie folgt charakterisiert: „Ein Teil der Mitteilungen und Informationen, die von Bediensteten des beklagten Landes an die Öffentlichkeit und an die Presse gegeben wurden, wurden unter Berücksichtigung der Gesamtumstände amtspflichtig erteilt und verletzten den Kläger in rechtswidriger Weise in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht.“84 „Allerdings wurde der Kläger dadurch in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt, dass Generalstaatsanwalt S den Spiegel-Mitarbeitern am 6. März mitteilte, dass er die Weisung erteilen werde, Ermittlungen gegen den Kläger aufzunehmen“. „Der Kläger musste – wie dargelegt – als in der Öffentlichkeit stehende Persönlichkeit hinnehmen, dass die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens auch unter Nennung seines Namens bekannt wurde und dass die Öffentlichkeit über den Grund und den Umfang der Ermittlungen informiert wurde. Jedoch durfte der Generalstaatsanwalt die entsprechenden Informationen nicht an die Presse geben, bevor nicht der Kläger als Beschuldigter des Ermittlungsverfahrens über die bevorstehende Weisung und Eröffnung des Ermittlungsverfahrens informiert war. Insoweit hat der Generalstaatsanwalt die schutzwürdigen Interessen des Klägers nicht ausreichend berücksichtigt. Als Beschuldigter des Ermittlungsverfahrens war der Kläger unmittelbar betroffen. Die Achtung seines allgemeinen Persönlichkeitsrechts gebot es, ihn unverzüglich und vor allen anderen – sofern dem nicht der Ermittlungszweck entgegenstand – über die Einleitung der Ermittlungen zu informieren. Denn trotz der geltenden Unschuldsvermutung hat die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens für den Beschuldigten erhebliche Auswirkungen im Bereich seines persönlichen Lebens. Sobald er von der Einleitung des Ermittlungsverfahrens erfährt, wird er seine ganze Kraft darauf richten, sich zu verteidigen. Es steht zu erwarten, dass er sich Anfeindungen im Privatleben ausgesetzt sieht und dass er – insbesondere wenn er eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens ist – eine negative Berichterstattung der Medien erdulden muss. Die Möglichkeiten seiner künftigen Lebensgestaltung sind ungewiss, der Einfluss des Ermittlungsverfahrens auf das berufliche Fortkommen unabsehbar. Die psychische Belastung durch ein Ermittlungsverfahren ist daher groß. Da die Bedeutung der Mitteilung 84
LG Düsseldorf, NJW 2003, S. 2536; auch veröffentlicht unter www.justiz.nrw.de.
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der Einleitung eines Ermittlungsverfahrens für den Beschuldigten ungleich größer ist als die Bedeutung einer frühzeitigen Information der Presse, ist bei einer interessengerechten Abwägung die Bekanntgabe der Einleitung des Ermittlungsverfahrens an den Beschuldigten zeitlich vor der Information der Medien über das Ermittlungsverfahren vorzunehmen. Das galt auch im Streitfall. Ein legitimes Interesse der Öffentlichkeit, vor dem Kläger von der Aufnahme der Ermittlungen zu erfahren, ist nicht ersichtlich. Hinzukommt, dass durch die Mitteilung an die Presse die Verteidigungsfähigkeit des Klägers eingeschränkt wurde, der zwar mit der Gefahr der Aufnahme der Ermittlungen vertraut war, aber eben nicht von der Weisung des Generalstaatsanwalts und der Einleitung der Ermittlungen wusste, weil er von der Aufnahme der Ermittlungen aus der Presse erfuhr und damit der Gefahr ausgesetzt wurde, auf diesbezügliche Fragen von Medienvertretern nicht fundiert antworten zu können (vgl. Hessischer VerwGH, NJW 2001, 3802-3803). Die Kammer ist der Auffassung, dass der Kläger durch diese durch die Mitteilung an die Presse verursachte Nichtbeachtung der Grundsätze eines fairen Verfahrens auch in seinem allgemeinen Persönlichkeitsrecht verletzt wurde.“85
4. Sicherlich kann der Fall Mannesmann mit seinen besonderen Facetten nicht zum Mittelpunkt allgemeiner Ausführungen gemacht werden. Es bleibt allerdings überaus fraglich, ob das auf Öffentlichkeitswirkung zielende, vorverurteilende Verhalten der Staatsanwaltschaft Düsseldorf als im Rahmen normaler Ermittlungsarbeit liegend gesehen werden kann. Das erstinstanzliche Ergebnis der Entscheidung des LG Düsseldorf hat den Überschwang der Staatsanwaltschaft hier denn auch gedämpft, wenngleich nicht abzusehen ist, wie der Bundesgerichtshof endgültig entscheiden wird.86 Die Begründung des freisprechenden Urteils des Landgerichts Düsseldorf ist im Sinne der hier angestellten rechtlichen Überlegungen im übrigen äußerst zweifelhaft. Zweifelhaft sind zum einen die Feststellungen des Gerichts, wonach aktienrechtliche Vorstellungen verletzt seien.87 Mag auch der Freispruch trotz moralischer Bedenken gegen das gesamte Verhalten der Mannesmann-Organe letztlich ein befriedigendes Ergebnis sein, so wäre es wünschenswert gewesen, daß ein solches Ergebnis nach dem jetzt bekannten Sachverhalt womöglich aus dem Aktienrecht heraus begründet worden wäre und nicht mit einer Zweifel nicht endgültig beseitigenden subjektiven Begründung.
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LG Düsseldorf, NJW 2003, S. 2536; auch veröffentlicht unter www.justiz.nrw.de. LG Düsseldorf, Urteil vom 22. 7. 2004 – XIV 5/03 NJW 2004, 3275. Vgl. hierzu auch Michael Kort, Das „Mannesmann-Urteil“ im Lichte von § 87 AktG, in: NJW 2005, S. 333 ff.
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II. Rechtslage im materiellen Strafrecht 1. Leitungshandlungen des Vorstandes nach § 76 AktG und Überwachungs- und Handlungsermessen des Aufsichtsrats nach § 111 AktG geraten, wie bereits erwähnt,88 häufig in das durch § 266 StGB ausgelegte Fadenkreuz. Dabei tritt gerade im Zusammenhang mit der strafrechtlichen Bewertung von Vorstands- und Aufsichtsratshandeln das in der Strafrechtswissenschaft hinlänglich bekannte und diskutierte89 Problem der mangelnden Konkretisierung und übermäßigen Weite des auch als „Gummiparagraphen“ bezeichneten § 266 StGB deutlich vor Augen.90 Eben diese Unschärfe mag auch Grund dafür sein, dass die Vorschrift sich für jegliche Strafverfolgung von Vorständen und Aufsichtsräten, denen aufgrund ihrer Organstellung zwangsläufig die Betreuung von fremden Vermögensinteressen obliegt,91 geradezu anbietet. Wie steht es um die Business Judgement Rule unter strafrechtlicher Betrachtung? Der Tatbestand der Untreue gemäß § 266 StGB umfaßt zwei Tatvarianten, nämlich Mißbrauch und Treubruch. In beiden Fällen ist erforderlich, daß der Täter eine ihm obliegende Pflicht zur Betreuung fremden Vermögens verletzt und dadurch dem betreuten Vermögen einen Nachteil zufügt. Der Unterschied zwischen den beiden Tatvarianten liegt sodann darin, daß beim Mißbrauch der Täter die Grenzen seines rechtlichen Dürfens unter Ausnutzung seines weitergehenden rechtlichen Könnens überschreitet und dadurch den Geschäftsherrn rechtswirksam bindet. Diese Tatvariante kann also nur erfüllt sein, wenn ein Vorstands- oder Aufsichtsratsmitglied eine im Außenverhältnis wirksame Handlung vorgenommen hat, zu der es im Innenverhältnis nicht berechtigt war, etwa im Fall Mannesmann, wenn die vom Aufsichtsrat gefaßten Beschlüsse nichtig gewesen sein sollten.92 Der Inhalt und Umfang der Vermögensfürsorgepflicht nach dem Treuebruchstatbestand nach § 266 StGB muß grundsätzlich dem zugrunde liegenden Betreuungsverhältnis entnommen werden. Danach muß auch beurteilt werden, ob der Betreuer den ihm zugewiesenen vermögensfürsorglichen Pflichten nachgekommen ist, ob er sie unerfüllt gelassen oder ob er ihnen zuwidergehandelt hat. 88 89
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Siehe oben B. III. Vgl. Klaus Tiedemann, in: Hans-Heinrich Jeschek, Theo Vogler (Hrsg.), Festschrift für Herbert Tröndle zum 70. Geburtstag, Berlin u. a. 1985, S. 319 m.w.N.; Herbert Dreher, Thomas Fischer, Kommentar zum StGB, 51. Aufl., München 2003, § 266 Rdnr. 2. Das Manager-Magazin 08/2003: Kalte Wut – Aggressiv verfolgt die Justiz Deutschlands Wirtschaftselite, bezeichnet die Vorschrift treffend als „in etwa so konturenscharf wie Babybrei“. BGHSt 9, S. 217. Thomas Rönnau, Kristian Hohn, Die Festsetzung (zu) hoher Vorstandsvergütungen durch den Aufsichtsrat – ein Fall für den Staatsanwalt?, in: NStZ 2004, S. 113, 114.
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Allgemeiner Maßstab bei der Führung der Geschäfte von Kapitalgesellschaften ist die Sorgfalt eines ordentlichen und gewissenhaften Geschäftsleiters.93 Damit ist die Anwendung der Business Judgement Rule eigentlich schon zwingend, zumindest nach Inkrafttreten der Neufassung des § 93 AktG im UMAG. Die Gesetzesbegründung stellt hierzu ausdrücklich klar, dass der Grundgedanke des Geschäftsleiterermessens im Bereich unternehmerischer Entscheidungen nicht auf den Haftungstatbestand des § 93 AktG beschränkt ist, sondern auch ohne positivrechtliche Regelung in allen Formen unternehmerischer Betätigung Anwendung findet.94 Bevor eine Haftung für die Folgen von Fehlentscheidungen des Organmitglieds in Betracht kommt, muß dieses die nach den oben dargestellten gesellschaftsrechtlichen Regeln weit gesteckten Grenzen seines unternehmerischen Leitungsermessens überschreiten. Dieser Grundsatz muß erst recht für die Bestimmung der Pflichtwidrigkeit im Rahmen des Untreuetatbestandes gelten. Unter Berücksichtigung des in Art. 103 Abs. 2 GG verankerten Bestimmtheitsgebots kann hier nur eindeutig unvertretbares Verhalten als untreuerelevant eingestuft werden.95 Der Pflichtenmaßstab des ordentlichen und gewissenhaften Vorstands oder Aufsichtsrats (§§ 93, 116 AktG) ist im Strafrecht daher auf eindeutige Fallkonstellationen zu begrenzen, so daß insbesondere ungesicherte Rechtsentwicklungen und vorläufige Übergangszonen des Zivil- und Wirtschaftsrechts als nicht strafbewehrt zu behandeln sind; dasselbe gilt für Verhaltensweisen, die außerstrafrechtlich zwar empfohlen, aber nicht als rechtlich strikt geboten angesehen werden.96 Der Rahmen einer möglichen Strafhaftung ist also enger als der einer möglichen zivilrechtlichen Haftung wegen eines Verstoßes gegen Sorgfaltspflichten.97 2. Diese einengende Interpretation des § 266 StGB wird vom BGH in seiner bisher einzigen Grundsatzentscheidung bestätigt.98 Danach ist der Untreuetatbestand nur erfüllt, wenn die Sorgfaltsanforderungen an das Verhalten eines gewissenhaften Geschäftsleiters „gravierend verletzt“ werden. Ob eine Pflichtverletzung gravierend ist, bestimmt sich aufgrund einer Gesamtschau insbesondere der gesellschaftsrechtlichen Kriterien. Bedeutsam sind dabei: fehlende Nähe zum Unternehmensgegenstand, Unangemessenheit im Hinblick auf die Ertrags- und Vermögenslage, fehlende innerbetriebliche Transparenz sowie Vorliegen sachwidriger Motive, namentlich die Verfolgung rein persönlicher Präferenzen.
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Hübner, in: Leipziger Kommentar, 10. Aufl., Bd. 6; Berlin u. a. 1988, § 266, Rdnr. 83. Vgl. Regierungsbegründung zu § 93 Abs. 1 S. 2 AktG-E, S. 24. Rönnau/Hohn, in: NStZ 2004, S. 113, 118 unter Verweis auf eine entsprechende Definition von Tiedemann, in: FS Tröndle, S. 319, 328. Tiedemann, in: FS Tröndle, S. 319, 328. Rönnau/Hohn, in: NStZ 2004, S. 113, 123. BGHSt 47, S. 187, 197; BGH, NJW 2002, S. 1585.
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3. Kaum einer Erläuterung bedarf die Tatsache, daß die Beweislastregel des § 93 Abs. 2 Satz 2 AktG im Strafrecht keine Anwendung findet, so daß der volle Tatbestand des Treuebruchs einschließlich Rechtswidrigkeit und Schuld (Vorsatz) zu belegen ist. 4. Die dargestellte Rechtslage führt zu dem Schluß, daß die Business Judgement Rule in der strafrechtlichen Parallelwertung keinesfalls unter den Tisch fallen kann. Die vorstehend beschriebenen öffentlichen Aufgeregtheiten sind daher im Lichte noch zu erwartender endgültiger gerichtlicher Entscheidungen und Einstellungen der Ermittlungsbehörden nochmals zu untersuchen. Eine solche ggf. sehr viel ruhiger zu betrachtende strafrechtliche Praxis ändert allerdings nichts daran, daß der in der Praxis – gravierend im Fall Mannesmann – zu beobachtende Malus mit indirektem Vorverurteilungscharakter ein gesellschaftliches Problem bleibt, welches nicht allein auf Deutschland beschränkt ist.99 Insofern muß bei mit Anfangsverdacht belegten unternehmerischen Handlungen und deren Untersuchung durch die Strafverfolgungsbehörden der Schein eines Antagonismus zwischen dem Handeln von Ermittlungsbehörden einerseits und dem Inhalt der gesellschaftsrechtlichen Normen andererseits bestätigt werden, der hoffentlich durch die weitere strafrechtliche Durchdringung der Business Judgement Rule aufgehoben werden kann.100 Daß sogar die weitgehend unternehmenskritische Zeitschriftenliteratur den derzeitigen antagonistischen Zustand aufzeigt, ist immerhin beachtenswert. 5. Der Aufdeckung des festgestellten Antagonismus könnte es dienlich sein, wenn nach Inkrafttreten des UMAG der Gesetzgeber eine Ergänzung des § 266 StGB veranlassen könnte, mit der die vom BGH als zusätzliches Tatbestandsmerkmal geforderte gravierende Verletzung von Geschäftsleiterpflichten sowie die Business Judgement Rule des § 93 AktG in den Treuebruchstatbestand bei Handelsgesellschaften ausdrücklich aufgenommen wird. Eine solche Ergänzung würde dem § 266 StGB seine „Babybrei“-Eigenschaft nehmen, was der Rechtspflege und einem gewissenhaft und verantwortlich ausgeübten unternehmerischen Freiraum sicherlich gut bekommen würde. Sicherlich würden gelegentliche staatsanwaltliche „Exzesse“ in aktienrechtlichen Fragen weniger zur Geltung kommen, wenn Aufsichtsräte betroffener Unternehmen bei Vorstandsfehlverhalten rigoroser vorgehen würden als in der Vergangenheit. „Beißhemmungen“ bei Sachverhalten, die klares rechtliches Fehlverhal99 100
Vgl. hierzu den als Großprozeß hochstilisierten Fall Martha Stewart in den U.S.A. Vielleicht tragen auch die Bemühungen der neu gegründeten Hopp-Stiftung (siehe oben Fn. 82) Früchte.
