Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters 9783666351464, 3525351461, 9783525351468


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German Pages [392] Year 2005

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Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters
 9783666351464, 3525351461, 9783525351468

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Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 169

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft Herausgegeben von Helmut Berding, Jürgen Kocka, Paul Nolte, Hans-Peter Ullmann, Hans-Ulrich Wehler

Band 169 Wolfgang Hardtwig Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters

von

Wolfgang Hardtwig

Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen

Umschlagabbildung: Das Schauspielhaus in Berlin (Ausschnitt). Karl Friedrich Schinkel © Bildarchiv Preußischer Kulturbesitz, Berlin, 2004

Mit 23 Abbildungen

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN 3-525-35146-1 © 2005, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke. Printed in Germany. Umschlag: Groothuis, Lohfert, Consorten, Hamburg. Satz: Text & Form, Garbsen. Druck und Bindung: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier.

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Inhalt

Vorwort

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Einleitung .....................................................................................................

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Formen der Geschichtsschreibung ............................................................... 19 1. Formen der Geschichtsschreibung: Varianten des historischen Erzählens .................................................................................................. 19 2. Die Geschichtserfahrung der Moderne und die Ästhetisierung der Darstellung: Leopold von Ranke ..................................................... 35 3. Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität: Der Historismus in neuer Sicht ............................................................. 51 4. Die Krise des Geschichtsbewusstseins in Kaiserreich und Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus ............................ 77 5. Alltagsgeschichte heute: Fragestellungen – Methoden – Perspektiven ............................................................................................. 103 6. Fiktive Zeitgeschichte? Literarische Erzählung, Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur in Deutschland .......................... 114 7. Der Historiker und die Bilder. Überlegungen zu Francis Haskell ..... 136

Landschaft – Geschichte – Nation................................................................ 155 8. Von der Utopie zur Wirklichkeit der Naturbeherrschung. Von Thomas Morus zur Industriellen Revolution ............................... 155 9. Naturbeherrschung und ästhetische Landschaft. Zur Entstehung der ästhetischen Landschaft am Beispiel der »Münchner Schule« ...... 175 10. Kunst und Geschichte im Revolutionszeitalter. Historismus in der Kunst und der Historismusbegriff der Kunstwissenschaft ............ 205 11. Nation – Region – Stadt. Strukturmerkmale des deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert ........................................................ 240 12. Architektur, Stadterweiterung und gemeindliche Selbstverwaltung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Das Beispiel München .............. 269 5

Herrscher – Künstler – Kenner ..................................................................... 303 13. Kugler, Menzel und das Bild Friedrichs des Großen ........................... 303 14. Privatvergnügen oder Staatsaufgabe? Monarchisches Sammeln, bürgerliche Kunstkompetenz und Museum 1800–1914 ...................... 323 15. Berliner Kunstszene und Mäzenatentum im Kaiserreich. Wilhelm von Bode, Eduard Arnhold, Harry Graf Kessler ................... 345 Verzeichnis der ersten Druckorte ................................................................. 372 Bildnachweis .................................................................................................. 374 Register ........................................................................................................... 375

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Vorwort

Der vorliegende Sammelband vereinigt Aufsätze und Vorträge, die zwischen 1978 und 2002 entstanden sind. Sie behandeln in ihrer Mehrzahl Themen und Fragestellungen, die lange am Rande des geschichtswissenschaftlichen Interesses lagen, inzwischen aber erfreulicherweise verstärkt Aufmerksamkeit finden. Dass die Herausgeber der Kritischen Studien Interesse besonders an den Beiträgen bekundeten, die sich mit der Hochkultur und der Ästhetik des bürgerlichen Zeitalters beschäftigen, hat mich gefreut und scheint mir ein gutes Zeichen für eine Geschichtswissenschaft in der Erweiterung. Ich danke ihnen für die Bereitschaft, diese Studien in die Reihe aufzunehmen und für die Geduld, die sie bei der Vorbereitung des Projekts an den Tag gelegt haben. Insbesondere Paul Nolte bin ich für konstruktive Vorschläge zu Dank verpflichtet. Auch dem Verlag und seinem Lektor Martin Rethmeier habe ich zu danken. Einige der Beiträge sind hier unverändert abgedruckt, teils weil sie erst vor kurzem entstanden sind, teils, weil der Forschungsstand keinen Anlass zu Revisionen bot (1, 2, 3, 4, 6, 7, 13). Die beiden Beiträge aus den späten siebziger Jahren (9, 10) wurden stilistisch überarbeitet, im Anmerkungsapparat aber unverändert gelassen. Einige Aufsätze wurden geringfügig erweitert und in den Literaturangaben aktualisiert (5, 8, 11, 14). In einem Fall – Berliner Kunstszene und Mäzenatentum im Kaiserreich. Wilhelm von Bode, Eduard Arnhold, Harry Graf Keßler – erschien es sinnvoll, den Text unverändert zu lassen, die dynamische Forschungsentwicklung seit der Erstpublikation des Essays 1993 aber in einem gesonderten Anhang zu bilanzieren. Kay Wenzel danke ich für hilfreiche Kritik und für die mühevolle Arbeit des Redigierens, Philipp Müller für nützliche Hinweise, Alexander Thomas und Michael Lück für Fahnenkorrekturen und Register. Berlin, im Juli 2004

Wolfgang Hardtwig

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Einleitung

Hochkultur des bürgerlichen Zeitalters – der Buchtitel enthält unvermeidlich mehrere Abbreviaturen. Kultur / Bürgertum / Zeitalter – damit sind stichwortartig Problemfelder benannt, die in den letzten Jahrzehnten von der Geschichtswissenschaft intensiv bearbeitet worden sind. Das Bürgertum gilt als die gesellschaftliche Gruppe, die der europäischen Moderne den Weg gebahnt hat, »Kultur« und »Zeitalter« sind Ordnungsbegriffe, mit denen sich explizit oder implizit theoretische Konzepte zur Erschließung der vergangenen Wirklichkeit verbinden. Alle drei Begriffe sind vieldeutig, reduzieren in extremer Weise eine kaum überschaubare Komplexität von Phänomenen, verlangen nach Präzisierung und führen nach wie vor in virulente Forschungsfragen hinein. Ohne Periodisierungen – und damit ohne Begriffe wie »Zeitalter oder »Epoche« – ist eine diachrone oder synchrone Ordnung der Vergangenheit unmöglich. Frühere klare Abgrenzungen vor allem zwischen Mittelalter, Früher Neuzeit und Neuzeit / Moderne sind jedoch vielfach in Fluss geraten. Prinzipiell erscheinen neue Konzeptualisierungen der zeitlichen Ordnung von Vergangenheit notwendig, vor allem um die für ein lineares Zeitverständnis immer weniger integrierbaren Phänomene der »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« angemessen zu erfassen. Über die Möglichkeit, die Sozialformation »Bürgertum« begrifflich trennscharf abzugrenzen, ist in den letzten zweieinhalb Jahrzehnten vor allem in Deutschland viel und kontrovers geforscht worden. Wer, wann und warum zum Bürgertum zu rechnen ist, ließ sich in einer rein sozialgeschichtlichen Perspektive immer weniger genau sagen. Zudem: War das lange 19. Jahrhundert in Deutschland zwischen Französischer Revolution und Erstem Weltkrieg wirklich ein »bürgerliches Zeitalter«? Ist die Zeit des Bürgertums danach wirklich zu Ende gegangen? Bezeichnet »bürgerlich« eine Klassenlage, eine bestimmte politische Partizipationschance oder einen Wertekanon, oder eine Mischung aus allen drei Bestimmungsfaktoren – und wenn ja, welche? Es scheint Konsens darüber zu bestehen, dass wir in einem nach-bürgerlichen Zeitalter leben, aber heißt das auch, dass bürgerliche Lebensformen und Wertvorstellungen wirklich marginalisiert oder ganz verschwunden sind? Als unabdingbar zur Bestimmung von Bürgerlichkeit erwies sich jedenfalls, die »Kultur« des Bürgertums zu analysieren und ihre Bedeutung für den kul9

turellen, sozialen und politischen Wandel der vergangenen zweieinhalb Jahrhunderte zu gewichten. Allerdings wirft auch der Bezug auf die Kultur zahlreiche terminologische und also konzeptionelle Probleme auf. Verstand man unter Kultur lange Zeit vor allem die Welt der Künste und die sogenannte »Sachkultur« der Unterschichten, meist auch hier mit dem Beigeschmack einer – wenn auch schlichten – künstlerischen Gestaltung, so fasst »Kultur« seit dem »cultural turn« sowohl in den Kultur- wie den Sozialwissenschaften die Gesamtheit der Wahrnehmungs- und Deutungsmuster und der verhaltenssteuernden Formen symbolischer Verständigung einer Gruppe zusammen. Dieser neue wissenschaftsund auch bildungssprachliche Gebrauch des Kulturbegriffs reflektiert sowohl die massenkulturelle Prägung moderner Gesellschaften, die ältere Sozial- und Wertehierarchien unterläuft, wie auch eine Neubewertung der Bedeutung symbolischer Verständigung für das Funktionieren von Gesellschaften selbst. Dass sich der Kulturbegriff damit von der Fixierung auf ästhetische Artefakte und die Weltdeutung der Oberschichten ablöste, bedeutet freilich nicht, dass er auf sie nicht anwendbar wäre. Vielmehr zeigt sich, dass die Gegenstände und Fragen derjenigen Forschungsrichtung, die sich mit der bürgerlichen »Hochkultur« im älteren Sinn beschäftigte, unter dem Vorzeichen des neuen Kulturbegriffs reformulierbar sind und nach einer solchen Reformulierung förmlich verlangen. Diese verspricht Erkenntnisgewinn, weil zwei »Kurzschlüsse« der älteren Hochkulturforschung vermieden werden können: Erstens die in der neuzeitlichen Emanzipation der Künste entstandene Vorstellung von deren Autonomie gegenüber gesellschaftlichen Interessen und Bedürfnislagen; zweitens die in der Kritik dieses Theorems entstandene Vorstellung, jede Art der expliziten und impliziten Sinndeutung sei hinreichend erklärt, wenn man sie auf die materiellen Bedürfnisse und Machtinteressen ihrer Urheber und Produzenten zurückführt. Unter den Vorgaben eines neuen Kulturbegriffs lässt sich Hochkultur vielmehr als Teil der Semantik einer Gesellschaft im Wandel verstehen, so dass der Blick für ein wechselseitiges Verhältnis zwischen politischen und sozialen Strukturen und ihrer Rezeption und Verarbeitung in ästhetischen Artefakten frei wird. Nicht ein inhärenter Begriff von Ästhetizität kennzeichnet den heuristischen Wert von »bürgerlicher Hochkultur« heute, sondern ihre diskursive Funktion in der Aufnahme und Reflexion von Herrschafts- und Machtinteressen innerhalb eines kulturellen Ganzen. Das Organ zur Erfassung und Bewertung dieser Funktion von Hochkultur ist von den Historikern bislang wenig oder gar nicht geschult worden. Wollen sie den neuen Kulturbegriff allerdings wirklich ernst nehmen, so führt darum jedoch in Zukunft kein Weg herum. Zum einen ist das Sinnpotential von Hochkultur seinerseits nichts Statisches, es kann sich stärker oder schwächer entfalten und gesellschaftlich wahrgenommen und geschätzt werden, es kann je nach den sozialen, politischen und kulturellen Kontexten politische oder soziale Ord10

nungen verfestigen und in Bewegung bringen, es kann diesen Ordnungen gegenüber auch indifferent bleiben, sowohl was seine Intention wie auch seine Wirkung angeht. Zum anderen ist ihrer Semantik die Struktur einer eigenen Sinn- und Formlogik inhärent, die unendlich abgewandelt werden kann, deren Realisierung aber auch einer eigenen Entwicklungsdynamik folgt. Moderne Gesellschaften sind Arbeitsgesellschaften in einem sehr profilierten Sinn. Dass Arbeit neuerdings ein knappes Gut ist, das sich immer schwerer gleichmäßig – geschweige denn gerecht – über die gesamte Gesellschaft verteilen lässt und ihre Inhaber in historisch völlig neuartiger Weise privilegiert, zeigt, dass die bürgerlich-industrielle Gesellschaft, wie sie seit dem späteren 18. Jahrhundert in Europa entstanden ist, der Vergangenheit angehört. In der Sicht der aufstrebenden Bildungs- und Wirtschaftsbürger war nie zuviel, sondern immer zuwenig gearbeitet worden, die Arbeit galt ihnen nicht mehr als Last oder gar – biblisch – als Fluch, als Mühe, die zur Erhaltung der sozialen und politischen Ordnung unabdingbar, aber ständisch den unteren Schichten zuzuweisen sei. Tatsächlich löste sich mit dem Zerfall der feudalen Sozial- und Herrschaftsordnung der Begriff der Arbeit von der Fixierung auf die »handarbeitenden Schichten«, als Arbeit galt nicht mehr nur die manuelle Herstellung von Gütern, sondern auch die Organisation ihrer Produktion und Verteilung; als Arbeit angesehen wurde schließlich selbst die »Theoria«, die Tätigkeit des anfangs noch ständisch verorteten »Gelehrten« und später des modernen Wissenschaftlers, dessen Tätigkeit dann folgerichtig auch immer weniger als kontemplative Anschauung und Beschreibung der Wirklichkeit, sondern als der wesentlichste Faktor ihrer Veränderung und Verbesserung erschien. Das Ziel aller Tätigkeit wurde die »Besiegung der Natur durch Arbeit«, wie Albrecht von Thaer, der wichtigste deutsche Agrarreformer zu Beginn des 19. Jahrhunderts, es formulierte. Möglich gemacht werden sollte sie durch rationale, allein gewinnorientierte, durch keine ständischen Schranken eingeengte Arbeitsorganisation mit der Absicht optimaler Gewinnsteigerung auf der Grundlage einer liberalisierten Wirtschaftsverfassung mit einem allein den ökonomischen Notwendigkeiten folgenden Boden- und Gütermarkt. Die freigesetzte Arbeit vervielfältigte in der Sicht der aufklärerisch-bürgerlichen Weltdeutung die Lebenschancen, ermöglichte die Befriedigung wachsender Bedürfnisse und ein immer weiter reichendes Streben nach Glück. Sozial, wirtschaftlich und politisch Privilegierte, der Adel, aber auch die zünftischen Handwerksmeister, waren in dieser Sicht unproduktiv und hatten sich den Verhaltensweisen und Normen der neu entstehenden bürgerlichen Leistungsgesellschaft anzupassen. Der Werthorizont des liberalen Bürgertums warf dabei allerdings die Wertungen der antik-christlichen Tradition nicht einfach über Bord – sofern die traditionell an die Arbeit herangetragenen Topoi wie Fleiß, Treue und Redlichkeit die von Technisierung und rationaler Organisation verlangte gesteigerte Arbeitsdisziplin unterstützten, blieben sie inkraft. 11

Mit der Auflösung der feudal begründeten rechtlichen, sozialen und politischen Hierarchien schwand auch der rechtliche und politische Gegensatz von Stadt und Land. Den Marktgesetzen unterworfen, verlor der Boden seine herrschaftsbegründende Funktion. Die vormoderne, auf dem Prinzip des Privilegs aufgebaute gestufte societas civilis mit der Schichtung ständischer Sonderrechte machte in einem langwierigen Ablösungsprozess der modernen Staatsbürgergesellschaft Platz, wobei tendenziell die gemeindlichen Wahlrechte am längsten zwischen Vollbürgern und politisch minder- oder nicht berechtigten Bewohnern unterschieden. Die alte Trennung von adeligen, bürgerlichen und bäuerlichen Gütern löste sich auf, ebenso wie das Verbot für den Adel zu bürgerlicher Berufsausübung. Ältere Vorrechte der Stadt- vor der Landgemeinde verschwanden, im Prinzip konnte jeder überall im Staat Gewerbe treiben und als eine spezielle Art von Gewerbe verstand die »rationelle« Landwirtschaft auch die Bodenbewirtschaftung. Mit der Generalisierung der gewerblichen und dem Aufkommen der industriellen Arbeit änderten sich auch die Siedlungsformen, die Gestalt der Produktionsstätten, das optische Erscheinungsbild der einem universalen und zunehmend intensiven Verarbeitungsprozess unterworfenen Natur. Dieser Prozess erfasste die ländlichen Regionen später und insgesamt weniger einschneidend als die Zonen verdichteten Arbeitens und Lebens in der Stadt oder in den stadtnahen Regionen. Die Technisierung der Landarbeit griff erst im späteren 19., die Industrialisierung der Bodenbewirtschaftung im 20. Jahrhundert – zuletzt aber soweit, dass sich »Landschaften« im emphatischen Sinne des 19. Jahrhunderts kaum mehr finden lassen – Regionen relativer Naturbelassenheit, die freilich, soweit dem Menschen überhaupt zugänglich, auch immer schon »Kulturlandschaften« waren. Schneller, massiver und mit durchgreifenderen Folgen für die Lebensformen und ihre räumliche Ordnung und Deutung vollzog sich der Wandel in der Stadt. Die Industrialisierung trieb einen umfassenden Urbanisierungsprozess voran, der neue Formen sozialer Interaktion und Kommunikation schuf und generalisierte. Der demographische, wirtschaftliche und administrative Wandel schlug sich in neuen Schichtungsverhältnissen mit der Transformation der – in der Stadt natürlich schon immer ausdifferenzierten – Quartiermilieus nieder. Er schuf aber auch eine neue, spezifisch großstädtisch-moderne Mentalität und ein eigenständiges Identitätsbewusstsein des Großstädters. Eben damit reproduzierten und potenzierten die großen Städte ihre – von jeher gegebene – Rolle als Motoren sozialer und kultureller Innovation. Die Stadt, insbesondere die Großstadt, ist der Ort, an dem sich neue Eliten herausbildeten, sich mit Gesellschaften und Vereinen unterschiedlichster Art neue soziale Beziehungen und kulturelle und politische Zwecke organisierten, an dem die moderne demokratische Massengesellschaft entstand und an dem sie sich selbst deutete. Die Stadt ist immer die Lebenswelt des Bürgers gewesen und sie blieb es 12

selbstverständlich auch im »bürgerlichen Zeitalter«. Aber gerade der vom Bürgertum vorangetriebene kulturelle, soziale und politische Wandel gefährdete zunehmend seine eigene beherrschende Stellung in der Stadt. In der im späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit entstandenen Residenzstadt hatten die monarchische Herrschaft mit ihrem Verwaltungsapparat und bürgerliche Lebensformen und Wertvorstellungen zu einer spannungsreichen, insgesamt aber innovationsträchtigen Koexistenz gefunden. In den größeren Hauptstädten des 19. Jahrhunderts mit ihren zentralörtlichen Aufgaben stieg das Gewicht des gebildeten Bürgertums durch den – ungeachtet der herrschaftskritischen Tendenz des Liberalismus – tiefgreifenden Funktionsgewinn des Staates. In den industrialisierten Städten – auch die alten Residenzstädte industrialisierten sich – übernahm das neue Wirtschaftsbürgertum allmählich mehr Einfluss in der gemeindlichen Selbstverwaltung als das konservativere Gewerbebürgertum, ehe sich mit den Zwängen der modernen Daseinsvorsorge eine spezialisierte Leistungsverwaltung etablierte, die zwar in ihren Bildungsvoraussetzungen, ihren Wertvorstellungen und sozialen Kommunikationskreisen »bürgerlich« blieb, dabei aber auch zunehmend bestrebt sein musste, die Wohlfahrt aller Stadtbewohner durch eine tendenziell gleichmäßige Verteilung der kommunalen Dienstleistungen und insofern auch durch den Abbau sozialer Ungleichheit zu sichern. Das Bürgertum sah sich herausgefordert, die bürgerliche Identität der Städte gegen die Lebensformen und Ansprüche der wachsenden Arbeiterbevölkerung zu verteidigen – was auch geschah, am Ende aber nur möglich war durch neue Praktiken der Integration und schließlich durch die politische Gleichstellung der Arbeiter, die zum Eindringen – und in den großen Städten bald auch zur Vorherrschaft – der politischen Arbeiterbewegung in den städtischen Selbstverwaltungsgremien führte. Der Begriff »bürgerliche Gesellschaft« bezeichnet eine zeitgenössische Idealvorstellung und ein idealtypisches Modell der heutigen Geschichtswissenschaft von der politischen und gesellschaftlichen Ordnung des 19. Jahrhunderts. In der kulturellen, sozialen und politischen Wirklichkeit muss man unterschiedliche Formationen des Bürgertums, verschiedene Entwicklungsstadien und ein breites Spektrum von Deutungskonzepten bei den Bürgern unterscheiden. Die wirtschaftliche, politische und soziale Macht erlangte das Bürgertum zwischen der Mitte des 18. und dem frühen 20. Jahrhundert schrittweise, erst gegen den Adel erobert, dann gegen die Arbeiterschaft verteidigt, vielfach eingeschränkt durch das Fortleben ständischer Privilegien, selbst eingebunden in die Traditionen ständischen Denkens und im Übrigen konfessionell und regional zersplittert. Die Epochenbezeichnung »bürgerliches Zeitalter« markiert den generellen Bedeutungsgewinn und die gesellschaftliche Deutungshoheit, die sich die Bürger seit der Aufklärung erkämpften, aber sie meint natürlich nicht, dass die Bürger mit ihren Machtansprüchen nicht zahllose Kompromisse hätten eingehen müssen. Bürger übernahmen aristokrati13

sche Lebensformen oder wurden selbst Neuadlige, sie teilten sich Elitefunktionen mit dem Adel und bildeten vor allem zu Beginn der Epoche vielfach eine adlig-bürgerliche Führungsschicht mit gemeinsamen Verkehrskreisen und der Tendenz zur gemeinsamen Abgrenzung nach unten. Die Monarchien behaupteten sich bis 1918 und sicherten dem Adel trotz massiver Einflussverluste auf beiden Seiten bis zuletzt eine Stellung, die weder ökonomisch noch kulturell hinreichend begründet war. Sie behaupteten sich – nicht zuletzt durch die Fähigkeit zur Reform von oben – und erwiesen sich prinzipiell als kompatibel mit dem fundamentalen Politisierungsprozess des 19. Jahrhunderts – wenn sich dann auch nach dem Ersten Weltkrieg herausstellte, dass ihre Legitimität restlos verbraucht war. Mit der Förderung der Künste, die allerdings schon von jeher zu ihren Herrschaftsaufgaben gezählt hatte, engagierten sich die Monarchen vom frühen 19. bis zum frühen 20. Jahrhundert vielfach durchaus flexibel auf einem Tätigkeitsfeld, das sie selbst primär zur Arbeit an der eigenen Legitimität nutzten, das aber keineswegs darin aufging. Die Herrscher spielten in der Kunstförderung eine insgesamt nachlassende, aber nach wie vor wichtige Rolle, die Kunstszene und – allgemeiner – die kulturelle Überlieferung aus dem 19. Jahrhundert sähen ungeachtet der neuen Rolle von Kunstvereinen, Kunstmarkt, Kunstkritik und bürgerlicher Kunstförderung ohne die Monarchen anders aus. Allerdings bleibt festzuhalten, dass sie diese Rolle nur spielen konnten, weil sie sich zunehmend bürgerlicher Berater und Fachleute bedienten. Legitimierungsarbeit mit Hilfe von Kulturpolitik musste den Monarchen in Deutschland schon deshalb als nützlich erscheinen, weil die Grundlagen ihrer Herrschaft ebenso wie ihre konkrete Machtstellung prinzipiell durch das bürgerliche Ordnungsmodell der Nation in Frage gestellt wurden. Der Kern des modernen Nationalgedankens besteht im Ideal einer Staatsbürgergesellschaft auf der Grundlage der rechtlichen und politischen Egalität. Das Konzept der Nation versprach – und realisierte zunehmend – die Abschaffung der ständischen Privilegien. Die Nation ist die politische Ordnungseinheit, die den modernen Individualismus mit dem Bedürfnis versöhnt, sich als Teil einer starken Gruppe zu verstehen und von ihrer Macht zu profitieren. Das ermöglichte die Einführung eines zunehmend demokratisierten Männerwahlrechts bei gleichwohl aufrechterhaltener oder neu entstehender sozialer Ungleichheit. In Deutschland klafften die staatliche Organisation und der Nationalgedanke aufgrund der Struktur des Alten Reiches auseinander, ein Gesamtstaat auf der Grundlage der Nationalidee musste erst geschaffen werden. Das gelang 1867/71, aber die Struktur des neuen Nationalstaats blieb föderativ. Dabei zeigte sich die politische Bedeutung kultureller Traditionen auch für die politische Ordnung. Die Idee eines deutschen Nationalstaats war von Anfang an von der Besonderheit deutscher »Regionen« und Städte her gedacht worden und sie blieb durch das 19. Jahrhundert hindurch in lokalen und regionalen 14

bzw. einzelstaatlichen Loyalitäten verankert – auch wenn diese sich in den letzten Jahrzehnten vor 1914 unter dem Druck eines betont reichischen Nationalismus abschwächten. Angesichts der Macht und Anciennität der einzelstaatlichen Traditionen bleibt es nach wie vor erstaunlich, wie problemlos die Reichseinigung gelang. Das erklärt sich u.a. aus zwei Gründen: Jede Region bzw. jeder Einzelstaat und jede große Stadt konnte von sich selbst her die Zugehörigkeit zur großen Einheit der deutschen Nation und nunmehr auch des Nationalstaats kulturell begründen. Und für die Notwendigkeit eines Beitritts zum Reich konnten massive regionalistische Argumente geltend gemacht werden: die Vorteile für die jeweils eigene Region, ökonomisch, und bei den politischen und selbst den konfessionellen Einflusschancen. Eine, wenn nicht überhaupt die wesentlichste Form, in der sich das Bürgertum über seine eigenen ökonomischen und kulturellen Leistungen, über seine politischen Konzepte und insofern auch über seine Zukunftsperspektiven verständigte, war die Geschichtsschreibung. Geschehenes und Zurückliegendes zu erinnern und erzählend zu vergegenwärtigen, ist keine spezifische Leistung des Bürgertums, Geschichtsschreibung gibt es in allen alphabetisierten Kulturen. Das Christentum hatte ein heilgeschichtliches Schema geschaffen, das insofern einem säkularen Fortschrittsdenken vorarbeitete, als es die Vergangenheit im Blick auf eine zukünftige – wenn auch außerweltliche – Vollendung organisierte. Der für das Geschichtsdenken seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert charakteristische Entwicklungsgedanke aber trägt die Signatur des aufsteigenden Bürgertums. Er organisiert das gesamte Wissen über alle Formen menschlicher Kultur unter dem Gesichtspunkt, dass sich der Sinn alles Tuns durch Orientierung am Zeitablauf erschließt und dass dieser Ablauf insgesamt zu verstehen ist als eine permanente, wenn auch immer wieder retardierte, Steigerung von Kultur und Wohlfahrt. Der Bezug auf eine außerweltliche Transzendenz blieb in der deutschen Geschichtsschreibung vom Beginn des bürgerlichen Zeitalters bis nach 1945 präsent und in mancher Hinsicht prägend für die Vergangenheitsdeutung. Das historistische Entwicklungskonzept selbst geriet – ob geschichtsreligiös oder rein säkular verstanden – in dem Moment in die Krise, als die frühliberale Utopie der bürgerlichen Gesellschaft gescheitert war, also mit der Verfestigung der neuen Klassengesellschaft auf der Grundlage der kapitalistischen Produktions- und Verkehrsformen, mit dem Fraglichwerden der bürgerlichen Deutungshoheit in der Gesellschaft und mit dem Aufkommen der modernen Kulturindustrie seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Neue Mythen gewannen an Einfluss – also Erzählmuster, die im Gegensatz zum Entwicklungsgedanken auf die Einebnung der Zeitdifferenzen setzen, Vergangenes unmittelbar an die Gegenwart heranrücken und damit die Grundfigur der Geschichtsdeutung als Steigerungs- und Fortschrittsgeschichte in Frage stellen. Mythos und geschichtswissenschaftliche Rekonstruktion der Vergangenheit waren sich 15

freilich nie so fern wie man – wissenschaftsgläubig – lange gemeint hat. Geschichtswissenschaftliche Erzählung folgt häufig einem mythischen Erzählmuster, sie relativiert es allerdings mehr oder weniger intensiv durch das Arsenal der Traditionskritik, das über ein halbes Jahrtausend hinweg, beschleunigt seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelt worden war, durch steigende Komplexität der Erklärungen und durch wachsende Diskursivität der Darstellung. Gerade darin zeigt sich, dass moderne Geschichtswissenschaft »Arbeit« im oben skizzierten Sinne ist. Wissen über die Vergangenheit wird dabei – aus ganz unterschiedlichen Interessen, die man mit Nietzsche »antiquarisch«, »kritisch« oder »monumentalisch« nennen kann – geprüft, kritisiert, neu gewonnen, erzählt. Das Sozialsystem Geschichtswissenschaft ist allerdings nur finanzierbar, das heißt lebensfähig, solange die Gesellschaft den Eindruck hat, dass damit ihrer Selbstverständigung – und das heißt letztlich Wohlfahrt – gedient wird. Ob sie für ihr Funktionieren und dafür, was sie unter humaner Existenz versteht, auf die institutionalisierte Geschichtswissenschaft im bisherigen Umfang zurückgreifen will, scheint überaus fraglich. Das hat viele Gründe; einer besteht darin, dass in der gegenwärtigen Kultur die Erzählung von Vergangenheit in sinnvermittelnder, normorientierender und auch unterhaltender Absicht in sehr viel größerem Umfang außerhalb der Universität stattfindet als bis vor Kurzem. In der »Wissensgesellschaft« unserer Gegenwart bieten die Massenmedien neue und für sehr viel mehr Rezipienten als bislang zugängliche Formen der Wissensvermittlung. Diese scheinen nicht dazu angetan, den zunehmenden Gegensatz von »history« und »memory«, von distanzierend-rationaler, analytischer Erklärung von Prozessen und emotional-engagierter, die Vergangenheit daher auch bewusst nahe rückender Geschichtserzählung wirklich zu überbrücken. Der Bedarf der modernen Gesellschaften an Vergangenheit ändert sich rapide, quantitativ und qualitativ. Wenn die uns seit der Spätaufklärung zunehmend geläufig gewordenen Formen der arbeitenden und rationalen, analytischen und distanzierenden Geschichtserzählung charakteristisch sind für das bürgerliche Zeitalter, so muss ihre prinzipielle Infragestellung oder Transformation auch als Symptom für das definitive Ende des bürgerlichen Zeitalters gelten. Die hier neu aufgelegten Aufsätze bearbeiten schwerpunktmäßig Probleme, die mir für die skizzierten Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen der bürgerlichen und der bürgerlich-industriellen Gesellschaft wichtig erscheinen. Der erste Teil – Formen der Geschichtsschreibung – enthält Aufsätze, die die spezifische Gegenwarts- und Geschichtserfahrung des bürgerlichen Zeitalters und die ihnen entsprechenden Formen des historischen Erzählens analysieren (1, 2, 3). Mit der Krise des historistischen Geschichtsbewusstseins als dem spezifischen Modus, in dem die bürgerliche Fortschrittserwartung Gegenwart und Vergangenheit vermittelte, traten an die Geschichtswissenschaft 16

Forderungen nach Methodenerweiterung oder -wechsel, nach Erweiterungen der Fragestellung und nach neuen Darstellungsformen heran – was nichts daran ändert, dass das von Aufklärung und Historismus gewonnene Modell von Wissenschaft als Arbeit den Wissenschaftscharakter von Geschichtserzählungen nach wie vor konstituiert (3). Die seither geltend gemachten konzeptionellen und methodischen Defizite durchziehen – neben Relativierungen von Geschichtswissenschaft überhaupt (4) – das 20. Jahrhundert, sind aber insbesondere in den letzten dreißig Jahren von der scientific community auch intensiv bearbeitet worden. Die Aufsätze 5, 6, 7 sondieren bestimmte Aspekte dieser Problemlage. Die Aufsätze des zweiten Teils – Arbeit, Landschaft, Nation – gehen aus vom Arbeitscharakter der bürgerlichen Gesellschaft und tendenziell auch bereits von ihrer Struktur als Wissensgesellschaft. Aufsatz 8 (Von der Utopie zur Wirklichkeit der Naturbeherrschung) zeigt, wie weit die Absicht und die Methoden der Naturbearbeitung zum Zweck der Wohlfahrtssteigerung in den frühneuzeitlichen Utopien vorgedacht wurden und wie bestimmte utopisch vorweggenommene Methoden, Instrumente und Ziele in der Wirklichkeit noch der absolutistischen Staaten Fuß zu fassen und die Entwicklungsdynamik anzutreiben begannen. Die Aufsätze 9 (Naturbeherrschung und ästhetische Landschaft) und 12 (Architektur, Stadterweiterung und gemeindliche Selbstverwaltung in Deutschland im 19. Jahrhundert) zeigen, wie in der Kompensation des rational-arbeitenden Zugriffs auf die Natur deren Ästhetisierung entstand. Mit ihrer Hilfe versuchten die Stadtbürger ihr wachsendes Bedürfnis nach Projektion ihrer Subjektivität in eine zu ihrer eigenen Lebenswelt alternativen sichtbaren Wirklichkeit und nach dem sublimen sinnlichen Genuss einer – zur Unbedrohlichkeit domestizierten, ferngerückten, aber eben dadurch »genießbar« gewordenen – Natur zu befriedigen. Aufsatz 12 behandelt die Spannung zwischen «Bürgerstadt« und »Einwohnerstadt« unter dem Druck von Industrialisierung und politischen und sozialen Egalisierungsforderungen und arbeitet heraus, mit welchen architektonischen und städtebaulichen Mitteln die Bürgergesellschaft im engeren Sinn das bürgerliche und – im Falle Münchens – auch residenzstädtisch-monarchisch geprägte Erscheinungsbild der Stadt zu bewahren suchte, wie weit ständische Lebensformen und Herrschaftstraditionen hier nachwirkten und wie sich alteuropäische Traditionen des Städtebaus, soziale Urbanisierungsprobleme und alte und neue Verwaltungsstrategien zu neuen, aber auch problemträchtigen politisch-sozialen Integrationsversuchen verschränkten. Aufsatz 10 (Kunst und Geschichte im Revolutionszeitalter) zeigt, wie und warum der Historismus die optische Signatur des bürgerlichen Zeitalters geprägt hat und stellt die Verbindung zwischen geschichts- und kunstwissenschaftlichem Historismusverständnis her. Aufsatz 11 (Nation – Region – Stadt. Strukturmerkmale des deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert) macht deutlich, wie bestim17

mend der Bezug auf Regionen, auf Einzelstaaten, Natur- und Stadtlandschaften und ihre kulturellen Identitäten für das deutsche Nationalbewusstsein des 19. Jahrhunderts gewesen ist und wie sie seit 1871 zur Bewahrung föderativer Strukturen in der neuen nationalstaatlichen Identität beigetragen haben. Die Aufsätze des dritten Teils – Herrscher, Künstler, Kenner – wenden sich der Frage zu, wie weit in Deutschland im bürgerlichen Zeitalter die Monarchien im Geschichtsbild und in der Kunst- und Kulturpolitik präsent geblieben sind (14, 15) und welche Symbiosen und Konfliktlinien zwischen einzelnen bürgerlichen Künstlern und Kunstfachleuten auf der einen und Herrschern auf der anderen Seite möglich gewesen sind – produktive Symbiosen, denen aber im Falle Wilhelms II. eine zunehmende Konfrontation von Kunstszene und Monarchie gegenüberstand. Aufsatz 16 (Berliner Kunstszene und Mäzenatentum im Kaiserreich. Wilhelm von Bode, Eduard Arnhold, Harry Graf Kessler) untersucht am Beispiel Berlins spezifisch bürgerliche Formen des Sammelns, des Mäzenatentums und der kunstbezogenen Soziabilität und diskutiert damit auch ökonomische, soziale, kommunikative und politische Voraussetzungen für den Durchbruch der künstlerischen Moderne in Deutschland.

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Formen der Geschichtsschreibung 1. Formen der Geschichtsschreibung: Varianten des historischen Erzählens Geschichtswissenschaft lässt sich nicht denken ohne geschichtswissenschaftliche Darstellung. Das ist so selbstverständlich, dass das Thema »Darstellung« lange Zeit weitgehend unbeachtet geblieben, d.h. nicht selbst Gegenstand historiographiegeschichtlicher und geschichtstheoretischer Reflexion geworden ist. Dieses Reflexionsdefizit ist freilich selbst einer bestimmten wissenschaftsgeschichtlichen Situation geschuldet: der aufklärerisch-historistischen Verwissenschaftlichung der Geschichte. In ihren Anfängen reflektierte diese verwissenschaftlichte Historie durchaus auf die Frage nach den Funktionen von Darstellung im Prozess sowohl der historischen Erkenntnis als auch der Vermittlung historischen Wissens an ein »Publikum«. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts aber trat das Nachdenken über Fragen der Darstellung entschieden zurück – wie übrigens die theoretische Reflexion im deutschen Sprachraum insgesamt – um sich dann seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts um so breiter und deutlicher bemerkbar zu machen. In allen drei Fällen – Aufklärung, Frühhistorismus und Gegenwart – ist Reflexion auf das Problem der Darstellung mit einem geschichtswissenschaftlichen Paradigmenwechsel verknüpft. Im Kontext dieses Paradigmenwechsels drängte sich jeweils verstärkt die Erkenntnis auf, dass die sprachliche Darstellung einer vergangenen – also geschichtlichen – Wirklichkeit niemals identisch sein kann mit dieser Wirklichkeit selbst. Der Begriff der Wirklichkeit selbst bezeichnet in diesem Kontext ja nicht eine Faktizität, die sich im Verhältnis eins zu eins abbilden lässt, sondern eine komplexe Ganzheit, die als solche schlechterdings nicht erfahrbar ist. Die ›Wirklichkeit der Kreuzzüge‹ oder die ›Wirklichkeit des Dritten Reichs‹ – das meint eine semantische Struktur, die eine Fülle von Daten, Ideen, Handlungen nach Maßgabe einer oder mehrerer Perspektiven organisiert. Gedächtnis, auch geschichtswissenschaftlich »gereinigtes«, methodisch erarbeitetes und geklärtes Gedächtnis, spiegelt nicht einfach die Vergangenheit wider. Die Erinnerung wie die Darstellung des Erinnerten unterliegen einer bewussten oder unbewussten Perspektivierung. Diese wiederum ist zwar durchaus von 19

individuellen Voraussetzungen des Erinnernden und Darstellenden abhängig; daneben ist sie gesellschaftlich bedingt, aber auch geprägt von kollektiven Wahrnehmungs- und Darstellungsmustern, die eigenen Regularitäten folgen. Es gibt keine vergangene Wirklichkeit, die nicht primär über Sprache und Bild vermittelt wäre, die also nicht auch abhängig ist von vorgegebenen, freilich auch variier- oder transformierbaren Formen der Mitteilung, von Darstellung. Im alteuropäischen Denken hatte die Darstellung ganz im Vordergrund der geschichtstheoretischen Selbstvergewisserung gestanden. Bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein erschienen die Probleme der Historie bzw. der Historiographie als Probleme einer speziellen Art von Literatur. Die Präzeptistik diskutierte die Leistungen und Grenzen, die Techniken und Funktionen der Historie nicht unter dem Gesichtspunkt einer Methodik der Forschung, sondern unter dem Signum literarischer Gattungseigenschaften. Im Zentrum stand dabei die Frage nach dem Unterschied zwischen dichterischen und historiographischen Texten. In beiden Fällen ging es um die Vermittlung oder Mitteilung eines Geschehens. Die »Historie« handhabte dabei die rhetorischen Techniken und Fertigkeiten, um einen wahren Bericht über wirkliche Geschehnisse zu geben – das unterschied sie von den anderen Gattungen der Literatur. Die üblichen Begriffe dieser Grundlagenreflexion – vor allem »Historie«, »Narration« und »Erzählung« – dienten also der Unterscheidung verschiedener Darstellungstypen, die nicht nach dem Gesichtspunkt: Vermittlung oder Ermittlung eines Geschehenen differenziert, sondern in einer Typologie von Formen sprachlicher Präsentation von Wirklichkeit nebeneinandergestellt wurden. In diesem Modell rhetorisch-humanistischer Geschichtenerzählung stellte sich die Frage nach der Wahrheit der Geschichte nicht als erkenntnislogische, sondern als erzählerische und – weiterreichend – als Frage nach dem Ethos des Erzählers. Die Darstellungstechniken dieser Historien orientierten sich an deren praktischer Funktion: historia magistra vitae. Den erzählten Geschichten war die Aufgabe zugedacht, in die Fertigkeiten und normativen Orientierungen eines tugendhaften und erfolgreichen Lebens einzuführen. Die Lektüre von Historien erschien im weitesten Sinn als Schulung der Menschenkenntnis und praktischen Urteilskraft auf dem Wege der Fremderfahrung, als Anleitung zu den Prinzipien der Moral und der Politik. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wandelten sich jedoch Bedeutungsumfang und -gehalt von »Historie« und »Geschichte«. Charakteristisch für den älteren Sprachgebrauch ist die Pluralform, mit der die Summe einzelner Geschichten benannt wurden. »Die Geschichte sind ein Spiegel der Tugend und Laster, darinnen man durch fremde Erfahrung...«.1 In der geschichtstheoretischen Literatur der zweiten Jahrhunderthälfte bildete sich diese Pluralform zu einem Kollektivsingular 1 J. Th. Jablonski, Allgemeines Lexikon der Künste und Wissenschaften, 2 Bde., Königsberg, Leipzig, 2. Aufl., Band I, 1748, S. 386, zit. nach R. Koselleck, Art.: Geschichte (Historie), in:

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um, ›die Geschichte‹ bezeichnet nun die Summe einzelner Geschichten als »Inbegriff alles in der Welt Geschehenen«.2 Dieser neue Begriff fasst also eine Mehrzahl von Begebenheiten – bzw. deren Erzählung – in einer komplexen Ganzheit zusammen. Damit trat zum einen der exemplarische Charakter der ›Geschichten‹ bzw. ›Historien‹ zurück, ebenso wie deren narrative Bedeutung. Der Kollektivsingular ›die Geschichte‹ – vielfach präzisiert in Umschreibungen wie ›Geschichte an und für sich‹, ›Geschichte an sich‹, ›Geschichte selbst‹ oder ›Geschichte überhaupt‹ – erschloss eine neue Erfahrungswelt, die eines umfassenden Wandels der politisch-sozialen Strukturen wie auch der Deutungsmuster, in dem die in der ExemplaHistorie vorausgesetzte unmittelbare Vergleichbarkeit des vergangenen Geschehens mit den Erfahrungen und Anforderungen der Gegenwart nicht mehr gegeben war. Der neue Ausdruck brachte die Komplexität eines Gesamtgeschehens auf den Begriff, in dem die einzelnen ›Geschichten‹ aufgingen. Daraus wiederum ergaben sich einschneidende Konsequenzen für die Darstellung. Denn die Einteilung der erzählten Geschichte ergab sich nun primär aus ›der Geschichte selbst‹; die Gattungsgesetze der rhetorischen Historie traten zurück und mussten sich einem neuen Grundkonzept von Darstellung anverwandeln. Diese Neubewertung von Darstellung erschließt sich begriffsgeschichtlich über die Zurückdrängung des Wortes ›Historie‹ bzw. die Kontamination von ›Historie‹ und ›Geschichte‹. Das vergangene Geschehen selbst und seine Darstellung fielen begrifflich in eins. In Johann Joachim Winckelmanns Buchtitel ›Geschichte der Kunst des Altertums‹ von 1764 zum Beispiel lässt sich nicht mehr unterscheiden, was damit gemeint ist: der erzählte Gegenstandsbereich oder die Darstellung. Auf dieser neuen paradigmatischen Grundlage setzt nun das Nachdenken der frühhistoristischen Geschichtsschreiber und -theoretiker über die Probleme der Darstellung an. Im Zentrum steht auch jetzt noch die Frage nach Identität und Differenz im Verhältnis von Geschichtsschreibung und »schöner Literatur«. In seiner für das deutsche Geschichtsdenken höchst folgenreichen Rede ›Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers‹ setzt Wilhelm v. Humboldt eine Verwandtschaft zwischen Historiker und Dichter in der gemeinsamen Angewiesenheit auf die schöpferische Phantasie voraus: »Denn wenn der erstere die Wahrheit des Geschehenen durch die Darstellung nicht anders erreicht, als indem er das Unvollständige und Zerstückelte der unmittelbaren Beobachtung ergänzt und verknüpft, so kann er dies, wie der Dichter, nur durch die Phantasie«.3 Allerdings hat der Historiker anders als der Dichter die O. Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 647f. 2 Grimmsches Wörterbuch, Bd. 4/1,2, 3863f.; zit. nach ebd., S. 647. 3 W. v. Humboldt, Werke, hg. v. A. Flirner u. K. Giel, Bd. 1, Darmstadt 1960, S. 586; vgl. auch T. Prüfer, Wilhelm von Humboldts ›rhetorische Hermeneutik‹. Historische Sinnbildung im

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Phantasie der »Erfahrung und der Ergründung der Wirklichkeit« unterzuordnen.4 Die Phantasie ist also ein Mittel im Dienst der »Ergründung« – oder, moderner gesprochen, der Erforschung vergangener Wirklichkeit. Sofern die Phantasie das Instrument auch des Dichters ist, dient also dieses künstlerische Mittel dem Historiker primär zur Erkenntnisermittlung – und damit auch der Erkenntnisvermittlung. Humboldt definiert den Historiker daher zwar als »Geschichtsschreiber«, nicht als Geschichtswissenschaftler oder -forscher, leistet aber unter diesem Titel primär eine Theorie der historischen Erkenntnis, aus der sich dann die Theorie der Darstellung von selbst ergibt. Auch Leopold von Ranke legte größten Wert auf die Gemeinsamkeit von Wissenschaft und Kunst. »Der Gegensatz von Kunst und Wissenschaft ist hier ebensowenig fest und genau als irgendwo, und auch hier muß eben beides zusammenfallen: weil Wissenschaft erkundet, was je geschehen ist, Kunst aber das Geschehene gestaltet und gegenwärtig vor das Auge führt«.5 Deutlicher als Humboldt trennt Ranke die Erkenntnis- und die Darstellungsfunktion, stärker als bei Humboldt tritt ein instrumenteller Charakter der Darstellung hervor. Schönheit der Form lasse sich zwar keineswegs nur auf Kosten der Wahrheit erreichen. Aber die Darstellung habe allein »auf lebendiger Kenntnis« zu beruhen und diese wiederum sei nur »durch tiefe und erschöpfende Forschung« erreichbar.6 Die literarische Gestalt des historiographischen Textes bedient sich durchaus der Mittel der »schönen« oder – in heutiger Terminologie – der fiktionalen Literatur, aber ihre Zulässigkeit bzw. ihr Einsatz überhaupt bemisst sich daran, wie weit er der »Wahrheit« der erzählten Geschichte dient. Johann Gustav Droysen schließlich, der bedeutendste Theoretiker der deutschen Geschichtswissenschaft, entwickelte über Humboldt und Ranke hinausgehend eine explizite Theorie der Darstellung. In seiner Typologie der Darstellungsformen unterschied er zwischen untersuchender, erzählender, didaktischer und diskursiver Darstellungsform. Es ging ihm aber dabei dezidiert nicht um eine literarische Gattungslehre, sondern um die darstelleri-

Spannungsfeld von Empirie, Philosophie und Poesie, in: D. Fulda u. T. Prüfer (Hg.), Faktenglaube und fiktionales Wissen, Frankfurt a.M. 1996, S. 127–166. 4 Ebd.; vgl. dazu U. Muhlack, Theorie oder Praxis der Geschichtsschreibung, in: R. Koselleck u.a. (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung. Beiträge zur Historik, Bd. 4, München 1982, S. 607ff; ders., U. Muhlack, Geschichtsschreibung als Geschichtswissenschaft, in: W. Küttler u.a. (Hg.), Geschichtsdiskurs Bd. 3: Die Epoche der Historisierung, Frankfurt a.M. 1997, S. 67ff. 5 L. v. Ranke, Tagebücher, hg. von W. P. Fuchs, München 1964, S. 103; vgl. dazu W. Hardtwig, Konzeption und Begriff der Forschung in der deutschen Historie des 19. Jahrhunderts, in: A. Diemer (Hg.), Konzeption und Begriff der Forschung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Meisenheim a. Glahn 1978, S. 14ff. 6 L. v. Ranke, Französische Geschichte vornehmlich im 16. und 17. Jahrhundert, hg. v. O. Vossler, Bd. 2, Stuttgart 1954, S. 203.

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schen Konsequenzen unterschiedlicher Aspekte der historischen Interpretation.7 Droysen verstand seine ganze Historik als bewusste Absage sowohl an das ältere rhetorisch-humanistische Modell von Geschichtsschreibung, wie es etwa noch in Gervinus’ Historik nachlebte, als auch an die, wie er meinte, ästhetisierte Geschichtsdarstellung – und das heißt auch die Geschichtsauffassung Rankes. Historisch standen also in den im 19. Jahrhundert für das Geschichtsdenken überhaupt führenden geschichtstheoretischen Überlegungen des deutschen Frühhistorismus die Reflexion auf die spezifisch geschichtswissenschaftlichen Darstellungs- und Erkenntnisprobleme in engstem Zusammenhang. Indem die Geschichtsschreibung aus ihrem bisherigen Zusammenhang mit Dichtung und Rhetorik im Rahmen der »schönen Wissenschaften« bzw. »schönen Künste« heraustrat, emanzipierte sie sich als eigenständige Disziplin der Erkenntnis, aber auch als eigenständiger, erkenntnisbezogener Typus von Literatur. Wie kürzlich überzeugend gezeigt wurde8, lehnte sich das historiographische Modell des deutschen Historismus sehr viel mehr an die Ästhetik, Poetik und Literatur der Goethezeit an, als sich die Geschichtswissenschaft selbst eingestehen wollte. In ihrem Selbstverständnis betonten Humboldt, Ranke und vor allem Droysen die Autonomie des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses gegenüber ›literarischen Darstellungsweisen‹. Tatsächlich aber flossen nicht nur in ihre historiographische Praxis, sondern auch in ihr Konzept von Geschichte als Wissenschaft wesentliche Konstitutionsmerkmale der goethezeitlichen Poetik und Ästhetik ein. Dies zeigt sich etwa an der Symbolqualität, die selbst Droysen, der entschiedenste Erkenntnistheoretiker unter den Gründergestalten des deutschen Historismus, der Geschichte zuweist – Symbolqualität insofern, als sie eine Funktion der Sinnversicherung beanspruchte –, und vom Publikum bestätigt bekam, die um 1800 noch der Dichtung zugesprochen worden war. Die ästhetische Qualität der Geschichtswissenschaft umschreibt Droysen u.a. im Vergleich des Historikers mit dem bildenden Künstler. Die »Tatsachen«, die der Historiker »erzählt, sind selbst die Momente seiner Gedankenreihe; er denkt sozusagen in Formen von Tatsachen, so wie der Maler nicht von irgendwelcher Abstraktion her seine Figuren ordnet und seine Farben; sondern sein Gemälde denkend, setzt er die Farben nebeneinander ... Je mehr der Historiker in Tatsachen denkt, desto besser wird er erzählen; denn so erzählend wird er jeder Tatsache, die er anführt, die

7 Vgl. Muhlack, Theorie und Praxis (wie Anm. 4), S. 613. 8 Vgl. D. Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860, Berlin 1996; vgl. auch K.-H. Metz, Grundformen historiographischen Denkens. Wissenschaftsgeschichte als Methodologie. Dargestellt an Ranke, Treitschke und Lamprecht, München 1979.

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ganze Wucht ihrer Bedeutsamkeit, den Nachweis eines in der Entwicklungskette wesentlichen Moments geben«.9 Diese gleichsam unabsichtlich und geradezu gegen die vordergründig dominierende szientifische Stoßrichtung hervortretenden poetologischen und ästhetischen Komponenten der historistischen Geschichtstheorie sollten in Erinnerung gehalten werden, wenn nunmehr von der aktuellen Geschichtstheorie zunächst im Zeichen analytischer Narrativitätstheorien und dann des »linguistic turn« die Rede ist. Das Nachdenken über die Darstellungsfunktionen und -modi der modernen Geschichtswissenschaft kristallisiert sich in den letzten Jahrzehnten um den Begriff der Erzählung. Einen wesentlichen Schritt tat dabei, angeregt von der analytischen Wissenschaftstheorie Carl Gustav Hempels, Arthur C. Danto. Er verschob den Bedeutungsgehalt des Begriffs von einer Darstellungsweise zu einem Erkenntnisverfahren. Danto zufolge ist jede Geschichtsschreibung so organisiert, dass spätere Ereignisse frühere Ereignisse beschreiben, die entsprechende Textstruktur nennt er »Erzählung«. Im deutschen Sprachbereich hat Hans Michael Baumgartner diese Theorie aufgegriffen und, angelehnt an die deutsche Tradition der Transzendentalphilosophie, expliziert.10 Er verwendet den Begriff »Erzählung« auf vier verschiedenen, aber aufeinander bezogenen Ebenen. Erzählen gilt ihm als eine anthropologische Grundtatsache, sie konstituiert historische Probleme und Zusammenhänge, sie kennzeichnet die Struktur historischer Texte und bezeichnet die spezifische Darstellungsform historischer Sachverhalte. Erzählung steht damit am Anfang jeder Theorie der Geschichtswissenschaft. Wie bei Danto erscheint damit die temporale Struktur von Satzsystemen als Bedingung der Möglichkeit jeglicher historischen Aussage. Geschichtswissenschaftliche Texte können demnach nicht anders, als einem narrativen Schema zu folgen, das über den diskursiven Elementen des Textes steht. Erzählung ist gegenüber anderen notwendigen Darstellungsmomenten wie der Chronologie oder der Beschreibung von Zuständen nicht gleichrangig, sondern deren bestimmendes Prinzip. Anthropologisch rekurriert diese historische Erzählung auf »Erzählung« als ursprüngliche Sprachhandlung, die der Mensch aus seinem Interesse an Freiheit immer schon vollzieht. Diese vorwissenschaftliche, jedenfalls nicht in wissenschaftlicher Absicht entstandene narrative Fas9 J. G. Droysen, Historik. Rekonstruktion der ersten vollst. Fassung der Vorlesungen (1857), Grundriß der Historik in der ersten handschriftl. (1857/58) und der letzten gedr. Fassung (1882), Textausgabe von P. Leyh, Stuttgart 1977, S. 233f.; vgl. dazu Fulda, Wissenschaft (wie Anm. 8), S. 418ff. 10 H. M. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt a.M. 1972; ders., Erzählung und Theorie in der Geschichte, in: J. Kocka u. T. Nipperdey (Hg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte, München 1979, S. 259ff.; A. C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt a.M. 1972 (zuerst engl. 1965).

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sung einer Wahrnehmung oder Erfahrung strukturiert geschichtslogisch auch die Geschichten vor, die Geschichtswissenschaftler erzählen. Eine solche Kontamination geschichtslogischer Bestimmungen mit den herkömmlichen poetologischen Bedeutungsgehalten des Begriffs »Erzählung« provozierte zunächst viele Missverständnisse insbesondere bei den Verfechtern einer theorieorientierten Strukturgeschichte, die »Erzählung« in Übereinstimmung mit dem voranalytischen Sprachgebrauch vor allem mit den ›literarischen‹ Darstellungsformen der älteren, theoriefernen Geschichtsschreibung gleichsetzten. Die Identifizierung von Geschichtsschreibung und »Erzählung« erhielt jedoch einen weiteren Schub durch die strukturalistische Literaturtheorie und die sie ablösende Geschichtstheorie des »linguistic turn«. An der Nahtstelle dieses Übergangs steht Hayden Whites inzwischen direkt und indirekt – über Kritik und Abwandlung – sehr einflussreiche Theorie der Erzählung. White will »Stile« historischer Reflexion und Darstellung erhellen, zugleich damit aber die besonderen Merkmale einer spezifisch historischen Forschungsmethode entwickeln. Er unterscheidet zunächst drei Formen historischer Darstellung: die annalistische, die Ereignisse ohne inneren Zusammenhang aneinander reiht; die chronistische, in der zwar auch Ereignis auf Ereignis folgt, darüber hinaus aber ein thematischer Rahmen erkennbar wird, in dem die Ereignisse stehen, wie eine Herrscherdynastie, eine Stadt, ein Land etc. Die eigentlich aussagefähige Darstellungsform – und also auch Forschungsmethode – ist jedoch die Erzählung, die eine Mehrzahl von Ereignissen durch das »Emplotment« in einen sinnvollen, ihnen nicht per se zukommenden Zusammenhang von Anfang, Mitte und Ende eines Ablaufs bringt. Die Beziehungen zwischen den Ereignissen sind das Ergebnis einer sinngebenden Perspektivierung durch den ›erzählenden‹ Historiker. Am Anfang und Ende jeder Geschichtsschreibung steht bei Hayden White die Sprache. Er macht erneut ernst mit der altüberlieferten Zuordnung der Historie zu den literarischen Gattungen und überträgt sie in die Moderne, in die Ära der ›verwissenschaftlichten‹ Geschichtsschreibung. Die Sprache verfügt – so die Theorie – über eine beschränkte Anzahl von spezifischen Redeweisen (Tropen), die jeweils den Sinn dessen, worüber gesprochen wird, konstituieren. Es handelt sich um eine Vierzahl: Metapher, Metonymie, Synekdoche und Ironie. Die Metapher charakterisiert einen Sachverhalt wesentlich darstellend, die Metonymie reduktionistisch, die Synekdoche integrativ und die Ironie negativisch. Jedes Werk eines Historikers verfügt sonach unabweisbar über einen sprachlichen und poetischen Gehalt, der vorkritisch das Paradigma dafür abgibt, was jeweils als historische ›Erklärung‹ angesehen wird. Die Grundformen der Geschichtsschreibung sind demnach »Formalisierungen poetischer Einsichten, die ihnen analytisch voraufgehen und die besonderen Theorien recht25

fertigen, auf die man sich stützt, um historischen Darstellungen den Anschein einer ›Erklärung‹ zu geben«.11 White nennt sie in Anlehnung an Northrop Fryes System der literarischen Modi: Romanze, Tragödie, Komödie oder Satire. Die Romanze stellt ein Drama vor, in dem ein beliebiges historisches Subjekt zu sich selbst findet, indem es die bisherige Erfahrungswelt übersteigt und am Ende, in einem Akt der Befreiung, über sie siegt (verkörpert etwa in der Geschichtsschreibung Jules Michelets). Der Romanze steht diametral die Satire gegenüber, die archetypisch die Erkenntnis anspricht, dass der Mensch nicht Herr der Umstände, sondern eher ihr Gefangener ist (Jacob Burckhardt). Die Komödie (Ranke) dagegen glaubt daran, dass die widerstreitenden Kräfte in Natur und Gesellschaft gelegentlich versöhnt werden können und so einen vorübergehenden Triumph des Menschen über seine Welt erlauben, während die Tragödie (Alexis de Tocqueville) einen Zustand der Gespaltenheit für endgültig und unaufhebbar hält. Diesen narrativen Verknüpfungsweisen der literarischen Modi kann man vier Grundformen diskursiver Schlussfolgerungen zuweisen, die jeweils die historische Erklärung leisten. White unterscheidet die formativistische, die organizistische, die mechanistische und die kontextualistische Erklärungsweise. Der formativistischen Strategie etwa, die White bei Johann Gottfried Herder, Thomas Carlyle, Jules Michelet und Theodor Mommsen feststellt, geht es vor allem darum, Vielfalt und Lebendigkeit des »historischen Feldes« zu schildern. Dem »zerstreuenden« Blick der formalistischen Verfahrensweise steht die integrative der organizistischen, die deterministische der mechanistischen und die Bevorzugung funktioneller Wechselbeziehungen in der kontextualistischen Verfahrensweise gegenüber. Gegen dieses Modell von Geschichtsforschung als Geschichtserzählung lassen sich mehrere Einwände vorbringen. Eine große Schwierigkeit entsteht daraus, dass White die Historiographie dem alteuropäischen Verständnis von »poeisis« und damit einem kontemplativen Erkenntnisideal zuordnet, dem es darum gegangen war, ›Wesen‹ und Formen einer Welt zu erfassen, die im Wesentlichen als unveränderlich vorgegeben gedacht war. Demgegenüber geht es der modernen Wissenschaft um ein Leistungswissen, das dem Menschen die Freiheit und Macht verleihen soll, die Welt zu lenken und in seinem Sinn umzugestalten. Diese neuzeitliche Konzeption von Wissenschaft als Arbeit hat weitreichende Konsequenzen für die Organisation des Wissens in der Geschichtswissenschaft; denn diese unterliegt dem Zwang zu immer mehr Arbeitsteilung, sie ist abhängig von den im arbeitsteiligen System der Wissenschaften entstehenden Wissensbedürfnissen, sie legt immer mehr Wert auf die 11 H. White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M. 1991 (zuerst engl. 1973), S. 13; sowie ders., Auch Klio dichtet oder: Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses, Frankfurt a.M. 1986.

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rasche Information, sie folgt dem Bedarf an Bestätigung oder Widerlegung einer These, sie entwickelt daher darstellerische Formen, die sich dem »Emplotment« im Sinne Whites entziehen. Auch ist die Typologie von Plotstrukturen (Romanze, Komödie, Tragödie und Satire) alles andere als zwingend – ebenso wenig wie ihre Korrelation mit bestimmten ideologischen Einstellungen (wie etwa die von Komödie und »Konservativismus« oder Tragödie und »Radikalismus«). Es wäre durchaus denkbar, die Analyse der Plotstrukturen auf völlig andere Typologien zu beziehen – so etwa auf einen gattungstypologischen Ansatz, der »von anthropologischen Faszinationstypen« der erzählenden Darstellung von Vergangenem ausgehen und grundlegende Erzähltypen wie die Heldengeschichte (u.a. in der Form des Epos), die Heiligengeschichte (Hagiographie) und die dramatische Ereigniserzählung (Novelle) unterscheiden würde.12 Für den Historiker noch naheliegender wäre der Rekurs auf eine Typologie anthropologisch gegebener Erinnerungsbedürfnisse in Anlehnung an Nietzsches Unterscheidung von »monumentalischem«, »antiquarischem« und »kritischem« Geschichtsinteresse.13 Das »monumentalische« Interesse gebraucht »die Geschichte als Mittel gegen die Resignation« und findet in ihr »Anreizungen zum Nachmachen und Bessermachen«; das kritische Interesse will aufzeigen, »wie ungerecht die Existenz irgendeines Dings, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel ist« und »wie sehr dieses Ding den Untergang verdient«; das antiquarische Interesse dagegen will »auch die minderbegünstigten Geschlechter und Bevölkerungen an ihre Heimat und Heimatsitte« anknüpfen – was bei ihnen mitunter wie »Eigensinn und Unverstand« aussehe, könne doch zugleich der »heilsamste und der Gesamtheit förderlichste Unverstand« sein.14 Jede dieser elementaren Formen des Interesses an der Geschichte bringt ihre eigenen Darstellungsweisen bzw. ihr entsprechende narrative Strukturen der Geschichtserzählung hervor. Schon ein oberflächlicher Blick etwa auf die klassisch-historistische Geschichtsschreibung (monumentalisch), die Geschichtsschreibung der jüngeren deutschen Sozialgeschichte (kritisch) und die moderne Alltagsgeschichte (antiquarisch) verhilft dieser These zu einer gewissen Evidenz.15

12 Vgl. H. J. Lüsebrink, Tropologie, Narrativik, Diskussionssemantik. Hayden White aus literaturwissenschaftlicher Sicht, in: W. Küttler u.a. (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 1: Grundlagen und Methoden der Historiographiegeschichte, Frankfurt a.M. 1993, S. 357f. 13 W. Hardtwig, Alltagsgeschichte heute, in diesem Band, S. 103–113. 14 F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: F. Nietzsche, Werke, hg. v. K. Schlechta, Bd. 1, München 1954, S. 220, 229, 226. 15 Es liegt auf der Hand, dass auch der Gebrauch von Bildern und Metaphern bzw. Begriffen und Theorien in einer gewissen Abhängigkeit von solchen Typen von Geschichtsschreibung steht; zum Thema Sprache, Erzählung, Metapher und Begriff vgl. auch H.-J. Goertz, Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie, Reinbek 1995, S 147ff.

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Ungeachtet solcher Einwände gilt es festzuhalten, was sowohl die analytische Narrativitätstheorie als auch die poetologische Theorie der Geschichtswissenschaft geleistet haben: die vor dem Hintergrund des im 19. und 20. Jahrhundert weitverbreiteten geschichtswissenschaftlichen Positivismus keineswegs selbstverständliche Erkenntnis, wie eng Geschichtserfahrung, Geschichtsforschung und Geschichtsdarstellung miteinander verschränkt sind. Das lange Zeit gängige Vorurteil, die Darstellung verhalte sich zu den Fakten wie die Form zum Stoff, oder es sei möglich, Tatsachen in einem ersten Schritt der Erkenntnis rein und objektiv zu ermitteln, die dann in einem zweiten, grundsätzlich abtrennbaren Vorgang darstellerisch präsentiert würden, ist endgültig ausgeräumt. Insofern ist auch die traditionelle Unterscheidung von res factae, die man als Inhalt der wissenschaftlichen Historie, und res fictae, die man als das Substrat von Dichtung identifiziert, in ihrer grundsätzlichen Gegenüberstellung nicht haltbar. Auch der moderne wissenschaftliche Geschichtsschreiber, nicht nur der romanhafte Erzähler, benötigt unweigerlich Mittel der Fiktion. Der gleichwohl entscheidende Unterschied liegt in der primären Zielsetzung und Bewertung. Dem wissenschaftlichen Geschichtsschreiber geht es darum, die res factae zu präsentieren, und dazu benötigt er bestimmte Mittel der Fiktionalisierung. Für Fiktionalisierung könnte man, älterem Sprachgebrauch folgend, auch Ästhetisierung sagen, doch ist Fiktionalisierung weniger mit dem geläufigen Vorurteil einer beschönigenden Verengung der Wirklichkeit belastet. Fiktionalisierung ist überall dort am Werk, wo die Beschäftigung mit Geschichte über das bloße Sammeln von Wissen über Vergangenes hinausgeht. Bereits Johann Gustav Droysen hat in seiner Historik – mit negativer Bewertung, als »Illusion«, aber sachlich zutreffend – drei unabdingbare Formen des Fiktiven analysiert, ohne die erzählende Geschichtsschreibung nicht auskommt: 1. »Die Fiktion des vollständigen Verlaufs«. Illusionär ist in der Tat der Eindruck, dass wir »von den geschichtlichen Dingen einen vollständigen Verlauf, eine in sich geschlossene Kette von Ereignissen, Motiven und Zwecken vor uns hätten«.16 Jede Erzählung erweckt den Eindruck von Vollständigkeit und Geschlossenheit, mit dem über Lücken im erzählten Geschehen und über möglicherweise mangelnde Konsistenz der Details hinweggetäuscht wird. Hinzu kommt: 2. Die »Illusion des ersten Anfangs und definiten Endes«.17 Jede genetische, vom Anfang her erklärende Erzählung, insbesondere die an Personen und ihrer Geschichte orientierte, fingiert einen gegenüber der Wirklichkeit übertriebenen Eindruck von »organischer Entwicklung« – von 16 J. G. Droysen, Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. v. R. Hübner, Darmstadt 19675, S. 144; vgl. dazu H. R. Jauss, Der Gebrauch der Fiktion in Formen der Anschauung und Darstellung der Geschichte, in: R. Koselleck u.a. (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung. Beiträge zur Historik, Bd. 4, München 1982, S. 419ff. 17 Droysen, Historik (wie Anm. 16), S. 152.

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einem Anfang her, der sich nicht notwendig aus anderem ergibt, und zu einem Ende, auf das notwendig anderes folgt. Und schließlich steht 3. jede Geschichtserzählung in der Gefahr, die »Illusion eines objektiven Bildes der Vergangenheit«18 vorzutäuschen. Selbst wenn vergangene Wirklichkeit in der vollständigsten Breite dargestellt würde, läge doch der Maßstab für das Wichtige und Darstellenswerte nicht in ihr selbst. Vergangenheit kann daher nur in perspektivischer Sicht von der Gegenwart her eingefangen werden. Perspektivierung bedeutet damit immer auch eine Form der Fiktion in bezug auf das tatsächlich Wichtige, die Auswahl von relevanten Details, die kausale Verbindung von Fakten. Trotz dieser Einsicht, dass jede Art von Geschichtsschreibung fiktionale Elemente enthält, die herkömmlich ausschließlich der »schönen« oder eben »fiktionalen« Literatur zugesprochen wurden, bleibt es sinnvoll, die verschiedenen Erzählbegriffe zu unterscheiden, von denen bisher die Rede war: das traditionelle Verständnis von Erzählung als »kunstvoller« Präsentation eines vergangenen Geschehens, die bewusst auch zu ›literarischen‹ Mitteln der Darstellung greift, und Erzählung als die jeden historischen Aussageakt strukturierende Darstellungsfom, die Information, Selektion und Deutung gemäß der Perspektive des Autors umfasst. Nicht notwendig, aber der Tendenz nach neigt eine erzählende Darstellung im erstgenannten Sinn – zumindest ist es in der deutschen Tradition so gewesen – dazu, Entwicklungen und Prozesse, die sich im Rücken oder über den Kopf des Einzelnen hinweg vollziehen, zu vernachlässigen. Hier besteht die Gefahr, dass die Bedeutung allgemeiner handlungs- und bewusstseinsprägender Prozesse, Aktionsbedingungen und -spielräume vor allem ökonomischer und sozialer Art unterbelichtet bleiben. Die komplexen Handlungsbedingungen selbst für den herausragenden Akteur, das gesellschaftliche Ambiente, ohne das die Darstellung von Ereignissen unzulässig verkürzt wird, sind in der Regel einer solchen erzählerischen Darstellung direkt kaum zugänglich, weil hier alles mit allem zusammenhängt und nur der komplexe Zusammenhang als solcher Verständnis erschließt. Der herausragende Akteur z.B. braucht, um wirken zu können, eine allgemeine Krise, die dargestellt werden muss: dass ein komplexer gesellschaftlicher, wirtschaftlicher, politischer oder kulturell-religiöser Zustand brüchig geworden ist, dass die Institutionen ihre Legitimation eingebüßt haben, dass sich das allgemeine Tempo des gesellschaftlichen Wandels plötzlich beschleunigt, dass sich bei vielen ein Einstellungswandel bereits vollzogen hat und so weiter. Gerade die Frage des Veränderungstempos wirft für die geschichtliche Darstellung erhebliche Probleme auf. Vergangene Wirklichkeit konstituiert sich durch Überschichtung gleichzeitig wirkender Faktoren höchst unterschiedli18 Ebd., S. 306.

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cher Dauer, etwa der vergleichsweise – zumindest in der vormodernen Welt – statischen Struktur des Verkehrs, der landwirtschaftlichen und gewerblichen Produktionsformen oder der Mentalität der agrarischen und selbst der städtischen Bevölkerung einerseits, der vergleichsweise rasch ablaufenden Ereignisse wie Seuchen, Kriege, diplomatischen Aktionen andererseits. Schließlich steht eine erzählende Darstellung vor der Schwierigkeit, über dem Einzelvorgang bzw. Einzelschicksal den Zusammenhang aller geschichtswirksamen Faktoren, den Gesamtprozess der Veränderung in seinem diachronen und synchronen Verlauf nicht aus den Augen zu verlieren. Methodisch verschärfen sich alle diese Anforderungen an historische Darstellungen noch durch nicht einfach überspringbare Rationalitätsstandards des heutigen Geschichtsbewusstseins. Unabhängig von eventuellen politischen oder kulturellen Präferenzen des Historikers und Geschichtsinteressierten tendiert die Historie im Zuge ihrer fortschreitenden Verwissenschaftlichung immer weniger dazu, lediglich »zu zeigen, wie es eigentlich gewesen« (Ranke); sie will vielmehr immer expliziter erklären, ›wie es eigentlich gekommen‹. Daher reicht es nicht mehr aus, auf dem Wege des »Verstehens« mittels einer methodisch geregelten und geübten Kunst der Textauslegung Intentionen, Motivationen und Reaktionen von Handelnden zu erschließen – eine Methode, die eine besondere Affinität zur erzählenden Darstellung aufweist –; vielmehr gilt es, überpersönliche Kräfte, Zustände und Verhältnisse abgelöst von Einzelpersonen zu rekonstruieren und das Ergebnis in die Darstellung zu integrieren. Wenn man daher unter einem ›Ereignis‹ einen Zusammenhang von Begebenheiten versteht, der von den Zeitgenossen als Sinneinheit in einer chronologischen Abfolge von Vorher und Nachher erfahren wird und daher auch in den Kategorien chronologischer Abfolge erzählt werden kann, so ist dieses Ereignis nur dann in einer hinreichend umfassenden Perspektive dargestellt, wenn die Geschichtserzählung es in die längerfristigen und außerhalb der Verfügungsgewalt der Handelnden liegenden »Strukturen« einbettet. Umgekehrt hieße es aber auch die Wirklichkeit verkürzen, wenn die jeweiligen Motive, Entscheidungen und Taten persönlich fassbarer und benennbarer Akteure nicht berücksichtigt würden, da keineswegs nur die Umstände den Menschen machen, sondern gesellschaftlich-politische Prozesse wesentlich durch Willensakte und Sinnentscheidungen von Menschen vermittelt sind. Im Blick auf die Darstellungsprobleme der Geschichtswissenschaft ist es daher sinnvoll, den instrumentellen Gebrauch von ›erzählerischen Mitteln‹ bzw. von Theorien zu diskutieren. Es hat sich eingebürgert, mit Jürgen Kocka unter »Theorien explizite und konsistente Begriffs- und Kategoriensysteme« zu verstehen, »die der Identifikation, Erschließung und Erklärung von bestimmten zu unterscheidenden Gegenständen dienen sollen und sich nicht hinreichend aus den Quellen ergeben, nicht aus diesen abgeleitet werden kön30

nen«.19 Genaugenommen kommt keine Geschichtsschreibung ohne Theorie aus. Auch in der ›erzählerischen‹ Geschichtsschreibung des deutschen Historismus tragen sie – wenn auch eher implizit, bei Ranke z.B. unter dem Titel »Ideen« – zur Selektion und Organisation des historischen Wissens bei.20 Eine historische Datenerhebung lässt sich nicht denken, ohne dass dabei jeweils schon ein Begriffsrahmen vorausgesetzt wäre. Allerdings entschied sich die ältere Geschichtsschreibung vorzugsweise dafür, ihre Begriffssysteme eher der Alltagssprache zu entnehmen als den Konstrukten einer quellenfernen Terminologie. Dies geschah aus durchaus nachvollziehbaren Gründen – weil sie fürchtete, dass andernfalls die Singularität eines Ereignisses oder historischen Befundes Schaden nähme. Im Zuge des Verwissenschaftlichungsprozesses ist dieses Bedenken zunehmend zurückgetreten, und die verwendeten Theorien werden schon deshalb explizit gemacht, um ihre kritische Überprüfung zu ermöglichen. Vor allem erlauben Theorien in sehr viel größerem Umfang als die narrativen Mittel der erzählerischen ›Kunst‹, die anonymen Bedingungsfaktoren vergangenen Denkens, Empfindens und Handelns zu erschließen. Die Bevorzugung herkömmlich narrativer auf der einen, theoretischer Mittel auf der anderen Seite lässt daher Rückschlüsse zu auf die grundlegenden Annahmen darüber, was die eigentlich geschichtsmächtigen Faktoren seien: die »Willensakte« (Droysen) oder die Umstände im Zusammenspiel mit den Menschen, welche auf die Umstände einwirken. Die Bevorzugung additiver Erzählformen, in denen der Autor mittels »einfachster gegenständlicher Verknüpfung von Gegenwart und ›Vorzeithandlungen‹ den Kreis der Vorfälle, Schauplätze und Probleme erweitert« – wie etwa Golo Mann in seinem ›Wallenstein‹21 – enthüllt eine »durchwaltende Tendenz zur illustrativen Bereicherung und Ausbreitung des Lebens«.22 Eine solche Erzählung möchte eine Totalität abbilden und erhebt deren Vermittlung, auch wenn sie nicht realisiert werden kann, zum regulativen Darstellungsprinzip. Umgekehrt betont die explizite Theorieverwendung den perspektivischen Charakter des präsentierten Wissens und damit auch die Partialität des dargestellten Geschehens. Wird Geschichte primär als Ergebnis intentionalen Handelns begriffen – wie man das cum grano salis für den Historismus behaupten kann –, so wird die Erzählung im Ganzen vorzugsweise in einer, mit Hayden White zu spre19 J. Kocka, Theorien in der Praxis des Historikers, in: ders., Theorien in der Praxis des Historikers. Göttingen 1977, S. 10, 178; vgl. auch G. Patzig, Theoretische Elemente in der Geschichtswissenschaft, in: J. Kocka u. T. Nipperdey (Hg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte, München 1979 (= Theorie der Geschichte, Bd. 3), S. 137ff. 20 W. Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Historismus, in: ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 87ff. 21 G. Mann, Wallenstein, Frankfurt a.M. 1971. 22 E. Lämmert, Bauformen des Erzählens, Stuttgart 19756, S. 45f.

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chen, dramatischen Emplotment-Struktur aufgebaut sein. Diese steht zweifellos einem monumentalischen Erkenntnisbedürfnis im Sinne Nietzsches nahe. Das Handeln der Akteure vollzieht sich wie auf einer Bühne und nimmt allgemein-menschlichen Charakter an. Erscheint Geschichte dagegen als hauptsächlich bedingt durch ökonomische, soziale und politische oder auch mentalitäre Strukturen, so trägt das Modell des Bühnengeschehens nur mehr sehr eingeschränkt, weil es vor allem auf die nichtintendierten, überpersönlichen, auch anonymen Bedingungsfaktoren des Geschehens ankommt. Auch hier wird nicht ohne Einsatz ›rhetorischer‹ und ›literarischer‹, insbesondere der genannten fiktionalen Mittel erzählt werden, aber dies geschieht dann stärker durch das Referieren von Daten und Informationen. Zudem verzichtet der Historiker in diesem Fall darauf, seiner Konstruktion der erzählten Teilgeschichte eine Globaltheorie der Geschichte zugrunde zu legen. Er wird statt dessen eine Teiltheorie z.B. über den Zusammenhang von ökonomischer und politischer Macht als Interpretationsrahmen explizieren.23 Es bleibt allerdings festzuhalten, dass schon die plastische und suggestive historistische Geschichtserzählung etwa Leopold von Rankes erst dadurch ermöglicht wurde, dass die älteren geschichtstheologisch oder auch aufklärerisch inspirierten Annahmen über einen Gesamtverlauf der Geschichte zurücktraten und so Platz machten für die Erzählung einer Teil-Geschichte sui generis. Es handelt sich also bei einer mehr ›erzählerischen‹ oder mehr ›strukturgeschichtlichen‹ Erzählung um graduelle, wenn auch signifikante Unterschiede in der Interpretation eines vergangenen Geschehens. Um eine ›Erzählung‹ als die Form, in der dieses Geschehen ›verstanden‹ oder ›erklärt‹ werden kann, geht es in jedem Fall. Die Unterschiede zwischen einer traditionellen, eher narrativ angelegten und einer modernen, eher strukturgeschichtlich angelegten Erzählung können am Stellenwert des ›Erzählers‹ selbst in einer geschichtlichen Darstellung noch genauer erläutert werden. Die Historiographie des 19. Jahrhunderts arbeitete überwiegend mit der Figur des ›allwissenden Erzählers‹ – wie der historische Roman. In manchen Fällen, etwa bei Jules Michelet in seiner ›Histoire de la Révolution Française‹ (1847) oder in ›Le Peuple‹ (1846), ist der Erzähler nicht nur allwissend, sondern nimmt am berichteten Geschehen auch selbst emotional teil.24 Eine solche »emotiv-subjektive Erzählerfigur« arbeitet z.B. mit der gehäuften Verwen23 D. Harth, Die Geschichte ist ein Text. Versuch über die Metamorphosen des historischen Diskurses, in: R. Koselleck u.a. (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung. Beiträge zur Historik, Bd. 4, München 1982, S. 477f.; Beispiele hierfür: F. Fischer, Griff nach der Weltmacht, Düsseldorf 1961; H.-U. Wehler, Deutsches Kaiserreich, Göttingen 1973. 24 H.-J. Lüsebrink, Französische Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert – das Beispiel Michelet, in: W. Küttler u.a. (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 3: Die Epoche der Historisierung, Frankfurt a.M. 1997, S. 218–226.

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dung von Interjektionen oder eingeschobenen Kommentaren wie etwa dem Satz: »Der Angriff auf die Bastille war keineswegs vernunftbestimmt. Dies war ein Glaubensakt«.25 Der deutliche Einsatz solcher Mittel dürfte allerdings keineswegs auf Beispiele ›monumentalischer‹ Geschichtsschreibung wie etwa bei Michelet beschränkt, sondern auch in der ›kritischen‹ Geschichtsschreibung üblich sein. Vergleicht man eine ›Deutsche Geschichte‹ des 19. Jahrhunderts (Heinrich von Treitschke) mit einer ›Deutschen Geschichte‹ des späten 20. Jahrhunderts (Thomas Nipperdey), so zeigt sich, dass die Erzählperspektive des allwissenden Autors heute nicht verschwunden, aber stark zurückgenommen ist. Bei Treitschke ermöglicht sie es, innere Konflikte eines Protagonisten wie etwa des Generals Yorck vor seiner Entscheidung in Tauroggen breit auszumalen und vor allem den großen preußischen Königen ein »dunkles« Empfinden zukunftsprägender Gesetzmäßigkeiten zuzusprechen.26 Bei Nipperdey dient diese Erzählperspektive nur dazu, rationale Überlegungen und Absichten von Akteuren nachzuvollziehen (Metternich »wollte«, Stein »hoffte«). Während Treitschke sich über das Erzählen und seine Absichten dabei deutlich ausspricht – er will »einfach erzählen und urteilen«, den »Zusammenhang der Ereignisse aufweisen« und ein »Bild des wirklich Geschehenen geben« –, bezeichnet Nipperdey seine eigene Tätigkeit etwas emphatisch – weil auch gegen die kritische Sozialgeschichte und ihre umfassende Traditionskritik gewendet – als »erzählen«, aber auch, neutraler, als »sagen« oder »beschreiben«. Der Kontext macht deutlich, dass es dabei nicht primär um die literarische Sprachhaltung geht, sondern dass hier ein – Treitschke unbekanntes – Bedürfnis nach Querverweisen und Kontextbildung maßgeblich ist. Treitschke gebraucht das Wörtchen »wir« gern und nicht ohne Betonung: »Wir«, die Deutschen, »kaum erst wiedervereinigt«; »wir« – das sind aber auch die Preußen und »unser Staat«; Treitschke stellt damit einen überzeitlichen Zusammenhang her, der weit zurückgreift und in dem es vor allem um die Legitimierung der Gegenwart geht. Es handelt sich hier um eine Form der Geschichtsschreibung, der es – ›monumentalisch‹ – vor allem darum geht, »die Freude am Vaterland zu wecken«. Bei Nipperdey ist von dieser Emphase des »wir« – des Volks, das den Fortschritt verkörpert – nichts übriggeblieben. »Wir« steht nur noch für die bescheidene Erzählfigur »Autor«, die sich im Wesentlichen darauf beschränkt, Querverweise zur Gliederung des Textes zu geben; gelegentlich verweist diese Figur »Autor« selbstreferentiell auf eine Position des Verfassers – z.B. auf die »Distanz zur älteren nationalistischen Geschichtsschreibung«. 25 Ebd., S. 221. 26 S. Fisch, Erzählweisen des Historikers. Heinrich von Treitschke und Thomas Nipperdey, in: W. Hardtwig u. H.-H. Brandt (Hg.), Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, München 1993, S. 54ff.