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ten darstellen, helfen der Rechtspflege und dem Ansehen von Unternehmensorganen genauso wenig wie überschnelle, die zugrunde liegenden Rechtspflichten des Aktienrechts nicht ausreichend berücksichtigende Schnellschußaktionen von Vertretern der Staatsanwaltschaft.
Internationalprivat- und -verfahrensrechtliches zu „heimlichen“ Vaterschaftstests Thomas Pfeiffer
I. Einleitung Die medizinrechtlichen Arbeiten des Jubilars prägt die Einsicht, dass es gerade der immense wissenschaftliche und technische Fortschritt in der Medizin ist, der vielfach zu neuen Herausforderungen des Rechts führt. Macht man sich dies zu eigen, so überrascht es nicht, dass in jüngerer Zeit die Rechtsfragen des „heimlich“, d. h. ohne Zustimmung der Mutter oder des Kindes durchgeführten Vaterschaftstests ebenso große juristische wie öffentliche Beachtung gefunden haben. Einen Teil der dabei aufgeworfenen Probleme haben die beiden Entscheidungen des Bundesgerichtshofes vom 12. Januar 20051 für die Praxis beantwortet: Der BGH geht davon aus, dass erstens die Untersuchung des genetischen Materials eines anderen Menschen ohne dessen ausdrückliche Zustimmung gegen das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung verstößt und rechtswidrig ist. Beim minderjährigen Kind bedarf es der Zustimmung der Mutter, wenn sie entweder – wie in den entschiedenen Fällen – allein sorgeberechtigt ist oder wenn das in einer Ehe geborene Kind durch beide Eltern vertreten wird (§ 1629 BGB)2. Aus dem verfassungsrechtlich hergeleiteten Beweiserhebungsverbot schließt der BGH zweitens auf ein prozessuales Beweisverwertungsverbot: insbesondere zur Widerlegung der Vaterschaftsvermutung nach § 1600 c BGB und zur Erfüllung der den anfechtenden Vater oder Scheinvater treffenden anfänglichen Substantiierungslast kann ein ohne Zustimmung des Kindes erstelltes DNA-Gutachten nicht dienen. Der Anfechtende kann sich auch nicht auf ein noch zu erstellendes DNA-Gutachten berufen3. Gegen die Angemessenheit der zugrunde liegenden Abwägung zwischen dem Recht des Kindes auf informationelle Selbstbestimmung und dem Persönlichkeitsrecht des tatsächlichen und vermeintlichen Vaters mag im nationalen Recht manches sprechen – das bleibt hier offen. Die nachstehenden Überlegungen untersuchen die kollisionsrechtlichen Folgen einer solchen Rechtsprechung. Dabei gehen sie insbesondere der Frage nach, inwieweit der Standpunkt des BGH sich auch kollisionsrechtlich durchsetzen kann.
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BGH, Urt. v. 12. Januar 2005 – XII ZR 60/03, FamRZ 2005, S. 342-344; und Urt. v. 12. Januar 2005 – XII ZR 227/03, BGHZ 162, S. 1-9 = NJW 2005, S. 42-44 = FamRZ 2005, S. 340-342. Ebenso OLG Celle, NJW 2004, S. 449; OLG Köln, FamRZ 2004, S. 1987. BGH, NJW 1998, S. 2976; bestätigend BGH, NJW 2003, S. 585.
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II. Anlass Anlass für kollisionsrechtliche Überlegungen ergibt sich daraus, dass andere Rechtsordnungen ein derartiges Beweiserhebungs- oder Verwertungsverbot nicht oder nicht in gleicher Weise kennen. Erörtert wird allerdings im Ausland meist, unter welchen Voraussetzungen ein Gentest generell als prozessuales Beweismittel zugelassen wird. Rechtsvergleichende Untersuchungen zeigen insoweit ein breites Spektrum, das sowohl die Zulassung des genetischen Fingerabdrucks als unabhängig vom Konsens des Betroffenen zulässiges Beweismittel als auch das Konsenserfordernis kennt. Zutreffend verweist die Rechtsprechung des BGH darauf, dass in Europa in zahlreichen Ländern im Einklang mit internationalen Rechtsquellen (Art. 5 der Allgemeinen Erklärung zum menschlichen Genom und zu den Menschenrechten – UNESCO Universal Declaration on the Human Genome and Human Rights v. 11. November 1997; Art. II-68 des Vertrages über eine Verfassung für Europa4; Art. 8 EMRK; Art. 8 Abs. 1 u. Art. 16 der UN-Kinderrechtskonvention vom 20. November 19895) für eine DNA-Analyse eine Zustimmung des Betroffenen erforderlich ist6, wobei die genannten Rechtsquellen das Ergebnis des BGH wohl keineswegs zwingend gebieten. Den Grund für das Konsenserfordernis bilden bei alledem regelmäßig die Persönlichkeitsrechte des Betroffenen. Soweit Konsens erforderlich ist, unterscheiden sich die Rechtssysteme indessen weiter danach, ob das Gericht aus der Verweigerung Schlüsse auf das präsumtive Ergebnis der Beweiserhebung ziehen darf7. Hinweise darauf, dass ein Verbot der Beweiserhebung nicht notwendig ein Beweisverwertungsverbot nach sich zieht, finden sich etwa im englischen Schrifttum. Hier wird ausgeführt, dass ohne Zustimmung der Mutter vorgenommene („motherless“) Tests zwar „unauthorised“ seien. Sie unterliegen aber gleichwohl der freien Beweiswürdigung durch das Gericht8. Das internationale Privat- und Verfahrensrecht steht mithin vor der Frage, wie es mit etwaigen Divergenzen dieser Art umgehen soll.
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Amtsblatt EG C 310/43 vom 16. Dezember 2004. BGBl. 1992 II, S. 121. Oben Anm. 1. Rechtsvergleichender Überblick zum Ganzen auch bei Alexandra Obadia, L’incidence des tests d’ADN sur le droit québécois de la filiation, in: (2000) 45 McGill L.J. 483, S. 506-511. Stephen Michael Cretney, Judith Masson, Rebecca J. Bailey-Harris, Principles of Family Law, 7. Aufl., London 2003, S. 527.
Internationalprivat- und -verfahrensrechtliches zu „heimlichen“ Vaterschaftstests
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III. Kollisionsrechtliche Qualifikationsfragen 1. Beweisverwertungsverbot Kollisionsrechtlich stellt sich zunächst ein Qualifikationsproblem. Eine ausdrückliche gesetzliche Kollisionsvorschrift für die Frage der Zulässigkeit bestimmter Beweismittel besteht nur für das vertragliche Schuldrecht in Art. 32 Abs. 3 EGBGB, nicht jedoch darüber hinaus. Das genannte Beweisverwertungsverbot könnte indessen aufgrund einer prozessualen Einordnung bei einem in Deutschland geführten Vaterschaftsprozess der deutschen lex fori unterliegen. Denkbar ist aber auch eine Anknüpfung nach Maßgabe des Anfechtungsstatuts des Art. 20 EGBGB. Letzteres könnte erhebliche Auswirkungen haben, weil die Anfechtung der Abstammung kollisionsrechtlich begünstigt wird. Sie ist nach jedem Recht möglich, nach dem die Voraussetzungen der Vaterschaft festgestellt werden können. Das umfasst nach Art. 19 EGBGB neben dem Recht des gewöhnlichen Aufenthaltsorts des Kindes das Heimatrecht des Anfechtenden. Ist die Mutter verheiratet, so kommt die Anknüpfung an das Recht hinzu, das nach Art. 14 Abs. 1 EGBGB für die allgemeinen Wirkungen der Ehe zum Zeitpunkt der Geburt maßgebend ist (Art. 19 Abs. 1 S. 3 EGBGB). Fern liegend ist demgegenüber eine Anknüpfung an das Personalstatut des Kindes, etwa nach Maßgabe der Anknüpfung der Rechts- und Geschäftsfähigkeit nach Art. 7 EGBGB. Ein Ansatzpunkt für eine derartige Qualifikation könnte es allenfalls sein, wenn die Fähigkeit eines ausländischen Kindes, Träger des deutschen Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung zu sein, eine Folge oder Erscheinungsform seiner nach dem Personalstatut zu bestimmenden Rechts- und Geschäftsfähigkeit wäre. Das Verfassungsrecht bestimmt seine internationale Reichweite indes autonom nach spezifisch verfassungsrechtlichen Wertungen und nicht nach Maßgabe des einfachgesetzlichen Kollisionsrechts. Bei der somit maßgebenden Frage, ob eine Beweismittelbeschränkung prozessual oder materiellrechtlich (hier also: abstammungsrechtlich) qualifiziert wird, wird im Allgemeinen nach Zweck und Funktion der Regel unterschieden. Verfolgt diese überwiegend materiellrechtliche Zwecke, etwa wenn es sich bei einem verbotenen Zeugenbeweis um eine verdeckte Formvorschrift handelt, so ist eine materiellrechtliche Qualifikation geboten. Werden prozessuale Zwecke, etwa der Ausschluss unzuverlässiger Beweismittel, verfolgt, so ist prozessrechtlich zu qualifizieren9. Der Zweck des Beweisverwertungsverbots besteht – wenn man sich auf die zugrunde liegende ratio decidendi einlässt – vor diesem Hintergrund darin, die in der prozessualen Verwertung als solche liegende erneute Persönlichkeitsrechtsver-
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Haimo Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, 3. Aufl., München 2002, Rdnr. 686; ferner Reinhold Geimer, Internationales Zivilprozeßrecht, 4. Aufl., Köln 2001, Rdnr. 2301; Heinrich Nagel, Peter Gottwald, Internationales Zivilverfahrensrecht, 5. Aufl., Münster 2002, § 9 Rdnr. 43.
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letzung zu verhindern10. Diese Funktion ist auf den Prozess und den Schutz von Verfahrensbeteiligten vor Persönlichkeitsrechtsverletzungen durch den Prozess bezogen und streitet deshalb für eine prozessrechtliche Qualifikation. Zwar entfaltet das durch den BGH entwickelte Beweisverwertungsverbot seine umstrittenen Wirkungen im vornehmlich diskutierten nationalen Kontext erst im Zusammenspiel mit den Vaterschaftsvermutungen des § 1600 c BGB und ist insofern mit der lex causae eng verwoben. Der Schutz der besagten Vaterschaftsvermutungen vor einer Konfrontation mit der durch einen DNA-Test decouvrierten und von der Vermutung abweichenden Wirklichkeit kann jedoch schwerlich als rechtlicher Zweck des Beweiserhebungsverbots gesehen werden. Der durch das besagte Beweisverwertungsverbot bewirkte Effekt einer Begünstigung der Unwahrheit ist misslich genug; die Annahme, dass er den eigentlichen Zweck des Beweisverwertungsverbotes bilden würde, findet in den zugrunde liegenden Entscheidungen keinerlei Stütze. Auszugehen ist mithin von einer prozessualen Qualifikation. Das entspricht im Übrigen auch den durch den Bundesgerichtshof zugrunde gelegten verfassungsrechtlichen Vorgaben bzw. Wertungen. Denn die verfassungsrechtliche Garantie des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung greift (soweit sie denn einschlägig ist) unabhängig vom anwendbaren Abstammungsrecht ein. In Fällen mit Auslandsbezug muss die Reichweite von Grundrechten, soweit nicht durch das Grundgesetz geregelt, im Wege der Auslegung ermittelt werden11. Da es bei der Beweiserhebung um einen Vorgang im Inland geht, der ferner auf dem Tätigsein des Gerichts als eines deutschen Hoheitsträgers beruht und da schließlich die als Grundlage des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung dienenden Vorschriften der Art. 1 und 2 GG auch keine bloßen Deutschenrechte darstellen, greift dieses Recht auf der Ebene des Verfassungsrechts im Rahmen seiner Voraussetzungen auch bei Anwendbarkeit einer ausländischen lex causae ein. Dem wird eine prozessrechtliche Qualifikation grundsätzlich gerecht. Das in der Rechtsprechung entwickelte Beweisverwertungsverbot greift als Bestandteil der prozessualen lex fori somit unabhängig vom anwendbaren Statut der Abstammungsanfechtung ein. 2. Vermutungen Verweigert der Betroffene oder die Mutter als Vertreterin des Kindes ihr Einverständnis, so greifen in manchen Rechtsordnungen Vermutungen hinsichtlich des präsumtiven Ergebnisses eines solchen Tests ein. Bei der kollisionsrechtlichen Behandlung von Vermutungen wird im Allgemeinen zwischen gesetzlichen und tatsächlichen Vermutungen unterschieden. Während jene wie Beweislastregeln als Bestandteil der lex causae anwendbar sind, beruhen die tatsächlichen Vermutun-
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OLG Celle, NJW 2004, S. 449. Vgl. BVerfGE 31, S. 58, 77 – „Spanier“.
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gen auf richterlichem Erfahrungswissen, das – jedenfalls nach herrschender Meinung – im Rahmen der lex fori aus der prozessualen Erfahrung geschöpft wird12. Damit steht eine erste kollisionsrechtliche Schranke des in der Rechtsprechung entwickeltem Beweisverwertungsverbots im Raum: Gesetzliche Vermutungen, die an einen verweigerten Gentest eine Vaterschaftsfeststellung knüpfen, gehören mithin grundsätzlich zu dem durch Art. 20 EGBGB berufenen Statut der Vaterschaftsanfechtung. Als Beispiel einer gesetzlichen Anordnung eines negativen Schlusses wird in der rechtsvergleichenden Literatur – die Recherchen des Autors haben nichts anderes zutage gefördert – nur Sec. 23 des englischen Family Law Reform Act13 genannt. Diese Vorschrift überlässt es allerdings dem Richter, ob und welche Konsequenzen zu ziehen sind. Es handelt sich also um eine tatsächliche Vermutung, die zur prozessualen lex fori zählt.
IV. Kollisionsrechtlicher ordre public Sollte sich allerdings die Auffassung durchsetzen, dass solche Vermutungen materiell-rechtlich zu qualifizieren sind und der Anknüpfung an die lex causae folgen, 12
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Nagel/Gottwald, Internationales Zivilprozeßrecht, Rdnr. 35 f.; Schack, Internationales Zivilverfahrensrecht, Rdnr. 663 ff.; a. A. Geimer, Internationales Zivilprozeßrecht, Rdnr. 2291. Die Vorschrift lautet in der Fassung des Family Law Reform Act 1987, chapter 42, schedule 24 para 2 (b): Sec. 23 Failure to comply with direction for taking blood tests. (1) Where a court gives a direction under section 20 of this Act (= Anordnung des Tests, d. Verf.) and any person fails to take any step required of him for the purpose of giving effect to the direction, the court may draw such inferences, if any, from that fact as appear proper in the circumstances. (2) Where in any proceedings in which the parentage of any person falls to be determined by the court hearing the proceedings there is a presumption of law that that person is legitimate, then if: (a) a direction is given under section 20 of this Act in those proceedings, and (b) any party who is claiming any relief in the proceedings and who for the purpose of obtaining that relief is entitled to rely on the presumption fails to take any step required of him for the purpose of giving effect to the direction. the court may adjourn the hearing for such period as it thinks fit to enable that party to take that step, and if at the end of that period he has failed without reasonable cause to take it the court may, without prejudice to subsection (1) of this section, dismiss his claim for relief notwithstanding the absence of evidence to rebut the presumption. (3) Where any person named in a direction under section 20 of this Act fails to consent to the taking of a [bodily sample] [FN1] from himself or from any person named in the direction of whom he has the care and control, he shall be deemed for the purposes of this section to have failed to take a step required of him for the purpose of giving effect to the direction.