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Ein solcher Vergleich narrativer Muster und Figuren in bedeutenden Werken der Geschichtsschreibung könnte noch sehr viel weiter getrieben werden. Er diente hier dazu, die doppelte Kennzeichnung des historiographischen Textes als ›Erzählung‹ zu erläutern. Dieser ist erkenntnislogisch eine ›Erzählung‹, ein narratives Konstrukt auch dann, wenn ein Historiker wie Heinrich von Treitschke naiv realistisch der Meinung ist, mit seiner Darstellung »zur Anschauung des Objektiven der großen Tatsachen« (Ranke) kommen zu können. Und dieser Text ist eine ›Erzählung‹ im Sinne des literarischen Gattungsbegriffs, weil er ohne fiktionale (und auch immer noch rhetorische) Mittel nicht auskommt – bei aller Verwissenschaftlichung, die die Dichte der Information steigert, die Interdependenz verschiedener Handlungsbereiche bewusst herausarbeitet, in ihrer Begrifflichkeit die Alltagssprache zugunsten sprachlicher Konstrukte bewusst übersteigt, mit dem Theorieeinsatz »externes« Wissen mobilisiert und zugleich etwa die Partialität der Perspektive betont. Hinzu kommen darstellerische Sachzwänge, die hier nur noch angesprochen, nicht diskutiert werden können. Keine Darstellung kommt ohne handelnde Subjekte aus, auch wenn sie der Macht überindividueller Prozesse unterworfen sind. Kein Autor dürfte dem Zwang entgehen, Gegensätze und Konflikte zu überzeichnen, zumindest zu stilisieren – unabhängig davon, wie er ihre Entstehung, Zuspitzung und die Auflösung interpretiert (schon diese Reihung folgt einem narrativen Muster). Jedem Autor stellt sich die komplexe Aufgabe, die synchrone mit der diachronen Perspektive auf das Geschehen zu verknüpfen, und kaum ein Autor wird der Versuchung entgehen können, das Geschehen entweder zu sehr zu personalisieren oder zu stringent auf Strukturen zurückzuführen. Möglicherweise bleiben solche Zwänge auch dann in Kraft, wenn sich Historiker heute entschließen sollten – ähnlich wie sie es im frühen 19. Jahrhundert getan haben –, sich bei der Konstruktion ihrer Texte an die Formen der jeweiligen literarischen Moderne anzulehnen. Solche Möglichkeiten sind durchaus in Betracht zu ziehen; denn es muss auch dem Historiker zu denken geben, »wenn die Literatur sich in ihren avanciertesten Produkten dem vorbuchstabierten Sinnauftrag und der damit verbundenen narrativen Formbestimmtheit entzieht«.27 Im Vergleich zu den spezifisch literarischen Texten bleibt jedoch der Unterschied, dass Fiktionalität im einen Fall fundierend, im anderen Fall ein unvermeidliches Mittel zu dem Zweck ist, wirkliche Geschehnisse wahr darzustellen.

27 Harth, Geschichte ist ein Text (wie Anm. 23), S. 629; ähnlich argumentiert für den Bereich der verbildlichten Vorstellungen am Beispiel von Picassos ›Guernica‹ Goertz, Umgang mit Geschichte (wie Anm. 15), S. 157: »Die Gegenwart, das Seufzen der Kreatur und die Zerstörung der Symbole, war darstellbar – nur eben anders« als in den traditionellen Bildkonzepten.

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2. Die Geschichtserfahrung der Moderne und die Ästhetisierung der Darstellung: Leopold von Ranke Das Werk Leopold von Rankes lässt die Historiker nicht los, auch nicht 109 Jahre nach seinem Tod und nicht nach Phasen des Vergessens und der Verdammung, die es durchlaufen hat. In Deutschland zumindest war die Beschäftigung mit Ranke nie nur historisch, sondern immer auch Grundlagenreflexion einer sich wandelnden Geschichtswissenschaft.1 Hinzu kommt Rankes singuläre Wirkungsgeschichte. Ihrem Bann hat sich die deutsche Historikerzunft immer wieder zu entziehen versucht, zuerst zwischen der Revolution 1848 und der Reichsgründung, dann zunächst vereinzelt und weitgehend folgenlos in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, schließlich – so schien es endgültig – seit dem Beginn der sechziger Jahre mit dem Paradigmawechsel zur historischen Sozialwissenschaft. Aber Ranke kam zurück, wider alles Erwarten, und zwar unter dem Vorzeichen des ›linguistic turn‹ – jetzt nicht als Orientierungsgestalt für den Weg der deutschen Geschichtswissenschaft in die Moderne, sondern als Gewährsmann einer in die Postmoderne führenden Theorie der historischen Erzählung.2 Fragt man nach den Gründen für diesen stupenden Erfolg, lassen sich zunächst vier Zuschreibungen unterscheiden, mit denen Ranke in die Stellung eines der maßgeblichen Gründerväter der deutschen Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert gehoben wurde: Das ist erstens seine Quellenkritik, wie er sie in der riesenhaften Fußnote zu seinem Erstlingswerk, der ›Geschichte der romanischen und germanischen Völker‹ 1824, selbständig erschienen unter dem Titel ›Kritik der neueren Geschichtsschrei1 Symptomatisch dafür sind die zahlreichen Studien Friedrich Meineckes zu Ranke, so z.B. zur Beurteilung Rankes (1913), in: F. Meinecke, Zur Geschichte der Geschichtsschreibung, Werke, Bd. VII, Stuttgart 1968, S. 50–65; ders., Rankes »Große Mächte« (1916), in: ebd., S. 66–71; ders., Rankes Politisches Gespräch (1924), in: ebd., S. 93–110; ders., Leopold von Ranke. Gedächtnisrede (1936), in: F. Meinecke, Die Entstehung des Historismus, Werke, Bd. 3, Stuttgart 1965, S. 585–602; ders., Ranke u. Burckhardt (1948), in: Werke, Bd. VII, S. 93–121; H. Berding, Leopold von Ranke, in: H.-U. Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 1, Göttingen 1971, S. 7– 24; K. H. Metz, Grundformen historiographischen Denkens, München 1979, S. 14–236; W. J. Mommsen (Hg.), Leopold von Ranke u. die deutsche Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1988; U. Muhlack, Leopold von Ranke, in: N. Hammerstein (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Wiesbaden 1988, S. 11–36. 2 W. Hardtwig, Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität. Der Historismus in neuer Sicht, in diesem Band, S. 51–76.

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bung‹, expliziert – und wie er sie in seinen Seminaren an der FriedrichWilhelms-Universität in Berlin gelehrt hat. Zweitens begründete er jenes geschichtsreligiöse Objektivitätspostulat, das das Selbstverständnis und die methodischen Prämissen vieler deutscher Historiker noch nach Generationen beeinflusst hat.3 Drittens und völlig unbestritten gilt Ranke als der Begründer der modernen historischen Erzählung, einer Darstellungskunst, die den Leser gefangen nehmen und die Beschäftigung mit der Geschichte, wie Ranke ausdrücklich fordert, zum »Genuß« machen soll. Viertens und damit eng verknüpft: Ranke begründete das historisch-politische Deutungsmodell vom Primat der Außenpolitik, ein Denkmuster, das er in den Meisteressays von 1833 und 1836, den ›Großen Mächten‹ und dem ›Politischen Gespräch‹, bündig skizziert und dann in einem insgesamt 63-bändigen Werk mit schier unglaublicher Konsequenz und Beharrungskraft ausgearbeitet hat.4 Mit diesen Festlegungen über die Aufgaben des Historikers, über seine Erkenntnis- und Darstellungsweise und über die primären Erkenntnisziele hat Ranke das professionelle Selbstverständnis, die Berufspraxis und die öffentliche Wirkung der deutschen Historiker bis in die Jahre nach 1945 weithin bestimmt. Er war allerdings von Anfang an viel weniger unumstritten, als man aus der Sicht ex post meinen könnte. Will man die Relevanz eines Werks abmessen, so ist es sicherlich nicht der schlechteste Weg, auch einmal den Anfeindungen nachzugehen, die es erlebt hat. Daran hat es Ranke nie gefehlt. Die Art von Anfeindung, die wir bei einem Historiker des 19. Jahrhunderts gerne sehen und ihm zur Ehre anrechnen, durch die Regierungen und ihre Organe, durch die Zensur, hat Ranke freilich nicht erlebt. Er war u.a. Hofhistoriograph der Hohenzollern, er war, so weit das eben ging, befreundet mit Friedrich Wilhelm IV., die Rolle eines Fürstenberaters auch beim bayerischen König Maximilian II. hat er gerne und erfolgreich gespielt.5 Am wenigsten überrascht es, dass er aus dem katholischen Lager kritisiert wurde für seine ›Geschichte der römischen Päpste‹, die 1832/36 erschien, und in der er das Papsttum als eine Institution behandelte, die Macht über ganz Europa ausüben wollte, sich aber ihrerseits der Macht der Veränderungen in Europa nicht entziehen konnte. Rankes Interesse an der singulären Verfassung dieser Monarchie missfiel freilich auch den protestantischen Orthodoxen, denn er bestritt dem Papsttum nicht prinzipiell die historische Legitimität; im Gegenteil, diese »Universal3 H. White, Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jh. in Europa, Frankfurt a.M. 1991. 4 Aufschlussreich für die jeweilige Aktualisierung sind die Inselausgaben. L. v. Ranke, Die großen Mächte neu hg. von F. Meinecke, Leipzig 1916; u. L. v. Ranke, Politisches Gespräch, hg. von H. Ritter von Srbik, Leipzig 1941; zum Jubiläumsjahr erschien eine Neuausgabe L. v. Ranke, Die großen Mächte, Politisches Gespräch, hg. von U. Muhlack, Frankfurt 1995, weiterführend hier das Nachwort des Herausgebers, S. 113–39. 5 Vgl. L. v. Ranke, Über die Epochen der Neueren Geschichte. Hist.-Kritische Ausgabe, hg. von T. Schieder u. H. Berding, München 1971, Einl., S.7–40.

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macht des Mittelalters inmitten der Mächtevielfalt der Neuzeit« führte für Ranke den inneren Zusammenhang der Weltgeschichte besonders plastisch vor Augen. Gewichtiger als die konfessionelle Kritik aus beiden Lagern war die Ablehnung, die ihm von den Erben der Aufklärung, den Fortschrittlich-Liberalen und Nationalen entgegenschlug. Er hatte sie allerdings in der Vorrede zu seinem Erstlingswerk 1824 durchaus kämpferisch provoziert mit den Formulierungen, die bis heute die Grundlage abgeben für jede Kritik der kritischen Geschichtsschreibung: »Man hat der Historie das Amt, die Vergangenheit zu richten, die Mitwelt zum Nutzen zukünftiger Jahre zu belehren, beigemessen: So hoher Ämter unterwindet sich gegenwärtiger Versuch nicht: Er will bloß sagen, wie es eigentlich gewesen.«6 Der – freilich ironische – Bescheidenheitsgestus schützte Ranke nicht vor erbitterten Angriffen auf sein Objektivitätsideal, die »eunuchische Objektivität«, von der sein späterer Berliner Kollege und Kontrahent Johann Gustav Droysen gesprochen hat. Rankes Schüler Heinrich von Sybel sagte sich offiziell von ihr los und hat, wie Droysen und Heinrich von Treitschke auch, dann die politisch engagierte liberale Geschichtsschreibung zunächst in der Opposition, seit 1870 im Triumph zur Dominanz in der öffentlichen Meinung geführt. Während Droysen klar zwischen »Geschichte« und »Geschäften« schied, zwischen den für eine nationalliberale Aufstiegs- und Freiheitsgeschichte relevanten Ereignissen, Zuständen und Artefakten, und dem irrelevanten Vergangenheitsschutt, der im Interesse des Fortschritts ausgesondert und vergessen werden müsse, hatte Ranke von Anfang an postuliert, »daß alles menschliche Tun und Treiben dem leisen und der Bemerkung oft entzogenen, aber gewaltigen und unaufhaltsamen Gange der Dinge unterworfen« sei.7 Eben diese Stelle führte Friedrich Nietzsche dann als Beispiel für die verhasste historistische Indifferenz mit ihrer falschen Objektivität an, als »zwischen Tautologie und Widersinn künstlich schwebende Behauptung... In einem solchen Satze spürt man nicht mehr rätselhafte Weisheit als unrätselhafte Unweisheit«; seine Logik erinnere an die Jahrmarktbude bei Swift mit der Inschrift: »Hier ist zu sehen der größte Elefant der Welt mit Ausnahme seiner selbst.«8 Präziser als Droysen decouvriert Nietzsche Rankes Technik der sprachlichen Metaphorisierung. Der »gewaltige Gang der Dinge« oder das »Schicksal« füllen Erklärungslücken und verweisen auf das Wirken einer hö6 L. v. Ranke, Vorrede zu: Geschichte der germanischen u. romanischen Völker 1495–1535, Bd. 1, Leipzig 1824, hier zit. aus: W. Hardtwig (Hg.), Über das Studium der Geschichte, München 1990, S.45. 7 L. v. Ranke, Die römischen Päpste in den letzten vier Jahrhunderten, Wien 1934, S.31. 8 F. Nietzsche, Werke in drei Bänden, hg. v. K. Schlechta, Bd. 1, München, 19778, S. 248; zur Stellung Rankes im Kontext des Historismus insgesamt vgl. W. Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit, München 1974, S.44ff., 70ff., 99ff., 122ff., 135ff., 137ff.

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heren Macht dort, wo das Geschehen in einer präziseren und weiter ausholenden Analyse sehr wohl noch auf menschliche Handlungen hätte zurückgeführt werden können. Nietzsches Kritik setzt genau an der Nahtstelle von Objektivitätsideal und Erzählen ein, die für Rankes durchschlagenden Erfolg so wichtig geworden ist. 1842 bereits stellte der jugendliche Rankeschüler Jacob Burckhardt fest, dass Ranke augenblicklich ein »heißhungriges großes Publikum« gefunden habe, während die Werke der meisten deutschen Historiker nur von Gelehrten gelesen würden. Wenig später lässt der in der Berliner Stickluft der vierziger Jahre noch liberal-demokratisch bewegte Burckhardt eine erstaunliche Ideologiekritik von Rankes Erzählkunst folgen: »Wer es mit der Geschichte ehrlich meint, wird zu einer Geschichte mit Tendenz nie unbedingt ja sagen können. Summa summarum, der Historiker steht in diesem Augenblick schief mit dem Publikum und muß es entweder mit demselben oder mit der Wahrheit verderben. In der letzten Beziehung ist auch Ranke nicht ganz sauber; er hat seiner herrlichen Darstellung viel, sehr viel aufgeopfert; die Totalität der Anschauung, die seine Schriften bei dem ersten Augenblick zu geben scheinen, ist illusorisch. Da er seine Leser nicht von seinen (konservativen) Ansichten aus gefangennehmen konnte, setzte er es mit blendender Darstellung durch. (Seine ungeheuren Verdienste in Ehren! ...).«9 »Konservative Ansichten«, die mit »blendender Darstellung« durchgesetzt werden und eine »Totalität der Anschauung« prätendieren, die illusorisch bleibt – wo bleibt da die Geschichte als Wissenschaft, als deren Begründer Ranke lange Zeit galt und dessen Rolle zumindest als Mitbegründer auch heute niemand bestreiten wird.10 Gut rankeanisch muss man freilich nach dem Verständnis von Wissenschaft fragen, das Ranke zu Beginn seiner Laufbahn antraf und mit dem er sich auseinander zu setzen hatte. Vier zentrale Kriterien lassen sich aus den Wissenschaftsdefinitionen herauskristallisieren, wie sie in den einschlägigen Artikeln der zeitgenössischen Lexika von Adelung und Campe bzw. aus den Kompendien der Wissenschaftslehre, wie etwa Eschenburgs ›Lehrbuch der Wissenschaftskunde‹ (3. Auflage, Berlin/Stettin 1809) kodifiziert sind. Da ist erstens das Wahrheitspostulat. Es geht nicht mehr um ein persönliches Können und Wissen, eine Tugend oder Eigenschaft, um ein »Wissenschafthaben von etwas«, um eine persönliche Fähigkeit ähnlich wie »Klugheit, Einsicht oder Weisheit« sondern Wissenschaft heißt die überindividuelle, allgemeingültige Wahrheit, die sich von ihrem Träger ablöst. Um eine solche zum Objekt gewordene, insofern objektive Wahrheit ist es auch Ranke zu tun – das bedarf keiner näheren Erläuterung. Zweitens der System9 J. Burckhardt an Gottfried Kinkel, 21.3.1842, in: J. Burckhardt, Briefe. Vollständige und kritisch bearbeitete Ausgabe, Bd. 1, Basel 1949, S. 197. 10 Vgl. W. Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung u. Historismus, zuletzt in: ders., Geschichtskultur u. Wissenschaft, München 1990, S. 58–91, hier S. 59ff.

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charakter. Wissenschaft stellt sich dar in Form eines Inbegriffs von Sätzen, die zueinander in einem Begründungszusammenhang stehen – solche Systeme von Sätzen, die nicht nur aufeinander, sondern auseinander folgen, sind die narrativen Konstrukte der Rankeschen Geschichtsschreibung. Drittens der Ableitungscharakter. Wissenschaftliche Wahrheit oder Gewissheit entsteht durch die Behandlungsart oder Methode, mit deren Hilfe die Klarheit und Bestimmtheit des Wissens gesichert wird. Auch Ranke sucht die Maßstäbe dafür, was Wahrheit ist, nicht mehr im Gegenstand selbst auf, sondern verlegt sie in den Erkenntnis- bzw. Herstellungsprozess. Wahrheit ergibt sich aus den Operationen des Historikers, sie ist nicht mehr nur oder primär Sache des ethischen Verhaltens, wie in der Tradition der rhetorischen Historie, sondern des logischen und methodischen Verhaltens. Anders als in der rhetorischen Historie geht es nicht darum, ob eine erfundene oder tatsächlich geschehene Geschichte erzählt werden soll, sondern wie die Wahrheit der tatsächlichen Geschichte gesichert werden kann. Viertens – und in unserem Zusammenhang besonders relevant: die Autonomie. Wissenschaft greift aus der Summe des insgesamt möglichen Wissens einen klar umgrenzten Bereich heraus und setzt ihn gegenüber anderen Wissensgebieten ab. Der junge Ranke definiert Gegenstand und Methode der Geschichtswissenschaft in permanenter Auseinandersetzung einerseits mit der Philosophie, andererseits mit der Poesie bzw. Literatur. Nachdem in der Ranke-Literatur lange das Verhältnis zur Philosophie, insbesondere zur Hegelschen Geschichtsphilosophie im Vordergrund gestanden hat, interessiert heute mehr Rankes Grenzgängertum zwischen Geschichtswissenschaft und Literatur. Ranke kultivierte es und hat es auch theoretisch expliziert: Geschichte und Kunst sind für ihn »im Begriff, aber nicht in der Ausübung verschieden«. Kunst und Wissenschaft – so heißt es in den Tagebüchern – müssten zusammenfallen: »Weil Wissenschaft erkundet, was je geschehen ist, Kunst aber das Geschehene gestaltet und gegenwärtig vor das Auge führt.«11 »Die Historik« – so liest man in der Berliner Antrittsvorlesung von 1836 – »bezieht sich ganz auf die Literatur: Denn ihre Aufgabe geht dahin, wie die Begebenheiten geschehen sind, wie die Menschen beschaffen waren, von Neuem vor Augen zu stellen und das Andenken daran für alle Zeiten zu bewahren.«12 Das bedeutet zweifellos, dass nicht der Forscher, der die Richtigkeit der Überlieferung prüft und die bisher unbekannten Tatsachen ermittelt, den Stoff für die Darstellung organisiert, sondern der Erzähler. Der Erzähler aber hat nicht nur das Was der zu präsentierenden Vergangenheit im Auge, sondern vor allem das Wie. Nur über die Form erschließen sich daher auch wirklich die 11 L. v. Ranke, Tagebücher, in: ders., Aus Werk u. Nachlaß, Bd. 1, hg. v. W. P. Fuchs, München 1964, S. 101, 103. 12 L. v. Ranke, Über die Verwandtschaft u. den Unterschied der Historie u. der Politik (1836), hier zit. aus: Hardtwig (Hg.), Über das Studium (wie Anm. 6), S. 56.

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Inhalte der Rankeschen Geschichtsschreibung, sein Geschichtsbild und die natürlich auch bei ihm vorhandene, wenn auch nicht breit explizierte Theorie der Geschichte. Rankes Erzählung spielt oft auf drei Ebenen: Auf der untersten werden meist recht knapp Personen und Situationen von begrenzter Bedeutung geschildert, eine Schlacht, eine Zeremonie oder eine Persönlichkeit.13 Das ist die Sphäre der »Historia« im alten Wortsinn, der Einzelbegebenheit, des Anschaulichen und Besonderen, das bei Ranke freilich nur vorkommt, sofern es hinaufweist auf die zweite, mittlere und zentrale Ebene, die Sphäre der großen Begebenheiten, der Kämpfe zwischen Staat und Kirche und zwischen den europäischen Mächten, der Konkurrenz von Gruppen oder Parteien um die Staatsmacht usw. Hier schürzen sich die großen Konflikte, hier treffen die historischen Akteure auf die Herausforderungen, die sie zum Handeln treiben, die aber ihrerseits überpersönlich sind, begründet in Krisen und Konflikten, auch im Zufall, der freilich für Ranke nicht Zufall ist, sondern nur die menschliche Lesart einer providentiellen Notwendigkeit. Keineswegs löscht Ranke dabei sein Erzähler-Ich, d.h. sein Historiker-Ich aus – im Gegenteil. Er organisiert die Geschichte nicht nur, er kommentiert sie auch. In der ›Geschichte der Päpste‹ z.B. schildert er die Gesandtschaftsreise des päpstlichen Legaten Contarini im Jahr 1535. Er weist auf Ansätze zu einer Versöhnungspolitik in der Kurie hin, beschreibt die Reformbereitschaft Pauls III. und die besondere Eignung des Legaten Contarini für diese Mission. Er deutet andererseits an, dass auch auf protestantischer Seite die Neigung zum Kompromiss und zu einem Ausgleich gewachsen sei. Schließlich steigert er die Spannung durch retardierende Überlegungen, die auch die weltpolitische Dimension dieses Geschehens deutlich machen sollen: »Wir wollen über den Grad der Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit dieses Gelingens nicht streiten: Sehr schwer blieb es allemal; aber wenn sich auch nur eine geringe Aussicht zeigte, so war es doch einen Versuch wert: so viel sehen wir ..., daß sich ungemeine Hoffnungen daran knüpften.«14 Der Leser weiß zwar schon vorher, wie das Ganze ausgeht, aber er wird doch neugierig, wie, warum und durch wessen Schuld. Ranke führt dann die Reihe von Missverständnissen und Fehlschlägen an, die für sich genommen unerheblich gewesen wären, aber die Kompromissbereitschaft auf beiden Seiten wieder schwächten. Contarinis Mission scheitert, Ranke bescheinigt dem »hochgesinnten« Unterhändler seinen Respekt und resümiert dann: »Welch eine großartige Stellung war es, welche die 13 Hierzu und zum Folgenden vgl. vorzüglich H. v. d. Dunk, Die historische Darstellung bei Ranke: Literatur u. Wissenschaft, in: Mommsen (Hg.), L. v. Ranke (wie Anm. 1), S. 131–65; sowie Metz, Grundformen (wie Anm. 1), S. 117ff.; zur Interpretation der Papstgeschichte vgl. auch vorzüglich P. Bahners, Generatio praeterit, et generatio advenit. Zeit u. Wahrheit in Rankes Papstgeschichte, in: H. Pfusterschmidt-Hardtenstein (Hg.), Zeit u. Wahrheit, Wien 1995, S. 267–85. 14 Ranke, Die römischen Päpste (wie Anm. 7), S. 103.

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gemäßigte katholische Meinung in ihm eingenommen hatte! Da es ihr aber nicht gelang, ihre Weltintention durchzusetzen, so war es die Frage, ob sie sich auch nur behaupten würde. Jede große Tendenz trägt in sich selber die unabweisliche Aufgabe, sich geltend zu machen und durchzusetzen. Kann sie nicht die Herrschaft erlangen, so schließt das ihren nahen Ruin ein.«15 Unschwer zu erkennen sind die narrativen Künste, deren sich Ranke bedient. Er suggeriert eine weltgeschichtliche Alternative, von der sehr fraglich ist, ob sie wirklich bestanden hat. Er zieht den Leser in die Situation vor dem Vermittlungsversuch hinein, lässt ihn an den Hoffnungen auf einen Ausgleich teilhaben und so die Offenheit der Situation in der Sicht der Zeitgenossen miterleben. Am Ende steht freilich die Rückschau des Erzählers, die das Scheitern konstatiert. Ranke steigert also die Spannung und dramatisiert den Widerspruch zwischen der Erwartung der Menschen und dem tatsächlichen Weltlauf – darauf kommt es ihm wesentlich an. Seine Stoffauswahl und Gliederung, die Abfolge und Verknüpfung der Erzählebenen, die Akzentuierung von wichtig und weniger wichtig folgt demnach wesentlich Regeln der Erzählstrategie. Sie lassen ihn Nah- und Fernperspektive wechseln, die getragene Syntax kompliziert gefügter Sätze, die knappe Tatsachenfeststellung, den erstaunten Ausruf oder die gezielte Untertreibung – wie etwa im Kapitel nach der Schilderung des Mords an Heinrich IV. in der französischen Geschichte, das mit dem trockenen Satz beginnt: »Ein Mann weniger war in der Welt.«16 Alle diese Künste dienen am Ende den immer seltenen, aber an entscheidenden Stellen eingestreuten Bemerkungen höchster Allgemeinheit über den Widerspruch von menschlichem Wollen und außermenschlicher Gefügtheit des Weltgeschehens – wie etwa der folgenden zum Tode Pauls III.: »Ein Mann voll Talent und Geist, durchdringender Klugheit, an höchster Stelle! Aber wie unbedeutend erscheint auch ein mächtiger Sterblicher der Weltgeschichte gegenüber – in all seinem Dichten und Trachten ist er von der Spanne Zeit, die er übersieht, von ihren momentanen Bestrebungen, die sich ihm als die ewigen aufdrängen, umfangen und beherrscht; ... indessen er umkommt, vollziehen sich die ewigen Weltgeschicke!«17 Beispiele wie dieses demonstrieren das Scheitern der Handlungsabsichten von Individuen oder Institutionen, oder auch die Zerstörung der Ziele durch die Mittel. Trotzdem hat es seinen guten Sinn, dass eine neuere Theorie der Geschichtsschreibung – Hayden White – Rankes Erzählweise »komödiantisch« nennt. White zufolge ist der Historiker gezwungen, sein narratives Konstrukt einer »umfassenden archetypischen Erzählform zu unterwerfen«.18 15 16 17 18

Ebd., S. 108. Ranke, Französische Geschichte, Bd. 3 (Historische Meisterwerke), Hamburg 1932, S. 7. Ranke, Die römischen Päpste (wie Anm. 7), S. 168. White, Metahistory (wie Anm. 3), S. 22.

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White unterscheidet vier solcher fundierenden Erzählformen, die Romanze, für die Michelet steht, die Tragödie, exemplarisch verwirklicht bei Tocqueville, die Satire, verkörpert in den Werken Burckhardts, und schließlich die Komödie Rankes. Der Historiker mag zunächst Anstoß nehmen an der literaturwissenschaftlichen Terminologie; gleichwohl lohnt es sich, diese Unterscheidungen aufzunehmen, wenn man den Regularitäten historischer Erzählungskonstruktion näherkommen will. White zufolge basieren Tragödie und Komödie auf der Grundannahme, dass es den Menschen zumindest teilweise möglich sei, aus dem ihnen auferlegten Zustand von Entfremdung herauszufinden. Die Tragödie führt vor, dass sich am Ende der erzählten Geschichte die anfangs schon angelegte Gespaltenheit noch einmal in katastrophaler Weise steigert. Die Komödie hingegen lebt von der Hoffnung zumindest auf gelegentliche Versöhnungen. So verhält es sich in der Tat in Rankes Geschichten: die Gesellschaft durchlebt Zerreißproben zwischen Kräften, die sich scheinbar unvereinbar gegenüberstehen und bekämpfen; am Ende aber gleichen sie sich doch aus – bis ein neuer Konflikt auftaucht. Ob man also Whites Fundierung von Geschichtsschreibung überhaupt auf eine poetologische Historik folgen will oder nicht, er beschreibt doch zutreffend die Ökonomie von Desintegration und Integration, von Handlungsintention und Handlungsfolgen, von Wandel und Kontinuität, auf der Rankes Geschichtsbild aufbaut. Die gesellschaftliche und politische Ordnung konstituiert sich in einer unendlichen Abfolge von Kämpfen, in denen sich der Stärkere – eine Person, eine politische oder religiös-konfessionelle Partei, eine Nation, ein Staat – durchsetzt und die »Eigentümlichkeit des minderstarken Teiles vernichtet«. Eben dadurch aber – so fährt Ranke fort – »wird ... zugleich bewirkt, daß das Leben nicht ganz zerstört wird oder irgend etwas völlig zugrunde geht. Scheint etwas unterzugehen, so schließt es sich nur an eine vollkommenere Gemeinschaft an und verschmilzt so mit ihr, daß ein neues Leben und eine andere Reihe von Begebenheiten entsteht, welche mit dem früheren Leben sehr eng zusammenhängt und sich rückwärts mit ihm verknüpft«.19 Es gibt also die großen Katastrophen, für einzelne Akteure und vor allem für die großen Kollektive, Völker und Nationen, aber sie sind nicht das letzte Wort. Über Rankes Ruhe bei solchen Sätzen ist nicht zu rechten. Für ihn war alles Geschehen providenzgetragen – Ausdruck jener spezifisch deutschen kulturprotestantischen Geschichtsreligion, die auch Rankes »fortschrittsfreudigen« Kontrahenten aus dem liberalen Lager ihre Theodizeegewissheit gewährte.20 Zu fragen haben wir allerdings, was nun unterhalb dieser Ebene höchster Allgemeinheit, auf die sich ja nur gelegentlich verweisen, auf der sich 19 Ranke, Über die Verwandtschaft (wie Anm. 12), S. 53. 20 Vgl. dazu W. Hardtwig, Geschichtsreligion (wie Anm. 2), passim.

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aber nichts erzählen lässt, die tragenden Instanzen sind, die diese ordnende Kontinuität stiften und damit das immer wieder auftretende Unheil integrieren in einen sinngetragenen Gang der Menschheitsentwicklung. »Menschen sterben« – sagt Ranke bündig – »ein Zeitalter folgt dem anderen oder wird von demselben verdrängt; Staaten aber, welche die Lebensdauer der einzelnen Sterblichen weit überragen, erfreuen sich eines sehr langen und immer gleichmäßigen Lebens.«21 Staaten sind. Sie unterscheiden sich nach Verfassung und Interessen und sie prägen ihren Mitbürgern eine unverwechselbare kollektive Identität auf. Auf dem gegenwärtigen Stand der Kultur bedürfen sie, um wirklich geschichtsmächtig zu sein, eines notwendigen Substrats, des Volks oder der Nation. Es gehört dabei zu den charakteristischen Unschärfen in Rankes Begrifflichkeit, dass er zwischen Volk und Nation nicht deutlich trennt. Das ist für Rankes Geschichtsbild notwendig, denn nur so konnte jene universalgeschichtliche Perspektive entworfen werden, die über das Mittelalter zurückführt ins klassische Altertum und weiter zur Geschichte der Juden im biblischen Zeitalter, ohne bewusstseinsgeschichtlich den Standort der Gegenwart preiszugeben, von dem Ranke zufolge alle geschichtliche Reflexion auszugehen hat. Der Ursprung der Völker oder Nationen bleibt dunkel.22 Ihren Rang als umfassendes Organisationsprinzip, als Garanten der Dauer, als Träger des Besonderen und Einzigartigen sichert Ranke, indem er sie zu »Gedanken Gottes« erklärt. Jeder Staat, der Anspruch auf Dauer erhebt, müsste sich daher eigentlich auf eine Nationalität gründen. Doch fallen Nation und Staat nie endgültig zusammen. Nationen wollen Staaten werden, doch selbst die modernen Nationalstaaten, England oder Frankreich, bringen Staat und Nation nicht endgültig zur Deckung – eine der Ursachen für immer wiederkehrende Konflikte. Staaten integrieren und synthetisieren – ebenso wie die Kirchen. In Rankes Augen sichern sie die Ordnung, die zum Weltlauf gehört wie die Unordnung. Ordnung und Unordnung stehen sich dabei nicht einfach als Gegensätze gegenüber, denn Staaten und Kirchen sind so wie die agierenden Persönlichkeiten immer der Gefahr ausgesetzt, die Grenzen ihrer Autorität so weit hinauszuschieben, das sie Widerstand und gegenläufige Tendenzen provozieren. Die Ordnungsträger Staat und Kirche bringen dann selbst die Turbulenzen hervor, in denen die immer labile Balance der Kräfte Gefahr läuft zusammenzubrechen. Es sei denn, die Akteure besinnen sich auf die diesem Staat oder dieser Kirche inhärente eigentliche Idee oder »Aufgabe« und finden damit zu jenem harmonischen inneren Gleichgewicht zurück, in dem sich für Ranke die Menschheitsaufgabe der Kulturentwicklung verwirklicht. 21 Ranke, Über die Verwandtschaft (wie Anm. 12), S. 52. 22 Hierzu und zum Folgenden vgl. White, Metahistory (wie Anm. 3), S. 214–50.

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Dieses von den Völkern und Nationen und ihren Staaten her gedachte Modell eines selbstregulierten Systems kultureller Organisation23 lässt sich allerdings nicht denken ohne die Vorstellung einer notwendigen Vielheit. »Völker sind Gedanken Gottes« – und Gott konnte schließlich nicht nur einen Gedanken gehabt haben. Rankes große Geschichtserzählungen setzen dort ein, wo der mittelalterliche Universalismus sowohl der Kirche wie auch des Sacrum Imperium der Deutschen zu zerfallen beginnt und sich jene spezifisch europäische Kultur herausbildet, in der die Prätention eines kirchlichen oder staatlichen Universalismus wohl noch auftreten kann, aber am Widerstand der staatlich-nationalen Individualitäten zerbricht. In Renaissance, Reformation und in den konfessionellen Kriegen und Bürgerkriegen des 16. und 17. Jahrhunderts bildet sich das auf die großen Nationen fundierte europäische Mächtesystem heraus. In ihm verknüpfen sich Vielheit und Einheit in einer Weise, dass sich die menschlichen Energien so produktiv ausleben können wie nie zuvor. Dabei entwickelt Ranke jenes bestechende Modell Europas als der Vielheit in der Einheit, in der hegemoniale Ansprüche immer wieder auftreten, aber in notfalls blutigen Kämpfen zurückgewiesen werden. Der programmatische Essay über die großen Mächte setzt ein mit dem Aufstieg Frankreichs und seinen Siegen unter Ludwig XIV. und bilanziert: »Was gab es da noch, das sich Ludwig XIV. nicht hätte erlauben sollen?« Dann beschreibt Ranke die Widerstände, die sich gegen die Hegemonie formieren und kommt endlich zum Allgemeinen: »In großen Gefahren kann man wohl getrost dem Genius vertrauen, der Europa noch immer vor der Herrschaft jeder einseitigen und gewaltsamen Richtung beschützt, jedem Druck von der einen Seite noch immer Widerstand von der anderen entgegengesetzt und bei einer Verbindung der Gesamtheit, die von Jahrzehnt zu Jahrzehnt enger und enger geworden, die allgemeine Freiheit und Sonderung glücklich gerettet hat.«24 Wenn irgend etwas bleibt vom Geschichtsbild Rankes, so ist es dieses Modell einer europäischen Discordia Concors, die sich aufbaut aus der Verschiedenheit der Nationen und Staaten, die sich jeweils ihrer unverwechselbaren Kulturbedeutung bewusst sind. Für Ranke bedeutet das freilich auch, dass er Hegemonialambitionen zwar ablehnt, die Macht selbst aber als moralische Energie betrachtet. In den Kämpfen um Machtaneignung und Machtverteidigung entfaltet sich die Individualität der Personen, Völker und Staaten. Macht, soweit sie den legitimen Umkreis ihrer Autorität nicht überschreitet, ist per se gut, nicht wie bei Burckhardt per se böse. Rankes Geschichtsreligion ließ ihm – ungeachtet aller Abgrenzung von Hegel – das Wirkliche und also auch die reale Macht als vernünftig und umgekehrt das Vernünftige als wirklich erscheinen. In seinen Augen hatte 23 Ebd., S. 224. 24 Ranke, Die großen Mächte, in: Ranke, Sämtliche Werke, Bd. 24, Leipzig 1872, S. 8, 11.

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sich die Idee Europas auf der Grundlage der nationalen und staatlichen Vielfalt und des Mächtegleichgewichts als Regelungsmechanismus für die zwischenstaatlichen Beziehungen über dreihundert Jahre hinweg bewährt und gemeinsam mit den Kirchen die immer drohende Gefahr eines Zurücksinkens in die Unordnung gebannt. Diese Engführung der universalgeschichtlichen Reflexion auf die europäische Staaten- und Kirchenordnung der letzten dreihundert Jahre und auf den Grundsatz des Machtgleichgewichts setzte Rankes Denken allerdings einer Gefahr aus, die freilich weniger sein eigenes Geschichtsbild desavouiert als die Versuche seiner Nachfolger, ihre eigene Gegenwart von Rankes Geschichtsbild her zu deuten. Ranke stellte die Universalgeschichte still, und zwar nicht mit dem Ende der Alten Welt 1789, sondern mit seiner eigenen Gegenwart. Es war in seinen Augen gerade die Französische Revolution, die dem von Erstarrung bedrohten europäischen Mächtesystem zu neuer Integrations- und Ordnungspotenz verholfen hat, in dem sie die »Bedeutung der moralischen Kraft, der Nationalität für den Staat endlich einmal wieder zur Anschauung in das allgemeine Bewußtsein gebracht« habe. »Was wäre aus unseren Staaten geworden, hätten sie nicht neues Leben aus dem nationalen Prinzip, auf das sie gegründet waren, empfangen.«25 Den sich selbst regierenden Nationalstaaten fließen neue Energien zu, nach der Krise der Revolution hat sich die europäische Staatenordnung regeneriert und ist durch verstärkte Nationalisierung auf ihrem Höhepunkt angelangt. Neu auftretende Bedürfnisse und Ideen, die die kulturelle und nationale Einheit des modernen Staates und die Autorität der Kirchen in Frage stellen – der Kapitalismus, der mit ihm verwobene Liberalismus, gar Sozialismus und Kommunismus können daher gar nicht anders, als das gültige Ordnungssystem der national fundierten europäischen Mächte in Frage zu stellen; sie müssen bekämpft werden. Paradoxerweise lag für viele Ranke-Adepten, besonders die Neorankeaner um 1900, die Faszination von Rankes Denkens gerade in dieser Stilllegung der Geschichte bei einer damals schon vergangenen Gegenwart. Für Ranke selbst mochte es noch angehen, wenn sein Denken nur noch die Möglichkeit einräumte, die Gegenwart in unbestimmter Weise zu verlängern. Den RankeEpigonen wie Max Lenz und Erich Marcks ist dann allerdings völlig entgangen, dass sie nach der Lehre des Meisters bereits sehr viel weniger unmittelbar zu Gott waren als er selbst.26 Der Glaube, mit dem Deutungsmuster der »Großen Mächte« aus dem Jahr 1833 die Transformation des europäischen Staatensystems ins Weltstaatensystem des Imperialismus erfassen zu können, reproduzierte präzise Rankes Stillstellung des politischen und sozialen Wandels und wurde – nicht ohne eine intellektuelle Mitverantwortung Rankes – mit gravie25 Ebd., S. 39. 26 Vgl. dazu H.-H. Krill, Die Ranke-Renaissance. Max Lenz u. Erich Marcks. Ein Beitrag zum historisch-politischen Denken in Deutschland 1880-l935, Berlin 1962.

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renden Erklärungsdefiziten erkauft. Imperialismus – das war dann eben wirklich nur die ins Globale ausgeweitete Mechanik der europäischen Gleichgewichtspolitik – ein Deutungsmuster, dem es an allem fehlte, was man neben dem Gleichgewichtsdenken zur Erklärung der Weltpolitik seit dem späten 19. Jahrhundert brauchte: die endogenen Konflikte an der Peripherie, die Neigung der europäischen Staaten, innere Verteilungs- und Partizipationskonflikte nach außen abzulenken, die nicht einfach außenhandelspolitisch begründbare Konkurrenz um Rohstoffe und Absatzmärkte, strategische Überlegungen in der Welt-Verkehrswirtschaft usw. Rankes Gegenwartsdiagnose und sein Entwurf der historischen Weltsicht waren ungleich komplexer und daher auch tragfähiger als die seiner Nachahmer um 1900 oder 1920. Vor allem war er sich seiner zeitgeschichtlichen Abhängigkeiten sehr wohl bewusst und setzte alles daran, die Gefahr einer bloß reflexhaften Reaktion darauf umzuwandeln in distanzierende Reflexion. Wie sehr er – der Verfechter einer als »eunuchisch« gescholtenen Objektivität – an die Gegenwart und ihre Konflikte dachte, wenn er weit ausholend die Vergangenheit erzählte, hat er mit staunenswerter Direktheit in seiner Antrittsvorlesung von 1836 ›Über die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie mit der Politik‹ offengelegt. Erkennbar noch unter dem Schock der steckengebliebenen Revolution von 1830 beschreibt er seine Wahrnehmung des Revolutionszeitalters seit 1789: die entfesselte »Glut der Leidenschaften«, den staatsgefährdenden »Strudel von Meinungen und Parteiungen«, den Umschlag des Freiheitsverlangens in die »Herrschaft ... eines törichten und grausamen Volkshaufens«. Die Signatur der Epoche ist die allgemeine »Lust und Neigung, die Staaten zu verbessern und in andere Formen umzugießen« – entstanden, wie er meint, aus purem Überdruss am Herkommen und aus abstrakten Theorien über die beste Staatsform.27 Eben daraus, der Orientierungsnot zwischen bloßer Beharrung und blindem Vorwärtsdrang, begründet Ranke die praktische Aufgabe der Historie. Der Historiker selbst muss aufpassen, nicht in die Desorientierung hineingerissen zu werden: »So weit entfernt ist die Historie davon, daß sie die Politik verbesserte, daß sie vielmehr gewöhnlich von ihr verderbt wird.«28 Meidet der Historiker diese Gefahr, so kann er den Zeitgenossen geben, wessen sie bedürfen: Orientierungswissen als Ergebnis theoretischer Anstrengung mit praktischer Wirkung. Rankes Geschichtsschreibung will Identität stiften: Ein methodisch sauber geklärtes Wissen darüber, woher wir kommen, dient als Wegweiser, wohin wir zu gehen haben. Ranke konnte eine solche Identität – ein »Wirbewusstsein«, das den latent immer vorhandenen anarchischen Tendenzen widersteht – nur in der Form der nationalen Idee, der Gemeinsamkeit von Sprache, Kultur, Geschichte den27 Ranke, Über die Verwandtschaft (wie Anm. 12), S. 47. 28 Ebd., S.49.

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ken. Das marginalisierte notwendigerweise sein Geschichtsbild von dem Moment an, in dem Formen gesellschaftlicher Organisation auftauchten, die die Integrationskraft des nationalen Wirbewusstseins zu sprengen drohten. Das ist zunächst schon die virtuelle Weltgemeinschaft der liberalen Wirtschaftssubjekte, dann aber vor allem die Gesamtheit derjenigen, die in der Konkurrenz des freien Marktes ihre Selbständigkeit entweder nicht gewinnen können oder wieder verlieren – der Proletarier. Das Verhalten beider kann über die Idee der Nation nicht mehr zureichend erfasst werden, es bedarf eines vom Ansatz her transnationalen gesellschaftswissenschaftlichen Zugriffs. Dies verkannt zu haben, wird man allerdings weniger dem 1795 geborenen Ranke als vielmehr seinen Epigonen im späten 19. und im 20. Jahrhundert zurechnen müssen. Denn zwischen 1810 und 1830, als Ranke sein Geschichtsbild konzipierte, war die Idee der Nation die freiheitliche Antwort auf die entstehende Moderne, und die Nationsbildung fiel weithin zusammen mit dem Übergang von der ständischen zur modernen bürgerlichen Gesellschaft. Schon mit der intensivierten inneren Staatsbildung vor 1800 begann die Erosion der fürstlichen, guts- oder grundherrschaftlichen, städtischen oder kirchlichen Untertanenverbände. In den Reformen seit 1800 beschleunigte sich dieser Prozess. Man kann ihn auf zweierlei Weise beschreiben: als Desintegration oder als Neuerfindung des Menschen im Zeichen aufklärerischer Ideale, der Freiheit, des Fortschritts und der Universalität.29 Diese Neuerfindung war allerdings gekoppelt mit der unabdingbaren Notwendigkeit einer neuen Form der Homogenisierung, der Integration. Integration wiederum bedarf der Distinktion. Auf der Basis der Vorstellung, dass idealiter alle ihre Mitglieder selbstständig, urteilsfähig und bildungswillig seien, leistete die Nation Integration durch Distinktion. Unter den deutschen Bedingungen dieser Jahre konnte die Theorie der nationalen Identität um zwei Gravitationszentren kreisen: die Einheit durch die Kultur oder die Einheit durch die Politik – wobei sie jeweils aus dem Kraftfeld des einen nicht heraustreten musste, wenn sie sich dem Zentrum des anderen näherte. Aus nicht weiter hinterfragbaren Gründen entschied sich Ranke für den Primat der Politik. Rankes Geschichtsdenken stand also mitten im Übergang von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft und zog auf unverwechselbare Weise die Konsequenz daraus. Die Moderne trug, wie Ranke sagte, »die Physiognomie der Entzweiungen«30 – zwischen den vereinzelten Individuen der Staatsbürgergesellschaft, zwischen den Gelehrten und Ungelehrten, zwischen den autonomisierten und also auseinanderdriftenden Wissenschaften. Im beschleunigten Übergang zur Moderne mehrten und differenzierten sich in 29 Vgl. hierzu vorzüglich A. Assmann, Arbeit am nationalen Gedächtnis. Eine kurze Geschichte der deutschen Bildungsidee, Frankfurt a.M. 1993, S. 27ff. 30 Ranke, Über die Restauration in Frankreich (1832), in: Ranke, Sämtliche Werke, Bd. 49/ 50, 1887, S. 9.

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bislang unvorstellbarer Weise die gesellschaftlichen Erfahrungs- und Praxisbereiche und verlangten nach analoger »Vermehrung und Differenzierung der Wissensbereiche«.31 Dieser gesellschaftlichen Pluralisierungsdynamik stellte Ranke seine Idee des (nationalen) Staats entgegen, den Entzweiungen des Wissens sein Konzept einer vorrangig über die Darstellung definierten Historie. Damit vollzog er exemplarisch den Paradigmawechsel vom aufklärerischen zum historistischen Geschichtsverständnis – oder, anders formuliert, von der enzyklopädischen zur ästhetischen Organisation des historischen Wissens.32 Dass er hierbei nicht der erste war, sondern auf eine Tradition seit Justus Möser zurückblicken konnte, ist der Hauptinhalt des Alterswerks von Friedrich Meinecke über die Geschichte des Historismus.33 Mit Hans Blumenberg kann man die Enzyklopädie als Inbegriff des aufklärerischen Bemühens verstehen, »das Wissen über die Wirklichkeit in Raum und Zeit [zu] verwalten und seinen Zuwachs [zu] organisieren«.34 In der Perspektive des entstehenden Historismus erschien das Enzyklopädie-Prinzip allerdings selbst als Ausdruck der modernen Entzweiungen, einer Formulierung Goethes in »Dichtung und Wahrheit« zufolge verfuhr es nach der Art »einer großen Fabrik«.35 Sollte Ganzheit wirklich erfahrbar, d.h. anschaulich sein, so bedurfte das zerstreute Wissen der Transformation auf eine neue symbolische Ebene: die ästhetische Ganzheit. Ganzheit – so die Grundannahme des entstehenden Historismus – teilt sich unter den Bedingungen der Moderne nur über ästhetische Diskurse mit. Daher bedarf die Historie ästhetischer, d.h. genauer: literarischer Verfahren. Die Literatur »spiegelt« bekanntlich die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht einfach nur wider, sie ist eine Praxis sui generis, der immer wieder die Aufgabe zufällt, unterschiedliche Praxis- und Erfahrungsbereiche zusammenzuführen. Im gesellschaftlichen Umbruch des 19. Jahrhunderts transformierten sich die Formen der Wissensbildung, der Wissenszirkulation und -distribution, und anders als in der vergleichsweise statischen Welt ständischer Stratifikation kam es jetzt wesentlich darauf an, die Spezialdiskurse und ihre Ergebnisse in das Alltagswissen zumindest der Gebildeten einzuspeisen. Nötig war dazu die Handhabung literarischer Verfahren und ihre Neubewertung als Chance, solche Diskurselemente anzubieten, die Übergänge zwischen den einzelnen Wissensbereichen ermöglichten. 31 Hierzu und zum Folgenden: W. Wülfing u.a., Historische Mythologie der Deutschen 1798–1918, München 1991, S. 1f. 32 Vgl. W. Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung u. Historismus, zuletzt in: ders., Geschichtskultur u. Wissenschaft, München 1990, S. 58–91; ders., Geschichte als Wissenschaft oder Kunst, in: ebd., S. 92–103. 33 Meinecke, Die Entstehung des Historismus (wie Anm. 1). 34 H. Blumenberg, Der Prozeß der theoretischen Neugierde, erw. u. überarb. Neuausgabe von »Die Legitimität der Neuzeit«, 3. Teil, Frankfurt 1973, S.18. 35 J. W. von Goethe, Dichtung u. Wahrheit, Sophienausgabe, Bd. 28, Weimar 1890, S. 64.

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Eben diesem Zweck dienten die virtuosen Konstrukte der Rankeschen Erzählungen. Sie halten die Grenzen zwischen der Geschichte, der Literatur und der Philosophie bewusst offen: »Wäre die Philosophie das, was sie sein soll, wäre die Historie so klar und vollendet, so würden sie beide völlig übereinstimmen« – so heißt es in einem frühen Fragment. Rankes Erzählungen tragen der Autonomisierung der Geschichtswissenschaft Rechnung und nehmen gleichwohl die Verfahren und Zielsetzungen der Nachbardisziplinen partiell in sich auf. Sie überbrücken die Kluft zwischen den Wissenschaftlern und dem bürgerlichen Publikum. Sie führen vom vermeintlich zufälligen Einzelereignis zur Anschauung allgemeinster Einsichten. Sie handeln von der Verantwortlichkeit der Menschen für ihr Schicksal, ohne die Suggestion, dieses Schicksal beherrschen zu können – das ist der Sinn des Satzes, dass es dem Historiker um die Menschheit zu gehen habe, »wie sie ist, erklärlich oder unerklärlich: das Leben des einzelnen, der Geschlechter, der Völker, zuweilen die Hand Gottes über ihnen«.36 Ein hoher Grad von Abstraktion ist nötig, er antwortet auf die Erfahrung der umfassenden Bewegtheit neuzeitlicher Geschichte. Rankes Geschichtsschreibung ist das Produkt einer höchst reflektierten Zeitgenossenschaft. Aus der Zeitgenossenschaft ergeben sich Größe und Grenzen des Werks. Die Grenzen treten paradoxerweise um so schärfer hervor, je mehr man die fulminante Wirkungsgeschichte in die Würdigung einbezieht. Auf dem Weg über die ästhetische Darstellung der Machtgeschichte ästhetisierte sich die Macht selbst. Rankes historisches Weltbild kam zudem in ganz singulärer Weise dem Bedürfnis der Deutschen nach 1870 entgegen, ihre eigene, neue Stellung in der Welt über die Macht- und Außenpolitik zu definieren und sich gleichwohl einer vermeintlich prästabilierten Harmonie der großen Mächte zu versichern. Der Erklärungsgehalt der These, dass die Beziehungen zwischen den großen Mächten das eigentliche Zentrum aller historischen Prozesse seien, bedurfte in dem Maß der Ergänzung, wie die marktbedingten Konflikte erst der bürgerlichen, dann der industriellen Gesellschaft hervortraten. Dass Völker und Nationen die eigentlichen Träger von Ordnung und Humanität seien, wird man heute schon deshalb einschränken müssen, weil nach einer Formulierung Eric Hobsbawms ihre Zahl gegen Unendlich strebt und sich damit auch die Zahl der Konflikte potenziert. Ein beträchtliches Stück historisch-politischer Wahrheit enthält die These gleichwohl auch heute. Was darüber hinaus von Rankes Geschichtstheorie und Geschichtsschreibung bleibt, ist die Distanzierungsleistung seines Objektivitätsanspruchs als Kritik der kritischen Geschichtsschreibung, auch wenn sie nicht mehr ge36 Ranke, Vorrede zu: Geschichte der germanischen u. romanischen Völker (wie Anm. 6), S. 46.

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schichtsreligiös, sondern nur logisch abgestützt werden kann. Die methodische Maxime, dass jede Generation ihr Recht in sich selbst trägt und – in der Sprache Rankes – »unmittelbar zu Gott« ist, ist in der Krise des Projekts der Moderne, die wir erleben, aktueller denn je. Es bleibt schließlich das antihegemoniale Freiheitsdenken, wie es in Rankes Konzept der europäischen Staatenwelt angelegt ist. Rankes Begriffe von Volk oder Nation verbanden die Integrationsbedürfnisse des 19. mit dem Universalismus des 18. Jahrhunderts und blieben daher unberührt von allen Anfechtungen eines integral-aggressiven Nationalismus – auch nach 1870. So entwarf Ranke als Fundament seines Geschichtsbilds das Modell Europas als einer Einheit in der Vielfalt, das bis heute normative Kraft behalten hat.

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3. Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität: Der Historismus in neuer Sicht

I. Es mag überraschen, wenn im Folgenden wesentliche Überlieferungsbestände der deutschen Geschichtsschreibung vom frühen 19. bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts als Ausdruck eines religiösen Zugangs zur Wirklichkeit, als Geschichtsreligion bezeichnet werden. Religion und Wissenschaft gelten der Geschichtstheorie als unvereinbar, und die geschichtstheoretische und historiographiegeschichtliche Forschung hat sich zuletzt darum bemüht, Geschichtsmetaphysik und Erkenntnislogik im Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts strikt auseinander zu halten.1 So berechtigt und notwendig dies ist, so bleibt doch zunächst einmal festzuhalten, dass beide im deutschen Historismus des 19. Jahrhunderts explizit und bewusst miteinander verschmolzen wurden. Der Begriff der Geschichtsreligion soll diesen Sachverhalt bezeichnen, führt aber selbstverständlich in komplexe terminologische Fragen, die genauerer Diskussion bedürften. Ausschließen darf man allerdings die Benennung dieses Geschichtsdenkens als »Pseudoreligion«, »Religionsersatz«, »säkulare Heilslehre« oder ähnliches, worunter im allgemeinen politische Bewegungen und Ideologien mit innerweltlicher Heilserwartung verstanden werden. Zweifellos berührt sich das historische Denken des 19. Jahrhunderts gelegentlich mit solchen »pseudoreligiösen« Vorstellungen. Aber Ranke, Droysen oder Meinecke sprechen ganz unverstellt von »Gott«, dem »Göttlichen und Ewigen« oder dem »Absoluten« als Ziel der historischen Erkenntnisbemühung. Ihre Sinngebung der Geschichtswissenschaft – denn dass es sich um eine »Wissenschaft« handelt, betonen sie mit derselben Selbstverständlichkeit – erfüllt damit problemlos die allgemeine religionswissenschaftliche De1 Vgl. v.a. T. Nipperdey, Historismus und Historismuskritik heute, in: ders., Gesellschaft, Theorie, Kultur, Göttingen 1976, S. 59–73; sowie die Sammelbände: J. Rüsen (Hg.), Historische Objektivität. Aufsätze zur Geschichtstheorie, Göttingen 1975; R. Koselleck u.a. (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft, München 1977; sowie R. Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiographischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 176–210.

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finition, dass es sich bei Religion um eine »Beziehung«, »Begegnung« und »Antwort«, jedenfalls ein »Verhältnis« handelt, »dessen unterscheidendes Merkmal gegenüber anderen Relationen ... in dem Charakter eines den Menschen unbedingt Fordernden und Bindenden, eines ihn absolut Angehenden liegt«.2 Die These vom geschichtsreligiösen Charakter des deutschen Historismus lässt sich – wenn man sich nicht in die Besonderheiten der Rankeschen Geschichtstheologie versenken und auf einer geschichtstheoretisch praktikablen Argumentationsebene bleiben will – vor allem am Stellenwert der »Idee« bzw. an der »Ideenlehre« des Historismus fassen.3 Sie ist vor allem von Wilhelm von Humboldt konzipiert und von Leopold Ranke weiterentwickelt und historiographisch praktiziert worden und bildet die häufig mehr implizite als bewusste und reflektierte Überzeugungsgrundlage der deutschen Geschichtsschreibung in der Rankenachfolge. Humboldts Abhandlung »Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers« kreist um den Begriff der »Idee« und versucht, aus ihm eine Pragmatik der Geschichtsschreibung zu entwickeln. Die Idee erweist sich dabei als metaphysische Größe: Weil sie »selbständiger Natur« ist, »kommen in allen verschiedenen Gattungen des Daseins und der geistigen Erzeugung Gestalten zur Wirklichkeit, in denen sich irgendeine Seite der Unendlichkeit spiegelt, und deren Eingreifen ins Leben neue Erscheinungen hervorbringt«.4 Humboldt denkt ›Unendlichkeit‹ zwar auch als regulative Idee der Erkenntnisarbeit, aber sie ist doch noch anders und mehr, nämlich Substanz, die in der »Idee« fassbar wird. 2 H. R. Schlette, Art. »Religion«, in: H. Krings u.a. (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, Bd. 5, München 1974, S. 1238; dabei wäre noch zu klären, inwieweit der Begriff der Religion im Kontext innerweltlicher »Heilserwartungen« nur metaphorisch verwendet wird oder »ob ihm sachliche Gemeinsamkeiten mit Religion im überkommenen Wortverständnis zugrunde liegen«; vgl. ebd., S. 1238f.; die Hauptvertreter des deutschen Historismus evozieren ausdrücklich die herkömmliche Vorstellung von »Transzendenz«, also einer geteilten Wirklichkeit, die in Religionswissenschaft und Kulturanthropologie nicht mehr zu den unverzichtbaren Definitionsmerkmalen von Religion gezählt wird: P. L. Berger, Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt a.M. 1970, S. 14, relativiert diese Vorstellung, transformiert ihre Aussage aber in die These, dass sie doch eine fundamentale Kategorie der Religion treffe: »nämlich die Überzeugung oder den Glauben, daß es eine andere Wirklichkeit gibt, und zwar eine von absoluter Bedeutung für den Menschen, welche die Wirklichkeit unseres Alltags transzendiert«. Zur soziologischen Definition von Religion vgl. auch ders., Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt a.M. 1973, bes. S. 165ff., sowie T. Luckmann, Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft, Freiburg 1963; zur Relativierung von Immanenz und Transzendenz in religionspsychologischer Sicht vgl. W. Huth, Glaube, Ideologie und Wahn. Das Ich zwischen Realität und Illusion, München 1984, S. 47–61. 3 Zur Transformation des Luthertums bei Ranke vgl. v.a. C. Hinrichs, Ranke und die Geschichtstheologie der Goethezeit, Göttingen 1954. 4 W. v. Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtsschreibers, in: Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, hg. v. d. Kgl. Preußischen Akad. d. Wiss. Bd. 4. Berlin o. J., S. 53; vgl. dazu E. Kessel, Wilhelm von Humboldt. Idee und Wirklichkeit. Stuttgart 1967, S. 122–131.

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Bei Ranke nimmt diese Ideenlehre dann präzisere und greifbarere Form an. Die Idee ist für ihn das »bildende, gestaltende Element«, das in der Erscheinung hervortritt. Jede Gestalt ist zugleich real und ideal, indem sie Immanenz und Transzendenz verbindet: Sie konkretisiert sich in der Welt, ohne doch in ihr aufzugehen, sie ist sowohl in der Welt, »in aller Erscheinung«, als weltüberlegen, »über aller Erscheinung«.5 Gerade weil die Idee immer auch außerhalb der Geschichte ist, bleibt sie unveränderliches Sein. Ranke hat für diese Verbindung von Immanenz und Transzendenz in der Idee auch den Begriff des »Real-Geistigen« geprägt: Er bringt die unmittelbare Verbindung aller geschichtlichen Phänomene mit Gott ebenso zum Ausdruck wie ihre Selbständigkeit in der Welt auf Grund ihres Erscheinungscharakters. Ranke trennt Immanenz und Transzendenz, menschlichen und göttlichen Bereich genau so weit, dass die menschliche Wirklichkeit ihre eigene Gesetzlichkeit geltend machen kann, ohne dass die Verbindung zum Göttlichen verloren geht. So sichert Ranke dem geschichtlichen Geschehen dasjenige Maß an Freiheit, das ›die Geschichte‹ als Handlungsspielraum des selbstverantwortlichen Menschen ermöglicht. Dieser Selbstverantwortlichkeit des handelnden Menschen ausgeliefert, bleibt die Idee in der Welt soweit unverwirklicht und vom Misslingen bestimmt, als es in der Unvollkommenheit des Menschen angelegt ist. Daher kann Ranke von den »Geschicken Gottes in der Welt« sprechen, die der Historiker erforscht und darstellt: »... die Ideen, durch welche menschliche Zustände begründet werden, enthalten das Göttliche und Ewige, aus dem sie quellen, doch niemals vollständig in sich. Eine Zeitlang sind sie wohltätig Leben gebend; neue Schöpfungen gehen unter ihrem Odem hervor. Allein auf Erden kommt nichts zu einem reinen und vollkommenen Dasein; darum ist auch nichts unsterblich. Wenn die Zeit erfüllt ist, erheben sich aus dem Verfallenden Bestrebungen von weitreichendem geistigem Inhalt, die es vollends zersprengen. Das sind die Geschicke Gottes in der Welt.«6 Diese Stelle erinnert im Übrigen unmittelbar an Jacob Burckhardts Beschreibung des geschichtlichen »Hauptphänomens«; der sakrale Ton der Sprache tritt in diesen bekannten Formulierungen der sogenannten »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« 5 L. Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. P. Joachimsen, Bd. 6, München 1926, S. 361. 6 Ebd., S. 57; zu Rankes Geschichtsbild und Methode bes. T. Schieder, Das historische Weltbild Rankes (1950), in: ders., Begegnungen mit der Geschichte, Göttingen 1962, S. 105–128; H. Berding, Leopold von Ranke, in: H.-U. Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, Bd. 1, Göttingen 1971, S. 7–24; G. G. Iggers u. K. v. Moltke (Hg.), The Theory and Practice of History. Leopold Ranke, Indianapolis 1973; R. Vierhaus, Ranke und die Anfänge der deutschen Geschichtswissenschaft, in: B. Faulenbach (Hg.), Geschichtswissenschaft in Deutschland, München 1974, S. 17– 34; L. Krieger, Ranke. The Meaning of History, Chicago 1977; K. H. Metz, Grundformen historiographischen Denkens, Wissenschaftsgeschichte als Methodologie. Dargestellt an Ranke, Treitschke und Lamprecht, München 1979, S. 14–236; W. J. Mommsen (Hg.), Leopold von Ranke und die moderne Geschichtswissenschaft, Stuttgart 1988; U. Muhlack, Leopold von Ranke, in: N. Hammerstein (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Wiesbaden 1988, S. 11–37.

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zurück, er kehrt aber bei Burckhardt überall dort wieder, wo er von der Bedeutung der Kunst spricht.7 In erkenntnislogischer Sicht erfüllen die Ideen genau die Funktionen, welche die Geschichtstheorie heute von den Theorien in der Geschichtswissenschaft erwartet. Sie leisten die notwendige Auswahl einzelner Tatsachen aus der Gesamtheit der »kulturbedeutsamen Phänomene« (Max Weber), sie strukturieren die Fragestellung, sie formulieren Sinnerwartungen und synthetisieren verschiedene, inhaltlich und zeitlich oft weit auseinanderliegende Daten. Aber neben dieser logischen Funktion haftet an den »Ideen« doch durchweg ontologische Qualität, sie sind Instanzen ›über‹, ›hinter‹ oder ›unter‹ der erfahrbaren Wirklichkeit.8 Auch Rankes Antipode, der Hegelschüler und Anwalt einer politisch engagierten Geschichtswissenschaft, Johann Gustav Droysen, steht auf dem Boden geschichtstheologischer Prämissen, wie sie Wilhelm von Humboldts Abhandlung beispielgebend für das deutsche Geschichtsdenken formuliert hatte. In seiner moderneren, philosophisch und erkenntnistheoretisch bewussteren Variante des deutschen Historismus im 19. Jahrhundert wandelt er Humboldts Ideenlehre zwar ab. Aber er konzipiert seinerseits Geschichte als Religion, indem er alle geschichtliche Erkenntnis ebenfalls aus einem Zweck jenseits aller erforschbaren Wirklichkeit hervorgehen lässt und die Auswahl wie auch die Synthese der empirisch im »forschenden Verstehen« ermittelten Einzeldaten an ihm ausrichtet: »Der höchste, der unbedingt bedingende, der alles bewegt, alle umschließt, alles erklärt, der Zweck der Zwecke ist empirisch nicht zu erforschen. Aus der Selbstgewißheit unseres Ichseins, aus dem Drang unseres sittlichen Sollens und Wollens, aus der Sehnsucht nach dem Vollkommenen, Einen, Ewigen, in der unser dürftiges, ephemeres, bruchstückhaftes Sein erst ergänzt fühlt, was ihm fehlt, ergibt sich uns zu den anderen ›Beweisen‹ vom Dasein Gottes der für uns beweisendste. Das Böse haftet an dem endlichen Geist, ist der Schatten seiner dem Licht zugewandten Endlichkeit. Es gehört in die Ökonomie der geschichtlichen Bewegung, aber ›als das im Prozeß der Dinge verschwindende und zum Untergang bestimmte‹.«9 Für Droysen geht es also in der Geschichtswissenschaft letzten Endes um die 7 J. Burckhardt, Über das Studium der Geschichte. Der Text der ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ auf Grund der Vorarbeiten von Ernst Ziegler nach den Handschriften hg. v. Peter Ganz, München 1982, S. 228; vgl. dazu W. Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit, Göttingen 1974, S. 1–97; vgl. dazu ders., Jacob Burckhardt und Max Weber. Zur Genese und Pathologie der modernen Welt, in: ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990. 8 Vgl. W. Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung und die Ästhetisierung der Darstellung, in: R. Koselleck u.a. (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung, München 1982, S. 147–191, hier S. 178f., wiederabgedruckt in: Hardtwig, Geschichtskultur (wie Anm. 7). 9 J. G. Droysen. Historik. Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. v. R. Hübner, Darmstadt 19675, S. 356f.

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Rechtfertigung Gottes in bezug auf das von ihm in der Welt zugelassene Böse; dieses ist zum Absterben bestimmt. Bei aller Empirisierung der Geschichtswissenschaft, die Droysen in seiner Historik zum Programm erhebt und differenziert und systematisch expliziert, bleibt die Theodizee die eigentliche Aufgabe des Historikers. Droysens Geschichtsschreibung erweist sich damit – trotz der sehr bedeutsamen gegenläufigen Tendenzen in seinem Denken – als empirisch-wissenschaftliche Explikation einer Geschichtsreligion. Seine Historiographie – besonders das Hauptwerk über die Geschichte der preußischen Politik – folgt dieser Konzeption einer – säkularisierten – Theodizee, indem sie den Weg Preußens und des Alten Reichs von der katastrophalen Ohnmacht und Zersplitterung der deutschen Nation im Spätmittelalter bis zum Triumph Preußens unter Friedrich dem Großen nachzeichnet – in Droysens Sicht die Vorstufe der kleindeutschen Reichsgründung und damit der »Erfüllung« der deutschen Geschichte.10 Religiös durchformt ist schließlich auch noch das Geschichtsdenken Friedrich Meineckes. Meinecke stellt sich selbstbewusst und entschieden in die Tradition sowohl der Droysenschen als auch der Rankeschen Geschichtstheologie und hält sie während seiner langen wissenschaftlichen und literarischen Arbeit zwischen 1890 und 1949 bewusst und entschieden aufrecht. Auch bei ihm begegnet das Motiv der Unendlichkeit – Unendlichkeit als unabschließbarer Erkenntnisfortgang, vor allem aber als substanzhafte »Schöpferkraft des Geistes«; der Historiker geht der »Offenbarung geistigen Lebens« nach, getragen vom »Glaube an ein unbekanntes Absolutes«.11 Dieses, wie ich meine, für den deutschen Historismus seit Wilhelm von Humboldt und Leopold Ranke grundlegende und unterscheidende Modell der Geschichtswissenschaft als einer modernen, die geistige und gesellschaftlich-politische Bewegung des Revolutionszeitalters zugleich aufnehmenden und auf sie antwortenden Religion bleibt für die Konzeption der Geschichte als Wissenschaft keineswegs folgenlos. Es verleiht ihr vielmehr bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts hinein ihr charakteristisches Gepräge, indem sie den Objektivitätsanspruch der Geschichtswissenschaft in letzter Instanz metaphy10 Vgl. W. Hardtwig, Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: HZ 231 (1980), S. 265–324, wiederabgedruckt in: ders., Geschichtskultur (wie Anm. 7). 11 F. Meinecke, Kausalitäten und Werte in der Geschichte, in: HZ 137 (1928), S. 23, 21 Anm. 2; abgedr. auch in: W. Hardtwig (Hg.), Über das Studium der Geschichte, München 1990; zu Meinecke vgl. bes. E. Schulin, Meineckes Leben und Werk. Versuch einer Gesamtcharakteristik, in: ders., Traditionskritik und Rekonstruktionsversuch. Studien zur Entwicklung von Geschichtswissenschaft und historischem Denken, Göttingen 1979, S. 117–132; sowie ders., Das Problem der Individualität. Eine historische Betrachtung des Historismus-Werkes von Friedrich Meinecke, in: ebd., S. 97–116; vgl. auch C. Hinrichs, Einleitung, in: Friedrich Meinecke, Werke. Bd. 3, hg. v. C. Hinrichs, München 1959, S. VII-XLIX; sowie M. Erbe (Hg.), Friedrich Meinecke heute, Berlin 1981.

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sisch, nicht logisch absichert und damit den objektivistischen Fehlschluss abstützt, der die historistische Geschichtswissenschaft kennzeichnet. Sie erhob den »Anspruch, Abbildung und Wiedergabe der Welt, der geschichtlich gewesenen Wirklichkeit bieten zu können«; mit den Worten Rankes von 1824: Sie glaubte zeigen zu können, »wie es eigentlich gewesen«.12 Selbstverständlich haben die Historiker in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert, zunächst in enger Verbindung mit Theologie, Altertumswissenschaft und Jurisprudenz eine fachspezifische geschichtswissenschaftliche Methodologie erarbeitet; den bedeutendsten theoretischen Beitrag dazu leistete Droysen selbst mit seiner Historik. Es entstand die historisch-kritische Methode, ein leistungsfähiges Instrumentarium, das eine hochdifferenzierte Quellenkritik ermöglichte und daneben, wenn auch rudimentär, Ansätze zu einer Theorie der historischen Synthese bot. Aber ihre eigentliche Dignität, ihren Wahrheits- und damit auch ihren über die Geschichtswissenschaft hinausreichenden Geltungsanspruch erhielten die Urteile und Feststellungen der Historiker aus der religiös gerechtfertigten Gleichsetzung von Wahrheitsannahme und Wirklichkeit, von Aussage und Substanz. Wenn Kant erklärt hatte, er nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht nur mit den Gegenständen, sondern mit den apriorischen Begriffen von Gegenständen überhaupt beschäftigte, so gingen die deutschen Historiker im Ganzen vorkritisch von einer adaequatio intellectus et rei aus; das letzte Wahrheitskriterium ist nicht transzendental, es geht nicht auf das Bewusstsein, sondern auf das Sein des zu Erkennenden zurück. Es gibt Ansätze zu einer im kantischen Sinne kritischen Erkenntnislehre auch in der deutschen Geschichtstheorie des 19. Jahrhunderts, vereinzelt bei Ranke, vor allem bei Droysen.13 Aber sie bleiben überformt von den Prämissen der historistischen Geschichtsreligion.

II. Es ist wahrscheinlich auch eine Konsequenz dieser religiösen Komponente des deutschen Geschichtsdenkens seit Wilhelm von Humboldt und Leopold Ranke, dass die sogenannte »Krise des Historismus« in Deutschland besonders

12 L. Ranke, Geschichte der romanischen und germanischen Völker von 1494 bis 1535, Leipzig 1824, S. VI; zum Objektivismus des deutschen Historismus v.a. vorzüglich O. G. Oexle, Die Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus. Bemerkungen zum Standort der Geschichtsforschung, in: HZ 238 (1984), S. 17–55, bes. S. 24. 13 Vgl. W. Hardtwig, Konzeption und Begriff der Forschung in der deutschen Historie des 19. Jahrhunderts, in: A. Diemer (Hg.), Konzeption und Begriff der Forschung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Meisenheim 1978, S. 11–26, bes. S. 19ff.

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intensiv erlebt und durchlitten worden ist.14 Kam dem geschichtlichen Bewusstsein und der Geschichtswissenschaft jene elementare stabilisierende und orientierende gesellschaftliche Funktion abhanden, die den Religionen zugeschrieben wird, so stellte sich tatsächlich die Krise des Historismus als »Kulturund Lebensproblem schwierigsten und größten Stils« dar.15 Vermittelte die Geschichtswissenschaft ›objektive‹, nämlich metaphysische und das heißt im deutschen Geschichtsdenken auch religiös begründete Wahrheit, dann kam auch der geschichtlichen Bildung und den durch sie vermittelten Wertorientierungen und Einsichten religiöse, d. h. absolute Qualität zu. Je mehr das historische Erkennen oder die historische »Aufklärung« – eine zeitgenössisch durchaus übliche Gleichsetzung – die Vergangenheit durchdrang, desto umfangreicher und in sich widersprüchlicher wurde der Kanon historisch ermittelter kultureller Leistungen und Werte, die alle den Anspruch erhoben, ›objektiv‹ und also auch normativ gültig zu sein. Es verstärkte sich also der »Kampf der Götter« (Max Weber) – der historisch begründeten Weltanschauungen und Normen. Es handelte sich dabei zudem um Götter, deren Autorität – anders als die meisten Produzenten historischer Bildung glaubten – bereits von verschiedenen Seiten her weitgehend ausgehöhlt war. Nicht nur der innerwissenschaftliche Prozess der Wissensvermehrung mit seiner Konsequenz einer zunehmenden Pluralisierung und damit auch Widersprüchlichkeit der historisch ermittelten Orientierungen führte in die Krise. Die historistische Geschichtsreligion konnte ihren Anspruch auf eine gesamtgesellschaftlich schlüssige und akzeptable Deutung der sozialen und politischen Wirklichkeit auch deshalb immer weniger einlösen, weil sie sich dem immer rascheren und tiefergehenden gesellschaftlichen und politischen Wandel im Übergang von der liberalen bürgerlichen Gesellschaft zur industriellen Klassengesellschaft konfrontiert sah. Die Ideen als tragende und wissensorganisierende Theoreme der Geschichtswissenschaft nahmen verstärkt ideologische Züge an – ideologisch in dem Sinne, dass sowohl das Deutungs- als auch das Orientierungspotential der historistischen Geschichtsreligion zurückging. In durchaus symptomatischer Weise lässt sich der Funktionswandel der Ideen gegenüber einer 14 Zur Krise des Historismus vgl. W. Hardtwig, Geschichtsstudium, Geschichtswissenschaft und Geschichtstheorie in Deutschland 1752–1989, in: ders., Geschichtskultur (wie Anm. 7); ders., Von Preußens Aufgabe (wie Anm. 10), S. 267ff.; beste Einführung in das Problem mit breiter Bibliographie: O. G. Oexle, »Historismus«. Überlegungen zur Geschichte des Phänomens und des Begriffs, in: Braunschweigische Wiss. Ges., Jb. 1986, S. 119–155, bes. S. 129ff. 15 F. Schnabel, Vom Sinn des geschichtlichen Studiums in der Gegenwart, in: ders., Abhandlungen und Vorträge 1914–1965, hg. v. H. Lutz u.a., Freiburg 1970, S. 147, wiederabgedruckt in: Hardtwig (Hg.), Über das Studium (wie Anm. 11); zu Schnabels historiographischem Werk vgl. F. Hermann Schubert, Franz Schnabel und die Geschichtswissenschaft des 20. Jahrhunderts, in: HZ 205 (1967), S. 323–357; Franz Schnabel – Zu Leben und Werk (1887–1966). Vorträge zur Feier seines 100. Geburtstages, hg. v. d. Historischen Kommission bei der Bayerischen Akad. d. Wiss., München 1988.

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fremd und unheimlich werdenden gesellschaftlich-politischen Wirklichkeit an einer Formulierung Droysens ablesen. Geschockt vom Erlebnis politischer Massenbewegungen und revolutionärer Legitimitätsbrüche sah der Paulskirchenabgeordnete und liberale Fortschrittsanhänger Droysen 1850 im »Beruf, Ideen zu vertreten«, eine Möglichkeit sich »über die Angst des Augenblicks rettend und tröstend« hinwegzuhelfen.16 Im späteren 19. Jahrhundert verlor zudem die spezifisch bildungsbürgerliche Kommunikation an Kohärenz, während die Gelehrtenrepublik nach wie vor ihren kulturellen Lenkungs- und Führungsanspruch aufrechterhielt.17 Das Ergebnis war eine spezifische Gelehrtenpolitik in einer pluralistisch aufgespaltenen und immer weniger bürgerlich-altliberal bestimmten politischen Öffentlichkeit. Sie rechtfertigte ihren immer fiktiveren Anspruch auf Überparteilichkeit vielfach noch immer mit dem objektivistischen Fehlschluss: Wer sich wissenschaftlich dem Postulat »objektiver« Erkenntnis unterwerfe, verfüge auch über die politische Tugend »objektiver« Einsichtsfähigkeit. Es ist daher Ausdruck einer in der deutschen Geschichtswissenschaft dieser Jahrzehnte ungewöhnlichen Ehrlichkeit und Reflektiertheit, wenn Franz Schnabel 1923 die Differenz zwischen wissenschaftlichem Erkenntnisstreben und politischer Orientierungsleistung des Historikers ausdrücklich offen hielt: Der Historiker solle als politischer Erzieher seines Volkes wirken, ohne doch den Aufgaben seiner Wissenschaft und seiner Forschung untreu zu werden; die Verbindung von politischer Erzieherfunktion und wissenschaftlicher Arbeit sei notwendigerweise problematisch; der Historiker müsse sich »bewußt bleiben, daß er der Nation dadurch am besten dient, wenn er das Recht der Wahrheit sich wahrt«.18 Belehrt durch die Anfälligkeit des deutschen Bildungsbürgertums für Nationalsozialismus und Diktatur 1933–1945 räumte dann 1949 auch Gerhard Ritter ein, dass »strenge Wissenschaftlichkeit« ein »bloßes Alibi ..., ein bloßer Deckmantel mutloser Neutralität, ein bloßes Ausweichen vor den Gefahren der Bekennerschaft« sein könne.19 Damit holte er – allerdings sehr spät – eine Erkenntnis nach, die Nietzsche bereits 1874 als Grundproblem des Historismus auf den Begriff gebracht hatte: Das objektivierende historische Bewusstsein vermag – anders als Ranke glaubte und Burckhardt zumindest hoffte – an sich selbst keinen Widerstand gegen die »Barbarei« zu leisten. Das historische Bildungswissen bleibt Nietzsche zufolge »innen« – unvermittelt und gleichgültig für 16 Vgl. Hardtwig, Von Preußens Aufgabe (wie Anm. 10), S. 308ff. 17 Vgl. G. Schmidt u. J. Rüsen (Hg.), Gelehrtenpolitik und politische Kultur in Deutschland 1830–1930, Bochum 1986, bes. R. v. Bruch, Gelehrtenpolitik und politische Kultur im späten Kaiserreich, in: ebd., S. 77–106. 18 Schnabel, Vom Sinn (wie Anm. 15), S. 57. 19 G. Ritter, Gegenwärtige Lage und Zukunftsaufgaben deutscher Geschichtswissenschaft. Eröffnungsvortrag des 20. Deutschen Historikertages in München am 12. September 1949, in: HZ 197 (1950), S. 1, wiederabgedruckt in: Hardtwig (Hg.), Über das Studium (wie Anm. 11).

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das tatsächliche Handeln.20 Einen Denken und Handeln integrierenden ›Glauben‹, wie ihn Friedrich Meinecke und – wenn auch sehr viel verhaltener – selbst Franz Schnabel21 noch gefordert haben, vermochte die historistische Geschichts- und Bildungsreligion nicht mehr zu schaffen. Zudem stellt sich die Krise der historistischen Geschichtsreligion in Deutschland auch als innerwissenschaftliche Krise dar. Der Historismus als methodisch bewusste, wissenschaftliche Erforschung und Darstellung der Vergangenheit verlor an Erklärungs- und Darstellungskraft in dem Maße, wie er wesentliche Wirklichkeitsbereiche auszuschließen begann. Dies geschah mit Notwendigkeit, von seinen metaphysischen Prämissen her. Denn wenn letztlich die »Idee« oder das »Real-Geistige« in der idealistischen Fassung Humboldts und Rankes als das letztverursachende und eigentliche Movens des geschichtlichen Wandels galt, so waren damit wesentliche Vorentscheidungen über die Basissätze der geschichtswissenschaftlichen Erklärung gefallen. Festgeschrieben wurde vor allem der Primat des Geistes über die materiellen und triebhaften Bedürfnisse als Antriebskräfte und Motivationen. So rückte der Historismus von seinen bildungsreligiösen Wurzeln her Wirtschaft und Gesellschaft gegenüber einem als »real-geistiges« Wesen konzipierten Staat und gegenüber Religion und Kultur in den Hintergrund. Das heißt nicht, dass Produktions- und Besitzstrukturen, materielle Kultur und soziale Ungleichheit völlig aus dem historischen Erkenntnisinteresse ausgeschlossen worden wären. In Droysens stichwortartiger Aufzählung der Gegenstandsbereiche von Geschichtswissenschaft: »Erwerb und Konkurrenz, Kapital und Arbeit, Reichtum und Armut, Naturalwirtschaft und Geldwirtschaft ... Plutokratie und die arbeitenden Klassen ...« wird deutlich, dass dies alles für ihn zur »sittlichen Welt« und insofern zum Objektbereich der Geschichtswissenschaft gehört.22 Aber die ›ideellen‹, eigentlich geschichtsmächtigen Impulse verwirklichten sich für das vom deutschen Idealismus geprägte Bildungsbürgertum und seine professoralen Vertreter konsequenterweise vor allem in der Sphäre der ›geistigen Arbeit‹ und ihrer Objektivationen, also in Staat, Religion und Kultur. Als daher in der zweiten Jahrhunderthälfte industrielle Arbeit und Klassenbildung, Technik und Naturwissenschaften immer stärker als die eigentlichen Motoren des Wandels in allen Lebensbereichen hervortraten, geriet die Geschichtswissenschaft in die Krise. Die historistische Bildungsreligion 20 F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: ders., Kritische Gesamtausgabe, hg. v. G. Colli u. M. Montinari, 3. Abt., Bd. 1, Berlin 1972, S. 270; vgl. dazu auch H. Schnädelbach, Geschichtsphilosophie nach Hegel. Die Probleme des Historismus, Freiburg 1974, S. 84f. 21 Schnabel, Vom Sinn (wie Anm. 15), S. 61: »Die Jugend dagegen erfaßt am ehesten das große Evangelium der Geschichte, das nur im Gefolge einer neuen und starken Lebensströmung begriffen wird«; vgl. auch ebd., S. 60. 22 Droysen, Historik (wie Anm. 9), S. 69.

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verlor die bewegende Kraft, die sie für den kleinen Kreis der bildungsbürgerlichen Elite bis dahin durchaus gehabt hatte – eben auch deshalb, weil sie sich als Wissenschaft zunehmend verengte. Höchst aufschlussreich spiegelt sich dieser Sachverhalt in Meineckes Abhandlung über »Kausalitäten und Werte in der Geschichte« von 1928 wider. Sie beschreibt mit großer Eindringlichkeit die Wert- und Sinnkrise, in die der Historismus geraten war. Sie wirft auch die Frage auf, ob »Wirtschafts- oder Sozialgeschichte nicht doch dem Leben noch näher« stünden als die Geschichte von Religion, Staat und Kunst; darüber – so Meinecke – könne man streiten, »je nach dem Begriff von historischem Leben, den man hat«.23 Er versteht darunter den »Kampf von Natur und Kultur« und weckt damit zunächst die Erwartung, über die Erkenntnisgrenzen der historistischen Geschichtsreligion hinauszugelangen. Doch verstellt er sich weiterführende Fragen und Antworten, indem er seinen Begriff von »geschichtlichem Leben« auf die Feststellung einer »unendlichen Schöpferkraft des Geistes« verengt. Damit eliminiert er zwar nicht die materiellen Bedürfnisse und die Triebsphäre des Menschen als bewegende und prägende Motive des Handelns und Denkens, aber er weist sie in die Sphäre von »Nacht und Tiefe« und schließt sie damit de facto aus dem Gegenstandsbereich der Geschichtswissenschaft aus, da die forschende Erkenntnis dahin letztlich nicht vorstoßen könne und solle. Der Erkenntniswille kommt dann auch noch in dem – selbst wieder im Tonfall des Zweifels vorgetragenen – Glaubenspostulat zum Stillstand, dass es wieder »im Goetheschen Sinne an die Einheit der Gottnatur zu glauben« gelte und dass man sich mit diesem »tröstlicheren Licht auf diese Zusammenhänge« zufriedenzugeben habe.24 Diese Sicht auf die Geschichte konzentrierte sich folgerichtig darauf, ›Geist‹ und ›Idee‹ im Individuum verwirklicht zu sehen und vernachlässigte die sozioökonomischen und soziokulturellen Bedingungen von Verhalten und Mentalität, die Geschichtswirksamkeit kollektiver Kräfte, die neuen anthropologischen Grundeinsichten von Psychologie und Soziologie. Allerdings wurde gegen diese Verengung vereinzelt Widerspruch laut. Gerade auf die im ›mainstream‹ des historistischen Denkens ausgeklammerten Faktoren richtete Karl Lamprecht in seiner Fundamentalopposition gegen den späthistoristischen Wert- und Methodenkanon seine Aufmerksamkeit. Aber seine dilettantische Übertragung des naturwissenschaftlichen Begriffs von Gesetzeserkenntnis und seine mangelnde intellektuelle Disziplin machten es der historischen ›Zunft‹ (wie übrigens auch Max Weber) leicht, seinen ganzen Ansatz einer nicht-idealistischen, integralen Kulturgeschichte in Bausch und

23 Meinecke, Kausalitäten und Werte (wie Anm. 11), S. 25. 24 Ebd., S. 23.

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Bogen zu verdammen. Dieser sogenannte »Lamprechtstreit«25 nahm allerdings auch deshalb so leidenschaftliche Formen an, weil die Gegner Lamprechts: Friedrich Meinecke, Georg von Below, Felix Rachfahl u.a. nicht zu Unrecht in Lamprechts Werk die anregende Wirkung einer ganz anderen, ungleich konsistenteren Geschichtsreligion mit Wissenschaftsanspruch witterten – den materialistischen Historismus von Karl Marx und Friedrich Engels. Die Geschichts- und Gesellschaftslehre von Karl Marx ist nicht im Kontext der universitären Wissenschaft entstanden. Man sollte diese Distanz allerdings auch nicht verabsolutieren. Marx entwickelte seine materialistische Einheitswissenschaft von der Geschichte wesentlich aus der Opposition gegen die Hegelsche Geschichtsphilosophie. Die Prämissen der historistischen Geschichtswissenschaft stimmen mit deren idealistischen Grundannahmen sehr viel weiter überein, als die Selbstabgrenzung der entstehenden empirischen Einzelwissenschaft »Geschichte« von der Geschichtsphilosophie Hegels vermuten lässt. Diese Selbstabgrenzung nämlich betonte den höheren Stellenwert der Empirie und wandte sich gegen die Annahme eines Entwicklungsgesetzes der Geschichte, nicht gegen die Basisannahmen von »Geist« und »Idee« als den bewegenden Kräften. Die Stärke der Marxschen Geschichtsauslegung lag in der Wahrnehmung fundamentaler Realitäten, die in der Anthropologie der idealistischen Bildungsreligion im Hintergrund geblieben waren. Dazu gehört die Marxsche »Voraussetzung, daß die Menschen imstande sein müssen zu leben, um ›Geschichte machen‹ zu können. Zum Leben aber gehört vor allem Essen und Trinken, Wohnung, Kleidung und noch einiges Andere. Die erste geschichtliche Tat ist also ... die Produktion des materiellen Lebens selbst.«26 Sie vollzieht sich laut Marx geschichtlich in Entwicklungsstufen der Produktivkräfte. Damit entkräftet Marx die idealistische 25 Vgl. u.a. K. Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte. Beitrag zu einer empirischen Historik (1896/97); ders., Über den Begriff der Geschichte und über historische und psychologische Gesetze (1962), beide in: ders., Ausgewählte Schriften zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte und zur Theorie der Geschichtswissenschaft, hg. v. H. Schönebaum, Aalen 1974, S. 257–327 bzw. S. 573–596; zu Lamprecht und dem Lamprechtstreit vgl. M. Viikari, Die Krise der »historistischen« Geschichtsschreibung und die Geschichtsmethodologie Karl Lamprechts, Helsinki 1957; G. Oestreich, Die Fachhistorie und die Anfänge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland, in: HZ 208 (1969), S. 320–363; Metz, Grundformen historiographischen Denkens (wie Anm. 6), S. 424–645; ders., Historisches »Verstehen« und Sozialpsychologie. Karl Lamprecht und seine Wissenschaft der Geschichte, in: Saeculum 33 (1982), S. 95–104; L. Schorn-Schütte, Karl Lamprecht. Kulturgeschichtsschreibung zwischen Wissenschaft und Politik, Göttingen 1984; lediglich Otto Hintze hat die berechtigte und notwendige Entmetaphysierung und Gegenstandserweiterung in Lamprechts Ansatz differenziert gewürdigt: vgl. ders., Über individualistische und kollektivistische Geschichtsauffassung (1897), in: ders., Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hg. u. eingel. v. G. Oestreich, Göttingen 19823, S. 315–322. 26 K. Marx u. F. Engels, Die Deutsche Ideologie, in: K. Marx u. F. Engels, Werke, hg. v. Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (=MEW), Bd. 3, Berlin 1959, S. 28.

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Annahme der Autonomie des »Geistes« und setzt die These dagegen, dass »die Umstände ebensosehr die Menschen, wie die Menschen die Umstände machen«. Die »Summe von Produktionskräften, Kapitalien und sozialen Verkehrsformen, die jedes Individuum und jede Generation als etwas Gegebenes vorfindet, ist der reale Grund dessen, was sich die Philosophen als ›Substanz‹ und ›Wesen des Menschen‹ vorgestellt ... haben«.27 Diese Zugangsweise erschloss neue Einsichten in die Entstehung und Funktionsweise sowohl der bürgerlich-nachfeudalen wie der industriellen Gesellschaft, blieb aber in der idealistisch geprägten Geschichtswissenschaft bis ins 20. Jahrhundert hinein tabuisiert, weil Marx aus ihnen die Forderung nach einer proletarischen Revolution ableitete. Allerdings durchbrach auch die Marxsche Geschichtskonzeption nicht den Rahmen eines metaphysisch fundierten Gedanken-Systems. Indem sie eine in sich zwar flexible, im Ganzen aber mit Notwendigkeit ablaufende Gesetzlichkeit des Geschichtsprozesses postulierte, kam sie zu einem in sich zwar »dialektischen«, aber umfassenden Determinismus.28 Sie erfüllte damit auch ein Hauptmerkmal religiöser Weltbilder: Sie beanspruchte das Monopol auf universale Sinndeutung. Inhaltlich leitete Marx alle Wirklichkeit zwar nicht aus dem Geist, aber aus den materiellen Bedürfnissen und damit ebenfalls aus einer absolut gesetzten und damit unwiderleglichen Voraussetzung (man könnte auch sagen einer »Idee«) ab; unter umgekehrtem Vorzeichen reproduzierte er damit eben das, was er den »Deutschen im Gebiet des ›reinen Geistes‹« vorwarf: die »religiöse Illusion zur treibenden Kraft der Geschichte« zu machen.29 Es beweist daher nur Konsequenz, dass sich die offizielle marxistische Geschichtswissenschaft in der DDR bis zuletzt als (materialistischer) Historismus verstand. Denn sie verharrte in demselben Objektivismus wie der idealistische Historismus. Indem Marx den »Streit über die Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens« eine »rein scholastische Frage« nannte, setzte er geschichtliche Wirklichkeit und menschliches Bewusstsein, objektiven und subjektiven Geist im Sinne Hegels gleich.30 Seine Geschichtstheorie weist wesentliche Merkmale einer Geschichtsontologie auf.

27 Ebd., S. 38. 28 W. Küttler, Die historische Methode aus marxistisch-leninistischer Sicht, in: C. Meier u. J. Rüsen (Hg.), Historische Methode, München 1988 (=Beiträge zur Historik, Bd. 5.), S. 90f., wiederabgedruckt in: Hardtwig (Hg.), Über das Studium (wie Anm. 11). 29 Marx u. Engels, Die deutsche Ideologie (wie Anm. 26), S. 39. 30 K. Marx, Thesen über Feuerbach, in: MEW (wie Anm. 26), Bd. 3, S. 5; vgl. dazu Oexle, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 12), S. 36f.; J. Kocka, Karl Marx und Max Weber im Vergleich. Sozialwissenschaften zwischen Dogmatismus und Dezisionismus, in: H.-U. Wehler (Hg.), Geschichte und Ökonomie, Köln 1973, S. 54–84, hier S. 70f.

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III. Den Geschichtsreligionen idealistischen wie materialistischen Zuschnitts hat in Deutschland erst die Wissenschaftstheorie Max Webers die Grundlage entzogen – was keineswegs ausschloss, dass deren Erbe noch lange nachwirkte; in der Bundesrepublik bis in die fünfziger Jahre hinein, in der DDR, befestigt durch die politische Herrschaft der SED, bis zum Ende der achtziger Jahre. Weber diskutierte seine Fragen nach den Merkmalen von »Wissenschaft als Beruf« nicht als Historiker, sondern allgemein auf der Ebene einer Wissenschaftstheorie der gesellschaftlichen Wirklichkeit.31 Es sind jedoch eben jene Grundfragen, welche die ältere Geschichtstheorie aufgeworfen hatte und die Weber als profiliert historisch arbeitender Forscher nicht nur mit philosophischer, sondern auch mit fachwissenschaftlicher Kompetenz beantwortet. Weber fragt universalgeschichtlich nach Sinn und Funktion der Wissenschaft und konstatiert als Grundlage seines Gedankengangs zunächst die Unvergleichbarkeit des gegenwärtigen Modells von Wissenschaft mit der Sinngebung und Konzeption von Wissenschaft von der Antike bis in die frühe Neuzeit. Die Differenz entsteht laut Weber aus dem Bruch mit den »früheren Illusionen« darüber, was Wissenschaft leisten könne. Der Gegensatz zwischen der Wertsphäre der Wissenschaft und der des religiösen Heils ist für Weber »unüberbrückbar« geworden, Wissenschaft stellt sich heute anders als in der Vergangenheit als »spezifisch gottfremde Macht« dar.32 Das ist für Weber keine selbstverständliche Aussage, sondern eine Wahrheit, für deren Durchsetzung in der direkten Anrede des Wissenschaftlers und akademischen Lehrers an die Studenten in den Jahren nach 1918 noch gekämpft werden muss, Weber nimmt seine Zuhörer wahr als »religiös gestimmte und nach religiösem Erlebnis strebende Jugend«.33 Max Weber zufolge hatte sich Wissenschaft in der Vergangenheit in der einen oder anderen Weise immer als Suche nach einem »Weg zu Gott« dargestellt – als Suche nach der »ewigen Wahrheit« in der Anti-

31 M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. v. J. Winckelmann, Tübingen 19683, S. 582–613, zur Wissenschafts- und Erkenntnislehre Webers vgl. den Forschungsbericht von J. Kocka, Kontroversen über Max Weber, in: NPL 21 (1976), S. 288–301; zur Diskussion um die »Werturteilsfreiheit«: D. Käsler, Einführung in das Studium Max Webers, München 1979; zur Interpretation von Wissenschaft als Beruf vgl. u.a. K. Löwith, Max Webers Stellung zur Wissenschaft, in: ders., Vorträge und Abhandlungen. Zur Kritik der christlichen Überlieferung, Stuttgart 1966, S. 228–252; sowie W. Schluchter, Wertfreiheit und Verantwortungsethik. Zum Verhältnis von Wissenschaft und Politik bei Max Weber, in: ders., Rationalismus der Weltbeherrschung, Frankfurt am Main 1980, S. 41–74, bes. S. 41–55; Oexle, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 12), S. 30 ff. 32 Ebd., S. 579. 33 Ebd., S. 598.

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ke, nach der »wahren Kunst« oder »wahren Natur« in der frühen Neuzeit.34 Demgegenüber erweist sich unter den nachreligiösen Voraussetzungen der Gegenwart der Rekurs auf den historistischen Geschichtsglauben als obsolet. Wissenschaft überhaupt und damit auch die Geschichtswissenschaft erhält einen veränderten Stellenwert und eine neue gesellschaftliche Funktion, weil sie auf die »allein für uns wichtige Frage ›Was sollen wir tun?‹, ›Wie sollen wir leben?‹ keine Antwort gibt«.35 Genau diese Fragen hatte der Historismus beantworten wollen, indem er vergangene gesellschaftlich-politische Formationen und kulturell-religiöse Weltorientierungen, ihren Wandel und ihre Kontinuität zur Gegenwart präsentiert hatte. Die Geschichtswissenschaft kann demnach so wenig wie irgendeine andere Wissenschaft Sinnfragen beantworten. Wozu also dann noch Wissenschaft? Auch die Antwort auf diese Frage entwickelt Weber aus einer religionsgeschichtlichen Diagnose: Das Christentum als alltagsbeherrschende, normsetzende Instanz ist zu seinem Ende gekommen: »Die alten vielen Götter, entzaubert und daher in der Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Kampf ... Schicksal unserer Kultur aber ist es, daß wir uns dessen wieder deutlicher bewußt werden, nachdem durch ein Jahrtausend die angeblich oder vermeintlich ausschließliche Orientierung an dem großartigen Pathos der christlichen Ethik die Augen dafür geblendet hat.«36 Die Wissenschaft ist eine dieser Mächte, eine unter vielen, wenn auch eine zunehmend bedeutsame und lebensbestimmende. Aber im Kampf der verschiedenen Wertordnungen miteinander kann sie keine übergeordnete und insofern allgemeingültige Entscheidungen begründende Rolle übernehmen. Der einzelne Wissenschaftler geht von der Wertentscheidung aus, dass seine Wissenschaft sinnvoll ist; wissenschaftlich begründen kann er sie nicht. Weber bricht mit dem Glauben, es gebe objektive religiöse oder moralische Normen und man könne sie auf dem Weg über die Wissenschaft erarbeiten; die leitenden Wertideen des Wissenschaftlers, die grundsätzlich im Konflikt liegen mit den leitenden Wertideen anderer, gehen der Erkenntnisbemühung voraus und prägen sie. Daher trennt Weber auch prinzipiell zwischen Wissenschaft und Politik. Wissenschaftliche Analyse politischer Sachverhalte und politische Stellungnahme in praktischer Absicht sind zweierlei; im ersten Fall bedient man sich der Worte als »Pflugscharen zur Lockerung des Erdreichs des kontemplativen Denkens«, im zweiten Fall als »Schwerter gegen die Gegner«, als »Kampfmittel«.37 Zwei ›Götter‹ oder Werte stehen sich letztlich unvereinbar gegenüber: die Wahrheitssuche der Wissenschaft und die Macht als Inhalt der 34 35 36 37

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Ebd., S. 597. Ebd., S. 598. Ebd., S. 605. Ebd., S. 601.

Politik; »Politik«, so schließt daraus der Wissenschaftler Max Weber, der zugleich leidenschaftlicher Politiker war, »gehört nicht in den Hörsaal«.38 Was aber kann dann die Wissenschaft über die selbst nicht mehr hinterfragbare und also auch nicht weiter legitimierbare und legitimitätsbedürftige wissenschaftliche Neugier hinaus für das praktische Leben dessen, der sie betreibt oder zur Kenntnis nimmt, überhaupt noch leisten? Laut Weber fördert sie immerhin bescheidene, aber wichtige Tugenden: Sie lehrt, unbequeme Tatsachen anzuerkennen und sich damit der Realität zu stellen, und sie kann dem Einzelnen zur Klarheit verhelfen, indem sie ihn durch den ihr innewohnenden Zwang zur Rationalität nötigt, sich selbst Rechenschaft zu geben über den »letzten Sinn seines Tuns«, also zur Reflexion seiner persönlichen Wertideen vorzustoßen. Wissenschaft in der »entzauberten« Gegenwart hat so zwar den Zauber verloren, den sie im frühen Historismus noch ausgestrahlt hatte: den Glauben an ihre normstiftende und -begründende Leistung. Aber sie fördert doch etwas sehr Wesentliches, nämlich »an unsere Arbeit [zu] gehen und der ›Forderung des Tages‹ gerecht [zu] werden – menschlich sowohl wie beruflich. Die aber ist schlicht und einfach, wenn jeder den Dämon findet und ihm gehorcht, der seines Lebens Fäden hält.«39 Mit dieser ›Entmythologisierung‹ weist Weber jede individuelle Sinnerwartung an die Wissenschaft zurück. Es bleibt die Frage, was sie für die Konzeption von Wissenschaft selbst bedeutet. Auch hier ist Webers Antwort reduktionistisch. Für ihn beschränkt sich Wissenschaft darauf, »Forschung« zu sein. Forschung bedeutet notwendig Spezialisierung. Die Unabweislichkeit und das Ausmaß der Arbeitsteilung unterscheidet die gegenwärtige Vorstellung von Wissenschaft von allen früheren Stadien der Wissenschaftsentwicklung. Nur durch strengste Spezialisierung ist es Weber zufolge möglich, etwas zu leisten, was dem Wissenschaftler das Gefühl vermittelt, etwas geleistet zu haben, was dauern wird. Aber auch diese Dauer bleibt höchst relativ. Denn jede wissenschaftliche Arbeit ist Teil eines Fortschrittsprozesses, der über das einzelne, selbst das vollgültige und gelungene Werk des Spezialisten notwendig hinausgeht. Jede zutreffende Antwort auf wissenschaftliche Fragen wirft neue Fragen auf – hier liegt der grundlegende Unterschied zwischen Wissenschaft und Kunst. Ein gelungenes Kunstwerk ist laut Weber unüberbietbar und veraltet nicht, es hat seinen unverrückbaren Wert. Das wissenschaftliche Werk als Ertrag der Forschung dagegen will und muss überboten werden: »Wissenschaftlich ... überholt zu werden, ist ... nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck.«40 Der Fortschritt aber geht ins »Unendliche«, er ist unabschließbar. Damit hat Weber die Wissenschaft ein weiteres, entscheidendes Stück weit entmetaphysiert. Wissenschaft vermittelt in keinem Fall mehr Auf38 Ebd., S. 600. 39 Ebd., S. 613. 40 Ebd., S. 592.

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schluss über das Ganze der Wirklichkeit. Die Geschichtswissenschaft des Historismus war noch inspiriert gewesen von der Hoffnung auf Teilhaberschaft am Sein, wenn diese Hoffnung auch nur verhalten und mitunter verdeckt artikuliert worden war: als »Ahnung« oder »Mitwisserschaft« des göttlichen Willens bei Ranke; als unendliche Annäherung an den Zweck der Zwecke bei Droysen; als – freilich im Irrealis formulierte – Hoffnung, »völlig auf unsere Individualität verzichten« und so umfassend an der eigentlichen Wirklichkeit des Geistes partizipieren zu können bei Burckhardt.41 Mit alledem bricht Weber. Doch auch er kann sich dem christlichen Erbe nicht ganz entziehen. Es wirkt unübersehbar nach: Zum einen in Aspekten einer sakral getönten Sprache, fassbar z. B. in der Doppeldeutigkeit des Worts »Beruf«, das zwischen den Bedeutungen von Erwerbsarbeit und ›Berufung‹ im religiösen Sinn spielt; zum andern im christlich gefärbten Ethos der Askese, das Weber dem Wissenschaftler abverlangt, vor allem im Verzicht auf Macht in ihren verschiedenen wissenschaftsinternen wie -externen Erscheinungsformen.

IV. Webers Konzeption der Wissenschaft als Forschung ist keineswegs eine völlige Neuschöpfung. Das Geschichtsdenken von Aufklärung und Historismus hatte sie in wichtigen Aspekten vorbereitet und damit die systematische Eroberung von Erkenntnisneuland seit dem 18. Jahrhundert ermöglicht.42 In ihr hatte sich der Wissenschaftscharakter auch schon der historistischen Geschichtsreligion kristallisiert. Schon Schillers Unterscheidung von »Brotgelehrtem« und »philosophischem Kopf« läuft auf eine solche Konzeption von Wissenschaft als Forschung zu und setzt Anfänge ihrer tatsächlichen Praxis bereits als vorhanden voraus. Alle Eigenschaften die Schiller dem Brotgelehrten zuschreibt, widersprechen dem Geist des Forschers; der forscherliche »ewig wirksame Trieb nach Verbesserung« dagegen setzt nichts anderes in Gang als den über die einzelne Erkenntnisleistung hinausgehenden unendlichen Prozess einer Erkenntnissuche der »hellen Köpfe«.43 Humboldt und Ranke unterschieden zwar noch nicht präzise zwischen den Moral- und Rationalitätsstandards der Wissenschaftlergemeinschaft und der bürgerlichen Gesellschaft im Ganzen, aber dass Wissenschaft sich als Forschung vollzieht, d. h. als systematische Erkenntnissuche nach festen Regeln, zunehmend spezialisiert und mit ihren Ergebnissen vom einzelnen Gelehrten gelöst – das 41 Burckhardt, Über das Studium (wie Anm. 7), S. 245f. 42 Vgl. dazu Hardtwig, Konzeption und Begriff der Forschung (wie Anm. 13). 43 F. Schiller, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte, in: Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 17, hg. v. K.-H. Hahn, Weimar 1970, S. 362, 363.

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wur-de allmählich selbstverständlich. Bei Droysen gewann dann auch schon der Begriff der Forschung zentrale Bedeutung.44 Der Historiker, bei Humboldt, Gervinus und Ranke noch vorwiegend als »Geschichtsschreiber« bezeichnet, heißt jetzt ausdrücklich »Forscher«. Die ›Historik‹ ist eine detaillierte und fast alle Bereiche strenger historischer Studien umfassende Methodologie und Enzyklopädie der historischen Forschung. Forschung kann jetzt auch nicht mehr der – wenn auch redlichen und mutigen – Arbeit jedes Interessierten überlassen bleiben.45 Sie wird, im Einklang mit dem gleichzeitigen Professionalisierungsprozess, dem Fachmann vorbehalten und sondert sich vom ungeschulten Erkenntnisstreben ab. Bei Droysen verbindet sich die Präzisierung von Forschung auch bereits mit einem dezidierten, wenn auch nicht schlüssig transzendentalen Ansatz, der dem metaphysischen Objektivismus zuwiderläuft: Geschichte ist »nicht die Summe der Geschehnisse, nicht aller Verlauf aller Dinge, sondern ein Wissen von dem Geschehenen«.46 Das Wissen erhält damit grundsätzlich Entwurfscharakter, die Vergangenheit kann vergegenwärtigt werden nur in der Form empirisch gestützter hypothetischer Sätze. Zudem steht das forschende und erkennende Subjekt seinem Erkenntnisgegenstand, der Geschichte, nicht einfach gegenüber, sondern ist Teil dieses Objekts, weil sich die Erkenntnis selbst als immer schon geschichtlich vermittelt erwiesen hat. Das historische Forschen setzt die Einsicht voraus, dass auch der »Inhalt unseres Ich ein vielfach vermitteltes, ein geschichtliches Resultat ist«.47 Allerdings: Das neben dem Fortschritt grundlegende Merkmal der Forschung, ihre Unabschließbarkeit oder »Unendlichkeit«,48 behält, wie im Historismus überhaupt, noch immer ontologische Eigenschaften. Auch Droysen löst sich also noch nicht endgültig vom metaphysischen Objektivismus.

44 Vgl. Hardtwig, Konzeption und Begriff der Forschung (wie Anm. 13), S. 19ff. 45 Für die Beharrungskraft der grundsätzlich an »Erzählung«, nicht an »Forschung« orientierten Historie vgl. u.a. G. G. Gervinus, Grundzüge der Historik, Leipzig 1837. 46 J. G. Droysen, Historik. Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen (1857/58) und in der letzten gedruckten Fassung (1882), hg. v. P. Ley, Stuttgart 1977, S. 397; vgl. auch die knappe Formel, auf die Droysen das Problem gebracht hat: »das Wissen von ihr ist sie selbst«; ebd., S. 425; der transzendentale Ansatz ist m. E. überzeichnet bei H. M. Baumgartner, Kontinuität und Geschichte. Zur Kritik und Metakritik der historischen Vernunft, Frankfurt a. M. 1972, S. 55–87; sowie jetzt bei Oexle, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 12), S. 41ff.; vgl. dagegen Schnädelbach, Historismus (wie Anm. 20), S. 89ff. 47 Droysen, Historik (wie Anm. 46), S. 425. 48 Den Gedanken der Unendlichkeit der Welt als Grundgedanken von »Forschung« betont v.a. Oexle, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 12), S. 30f.; vgl. dazu auch E. Hassinger, Empirischrationaler Historismus. Seine Ausbildung in der Literatur Westeuropas von Guiccardini bis Saint-Evremont, Bern 1978; F. Wagner, Die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft im 17. Jahrhundert, München 1979 (=SB d. Bayerischen Akad. d. Wiss., Phil.-Hist. Klasse, Jg. 1979, Nr. 2.); sowie Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit (wie Anm. 1), S. 178ff.

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Die religiös-metaphysische Fundierung der Geschichtswissenschaft verblasst freilich zunehmend in der konkreten Forschungsarbeit. Das lässt sich exemplarisch an Theodor Mommsen zeigen. 1858 spricht er von der Geschichte noch als einer »dauernden Offenbarung«,49 doch setzt er diese Auffassung in keinen erkennbaren Bezug zu seiner immer deutlicher hervortretenden Konzeption der geschichtlich arbeitenden Wissenschaften als Forschung. Mit äußerster Konsequenz unterwarf Mommsen sein Leben der systematischen und vollständigen Erfassung vor allem der lateinischen Inschriften – so weitgehend, dass er seine eminenten Darstellungsfähigkeiten der Forschungspflicht zum Opfer brachte.50 Als er diesen Sachverhalt in seiner Rektoratsrede von 1874 durchdachte, waren Darstellung und Forschung für ihn bereits so weit auseinandergefallen, dass er die Geschichtsschreibung nur mehr zum geringeren Teil als Resultat und Präsentation von Forschung verstehen konnte und sie überwiegend einer speziellen künstlerischen Fähigkeit zuschrieb: »Der Schlag aber, der tausend Verbindungen schlägt, der Blick in die Individualität der Menschen und Völker spotten in ihrer hohen Genialität alles Lehrens und Lernens. Der Geschichtsschreiber gehört vielleicht mehr zu den Künstlern als zu den Gelehrten.«51 Dabei bestritt er der Historie auch noch ihren eigenen Gegenstandsbereich – und damit letztlich ihre Eigenschaft als moderne Wissenschaft und erklärte es für eine »gefährliche und schädliche Illusion, wenn der Professor der Geschichte meint in der Weise Historiker bilden zu können, wie Philologen und Mathematiker allerdings auf der Universität ausgebildet werden können«.52 Gleichwohl hat er sich dem überpersonalen Zusammenhang der historischen Forschung nicht nur ein- und untergeordnet, sondern ihren Prozesscharakter und ihre Unabschließbarkeit auch präzis auf den Begriff gebracht: Dem »emporsteigenden Riesenbau [der Forschung] gegenüber erscheint der einzelne Arbeiter immer kleiner und geringer«.53 Mit der Benennung des Gelehrten als Arbeiter ordnet Mommsen die Wissenschaft als Forschung noch in einen umfassenderen Zusammenhang ein, aus dem sich die konstitutiven Merkmale von Wissenschaft und ihre Funktion 49 T. Mommsen, in: Preußische Jbb. 1 (1858), S. 225. 50 Vgl. u.a. A. Heuss, Theodor Mommsen und das 19. Jahrhundert, Kiel 1956; A. Wucher, Theodor Mommsen. Geschichtsschreibung und Politik, Frankfurt a.M. 1956; K. Christ, Theodor Mommsen, in: ders., Von Gibbon zu Rostovtzeff, Darmstadt 1972, S. 84–118; C. Meier, Das Begreifen des Notwendigen. Zu Theodor Mommsens Römischer Geschichte, in: R. Koselleck u.a. (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung (wie Anm. 8), S. 201–244; H. Berding, Das Problem der Geschichtsschreibung, in: P. Alter u.a. (Hg.), Geschichte und Politisches Handeln. Gedenkschrift für Theodor Schieder, Stuttgart 1985, S. 243–260. 51 T. Mommsen, Rektoratsrede 1874, in: Reden und Aufsätze von Theodor Mommsen, Berlin 1905 S. 11, wiederabgedruckt in: Hardtwig (Hg.), Über das Studium (wie Anm. 11). 52 Ebd., S. 11. 53 T. Mommsen, Ansprache am Leibnizschen Gedächtnistage (1895), in: Reden und Aufsätze (wie Anm. 51), S. 196.

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und ihr Stellenwert in der modernen Welt ergeben. Es versteht sich keineswegs von selbst, dass die wissenschaftliche Tätigkeit, speziell die Forschung, als »Arbeit« bezeichnet wird. Andererseits kommt der Begriff in dieser Verwendung auch nicht zum ersten Mal vor. Er dringt bereits seit dem späteren 18. Jahrhundert schrittweise auf immer breiterer Front dort vor, wo es um die Kennzeichnung der Gelehrtenleistung geht. Bei Ranke heißt die »Erforschung« der Vergangenheit ausdrücklich »Arbeit«. Für Droysen sind die Wissenschaften insgesamt und so auch die Geschichtswissenschaften eine Form der »geschichtlichen Arbeit«. Bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, dass sich die Semantik des Arbeitsbegriffs mit dem Bedeutungsfeld von »Forschung« deckt, sie nimmt das gesamte Bedeutungsfeld von Forschung in sich auf. Am Ende des 19. Jahrhunderts ist die Formel vom ›wissenschaftlichen Arbeiten‹ dann zur selbstverständlichen Redeweise geworden. Forschung als Arbeit wird erstens durchgängig verbunden mit dem Gedanken der Arbeitsteilung bzw. der Spezialisierung. Das klingt bei Schiller bereits an54 und wird über Mommsen bis zu Max Weber immer präziser ausformuliert.55 Zweitens bezeichnet Arbeit die Konstitutionsleistung des Forschers: Jene Tätigkeit, die über die bloße Wahrnehmung und Aneinanderreihung empirischer Daten hinausgeht und den Entwurf einer »höheren« Wahrheit – erkenntnislogisch könnte man auch sagen einer Wahrheitshypothese – einschließt. Niebuhr z. B. bezeichnet die Leistung seiner Römischen Geschichte als eine »ganz andere Arbeit ... als eine notwendig mißlingende, Nacherzählung dessen, was der römische Historiker [Livius, W. H.] zum Glauben der Geschichte erhob«.56 Durchaus prägnant kommt dieser Sprachgebrauch auch bei Lamprecht zum Ausdruck, wenn er definiert: »Wissenschaftlich arbeiten, heißt die Anschauungskomplexe der sinnlichen Wahrnehmung durch begriffliches Denken in ihre Teile zerlegen und von neuem ordnend zusammensetzen«.57 Drittens bringt der Begriff der ›Wissenschaftlichen Arbeit‹ die Verselbständigung des überindividuellen Erkenntnisprozesses gegenüber dem forschenden und erkennenden einzelnen Gelehrten zum Ausdruck, besonders deutlich bei Mommsen und schließlich bei Max Weber. Damit tritt Wissenschaft als Forschung in einen unaufhebbaren Widerspruch zur Konzeption der Wissenschaft als Bildung, die für das historistische Geschichtsdenken mit seinem Glauben an Normbegründung durch Wissenschaft so prägend gewesen war. Am schärfsten hat diesen Widerspruch Jacob Burckhardt durchdacht und sei54 Schiller, Was heißt und zu welchem Ende (wie Anm. 43), S. 363. 55 Selbst Jacob Burckhardt, der Geschichte als Bildung gegen Geschichtswissenschaft als Arbeit zu verteidigen suchte, spricht von der »Geistesarbeit« und kann sich der Einsicht in die unaufhebbare Arbeitsteiligkeit nicht entziehen: vgl. ders., Über das Studium (wie Anm. 7), S. 250–253. 56 B. G. Niebuhr, Römische Geschichte, T. 1, Berlin 1811, S. IX. 57 Lamprecht, Was ist Kulturgeschichte (wie Anm. 25), S. 265.

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ne ›Einführung in das Studium der Geschichte‹ nicht für den Fachhistoriker konzipiert, sondern für den »Dilettanten«, der »die Dinge liebt«: In den Wissenschaften könne man es nur noch auf einem begrenzten Sektor zum »Meister« bringen. Daneben aber bleibe nichts anderes übrig, als auf möglichst vielen Gebieten Dilettant in diesem positiven Wortsinn zu sein, »wenigstens auf eigene Rechnung, zur Mehrung der eigenen Erkenntniß und Bereicherung an Gesichtspuncten, sonst bleibt man in Allem was über die Specialität hinausliegt, ein Ignorant und unter Umständen im Ganzen ein roher Geselle«.58 Die Verselbständigung des Forschungsprozesses ist aber viertens nur ein Aspekt der Konzeption von wissenschaftlicher Forschung bzw. Arbeit als Fortschritt. Diesen Sachverhalt hat vor Mommsen und Max Weber bereits J. G. Droysen auf die Formel gebracht, dass Forschung als »geschichtliche Arbeit« teilnimmt am »Fortschreiten der Menschheit« und dass sie diesen Fortschritt selbst vorantreibt.59 Geschichtswissenschaft als Forschung lässt sich also verstehen als Teilaspekt von Geschichtswissenschaft als »Arbeit«. Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen für den Stellenwert der Wissenschaft im gesamtgesellschaftlichen Funktionszusammenhang.

V. ›Forschung‹ tritt nur in Verbindung mit ›Wissenschaft‹ auf, der allgemeine Sprachgebrauch verwendet beides nahezu synonym. ›Arbeit‹ dagegen ist ein sehr viel universellerer Begriff. In der Alten Welt ständisch zugeordnet, kennzeichnete er ursprünglich die Tätigkeit der unteren Stände und Schichten; die körperlich-manuelle Arbeit blieb somit der christlich-biblischen Urbedeutung von ›Mühe‹ und ›Qual‹ verbunden.60 Erst im 17. Jahrhundert begann sich ›Arbeit‹ von der Zuordnung zu den untersten Stufen menschlicher Beschäftigung zu lösen. Die allmählich entstehende moderne bürgerliche Gesellschaft tendierte immer mehr dazu, die über der Mühe der Arbeit stehende Praxis der bisherigen Herrschaftsstände Adel und Geistlichkeit als unproduktiv abzuwerten. Die Arbeit erhielt als produktive Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur einen ganz neuen Rang und einen immer dominierenderen Stellenwert im Gesamtsystem der ›Berufe‹. Das ermöglichte ihre Umdeutung zur beglückenden Tätigkeit. In der Aufklärung konnte ›Arbeit‹ daher auch eine 58 Burckhardt, Über das Studium (wie Anm. 7), S. 253; vgl. dazu W. Hardtwig, Wissenschaft als Macht oder Askese: Jacob Burckhardt, in: ders., Geschichtskultur (wie Anm. 7). 59 Droysen, Historik (wie Anm. 9), § 65. 60 Grundlegend zum Wandel des Arbeitsbegriffs: W. Conze, Art. »Arbeit«, in: O. Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 154–214, bes. S. 163–205.

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enge Verbindung mit ›Erziehung‹ und ›Bildung‹ eingehen. Seit dem Durchbruch der bürgerlichen Gesellschaft als liberalisierter Arbeits- und Konkurrenzgesellschaft beherrscht die Hochschätzung der Arbeit das Bewusstsein sowohl der bürgerlichen als auch der aufstrebenden unterbürgerlichen Schichten. Damit war es möglich und notwendig geworden, zunächst zwischen geistiger und manueller Arbeit zu unterscheiden und dann auch die Tätigkeit der Gelehrten als Arbeit zu begreifen. Die für die Gelehrtenexistenz in der ständischen Welt grundlegende Annahme, dass die für die Gesamtgesellschaft notwendige Arbeit für die physische Existenzerhaltung auf die handarbeitenden unteren Schichten beschränkt sei, zerfiel. Die Geschichtswissenschaft wie die anderen Wissenschaften professionalisierten sich seit dem 18. Jahrhundert auf dem Boden einer Gesellschaft, die das ›Glück‹ des Einzelnen und der Gesellschaft zunehmend darin fand, Zwänge, die bis dahin als naturwüchsig und daher unaufhebbar gegolten hatten, abzuschaffen, indem sie die Welt arbeitend veränderten; die Gelehrtentätigkeit legitimierte sich daher immer deutlicher aus dem Beitrag, den die geistige Arbeit zu dieser Überwindung von Abhängigkeiten aller Art zu leisten vermochte. In der Geschichtsphilosophie Hegels löste sich der Arbeitsbegriff dann auch von der Bindung an den sozialökonomischen Bereich und artikulierte den Gedanken, dass ›Arbeit‹ die Verwirklichung der menschlichen Möglichkeiten in ihrer Gesamtheit, mithin der ›Freiheit‹ ermögliche. Das ist der Stand, auf dem Johann Gustav Droysen den Arbeitsbegriff reflektiert und auf die Forschungstätigkeit anwendet: »... im Arbeiten werdend, schafft die Menschheit den Kosmos der geschichtlichen Welt«; das »natürlich Gegebene und das geschichtlich Gewordene ... erforschend und begreifend, beherrschend und zu sittlichen Zwecken umgestaltend« verwandelt sich der »kreatürliche« zum »sittlichen Menschen«.61 Die Formen, in denen sich die geschichtliche Arbeit bewegt, sind die »sittlichen Gemeinsamkeiten« Familie, Nachbarschaft, Stamm, Volk und die elaborierten Weisen des Zusammenlebens in den Sphären von »Gesellschaft, Wohlfahrt, Recht und Macht« (=Staat); zu ihnen gehören auch die »idealen Gemeinsamkeiten«: Sprache, Kunst, Wissenschaft und Religion. Damit hat die Tätigkeit des Gelehrten allgemein und des Historikers im Besonderen ihre Funktion und ihren Stellenwert in der Gesellschaft von Grund auf verändert. Sie ist nicht mehr »Theoria« im alteuropäischen Wortsinn – Anschauung einer jenseits aller kontingenten Erscheinungen unveränderlich vorgegebenen, in sich ruhenden, statischen Welt, ihres bleibenden und vollkommenen »Wesens«, das sich der kontemplativen Betrachtung erschließt, wobei diese sich über die Bindung an Bedürfnisse und Interessen62 erhebt.63 Statt dessen ist sie selbst zur erkennenden, und das 61 Droysen, Historik (wie Anm. 9), § 48ff. 62 Ebd., § 55–79. 63 Vgl. dazu Hardtwig, Geschichtsschreibung (wie Anm. 7), S. 347ff.

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heißt jetzt auch wirklichkeitsverändernden Potenz in der »neuzeitlich bewegten Geschichte« (Koselleck) geworden, in der die Gesellschaft den permanent gewordenen Fortschritt aus sich heraus produziert. Die Geschichte selbst, der Handlungszusammenhang der Menschengattung konstituiert sich durch Arbeit, und ein Teil dieser Arbeit ist die Geschichtswissenschaft. Die Wissenschaft gibt daher nicht mehr ein Abbild, die Mimesis der Wirklichkeit, sondern sie erzeugt sie, gemeinsam und im Wechselspiel mit den anderen Lebens- und Handlungskreisen. Sie wird zu einer der treibenden Kräfte bei der arbeitenden Veränderung der Welt – einer unter mehreren. Konsequent lässt Max Weber am Ende dieser Neuinterpretation von Wissenschaft dann auch keine Sonderstellung der Wissenschaft im modernen Berufssystem mehr gelten. Zwar ist für ihn die wissenschaftliche Schulung der Studierenden, wie sie seiner Ansicht nach in der humboldtschen Tradition der deutschen Universität betrieben werden sollte, eine »geistesaristokratische Angelegenheit«. Aber die entscheidende Leistung des wissenschaftlichen Arbeiters, der Einfall oder die »Eingebung«, die auf das »Grübeln und Suchen am Schreibtisch« folgen muss, fällt keineswegs exklusiv dem Wissenschaftler zu; sie kennzeichnet jeden, dessen Arbeit nicht völlig unselbständig bleibt, und kann z. B. den Handlungskommis oder den technischen Beamten zum Kaufmann oder Großindustriellen machen; die Industriewirtschaft ist ohne große Einfälle nicht zu denken; die »kaufmännische Phantasie« steht rang- und funktionsgleich neben der des Wissenschaftlers, jede andere Vorstellung ist für Max Weber purer »Gelehrtendünkel«.64 Mit dieser Konzeption der Wissenschaft als Forschung, das heißt als wirklichkeitsverändernder und -konstituierender Arbeit rückt dann auch die Objektivitätsfrage in ein neues Licht. Sie hat die Historikergenerationen spätestens seit Barthold Georg Niebuhr leidenschaftlich bewegt. Für die Historikerschaft des 19. Jahrhunderts wie für die geschichtstheoretische Diskussion seither personifizierte sich der Gegensatz von Parteilichkeit und Überparteilichkeit in Leopold Ranke und Johann Gustav Droysen. In der geschichtstheoretischen Diskussion nach 1945 lebte die Debatte, orientiert an den Hauptrepräsentanten des deutschen Historismus in den überlieferten Kategorien, noch einmal auf. Mitte der siebziger Jahre allerdings wurde dann festgestellt, dass bei der Reflexion auf diese Frage die Geschichtstheorie an eine vorläufige Grenze gestoßen sei.65 Damit bekäme Johann Gustav Droysen recht, der in seiner ›Historik‹ die Fragen nach Objektivität und Parteilichkeit und nach dem Verhältnis von Theorie und Erzählung als »Aporemata« – als unlösbare Fragen – bezeichnet hat.66 Die Objektivitätsfrage ist in der Tat unlös64 Weber, Wissenschaft als Beruf (wie Anm. 31), S. 590. 65 K. G. Faber, Zum Stand der Geschichtstheorie in der Bundesrepublik Deutschland, in: JbHistF 1976/77, S. 21. 66 Vgl. Oexle, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 12), S. 40f.; zu Recht registriert auch G.

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bar, solange man sich auf dem Boden des deutschen Historismus mit seiner spezifischen Verbindung von Religion bzw. Metaphysik und Wissenschaft bewegt, bzw. solange man sich unzureichend Rechenschaft gibt von den Nachwirkungen des historistischen Erbes in der Theoriediskussion. Dieses Erbe besteht in der objektivistischen Grundeinstellung der deutschen Historiker, und zwar paradigmatisch gesprochen sowohl Rankes als auch – wenn auch stark abgeschwächt – Droysens. Die Frage nach dem Verhältnis von Objektivität und Parteilichkeit war unlösbar, weil sie ursprünglich gestellt wurde an der Schnittstelle zweier unterschiedlicher Zugangsweisen zur vergangenen Wirklichkeit, die sich im Historismus des 19. Jahrhunderts vielfach überlagerten und die mannigfachsten Verbindungen eingingen: von Historie als Geschichtsreligion und Geschichtswissenschaft. Damit soll nicht gesagt sein, dass der historistische Objektivismus eo ipso obsolet gewesen ist. Rankes Objektivitätspostulat hatte seinen guten Sinn: Es zielte darauf, für die Historie den Status einer selbständigen Wissenschaft außerhalb unmittelbarer politischer Interessen zu proklamieren und auch praktisch-institutionell durchzusetzen;67 zugleich damit artikulierte es geschichtsreligiös das Ziel, »in jeder Existenz ein Unendliches«, in »jedem Zustand, jedem Wesen ein Ewiges, aus Gott kommendes« zu erkennen.68 Diese Absicht, mit leicht veränderter Akzentsetzung schon bei Wilhelm von Humboldt formuliert,69 hält sich durch bis zu Friedrich Meinecke. Erkenntnis bleibt hier Theoria im alteuropäischen Wortsinn, Anschauung eines letztlich statischen ›Wesens‹ der Wirklichkeit und die Annäherung an seine Vollkommenheit. Objektive Erkenntnis dieser Art verwirklicht sich in der geistigen Anschauung eines geordneten Kosmos, dessen Struktur durch alle kontingente »äußere« Wirklichkeit hindurch erschlossen werden kann, und sie gewinnt ihre Unabhängigkeit, indem sie sich letzten Endes selbst genügt. Diese Unabhängigkeit schließt keineswegs aus, dass die Geschichtswissenschaft auch praktischen Zwecken dienen kann, indem sie die Handlungsbedingungen für gegenwärtige politische und gesellschaftliche Praxis aufdeckt.70 Aber objektive Erkenntnis heißt hier in letzter Instanz die Annäherung an eine vorgegebene harmonische Wirklichkeit. Hübinger, Georg Gottfried Gervinus. Politisches Urteil und historische Kritik, Göttingen 1984, S. 84, dass die Kontroverse um das Verhältnis von Perspektivität und Objektivität moderner Geschichtswissenschaft noch immer die beiden »Grundmuster« zeige, zwischen denen sich bereits im Vormärz die Historiker zu orientieren hatten. 67 Diesen Aspekt betont Muhlack, Ranke (wie Anm. 6), S. 20f. 68 L. Ranke, Idee der Universalhistorie, abgedr. in: E. Kessel, Rankes Idee der Universalhistorie, in: HZ 178 (1954), S. 296. 69 Vgl. Humboldt, Über die Aufgabe (wie Anm. 4), S. 39, 44. 70 Die Vereinbarkeit dieser Erkenntnisinteressen in der Geschichtsreligion Rankes verdeutlicht v.a. seine Antrittsvorlesung »Über die Verwandtschaft und den Unterschied der Historie und der Politik«, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 24, Leipzig 1872, S. 280–293, wiederabgedruckt in: Hardtwig (Hg.), Über das Studium (wie Anm. 11).

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Rankes Antipode Droysen lehnte dieses Objektivitätsideal Rankes von seiner Konzeption der Geschichte als universeller Arbeit her konsequent ab. In der weltgeschichtlichen Arbeit des Menschen baut sich für ihn die Wirklichkeit erst auf. Droysen dynamisiert so die Wirklichkeit, aber auch er bleibt der Vorstellung von einem substanzhaften, göttlich geordneten Kosmos verpflichtet. Die Notwendigkeit der geschichtlichen Arbeit begründet er religiös aus dem Auftrag, Gottes Schöpfung weiterzuschaffen und auszubauen.71 Seine Einsicht in den Entwurfscharakter des geschichtlichen Wissens löst sich nicht von der Rückbindung an die Idee einer religiös begründeten Kontinuität und Steigerung der geschichtlichen Welt. Die Historie als Wissenschaft hat dieser ontologischen Struktur des Fortschritts zu genügen. Gleichwohl bedeutet Droysens Auffassung der Wissenschaft als Arbeit einen ersten wesentlichen Bruch mit der Objektivität als alteuropäischer Theoria und damit den Bruch mit der klassischen Ausdeutung des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Erkenntnis im Sinne Droysens kann nicht mehr nur Abbild und Widerspiegelung der Wirklichkeit sein, sondern sie konstituiert die Wirklichkeit selbst und trägt zu ihrer Veränderung bei; damit steht sie der Realität nicht einfach mehr abbildend gegenüber, sondern erweist sich als Teil eines umfassenden, wissenschaftlich wie außerwissenschaftlich begründeten Veränderungsprozesses. Sie ist also ›Praxis‹: Wirklichkeitsgestaltung und -veränderung, nicht Wirklichkeitsschau. Konsequenterweise erfüllt die Historie ihre Aufgabe, das Bewusstsein der Menschheit von sich selbst herzustellen, vorrangig in der »praktischen Bedeutung der historischen Studien«, nämlich darin, dass »sie – und nur sie – dem Staat, dem Volk, dem Heer usw. das Bild seiner selbst« gibt.72 Damit bewegt sich Droysen von seinen Prämissen her wieder auf eine Position zu, die in der aufklärerischen Geschichtstheorie von ganz anderen Voraussetzungen her erarbeitet und durch den objektivistischen Historismus weitgehend verdrängt oder überdeckt worden war: die These von der notwendigen Perspektivität der historischen Erkenntnis. Johann Martin Chladenius hatte sie entwickelt, noch bevor sich die neuhumanistische Bildungsreligion des Geschichtsbegriffs bemächtigt und ihn ontologisiert hatte.73 Chladenius geht noch vom poetologisch bestimmten, frühneuzeitlichen Begriff von ›Ge71 Vgl. Hardtwig, Von Preußens Aufgabe (wie Anm. 10), S. 294ff. 72 Droysen, Historik (wie Anm. 9), § 93; vgl. ebd.: »Das historische Studium ist die Grundlage für die politische Ausbildung und Bildung. Der Staatsmann ist der praktische Historiker ...«. 73 Vgl. C. Friedrich, Sprache und Geschichte. Untersuchungen zur Hermeneutik von Johann Martin Chladenius, Meisenheim l978; ders., Johann Martin Chladenius. Die allgemeine Hermeneutik und das Problem der Geschichte, in: U. Massen (Hg.), Klassiker der Hermeneutik, Paderborn 1982, S. 43–75; ders., Die »Allgemeine Geschichtswissenschaft« von Johann Martin Chladenius, in: Johann Martin Chladenius, Allgemeine Geschichtswissenschaft. ND der Ausgabe Leipzig 1752, Wien 1985, S. XI-LL; Koselleck, Standortbindung und Zeitlichkeit (wie Anm. 1), S. 176ff.

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schichte‹, d.h. den Geschichten als Darstellungs- und Präsentationsformen aus. Seine Lehre vom »Sehepunkt« des Erzählenden, von dem aus die empirischen Daten und ihr Zusammenhang notwendiger- und unvermeidbarerweise organisiert werden, setzt noch das praktisch bestimmte Interesse der Artes in der frühneuzeitlichen, aristotelisch geprägten Wissenschaftslehre voraus. Geschichtserkenntnis – oder Geschichtenerzählung – ist dabei nicht der Wesenserkenntnis der »scientia«, sondern dem empirischen, untergeordneten Einzelwissen zugeordnet und gewinnt ihre Bedeutung daraus, dass sie anhand von »Exempla« aus der Vergangenheit moralische Wahrheiten und praktische Handlungsgrundsätze belegt und erläutert – mit Geschichten aus der Wirklichkeit, nicht fiktionalen Geschichten. Die umfangreiche und vor allem im frühen 19. Jahrhundert weitverbreitete und vielgelesene Geschichtsschreibung etwa Arnold Ludwig Hermann Heerens und Friedrich Christoph Schlossers, die dem aufklärerischen Fortschrittsverständnis verpflichtet blieb, hielt an diesem Vorrang der Praxis vor der Theorie fest. Sie lehnte sich an Kants Begründung der Gesellschaftswissenschaften aus der praktischen Vernunft an und kam zu einer begründeten Vorstellung ›objektiver‹ Geschichtserkenntnis nicht, indem sie die historische Vernunft zum Instrument von Wesenserkenntnis machte, sondern indem sie diese gerade davon abtrennte und die unüberwindliche Begrenztheit der Forscherperspektive betonte. Forschung und Urteil werden bewusst getrennt, in einem nächsten Schritt dann aber auch wieder aufeinander bezogen. Auf diese Weise ließ sich der individuelle Wertbezug des Forschers als wissensorganisierendes Prinzip herausarbeiten: »Zu erforschen, was in jeder Zeit geschehen ist, die Ursache, warum und die Art, wie es geschehen ist, der Nachwelt aufzubewahren, oder aus der Masse des Aufbewahrten das seinem Urteil nach für die Zeit Brauchbare zusammenzustellen, ist das Geschäft dessen, der die politische Geschichte schreibt und seine eigenen Gedanken so wenig wie möglich einzumischen, sein höchstes Gesetz. Wer aber die Verbindung des Einzelnen mit dem Ganzen zeigen, einen Gedanken durch seine ganze Erzählung durchführen will, der muß seine eigene Meinung aussprechen, er muß darauf aus Urkunden, Nachrichten, Denkmalen dasjenige enthüllen können, was seiner Natur nach nur erraten, nicht bewiesen werden kann. Er wird daher behutsam und bescheiden sein Urteil nicht mit der Geschichte selbst verwechseln dürfen.«74 Schlosser vollzog hier genau jene Trennung, mit der später Max Weber dem historistischen Geschichtsdenken den Boden entzog: Er unterschied zwischen individuellem Wertbezug und allgemeingültigen religiös oder moralisch begründeten Normen. Mit seiner Beschreibung von Forschung arbeitet er auf das hin, was Weber die »sachliche Rationalität der Wissenschaft« nennt 74 F. C. Schlosser, Universalhistorische Übersicht, T. 1, Frankfurt a.M. 1826, S. 1f., vgl. dazu jetzt Hübinger, Gervinus (wie Anm. 66), S. 78.

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und was auch Droysen in seiner breit entfalteten Lehre vom forschenden Verstehen erarbeitet hatte. Nur fehlt hier noch die wesentliche Unterscheidung, mit der Weber dann den gordischen Knoten der Objektivitätsfrage durchschlug: die Unterscheidung zwischen Orientierung der wissenschaftlichen Arbeit entweder am höchsten Wert »kontemplativer« Erkenntnis oder an anderen letztgültigen Werten. Diese mögen politische Erziehung, Aufklärung, Bildung heißen wie bei Schlosser oder – wenn auch mit anderer Akzentuierung – bei Droysen; sofern sie – und das ist durchgehend der Fall – mit bestimmten politischen Wertentscheidungen verflochten sind, verlangen sie als letztgültigen Wert die Ausrichtung an Machtinteressen. Ist also erst einmal die Unvermeidbarkeit und Notwendigkeit eines Wertbezugs anerkannt, so lässt sich die Frage nach Objektivität und Parteilichkeit dahin gehend präzisieren, dass es sich um eine wissenschaftsethische Entscheidung handelt. Alle, auch die in kontemplativer Absicht gewonnene Erkenntnis aber bleibt einbezogen in den universellen Wirkungszusammenhang der »Arbeit« als Wirklichkeitsveränderung und ist damit dem Bereich zugeordnet, den die klassische Theorie als »Praxis« erfasst hatte. Die Geschichtserkenntnis und Geschichtsvermittlung kann sich diesem Zusammenhang nur entziehen, wenn sie vorrangig dem »Genuss« dient, also ästhetisch wird.75 Dieser Weg steht ihr durchaus offen; freilich um den Preis, dass sie dann nicht mehr vollständig den Kriterien genügt, die an die wissenschaftliche Berufsarbeit angelegt werden: spezialistisch und bloßes Produkt eines überindividuellen Forschungsprozesses zu sein. Doch sollte zwischen ästhetischer Geschichtsschreibung und Forschung in der Konsequenz der Konzeption von Wissenschaft als gesellschaftlicher Arbeit auch wieder nicht zu rigoros unterschieden werden, denn diese Alternative stellt ihrerseits wieder eine idealtypische Vereinfachung und Abstraktion dar. Die meisten bedeutenden Werke der Historiographie weisen über die forscherliche Erkenntnisleistung hinaus ästhetische Qualitäten auf und haben gerade auch damit dauerhafte Geltung erlangt. Historiographische Meisterwerke wie die großen Nationalgeschichten Rankes, Mommsens ›Römische Geschichte‹, die kulturgeschichtlichen Querschnitte Jacob Burckhardts beweisen die Möglichkeit einer solchen Synthese ebenso wie herausragende Darstellungen aus der neueren Geschichtsschreibung. Als Ergebnisse wissenschaftlicher Berufsarbeit allerdings können sie sich ihrer Bestimmung nicht entziehen: Als spezialistische Produkte eines hochgradig arbeitsteiligen und unendlichen Forschungsprozesses werden auch ihre Ergebnisse unweigerlich obsolet.

75 Zur ästhetischen Dimension der historistischen Geschichtsschreibung vgl. W. Hardtwig, Geschichte als Wissenschaft oder Kunst, in: ders., Geschichtskultur (wie Anm. 7).

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4. Die Krise des Geschichtsbewusstseins in Kaiserreich und Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus Im vierten Prosastück von Ernst Jüngers »Abenteuerlichem Herz« von 1929 – zugleich der ersten »Traum«-Erzählung der Sammlung – berichtet der Erzähler: »Ich schlief in einem altertümlichen Hause und erwachte durch eine Reihe seltsamer Töne ...«; er geht dann zum Fenster und erkennt eine schmale alte Gasse und »eine Gruppe von Menschen, Männern mit hohen, spitzen Hüten, Frauen und Mädchen, altertümlich und unordentlich angetan«; dazu hört er den Satz »Der Fremde ist wieder in der Stadt«. Der Träumer wird also in eine vergangene Welt zurückgeworfen, in die hinein er erwacht. Dieser Traum vom Erwachen ins Fremde hinein verströmt einen atemlosen Schrecken. Die Irritation der Zeit wird zur Metapher für das Fremdsein schlechthin, die Entfremdung von der eigenen Gegenwart.1 Ernst Jünger hat hier eine Zeiterfahrung formuliert, die die Diskurse der Weimarer Jahre quer durch die politischen Lager von rechts bis links und vertikal durch die Schichtung der intellektuellen Niveaus durchzieht. Das subjektive Krisenempfinden der Epoche spiegelt reale Krisenprozesse wider, die je nach Perspektive als Krise des politischen Systems und der Gesellschaftsordnung, als Krise des Kapitalismus, Krise des Historismus, als Wissenschaftskrise, als allgemeine Kulturkrise oder umfassend als Krise der klassischen Moderne beschrieben werden.2 Im Folgenden will ich mich auf die Krise des Geschichtsbewusstseins konzentrieren. Gefragt werden soll, inwiefern und warum das Wissen über Geschichte und die Orientierung von Denken und Handeln an Geschichte seit Beginn der 1890er, ansatzweise schon seit den 1870er Jahren, tiefgreifende Veränderungsprozesse durchlief; und inwiefern dabei herkömmliche historisch-politische Deutungsmuster entwertet oder umgeformt wurden oder neuen Deutungsmustern Platz machen mussten – Deutungsmustern, die in der Weimarer Republik der nationalsozialistischen Ideologie kaum mehr Widerstände entgegenzusetzen hatten, ihr Aufkommen erleichtert oder direkt und indirekt gefördert haben. Eine solche Fragestellung 1 E. Jünger, Das Abenteuerliche Herz, 1. Fassung (1929), hier zit. nach: E. Jünger, Werke, Bd. 7, Essays III, Stuttgart o. J., S. 30f. 2 Pars pro toto: D. J. K. Peukert, Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne, Frankfurt a.M. 1987.

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kommt nicht aus ohne wissenschaftsgeschichtliche Perspektiven und Methoden, aber sie zielt auf mehr, nämlich eine Geschichte des historisch-politischen Bewusstseins der Deutschen zwischen dem ausgehenden 19. Jahrhundert und der nationalsozialistischen Machtergreifung. Ich werde daher zunächst nach dem Markt für das historisch-politische Deutungsangebot und davon ausgehend nach der Krise der Wissenskultur insgesamt fragen. In einem zweiten Abschnitt sollen Grundtendenzen der Geschichtsdeutung bis 1933 diskutiert werden. Zum Schluss werden die Ergebnisse der »Bewusstseinsgeschichte« mit dem gesellschaftlichen und kulturellen Wandel der 1870er bis 1930er Jahre, mit der Geschichte des Bürgertums und mit der Etablierung der nationalsozialistischen Geschichtskultur verknüpft. Selbstverständlich bleibt es für uns höchst wichtig zu wissen, was die professionelle akademische Geschichtswissenschaft zwischen Jahrhundertwende und Machtergreifung publiziert hat. Aber ob die Berliner, Heidelberger oder Münchner Ordinarien Max Lenz, Hermann Oncken und Erich Marcks ihre Bismarckbiographien und Vortragsbände in zweiter, dritter oder vierter Auflage herausbrachten,3 ist marginal gegenüber der beispiellosen Zunahme populär- und pseudowissenschaftlicher Literatur, die zum Teil die klassischen Themenfelder abdeckte, zum Teil neue Themenfelder erschloss. Um die Jahrhundertwende war z.B. eine breite populärwissenschaftliche Germanendiskussion bereits jahrzehntelang im Gange. Das hier produzierte Weltbild fasste dann der Germanist und Rasseforscher Hans Friedrich Karl Günther in Büchern wie der »Rassenkunde des deutschen Volkes« (erste Auflage 1922, neunte Auflage 1926) zusammen. Eine populäre Kurzfassung »Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes«, der sogenannte »Volks-Günther« von 1929, hatte 1943 eine Auflage von 295.000 Stück erreicht.4 Wichtiger noch für die Verbreitung eines völlig verzerrten Germanenbildes dürfte der historische Roman von Felix Dahn »Ein Kampf um Rom« gewesen sein – ein historischer Reißer um Kampf und Untergang der Ostgoten in Italien im 6. Jahrhundert, 1876 erschienen, der es allein bis 1918 auf 110 Auflagen brachte und im Dritten Reich an die zweite Stelle aller verkauften Bücher avancierte.5 Das düstere 3 Zum Bismarckbild in Wissenschaft, Tagespublizistik und im Denken der Konservativen Revolution: W. Hardtwig, Der Bismarck-Mythos. Gestalt und Funktionen zwischen politischer Öffentlichkeit und Wissenschaft, in: L. Machta, P. Weidisch (Hg.), Bismarck und die politische Kultur in Deutschland, erscheint Petersberg 2005. 4 Die Angaben nach P. E. Becker, Sozialdarwinismus, Antisemitismus und völkischer Gedanke. Wege ins Dritte Reich, Teil II, Stuttgart 1990, S. 304f; zu Günther insgesamt ebd. S. 231– 307. 5 Vgl. K. Frech, Felix Dahn. Die Verbreitung völkischen Gedankenguts durch den historischen Roman, in: U. Puschner u.a. (Hg.), Handbuch der »Völkischen Bewegung 1871–1918, München 1996, S. 685–698; vgl. jetzt auch A. Esch (Hg.), Ein Kampf um Rom, in: E. François u.a. (Hg.), Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, München 2001, S. 27–40; ausführlich zu Gustav Freytag und Felix Dahn jetzt: R. Kipper, Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich. For-

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Untergangsgemälde verschaffte dem seit den siebziger Jahren aufkommenden Kulturpessimismus ein fulminantes Entrée. Aber selbst die eher spröden Traktate des Göttinger Theologen und Orientalisten Paul de Lagarde von 1879/81 unter dem Titel »Deutsche Schriften« kamen bis 1903 auf vier Auflagen. Das nimmt sich freilich bescheiden aus neben dem »Kultbuch« des Kulturpessimismus, Julius Langbehns »Rembrandt als Erzieher«, das zwei Jahre nach dem Erscheinen 1890 bereits 40 und bis 1922 50 Auflagen erzielte.6 Das germanozentrische Geschichtsbild hatte immer auch eine mehr oder weniger explizite antisemitische Stoßrichtung. Noch einmal trivialisiert und verschärft wurde diese in Theodor Fritschs »Antisemiten-Katechismus. Eine Zusammenstellung des wichtigsten Materials zum Verständnis der Judenfrage«, das 1887 in erster und 1923 in 25. Auflage erschien. Die Romane des völkischen Autors und religiösen Fanatikers Artur Dinter, wie etwa »Die Sünde wider das Blut« und »Die Sünde wider den Geist« kamen allein bis 1921 auf 15 Auflagen bzw. 100.000 Exemplare.7 1899 brachte Houston Stewart Chamberlain, der Schwiegersohn Richard Wagners‹ und Statthalter des »Bayreuther Gedankens«, seine »Grundlagen des 19. Jahrhunderts« heraus, ein Buch, das das Geschichtsbild der Zwischenkriegsgenerationen weithin beeinflusste. Wilhelm II. pries es in hymnischen Worten, 1906 erschien die sechste Auflage in 10.000 Exemplaren als »Volksausgabe« und war nach zehn Tagen vergriffen, 1941 war die 27. Auflage erreicht.8 Systematisch bisher unzureichend erschlossen ist ein historisch-politisches Deutungskonzept, das nach ersten Anfängen im Zeichen der »Weltpolitik« des Kaiserreichs nach 1918 Furore machte: die Geopolitik. Hier brachte eine erste bibliographische Stichprobe für die Jahre zwischen 1918 und 1936 über 500 Titel zu Tage.9 men und Funktionen historischer Selbstthematisierung, Göttingen 2001; zum Germanenmythos in der Ur- und Frühgeschichte: H. Härke (Hg.), Archaeology, Ideology and Society. The German Experience, Frankfurt a.M. 2000. 6 I. U. Paul, Paul Anton de Lagarde, in: Puschner u. a. (Hg.), Handbuch (wie Anm. 5), S. 45– 93, bes. S. 50, 90; B. Behrend, August Julius Langbehn, der »Rembrandtdeutsche«, ebd., S. 94– 113. 7 J. H. Ulbricht, Das völkische Verlagswesen im deutschen Kaiserreich, in: Puschner u.a. (Hg.), Handbuch (wie Anm. 5), S. 277–301, hier S. 286, 299. 8 Becker, Sozialdarwinismus (wie Anm. 4), S. 176–228, hier S. 177; vgl. auch R. Mertens, Houston Stewart Chamberlain und die nationalsozialistische Ideologie, in: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 6 (1993), S. 181–193. 9 Vgl. etwa: E. Keyser, Preußenland. Geopolitische Betrachtungen über Geschichte des Deutschtums an Weichsel und Oder, Danzig 1929; R. Reisig u.a., Deutsche Wirtschaft, deutscher Staat, nach ihren geopolitischen Grundlagen und in geschichtlichen Längsschnitten, Leipzig 19303; F. Braun u. A. Ziegfeld, Weltgeschichte im Aufriß auf geopolitischer Grundlage, Dresden 19302; K. Haushofer, Weltpolitik von heute, 1.–60. Tausend, Berlin 1934; eine erste zusammenfassende Darstellung jetzt: R. Sprengel, Kritik der Geopolitik. Ein deutscher Diskurs, Berlin 1996; jüngster Überblick mit dem aktuellen Literaturstand: I. Dieckmann u.a. (Hg.), Geopolitik. Grenzgänge im Zeitgeist, 2 Bde, Bd. 1: 1890 bis 1945, Potsdam 2000.

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Das beherrschende intellektuelle Massenphänomen der Weimarer Jahre aber war das Erscheinen von Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes« in zwei Bänden 1918 und 1923. Das Buch traf den Nerv der Zeit wie kein anderes und nahm – begleitet von kleineren, aber sehr einflussreichen Schriften wie »Preußentum und Sozialismus« (1919) oder »Jahre der Entscheidung« (1933) schon insofern eine einzigartige Stellung ein, als es nicht nur die Großautoren der Epoche von Thomas Mann über Ernst Jünger bis zu Gottfried Benn zu begeisterten Bekenntnissen hinriss, sondern auch die Historikerzunft beunruhigte und vor allem so gut wie jeden bürgerlichen Bücherschrank eroberte. Für die 33.–47. Auflage schrieb Spengler dann ein neues Vorwort.10 Zu den Themen seines Bestsellers gehörte die große historische Persönlichkeit – auch damit lag er im Trend: Tatsachenberichte, vor allem über den Krieg, und Biographien – darauf richte sich das Interesse des Publikums, schrieb Stefan Zweig 1927. Die literarisch griffig aufbereitete Biographie blieb keine »rechte« Spezialität, mit Stefan Zweig und vor allem Emil Ludwig eigneten sich auch die Republikfreunde das Thema an. Vor allem Emil Ludwig landete einen Bestseller nach dem anderen, darunter »Napoleon« (1924), »Wilhelm der Zweite« (1925) und »Bismarck« (1926), 1928 bereits in 54. und 83. Auflage bzw. 150.000 Stück erschienen.11 Ein ähnliches Interesse, freilich politisch ganz anders besetzt, bedienten die George-Schüler, vor allem Friedrich Gundolf, unter anderem mit seinen Caesar-Büchern und Ernst Kantorowicz mit seinem bis heute berühmten und umkämpften »Kaiser Friedrich der Zweite« von 1927, das 1936 in einer bibliophilen Ausgabe des George-Verlags Bondi in vierter Auflage erschien.12 10 D. Felken, Oswald Spengler. Konservativer Denker zwischen Kaiserreich und Diktatur, München 1988; sowie immer noch: A. M. Koktanek, Oswald Spengler in seiner Zeit, München 1968; aktuelle Forschungsbilanz: A. Demandt u.a. (Hg.), Der Fall Spengler. Eine kritische Bilanz, Köln 1994. 11 Zu Ludwig (und seinem Streit mit der »zünftischen« Geschichtswissenschaft in Gestalt Wilhelm Mommsens) vgl. zuletzt: H.-J. Perrey, »Der Fall Emil Ludwig« – ein Bericht über eine historiographische Kontroverse der ausgehenden Weimarer Republik, in: GWU 43 (1992), S. l69–18l; C. Gradmann, Historische Belletristik. Populäre historische Biographien in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1993; S. Ullrich, Im Dienste der Republik von Weimar. Emil Ludwig als Historiker und Publizist, in: ZfG 49 (2001), S. 119–140; aufschlussreich für die Wirkung innerhalb und außerhalb Deutschlands: Emil Ludwig im Urteil der deutschen Presse, Berlin 1928 und Emil Ludwig im Urteil der Weltpresse, Berlin 1927. 12 Zu Kantorowicz insgesamt jetzt der Tagungsband: R. L. Benson u. J. Fried (Hg.), Ernst Kantorowicz, Stuttgart 1997; vgl. auch: E. Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George. Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk Kaiser Friedrich der Zweite, Wiesbaden 1982; H. Fuhrmann, Ernst H. Kantorowicz. Der gedeutete Geschichtsdeuter, in: ders., Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit, München 1996, S. 252–270; O. G. Oexle, Das Mittelalter als Waffe. Ernst H. Kantorowicz, ›Kaiser Friedrich der Zweite‹ in den politischen Kontroversen der Weimarer Republik, in: ders., Geschichtswissenschaft im Zeichen des Historismus, Göttingen 1996, S. 163–215; zum geschichtstheoretischen Ansatz der George-Schule jetzt: S. Schlak, Geschichtsschreibung im George-Kreis (Magisterarbeit HU Berlin 2001).

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Alle diese Autoren produzierten und propagierten höchst wirkmächtige Deutungsmuster für geschichtliche Zusammenhänge, wirkmächtig unter anderem deshalb, weil sie meist außerhalb des akademischen Milieus standen und sich durchweg gegen dessen Normen und Methoden wandten. Felix Dahn, angesehener und überaus produktiver Rechtshistoriker in Königsberg, koppelte sich als Romanautor bewusst von der historischen Wahrheit ab. Julius Langbehns haltlose Assoziationen über Rembrandt und die deutsche Kultur waren als explizite Herausforderung der sich gerade etablierenden akademischen Kunstgeschichte konzipiert. Chamberlain war Dilettant und lehnte die Geschichtswissenschaft ab. Spengler erging sich notorisch in Angriffen auf die akademischen Gelehrten. Die bewusste, literarisch höchst explosive Antihaltung gegen die wissenschaftlichen Grundforderungen von Empiriehaltigkeit und Beleg, Rationalität des Gedankenganges und Verzicht auf Spekulation steigerte sich gerade bei den bedeutenderen der genannten Autoren zu dem Anspruch, über die neue, eigentliche historische Methode zu verfügen, und zum Postulat einer neuen Synthese von Wissenschaft und Poesie. Diese Absicht schlug sich konsequenterweise nieder in narrativen Strategien, die auf eine grundsätzliche Ästhetisierung von Geschichtswahrnehmung und -darstellung hinauslaufen. Für die Geschichtsschreibung der GeorgeSchule trieb Ernst Kantorowicz die Polemik gegen die etablierte Geschichtswissenschaft auf dem Historikertag in Halle 1930 auf die Spitze. Er stellte »positivistische« Geschichtsforschung und historische Belletristik gemeinsam der wahren »Geschichtsschreibung gegenüber«, welche »Bilder gibt und erzählt« und »der Kunst dient«, die ihrerseits »immer einem Äußersten, einem Glauben, einem Lieben geweiht« zu sein hat.13 Allen diesen Äußerungen ist die Ablehnung der gängigen wissenschaftlichen Rationalitätsstandards gemeinsam. Gepriesen wurde dagegen einerseits die Intuition als das lebenseröffnende Erkenntnismittel und als Stimulation zum Handeln, zur Tat als Erkenntnisziel. Der Privatgelehrte und Germanist, George-Schüler, spätere Emigrant und Gesprächspartner Thomas Manns in Princeton, Erich von Kahler, forderte in seiner 1920 erschienenen Schrift »Der Beruf der Wissenschaft« die »vollendete Umkehrung aller vorigen Arbeit«, nämlich die »gesamtintuitive Schau des Ganzen« und anstelle des Wissenschaftlers als »Spezialisten« den Wissenschaftler als »Führer«, der nicht »fragwürdige Objektivität« vermitteln, sondern »das Leben« des Einzelnen und der »Gemeinschaft« »gestalten« solle.14 Er repräsentierte damit jenes »Klima allge-

13 E. H. Kantorowicz, Grenzen, Möglichkeiten und Aufgaben der Darstellung mittelalterlicher Geschichte. Rede auf dem Historikertag zu Halle an der Saale im Jahr 1930. Ediert von E. Grünewald, in: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 50 (1994), S. 104–125. 14 E. v. Kahler, Der Beruf der Wissenschaft, Berlin 1920; vgl. dazu Oexle, Das Mittelalter als Waffe (wie Anm. 12), S. 193f.

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mein reduzierter Objektivationsbereitschaft«,15 das mit dem Kulturpessimismus im Kaiserreich aufkam und seit 1914/18 immer beherrschender wurde. In dieses Klima hinein hat Max Weber 1918 seinen Vortrag über »Wissenschaft als Beruf« gehalten, der schroff und brillant und bis heute gültig auf den wissenschaftlichen Rationalitätsstandards beharrte und folgerichtig einen die gesamten Kulturwissenschaften erfassenden Wissenschaftsstreit auslöste.16 Damit ist schon gesagt, dass die Forderung nach einer den Lebensimpulsen unterworfenen, auf den Willen gestützten und auf die Tat zielenden Konzeption von Wissen und seiner Darstellung keineswegs nur von Dilettanten und Privatgelehrten verschiedenster Couleur erhoben wurde, sondern auch im akademischen Gelehrtentum zunehmend um sich griff. Spengler erfuhr – bei der üblichen Kritik am falschen Detail – doch höchste Anerkennung bei akademischen Zelebritäten wie etwa dem Althistoriker Eduard Meyer oder dem Pädagogen Eduard Spranger.17 Die George-Schule rekrutierte sich vorwiegend aus an der Universität lehrenden Philosophen, Philologen, Nationalökonomen und Historikern. Die Historismuskritik und Abkehr vom kontemplativen Erkenntnisideal wurden inneruniversitär mit enormer Zugkraft für den akademischen Nachwuchs gerade von jungen und in der Tat vielfach charismatischen Stars ihrer Wissenschaft wie Martin Heidegger und Hans Freyer oder in der Theologie Karl Barth, Paul Althaus und Friedrich Gogarten vorgetragen, wobei gerade das Theologen-Beispiel zeigt, dass sich mit einer zunächst sehr ähnlichen wissenschaftstheoretischen Frontlinie schließlich ganz unterschiedliche politische Optionen verbinden konnten.18 In vieler Hinsicht verflossen zudem die Grenzen zwischen Dilettantenwissen und Fachwissenschaft. Die Konjunktur der Vor- und Frühgeschichte seit dem späten 19. Jahrhundert wurde wesentlich von Laienforschern wie Ludwig Wilser und Willy Pastor getragen, und wenn sich etwa Rudolf Virchow mit Wilser auf eine scharfe Kontroverse einließ, so bedeutete das nur eine massive Aufwertung des obskuren Treibens.19 Höchst charakteristisch ist auch der Kurs der »Historischen Zeitschrift«. Sie besprach rassegeschichtliche Laienwerke von Gobineau und Chamberlain, Wilser und Albrecht Wirth zumeist scharf kritisch, aber doch nicht ohne Untertöne, dass hier ein bedenkenswerter Ansatz vorliege. Otto Hintze etwa unterzog 1903 in seinem Aufsatz »Rasse und Nationalität und ihre Bedeutung für die Geschichte« einerseits Gobineau und Chamberlain einer klaren Kritik, beklagte aber doch gleichzei15 Felken, Spengler (wie Anm. 10), S. 77. 16 Abgedruckt in: W. Hardtwig, Über das Studium der Geschichte, München 1990, S. 195– 227. 17 Felken, Spengler (wie Anm. 10), S. 115f., 69. 18 Vgl. K. Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich, Bd. 1: Vorgeschichte und Zeit der Illusionen 1918–1934, Frankfurt a.M. 1977, S. 46–64, 124–150, 212–238. 19 I. Wiwjorra, Die deutsche Vorgeschichtsforschung und ihr Verhältnis zu Nationalismus und Rassismus, in: Puschner u.a. (Hg.), Handbuch (wie Anm. 5), S. 194, 196.

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tig, dass der deutschen Nationalität im Gegensatz zur englischen und französischen der »feste, gleichmäßige Rassecharakter« fehle, bei »einem Material von Menschen, so edel wie nur irgendeine Nation der Welt«.20 Nun genügt es nicht, diese wissenschafts- und ideologiegeschichtlichen Befunde einfach nur zu konstatieren, sie verlangen nach Erklärung. Ein beträchtliches Stück hilft zunächst die Sozialgeschichte von Wissen und Bildung weiter. Seit Beginn der siebziger Jahre stieg überall in Europa die Zahl der Druckerzeugnisse, in Frankreich, Italien und Deutschland von 1875 bis 1900 auf das 1,5 bis 1,8fache. Zugleich traten neue Anwärter auf die intellektuellen Berufe auf. Die Zahl von rund 5000 Berufsschriftstellern und Journalisten im Kaiserreich stieg zwischen 1882 und 1892 um mehr als 50% an.21 Es sind zugleich Jahre einer erheblichen Überproduktion von Akademikern gerade in den philosophischen Fakultäten. Wer innerhalb der herkömmlichen bildungsbürgerlichen Arbeitsfelder in Gymnasium, Universität und Verwaltung nicht unterkam, drängte auf den freien publizistischen Markt. Dieser expandierte nicht nur dynamisch, er spaltete sich auch pluralistisch auf – so könnte man positiv formulieren, was von den meisten Zeitgenossen eher negativ als Relativismus und Widerstreit der Werte, als Desintegration eines stabilen Normengefüges, als Orientierungsverlust erfahren wurde. Vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis etwa um 1933 traten die »pluralisierten Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte weit auseinander, eine ideale Konstellation für intellektuelles Wirken«.22 Es entstand der »Kultur- und Gesellschaftskritiker neuen Typs« jenseits der traditionell liberalen Gelehrtenpolitik.23 Vor allem gewannen die Literaten enorm an Markteinfluss und Deutungsmacht, zu denen man etwa Langbehn und Moeller van den Bruck, Heinrich Mann, Thomas Mann mit den »Betrachtungen eines Unpolitischen«, Chamberlain, den Ernst Jünger der zwanziger Jahre und auch Oswald Spengler zählen kann. Es würde zu weit führen, sich hier auf eine Erörterung des Intellektuellenbegriffs einzulassen. Entscheidend ist: Dem noch primär ständisch vergesellschafteten traditionellen Gelehrten tritt der neue Intellektuelle mit seiner spezifischen Ausstattung gegenüber: hoch sensibilisierter Modernitätserfahrung und Marktbewusstsein. Die verschärfte Konkurrenz um Deutungsmacht beeinflusste auch die Stra20 W. Weber, Völkische Tendenzen in der Geschichtswissenschaft, in: Puschner u.a. (Hrsg.), Handbuch (wie Anm. 5), S. 834–858, Zitat S. 852. 21 C. Charle, Vordenker der Moderne. Die Intellektuellen im 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1997, S. 108ff; Literaturüberblick in der Sammelbesprechung von G. Hübinger, Die europäischen Intellektuellen 1890–1930, in: NPL 39 (1994), S. 34–54; einführend: G. Hübinger u. W. J. Mommsen (Hg.), Intellektuelle im Deutschen Kaiserreich, Frankfurt a.M. 1993. 22 T. Hertfelder, Kritik und Mandat, Einführung in dem Sammelband von G. Hübinger u. T. Hertfelder (Hg.), Kritik und Mandat. Intellektuelle in der Deutschen Politik, Stuttgart 2000, S. 24. 23 G. Hübinger, Die Intellektuellen im Wilhelminischen Deutschland, in: ders. u. W. J. Mommsen (Hg.), Intellektuelle (wie Anm. 21), S. 198.

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tegien akademischer Gelehrter, vor allem jugendlicher inneruniversitärer Kritiker des herkömmlichen Wissenschaftsbetriebs. Entscheidend für die Formierung des völkischen Lagers dürfte aber doch der freie Literat und Intellektuelle mit oftmals sehr gewundenem, vom bürgerlichen Scheitern bedrohten oder heimgesuchten Lebenslauf, mit fragmatischer, häufig abgebrochener Ausbildung, Berufswechseln und immer neuen publizistischen Anläufen gewesen sein. Hugo von Hoffmannsthal hat in seinem Münchner Vortrag von 1927 »Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation« – einem Haupttext der »Konservativen Revolution« – zum einen die geistige Krise seiner Gegenwart, dann aber auch die Psychologie und Lebensführungsart derer beschrieben, von denen er sich ihre Überwindung erhoffte: Überall sei ein »Suchen und Treiben und Drängen ... Es ist da als ein Schwindel unter unseren Füßen, es bringt das Gefährliche und Abwegige, mit Überraschungen und Zweifeln Schwangere in jede Unterhaltung, es durchsetzt die Atmosphäre mit der Ahnung, dass beständig alles möglich ist – mit diesem Knistern vom Zerfall ganzer Welten, diesem hahlen Heranwehen eines ewig Morgigen ...«. In der Regel seien diese Suchenden »Abseitige, Ungekannte von Geistesnot sich selbst berufen Habende(n) –... die wahre und einzig mögliche deutsche Akademie«.24 Hoffmannsthal hat bei seiner Beschreibung des jenseits aller Fachbeschränkungen – aber auch jenseits aller gedanklicher Disziplin – stehenden Dichter-Denkers mit umfassendem Weltdeutungsanspruch wohl mehr den Typ der geistversessenen ›Stillen im Lande‹ im Auge gehabt. Mir scheint aber, dass er auch dem Lebensgefühl und der Selbststilisierung der machtbesessenen ›Lauten im Lande‹, der selbstberufenen Geschichtsdeuter von Langbehn über Moeller bis zu Chamberlain, Woltmann, Günther, Spengler und Jünger – aber auch von Gestalten wie Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und selbst Adolf Hitler vor 1933 nahe kam. Dem entspricht dann auch – natürlich mit erheblichen Unterschieden im einzelnen – der literarische Habitus und die Stillage dieser Artefakte, die Ernst Troeltsch in seiner Spengler-Besprechung knapp und zutreffend so beschreibt: »Der grundsätzliche Größenwahn, das majestätische Einstoßen offener Türen, die feierliche Ankündigung von Carmina non prius audita, das befehlsmäßige Pronunciamento von Paradoxien und kecken Einfällen gehört offenbar zu den Stileigentümlichkelten der heutigen deutschen Literatur...«25 Diese rhetorischen Strategien verweisen auf die Marktkämpfe um Deutungsmacht, aber auch auf die Inhalte und Strukturen des Geschichtsdenkens, die mit ihnen vermittelt werden. Diesen möchte ich mich jetzt zuwenden und 24 H. v. Hoffmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. Rede, gehalten im Auditorium Maximum der Universität München am 10. Januar 1927, in: ders., Gesammelte Werke in zehn Einzelbänden, Reden und Aufsätze III, Frankfurt a.M. 1980, S. 32, 35. 25 E. Troeltsch, Rezension zu Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes (1), in: ders., Gesammelte Schriften Bd. IV, Tübingen 1925, S. 678.