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so ergibt sich ein vom deutschen Recht abweichendes Ergebnis. Da das im deutschen Recht geltende Ergebnis verfassungsrechtlich inspiriert ist, stellt sich dann die Frage, inwieweit ein offensichtlicher Verstoß gegen einen wesentlichen Grundsatz des deutschen Rechts im Sinne des Art. 6 EGBGB gegeben ist. Nicht jeder Zusammenhang zu verfassungsrechtlichen Wertungen ist allerdings ausreichend, um ein Eingreifen der Vorbehaltsklausel zu rechtfertigen14. Die Vorschrift bezweckt, den unverzichtbaren Kernbestand des deutschen Rechts zu wahren. Ihre Anwendung ist eine Ausnahme; sie muss mit der gebotenen Vorsicht erfolgen. Ausschlaggebend ist insbesondere, ob das Ergebnis der Anwendung ausländischen Rechts inakzeptabel erscheint. Dies wurde im Zusammenhang mit der Ehelichkeitsanfechtung etwa bejaht, wenn eine Rechtsordnung diese generell ausschließt15. Vor diesem Hintergrund ist zunächst zu bedenken, dass die Folge einer in einem ausländischen Recht angeordneten gesetzlichen Vermutung typischerweise nur darin liegen kann, dass aufgrund der Anwendung ausländischen Rechts eine verweigerte Genanalyse als tatsächlicher Umstand bei der Entscheidungsfindung in bestimmter Weise zu berücksichtigen ist. Sie beeinflusst das Ergebnis überhaupt nur dann, wenn es infolge einer gesetzlichen Vermutungsregel des ausländischen Rechts zu einer anderen Entscheidung kommt als dies ohne dieselbe der Fall wäre – wenn also ein deutsches Gericht nicht ohnehin eine Untersuchung nach § 372 a ZPO hätte anordnen müssen. Das kann wiederum nur im Einzelfall zu bejahen sein. Ein generelles Eingreifen der Vorbehaltsklausel kann somit nicht begründet werden. Allerdings beruht der Standpunkt des BGH zum deutschen Recht auch auf der Überlegung, dass eine Aushöhlung des Weigerungsrechts verhindert werden soll. Zöge die Verweigerung eines außergerichtlichen Gentests oder die Verweigerung seiner Verwertung ohne weiteres die gerichtliche Anordnung eines Gentests nach sich, so wäre das Weigerungsrecht nach Ansicht des BGH seiner Wirkung beraubt. Indessen führte die Anwendung einer solchen Vermutungsregel des ausländischen Rechts gerade nicht zu einem direkten Zwang, sich im Gerichtsverfahren einem DNA-Test auszusetzen; vielmehr würde lediglich von der Vermutungsregel des § 1600 c Abs. 1 BGB abgewichen, deren Zugehörigkeit zum Ordre public angesichts ihres bloßen Vermutungscharakters fern liegt. Dies gilt umso mehr, als die Anwendung einer ausländischen lex causae, die eine dem § 1600 c Abs. 1 BGB entsprechende Regel nicht kennt, ebenfalls nicht als Ordre public-Verstoß angesehen werden könnte. Soweit der BGH ferner ausführt, die Weigerung der Mutter, der Verwertung des bereits erfolgten Tests nachträglich zuzustimmen, könne nicht als ein den Substantiierungslasten des Anfechtenden genügender und damit die Anfechtungsklage eröffnender Umstand angesehen werden, weil damit lediglich ein gesetz14
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So zum verfahrensrechtlichen ordre public BGHZ 140, S. 395 = LM EGÜbk Nr. 58 (7/1999), m. Anm. Heinrich Dörner = IPRax 1999, S. 371, m. Aufsatz Götz Schulze, S. 342 = JZ 1999, S. 1117 m. Anm. Herbert Roth = JR 1999, S. 371 m. Anm. Ansgar Staudinger = WuB VII B Art. 27 EuGVÜ 1. 99 mit Anm. Thomas Pfeiffer. OLG München, StaZ 1980, S. 333.
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liches Recht ausgeübt werde, kann dies kollisionsrechtlich zu keinem anderen Ergebnis führen. Denn gerade hinsichtlich der Substantiierungslasten ist die Ausgangslage eine gänzlich andere, wenn ein ausländisches Recht eine Vermutungswirkung als Rechtsfolge einer Weigerung von vornherein vorsieht. Im Übrigen ist es eine dem deutschen Recht – jedenfalls bei der Vaterschaftsfeststellung – keineswegs unbekannte Praxis, dass aus einer verweigerten Mitwirkung an der Vaterschaftsfeststellung nachteilige Folgen nach den Grundsätzen über die Beweisvereitelung gezogen werden können. Hat das Gericht eine Blutentnahme nach § 372 a ZPO angeordnet, so kann die Weigerung des Betroffenen als Beweisvereitelung zu würdigen sein. Das ist für „konventionelle“ Abstammungsgutachten so entschieden worden16. Da § 372 a ZPO auch DNA-Tests ermöglicht17, könnte hier nur dann eine andere Beurteilung in Betracht kommen, wenn es bei Anordnung dieser Methode zusätzliche Weigerungsgründe gibt, die es ausschließen, eine Weigerung als Beweisvereitelung zu behandeln. Das käme dann in Betracht, wenn der Untersuchte besorgen müsste, mit der Untersuchung seines Genmaterials in unverhältnismäßiger Weise Persönlichkeitsdaten, die über seine bloße Identität hinausgehen, zu offenbaren. Dies ist jedoch nicht ersichtlich; die unter Mitwirkung des Robert-Koch-Instituts vom Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer erstellten Richtlinien für die Erstattung von Abstammungsgutachten18 schließen das vielmehr ausdrücklich aus. Schließlich ist zu beachten, dass auch im deutschen Recht ein allgemeines Prinzip darin liegt, dass die Abstammungsfeststellung dem Ziel größtmöglicher Übereinstimmung zwischen Urteilsausspruch und Abstammung dient19, das wiederum gerade durch die Anerkennung der Figur der Beweisvereitelung erreicht werden soll und kann.
V. Anerkennungsrechtlicher Ordre public Für die Urteilsanerkennung ist auch innerhalb der Europäischen Gemeinschaft nicht das europäische Zivilprozessrecht maßgebend. Das gilt insbesondere auch nach der EheVO II („Brüssel IIa“) 2201/2003, deren Art. 1 Abs. 3 lit. a die Feststellung und Anfechtung der Abstammung ausdrücklich ausnimmt. Maßgebend ist mithin das autonome deutsche Prozessrecht und hier § 328 ZPO20. Im Rahmen des anerkennungsrechtlichen Ordre public stellt sich die Frage nach der Auswirkung einer im Ausland abweichenden Rechtslage in nochmals 16 17 18 19 20
BGHZ 121, S. 266; BGH, NJW 1986, S. 2371; obiter auch BGH, FamRZ 1997, S. 490. Zöller-ZPO/Reinhard Greger, 24. Aufl., München 2004, § 372 a ZPO, Rdnr. 4 a. Abgedruckt im Bundesärzteblatt 2002, S. A 665. BGH, NJW 1985, S. 2371. Es handelt sich durchweg um Kindschaftssachen nach der ZPO, für die das Familiengericht zuständig ist, auch, soweit früher das Vormundschaftsgericht Zuständigkeiten innehatte, MünchKomm-BGB/Seidel, 4. Aufl., München 2001 ff., vor § 1581 BGB, Rdnr. 14, so dass § 16 a FGG nicht mehr in Betracht kommt.
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anderer Weise. Beim materiellrechtlichen Ordre public geht es allein darum, ob das Ergebnis der Anwendung einer der ausländischen lex causae entnommenen und an den verweigerten Gentest anknüpfenden Vermutung zu Gunsten oder zu Ungunsten einer Vaterschaft aus deutscher Perspektive inakzeptabel ist. Demgegenüber stellt sich beim anerkennungsrechtlichen Ordre public des § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO die Frage, ob ein Urteil anzuerkennen ist, das die Abstammung feststellt oder einer Vaterschaftsanfechtung stattgibt. Falls im Rahmen eines solchen Urteils ein heimlicher Vaterschaftstest als ausschlaggebendes Beweismittel herangezogen wird, so könnte man das Urteil gleichsam als Manifestation der durch den heim-lichen Test nach dem Standpunkt des BGH bewirkten Persönlichkeitsrechtsverletzung ansehen und deswegen eine Verletzung des durch die Grundrechte konkretisierten Ordre public erwägen. Indessen kommt es nach § 328 Abs. 1 Nr. 4 ZPO darauf an, ob das Ergebnis der Anerkennung von wesentlichen Grundsätzen des deutschen Rechts abweicht. Deshalb gilt – wie schon für den materiellrechtlichen Ordre public – auch hier, dass nicht jede Abweichung des Ergebnisses der ausländischen Entscheidung zum Eingreifen der Vorbehaltsklausel führt. Im Zusammenhang mit der Vollstreckung von Zahlungsurteilen hat der BGH vielmehr allein darauf abgestellt, ob gerade die Vollstreckung des Urteils inakzeptabel ist21. Diese auf dem Konzept des Ordre public attenué beruhende Konzeption ist zunächst insofern überzeugend, als lediglich das Urteil selbst Gegenstand der Prüfung bei der Anwendung der Vorbehaltsklausel sein kann, wohingegen das zugrunde liegende Verfahren und die Rechtsanwendung lediglich als Vorfrage bei dessen Zustandekommen einzuordnen sind. Damit ist die Anwendung der Figur des abgeschwächten Ordre public bei der Urteilsanerkennung zutreffend22. Zu eng wäre es freilich, allein auf die Vollstreckung abzustellen; einzubeziehen ist vielmehr auch die jeder Vollstreckung vorausgehende Anerkennung, weil schon diese rechtliche Wirkungen, insbesondere Rechtskraftwirkung, entfaltet. Sie muss mithin auf ihre Vereinbarkeit mit den unverzichtbaren Maßstäben des deutschen Rechts überprüft werden. Für feststellende Urteile, wie sie bei der Vaterschaftsfeststellung oder -anfechtung in Frage stehen, ginge eine Beschränkung der Ordre public-Prüfung auf die Vollstreckung ohnehin ins Leere. Damit stellt sich die Frage, ob die nach der Rechtsprechung in der Verwertung des heimlichen DNA-Tests liegende Persönlichkeitsrechtsverletzung dazu führt, dass auch das Urteil selbst nicht mehr hinnehmbar ist. Eine solche Nichthinnehmbarkeit kann sich nach allgemeinen Grundsätzen der Ordre public-Doktrin entweder aus Abweichungen des materiellen Rechts oder aus Abweichungen im Verfahren oder prozessualen Aspekten der Urteilsfindung ergeben. Dabei geht es im vorliegenden Kontext nicht um Abweichungen im materiellen Recht, sondern um die Bedeutung eines Beweisverwertungsverbots. Soweit es um das Beweisrecht geht, ist nicht jede Abweichung vom deutschen Recht als Ordre public-Verstoß einzuordnen. Auch die Frage, ob ein deutsches Gericht bei Anwendung der im ausländischen Prozess zugrunde gelegten Verfahrensweise gegen 21 22
BGHZ 140, S. 395. Dazu BGHZ 98, S. 70.
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tragende Grundsätze des deutschen Prozessrechts verstoßen hätte, ist nicht ausschlaggebend23. Erforderlich ist vielmehr eine untragbare Abweichung von elementaren Grundsätzen eines geordneten angemessenen Verfahrens, die das Verfahren als rechtsstaatswidrig erscheinen lassen24. Die hierfür zunächst maßgebende Voraussetzung, dass sich die abweichende Verfahrensregel auch im konkreten Verfahren ausgewirkt haben muss25, ist sicher gegeben, wenn sich das ausländische Urteil auf den heimlichen Test stützt. Dies ist freilich nur eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für die Bejahung eines Ordre public-Verstoßes. So hat die Praxis – je nach Vorliegen einer sonst ausreichenden Tatsachengrundlage26 – einen Verstoß beispielsweise auch in Fällen verneint, in denen das anzuerkennende Urteil eine Vaterschaftsfeststellung ohne Abstammungsgutachten primär auf die Aussage der Kindesmutter stützt27. Im Zusammenhang mit Fällen, in denen ein ausländisches Beweisrecht tiefer in die Persönlichkeitssphäre einer Partei eindringt, namentlich bei Urteilen, deren Tatsachengrundlage auf einem US-amerikanischen Discovery-Verfahren beruht, ist anerkannt, dass nicht schon die im Vergleich zum deutschen Recht weitergehende Ausforschung der Partei als solche zu einem Ordre public-Verstoß führt. Vergleichsmaßstab im deutschen Recht sind danach nicht einzelne Beweisregelungen, sondern die Grundwerte, welche hierdurch geschützt werden sollen. Maßgebend ist insofern die Gesamtrechtsordnung (einschließlich dabei zu beachtender Einzelregelungen) einschließlich des Wertes der gerichtlichen Wahrheitsfindung28. Geht man hiervon aus, so streitet insbesondere der Wert der Wahrheitsfindung für die Anerkennung ausländischer Urteile, die auf „heimlichen“ DNA-Tests beruhen. Argumentativ ist indessen zu differenzieren. Auch in Deutschland kann ein DNA-Test angeordnet werden. Voraussetzung hierfür ist im deutschen Recht, dass ein Vater seinen anfänglichen Substantiierungslasten genügt29. Dann kann und muss das Gericht die erforderlichen Beweise im Rahmen seiner Amtsermittlungspflicht sogar selbst erheben und kann eine erforderliche körperliche Untersuchung anordnen (§§ 640 Abs. 1, 616 Abs. 1, 640 d, 372 a ZPO). Konnte ein anfechtender Vater im ausländischen Verfahren über den DNA-Test hinaus Umstände vortragen, die Zweifel an seiner Vaterschaft wecken, kommt es nicht zu einer Ergebnisdivergenz gegenüber vergleichbaren deutschen Verfahren. Ein deutsches Gericht hätte aufgrund ausreichend substantiiert vorgetragener Zweifel an der Vaterschaft eine geeignete körperliche Untersuchung anordnen müssen. Es ist 23 24
25
26 27 28 29
BGH, FamRZ 1997, S. 490. BGHZ 144, S. 390, und BGHZ 141, S. 286: Versagung rechtlichen Gehörs; s. auch BGH, FamRZ 1997, S. 490. BGHZ 118, S. 312: zur pre-trial discovery; BGHZ 98, S. 70: Übergewicht einer Partei bei der Benennung des Einzelschiedsrichters nur ordre public-widrig bei Auswirkung in der Amtsführung. Vgl. auch BGH, IPRspr. 1999, Nr. 168. BGH, FamRZ 1997, S. 490; OLG Naumburg, FamRZ 2001, S. 1013. BGHZ 118, S. 312. Oben Anm. 3.