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ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit einige, die mir besonders wichtig erscheinen, herausgreifen und systematisieren. Auch hierbei kann es zunächst nur um eine Sondierung und Zusammenfassung von im einzelnen vielfach sehr Heterogenem gehen. Auffällig ist erstens im Vergleich zur klassischen historistischen Geschichtsschreibung die Tendenz zu dem, was man der Deutlichkeit halber, wenn auch gewiss etwas anachronistisch, »Globalisierung« nennen könnte. Spenglers »Untergang des Abendlandes« ist nur eine besonders plakative und dabei raffinierte Benennung von Dimensionen, wie sie jetzt bevorzugt werden. Schon Friedrich Ratzel hatte den staatlichen Zerfall Deutschlands im Mittelalter beklagt und damit die Theorie von der »politischen Raumgröße« verbunden, der zufolge die räumliche Größe des Staates Voraussetzung höherer Kultur und der politische Großraum eigentlich zukunftsfähig sei. Albrecht Haushofer konzipierte die von Großräumen her gedachte Geopolitik als eine Art »Grundbuch des Planeten«, nach dessen Maßgabe die Welt neu und endlich auch gerecht zu verteilen sei.26 In diesen Dimensionen bewegt sich dann auch die »völkerrechtliche Großraumordnung« Carl Schmitts 1934. Auch der Germanomanie der Epoche wohnte von Anfang an der Drang zur großen Dimension inne. Der Germane tritt nicht einfach in die Geschichte, sondern selbstverständlich in die »Weltgeschichte«.27 Alles Rassengeschichtliche sprengt per se die vergleichsweise kleinen Räume der herkömmlichen Staaten-, Völkeroder Ländergeschichte. In »Mein Kampf« heißt es: »Durch fast zwei Tausend Jahre war die Interessenvertretung unseres Volkes, ... Weltgeschichte ...« und: »Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein.«28 Die Globalisierung der Perspektive geht – zweitens – einher mit einer eminenten Aufwertung des Erklärungsanspruchs von »Raum«. Politische Geographie und stärker noch die Geopolitik nach 1918 gingen von der Voraussetzung aus, dass die Spezifik von Kulturen wesentlich aus räumlichen Gegebenheiten abzuleiten sei. Das Modell bedeutete, dass lange Kontinuitäten – so lange, dass man sie schließlich mit Naturkonstanten verwechseln konnte – die Bedeutung von kulturellem, sozialem, ökonomischem oder politischem Wandel deutlich überwogen und das historische Geschehen sich tendenziell in einer Art biologisch-naturgesetzlichem Determinismus auflöste.29 Da die solchermaßen 26 Vgl. dazu immer noch: K.-G. Faber, Zur Vorgeschichte der Geopolitik. Staat, Nation und Lebensraum im Denken deutscher Geographen vor 1914, in: H. Dollinger u.a. (Hg.), Weltpolitik, Europagedanke, Regionalismus, FS Heinz Gollwitzer, Münster 1982, S. 389–406; einführend weiterhin: P. Schöller, Die Rolle Karl Haushofers für Entwicklung und Ideologie nationalsozialistischer Geopolitik, in: Erdkunde 36 (1982), S. 160–167. 27 H. S. Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, I und II, München 194025, zit. nach Becker, Sozialdarwinismus (wie Anm. 4), S. 183. 28 A. Hitler, Mein Kampf, 563./567. Aufl., München 1941, S. 729. 29 Wichtige Beiträge zur Geopolitik abgedruckt in: J. Matznetter, Politische Geographie, Darmstadt 1977, S. 29–248.

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konstruierten Großräume die aktuellen Grenzen prinzipiell überschritten, dementierte die Berufung auf den Raum die in Versailles geschaffene europäische Nachkriegsordnung. Der Einfluss geopolitischer Kategorien reichte in der Weimarer Republik tief in die akademische Geschichtswissenschaft hinein. Erich Marcks, Fritz Hartung, Hermann Oncken, Gerhard Ritter, Hans Rothfels variierten das Thema der gefährdeten Mittellage Deutschlands in Europa immer wieder, Hermann Oncken und Arnold Oskar Meyer nahmen ausdrücklich Hans Grimms Formel vom »Volk ohne Raum« auf, wobei nach der Formulierung von Martin Spahn die Deutschen nach mehr Land in Mitteleuropa verlangten und weniger nach Wiedergewinnung der Kolonien.30 Als drittes fällt die durchgängige Nationalisierung des Denkens ins Auge. Das ist keine neue Erkenntnis, aber sie muss doch noch einmal unterstrichen werden, weil sie ein beherrschendes Motiv sowohl der außerakademischen Geschichtsbildproduktion wie des akademischen Späthistorismus ist. Das Denken von Paul de Lagarde und Julius Langbehn kreiste um das »Wesen der Deutschen«31 und um die Frage, wie die metaphysische Substanz der Nation endlich ihren angemessenen Ausdruck auch im Denken und Empfinden der Deutschen finden könne. Gustav Kosinna definierte 1911 die deutsche Vorgeschichte als eine vorrangig deutsche Wissenschaft und formulierte damit das Konzept der gesamten deutschen Vorgeschichtsforschung bis 1945.32 Dass unter dem Eindruck von Weltkrieg und Niederlage Nationalstaat und deutscher Nationalcharakter endgültig ins Zentrum des Interesses rückten, muss nicht weiter ausgeführt werden.33 Wilhelm Mommsen formulierte in seiner Ludwig-Kritik, die »historische Wissenschaft« sei sich »heute ohne Zweifel bewußt, daß sie mehr als eine Fachwissenschaft sein muß und eine nationale Aufgabe zu erfüllen hat ...«.34 Im übrigen steht die »Globalisierung« keineswegs im Widerspruch zur Nationalisierung, vielmehr erhöht sie die eigene Nation zu menschheitlicher Bedeutung. Mit der Nationalisierung verbindet sich die »Militarisierung und Heroisierung« des Geschichtsdenkens. Sie hat viele Facetten, gemeinsam ist ihnen, dass der Kampf, oder zugespitzter, der Kampf ums Dasein, tendenziell zum eigentlichen Movens der Geschichte erklärt und als solches positiv bewertet 30 B. Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980, S. 26–30; ders., Nach der Niederlage. Zeitgeschichtliche Fragen und apologetische Tendenzen in der Historiographie der Weimarer Zeit, in: P. Schöttler (Hg.), Geschichtswissenschaft als Legitimationswissenschaft 1918–1948, Frankfurt a.M. 1997, S. 31–51. 31 Vgl. Paul, Lagarde (wie Anm. 6), S. 59. 32 Vgl. Ingo Wiwjorra, Die deutsche Vorgeschichtsforschung, in: Puschner u.a. (Hg.), Handbuch (wie Anm. 5), S. 198. 33 Faulenbach, Ideologie (wie Anm. 30) passim. 34 W. Mommsen, Legitime und illegitime Geschichtsschreibung. Eine Auseinandersetzung mit Emil Ludwig, München 1930, S. 20f.

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wurde. Dahn zelebrierte in seinem »Kampf um Rom« einen tragischen Heroismus, dem es nicht um den Sieg, sondern um den Kampf an sich ging. Dem entspricht das ebenso finstere wie frei erfundene Finale des Romans.35 Die Rassengeschichte ging prinzipiell von der Notwendigkeit des erbarmungslosen Kampfes der Arier gegen die Juden aus.36 Jahre vor 1914 nahm eine erstaunliche Vielzahl von Autoren den Krieg in der Phantasie vorweg und bis hinein in die Entscheidungen des Reichskanzlers Bethmann-Hollweg kann man verfolgen, wie die Antizipation des großen Krieges in einem auf die Unausweichlichkeit des Kampfes ausgelegten Geschichtsbild zum Kriegsausbruch beitrug.37 Auch die akademische Geschichtswissenschaft kam in aller Regel nach 1918 nicht über die Vorstellung hinweg, dass der Krieg unabänderlich und unerbittlich zum Schicksal der Völker gehöre.38 Kampf und Krieg als beherrschendes Lebensprinzip – das galt im übrigen nicht nur für die Politik im engeren Sinn, sondern auch für andere Lebensbereiche. Eine genauere Untersuchung der Vorstellungswelt der deutschen Gelehrtenelite in der Preußischen Akademie der Wissenschaften in den zwanziger Jahren hat gezeigt, dass sie für die deutsche Wissenschaft vor 1914 »schlechthin die Weltführung« in Anspruch nahm und nunmehr als Teil einer Machtpolitik verstand, die nicht mit militärischen, aber eben mit »geistigen Waffen« den »Kampf« gegen die Siegermächte zu führen hatte.39 Die Beschwörung des Heroischen verweist viertens auf ein europaweites, aber wie es scheint in Deutschland besonders intensives Gefühl, am Ende einer Epoche zu stehen, ja einem Untergang nahe zu sein. Thomas Mann schildert in seinen »Buddenbrooks« den Niedergang einer bürgerlichen Familie in vier Generationen, in denen die wachsende Macht sowohl der Lust an der eigenen Subjektivität wie des reflektierenden Verstandes und seiner Erzeugnisse Kunst, Religion, Philosophie, die ursprüngliche naive Vitalität untergraben. Schon in den 1850er und 1860er Jahren hatte Richard Wagner im »Ring« den Aufbau einer bürgerlichen Welt der Verträge, des planvollen Handelns, einer rational gemeinten Politik, wie sie in der Herrschaft Wotans personifiziert ist, einer radikalen Kritik unterworfen und die Geschichte einer Welt erzählt, die durch Politik ruiniert wird. Das Grauen vor dem Untergang mischt sich freilich mit der Lust am Untergang, in der letzten Szene der Göt35 Vgl. Frech, Felix Dahn (wie Anm. 5), S. 691ff. 36 H. S. Chamberlain, Mensch und Gott: Betrachtungen über Religion und Christentum, 1921, ungekürzte Volksausgabe, München 1933, S. 29. Vgl. auch Becker, Sozialdarwinismus (wie Anm. 4), S. 186. 37 Grundlegend dazu immer noch: A. Hillgruber, Deutsche Großmacht- und Weltpolitik im 19. und 20. Jahrhundert, Düsseldorf 1979, S. 91–107. 38 Faulenbach, Ideologie (wie Anm. 30), S. 18ff. 39 Vgl. W. Hardtwig, Die Preußische Akademie der Wissenschaften in der Weimarer Republik, in: W. Fischer u.a. (Hg.), Die Preußische Akademie der Wissenschaften in Berlin 1914–1945, Berlin 2000, S. 25–52, hier S. 40ff.

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terdämmerung starren der Regieanweisung Wagners zufolge die Menschen zugleich entsetzt und mit höchster Ergriffenheit in den wachsenden Feuerschein.40 Auf der politischen Ebene ergänzten sich Endzeiterwartungen in der sozialistischen Arbeiterbewegung und im Bürgertum: Hier die präzisierende Verzeitlichung der Hoffnung auf die sozialistische Weltrevolution in den siebziger und achtziger Jahren und dort die tiefgreifende Furcht vor eben diesem Ereignis. »Viele Zeitgenossen ... leben in der Überzeugung, daß wir vor einer unentfliehbaren Katastrophe stehen, und ohne Sorge ist niemand« – schrieb der Hofprediger Adolf Stoecker 1891.41 Naturwissenschaftliche Hypothesen führten etwa zur Vorstellung eines fortschreitenden Erkaltens der Himmelskörper, also zu Theorien von kosmischen Alterungsprozessen.42 Weitreichende Niedergangsvorstellungen erfassten freilich nicht nur die Ebene literarischer Fiktion, popularisierter und trivialisierter naturwissenschaftlicher Theoriebildung und pastoraler Visionen, sondern sie stehen auch hinter den Anfängen der großen soziologischen Theorie. Denn ob sie nun, wie bei Ferdinand Tönnies, die Transformation des gesellschaftlichen Bauprinzips von der »Gemeinschaft« zur »Gesellschaft« beschrieb, wie bei Simmel das Individuum in der rationalen Zweckhaftigkeit der Gesellschaft untergehen sah – die »Tragödie der Kultur« –, oder ob sie wie bei Weber den okzidentalen Rationalisierungsprozess als »Entzauberung« der Welt darstellte, immer ging es um die pathologische Entwicklung von Gesellschaften in der Moderne.43 Die Fortschrittsgewissheit des 19. Jahrhunderts war an ihr Ende gekommen, jedenfalls im Bürgertum. Die Krise des Fortschrittsgedankens führte fünftens in eine tiefgreifende Entmächtigung des historistischen Entwicklungsgedankens und die Orientierung an neuen Modellen von geschichtlicher Zeit. Die Krise des historistischen Zeitparadigmas ist für die Deutung von Gegenwart und Zukunft und ihres Verhältnisses zur Vergangenheit von größter Bedeutung und hat eine Reihe von Aspekten, die hier wenigstens angeschnitten werden sollen. Nicht eingehen kann ich auf die große Literatur der Epoche, die ansatzweise schon vor 1914, dann aber vor allem in der Weimarer Republik den Ausstieg aus dem historistischen Zeitmodell zum Thema erhob – so etwa Thomas Mann, der im »Zauberberg« die Flucht aus der bürgerlichen Zeitverwaltung und im Jo40 Vgl. dazu die Beiträge von R. Speth, T. Genett, sowie E. Böhlke und K. Mayer, in: K. Fischer (Hg.), Neustart des Weltlaufs? Fiktion und Faszination der Zeitenwende, Frankfurt a.M. 1999; orientierend zur Bedeutung des Degenerationstheorems für die Biowissenschaften: P. Weingart u.a., Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a.M. 19962, S. 27–65. 41 Zit. nach: L. Hölscher, Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich 1871–1914, Stuttgart 1989, S. 280. 42 L. Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M. 1999, S. 144f. 43 Vgl. T. Genett, Das Ende der Neuzeit. Ludwig Gumplowicz und die Urzeitklänge auf dem Boulevard der Zivilisation. in: Fischer (Hg.), Neustart (wie Anm. 40), S. 117.

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sephsroman seit den späten zwanziger Jahren die Übergänge von mythischer in geschichtliche Zeit darstellte, oder Alfred Döblin, der versuchte, die Erfahrung der Fragmentierung der Realität in der Moderne auch als Fragmentierung der Zeit zu fassen, oder Gottfried Benn, der die Gegenwart und die gesamte historische Vergangenheit entwertete zu Gunsten archaischer Bewusstseinszustände, deren Beschwörung jenseits aller historischen Prozesse er zur eigentlichen Aufgabe der Kunst erklärte.44 Aber auch die nicht im Erbe des Historismus verharrenden Geschichtsdeuter der Epoche lösten die Vorstellung einer mehr oder weniger kontinuierlichen, durchgängigen Steigerung der Kultur mit unterschiedlicher Radikalität auf. Karl Lamprecht nahm an, dass die »Kulturzeitalter« von der Urzeit über das Mittelalter bis zur Neuzeit stufenweise aufeinander folgten, doch gab es auch in diesen Stufen Modellinkonsistenzen. Oswald Spengler entwickelte eine Zyklentheorie auf der Grundlage der inneren Entwicklung der antiken Kultur und behauptete, dass die von ihm mit unterschiedlicher Intensität untersuchten acht Hochkulturen von »morphologischer Gleichzeitigkeit« geprägt seien.45 Auf dem Wege der Analogisierung von Gleichzeitigkeiten der unterschiedlichen Kulturen ließ sich dann deren jeweiliger Entwicklungsstand messen. Die Vertreter der Konservativen Revolution waren sich bei allen Unterschieden bei der Konzeptionalisierung von Zeit darin einig, dass es keinen linearen und ansteigenden Prozess hin zu höheren und besseren Kulturzuständen gebe, Geschichte verlief nach ihrer Meinung kreisförmig oder in Pendelbewegungen und war vor allem geprägt von der Konstanz der anthropologischen Prämissen und der Geltung oder ewigen Wiederkehr der elementaren Wertorientierungen der Menschen jenseits eines oberflächlichen geschichtlichen Wandels.46 Die akademische Geschichtswissenschaft verhielt sich überwiegend kritisch zu diesem Ausstieg aus einem linearen Zeitmodell und der Vorstellung einer verbindlichen geschichtlichen Kontinuität, die man nicht einfach voluntaristisch austauschen könne. Aber dort wo sie sich vor allem nach der Katastrophe von 1918 zu allgemeinen Sinndeutungen der »Deutschen Geschichte« berufen fühlte, verließ sie dann doch gern die konkreten Begründungszu44 Vgl. u.a. I. Kann, Schuld und Zeit. Literarische Handlung in theologischer Sicht. Thomas Mann – Robert Musil – Peter Handke, Paderborn 1972, S. 35–102; S. v. Rohr, Time and the Self in Thomas Mann: »Joseph und seine Brüder«, »Der Zauberberg«, »Doktor Faustus«, Ann Arbor 1987; B. Matzkowski, Berlin Alexanderplatz, Stollfeld 20002, S. 43ff.; D. Wellershoff, Gottfried Benn. Phänotyp dieser Stunde. Eine Studie über den Problemgehalt seines Werkes, Stuttgart 1958, S. 94–160. 45 K. H. Metz, Grundformen historiographischen Denkens. Wissenschaftsgeschichte als Methodologie. Dargestellt an Ranke, Treitschke und Lamprecht, München 1979, S. 565ff., 611ff.; Felken, Spengler (wie Anm. 10), S. 44. 46 Dazu trotz aller sonstiger Einwände: A. Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, Darmstadt 19944, S. 78ff.; zur Kritik des Begriffs v. a.: S. Breuer, Die ›Konservative Revolution‹ – Kritik eines Mythos, in: PVS 31 (1990), S. 585–607.

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sammenhänge und rekurrierte auf das Ewige. Hermann Oncken beschwor 1919 in einer »Gedächtnisrede auf die Gefallenen des Großen Krieges« den »ewigen Rhythmus des Auf und Ab, der höchsten Höhen und der tiefsten Tiefen«, der die deutsche Geschichte durchziehe. Gerhard Ritter versuchte in seiner Hamburger Antrittsvorlesung 1924 wenigstens, den »Sinn der deutschen Geschichte« mit einer Art unveränderlichen Gesetzes ins Positive zu wenden, indem er von der »ewig unvollendete[n], aber ewig strebende[n], ewig jugendliche[n] Nation« sprach, der Nation, die niemals aufhöre zu werden.47 Für Kantorowicz war Kaiser Friedrich II. der »Ewig-Junge«,48 und im übrigen wuchs die Neigung, in Jahrtausendkategorien zu denken. Mittelalterhistoriker sprachen gern schlagwortartig vom »Jahrtausend der deutschen Ostkolonisation«. Dieser Zeit-Reduktionismus wurde dann freilich noch deutlich überboten durch NS-Autoren wie Kurt Eggers, der in seinem »Die Geburt des Jahrtausends« das vergangene Jahrtausend als ein Jahrtausend der »Erwartung und des Traums« dem jetzigen Jahrtausend als dem Jahrtausend des »Willens und der Tat« gegenüberstellte.49 Das Aufbrechen des geschichtlichen Entwicklungskontinuums zeigt sich auch am Umgang mit zwei Epochen der Menschheitsgeschichte, die nun entscheidend auf- bzw. umgewertet wurden, mit der Ur- und Frühgeschichte und dem Mittelalter. Die Konservativen Jacob Burckhardt und Leopold Ranke und der liberale Fortschrittsfreund Johann Gustav Droysen waren sich im Zeichen des Historismus noch darüber einig gewesen, über die »Anfänge« nicht handeln zu wollen und zu können, weil das reine Spekulation sei. Das späte 19. Jahrhundert sah dagegen eine außerordentliche Aufwertung der Vorgeschichtsforschung wie des öffentlichen Interesses daran, wobei in Deutschland zwei Traditionsströme zusammenflossen: Die von der Germanistik ausgehende nationalromantische »vaterländische Altertumskunde« und die neue prähistorische Anthropologie, die das Geschichtsbewusstsein durch eine Reihe anthropologischer und prähistorischer Funde revolutionierte, aber stark rasseideologisch orientiert war.50 Wichtiger als die nationalpolitische Naivität 47 Zit. nach Faulenbach, Ideologie (wie Anm. 30), S. 38. 48 Kantorowicz, Kaiser-Friedrich, zit. nach Oexle, Das Mittelalter als Waffe (wie Anm. 12), S. 210. 49 Zit. nach Hölscher, Entdeckung der Zukunft (wie Anm. 42), S. 214. 50 Vgl. E. Hieronimus, Der Traum von den Urkulturen. Vorgeschichte als Sinngebung der Gegenwart, München 1975; wichtige Studien zur Krise des Historismus: K. Nowak, Die ›antihistoristische Revolution‹. Symptome und Folgen der Krise historischer Weltorientierung nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland, in: Troeltsch-Studien, Bd. 4: Umstrittene Moderne. Die Zukunft der Neuzeit im Urteil der Epoche Ernst Troeltschs, Gütersloh 1987, S. 133–171; mehrere Beiträge in: W. Küttler u.a. (Hg.), Geschichtsdiskurs, Bd. 4: Krisenbewusstsein, Katastrophenerfahrungen und Innovationen 1880–1945, v.a.: L. Raphael, Die »Neue Geschichte« – Umbrüche und neue Wege der Geschichtsschreibung in internationaler Perspektive; E. Schulin, Weltkriegserfahrung und Historikerreaktion; F. W. Graf, Geschichte durch Übergeschichte überwinden. Antihistoristisches Geschichtsdenken in der protestantischen Theologie der

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solcher Emphase auf der Vorgeschichte ist dabei das prinzipielle Abrücken vom Modell der Zivilisierungsgeschichte und dass sich die Bewertung von Anfang und Ende tendenziell umkehrte: Die reinen Sitten, die einfachen und klaren Gefühle, die archaischen Bewusstseinszustände der Vorgeschichte dienten der Denunziation der zivilisatorischen Errungenschaften und der kulturellen, ökonomischen und politischen Differenzierungsprozesse der Moderne. Analoges gilt, wie Otto Gerhard Oexle in mehreren Studien gezeigt hat, für den Umgang mit dem Mittelalter. Seit den späten 1870er Jahren zeichnet sich mit Lagarde und dann Langbehn und überaus folgenreich mit Ferdinand Tönnies ein neuer Mediävalismus ab, dem es nicht, wie der klassischen historistischen Geschichtsschreibung, um die Rekonstruktion einer im Kontinuum der Geschichte unverzichtbaren Epoche der Vergangenheit ging, auch nicht, wie in der Historienmalerei bis in die 1880er Jahre, um die festliche Steigerung des eigenen Daseins durch das Zitieren von Szenen aus einer vermeintlich glanzvollen deutschen Vergangenheit, sondern um ein »imaginiertes Mittelalter«, das »in seinem Verhältnis zur Moderne reflektiert wurde, um zur Widerlegung der Moderne eingesetzt zu werden«.51 Hier diente das Mittelalter als Waffe, geschärft zum Konzept eines künftigen »neuen Mittelalters«. Der anti-moderne Mediävalismus lenkte auch den Politisierungsprozess Stefan Georges und kulminierte in der George-Schule mit Kantorowicz’s Friedrich II. Das Jahr 1933 brachte dann eine Häufung von Äußerungen zum »neuen Mittelalter« von wissenschaftlichen Zelebritäten wie dem Altphilologen Werner Jaeger, den Germanisten Ernst Benz und Julius Petersen, dem Theologen Emanuel Hirsch und vielen anderen.52 Die gemeinsame Grundlage all dieser Konstrukte ist die Entzeitlichung der Geschichte. Das Vergangene ist nicht wirklich vergangen und potentiell immer da, und die Gegenwart war potentiell immer schon vorhanden. Die Entzeitlichung schlägt sich sechstens nieder in der Neigung der Epoche zur Mythisierung von Vergangenheit. Thomas Mann hat 1934 das »Interesse für den Mythus« als »eine Passion unserer Zeit« beschrieben und später für seinen Josephsroman in Anspruch genommen, dass der Mythos »in diesem

1920er Jahre, S. 51–89; S. 165–188; S. 217–246; F. W. Graf, Die »antihistoristische Revolution« in der protestantischen Theologie der Zwanziger Jahre, in: J. Rohls u. G. Wenzel (Hg.), Vernunft des Glaubens. Wissenschaftliche Theologie u. kirchliche Lehre. FS zum 60. Geburtstag von Wolfhart Pannenberg, Göttingen 1988, S. 377–405; W. Müller-Seidel, Krisenjahre des Humanismus. Wissenschaft und Literatur in der Weimarer Republik, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen (1998), S. 73–134. 51 Vgl. dazu O. G. Oexle, Die Moderne und ihr Mittelalter. Eine folgenreiche Problemgeschichte, in: P. Segl (Hg.), Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt, Sigmaringen 1997, S. 307–384, hier S. 335. 52 Ebd., S. 348ff.

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Buch dem Faschismus aus den Händen genommen und bis in die letzten Winkel der Sprache hinein humanisiert« worden sei.53 Hier klingt der Gegensatz an und wird zugleich außer Kraft gesetzt, in den die Mythenforschung ihr Objekt lange gesetzt hat: die Gegenüberstellung von Mythos und Vernunft. Die höchst intensive Mythenforschung der letzten zwei Jahrzehnte geht demgegenüber von einer Mythenbedürftigkeit auch moderner und aufgeklärter Gesellschaften aus und sieht in einer Wiederverzauberung der Welt durch Mythen nicht per se schon ein Krisensymptom. Mythen sind auch keineswegs ein Privileg der politischen Rechten, linke Mythen sind nur für unseren Zeitraum bislang kaum untersucht. Gleichwohl sollen sie hier als Krisensymptom gedeutet werden, weil die konkreten Inhalte und die Denkstrukturen der im deutschen Bürgertum verbreiteten Mythen unseres Zeitraumes sich explizit gegen die historistische Grundüberzeugung wenden, dass die Geschichte im Ganzen, ungeachtet ihrer Brüche und Widersprüche, ihres Charakters als kontingentes Geschehen, letztlich doch als umfassendes Zivilisierungs- und Humanisierungprojekt der Menschheit zu verstehen sei. Mythen werden heute als Formen elementarer Erzählung verstanden, die von den Ursprüngen, dem Sinn und geschichtlichen Zielen von Gemeinschaften handeln.54 Sie berichten über Ereignisse und Personen, die für eine Gemeinschaft konstitutiv sind. In gewissem Umfang sind sie durchaus in der Lage, Erfahrungswissen über die jüngere Vergangenheit und die Gegenwart zu integrieren. Ihre Faszination beziehen sie ganz wesentlich daraus, dass sie den Rezipienten aus der Kontingenzerfahrung der Geschichtszeit ein Stück weit herausheben und ihm Vergangenes über den Abstand inzwischen verflossener Zeit hinweg nahebringen. Damit stiften sie Sinn und verleihen sie Legitimität. Sie setzen klare Prioritäten darüber, welche Personen und Ereignisse für eine gegenwärtige Ordnung wichtig sind. Das geht nur, indem sie tatsächliche Anfänge verunklären oder vernachlässigen, die Gegenwart an bestimmte historische Vorverläufe ansippen, an andere aber nicht und dabei den »Schrecken der Kontingenz« wegerzählen.55 Alle diese Eigenschaften und Funktionen machen es plausibel, dass mit dem Beginn der Moderne um 1800 systematische Reflexionen und erste, zum Teil 53 T. Mann, Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. IV/V, Frankfurt a.M. 1974, S. 658. 54 J. Link u. W. Wülfing (Hg.), Nationale Mythen und Symbole in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1991, darin zusammenfassend die Einleitung S. 7–15; H. Münkler u. R. Zimmering, Politische Mythen der DDR, in: Humboldt-Spektrum, Bd. 3 (1996), S. 36–42; G. P. Marchal, Mythos im 20. Jahrhundert. Der Wille zum Mythos oder die Versuchung des »neuen Mythos« in einer säkularisierten Welt, in: F. Graf (Hg.), Mythos in mythenlosen Gesellschaften. Das Paradigma Roms, Stuttgart 1993, S. 204–229. 55 H. Münkler, Politische Mythen und nationale Identität. Vorüberlegungen zu einer Theorie politischer Mythen, in: W. Frindte u. H. Pätzold (Hg.), Mythen der Deutschen. Deutsche Befindlichkeiten zwischen Geschichten und Geschichte, Opladen 1994, S. 21–27.

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überaus erfolgreiche, Versuche einsetzen, eine »Neue Mythologie« zu schaffen.56 Der wachsenden Germanomanie im 19. Jahrhundert entsprach die Karriere des Arminius-Mythos. Der Barbarossa-Mythos, nach langem Anlauf im 19. Jahrhundert im Kyffhäuser-Denkmal 1896 gewaltig monumentalisiert, verknüpft den »barba blanca« Wilhelm I. mit Kaiser »Barbarossa« und also das neue Kaiserreich mit der glanzvollen Vergangenheit des Stauferreichs im 12. Jahrhundert.57 Im Gefolge Richard Wagners remythisierten völkische Ideologen um 1900 die überlieferten Stoffe der heidnischen Mythologie, propagierten in Baldur-Dramen einen germanischen Messias oder gründeten germanische Glaubensgemeinschaften.58 Die George-Schule mythisierte systematisch Nietzsche – und natürlich auch George –; am aufschlussreichsten dafür ist Ernst Bertrams 1927 in 7. Auflage erschienenes Buch »Nietzsche. Versuch einer Mythologie«, dessen Ziel Bertram selbst so formulierte: »Alles Geschehene will zum Bild, alles Lebendige zur Legende, alle Wirklichkeit zum Mythos«.59 Wissenschaft und Mythos sind letztlich unaufhebbare Gegensätze – was nicht heißt, dass sich nicht auch herausragende deutsche Gelehrte den Verlockungen der Mythisierung ergeben hätten. Die schon angeführte Untersuchung über die Preußische Akademie der Wissenschaften in der Weimarer Republik hat gezeigt, dass sich die Deutungselite der Berliner Professoren alljährlich wieder am Friedrichstag einer aus heutiger Sicht unbegreiflichen Mythisierung Friedrichs II. von Preußen ergab.60 Die Mythisierung der Vergangenheit ist siebtens zumindest teilweise integraler Bestandteil eines noch weiterreichenden Deutungsmusters, der Sakralisierung der Vergangenheit. Gerade der Bismarckmythos, so wie er seit Anfängen in den 1870er Jahren, dann vor allem seit den 1890er Jahren kultiviert wurde, zeigt, wie sehr das Charisma eines modernen Berufspolitikers mit religiösen Heilserwartungen kontaminiert werden konnte. Klaus Schreiner hat in einem materialreichen Aufsatz eine Fülle von Belegen für eine solche Sakralisierung des historisch-politischen Denkens bis weit hinein in die Wissenschaft in den zwanziger Jahren gesammelt, zugespitzt faßbar in der Semantik des »politischen Messias« oder »Erlösers«, die sich seit der Jahrhundertwende vielfach mit dem Bismarckmythos verband.61 Solche Formeln konnten auf einer national-protestantischen Tradition aufsetzen, in der die Grenzen 56 Oexle, Die Moderne (wie Anm. 51), S. 327ff. 57 W. Hardtwig, Erinnerung, Wissenschaft. Mythos. Nationale Geschichtsbilder und politische Symbole in der Reichsgründungsära und im Kaiserreich, in: ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 256ff. 58 Vgl. J. Zernack, Anschauungen vom Norden im deutschen Kaiserreich, in: Puschner u.a. (Hg.), Handbuch (wie Anm. 5), S. 482–511, hier v.a. S. S. 496–504. 59 E. Bertram, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1922, S. 6. 60 Hardtwig, Die Preußische Akademie (wie Anm. 39), S. 39. 61 K. Schreiner, »Wann kommt der Retter Deutschlands«? Formen und Funktionen von politischem Messianismus in der Weimarer Republik, in: Saeculum 49 (1998), S. 107–160.

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zwischen religiöser und politischer Aussage schon seit Jahrzehnten fließend geworden waren. »Heilig« war in dieser durch den Ersten Weltkrieg noch verstärkt zur Blüte gebrachten Sicht die deutsche Nation, »heilig« konnte aber auch die preußische Überlieferung sein, verkörpert etwa in Hindenburg und bewusst sakral inszeniert beim Tag von Potsdam 1933.62 Die Krise vor allem des kirchlich verfassten Protestantismus um 1900 entfesselte neben den und gegen die unzweifelhaft anhaltenden Säkularisierungsprozesse die bekannte »vagierende Religiosität« (Ernst Troeltsch), die gerade im völkischen Lager politisch kontaminiert wurde. Paul de Lagarde etwa predigte gegen die Konfessionen eine neue nationale Religion jenseits des Christentums. Chamberlain polarisierte rassegeschichtlich den ethischen und religiösen »Materialismus« der Juden auf der einen und die heroische und religiös-mythische Begabung der Arier auf der anderen Seite und relativierte die darwinistischen Implikate seiner Geschichts- und Gesellschaftsauffassung insofern, als er alle Hoffnung auf eine neue, vom deutschen Volk zu schaffende Religion setzte.63 Ähnlich wie bei den bisher genannten Strukturmerkmalen des wissenschaftskritischen historischen Denkens übergreift die Gemeinsamkeit – hier in der Sakralisierung – große Unterschiede in gedanklicher Komplexität und ästhetischer Qualität. Stefan George sakralisierte in seinen 1914 entstandenen, 1928 in der Sammlung »Das Neue Reich« erschienenen Gedichten den Staufferkaiser Friedrich II., Friedrich Gundolf sakralisierte Nietzsche, und Ernst Bertram sakralisierte George. Bei Nietzsche wie bei George galt es, jeweils ein »Erlösungswerk« zu würdigen.64 Auch hier sind die Übergänge zur akademischen Wissenschaft gleitend. Die Virulenz der neuen religiösen Bewegungen um 1900 schlug sich im Aufstieg der Religion um 1900 in einem beherrschenden Thema öffentlicher kulturtheoretischer Diskussionen nieder.65 Gerade junge Sozialwissenschaftler 62 Vgl. W. Freitag, Nationale Mythen und kirchliches Heil: Der ›Tag von Potsdam‹, in: Westfälische Forschungen 41 (1991), S. 379–430; Überblick zu den nationalprotestantischen Stereotypen im Kaiserreich jetzt: P. Walkenhorst, Nationalismus als politische Religion? Zur religiösen Dimension nationalistischer Ideologie im Kaiserreich, in: O. Blaschke u. F.-M. Kuhlemann (Hg.), Religion im Kaiserreich: Milieus, Mentalitäten, Krisen, Gütersloh 1996, S. 503–529; zutreffend sind die Sakralisierungstendenzen schon bis zum Beginn der Einigungskriege herausgearbeitet bei D. Klenke, Nationalkriegerisches Gemeinschaftsideal als politische Religion: zum Vereinsnationalismus der Sänger, Schützen und Turner am Vorabend der Einigungskriege, in: HZ 260 (1995), S. 395–448; diesen Studien mangelt es freilich an einem reflektierten Gebrauch des Begriffs »Politische Religion«. 63 Vgl. u. a. G. Hartung, Völkische Ideologie, in: Puschner u.a. (Hg.), Handbuch (wie Anm. 5); S. 38; ausführlich: Becker. Sozialdarwinismus (wie Anm. 4), S. 190ff. 64 Vgl. Oexle, Das Mittelalter als Waffe (wie Anm. 12), S. 187f., 195. 65 F. W. Graf, Alter Geist und neuer Mensch. Religiöse Zukunftserwartungen um 1900, in: U. Frevert (Hg.), Das neue Jahrhundert. Europäische Zeitdiagnosen und Zukunftsentwürfe um 1900, Göttingen 2000, S. 185–228; vgl. auch: U. Linse, Säkularisierung oder neue Religiosität?

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wandten sich vor allem nach 1918 verstärkt Erscheinungsformen von politisch-religiösem Chiliasmus in der Vergangenheit und Gegenwart zu. Stärkste Anstöße kamen dabei von Ernst Blochs »Geist der Utopie« (1916) und seinem Müntzer-Buch, wobei schon die zeitgenössische Kritik deutlich machte, dass hier messianische und apokalyptische Denkfiguren, die durch den Krieg noch einmal verstärkt worden waren, reflexiv wurden.66 Wenn Ernst Bloch in seinen Frühschriften versuchte, chiliastische und utopische Hoffnungen aus Vergangenheit und Gegenwart als Triebkräfte des historischen Transformationsprozesses seiner Tage zu nutzen, so arbeitete er mit der Denkfigur der Apokalypse, die bei den ›religiös musikalischen‹ Zeitgenossen vor allem gegen Ende der zwanziger und Anfang der dreißiger Jahre immer virulenter wurde. Eine im Pastorennationalismus allgegenwärtige Denkfigur lautete: »Wir leben in einer Zeit der Finsternis ohnegleichen. Überall sind finstere Mächte am Werk, die den Zusammenbruch aller menschlichen und göttlichen Ordnung betreiben.«67 Literarische Größen beleuchten schlaglichtartig gerade von den Rändern des literarischen Spektrums her die Präsenz des Deutungsmusters. Reinhold Schneider z. B. bilanzierte am 23. April 1933 die Erfahrung der nationalen Revolution wie folgt: »Das Empfinden eines Jeden erwacht tausendfach verstärkt durch die Einswerdung mit der Gesamtheit: Die Versammelten hatten in diesem Augenblick ein Schicksal und einen Gott. Daß der Gott ihres Volkes ihnen gegenwärtig war: Das mochten die meisten auf irgendeine Weise empfinden; und daß das Schicksal sie zusammengezwungen hatte, gleich mächtig, sie zu erheben oder zu stürzen: Das machte ihr Glück aus ... Erlebt wurde ein allumfassendes Schicksal: Eine Gemeinschaft, die dem triumphierenden Leben so nahe ist wie dem Tod. Erlebt wurde eine überirdische Gewalt, die bereit ist, diese Gemeinschaft zu stürzen oder zu erheben. In der Tiefe, den Worten nicht zugänglich ... bemächtigte sich aller ein unausmeßbares, ein tragisches Glück ...«.68 Das Denken in den Kategorien der Apokalypse beruht auf der Vorstellung eines existenzbedrohenden Dualismus von Gut und Böse, Wahrheit und Lüge, Licht und Finsternis, es legt diesen Dualismus aber zeitlich aus, als Gegenüber von Vorher und Nachher, von katastrophaler Gegenwart und unmittelbarer Vergangenheit auf der einen, versöhnter oder »erlöster« Zukunft auf der anderen Seite. Die Gegenwart und Zur religiösen Situation in Deutschland um 1900, in: Recherches Germaniques 27 (1997), S. 117–141; G. Küenzlen, Der Neue Mensch. Eine Untersuchung zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne, Frankfurt a.M. 1997, S. 63–92. 66 R. Graf, Die Entstehung des sozialwissenschaftlichen Utopiediskurses in Deutschland vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1933 (Magisterarbeit HU Berlin 2000). 67 Protestantische Predigt im Bayerischen Rundfunk, 5.1.1930, zit. nach R. Schieder, Religion im Radio: Protestantische Rundfunkarbeit in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Stuttgart 1995, S. 177. 68 R. Schneider, Tagebuch 1930–1935, Frankfurt a.M. 1985, S. 166.

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unmittelbare Zukunft sind in diesem Geschichtsbild der Augenblick der Entscheidung, in dem alle Kräfte noch einmal aufs äußerste angespannt werden müssen. Alle Beteiligten gewinnen aus der katastrophalen Erfahrung des gegenwärtigen Zusammenbruchs aller Ordnung die Kraft- und Sinnressourcen für den Aufbruch in einen Zustand jenseits aller Leiden.69 Bei der Rekonstruktion von ideen- und ideologiegeschichtlichen Zusammenhängen oder gar mentalitätsgeschichtlichen Prägungen ist immer größte methodische Vorsicht angebracht. Aber die Abhängigkeit der nationalsozialistischen Rasseideologie und ihres Geschichtsbildes von den angeführten Geschichtsbildproduzenten ist evident, personell-biographisch, soziologisch im antiakademischen Milieu und Habitus, und schließlich gedanklich in den Grundannahmen über Triebkräfte und Verlauf der Geschichte. Wir wissen, dass Hitler Felix Dahn als den »einzigen deutschen Professor« schätzte, der etwas geleistet habe; wir wissen, dass Chamberlains »Grundlagen des 19. Jahrhunderts« das von den NS-Größen von Hitler bis Goebbels, Rosenberg, Himmler, Schirach meistgelesene Buch war und dass Hitler den schwerkranken Chamberlain wenige Monate vor seinem Tod letztmals besuchte und zu seinem Begräbnis erschien; wir wissen, dass der Thüringische Innenminister Frick nach dem Landtagswahlsieg der Nationalsozialisten in Thüringen Hans Friedrich Carl Günther gegen den Willen der Universität eine Professur für Sozialanthropologie in Jena verschaffte und dass sowohl Adolf Hitler als auch Göring zu Günthers Antrittsvorlesung erschienen. Wir wissen, dass Hitler Kantorowicz’ Friedrich-Buch gelesen und geschätzt hat. Wir wissen, dass Karl Haushofer in Landsberg zu Besuch war und dort auch gelesen wurde. Möller van den Brucks Werke wie »Das Dritte Reich« wurden nach 1933 mit einem Vorwort von Goebbels neu aufgelegt. Dass gleichwohl etwa Ernst Niekisch jahrelang im KZ saß, Edgar Jung, der Verfasser des mehrfach aufgelegten Buches über die »Herrschaft der Minderwertigen« (1932) den Säuberungen im Kontext des Röhm-Putsches zum Opfer fiel, dass Spengler sich zunehmend sarkastisch über die Realität der NS-Herrschaft äußerte, Gottfried Benn bereits 1934 ernüchtert war und Ernst Jünger 1938 sein Oppositionsbuch »Auf den Marmorklippen« schrieb, ändert nichts daran, dass die Geschichtsbildproduktion der konservativen Revolutionäre große gemeinsame Schnittmengen mit dem Geschichtsbild führender Nationalsozialisten aufwies. Man kann gewiss die Verfechter antihistoristischer Geschichtsbilder nicht generell zu Vorläufern oder Anhängern des Nationalsozialismus stempeln. Es gibt zahlreiche kleine, manchmal allzu feine, manchmal auch sehr deutliche Unterschiede, Brüche, Distanzierungen. Der brandenburgische Generalsuperintendent 69 Vgl. dazu insgesamt: W. Hardtwig. Political Religion in Modern Germany. Reflections on Nationalism, Socialism, and National Socialism, in: Bulletin des German Historical Institute, Washington 2001, S. 3–27 sowie den Kommentar von J. Caplan, ebd., S. 28–36.

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Otto Dibelius etwa nutzte auf dem »Tag von Potsdam« die nationalprotestantische Mythisierung Friedrichs des Großen und Hindenburgs pathetisch zur Legitimierung der neuen Herrschaft und gehörte bald darauf zu den Gegnern des Regimes. Protestantische und katholische Kirche wurden in zum Teil erbitterte Kämpfe mit dem Regime verwickelt, aber protestantische und katholische Kirchenzeitungen in Thüringen oder Niederbayern führten den politischen Messianismus bis tief in die Kriegsjahre hinein weiter.70 Auf eine weitere Unterscheidung ist hier Wert zu legen: Die genannten Strukturmerkmale der wildwuchernden Geschichtsbildproduktion kennzeichnen das Geschichtsbild der führenden NS-Größen, Hitlers und Goebbels’, Himmlers, Darrés und Rosenbergs.71 Doch ging es hier nicht primär darum, die Ursprünge des Geschichtsbildes einer kleinen nationalsozialistischen Führungselite zu rekonstruieren. Vor allem sollte vielmehr gezeigt werden, wie das vom klassischen Historismus geprägte, auf Individualität, Entwicklung, Kontinuität, auf die regulative Idee der Objektivität und strenge Empirizität verpflichtete Geschichtsdenken im Bürgertum selbst erodierte. Die Krise des historistischen Deutungsmodells und seiner Akzeptanz in der Gesellschaft sowie der Aufstieg des Rassenparadigmas hat viele und höchst komplexe Ursachen. Sie sollen wenigstens noch skizzenhaft angedeutet werden. Von einem sozialgeschichtlichen Faktor im engeren Sinn, dem Strukturwandel der kritischen Intelligenz, war schon die Rede. In gesamtgesellschaftlicher Perspektive hat sich darüber hinaus gezeigt, dass die sogenannte »Große Depression« der ökonomischen Trendperiode von 1873–1896 von den Wirtschaftsdaten her zwar inzwischen stark relativiert worden ist, dass aber Hans Rosenbergs Beschreibung von Krisenphänomenen und Krisenbewusstsein der Epoche im Ganzen von der Forschung doch bestätigt worden ist.72 Allerdings wird man für die zunehmende Desorientierung und die sich radikalisierenden Versuche zur Neuorientierung, für die Aufgeregtheit der Epoche und die sich verschärfenden Gegensätze nicht mehr nur eine schwache Konjunkturlage, sondern die krisenhafte Erfahrung sich beschleunigender Modernisierungsprozesse in allen Lebensbereichen verantwortlich machen – Modernisierungsprozessen, von denen zumindest so viel zunehmend klar wurde: dass sie irreversibel waren, dass es eine Rückkehr in vermeintlich ruhige, vorindustrielle und vorpluralistische Zustände nicht geben werde. Gleichzeitig mit der Gegenwartskritik wuchs auf der Grundlage der zeitgenössischen Technikbegeisterung das Gestaltbarkeitsbewusstsein für die Zukunft, und so 70 Vgl. N. v. Preradovich u. J. Stingl (Hg.), »Gott segne den Führer!« Die Kirchen im Dritten Reich. Eine Dokumentation von Bekenntnissen und Selbstzeugnissen, Leoni 19862. 71 Dazu jetzt eingehend: F.-L. Kroll, Utopie als Ideologie: Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998. 72 H. Rosenberg, Große Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967; vgl. dazu T. Nipperdey, Deutsche Geschichte 1866–1918, Bd. 1, Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990, S. 285f.

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richteten sich die Hoffnungen darauf, Konzepte einer alternativen Moderne zu entwerfen oder die Moderne mit den Mitteln der Moderne abzuschaffen. Zu den Ursachen für die umfassende Krise des historischen Kontinuitätsbewusstseins und der Orientierung an einer normstiftenden Vergangenheit gehören aber auch rein wissenschaftsgeschichtliche Faktoren – so der Aufstieg der jungen Anthropologie in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem aber die umfassende Herausforderung nicht nur der Bio- sondern auch der historischen Wissenschaften durch die Darwinsche Evolutionslehre seit 1859. Die Evolutionstheorie, übertragen auf den Menschen, unterwarf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einer durchgängigen Gesetzmäßigkeit, so dass sich die Frage nach dem künftigen Schicksal nicht nur von Völkern und Rassen, sondern der ganzen Gattung neu stellte. Historische und biologische Argumente wurden zusammengeführt, das evolutionistische Paradigma unterwarf die Weltgeschichte einer vermeintlichen Gesetzmäßigkeit, die den Verkündern der Rassegeschichte, so dilettantisch und unfundiert ihre Konstrukte waren, das Selbstbewusstsein verlieh, im Besitz naturwissenschaftlichen Gesetzeswissens zu sein. Als 1922, mitten in der Inflation, die 14. Auflage von Chamberlains »Grundlagen« erschien, leitete er sie neu ein mit dem Satz, es gelte jetzt, »die von der Wissenschaft inzwischen als unfraglich wahr erwiesene Tatsache der Rasse unseren Volksgenossen noch weit lebendiger und plastischer vor das Bewußtsein zu bringen und zu einer Triebkraft ihres Handelns zu machen«.73 Chamberlains außerordentlicher Erfolg beruhte dabei darauf, dass er den Degenerationstheorien und den Fin-de-Siècle-Stimmungen die entscheidende Wendung ins Positive und Zukunftsträchtige verlieh und die Rassegeschichte von der Niedergangsperspektive in die Aufstiegsperspektive drehte. Es komme nur darauf an, das Bewusstsein für die eigene Rasse im Arier zu schärfen, um so ein rassebewusstes und rassegeleitetes Handeln zu ermöglichen. Hitler selbst sprach bekanntlich in »Mein Kampf« und auch sonst mehrfach von den harten Gesetzen der Natur, und dass es die Aufgabe der neuen Politik sei, ihnen gegenüber einer falschen Humanität wieder Geltung zu verschaffen.74 Wenn hier wesentliche Strukturmerkmale und Entwicklungstendenzen des außerakademischen historischen Denkens herausgearbeitet wurden, die partiell auch auf das akademische Geschichtsdenken übergriffen, so sollte die Geschlossenheit und Einlinigkeit dieses Wandels historischer Deutungsparadigmata doch nicht überzeichnet werden. Es gab die scharfe Kritik der Historischen Zeitschrift an Chamberlain und Ludwig Wilser, es gab eine Minderheit akademischer Historiker, die den Primat des Machtstaates als Norm 73 H. S. Chamberlain, Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, 14. Aufl., Bde. I, II, München 1922, Einleitung; vgl. dazu Becker, Sozialdarwinismus (wie Anm. 4), S. 178f. 74 Vgl. dazu Kroll, Utopie als Ideologie (wie Anm. 71), S. 56–64.

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historischen Urteils in Frage stellten, die Mehrheit der akademischen Sozialwissenschaftler lehnte den Versuch Hans Freyers ab, alle soziologische Erkenntnis vom gesellschaftlichen Veränderungswillen her zu legitimieren, und Max Weber wandte sich sarkastisch gegen die Selbstvergottung und die Sakralisierungen der George-Schüler. Zudem muss nun doch noch gefragt werden, ob die Epocheneinheit der Jahrzehnte zwischen Großer Depression und Machtergreifung nicht überzeichnet wurde, und welche Bedeutung dem Ersten Weltkrieg als Zäsur auch für die »intellectual history« zukommt. Hier stehen derzeit zwei Interpretationsmodelle unvermittelt einander gegenüber. Für die Bürgertumsforschung war der Erste Weltkrieg nur eine Etappe in einem Krisen- und Erosionsprozess, der im ausgehenden 19. Jahrhundert eingesetzt habe und 1933 kulminiert sei.75 Dieser Annahme stehen jedoch seit neuestem die Ergebnisse der erfahrungs- und kulturgeschichtlichen Forschung zum Weltkrieg entgegen, die im Gegenteil von einer Verfestigung und Revitalisierung älterer Deutungsmuster und Praktiken sprechen. Gerade die verstörende Komplexität der neuen Erfahrungen scheint demnach den Rekurs auf vertraute kulturelle Prägungen nahegelegt zu haben.76 Industrielle deuteten Ursachen, Verlauf und gesellschaftliche Konsequenzen des Krieges aus einer engen betriebswirtschaftlichen Perspektive.77 Neueste Studien zu den Universitäten Tübingen und Erlangen haben gezeigt, dass die oft zitierten annexionistischen Positionen keineswegs die Mehrheit der Hochschullehrer repräsentierten und dass eher gemäßigte Positionen dominierten.78 Für die korporierten Studenten bedeutete der Erste Weltkrieg insgesamt keinen Bruch in ihren Wahrnehmungs- und Deutungsschemata, vielmehr sahen sie den militärischen Kampf als eine gewaltige »Mensur«.79 Politikhistorische Arbeiten 75 Für diese Position hier v. a.: H. Mommsen, Die Auflösung des Bürgertums seit dem späten 19. Jahrhundert, in: J. Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 288–315; in sozialhistorischer Perspektive kritisch hierzu: K. Tenfelde, Stadt und Bürgertum im 20. Jahrhundert, in: ders. u. H.-U. Wehler (Hg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994, S. 317–353. Ich danke Moritz Föllmer für wichtige Hinweise zu diesem Aspekt des Themas. 76 J. Winter, Sites of Memory, Sites of Mourning. The Great War in European Cultural History, Cambridge 1995. 77 A. Hopbach, Der Erste Weltkrieg in der Erfahrungswelt württembergischer Unternehmer, in: G. Hirschfeld u.a. (Hg.), Kriegserfahrungen. Studien zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte des Ersten Weltkrieges, Essen 1997, S. 129–145; M. Föllmer, Bürgerliche Ordnungen. Industrielle, hohe Beamte und die Deutung der Nation in Deutschland und Frankreich 1900–1930, Göttingen 2002. 78 S. Paletschek, Tübinger Hochschullehrer im Ersten Weltkrieg: Kriegserfahrungen an der »Heimatfront« Universität und im Feld, in: Hirschfeld u.a. (Hg.), Kriegserfahrungen (wie Anm. 77), S. 83–106; O. Willett, Sozialgeschichte Erlanger Professoren 1743–1933, Göttingen 2001, S. 377ff. 79 U. Wiedenhoff, ,,... daß wir auch diese größte Mensur unseres Lebens in Ehren bestehen werden«. Kontinuitäten korporierter Mentalität im Ersten Weltkrieg, in: Hirschfeld u.a. (Hg.), Kriegserfahrungen (wie Anm. 77), S. 189–207.

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mit Schwerpunkt auf den Mittelschichten, die auch kleinbürgerliche Gruppen einbeziehen, konstatieren hingegen einen breiten, nationalistisch aufgeladenen Mobilisierungs- und Partizipationsschub im Ersten Weltkrieg und damit eine Abkehr von der Honoratiorenpolitik des Bürgertums im Kaiserreich.80 Dieser Erkenntnisstand leidet an Defiziten, die offenbar schwer zu beheben sind: Der für die Bürgertumsforschung noch immer charakteristischen Neigung, Bürgerlichkeit und Liberalismus engzuführen, sowie dem unverbundenen Nebeneinander von sozial- und rein geistesgeschichtlichen Argumenten gerade bei der Sicht auf die hier behandelten Jahrzehnte; zudem beruht die Deutung des Ersten Weltkriegs als eines tiefgreifenden kulturellen Bruchs auf den Untersuchungen zu einer sehr kleinen Gruppe literarisch-künstlerischer Elite. Die Befunde zur Krise des Geschichtsbilds legen demgegenüber folgende Schlüsse nahe: Die sich pluralisierende Geschichtsbildproduktion in der Krise des historistischen Deutungsparadigmas wirkte nicht nur im herkömmlichen, aber sozial und kulturell tief verunsicherten Rezipientenkreis des Bildungsbürgertums, sondern strahlte weit ins Wirtschaftsbürgertum, in die bürgerliche technische Intelligenz, auch, gerade mit den antisemitischen Schriften, ins Kleinbürgertum aus. Sie forderte und praktizierte selbst in ihren normativen Aussagen und ihren publizistischen Strategien die Abkehr von der bürgerlichen Welt des 19. Jahrhunderts. Diese selbst darf man sich freilich seit den 1870er, vielleicht schon den 1860er Jahren nicht so bürgerlich-liberal vorstellen, wie es ein Idealbürgertum nach dem Zuschnitt des älteren Sonderwegstheorems gewesen sein sollte. Schon die Einigungskriege wurden stark in protestantisch-nationalreligiösen Kategorien interpretiert. Militärische Tüchtigkeit und die Vorstellungen einer hierarchisch gegliederten nationalen Gemeinschaft gehörten selbstverständlich zu der bürgerlichen Vorstellungswelt.81 Eine nicht nur politisch-kulturelle, sondern ethnische Ausgrenzung von Polen, Slawen aller Art und Franzosen war in den bürgerlichen Verwaltungseliten schon vor 1914 die Regel.82 Umgekehrt haben sich die älteren Vorstellungen von mangelndem bürgerlichen Selbstbewusstsein stark relativiert. Gerade der Krieg brachte zum Beispiel zusätzlich eine erhebliche Aufwertung von kommunaler Selbstverwaltung und karitativem Engagement. Man wird sich wohl von der Vorstellung eines einheitlichen bürgerlichen Wertehimmels für den hier untersuchten Zeitraum überhaupt verabschieden müssen. Beides stand nebeneinander – das Festhalten an alten Normen und seine Erosion bis hin zur bewussten, militanten Verabschiedung. Die Gesell80 Vgl. u.a. P. Fritzsche, Rehearsals for Fascism. Populism and Political Mobilisation in Weimar Germany, New York 1990; M. Geyer, Verkehrte Welt. Revolution, Inflation und Moderne, München 1914–1924, Göttingen 1998. 81 Dazu jetzt u.a.: F. Becker, Bilder von Krieg und Nation. Die Einigungskriege in der bürgerlichen Öffentlichkeit Deutschlands 1864–1913, München 2001. 82 Vgl. Föllmer, Bürgerliche Ordnungen (wie Anm. 77).

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schaft der Weimarer Republik war tief segmentiert, nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der einzelnen konfessionellen und gesellschaftlichen Gruppen und Milieus. Und gerade hier, bei dieser Segmentierung, setzte dann die nationalsozialistische Geschichtspolitik bewusst an und inszenierte schließlich eine Geschichtskultur, die eine Summe aus den skizzierten Entwicklungstendenzen des Geschichtsdenkens zog. Das Geschichtsdenken des Nationalsozialismus und die seit 1933 etablierte Geschichtskultur gaben vor, diese Segmentierung ein für alle mal zu überwinden. Die Gegenwart – so die Lehre – ist katastrophal und drängt apokalyptisch auf eine abschließende Entscheidung zwischen Sein und Nichtsein. Deutsche Geschichte ist Weltgeschichte, mit dem deutschen Schicksal geht es um das Schicksal der Menschheit und dieses wird, so Hitler, nach den unveränderlichen Gesetzen des Lebens auf dieser Erde, die alle auf das Prinzip des Kampfes zurückweisen, ausgetragen. Auf die Vergangenheit kommt es dabei nicht wirklich an, sondern auf die »ewigwährende« (Chamberlain) Gegenwart oder die Zukunft. Die nationalsozialistischen Geschichtsideologen propagierten einen Neubeginn des Weltlaufs, bei dem es letztlich gleichgültig war, ob man sich wie etwa Gottfried Benn auf den »dorischen« oder wie Günther, Darré, Himmler, Hitler auf den »nordischen Menschen« berief. Der Ausstieg aus dem Entwicklungsgedanken machte es möglich, nach Belieben Traditionsbestände abzurufen, von den jahrmillionenalten Urkulturen bis zu den Friedrichen, dem stauffischen und dem hohenzollernschen, und sie zum Fundament einer grandiosen Zukunft zu erklären. »Gegenwart und Zukunft erscheinen plötzlich in einem neuen Licht« – so liest man auf der ersten Seite von Rosenbergs »Mythos«,83 »und für die Zukunft ergibt sich eine neue Sendung«. Die Gegenwart wird »geradezu aus der vorweggenommenen Zukunft rückblickend wahrgenommen«.84 Der Nationalsozialismus machte daher auch Schluss mit dem Erbe der Wilhelminischen Geschichtskultur, selbst in dessen radikalnationalistischer Ausprägung. 1938 hörten die seit der Jahrhundertwende betriebenen Planungen für ein gewaltiges Bismarck-Nationaldenkmal bei Bingerbrück und die Feiern zur Erinnerung an die Befreiungskriege am Leipziger Völkerschlachtdenkmal auf.85 Statt dessen entwickelten die Nazis ihren eigenen umfassenden politi83 A. Rosenberg, Der Mythos des 20. Jahrhunderts. Eine Wertung der seelisch-geistigen Gestalterkämpfe unserer Zeit, München 1943, S. 1. 84 C.-E. Bärsch, Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiöse Dimension der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, München 1998, S. 329f; vgl. auch die vorzügliche Untersuchung von K. Fischer, ›Systemzeit‹ und Weltgeschichte. Zum Motiv der Epochenwende in der NS-Ideologie, in: ders. (Hg.), Neustart des Weltlaufs (wie Anm. 40), S. 84–202. 85 Vgl. M. Dorrmann, Das Bismarck-Nationaldenkmal am Rhein. Ein Beitrag zur Geschichtskultur des Deutschen Reiches, in: ZfG 44 (1996), S. 1061–1088, hier S. 1085f.; S.-L. Hoffmann, Sakraler Monumentalismus um 1900. Das Leipziger Völkerschlachtdenkmal, in:

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schen Kult, der alle Lebensbereiche durchdringen und tief in den Alltag der Menschen hineinwirken sollte.86 Er setzte zum Teil noch auf christlich oder historisch begründeten Feiern auf, wie dem Erntedankfest oder dem Volkstrauertag, gestaltete sie aber zu gewaltigen Inszenierungen des charismatischen Führertums Hitlers um. Vor allem verklärte er die Schlüsselereignisse der eigenen Bewegung, so den Tag der Machtergreifung, den Geburtstag des Führers, den Reichsparteitag, den Gedenktag für die Gefallenen der Bewegung. Der beispiellose Zivilisationsbruch der zwölf Jahre »Tausendjähriges Reich« setzte die Zerstörung einer an Genauigkeit und humanem Engagement orientierten Kultur des historischen Wissens voraus.

R. Koselleck u. M. Jeismann (Hg.), Der politische Totenkult: Kriegerdenkmäler in der Moderne, München 1994, S. 249–280, hier S. 280. 86 Grundlegend bleibt: K. Vondung, Magie und Manipulation: Ideologischer Kult und politische Religion des Nationalsozialismus, Göttingen 1971; vgl. auch P. Reichel, Der schöne Schein des Dritten Reiches: Faszination und Gewalt des Faschismus, München 1991; jüngste Zusammenfassung: H.-U. Thamer, Politische Rituale und politische Kultur im Europa des 20. Jahrhunderts, in: Jahrbuch für Europäische Geschichte 1 (2000), S. 79–98.

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5. Alltagsgeschichte heute. Fragestellungen – Methoden – Perspektiven Das Aufkommen und die Konjunktur der Alltagsgeschichte seit den siebziger Jahren sind Teil einer umfassenden historiographischen Wende, deren Inhalte und Zielsetzungen sich allmählich mit einiger Deutlichkeit überschauen lassen. An den Anfang der folgenden Bilanz sollen daher einige für die Alltagsgeschichte bedeutsame Aspekte dieser Wende gestellt werden. Anschließend geht es darum, in Stichworten einige Erkenntnisschwerpunkte und Leistungen der Alltags- oder besser »Erfahrungsgeschichte« zu skizzieren und davon ausgehend einige Probleme und Perspektiven zu benennen, die sich aus der aktuellen forschungsgeschichtlichen Situation bzw. aus der geschichtstheoretischen Diskussion heute ergeben.

I. Wenn es irgendwo einen deutschen Sonderweg gegeben hat, dann bei der Entwicklung der Historiographie zumindest in den letzten neunzig Jahren. Den entscheidenden Einschnitt, der zur Abkoppelung sowohl der historiographischen Praxis als auch der geschichtstheoretischen Diskussion in Deutschland von der Entwicklung in Westeuropa und den USA führte, ist zweifellos der zwischen 1893 und 1906 ausgetragene Lamprechtstreit.1 Fragestellungen der Sozial- und Gesellschaftsgeschichte, der Mentalitätsgeschichte, der Historischen Anthropologie wurden in Deutschland seit dem Beginn unseres Jahrhunderts im Vergleich mit der Geschichtsforschung in Frankreich, England und den USA mit erheblicher Verspätung aufgegriffen. So ist die Etablierung einer Historischen Sozialwissenschaft in Deutschland seit den sechziger Jahren ganz wesentlich als eine »nachholende Modernisierung« der Geschichtswissenschaft zu verstehen. Mit der Debatte um die Erfahrungsgeschichte – und nicht vorher – läuft dieser Sonderweg aus. 1 Zum Lamprechtstreit zuletzt mit der einschlägigen Literatur L. Raphael, Historikerkontroversen im Spannungsfeld zwischen Berufshabitus, Fächerkonkurrenz und sozialen Deutungsmustern. Lamprecht-Streit und französischer Methodenstreit der Jahrhundertwende in vergleichender Perspektive, in: HZ 251 (1990), S. 325–363, der zu Recht darauf hinweist, dass die Auseinandersetzung Max Webers mit Lamprecht in seinen methodologischen Aufsätzen 1903 bis 1906 über die Phase des Austausches von Streitschriften bis 1898 hinausreicht.

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Mit ihrer Programmatik und ihrer praktischen Forschungsarbeit schließen sich die Alltags- und Erfahrungshistoriker einer internationalen Trendwende an,2 die bereits in den siebziger Jahren, vereinzelt auch schon vorher einsetzte und die ganze westliche Geschichtsschreibung erfasste. Zu dieser Trendwende gehört unter anderem die zunehmende Kritik an der Cliometrie und an der Sozialgeschichte als Strukturgeschichte, verbunden mit der Hinwendung zur Mentalitätsgeschichte, zu einer neuen Kulturgeschichte, zu Fragestellungen einer Historischen Anthropologie und zur Ethnologie. In diese historiographische Richtungsänderung fließt eine seit den siebziger Jahren zunehmende Kultur- und Zivilisationskritik ein, die sich auch als Modernitätskritik verstand und versteht.3 Im Blick auf Gegenstand und Methode der Geschichtswissenschaft bedeutet das, dass sich die Alltags- und Erfahrungsgeschichte kritisch von der Sozialgeschichte absetzte, in Deutschland vor allem von der Sozialgeschichte Bielefelder Provenienz.4 Zunehmend skeptisch gegenüber den Erkenntnischancen der Sozialwissenschaften überhaupt lautet ihr Hauptvorwurf, dass über der systematisierten 2 Vgl. dazu jetzt: G. G. Iggers, Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert. Ein kritischer Überblick im internationalen Zusammenhang, Göttingen 1993; P. Burke (Hg), New Perspectives on Historical Writing, University Park, Pennsylvania 1991; wichtige Texte in: U. Raulff (Hg.), Vom Umschreiben der Geschichte. Neue historische Perspektiven, Berlin 1986. Einen guten Überblick gibt W. Küttler, Geschichtsperspektiven im Umbruch. Zum aktuellen Stand der Grundlagendebatte über die Geschichtswissenschaft, in: ZfG 40 (1992), S. 725–736. Wenn hier verkürzend von Alltags- und Erfahrungsgeschichte gesprochen wird, so bleibt doch die Unterscheidung zwischen dem engeren, auf die Wahrnehmung des Wandels konzentrierten Begriff der Erfahrungsgeschichte und der Sammelbezeichnung »Alltagsgeschichte« festzuhalten. Vgl. dazu auch H. Bausinger, Erlebte Geschichte – Wege zur Alltagshistorie. in: Saeculum 43 (1992), S. 95–107, hier: S. 96. 3 Vgl. W. Hardtwig, Geschichtsstudium, Geschichtswissenschaft und Geschichtstheorie in Deutschland von der Aufklärung bis zur Gegenwart, in: ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 13–57, hier: S. 51ff. 4 Vgl. N. Elias, Zum Begriff des Alltags, in: K. Hammerich u. M. Klein (Hg.), Materialien zur Soziologie des Alltags, Opladen 1978, S. 22–29; H. Medick u. D. Sabean (Hg.), Emotionen und materielle Interessen, Göttingen 1984; H. Medick, »Missionare im Ruderboot«? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: GG 10 (1984), S. 295–319; K. Tenfelde, Schwierigkeiten mit dem Alltag, in: GG 10 (1984), S. 376–394; F. J. Brüggemeier u. J. Kocka (Hg.), »Geschichte von unten – Geschichte von innen«. Kontroversen um die Alltagsgeschichte, Fernuniversität/Gesamthochschule Hagen 1985; U. A. J. Becher u. K. Bergmann (Hg.), Geschichte – Nutzen oder Nachteil für das Leben?, Düsseldorf 1986; P. Steinbach, Geschichte des Alltags – Alltagsgeschichte, in: NPL 31 (1986), S. 249–273; H.-U. Wehler, Alltagsgeschichte. Königsweg zu neuen Ufern oder Irrgarten der Illusion?, in: ders., Aus der Geschichte lernen?, München 1987, S. 130–151; A. Lüdtke, Was ist und wer treibt Alltagsgeschichte?, in: ders. (Hg.), Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt a.M. 1989, S. 9–47; P. Borscheid, Alltagsgeschichte – Modetorheit oder neues Tor zur Vergangenheit?, in: W. Hardtwig (Hg.), Über das Studium der Geschichte, München 1990, S. 389–407; H. Medick, Entlegene Geschichte? Sozialgeschichte im Blickfeld der Kulturanthropologie, in: K. Jarausch u.a. (Hg.), Geschichtswissenschaft vor 2000. FS für G. G. Iggers, Hagen 1991, S. 360–369.

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Erforschung von Strukturen und Prozessen der Mensch aus der Geschichte verschwunden sei. Mit der Konzentration auf Strukturen und Prozesse, die jenseits aller Einzelintention das Handeln und Verhalten bestimmten, seien die persönlichen und gruppenspezifischen Wahrnehmungen, Erfahrungen und Sinndeutungen in unzulässig verkürzender Weise zurückgetreten. Gerade auch bei den unteren Schichten – traditionell den Handelnden als die passiv Hinnehmenden gegenübergestellt – bestimmten die zu Sinndeutungen verarbeiteten Erfahrungen das Handeln und Verhalten wesentlich mit. Die Summe der neu thematisierten Wahrnehmungs- und Deutungsmuster und der verhaltenssteuernden Formen symbolischer Verständigung wurden vielfach in einem neuen, vor allem der Ethnologie und Sozialanthropologie entnommenen Verständnis von »Kultur« zusammengefasst. Ihm zufolge stehen diese kulturellen Äußerungsformen in engem Zusammenhang mit den Formen der Produktion und mit den Herrschaftsverhältnissen. Sie lassen sich aber nicht einfach auf sozioökonomische und herrschaftliche Determinanten zurückführen, sondern beanspruchen relative Eigenständigkeit.5 In ihren programmatischen Texten und vor allem in ihrer historiographischen Praxis verlagerten die Alltags- und die Erfahrungsgeschichte das historische Forschungs- und Darstellungsinteresse auf neu zur Geltung gebrachte Gesichtspunkte, von denen ich im Folgenden stichwortartig einige herausgreife.

II. Als erstes wäre zu nennen: die Wiederkehr des Individuellen, das neue Interesse an Menschen mit Namen und unterscheidbarer Geschichte.6 Dieses neue Interesse an identifizierbaren Menschen hat verschiedene Aspekte und übernimmt in der Geschichtsschreibung mehrere Funktionen. Zum einen wird auf verbreiterter Basis – bezogen auf Menschen, die nicht den Eliten angehörten – ein Urinteresse der Geschichtswissenschaft bzw. eine alte historistische Grundüberzeugung reaktiviert: dass man im Individuellen gleichsam Totalität im Kleinen erfassen könne. Die Begrenztheit des Gegenstandes – eben des 5 Zu Anknüpfungsmöglichkeiten für eine moderne Kulturgeschichte im Werk Max Webers vgl.: F. Jaeger, Der Kulturbegriff im Werk Max Webers und seine Bedeutung für eine moderne Kulturgeschichte, in: GG 18 (1992), S. 371–393. 6 Vgl. auch: W. Schulze, Mikrohistorie versus Makrohistorie. Anmerkungen zu einem aktuellen Thema, in: C. Meier u. J. Rüsen (Hg.), Historische Methode, München 1988, S. 319–341, hier: S. 332; D. Langewiesche, Sozialgeschichte und Politische Geschichte, in: W. Schieder u. V. Sellin (Hg.), Sozialgeschichte in Deutschland, Bd. 1, Göttingen 1986, S. 9–32, hier: S. 22ff.; aus der Sichtweise der Oral History vgl. L. Niethammer, Annäherung an den Wandel. Auf der Suche nach der volkseigenen Erfahrung in der Industrieprovinz der DDR, in: Lüdtke (Hg.), Alltagsgeschichte (wie Anm. 4), S. 283–347, hier: S. 286.

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einzelnen Menschen – ermöglicht es, ihn – sofern Quellen greifbar sind – nach allen Seiten hin auszuleuchten, Motive und Grundüberzeugungen, Fähigkeiten und Handlungen, familiäre, lokale und überlokale Beziehungen, Gedanken- und Glaubenswelt usw. zu erfassen, und das alles im Reflex auf das soziokulturelle Milieu, in dem dieser Einzelne lebt und wirkt. Dabei wird – zweite Variante – das Individuum auch als Beispiel oder Repräsentant einer Gruppe untersucht, so etwa wenn Le Roy Ladurie in den ›Bauern des Languedoc‹ die Aufstiegswege der beiden Bauernsöhne Sauvers Texier und Pierre Sallagier beschreibt und dann zusammenfasst: »Hinter den beiden Männern erkennt man die beiden Gesellschaftsgruppen, die beiden Lebensstile, die beiden Fassaden...«7 Schließlich kann – dritte Variante – das Allgemeine, Normale gerade über das Abweichende, Besondere erschlossen werden, über den Menschen, der auffällig geworden ist, wie Carlo Ginzburgs Müller Menocchio,8 oder Natalie Zemon Davis’ Martin Guerre bzw. seine Frau.9 Erläutert wird in diesen beiden Fällen nicht nur die Denk- und Empfindungsweise des »Helden« oder der »Heldin«, sondern auch die der Richter – also der örtlichen oder regionalen Elite und der Dorfgemeinde. Das Ganze einer lokalen Gemeinschaft in ihren überlokalen Bezügen erschließt sich ausgehend von den Konflikten, in die Menschen mit einem außergewöhnlichen Schicksal mit der sie umgebenden, herrschaftlich strukturierten Gesellschaft hineingeraten. Das neue Interesse am Individuum akzentuiert zweitens die alte Streitfrage nach dem Verhältnis von Ereignis und Struktur neu. Nachdem die Historische Sozialwissenschaft vor allem Wert darauf gelegt hatte, dass die Strukturen die Ereignisse prägen,10 warf die Alltags- und Erfahrungsgeschichte wieder verstärkt die Frage auf, wie die Ereignisse auf die Strukturen einwirken. Das ist gleichwohl nicht einfach eine Wiederkehr der herkömmlichen Sicht von oben nach unten. Denn es traten neue Typen von Ereignissen und Ereignisabfolgen in den Vordergrund. Zum einen sozusagen das »kleine Ereignis«, zum Beispiel der Streit des Predigers Martin Hornemann in dem Priegnitzdorf Legde 1645/ 46 mit dem Grundherrn Jacob von Saldern und der Gemeinde; dargestellt 7 E. Le Roy Ladurie, Die Bauern des Languedoc [1969], dt. Darmstadt 1985, S. 174f. 8 C. Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600 [1976], dt. Berlin 1990. Programmatisch dazu schon L. Stone, Die Rückkehr der Erzählkunst. Gedanken zu einer neuen alten Geschichtsschreibung [1979], gekürzter Teilabdruck in: Raulff (Hg.), Vom Umschreiben (wie Anm. 2), S. 95: Man habe von der Ethnologie gelernt, »wie man durch die Beleuchtung eines einzigen Ereignisses in allen seinen Details das ganze Sozialsystem mit seinen Werten glänzend erhellen kann – gesetzt, man verankert dieses Ereignis sehr sorgfältig in seinem Gesamtzusammenhang und untersucht es auf seine kulturelle Bedeutung«. 9 N. Zemon Davis, Die wahrhaftige Geschichte von der Wiederkehr des Martin Guerre [1982], dt. Frankfurt a.M. 1986; vgl. dazu kritisch: R. Finley, The Refashioning of Martin Guerre, in: AHR 93 (1988), S. 553–571. 10 Vgl. dazu u.a. R. Koselleck, Darstellung, Ereignis und Struktur, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a.M. 1979, S. 144–157; K. G. Faber u. C. Meier (Hg.), Historische Prozesse, München 1978.

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werden soll damit durchaus etwas Allgemeines, eine Struktur, die Verschärfung der gesellschaftlichen Spannungen und der desolate Zustand der Seelsorge im Gefolge des Dreißigjährigen Krieges.11 Zum anderen kulturelle Großereignisse wie die französische »Sprachrevolution« um 1500 oder das Vordringen der Reformation in Südfrankreich, die die Einstellung breitester Schichten zur Wirklichkeit grundlegend veränderten.12 Mit der Aufwertung des Individuellen und der Neubewertung des Ereignisses verknüpft sich drittens ein neues Verständnis von »Macht« und »Politik«. Macht – so die Botschaft der Alltags- und Erfahrungshistorie – wird zwar auch, aber nicht nur institutionell ausgeübt durch den Staat und seine Organe, durch den Grundherrn, die Kirche in Gestalt von Bischöfen, Konsistorien und Pfarrern. Macht wird auch informell ausgeübt und erfahren, in den zwischenmenschlichen Beziehungen zwischen rechtlich Gleichen oder zwischen den Geschlechtern. So lässt sich etwa anhand einer alltäglichen Geschichte aus dem 16. Jahrhundert, dem Schicksal des siebzigjährigen Lienhart Seitz aus dem Dorf Holzheim bei Göppingen, der sich weigerte, am Abendmahl teilzunehmen, eine Vielzahl von Sozialbeziehungen analysieren, in denen Macht praktiziert bzw. erlebt wird. Eine solche alltägliche Geschichte erlaubt zum Beispiel genauere Aussagen zur Kirchenzucht, zu der Frage etwa, ob sie kirchlicher oder staatlicher Kontrolle unterliegt und inwieweit die Herrschaft direkt durchgreift gegenüber einem beliebigen Dorfbewohner, der durch das Sich-Fernhalten vom Ritual auffällig geworden ist. Deutlich wird daran, in welchem Ausmaß die staatlichen Behörden die Religion dazu benutzen, Gehorsam und damit Einheitlichkeit und Geordnetheit der Untertanenschaft zu erzwingen. Dabei ergeben sich Hinweise darauf, inwieweit Gewalt als legitimes Mittel der Herrschaftsausübung verstanden wurde, inwieweit und von wem sie gerechtfertigt wurde – etwa, anders als bei Luther, durch den Reformator Brenz – und wie sich die Auffassungen dazu wandelten. Deutlich wird dabei zum Beispiel auch die herrschaftliche Benutzung des Abendmahls als Instrument der Versöhnung und die Reaktion der Dorfbewohner darauf, die in dem hier referierten Fall eine solche Instrumentalisierung nicht akzeptierten. Aus der Art und der Handhabung solcher Konflikte ergeben sich Hinweise auf 11 J. Peters, Das laute Kirchenleben und die leisen Seelensorgen. Beobachtungen an zwei Dörfern und einer Stadt, in: R. van Dülmen (Hg.), Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn. Studien zur historischen Kulturforschung, Frankfurt a.M. 1990, S. 75–105, besonders S.95–101. 12 Vgl. etwa Le Roy Ladurie, Bauern (wie Anm. 7), S. 167; vgl. auch R. Muchembled, Die Erfindung des modernen Menschen. Gefühlsdifferenzierung und kollektive Verhaltensweisen im Zeitalter des Absolutismus [1988], dt. Reinbek 1990, S. 127. Muchembled führt hier einen die Gesamtgesellschaft erfassenden kulturellen Wandlungsprozess zur Zeit Franz I. auf den »Import eines höfischen Modells italienischer Prägung« zurück. Vgl. auch P. Ariès, Einleitung: Zu einer Geschichte des privaten Lebens, in: ders. u. R. Chartier (Hg.), Geschichte des privaten Lebens, Bd. 3: Von der Renaissance zur Aufklärung, Frankfurt a.M. 1991, S. 3. Ariès hebt die Segmentierung der Gesellschaft durch die Entstehung des Gesetzesstaates hervor.

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die unterschiedlichen Auffassungen von Spiritualität und ihrer Gefährdung auf der Ebene der Herrschaft und auf der Ebene der Beherrschten sowie auf die Bandbreite der Interpretationsmöglichkeiten eines für jeden Einzelnen zentralen Begriffs wie »Gnade« zwischen religiös-spirituellem Verständnis im Sinne der Lutherschen Gnadenlehre und der »Gnade«, die ein weltliches Gericht walten lässt.13 Solche Fragestellungen erweitern auch das herkömmliche Politikverständnis über das institutionell geregelte politische Handeln und das Agieren in einer politischen Öffentlichkeit hinaus. Die Trennung von Politik und gesellschaftlicher Existenz des Menschen – eine Figuration, die charakteristisch war für die Entstehungsphase der modernen bürgerlichen Gesellschaft – relativiert sich dabei.14 Das Interesse greift über die herrschaftlichen Institutionen und die »fertigen ... Normen und Verkehrsformen des politisch-administrativen Systems« hinaus und richtet sich auch auf die Soziabilität und die ›kollektiven Sensibilitäten‹ (M. Vovelle), die ihrerseits politische Auswirkungen haben.15 Diese Umwertungen und Neuperspektivierungen haben viertens den Abbau zuvor festgefügter Erklärungshierarchien mit sich gebracht. Die Historische Sozialwissenschaft hatte wie zuvor die Geistesgeschichte oder die Politische Geschichte bestimmte Wertprioritäten bei den Erklärungsangeboten gesetzt, wobei in letzter Instanz den ökonomischen und den klassenstrukturellen Faktoren der höchste Erklärungsgehalt zugewiesen wurde. In Deutschland ergab sich diese Präferenz unter anderem auch daraus, dass die kritische Sozialgeschichte vor allem als Geschichte der sich industrialisierenden und Klassenstrukturen ausbildenden Gesellschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts konzipiert worden ist. Mag die Neigung zum Ökonomismus hier zumindest teilweise angebracht gewesen sein, bei älteren Gesellschaften ist sie es so sicher nicht. Die Umwälzungen in Osteuropa, die sich klassengeschichtlich nicht erklären lassen,16 werfen ein zusätzliches kritisches Licht auf die Universalisierbarkeit dieses Erklärungsmusters. Schließlich lösen sich in diesem Zerfall eindeutiger und vermeintlich universalisierbarer Erklärungshierarchien fünftens die seit dem späten 18. Jahr13 Vgl. zum Beispiel D. Sabean, Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1986, S. 51ff. 14 Vgl. Langewiesche, Sozialgeschichte (wie Anm. 6), S. 20f. 15 C. Lipp u. W. Kaschuba, Wasser und Brot. Politische Kultur im Alltag der Vormärz- und Revolutionsjahre. in: GG 10 (1984), S. 320–351, hier: S. 321. Vgl. dazu Fallstudien für die jugendliche Bildungsschicht, die Studenten: W. Hardtwig, Zivilisierung und Politisierung. Die studentische Reformbewegung 1750–1818, zuletzt in: ders., Nationalismus und Bürgerkultur, Göttingen 1994, S. 79–107; programmatisch ders., Krise der Universität, studentische Reformbewegung (1750–1819) und die Sozialisation der jugendlichen deutschen Bildungsschicht, Aufriß eines Forschungsproblems, in: GG 11 (1985), S. 155–176. 16 Vgl. J. Kocka, Überraschung und Erklärung. Was die Umbrüche von 1989/90 für die Gesellschaftsgeschichte bedeuten könnten, in: M. Hettling u.a. (Hg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen, München 1991, S. 11–21.

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hundert etablierten und seither von den Historikern nie ernsthaft bezweifelten Vorstellungen von historischer Entwicklung auf. Zwei aufeinander verweisende Gründe seien hier genannt. Der eine lässt sich mit Robert Muchembled so formulieren, dass »unseresgleichen nur selten aus einem Stück gemacht ist. Egal, ob wir ein klares Bewußtsein davon haben oder nicht, unsere individuelle Persönlichkeit ... ist aus mannigfachen kollektiven Anteilen zusammengesetzt, die unterschiedlichen Epochen entstammen«.17 Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die Überschichtung von modernen, jedenfalls der Modernität zugerechneten Denk- und Verhaltensweisen und Veränderungstrends mit resistenten Elementen aus älteren Kulturzuständen in der äußeren Welt wie in uns selbst wurde zum spannenden Thema. Es verband sich mit dem immer heftigeren Zweifel an der Vorstellung eines unter allen Krisen und Brüchen sich durchhaltenden »Fortschritts« zur Moderne, d.h. in letzter Instanz zu einer besser oder höher entwickelten Menschheitsgesellschaft.18 Das gilt für das marxistisch-leninistische Deutungsmuster, das ja eine Modernisierungstheorie sui generis darstellt,19 das gilt aber auch für die Annahme, dass der technisch-industrielle Fortschritt im Kontext freiheitlicher politischer Ordnungen zum höchsten möglichen Glück aller und zu einem immer chancenreicheren pursuit of happiness führen werde. Der Zweifel an eindeutig frage- und erkenntnisorientierenden Entwicklungskonzeptionen setzte ein neues Interesse am Detail frei, an Bestandteilen vergangener Kulturen, die 17 Muchembled, Erfindung (wie Anm. 12), S. 1. 18 Vgl. z.B. M. Mitterauer, »Heut’ ist eine heilige Samstagnacht«. Ein Passionsgebet im sozialgeschichtlichen Kontext seiner Überlieferung, in: van Dülmen (Hg.), Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn (wie Anm. 11), S. 260–299. Mitterauer verfolgt darin die Beharrungskraft und den volkskulturellen Zusammenhang eines Gebetstextes, der in seinen Ursprüngen bis ins Spätmittelalter zurückreicht und noch in der religiösen Praxis des frühen 20. Jahrhunderts gegenwärtig war. Grundlegend für das Aufbrechen der linearen Zeitvorstellung und der damit verbundenen linearen Fortschrittskonzeption war bereits F. Braudels Buch ›La Méditerranée et le monde méditerranéen á l’époque de Philippe II‹, Paris 1949, mit der Unterscheidung der Faktoren langer, mittlerer und kurzer Dauer. Braudel hat den Grundgedanken, dass in einer Gesellschaft unterschiedliche zeitliche Strukturen existieren, dann Schrittweise theoretisch vertieft und erweitert; vgl. ders., Histoire et sciences sociales á longue durée [1958], dt. in: M. Bloch u.a., Schrift und Materie der Geschichte. Vorschläge zur systematischen Aneignung historischer Prozesse, hg. v. C. Honegger, Frankfurt a.M. 1977, S. 47–85, zur Unterscheidung von drei Bewegungstypen bei der Einführung von Neuerungen vgl. auch F. Braudel, Écrits sur l’Histoire, Paris 1969; J. Le Goff, En moyen age: Temps de l’Église et temps du marchand [1960], dt. in: M. Bloch u.a., Schrift (s.o.), S. 393–414; die vom Historiker zu rekonstruierenden unterschiedlichen Formen der Zeiterfahrung sind dabei immer funktional auf die jeweiligen Orientierungsbedürfnisse in der Zeit und damit auf die Strukturen der Gesellschaft bezogen. Vgl. zuletzt auch R. Muchembled, Kultur des Volkes – Kultur der Eliten. Die Geschichte einer erfolgreichen Verdrängung [1978], dt. Stuttgart 19842, S. 51ff. 19 Und das, wie W. Küttler, Geschichtsperspektiven im Umbruch (wie Anm. 2), S. 5, formuliert hat, »durch seine besondere herrschaftslegitimierende Struktur von vornherein einer der wichtigsten Ansatzpunkte der seit den siebziger Jahren mit besonderer Schärfe artikulierten postmodernen Kritik am modernen wissenschaftlichen Geschichtsdenken geworden ist«.

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nicht Träger von Entwicklung und Fortschritt waren, an Gruppen und Individuen, die neben oder gegen diese Entwicklungen standen.20 Im Zeichen dieser Krise von »Entwicklung« beginnen sich festgefügte und scheinbar endgültige Periodisierungsschemata aufzulösen, sowohl was die Abgrenzung von Mittelalter und Neuzeit als auch was die Epochenschwelle um 1800 angeht, die neuerdings in zahlreichen Darstellungen relativiert oder negiert wird.21

III. Versucht man nun, diese provisorische Zwischenbilanz zusammenzufassen und auf Forschungstrends einerseits, Desiderata der Alltags- und Erfahrungsgeschichte andererseits hin zu überprüfen, so würde ich drei Punkte herausgreifen. Erstens den Trend hin zu einer Geschichte des Bewusstseins und seiner Formen. Faktoren des individuellen und kollektiven Bewusstseins treten zunehmend in den Vordergrund des Interesses.22 Es geht dabei nicht nur um die Erfahrungen und Sinndeutungen selbst, sondern um diejenigen mentalen Prägungen und ihren Wandel, die diese Erfahrungen und Sinnentwürfe ordnen, sie in eine bestimmte Richtung weisen und integrieren. Dazu gehören Fragen wie: Welchen Stellenwert hat Erinnerung oder Zukunftsspekulation für die Ausbildung individueller oder kollektiver Identität, und welche Typen 20 Der Historismus dachte durchaus in Kategorien der Entwicklung, wenngleich es hier erhebliche Unterschiede gab, die nicht eingeebnet werden sollten, vgl. W. Hardtwig, Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität. Der Historismus in neuer Sicht, in diesem Band, S. 51–76. In Deutschland setzte sich die Alltagshistorie vor allem von den Entwicklungs(Modernisierungs-) Erwartungen der kritischen Sozialgeschichte deutscher Provenienz ab, wo diese Fixierung auf Entwicklung noch zusätzlich betont wird durch die explizite Formulierung erkenntnisleitender Interessen. 21 Ariès, Zu einer Geschichte des privaten Lebens (wie Anm. 12), modifiziert z.B. ausdrücklich die klassische Epocheneinteilung und nimmt im Ergebnis seiner Untersuchungen über den Tod an, »dass es vom Spätmittelalter bis zum Ende des17. Jahrhunderts keinen wirklichen Wandel der fundamentalen Mentalitäten« gegeben hat. Muchembled, Kultur des Volkes (wie Anm. 18), S. 177, betrachtet das 17. und 18. Jahrhundert als »Übergangsphase zwischen Feudalismus und Kapitalismus, zwischen einer bäuerlichen und einer städtischen Kultur ..., die den Endpunkt ihrer Entwicklung in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts« erreicht habe. Eine wesentliche Rolle spielt für solche neuen Periodisierungen Norbert Elias’ Theorie der Zivilisation, da sie, selbst durchaus als Modernisierungstheorie interpretierbar, die Entstehung der Moderne als langfristigen Prozess skizziert, in dessen Konsequenz die Epocheneinschnitte um 1500 und der »Sattelzeit« 1750–1850 nicht mehr die zentrale Rolle spielen, wie in den alten Nationalgeschichten, aber auch in der modernen Sozial- und Begriffsgeschichte. 22 Le Roy Ladurie etwa setzt in den ›Bauern des Languedoc‹ (wie Anm. 7) nach dem ersten bevölkerungsgeschichtlichen Kapitel und dem zweiten Kapitel über die Geschichte des Bodenbesitzes und der Löhne, des Pachtzinses und der Profite im dritten Kapitel ganz neu an mit den beiden »Bewußtseinsrevolutionen – Reformation und Sprachrevolution«, die aus dem Vorhergegangenen schlechterdings nicht abzuleiten sind.

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von Erinnerung werden bevorzugt? Wie wird in einer bestimmten Gruppe »Schuld« oder »Vergebung« verstanden, wie wandelt sich diese Vorstellung?24 Wie entsteht das moderne Gewissen,23 und was gibt es dazu für funktionale Äquivalente? Welches Bewusstsein von sich selbst als handelnden Personen entwickeln Frauen unter bestimmten Bedingungen ihrer Berufsarbeit?25 Diese Bewusstseinsprägungen leiten die Formen, in denen die Menschen sich »ihre« Welt angeeignet – und dabei stets auch verändert haben.26 Sie entstehen nicht unabhängig von sozioökonomischen Voraussetzungen, aber sie wirken durch die Orientierung und Bündelung der Wahrnehmungen und Sinngebungen auf diese zurück. Daraus ergibt sich zweitens die Notwendigkeit zu weiteren Konzeptualisierungen des Kulturbegriffs. Er hat sich von der Fixierung auf die Hochkultur gelöst, die für den deutschen Sprachgebrauch lange bestimmend war, ebenso wie von der Fixierung auf die Sachkultur in der älteren Volkskunde. Er meint jetzt, sehr allgemein, ein Ensemble von »geistigen Vorstellungen und Praktiken, die für eine Gruppe von Menschen charakteristisch sind«.27 Die Grenzen der kulturellen Welten in einer Gesellschaft decken sich nicht einfach mit den gesellschaftlichen Unterschieden. Gleichwohl ist deutlich, dass die neue Kulturgeschichte des Alltags trotz ihrer Neigung zur Abgrenzung gegen die Beschäftigung mit anonymen Prozessen und dem Primat der Quantifizierung nicht nur einen Bruch mit den früheren Formen der Sozialgeschichte, sondern weithin auch eine Weiterführung darstellt.28 Einen Bruch stellt sie allerdings zumindest hierzulande mit ihrer Theorieskepsis dar. Damit ist auch die Frage nach der Synthesefähigkeit der Erfahrungsgeschichte aufgeworfen. Gewiss sind Synthesebedarf und Synthesekonzeptionen nichts Absolutes und ändern sich ihrerseits. Andererseits fällt auf, dass dort, wo erfahrungsgeschichtliche Synthesen gewagt werden wie etwa bei Robert Muchembled, die Kultur- und Zivilisationstheorien Freuds und Elias’ – also Theorien mit sehr großer Reichweite – Pate gestanden haben. Die Unschärfe der verwendeten Kulturbegriffe verweist drittens auf einen wesentlichen wissenschaftsgeschichtlichen Trend: die Dezentrierung der Per23 Vgl. Sabean, Das zweischneidige Schwert (wie Anm. 13), S. 63ff. 24 Vgl. H.-D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt a.M. 1991. 25 Vgl. N. Zemon Davis, Frauen im Handwerk. Zur weiblichen Arbeitswelt im Lyon des 16. Jahrhunderts, in: van Dülmen (Hg.), Arbeit, Frömmigkeit und Eigensinn (wie Anm. 11), S. 43– 74. 26 Vgl. Lüdtke, Alltagsgeschichte (wie Anm. 4), S. 12. 27 Muchembled, Erfindung (wie Anm. 12), S. 335; Ginzburg, Die Würmer (wie Anm. 8), S. 9. Die mangelnde Präzision der in der Alltags- und Erfahrungshistorie verwendeten Kulturbegriffe lässt sich allerdings nicht einfach nur als Ausdruck mangelnder Konzeptualisierungsfähigkeit verstehen, sondern ist auch das Ergebnis einer aktuellen kulturellen Situation; diese ist geprägt von der Koexistenz der verschiedensten Kulturen, »Gegenkulturen«, »Subkulturen« etc., d.h. sehr unterschiedlicher, in sich aber gleichwohl konsistenter Sinn- und Lebensformen. 28 Darauf weist vor allem Iggers, Geschichtswissenschaft (wie Anm. 2) hin.

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spektiven. So, wie sich die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass »das soziale Band ... nicht aus einer Faser« (Fr. Lyotard) gemacht ist,29 so gilt auch für die Geschichtswissenschaft selbst, dass sich ein verstärkter Pluralismus der Fragestellungen und Methoden durchsetzt. Nebeneinander bestehen die unverändert wichtige Politische Geschichte, die Historische Sozialwissenschaft bzw. Sozialgeschichte, die Historische Anthropologie und Geschichte der Gefühle, die Alltags- und Erfahrungsgeschichte, die neue politische Theoriegeschichte, zu der man auch die Begriffsgeschichte zählen kann. Weitere Differenzierungen lassen sich mühelos anfügen: die Geschichte von »innen«, die Geschichte von »unten«, die Geschlechtergeschichte usw. Alle diese Geschichten berühren und überschneiden sich vielfach, keine von ihnen kann den Anspruch durchsetzen, Integrationswissenschaft zu sein, alle sind Aspektwissenschaften. Auf der einen Seite gewannen der Alltag der Unterschichten und die »Volkskultur« die Aufmerksamkeit der Historiker und der historisch Interessierten, auf der anderen Seite begann sich die Forschung plötzlich auf die Eliten zu konzentrieren. Die Alltagsgeschichte entdeckte die Individualität der »kleinen Leute«, gleichzeitig kehrte die Biographie der großen Individuen zurück.

IV. Die historiographiegeschichtliche Situation ist demnach durch eine enorme Pluralisierungsdynamik gekennzeichnet, in der verschiedene, auch widersprüchliche Ansätze koexistieren.30 Max Webers »Polytheismus der Werte«31 setzt sich mit einiger Verspätung auch in der Geschichtswissenschaft durch, und es wäre unproduktiv, zu irgendeiner Form von innerwissenschaftlichem Monotheismus zurückkehren zu wollen. Dazu gehört auch, dass sich eine dominante, die professionelle Geschichtsarbeit im Wesentlichen bestimmende Motivationsstruktur nicht ausmachen lässt. Um in den Unterscheidungen Nietzsches zu sprechen: Neben dem »monumentalischen« Interesse, das die »Geschichte als Mittel gegen die Resignation« gebraucht und das in ihr »Anreizungen zum Nachmachen und Bessermachen« findet,32 und neben dem 29 J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen, Graz 1986, S. 119. 30 Sie entspricht dabei dem postmodernen Befund einer durchgreifenden Pluralisierung der Lebensformen und Sinndeutungen in einer gesellschaftlichen Ordnung, die weniger durch eine »gemeinsame Grundform« als durch ein »lockeres Netz differenter und kontroverser Formationen« gekennzeichnet ist, vgl. W. Welsch, Postmoderne zwischen Konsens und Dissens, in: AfK 73 (1991), S. 192–214, hier: S. 203. 31 M. Weber, Wissenschaft als Beruf, hier zitiert nach: Hardtwig (Hg.), Über das Studium der Geschichte (wie Anm. 4), S. 197–227, hier: S. 218f. 32 F. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, in: F. Nietzsche. Werke, hg. von K. Schlechta, Bd. 1, München 1954, S. 220.

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»kritischen« Interesse, das aufzeigen will, »wie ungerecht die Existenz irgendeines Dings, eines Privilegiums, einer Kaste, einer Dynastie zum Beispiel ist« und »wie sehr dieses Ding den Untergang verdient«,33 hat sich das »antiquarische« Interesse zunehmend zur Geltung gebracht. Es will, mit Nietzsches Worten, »auch die minderbegünstigten Geschlechter und Bevölkerungen an ihre Heimat und Heimatsitte« anknüpfen; was bei ihnen mitunter wie »Eigensinn und Unverstand« aussieht, kann doch zugleich der »heilsamste und der Gesamtheit förderlichste Unverstand« sein.34 Keiner dieser Typen ist privilegiert, jeder gehört zur psychosozialen, kulturellen und politischen Wirklichkeit, jeder hat sein eigenes Recht, seine Vor- und Nachteile – für das Leben wie für die Wissenschaft.

33 Ebd., S. 229. 34 Ebd., S. 226; vgl. dazu Hardtwig, Geschichtsstudium (Anm. 3), S. 54ff.

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6. Fiktive Zeitgeschichte? Literarische Erzählung, Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur in Deutschland Geschichtserzählungen haben derzeit eine Konjunktur, die einzigartig ist in der Geschichte der deutschen literarischen Kultur. Der Zusammenbruch der DDR und die deutsche Vereinigung gaben ihr zusätzlichen Auftrieb, doch handelt es sich offenkundig nicht um einen kurzfristigen Wachstumsschub, sondern um eine »Trendperiode«, die in West- und Ostdeutschland, in der alten Bundesrepublik und in der DDR nach einzelnen Vorläufern in den sechziger Jahren anlief und seit nunmehr vierzig Jahren mit einer wachsenden Zahl von Titeln und Auflagen anhält. Wolfgang Koeppen schilderte in seinen Romanen »Tauben im Gras« (1951), »Das Treibhaus« (1953) und »Der Tod in Rom« (1954) die Gesellschaft der entstehenden Bundesrepublik und entwarf dabei eine Art Sitten-Zeitgeschichte der westdeutschen Politik. Heinrich Böll eroberte mit Erzählungen über Kriegs- und Nachkriegsschicksale wie »Wo warst Du Adam?«1, »Der Zug war pünktlich«2, »Ansichten eines Clowns«3, »Gruppenbild mit Dame«4 den westdeutschen Büchermarkt. Er wie auch Günter Grass, der mit »Blechtrommel«5, »Katz und Maus«6, »Hundejahre«7 u.a. Furore machte, stiegen, wie man aus heutiger Perspektive sagen kann, zu 1 Opladen: Middelhauve 1951; München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1. Aufl. 1972, 17. Aufl. 1986 (310.–321.000), 23. Auflage 1995; die im Folgenden angegebenen Zahlen zu Auflagen und gedruckten Exemplaren haben für die Gesamtverbreitung nur einen – allerdings signifikanten – indikatorischen Wert. Fast alle Bücher sind in zahlreichen unterschiedlichen Ausgaben gedruckt worden, die Zahl der gedruckten Exemplare ist in den neuesten Ausgaben häufig nicht mehr angegeben. Die Recherche, für die ich Christian Weiß danke, kann aber doch die Proportionen verdeutlichen, um die es bei diesem Segment des Buchmarktes geht. 2 Opladen: Middelhauve 1949; München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1. Aufl. 1972, 18. Aufl. 1987 (316.–325.000), 23. Aufl. 1995. 3 Köln: Kiepenheuer & Witsch 1963; München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1. Aufl. 1967, 37. Aufl. 1988 (1.381.–1.410.000), 42. Aufl. 1997. 4 Köln: Kiepenheuer & Witsch 1971; München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1. Aufl. 1974, 16. Aufl. 1988 (395.–409.000), 19. Aufl. 1993. 5 Neuwied a. Rh.: Luchterhand 1959; Frankfurt a.M.: Fischer-Bücherei 1. Aufl. 1962, Auflage von 1972 (734.–755.000). 6 Neuwied a. Rh.: Luchterhand 1961; Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1. Aufl. 1963, 20. Aufl. 1971 (526.–550.000). 7 Neuwied a. Rh.: Luchterhand 1963, 21. Aufl. 1963; Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1. Aufl. 1968, 5. Aufl. 1970 (121.–140.000).

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– seinerzeit heftig umstrittenen – deutschen Nationalschriftstellern auf. Sicher war es bei beiden Autoren mehr die kritische Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte im Dritten Reich und nicht so sehr eine – trotz des neuen Tons, den sie in die deutsche Literatur brachten – über alle Zweifel erhabene literarische Qualität, die beiden mit der internationalen Anerkennung auch den Nobelpreis8 eintrug. Während Böll in den erzählerischen Formen traditionell blieb, brachte Uwe Johnson von seinen »Mutmaßungen über Jakob«9 an bis zu seinem opus magnum »Jahrestage«10 die Multiperspektivität modernen Erzählens in die Schilderung deutscher Schicksale zwischen Drittem Reich, DDR, Bundesrepublik und einem Leben in New York hinein. Auf dokumentarisches Material gestützte Rekonstruktionen der Vergangenheit ergaben ein vielschichtiges Bild etwa der Schlacht von Stalingrad.11 Alfred Andersch erzählte die Herkunft Heinrich Himmlers aus einem neuhumanistischen und autoritätsversessenen Elternhaus und den – fiktiven – missglückten Plan der geschlossenen Überführung einer kämpfenden deutschen Einheit in die angloamerikanische Gefangenschaft an der Westfront 1944.12 Walter Kempowski hatte mit seinen Familiengeschichten enormen Erfolg auf dem Büchermarkt wie mit Verfilmungen für das Fernsehen.13 Auch das deutsche Nachkriegsschicksal von Flucht und Vertreibung blieb nicht unbeschrieben. Siegfried Lenz14 und Horst Bieneck15 erzählten in Romanform von der Flucht aus dem Osten, Christian Graf von Krockow16 gab in autobiographischer Gestalt die Flucht seiner Schwester Libussa aus Ostpreußen wieder. Erzählungen wie Peter Weiss’ autobiographische »Romane«, »Abschied von den Eltern« und »Fluchtpunkt«17 8 1972, 1999. 9 Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1959, 4. Aufl. 1966 (14.-l6.000); Frankfurt a.M.: Fischer Bücherei 1. Aufl. 1962, Auflage von 1974 (163.–177.000). 10 Frankfurt a.M.: Suhrkamp, Band 1 1970, Band 4 1983. 11 A. Kluge, Schlachtbeschreibung, Olten: Walter 1964; W. Kempowski, Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch, 4 Bände, München: Knaus 1993. 12 Der Vater eines Mörders. Eine Schulgeschichte, Zürich: Diogenes 1980; Winterspelt, Zürich: Diogenes 1974. 13 Tadellöser und Wolff, München: Hanser 1971; München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1. Aufl. 1975, 8. Aufl. 1979 (111.–125.000). »Uns geht’s ja noch gold.« Roman einer Familie, München: Hanser 1972; München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1. Aufl. 1975, 12. Aufl. 1986 (167.–176.000), 17. Aufl. 1996. 14 Heimatmuseum, Hamburg: Hoffmann und Campe 1978, 4. Aufl. 1978 (201.–250.000); München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1. Aufl. 1981, 8. Aufl. 1988 (115.–134.000). 15 Erde und Feuer, München: Hanser 1982; München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1. Aufl. 1985, 2. Aufl. 1987 (13.–18.000). 16 Die Stunde der Frauen, Stuttgart: Deutsche Verlagsanstalt 1. Aufl. 1988, 11. Aufl. 2000; München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1. Aufl. 1992, 6. Aufl. 1995 (116.–125.000). 17 Abschied von den Eltern, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1961; Neuauflage in der »Edition Suhrkamp« 1964, 3. Aufl. 1966 (21.–30.000), 22. Aufl. 1995. Fluchtpunkt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1962; Neuauflage in der »Edition Suhrkamp« 1965, 4. Aufl. 1969 (29.–35.000), 14. Aufl. 1993.

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oder Fred Uhlmans »Der wiedergefundene Freund«18 schilderten meisterhaft die zeitgeschichtliche Erfahrung emigrierter deutscher Juden. In der DDR waren es u. a. Stefan Heym20, Christa Wolf 19, Franz Fühmann, Stephan Hermlin, Erich Loest, Jurek Becker, die nicht nur Geschichten, sondern auch »Geschichte« in fiktionaler Form erzählten, und zwar vorrangig die Geschichte der jüngsten Vergangenheit, also die Verwicklung von Menschen in das Zeitgeschehen des Dritten Reiches und der frühen DDR. Stefan Heym und Christa Wolf bedienten sich dabei auch der herkömmlichen, zum Teil aber erzählerisch hochmodern gestalteten Form des »historischen Romans«. Die literarischen Formen der Verarbeitung zeitgeschichtlicher Erfahrung umfassen Großromane wie etwa Heimito von Doderers »Die Dämonen«21, aber auch die als Roman deklarierte Autobiographie Martin Walsers22, die Dokumenten-Collage (Kempowski), sowie polemisch zugespitzte Kurzgeschichten (Böll). Das Spektrum der politischen Positionen der Autoren reicht von einem katholisch-scholastischen Hochkonservativismus (Doderer) bis zur oppositionellen Regimetreue sozialistischer DDR-Autoren. Eine Reihe von Brief- und Tagebucheditionen vor allem seit der Wende23 eröffnet faszinierende Einblicke in die jeweils persönlichen Zusammenhänge zwischen individueller Erinnerung, Formen des kollektiven Gedächtnisses, Erfahrung und Verarbeitung von politischer Herrschaft, aktuellen Diskursen und literarischen Schaffensprozessen. Zugespitzt kann man sagen, dass literarisch anspruchsvolles Erzählen im Nachkriegsdeutschland wie im Deutschland seit der Wen18 Zürich: Diogenes 1988 (Übersetzung der englischen Originalausgabe von 1971); Taschenbuchausgabe 1997. 19 Als »The Lenz Papers« zunächst veröffentlicht bei London: Cassels & Co l964; in der DDR auf Englisch herausgegeben bei Berlin: Seven Seas Publishers 1968; mit dem Titel »Die Papiere des Andreas Lenz. Roman« in der deutschen Übersetzung von Helga Zimnik veröffentlicht bei Leipzig: List 1963; in der Bundesrepublik unter dem Titel »Lenz oder Die Freiheit. Ein Roman um Deutschland« herausgegeben bei München: List 1965. Schwarzenberg, München: Bertelsmann 1984; Frankfurt a.M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1. Aufl. 1987; Aufl. von 1994 (68.–70.000). 20 Kassandra, Neuwied am Rhein/Darmstadt: Luchterhand 1983, 14. Auflage 1985. 21 München: Biederstein-Verlag 1956, Aufl. von 1985 (33.–35.000); München: Deutscher Taschenbuch Verlag 1. Aufl. 1985. 22 M. Walser, Ein springender Brunnen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998. 23 F. Fühmann, 22 [Zweiundzwanzig] Tage oder die Hälfte des Lebens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978; Ders., Briefe 1950–1984: eine Auswahl, Frankfurt a.M.: Büchergilde Gutenberg 1995; B. Reimann, Ich bedaure nichts. Tagebücher 1955–1963, Berlin: Aufbau-Verlag 1997; Dies., Alles schmeckt nach Abschied. Tagebücher 1946–1970, hg. v. A. Drescher, Berlin: AufbauVerlag 1998; Auszüge wurden bereits früher publiziert in: Brigitte Reimann in ihren Briefen und Tagebüchern, hg. v. E. Etten-Krause, Berlin: Verlag Neues Leben 1983; P. Huchel, Wie soll man da Gedichte schreiben. Briefe 1925–1977, hg. v. H. Nijssen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000; H. Böll, Briefe aus dem Krieg 1939–1945, 2 Bände, hg. v. J. Schubert, mit einem Vorwort von A. Böll und einem Nachwort von J. H. Reid, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2001; M. Frisch u. U. Johnson, Der Briefwechsel: 1964–1983, hg. v. E. Fahlke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999.

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de weithin in der fiktionalen Präsentation der Erfahrung und Deutung von Herrschaftsmissbrauch und totalitärer Anfälligkeit besteht: Es geht um den Anspruch auf selbstbestimmte Lebensführung und ihr Scheitern, um das Leben in den spezifisch deutschen Katastrophen, also um die fiktionale Präsentation von individuellen Schicksalen in den bewusst vergegenwärtigten spezifischen Zusammenhängen der deutschen Geschichte. Das Bild, das sich der an Geschichte überhaupt interessierte Teil der deutschen Öffentlichkeit von der jüngeren und jüngsten Vergangenheit macht, basiert gewiss zu einem Gutteil auf der Wissensvermittlung durch die Schule, durch Informationen aus Fernsehsendungen und Presse, und insofern – wenn auch mitunter in einem sehr verdünnten und verformten Zustand – auf den Ergebnissen der Geschichtswissenschaft. Was aber den Buchmarkt angeht, so übertrifft unzweifelhaft die Vermittlung historischer Erfahrung und Orientierung durch die fiktionale Literatur diejenige durch geschichtswissenschaftliche Darstellungen um ein Vielfaches. Was bedeutet dieser Befund für die Geschichtswissenschaft? Gewiss nicht, dass die Leistungen des Historikers von anderen Wissensvermittlern und speziell den Produzenten fiktionaler Texte über die Vergangenheit übernommen und auf diese Weise unnötig gemacht oder ersetzt worden wären; gewiss auch nicht, dass die Kriterien geschichtswissenschaftlicher Bewahrheitung in Zweifel zu ziehen sind. Es bleibt die Aufgabe des Historikers, durch Forschung bislang unerkannte Begründungszusammenhänge im vergangenen Geschehen aufzudecken, Ursachen, Verlaufsformen und Folgen des Wandels so komplex wie möglich zu erklären und diskursiv darzustellen. Aber die Geschichtswissenschaft hat doch zur Kenntnis zu nehmen, dass die literarische Präsentation von Vergangenheit in der Öffentlichkeit immer wichtiger geworden ist und dass sie offenkundig einen Bedarf deckt, den die geschichtswissenschaftliche Darstellung nicht befriedigen kann. Die Hinwendung zu »Geschichte«, »Gedächtnis«, »Erinnerung« hat gerade im letzten Jahrzehnt noch einmal eminent zugenommen, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen westlichen und westlich beeinflussten Welt. Kollektives Gedächtnis und kulturelle Erinnerung sind zu Schlüsselkonzepten für die Vermittlung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geworden.24 Zudem ist im Gefolge des »linguistic turn« die Literarität historiographischer Texte sehr viel deutlicher als zuvor herausgearbeitet worden. Dass auch die Geschichtswissenschaft »erzählt«, wenn auch auf anderer Wissensgrundlage, mit anderen Erkenntniszielen und einer anderen Erkenntnishaltung als die fiktionale Lite24 Für die Anfänge des Konzepts in Deutschland vgl. hier nur: J. Assmann u. T. Hölscher (Hg.), Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1988; A. Assmann u. D. Harth, Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung, Frankfurt a.M. 1991; J. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992; in Deutschland tritt ergänzend das Konzept der »Geschichtskultur« hinzu.

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ratur wird kaum mehr ernsthaft bestritten.25 Diese erinnerungskulturelle Situation zwingt die Geschichtswissenschaft, sich intensiver mit ihren theoretischen und insbesondere ihren sprachlichen Grundlagen auseinanderzusetzen als bisher. Dabei kann es nicht darum gehen, die absurde Frage noch einmal zu diskutieren, ob es eine außersprachliche Wirklichkeit gibt oder nicht. Auch der Rekurs auf den Wahrheits-Begriff hilft zumindest hier und jetzt nicht weiter, weil er die Aufarbeitung eines unendlichen Wahrheitsdiskurses voraussetzt, die von niemandem, der die »Wahrheit« allein für die Geschichtswissenschaft reservieren will, geleistet wird. Auch empfiehlt es sich, auf die in unserem Kontext mittlerweile erkenntnisfeindlich gewordenen Groß-Etiketten »Postmodernismus« und »Textualismus« zu verzichten. Vielmehr scheint es nützlich, das Verhältnis von geschichtswissenschaftlicher und fiktionaler Erzählung seinerseits ein Stück weit zu historisieren. Es zeigt sich dann, dass die enge Verwandtschaft zwischen beiden Textsorten schon im Begriff der »Historia« angelegt ist, dass die historische Präzeptistik die Probleme der Historiographie bis ins späte 18. Jahrhundert als Fragen einer speziellen Art von Literatur diskutierte26 und dass die Verwissenschaftlichung von Geschichtsschreibung keineswegs bedeutet, dass die geschichtswissenschaftliche Erklärung sich nicht des Mediums der »Erzählung« bedient.27 Zudem macht ein Blick auf die Geschichtsliteratur der Weimarer Republik deutlich, dass in Zeiten verschärfter Infragestellung etablierter Deutungsmuster – der »Krise des Historismus« – die von der »zünftischen« akademischen Geschichtswissenschaft gezogenen Grenzen zwischen wissenschaftlicher Geschichtsschreibung und sonstigen literarischen Präsentationsformen historischer Erfahrung und historischen Wissens brüchig werden und dass sich neue Formen der Konzeptualisierung und Präsentation geschichtlichen Wissens herausbilden. Diese decken einen Bedarf des Publikums, dem die herkömmlichen Formen der Historiographie nicht mehr genügen können. Das gilt auf der einen Seite für ausgreifende, assoziativ verfahrende Großsynthesen wie Oswald Spenglers »Untergang des Abendlandes«28, auf der anderen Seite für gut lesbare Biographien, die die vorhandene Forschung in Grenzen durchaus rezipieren, denen es aber vor allem auf Vermittlung und Wirkung in einer breiten Öffentlichkeit ankommt, wie etwa bei Stefan Zweig 25 Vgl. W. Hardtwig, Formen der Geschichtsschreibung: Varianten des historischen Erzählens, in diesem Band, S. 19–34. 26 Vgl. dazu vor allem R. Koselleck, Geschichte, Historie, in: O. Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart 1979, bes. S. 647f., sowie H. Günther, ebd., S. 635ff. 27 Vgl. W. Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der neueren Geschichtsschreibung, in: H.-J. Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 245–260. 28 Band 1 München 1918, Band 2 1923; Neuauflage in einem Band bei München: Beck 1990 (224.–229.000 für Bd. 1 und 203.–208.000 für Bd. 2).

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und Emil Ludwig. Und es gilt schließlich für eine Geschichtsschreibung, die auf intensiver Forschung beruht, aber bewusst die »Anschauung«, das »Bild« in den Vordergrund rückt und das kontemplative Erkenntnisideal durch ein Konzept von Geschichtsschreibung als Vorbereitung zur Tat ersetzt, wie es etwa Ernst Kantorowicz mit seinem »Kaiser Friedrich der Zweite« tut.29 Der Hinweis auf die Kämpfe um die Abgrenzung zwischen »wissenschaftlicher« und nicht-wissenschaftlicher Geschichtsdarstellung und auf die Historizität der Grenzziehung zwischen »Literatur« und Wissenschaft kann nun für den Historiker keinesfalls bedeuten, die in einem Jahrhunderte langen Prozess der Verwissenschaftlichung von Geschichtsschreibung erarbeiteten Kriterien und Standards aufzugeben oder auch nur in Frage zu stellen. Gewiss – sowohl der Verfasser eines »historischen Romans« – wobei dieser Gattungsbegriff eine Vielzahl unterschiedlicher Formen umfasst – wie auch der »wissenschaftliche« Geschichtsdarsteller »erzählen«30 und ganz gewiss ist die Opposition »Faktum« versus »Fiktion« unzureichend, weil auch der wissenschaftlich arbeitende Historiker in einem Maße mit fiktionalen Mitteln arbeitet, das er sich im Zeichen des Fortschrittsmodells zunehmender Verwissenschaftlichung lange verborgen hat und das in der Tat im Zuge des »linguistic turn« intensiver reflektiert wird. Aber der grundlegende Unterschied bleibt, dass es der Wissenschaft um die möglichst genaue Rekonstruktion tatsächlich geschehener Ereignisse kurzer oder langer Dauer geht, der historische Roman aber erfundene Geschichten erzählt.31 Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass etwa Golo Mann 29 E. Ludwig, Bismarck, Berlin: Rowohlt 1926, 83. Auflage 1928 (150.000 Stück); E. Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Berlin: Bondi 1927, 4. Aufl. 1936; vgl. zum Ganzen W. Hardtwig, Die Krise des Geschichtsbewusstseins in Kaiserreich und Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus, in diesem Band, S. 77–102; zum »Fall Emil Ludwig« vgl. v.a. C. Gradmann, Historische Belletristik. Populäre historische Biographien in der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1993; S. Ullrich, Im Dienste der Republik von Weimar. Emil Ludwig als Historiker und Publizist, in: ZfG 49 (2001), S. 119–140; ein knapper Aufriss der Problemstellung bei E. Segelcke, ›Die Fiktion des Faktischen‹: zum Verhältnis von Geschichtsschreibung und literarischer Moderne in der Weimarer Republik, in: Heinrich Mann-Jahrbuch 15 (1997), S. 77– 86. 30 Zu der frühen Debatte um den Erzählbegriff und fiktionale Elemente auch in der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung, die in Deutschland zunächst eher an den aus der analytischen Philosophie gewonnenen Erzählbegriff Dantos und seine Anwendung durch HansMichael Baumgartner anknüpfte und Hayden White sehr verspätet rezipierte: vgl. J. Kocka u. T. Nipperdey (Hg.), Theorie und Erzählung in der Geschichte, München 1979; vgl. auch R. Koselleck u.a. (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung, München 1982; zur Diskussion um H. White, Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century Europe, Baltimore 1973, 8. Auflage 1993; deutsch unter Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a.M. 1991; vgl. u.a. die Besprechung von W. Hardtwig, Eigentlich nichts als Tragödien, Komödien, Märchen und Satiren, in: FAZ, 8.10.1991 und den White gewidmeten Themenschwerpunkt in: Storia della Storiographia, 24 (1993). 31 Ob die von R. Schörken, Begegnungen mit Geschichte. Vom außerwissenschaftlichen Umgang mit der Historie in Literatur und Medien, Stuttgart 1995, getroffene Unterscheidung, dass der Fachhistoriker vor allem möglichst realitätsgetreu rekonstruiert, während der Autor des

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seinen »Wallenstein« und Martin Walser seine Autobiographie einen »Roman« nennen und dass es »dokumentarische historische Romane« gibt, bei denen »quellenmäßig belegbare geschichtliche Ereignisse und Personen im Zentrum stehen« und die mit »literarischen Mitteln ein historisch weitgehend authentisches, tendenziell ereignishaftes, handlungsreiches und kohärentes Geschehen« schildern.32

Literarische Aneignungen von Erinnerung Im Folgenden soll es auch nicht um die Literarität historiographischer Texte gehen. Vielmehr möchte ich dafür plädieren, dass die Historiker das spezifisch literarische Projekt zur Aneignung oder Wiederaneignung vergessener oder vom Vergessen bedrohter Geschichte ernster nehmen, als das bislang geschehen ist. Die Differenziertheit, die Breitenwirkung und die Intensität dieses Projektes haben in der deutschen Erinnerungskultur der Nachkriegsära – mit einer neuerlichen Steigerung seit Beginn der neunziger Jahre – ein solches Ausmaß gewonnen, dass die Zeitgeschichte daran nicht mehr vorbeigehen kann. Es geht also primär um den Quellenwert dieser Literatur für den Historiker. Auch dabei ist noch einmal zu unterscheiden, um welchen Quellenwert es sich handelt: einerseits für die thematisierten Zusammenhänge wie Drittes historischen Romans die Vergangenheit »vergegenwärtige«, und damit im menschlichen Bewusstsein zu einem »sekundären« Leben erwecke, den entscheidenden Punkt trifft, scheint eher fraglich, vgl. v.a. S. 11ff., 20f., 105; ergiebiger erscheint hier die These von P. M. Lützeler, Klio oder Kalliope? Literatur und Geschichte. Sondierung, Analyse, Interpretation, Berlin 1997, S. 12, dass Geschichte und Literatur jeweils unterschiedliche Mimesis-Auffassungen zugrunde legen : ein »Relations«– bzw. »Aussageverhältnis« zwischen Erzähler und Erzähltem, da der Historiker von realen Personen und Ereignissen berichte, und einen Funktionszusammenhang zwischen »Erzählen« und »Erzähltem« in der Literatur, da die vom Autor erschaffenen Romanfiguren nur erzählte Gestalten seien. 32 A. Nünning, Beyond the great story. Der postmoderne historische Roman als Medium revisionistischer Geschichtsdarstellung, kultureller Erinnerung und metahistoriographischer Reflexion, in: Anglia. Zeitschrift für englische Philologie 117 (1999), S. 16–48, hier S. 26; Nünning unterscheidet mit sehr guten Argumenten fünf Typen vergangenheitsorientierter Romane, nämlich neben dem dokumentarischen historischen Roman den »realistischen historischen Roman«, der in einem »präzise ausgestalteten geschichtlichen Milieu weitgehend fiktives Geschehen darstellt«, den »revisionistischen historischen Roman«, der sich »kritisch mit der Vergangenheit, dem kulturellen Erbe und literarischen Konventionen« auseinandersetzt, den »metahistorischen Roman«, dem es vor allem um die »fiktionale Rückbezüglichkeit« und weniger um die Handlungsebene selbst geht, und schließlich die »historiographische Metafiktion«, die diese Tendenz soweit verstärkt, dass historiographische Fragen explizit erörtert werden, ebd., S. 25–30; Nünning gewinnt diese Typologie am Beispiel des florierenden »postmodernen« historischen Romans in der englischen Literatur, vgl. ders., Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion (Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des modernen historischen Romans), Trier 1995.

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Reich, DDR, Kriegsgeschehen selbst und die von ihr ausgehenden oder ihr zugrunde liegenden Handlungszwänge, Mentalitäten und Deutungsmuster, andererseits für die kulturelle Situation und die Ausprägungen der Erinnerungskultur bei der Produktion dieser fiktionalen Texte. Stefan Heyms »Collin«, Christa Wolfs »Kassandra« oder Christoph Heins »Der Tangospieler« können auf ihr jeweiliges Deutungsangebot zum Verständnis der dargestellten Zeitzusammenhänge hin befragt werden, also etwa der tatsächlichen Prägungen und personellen Verflechtungen der späteren DDR-Nomenklatura im Exil, der Realität Trojas in den Jahren des großen Krieges oder der DDR in den Monaten des Prager Frühlings 1968. Sie können aber auch gelesen werden im Hinblick auf die politische und kulturelle Situation ihrer Autoren und die jeweilige Ausprägung von Erinnerungskultur bei der Produktion dieser Texte um 1979, 1983 und 1989. Die beiden Fragestellungen lassen sich nicht strikt voneinander trennen. Und es ist auch nicht sinnvoll, die denkbaren Rückwirkungen fiktionaler Texte auf die mögliche Faktur geschichtswissenschaftlicher Texte auszuklammern, wenn erst einmal grundsätzlich anerkannt ist, wie sehr auch historiographische Texte auf Fiktionalisierungen angewiesen sind. Im Folgenden soll aber vorrangig der Beitrag fiktionaler Vergangenheitsvergegenwärtigung zur aktuellen deutschen Erinnerungskultur diskutiert werden. Meine Überlegungen gehen aus von der Lektüre von fünf Büchern, die mir für die literarisch-belletristische Ausprägung des kulturellen Gedächtnisses in den beiden letzten Jahrzehnten in Deutschland bzw. mit Bezug auf Deutschland charakteristisch erscheinen. Die Texte sollen hier nicht im einzelnen interpretiert, sondern als Ausdruck von Interessenschwerpunkten und intellektuellen und moralischen Bedürfnislagen der kollektiven Erinnerung gelesen werden. Es handelt sich um Stefan Heyms »Collin«33, Christoph Meckels »Suchbild. Über meinen Vater«34, Christa Wolfs »Kassandra«35, Christoph Heins »Der Tangospieler«36 und Andrzej Szczypiorskis »Feuerspiele«.37 In allen Fällen geht es um Macht und Ohnmacht der Erinnerung, ihren Missbrauch oder die Folgen ihrer Absenz, um die Schwierigkeit, aber auch die unabweisbare Notwendigkeit des Erinnerns und Überlieferns, insgesamt also um den Kampf um das Gedächtnis. Stefan Heyms »Collin« handelt vom Kampf buchstäblich um Leben und Tod zwischen zwei altgewordenen Vertretern der DDR-Nomenklatura, dem Chef des Ministeriums für Staatssicherheit, Urack, und dem Staatsschriftsteller und Nationalpreisträger Collin. Beide liegen wegen eines Herzleidens 33 34 35 36 1991. 37

München: Bertelsmann 1979. Düsseldorf: Claassen 1980. Neuwied am Rhein: Luchterhand, 1983. Berlin: Aufbau Verlag 1989; hier zitiert nach der Ausgabe Frankfurt a.M.: Luchterhand Weimar: Diogenes 2000 (polnische Originalausgabe von 1999).

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in einer Prominentenklinik und arbeiten, durch sich überschneidende Lebensläufe, Dienst am Regime und Krankheitsschicksal aneinandergekettet, mehr nolens als volens ihre Vergangenheit durch. Angestoßen durch die Absicht Collins, Memoiren zu schreiben, kommen die dunklen und verschwiegenen Erlebnisse eines Kreises von alten Spanienkämpfern zutage, der in den ersten drei Jahrzehnten der DDR-Geschichte in die Mühlen der innerkommunistischen ideologischen Gegensätze geraten ist. Der Stasi-Chef Urack fürchtet Enthüllungen und Bloßstellung und hintertreibt mit allen Mitteln die Niederschrift der Memoiren. Die Verfügung über die Erinnerung und die mit ihr verbundene Macht über menschliche Schicksale droht aber auch den Schriftsteller Collin selbst zu einer moralisch höchst dubiosen Machtinstanz zu machen, zu einer Art »Urack des Wortes« (S. 50). Zusätzliche – und entscheidende – Dynamik erhält die Aufklärung der Vergangenheit durch das Interesse der Stationsärztin Christine, in der sich professionelle, aber auch menschlichweibliche Anteilnahme am Schicksal ihrer Patienten mit der Einsicht in die unvermeidliche Wiederkehr verdrängter Vergangenheit verbinden – allerdings mit fatalen Folgen für den eitlen Staatsschriftsteller, den sein Narzissmus und die Obsession des Triumphieren-Wollens in eine fragwürdige Produktivität treiben. Zum Personal des Romans gehört schließlich ein skeptisch-machtenthaltsamer jüdischer Intellektueller, der Wissen über die Vergangenheit, kluges Räsonnement und eine aufklärungsfördernde Diskursivität beiträgt. Die beiden Protagonisten Urack und Collin sind einander in abgrundtiefer Feindschaft verbunden, aber sie teilen, jeder auf seine Weise ein Repräsentant des altgewordenen Partei-Establishments, eine fundamentale Unfähigkeit: Erinnerung dort zuzulassen, wo sie eigene Schuld betrifft. Nicht nur der versteinerte Apparatschik Urack, auch der Memoirenschreiber Collin erklären, konfrontiert mit einem – übrigens immer noch sozialismusloyalen – Opfer des Regimes: »diese ganze Vergangenheit ist überflüssig geworden! ...« (S. 149). Gerade dieses Opfer, ein unscheinbar bescheidener, aber unkorrumpierbarer Mann namens Havelka, im spanischen Bürgerkrieg noch vorgesetzter Offizier, hatte seinem Untergebenen Collin das Leben gerettet, indem er ihn aus der Frontlinie des Kampfes zurückzog. Collin, der Schriftsteller, der Chronist, musste überleben, um später Zeugnis vom Geschehen ablegen zu können. In einem kaum verschlüsselten autobiographischen Roman brachte Collin diese Erfahrung dann unter Aussparung der Figur seines einstigen Bataillonkommandeurs auf den Begriff: »Mensch ... sagte der Unbekannte, daß einer von uns davonkommt, der berichten kann, was sich hier abspielt und warum, und wer daran Schuld ist! Du hast die Verpflichtung zu leben, verstehst du, weil du schreiben mußt, weil du DAS schreiben mußt! ...« (S. 61). Geht es bei Heym um die Repräsentanten eines erstarrenden totalitären Systems, so handelt Christoph Meckels »Suchbild« von einem Privatmann, einem bürgerlich-liberalen Poeten und Schriftsteller, dem – »real existieren122

den« – Vater des Erzählers, Eberhard Meckel. Insofern handelt es sich bei diesem Text nicht um eine fiktionale Erzählung, sondern um die Erinnerung an eine historische Persönlichkeit, einen deutschen Bildungsbürger, seine Charakterprägung, sein Verhalten und seine Arbeit im Kontext der nationalen Geschichte zwischen Kaiserreich und Bundesrepublik. Der Vater, Eberhard Meckel, repräsentiert nicht den auf pure Macht- und Geltungsinteressen herabgesunkenen Glauben an eine Ideologie wie der DDR-Funktionär Urack, sondern einen deutschen Typus, den des apolitischen Ästheten, der sich aus der Befangenheit in einer autoritär-paternalistischen Sozialisation, einem unklar-schwärmerischen Idealismus und der nationalen Kulturideologie nicht lösen kann. Auch er repräsentiert ein Generationenschicksal, das der Kriegsfolgegeneration (Geburtsjahrgang 1907). Allerdings vertritt er nicht die kriegerisch-heroische, sondern die poetisch-kontemplative und sozialresignative Richtung. Der nicht unbegabte Autor von Naturlyrik, Erzählungen, anekdotischer Prosa, auf dem Buchmarkt und beim Rundfunk durchaus erfolgreich, blendet die Welt von Wirtschaft und Politik in den späten zwanziger und dreißiger Jahren so gut wie völlig aus, gerät dann aber als Soldat und schließlich Offizier der Wehrmacht seit 1939 in eine Haltung, die sein Sohn als »Chauvinismus des gehobenen Untertans« beschreibt (S. 73f.). Aus Krieg und Gefangenschaft kehrt Eberhard Meckel körperlich und psychisch beschädigt zurück. Aber nicht nur seine Gesundheit ist angeschlagen, sondern auch sein Gewissen: »Die Frage nach deutscher Schuld ließ ihm keine Ruhe. Sie war nicht zu beantworten ohne die Preisgabe seiner mit Nachdruck behaupteten, persönlichen Rechtschaffenheit. Aber er gab seine Rechtschaffenheit nicht preis.« (S. 127) Eberhard Meckel verschreibt sich jetzt »lauter gute[n] und richtige[n] Aktivitäten«, unterstützt die lokale SPD, tritt bei Bürgerversammlungen auf, beteiligt sich an öffentlichen Diskussionen und wendet sich gegen die Notstandsgesetze, aber sein autoritärer Habitus und der permanent vorgeführte Gestus der Anständigkeit liegen wie ein Alpdruck auf der Familie und treiben die Söhne in die offene oder verdeckte Rebellion. Der Autor, Christoph Meckel, begründet seine Erzählung über Charakter, Leben und Verhalten seines Vaters mit der Entdeckung von dessen Tagebuch: »Ich hatte nicht die Absicht, mich mit meinem Vater zu beschäftigen. Über ihn zu schreiben erschien mir nicht nötig. Der Fall, ein Privatfall, war abgeschlossen. Ich hätte Erinnerungen an ihn notiert, ohne die Absicht, etwas daraus zu machen. Ich hätte vermutlich nicht länger an ihn gedacht. Neun Jahre nach seinem Tod kommt er wieder zurück und zeigt sein Profil. Seit ich seine Kriegstagebücher las, kann ich den Fall nicht auf sich beruhen lassen; er ist nicht länger privat. Ich entdeckte die Notizen eines Menschen, den ich nicht kannte. Diesen Menschen zu kennen war nicht möglich, ihn für möglich zu halten – unzumutbar.« (S. 63f.) Das Erinnern, selbst an den eigenen Vater, ist keine Privatsache mehr, obwohl es im Privaten wurzelt und sich weithin auf 123

die private Welt der Familie erstreckt. Die Entdeckung des väterlichen Tagebuchs als Quelle erhebt die Erinnerung zur gesellschaftlich-kulturellen und politischen Pflicht. Diese ist hier besonders prekär, weil sie verlangt, Wesensmerkmale, Einstellungen, Denkweisen des eigenen, trotz aller Schwächen geliebten, Vaters der Öffentlichkeit preiszugeben. Zur Begründung seines Unternehmens, das den Erzähler als Sohn, Opfer, Opponenten und Kritiker seines Vaters notwendigerweise selbst ins Zwielicht zwischen Sohnesloyalität und rückhaltloser, im Ergebnis denunziatorischer Enthüllung rücken muss, nimmt dieser jenes »elementare Entsetzen« für sich in Anspruch, dessen Fehlen er bei seinem Vater beklagt. Es fehlt, weil dem Vater die »Einsicht in den Zusammenhang fehlte«. (S. 69) Der gegenwärtigen und den zukünftigen Generationen die Einsicht in den Zusammenhang zu eröffnen – das ist die Aufgabe, der sich der Erzähler unterzieht, für die er aber auch einen nicht geringen Preis zu zahlen hat: die tiefe soziale und moralische Fragwürdigkeit, die darin liegt, die seelischen und charakterlichen Deformationen des eigenen Vaters der Öffentlichkeit auszuliefern. Aber das Erinnern, so lässt uns der Erzähler wissen, ist unabweisbar, selbst um den Preis einer irritierenden Ambivalenz zwischen menschlich-familiärer Loyalität und Chronistenpflicht. Die kollektive Aufgabe und Pflicht des Erinnerns muss geleistet werden, weil es nicht nur um den Vater, sondern auch um die Sozialisation – und insofern das Schicksal – des Sohnes und der folgenden Generationen geht. Sich-Erinnern baut die individuelle Identität auf. So steht denn am Anfang von Meckels Erzählung auch das »Glück der ersten Erinnerung«, ein »Gefühl von Sicherheit und blindem Vertrauen, eine wunderbare Gewißheit«, die vom Vater ausgeht, als der mit seinem kleinen Sohn im DKW über die brandenburgischen Chausseen braust. Dieses Glück der Erinnerung an die eigene Kindheit will sich auch Christa Wolfs Kassandra nicht nehmen lassen, als sie als Beutestück Agamemnons vor dem Löwentor von Mykenae auf ihren Tod wartet. In einem Strom von Erinnerungen und Reflexionen lässt Kassandra, die Tochter des Troierkönigs Priamos, die Priesterin und Prophetin des Untergangs von Troja, ihr Leben noch einmal Revue passieren: »Dies alles, das Troja meiner Kindheit, existiert nur noch in meinem Kopf. Da will ich es, so lang ich Zeit hab, wieder aufbaun, will keinen Stein vergessen, keinen Lichteinfall, kein Gelächter, keinen Schrei. Treulich, wie kurz die Zeit auch sein mag, soll es in mir aufgehoben sein.« (S. 34) Aber es bleibt nicht bei diesem letzten Glück des sich Erinnern-Könnens. Das Erinnern ist überindividuell bedeutsam, es konstituiert und orientiert die Gemeinschaft und insofern kommt es auch im Angesicht des Untergangs darauf an, so viel und so ›richtig‹ zu überliefern wie möglich. »Auf der Verehrung der toten Helden beruhte unser Glauben, unser Selbstgefühl«, lässt Wolf die Troianerin Kassandra sagen. Das Bewusstsein von Dauer, die Präsenz von Vergangenheit, die gestaltete Erinnerung stiften einen menschlichen Zusammen124

hang, in dem die Größe der Toten die Lebenden bescheiden und also human macht (S. 115). Erinnerung ist mehr als die bloße Macht der Tradition, die nur die alten Irrtümer auf die Jungen überträgt (S. 39). Vielmehr kommt es darauf an, Tradition zu korrigieren, Überlieferung zu formen, sich erstarrten Traditionen zu widersetzen, und das heißt zum Beispiel, unzeitgemäß gewordenen Heldenliedern, die in die Irre geführt haben, eine alternative Überlieferung entgegenzustellen. So spielt Kassandra zuletzt, mit Klytaimnestra konfrontiert, den Gedanken durch, sie um Lebensverlängerung anzuflehen: »Schick mir einen Schreiber, oder, besser noch, eine junge Sklavin mit scharfem Gedächtnis und kraftvoller Stimme. Verfüge, daß sie, was sie von mir hört, ihrer Tochter weitersagen darf. Die wieder ihrer Tochter, und so fort. So daß neben dem Strom der Heldenlieder dies winzige Rinnsal, mühsam, jene fernen, vielleicht glücklicheren Menschen, die einst leben werden, auch erreichte.« (S. 93) Christa Wolf hat in »Kassandra« das Geschehen und den geschilderten Untergang in eine frühgeschichtliche, mythische Vergangenheit verlegt, dabei aber eine Schlüsselerzählung über den Zusammenhang zwischen Entstehung totalitärer Herrschaft und Krieg geschaffen. Während Christa Wolfs »Kassandra« das Pathos des Erinnernwollens und Überliefernmüssens verkörpert, präsentiert Christoph Hein in seinem »Tangospieler« einen professionellen Historiker, dem in der Diktatur dieses Pathos abhanden kommt oder besser: ausgetrieben wird. Hein erzählt die Geschichte eines Assistenten der Geschichtswissenschaft an der Universität Leipzig, der wegen eines völlig harmlosen Auftritts als Ersatz-Klavierspieler in einem Studentenkabarett einundzwanzig Monate im Gefängnis verbringen muss und aus dieser Erfahrung so tief verstört und gekränkt hervorgeht, dass er zu einer selbstbestimmten Führung seines Lebens nicht mehr imstande ist. Er kennt die offizielle Doktrin über die Bedeutung der Vergangenheit: »Ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft« (S. 41). Er hat sie selbst in Vorlesungen und Seminaren vorgetragen, aber diese Doktrin und die Inhalte seines Geschichtswissens wie seiner Lehre stehen gleichsam neben ihm. Der Zufallsund Gelegenheits-Tangospieler ist professionell mit Erinnerung beschäftigt, aber diese ist unveränderlich und starr, ohne Bezug auf die individuelle Realität, herrschaftlich verformt und beliebig kommandierbar – was paradoxerweise dazu führt, dass er am Ende, nach einem ideologischen Fehltritt seines Kontrahenten im Institut anlässlich des Einmarschs der Warschauer-PaktTruppen in Prag 1968, rehabilitiert und in sein Amt wiedereingesetzt wird. Die Rückkehr in sein Amt bedeutet aber die restlose Unterwerfung unter die Willkürherrschaft des Regimes und seiner Diktatur über die Erinnerung, im Roman vorrangig motiviert aus der Hafterfahrung und der panischen Angst vor einer drohenden neuen Verhaftung. Dallow, der »Held«, erfährt seine Haft vor allem als Störung des Umgangs mit und als Verlust an Zeit, sie reißt ein Loch in die Kontinuität seines Lebens, zerstört seine – freilich zuvor schon fragilen 125

– menschlichen Beziehungen und hinterlässt eine nicht zu heilende Kränkung. Er will diese Zeit aus seiner Erinnerung löschen, er will vergessen und kann es doch nicht. »Ich will nichts vergessen, und ich will nichts verzeihen«, erklärt er verbittert kurz vor seiner endgültigen Unterwerfung (S. 192). Die Haft hinterlässt in ihm eine tiefe Teilnahmslosigkeit und die Unfähigkeit, mit der kleinen Freiheit umzugehen, die es auch in einer diktatorisch regierten Gesellschaft gibt (S. 116). Die hypertrophierte Erinnerung zerstört die Lebensimpulse, indem sie Erinnerung an Gewalterfahrung kettet. Die Angst vor der Gewalt setzt die Orientierungsleistung der Erinnerung außer Kraft. Überwertigkeit der persönlichen, gewaltgeprägten Erinnerung und Irrelevanz der kollektiven Erinnerung korrespondieren einander. Kunstvoll verknüpft Hein die Unterdrückungsakte einer machthörigen, pervertierten Justiz gegenüber dem Individuum und die Unterdrückung der Freiheitsimpulse ganzer Völker und Gesellschaften durch die gewaltsame Beendigung des »Prager Frühlings« 1968. In Diskussionen über die Prager Ereignisse verleugnet sich Dallow als Historiker (S. 159f., 168) und demonstriert damit förmlich den vom System erzwungenen Verlust seiner Selbstachtung. Selbstachtung braucht integrierte Erinnerung. Ein Staat mit verordneter, beliebig verfügbarer Erinnerung produziert Menschen, die ihrer Identität verlustig gehen. Alle, die professionell mit Geschichte umgehen, haben in diesem Roman ihre menschliche Integrität verloren und handeln unter dem Diktat von Macht- und Karrieregesichtspunkten. Menschlich integer hält sich hier nur, wer, wie etwa die Sekretärin des Instituts, unberührt bleibt von der Gleichsetzung von Erinnerung mit Machtlegitimierung. Umkreisen die bislang referierten Werke das Verhältnis von Diktatur und Erinnerung aus der deutschen Binnensicht, so repräsentieren die »Feuerspiele«, das letzte Werk von Andrzej Szczypiorski, den Blick auf die Ära von Gewaltherrschaft und Zivilisationsbruch im Nationalsozialismus und im Stalinismus aus jüdisch-polnischer Perspektive. Das Buch zieht eine Art Bilanz von Erinnern und Vergessen in der Gegenwart und verknüpft eine Rahmenhandlung aus den späten neunziger Jahren mit Ereignissen in Warschau und Polen während der deutschen und sowjetischen Besetzung. Im Zentrum stehen das Warschauer Ghetto und sein Brand 1943 sowie die Selektionsrampe in Auschwitz. Die Rahmenhandlung vereint Akteure von damals, Deutsche, Polen, Juden, Russen, anlässlich einer vermeintlich kleinen Gaunerei, eines Versicherungsbetrugs, in dem deutschen Kurort Bad Kranach. Symbolisch verklammert werden die Vorgänge durch die Gemeinsamkeit des Feuers – des Feuers beim Brand des Ghettos, der Verbrennungsöfen von Auschwitz und einer außer Kontrolle geratenen Brandstiftung, um die Versicherungspolicen für zerstörte Kunstwerke zu kassieren. Es ist das Manko des Buches, dass die Rahmenhandlung das Gewicht der Erzählung über das Grauen von Auschwitz und Warschau nicht trägt. Diese 126

selbst allerdings ist höchst komplex und verdichtet das Geschehen in einigen Personen und Aktionen von höchster symbolischer Aussagekraft. Leitmotivisch durchzieht das Buch die Botschaft von der Notwendigkeit von Erzählung und Erinnerung. Erinnerung schwindet und wird verdrängt, sie ist unentwegt vom Verschwinden bedroht – »denn es ist doch allgemein bekannt in der Welt, daß jeder nur soviel weiß, wie er wissen will. Und auch nur soviel im Gedächtnis behalten wird. Also wußte niemand etwas ... So wie in jener Zeit Hunderttausende, vielleicht sogar Millionen Menschen in Hamburg, Berlin, Leipzig und auch auf dem Lande, in den Ortschaften, in den Häusern und Hütten des riesigen und siegreichen Deutschland nicht wußten – weil sie nicht wissen wollten –, was sich in Warschau abgespielt hatte, sich später dort abspielte und sich in den darauf folgenden Jahren noch abspielen sollte, als die Feuersbrunst die Stadt in eine rauchende Ruine verwandelte und die Leichen schweigend zum Himmel schauten und mit weit geöffneten Mündern das Gift des Krieges einsogen« (S. 253). Der Kampf um die Erinnerung hat bei Szczypiorski eine polemisch-politische Seite und eine anthropologische. Mit der polemisch-politischen wendet sich Szczypiorski gegen das Vergessenwollen der Täter und gegen die Dreistigkeit, mit der sie das Vergessen einfordern und im übrigen überzeugt sind, dass ohnehin alles vergessen wird. So schlägt der »arische« Denunziant Westermann dem denunzierten ehemaligen jüdischen Schulfreund mit freundschaftlichem Lächeln und andächtigem Blick vor: »Joël, laß uns alles vergessen! ...« Resigniert stellt Joël Weiss fest, dass in der Tat alles bereits vergessen und vergeben sei: »Diese Vergangenheit hat eine Generalabsolution bekommen. Ganze Völker, Staaten, Interessengruppen kamen in deren Genuß. Zuerst die Deutschen, später die Sowjets, also die Kommunisten, die Nazis, Mitglieder des KGB und der SS, Funktionäre verschiedener Staats-, Polizei- und Parteiapparate. Aus der Zugehörigkeit ergibt sich die kollektive Verantwortung, die Mitschuld, die aus einer Parteizugehörigkeit oder Uniform herrührt. Mit einem Satz: Das ist Politik. Und sie wissen doch, daß dort, wo die Politik am Werk ist, es meistens keine ethischen Grundsätze gibt. Auf diese Weise wurde Westermann schon vor langer Zeit als Deutscher, als Nationalsozialist und als Offizier verurteilt. Was habe ich also noch mehr zu erwarten? Er hat recht, wenn er sagt, daß alles schon ausgesprochen wurde. In der heutigen Zeit macht man sich lächerlich, wenn man nach dem Gewissen seiner Nächsten fragt. Westermann weiß das sehr gut. Daher war sein Lachen auch ganz natürlich« (S. 287). Neben der polemisch-politischen Argumentation steht die anthropologische: Wo Leben ist, ist auch Vergessen. »Aus der Perspektive des Lebens« – so derselbe Joël Weiss – »... bin ich mir darüber im klaren, daß es nicht anders sein kann. Wäre das alles möglich, was rundum geschieht, wenn die Menschen sich fortwährend erinnern würden? Das wäre nicht möglich.« (S. 292f.) Der Pole Jan, mit dem Weiss seinen Dialog führt, mit dem das Buch 127

beginnt und endet, der im Vernichtungsgeschehen selbst nicht auftaucht, aber ausgezogen ist, um die Wahrheit zu erfahren, bietet einen Ausweg an: »Man kann sich erinnern, daß man sich ein wenig erinnert, aber nicht total. D.h. sich erinnern, aber dennoch nicht daran denken, daß es im Gedächtnis gespeichert ist. Eher sogar denken, daß alles vergessen worden ist, und dennoch wissen, irgendwo unter der Haut, irgendwo im Hinterkopf, daß es weiterhin im Gedächtnis existiert. Für immer.« (S. 293) Zwar gibt es kein Leben ohne Vergessen, aber nur das Erinnern bietet die Gewähr dafür, dass sich das Grauen nicht wiederholt. Daher muss es auch die Erinnerung aus zweiter Hand geben, in der nächsten Generation. Die zerstörte Lebenswelt der Juden taucht nicht wieder auf, sie ist unwiderruflich in den Flammen untergegangen. Aber sowohl die Untaten der Menschen wie auch ihre Träume können erzählt und also erinnert werden, immer wieder und ins Unendliche. Hier findet die Abwesenheit der beiden Träger der Erinnerung in der Rahmenhandlung, Jan und Joël Weiss, vom Mordgeschehen des Jahres 1943 ihren Sinn. Klar ist aber auch die Kritik am offiziellen, ritualisierten politischen Erinnern. Wo eine kollektive Verantwortung, »der Partei«, der »Wehrmacht«, »des Deutschen« angemahnt wird, dort geht es um Politik und also um Machtfragen. Auf dieser Ebene wird rasch verurteilt, vielleicht auch Schuld eingestanden und deklariert – und dann abgehakt. Worauf es jenseits der politischen Verwaltung von Erinnerung und Schuld ankommt, ist das individuelle Gewissen. Während das offizielle, politische Aufrufen einer Mitschuld aus kollektiver Verantwortung letztlich das Vergessen fördert, kommt es darauf an, das »Gewissen des Nächsten« wach zu halten – durch Erzählung des Geschehenen. Warum das so wichtig ist? Weil »sich ... alles wiederholen wird«, wenn wir vergessen (S. 227).

Motive fiktionaler Texte Die hier referierten fiktionalen Texte umkreisen das Thema »Erinnerung« aus ganz unterschiedlichen kulturellen, nationalen, gesellschaftlichen Perspektiven, mit höchst unterschiedlichen erzählerischen Mitteln, auch in unterschiedlichen geschichtlichen Momenten und unter ganz unterschiedlichen politischen Systembedingungen. Es gibt aber eine Reihe von Motiven, die in allen diesen Texten auftauchen, wenn auch selbstverständlich variierend in der Gewichtung, im historisch-politischen Kontext, in den Formen der narrativen Präsentation, in der Verknüpfung mit anderen Inhalten und literarischen Motiven. Erstens steht überall ein elementares Erinnerungsbedürfnis am Anfang und ein kategorischer Imperativ, überliefern zu müssen und nicht vergessen zu dürfen. Der kategorische Imperativ kann sich als Recht auf oder als Pflicht zur 128

Erinnerung artikulieren. Eine solche Typisierung scheint aber letztlich künstlich, das eine bedeutet immer auch das andere. Anders als bei den »Erinnerungsorten« im Sinne Noras38 geht es bei der angestrebten Form der Erinnerung nicht um mehr oder weniger ideologisch motivierte, mehr oder weniger interessenabhängige Strategien im Umgang mit der Vergangenheit, sondern um die Einsicht in ein elementares, geradezu anthropologisches Bedürfnis, um der Gegenwart und Zukunft willen die Erinnerung wach zu halten. Bei Stefan Heym erhält dieses Bedürfnis, gespiegelt im Bewusstsein des eitlen Staatsschriftstellers Collin, eine ironische Tönung, die aber aufgefangen wird durch das intensive Wissenwollen der unbefangenen und unbestechlichen Stationsärztin Christine. Erinnert und überliefert werden muss in extremis sogar dann, wenn es keine Zukunft mehr zu geben scheint wie nach dem Untergang Troias und der Versklavung seiner Überlebenden. Irgendeine Zukunft gibt es immer – in Form einer mit wenigen Sätzen angedeuteten Utopie bei Christa Wolf; in den sich einer Anpassung widersetzenden Gestalten Christine und des Urack-Sohnes Peter, der in den Westen flüchtet, bei Stefan Heym; in Gestalt des Sohnes und Erzählers Markus Meckel im »Suchbild«; sehr gebrochen im freiheitlichen Aufbruch des Prager Frühlings bei Christoph Hein, selbst wenn dieser Aufbruch unterdrückt wird; und schließlich selbst in der düsteren Warnung vor einer sich wiederholenden Vergangenheit bei Szczypiorski. Zweitens ist die Erinnerung vor aller gemeinschaftsstiftenden und orientierenden, vor aller kollektiven Bedeutung in sich selbst bedeutsam für das Individuum. Sich nicht Erinnernwollen oder -können führt zur Wiederkehr des Verdrängten in pathologischen Formen, so etwa bei der Mielke-Gestalt des Urack, so auch in der Zerstörung der zwischenmenschlichen Bindungsfähigkeit bei Heins »Tangospieler«. Oder die Verdrängung der Vergangenheit treibt ein moralisches Kompensationsbedürfnis hervor, das rhetorische Züge annimmt und unglaubwürdig macht, wie bei Meckels Vater. Ideologische Rechtfertigungen ex post wie bei dem Selektor von Auschwitz, Kugler, bewahren nicht vor abgründigen Gefühlen von Angst und Einsamkeit. Fehlende Erinnerung, etwa bei Kuglers Helfer Westermann, lässt diesen heute in Bad Kranach agieren wie einst in Warschau oder Auschwitz. Christa Wolfs Kassandra schließlich insistiert auf einer bewussten Wahrnehmung ihrer Umgebung bis zum letzten Augenblick und setzt damit den Strom ihrer Erinnerungen in Gang. Drittens geht es immer darum, mit der bloßen Tradition oder der falschen Überlieferung zu brechen und ihr eine bessere – authentischere, humanere, differenziertere, aufrichtigere, machtkritischere – Erinnerung entgegenzustellen. Heyms Roman handelt von den brüchigen Gründungsmythen der 38 P. Nora (Hg.), Les lieux de mémoire, Bde. 1–3, Paris 1986–1992.

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DDR-Nomenklatura, Meckels Erzählung von der Korrektur des Bildes, das der Vater von sich entworfen hat, vor sich selbst und vor seiner Umgebung. Kassandra rekapituliert, wie sie sich von der Gegenwarts- und Vergangenheitsdeutung der Troianer und ihres Königshauses löst und bewusst ein neues, spezifisch weibliches und macht-kritisches Narrativ aufzubauen beginnt. Szczypiorski schließlich stellt der Zerstörung der Erinnerung durch das offizielle Gedächtnis die Notwendigkeit eines ichnahen Sich-Erinnerns und Erzählens gegenüber – und macht auf der Opferseite in der abgründigen Gestalt des Warschauer Judenrats Grynspan das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in einer spezifischen Weise verknüpfende Deutungsmuster des jüdischen Messianismus und den durch ihn eingeschliffenen Attentismus für den Holocaust mitverantwortlich. Viertens spiegelt sich in den behandelten Texten eine entschiedene Individualisierung des Gedächtnisses und damit das Postulat persönlicher Wertentscheidung. Das institutionen- oder gruppenbezogene »soziale Gedächtnis« im Sinne von Maurice Halbwachs39 erodiert oder wird einer scharfen Kritik unterzogen. So führt bei Heym der Kampf um die Memoiren des Schriftstellers Collin zu einer gnadenlosen Entlarvung des Stasi-Apparats und der Persönlichkeitsstruktur seiner Repräsentanten. Auch bei Christoph Hein sind es zwei Stasi-Mitarbeiter, die dem aus der Kontinuität seines gelebten Lebens gestoßenen »Helden« Dallow eine neue Arbeitsstelle zu verschaffen versprechen und ihm damit zu einem »Vergessen-Können« verhelfen wollen, das für ihn nicht akzeptabel ist. Christoph Meckels Vater ist ein sensibler, aber instabiler Poet und Literat, dessen Charakter und Verhalten durch Familienschicksal wie durch die Institution Wehrmacht verformt ist – zugleich Opfer von deren deformierender Kraft und als ihr Mitglied doch auch partiell Täter. Gerade aber an die verformende Macht dieser Sozialisationsinstanzen und Institutionen kommt die Erinnerung des Vaters nicht heran – weswegen sie vom zurückblickenden Sohn in schmerzhafter, fast denunziatorischer Weise offengelegt werden muss. Kassandra löst sich in peinvollen äußeren und inneren Prozessen von der Macht der religiösen Rituale, der priesterlichen Mesalliance von Religion und Macht und den kollektiven Rollenerwartungen in das Tun und Lassen des Sehers bzw. der Seherin. Szczypiorski arbeitet an seinen Untätern, dem Selektor Kugler und Semjaschkin, einem KGB-Funktionär und Folterknecht, die Identitätsschwäche aus Geschichtslosigkeit als Grundlage der Amoralität heraus. In allen Texten stehen die Einzelnen im Mittelpunkt – entweder sofern sie von den Verlockungen der Macht korrumpiert und zu schwach sind, auf der eigenen, partialen Einsicht oder den Regungen des Gewissens zu insistieren; oder sofern sie sich in moralisch ambivalenter oder auch eindeutiger Weise ihre individuelle Erinnerung und also Identität er39 M. Halbwachs, Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 1985.

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kämpfen. So handeln die Stationsärztin Christine bei Stefan Heym, das Erzähler-Ich bei Christoph Meckel, die Seherin Kassandra in der schmerzhaften Trennung von ihrer Familie und in der Hinwendung zur neuen, sich vom Terror der Gewalt lösenden Gemeinschaft der Frauen bei Christa Wolf. Heins Tangospieler schwankt zwischen Nicht-Vergessen-Können und VergessenMüssen und verspielt damit seine letzte Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. Diese Individualisierung kollidiert auch in den Texten schon mit einem gleichzeitig registrierten Trend zur Ritualisierung und Symbolverfestigung im offiziösen kollektiven Gedächtnis und erhebt den Antagonismus zwischen individualisierter Erinnerung und ebenso machtlegitimiertem wie machtlegitimierendem offiziell-kollektivem Gedächtnis zu einer zentralen Struktur der Erinnerungskultur in den vergangenen zweieinhalb Jahrzehnten. Die Autoren verleihen dem individuellen Erinnern damit eine Sinnbestimmung, in der persönliche Wertentscheidungen im Vordergrund stehen. Der Ton liegt auf »persönlich« und »Wert« – und zwar bei allen dargestellten Personen. Jeder – gleich welcher sozialen Herkunft, welchen kulturellen Ranges und welcher moralischen Dignität – ist Subjekt, auch wenn er im Ergebnis als Opfer eines nicht beherrschbaren überpersönlichen Geschehens erscheint. Als Subjekt ist er notwendigerweise auch für sich und für das Geschehen um ihn herum zwar nicht allein – aber mitverantwortlich. Jeder einzelne ist aufgefordert, sich dem Missbrauch von Erinnerung für die Macht, sei es individuell-persönliche Macht oder kollektive Macht, zu widersetzen. Fünftens kreisen alle behandelten Texte um das Verhältnis von Erinnerung und Macht, alle beschwören die Freiheitsbedrohung, die entsteht, wenn die Erinnerung sich der Macht unterwirft oder die Macht sich der Erinnerung bemächtigt. Individualisierte, machtkritische Erinnerung ist die Bedingung persönlicher und kollektiver Selbstbestimmtheit. In der Erzählung über die äußere, institutionelle und politische ebenso wie über die individuelle, psychosoziale Unterdrückung, Verfälschung oder Eliminierung von Erinnerung reflektieren die Autoren die Bedingungen einer humanen, freiheitlichen gesellschaftlich-politischen Ordnung. Dass »freiheitlich« und »human« dabei unterschiedlich interpretiert werden können, liberal oder reformsozialistisch, ist in diesem Fall sekundär. In den erzählerischen Konstrukten über die Spannung von Macht und Erinnerung reflektiert die Erzählung die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit. Selbstreflexiv ist das fiktionale Erzählen immer, insofern es einen bestimmten Plot konstruiert und sich für bestimmte narrative Formen entscheidet. In den hier behandelten Texten aber wird diese Selbstreflexivität ostentativ, die Erzählung erzählt, aber sie diskutiert auch die Bedingung der Möglichkeit ihrer Entstehung und ihrer Form. Ohne die narrative Vergegenwärtigung des Vergangenen gibt es keine Selbstbestimmtheit – das ist auch das Selbstverständnis von Geschichtswis131

senschaft. Was dabei jeweils unter Selbstbestimmtheit verstanden wurde und wird, unterliegt natürlich dem kulturellen, gesellschaftlichen und politischen Wandel. Die Einsicht in diesen Sachverhalt macht auch die geschichtswissenschaftliche Erzählung selbstreflexiv. Insofern stehen die fiktionale Erzählung des Romanautors und die diskursive Erzählung des Historikers auf analogen Grundlagen. Die Selbstreflexion der Geschichtswissenschaft im letzten Vierteljahrhundert kann hier nicht ausführlich diskutiert werden. Es bietet sich jedoch an, auf einige Analogien zwischen fiktionaler und geschichtswissenschaftlicher Erzählung hinzuweisen, die sich, wie es scheint, in einem übergreifenden kulturellen und sozio-politischen Wandel seit einem Vierteljahrhundert herauskristallisieren.

Die Rückkehr des Subjekts So sind die zeitweise in der strukturbezogenen Sozialgeschichte verlorengegangenen Subjekte in die Geschichtswissenschaft zurückgekehrt. Es gibt ein verstärktes Interesse an Personen, den soziokulturellen Voraussetzungen ihrer Wertentscheidungen und den Folgen ihres individuellen Handelns. Diese Aufwertung des Subjekts betrifft sowohl die Gegenstandsseite wie die Person des rekonstruierenden Historikers selbst, dessen Wahrnehmungsweisen, lebensweltlich vermittelte Erfahrungen, Deutungsmuster jenseits einer bloßen Kritik von Befangenheiten und Interessenbedingtheit der Erkenntnis Aufmerksamkeit finden. Diese Rückkehr des Subjekts steht kulturell und soziopolitisch in sehr komplexen Kontexten, aber sie antwortet zweifellos ebenso wie die Individualisierung des Erinnerns in den fiktionalen Texten auf gesamtgesellschaftliche Tendenzen zur Individualisierung der Lebensführung. Man könnte sie mit guten Gründen kulturkritisch beleuchten und sowohl die Tendenz zur Personalisierung wie die damit verbundene Emotionalisierung beklagen. Doch fragt sich, ob damit nicht Chancen des Erkennens ebenso wie der Vermittlung von Erkenntnis verschüttet würden. Die »Personalisierung« ist sicherlich mit einem Methodenwechsel verbunden, den der geschulte Historiker mit größter Wachsamkeit verfolgen und kontrollieren sollte. Aber Personalisierung und selbst das, was – »Emotionalisierung« genannt – als Bedrohung der wissenschaftlichen Objektivität erscheinen mag, bieten auch Chancen: so die sehr viel größere Identifikationsmöglichkeit der Rezipienten mit den Akteuren der erzählten Geschichte, die Möglichkeit für viele, sich in der erzählten Geschichte wiederzufinden und teilzunehmen an den Geschicken von Menschen, die räumlich und vor allem zeitlich außerhalb des eigenen Kommunikationskreises stehen. An diesen Geschicken teilzunehmen heißt nicht notwendig, die Perspektiven und Wertungen der sie tragenden Personen zu teilen, 132

es kann auch heißen, sich abzugrenzen, eine Alteritätserfahrung zu machen – oder beides, Alterität und Identität in jeweils spezifischer Mischung zu erfahren. Mit der Personalisierung werden gegenüber den anonymen Prozessen auch die individuellen Wertentscheidungen und damit die Frage nach moralischen Bewertungen unabweisbar. Die verstärkte Virulenz von Wertenscheidungen ist vor allem dann wichtig, wenn nach der Orientierungsfunktion von Geschichte für die Zukunft gefragt wird. Denn was mit der Vergegenwärtigung von Wertentscheidungen erweitert und vertieft werden kann, ist die Einsicht in die Bedeutung individueller Entscheidung bei jedem einzelnen und zu jedem Zeitpunkt, auch beim vermeintlich anonymen historischen Subjekt, das gleichzeitig selbstverständlich immer auch Objekt überindividuellen Handelns ist. Die stärkere Berücksichtigung des Individuellen in der Geschichtswissenschaft erfordert auch eine Revision ihrer narrativen Strategien. Diese ist vielfach überdacht worden, wird vereinzelt auch experimentell erprobt, scheint aber im Ganzen über das Stadium der theoretischen Reflexion noch wenig hinausgelangt zu sein. Jedenfalls hat der linguistic turn die Sensibilität für die sprachliche Geformtheit der Überlieferung wie der Texte der Wissenschaft selbst gestärkt. Mit der Einsicht in die Literarität von Historikertexten wird früher oder später auch die Sensibilität für fiktionale Erzählungen und ihren historischen Erkenntniswert steigen. Gerade die Historiographiegeschichte, die sich mit den nicht-fiktionalen Erzählungen der professionellen Historiker beschäftigt, kommt über die Analyse von deren Literarität zu bemerkenswerten neuen Erkenntnissen.40 Vollzieht sich hier eine zumindest partielle Wiederannäherung von Geschichtswissenschaft und Philologie bzw. Literaturgeschichte, so wird es auch dem Historiker leichter werden, mit »belletristischen« Quellen und ihrem geschichtswissenschaftlichen Erkenntniswert kompetenter umzugehen als bisher. Der linguistic turn und damit die Einsicht in die Literarität der Überlieferung steht im Kontext der Medienrevolution unserer Tage, die das Verhältnis nicht nur der Geschichtswissenschaft zu ihrem Gegenstand und ihren darstellerischen Strategien, sondern auch zur Öffentlichkeit insgesamt in einer Weise verändert, wie sie sich in den behandelten fiktionalen Erzählungen bereits niedergeschlagen hat. Romanautoren und »Literaten« nehmen historische Deutungsautorität für sich in Anspruch, insbesondere für die Zeitgeschichte. Das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit verschiebt sich in mehrfacher Weise. Die Schriftsteller erzählen Geschichten von einer Komplexität und inneren Spannung, die der Historiker mit seinen expliziten, analytischen und 40 Vgl. v.a. D. Fulda, Wissenschaft aus Kunst. Die Entstehung der modernen deutschen Geschichtsschreibung 1760–1860, Berlin 1996; P. Müller, Revolution im ästhetischen Historismus. Die Rolle der Kultur in Jacob Burckhardts historischem Krisendenken, Mag.-Arbeit, HU Berlin 2001.

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insofern immer höchst reduktionistischen Erklärungsansprüchen nicht erreichen kann. Sie beglaubigen vielfach explizit oder implizit ihre Geschichten mit dem Erfahrungsreichtum und der unmittelbaren Betroffenheit der Zeitzeugenschaft, die der professionelle Historiker als Gefährdung seiner Objektivität zumindest virtuell bewusst und ostentativ einklammert. Der literarische Autor baut dabei den Gegensatz von Fachmann und »Laie«, den der Geschichtswissenschaftler unentwegt und notwendigerweise hervorkehrt, systematisch ab. Er ist damit Akteur und Protagonist in einem soziokulturellen Prozess, der der fortschreitenden Spezialisierung und Differenzierung der Lebens- und Wissensbereiche in der Moderne ein Stück weit zuwiderläuft. Die im Zeichen der Medienrevolution und der Globalisierung entstandene Sicht auf unsere Gesellschaft als Wissensgesellschaft integriert nämlich auch tendenziell alle ihre Mitglieder in die Prozesse der Produktion, Kommunikation und Nutzung von Wissen. Das führt im Verhältnis von Wissenschaft und außerwissenschaftlicher Öffentlichkeit zu einer verstärkten Kritik der traditionellen Vorstellung, dass sich passives Laienpublikum und wissenschaftliche Experten kulturantagonistisch gegenüberstünden. Wenn aber auf diese Weise ein hierarchisch verstandenes Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit in Frage gestellt wird, steigt notwendigerweise auch die Bedeutung der außerwissenschaftlichen Artefakte des kulturellen Gedächtnisses in ihren Rückwirkungen auf die Wissenschaft. Die Aufwertung des Individuellen bedeutet eine Relativierung der Macht-, Disziplinierungs- und Deutungsansprüche von Kollektiven. Diese verweist auf einen zunehmenden Prestigeverlust positiver kollektiver Zukunftsvisionen. In der Literatur über die Zukunft sind an die Stelle der Wunsch-Utopien Furcht-Utopien getreten.41 Der Zusammenbruch des Sozialismus hat diesen intellektuellen Prozess der Utopiekritik gleichsam in der Wirklichkeit sanktioniert. Vorweggenommen ist er in der literarischen Aufarbeitung der Diktaturen des 20. Jahrhunderts, auch in den Texten von Stefan Heym, Christoph Meckel, Christa Wolf und Christoph Hein. Sie alle handeln von den Irrwegen, auf die machtgestützte Zukunftsvisionen von planvoll strukturierten Gesellschaften geführt haben. Unabhängig davon, ob sie beabsichtigte oder unbeabsichtigte »Neben«-Wirkungen von Systemen beschreiben, die eine kontingenzfreie Zukunft mit Zwangsmitteln herbeiführen wollen – durchweg stellen sie nicht stimulierende, humanisierende, neue Freiheitsspielräume eröffnende Geschichtserfahrungen in den Mittelpunkt, sondern die »schwarze« Geschichte. Dies entspricht der gegenwärtigen Vorherrschaft der schwarzen Utopie in der Zukunftsliteratur. Gleichwohl ist die Erzählung dieser Unheilsgeschichten bezogen auf das Ideal einer freiheitlichen, humanen zukünftigen Ordnung. Die Erzählung von Unheilsge41 Vgl. L. Hölscher, Die Entdeckung der Zukunft, Frankfurt a.M. 1999.

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schichten aus der jüngeren Vergangenheit dient der Abwehr von Gefahren, die vom Übergreifen der kollektiven Zukunftsvisionen ausgehen. Damit decken diese Geschichten letztlich, sieht man vom Modischen und von den immer vorhandenen Mitläufertendenzen ab, den spezifischen Geschichtsbedarf unserer gegenwärtigen und zukünftigen demokratisch-pluralistischen Ordnung – auch dann, wenn diese wie etwa bei Stefan Heym 1979, Christa Wolf 1984 oder Christoph Hein 1989 nicht explizit in den Kategorien der westlich-pluralistischen, liberalisierten Gesellschaft gedacht war. Aus diesem Befund ergibt sich schließlich eine von vielen möglichen Überlegungen, warum der Holocaust zunehmend einen herausragenden Stellenwert in den Erinnerungskulturen nicht nur der Ursprungsgesellschaft Deutschland, sondern auch in den sonstigen europäischen und außereuropäischen Gesellschaften einnimmt. In einem Beobachter, der sich als – wenn auch nachgeborenes – Mitglied dieser Ursprungsgesellschaft begreift, regen sich gegen diese Universalisierung der Holocaust-Erinnerung Abwehrreflexe aller Art, aber es lässt sich nicht von der Hand weisen, dass der Vorgang eine historische Logik hat. Je komplexer die Gesellschaftssysteme, desto weiter ausgreifende Zeit- und Raumhorizonte sind für ihren Orientierungsbedarf nötig. Da sich der kommunikative Verkehr über die System- oder Nationsgrenzen hinaus rapide steigert, reicht die Vergegenwärtigung der jeweils eigenen System- oder Nationalgeschichte immer weniger aus. Der Holocaust ist ein Extremereignis, das in dem Maße für die verschiedenen nationalen Erinnerungskulturen wichtig wird, als sie sich miteinander verschränken. Je weniger die Vergegenwärtigung der eigenen System- oder Nationalgeschichte ausreicht, um sich für die Zukunft zulänglich zu orientieren, desto stärker rücken die divergenten Erinnerungskulturen oder, anders gesagt, die dezentralen Erinnerungspole, in eine universale Perspektive ein – und desto universellere Relevanz gewinnt das Extremereignis Holocaust. Zweifellos sind derzeit überall in der Welt die nationalen Erinnerungskulturen noch immer beherrschend und werden es noch längere Zeit bleiben. Aber es steht zu erwarten, dass es allgemeine, steigende Orientierungsbedürfnisse gibt, die die Mondialisierung des Holocaust vorantreiben. Damit ist allerdings auch die für die Genauigkeit und Gerechtigkeit der Erinnerung höchst bedrohliche Gefahr ihrer Entkontextualisierung verbunden. Ihr zu widerstreben ist dann wieder eine Aufgabe, bei der sich besonders der wissenschaftlich arbeitende Historiker gefordert sieht.