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deshalb davon auszugehen, dass das ausländische Gericht zu demselben Ergebnis gekommen ist, zu dem auch ein deutsches Gericht käme, würde ein Verfahren nochmals im Inland geführt. Die nach deutschen Maßstäben vorliegende Persönlichkeitsrechtsverletzung erschöpft sich damit in solchen Fällen im ausländischen Verfahren und wird durch eine Urteilsanerkennung auch nicht gleichsam perpetuiert, weil diese nur zu demjenigen Ergebnis führt, das auch in Deutschland erzielt worden wäre. Einer Anerkennung steht der Ordre public-Vorbehalt nicht entgegen. Eine Abweichung von den Ergebnissen eines deutschen Verfahrens liegt mithin lediglich dann vor, wenn das ausländische Urteil sich allein auf einen heimlichen DNA-Test stützt, ohne dass ein anfechtender Scheinvater substantiiert sonstige Umstände vortragen konnte, die nach deutscher Vorstellung zur amtswegigen Anordnung eines solchen Tests hätten führen können. Schon die so formulierte Problematik zeigt freilich, dass die Ergebnisabweichung des ausländischen Urteils von demjenigen eines präsumtiven deutschen Verfahrens nicht etwa allein auf dem fraglichen Beweisverwertungsverbot für heimliche DNA-Tests beruht, sondern vielmehr erst durch das Zusammenwirken dieses Beweisverwertungsverbots mit der nicht zum Ordre public gehörenden Vermutung in § 1600 c Abs. 1 BGB30 und mit den Substantiierungslasten bewirkt wird, welche den Kläger im Anfechtungsprozess treffen. Diesen Substantiierungslasten kommt aber ebenfalls keine Ordre public-Qualität zu. Dass ein andersartiges Beweisrecht kein Grund ist, dem ausländischen Urteil die Anerkennung zu versagen, ist gerade in Verbindung mit Vaterschaftsklagen grundsätzlich anerkannt31. Aber auch die Zwecke, welche die Rechtsprechung mit der Begründung anfänglicher Substantiierungslasten bei Vaterschaftsanfechtungsklagen verfolgt, gebieten keine andere Beurteilung. Dabei geht es nämlich um zwei Ziele. Einmal soll diese Rechtsprechung die zweijährige Anfechtungsfrist nach § 1600 b BGB flankieren, die mit Kenntnis des Vaters von den Verdachtstatsachen beginnt, die gegen die Vaterschaft sprechen. Der Anfechtende soll diese vor Gericht darlegen müssen, damit die Einhaltung dieser Frist überprüfbar ist. Bestünde dieses Erfordernis nicht, so wird eine faktisch zeitlich unbegrenzte Anfechtungsmöglichkeit und damit eine Aushebelung dieser dem Rechts- und Familienfrieden und der Rechtssicherheit bei Statusverhältnissen dienenden Frist befürchtet. Außerdem sollen dem Kind oder der Mutter körperliche Untersuchungen nur zugemutet werden, wenn hierfür aufgrund substantiiert vorgetragener Tatsachen Anlass besteht32. Beide Schutzzwecke sind nicht geeignet, das Vorliegen eines Ordre publicVerstoßes bei einem von geringeren Substantiierungslasten ausgehenden ausländischen Urteil abzusichern. Wenn das ausländische Urteil vorliegt, ist der Test schon vorgenommen. Beeinträchtigungen lässt sich durch unterbleibende Anerkennung nicht mehr vorbeugen; und dass ein ausländisches Gericht sich bei der 30 31
32
Oben IV. BGH, NJW 1997, S. 2051; BGH, FamRZ 1986, S. 665; allgemein s. etwa ZöllerZPO/Geimer, § 328 ZPO, Rdnr. 162. Zusammenfassend BGH, NJW 1998, S. 2976.
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Zulassung von DNA-Tests als Beweismittel von den Anerkennungsaussichten in Deutschland beeinflussen lässt, liegt fern. Soweit es um Fristen geht, ist grundsätzlich bei vom deutschen Recht abweichenden Fristen ein großzügiger Maßstab angezeigt, denn jeder Frist wohnt ein Element der Abwägung zwischen Rechtssicherheit und Richtigkeit inne, die aus legitimen Gründen unterschiedlich ausfallen kann, ohne dass damit Grundlagen der deutschen Rechtsordnung berührt wären. Die Gerichte haben daher abweichende Fristen des ausländischen Rechts im Familien- und Erbrecht regelmäßig nicht als Verletzung der Vorbehaltsklausel eingeordnet33. Allerdings könnte eine zeitlich unbegrenzte Anfechtungsmöglichkeit einen Verstoß gegen das Grundprinzip des deutschen Rechts darstellen, dass ab einem bestimmten Zeitpunkt dem Interesse des Kindes, Gewissheit über seinen Personenstand zu erlangen, Vorrang vor dem Klärungsinteresse des anfechtenden Vaters zukommen muss34. Daraus könnte aber allenfalls folgen, dass ein ausländisches Urteil möglicherweise gegen den deutschen Ordre public verstößt, wenn es einer Anfechtungsklage stattgibt, die erst nach einer langjährigen Kenntnis des Anfechtenden von den zur Klage Anlass gebenden Tatsachen erhoben wurde, sofern weitere Voraussetzungen – insbesondere ein hinreichender Inlandsbezug – vorliegen. Ob ein solcher Schluss möglich ist, ist schon unsicher. Jedenfalls aber der weitere Schluss, dass deswegen das Erfordernis einer anfänglichen Substantiierung des Anfechtungsgrundes vom deutschen Ordre public erfasst sein müsste, lässt sich nicht ziehen. Hat ein Scheinvater die Anfechtungsklage ohne längeres Zuwarten erhoben, nachdem er Kenntnis von Verdachtstatsachen erlangt hat, ist der dargelegte Schutzzweck der Substantiierungserfordernisse bei der Vaterschaftsanfechtung nicht berührt. Einer Anerkennung eines ausländischen Urteils, das auf einem dem Vater keine solche anfängliche Substantiierungslast aufbürdenden Recht beruht, kann deshalb der deutsche Ordre public nicht entgegenstehen, zumal
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34
BGHZ 75, S. 32: Sechsmonatsfrist für die Vaterschaftsanfechtung nach tschechoslowakischem Recht; OLG Hamburg, OLGR 1997, S. 397: Sechsmonatsfrist nach polnischem Recht; OLG Karlsruhe, IPRspr. 1986, Nr. 72: Einjahresfrist nach griechischem Recht; AG Mannheim, IPRspr 1999, Nr. 311 = IPRax 1999, S. 311 (Ls.), m. zust. Anm. Erik Jayme: Sechsmonatsfrist nach bosnischem Recht; AG Spandau, FamRZ 1998, S. 1132: Einmonatsfrist nach türkischem Recht; OLG Hamm, FamRZ 1997, S. 881: Scheidung ohne Trennungsjahr nach türkischem Recht; OLG Braunschweig, NJW-RR 1989, S. 1097: Zeitliche Befristung für die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen; vgl. auch öst. OGH, ZfRV 1993, S. 35. Ein Verstoß wurde nur dann bejaht, wenn die Frist zugleich als Mindestfrist einem hervorragenden materiellen Schutzzweck dient, der andernfalls vereitelt würde. So wurde der gänzliche Ausschluss der Anfechtung eines Vaterschaftsanerkenntnisses nach serbischem Recht deshalb als Verstoß gegen den Ordre public angesehen, weil auch keine hinreichende Überlegungsfrist gegeben war, die eine reifliche Überlegung vor der Abgabe des Anerkenntnisses absichert, OLG Stuttgart, FamRZ 2000, S. 377 = IPRax 2001, S. 128 mit Aufsatz Dieter Henrich, S. 118. BGHZ 75, S. 32, 43 ff.; OLG Karlsruhe, FamRZ 2002, S. 899.
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die hohen Hürden des deutschen Rechts für die Vaterschaftsanfechtung jüngst in der rechtspolitischen Diskussion in Frage gestellt werden35. Wenn somit die anfängliche Substantiierungslast des Vaters nicht am Vorbehalt des Ordre public Teil hat, so kann für das prozessuale Verbot der Verwertung „heimlicher“ DNA-Tests schwerlich etwas anderes gelten. Ohne das Eingreifen einer solchen anfänglichen Substantiierungslast beschränkt sich der Unterschied zwischen dem fraglichen ausländischen Urteil und dem deutschen Verfahren darauf, dass der Test in jenem Verfahren ohne Einwilligung von Mutter oder Kind heimlich erfolgt ist, wohingegen im deutschen Verfahren die Durchführung nach § 372 a ZPO gegen den Willen der Betroffenen angeordnet werden kann und muss, sofern ein substantiierter Vortrag dies rechtfertigt. Eine Ergebnisdivergenz träte ohne das Bestehen einer anfänglichen Substantiierungslast nicht ein. Wer ausländische Urteile, die auf einem „heimlichen“ DNA-Test beruhen, unter Berufung auf die Vorbehaltsklausel nicht anerkennen wollte, würde also in Wahrheit nicht das Beweisverwertungsverbot des deutschen Prozessrechts, sondern dessen Substantiierungsmaßstäbe schützen. Diese bilden aber keinen unverzichtbaren Grundgedanken des deutschen Rechts. Es steht also der Anerkennung eines ausländischen Urteils unter dem Gesichtspunkt des Ordre public nicht von vornherein entgegen, wenn dieses sich auf einen „heimlichen“ DNA-Test stützt.
VI. Schluss Das Fazit kann knapp ausfallen. Auch im vorliegenden Kontext bestätigt sich die kollisionsrechtliche Erfahrung, dass sich in internationaler Perspektive manches fest gefügte Ergebnis des nationalen Rechts relativiert, was wiederum zur Vorsicht bei der Formulierung allzu rigider Standpunkte bei dem Umgang mit heimlichen Vaterschaftstests mahnt.
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„Wir denken darüber nach, die Verfahren zu vereinfachen, mit denen Väter ihre Vaterschaft feststellen lassen können.“, Äußerung der Bundesministerin der Justiz Brigitte Zypries gegenüber der Saarbrücker Zeitung, Ausgabe v. 8. 1. 2005.
Schriftenverzeichnis Adolf Laufs
Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Adolf Laufs
Vorbemerkung Das nachstehende Verzeichnis wissenschaftlicher Veröffentlichungen soll einen vorläufigen Überblick über das bisherige wissenschaftliche Werk von Adolf Laufs ermöglichen. Es befindet sich auf dem Stand Ende Juni 2005. Unsere Aufstellung bildet das Gesamtwerk des Jubilars nicht vollständig ab, kann es nicht vollständig abbilden. Die Redaktion dieser Festschrift hat sich um Vollständigkeit bemüht, mag aber an einzelnen Stellen gescheitert sein. Nennenswerte Einschränkungen betreffen zunächst die Äußerungen Adolf Laufs’ in Tageszeitungen und Journalen, die vollständig beiseite gelassen worden sind. Sodann konnte die bisherige umfangreiche Rezensionstätigkeit Adolf Laufs’ nicht erfasst werden. Die Redaktion stieß hier an ihre organisatorischen Grenzen. Deswegen wurde von einem Versuch, der offensichtlich lückenhaft hätte bleiben müssen, abgesehen. Vornehmlich die Rezensionsteile der ZRG (Germ. Abt.; vgl. dort z. B. das Generalregister der Bände 76-100 mit 37 Rezensionen aus dem Zeitraum 1965-1983), der Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte, der NJW, der MedR und der JZ (zu schweigen von medizinischen Fachzeitschriften) zeugen von der Belesenheit und vom sicheren Urteil des Jubilars. Gleiches wie für Rezensionen gilt für Berichte, Chroniken und die sogenannten „Problemstellungen“, eine Spezialität der von Adolf Laufs geprägten Zeitschrift MedR. Diese Problemstellungen sind mehr als redaktionelle Leitsätze im Rechtsprechungsteil einer juristischen Fachzeitschrift – sie sollen es auch dem Arzt erleichtern, eine konkreten Entscheidung richtig einzuordnen. Vorsichtigen Schätzungen Bernd-Rüdiger Kerns zufolge dürfte die Zahl der aus Adolf Laufs’ Feder stammenden Problemstellungen mehrere Hundert erreichen. Von einer thematischen Gliederung der einzelnen Werke wurde abgesehen. Rechtsgeschichte, Medizinrecht und sonstiges geltendes bürgerliches Recht sind zu grobe Kategorien – weitere Unterkategorien indessen hätten zur Unübersichtlichkeit geführt. So bildet das Verzeichnis Laufs’ wissenschaftliches Werk überwiegend chronologisch ab. Es ist gegliedert in die der äußeren Form der Schriften geschuldeten Gruppen Monographien – Beiträge zu Sammelwerken – Zeitschriftenaufsätze – Urteilsanmerkungen – Herausgeberschaften.
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Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Adolf Laufs
I. Monographien 1.
Die Verfassung und Verwaltung der Stadt Rottweil 1650-1806 (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in BadenWürttemberg, Reihe B, Bd. 22), Stuttgart 1963, XVI, 152 S.; zugl. Freiburg/Br., Univ., Rechts- u. Staatswiss. Fak., Diss. v. 29. 11. 1961
2.
Der Schwäbische Kreis. Studien über Einungswesen und Reichsverfassung im deutschen Südwesten zu Beginn der Neuzeit (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, N. F., Bd. 16), Aalen 1971, XL, 472 S.; zugl. Freiburg/Br., Univ., Rechts- u. Staatswiss. Fak., Habil.-Schr. 1968
3.
Das Eigen-Landrecht der Siebenbürger Sachsen, unveränd. Wiedergabe des Erstdruckes 1583, München 1973, XXXIX, 246 S. (Einführung von Adolf Laufs, S. V-XX)
4.
Rechtsentwicklungen in Deutschland. Ein rechtsgeschichtliches Arbeitsbuch, 1. Aufl., Berlin 1973, XVI, 315 S.; 2., erg. Aufl., Berlin 1978, XIX, 331 S.; 3. Aufl., Berlin 1984, XIX, 385 S.; 4., durchges. u. erg. Aufl., Berlin 1991, XXI, 399 S.; 5. Aufl., Berlin 1996, XXV, 461 S.
5.
Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 3), Köln u. a. 1976, 319 S. (Einführung von Adolf Laufs, S. 1-53)
6.
Arztrecht, 1. Aufl., München 1977, 109 S.; 2. Aufl., München 1978, 130 S.; 3., verb. u. erw. Aufl., München 1984, VI, 192 S.; 4., verb. u. erw. Aufl., München 1988, 243 S.; 5., verb. u. erw. Aufl., München 1993, 417 S.
7.
Recht und Gericht im Werk der Paulskirche (Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, Bd. 139), Heidelberg 1978, 52 S.
8.
Medizin und Recht im Zeichen des technischen Fortschritts. Aufgaben und Antworten aus der Sicht des Juristen (Sitzungsberichte der Heidelberger Akad. der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Jg. 1978, Abh. 5), Heidelberg 1978, 37 S.
9.
Berufsfreiheit und Persönlichkeitsschutz im Arztrecht (Sitzungsberichte der Heidelberger Akad. der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Jg. 1982, Abh. 5), Heidelberg 1982, 34 S.
10. (mit Bernd-Rüdiger Kern) Die ärztliche Aufklärungspflicht. Unter besonderer Berücksichtigung der richterlichen Spruchpraxis, Berlin 1983, XII, 214 S. 11. Eduard Lasker. Ein Leben für den Rechtsstaat, Göttingen 1984, 151 S. 12. Rechtliche Grenzen der Fortpflanzungsmedizin (Sitzungsberichte der Heidelberger Akad. der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Jg. 1987, Ber. 2), Heidelberg 1987, 49 S.
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13. Der ärztliche Heilauftrag aus juristischer Sicht (Schriftenreihe der Juristischen Studiengesellschaft Karlsruhe, Bd. 185), Heidelberg 1989, 51 S. 14. (mit Emil Reiling) Ethik-Kommissionen – Vorrecht der Ärztekammer? Heidelberg 1991, VII, 128 S. 15. Die Christen im Dienst am Leben: Herausforderungen der modernen Medizin (Kirche und Gesellschaft, Nr. 191), Köln 1992, 16 S. 16. Fortpflanzungsmedizin und Arztrecht (Soziale Orientierung, Bd. 7), Berlin 1992, 146 S. 17. Unglück und Unrecht: Ausbau oder Preisgabe des Haftungssystems? (Sitzungsberichte der Heidelberger Akad. der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Jg. 1994, Ber. 3), Heidelberg 1994, 44 S. 18. (mit Emil Reiling) Rechtsfragen zu HIV-Infektion und Aids-Erkrankung, Frankfurt/M. 1995, 32 S. 19. Recht und Unrecht der DDR: Versuch einer Bilanz (Sitzungsberichte der Heidelberger Akad. der Wissenschaften, Phil.-hist. Klasse, Jg. 1998, Bd. 8), Heidelberg 1998, 42 S. 20. Persönlichkeit und Recht. Gesammelte Aufsätze, Baden-Baden 2001, 257 S. 21. Das Ermächtigungsgesetz („Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“) vom 24. März 1933: Reichstagsdebatte, Abstimmung, Gesetzestext, Berlin 2003, XVIII, 64 S. 22. Auf dem Wege zu einem Fortpflanzungsmedizingesetz?: Grundfragen der artifiziellen Reproduktion aus medizinrechtlicher Sicht, Baden-Baden 2003, 46 S.
II. Beiträge zu Sammelwerken 1.
Die Verfassung der Reichsstadt Rottweil im Zeitalter der Mediatisierung, in: Erich Maschke, Jürgen Sydow (Hrsg.), Verwaltung und Gesellschaft in der südwestdeutschen Stadt des 17. und 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1969, S. 84 ff.
2.
Artikel „Geistliche Bank“, in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 1970, Sp. 1452 f.
3.
Artikel „Goldene Bulle“, in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 1, Berlin 1970, Sp. 1739 ff.
1210
Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Adolf Laufs
4.
Artikel „Jüngster Reichsabschied“, in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 1973, Sp. 468-472
5.
Über die Form im Rechtsgang, in: Klaus Müller, Hermann Soell (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Gesetzgebung. Festschrift für Eduard Wahl zum 70. Geburtstag am 29. März 1973, Heidelberg 1973, S. 3-24
6.
Des markgräflich-badischen Landschreibers Paul Kircher Ausgab und Zehrung auf dem Valvationstag zu Nürnberg 1551, in: Friedrich Facius, Jürgen Sydow (Hrsg.), Aus Stadt- und Wirtschaftsgeschichte Südwestdeutschlands. Festschrift für Erich Maschke zum 75. Geburtstag, Stuttgart 1975, S. 137-145
7.
Artikel „Hand- und Spanndienst“, in: Wilhelm Bierfelder (Hrsg.), Handwörterbuch des öffentlichen Dienstes. Das Personalwesen, Berlin 1976, Sp. 747749
8.
(mit Klaus-Peter Schroeder) Artikel „Landrecht“, in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2, Berlin 1976, Sp. 1527-1535
9.
Die Reichskammergerichtsordnung von 1555. Ihre Entstehung und Bedeutung. Einführende Notizen und Literaturhinweise, in: Consilium Magnum 1473-1973. Colloquium Brussel-Mechelen 1973, Brüssel 1977, S. 239-248
10. Die rechtsstaatlichen Züge des Bismarck-Reiches, in: Bernhard Diestelkamp u. a. (Hrsg.), Rechtshistorische Studien. Hans Thieme zum 70. Geburtstag, Köln 1977, S. 72-95 11. Konrad Beyerle: Leben und Werk, in: Gestalten und Probleme katholischer Rechts- und Soziallehre (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N. F., Bd. 29), Paderborn 1977, S. 21-54 12. Deutsche Rechtsgeschichte, in: Rudolf Weber-Fas (Hrsg.), Jurisprudenz. Die Rechtsdisziplinen in Einzeldarstellungen, Stuttgart 1978, S. 83-96 13. Gerichtsbarkeiten und Rechtspflege im deutschen Südwesten zur Zeit des Alten Reiches, in: Bausteine zur geschichtlichen Landeskunde von BadenWürttemberg, hrsg. von der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg anlässlich ihres 25jährigen Bestehens, Stuttgart 1979, S. 157-174 14. Jus publicum Rotwilense. Über einen reichsstädtischen Beitrag zur Verfassungslehre des späten Reiches, in: Gerd Kleinheyer, Paul Mikat (Hrsg.), Beiträge zur Rechtsgeschichte. Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, Paderborn 1979, S. 409-424 15. Artikel „Maximilian I.“, in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, Berlin 1979, Sp. 400-402
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16. Artikel „Johann Jakob Moser“, in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3, Berlin 1980, Sp. 703-705 17. Grundlagen des Arztrechts, in: Horst Ehmann, Wilhelm Hefermehl, Adolf Laufs (Hrsg.), Privatautonomie, Eigentum und Verantwortung. Festgabe für Herrmann Weitnauer zum 70. Geburtstag, Berlin 1980, S. 363-386 18. Grundlagen und Reichweite der ärztlichen Aufklärungspflicht, in: Heike Jung, Hans Wilhelm Schreiber (Hrsg.), Arzt und Patient zwischen Therapie und Recht (Medizin und Recht, Bd. 11), Stuttgart 1981, S. 71-89 19. Juristische Aspekte, in: Katholische Ärztearbeit Deutschlands (Hrsg.), Medizinische Ethik. Aspekte, Kriterien, Perspektiven, Köln 1982, S. 28-38 20. Artikel „Konrad Beyerle“, in: Bernd Ottnad (Hrsg.), Badische Biographien, N. F., Bd. 1, Stuttgart 1982, S. 48-50 21. Artikel „Franz Joseph Kohler“, in: Bernd Ottnad (Hrsg.), Badische Biographien, N. F., Bd. 1, Stuttgart 1982, S. 192-193 22. Artikel „Gustav Lambert Radbruch“, in: Bernd Ottnad (Hrsg.), Badische Biographien, N. F., Bd. 1, Stuttgart 1982, S. 223-225 23. Artikel „Eberhard Frhr. von Künßberg“, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 13, Berlin 1982, S. 226-227 24. Der preußische Diplomat Karl Friedrich von Savigny. Notizen zu und aus seinen Selbstzeugnissen, in: Karl Kroeschell (Hrsg.), GerichtslaubenVorträge. Freiburger Festkolloquium zum 75. Geburtstag von Hans Thieme, Sigmaringen 1983, S. 95-103 25. Die Aufklärung des onkologischen Patienten, in: Karl zum Winkel, Wilhelm Doerr, Richard Herrmann, Bernd-Rüdiger Kern, Adolf Laufs (Hrsg.), Randomisation und Aufklärung bei klinischen Studien in der Onkologie, Berlin u. a. 1984, S. 4-7 26. (mit Richard Herrmann, Bernd-Rüdiger Kern, Karl zum Winkel, N. Victor) Empfehlungen zur Randomisation und Aufklärung bei Therapiestudien in der Onkologie – medizinische und juristische Gesichtspunkte, in: Karl zum Winkel, Wilhelm Doerr, Richard Herrmann, Bernd-Rüdiger Kern, Adolf Laufs (Hrsg.), Randomisation und Aufklärung bei klinischen Studien in der Onkologie, Berlin u. a. 1984, S. 51-56 27. Die Fehrsche rechtsarchäologische Bildersammlung, in: Gregor Richter (Hrsg.), Aus der Arbeit des Archivars. Festschrift für Eberhard Gönner, Stuttgart 1986, S. 361-374 28. Gustav Radbruch (1878-1949), in: Doerr, Wilhelm (Hrsg.), Semper apertus: 600 Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386-1986. Festschrift in sechs Bänden, Berlin 1986, Bd. 3, S. 148-166
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29. Aus dem Nachlaß Gustav Radbruchs: Ein Fragment über die Bundesentwürfe Anselm von Feuerbachs und Franz von Liszts, in: Gerhard Köbler (Hrsg.), Wege europäischer Rechtsgeschichte. Karl Kroeschell zum 60. Geburtstag dargelegt von Freunden, Schülern und Kollegen, Frankfurt/M. u. a. 1987, S. 265-271 30. Artikel „Rottweil“, in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1988, Sp. 11721177 31. Die Berliner Justiz in der Zeit des NS-Regimes, in: Friedrich Ebel und Albrecht Randelzhofer (Hrsg.), Rechtsentwicklungen in Berlin, Berlin 1988, S. 193-217 32. Der Arzt – Herr über Leben und Tod? Antworten aus der Sicht eines Juristen, in: Der Schutz des menschlichen Lebens (Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 22), Münster 1988, S. 114-134 33. HIV-Infektion: rechtliche Aspekte, in: Bezirksärztekammer Südwürttemberg (Hrsg.), AIDS heute (Themen zur ärztlichen Fortbildung, Bd. 8), Tübingen 1988, S. 44-53 34. Rechtliche Grenzen der Transplantationsmedizin, in: Hans Kamps, Adolf Laufs (Hrsg.), Arzt- und Kassenrecht im Wandel. Festschrift für Helmut Narr zum 60. Geburtstag, Berlin 1988, S. 34-46 35. (mit Emil Reiling) Artikel „Schwäbischer Bund“, in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1989, Sp. 1551-1557 36. Artikel „Krankenblatt“, in: Albin Eser u. a. (Hrsg.), Lexikon Medizin – Ethik – Recht, Freiburg 1989, Sp. 614-622 37. Artikel „Schweigepflicht“, in: Albin Eser u. a. (Hrsg.), Lexikon Medizin – Ethik – Recht, Freiburg 1989, Sp. 991-1001 38. Artikel „Standesrecht“, in: Albin Eser u. a. (Hrsg.), Lexikon Medizin – Ethik – Recht, Freiburg 1989, Sp. 1071-1078 39. Medizin und Recht, in: Dietrich Rössler, Hans Dierck Waller (Hrsg.), Medizin zwischen Geisteswissenschaft und Naturwissenschaft, Tübingen 1989, S. 105-131 40. Der Arzt – Herr über Leben und Tod?, in: Dieter Schwab u. a. (Hrsg.), Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von Paul Mikat, Berlin 1989, S. 145-163 41. Zum Wandel des ärztlichen Berufsrechts, in: Hans Joachim Faller u. a. (Hrsg.), Verantwortlichkeit und Freiheit. Festschrift für Willi Geiger zum 80. Geburtstag, Tübingen 1989, S. 228-239
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42. Zivilrechtliche Fragen im Zusammenhang mit AIDS, insbesondere ärztliche Untersuchungs-, Offenbarungs- und Behandlungspflichten, Berufshaftung, in: Ministerium für Justiz, Bundes- und Europaangelegenheiten BadenWürttemberg (Hrsg.), AIDS als Herausforderung an das Recht, Stuttgart 1990, S. 278-303 43. Artikel „Gerhard Anschütz“, in: Bernd Ottnad (Hrsg.), Badische Biographien, N. F., Bd. 3, Stuttgart 1990, S. 6-8 44. Artikel „Max Hachenburg“, in: Bernd Ottnad (Hrsg.), Badische Biographien, N. F., Bd. 3, Stuttgart 1990, S. 113-115 45. Artikel „Eberhard von Künßberg“, in: Bernd Ottnad (Hrsg.), Badische Biographien, N. F., Bd. 3, Stuttgart 1990, S. 163-166 46. (mit Alexander Eichener) Artikel „Stände, Ständewesen“, in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1990, Sp. 1901-1910 47. (mit Alexander Eichener) Artikel „Ständelehre“, in: Adalbert Erler, Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4, Berlin 1990, Sp. 1910-1914 48. Der Arzt – Herr über Leben und Tod?, in: Medizin in Forschung und Praxis, hrsg. von der Kongreßgesellschaft für ärztliche Fortbildung e.V., Berlin 1990, S. 90-99 49. Arzt und Recht im Wandel der Zeit, in: Albin Eser (Hrsg.), Recht und Medizin, Darmstadt 1990, S. 387-412 50. Rechtsfragen der Organtransplantation, in: Hans-Dieter Hiersche u. a. (Hrsg.), Rechtliche Fragen der Organtransplantation, Berlin, Heidelberg 1990, S. 57-74 51. Arztrecht und Grundgesetz, in: Reinhard Mußgnug (Hrsg.), Rechtsentwicklung unter dem Bonner Grundgesetz, Heidelberg 1990, S. 145-163 52. Zum Stand der Weistumsforschung, in: Hans Peter Henecka, Uwe Uffelmann (Hrsg.), Soziologie, Politik, Geschichte in der Lehrerausbildung. Hans Kollnig zum 80. Geburtstag, Weinheim 1990, S. 147-168 53. Grundlagen des Arztrechts, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, München 1991, S. 1-36; 2., neubearb. Aufl., München 1999, S. 1-49; 3., neubearb. Aufl., München 2002, S. 1-52 54. Grundbegriffe des Arztrechts, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, München 1991, S. 37-52; 2., neubearb. Aufl., München 1999, S. 50-69; 3., neubearb. Aufl., München 2002, S. 53-73 55. Die ärztliche Ausbildung (Medizinstudium und Arzt im Praktikum, Die Approbation), in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des