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7. Der Historiker und die Bilder. Überlegungen zu Francis Haskell 1 I. Dass die Kunst der beste Seismograph für den Zustand einer Gesellschaft sei, ist seit dem späten 18. Jahrhundert eine bei den Gebildeten – besonders in Deutschland – weitverbreitete Vorstellung. Besser als die spekulative und als die wissenschaftliche Vernunft decke die Kunst verborgene Wahrheiten auf. Von Schillers »Die Künstler« über die romantischen Künstlermythen bis zur Kunstwissenschaft der 1920er Jahre lässt sich dieser Gedanke verfolgen, bezogen nicht nur auf die bildenden Künste, sondern auf die künstlerische Produktion überhaupt, auf Literatur wie Malerei oder Graphik. »Die Romane«, heißt es bei Friedrich Schlegel, »sind die sokratischen Dialoge unserer Zeit; in diese lebende Form hat sich die Lebensweisheit vor der Schulweisheit geflüchtet«. Dieses Zitat griff Ernst Robert Curtius 1925 auf und fuhr fort: »die schöpferischen Werke der Literatur und der Kunst sind die Meilensteine, aus denen wir die Bewegungskurve des modernen Geistes ablesen können. Anzeichen einer Bewusstseinswende, deren Tragweite zu beurteilen vermessen wäre, darf man in dem Relativismus Prousts sehen wie in der Raumgestaltung moderner Malerei«.2 Bei der Lektüre dieser Passage notierte sich Max J. Friedländer, der Direktor des Kupferstichkabinetts im Berliner Kaiser-Wilhelm-Museum: »Entscheidende Wandlungen der Kultur sei frühest in Kunstwerken spürbar. So Curtius. Paßt auf Dürers ›Apokalypse‹ als eine Vorahnung der Reformation«.3 Unter dem Eindruck der Katastrophe des Ersten Weltkriegs diskutierte die deutschsprachige Kunstwissenschaft dann ausgiebig den zeitdiagnostischen und prognostischen Gehalt von Dürers Holzschnittfolge. Nicht dass die umfassende Krise der Reformation hier deutend vorweggenommen wurde, war dabei strittig, sondern nur die Frage, ob dies bewusst (Dvorák) oder intuitiv (Friedländer) geschehen sei.

1 F. Haskell, Die Geschichte und ihre Bilder, München 1995. 2 E. R. Curtius, Französischer Geist im 20. Jahrhundert (1925), Bern 1952, S. 345. 3 M. J. Friedländer, Erinnerungen und Aufzeichnungen, Mainz 1967, S. 53.

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Wenn diese Stimmen aus den Kulturwissenschaften der zwanziger Jahre ernst zu nehmen sind, wenn also Bildquellen signifikante Aussagen über Bewusstseinsformen und aus ihnen hervorgehende Handlungen oder Ereignisse machen können – warum macht dann die Geschichtswissenschaft bis heute so wenig Gebrauch von den hier in großer Zahl bereitliegenden und jedermann zugänglichen Quellen? Die Frage lässt sich nicht einfach wegwischen, indem man die angeführten Äußerungen ideologiekritisch als typisches Beispiel für die ästhetischen Überzeugungen des deutschen Bildungsbürgertums in einer Situation krisenhafter Bedrohung entlarvt. Dass Kunstwerke eine singuläre Quelle für den Historiker sein können, ist eine seit Beginn der Neuzeit immer wieder aufgestellte Behauptung. Sie findet sich in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen, von den Numismatikern des 16. bis zu den großen kulturhistorischen Werken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die historiographiegeschichtliche Forschung hat sie bisher unbeachtet gelassen. Statt dessen hat sich ihrer jetzt Francis Haskell, Inhaber des Lehrstuhls für Kunstgeschichte an der Universität Oxford, angenommen und dazu ein Buch von immenser Gelehrtheit und Vielgestaltigkeit geschrieben. Haskell hat sich, wie er selbst sagt, »vor allem darum bemüht, den Charakter der vorhandenen Kunstwerke und das Vorgehen jener Historiker aufzuzeigen, die sich in ihrem Denken von ihnen beeinflussen ließen« (S. 16). Dabei ist eine vielschichtige und höchst inhaltsreiche Geschichte der Beziehung zwischen Bild und Wort entstanden, soweit sie wechselseitig die Deutung und Bedeutung von Geschichte erhellen.

II. Haskell ordnet die Fülle seines Materials, indem er chronologisch aufgebaute, erzählerische Darstellung und thematische Schwerpunktsetzung miteinander verbindet. Das Buch setzt ein mit Petrarca und seiner Feststellung, dass der Bericht eines antiken Historikers über das gefällige Aussehen eines spätantiken Kaisers, Gordianus d. Jüngeren (238–244), offensichtlich nicht mit dem auf einer Münze festgehaltenen optischen Eindruck seines Porträts übereinstimmte. Damit ist der Anfang gemacht für die Frage, seit wann, wie und unter welchen spezifischen Umständen bildliche Quellen als solche identifiziert wurden, wann und in welchen Kontexten Überlegungen zum Erkenntniswert und zur Authentizität von Bildquellen auftauchten und welchen Stellenwert Bildquellen in der Altertumskunde und in der Geschichtsschreibung jeweils gewannen. Dabei unterscheidet Haskell deutlich zwischen theoretischen Äußerungen zum Einsatz der Bildquellen und der tatsächlichen Verwirklichung und Tragweite der programmatischen Bekenntnisse. 137

In einem ersten, kürzeren Teil behandelt Haskell die »Entdeckung des Bildes« bei den frühen Numismatikern, beim Umgang mit Porträts aus der Vergangenheit, in der bildlichen »historischen Erzählung und Reportage« und – systematisch nicht recht stimmig – unter dem Gesichtspunkt, wann und wie die Qualitätsfrage erstmals in die Diskussion gebracht wurde. Der zweite Teil, »Der Umgang mit dem Bild«, beginnt unter dem Titel »Fragen der Interpretation« mit einer Untersuchung zu Montfaucons Hauptwerken, zur Entdeckung und Interpretationsgeschichte des Teppichs von Bayeux und zu frühen Theorien über körpersprachliche Ausdrucksregularitäten in der Kunst und wendet sich dann in drei Kapiteln unter wechselnden Gesichtspunkten der entstehenden Kulturgeschichtsschreibung zu. Neben den bekannten Größen von Montesquieu und Muratori über Voltaire bis zu Winckelmann und Herder stellt Haskell eine ganze Reihe von Autoren aus der europäischen Gelehrtengemeinschaft vor, die nur dem Spezialisten bekannt sind. Es folgen jeweils nach der chronologischen Ordnung zwei Kapitel, die sich hauptsächlich mit der Geschichte des Museums seit der Französischen Revolution beschäftigen (Schwerpunkte liegen hier beim Pariser Musée des Monuments und dem Nürnberger Germanischen Nationalmuseum), zwei Kapitel hauptsächlich über Jules Michelet, John Ruskin, Jacob Burckhardt und Hippolyte Taine und ein weiteres, das sich schwerpunktmäßig mit der Altertumskunde und den Anfängen der Hinwendung zur Volkskultur und -kunst beschäftigt. Das systematisch nicht recht einzuordnende vorletzte Kapitel handelt von der »Kunst als Prophetie«; den Schluss bilden eingehende Untersuchungen über die Forschungsgeschichte zur altniederländischen Kunst und zu den kulturhistorischen Hauptwerken Johan Huizingas, dem »Herbst des Mittelalters« von 1919 und der »Holländischen Kultur im 17. Jahrhundert« von 1941. Eine wesentliche Leistung des Buches ist es, die Geschichte der Entdeckung und des Umgangs mit wichtigen antiken Überresten und Werken – der römischen Münzen und antiken Porträts, der Katakomben oder des Teppichs von Bayeux – zu erzählen und damit die konkreten Erkundungszusammenhänge freizulegen, in denen sich die Frage nach dem erinnerungsgeschichtlichen oder auch erinnerungspolitischen Wert bildlicher Überreste und Artefakte und damit auch nach den Formen des Umgangs mit ihnen stellte. Dadurch können die Fragen nach dem methodischen Zugriff auf die Bildquellen in ihre jeweiligen konkreten überlieferungsgeschichtlichen und kulturgeschichtlichen Zusammenhänge eingeordnet werden. Im übrigen gibt Haskell – zugespitzt gesagt – eine problemorientierte Geschichte von für die Kunst sensiblen Gelehrten und damit zugleich eine Geschichte individueller Versuche, Bildquellen zur Deutung der Vergangenheit heranzuziehen. Mit Gewinn und Vergnügen wird man z.B. lesen, was Haskell über die Entstehung der Sammlung Paolo Giovios zu sagen hat, über die Art und Weise, wie Giovio Originalporträts und anachronistische Porträterfindungen zu unterscheiden sucht und 138

doch zu einer prinzipiellen Trennung von wirklich zeitgenössischen und später erfundenen Bildnissen historischer Persönlichkeiten nicht kommt. Oder was Haskell über Montfaucons Deutung der Königsfiguren an den französischen Kathedralen und ihre Folgen für die Anfänge der kunsthistorischen Forschung berichtet. Ein Glanzstück des Buches ist auch die komprimierte, an Fallbeispielen einzelner Gelehrter und ihrer Publikationen entwickelte Geschichte der Münzkunde im 16. und 17. Jahrhundert. (An dieser Stelle sei ausdrücklich auch erwähnt, dass die Anschaulichkeit und optische Nachvollziehbarkeit des Gedankengangs und der Argumentationen durch eine Vielzahl exzellenter Reproduktionen geradezu vorbildlich unterstützt wird). Das alles ist aufschlussreich und durchaus spannend zu lesen und gibt Hinweise auf lebensweltliche Bezüge, in die die Geschichte eines methodischen Zugriffs einzuordnen ist. Die Kosten dieser vorrangig erzählerischen Organisation des Wissens sind allerdings nicht unbeträchtlich. Haskells Untersuchung enthält mehrere Fragestellungen oder besser: Sie trägt eine Fülle von Informationen zu mehreren Fragestellungen zusammen – so der Frage nach der Wahrnehmung und Bewertung von Kunst durch die kunstinteressierten Eliten in Italien, Frankreich, England und Deutschland vom 14. bis zum 19. Jahrhundert; der Frage nach den gesellschaftlichen und kulturellen Funktionen von Kunst in diesen Gesellschaften; der Frage nach den Formen der Kunstkennerschaft in der Frühen Neuzeit und den Anfängen der Kunstwissenschaft in Europa; der Frage nach der Forschungs- und Deutungsgeschichte bestimmter Werke; der Frage nach den Musealisierungs- und Ausstellungsformen von Kunst vom 16. bis zum 19. Jahrhundert; der Frage nach der Herausbildung historisch-kritischer Umgangsweisen mit Bildquellen und insofern auch nach der Methodologie von Geschichtsschreibung und Geschichtswissenschaft; der Frage nach der Thematisierung von Vergangenheit und Zukunft in Werken der bildenden Kunst selbst. Ideen- und sozialgeschichtliche Überlegungen stehen neben kunsthistorischen, kulturhistorischen und wissenschaftsgeschichtlichen. Die genannten Fragen und Methoden werden nicht gesondert als solche expliziert und fließen ineinander über. Wie gesagt – die Vorteile dieses Verfahrens sind offenkundig. Wahrscheinlich lässt sich ein gelehrtes Werk mit einer solchen Vielzahl von Aspekten und Informationen überhaupt nur auf diese Weise schreiben. Es provoziert den Historiker aber doch zu dem Versuch, das hier ausgebreitete Material zumindest in Ansätzen systematisch zu ordnen und entlang solcher systematischer Gesichtspunkte einmal ein Stück weiterzudenken. Zunächst sollen einige ausgewählte Erträge von Haskells Buch aufgenommen und in historiographiegeschichtlicher und geschichtstheoretischer Sicht reformuliert werden, ehe dann der Versuch gemacht wird, einige weiterführende Schlussfolgerungen zu ziehen. 139

III. Für eine Geschichte der Erinnerungskultur ist es wichtig zu wissen, dass die visuelle Erinnerung sehr früh bereits als Träger der Erinnerung an herausragende Ereignisse der politischen Geschichte mit ihren Kontexten gedient hat. Haskell fasst diesen Aspekt seines Buches zunächst unter dem Stichwort »Historische Erzählung und Reportage« zusammen. Die Ermordung von Thomas Becket im Jahr 1170 fand bereits zehn Jahre später ihren Niederschlag in illustrierten Manuskripten, ebenso wie die Einkerkerung der Templer im frühen 15. Jahrhundert oder die Krönung Karls V. von Frankreich. Der predigende Luther oder der Untergang der spanischen Armada wurden in prachtvollen Wandteppichen festgehalten, die Ermordung Wallensteins in einem Gemälde, die Hinrichtung der Maria Stuart, die Bartholomäusnacht oder der Einzug Heinrichs IV. in Paris in zahlreichen Stichen. Solche Darstellungen zentraler, geschichtlich genau bestimmbarer Ereignisse sind in der Frühen Neuzeit bereits durchaus häufig, wenngleich sie mengenmäßig noch weit zurückbleiben hinter den dominierenden Sujets aus der biblischen Geschichte, dem Leben der Heiligen, der antiken Mythologie bzw. Literatur. Es konnte im Mittelalter auch schon vorkommen, dass Bildern dokumentarische Beweiskraft in konkreten politischen Streitfragen wie etwa der Auslegung des »Friedens von Venedig« im Jahr 1177 zwischen Kaiser und Papst zugesprochen wurde. Die Bildpropaganda in der Reformationszeit ist spätestens seit Aby Warburgs bedeutender Abhandlung von 1920 auch ein Thema der Geschichtswissenschaft.4 Das Vertrauen in die Macht des Bildes für die Vergegenwärtigung der Vergangenheit war im späten 17. Jahrhundert so groß, dass die Vorstellung aufkommen konnte, außergewöhnliche Ereignisse müssten im Medium der bildenden Künste ihren Niederschlag ebenso finden wie in der geschriebenen Geschichte – andernfalls seien sie nicht wirklich wichtig oder würden nicht für wichtig genommen. Montesquieu und Muratori reflektierten über den Einfluss, den Bilder jeweils auf unsere Vorstellung von der Vergangenheit ausüben (vgl. S. 187f.). Von dieser Macht des Bildes gingen auch die französischen Revolutionäre aus, als sie den Kampf gegen die visuelle Erinnerung aufnahmen, die Königsdenkmäler stürzten und die Königsgrablege in Saint-Denis zerstörten. Seither sind zahlreiche Museen bewusst als Träger und Multiplikatoren nationaler Identitätskonstrukte konzipiert, wobei die propagandistische Absicht noch unterstrichen wird durch die auf emotionale Wirkung zugeschnittene Art der Präsentation (S. 256ff., 306ff.). 4 A. Warburg, Heidnisch-antike Weissagung in Wort und Bild zu Luthers Zeiten, in: ders., Ausgewählte Schriften 1, hg. D. Wuttke u. C. G. Heise, Baden-Baden 1979, S. 199–305.

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In einer solchen erinnerungsgeschichtlichen Perspektive ist auch aufschlussreich zu sehen, wie sich in der katholischen Geschichtskultur des 17. Jahrhunderts die Bewertung antiker Überreste um 180 Grad dreht, je nachdem, ob von der Aussagekraft einer antiken Götterstatue oder den im Jahr 1578 erstmals entdeckten Katakomben die Rede ist. Die bildende Kunst der Vergangenheit, die noch wenige Jahre zuvor – in Gestalt heidnischer Statuen – eine Bedrohung für die Kirche zu sein schien, sollte seit diesen Anfängen der christlichen Archäologie schrittweise zu einer der wichtigsten Waffen in der Rüstkammer des katholischen Historikers werden (S. 117). Deutlich ist hier der Vorrang der didaktisch-moralischen Ausbeutbarkeit der Artefakte vor ihrer ästhetischen Würdigung oder einer Bewertung als Dokument einer in allen ihren Aspekten wichtigen Vergangenheit, die ihren Bildungswert und damit ihre Bedeutsamkeit vor aller weltanschaulichen Zuschreibung in sich trüge. Deutlich ist auch, wie sich der jeweilige methodische Zugriff auf das visuelle Erbe nach der behaupteten moralisch-didaktischen Relevanz richtet und keinerlei Autonomie gewinnt. Neben der erinnungspolitischen, didaktisch-moralischen oder herrschaftlichen Indienstnahme von Artefakten aus der Vergangenheit kristallisierte sich schon seit der Mitte des 16. Jahrhunderts die Überzeugung heraus, dass bildliche Quellen auch zum besseren Verständnis der Vergangenheit um ihrer selbst willen herangezogen werden müssten. Immer wieder findet sich z.B. die Behauptung, dass Porträtsammlungen für den Historiker wichtig seien. Mehrfach wird eine Art Ersatzargument gebraucht, so z.B. bei Enea Vico um 1555: Da die geschriebenen Geschichten vielfach mangelhaft oder voreingenommen seien, müsse man auf das Studium der Bauwerke, Inschriften und antiken Medaillen zurückgreifen. Aber es ging nicht nur um die Substitution fehlender oder unzulänglicher Schriftquellen. Seit dem frühen 18. Jahrhundert gewann das Argument an Kraft, dass bildliche Quellen ergiebiger seien als das Buch. Für Scipione Maffei war 1731/32 ein Fries von Domenico Brusasorzi, der Papst Clemens VII. und Kaiser Karl V. bei einer Prozession in Bologna darstellte, »aussagekräftiger als jedes Buch, denn er zeigt, welche Menschen teilnahmen und in welcher Reihenfolge sie gingen, er zeigt die Kleidung, das Auftreten, das wirkliche Aussehen und die Porträts der wichtigsten Leute dort ... Was werden unsere Nachfahren von den Malern unserer Zeit über unsere Sitten, unsere Kleidung, unsere Zeremonien und Schauspiele erfahren?« (S. 195). Um 1840 war die Überzeugung zum Topos geronnen, dass die Kunst zuverlässigere Eindrücke vom Charakter eines Landes vermitteln könne als etwa der militärische oder wirtschaftliche Erfolg oder Misserfolg (S. 237). John Ruskin schließlich behauptete noch 1884 – als er den Thesen seines Frühwerks bereits skeptisch gegenüberstand: »Große Nationen schreiben ihre Autobiographien in drei Bücher: das Buch ihrer Taten, das Buch ihrer Worte und das Buch ihrer Kunst. Keines dieser Bücher können wir verstehen, wenn 141

wir nicht auch die anderen lesen; doch von den dreien ist nur das letzte vollkommen glaubwürdig« (S. 331). Allerdings bestand notorisch ein Widerspruch zwischen Programm und Ausführung. Haskell registriert bei den Porträtsammlungen, dass ein wirklicher Zusammenhang zwischen Bild und Text lange fehlte; Muratori sammelte beträchtliches Bildmaterial für seine Abhandlungen über die christliche Frühzeit, nutzte es aber nicht und zog sich bei seiner Besprechung der römischen und ravennatischen Mosaiken ausschließlich auf schriftliche Berichte zurück; der Comte de Caylus erklärte in seinem »Recueil d’Antiquités Egyptiennes, Etrusques, Greques et Romaines« (7 Bände, 1752–1767), dass die Sitten und mitunter auch der Charakter eines Volkes aus der Anzahl und der Qualität seiner Artefakte abzulesen seien, aber es gelang ihm nicht, dieses Programm auch einzulösen; immerhin aber kam er zu der Erkenntnis, dass künstlerische und historische Quellen in ihrer Aussage nicht notwendigerweise übereinstimmen müssten (S. 199 ff.). Und noch Jacob Burckhardt sprach zwar von der Aussagekraft der Kunst, stützte seine »Kultur der Renaissance« aber ausschließlich auf schriftliche Quellen. Wenn sich aus allen diesen Feststellungen also eine Schlussfolgerung für das Verhältnis von Kunstkennerschaft und Historie, von bildlichen und schriftlichen Quellen ergibt, so kann sie nur lauten: Das Verhältnis ist zunächst und vor allem ein solches der Nicht-Identität. Es gibt eine tiefe Differenz zwischen den Formen der Zuwendung zur Vergangenheit, die sich auf bildliche oder auf schriftliche Quellen stützen. Gleichwohl macht sich immer wieder das Bedürfnis geltend, Kunstwerke als Quellen zu nützen, sie sogar über die Schriftquellen zu stellen. Was – so muss man fragen – wurde unternommen, um diese Kluft zwischen Programm und Verwirklichung zu überbrücken? Die Frage nach der Relevanz von Bildquellen stellte sich dort immer deutlicher, wo die Altertumskunde Ansätze zu kulturgeschichtlichen Fragestellungen entwickelte und vor allem, wo sich eine spezifische Kulturgeschichte herauszubilden begann. Am Anfang stand für die Kunstkenner das Interesse an den »Realien« und ihrer Dokumentation durch die Bildquellen. Über die bloße Vermittlung von Wissen über das Aussehen von Personen, Kleidern, Behausungen hinaus wurden die Bildquellen dann in dem Moment interessant, als sich in kritischer Wendung gegen die politische Geschichte eine Geschichte der Sitten und der kulturellen Leistungen zu etablieren begann und mit ihr der Anspruch erhoben wurde, über die bloße Mitteilung zufälliger Einzelergebnisse – den traditionellen Inhalt der herkömmlichen »Historia« – hinauszukommen zur Vermittlung eines Allgemeinen, zur Erkenntnis aus Gründen. Der französische Mediävist Jean-Baptiste de La Curne de Sainte-Palaye zeigte sich seit den 1730er Jahren fasziniert von den Miniaturen in mittelalterlichen Handschriften, weil sie ihm nützliche Informationen über mittelalterliche Zeremonien, Kleidung und Bewaffnung zu liefern schienen. Zugleich machte 142

er sich so scharf wie keiner seiner Vorgänger die Bedeutung bildlicher Anachronismen klar (S. 175 ff.). Seroux d’Agincourt nahm 1823 in seiner »Histoire de l’art par les monuments, depuis sa décadence au IVe siècle jusqu’à son renouvellement au XVIe« die schon seit längerem diskutierte Frage nach den Ursachen für den Verfall der Künste in der Spätantike auf und begann dabei mit einer Darstellung der politischen, gesellschaftlichen und religiösen Hintergründe. Er belegte seine Entwicklungsgeschichte der Künste mit sorgfältig ausgewählten Illustrationen und lieferte vor allem – bis dahin ganz ungebräuchlich – Vergleichsmaterial (S. 214). Die Altertumskundler begannen also, politische, gesellschaftliche und mentale Strukturen einzubeziehen, während umgekehrt die Geschichtsschreibung verstärkte Anstrengungen unternahm, die Künste für Aussagen über den Stand der zivilisatorischen Entwicklung in der Vergangenheit zu nützen. William Robertson, einer der wichtigsten Vertreter der neuen aufklärerischen Geschichtsschreibung, plante 1759 nach dem großen Erfolg seiner »History of Scotland« ein Buch über das Zeitalter Leos X. und ist möglicherweise durch einen Brief David Humes davon abgeschreckt worden, in dem es hieß: »Wo wollen Sie das nötige Wissen über die großen Werke der Bildhauerkunst, der Architektur und der Malerei hernehmen, durch die sich dieses Zeitalter auszeichnet?« Dass man dies alles darstellen müsse, war demnach bereits selbstverständlich – zumindest bei einer so stark durch ihre kulturellen Innovationen geprägten Epoche. In seiner eigenen »History of England« ließ Hume die Künste allerdings völlig unberücksichtigt (S. 220). Einen entscheidenden Schritt zu einer Kulturgeschichte, die die Künste einbezieht, tat dann Voltaire. Er besaß zwar, so Haskell, »kein wirkliches Gespür für Malerei und Plastik«, und verglichen mit den Naturwissenschaften spielten die Künste auch nur eine untergeordnete Rolle, wenn es darum ging, die Errungenschaften einer Vergangenheit oder der Gegenwart zu beurteilen. In seinem »Siècle de Louis XIV« handelte Voltaire zwar relativ ausführlich von der Kunst, das einschlägige Kapitel ist aber nicht recht in den Hauptteil des Werkes integriert, noch bildet es, wie ursprünglich beabsichtigt, einen Höhepunkt. Ungeachtet dieser Einschränkungen betont Haskell die Bedeutung Voltaires für die Einbeziehung der Künste in die Geschichtsschreibung. Bei Voltaire ist die Kunst zu einem Gradmesser für den Entwicklungsstand der Zivilisation geworden. Darüber hinaus schuf er ein historiographisches Formelement, das überall in Europa Schule machte und bis heute die Konzeption und Gliederung von Gesamtdarstellungen beeinflusst: Erst wird die politische und die Gesellschaftsgeschichte, die Religionsgeschichte, die Kriegs- und Militärgeschichte etc. behandelt, dann schließt das Buch mit einem Kapitel über »Kunst, Literatur und Wissenschaft« ab (S. 220ff.). Im Übrigen gewinnt man aus Haskells Darstellung den Eindruck, dass die wesentlichen Innovationen, bei denen Kunstbetrachtung/Kunstgeschichts143

schreibung und Geschichtsschreibung immer näher aneinander herangeführt wurden, im 18. Jahrhundert im Wechsel zwischen Altertumskunde und Historie geleistet wurden. Vor allem ging es darum, die Entwicklung der Künste und die politischen und sozialen Strukturen immer enger zu verzahnen. Epochale Bedeutung kam hier Winckelmanns »Geschichte der Kunst des Altertums« von 1764 zu. Auch Winckelmann verharrte teilweise noch in simplen Analogien, etwa zwischen den blutigen Darstellungen auf den Gefäßen und dem »melancholischen Wesen« der Etrusker, oder auf herkömmlichen Ableitungen, etwa der »monströsen« Kunst der Ägypter aus deren durch das Klima bedingtem feurigen Temperament. Wesentlich aber war, dass er die alte Frage nach dem Niedergang der antiken Kunst mit einer ganz neuen Argumentationsfigur beantwortete. Die Kunst braucht Freiheit; wo keine Freiheit herrscht, verfällt sie. Winkelmann stützte diese These zudem auf eine neuartige umfassende Objektkenntnis und die kritische Sichtung aller literarischen Quellen. Wenn auch die aufklärerische Überzeugung vom unmittelbaren Bedingungszusammenhang zwischen politischer Freiheit und Qualität der Künste bald wieder aufgegeben werden musste, so gewann doch jetzt die Überzeugung höchste Plausibilität, dass die außerkünstlerischen, politisch-gesellschaftlichen Voraussetzungen den größten Einfluss auf die Kunst hätten. Dass die künstlerischen Ausdrucksformen die Formen der Herrschaft reflektieren und damit den Geist eines Volkes zum Ausdruck bringen – diese These wurde von jetzt an topisch. Die normativen Fixierungen der Altertumskunde wurden dabei noch nicht endgültig abgestreift, aber in Herders vehementen Reflexionen zur historischen Aussage der Kunstwerke kündigte sich doch auch schon der Gedanke an, dass alle Kunstwerke »unmittelbar zu Gott« seien. Es ist derselbe »Geist« Roms, der die Völker überwindet und Mauern, Tempel und Triumphtore errichtet: »Der Geist der Völkerfreiheit und Menschenfreundschaft war dieser Genius nicht; denn wenn man die ungeheure Mühe jener arbeitenden Menschen bedenkt, die diese Marmor- und Steinfelsen oft aus fernen Landen herbeischaffen und als überwundene Sklaven errichten mußten: wenn man die Kosten überschlägt, die solche Ungeheuer der Kunst vom Schweiß und Blut geplünderter, ausgesogner Provinzen erforderten, ja endlich, wenn wir den grausamen, stolzen und wilden Geschmack überlegen, den durch jene blutigen Fechterspiele, durch jene unmenschlichen Thierkämpfe, jene barbarischen Triumphaufzüge u.s.f. die meisten dieser Denkmale nährten; die Wollüste der Bäder und Paläste noch ungerechnet: so wird man glauben müssen, ein gegen das Menschengeschlecht feindseliger Dämon habe Rom gegründet, um allen Irdischen die Spuren seiner dämonischen übermenschlichen Herrlichkeit zu zeigen« (S. 247f.). Umgekehrt ist die gotische Baukunst die Leistung der Stadtrepubliken und ihrer Rivalität: »im ganzen aber wird die bessere Gothische Baukunst am meisten aus der Verfassung der 144

Städte und dem Geist der Zeiten erklärbar... An Klöstern und Ritterkastellen wäre die kühnste und zierlichste Gothische Baukunst nie geworden; sie ist das Prachteigentum der öffentliche Gemeinde« (S. 249). Anders als meist in der älteren Altertumskunde gründen sich solche Urteile jetzt auf die wirkliche Anschauung der Objekte, wenn schon nicht im Original, so doch in irgendeiner Form der künstlerischen Wiedergabe; Herder hat seine Vorstellung von den römischen Monumenten höchstwahrscheinlich aus den Radierungen Piranesis gewonnen (S. 247ff.). Den nächsten und höchst folgenreichen Schritt tat dann – Haskell zufolge – Hegel. Über seine offene oder untergründige Wirkung setzte sich der »Gedanke, daß die Künste integraler Bestandteil eines gleichsam göttlichen Musters waren«, welches sämtliche Aktivitäten des Menschen umfasste, »bei vielen bedeutenden Kunsthistorikern und allen großen Kulturhistorikern des 19. und 20. Jahrhunderts endgültig fest« (S. 253ff.). Den Reigen dieser großen Kulturhistoriker eröffnet Haskell dann mit Jules Michelet. Sie sind für uns nicht mehr nur von antiquarischem Interesse. Ihre Versuche, Kunst und Geschichte miteinander zu vermitteln oder auch die Grenzen, auf die sie dabei stoßen, verlangen Aufmerksamkeit auch in methodologischer Perspektive. Sie sollen daher im Rahmen einiger systematischer Überlegungen behandelt werden, die sich ausgehend von Haskell und im Anschluss an ihn ergeben.

IV. Haskell selbst geht erklärtermaßen von den Kunstwerken aus und kommt von ihnen zu den intellektuellen Versuchen, sie für geschichtliche Erkenntnisse zu nützen. Die spezifisch historiographiegeschichtliche Forschung zur Frühen Neuzeit – z. B. Hassinger, Kelley, Koselleck5 – bleibt ebenso unbeachtet wie die zur Aufklärungsgeschichtsschreibung und zum Historismusproblem. Auch die Geschichtstheorie von der Frühen Neuzeit bis zum Historismus bezieht Haskell mit einigen wenigen Ausnahmen nicht ein. Haskell kann daher nicht unterscheiden zwischen der älteren »Kunde« und den Formen der Geschichtswissenschaft im 19. und 20. Jahrhundert. Es entgeht ihm jener Prozess, den man in den letzten Jahren als »Verwissenschaftlichung« der Geschichtsschreibung zusammengefasst hat – die Systematisierung der Quellenkritik, die Verfeinerung der philologischen Methoden, die dann in die entstehende Geschichtswissenschaft übernommen wurden, die Integration verschiedener Techniken der Quellenanalyse zum historisch-kritischen Ver5 Vgl. v.a. R. Koselleck, Art.: »Geschichte, Historie«, in: W. Conze u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 2, Stuttgart 1975, S. 593–718; ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979.

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fahren, das Aufkommen des Anspruchs, nicht zu erzählen, sondern erklären zu wollen.6 Es mag sein, dass dies ein Einwand v.a. aus der deutschen Perspektive mit ihrem besonderen Akzent auf dem Historismus ist, doch vollziehen sich vergleichbare Prozesse der Verwissenschaftlichung auch in Frankreich schon in der Spätaufklärung, und da Haskell das ganze 19. Jahrhundert in seine Untersuchung einbezieht, müssten die Diskussionen um die Anwendung einer immer bewusster gehandhabten Methodik auch in gesamteuropäischer Perspektive stärker in den Blick genommen werden. Dem entspricht auch, dass Haskell zwischen »Kennerschaft« und ihren verschiedenen Varianten und »Forschung« nicht unterscheidet. »Forschung« ist für Haskell jede intensive Beschäftigung mit einem Gegenstand – unabhängig von Professionalisierungsprozessen bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit. Der qualitative Wandel in der Systematik der Beschäftigung mit der Vergangenheit, der sich seit dem späten 18. Jahrhundert vollzieht, kann so – was Geschichtswissenschaft und Geschichtsschreibung angeht – nicht zureichend erfasst werden.7 Dies alles ist deshalb nicht unwichtig, weil Haskell die allmähliche Umwertung des Erkenntnisgehalts der Kunst für die Geschichtswissenschaft zwar beschreibt, aber nicht erklärt. Er geht z.B. der Bedeutungsanalogie von »Historia« im geschichtstheoretischen, kunsttheoretischen und kunst-geschichtlichen Sprachgebrauch nicht nach. Das ist bedauerlich, denn Identitäten in der Sprachwelt verweisen immer auf Identitäten in der Sachwelt. Was haben Historienmalerei und die Erzählung von Historie gemeinsam – und worin liegt ihre entscheidende Differenz? Da Haskell die theoretische Dimension kaum einbezieht, kann er keine Aussagen darüber machen, welcher Wirklichkeitsgehalt und welche Aussagedimensionen sowohl der Kunst wie der Geschichtsschreibung jeweils in der grundsätzlichen Reflexion auf Bedingungen und Möglichkeiten der Erkenntnis zugemessen wurden. Diesen Einwänden muss sich noch eine weitere Überlegung anschließen. Was bedeutet es, dass mit der Wendung zum Historismus die Geschichtsschreibung selbst ästhetisch wurde – nicht nur in Deutschland, sondern auch und gerade in Frankreich?8 Müssten dann nicht Bildquellen prinzipiell eine sehr viel größere Rolle spielen? Dies war offenkundig nicht der Fall, jedenfalls nicht in dem Maße, dass es der historiographiegeschichtlichen Forschung 6 Vgl. W. Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung zwischen Aufklärung und Historismus, in: ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 58– 99. 7 Vgl. W. Hardtwig, Konzeption und Begriff der Forschung in der deutschen Historie des 19. Jahrhunderts, in: A. Diemer (Hg.), Konzeption und Begriff der Forschung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Meisenheim 1978, S. 11–26. 8 Vgl. W. Hardtwig, Geschichte als Wissenschaft oder Kunst, in: ders., Geschichtskultur (wie Anm. 6), S. 92–102; ders., Historismus als ästhetische Geschichtsschreibung. Leopold von Ranke, in: GG 23 (1997), S. 99–114.

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bisher aufgefallen wäre. Gleichwohl bleibt festzuhalten, dass die Heroen der historistischen Geschichtswissenschaft im deutschsprachigen Raum der Kunst eine auffallende Aufmerksamkeit zugewandt haben: Von Burckhardt ist es allbekannt, von Ranke, auf den Haskell ausdrücklich hinweist, weniger – Ranke schrieb in seiner Jugend eine »Italienische Kunstgeschichte« und ein Nachlassband verzeichnet seine kunsthistorischen Notizen aus Italien –, und schließlich ist neuerdings darauf aufmerksam gemacht worden, dass auch Droysen in seiner »Historik« ausdrücklich die bildliche Überlieferung in den Quellenfundus des Historikers aufnimmt.9 Trotzdem ist offensichtlich, dass Bildquellen für den deutschen Historismus keine erhebliche Rolle gespielt haben: Ranke beschränkte sich in seinen »Nationalgeschichten« auf die Abschnitte über Kunst und Literatur, die freilich für die eigentliche Behandlung der politischen und der konfessionellen Geschichte nicht unverzichtbar waren. Warum – so fragt sich – haben Bildquellen keine entscheidende Rolle gespielt, auch als der Wunsch nach einer letztlich harmonischen, nicht an der Unauflöslichkeit, sondern an der Versöhnung von Konflikten orientierten Geschichtskonzeption die großen Darstellungen bestimmte und als der okulare Zugang, der Wunsch, ein Bild, nicht eine Beschreibung oder Analyse der Vergangenheit zu geben, bestimmend war? Das entscheidende Hindernis war zweifellos, dass es den Geschichtsschreibern der Moderne wie auch der Frühen Neuzeit primär um Machtgeschichte ging. Und Machtgeschichte erschließt sich nun einmal aus den schriftlichen Quellen unkomplizierter, präziser und umfassender als aus der bildlichen Überlieferung. Gewiss: Auch die bildliche Überlieferung kann erhebliche Auskünfte über die Machtgeschichte geben – freilich erst dann, wenn die Entstehung von Kunstwerken aus dem Interesse an Macht, aus Konflikten um Macht und aus der Repräsentation und Veranschaulichung von Macht eingestanden und ernstgenommen wird. Dies wiederum setzt eine bestimmte Theorie – oder, auf weniger elaborierter Ebene – eine Auffassung, ein mehr oder weniger diffuses Vorverständnis von Kunst voraus, das Kunst nicht als Schöpfung versteht, die sich letztlich jenseits aller anderen Bedürfnisse und Interessen ausschließlich einem »interesselosen Wohlgefallen« (Kant) der Auftraggeber, Schöpfer und Betrachter verdankt – wenn also die Autonomie des Kunstwerks nicht exklusiv die Wahrnehmungsinteressen und -formen bestimmt.10 Es ist also ein bestimmter Kunstbegriff vorauszusetzen, der es erlaubt, die Entste9 Vgl. H. Boockmann, Belehrung durch Bilder? Ein unbekannter Typus spätmittelalterlicher Tafelbilder, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 57 (1994), S. 1. 10 Vgl. einführend dazu: W. Busch, Die Autonomie der Kunst, in: ders. (Hg.), Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funktionen I, München 19912, S. 230–57; M. Müller u. a., Autonomie der Kunst. Zur Genese und Kritik einer bürgerlichen Kategorie, Frankfurt a.M. 1972.

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hung von Kunstwerken auch – keineswegs nur – aus Machtinteressen zu akzeptieren. Doch die Wahrheit der Bildquellen liegt zunächst und vor allem auf einer ganz anderen Ebene als der, auf der die Historiker suchen – ungeachtet solcher möglichen Involvierung von Bildquellen in Machtinteressen. Anders als die Historiker, die es sich im Verlauf der Neuzeit immer entschiedener zum Programm gemacht haben, die res factae von den res fictae zu trennen,11 sind die Künstler dieser Art von Wahrheitspostulat nicht verpflichtet – sonst wären sie Historiker. Ihr Reich ist das der Erfindung und sie bleiben in aller Regel beim Primat des Fiktiven selbst dann, wenn sie den Auftrag haben, res factae darzustellen. Mit anderen Worten: Es geht um den prinzipiell fiktionalen Charakter des Kunstwerks – jenes Mehrs über die bloße Dokumentation hinaus, das uns eben vom »Kunstwerk« sprechen lässt und nicht vom Dokument; andernfalls wäre die Unterscheidung von Kunst und Dokument sinnlos. Diese Unterscheidung gilt bekanntlich für uns Heutige auch dort, wo die Zeitgenossen, auch die Künstler, ihre Artefakte noch mehr im Sinne von techne, eines regelgemäß hergestellten Produkts, als im Sinne des neuzeitlich-emphatischen Verständnisses von ars – des Kunstwerks als Ergebnis eines singulären schöpferischen Aktes – verstanden. An dieser Stelle wird nun der grundsätzliche Unterschied von politischer bzw. Machtgeschichte und Kulturgeschichte wichtig. Denn die großen Kulturhistoriker haben gerade diese inkomparable Qualität des Bildwerks als Quelle gesehen und auf sie haben sie ihre – in sich jeweils durchaus unterschiedlichen – Reflexionen und Schlussfolgerungen gestützt. Die Thesen und Argumentationen, die sich auf diese Weise ergeben haben, wirken auf den an der Machtgeschichte orientierten und geschulten Historiker oft höchst befremdlich. Auf den ersten Blick können die vielfältigen, von Haskell dargestellten Versuche der Ruskin und Taine, Renan und Lamprecht, aus Bildquellen Rückschlüsse auf den Charakter von Persönlichkeiten und Nationen, auf Strukturen der Macht und ihres Wandels, auf religiöse und mentale Verfasstheiten zu ziehen, als eine schier endlose Abfolge von Naivitäten, mehr oder weniger beliebigen Spekulationen und teilweise phantastischen Konstruktionen erscheinen – so wenn Michelet angesichts einer Daker-Skulptur in den Vatikanischen Museen eine Charakteristik des Deutschen entwirft, wenn Ruskin die Geschichte Venedigs aus der Baugeschichte des Dogenpalastes ableitet oder wenn Hippolyte Taine aus der Analyse der römischen Kirche Il Gesù schlankweg den Charakter der Gegenreformation rekonstruiert, wobei er zudem noch übersah, dass wesentliche Teile der Ausstattung aus dem späten 17. Jahrhundert stammten (vgl. S. 378ff.). Gleichwohl sollte man das eigentliche Erkenntnisinteresse hinter diesen Deutungsversuchen nicht 11 Vgl. v. a. Koselleck, Geschichte, Historie (wie Anm. 5), passim.

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verkennen und den historischen Erkenntniswert der solchermaßen missbrauchten Bildquellen nicht vorschnell bestreiten. Was diese Art einer auf Bildquellen gestützten Kulturgeschichte eigentlich wollte, lässt sich am Beispiel John Ruskins recht gut erläutern. Als er 1851–53 an seinen »Stones of Venice« arbeitete, ließ er sich von der Absicht leiten, eine Geschichte Venedigs »nahezu ohne jeden Bezug auf die Zusammensetzung seines Senats oder die Privilegien des Dogen« zu schreiben. Am Besten stütze man sich dabei auf das »häufige und unwiderlegliche Zeugnis der Künste«; dieses Zeugnis belege, »daß der Niedergang der politischen Prosperität genau mit dem der innerstaatlichen und religiösen Bindungen zusammenfiel« (zit. S. 337). Am Stilwandel der Dogengrabmäler des 15. Jahrhunderts rekonstruierte er dann die Geschichte des politisch-moralischen Verfalls des Stadtstaats. Von der formalen Gestalt der Grabmäler schloss er auf den Charakter der Dogen. Aber es ging ihm dabei nicht um diese Einzelpersönlichkeiten. Vielmehr diente die Bildquelle als Zeugnis für einen durchgreifenden, überindividuellen kulturellen – und d.h. hier vor allem: religiösen – Wandel, der dem Einzelnen keine Chance lässt, sich gegen ihn zu stellen. Das Movens der Geschichte lag für Ruskin nicht im Handeln der Einzelnen, die reine Machtgeschichte klammerte er bewusst und radikal aus, die Ereignisgeschichte interpretierte er als Ausdruck tieferliegender kollektiver Veränderungen. Diese setzte Ruskin in der Sphäre der Religionsgeschichte an. So reduktionistisch eine solche Konzentration auf die Bildquellen sein mochte, mit diesem Ansatz reihte sich Ruskin doch in die illustre Galerie jener Historiker ein, die den Übergang zur Moderne wesentlich in religionsgeschichtlichen Dimensionen gedeutet haben – wie Jacob Burckhardt in der »Kultur der Renaissance« und Max Weber im »Geist des Protestantismus«.12 Der Rekurs auf die Bildquellen trägt die kulturgeschichtliche Wendung gegen die Ereignis- und Machtgeschichte, er ermöglicht es, statt Ereignissen die Zustände, statt des Kontingenten das Bleibende, statt des Einzelfaktums das Allgemeine ins Zentrum zu stellen. Es geht nicht um die Geschichte eines Tuns, sondern eines Seins. Bei einem Besuch im Louvre notierte Ruskin am 8. Sept. 1849 zu Veroneses »Hochzeit von Kanaa«: »Ich hatte das Gefühl, daß die Malerei noch niemals als das verstanden worden war, was sie in Wirklichkeit ist: als die Geschichte eines Menschseins« (zit. S. 331). Das Grundanliegen dieser Geschichtsschreibung ist nicht individualisierend, sondern typisierend – offenbar ein elementares Bedürfnis des historischen Bewusstseins, das bekanntlich Jacob Burckhardt mit seiner Formulierung aus den »Weltgeschichtlichen Betrachtungen« auf den Begriff gebracht hat: »unser Ausgangspunkt ist der vom einzig bleibenden und für uns möglichen Zentrum, vom duldenden, 12 Vgl. W. Hardtwig, Jacob Burckhardt und Max Weber. Zur Genese und Pathologie der modernen Welt, in: ders., Geschichtskultur (wie Anm. 6), S. 189–223.

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strebenden und handelnden Menschen, wie er ist und immer war und sein wird«.13 So eng dieser Zusammenhang zwischen kulturgeschichtlich-typisierendem Erkenntnisinteresse und der Hinwendung zu den Bildquellen sein mag – die Frage nach deren Erkenntniswert ist damit noch nicht erschöpft. Viele Historiker – nicht nur Kulturhistoriker, aber auch Kulturhistoriker vom späten 18. bis ins frühe 20. Jahrhundert – waren höchst kunstinteressiert und machten dennoch keinen Gebrauch von Bildquellen. Von Rankes Studien zur italienischen Kunst war bereits die Rede. Jacob Burckhardt spaltete seine Beschäftigung mit der Renaissance bekanntlich in die beiden Werke zur Kultur und Kunst der Renaissance in Italien auf. Guizot und Thiers begannen ihre literarische Karriere als Kunstkritiker, aber in ihren großen Werken ist kaum etwas davon zu spüren (S. 326ff.). Gibbon dachte intensiv über die Konventionen der erzählenden Malerei nach, aber in seinem »Decline and Fall of the Roman Empire« kamen die Künste nicht vor. Je mehr er sich mit der Kunst beschäftigte, desto skeptischer beurteilte er den Wert von Bildquellen für die Geschichtswissenschaft (S. 206). In der handfest-antiquarischen Art der älteren Altertumskunde begründete er dies mit der Unzuverlässigkeit der Kunstüberlieferung, mit der Unverzichtbarkeit von Schriftquellen auch für das Verständnis von Münzen und mit seinen Zweifeln an der im späten 18. Jahrhundert hochgradig modischen Physiognomik (S. 205ff.). Johan Huizinga warnte bereits in seiner Antrittsvorlesung von 1905 – gegen Lamprecht gewendet – ausdrücklich vor dem Gedanken, »große Denker hätten größere historische Bedeutung als Könige, Soldaten und Diplomaten« – also vor einem Primat der Ideen vor den Handlungen – und schließlich vor vereinfachenden »Zeitgeist«-Theorien: »Eine bestimmte Zeit kann realistische Kunstwerke hervorbringen, ohne daß der Zeitgeist selbst im Zeichen des Realismus steht«. Schließlich schien ihm das Überhandnehmen bildlich geprägter Vorstellungen über die Vergangenheit verderblich: »Der Geist hat allmählich so viel Stoff und Gelegenheit zu bloß visueller Aufnahme der Vergangenheit, daß er das Lesen und Denken darüber in Verwahrlosung geraten zu lassen droht« (S. 501, 521, 522). Dies alles unterstreicht noch einmal den Hiatus zwischen Lesen und Sehen, die Kluft zwischen Geschichtsschreibung und Kunstgeschichte – und doch, es muss noch einen anderen Zusammenhang zwischen ästhetischer Sensibilität und Kunstkenntnis auf der einen, Geschichtsschreibung auf der anderen Seite geben – einen Zusammenhang, der auf einer anderen Ebene liegt, als der der Nutzung von Bildquellen nach Analogie der Schriftquellen. Besonders aufschlussreich hierfür ist das, was Haskell über Jacob Burckhardt zu sagen hat. 13 J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, in: Jacob Burckhardt Gesamtausgabe, hg. von E. Dürr u.a., Stuttgart 1929–1934, VII, S. 3; vgl. dazu W. Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit, Göttingen 1974.

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Schon der junge Burckhardt entkoppelte sogleich die simple Parallelführung von Geschichte und Kunstgeschichte in der Theorie über die Koinzidenz von politischer und künstlerischer Blüte einer Nation oder Gesellschaft, die seit Montesquieu üblich war und die, wenn auch inhaltlich umgewertet, auch im späten 18. Jahrhundert und im 19. Jahrhundert noch nachwirkte – so etwa, wenn Winckelmann die Epochen künstlerischer Blüte und politischer Freiheit gleichsetzte oder wenn Ruskin den künstlerischen Verfall Venedigs mit dem politischen Niedergang seit dem frühen 15. Jahrhundert gleichsetzte. Schon 1851 heißt es in einer Vorlesung: »Die Kunst ist nicht das Maß der Geschichte; ihre Entwicklung oder Abnahme ist kein unbedingtes Zeugnis für oder wider eine Zeit oder eine Nationalität, immer aber eines der höchsten Lebenselemente begabter Völker« (S. 356). Beim »Cicerone« fällt dann das fast völlige Fehlen spezifisch historischer Aussagen und Reflexionen etwa zu den Herrschaftsformen und zur Gesellschaft der italienischen Staatenwelt bzw. des Papsttums ins Auge. Nur dort, wo Burckhardt von Krisen und – vermeintlichen – Niederungen der Kunst spricht, wie bei dem damals von ihm noch missachteten Barock, wechselt er teilweise zur Perspektive des Historikers über. Der »Cicerone« schweigt zu der Frage, was die italienische Kunst über die außerbildnerische Kultur der Epoche aussagen könnte. Umgekehrt spart die »Kultur der Renaissance« weithin die Kunst aus – auch dort, wo von den Kunstanalysen des »Cicerone« her ein Querverweis nahegelegen hätte, wie etwa beim Grabmal des Can Grande della Scala in Verona und seiner Aussagekraft für die Tyrannis des 15. Jahrhunderts oder bei der Landschaftsmalerei und ihrer Aussagekraft für die Entdeckung der Landschaft und ihrer Schönheit. Haskell diskutiert die Gründe für dieses Vorgehen Burckhardts nicht wirklich, er begnügt sich damit, den Sachverhalt festzustellen. Wichtig und weiterführend ist aber dann seine – ganz neue und gut belegte – These über den »verborgenen und dennoch allgegenwärtigen Einfluß«, den Burckhardts Kenntnis der Kunst der Epoche auf die »Kultur der Renaissance« ausgeübt habe (S. 360). Eine der entscheidenden Innovationen im Renaissancekonzept Burckhardts gegenüber Sismondi und Michelet war die Vordatierung der Renaissance, des »entschiedenen Siegs des Modernen«, vom 16. ins 15. Jahrhundert. Sie war nur möglich durch Burckhardts Neubewertung der Kunst des Quattrocento. Hier fand Burckhardt zuerst den Kult des Individuellen und des neuen Realismus, die er dann kulturhistorisch in den Kapiteln 2, 3 und 4 der »Kultur der Renaissance« abhandelte. Und dem »Gewaltmenschen«, um den das erste Kapitel der »Kultur der Renaissance« kreist, begegnete Burckhardt laut Haskell zuerst in der Analyse der Fassade des Palazzo Pitti und im Rückschluss auf ihren Architekten Brunelleschi: »Man fragt sich, wer denn der weltverachtende Gewaltmensch sei, der mit solchen Mitteln versehen, allem bloß Hübschen und Gefälligen aus dem Weg gehen wollte« (zit. S. 364). 151

Burckhardts Beschreibung des Condottiere als neuen Typus des Renaissancemenschen sieht Haskell in der Charakteristik des Bildhauers Donatello im »Cicerone« vorgebildet. Eine weitere zentrale These Burckhardts in der »Kultur der Renaissance«, dass die Wiederbelebung der Antike nur die Äußerungsweise der Renaissance im Leben geprägt, nicht aber sie selbst hervorgebracht habe, ergibt sich ganz selbstverständlich aus Burckhardts Geschichte der Kunst des Quattrocento im »Cicerone«. Die wichtigsten Erkenntnisse der »Kultur der Renaissance« – so Haskells schlüssig begründete These – sind unmittelbar in Burckhardts Studien zur Kunst begründet, obwohl das Buch ausdrücklich nur selten Bezug auf die Kunst nimmt. Vielleicht kann der alte Meineckesche Begriff des »historischen Sinnes« zumindest als Anhaltspunkt dafür dienen, in welcher Richtung man hier die Bedeutung der Bildquellen zu suchen hat. Es geht um die umfassende Affizierbarkeit der historischen Vorstellungskraft, um ein Mehr an Reizbarkeit und an Fähigkeit, divergente und auch weit auseinanderliegende Informationen miteinander in Verbindung zu bringen, kurz: um die Fähigkeit der Verknüpfung; vielleicht auch um die Fähigkeit, durch die ästhetische Wahrnehmung Distanz zu gewinnen zu den routinisierten Abläufen der »Wissenschaft als Arbeit«14 und damit zu den Denk- und Verknüpfungsimperativen professionalisierter, aber damit auch auf bestimmte Denktopoi festgelegten Forschung; darüber hinaus aber schließlich Distanz zu gewinnen zu den Wertund Denkhorizonten der jeweiligen Gegenwart überhaupt. Die ästhetische Wahrnehmung stimuliert jedenfalls, so zeigt das Beispiel Burckhardts, die Synthesefähigkeit. Dem entspricht auch, was Johan Huizinga 1905 in seiner Antrittsvorlesung über das »ästhetische Element im historischen Denken« postulierte: Bilder (z.B. aus dem spätrömischen Reich oder aus den Niederlanden des 16. Jahrhunderts) sollten die historische Forschung anregen; er sprach dabei nicht davon, dass sie die Grundlage für eine tiefer reichende Analyse abgeben sollten (S. 510). Tatsächlich folgte Huizinga in seinem »Herbst des Mittelalters« diesem selbst gesetzten Programm. »Das Bedürfnis, die Kunst der Brüder von Eyck und derer, die ihnen gefolgt waren, besser zu verstehen und sie im Zusammenhang mit dem Leben ihrer Zeit zu erfassen, bildete die erste Veranlassung zu diesem Buche« – so beginnt das Vorwort.15 An der Kunst der van Eycks fiel ihm der Widerspruch von unbegreiflicher Kunstfertigkeit und Vollkommenheit der Einzelheiten auf der einen und dem Fehlen »wahrer Harmonie« auf der anderen Seite auf. Daraus entwickelte er dann den zentralen Einfall 14 Vgl. W. Hardtwig, Wissenschaft als Macht oder Askese: Jacob Burckhardt, in: ders., Geschichtskultur (wie Anm. 6), S. 161–88; ders., Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität. Der Historismus in neuer Sicht, in diesem Band, S. 51–76. 15 J. Huizinga, Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden, Leipzig 19313, S. IV.

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des Buches: dass diese Kunst nicht Symptom einer Erneuerung sei (wie Burckhardt angenommen hatte), sondern eines Verfalls (S. 516). Bei der Durchführung dieser These stützte sich Huizinga überwiegend auf die schriftliche Überlieferung, zog Bildquellen nur mit äußerster Vorsicht heran und griff nur ganz selten auf konkrete Bilder zurück, um bestimmte Aspekte der spätmittelalterlichen Gesellschaft zu verdeutlichen. Eines allerdings wäre aus Huizingas Konzept der Kulturgeschichte noch zu lernen. Burckhardts berühmten Satz, dass in der Renaissance der Schleier von »Angst, Kindesbefangenheit und Wahn«, der im Mittelalter über dem Bewusstsein gelegen habe, in die Lüfte verweht sei, lehnte Huizinga ab. In solcher Weise könne man nicht zwischen Mittelalter und Renaissance unterscheiden. Sein eigenes Buch allerdings handelt über weite Strecken von Träumen, kindlichen Befangenheiten, Illusionen, ins Phantastische gesteigerter Frömmigkeit und phantastischen Vorstellungen vom Rittertum. Dabei nutzt er die Zeugnisse der bildenden Kunst – zu Recht, denn sie bewegen sich auf derselben Realitätsebene der Fiktion. Träume, Illusionen, Imaginationen, verbildlichte Vorstellungen aller Art sind für die Befindlichkeit und das Handeln der Menschen so wichtig wie die materiellen Lebensbedingungen und die realen Formen der politischen Herrschaft. Eine moderne Kulturgeschichte muss wesentlich eine Geschichte der Imaginationen sein. Imaginationen aber verfestigen sich in Bildern, wenn sie nicht – wie der Begriff schon andeutet – überhaupt verbildlichte Vorstellungen sind.

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Landschaft – Geschichte – Nation

8. Von der Utopie zur Wirklichkeit der Naturbeherrschung. Von Thomas Morus zur Industriellen Revolution I. Seit Ernst Troeltsch die herkömmliche Abgrenzung der Neuzeit vom Mittelalter durch die Reformation in Frage gestellt hat, ist die Diskussion über inhaltliche Bestimmungen der Frühen Neuzeit nicht zur Ruhe gekommen. Sie wirft auch die Frage nach dem Verhältnis der »Vorsattelzeit der Moderne«1 um 1600 zum eigentlichen Revolutionszeitalter auf. Je nach Perspektive und Schwerpunktsetzung kann die Neuzeit dabei als Prozess der Säkularisierung oder Profanierung, als umfassende Rationalisierung von Staat und Gesellschaft, als Tendenz zur Sozialdisziplinierung oder als Übergang von der alteuropäischen Feudal- und Ständegesellschaft zur bürgerlichen Gesellschaft gedeutet werden. Ein weiterer Aspekt dieser Grundformen einer Neuzeitdeutung soll im folgenden unterschieden und zur Diskussion gestellt werden: das Verhältnis von Herrschaft und Wissenschaft vom frühen 16. Jahrhundert zum frühen 19. Jahrhundert. Gefragt werden soll dabei speziell nach dem Verhältnis von Utopie und Wirklichkeit der Naturbeherrschung.2 Zum Stichwort »Utopie« findet man 1742 in Zedlers Universallexikon folgenden Eintrag: »Schlaraffenland, lat. Utopie, welches im Deutschen Nirgend wo heissen könte, ist kein wirckliches, sondern erdichtetes und moralisches Land. Man hat es aus dreyerlei Absichten erdacht. Einige stellen darunter eine gantz vollkommene Regierung vor, dergleichen wegen der natürlichen Verderbniß der Menschen in der Welt nicht ist, auch nicht seyn kan. Andere suchen das Elend und die Mühseligkeit des menschlichen Lebens dadurch vorzustellen. Deßwegen erdichten sie solche Länder oder Inseln, darinnen man

1 H. Schilling, Aufbruch und Krise. Deutschland 1517–1648, Berlin 1998, S. 85ff. 2 Vgl. dazu ausführlicher W. Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution. München 1997, S. 239–308.

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ohne Arbeit alles erlangen kan. Noch andere stellen darunter die lassterhafte Welt vor«.3 Rund 120 Jahre später vermerkt Meyers Konversationslexikon zu »Utopie« nur Folgendes: »Nirgendwo, die fabelhafte Insel, auf welcher Thomas Morus seinen Staatsroman ›De optimo rei publicae Statu‹ spielen ließ, das Schlaraffenland der Deutschen, wo die ausgesuchtesten Genüsse ohne Anstrengung erworben werden«.4 Offenkundig ist die Definition aus dem 18. Jahrhundert gehaltvoller als die aus dem 19. Denn sie macht deutlich, dass die Überwindung der »menschlichen Verderbnis« mit bestimmten Herrschaftsformen und ihrer Handhabung zusammenhängt, dass die ersehnte Freiheit von den Naturzwängen die Frage aufwirft, wer dann eigentlich die Arbeit tut, und dass es ein utopischer Wunsch der Menschen ist, ein Leben ohne die Last schwerer Arbeit leben zu können. Meyers Lexikon von 1860 engt das Bedeutungsfeld ein und konzentriert es damit: Utopia ist die Welt der Genüsse ohne Anstrengung und eben darin wird das Fiktive, Irreale des Utopismus überhaupt gesehen. Hier liegt freilich ein fundamentales Missverständnis vor. Denn die klassischen utopischen Texte von Thomas Morus über Johann Valentin Andreae und Campanella bis zu Francis Bacon entwerfen das Wunschbild einer idealen politisch-gesellschaftlichen Ordnung schlechterdings nicht als Schlaraffenland im Wortsinn der Lexika – als eine Welt frei von Arbeit –, sondern als Welten konzentrierter, gekonnter und geordneter Arbeit. Warum wusste man davon nichts mehr, 1860 noch weniger als 1742? War die Utopie des Morus inzwischen sozusagen noch utopischer geworden? Oder aber – dies ist meine Vermutung – löste sich im Wissen der Späteren der von Anfang an fundamentale Zusammenhang zwischen Utopie und Arbeit in dem Maße auf, wie die tatsächliche Arbeit Züge annahm, die die Utopisten vorweggedacht hatten? Hat, umgekehrt formuliert, die heutige Welt sehr viel mehr klassisches utopisches Ideengut verwirklicht, als sich die Utopisten je träumen lassen konnten – obgleich wir keineswegs in einer Welt ohne Mühe und Sorge, in einem »Schlaraffenland« leben? In dieser Form mag die These trivial klingen. Sie ist also im Sinne einer historischen Fragestellung zu präzisieren. Folgende Fragen habe ich mir gestellt und will versuchen, sie zu beantworten: (1) Wie bestimmen die Utopien des 16. und 17. Jahrhunderts das Verhältnis zwischen Arbeit an der äußeren Natur, Herrschaft und Glück, wobei ich mich auf diejenigen Utopien beschränke, die mir für den darzustellenden Sachverhalt besonders wichtig erscheinen; (2) wie und unter welchen Bedingungen wur3 Artikel »Utopie«, in: J. H. Zedler, Großes vollständiges Universallexikon, Bd. 34 (1742), Sp. 1828f. 4 Artikel »Utopie«, in: H. J. Meyer, Neues Konversationslexikon für alle Stände, Bd. 15 (1860), S. 244.

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den Ideen der Utopieschriften verwirklicht, was haben sie zur Entstehung der modernen Herrschaft über die Natur beigetragen? Ein Thema wie dieses durch drei Jahrhunderte europäischer Geschichte hindurchzuverfolgen ist ein risikoreiches Unternehmen; es kann sich nur um eine Skizze des Gedankengangs handeln. Nicht behandelt werden sollen alle Fragen, die mit den totalitären Implikationen schon der klassischen Utopien zu tun haben, sowie die – übrigens sehr bedeutsamen – religiösen Zusammenhänge, in denen die Utopien stehen. Und nicht ausdrücklich gehe ich auf die Rolle ein, welche die virtuosi, die empirisch arbeitenden Techniker, in der Vorgeschichte der modernen Naturbeherrschung gespielt haben.

II. Seit der gattungsprägenden Schrift des Thomas Morus von 1516 hat die Regelung der Arbeit die Phantasie der Utopisten vorrangig beschäftigt.5 Sie ist die Basis alles weiteren. Immer ist die Arbeit wohlüberlegt, koordiniert, zielgerichtet. Bei Morus wird jedermann von Kindheit an im Ackerbau unterrichtet und lernt daneben noch ein Gewerbe, Männer und Frauen gleichermaßen. Sicherzustellen, dass »keiner müßig herumsitzt«, ist die Hauptaufgabe der Sygrophanten, der gewählten Herrschaftsträger. »Müßiggänger«, Großgrundbesitzer, die man außerhalb Utopias »Standespersonen« nennt, gibt es nicht. 5 Hier benützt in der Übersetzung von G. Ritter (Hg.), Thomas Morus: Utopia. Stuttgart 1985. Unter »Utopie« soll im Folgenden mit Norbert Elias ein »Phantasiebild einer Gesellschaft« verstanden werden, das »Lösungsvorschläge für ganz bestimmte ungelöste Probleme der jeweiligen Ursprungsgesellschaft enthält, und zwar Lösungsvorschläge, die entweder anzeigen, welche Änderungen der bestehenden Gesellschaft die Verfasser oder Träger einer solchen Utopie herbeiwünschen oder welche Änderungen sie fürchten«; N. Elias, Thomas Morus’ Staatskritik, in: W. Voßkamp (Hg.): Utopieforschung. Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1985, S. 101–150, hier S. 103. Diese Definition hat den Vorteil, dass sie die utopischen Entwürfe sehr unmittelbar auf die historische Entstehungssituation bezieht; einen Überblick über die neuere Utopieforschung geben die Beiträge von R. Kilminster, Zur Utopiediskussion aus soziologischer Sicht, ebd., S. 97–119, sowie L. Hölscher, Der Begriff der Utopie als historische Kategorie, ebd., S. 402–418; zu den folgenden Überlegungen neben dem erwähnten Aufsatz von Elias vor allem T. Nipperdey, Die Utopie des Thomas Morus und der Beginn der Neuzeit, in: ders., Reformation, Revolution, Utopie. Studien zum 16. Jahrhundert, Göttingen 1975, S. 113–146; ders., Die Funktion der Utopie im politischen Denken der Neuzeit, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 74–88; F. Seibt, Utopica. Modelle totaler Sozialplanung, Düsseldorf 1972; ders., Utopie als Funktion abendländischen Denkens, in: Voßkamp (Hg.): Utopieforschung, Bd. 1, S. 254–279; die Bedeutung der Wissenschaft für die Wohlfahrtssteigerung der Gesellschaft wird vor allem bei Seibt angeschnitten; dazu auch J.C. Davis, Utopia and the Ideal Society, Cambridge 1982; einen Überblick über die jüngere Forschung bietet R. Saage, Utopieforschung. Eine Bilanz, Darmstadt 1997; dort auch Hinweise auf weitere Titel des Autors.

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Die Zahl der Arbeitenden wird vermehrt durch die »Dienerschaft« der Edelleute – außerhalb Utopias ein »Kehricht bewaffneter Tagediebe« – und durch die »kräftigen und gesunden Bettler«6 – was schwer wog, denn der Bettel war ein Massengewerbe. Der Arbeitstag dauert sechs Stunden, nicht mehr, danach hat jeder Zeit für andere, aber immer »nützliche« Beschäftigungen.7 Die Verkürzung der Arbeitszeit ist höchst rational, denn wenn plötzlich alle arbeiten und zudem nur produktive Arbeit verrichten, droht Arbeitslosigkeit. Morus’ Entwurf reflektiert sehr präzis die krisengeschüttelte Agrargesellschaft Englands um 1516. Subsistenzgrundlage seines Utopia ist die Urproduktion, die Landwirtschaft, ergänzt durch das Handwerk. Manufakturen, Fabriken, große technische Innovationen kommen nicht vor. Die Utopier unterwerfen die Natur nicht, sie bewirtschaften sie nur mit einem Höchstmaß an Rationalität. Aber es gibt auch hier schon Indizien dafür, dass sie sich mit dem »natürlichen« Wachstum agrarischer Produkte nicht mehr zufrieden geben. Mitunter kommt es zu tiefen Eingriffen in die Ökologie: »ganze Wälder werden von Menschenhand gerodet und anderswo angepflanzt. Dabei sind nicht Rücksichten auf die Fruchtbarkeit, sondern auf die Transportverhältnisse maßgebend«.8 Es tritt eine Spannung auf zwischen den Gegebenheiten der Urproduktion und den Rationalitätsforderungen des Verteilungssystems, die Natur wird nach den Anforderungen des letzteren zugerichtet. Solche Hinweise bleiben bei Morus peripher, aber sie deuten die Richtung an, in der sich das utopische Denken zukünftig bewegen wird – am wenigsten ausgeprägt noch bei dem kalabrischen Dominikanermönch Campanella in seiner »Civitas Solis« von 1623. Campanellas agrarkommunistische Utopie spielt mit der Möglichkeit bedeutender technischer Erfindungen, aber sie könnte »auch ohne diese Durchbrüche durch die vorhandene Natur bestehen«.9 Anders dagegen der württembergische Generalsuperintendent, Mathematiker, Hofprediger und Schriftsteller Johann Valentin Andreae in seiner »Christianopolis« von 1619.10 Seine ideale »Christenstadt« ist eine einzige große Produktionsstätte, sorgfältig und im Detail beschrieben. Ihre Organisation liegt dem Bauplan der ganzen Stadt zugrunde. Die Urproduktion und die groben Handwerke sind an der Peripherie platziert – landwirtschaftliche Gebäude, Viehzucht und Mühlen, Schmelzen und Schmieden. Weiter nach innen zu liegen die höheren Formen der Produktion, geordnet jeweils nach den Rohstoffen, die Metall-, Stein-, Holz- und Textilverarbeitung. 6 Morus: Utopia (wie Anm. 5), S. 69. 7 Ebd., S. 68. 8 Ebd., S. 101. 9 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1959, S. 765; vgl. auch Seibt, Utopica (wie Anm. 5), S. 159. 10 J. V. Andreae, Christianopolis. Deutsch und Lateinisch, hg. und eingel. von R. van Dülmen, Stuttgart 1972; zur Bedeutung Andreaes für die europäische Ideengeschichte vgl. F. A. Yates, Aufklärung im Zeichen des Rosenkranzes, Stuttgart 1972.

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Aus denselben Gründen wie bei Morus ist die Arbeitszeit kurz. Noch wichtiger aber als die Durchrationalisierung der Arbeitsorganisation ist es, dass – mit Andreaes Worten – »fast alle diese Handwerker ... zugleich Gelehrte sind.«11 Andreae hatte eine »Ahnung davon, wie man Wissenschaft mit produktivem Fortschritt verbinden könne und er folgte dieser Vorstellung mit einer zu seinen Zeiten unerhörten Klarheit«.12 Der Bildungsplan für die Christenstadt führt alle Interessierten und Begabten zu naturwissenschaftlichen Studien in richtiggehende Laboratorien.13 Neben der Pharmazie und der Anatomie haben sich die Bürger von Christianopolis vor allem mit der Physik auseinander zu setzen. Das entscheidende daran: gearbeitet wird aus der Kenntnis der physikalischen Zusammenhänge heraus, Güterherstellung und Wissenschaft sind nicht getrennt, die wissenschaftliche Erkenntnis fließt in die Produktionsvorgänge ein, die Arbeit verwissenschaftlicht sich. Andreae hat für sich in Anspruch genommen, dass diese Integration von systematischem Wissen und Produktion »völlig neu« sei.14 Sie ist es im breiten Entwurf eines naturwissenschaftlichen Forschungsprogramms, in der Schilderung der Laboratorien, in der Rolle, die der Physik und der Mathematik als Grundwissenschaften zugewiesen wird. Aber zwei wesentliche Umorientierungen, die in diese Richtung führten, hatte schon Thomas Morus vorgenommen. Morus hatte bereits eine präzise Vorstellung von einem kontinuierlichen Fortschrittsprozess der Wissenschaften. Die Utopier tradieren zwar das Wissen der antiken Gelehrten, aber sie weichen auch von ihm ab, indem sie »neue Erklärungen für die Naturerscheinungen beibringen«.15 Diese neuen Erklärungen entstehen aus der Uneinigkeit der Gelehrten – dem Dissens mit den Vorgängern wie auch untereinander. Wissenschaft wird so als fortschreitender Disput gedacht, der neue Standards des Denkens schafft – Standards, die über die reine Erkenntnis hinaus eine Steuerung und Systematisierung der technischen Erfindung ermöglichen. Die Leitfrage, die schon Morus an die Wissenschaft stellt, lautet nicht mehr: »Was ist Erkenntnis?«, sondern: »Wie kann man Erkenntnis verbessern?« Den umfassendsten, innovativsten und historisch auch folgenreichsten Beitrag zu dieser Frage hat unter den Utopisten Francis Bacon geleistet, als er nach seinem Sturz als Lord Chancellor 1624 das Fragment »Neu-Atlantis« niederschrieb.16 Den Entwurf eines vollkommenen Staates spart Bacon aus, ob mit oder 11 Zitiert nach Seibt, Utopica (wie Anm. 5), S. 128. 12 Ebd., S. 129. 13 Andreae, Christianopolis (wie Anm. 10), S. 112–125. 14 Zitiert nach Seibt, Utopica (wie Anm. 5), S. 88. 15 Morus, Utopia (wie Anm. 5), S. 128. 16 Hier benutzt in der Ausgabe F. Bacon, Neu-Atlantis. Übersetzt von G. Bugge, durchgesehen und hg. von J. Klein, Stuttgart 1982.

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ohne Absicht, ist nicht genau bekannt. Aber er skizziert Grundzüge der Sozialordnung: die ständische Gesellschaft ist abgeschafft, nicht aber der Unterschied von Arm und Reich; die Gesetzgebung orientiert sich an Gemeinwohl und Humanität, aber nach außen tritt Neu-Atlantis als Machtstaat auf, man pflegt die Isolation, kann sich aber notfalls auf die eigene hochentwickelte Kriegstechnik verlassen; die Sozialstruktur baut auf dem »natürlichen« Kern der Familie auf, es gibt keinen Despotismus der Gerechtigkeit. Auch diese Schrift ist eine Utopie der Arbeit, aber – und das macht ihre Besonderheit aus – sie konzentriert sich ganz auf die wissenschaftliche Arbeit. Kern und Hauptinhalt der ganzen Konstruktion ist das »Haus Salomonis«, eine, so kann man abkürzend sagen, Akademie der Wissenschaften, der Naturwissenschaften wohlgemerkt. Die Gelehrtengemeinschaft ist straff organisiert. Es herrscht hochgradige Arbeitsteilung, aber nicht nach Fächern, sondern nach Arbeitsschritten in einem Erkenntnisvorgang, in den alle Wissenschaftler integriert sind. Die Wissenschaftler diskutieren die Ergebnisse in Beratungen aller Mitarbeiter, innerhalb der Gelehrtengemeinschaft herrscht weitgehend Gleichheit, nach außen aber schließen sie sich ab und halten ihre Ergebnisse, wenn sie es für nötig erachten, geheim.17 Die Blüte von Neu-Atlantis, der allgemeine Wohlstand, die Konfliktfreiheit, die Abwesenheit von »Schicksal überhaupt«18 sind auf die Arbeit dieser Naturforschergemeinschaft zurückzuführen. Die Gelehrten reisen durch die Städte und sorgen dafür, dass neue Erfindungen auch bekannt gemacht werden. Sie bieten regelmäßig öffentliche Dienstleistungen an, indem sie »Krankheiten, Seuchen ..., Hungersnöte, Unwetter und Stürme, Erdbeben, Überschwemmungen« und ähnliche Bedrohungen aus der Natur auf der Grundlage ihrer Kenntnisse vorhersagen und so Katastrophen verhindern.19 Bei alledem ist die Wissenschaft frei, einen Primat der Politik gibt es nicht. Noch verblüffender als diese durchdachte Wissenschaftsorganisation ist für den heutigen Leser der Katalog der Forschungsanlagen und Laboratorien, die Bacon aufführt: Sie reichen, in moderner Sprache, von einem mathematischen Institut über Großraumlabors für die Wetterkunde, gesundheits- und ernährungswissenschaftliche Labors bis zur Hochtemperaturforschung, optischen und mechanischen Werkstätten – ein schier unglaublicher Vorgriff auf die Forschungsinteressen und Forschungspraxis unserer Tage. Zahlreiche der von Bacon gemachten Annahmen wurden Realität in dem Moment, als die Wissenschaft tatsächlich die Nutzenfunktionen übernahm, die Bacon für sie von Anfang an vorgesehen hatte. Neu-Atlantis jedenfalls will, so Ernst Bloch, 17 Ebd., S. 27f., 43–58; vgl. auch zur Funktionsweise des Hauses Salomonis W. Krohn, Francis Bacon, München 1987, S. 156–172. 18 Bloch, Prinzip Hoffnung (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 765. 19 Bacon, Neu-Atlantis (wie Anm. 16), S. 37.

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»in jedem Betracht hinter den Säulen des Herkules liegen ... das ist: über die Einbindung durch gegebene Natur hinaus«.20 Die utopische Wendung zur empirischen Forschung (und mit ihr der zweckrationale Zugang zur Natur) wurzeln tief in dem Motivationsgeflecht, aus dem die Wunschträume entspringen. Allen Utopisten, den einen mehr, den anderen weniger, geht es darum, Not und Elend zu überwinden, ein Leben frei von Angst und Sorge zu ermöglichen. Was sich anbahnt, im Gewand der Fiktion zunächst, ist eine fundamentale anthropologische Wende, eine Neubestimmung dessen, was das menschliche Glück ausmacht. Maßstabsetzend und der ideengeschichtlichen Entwicklung weit vorausgreifend, hat Thomas Morus in seinem Gründungswerk die Hauptzüge dieser neuen Anthropologie entworfen. »Wenn man die Sache gründlich prüft und durchdenkt« – so heißt es in der Utopia – »so zeigt sich, daß alle unsere Handlungen, und darunter sogar die tugendhaften, in letzter Linie auf das Vergnügen und die Glückseligkeit als auf ihren Zweck abzielen«.21 Zwar ist diese Formulierung ambivalenter, als es den Anschein hat. Aber die Grundrichtung der Argumentation ist doch deutlich. »Auch aus der Religion« – so Morus weiter – »die doch eine ernste und strenge Lehre ist, ja fast immer düster und asketisch, entnehmen sie [die Utopier] doch die Begründung für eine ... sinnenfreudige Denkweise«.22 Damit verknüpft Morus eine hartnäckige Polemik gegen christlich begründete Askeseforderungen: Es sei »geradezu wahnwitzig, den Reiz körperlicher Schönheit zu verachten, die Kräfte des Körpers zu zermürben, den Leib durch Fasten zu erschöpfen, die Gesundheit zu vergewaltigen und auch sonst die Lockungen der Natur zu verschmähen«.23 Morus singt das Loblied des angenehmen Lebens, der Freuden, des Genusses. Der Sexualität wird große Bedeutung zugewiesen, freilich wird sie auch in kruder Weise streng reglementiert. Fragen der Körperlichkeit nehmen in dem Traktat überhaupt eine große Rolle ein. Substantieller Bestandteil des Vergnügens, um das es den Menschen vor allem zu tun ist, ist die Gesundheit. Schmerz gilt es zu vermeiden und zu bekämpfen. Eine durchaus strikte und rationale Ethik und eine strenge Ökonomie im Haushalt der menschlichen Bestrebungen sollen ein Optimum an Genuss ermöglichen durch Beherrschung der Kreatürlichkeit. Die Bedürfnisnatur des Menschen tritt in den Vordergrund, verlangt in unerhörter Weise neue Rechte, die Ermöglichung physischer und intellektueller Vergnügungen, und steigt zum organisierenden Prinzip der Gesellschaft auf. Dies alles signalisiert die Aufwertung von Sinnlichkeit und Bedürfnisnatur, den Willen zum Ausleben innerweltlicher Glücksansprüche, aber es bedeutet 20 21 22 23

Bloch, Prinzip Hoffnung (wie Anm. 9), Bd. 1, S. 765. Morus, Utopia (wie Anm. 5), S. 92. Ebd., S. 89. Ebd., S. 100.

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doch keineswegs blanken Hedonismus, wie es die spätere Gleichsetzung von »Utopie« und »Schlaraffenland« nahe legt. Auf zwei weitere ideen- bzw. wirkungsgeschichtlich höchst bedeutsame Texte bzw. Textkomplexe soll nur noch hingewiesen sein. Zum einen auf die im Umkreis des Andreaefreundes Samuel Hartlib aus Elbing in den 1640er Jahren in England entstandene »Macaria«.24 Hier wird erstmals ein utopischer Entwurf, der sich ausdrücklich auf das Vorbild von Morus und Bacon bezieht, in der konkreten Form einer Petition an das Parlament vorgetragen. Der Verfasser macht höchst konkrete Vorschläge, wie die Bewohner des Königreichs – sprich Englands – »can live in great plenty, prosperity, health, peace and happiness, and have not half so much trouble as they have in these european countries«.25 Zum anderen ist zu erwähnen die Serie von Akademie-Denkschriften, die Georg Wilhelm Leibniz seit 1669 vorgelegt hat. Ausdrücklich knüpft Leibniz hier noch an die Utopisten an, allerdings in kritischer Abkehr: »Die Glückseligkeit menschlichen Geschlechtes wäre möglich, wenn eine allgemeine Conspiration und Verständnis nicht inter chimeras zu rechnen und zur Utopia Mori und Civitate Solis Campanellae und Atlantide Baconi zu sezen und gemeiniglich der allergrößten Herrn Consilia von allgemeiner Wohlfahrt zu weit entfernt weren«.26 Anfangs verfolgt er noch das Projekt einer zugleich religiös und wissenschaftlich motivierten Gemeinschaft von rational 24 S. Hartlib, A Description of the Famous Kingdom of Macaria. Shewing its Excellent Government (1641), in: C. Webster (Hg.), Samuel Hartlib and the Advancement of Learning, Cambridge 1970, S. 80–90; zur Frage der Autorschaft und der Stellung der Schrift in der Reformdiskussion der 1640er Jahre vgl. C. Webster, The Authorship and Significance of Macaria, in: ders. (Hg.), The Intellectual Revolution of the Seventeenth Century, London 1974, S. 369– 385. 25 Hartlib, Macaria (wie Anm. 24), S. 81; Hartlib selbst war kein origineller Denker, aber einer der »großen Nachrichtenübermittler Europas und zugleich einer der einflussreichsten intellektuellen Propagandisten der ›Country-Party‹ in England«; vgl. H. Trevor-Roper, Religion, the Reformation and social Change and other Essays, London 1967, S. 233. Die »Macaria« entstand im Zusammenhang mit einer Reise, die Amos Comenius 1641/42 nach England antrat, um dort auf Einladung des Parlaments seine Sozietätspläne vorzutragen; vgl. dazu die Darstellung und Dokumentensammlung von R. F. Young, Comenius in England, Oxford 1932, bes. S. 59ff. Comenius selbst bezieht sich dabei auf Bacon und beruft sich unmittelbar auf das Modell eines »College such as the illustrious Bacon desired«; übersetzter Auszug aus A. Comenius, Continuatio admonitionis fraternae de temperando charitate selo ad S. Maresium, Amsterdam 1669; zitiert ebd., S. 36. 26 G. W. Leibniz, Grundriss eines Bedenkens von aufrichtung einer Sozietät in Teutschland zu auffnehmen der Künste und Wissenschaft (1671), in: ders., Politische Schriften, Darmstadt 1931, S. 530–543, hier S. 536; Leibniz spricht dort auch von der Absicht, »die moralis und politica ... zu perfectionieren, ... welches alles aber nicht wohl möglich als bei einem convictu, orden und Societät«; vgl. dazu W. Schneiders, Sozialpläne und Sozialutopie bei Leibniz, in: Studia Leibniziana VII/1 (1975), S. 59–80; sowie ders., Gottesreich und gelehrte Gesellschaft. Zwei politische Modelle bei G.W. Leibniz, in: F. Hartmann u. R. Vierhaus (Hg.), Der Akademiegedanke im 17. und 18. Jahrhundert, Bremen 1977, S. 47–59; Hardtwig, Genossenschaft (wie Anm. 2), S. 266–271.

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Erkennenden, die zugleich die sittlich Handelnden sein sollten, gibt diese Utopie dann aber auf und reduziert sie schrittweise in praktikable – und mit der Gründung der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1700 teilweise auch realisierte – Vorschläge zur Organisation von Forschung im Dienst des Staates.27 Damit ist die zweite Frage bereits angeschnitten: Wie und unter welchen Umständen gewinnt die Utopie nun tatsächlich Bodenhaftung? Welche Bestandteile des utopischen Gedankenguts werden verwirklicht und welche Transformation hat es dabei erfahren?

III. Meine Argumentation zielt nicht darauf, eine unmittelbare Wirksamkeit der Utopieschriften zu behaupten. Doch fällt auf, dass die Utopisten – immer vom Sonderfall Campanella abgesehen – durchweg keine weltfremden Sonderlinge, sondern Persönlichkeiten in leitenden oder einflussreichen Positionen gewesen sind. Es liegt daher nahe, der Utopiedefinition von Norbert Elias zu folgen, der stärker noch als etwa die ältere Morusforschung unter »Utopie« allgemein ein »Phantasiebild einer Gesellschaft« versteht, »das Lösungsvorschläge für ganz bestimmte ungelöste Probleme der jeweiligen Ursprungsgesellschaft enthält«.28 Das würde die These stützen, dass Utopien von Anfang an nicht nur als Gegenbilder zu einer schlechten – aber als letztlich unveränderlich hingenommenen – Wirklichkeit entworfen wurden. Zu dieser Überlegung passt, dass der Wirklichkeitsgehalt der Utopien im 17. Jahrhundert entschieden zunimmt. Krohn hat das für Bacon zu dem Paradox zugespitzt, das Utopische an seiner Theorie sei ihr nichtutopischer Charakter;29 und die »Macaria« steht in der Tat an der Grenze zwischen einem bloßen Reformprojekt und einer Utopie. Das spricht dafür, in den hier behandelten Utopieschriften modellhafte Vorwegnahmen von Lösungsvorschlägen für aktuelle Probleme zu sehen, die in einzelnen Aspekten und in bestimmten Konstellationen von zahlreichen Vertretern der intellektuellen Führungsschicht gedacht worden sind – wenn auch nicht in Form eines geschlossenen und insofern immer auch phantastischen Gegenbildes zur Wirklichkeit. Zu diesen Vorschlägen für eine Reform von Gesellschaft, Staat und Kirche gehört das in den Utopien durchweg enthaltene Postulat, die empirische Naturerkenntnis aufzuwerten. Es ist immer verknüpft mit dem Gedanken 27 Leibniz bezieht sich im »Grundriss eines Bedenkens« (wie Anm. 26), S. 546, ausdrücklich auf die »Republica Platonis und Atlantide Baconis«, kritisiert die Projekte aber hier bereits als »zu theoretisch«. 28 Vgl. oben, Anm. 5. 29 Krohn, Francis Bacon (wie Anm. 17), S. 170.