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Arztrechts, München 1991, S. 53-69; 2., neubearb. Aufl., München 1999, S. 70-85; 3., neubearb. Aufl., München 2002, S. 74-90 56. Ärztliches Berufs- und Standesrecht (Heilkunde und Heilpraktikergesetz, Fort- und Weiterbildung, Ärztliche Berufe, Standesorganisationen, Berufspflichten und Berufsgerichtsbarkeit, Werbeverbot und Wettbewerbsrecht, Ärztlicher Notfalldienst), in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck, Handbuch des Arztrechts, München 1991, S. 75-120, 122-127; 2., neubearb. Aufl., München 1999, S. 93-147, 149-154 57. Die ärztliche Aufklärung, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, München 1991, S. 342-374; 2., neubearb. Aufl., München 1999, S. 456-498; 3., neubearb. Aufl., München 2002, S. 496-539 58. Die vertragliche Haftpflicht des Arztes und des Krankenhausträgers, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, München 1991, S. 614-647; 2., neubearb. Aufl., München 1999, S. 841-876; 3., neubearb. Aufl., München 2002, S. 921-957 59. Die deliktische Haftpflicht des Arztes und des Krankenhausträgers, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, München 1991, S. 648-665; 2., neubearb. Aufl., München 1999, S. 877-895; 3., neubearb. Aufl., München 2002, S. 958-977 60. Die Beweislast im Arzthaftpflichtprozeß, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, München 1991, S. 666-681; 2., neubearb. Aufl., München 1999, S. 896-913; 3., neubearb. Aufl., München 2002, S. 979-996 (u. d. T. Die Beweislast im Arzthaftungsprozeß) 61. Besondere ärztliche Eingriffe und Sonderprobleme (Artifizielle Reproduktion. Embryonenschutzgesetz, Heilversuch und klinisches Experiment), in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, München 1991, S. 734-768; 2., neubearb. Aufl., München 1999, S. 988-1040; 3., neubearb. Aufl., München 2002, S. 1080-1143 62. Zur Entwicklung des Arztrechts, in: Bezirksärztekammer Südwürttemberg (Hrsg.), Das Bild des Arztes, Tübingen 1991, S. 71-94 63. (mit Alexander Eichener) Ursprünge einer strafrechtlichen Arzthaftung: Untersuchungen zu Artikel 134 der Constitutio Criminalis Carolina, in: Erik Jayme u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hubert Niederländer zum 70. Geburtstag am 10. Februar 1991, Heidelberg 1991, S. 71-96 64. Fortpflanzungsmedizin und Arztrecht, in: Hans-Ludwig Günther u. a. (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik – strafrechtliche Schranken?, 2. Aufl., Tübingen 1991, S. 89-108 65. „Pille“ für Dreizehnjährige: macht der Arzt sich strafbar? in: Junge Mädchen in der gynäkologischen Sprechstunde, hrsg. vom Arbeitskreis TeenagerSprechstunde, Lünen 1991, S. 101-109; 2. Aufl., Lünen 1993, S. 101-109
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66. Artikel „Amt“, in: Adolf Reifferscheid (Hrsg.), Ergänzbares Lexikon des Rechts, T. 1: Rechtsgeschichte. Abschnitt 1/80, Neuwied 1992, S. 1-4 67. Der Arzt im Recht: historische Perspektiven und Zukunftsfragen; eine Skizze, in: Dieter Medicus u. a. (Hrsg.), Festschrift für Hermann Lange zum 70. Geburtstag, Stuttgart 1992, S. 163-184 68. Artikel „Krankenblatt“, in: Albin Eser u. a. (Hrsg.), Lexikon Medizin – Ethik – Recht, Freiburg 1992, Sp. 614-622 69. Artikel „Schweigepflicht“, in: Albin Eser u. a. (Hrsg.), Lexikon Medizin – Ethik – Recht, Freiburg 1992, Sp. 991-1001 70. Artikel „Standesrecht“, in: Albin Eser u. a. (Hrsg.), Lexikon Medizin – Ethik – Recht, Freiburg 1992, Sp. 1071-1078 71. Die Universitäten: Beständigkeit und Wandel, in: Meinrad Schaab (Hrsg.), Vierzig Jahre Baden-Württemberg. Aufbau und Gestaltung 1952-1992, Stuttgart 1992, S. 529-555, 638-639 72. Robert Scheyhing: Leben und Werk, in: Adolf Laufs u. a. (Hrsg.), Zum Gedenken an Professor Dr. iur. Robert Scheyhing: 1927-1989 (Tübinger Universitätsreden, N. F., Bd. 2 – Reihe der Jurist. Fakultät, Bd. 1), Tübingen 1992, S. 19-52 73. Bibliographie Robert Scheyhing, in: Adolf Laufs u. a. (Hrsg.), Zum Gedenken an Professor Dr. iur. Robert Scheyhing: 1927-1989 (Tübinger Universitätsreden, N. F., Bd. 2 – Reihe der Jurist. Fakultät, Bd. 1), Tübingen 1992, S. 53-63 74. Eduard Lasker (1829-1884): ein Leben für den Rechtsstaat, in: Helmut Heinrichs u. a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993, S. 249-281 75. Deliktische Haftung ohne Verschulden? in: Hermann Lange u. a. (Hrsg.), Festschrift für Joachim Gernhuber zum 70. Geburtstag, Tübingen 1993, S. 245-258 76. Die Reichsstadt Rottweil und das Kaiserliche Hofgericht, in: Bernhard Kirchgässner u. a. (Hrsg.), Residenzen des Rechts, Sigmaringen 1993, S. 1935 77. Standards, Kostendruck und Haftpflichtrecht, in: Eckhard Nagel und Christian Fuchs (Hrsg.), Soziale Gerechtigkeit im Gesundheitswesen: ökonomische, ethische, rechtliche Fragen am Beispiel der Transplantationsmedizin, Berlin 1993, S. 290-301 78. Berufsrecht und Berufsethos des Arztes, in: Gertrude H. Anscombe, Hans Thomas (Hrsg.), Das zumutbare Kind. Die zweite Bonner Fristenregelung vor dem Bundesverfassungsgericht, Herford 1993, S. 13-40
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Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Adolf Laufs
79. Johannes Reuchlin, Rat und Richter. Erste Bausteine für eine juristische Biographie, in: Wolfgang Schmierer u. a. (Hrsg.), Aus südwestdeutscher Geschichte. Festschrift für Hans-Martin Maurer, Stuttgart 1994, S. 296-306 80. Rechtsansprüche des Patienten auf Teilhabe am medizinischen Fortschritt, in: Christian Herfarth u. a. (Hrsg.), Möglichkeiten und Grenzen der Medizin, Berlin 1994, S. 62-70 81. Zur ärztlichen Aufklärungspflicht, in: Hans Isele (Hrsg.), Onkologie für den Hausarzt, München 1994, S. 75-82 82. Das ärztliche Gutachten im Arztrecht, in: Karl-Horst Bichler (Hrsg.), Das urologische Gutachten, Berlin 1994, S. 50-66 83. (mit Markus Rafael Ackermann) Die juristische Fakultät in den zwanziger Jahren, in: Jörn Bahns (Hrsg.), Zwischen Tradition und Moderne: Heidelberg in den 20er Jahren [Ausstellungskatalog], Heidelberg 1994, S. 187-203 84. Fortschritte der Medizin in den Grenzen des Rechts, in: Ruprecht-KarlsUniversität Heidelberg (Hrsg.), Grenzen erkennen – Grenzen setzen? (Studium Generale, Sommersemester 1994), Heidelberg 1995, S. 31-42 85. Juristische Aspekte im Krankheitsgeschehen, in: Volker Becker, Heinrich Schipperges (Hrsg.), Krankheitsbegriff, Krankheitsforschung, Krankheitswesen [Zum 80. Geburtstag von Wilhelm Doerr], Berlin 1995, S. 15-23 86. Fötalmedizin, in: Walter Kasper, Josef Höfer u. a. (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 3. Aufl., Bd. 3, Freiburg 1995, Sp. 1370-1372 87. Artikel „Johann Jakob Moser“, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, 3. Aufl., München 1995, S. 284-293 88. „Das wirklich geltende, durch den allgemeinen Willen gesetzte Recht“: zur Rechtslehre Carl Georg von Wächters (1797-1880), in: Gerhard Koebler, Hermann Nehlsen (Hrsg.), Wirkungen europäischer Rechtskultur, München 1997, S. 617-634 89. Delikt und Gefährdung: von der Schadenszurechnung zur Schadensverteilung?; kritische Darstellung der Grundlinien in Lehre und Spruchpraxis, in: Adolf Laufs (Hrsg.), Die Entwicklung der Arzthaftung, Berlin u. a. 1997, S. 1-15 90. Artikel „Arztrecht“, in: Wilhelm Korff (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Gütersloh 1998, S. 261-267 91. Artikel „Gustav Radbruch“, in: Peter Ulmer (Hrsg.), Geistes- und Sozialwissenschaften in den 20er Jahren: Heidelberger Impulse (Heidelberger Universitätsreden, Bd. 14), Heidelberg 1998, S. 73-88 92. Artikel „Intensivmedizin, rechtlich“, in: Wilhelm Korff (Hrsg.), Lexikon der Bioethik, Gütersloh 1998, S. 261-267
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93. Johannes Reuchlin – Jurist in einer Zeitenwende, in: Stefan Rhein (Hrsg.), Reuchlin und die politischen Kräfte seiner Zeit (Pforzheimer Reuchlinschriften, Bd. 5), Sigmaringen 1998, S. 9-30 94. Zur Freiheit des Arztberufes, in: Hans-Jürgen Ahrens (Hrsg.), Festschrift für Erwin Deutsch zum 70. Geburtstag, Köln u. a. 1999, S. 625-633 95. Intensivmedizin und Sterbehilfe aus juristischer Sicht, in: Martin Frühauf (Hrsg.), Humanes Heilen, inhumanes Sterben? Gratwanderungen der Intensivmedizin; Fünftes Sankt Georgener Symposion, Frankfurt/M. 1999, S. 5367 96. Politische Revolutionen in Deutschland? 1848/49, 1918/19, 1933/34, 1989/90, in: Walther Hadding (Hrsg.), Festgabe Zivilrechtslehrer 1934-1935, Berlin 1999, S. 333-359 97. Geschichte und Funktion der Ethik-Kommissionen in Deutschland, in: Heimo Hofmeister (Hrsg.), Der Mensch als Subjekt und Objekt der Medizin, Neukirchen 2000, S. 132-151 98. Carl Georg von Wächter (1797-1880). Praktischer Rechtsgelehrter und konstitutioneller Parlamentarier von der Zeit des Vormärz bis zur Reichsgründung, in: Bernd-Rüdiger Kern (Hrsg.), Zwischen Romanistik und Germanistik. Carl Georg von Waechter (1797-1880), Berlin 2000, S. 11-31 99. Medizin und Recht im Wandel der Zeit, in: Peter-Christian Müller-Graff, Herbert Roth (Hrsg.), Recht und Rechtswissenschaft. Signaturen und Herausforderungen zum Jahrtausendbeginn, Heidelberg 2000, S. 217-235 100. Eduard Simson – Präsident der deutschen Nationalversammlung zu Frankfurt am Main 1848/49, in: Bernd-Rüdiger Kern, Klaus-Peter Schroeder (Hrsg.), Eduard von Simson (1810-1899). „Chorführer der Deutschen“ und Erster Präsident des Reichsgerichts (Juristische Zeitgeschichte Abt. 2, Bd. 10), Baden-Baden 2001, S. 43-70 102. Neunzehnhundertachtundsechzig – im Bild eines Zeitgenossen von der anderen Seite, in: Armin Kohule, Frank Engehausen (Hrsg.), Zwischen Wissenschaft und Politik. Studien zur deutschen Universitätsgeschichte. Festschrift für Eike Wolgast zum 65. Geburtstag, Stuttgart 2001, S. 218-230 103. Präimplantationsdiagnostik – Juristische Überlegungen, in: Bundesministerium für Gesundheit (Hrsg.), Fortpflanzungsmedizin in Deutschland, BadenBaden 2001, S. 204-208 104. (teilw. mit Wilhelm Uhlenbruck) Ärztliches Berufs- und Standesrecht, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3., neubearb. Aufl., München 2002, S. 98-167 105. (mit Wilhelm Uhlenbruck) Die Rechtsbeziehungen zwischen Arzt und Patient, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3., neubearb. Aufl., München 2002, S. 343-404
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Verzeichnis der wissenschaftlichen Veröffentlichungen von Adolf Laufs
106. (mit Wilhelm Uhlenbruck) Das Zustandekommen des Arztvertrages, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3., neubearb. Aufl., München 2002, S. 404-434 107. (mit Wilhelm Uhlenbruck) Die Pflichten des Arztes aus Behandlungsübernahme und Behandlungsvertrag, in: Adolf Laufs, Wilhelm Uhlenbruck (Hrsg.), Handbuch des Arztrechts, 3., neubearb. Aufl., München 2002, S. 435-479 108. Informed Consent und ärztlicher Heilauftrag, in: Thomas Hillenkamp (Hrsg.), Medizinrechtliche Probleme der Humangenetik, Berlin, Heidelberg 2002, S. 119-139 109. Das deutsche Recht der klinischen Arzneimittelprüfung: europakonform oder anpassungsbedürftig?, in: Erwin Bernat, Ernst Agneter (Hrsg.), Recht und Ethik der Arzneimittelforschung, Wien 2003, S. 51-59 110. Zur Entwicklung des Medizinrechts: Rückblick und Bestandsaufnahme, in: Albin Eser (Hrsg.), Perspektiven des Medizinrechts, Baden-Baden 2004, S. 23-36 111. Zur Entwicklung des Arztberufes im Spiegel des Rechts, in: Heinz-Peter Mansel (Hrsg.), Festschrift für Erik Jayme, München 2004, S. 1501-1512
III. Aufsätze in Zeitschriften 1.
Haftung für Nachkommenschaftsschäden nach § 823 BGB, in: NJW 1965, S. 1053-1057
2.
Zeitgeschichte und Rechtspflege. Eine Erwiderung, in: NJW 1965, S. 1521
3.
Zum Ehescheidungsrecht im geteilten Deutschland, in: NJW 1966, S. 281285
4.
Zum Verhältnis Recht und Geschichte, in: JZ 1966, S. 434-436
5.
Mehrere Geschäftsherren bei der negotiorum gestio, in: NJW 1967, S. 22942298
6.
Johann Oldendorp (1488-1567): zu seinem 400. Todestag am 3. Juni 1967, in: JuS 1967, S. 248-251
7.
Reichsstädte und Reichsreform, in: ZRG Germ. Abt. 84 (1967), S. 172-201
8.
Zur deliktsrechtlichen Problematik ärztlicher Eigenmacht, in: NJW 1969, S. 529-533
9.
Zur verfassungsgeschichtlichen Einheit und korporativen Politik der schwäbischen Reichsstädte in der früheren Neuzeit, in: Jb. für Geschichte der oberdeutschen Reichsstädte 15 (1970), S. 49 ff.