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umfassender Bildungsreformen, verbunden mit der Forderung, mehr herrschaftliche Funktionen auf die Gebildeten zu übertragen; dazu gehört weiter, dass alle Arbeitsprozesse rational gesteuert und von mehr oder weniger wissenschaftlicher, immer aber systematischer Naturerkenntnis durchdrungen sein sollen. Schließlich nimmt der Gedanke einer organisierten Zusammenarbeit der Gelehrten, besonders der Naturforscher, immer konkretere Gestalt an. Diese Zusammenarbeit ist grundsätzlich auf das bonum commune bezogen und dient bei aller mitgeführten spirituellen und religiösen Zielsetzung der innerweltlichen Wohlfahrtssteigerung. Die These, dass immer mehr Angehörige der intellektuellen Führungsschicht diese Lösungsvorschläge geteilt und zunehmend auch diskutiert haben, gewinnt an Evidenz, wenn man sie auf die Sozialgeschichte der Utopienverfasser und -leser sowie derer zurückbezieht, die speziell an empirischer Naturerkenntnis interessiert waren. Alle genannten Utopisten sind in das Netz von Freundschaftskreisen, Gelehrtenzirkeln, auch schon formalisierten gelehrten Vereinigungen verwoben, das sich seit dem späten 15. Jahrhundert über Europa auszubreiten begann. Die ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts brachten neben den bis dahin dominierenden philologischen Interessen einen unerhörten Aufschwung der Naturkunde und Naturspekulation. Die Wirren des Dreißigjährigen Krieges unterbrachen vor allem in Mitteleuropa eine entsprechende Entfaltung, aber sie förderten indirekt, in der Reaktion auf den konfessionellen Krieg und Bürgerkrieg, die Internationalität der Gelehrtenschicht. Der lutherische Protestant Andreae bekam Campanellas Manuskript der »Civitas Solis« vor der Veröffentlichung zugeschickt. Amos Comenius, Bischof der »Böhmischen Brüder«, entwarf den Plan eines ganz Europa umfassenden pansophischen Collegiums, das das gesamte Wissen über die Natur sammeln, zusammenfassen und einem befriedeten Europa bekannt machen sollte.30 Zum Vortrag eingeladen wurde er sowohl von Richelieus Sekretär Rossignol ins überwiegend katholische Frankreich als auch von dem Freundeskreis um Samuel Hartlib in das England der puritanischen Revolution. Hartlib wiederum und seine Freunde standen ihrerseits in Kontakt mit französischen Gelehrtenzirkeln.31 Dreierlei geschah bei diesen rastlosen Aktivitäten: Die Naturforscher zogen das Geflecht ihrer persönlichen Kontakte enger und überwanden dabei endgültig die konfessionellen Schranken; sie entwickelten 30 Zusammenfassend F. Hofmann, »Panorthesia«. J.A. Komenskys Plan einer Universalreform, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg IV/2, Jahrgang V (1956/57), S. 272–278; bei kritischer Lektüre immer noch ergiebig L. Keller, Comenius und die Akademien der Naturphilosophen des 17. Jahrhunderts, in: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft IV (1895), S. 133–184; zuletzt J. Kumpera, Jan Amos Comenius und die Vollendung der tschechischen reformerischen Traditionen, in: G. Vogler (Hg.), Wegscheiden der Reformation. Alternatives Denken vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar 1994, S. 399–412. 31 Vgl. H. Brown, Scientific Organizations in Seventeenth Century France (1620–1680), Neudruck New York 1967.

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neue Organisationsmodelle für die Scientific Community; und sie erhoben zunehmend den Anspruch, dass ihr Wissen für den Staat bedeutsam sei. In allen drei Punkten waren die Utopisten auf der Ebene der Fiktion vorangegangen. Man konnte sich auf sie berufen und das tat die Gelehrtenwelt auch – in größerem Umfang als heute gemeinhin bekannt ist. Die Sozietätsbewegung der 1620er bis 1660er Jahre berief sich immer wieder ausdrücklich auf Bacons »Haus Salomonis« – die reale Wirkung seiner Utopie ist hier vielfach belegt. Zahlreiche Einzelfragen in der Vorgeschichte der Royal Society werden von englischen Wissenschaftshistorikern anhaltend diskutiert – unstrittig ist dagegen, dass ohne das Organisationsmodell von Bacons »Haus Salomonis« und ohne die Dynamik verstärkter Naturforschung in den 1640er und 1650er Jahren an die Gründung der Royal Academy nicht gedacht werden kann. Mit der Charta, die ihr Karl II. 1662 verlieh, erkannte der König eine bereits bestehende Gemeinschaft von Naturforschern und einen speziellen Fächerkanon – Mathematik, Mechanik, Astronomie, Navigation, Physik und Chemie – offiziell an und wies ihr eine Rolle in der staatlichen Wohlfahrtspolitik zu.32 Bei der Gründung der analogen Académie des Sciences in Paris 1665/67 tritt der Staat, genauer: die Monarchie, noch stärker in den Vordergrund, die Zweckbestimmung aber ist dieselbe: der Bezug auf die Nation und ihre Wohlfahrt, die utilitäre Ausrichtung der Wissenschaften.33 Damit hatte die Naturforschung einen neuen Grad der Organisation, der Zusammenarbeit und der Effizienz erreicht. Diesen Weg in die Wirklichkeit konnte die fragmentarisierte Utopie freilich nur gehen, indem sie sich mit der Macht, dem Staat einließ. Das Interesse der Naturforscher an der staatlichen Anerkennung ist klar: Sie bedeutete Freiheit der Forschung, finanzielle Unterstützung und Nähe zum Machtzentrum. Was aber bewegte die europäischen Monarchen seit dem späteren 17. Jahrhundert, die Naturforschung durch Akademien und Sozietäten im buchstäblichen Sinn des Wortes zu »privilegieren«? Die Ursachen sind komplex und können hier nur angedeutet werden. Sie weisen zurück auf die sogenannte »Krise des 17. Jahrhunderts«. Ich führe diesen Begriff hier ein, wohl wissend, dass damit eine Fülle von ungelösten Fragen verbunden ist.34 Immerhin dient der Terminus der abkürzenden Verstän32 Einführend, mit weiterer Literatur M. Purver, The Royal Society: Concept and Creation. London 1967; R. Hall, Science, Technology and Utopia in the Seventeenth Century, in: P. Mathias (Hg.), Science and Society 1600–1900, Cambridge 1972, S. 33–53; J. A. Schuster, The Scientific Revolution, in: R. L. Olby u.a. (Hg), Companion to the History of Modern Science, London 1990, S. 217–242; M. Hunter, Establishing the New Science. The Experience of the Early Royal Society, Woodbridge (Suffolk) 1981, bes. S. 185 ff. 33 R. Hahn, The Anatomy of a Scientific Institution. The Paris Academy of Science 1666– 1803, Berkeley 1971. 34 Vgl. dazu H. Kamen, Social Change in Europe 1550–1660, London 1961; E. Weis, Die Gesellschaft in Deutschland, Bd. 1, München 1976, S. 154ff.; speziell zur Diskussion der »Krise

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digung darüber, dass die europäischen Gesellschaften und Staaten zwischen 1600 und 1660 von einer Serie unterschiedlicher Krisen erschüttert worden sind. Unstrittig ist, dass die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts mit der puritanischen Revolution, der Fronde, dem Dreißigjährigen Krieg, eine Phase außergewöhnlicher Instabilität darstellt. Deutlich kann man die wirtschaftlich-sozialen Krisenphänomene fassen: ein gemeineuropäischer Wirtschaftsabschwung in den ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts; eine Reihe von Missernten, die schwere Hungersnöte auslöste; die Pestepidemien noch in den 1660er Jahren. Volksaufstände gab es – leicht übertreibend gesagt – fast überall und fast immerzu. Damit sind die Strukturprobleme der Gesellschaft und des Staates angesprochen. In der grundsätzlichen hierarchischen Gliederung und Machtstruktur blieben die europäischen Gesellschaften in diesen Jahrzehnten durchaus stabil. Aber die faktische Macht, die Loyalitäten und Treueverhältnisse waren in einer Weise zersplittert, wie man es sich im postabsolutistischen Zeitalter kaum vorstellen kann. Das Königtum stellte zwar die bestorganisierte und zielstrebigste Kraft der Gesellschaft dar. Aber ein Monopol im Anspruch auf politische Macht hatte es noch nicht durchsetzen können.35 Zudem traten die konfessionell-theologisch bestimmten Normensysteme aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts in immer größere Spannung zum wirtschaftlich-gesellschaftlichen und politischen Wandel speziell seit der Jahrhundertmitte. Die Monarchien reagierten auf diese Krisen mit energischen Versuchen zur Zentralisierung ihrer Herrschaft, vermehrten Eingriffen des Staates in die Wirtschaft, Konzentration der Möglichkeiten einer staatlichen Wohlfahrtspolitik. Die bewusst und entschieden überkonfessionelle, zu diesem Zeitpunkt stark auf die Hauptstädte konzentrierte und nach vermehrtem politischem Einfluss strebende Gelehrtengemeinschaft bot gerade in dieser Situation ein Normensystem an, das rationalen und zentralisierten Problemlösungen günstig war.36

des 17. Jahrhunderts« C. Aston (Hg.), Crisis in Europe 1560–1660. Essays from Past and Present 1952–1962, London 1965; abwägende Einführung in den Problemkreis bei H. Lutz, Reformation und Gegenreformation, München 1989, S. 156ff. 35 Otto Brunner interpretiert das Barockzeitalter als »Ende der Adelswelt« – eine Phase, in der sich die höfische Welt den spezifisch »neuzeitlichen Tendenzen« konfrontiert sieht: dem modernen Staat, der Bürgerlichkeit, dem »Natürlichen System der Geisteswissenschaften«; vgl. O. Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist, Salzburg 1949, S. 124; Trevor-Roper, Religion (wie Anm. 25), S. 61, deutet die Strukturveränderungen zwischen 1620 und 1660 als »Krise des Verhältnisses von Staat und Kirche«, in denen eine protestantisch-bürgerlich geprägte Gesellschaft mit entsprechender Staatlichkeit den Renaissance-Staat katholischen Zuschnitts ablöst; G. Oestreich, Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1965, S. 279ff., sieht die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts geprägt durch die Transformation des Finanzstaates des 16. in den Militär-, Wirtschafts- und Verwaltungsstaat des 18. Jahrhunderts. 36 Vgl. H. Lutz, Normen und gesellschaftlicher Wandel zwischen Renaissance und Revolution – Differenzierung und Säkularisierung, in: Saeculum 26 (1975), S. 166–180, bes. S. 169ff.

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So entstand eine singuläre Interessengemeinschaft zwischen den Herrschern und den Naturforschern, die als Ziel ihrer Arbeit prinzipiell das Common Wealth deklarierten. Mehrere Faktoren wirkten also zusammen, um Staat und empirisch-utilitaristische Naturforschung zusammenzuführen: die Not der Bevölkerung, der Aufstiegswille einer bürgerlichen Intelligenz, die dem Staat nützliches Wissen anbot, die Zentralisierung der Herrschaft, schließlich auch der Wunsch der Herrscher, die Ressourcen ihrer Länder für die sich steigernde Machtrivalität im europäischen Staatensystem zu mobilisieren. Die Utopie der Freiheit von Naturzwängen – so lässt sich zusammenfassen – begibt sich seit der Mitte des 17. Jahrhunderts auf den Weg der Verwirklichung mit dreien ihrer Grundforderungen: der Steigerung des Wissens, vor allem der Naturforschung; der rationalen, vergleichsweise herrschaftsfreien Organisation der Wissenschaftler; der Zuordnung von Wissen und staatlich gesteuerter Wohlfahrtssteigerung. In der tatsächlichen Verbindung mit staatlichen Interessen verliert die utopische Ideenwelt den Glanz ihrer Vollkommenheit, aber sie gewinnt an realem Einfluss. Er steigert sich noch in dem Maße, wie sich die wissenschaftliche Revolution im 18. Jahrhundert verselbständigt und Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend zu beeinflussen beginnt. Vor allem die utopisch vorweggedachte Grundidee der Forschergemeinschaft, die im Bewusstsein eines unendlichen Fortschritts bei der Beherrschung der Naturkräfte anwendungsbezogenes Wissen bereitstellt, nimmt nun in der Sozietätsbewegung des 18. Jahrhunderts immer neue Gestalt an.37 Ihre Bedeutung für die Geschichte der technisch-wissenschaftlichen Naturbeherrschung soll abschließend noch mit Hinweisen zur Industriellen Revolution in England und zur »Agrarrevolution« in Deutschland angesprochen werden. Auch in England war das 18. Jahrhundert ein Zeitalter der Geselligkeit.38 Fast jeder Brite war Mitglied eines Clubs, wobei es hier wie in den kontinentalen Gesellschaften die verschiedensten Varianten des Assoziationsprinzips vom lockeren Treffen bis zur Freimaurerloge gab.39 Die Clubs verbanden auch 37 Vgl. zusammenfassend L. Hammermayer, Akademiebewegung und Wissenschaftsorganisation. Formen, Tendenzen und Wandel in Europa während der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: E. Amburger (Hg.), Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa, Berlin 1976, S. 1–84; R. van Dülmen, Die Gesellschaft der Aufklärer. Zur bürgerlichen Emanzipation und aufklärerischen Kultur in Deutschland, Frankfurt a.M. 1986; sowie Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein (wie Anm. 2), S. 259–303. 38 Die Formulierung ist angelehnt an U. Im Hof, Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1982. 39 So John Brewer, in: N. McKendrick u.a., The Birth of a Consumer Society. The Commercialisation of 18th-Century England, Bloomington 1982, S. 217ff; zusammenfassende Darstellungen zur Geschichte des Sozietätswesens in England: R. J. Morris, Voluntary Societies and British Urban Elites, 1780–1850. An Analysis, in: HJ 26 (1983), S. 95–118; ders., Clubs, societies and associations, in: F. M. L. Thompson (Hg.), The Cambridge Social History of Britain 1750–

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dann, wenn sie keine rein geselligen Vereine waren, ihren speziellen Zweck mit der Geselligkeitsfunktion und zudem der Aufgabe gegenseitiger Unterstützung. Ein wesentliches Segment in diesem höchst differenzierten, aber auch dichten Netz von Sozietäten bildete die Vereinigung zur Förderung von Bildung, Wissenschaft und technischen Innovationen. Es ist eine alte Streitfrage der Industrialisierungsforschung, ob die technischen Errungenschaften der frühen Industriellen Revolution in England Ergebnisse eines puren technisch-handwerklichen Empirismus gewesen seien, oder ob hier bereits eine systematische Kooperation von Naturwissenschaft und Technik eine Rolle gespielt hat. Detaillierte Forschungen zu einzelnen Sozietäten stützen massiv die These, dass die Industrielle Revolution nicht unverbunden neben der Wissenschaftlichen Revolution des 17. Jahrhunderts gestanden hat. Diese war eine wesentlich hauptstädtische Bewegung mit dem Zentrum der Royal Society gewesen. Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte sie sich über das ganze Land verbreitet, konzentriert in den vielen »philosophical societies« in Norwich, Exeter, Northampton, Bristol, Bath, Plymouth, Birmingham, Manchester und vielen anderen Orten. Seit etwa 1710 setzten viele dieser Gesellschaften »Professional Itinerant Lecturers« ein, die ihr naturwissenschaftliches Wissen in Provinzhauptstädte, »shire towns« und Ferienorte trugen.40 Gegenstände der Diskussion sind allgemein – wie für die »Manchester Literary and Philosophical Society« festgelegt – »Natural-Philosophy (seit dem 17. Jahrhundert der Sammelbegriff für die experimentelle Naturforschung), Theoretical and Experimental Chemistrie, Polite Literature, Civil Law, General Politics, Commerce and the Arts« (das heißt so viel wie »manufacture«).41 Im Vordergrund standen dabei weniger die Naturwissenschaften als akademische Disziplinen, sondern ein praktisch-experimenteller Zugriff.42 Thomas Barnes, eines der führenden Mitglieder der Manchester Society, formulierte als Programm, »that the happy art might be learned of connecting together Liberal Science and Commercial Industry«. Dies ist nun das Neue: Die bewusste und zielstrebige Zusammenführung von anwendungsbezogener Naturforschung und unmittelbarem Gewinninteresse in einer freien wirtschaftlichen Konkurrenzgesellschaft.43 Vor allem intendierte und leistete 1950, Vol. 3, Cambridge 1990, S. 395–444, sowie v.a. P. Clark, British Clubs and Societies 1580– 1800. The Origins of an Associational World, Oxford 2000. 40 P. Borsay, The English Urban Renaissance, Culture and Society in the Provincial Town 1660–1770, Oxford 1989, S 137. 41 Vgl. u.a. K. Flavell, Der aufgeklärte Leser in den jungen Industriestädten, eine Studie zur Liverpool Libary 1758–1790, in: O. Dann (Hg.), Lesegesellschaften und bürgerliche Emanzipation. Ein europäischer Vergleich, München 1981, Zitat S. 136. 42 Vgl. Borsay (wie Anm. 40) sowie R. E. Showfield, The Lunar Society of Birmingham. Social History of Provincial Science and Industrie in 18th-Century England, Oxford 1963, S. 90 u.ö. 43 Vgl. u.a. Flavell, Leser (wie Anm. 41), S. 136.

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dieser Sektor des englischen Sozietätswesens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sehr viel mehr als die entsprechenden Sozietäten auf dem Kontinent die bewusste und zielstrebige Zusammenführung von anwendungsbezogener Naturforschung und unmittelbarem Gewinninteresse in einer freien wirtschaftlichen Konkurrenzgesellschaft. Zu den wesentlichen Funktionen des englischen Clubwesens gehörte es, dass sich die Mitglieder gegenseitig bei Geschäften begünstigten – was in manchen Clubs sogar in den Statuten ausdrücklich festgehalten war. Zahlreiche Clubs dienten als Agenturen des Kreditwesens und reagierten damit auf ein spezifisches Bedürfnis des Georgianischen England. Die Regeln für den Kredit waren nicht ausreichend definiert, die private Verschuldung daher eine Quelle ständiger Unruhe. Das Clubwesen schuf demgegenüber zum einen die nötigen Kontakte zwischen Geschäftsleuten, Technikern und Gelehrten, andererseits fixierte es Wertorientierungen und Handlungsnormen, die sowohl den längerfristigen Wissens- sowie den aktuellen kommerziellen Interessen ihrer Mitglieder dienten.44 Zudem vertraten die Clubs diese Interessen gegenüber der Öffentlichkeit und dem Parlament, agierten also als Interessenvertretungen, wobei sie gleichwohl intern eine Atmosphäre der Neutralität kultivierten, in der die Wissens- und die kommerziellen Interessen freigehalten werden sollten von politischen Antagonismen.45 Sie folgten dabei einer Zielsetzung, die die europäische Akademiebewegung seit ihren Anfängen geprägt hatte und zu ihrem Erfolg wesentlich beitrug: der Ausklammerung religiös-konfessioneller und politisch-herrschaftlicher Interessen und Divergenzen.46 Dass in den Sozietäten nun tatsächlich konkreter Bedarf an ganz bestimmten, aus wirtschaftlichen Gründen wünschenswerten Innovationen artikuliert worden ist, und dass technisch interessierte Wissenschaftler und Erfinder unmittelbar darauf geantwortet haben – dafür zwei Beispiele. Das erste: Die englische Baumwollindustrie litt immer wieder an einem Engpass bei der Garnherstellung, weil es an erfahrenen Spinnern fehlte. Als sich das Problem in den 1750er Jahren verschärfte, schrieb die »Society for the Encouragement of Art« 1761 einen Preis für die Erfindung einer Spinnmaschine aus. Genau dieses Problem löste James Hargreaves 1767 mit der nach seiner Tochter benannten »Jenny«-Maschine. Sie potenzierte die Stundenleistung eines Spinners und 44 Vgl. Brewer, The Birth of a Consumer Society (wie Anm. 39), S. 200ff. 45 Vgl. Borsay, The English Urban Renaissance (wie Anm. 40), S. 280f; Showfield, Lunar Society (wie Anm. 42), S. 88, 134 u.ö. 46 Eine komprimierte Zusammenfassung der gesellschaftlichen und politischen Hemmnisse, die in der Alten Welt einer Freisetzung und systematischen ökonomischen Nutzung der Technik entgegenstanden, gibt in Anlehnung an die Fragestellung des klassischen Werkes von D. Landes, Unbound Prometheus. Technological Change and Industrial Development in Western Europe from 1750 to the Present, Cambridge 1969: K. H. Metz, Der gefesselte Prometheus? Technik und Gesellschaft im Ancien Régime, in: H. Neuhaus (Hg.), Aufbruch aus dem Ancien Régime, Beiträge zur Geschichte des 18. Jahrhunderts, Köln 1993, S. 125–134.

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trug damit zur Kapazitätssteigerung der englischen Textilindustrie bei.47 Das zweite Beispiel: Fast alle Mitglieder der »Lunar Society«, der auch James Watt angehörte, hatten sich in der einen oder anderen Form bereits mit Projekten einer Dampfmaschine auseinandergesetzt und sich darüber ausgetauscht. Zudem war Watt selbst – von seinen Interessen her sowohl Mechaniker als auch Wissenschaftler – zwar durchaus geschäftstüchtig, aber er blieb doch immer vor allem der anwendungsbezogen arbeitende Wissenschaftler. Die unternehmerische Verwertung übernahm sein Gesprächs- und Geschäftspartner in der »Lunar Society« in Birmingham, Matthew Boulton.48 Wiederum: Es geht nicht darum, eine einlinige Kausalität von utopischem Gedankengut zur Industriellen Revolution zu konstruieren. Für die Zündung der Industrialisierung gerade in England sind Faktoren des Marktes von entscheidender Bedeutung. Aber die utopisch vorweggedachte Kernidee einer Gesellschaft, die sich durch systematische und kollegial organisierte Forschung von Not und Sorge befreit und so ein Dasein über den Zwängen der Natur führen kann, ist eine der unverzichtbaren Voraussetzungen für den neuen Zugriff auf die Natur und ihre Ressourcen. Das zeigt sich nicht nur bei der gewerblich-industriellen, sondern auch bei der »Urproduktion«. Die sogenannte Agrarrevolution wurde in Deutschland praktisch, schriftstellerisch und gesetzgeberisch am stärksten gefördert durch den Mediziner, Agrarwissenschaftler und Agrarreformer Albrecht Thaer. Seine beiden Hauptwerke, die »Einleitung in die Kenntnis der englischen Landwirtschaft« (1795– 1804) und die »Rationelle Landwirtschaft« (1809–1810) formulieren einen in der Tat revolutionären Einstellungswandel des Menschen zur Natur.49 Dieser hat mit wachsender Beschleunigung die Welt verändert und ist heute angesichts der Störung des ökologischen Gleichgewichts in eine tiefe Krise geraten. An Thaers Werken – Dokumenten aufklärerischen Fortschrittsglaubens, 47 Vgl. P. Deane, Die Industrielle Revolution in Großbritannien 1700–1880, in: C. M. Cipolla u. K. Borchardt (Hg.): Europäische Wirtschaftsgeschichte, Bd. IV: Die Entwicklung der industriellen Gesellschaften, Stuttgart 1977, S. 12; zur Bedeutung des gesellschaftlichen Netzwerkes und der Sozietäten bei Richard Arkwrights Erfindung der Spinnmaschine mit automatischer Garnzuführung durch Streckwalzen vgl. R. S. Fitton, The Arkwrights. Spinners of Fortune, Manchester 1989, S. 22–49, bes. S. 28. 48 Zu den einzelnen Mitgliedern der Lunar Society, zu deren innerer Struktur und Organisation und der enormen Bedeutung der Lunar Society für technische Innovationen und ihre Vermittlung mit den kommerziellen Interessen vgl. ausführlich Showfield, Lunar Society (wie Anm. 42); hier bestätigt sich auch die Bedeutung der Gesellschaften für die Finanzierung der industriellen Innovationen. Ein Mitglied der Lunar Society, Thomas Day, gewährte Boulton 1772 einen Kredit und rettete ihn damit geschäftlich, ebd., S. 86; zu den vielfältigen personellen Verflechtungen des Birminghamer Sozietätswesens J. Money, Experience and Identity. Birmingham and the West Midlands 1760–1800, Manchester 1977, S. 99–149. 49 Vgl. einführend die biographische Skizze von E. Woermann, Albrecht Daniel Thaer, in: G. Franz u. H. Haushofer (Hg.): Große Landwirte, Frankfurt am Main 1970, S. 59–78, mit Bibliographie der umfänglichen Literatur.

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wissenschaftlicher Systematik und antifeudal-liberaler Wirtschaftsgesinnung – lässt sich aus heutiger Sicht auch die Ambivalenz dieses Naturzugangs ablesen. Die Vorbildhaftigkeit Englands ist für Thaer in mehrfacher Hinsicht kein Zufall. Er weist ausdrücklich auf Bacon hin, variiert unermüdlich, dass man die Landwirtschaft wissenschaftlich lehren und praktizieren müsse und knüpft unmittelbar an die »Wissenschaftliche Revolution« des 17. und 18. Jahrhunderts an: »Die Kunst, Versuche anzustellen, hat man fast zu erst im vorigen Jahrhundert richtig kennengelernt und ausgebildet. Auf dieselbe gründet sich jedoch vorzüglich die Gewalt des Menschen über die materielle Welt, und er kann diese umso weiter ausdehnen, je mehr er jene Kunst vervollkommnet und in Ausübung bringt«.50 Thaer bedient sich der Organisationsform der praxisbezogenen Forschung, der Sozietät bzw. Akademie, und er propagiert sie. Er schildert die Leistungen der landwirtschaftlichen Gesellschaften Englands, äußert später allerdings auch deutliche Skepsis gegenüber der wirklichen Effizienz der Agrarsozietäten in Deutschland. In vieler Hinsicht lässt sich Thaers praktische und literarische Arbeit – schlägt man einen rein ideengeschichtlichen Bogen – als unmittelbare Verwirklichung eines Aspekts aus Leibniz’ umfassendem Programm verstehen: Thaer nimmt den Staat in Anspruch und konzipiert die »rationelle Landwirtschaft« als Arbeit am bonum commune; er verbindet Praxis und Forschung mit einer neu organisierten Lehre – Teil der geforderten Bildungsreform. Experimentelle Naturforschung setzt er unmittelbar in die konkrete Landarbeit um: Die Rationalität des Arbeitens gewinnt Vorrang vor den feudalen Herrschafts- und Besitzstrukturen. Neu ist, dass Thaer – wie die Protagonisten der Industrialisierung in England – nun die Faktoren des Marktes einbezieht und die ganze Landwirtschaft funktionieren lässt auf der Grundlage der Marktgesetze. Ausführlich beschreibt er die Formen des Kapitaleinsatzes und die Prinzipien der Preisbildung und prognostiziert die Entwicklungschancen einer modernisierten Landwirtschaft auf dem Hintergrund der Agrarkonjunktur seit den 1740er Jahren. Zutreffend sieht er kurzfristige Einbrüche voraus, erwartet aber längerfristig einen weiteren Anstieg der Boden- und Güterpreise. Thaers Konzeption einer rationellen Landwirtschaft ist alles andere als eine Utopie. Aber sie nimmt wesentliche Grundgedanken auf und führt sie weiter, die bei den Utopisten vorgedacht, freilich als Fiktion in das Wunschbild einer vollkommenen Ordnung gefasst worden waren. Die Vollkommenheitsphantasie entfällt nun, oder, genauer: sie wird transformiert in einen liberalen Fortschrittsgedanken. Dass die »Besiegung der Natur durch Arbeit« möglich und wünschenswert sei, hat Thaer, und mit ihm eine nun immer breiter werdende Schicht wirtschaftender Individuen, nicht bezweifelt. In der Tat hat sich die europäische Menschheit in einer für die alte Welt schlechthin unvorstell50 A. Thaer, Grundsätze der rationellen Landwirtschaft, Berlin 18212, § 20.

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baren – insofern also durchaus »utopischen« – Weise die Kräfte der Natur unterworfen und sich von den Nöten der Naturabhängigkeit befreit. Vom Preis, den Mensch und Natur dafür zahlen mussten und müssen, soll abschließend wenigstens noch in einer Andeutung die Rede sein.

IV. Ich bleibe im historischen Kontext der Ursprungsgeschichte moderner Freiheit von den Naturzwängen. Welche Gefahren trägt die Koalition von utopischer Hoffnung, Wissen und Macht in sich? Der langjährige und in Fragen der sozialen Wohlfahrt anfangs sehr engagierte Minister des aufgeklärt-absolutistischen Kleinstaates Sachsen-Weimar, Johann Wolfgang von Goethe, schildert im letzten Akt des Faust II ein typisches Kolonisationswerk der Zeit, wie es durchaus vergleichbar von Friedrich dem Großen, Maria Theresia und anderen Herrschern tatsächlich durchgeführt wurde.51 Faust wird belehnt mit dem Meeresstrand und erhält Reservatrechte, die ihn zum nahezu unbeschränkten Herrscher machen. Zu seiner Landgewinnung getrieben indessen wird er von einer Reihe von Impulsen, die sich schrittweise zum Ende hin als umfassende Utopie zu erkennen geben. Am Anfang stört ihn vor allem der nutzlose Verbrauch der Energie der Elemente. Faust beim Anblick des Meeres: »Da herrschet Well’ auf Welle kraftbegeistet, Zieht sich zurück, und es ist nichts geleistet. Was zur Verzweiflung mich beängstigen könnte! Zwecklose Kraft unbändiger Elemente! Da wagt mein Geist, sich selbst zu überfliegen; Hier möcht ich kämpfen, dies möcht ich besiegen.«52

Faust, allgewaltig auf seinem Territorium, fasziniert von der Rationalität seines Plans, fühlt sich jedoch gestört durch das Idyll des alten Paares Philemon und Baucis mit dem Haus auf dem Hügel, den Bäumen und dem »morschen Kirchlein« – ein Besitz, der nicht ihm gehört. Er beauftragt Mephisto, die beiden zu vertreiben und nimmt dabei in Kauf, dass dieser seinen Auftrag mit Brandstiftung und Mord ausführt. 51 Vgl. allgemein D. Borchmeyer, Der aufgeklärte Herrscher im Spiegel von Goethes Schauspiel, in: Aufklärung 2 (1987), S. 49–74. 52 J. W. Goethe, Faust. Zweiter Teil, Hamburger Ausgabe, Bd. III, 10216–10221; 11239– 11243; 11568–11586.

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Goethe entwirft hier ein Spiegelbild des aufgeklärt-absolutistischen Herrschers. Dieser hat wohl eine Vorstellung vom allgemeinen Glück und setzt sie auch durch, notfalls, indem er sie seinen Untertanen mit Gewalt aufzwingt. Der Fortschritt verlangt die zweckgerechte Bewirtschaftung des Landes, zugleich aber fühlt sich der Herrscher herausgefordert, weil ihm, was nicht seinem Fortschritt dient, die Grenzen seiner Macht vor Augen führt: »Die Alten droben sollten weichen, Die Linden wünscht ich mir zum Sitz Die wenig Bäume, nicht mein eigen Verderben mir den Weltbesitz Zu überschaun mit einem Blick Des Menschengeistes Meisterstück, Bestätigend mit klugem Sinn Der Völker breiten Wohngewinn.«

Faust steigert aber im Schlussmonolog sein Vorhaben vom Kampf gegen die Elemente und vom unbedingten Machtanspruch eines Herrschers zur Utopie eines freien Volkes, das weder den Zwängen der Natur, noch denen despotischer Herrschaft unterliegt. Das Kolonisationswerk soll Menschen zu sinnvollem Leben verhelfen, zu einem Leben frei von Mangel, Schuld, Sorge und Not. Auch sind in dieser letzten Vision nicht mehr die mephistophelischen Helfer am Werk, sondern freie Menschen in gemeinsamer Arbeit: »Eröffn’ ich Räume vielen Millionen nicht sicher zwar, doch tätig-frei zu wohnen Im Innern hier ein paradiesisch Land Da rase draußen Flut bis auf zum Rand, und wie sie nascht, gewaltsam einzuschließen, Gemeindrang eilt, die Lücke zu verschließen ... Solch ein Gewimmel möcht ich sehn, Auf freiem Grund mit freiem Volke stehen Im Vorgefühl von solchem Glück Genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.«

Faust unterliegt bei alledem einer mehrfachen Täuschung. Durch den Anhauch der Sorge bereits erblindet, vernimmt er das Geklirr der Spaten und glaubt, die Arbeit an seinem Werk zu hören. Tatsächlich aber schaufeln die Lemuren sein Grab. Mephisto lässt zugleich keinen Zweifel daran, dass die Elemente das mühsam errungene Land bald wieder zurückholen werden. Gewiss hat Goethe hier den aufgeklärten Despotismus entlarvt – die Herrschaftsform seiner Zeit, in welcher der seit Beginn der Neuzeit utopisch antizipierte Wunsch nach Freiheit von den Naturzwängen der Verwirklichung so 173

nahe gebracht wurde wie nie zuvor. Aber man wird annehmen dürfen, dass Goethe mit diesem Ende des »höchsten Exempels des utopischen Menschen«, wie Faust von Ernst Bloch genannt wird, mehr wollte. Es ist ein Kennzeichen der reinen Utopie als Wunschbild, dass sie das Kontingente, der Verwirklichung Widerstrebende, einfach ausspart. Sie kann das, weil sie per definitionem eine Fiktion gibt – eine Fiktion, die gleichwohl historisch wirkmächtig geworden ist. Wo aber der Utopist selbst Macht erstrebt, über Macht verfügt und seine Macht durch Unterwerfung der Natur steigern will, da kann das gute Ziel die bösen Mittel nicht vergessen machen, da gelingt die Besiegung der Natur nur vorübergehend, und auch dies nur, weil der Teufel im Spiel ist.

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9. Naturbeherrschung und ästhetische Landschaft. Zur Entstehung der ästhetischen Landschaft am Beispiel der »Münchner Schule« I. Arbeit auf dem Land Als Johann Georg Dillis und Wilhelm Kobell um 1800 die später so genannte »Münchner Schule« der Landschaftsdarstellung zu einer ersten Blüte brachten, zählte die Stadt 40450 Einwohner.1 Neben München gab es im damaligen (Alt-) Bayern noch drei Städte mit mehr als 4000 Einwohnern: Ingolstadt, Landshut und Straubing. 82,2% der gesamten Bevölkerung lebten nicht in Städten und Märkten, sondern auf dem Lande.2 Seit circa 1800 schloss sich Bayern mit einer jährlichen Zuwachsrate von etwa 1% dem europäischen Bevölkerungswachstum an, welches innerhalb von 70 Jahren die Ernährungssituation in Europa radikal verschärfte: Zwischen 1740 und 1805 war Brandenburg-Preußen (im Deutschland von 1840) auf mehr als das Doppelte gewachsen, Frankreich von knapp 20 auf fast 30 Millionen, England von 6 auf 10 Millionen.3 Trotz Bevölkerungsexplosion und Land-Stadt-Wanderung entledigte sich die europäische Menschheit in eben diesen Jahren des »Würgegriffs« (Bairoch)4, der in aller Geschichte bis dahin ihr Leben periodisch bedroht hatte: der Hungersnot. Bis zum 17. Jahrhundert hatte England durchschnittlich 12 Hungersnöte pro Jahrhundert erlebt. Im 17. Jahrhundert waren es vier, im 18. noch einmal fünf, im 19. Jahrhundert eine, 1812.5 In Deutschland ging diese Heimsuchung mit den Krisen von 1816 und 1846/47 zu Ende. Kein Wunder, dass sich für diesen Vorgang, der die europäische Menschheit von der 1 H. Mottek, Wirtschaftsgeschichte Deutschlands, Bd. 1, Berlin 1969, S. 289; genaue Zählung aus dem Jahre 1801: 48 745; vgl. E. Keyser u. H. Stoob, Bayerisches Städtebuch, Teil 2, Stuttgart 1974, S. 403. 2 F. Hausmann, Die Agrarpolitik der Regierung Montgelas. Untersuchungen zum gesellschaftlichen Strukturwandel Bayerns um die Wende vom 18. zum 19. Jh., Frankfurt a.M. 1975, S. 5. 3 W. Abel, Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 19672, S. 275. 4 P. Bairoch, Die Landwirtschaft und die industrielle Revolution 1700–1914, in: C. M. Cipolla u. K. Borchardt, (Hg.), Die industrielle Revolution, Stuttgart u.a. 1976 (= Europäische Wirtschaftsgeschichte Bd. 3), S. 298; zum Folgenden vgl. ebd. v.a. S. 295–309. 5 Bairoch, Landwirtschaft (wie Anm. 4), S. 300.

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permanenten Angst vor Missernten befreite, der Begriff der »Agrarrevolution« eingebürgert hat.6 In ihr wurden die jährlichen Schwankungen der landwirtschaftlichen Erträge, die über 25% im Staatsraum ausmachen konnten, eingeebnet, innerhalb von vierzig bis sechzig Jahren stieg die Produktivität der landwirtschaftlichen Erzeugung so stark an, dass der durchschnittliche Überschuss sich auf etwas mehr als 50 % erhöhte.7 Es liegt nahe, dass diese Befreiung von der Herrschaft einer übermächtigen, schicksalhaft wirkenden Natur auch auf die »auf Kunstinhalte gebrachte Natur«8, die »Landschaft« nicht ohne Einfluss blieb. Gleichzeitig setzte eine Bevölkerungsverschiebung vom Land in die Stadt ein, die in den das ganze 19. Jahrhundert durchziehenden, seit den 1860er Jahren sich noch einmal rapide beschleunigenden Urbanisierungsprozess einmündete. Sie wurde am Ausgang des 18. Jahrhunderts auch in Bayern beklagt, obgleich sie sich im Vergleich mit England, Frankreich und auch Preußen noch in engen Grenzen hielt.9 Bis dahin hatte der Stand der landwirtschaftlichen Produktivität auch den höchst entwickelten Gesellschaften nicht erlaubt, mehr als 20–25% ihrer Bevölkerung in Gewerbe, Handel und Manufaktur zu beschäftigen. Der gesellschaftliche Mehrwert wurde im wesentlichen auf dem Lande produziert. Von Sully, dem Finanzminister Heinrich IV. von Frankreich, wird der Ausspruch überliefert: »Acker und Weide sind die beiden Brüste Frankreichs«,10 und noch Adam Smith, der Theoretiker der kapitalistischen Verkehrswirtschaft, erwartete den »Wohlstand der Nationen« vor allem von der – allerdings von ihren feudalen Bindungen befreiten – Landwirtschaft.11 Während sich 6 Vgl. dazu zusammenfassend J. D. Chambers u. G. E. Mingay, The Agricultural Revolution 1750–1880, London 1966; zum Begriff speziell: G. E. Mingay, Agricultural Revolution in English History. A reconsideration, in: Agricultural History 37 (1963), S. 183ff.; der Begriff ist allgemein eingebürgert, W. Abel spricht allerdings von der übertreibenden Bezeichnung ›agrikulturelle Revolution‹, vgl. W. Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernährungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg 19662, S. 167. 7 Bairoch, Landwirtschaft (wie Anm. 4), S. 298; vgl. dazu auch: Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur (wie Anm. 6), S. 182–205; Abel, Geschichte der deutschen Landwirtschaft (wie Anm. 3), S. 251–303; K. Borchardt, Die industrielle Revolution in Deutschland 1750–1914, in: C. M. Cipolla u. K. Borchardt (Hg.), Die Entwicklung der industriellen Gesellschaften, Stuttgart 1977 (= Europäische Wirtschaftsgeschichte Bd. 4), S. 145. 8 W. Hofmann, Turner und die Landschaft seiner Zeit, in: Ausst. Kat. W. Turner und die Landschaft seiner Zeit, Hamburg 1976, S. 29. 9 So L. Westenrieder, Beiträge zur vaterländischen Historie III (1790), S. 391, V (1794), S. 381, 404, VI (1800), S. 263. 10 Zit. nach Bairoch, Landwirtschaft (wie Anm. 4), S. 306. 11 A. Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, London 1776; zit., nach der Ausgabe von H. C. Recktenwald, München 1974, S. 299: »In der Landwirtschaft investiertes Kapital bringt somit nicht nur mehr produktive Arbeit zum Einsatz als solches im Gewerbe, sondern es trägt auch weit mehr zum jährlichen Ertrag aus Boden und Arbeit eines Volkes bei, also zum wirklichen Wohlstand und Einkommen seiner Mitglieder. Von allen Arten der Investition ist dieses Kapital bei weitem am vorteilhaftesten für die Gemeinschaft eingesetzt.«

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allerdings in England die Besitz- und Herrschaftsstrukturen seit dem 17. Jahrhundert grundlegend wandelten, so dass dort die Agrarrevolution in Gang kommen konnte, blieb die Agrarverfassung in Deutschland bis in die Reformära zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Wesentlichen unverändert und in die feudale Herrschafts- und Gesellschaftsordnung eingelassen. Bayern, rohstoffarm, seit dem 16. Jahrhundert von den europäischen Handelswegen abgeschnitten und von den Kriegen des 17. und 18. Jahrhunderts schwer mitgenommen, fehlten jene Impulse aus Handel und gewerblicher Produktion, die in den ökonomisch fortgeschritteneren Teilen Europas zur Umschichtung des Grundbesitzes, zur teilweisen Entfeudalisierung des Landlebens, zur Verschmelzung von Bürgertum und Adel geführt hatten.12 So bietet Bayern am Ausgang des 18. Jahrhunderts noch ganz das Bild einer traditionellen Agrargesellschaft.13 Da die bayerischen Grundherren ihre Eigenwirtschaft nicht – wie zum Teil die preußischen Gutsherren – in landwirtschaftliche Großbetriebe kapitalistischen Stils weiterentwickelt hatten, lag die Erwirtschaftung der landwirtschaftlichen Erträge – abgesehen von den Eigenwirtschaften der Klöster – ganz bei den grunduntertänigen Bauern. Sie besaßen den Boden im Nutzeigentum (dominium utile) vom Grundherrn, dem Inhaber des Obereigentums (dominium directum), und hatten dafür Fronarbeit (Scharwerke), einen Grundzins (Stift oder Gilt), Besitzwechselabgaben (Laudemien) und den Zehent zu leisten, wobei die Scharwerke bereits vielfach in Geldabgaben umgewandelt waren. Zudem unterstanden sie der »Polizei-« und Gerichtsgewalt ihrer Herrn. Daneben organisierten sie sich in Organen der Selbstverwaltung, der sogenannten »Gmein«, welche, bar aller hoheitlichen Rechte, die Nutzung der gemeinsamen Grundstücke, der Gemeindeweide und Gemeindewiese regelte. Ihrerseits nach Besitzgrößen gegliedert, prägte sie mit der Festlegung von Flurordnung und Flurzwang den Gang der ländlichen Arbeit. Diese Flurverfassung entsprach den Bewirtschaftungsmethoden und dem Anbausystem der Dreifelderwirtschaft, die sich im Wesentlichen unverändert seit dem Mittelalter erhalten hatte.14 Die dörfliche Gemarkung war in Wintergetreide, Sommergetreide und Brachzelge geteilt.15 Da die Preise insgesamt der Viehwirtschaft nicht günstig waren, herrschte der Getreideanbau, 12 Vgl. u.a. J. D. Chambers u. G. E. Mingay, Agricultural Revolution (wie Anm. 6), S. 199ff.; P. Mathias, The First Industrial Nation. An Economic History of Britain 1700–1914, London 1969, S. 72ff.; K. Kluxen, Geschichte Englands, Stuttgart 19762, v.a. S. 406f., 477ff.; S. Lilley, Technischer Fortschritt und die Industrielle Revolution 1700–1914, in: C. M. Cipolla u. K. Borchardt, Entwicklung (wie Anm. 7), Bd. 3, S. 137; E. Weis, Der Durchbruch des Bürgertums 1776–1847, Frankfurt a.M. 1978 (= Propyläen Geschichte Europas, Bd. 4), S. 49. 13 Dazu jetzt grundlegend: F. Hausmann, Agrarpolitik (wie Anm. 2), passim. 14 Vgl. neben der o. zit. agrargeschichtl. Literatur: O. Brunner, Europäisches Bauerntum, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 19682, S. 201. 15 Vgl. C. Borcherdt, Fruchtfolgesysteme und Marktorientierung als gestaltende Kräfte der Agrarlandschaft in Bayern, Kallmünz 1960, S. 32.

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in Bayern der Roggen- und Haferanbau, vor. Die Stallfütterung war noch weitgehend unbekannt. Umgekehrt fehlte bei mangelnder Viehhaltung der Dünger, um die Ertragskraft des Bodens zu steigern. Retardierend auf die Erträge wirkte zudem natürlich die Brache. Insgesamt konnten daher nur 2/3 bis ¾ der Feldbaufläche für den Getreideanbau genutzt werden.16 Selbst in Preußen lag um 1800 noch ein Viertel allen Ackerlandes zur Regeneration des Bodens jährlich brach, darüber hinaus galten statistisch mehr als 40 % des Landes als »Unland«.17 Die Viehhaltung war im Wesentlichen abhängig von der Ausdehnung der »Gemeinheiten«, der Almenden, also des genossenschaftlichen Besitzes der Gemeinden. Im südlichen Bayern war neben der Dreifelderwirtschaft die Feldgraswirtschaft verbreitet, weil in den Alpentälern und im Alpenrandgebiet das Grünland vorherrschte. Hier griffen Acker- und Grünlandparzellen vielfach ineinander und bestimmten das Agrarlandschaftsbild.18 Die Verflechtung von feudalen und genossenschaftlichen Eigentumsformen, feudaler Herrschaftsordnung und Bewirtschaftungsweise verlieh diesem altüberlieferten System ländlicher Arbeit eine Beharrungskraft, die jeder Änderung zähesten Widerstand entgegensetzte.19 Die Antwort des Pfarrers von Frieding (zwischen Ammer- und Starnberger See) auf ein Preisausschreiben der Gräflich Seefeldischen Jagd- und Landwirtschaftssocietät aus dem Jahr 1790, in der unter anderem die Möglichkeit zur Einführung der ertragssteigernden Stallfütterung geprüft wurde, bezeichnet daher sehr genau die Hemmnisse, die einer Modernisierung der Landwirtschaft am Ausgang des 18. Jahrhunderts im Wege standen: Es seien »die verschiedenen und miteinander bei hiesigen Unterthanen einschlagenden Grund- und Jurisdictionsherrschaften, deren die Sache zu beordern, und nachdrucksam zu betreiben obläge, selbst noch nicht einerlei Meinung hierüber ...«; es sei »die Bauernschaft, die doch eine notwendige Persohn dabei zu machen hätte, bis dato hierzu gar nicht angelegt und vorbereitet: sondern gegen viele Neuerung, die für sie schon so oft fehlgeschlagen, schichtern, für Theoretisch Speculationen, zukünftige Rechnung incopabel, und, was die Hauptsache ist, für all und vieles, für Anfang und Fortsetzung viel zu arm«; um »den Bauern wieder aufzurichten« sei es notwendig, »an gehöriger Stelle, wohin die Wahrheit und Noth unseres Bauernstandes noch nicht gelangt sein kann, ohne diselbe mitzuempfinden und dem noch weiteren Verfahl des ersten Finanzproduktes in Baiern vorzubeugen, Vorstellungen zu machen, daß besonders der Bauer des Oberlandes und vorzüglich in unseren Gegenden mit den Abgaben nach dem allge16 Ebd., S. 18. 17 K. Borchardt, Die Industrielle Revolution in Deutschland, in: C. M. Cipolla u. K. Borchardt (Hg.), Entwicklung (wie Anm. 7), Bd. 4, S. 145. 18 Borcherdt, Fruchtfolgesysteme (wie Anm. 15), S. 32. 19 Signifikante Beispiele für die Statik der Rechtsordnung und die Widerstände, welche neuen Bewirtschaftungsmethoden entgegengesetzt wurden, bei Abel, Geschichte (wie Anm. 3), S. 289ff.

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meinen Hof-Fuß hart überlegt, und wirklich unterdrückt seye ... Man lasse ihm nur einen Profit seiner Arbeiten und mache ihm also einen Muth dazu: und setze ihn in das Vermögen ein, um etwas thun zu können. Und man wird Wunder sehen ... Auf Acker-Philosophie und neue Mode-Art zu bauen, wird er sich freilich nicht verstehen ...«20

II. Städtisches Wissen und die Arbeit auf dem Lande Mit seiner Antwort sprach der Pfarrer von Frieding die drei Problemkomplexe an, in deren Rahmen sich die »Agrarrevolution« und damit der grundsätzliche Wandel in der Einstellung des Menschen zur Natur auch in Deutschland durchzusetzen hatte: das Interesse der Gesellschaft und des Staates an gesteigerten Erträgen der Landarbeit, die Freisetzung von Arbeit und Profit von den feudalen Bindungen und der Bewusstseins- und Mentalitätswandel der naturbearbeitenden Menschen. Mit der Anspielung auf die »Ackerphilosophie« beleuchtet das Zitat, dass die sogenannte »agrarische Bewegung«, von England und dann von Frankreich ausgehend, am Ende des 18. Jahrhunderts auch Deutschland und Bayern erreicht hatte. Der Begriff umschreibt eine plötzliche Konzentration des öffentlichen Interesses auf Fragen des Landbaues und der Landwirtschaft seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, die durch die verschiedensten Impulse ausgelöst war.21 Eine säkulare Trendwende der Getreidepreise brachte in Mitteleuropa seit den dreißiger bzw. vierziger Jahren zunächst langsam, seit den 1780er Jahren aber beschleunigt und beharrlich steigende Preise, ehe die Hochkonjunktur infolge der – trotz der Bevölkerungsvermehrung! – mittlerweile entstandenen Überproduktion seit 1801 von einer lang anhaltenden Depression abgelöst wurde. Die Schere zwischen steigenden Preisen und niederen landwirtschaftlichen Löhnen zog – wiederum zunächst in England – erhebliche Investitionen in den Grundbesitz nach sich. Diese ermöglichten eine Intensivierung der Bodenbearbeitung und schufen mit der Bereitstellung von Kapital die ökonomische Voraussetzung zur Einführung neuer Bewirtschaftungsmethoden. Diese wiederum war nur möglich durch einen Innovationsschub an naturwissenschaftlichen und betriebswirtschaftlichen Kenntnissen, der, in Holland im 17. Jahrhundert vorbereitet, in England mit der Entwicklung neuer Fruchtfolgesysteme seit circa 20 Zit. nach Borcherdt, Fruchtfolgesysteme (wie Anm. 15), S. 58/59. 21 Vgl. Abel, Geschichte (wie Anm. 3), S. 276ff.; Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur (wie Anm. 6), S 182ff.; Bairoch, Landwirtschaft (wie Anm. 4), S. 302ff.; W. Abel, Die Lage in der dt. Land- und Ernährungswirtschaft um 1800, in: F. Lütge (Hg.), Die wirtschaftliche Situation in Deutschland und Österreich um die Wende vom 18. zum 19. Jh., Stuttgart 1964, S. 238–254 (= Forschungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Bd. 6).

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1730 einsetzte und sich infolge der internationalen Marktverflechtung in kurzer Zeit in Europa verbreitete. Schließlich verwiesen die rapide steigenden Staatsausgaben für Hof, Bürokratie und Armee und zunehmend auch der Bevölkerungsdruck den Staat auf die durch Steuern abschöpfbaren Gewinnsteigerungen landwirtschaftlicher Arbeit. All dies führte dazu, dass man, wie Johann Georg Lori, der Gründer der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, es 1759 ausdrückte, anfing, »die Landwirtschaft mit philosophischen [d.h. im Sprachgebrauch der Zeit: wissenschaftlichen, W.H.] Augen anzusehen«22, und dies waren nicht die Augen des Bauern, sondern die des Städters. Die landwirtschaftliche Arbeit an der Natur wurde in den Prozess der Verwissenschaftlichung der Weltkenntnis hineingezogen. Der »gelerte Ökonom ... der die ökonomischen Kenntnisse von 5 Weltteilen kennt« begann mit seinem Wissen die Arbeit des »dümmsten Land-Manns« zu durchdringen.23 Die neue Landbauwissenschaft und »Experimentalökonomie« begann die alten scriptores rei rusticae zu verdrängen, sie sprach nicht mehr vom »Hausvater«, sondern vom »Landwirt«. Der »gemeine Landwirt« erhielt jetzt vom »denkenden und forschenden« Landwirt »Ackerunterricht für den Landmann in Fragen und Antworten« (Leipzig 1770). Die Gelehrten machten sich Gedanken über die Verbreitung ökonomischen Wissens unter den Bauern. Eine Anzahl von Bauernzeitungen wurde gegründet, so »Der Bauernfreund aus Niedersachsen« (Lemgo 1775), das »Lesebuch zum Unterricht des Landmanns« (Frankenhausen 1762–63), »Das räsonnierende Dorfkonvent, eine gemeinnützige ökonomisch-moralische politische Schrift für den Bürger und Landmann« usw.24 Ausschließlich von Städtern geschrieben, suspendierten sie den Unterschied von Stadt und Land, von Bürger und Landmann, wobei der ökonomische Gesichtspunkt des »nützlichen« Wissens ja nur in Gemeinschaft mit aufklärerisch-humanitärer und politischer Kritik zum Tragen kommen konnte. In Bayern schrieb der Reformschriftsteller und Statistiker Hazzi in seinen »10 Geboten für Bürger und Bauern«: »Barbarei ist noch das Gepräge unserer Landwirtschaft ... Die Landleute oder Bauern sind kaum als Menschen bekannt – Sklaverei oder das des Lastviehs ist ihr Los – ihre sogenannten Grund- und Jurisdiktionsherren behandeln sie wie Treiber mit Sporn und Geisel – unter tausend Namen, Titeln und Helfershelfern wissen sie alle Pfennige ihren sogen. Untertanen aus der Tasche zu holen. Daher trauern über dies harte Joch alle unbebauten Gründe – und eine Menge unüber-

22 M. Spindler (Hg.), Electoralis Academiae Scientiarium Boicae Primordia. Briefe aus der Gründungszeit der Bayer. Akademie der Wissenschaften, München 1959, S. 248. 23 A. L. Schlözer, Allgemeines Statsrecht und Stats-Verfassungs-Lere, Göttingen 1793, S. IX. 24 Vgl. O. Franz, Geschichte des deutschen Bauernstandes vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1970, S. 234.

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sehbarer Strecken im öden, wüsten Gewande begegnen auf allen Seiten dem forschenden Naturfreund.«25 Auch in Bayern ging seit der Jahrhundertmitte eine kleine städtische Öffentlichkeit daran, das Land und die Arbeit auf dem Land den aufklärerischen Gesichtspunkten der Nützlichkeit und der Rationalität zu unterwerfen. 1752 erschien die erste bayerische Zeitschrift ökonomischen Inhalts: »Georgica Bavarica oder Oekonomische Auszüge und gründliche Nachrichten wie sowohl adelige Land- wie gemeine Bauren-Güther verbessert, und derselben jährliche Erträgnisse um ein Merkliches vermehret werden können. Nebst allerhand Anmerkungen, Versuchen, Vorschlägen, neuen Anstalten, Erfindungen, Vortheilen etc. zum Nutzen und Gebrauch aller derjenigen, so dergleichen groß oder klein Güther selbst besitzen, oder zu verwalten haben ...«26 Worauf es der aufgeklärten und aufklärenden Öffentlichkeit anzukommen hatte, formulierte Westenrieder, als er beim Erscheinen der »Churbaierischen Intelligenzblätter« 1776 die Zeitungsschreiber aufforderte, sie sollten aufhören, »ihre Blätter mit Nachrichten, was heute an diesem oder jenem Hofe gespeiset oder wie die gestrige Assemblé am Hofe abgelaufen sei und mit dergleichen nichtsbedeutenden Sachen anzufüllen«. Als bedeutend galt ihm dagegen die Untersuchung der ökonomischen Bedürfnisse als »wahrlich der ersten, welche zur Glückseligkeit und Eintracht und zum Frieden des Landes den Grund legten.«27 Es entstand eine umfangreiche, z.T. freilich anonym erscheinende Broschüren- und Kampfschriftenliteratur, in welcher vor allem die Bebauung der Brache, die Kultivierung des Ödlandes, die Herstellung zweckmäßiger Gütergrößen und die dafür nötigen politischen und rechtlichen Reformmaßnahmen diskutiert wurden. Die »agrarische Bewegung« konnte sich dabei organisatorisch auf die neue soziale Form der Privatgesellschaft, des Vereins, stützen.28 Seit 1762 beginnt in 25 Zit. Hausmann, Agrarpolitik (wie Anm. 2), S. 86. 26 München 1752; vgl. zum Zusammenhang: K. Einhorn, Wirtschaftliche Reformliteratur in Bayern vor Montgelas, phil. Diss. München 1909; zu Rottmanner und Hazzi auch Hausmann, Agrarpolitik (wie Anm. 2), S. 83ff.; H. Haushofer, Die Anfänge der Agrarwissenschaft und das landwirtschaftliche Organisationswesen in Bayern, in: Zeitschrift f. Bayer Landesgeschichte 29 (1966), S. 269–280; über den Bildungshorizont eines Agrarreformpolizisten wie Rottmanner vgl. Haushofer, Dr. Rottmanner und seine Bibliothek. Ein Beitrag zur Kenntnis der Bildungsquellen in der süddeutschen Aufklärung, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 1 (1953), S. 119–126; zusammenfassend zur Aufklärung in Bayern: L. Hammermayer, Die Aufklärung in Wissenschaft und Gesellschaft, in: M. Spindler (Hg.), Handbuch der Bayerischen Geschichte, Bd. 2, München 19882, S. 1135–1197. 27 Baierische Beyträge, I, S. 252, III, S. 1321. 28 Vgl. R. Rübbert, Die Ökonomischen Sozietäten. Ein Beitrag zur Wirtschaftsgeschichte des 18. Jhs., Diss. Halle 1934; als »integralen Teil einer umfassenden europäischen ... Akademiebewegung« deutet L. Hammermayer die ökonomischen Sozietäten, vgl. ders. Akademiebewegung und Wissenschaftsorganisation während der 2. Hälfte des 18. Jhs., Formen – Tendenzen – Wandel, in: E. Amberger u.a. (Hg), Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. Akademien und

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Deutschland eine Welle von Gründungen landwirtschaftlicher Gesellschaften: die Thüringische Landwirtschaftsgesellschaft in Weißensee (1762), die Hannoversche Landwirtschaftsgesellschaft in Celle (1762), die Ökonomische Societät in Leipzig (1764), die kurpfälzische physikalisch-ökonomische Gesellschaft in Lautern (1770), die Hessen-Kasseler Gesellschaft des Ackerbaues und der Künste (1773) usw. In Bayern entstand bereits 1765 die Patriotische Gesellschaft der sittlichen und landwirtschaftlichen Wissenschaften in Altötting, später Burghausen. Westenrieder bezeichnet sie als »neue Revolution in Bayern« – nach der ersten Revolution des bayerischen Geisteslebens durch die Gründung der Akademie der Wissenschaften 1759.29 Die Gesellschaft setzte sich den »Zweck, Versuche und Beobachtungen« zu machen.30 Neue naturwissenschaftliche Erkenntnisse sollten für die Landwirtschaft nutzbar gemacht werden. Seit der Reformära fand das landwirtschaftliche Vereinswesen Förderung durch die Regierungen und nahm einen gewaltigen Aufschwung. Es bildeten sich die verschiedensten Spezialvereine für Waldbau, Obstbau, Gartenbau, Schafzüchtung usw.31 Soziales Merkmal des neuen Typus sozialer Vereinigung war der standesneutrale Umgang von Adeligen und Bürgern miteinander und die Vorherrschaft bürgerlicher Wertungen und Ideale, wie der Bildung und der Nützlichkeit, zusammengefasst in der Konzeption der »arbeitenden Geselligkeit« (Varnhagen).32 Bauern waren in diesen Vereinen zunächst nicht, später nur vereinzelt vertreten.33 Bei der Gründung des offiziösen »Landwirtschaftlichen Vereins in Bayern« 1809/10 kam mehr als die Hälfte der Mitglieder aus dem grundbesitzenden oder beamteten Adel bzw. Neuadel, ein Drittel stellten die bürgerlichen Beamten und Akademiker, der Rest waren bürgerliche größere Landwirte.34

Hochschulen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, Berlin 1976, S. 1–84, hier S. 19; zu Ideen, sozialer Struktur und Entstehungsgeschichte des Vereinswesens vgl. T. Nipperdey, Der Verein als soziale Struktur, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976 (= Kritische Studien Geschichtswissenschaft Bd. 18), S. 174–205. 29 Baierische Beyträge. I, S. 32; vgl. dazu Einhorn, Reformliteratur (wie Anm. 26), S. 13ff. 30 Laut Vereinspublikation, dem »Bayerisch-ökonomischen Hausvater«, zit. nach Einhorn, Reformliteratur (wie Anm. 26), S. 141. 31 In Preußen gab es 1838 bereits 88, 1850 dagegen 313 solche Vereine, vgl. J. Baron, Das deutsche Vereinswesen und der Staat im 19 Jahrhundert, Diss. Göttingen 1962, S. 13. 32 Vgl. Nipperdey, Verein (wie Anm. 28), S. 185. 33 Doch gibt es auch Gegenbeispiele wie die Feldbausocietät der Grafen Törring am Pilsensee in Oberbayern, vgl. dazu Hammermayer, Akademiebewegung (wie Anm. 28), S. 20, 23, sowie Anm. 113. 34 Vgl. die Proponentenliste bei C. Fraas, Die Landwirtschaft in Bayern, Denkschrift ..., München 1860, S. 18/19; vgl. H. Haushofer, Bäuerliche Führungsschichten in Bayern im 19. und 20. Jh., in: G. Franz (Hg.), Bauernschaft und Bauernstand, Limburg 1975 (= Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit Bd. 8), S. 227f.

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III. Theorie der Naturbeherrschung und die Arbeit auf dem Land Aus einer landwirtschaftlichen Gesellschaft, der von Celle, ging auch der Mann hervor, der das neue Verhältnis des Menschen zur Natur in ihrer landwirtschaftlichen Bearbeitung wissenschaftlich in klassischer Form auf den Begriff gebracht und praktisch am stärksten gefördert hat: Albrecht Thaer.35 1752 in Celle als Sohn eines Arztes und Hofmedikus geboren, erwarb er 1778 vor den Toren der Stadt einen kleinen Grundbesitz und richtete dort eine Experimentierwirtschaft ein. Durch die Herausgabe mehrerer Zeitschriften und die Publikation grundlegender Werke rasch bekannt geworden, wurde er Lehrer eines Kreises von Schülern, die seine Methoden und Erkenntnisse verbreiteten. 1804 von Friedrich Wilhelm III. eingeladen, seine »gemeinnützigen Arbeiten für die Verbesserung der Landwirtschaft, welche künftig vorzüglich die Landeskultur in den preußischen Staaten bezwecken« sollten, in Preußen fortzusetzen, verlegte er sein Mustergut nach Möglin, wurde zum Geheimen Rat ernannt, Mitglied der Berliner Akademie der Wissenschaften, 1810 a. o. Prof. für Kameralwissenschaft an der Universität Berlin. Seit 1804 Staatsrat im Innenministerium, war er mit Entwürfen für die Gemeinheitsteilungsordnung an der Agrarreformgesetzgebung beteiligt. Um Maßstäbe für die Aufteilung der Gemeindeländereien, die Ablösung der Weiderechte und den Austausch von Feldern zu gewinnen, entwickelte er eine Taxationslehre für die Wertschätzung der Böden und ihrer Nutzung. Die Celler landwirtschaftliche Gesellschaft hatte ihm landtechnische Sammlungen und eine umfangreiche Bibliothek sowie die Möglichkeit geboten, mit dem »Board of Agriculture«, einer halbstaatlichen englischen Einrichtung zur Förderung der Landwirtschaft, in einen lebhaften Schriftenaustausch einzutreten. Den Vorsprung der englischen Landwirtschaftswissenschaft verarbeitete er 1798–1804 in seinem dreibändigen Werk »Einleitung zur Kenntnis der englischen Landwirtschaft und ihrer neueren praktischen und theoretischen Fortschritte in Rücksicht auf Vervollkommnung der deutschen Landwirtschaft für denkende Landwirte und Kameralisten«. 1809–12 erschienen seine »Grundsätze der rationellen Landwirtschaft«, mit denen er die junge Landwirtschaftswissenschaft auf ein neues theoretisches Niveau hob.36 Dieses Buch dokumentiert in unübertrefflicher Klarheit und Präzision den revolutionären Einstellungswandel des 35 Vgl. H. Haushofer, Die dt. Landwirtschaft im technischen Zeitalter, Stuttgart 1963, S 16. »Die deutsche Landwirtschaft hat sich daran gewöhnt, die Zeit ... nach ihrem größten Mann ... die ›Thaer-Zeit‹ zu nennen und nach seinem Werk die Periode der ›Rationellen Landwirtschaft‹«; über Thaer vgl. ebd., S. 26–38; sowie die biographische Skizze von E. Woermann, Albrecht Daniel Thaer, in: G. Franz u. H. Haushofer (Hg.), Große Landwirte, Frankfurt 1970, S.59–78, ebd. Bibliographie der umfangreichen Thaer-Literatur. 36 A. Thaer, Grundsätze der rationellen Landwirtschaft, Berlin 18212.

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Menschen zur Natur: es resümiert die frühneuzeitliche Entwicklung der Naturwissenschaft einerseits, den Wandel der Wirtschaftsethik im Übergang von Alteuropa zur modernen Welt andererseits und verbindet beide Vorgänge in der Konzeption der »rationellen Landwirtschaft« zu jener spezifisch neuzeitlichen Auffassung von »Arbeit«, die seither in immer größerer Beschleunigung die Natur verändert hat. Indem er ausdrücklich den »Versuch« als zweckrationale Anordnung zur Grundlage der Agrarwissenschaft erklärt, grenzt er sich gegen »frühere Perioden der Naturforschung«37 ab und stellt die Lehre von der Bearbeitung des Landes in eine Entwicklungsgeschichte der experimentell verfahrenden Naturwissenschaft hinein: »Die Kunst, Versuche anzustellen, hat man fast zuerst im vorigen Jahrhundert richtig kennengelernt und ausgebildet. Auf dieselbe gründet sich jedoch vorzüglich die Gewalt des Menschen über die materielle Welt, und er kann diese um so weiter ausdehnen, je mehr er diese Kunst vervollkommnet und in Ausübung bringt.«38 Die Absicht, mit Hilfe landwirtschaftlicher Arbeit die Gewalt des Menschen über die materielle Welt herzustellen, ist einerseits Bedingung für die agrarrevolutionäre Leistung des Menschen, sich vom »Würgegriff« der Hungersnot zu befreien, und bricht andererseits mit der Tradition alteuropäischer Naturauffassung. Der Vorgang lässt sich an der Begriffsgeschichte des Wortes »Kultur« ablesen. Alteuropäisch bezeichnet der Begriff (von cultura, mit colo, cultus zusammenhängend) in ciceronianischer Tradition die landwirtschaftliche Arbeit, welche der menschlichen Bedürfnisbefriedigung dient.39 Er meinte ursprünglich die Pflege eines Vorhandenen, Vorgegebenen, begrenzte also die Möglichkeiten der Bedürfnisbefriedigung nach Maßgabe dessen, was die Natur durch Pflege an »Nahrung« zu geben bereit war. Die moderne Entgegensetzung von Natur und Kultur entstand im Wesentlichen im 18. Jahrhundert und bezeichnet jenen »Gesamt-Zusammenhang von Theorie und Praxis, Praxis als Handeln und Machen verstanden«,40 welcher es erlaubt, Grenzen zu überwinden, die die Natur selbst einer Steigerung ihrer Ertragskraft zu ziehen schien. Eben diesen Gesamtzusammenhang von Theorie und Praxis erhob Thaer zum regulativen Prinzip der Landwirtschaft. Sie bleibt auf »Erfahrung« angewiesen und auf die Sinne, auch der rationelle Landwirt soll wie der traditional mit Überlieferungswissen arbeitende Bauer die »Handgriffe kennen und die erforderliche Kraft gleichsam fühlen gelernt« haben.41 Das sinnlich, durch Anschauung und Einübung vermittelte Arbeitsverhalten ist nicht »unnütz«, aber es wird untergeordnet gegenüber der 37 Ebd., § 21. 38 Ebd., § 20. Hervorhebung vom Verfasser. 39 Vgl. J. Niedermann, Kultur. Werden und Wandlungen des Begriffs und seiner Ersatzbegriffe von Cicero bis Herder, Florenz 1941, hier v.a. S. 16–24. 40 R. Maurer, Kultur, in: H. Krings u.a. (Hg.), Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1973, S. 823. 41 Thaer, Grundsätze (wie Anm. 36), § 9.

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Vernunfttätigkeit, als welche auch die landwirtschaftliche Arbeit, sofern sie rationell ist, erstmals in der Geschichte anerkannt wird. Bedingung dafür ist, dass auch der Landwirt »aufgeklärt« ist, herausgeführt aus seiner Unmündigkeit als dem Unvermögen »sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen« (Kant).42 Der aufgeklärte oder »rationelle« Landwirt Thaers muss »die Resultate der bisher gemachten Erfahrungen und des Nachdenkens kennen und würdigen ..., sie bis auf ihren erforschbaren tiefsten Grund erklären, Licht über alle Operationen verbreiten, den Grund und Urgrund angenommener Meinungen aufdecken, und in jedem individuellen Falle zur Selbsterfindung der Regel führen, die wir zu verfolgen haben und jeden Erfolg derselben vorauszusehen und zu berechnen« vermögen.43 Die Erhebung autonomer Vernunfttätigkeit zum Prinzip landwirtschaftlicher Arbeit ebnet nach der politischen Gleichsetzung von Stadtbürger und Bauer in der radikal-aufklärerischen Reformliteratur den Unterschied zwischen Stadt und Land auch auf der Ebene der Arbeit ein. Thaer unterscheidet zwischen »handwerksmäßiger«, »kunstmäßiger« und »wissenschaftlicher Weise« des Ackerbaues. Schon auf der primären Stufe der Arbeit, bei der landwirtschaftlichen Urproduktion, verwendet Thaer den Begriff des »Handwerks«, also der traditionell der Stadt vorbehaltenen Form der Verarbeitung roher Stoffe. Thaer zieht nicht mehr in Erwägung, ob Landwirtschaft nur Pflege einer vom Menschen vorgefundenen, unveränderlichen Natur ist, welche die Gaben der Erde gibt oder versagt, vielmehr diskutiert er nur noch, ob Landwirtschaft nach Art des traditionellen Handwerks, »vernunftlos«, d.h. begriffsund theoriefrei, auf Grund bloß sinnlicher Vermittlung in manueller Einübung betrieben wird, ob sie nach Art der »Kunst« gemäß vorgegebenen und nicht in Frage gestellten Regeln, oder ob sie »vernünftig«, d.h. theorieorientiert betrieben werden soll.44 In seinem Konzept denkend-autonom betriebener Landwirtschaft ist demgemäss Wissenschaft, Theorie nicht mehr Anschauung der Wirklichkeit im Ganzen, contemplative Vergegenwärtigung der Ordnungsgestalt der Welt bzw. der Natur, welche Kontemplation an sich in der alteuropäischen Tradition höchstes Glück und letztes Ziel des menschlichen Lebens dargestellt hatte, sondern ist aktive Nutzung, arbeitende Umgestaltung zum Zwecke optimal gesteigerter Bedürfnisbefriedigung. »Ars« oder »techne«, Arbeit und Kunst im alteuropäischen Wortsinn, die bisher in der unveränderlichen Naturordnung ihre Regel gefunden und in der Nachahmung der Natur ihren Zweck erfüllt hatten, werden übergriffen durch die zur Vernunfttätig42 »Beantwortung der Frage ›Was ist Aufklärung‹«, in: Kants Gesammelte Schriften, hg. von d. Preuß. Akad. d. Wiss., Bd. VIII, Berlin 1912, S. 38. 43 Thaer, Grundsätze (wie Anm. 36), § 12. 44 Ebda., § 4–13; zum Wesen handwerklicher Arbeit vgl. die Arbeiten von W. Werner u.a., Zur Frage der Abgrenzung von Handwerk und Industrie, Münster 1965 (= Forschungsberichte aus dem Handwerk, Bd. 11).

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keit emanzipierte Arbeit, die im experimentierenden Zugang zur Natur diese immer schon übersteigt.45 Ziel dieser Wissenschaft ist nicht wie im ursprünglichen Sinne von »theoria« die betrachtende Zuwendung zur Natur als dem alles umfassenden »Ganzen« und »Göttlichen«, ist auch nicht wie in der Scholastik die Kunst, mit Argumenten eine vorgegebene und unveränderliche Wahrheit zu verteidigen oder Widersprüche im Gegebenen durch Einsatz logischer Mittel auszuräumen, Ziel ist vielmehr die »Besiegung ... der Natur durch Arbeit«.46 Sie ermöglicht die Freisetzung der neuzeitlichen »bürgerlichen Gesellschaft« als des »Systems der Bedürfnisse«, welches, in der Formulierung Hegels, »die Vermittlung des Bedürfnisses und die Befriedigung des einzelnen durch seine Arbeit und durch die Arbeit und Befriedigung der Bedürfnisse aller übrigen« zu ihrem Inhalt hat.47 Diese moderne bürgerliche Gesellschaft kennt nicht mehr wie die alteuropäische den grundlegenden Unterschied von Stadt (Polis) und Land, der durch das verschiedene Verhältnis seiner Bewohner zur Natur konstituiert war: dem Unterschied von kontemplativer Weltanschauung im theoretischen Verhalten des Polisbürgers zum arbeitenden Landbewohner, der die Bedürfnisbefriedigung aller sicherstellt; als Unterschied von Handel/Gewerbe und unfreier Landarbeit in der alteuropäischen Aufspaltung von Land-Wirtschaft und Stadt-Wirtschaft. Die Konzeption der rationellen Landwirtschaft befreit den Landmann politisch zum Mitglied der Staatsbürgergesellschaft und unterwirft den landwirtschaftlichen Boden dem ausschließlichen Gesichtspunkt rationeller Nutzung. Der Boden wird zur Ware. Daher definiert Thaer die Landwirtschaft als ein »Gewerbe, welches zum Zweck hat, durch Production vegetabilischer und thierischer Substanzen Gewinn zu erzeugen oder Geld zu erwerben. Je höher dieser Gewinn ist, desto vollständiger wird dieser Zweck erfüllt. Die vollkommenste Landwirtschaft ist also die, welche den möglich höchsten, nachhaltigen Gewinn, nach Verhältniß des Vermögens, der Kräfte und der Umstände, aus ihrem Betriebe zieht.«48

45 Vgl. dazu den grundlegenden Artikel von W. Conze, Arbeit, in: O. Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. 154–215, hier bes. S. 167–181. 46 Ebd., S. 167; vgl. Thaer, Grundsätze (wie Anm. 36), § 19: »Ein Versuch ist eine der Natur vorgelegte Frage, worauf sie, wenn sie gehörig eingerichtet ist, durchaus eine Antwort – sey es auch nur durch Ja oder Nein – geben muß.« 47 G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 188. 48 Thaer, Grundsätze (wie Anm. 36), §§ 1, 2.

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IV. Theorie der ästhetischen Landschaft Als Jacob Burckhardt in seiner »Kultur der Renaissance« die Ursprungsgeschichte der modernen Welt untersuchte, arbeitete er als Kennzeichen der beginnenden Modernität eine neuartige Dialektik von objektiver Weltbeobachtung und Steigerung der Subjektivität heraus. Zugleich mit einer »objektiven Betrachtung und Behandlung der sämtlichen Dinge dieser Welt« habe sich mit voller Macht das Subjektive erhoben.49 In dem Kapitel über »die Entdeckung der Welt und des Menschen« stellt dieser Gedanke auch den Zusammenhang her zwischen dem Fortschritt der Naturwissenschaften und der »Entdeckung der landschaftlichen Schönheit«.50 Am Leitfaden dieser Dialektik von objektiver Weltbeobachtung und Steigerung der Subjektivität soll im Folgenden versucht werden, den Entstehungszusammenhang der »ästhetischen Landschaft« deutlich zu machen. Ich folge dabei zunächst der Theorie Joachim Ritters, der in zwei grundlegenden Aufsätzen, die, wie es scheint, von der Kunstwissenschaft bisher nicht rezipiert worden sind, den Zusammenhang von Naturwissenschaft, bürgerlicher Gesellschaft und ästhetischer Landschaftsauffassung herausgearbeitet hat.51 Ritter geht aus von Petrarcas Beschreibung seiner symbolträchtigen Besteigung des Mont Ventoux 1335. Alle Begriffe und Vorstellungen, mit denen Petrarca sein Unternehmen zu deuten versucht habe, der »Aufstieg der Seele vom Körperlichen zum Unkörperlichen in der Zuwendung des Selbst zu Gott, freie Betrachtung der Natur als innerliche Bewegung der Seele, die auf das ›selige‹ Leben gerichtet ist, gehören – in das Neuplatonische und Christliche umgesetzt – in die Tradition der von Anbeginn mit der Philosophie identischen ›theoria tou kosmou‹. Die Zuwendung zur Natur als Landschaft setzt sie geschichtlich und sachlich voraus. ›Kosmos‹ ist ›Weltordnung‹. ... Daher hat philosophisch die Betrachtung (theoria) der Natur die Bedeutung, dass sich in ihr der Geist dem alles umgreifenden ›Ganzen‹ und ›Göttlichen‹ zuwendet.«52 »Theorie« steht somit nicht im Dienste der Bedürfnisbefriedigung, sondern überschreitet, »transzendiert« den Bereich der Praxis und ihrer Zwecke. Petrarcas Gipfelbesteigung, ausgelöst allein durch das Verlangen zu schauen und »an der ganzen Natur und an Gott teilzuhaben«, entstammt daher dieser the49 J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, 1860, Ges. Werke Bd. III, Darmstadt 1962, S. 89. 50 Ebd., S. 199, S. 201, wo Petrarca als bedeutender Geograph und Kartograph bezeichnet wird, der die »malerische Bedeutung einer Landschaft von ihrer Nutzbarkeit zu trennen« gewusst habe. 51 J. Ritter, Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft, in: ders., Subjektivität, Frankfurt 1974, S. 141–163; J. Ritter, Art. Ästhetik, ästhetisch, in: ders. (Hg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. I, Darmstadt 1971, Sp. 555–580. 52 Ritter, Landschaft (wie Anm. 51), S. 144.

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oretischen Grundeinstellung: »Natur als Landschaft ist Frucht und Erzeugnis des theoretischen Geistes«.53 Der Versuch, in der ganzen Natur die Weltordnung zu erkennen und aus dieser Erkenntnis am Wesen Gottes teilzuhaben, ist in der Tradition der Philosophie immer Sache des vernünftig-begrifflichen Denkens gewesen. Mit Petrarcas Bergbesteigung beginnt die Geschichte jener Entwicklung, in der die Anschauung und Betrachtung der äußeren Natur nicht mehr nur Sache der Wissenschaft und der Philosophie, also der »Theoria« im alten Sinne ist. Neben das begriffliche Wissen von der Natur tritt eine eigenständige Weise, Natur zu vergegenwärtigen: die sinnliche Anschauung, welche die Kunst vermittelt. Wenn Ritter die Frage aufwirft, was »den Geist dazu zwinge ... auf dem Boden der Neuzeit ein Organ ... auszubilden, mit dem diese Landschaft nicht im Begriff, sondern im ästhetischen Gefühl, nicht in der Wissenschaft, sondern in Dichtung und Kunst«54 vergegenwärtigt wird, so liegt der Grund dafür in der Dialektik von Objektivierung der Natur und Steigerung der Subjektivität. Die beginnende Reduktion der Natur zum Objekt neuzeitlich-exakter Naturwissenschaft setzt das Bedürfnis frei, jene Qualitäten der Natur, welche die messende, wägende und schließlich technisch nutzende Naturwissenschaft nicht erfassen kann, dennoch gegenwärtig zu halten und so das »Ganze« der Natur zu bewahren. Organ dieser Wahrnehmung von Natur – Natur als Landschaft – ist nicht die zunehmend in den Dienst praktischer Zwecke gestellte »Vernunft«, sondern die »Sinnlichkeit«. Die Kunst bleibt dabei freilich, dies wäre gegen Ritter einzuwenden, zunächst noch ganz der Tradition des Mimesisgedankens verpflichtet. Dass die sinnlich anschaubare Wirklichkeit nicht die »ganze« Wirklichkeit sei, sondern dass sich in jeder sinnlichen Erscheinung ein »Höheres«, die »wahre Wirklichkeit« der Idee zeige, war das feste Wissen aller Kunstreflexion bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts.55 Die künstlerische Organisation der Sinneswahrnehmung, die »imaginazione« blieb auch in der frühneuzeitlichen Traktatliteratur in der Wirklichkeit des Seins selbst, nicht in der Subjektivität des Künstlers verankert. Schönheit bleibt bei aller Aufwertung des Sinnlich-Empirischen metaphysisch begründet. Maßharmonie und Harmonie der Farben und Qualitäten sind auch für Alberti, den Panofsky als Kronzeugen für die »Autonomisierung der ästhetischen Sphäre« heranzieht, nicht reine Leistung der künstlerischen Subjektivität. In ihr manifestieren sich die Harmonie und Ge53 Ebd., S. 146. 54 Ebd., S. 150. 55 Vgl. E. Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin 19602. Vgl. dazu die kunsttheoretische Denkfigur des »sein sollte«: M. Warnke, [hoia einai dei], ein kunsttheoretischer Splitter, in: Munuscula Discipulorum, FS für H. Kaufmann, hg. v. T. Buddensieg u. M. Winner, Berlin 1968, S. 379–392; W. Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt, Jakob Burckhardt in seiner Zeit, Göttingen 1974, S. 357–360.