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10. (mit Arvid Schwenger) Der Schadensersatzanspruch des Bestellers beim Werkvertrag: Inhalt, Verjährung, Beweislast, in: NJW 1970, S. 1817-1822. 11. Die Anfänge des deutschen Nationalstaats, in: JuS 1971, S. 9-14 12. Schutz der Persönlichkeitssphäre und ärztliche Heilbehandlung, in: VersR 1972, S. 1-9 13. (mit Bettina Dick, Klaus-Peter Schroeder, Pirmin Spieß, Elmar Wadle u. a.) Das Wimpfener Rechtsbuch. Bericht über eine unbekannte Handschrift der Rezeptionszeit, in: ZRG Germ. Abt. 89 (1972), S. 175-211 14. Die Generalklausel. Ein rechtsgeschichtlicher Beitrag zur Freiheit und Bindung des Richters durch das Gesetz, in: DRiZ 1973, S. 145-149 15. Die Begründung der Reichskompetenz für das gesamte bürgerliche Recht. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Rechtseinheit, in: JuS 1973, S. 740744 16. Die Verletzung der ärztlichen Aufklärungspflicht und ihre deliktische Rechtsfolge, in: NJW 1974, S. 2025-2030 17. Eduard Lasker und der Rechtsstaat, in: Der Staat 13 (1974), S. 365-382 18. Die Reichsstädte auf dem Regensburger Reichstag 1653/54, in: Zs. für Stadtgesch. 1 (1974), S. 23-48 19. Krankenpapiere und Persönlichkeitsschutz, in: NJW 1975, S. 1433-1437 20. Antrittsrede in der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, in: Heidelberger Akad. der Wissenschaften 1976, S. 103 f. 21. Hans Thieme zum 70. Geburtstag, in: JZ 1976, S. 453 22. Wahlfachgruppe: Rechtsgeschichte, in: JuS 1976, S. 63-66 23. Fortschritte und Scheidewege im Arztrecht, in: NJW 1976, S. 1121-1126 24. Fortschritte und Scheidewege im Arztrecht, in: Informationen des Berufsverbandes der dt. Chirurgen e. V. Nr. 10, 1976, S. 154-161 25. Zur Beweislast im Arzthaftpflichtprozess, in: Med. Sachverst. 73 (1977), S. 2-6 26. Arztrecht im Wandel. Die Entwicklung des Arztrechts 1976/77, in: NJW 1977, S. 1081-1085 27. (u. a.) Zur Funktion und Rechtsstellung des medizinischen Sachverständigen, in: Zs. Laryng. Rhinol. 56 (1977), S. 723-740 28. Veritas, humanitas, iustitia: Gustav Radbruch, in: JuS 1978, S. 657-662 29. In memoriam Eberhard Schmidt, in: ZRG Germ. Abt. 95 (1978), S. 478-479
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30. Die Entwicklung des Arztrechts im Jahre 1977/78, in: NJW 1978, S. 11771181 31. Die klinische Forschung am Menschen nach deutschem Recht, in: VersR 1978, S. 385-392 32. Gustav Radbruch – Leben und Werk, in: Heidelberger Jb. 23 (1979), S. 59-82 33. Die Entwicklung des Arztrechts 1978/79, in: NJW 1979, S. 1230-1235 [dasselbe auch in: Informationen des Berufsverbandes der Dt. Chirurgen e. V. 1979, S. 165-171] 34. Zur Haftpflicht des Arztes, in: Der Chirurg 51 (1980), S. 539-540 35. Recht und Gewissen des Arztes, in: Heidelberger Jb. 24 (1980), S. 1-15 36. Beständigkeit und Wandel – Achtzig Jahre deutsches Bürgerliches Gesetzbuch, in: JuS 1980, S. 853-860 37. Die Entwicklung des Arztrechts 1979/80, in: NJW 1980, S. 1315-1320 [dasselbe auch in: Informationen des Berufsverbandes der Dt. Chirurgen e. V. 1980, S. 133-138] 38. Arztrecht und Berufsfreiheit, in: Arzt und Krankenhaus 6 (1981), S. 259-264 [dasselbe auch in: Der Krankenhaustag, Dokumentation 1981, S. 79-87] 39. Kontrollierte klinische Studien: Ja oder Nein? Zum Recht der Neulandmedizin, in: Der Chirurg 52 (1981), S. 414-416 40. Die Entwicklung des Arztrechts 1980/81, in: NJW 1981, S. 1289-1294 [dasselbe auch in: Informationen des Berufsverbandes der Dt. Chirurgen e. V. 1981, S. 101-107] 41. Eberhard Freiherr von Künßberg zum 100. Geburtstag, in: Ruperto Carola, Jg. 33, H. 65/66 (1981), S. 162-163 42. Das Gewissen als ärztliche Instanz – aus der Sicht des Juristen, in: Universitas 36 (1981), S. 489-496 43. Die Weistümer der Zenten Schriesheim und Kirchheim, in: ZRG Germ. Abt. 98 (1981), S. 276-286 44. Geschichtliche Landeskunde – Aufgabe und Leistungen, in: Zs. für Württembergische Landesgeschichte 37: 1978 (1981), S. 1-14 45. (mit Bernd-Rüdiger Kern) Grundregeln zur Aufklärungspflicht des Arztes, in: Der Chirurg 53 (1982), S. 807-809 46. Nachruf auf Peter Classen, in: Jb. der Heidelberger Akad. der Wissenschaften 1981 (1982), S. 52-56 47. Für Freiheit und Einheit: Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach 1832, in: JuS 1982, S. 325-330
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48. Die Entwicklung des Arztrechts 1981/82, in: NJW 1982, S. 1319-1324 [dasselbe auch in: Informationen des Berufsverbandes der Dt. Chirurgen e. V. 1982, S. 136-142] 49. (mit Bernd-Rüdiger Kern) Die ärztliche Aufklärungspflicht bei der diagnostischen Anwendung jodhaltiger Kontrastmittel, in: Röntgenpraxis 35 (1982), S. 33-38 50. Die Entwicklung des Arztrechts 1982/83, in: NJW 1983, S. 1345-1351 [dasselbe auch in: Informationen des Berufsverbandes der Dt. Chirurgen e. V. 8 (1983), S. 141-149] 51. Für Freiheit und Einheit: Das Nationalfest der Deutschen zu Hambach 1832, in: Ruperto Carola, Jg. 34, H. 67/68 (1982, ersch. 1983), S. 130-138 52. Recht und Ethik des Arztes. Harmonie und Widersprüche, in: Zs. für Allgemeinmedizin 59 (1983), S. 979-984 53. Rede des scheidenden Rektors Professor Dr. iur. Dr. h.c. Adolf Laufs bei der feierlichen Amtsübergabe an den neuen Rektor Professor Dr. rer. nat. Gisbert Frhr. zu Putlitz in der Aula der Neuen Universität am 29. Oktober 1983, in: Ruperto Carola, H. 69 (1983), S. 15-18 54. Nachwort zur Rektoratsübergabe, in: Heidelberger Jahrbücher 28 (1984), S. 15-20 55. Die Entwicklung des Arztrechts 1983/84, in: NJW 1984, S. 1383-1390 56. Juristische Probleme des Hirntodes, in: Der Nervenarzt 1985, S. 399-403 57. Rechtsfragen der künstlichen menschlichen Fortpflanzung, in: Academia 1985, S. 186-192 58. Johann Jakob Moser – Staatsrechtslehrer und Landschaftskonsulent. Zu seinem 200. Todestag, in: JuS 1985, S. 670-673 59. Zu den Pflichten eines um Hilfe für eine schwer herzkranke Patientin angerufenen Bereitschaftsarztes, in: MedR 1985, S. 229-230 60. Die Entwicklung des Arztrechts 1984/85, in: NJW 1985, S. 1361-1367 61. Die künstliche Befruchtung beim Menschen: Zulässigkeit und zivilrechtliche Folgen, in: JZ 1986, S. 769-778 62. Die Entwicklung des Arztrechts 1985/86, in: NJW 1986, S. 1515-1521 63. Arzt und Recht im Wandel der Zeit, in: MedR 1986, S. 163-170 64. (mit Helmut Narr) AIDS – Antworten auf Rechtsfragen aus der Praxis, in: MedR 1987, S. 282-283 65. Die Entwicklung des Arztrechts 1986/87, in: NJW 1987, S. 1449-1456 66. (mit Rainer Laufs) AIDS und Arztrecht, in: NJW 1987, S. 2257-2265
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67. Die Entwicklung des Arztrechts 1987/88, in: NJW 1988, S. 1499-1507 68. Die HIV-Infektion und die AIDS-Erkrankung im Arztrecht, in: Der Chirurg [BDC] 1989, Nr. 1, S. 5-7 69. Zur rechtlichen Problematik der Fortpflanzungsmedizin, in: Geburtshilfe/Frauenheilkunde 49 (1989), S. 606-610 70. Das Aufklärungsformular, in: Der Gynäkologe 22 (1989), S. 364-368 71. Praxisverkauf und Arztgeheimnis: ein Vermittlungsvorschlag, in: MedR 1989, S. 309-310 72. Die Entwicklung des Arztrechts 1988/89, in: NJW 1989, S. 1521-1528 73. Deutsche Verwaltungsgeschichte: kritischer Bericht über die Bände III, IV und V eines monumentalen Gemeinschaftswerkes, in: Verwaltung 21 (1988, erschienen 1989), S. 491-504 74. Pränatale Diagnostik und Lebensschutz aus arztrechtlicher Sicht, in: MedR 1990, S. 231-237 75. Pränatale Diagnostik und Lebensschutz aus arztrechtlicher Sicht, in: Schriftenreihe der Juristenvereinigung Lebensrecht e.V. 7 (1990), S. 47-64 76. Die Entwicklung des Arztrechts 1989/90, in: NJW 1990, S. 1505-1513 77. Ethische Herausforderungen am Krankenbett: Denkstile und Handlungsbegründungen; zur ärztlichen Aufklärungspflicht, in: Verh. Dt. Ges. Inn. Med. 96 (1990), S. 660-665 78. (mit Emil Reiling) Ethik-Kommissionen – Vorrecht der Ärztekammern? Das Verhältnis von Berufsordnungsrecht und Ethik-Kommissionen dargestellt am Beispiel des neuen § 1 Abs. 4 der Muster-Berufsordnung für die deutschen Ärzte, in: MedR 1991, S. 1-11 79. Die Entwicklung des Arztrechts 1990/91, in: NJW 1991, S. 1516-1525 80. Zur ärztlichen Aufklärungspflicht, in: Verh. Dt. Ges. Inn. Med. 96 (1991), S. 660-665 81. Aufklärung bei unsicherer, belastender Diagnose: Kommentar II, in: Ethik in der Medizin 4 (1992), S. 146-147 82. Die Entwicklung des Arztrechts 1991/92, in: NJW 1992, S. 1529-1539 83. Nachruf auf Robert Scheyhing, in: ZRG Germ. Abt. 109 (1992), S. 585-594 84. Die Entwicklung des Arztrechts 1992/93, in: NJW 1993, S. 1497-1506 85. (mit Hans-Dieter Hiersche) Zur Aufklärung über Entbindungsmethoden während des Geburtsvorgangs, in: NJW 1993, S. 2375 86. Freiheit und Gebundenheit des forschenden Arztes, in: Zs. für Kardiologie 82, Suppl. 5 (1993), S. 1-6
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87. (mit Hans-Jürgen Rieger) In eigener Sache, in: MedR 1993, S. 1 88. Grundlagen und Entwicklung der ärztlichen Aufklärungspflicht in den alten und neuen Bundesländern. II, in: Ärztl. Fortb. 88 (1994), S. 955-963 89. (mit Emil Reiling) Rechtsfragen zu HIV-Infektion und Aids-Erkrankung, in: ArztuR 1994, H. 5, S. 3-10 und H. 6, S. 3-9 90. (mit Dominik Peris) Tote im Dienste der Lebenden aus juristischer Sicht, in: Heidelberger Jb. 38 (1994), S. 155-169 91. Die Entwicklung des Arztrechts 1993/94, in: NJW 1994, S. 1562-1571 92. Ärztliche Aufklärung über Infektionsgefahren des Fibrinklebers Tissucol, in: Chirurg. Gastroenterol. 11 (1995), S. 189-190 93. Frieden durch Recht. Der Wormser Reichstag 1495, in: JuS 1995, S. 665-671 94. Wann dürfen die Maschinen abgeschaltet werden? in: Lebendige Seelsorge 46 (1995), S. 306-308 95. Die Ärzte-GmbH und das Berufsrecht, in: MedR 1995, S. 11-16 96. Arzt und Recht im Umbruch der Zeit, in: NJW 1995, S. 1590-1599 97. Ein deutsches Transplantationsgesetz – jetzt?, in: NJW 1995, S. 2398-2399 98. Am Ende eine nur wenig verhüllte Fristenlösung, in: NJW 1995, S. 30423043 99. Das Recht des Patienten auf Teilhabe am medizinischen Fortschritt, in: Newsletter Arbeitskr. forens. Odonto-Stomatol. 1995, S. 3-11 100. Die zivilrechtliche Einstandspflicht des Arztes: Inhalt und Grenzen, in: ZaeFQ 89 (1995), S. 554-563 101. Selbstverantwortetes Sterben? in: NJW 1996, S. 763-764 102. Medizinrecht im Wandel, in: NJW 1996, S. 1571-1580 103. Reform der Arzthaftung? in: NJW 1996, S. 2413-2414 104. Die ärztliche Aufklärungspflicht – Grund, Inhalt und Grenzen, in: RPG 3 (1997), S. 3-11 105. Das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin und das deutsche Recht, in: NJW 1997, S. 776-777 106. Entwicklungslinien des Medizinrechts, in: NJW 1997, S. 1609-1618 107. Therapiefreiheit des Arztes, in: ZaeFQ 91 (1997), S. 586-592 108. (mit Rainer Laufs), Vierzig Jahre medizinisch-juristische Schwerpunkthefte, in: Jubiläumsheft 50 Jahre NJW, NJW 1997, Beilage zu Heft 40, S. 48-54
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109. Zur neuen Berufsordnung für die deutschen Ärztinnen und Ärzte, in: NJW 1997, S. 3071-3073 110. Anspruch des Patienten auf Teilhabe am medizinischen Fortschritt – Rechtliche Aspekte, in: MMW 140 (1998), S. 458-462 111. Arzt und Recht – Fortschritte und Aufgaben, in: NJW 1998, S. 1750-1761 112. Arzt und Recht am Ende des 20. Jahrhunderts, in: Saarländ. Ärztebl. 1998, S. 17-22 113. Carl Georg Wächter (1797-1880). Praktischer Rechtsgelehrter und konstitutioneller Parlamentarier von der Zeit des Vormärz bis zur Reichsgründung, in: Zs. für Württembergische Landesgeschichte 57 (1998), S. 285-304 114. Die Frankfurter Nationalversammlung 1848-1849: Das erste freigewählte gesamtdeutsche Parlament und sein Werk, in: JuS 1998, S. 385-392 115. Schädliche Geburten – und kein Ende, in: NJW 1998, S. 796-798 116. Zivilrichter über Leben und Tod?, in: NJW 1998, S. 3399-3401 117. Ärztliche Schweigepflicht gegenüber Angehörigen, Kollegen und Medien aus juristischer Sicht, in: ZaeFQ 93 (1999), S. 732-738 118. Die deutsche Rechtslage: zur Präimplantationsdiagnostik, in: Ethik in der Medizin 1999, Supplement 1, S. S55-S61 119. Immer weniger Freiheit ärztlichen Handelns, in: NJW 1999, S. 2717-2719 120. Arzt, Patient und Recht am Ende des Jahrhunderts, in: NJW 1999, S. 17581769 121. Die Mühle im alten deutschen Recht – eine Skizze, in: Zs. f. Geschichte des Oberrheins 147 (1999), S. 439-448 122. Patientenrechte, in: NJW 2000, S. 846-848 123. Ein Jahrhundert wird besichtigt – Rechtsentwicklungen in Deutschland: 1900 bis 1999, in: JuS 2000, S. 1-10 124. Soll eine Präimplantationstechnik eingesetzt werden dürfen?, in: Schriftenreihe der Juristen-Vereinigung Lebensrecht e.V. zu Köln, Nr. 17, Köln 2000, S. 81-89 125. Fortpflanzungsmedizin und Menschenwürde, in: NJW 2000, S. 2716-2718 126. Nicht der Arzt allein muss bereit sein, das Notwendige zu tun, in: NJW 2000, S. 1757-1769 127. Arzneimittelprüfung, in: NJW 2001, S. 3381-3382 128. Werbende Ärzte?, in: NJW 2001, S. 1768-1770
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129. Ein Jahrhundert wird besichtigt: Rechtsentwicklungen in Deutschland im 20. Jahrhundert, in: ZRG Germ. Abt. 118 (2001), S. 1-22 130. Zum Wandel des ärztlichen Berufsbildes im Recht. Festvortrag anlässlich der Eröffnung des 83. Deutschen Röntgenkongresses 2002, in: RöFo 174 (2002), S. 1184-1191 131. Rechtliche und ethische Rahmenbedingungen der Reproduktionsmedizin. Zusammenfassung der Diskussion, in: ZaeFQ 96 (2002), S. 403 132. Bedenken gegen die Präimplantationsdiagnostik, in: ZaeFQ 96 (2002), S. 419-422 133. Nachruf auf Hans Thieme, in: ZRG Germ. Abt. 119 (2002), S. 15-26 134. Ärzte und Sponsoren, in: NJW 2002, S. 1770-1771 135. Der mündige, aber leichtsinnige Patient, in: NJW 2003, S. 2288-2289 136. Die neue europäische Richtlinie zur Arzneimittelprüfung, in: MedR 2004, S. 583-593 137. Hans-Jürgen Rieger zum 70. Geburtstag, in: NJW 2004, S. 2206 138. Laudatio auf Robert Spaemann, in: ZfL 2005, S. 26-30
IV. Urteilsanmerkungen 1.
Zur Reichweite des Haftungsprivilegs nach § 636 RVO, Anm. zu dem Urteil des BGH vom 13. 1. 1981 – VI ZR 26/80, in: SGb 1982, S. 43
2.
(mit Bernd-Rüdiger Kern) Zur Frage der Haftung und des Umfanges der Aufklärungspflicht von Ärzten, Anm. zu BGH, JZ 1984, S. 629, in: JZ 1984, S. 631-632
3.
Anm. zu dem Urteil des BGH vom 25. 4. 1989 – VI ZR 175/88, in: JZ 1989, S. 903-904
4.
(mit Emil Reiling) Die Therapiefreiheit des Arztes, Anm. zu dem Beschluß des BGH vom 17. 5. 1991 – 3 StR 8/91, in: JZ 1992, S. 105-106
5.
(mit Emil Reiling) Zur Zulässigkeit formularmäßig abgeschlossener ärztlicher Honorarvereinbarungen, Anm. zu dem Urteil des BGH vom 30. 10. 1991 – VIII ZR 5/91, in: JZ 1992, S. 375-377
6.
(mit Emil Reiling) Anm. zu dem Urteil des BGH vom 7. 4. 1992 – VI ZR 192/91, in: Lindenmaier/Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, München 1992, BGB § 823 (Aa), Nr. 139, Bl. 4v-5v
7.
(mit Hans-Dieter Hiersche) Anm. zu dem Urteil des BGH vom 16. 2. 1993 – VI ZR 300/91, in: NJW 1993, S. 2375
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8.
(mit Emil Reiling) Schmerzensgeld wegen schuldhafter Vernichtung deponierten Spermas, Anm. zu dem Urteil des BGH vom 9. 11. 1993 – VI ZR 62/93, in: NJW 1994, S. 775-776
9.
Anm. zu dem Urteil des BGH vom 13. 2. 1996 – VI ZR 402/94, in: Lindenmaier/Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, München 1996, § 823 (Aa) BGB Nr. 164, Bl. 1248-1250
10. (mit Lars Jungemann) Anm. zu dem Urteil des Bundesgerichtshofs vom 29. 6. 1999 – VI ZR 24/98, in: Lindenmaier/Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, München 1999, § 278 BGB Nr. 138, Bl. 2205 f.
V. Herausgeber bzw. Mitherausgeber Schriftenreihen Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Böhlau Verlag, Köln, Weimar, Wien Recht und Medizin, Peter-Lang-Verlag, Frankfurt/M.
Zeitschriften Heidelberger Jahrbücher 1976-1984 Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung 1976-2000 Der Chirurg [Rubrik „Chirurg und Recht“] 1982, 1983 MedR seit 1983 (Gründungsherausgeber)
Einzelwerke 1.
Das Eigen-Landrecht der Siebenbürger Sachsen, unveränderte Wiedergabe des Erstdruckes 1583 mit einer Einführung von Adolf Laufs, München 1973
2.
Der jüngste Reichsabschied von 1654, Bern, Frankfurt/M. 1975, 103 S.
3.
Die Reichskammergerichtsordnung von 1555 (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Bd. 3), Köln 1976
4.
(mit Clemens Bauer, Alexander Hollerbach) Gestalten und Probleme katholischer Rechts- und Soziallehre (Rechts- und staatswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, N. F., Bd. 29), Paderborn 1977, 90 S.
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5.
(mit Horst Ehmann, Wolfgang Hefermehl) Privatautonomie, Eigentum und Verantwortung. Festgabe für Herrmann Weitnauer zum 70. Geburtstag, Berlin 1980, XII, 448 S.
6.
(mit Wilhelm Doerr, Wolfgang Jacob) Recht und Ethik in der Medizin (Veröffentlichungen aus der Forschungsstelle für Theoretische Pathologie der Heidelberger Akademie der Wissenschaften), Berlin 1982, VI, 197 S.
7.
(mit Karl zum Winkel, Wilhelm Doerr, Richard Herrmann, Bernd-Rüdiger Kern) Randomisation und Aufklärung bei klinischen Studien in der Onkologie, Berlin u. a. 1984, 56 S.
8.
(mit Hans Kamps) Arzt- und Kassenarztrecht im Wandel. Festschrift für Helmut Narr zum 60. Geburtstag, Berlin 1988, XIII, 296 S.
9.
Festschrift für Hubert Niederländer zum 70. Geburtstag am 10. Februar 1991 (Heidelberger rechtsvergleichende und wirtschaftsrechtliche Studien, Bd. 20), Heidelberg 1991, XX, 495 S.
10. Zum Gedenken an Professor Dr. iur. Robert Scheyhing: 1927-1989 (Tübinger Universitätsreden, N. F., Bd. 2 – Reihe der Juristischen Fakultät, Bd. 1), Tübingen 1992, 63 S. 11. (mit Wilhelm Uhlenbruck u. a.) Handbuch des Arztrechts, 1. Aufl., München 1992, XIX, 1097 S.; 2., neubearb. Aufl., München 1999, XXIII, 1431 S.; 3., neubearb. Aufl., München 2002, XXIV, 1653 S. 12. Die Entwicklung der Arzthaftung, Berlin u. a. 1997, XIX, 354 S. 13. (mit Erwin Deutsch), Forschungsfreiheit und Forschungskontrolle in der Medizin (Veröffentlichungen des IMBG Heidelberg/Mannheim), Heidelberg 2000, 466 S. 14. (mit Brigitte Tag) Der Körperverletzungstatbestand im Spannungsfeld zwischen Patientenautonomie und Lex artis (Veröffentlichungen des IMBG Heidelberg/Mannheim), Heidelberg 2000, 506 S. 15. (mit Jochen Taupitz), Zivilrechtliche Regelungen zur Absicherung der Patientenautonomie am Ende des Lebens (Veröffentlichungen des IMBG Heidelberg/Mannheim), Heidelberg 2000, 1049 S.
Autorenverzeichnis Backhaus, Ralph, Prof. Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht und Römisches Recht, Philipps-Universität Marburg Baldus, Christian, Prof. Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht und Römisches Recht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Bernat, Erwin, ao. Univ.-Prof. Dr. iur., Institut für Zivilrecht, Ausländisches und Internationales Privatrecht, Karl-Franzens-Universität Graz Bernhardt, Rudolf, Prof. Dr. iur., Dr. h.c., em. Professor für Deutsches und Ausländisches Öffentliches Recht und Völkerrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Borsdorff, Anke, Prof. Dr. iur., Professorin für Öffentliche Verwaltung, Fachhochschule des Bundes, Fachbereich Bundesgrenzschutz Lübeck Buschmann, Arno, o. Univ.-Prof. Dr. iur., em. Professor für Deutsche Rechtsgeschichte, Deutsches Privatrecht und Bürgerliches Recht, Universität Salzburg Damm, Reinhard, Prof. Dr. iur., Professor für Zivil-, Wirtschafts- und Verfahrensrecht, Universität Bremen Deutsch, Andreas, Dr. iur., wiss. Assistent, Lehrstuhl für mittelalterliche und neuere Rechtsgeschichte und für Zivilrecht, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. Deutsch, Erwin, Prof. Dr. iur., Dr. h. c., M.C.L., em. Professor für Bürgerliches Recht, Handelsrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, GeorgAugust-Universität Göttingen Diestelkamp, Bernhard, Prof. Dr. iur., Dr. h. c., em. Professor für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. Dölling, Dieter, Prof. Dr. iur., Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht und Kriminologie, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Feddersen, Dieter, Prof. Dr. iur., Rechtsanwalt und Notar, Frankfurt/M., Honorarprofessor für Steuerrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Fischer, Gerfried, Prof. Dr. iur., LL.M, Professor für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht, Rechtsvergleichung und Arztrecht, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Autorenverzeichnis
Francke, Robert, Prof. Dr. iur., Professor für Öffentliches Recht, Universität Bremen Genzel, Herbert, Prof. Dr. iur., Honorarprofessor an der Technischen Universität München Häsemeyer, Ludwig, Prof. Dr. iur., em. Professor für Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Hart, Dieter, Prof. Dr. iur., Professor für Zivilrecht, Handels- und Gesellschaftsrecht, Wirtschaftsrecht, Universität Bremen Hattenhauer, Christian, Prof. Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht und Rechtsgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Heckel, Martin, Prof. Dr. iur., Dr. theol., Dr. h. c., em. Professor für Öffentliches Recht und Kirchenrecht, Verfassungsgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen Heinrich, Christian, Prof. Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht und Insolvenzrecht, Katholische Universität Eichstätt-Ingolstadt Heuser, Robert, Prof. Dr. iur., M.A., Professor für „Chinesische Rechtskultur“, Universität zu Köln Hillenkamp, Thomas, Prof. Dr. iur., Dr. h. c., Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Jayme, Erik, Prof. Dr. iur., Dr. h. c. mult., LL.M, em. Professor für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Jung, Christine, Dr. iur., Kronberg/Taunus Katzenmeier, Christian, Prof. Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht und Zivilprozessrecht, Universität zu Köln Kern, Bernd-Rüdiger, Prof. Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte und Arztrecht, Universität Leipzig Kern, Bettina, Dr. iur., Taucha Kilian, Michael, Prof. Dr. iur., Professor für Öffentliches Recht, Finanz- und Umweltrecht, Völker- und Europarecht, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Richter am Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt a. D.
Autorenverzeichnis
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Kirchhof, Paul, Prof. Dr. iur., Professor für Öffentliches Recht, Finanz- und Steuerrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Bundesverfassungsrichter a. D. Köbler, Gerhard, o. Univ.-Prof. Dr. iur., Professor für Österreichische, Deutsche und Vergleichende Rechtsgeschichte, Universität Innsbruck Krauskopf, Dieter, Dr. iur., Rechtsanwalt, Karlsruhe Küper, Wilfried, Prof. Dr. iur., Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Lilie, Hans, Prof. Dr. iur., Professor für Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechtsvergleichung und Medizinrecht, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg Lingelbach, Gerhard, Prof. Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht und Deutsche Staats- und Rechtsgeschichte, Friedrich-Schiller-Universität Jena Lippert, Hans-Dieter, Dr. iur., Universitätsklinikum Ulm, Abteilung Rechtsmedizin Lüke, Wolfgang, Prof. Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht, Zivilverfahrensrecht, Notarrecht und Rechtsvergleichung, Technische Universität Dresden Mansel, Heinz-Peter, Prof. Dr. iur., Professor für internationales und ausländisches Privatrecht, Universität zu Köln Misera, Karlheinz, Prof. Dr. iur., em. Professor für Römisches Recht, Bürgerliches Recht und Arbeitsrecht, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg Mußgnug, Dorothee, Dr. phil., Heidelberg Ogris, Werner, o. Univ.-Prof. Dr. iur., Dr. iur., h. c. mult., em. Professor des Deutschen Rechts und der Österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Universität Wien Pfeiffer, Thomas, Prof. Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht, Internationales Privatrecht, Rechtsvergleichung und Internationales Verfahrensrecht, RuprechtKarls-Universität Heidelberg Prütting, Hanns, Prof. Dr. iur., Professor für Deutsches und Ausländisches Zivilprozessrecht und Bürgerliches Recht, Universität zu Köln Rieger, Hans-Jürgen, Dr. iur., Rechtsanwalt, Karlsruhe Roth, Herbert, Prof. Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht, Deutsches, Europäisches und Internationales Verfahrensrecht, Universität Regensburg
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Autorenverzeichnis
Schanbacher, Dietmar, Prof. Dr. iur., Professor für Bürgerliches und Römisches Recht, Technische Universität Dresden Schlund, Gerhard H., Prof. Dr. iur., Honorarprofessor an der Technischen Universität München, Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht a. D. Schmidt-Aßmann, Eberhard, Prof. Dr. iur., Dr. h. c., Professor für Öffentliches Recht, insbesondere Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht, RuprechtKarls-Universität Heidelberg Schmidt-Recla, Adrian, Dr. iur., wiss. Assistent, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Rechtsgeschichte und Arztrecht, Universität Leipzig Schreiber, Hans-Ludwig, Prof. Dr. iur., em. Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht, Georg-August-Universität Göttingen Schröder, Jan, Prof. Dr. iur., Dr. h. c., Professor für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht, Eberhard-Karls-Universität Tübingen Schroeder, Klaus-Peter, Prof. Dr. iur. utr., apl. Professor für Rechtsgeschichte, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Schriftleitung Juristische Schulung Frankfurt/M. Schubert, Werner, Prof. Dr. iur., em. Professor für Bürgerliches Recht, Römisches Recht, Europäische Privatrechtsgeschichte der Neuzeit und Rechtsvergleichung, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel Schumann, Eva, Prof. Dr. iur., Professorin für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht, Georg-August-Universität Göttingen Sellert, Wolfgang, Prof. Dr. iur., em. Professor für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht, Georg-August-Universität Göttingen Spieß, Pirmin, Prof. Dr. iur. utr., apl. Professor für Bürgerliches Recht, Deutsche Rechtsgeschichte und Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Universität Mannheim Tag, Brigitte, Prof. Dr. iur. utr., Professorin für Strafrecht und Strafprozessrecht, Universität Zürich Taupitz, Jochen, Prof. Dr. iur., Professor für Bürgerliches Recht, Zivilprozessrecht, Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung, Universität Mannheim Uhlenbruck, Wilhelm, Prof. Dr. iur., Richter am Amtsgericht a. D., Honorarprofessor an der Universität zu Köln
Autorenverzeichnis
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Wadle, Elmar, Prof. Dr. iur., Professor für Deutsche Rechtsgeschichte und Bürgerliches Recht, Universität des Saarlandes Weber, Hermann, Prof. Dr. iur., Rechtsanwalt, Schriftleitung Neue Juristische Wochenschrift, Frankfurt/M. Weber-Hassemer, Kristiane, Staatssekretärin a. D., Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht a. D. Willoweit, Dietmar, Prof. Dr. iur., Professor für Deutsche Rechtsgeschichte, Kirchenrecht, Bürgerliches Recht und Handelsrecht, Universität Würzburg Zeytin, Zafer, Dr. iur., Leitender Direktor des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Juristische Fakultät, Universität Dicle, Diyarbakir