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setzlichkeit der Wirklichkeit selbst, wie sie immer schon, vor aller künstlerischen Darstellung, da ist.56 Die »Landschaft« ist insofern Abbild der intelligiblen Ordnung der Welt im Medium der Sinnlichkeit. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts jedoch rückte die Natur endgültig aus dem Horizont kontemplativer Anschauung des Ganzen, aus dem Horizont der alten »Theoria« als der zweckfreien Anschauung, in den Horizont einer systematischen Forschung, die sich immer stärker pragmatisch orientierte und damit jene Naturbeherrschung und Entfesselung der Bedürfnisse anbahnte, die oben skizziert wurde. Die Absicht, »die Wissenschaften zum Nutzen des menschlichen Geschlechts zu treiben«, wie Lori es programmatisch für die 1759 gegründete Bayerische Akademie der Wissenschaften forderte,57 bewirkte seit der Jahrhundertwende eine – in der Empirisierung der Naturforschung seit der Renaissance vorbereitete – unerhörte Erweiterung und Intensivierung der wissenschaftlich-pragmatischen Beschäftigung mit der Natur mit »utilitaristisch-technologischer und sozialreformerischer« Tendenz,58 sozialreformerisch im Sinne einer umfassenden Wohlfahrtssteigerung. Die Vorstellung der alten »Theoria«, dass die Wirklichkeit von der »Idee«, vom Göttlichen her bestimmt sei, dass man daher, um die Natur im Ganzen zu erkennen, die physische Wirklichkeit transzendieren müsse zum Metaphysischen, verschwand der sich autonom setzenden naturwissenschaftlichen Vernunft mit ihrer praktischen Zwecksetzung dabei aus dem Blick. Der Rückstieg, der »Transzensus« über die sinnlich anschaubare Wirklichkeit hinaus zu den Konstitutionsprinzipien der Wirklichkeit selbst geschieht nicht mehr zum vorgegebenen, unveränderlichen und vollkommenen Sein der Natur, sondern durch den Transzensus der erkennenden Vernunft zu sich selbst und den Gesetzen ihrer eigenen Erkenntnis.59 Die sinnliche Präsentation der Natur in der »Landschaft« kann daher auch nicht mehr Vergegenwärtigung des vorgegebenen, unveränderlichen und vollkommenen Seins der Natur mit den Mitteln der Kunst sein. Die Theorie der Kunst reflektiert diesen Tatbestand mit einer 56 Panofsky, Idea (wie Anm. 55), S. 29; Panofsky überschätzt z. B. den Gegensatz von Ficino und Alberti, wenn er die Konzeption des einen »metaphysisch«, die des anderen »rein phänomenal« nennt (ebd., S. 28); die Unterschiede bleiben solche der Erkenntnisweise, welche die gemeinsame Grundlage: die Begründung der Schönheit im Sein, nicht in einer der sichtbaren Wirklichkeit gegenübergestellten Subjektivität, nie in Frage stellen; in diesem Fall handelt es sich eher um unterschiedliche Akzentsetzungen aus der Sicht von Theorie und Praxeologie. 57 Spindler (Hg.), Primordia (wie Anm. 22), S. 86; zum Niederschlag der naturwissenschaftlichen Revolution in der Kunst vgl. F. Wagner, Isaac Newton im Zwielicht zwischen Mythos und Forschung. Studien zur Epoche der Aufklärung, Freiburg 1976, das Kapitel »Zur Apotheose Newtons. Künstlerische Utopie und naturwissenschaftliches Weltbild im 18. Jahrhundert«, S. 106–159. 58 Hammermayer, Akademiebewegung (wie Anm. 28), S. 15. 59 Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 11f: »Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unseren Begriffen apriori von Gegenständen überhaupt beschäftigt.«

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erstaunlichen historischen Gleichzeitigkeit, indem sie seit 1750 eine Lehre vom Wesen der Kunst entwickelt, in welcher Kunst nicht mehr verstanden wird als Abbild (Mimesis) der intelligiblen ganzen Natur im Medium der Sinnlichkeit. Vielmehr emanzipiert sich die Kunst zum Organ einer eigenen, der »ästhetischen Wahrheit« (»veritas aesthetica«).60 Diese Wahrheit der »ästhetischen Kunst« spricht das aus, was die Wissenschaft ungesagt lässt. Ihren Grund hat sie wie auch die rationale – wissenschaftliche – Wahrheit nicht mehr im Sein und seiner Vollkommenheit selbst, sondern im Inneren des Menschen und seiner Autonomie. Die ästhetische Kunst greift die Tradition der »Theoria« auf, die Welt der Erscheinungen zu transzendieren zur Anschauung des Naturganzen und, wie es bei Alexander von Humboldt heißt, des »harmonischen Einklangs im Kosmos«. »Um die Natur in ihrer ganzen Größe zu schildern«, darf man daher »nicht bei äußeren Erscheinungen allein verweilen«, die Natur muss auch dargestellt werden, »wie sie sich im Innern des Menschen abspiegelt...«61 In der Dialektik von Objektivierung der Naturkenntnis und Steigerung der Subjektivität entsteht die »ästhetische Kunst« als Organ von Gefühl und Empfindung, welche die Natur nicht dem rationalen Wissen allein überlassen. Ritter beschreibt schließlich die Entzweiung von logisch-rationaler Erkenntnis und ästhetischer Empfindung der Natur als Bedingung der Möglichkeit von »Freiheit« des Menschen in der modernen bürgerlichen Gesellschaft. In der Interpretation einer Elegie von Schiller, »Der Spaziergang« (1795), erweist sich die Nutzung des rationalen Wissens von der Natur in der Arbeit als Grundlage dafür, dass sich der Mensch von seiner Abhängigkeit, aber auch von der Nähe zur Natur löst.62 Schiller geht dabei – in dieser Interpretation – von dem Gegensatz von Stadt und Land aus. Der Spaziergänger, der aus der Enge der Stadt weit in die Natur hinausstrebt, findet dort die Einheit von Mensch und Natur, welche der Städter durchbrochen hat. In den Kreislauf der Natur eingelassen, bleibt die Nahrung des Bauern nach Maßgabe dessen, was die Natur zu geben bereit ist, beschränkt: »Nachbarlich wohnet der Mensch noch mit dem Acker zusam60 A. G. Baumgarten, Aesthetica, 1750, Nachdruck 1961, § 423, zit. Ritter, Landschaft (wie Anm. 51), S. 156; vgl. dazu: A. Halder, »Kunst«, in: H. Krings u.a., Handbuch philosophischer Grundbegriffe, München 1974, S. 832–843, hier S. 833: »Zum erstenmal erhielt hier die Dimension des Sinnlichen (durchaus im Verfolg der nachwirkenden Unterscheidung von sinnlichhinfälliger und geistig beständiger Wirklichkeit) eine eigene Erkennbarkeit und dadurch eine eigene Wahrheit zugesprochen ... das analog zum geistigen im Bereich der Sinnlichkeit rein anschauende Bewußtsein bekam den Rang eines Sehenkönnens zugesprochen, welches »interesselos« und unberührbar von aller widerständigen Faktizität seinen ›schönen‹ Gegenstand sich gegenüber hat.« 61 A. v. Humboldt, Kosmos. Entwurf einer physischen Erdbeschreibung, 2 Bde., Stuttgart o.J., zit. Ritter, Landschaft (wie Anm. 51), S. 153; vgl. ebda. S.l50ff.; sowie Anm. 39, S. 179. 62 Ritter, Landschaft (wie Anm. 51), S. 158ff.

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men / Seine Felder umruhn friedlich sein Dach ... / Glückliches Volk der Gefilde! noch nicht zur Freiheit erwachet / Teilst du mit deiner Flur fröhlich das enge Gesetz / Deine Wünsche beschränkt der Ernten ruhiger Kreislauf, wie dein Tagwerk gleich, windet dein Leben sich ab!« Im Weitergehen trübt sich dem Wanderer jedoch der Naturgenuss: »Ein fremder Geist verbreitet sich schnell über die fremdere Flur ... / Stände sehe ich gebildet, der Pappeln stolze Geschlechter / Ziehn in geordnetem Pomp vornehm und prächtig einher. Regel wird alles und alles wird Wahl und alles Bedeutung / Dieses Dienergefolge meldet den Herrscher mir an ... / Aus dem felsigen Kern hebt sich die türmende Stadt.« Die Stadt erscheint als der Ort der Wissenschaft, der Kunst, des Gewerbes; Konkurrenzgesellschaft und bürgerliche Vereinigung steigern die Kräfte und ermöglichen so im Umkreis der Stadt die Herrschaft über die Natur: »Näher gerückt ist der Mensch an den Menschen. Enger wird um ihn / Reger erwacht, es umwälzt rascher in ihm die Welt / Sieh, da entbrennen in feurigem Kampf die eifernden Kräfte / Großes wirket ihr Streit, Größeres wirket ihr Bund ... / Munter entbrennt, des Eigenthums froh, das freie Gewerbe / ... Aus dem Felsband wiegt sich der Stein, vom Hebel beflügelt / In der Gebirge Schlucht taucht sich der Bergmann hinab / ... Seine Fesseln zerbricht der Mensch. Der Beglückte! ... Freiheit ruft die Vernunft, Freiheit die wilde Begierde / Von der heilgen Natur ringen sie lüstern sich los.« Im letzten Jahr der Französischen Revolution greift Schiller somit der bestehenden politischen und Arbeitsverfassung voraus auf den Zustand der langsam entstehenden bürgerlichen Gesellschaft als des »Systems der Bedürfnisse« (Hegel). Dass das Gewerbe »frei« sein werde, gilt ihm als selbstverständlich; die Ausgleichung von Stadt und Land durch das Allgemeinwerden des rationalen Geistes, wie es Thaer wenig später theoretisch ausformuliert hat, deutet er an in dem wiederholten »noch«, das auch die noch bestehende Einheit von Mensch und Natur im ländlichen Leben zu durchbrechen verspricht. Die Natur wird von der Stadt her, vom Bürger, unterworfen – und damit entgöttert: »Zischend fliegt in den Baum die Axt, es erseufzt die Dryade ... / In die Wildnis hinaus sind die Faunen verstoßen.«

V. Alteuropäische Landschaft als Lebensbild Diese Entgötterung der Natur findet ihren Niederschlag auch in der ästhetischen Reflexion der Epoche. Am Ausgang des Jahrhunderts kritisierte Reynolds eine Landschaftsdarstellung Wilsons, die dieser »Niobe« genannt hatte.63 Das Bild zeigt Menschen, bedrängt von der Naturgewalt, bedroht von Blitz 63 W. Hofmann, Turner (wie Anm. 8), S. 35, mit Abb.

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und Tod. Doch fasste Wilson die Naturkatastrophe in das traditionelle Deutungsschema der Mythologie, indem er einen bogenbewehrten Apoll zeigt und die bedrohten Menschen als Kinder der Niobe darstellt. Reynolds lobt zwar die Landschaft, kritisiert aber die Vermischung der Stilebenen, die Darstellung übernatürlicher Geschöpfe in einer »common nature«. Was Reynolds als Unvereinbarkeit der Stilebenen interpretierte, kündigt im Grunde die Erfahrung an, dass die tradierte alteuropäische, speziell die humanistisch-antikisierende Auslegungsweise der Natur als der göttlich belebten und durchwalteten Natur unangemessen geworden ist gegenüber der zeitgenössischen Naturerfahrung. Katastrophales Geschehen in der auf ihre berechenbaren Gesetze zurückgeführten Natur kann nicht mehr glaubwürdig durch mythologische Gestalten versinnlicht und erklärt werden. Die systematisch erforschte, rationell genutzte, auf dem Bodenmarkt gehandelte Natur, die Natur als Experimentier- und Bewirtschaftungsraum macht die heroische Naturdarstellung unauthentisch, die prosaische Natur hingegen verträgt es nicht, ihre Vorgänge als Handeln der Götter und Heroen auszulegen. Goethe hat am Exempel Claude Lorrains den alteuropäischen Zusammenhang von gesellschaftlicher Reproduktion und künstlerischer Naturdarstellung aufs Prägnanteste beschrieben, dessen Revolution Schiller in seinem »Spaziergang« zum Thema machte: »Hier nun (bei Claude) entstand auch die sogenannte heroische Landschaft, in welcher ein Menschengeschlecht zu hausen schien von wenigen Bedürfnissen und von großen Gesinnungen ... durchaus aber eine unnütze Welt, keine Spur von Feld- und Gartenbau, hie und da eine Schafherde, auf die älteste und einfachste Benutzung der Erdoberfläche hindeutend.«64 Der Münchener Landschaftsmaler Johann Georg Dillis hat diese Tradition vormoderner Naturauffassung im frühen 19. Jahrhundert noch einmal ausdrücklich aufgegriffen. In verschiedenen Zeichnungen trägt er an die Umgebung Münchens das Deutungsschema der heroischen bzw. klassischen Landschaft heran, indem er am Isarufer ideale Architekturen auftreten lässt, eine Flucht nach Ägypten oder Tobias mit dem Engel zeigt.65 Doch hält sich die Erinnerung an die alteuropäische Vorstellung von Natur als Handlungs- und Lebensraum, in dem sich die Geschicke exemplarischer mythologischer oder biblischer Gestalten vollziehen, nur noch im Bereich der privaten Konnotation, reduziert zudem auf ein spielerisches Verfügen über einzelne Motive oder Requisiten. Ein Blick auf zwei Bilder der Münchner Galerie soll demgegenüber Merkmale dieser alteuropäischen Landschaft erläutern, an deren Tradi64 Goethe, Landschaftliche Malerei, Goethes Werke, Hamburger Ausg., Bd. XII, S. 220. Hervorhebungen vom Verfasser; vgl. auch A. Gehlen, Zeitbilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Bonn 19652, S. 25f. 65 B. Hardtwig, J. G. Dillis, W. Kobell und die Anfänge der Münchner Schule, in: A. Zweite (Hg.), Münchner Landschaftsmalerei 1800–1850, München 1979, S. 58, vgl. ebda. auch die Niederländer-Rezeption der Münchner Schule, Abschnitt 2.

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Abb. 1: Claude Gellée Lorrain, Die Verstoßung der Hagar

tion die Münchner Schule mit ihrer Lorrain- und Niederländerverehrung zunächst noch anknüpfte, aus der sie aber dann heraustrat. In Lorrains »Verstoßung der Hagar« stellt sich das kontingente Geschehen, dass Abraham seine Magd Hagar und seinen Sohn Ismael in die Wüste verstößt, nicht dar als ein Akt der Auslieferung und Vertreibung in eine fremde Welt, vielmehr ist diese Welt fremd und vertraut zugleich. Andere Menschen sind in der auf den ersten Blick unwirtlichen Natur am Werk, nicht in Auseinandersetzung oder Kampf mit ihr, sondern in ihr tätig; sie ziehen mit Lasttieren als Händler von Ort zu Ort oder weiden als Hirten ihre Tiere. Alle Gegenstände liegen unter einem einheitlichen Licht und präsentieren sich in einer bestimmten Tonigkeit. Ruinenstücke und das Übergreifen der Vegetation auf das Gebäude deuten an, dass auch das Haus Abrahams in den natürlichen Kreislauf von Leben und Tod einbezogen ist. Wenn Goethe in bezug auf Ruisdael davon spricht, er habe angedeutet, »daß die Werke der Natur ein längeres Leben, eine längere Dauer haben als die Werke der Menschen«,66 so gilt

66 Goethe, Ruysdael als Dichter, Goethes Werke, H.A., Bd. XII, S.139.

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dies auch für die Ruinen Claudes. Die Natur erscheint als die übergreifende Ordnung, in der das Menschenwerk aufgehoben bleibt; dieses ist geringer, zeitlicher, zufälliger, zerstörbarer als die Formen der Natur. Die Ruine selbst ist Ausdruck der »Weltordnung«, der Einbezogenheit des menschlichen Werks in den Naturablauf, dem es letztlich nicht widerstehen kann. Lorrains »Landschaft« zeigt Weg, Brücke, Schiff als anschauliche Symbole für die Bedingungen des Menschenlebens an sich. Diesen Charakter des »Lebensbildes«, welches Strukturen der Wirklichkeit im Ganzen, das Wissen um Sinn und Bedeutung von Handeln aufzeigt, hat auch die holländische Landschaft des 17. Jahrhunderts. Dass in der Niederländerrezeption des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts das Wissen um die »transzendierenden« Bedeutungsgehalte dieser Bilder verlorengegangen ist, entspricht genau dem »ästhetisch« gewordenen Kunstbewusstsein, welches in der bis heute überwiegenden Auffassung der niederländischen Landschaft als einer nichts als realistischen Wiedergabe visueller Eindrücke weiterlebt.67

Abb. 2: Jacob Ruisdael, Flachlandschaft mit Kirchdorf

67 Vgl. dazu den Forschungsabriss bei W. Wiegand, Ruisdael-Studien. Ein Versuch zur Ikonologie der Landschaftsmalerei, Diss. Hamburg 1971, S. 11ff.

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Ruisdaels »Flachlandschaft mit Kirchdorf« steht im Einklang mit der Forderung Karel van Manders: »Macht eure Landschaften, eure Stadt und eure Wasser bearbeitet, eure Häuser bewohnt und eure Wege begangen«68 und gibt damit ein anderes Verhältnis von gesellschaftlicher Arbeit und Bedürfnisbefriedigung wieder als das, welches Goethe für Lorrain beschreibt. Hier wird im Bild die Wirklichkeit von Arbeit, Ökonomie und vorherrschend bürgerlicher Lebensform eingeholt, die Holland im 17. Jahrhundert zum Land der fortgeschrittensten Wirtschaftsformen in der Stadt und auf dem Lande gemacht hatte. Konzentrierte Helligkeiten heben aus der verschatteten Landschaft Zonen der Arbeit hervor: die Mühle und die Bleichfelder. Auf einer leichten Anhöhe zeigt die Mühle ihre Flügelblätter in Vorderansicht. Durch ihre Höhenentwicklung formal auf den Kirchturm in der Mitte bezogen, ist sie zugleich dem Dorf zugewendet, das sich um die Kirche herumlagert. Deren zentrale Lage, ihre überproportionale Größe und die Überschneidung der Horizontlinie durch Kirchenschiff und Turm machen unzweifelhaft, dass sie nicht nur eine formale oder »ästhetische« Mitte darstellt, sondern eine spirituelle. Die Kompositionslinien, wie die Heckenzüge oder die scharfen LichtSchatten-Grate, öffnen den Bildraum über den anschaulich gezeigten Ausschnitt hinaus und fügen ihn in das »Ganze« der Natur ein. Zugleich wird deutlich, dass es sich nicht um einen beliebigen Ausschnitt handelt. In der kompositorischen Ausponderierung von Mühle, zentraler Kirche und Kirchturmspitze im Mittelgrund rechts umfängt der Bildraum einen Ort menschlichen Lebens in seiner bleibenden, nicht-zufälligen Gestalt: Die Arbeit des Schäfers, dessen Tiere nehmen, was die Natur gibt, ohne große Kultivierung; das mechanische Werk der Mühle, welches das lebensnotwendige Getreide weiterverarbeitet, ein Werk hoher handwerklicher Kultur; die Kirche als siedlungs- und gemeinschaftsorganisierendes Zentrum der sozialen Ordnung; der Himmel, der auch für die Arbeit der Mühle und des Bleichens entscheidend ist, für Formen der Arbeit und Werke der Technik, die noch nichts wissen vom umfassenden neuzeitlichen Anspruch auf Naturbeherrschung. Ein Bild wie Ruisdaels »Mühle von Wijk«, ein »Inbegriff der holländischen Landschaft«,69 68 K. v. Mander, Schilderboek, Alkmaar 1604, zitiert n. d. dt. Ausgabe: Das Lehrgedicht des Karel von Mander, hg. v. E. Hoecker, Den Haag 1916, S. 215; vgl. dazu J. Held, Die Theorie der Landschaftsmalerei im frühen 17. Jahrhundert und ihre politische Bedeutung bei Collantes, in: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen 21 (1976), S. 129–154, hier S. 147. 69 H. Kaufmann, Jacob van Ruisdael: »Die Mühle von Wijk bei Duurstede«, in: L. Grisebach u. K. Renger (Hg.), FS für O. v. Simson zum 65. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1977, S. 379; es ist der selbst historisch gewordenen Tradition der ästhetischen Landschaftsbetrachtung zuzuschreiben, dass selbst Kaufmann, welcher Mühle und Schiff ebenso wie Wasser und Wolken als »altüberlieferte Symbolträger, Metaphern des Menschlebens« (ebd., S. 389) nachweist, den Verweisungscharakter der niederländischen Landschaft nur »zuweilen« (ebd., S. 382) anerkennt, selbst bei Ruisdael, von dem v. Einem sagt, seine Bilder seien »im strengen Sinn Ideallandschaften«; H. v. Einem, Kommentar zu Goethes »Ruisdael als Dichter« (wie Anm. 69), S. 611; Kaufmann spricht

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erhält sein Gewicht aus der bedeutungsschweren Responsion von Erde und Himmel, Menschenwerk und Naturkraft. Die Flügel der Mühle sind aufgespannt in Erwartung der Einwirkung des Elements, auf das sie angewiesen ist, dessen Eigenart sie in ihrer Konstruktion gerecht zu werden versucht. Die Abhängigkeit des Menschen vom Element, überwunden erst in der rationellen Naturbearbeitung der industriewirtschaftlichen Technik, bedeutet auch sein Ausgeliefertsein: zwar ragt der Zylinder des Baukörpers stattlich und vertrauenerweckend solide auf, zugleich ist jedoch die Exponiertheit deutlich in der Schlankheit des Baukörpers und in der Schmalheit und filigranen Binnenstruktur der Flügel. Solches Aufeinanderbezugnehmen von Himmel und Erde, von Arbeit und Element, solche Sensibilität in der Herstellung einer Beziehung von Natur und Mensch ist in der ästhetischen Landschaft – abgesehen vom Qualitätsunterschied – nirgends intendiert. Die niederländische Landschaft integriert also Aspekte der Praxis und ihrer Zwecke, doch bleibt sie nicht dabei stehen und geht über den Bereich der Bedürfnisbefriedigung hinaus. Goethes Analyse des »Klosters« von Ruisdael macht die Intention deutlich, welche auch der scheinbar »nur realistische«, porträthaft abbildende Maler einer niederländischen Landschaft mit der Wiedergabe von Baum, Himmel und Meer verbindet: »Schon steht veraltet eine herrliche Buche da, entblättert, entästet und mit geborstener Rinde. Damit sie nun aber durch ihren herrlich dargestellten Schaft nicht betrübe, sondern erfreue, so sind andere, noch vollebendige Bäume zugesellt, die dem kahlen Stamme durch den Reichtum ihrer Äste und Zweige zu Hilfe kommen.«70 Der absterbende Baumschaft ist nicht allein Gegenstand sinnlich-anschauenden Genusses, er wird auch als bedrückender und bedenkenswerter Sachverhalt wahrgenommen: Er veranschaulicht harte Lebenswahrheit, die Vergänglichkeit, am Symbol eines Naturgegenstandes. Der Realitätsgehalt des Bildes erfasst durch die Vermittlung optischer Eindrücke hindurch Grundgegebenheiten des Lebens; zu diesen zählt auch, wie Goethe anspielt, das Wissen darum, dass Neues nachwächst, so dass auch ein Sujet voller Vanitassymbolik die Grundeinstellung zur Wirklichkeit nicht aufhebt, welche dem Mimesisgedanken zugrunde liegt: die Freude an der Wirklichkeit und, jenseits alles Kontingenten, ihrer Vollkommenheit. auch der »Flachlandschaft mit einem Kirchdorf« den »gleichnishaften Hintersinn« ab (S. 382); vgl. auch M. Imdahl, Die Mühle von Wijk, Reclam Werkmonographien Nr. 131, Stuttgart 1968. 70 Goethe, Ruysdael als Dichter (wie Anm. 66); ähnlich wie Panofsky die Verselbständigung des Ästhetischen ins 16. Jh. vorverlegt, scheint J. Held die Emanzipation der Arbeit im Holland des 17. Jahrhunderts zu überzeichnen. M. E. korrespondieren beide Vorgänge einander und sind Teil der Wendung zur »neuzeitlich bewegten Geschichte« (Koselleck) seit der Mitte des 18. Jhs.; dass jedoch die Emanzipation des »ganzen Bereichs der menschlichen Arbeit« (Held, Theorie (wie Anm. 68), S.147) dem Vanitasgedanken in der Kunst das Fundament entzieht, ist auch die These dieses Aufsatzes, vgl. unten Abschnitt 6. 71 Held, Theorie (wie Anm. 68), S. 138ff., bes. 140.

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Die Malereitheorie des 16. und 17. Jahrhunderts hatte zwar die »Landschaft« innerhalb der Gattungshierarchie ganz unten eingestuft, weil sie nur Darstellung des Sinnlichen, Stofflichen, der Materie sei, nur die Sinne anspreche, nicht wie die höheren Gattungen, die Vernunft.71 Doch ist dabei zu berücksichtigen, dass die Traktatliteratur immer schon vom Mimesisgedanken her argumentiert, dass also, wie J. Held eher beiläufig bemerkt, die »aristotelischscholastische wie auch die neuplatonische Einschätzung der Materie ... die undiskutierte Grundlage auch für die Malereitraktate bildet«.72 Auch in der Landschaft, wo die Kunst nach Meinung der Malereitraktate vor allem das Akzidentielle, das Zufällige, bloß Individuelle, Veränderliche und Vergängliche darzustellen hatte, verwies sie doch eben damit auf ein anderes, »Geistiges«, auf »notwendige«, »allgemeine«, »dauernde« Wahrheiten: der absterbende Baumschaft auf Vergänglichkeit und Hinfälligkeit, Wasser und Wolke auf die Flüchtigkeit des Daseins, das Licht auf das Wirken Gottes in der Welt. Auch der vermeintlich zufällig gewählte Ausschnitt der niederländischen Landschaft ist nicht nur individuell und momentan, sondern »gebaut«. In der ästhetischen Landschaft dagegen emanzipiert sich das Akzidentielle von solcher Bindung an ethische, moralische und vernünftige Bedeutungsgehalte. Das SinnlichSchöne verselbständigt sich zum »Schönen an sich«.

VI. Aspekte der ästhetischen Landschaft bei Johann Georg Dillis und Wilhelm Kobell In der zum autonomen Erlebnisgegenstand von Gefühl und Empfindung verselbstständigten »Landschaft an sich« treten Handlungen ganz zurück. Die Menschen fügen sich entweder als dekorative Figuren, als Staffage, als Mittel zum Zweck in die Darstellung der »schönen Natur« ein, wie es als Anweisung exemplarisch in den Propyläen (1800, Goethe/Heinrich Meyer) formuliert wurde: « ... die Figuren also, deren man sich zur Staffierung einer Landschaft bedient, werden nur alsdann für schicklich gelten, wenn sie mit dem Charakter des ganzen Bildes übereinstimmen und als untergeordnete aus demselben entsprungene Teile angesehen werden können«,73 oder sie stellen sich selbst als Objekte ästhetischer Empfindung dar wie in Kobells »Begegnungsbildern«, in die Natur hinausgeritten oder -gewandert, offenkundig absichtslos, ohne Zwecke, ja sogar fast ohne Richtung erhebt sich der Städter selbst in die Sphäre des »schönen Daseins«. Die Begegnung bedeutet nichts anderes als das zufäl72 Ebd., S. 136. 73 Zit. nach B. Heine, Max Joseph Wagenbauer, München 1972, S. 17, Anm. 22. 74 Gehlen, Zeitbilder (wie Anm. 64), S. 47.

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lige Zusammentreffen von Menschen, denen nicht anzumerken ist, was sie wollen oder ob sie überhaupt etwas wollen. Ihr bloßes absichtsloses Dasein in der Natur, das Zufällige, Momentane dieser Begegnung ist Inhalt genug: Keine »menschliche Begegnung« im übertragenen Wortsinn, keine Erfahrung, kein Geschehen vollzieht sich. Das Zusammentreffen ist aus allen über das rein Konventionelle hinausgehenden Bezügen des Handelns und Arbeitens herausgenommen, das zufällige Da- und Beisammensein als solches erweist sich als schön. Dies »schöne Dasein« in der Natur erfüllt insofern den Sinn der alten »Theoria«, als sich die Menschen der Natur nicht in praktischer Absicht, zur gebrauchenden Nutzung zuwenden, sondern sich in ihr müßiggängerisch genießend bewegen. Die Bezüge auf die Vita activa sind – fast – vollständig getilgt. Im Herausgehen aus der Stadt, dem Ort rationell werdender Gesinnung und Arbeit, aus der Alltäglichkeit, wird die naturgenießende Haltung möglich. Bei Kobell breitet das Licht einen Glanz des Festlichen über die Szene, zu dem vornehme Kleidung und herrenmäßige Haltung der Menschen beitragen. Doch stellt sich die Festlichkeit der ästhetischen Landschaft nicht wie in der Mimesis der Wirklichkeit durch Erkenntnis des Ganzen der Natur im Medium sinnlicher Anschauung ein. Die ästhetische Landschaft verlängert die Tradition der Theoria in einer ganz speziellen Weise, die bedingt ist durch die Entzweiung von wissenschaftlich-ökonomischer Objektivierung der Natur und Subjektivierung von Naturgefühl und Naturempfindung. In einer Situation, in der die Erkenntnis der Natur nicht mehr an deren unveränderlichem »Wesen« interessiert ist, welches als solches, als »Weltordnung« Anlass zu Freude und Genuss bietet, sondern an deren Nutzbarkeit zum Zwecke höchstmöglichen Ertrages, verliert die Kunst ihren alteuropäischen Anspruch, in der unverarbeiteten Natur ein Mittel nicht nur des sinnlichen Genusses, sondern der Erkenntnis zentraler Sinn- und Bedeutungszusammenhänge des menschlichen Lebens zu sehen. Während die alteuropäische Landschaft im Verweis auf allgemeinmenschliche Bedeutungsgehalte in der sinnlichen Erscheinung der Landschaft immer selbst noch ausspricht, auf welchen Fundamenten die dargestellte Wirklichkeit im Ganzen beruht, blendet die ästhetische Kunst gerade das aus, wodurch das ästhetische, absichtslos sinnlich genießende Dasein in der Natur ermöglicht ist: die rationelle Arbeit zum Zwecke ihrer Beherrschung. Die spezifisch ästhetisch-genießende Naturbetrachtung setzt voraus, dass Natur nicht mehr als schicksalhafte Macht erfahren wird, und ist erst möglich, seit die permanente Bedrohung des Nahrungsspielraums in den Hungersnöten zu Ende geht. Die alteuropäische Kunst als Mimesis der Wirklichkeit konnte auf die Darstellung der Praxis und ihrer Zwecke weitgehend verzichten, weil »Arbeit« in ihrem Entwurf der Wirklichkeit einen untergeordneten Rang einnimmt. Für sie ist die Welt im Ganzen vom »Geistigen«, von der »Idee« her bestimmt, die als »wahre Wirklichkeit« hinter der flüchtigen, zeitverfallenen, sinnlichen 198

Erscheinung steht. Mit der von Schiller in seinem »Spaziergang« beschriebenen neuzeitlichen Emanzipation der Arbeit zum Konstitutionsprinzip der bürgerlichen Gesellschaft emanzipiert sich der Bereich der Arbeit und ermöglicht die Entfesselung der Bedürfnisse. Nicht mehr die Natur gibt per Geburt unveränderliche und notwendige Prinzipien der gesellschaftlichen Ordnung und der politischen Berechtigung vor, sondern beides bemisst sich nach Maßgabe der Arbeit zum Zwecke der gesellschaftlichen Reproduktion. Im Rahmen der alten »Theoria« kommt der Arbeit als Bedingung der Möglichkeit der Bedürfnisbefriedigung bei der grundsätzlichen Beschränktheit der Bedürfnisse und der ständischen Zuweisung und Isolierung der Arbeit als manueller, vernunftloser Tätigkeit nur ein untergeordneter Rang zu. »Theoria« als Vernunfttätigkeit verstand sich gerade als Überwindung, als die Freiheit von den Bedürfnissen und dem Zwang, zu ihrer Befriedigung zu arbeiten. Die von Schiller berufene neue Freiheit der modernen bürgerlichen Gesellschaft ist die Freiheit zur Bedürfnisbefriedigung. Die neue Valenz der Arbeit, in der sich die »bürgerliche Diesseitseroberung«74 als dominante Form des Verhaltens zur Welt durchsetzt, ist ihrerseits nur möglich dadurch, dass das theoretische, rationale Verhalten selbst nicht mehr als zweckfreie Schau der Wirklichkeit im Ganzen aufgefasst, sondern zunehmend als Arbeit in den Dienst der Naturbeherrschung gestellt wurde. Seit der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert setzt sich für die theoretische Tätigkeit des Gelehrten, die bisher »Kunde«, »Gelehrsamkeit«, »Gelehrsamkeitswissen« und ähnlich hieß, der Begriff der »Arbeit« durch. Die begriffliche Aufhebung der Unterscheidung von manueller und intellektueller Tätigkeit zeigt an, dass Arbeit gesellschaftlich omnipräsent geworden ist. Die Auslegung der Wirklichkeit selbst ist Arbeit. Während also die alteuropäische Kunst in der weitgehenden Aussparung der Arbeit ihr Bild der Wirklichkeit im Ganzen als der ideen- und geistbeherrschten Wirklichkeit wiedergibt, spart die ästhetische Kunst in ihrem Bild der Landschaft mit dem Verzicht auf die Darstellung der Arbeit gerade das aus, worauf sie selbst beruht. Kobells Begegnungsbilder zeigen den Städter daher untätig genießend in der Natur. Treten vereinzelt Arbeitende auf, so sind es nicht die für die neuen Arbeitsformen und die neue Arbeitsethik maßgeblichen Städter, sondern Bauern, für welche wiederum die Natur nicht als schöne Landschaft, sondern als Werkwelt erscheint. Dillis’ (vgl. Abb. 20, S. 332) Stadtansichten ebenso wie Kobells Bilder mit München im Hintergrund vernachlässigen die Tatsache, dass in der Stadt Raum gestaltet wurde gemäß den Bedürfnissen von Arbeitsformen, wie Handel und Gewerbe sie erfordern. Sie zeigen einen mehr oder weniger beliebigen Ausschnitt aus einer Agglomeration von Gebäuden unter dem vorherrschenden Interesse am Spiel des Lichts. Dieses ästhetische Interesse hebt anschau75 Zum Zusammenhang insgesamt vgl. E. Weis, Die Begründung des modernen bayerischen

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lich den Unterschied von Stadt und Land auf, die Ansicht der Stadt wird zur »Stadtlandschaft«. Dillis’ Sicht auf die optische Wirklichkeit steht in Einklang mit dem, was sich in der gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit angebahnt hatte. In einem lang anhaltenden Prozess schrittweiser Veränderung löst sich – in Bayern etwa zwischen 1804 und 1868 – der Gegensatz von Stadt und Land in rechtlicher, ökonomischer und politischer Hinsicht auf.75 Handel und Gewerbe, die Formen der naturverarbeitenden Arbeit bleiben nicht mehr auf die Stadt begrenzt. Die politische Verfassung beseitigt nach und nach das privilegierte Stadtbürgerrecht und kennt schließlich ohne Unterscheidung von Stadt und Land nur noch den Staatsbürger. Die städtisch-aufklärerische Sicht auf die Natur, das Prinzip der rationellen Arbeit und ihre gesellschaftlichpolitischen Folgen werden allgemein; mit ihnen wird auch das Bedürfnis allgemein, das Joachim Ritter in seiner Theorie der ästhetischen Landschaft beschrieben hat: Mit Hilfe eines neuartigen Typus künstlerischer Einbildungskraft, der »ästhetischen«, die Welt zu zeigen, »bloß wie man sie sieht«, »bloß nach dem, was der Augenschein zeigt« (Kant).76 Nichts deutet daher darauf hin, dass im gewählten Ausschnitt Bedingungen und Gegebenheiten des menschlichen Lebens ansichtig werden sollen. Die »Wendung ins Subjektive« (Gehlen)77 besteht zu Beginn des 19. Jahrhunderts in einer Erschütterung der Sehgewohnheiten, die durch die Aufspaltung der Dingwelt in ihre Nutz- und ihre ästhetische Qualität ausgelöst ist. Bereits hier lässt sich als Ausdruck dieser Subjektivierung feststellen, dass die Farbwerte nicht mehr »auf den Durchschnitt einer Lokalfarbe, einer Dingeigenschaft vereinfacht« werden.78 Die anschaubare Welt zerfällt in ihre rational-utilitaristisch zugriffsbereiten und ihre ästhetisch gesehenen Eigenschaften, in die arbeitend erfasste und die ästhetisch wahrgenommene Seite. Die subjektivistische »Konzentration auf das Sehen selbst«, freigesetzt durch die Möglichkeit ästhetischer Hinwendung zur Wirklichkeit, bewirkt schließlich Staates unter König Max I. (1799–1825), in: Spindler (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, Bd. IV/1, 1974, S. 9–86, bes. S. 38–59, 69–86; zur Aufhebung der Grundherrschaft und Mobilisierung des Bodeneigentums M. Stolleis, Die bayerische Gesetzgebung zur Herstellung eines frei verfügbaren Grundeigentums, in: H. Coing u. W. Wilhelm (Hg.), Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert, Bd. III, Frankfurt a.M. 1976, S. 44–117; zur schrittweisen, allerdings immer wieder retardierten Reform der Gewerbeordnung, mit welcher die Regelung von Freizügigkeit, Heiratserlaubnis, Stadtbürgerrecht verbunden war, vgl. J. Kaizl, Der Kampf um Gewerbereform und Gewerbefreiheit in Bayern von 1799–1868, Leipzig 1879; zu den Reformen der Gemeindeverfassung: Quellen zum modernen Gemeindeverfassungsrecht in Deutschland, bearb. v. Ch. Engeli u. W. Haus, Stuttgart 1974; H. Matzerath, Von der Stadt zur Gemeinde. Zur Entwicklung des rechtlichen Stadtbegriffs im 19. und 20. Jahrhundert, in: Archiv für Kommunalwissenschaften 13 (1974), S. 17–45. 76 Ritter, Landschaft (wie Anm. 51), S. 157. 77 Gehlen, Zeitbilder (wie Anm. 64), S. 53. 78 Ebd., S. 57. 79 Ebd., S. 57.

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das »undingliche« Sehen der Farben.79 Bei Dillis tritt die Genauigkeit der Gegenstandsbezeichnung zurück. Die Malereitheorie hatte die Darstellung des Peremptorischen, Sinnlichen, der Farbe übertragen, die Darstellung des Substantiellen, Geistigen, Notwendigen jedoch der Linie, dem »disegno«.80 Dillis geht zwar von dem Vorrang der Dingwelt aus, doch präsentiert er sie vor allem im Medium der Farbe, welche sich von der Linie zu lösen beginnt. Farbflecken evozieren ein vorhandenes Wissen um die Gegenständlichkeit. In Bildern wie dem »Trivaschlößchen«, den »Romansichten von der Villa Malta aus« (vgl. Abb. 20, S. 332) und »Gegend bei Ruhpolding« ist die dargestellte Landschaft in ihrer Unmittelbarkeit und sinnlichen Präsenz aufs höchste gesteigert und steht für sich. Sie bedarf zu ihrem Verständnis keinerlei gedanklicher Konnotation. In der Verselbständigung der Farbe spiegelt sich die Verselbständigung des Sinnlich-Schönen zu einer eigenen Präsentationsweise von Wirklichkeit. Die individuelle, unwiederholbar-momentane, begrifflich-vernünftig nicht aussagbare Sinneswahrnehmung wird zum alleinigen Bildinhalt. Träger dieser Gegenwart von Natur ist das Licht. Kobell hingegen zeigt an der Natur zunehmend auch ihre Geformtheit durch die rationale Arbeit des Städters: Wiese und Feld aufbereitet zum bloßen Stand- und Bewegungsraum für Mensch und Tier. Kobell hält am Vorrang der Linie fest und an der gegenstandsbezeichnenden Farbe.81 Er setzt sich jedoch über eine andere Sehgewohnheit hinweg, die »natürlicherweise vom unbefangenen Auge geleistete Ausklammerung der Beleuchtung zugunsten beständiger Lokalfarben«.82 Aus der Verbindung dieser traditionell getrennten Faktoren: gleichmäßiger, von der Linie rigoros eingefasster dingbezeichnender Farbigkeit und intensivierter Beleuchtungssituation entsteht die eigentümliche Unwirklichkeit der Gegenstandswelt bei Kobell. Diese Steigerung der Bildwirkung ins Unalltägliche, Festlich-Feierliche beruht auch hier auf der besonderen Rolle des Lichts. Am Beispiel einer Landschaft Kobells, »Schondorf am Ammersee«, soll abschließend versucht werden, diese besondere Rolle des Lichts vor der geschilderten historischen Situation, der Revolution des Wissens, dem Anspruch auf Naturbeherrschung und seiner beginnenden Verwirklichung, der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft als des Systems der Bedürfnisse und der politischen Freiheit zu interpretieren. Rein inhaltlich zeigt dieses Bild, auf dem keine Städter dargestellt sind, dieselbe Konstellation wie Kobells Begegnungsbilder: ein zweckfreies Beisammensein. Das Bauernpaar in unalltäglich sauberer Kleidung lässt nicht erkennen, warum es das Gespann zum Stehen gebracht hat. Gespann und Figuren heben sich im Licht gegen eine 80 81 82 83

Held, Theorie (wie Anm. 68), S. 138. B. Hardtwig, (wie Anm. 65), S. 28ff. Gehlen, Zeitbilder (wie Anm. 64), S. 57. B. Hardtwig, (wie Anm. 65), S. 33.

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Abb. 3: Wilhelm von Kobell, Schondorf am Ammersee

schmale Dunkelzone ab, eine leichte, baumbestandene Erhebung. Sie liegt in einem scharf und präzis begrenzten, sehr dunklen Schatten. Der Himmel spannt sich blau und hell über See und Ufer, zum Horizont zu ist er leicht von einer hellen, gleichmäßigen Dunstschicht überzogen. Nichts lässt auf eine intensive oder wechselnde Bewölkung schließen. Zwar ist das herrschende Licht Sonnenlicht, doch ergeben sich die scharfen Hell-Dunkel-Kontraste nicht aus der natürlichen Situation von Sonnenstand und Witterung. Es entsteht ein Hiatus zwischen naturgemäßer Beleuchtungs- und herrschender Lichtsituation. Das Licht, welches das ästhetische Dasein zur Wirklichkeit bringt, ist also nicht aus der Natur und ihrer Ordnung begründet. Es bleibt insofern im Rahmen der Theoria-Tradition, als es die Erscheinungsweise der sinnlich anschaubaren Wirklichkeit selbst trägt und somit über die Materialität der Naturgegenstände immer schon hinausweist auf ein Unendliches. Die alteuropäische Malereitheorie hatte die Rolle des Lichts im Rahmen einer Lichtmetaphysik gedeutet. Licht hatte dort über die physische, sinnlich 202

wahrnehmbare Erscheinung hinaus eine metaphysische Bedeutung als nicht nur anschaulicher, sondern auch intelligibler Wert. Die Ordnung von Hell und Dunkel interpretierte nicht nur eine sinnlich auffassbare Beleuchtungswirklichkeit, sondern auch eine vernünftig einsehbare Bedeutungswirklichkeit. In der ästhetischen Landschaft Kobells, gekennzeichnet durch »Einhelligkeit«83 und, nach der Definition von E. Strauss, ein »Überlicht«,84 welches als ein spezifisch künstlerisches Phänomen das natürliche, von der Sonne gespendete Licht transzendiert, fehlt diese metaphysische Qualität. Wenn dennoch ein »Transzensus« stattfindet, ein Unendliches anschaulich wird, so ist zu fragen, was dessen Grund sein kann. Eine Antwort auf diese Frage soll versucht werden mit dem Hinweis auf Hegels Theorie der romantischen Kunstform, auch wenn sie, nach dem Wort Odo Marquards, »weder gängig noch beliebt« ist.85 Nach Hegels spezieller Begrifflichkeit ist unter der romantischen Kunst jene Kunst zu verstehen, die geprägt ist durch zunehmende Herausbildung von Innerlichkeit und Subjektivität im Christentum.86 Hegel beschreibt die Herausbildung der modernen Welt auf demselben Grund der Dialektik von Objektivierung der Welt und Steigerung der Subjektivität, die nach Burckhardt das Sehen der Natur als »Landschaft« ermöglicht: Demgemäß ist der »Inhalt der romantischen Kunst ... sehr verengt. Denn erstens ist ... die Natur entgöttert, Meer, Berg und Tal, Ströme, Quellen, die Zeit und Nacht sowie die allgemeinen Naturprozesse haben ihren Wert in betreff auf die Darstellung und den Gehalt des Absoluten verloren. Die Naturgebilde werden nicht mehr symbolisch erweitert: die Bestimmung, daß ihre Formen und Tätigkeiten fähig wären, Züge einer Göttlichkeit zu sein, ist ihnen geraubt.«87 Für Hegel steht diese Feststellung im Zusammenhang der Freiheitsgeschichte des Geistes, so dass es sinnlos sei, darüber zu klagen. Die These vom Ende der Kunst als der »höchsten Weise, ... sich des Absoluten bewusst sein« besagt, dass »der Geist unserer heutigen Welt oder näher unserer Religion und unserer Vernunftbildung ... über die Stufe hinaus« ist, in welcher die Kunst das Ganze der Natur abbilden könnte: »der Gedanke und die Reflexion hat die Kunst überflügelt«.88 Wie die rational-naturwissenschaftliche Sicht auf die Natur die wirklichkeitstragenden Prinzipien, in Hegels Sprache das »Absolute«, nicht mehr in der 84 E. Strauss, Rezension zu M. Goedl-Roth, Wilhelm Kobell. Druckgraphik, München 1974, in: Pantheon 1976, S. 177. 85 O. Marquard, Zur Bedeutung der Theorie des Unbewußten für eine Theorie der nicht mehr schönen Kunst, in: Die nicht mehr schönen Künste, München 1968, S. 375–392, 380. 86 Hegels »Romantische Kunstform« ist nicht identisch mit dem, was bildungssprachlich unter »Romantik« verstanden wird. Als Sammelbegriff für die von der christlichen Verinnerlichung geprägte Kunst steht er dem Begriff der »klassischen Kunstform« gegenüber. 87 G. W. F. Hegel, Ästhetik, hg. v, Fr. Bassenge, Berlin 1955, S. 505. 88 Ebd., S. 21. Hervorhebung vom Verfasser.

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statischen, notwendigen, immer gleichen, vorfindbaren Natur und ihrer intelligiblen »wahren Wirklichkeit« hinter der Sinnenwelt selbst findet, sondern im Rückgang auf die eigene Vernunft des Menschen in der Reflexion, in der Autonomie und »Absolut«-Setzung der Vernunft, so bildet auch die Kunst nicht mehr eine vorgegebene »Weltordnung« mimetisch ab. »Unendlich« ist auf diesem Stande der »Religion und Vernunftbildung« nicht mehr die erforschte, rational auf Gesetze zurückgeführte und genutzte Natur, unendlich ist sich hingegen »die moderne Persönlichkeit« selbst »in ihrem Gemüt und Charakter«, »das wirkliche, einzelne Subjekt in seiner inneren Lebendigkeit«.89 Allein in der Innerlichkeit und Subjektivität kann sich die Wahrheit und Wirklichkeit »zum Dasein auseinanderbreiten und zusammenfassen«.90 Im Hinblick auf die Rolle des Lichts in der ästhetischen Kunst scheint es daher berechtigt, Hegels Metaphorik in ihrer anschaulichen Aussage wörtlich zu nehmen, wenn er sagt: »Die Subjektivität ist das geistige Licht, das in sich selbst, in seinen vorher dunklen Ort scheint, und während das natürliche Licht nur an einem Gegenstand leuchten kann, sich selbst dieser Boden und Gegenstand ist, an welchem es scheint und das es als sich selber weiß.«91

89 Ebd., S. 194. 90 Ebd., S. 501. 91 Ebd., S. 502.

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10. Kunst und Geschichte im Revolutionszeitalter. Historismus in der Kunst und der Historismusbegriff der Kunstwissenschaft I. Als Johann Gustav Droysen 1857 erstmals seine »Historik« vortrug und darin die Enzyklopädie und Methodologie der Geschichtswissenschaft entwickelte, ging er u. a. von zwei Prämissen aus: Zum einen, dass »jede Sprache eine in sich volle und vollständige Weltanschauung« sei, dass niemand »anders und weiter zu denken« vermöge, als »seine Sprache ihn denken lässt«, dass seine Sprache alles zu sagen vermöge, was er denken kann; zum anderen, dass jede Sprache »historischer Natur« sei.1 In solcher Allgemeinheit bilden diese Annahmen die Grundlage der historisch-kritischen Methode zur Erschließung der Vergangenheit und deren von der Gegenwart zugleich verschiedenen und mit ihr verbundenen Wirklichkeit. Die in den letzten Jahren systematisch reflektierte und praktizierte geschichtswissenschaftliche Methode der Begriffsgeschichte hat diese Prämissen neu aufgegriffen und das Spannungsverhältnis von geschichtlicher Wirklichkeit und ihrer sprachlichen Artikulation selbst zum Mittel erhoben, dieser Wirklichkeit näher zu kommen. Sie macht, wie Koselleck in der Einleitung zum »Historischen Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland« formuliert, die ››Konvergenz von Begriff und Geschichte zum Thema«.2 Die Geschichtlichkeit der Begriffe dient ihr als Mittel, die Geschichte selbst zu verstehen, welche die Begriffe und ihre Be1 J. G. Droysen, Historik, Vorlesungen über Enzyklopädie und Methodologie der Geschichte, hg. von R. Hübner, Darmstadt 19675, S. 222f. Der Aufsatz geht aus der Beschäftigung mit der Begriffsgeschichte des Wortes Historismus hervor, über die ich im Rahmen einer Arbeitstagung des Ulmer Vereins für Kunstwissenschaft im April 1977 referiert habe; vgl. W. Hardtwig, Traditionsbruch und Erinnerung. Zur Entstehung des Historismusbegriffs, in: »Geschichte allein ist zeitgemäß«, Gießen 1978. Die sehr kontroverse Diskussion meiner Thesen veranlasste mich, das Thema noch einmal aufzugreifen und unter einigen bisher nicht thematisierten Aspekten zu beleuchten. 2 R. Koselleck, Einleitung zu: O. Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 1., Stuttgart 1972, S. XXIII; vgl. insgesamt S. XIII-XXIV; kritische Würdigung der Methode und ihrer Ergebnisse nach den Bänden I u. II von H. Berding, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: HZ 223 (1976), S. 98–110.

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deutungsfelder schafft, formt und verändert. Ausgehend von der Annahme, dass Bedeutungen am Wort haften, zugleich aber Situationen reflektieren, auf die sie sich beziehen, sucht und erschließt die Begriffshistorie »den geschichtlichen Gehalt eines Begriffs«. Dieser »bündelt eine Vielfalt geschichtlicher Erfahrung und eine Summe von theoretischen und praktischen Sachbezügen in einen Zusammenhang, der als solcher nur durch den Begriff gegeben ist, und wirklich erfahrbar wird«.3 Indem Begriffshistorie Auftreten, Bedeutungskomponenten, sprachliches Umfeld, Konstanz und Wandel, Dauer und disziplinären Kontext von Worten ernst nimmt, die zu Begriffen der politischsozialen Sprache geworden sind, und möglichst umfassend ihre historische Geltungsdauer und ihre sprachliche Verästelung aufweist, bringt sie zu Tage, was in einer vergangenen Gegenwart zur Sprache kam und nur so, in den aufgefundenen Begriffen mit ihren Bedeutungsfeldern, Sprache werden konnte. Begriffe wie »Bürger« oder »Gesellschaft« lauten über große Zeiträume hinweg gleich. Solange ihr Bedeutungswandel nicht aufgeklärt wird, verdeckt der Sprachgebrauch jene Erfahrungen und Auslegungen, die einst mit ihnen verbunden waren. Neuprägungen wie »Historismus« hingegen verweisen unmittelbar auf einen Erfahrungswandel und auf die Auslegungsbedürftigkeit bis dahin nicht erfahrener und bewusst gemachter Phänomene. Von der Verbalisierung und Reflexion von Erfahrungen ausgehend, zielt die Begriffshistorie auf die geschichtlich sich ändernden Formen, die Welt zu erfahren und die Erfahrung zu ordnen. Die Begriffshistorie bildet oder überträgt nicht Termini der Fachsprache oder auch Begriffe der Wissenschaftssprache auf Phänomene, die in Erzählung oder Analyse des Wissenschaftlers rekonstruiert werden, sondern macht sich zur Aufgabe, die Geschichte durch ihre jeweiligen Begriffe zu interpretieren.4 Diese Eigenart der begriffsgeschichtlichen Methode gilt es festzuhalten, wenn wir uns der Begriffsgeschichte des Wortes »Historismus« zuwenden. Denn die vielzitierten Werke von Ernst Troeltsch (Der Historismus und seine Probleme, 1922), Karl Heussi (Die Krisis des Historismus, 1932) und Friedrich Meinecke (Die Entstehung des Historismus, 1. Aufl. 1936) sind ebensowenig Begriffsgeschichten im Sinne der skizzierten Methode wie der Aufsatz von Wolfgang Götz (Historismus. Ein Versuch zur Definition des Begriffs).5 Sie bieten entweder, wie Troeltsch, Meinecke und Heussi, eine Mischung von ideengeschichtlichen und wissenschafts-methodologischen Untersuchun3 Koselleck, Einleitung (wie Anm. 2), S. XXIII. 4 Ebd., S. XXIII. 5 E. Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme, Tübingen 1922; K. Heussi, Die Krisis des Historismus, Tübingen 1932; F. Meinecke. Die Entstehung des Historismus, München 1936; W. Götz, Historismus. Ein Versuch zur Definition des Begriffs, in: Zeitschrift des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft XXIV (1970), S. 196–212; vgl. dazu H. Dilly, Entstehung und Geschichte des Begriffs Historismus – Funktion und Struktur einer Begriffsgeschichte, in: »Geschichte allein ist zeitgemäß«, Gießen 1978.

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gen, oder, wie Götz, den Versuch zur systematischen Klärung eines kunstwissenschaftlichen Terminus.6 Der Begriff selbst mit seiner Geschichte und das Erklärungspotential dieser Geschichte wird in keinem dieser Fälle befragt. Daher können diese Arbeiten nicht als Praxis begriffsgeschichtlicher Methoden zitiert, wohl aber als Objekte begriffsgeschichtlicher Forschung befragt werden. Da sie das fragliche Problem »Historismus« nicht anhand des Wortes und seines vielfältig sich wandelnden Gebrauchs erschließen, können sie für eine begriffsgeschichtliche Untersuchung nur Fundstellen, Informationen zu Lebenswelt und Ideengeschichte des historischen Ortes, an dem der Begriff auftritt, schließlich Interpretationen und Reflexionen beitragen. Demgegenüber wird in der begriffs-historischen Methode die Frage an das im Historismusbegriff angezeigte historische Phänomen neu gestellt und führt zu neuen Ergebnissen.7 Der begriffshistorische Zugriff beantwortet nicht sogleich die Frage, ob es sinnvoll ist, einen Begriff, der erst mehr als ein Jahrhundert nach seinem häufiger feststellbaren Auftreten Eingang in die Sprache der Kunstwissenschaft fand, nachdem er in anderen, nicht-kunstwissenschaftlichen Disziplinen eine varianten- und konfliktreiche Geschichte gehabt hat, in die Kunstwissenschaft zu übernehmen. Lässt man sich jedoch auf die methodischen Prämissen der Begriffshistorie ein, so weckt schon der bloße Befund dieser Wanderung eines Begriffs durch die Disziplinen die Frage nach jenen historischen Tatbeständen, die quer durch eine Vielzahl von wissenschaftlichen Disziplinen hindurch in ein und demselben Begriff bewusst gemacht wurden. Der begriffsgeschichtliche Zugriff erschließt also zuerst jenes historische Wissen, das dann eine Antwort auf die Frage nach der Brauchbarkeit und dem forschungsstrategischen Wert des Begriffs in der Kunstwissenschaft ermöglicht. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts begegnet »Historismus« zuerst als Reflexions- und Methodenbegriff von Philosophie bzw. Wissenschaftstheorie und setzt sich seit den achtziger Jahren als Begriff der Methoden- und Selbstreflexion in 6 Auf das Wort »Historismus« und seine Geschichte geht Meinecke auf einer halben Seite seiner »Vorbemerkung« ein, vgl. 4. Aufl., 1959, S. 1; Meinecke schildert die Genesis einer neuartigen Form des historischen Denkens seit dem 18. Jahrhundert, vor allem in Deutschland, und nennt diese Denkweise – in partieller Anknüpfung an den zeitgenössischen Sprachgebrauch der zwanziger und dreißiger Jahre, aber mit bewusst neuer Bewertung: »Historismus«. Er sieht »ein großes und gewaltiges Phänomen der Geistesgeschichte ... das eines Namens bedurfte und noch keinen hatte«, und definiert dann: »Historismus ist aber zunächst nichts anderes als die Anwendung der in der großen deutschen Bewegung von Leibniz bis zu Goethes Tode gewonnenen neuen Lebensprinzipien auf das geschichtliche Leben«, ebd., S. 1/2; zur Unterscheidung von Wort, Begriff, Terminus vgl. Koselleck, Einleitung (wie Anm. 2), S. XXIIf.: »Ein Terminus versammelt in sich die Merkmale eines vorgegebenen Sachverhalts, seine Bedeutung kann sachoder fachspezifisch, wenn auch verschieden definiert werden.« 7 Anknüpfen lässt sich hier lediglich an den Artikel »Historismus« von G. Scholz im Historischen Wörterbuch der Philosophie, hg. von J. Ritter, Band III, Basel 1974, Sp. 1141–1147; Scholz gibt eine kommentierte lexikalische Auflistung von Fundstellen des Historismusbegriffs.

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Nationalökonomie und Geschichtswissenschaft fest. Die Kunstwissenschaft hingegen greift ihn gegenüber seinem ersten Auftreten und seiner breiten Geltung sehr verspätet seit den späten dreißiger Jahren unseres Jahrhunderts als Stilbezeichnung und als Epochenbegriff auf. 8 Auf welche Gemeinsamkeiten geschichtlicher Erfahrung und Differenzen historischer Begriffsbildung und wissenschaftlicher Selbstreflexion in den verschiedenen Disziplinen verweist dieser Befund? Knüpft der begriffsgeschichtlich nachweisbare Historismusbegriff der Kunstwissenschaft an die bislang rekonstruierbare und interpretierbare Geschichte des Begriffs an, übernimmt er dort vorfindbare Bedeutungen, so eröffnet die Begriffsgeschichte den Zugang zugleich zu Phänomenen der Kunst und ihrer Geschichte wie zur Methodenreflexion der Kunstwissenschaft und deren Geschichte. Es gilt also zunächst zu klären: Welche Erfahrungen, welcher Erfahrungswandel artikuliert sich im Historismusbegriff, seiner Bildung, seiner Wanderung durch die Disziplinen, den Interferenzen seiner Rezeption, seiner Bedeutungsverschiebungen und seiner Bedeutungskonstanten. Behandelt werden also: – Aspekte einer Begriffsgeschichte von »Historismus«; – Zustände und Prozesse, die historistisches Denken hervorgebracht haben und bedingen; – Strukturmerkmale einer Kunst, die sich nach Maßgabe der Begriffsgeschichte sinnvoll unter dem Historismusbegriff zusammenfassen lässt. Eine vollständige und detaillierte Begriffsgeschichte ist dabei weder möglich noch sinnvoll; die wesentlichen Bedeutungskomponenten und Grundzüge des Bedeutungswandels lassen sich an ausgewählten Beispielen aufzeigen. Dabei ist das Schwergewicht naturgemäß auf die Entstehungs- und Frühgeschichte des Begriffs zu legen, denn in ihr artikuliert sich jene unverwechselbare Erfahrung, welche seine Neubildung ausgelöst hat.

II. Sieht man von der vereinzelten, freilich schwer interpretierbaren Fundstelle des Historismusbegriffs bei Novalis ab,9 wo »Historismus« in den Zusammenhang ästhetischer Reflexion hineingestellt wird, so führt die Begriffsgeschichte sogleich hinein in den Problemkomplex von Geschichtsphilosophie und Erkenntniskritik, in dem sich um die Jahrhundertmitte die Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie, vor allem mit Hegel, 8 Vgl. die Fundstellen bei Götz, Historismus (wie Anm. 5), S. 196. 9 Nachweis bei Scholz, Historismus (wie Anm. 7), Sp. 1141.

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vollzieht. Christlieb Julius Braniß, Professor für Philosophie an der Universität Breslau und Vorgänger Diltheys auf diesem Lehrstuhl, und Carl Prantl, Verfasser eines bis in die Gegenwart vielgelesenen Standardwerks über die Geschichte der Logik,10 bedienen sich des Ausdrucks »Historismus«, um die spezifisch gegenwärtige Methode philosophischer Erkenntnis von den bislang gültigen philosophischen Erkenntnisweisen abzugrenzen. Indem beide nach der gegenwärtigen Aufgabe der Philosophie fragen, beziehen sie zugleich die philosophische bzw. wissenschaftliche Methode auf ein Bedürfnis, das, offenbar nicht zu allen Zeiten gleich, in der gegenwärtigen Situation des 19. Jahrhunderts begründet ist. Die Gegenwart bedarf einer ihrer Besonderheit adäquaten, von der Tradition unterschiedenen philosophischen bzw. wissenschaftlichen Methode, welche freilich, noch aus dem Traditionsraum der Metaphysik heraus, die Wirklichkeit insgesamt und das ihr zugrunde liegende Ganze auszulegen beansprucht. Die Sprache des deutschen Idealismus benennt dieses Ganze in den Termini des »Absoluten«, des »Geistes«, der »Idee«. Dieses Ganze auszulegen, aber nicht, wie nach Meinung von Braniß und Prantl in der Tradition, als statisches, immer gleichbleibendes, in der Substanz unveränderliches Sein, sondern als Veränderliches, Werdendes, Geschaffenes und zu Schaffendes, soll die historistische Methode leisten, welche Braniß für die eigentlich zeitgemäße Form der Spekulation hält. Für ihn ergeben sich »ganz allgemein zwei mögliche Standpunkte, von welchen aus die philosophische Arbeit sich vollbringen kann. Sie hält nämlich entweder den Naturbegriff als Grundgedanken fest, zieht alles historische Leben in denselben hinein, und strebt mithin die Geschichte aus der Natur zu begreifen; oder sie setzt den Geschichtsbegriff als prinzipielle Wahrheit, bestimmt aus ihm das Wesen des natürlichen Daseins, und sucht so die Natur aus der Geschichte zu verstehen. Es sei gestattet, den ersteren dieser beiden Standpunkte als Naturismus, den letzteren als Historismus zu bezeichnen; zwei Namen, welche zwar noch nicht gebräuchlich, aber sachgemäß und um so bequemer sind...« Movens der geschichtlichen Veränderung und Konstituens der veränderlichen Wirklichkeit ist für Braniß die ursprüngliche »Tat«, durch welche die Idee ins Sein kommt, ist das Denken. Dieses tätige, wirklichkeitsschaffende und damit permanent wirklichkeitsverändernde Denken aber kann, wie Braniß sagt, »allein durch den Begriff der Freiheit« erfasst werden.11 Historismus als Praxis des freien Denkens und damit – gemäß dem transzendental-, vernunft- und geistontologischen Ansatz des deutschen Idealismus — der Vergegenwärtigung und »Produktion« des Wirklichen als Sinn- und Bedeutungswirklichkeit 10 C. J. Braniß, Die wissenschaftliche Aufgabe der Gegenwart als leitende Idee im akademischen Studium, Hodegetische Vorträge, Breslau 1848, S. 120ff; C. Prantl, Die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie. Festrede in der öffentlichen Sitzung der kgl. Akademie der Wissenschaften...., München 1852, vgl. v.a. S. 18f., 30f., 38. 11 Braniß, Aufgabe (wie Anm. 10), S. 120, 124.

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selbst, artikuliert die Selbstauslegung gegenwärtiger Philosophie als Philosophie der Freiheit und des Fortschritts: bei Braniß, indem gegenwärtige Wirklichkeitserkenntnis sich einfügt in eine Geschichte freier Konstitutionsakte des Denkens und im Begriff der wirklichkeitskonstituierenden Tat Denken und Handeln zusammenfasst; bei Prantl, indem die Geschichte des religiösen Denkens als Steigerungsgeschichte der Intelligenz gedeutet wird.12 In einen explizit praktischen Zusammenhang tritt der Historismusbegriff bei Hermann Cohen. Cohen leitete 1896 die 5. Auflage von Friedrich Albert Langes »Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart« mit einer umfangreichen »Umschau« auf die »kritische Philosophie«, die Philosophie Kants, ein. Im zweiten Abschnitt seiner Einleitung beschreibt er unter der Überschrift »Verhältnis der Ethik zu Religion« die Befreiung des Menschen zu ethischer Selbstbestimmtheit. Kants Begründung des Sittengesetzes auf die praktische Vernunft habe den Menschen zu seinem eigenen Gesetzgeber erhoben: »Der Kantische Freiheitsbegriff ist der der Autonomie... Das ist das im Zusammenhang der Begriffe Neue: Daß das Sittengesetz weder ein Naturgesetz sein könne, noch gar ein Gesetz der Geschichte ... Der Geltungswert des Sittengesetzes ist dadurch bedingt, daß der irrende, sündige Menschengeist selbst es zu erschaffen und vor der letzten Instanz der Menschenvernunft zu verantworten habe ... Die Autonomie war richtunggebend sowohl gegen den Materialismus der Natur-Causalität wie gegen den Despotismus des Unrechts und die Knechtschaft des Dogmas. Die Autonomie ist nicht Physionomie und nicht Theonomie und überhaupt nicht Historismus«.13 Bei Cohen schwenkt der Historismusbegriff ein in die Linie eines polemischen, negativ gewerteten Kampfbegriffs zur Bezeichnung traditionaler oder, allgemeiner, nicht-autonomer Begründung von Normativität. Doch ändert sich nur die Bewertung, nicht das Bedeutungsfeld: Es geht um Legitimierungsprinzipien des Verhaltens, wobei hier das praktische gegenüber dem theoretischen Verhalten in den Vordergrund rückt. Auch als negativ besetzter Begriff bleibt »Historismus« einbezogen in eine Philosophie der Geschichte als Freiheitsgeschichte in praktischer Sicht: er signalisiert zeitgenössische Emanzipation von einer heteronomen Ethik. Im Umkreis der Frage nach der Normativität, sei es eines Wissens, sei es einer Rechtsordnung, bleibt der Historismusbegriff auch in einem dritten Schritt der begriffsgeschichtlichen Entwicklung. Heinrich Rickert fordert in seinen »Problemen der Geschichtsphilosophie«14 die »Überwindung des Historismus«. Sein Sprachgebrauch greift die bei Braniß und Cohen aufgezeigten Bedeutungskomponenten auf, indem er »Historismus« als Methode wissen12 Prantl, Philosophie (wie Anm. 10), S. 18. 13 F. A. Lange, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart, Leipzig 18965, dort: Einleitung des Herausgebers, v.a. S. LI-LV, Zitate S. LIVf. 14 H. Rickert, Probleme der Geschichtsphilosophie, Heidelberg 19243, S. 129ff.

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schaftlicher Erkenntnis und als eine Weise versteht, die Geltung von Normen des praktischen Handelns zu begründen. Rickert verbindet jedoch die Diagnose von der Herrschaft des Historismus als Erkenntnismethode mit der Diagnose des Normenverlusts oder der Normenkrise für gegenwärtiges Handeln durch diese Methode. Rickerts Historismusbegriff resümiert die Einsicht, dass das Instrument zur Auflösung und Verflüssigung überzeitlicher Wahrheitsannahmen und Handlungsprinzipien, zur Befreiung von der Macht der Tradition, selbst zur Macht geworden ist, zur Macht des Wissens über das Handeln und der Vergangenheit über die Gegenwart: »Der Historismus nämlich, der sich so positiv dünkt, erweist sich, sobald man ihn zu Ende denkt, als eine Form des Relativismus und Skeptizismus und kann, konsequent durchgeführt, wie jeder Relativismus nur zum vollständigen Nihilismus kommen, d. h. er muß sich selbst auflösen«.15 Rickert zielt auf die als handlungslähmend empfundene Wirkung eines historischen Denkens, das ursprünglich die Autonomie des Handelns gegenüber der Geschichte freilegen sollte und freilegte, schließlich aber, nach Rickerts Meinung, den Handlungswillen so abstumpfte, dass die Geschichte, jetzt nicht mehr als unmittelbar wirkende Tradition, aber als gewusste Geschichte, das Handeln bestimmt. Er kritisiert den Verlust von Spontaneität und originärer Produktion durch omnipräsentes Wissen über vergangene Kulturformen. Der postulierte Fortgang der Geschichte zum Fortschritt erscheint ihm nur möglich durch die Trennung von kritischer Geschichtswissenschaft, die »historistisch« wertneutral ist und sein darf, von der Geschichtsphilosophie, welche als stellungnehmende, richtende, wertende Beurteilung der Vergangenheit den rein kontemplativen, »historistischen« Bezug zu den Werten der Vergangenheit zu überwinden habe. Mit der Trennung von Wissenschaft und Weltanschauung einerseits, der Kritik des »Historismus« als Weltanschauung andererseits, bringt Rickert paradigmatisch für den vorherrschenden Sprachgebrauch seit der Jahrhundertwende ein tiefes Ungenügen über die Form der Vermittlung von gegenwärtigem Handeln und Wissen über die Vergangenheit zum Ausdruck. Der Historismusbegriff wird zur Formel für das Unbehagen an der Geschichte, das kaum noch einen »Nutzen«, vor allem aber »Nachteile der Historie für das Leben« erkennen konnte. In der positiven Deutung des Historismusbegriffs seit Braniß und Prantl hatte sich die Historisierung der Vernunft und die Empirisierung des Wissens von den geschichtlichen Formen der Vernunft artikuliert. Bei Cohen verband sich der Historismusbegriff mit dem Herrschaftsanspruch der Tradition als der Macht des Unbegriffenen selbst. In der Dialektik der historischen Aufklärung wendet sich der Anspruch der Vernunft auf Selbständigkeit in praktischer und theoretischer Hinsicht schließlich auch gegen die bewusst gemachte und

15 Ebd., S. 129.

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zum Wissen vergegenständlichte Tradition. Die seit Rickert16 beherrschenden Vorwürfe an den Historismus: Der Relativismusvorwurf und der Vorwurf der Lebensfeindlichkeit bezeichnen zwei Aspekte desselben Problems. Nach der Befreiung von der Macht der Tradition folgt die Befreiung von der Macht des Wissens über Tradition. Dass dieses Wissen keine normbildende Kraft habe, beklagt der Relativismusvorwurf; dass seine immanent normbildende Kraft das Handeln lähme, begründet die Klage über seine Lebensfeindlichkeit.17 Zusammenfassend lässt sich sagen: In positiver oder negativer Wertung ist der Begriff einbezogen in die Geschichte eines neuartigen Selbstbewusstseins der Vernunft, welche Naturgegebenheit oder Tradition als Geltungsgrund von Wahrheit und Ethik nicht mehr anerkennt, Überliefertheit und Autorizität des Denkens und der religiösen Offenbarung ablöst durch Empirie und Methodizität in der autonomen Herstellung des Vernünftigen. Er steht im Kontext der Frage nach der gegenwärtigen Aufgabe der Philosophie und verweist damit auf die Begründung dieses Selbstbewusstseins aus einem neuen und intensivierten Zeiterlebnis, welches das Vernünftige selbst als zeitlich bedingt und veränderbar erkennt, und beansprucht, Vernunftwahrheit und Sittengesetz nicht in einem überzeitlichen Ideenkosmos oder der überzeitlich absoluten Strukturverfassung der Vernunft aufzufinden, sondern selbst zu erzeugen. Die philosophische Frage bleibt freilich zunächst im Traditionsraum der Metaphysik (wie er in seinen neuzeitlichen Verwandlungen und Manifestationen präsent war), welche in der Erkenntnis des Absoluten, des Geistes, der Idee, die Ordnungsgestalt von Wirklichkeit im Ganzen aufzudecken bemüht war. Die Relativierung von Wahrheitsannahmen und Handlungsprinzipien durch das Aufweisen ihrer peremptorischen, historischen Geltung provoziert verschärft die Frage nach den normativen Grundlagen des Verhaltens. Die Einsicht in die Geschichtlichkeit der Wirklichkeitsgestalten aktualisiert die kritische Frage nach der normativen Geltung des Vergangenen. So zeigt sich im Anspruch auf Selbstbestimmung von Denken und Handeln zugleich das Bewusstsein einer unaufhebbaren Differenz zur Vergangenheit, welches von der Distanzierung der Tradition selbst zur Distanzierung des Wissens über Tradition – der historischen Bildung – voranschreitet. In der bisher skizzierten Geschichte des Historismusbegriffs hat die Historisierung des klassischen Wertkanons nur das »Wahre« und das »Gute« erfasst. Taucht der Historismusbegriff endlich auch in der ästhetischen bzw. kunstwissenschaftlichen Sprache auf, so muss der Sprachgebrauch an das bislang abgesteckte Bedeutungsfeld anschließen, will die Begriffshistorie ihrem An16 Vgl. ähnlich G. Simmel, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, eine erkenntnistheoretische Studie, Leipzig 19052, S. VIf. 17 Nietzsches ›Unzeitgemäße Betrachtung‹ über ›Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben‹ thematisiert diesen Zusammenhang, doch fehlt bei ihm der Begriff »Historismus« selbst.

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spruch, geschichtliche Wirklichkeit in der historischen Sprache zu erfassen, gerecht werden.

III. Als Hermann Beenken 1938 in seinem Aufsatz über den »Historismus in der Baukunst« den Begriff 100 Jahre nach dem Beginn seiner deutlich konturierten Geschichte explizit in die Kunstwissenschaft einführte, verband er mit dem Begriff nicht nur die gängige Negativwertung, die wir am Beispiel Rickerts nachgewiesen haben, sondern auch jene Problemstellungen, welche den Begriff hervorgebracht und seiner Geschichte jenseits ihrer scheinbaren Verworrenheit und Diskontinuität den gleichbleibenden Bezugspunkt gegeben hatten.18 Seine bündige Formulierung von der »europäischen Architekturkrankheit des Historismus«19 zielt ohne Umschweife das Verhältnis von historischem Wissen und Spontaneität des Handelns an, das bisher im Bereich des Denkens und des praktischen Handelns abgehandelt worden war. Wo Rickert nach Befreiung von der Last des Wissens über Kulturwerte der Vergangenheit, wo er nach kritischer Wertung im Namen des Fortschritts ruft, spielt Beenken die Forderung nach Originalität der künstlerischen Produktion gegen die »Hemmung der naiv-schöpferischen, architektonischen Gestaltungsprozesse« aus.20 Die »Krankheit« besteht für Beenken in der Lähmung des schöpferischen Geistes durch »ein geschichtliches Reflektieren und Sich-Zurückversenken in andere Zeitalter ... und ... einen Willen zur Erneuerung von Formen aller möglichen längst vergangenen Stile«. Beenken stellt dahin, »wieweit dieser Wille fähig gewesen ist, die Baukunst des 19. Jahrhunderts wirklich an ihrem eigenen Wege zu hindern und wieweit sie diesem Willen zum Vergangenen zum Trotz doch selbständig und gegenwärtig zu bleiben vermocht hat«.21 Analog zu Rickert, aber verschärft durch die zeitgenössisch beliebte Metapher von der »Krankheit« der Kunst und Kultur 22 deutet Beenken die Abwesenheit geschichtlicher Reflexion im schöpferischen Prozess als Gesundheit und Vitalität und baut einen Gegensatz zwischen Selbständigkeit und Gegenwärtigkeit 18 H. Beenken, Der Historismus in der Baukunst, in: HZ 157 (1938), S. 27–68; Belege für die weitere kunstwissenschaftliche Verwendung und Bewertung des Begriffs bei Götz, Historismus (wie Anm. 5), passim; erste Ansätze zu einer systematischen Auseinandersetzung mit dem Begriff in: Historismus und bildende Kunst, Vorträge und Diskussionen ..., München 1965 (= Studien zur Kunst des 19. Jahrhunderts, Band 1). 19 Beenken, Historismus (wie Anm. 18), S. 30. 20 Ebd., S. 27. 21 Beenken, Historismus (wie Anm. 18), S. 27. 22 Vgl. C. Steding, Das Reich und die Krankheit der europäischen Kultur, Hamburg 1938.

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auf der einen, Willen zum Vergangenen auf der anderen Seite auf. Der Historismus in der Baukunst erscheint somit als Ausdruck einer doppelten Überfremdung: Überfremdung der künstlerischen Originalität durch den schöpfungsfeindlichen Hang zur Vergangenheit und Überfremdung der Kunst und ihrer Entwicklung durch außerkünstlerische Prozesse. Wo »Historismus« wie bei Beenken als Denk- und Verhaltensweise nur als »Störung« benannt werden kann, muss die Geschichte der Kunst unabhängig sein von außerkünstlerischen Einflüssen, wie z. B. einer neuen Einstellung zur Vergangenheit. Der eigene Weg der Kunstentwicklung, so Beenkens Gedanke, würde einen solchen Einbruch geschichtlichen Denkens ausschließen. Aus einem stilgeschichtlich konzipierten Entwicklungsmodell der abendländischen Kunstgeschichte hypostasiert Beenken eine Normvorstellung nicht nur über den »bisherigen«, sondern auch über den »normalen« Zustand: »Es besteht ein in sich folgerichtiger und sinnvoller Wandel in der Abfolge der europäischen Architekturstile... Die einzelnen Glieder der Stilphasenabfolge ... sind nicht auswechselbar«.23 Diese Gegenüberstellung von »Störungen« durch »außerkünstlerische« Einflüsse wie etwa das gesteigerte historische Interesse und »normalem« Entwicklungsverlauf unterstellt jene Abgehobenheit der Kunst von der Situation ihrer historischen Entstehung, die im Denkmodell der Stilgeschichte formuliert worden ist. Historizität wird zugestanden für formimmanente Veränderungsprozesse, Zeitenthobenheit gegenüber der Lebenswirklichkeit aber mehr oder weniger deutlich und mehr oder weniger bewusst angenommen als Wesensmerkmal des Kunstwerks gegenüber anderen Produkten der menschlichen Tätigkeit. Beenken hält also für die Kunst, den Bereich des Schönen, genau an jenen Grundannahmen der Zeit- und damit Geschichtsenthobenheit fest, die, nach Ausweis der Begriffsgeschichte, durch den Historismusbegriff in Frage gestellt und diskutiert worden ist – allerdings in den anderen beiden Bereichen des klassischen Wertkanons: für das »Wahre« und das »Gute«. Begriffsgeschichtlich verweist die Analogie des Bedeutungsfeldes und die zeitliche Verspätung der Verwendung in der kunstwissenschaftlichen Rezeption auf die Vergleichbarkeit, aber auch auf die Besonderheit des kunst-wissenschaftlichen Objektbereichs: Hier geht es nicht um Normativität und Geltungsgrund philosophischer Theorien und Systeme, religiös-dogmatischer Weltauslegung, politischen, sozialen, lebensweltlichen Handelns, sondern um Formen des Schönen, Kunstwerke und ihre Geschichtlichkeit. Analog zur Begriffsgeschichte vor der kunstwissenschaftlichen Rezeption steht also bei Beenken mit dem Historismusbegriff zweierlei in Frage: die Reflexion auf Geschichtlichkeit oder Ungeschichtlichkeit des Schönen bzw. dessen Bedingtheit nicht nur durch formimmanente Wandlungsprozesse, sondern auch durch seine Einbezogenheit in gesellschaftliche, 23 Beenken, Historismus (wie Anm. 18), S. 27f.

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lebensweltliche, politische Bezüge; und die Auswirkung des neuen historischen Bewusstseins auf das Handeln oder – im Objektbereich der Kunstwissenschaft – die »Originalität« oder »Unoriginalität« künstlerischer Produktion. Mit seiner Negativwertung des Historismusbegriffs hypostasiert Beenken die Geschichtsenthobenheit und Autonomie der Kunst. Zugleich jedoch leistet er eine scharfsinnige, historisch kenntnisreiche, für die Erforschung des 19. Jahrhunderts wegweisende Analyse einer Einheit von Gedanken, Kunstwerken und Plänen, die er historistisch nennt. In genauer Entsprechung zur bisherigen Begriffsgeschichte bringen sich im kunstwissenschaftlichen Historismusbegriff zwei miteinander aufs engste verknüpfte Problemkomplexe zur Sprache: die allmählich sich Bahn brechende Erkenntnis der Historizität des Schönen; und die Spannung von historischer Bildung und gegenwärtigem Handeln bzw. künstlerischem Bilden. Beide Probleme sollen an einem Beispiel aus der gegenwärtigen kunstwissenschaftlichen Historismusdebatte verfolgt, die Methodenfrage aber dann aus dem weiteren Gang der Überlegungen ausgeschieden werden. Anhand von Wolfgang Götz »Historismus. Ein Versuch zur Definition des Begriffs« bietet sich die Möglichkeit, Ergebnisse und Problemzugänge der Begriffshistorie mit Thesen der aktuellen Historismusforschung zu konfrontieren und damit die eigentlich historische und kunstwissenschaftliche Frage nach dem Historismus in der Kunst zu stellen. Götz geht aus von einer Kritik der Negativwertung des Historismusbegriffs, wie sie bei Beenken angelegt und bei Pevsner in geradezu wörtlicher Wiederholung der herkömmlichen Topoi noch einmal kräftig affirmiert ist in seiner Definition: »Historismus ist die Tendenz, an die Macht der Geschichte in einem solchen Maße zu glauben, daß ursprüngliches Handeln erstickt und durch ein Tun ersetzt wird, das von einem Präzedenzfall einer bestimmten Zeit inspiriert ist«.24 Zugleich nimmt er Beenkens Hinweis auf, dass Historismus eine allgemein geistesgeschichtliche Erscheinung, kein speziell formgeschichtlicher Vorgang sei, lehnt aber dessen daraus hergeleitete Abwertung ab und stellt damit explizit dessen stilgeschichtliches Entwicklungsmodell und die aller kunsthistorischen Urteilsbildung vorausliegende Normvorstellung von der Autonomie der Kunst gegenüber außerästhetischen geschichtlichen Bewegungs- und Formkräften in Frage. Kunst darf nach Götz Ausdruck eines Geschichtserlebnisses sein, das sich im »Historismus« zu einem Geschichtsbewusstsein verdichtet,25 ohne per se dem Verdikt mangelnder Originalität und Qualität zu 24 N. Pevsner, Moderne Architektur und der Historiker oder die Wiederkehr des Historizismus, in: Deutsche Bauzeitung 66 (1961), S. 757, im Auszug gedruckt in: Historismus (wie Anm. 18), S. 116; vgl. auch ders., Möglichkeiten und Aspekte des Historismus, ebd., S. 13–24; Götz, Historismus (wie Anm. 5), S. 196f., vgl. auch S. 202, 203. 25 Ebd., S. 206. Der Begriff der »Autonomie der Kunst« oder der »ästhetischen Autonomie«

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verfallen.26 Indem Götz die Einbezogenheit der von ihm »historistisch« genannten Kunst in die Lebenswelt ihrer Gegenwart herausarbeitet, betont er die Unzulänglichkeit einer rein formgeschichtlichen Betrachtungsweise und macht so einen entscheidenden Schritt zur Betrachtung der Kunst aus ihrer Geschichtlichkeit. Um von der »primär formal-ästhetischen Betrachtungsweise« wegzukommen, belebt er jedoch im kunstwissenschaftlichen Kontext den von Rickert her bekannten Topos der Historismuskritik neu: die Unterscheidung von Wissenschaft und Weltanschauung in der Form der Unterscheidung von »eklektizistischer Methode« und »historistischer Gesinnung«.27 Was für Rickert die – zulässige – historistische Methode der wertneutralen, also handlungsindifferenten Geschichtswissenschaft war, ist für Götz die – zulässige – eklektizistische Methode, die im Dienst einer Gesinnung steht, welche bei Götz, im Gegensatz zu Rickert, nicht als originalitätsfeindlich verworfen wird. Die Absicht, »die Kunstgeschichte einmal als historischen ... Prozeß« zu schreiben,28 verfehlt letztlich ihr Ziel, weil Götz im Gegensatz zu Rickert diese Unterscheidung selbst nicht in ihrer Historizität, ihrem geschichtlichen und kunstgeschichtlichen Bedingungszusammenhang reflektiert. Was der Historismusbegriff in allen Bedeutungsvarianten seiner Geschichte zum Bewusst(vgl. H. Kuhn, Die ästhetische Autonomie als Problem der Philosophie der Gegenwart, in: Logos 17 (1928), S. 301–322) soll hier nur einen häufig nicht explizit gemachten Argumentationstopos andeuten; er bedürfte selbst einer genaueren Spezifizierung, weil sich in ihm oft ontologische und soziologische Kategorien vermischen (so z.B. z.T. in den Beiträgen des Sammelbandes: M. Müller u.a., Autonomie der Kunst, Zur Genese und Kritik einer bürgerlichen Kategorie, Frankfurt 1972); für eine weiterführende Klärung des auf diesen Begriff gebrachten Problems wäre m.E. an Jacob Burckhardt anzuknüpfen; vgl. W. Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit, Göttingen 1974, S. 165–200; sowie in Auseinandersetzung damit: N. Huse, Anmerkungen zu Burckhardts »Kunstgeschichte nach Aufgaben«, in: FS für W. Braunfels, hg. v. F. Piel u. J. Träger, Tübingen 1977, S. 157–166; über beide Ansätze hinausgehend wäre dabei auszugehen von Burckhardts Begriff der Kultur, der den der Künste in sich enthält, und in dem Burckhardt die idealistische und materialistische Opposition von »materiellem und geistigem Bedürfnis« letztlich aufhebt in einem freilich nicht weiter explizit gemachten Begriff der Freiheit: Arbeit und Kunst werden vermittelt durch das spezifisch menschliche Bedürfnis, das nie bei der puren Funktionserfüllung stehen bleibt: »Bei allem mit selbständigen Eifer, nicht rein knechtisch betriebenem materiellen Tun, entbindet sich ein, wenn auch oft nur geringer, geistiger Überschuß. ... Und dieser geistige Überschuß kommt entweder der Form des Geschaffenen zu gute als Schmuck, als möglichste äußere Vollendung; – die Waffen und Geräte bei Homer sind herrlich, bevor von einem Götterbilde die Rede ist; – oder er wird bewußter Geist, Reflexion, Vergleichung, Rede, – Kunstwerk; – und ehe es der Mensch selber weiß, ist ein ganz anderes Bedürfnis in ihm wach als das, womit er seine Arbeit begonnen, und dieses greift und wirkt dann weiter«, Burckhardt, Gesamtausgabe, hg. v. E. Dürr u. a., Bd. 7, (Weltgeschichtl. Betrachtungen), Berlin 1929, S. 44f. 26 Götz, Historismus (wie Anm. 5), v.a. S.208. 27 Vgl. ebd., v. a. S. 202–203. 28 H. Ladendorf, Antikenstudium und Antikenkopie, Berlin 1953, S. 76, zit. bei Götz, Historismus (wie Anm. 5), S. 212.

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sein gebracht hat: eine gegenüber aller bisherigen Geschichte neuartige Spannung von geschichtlichem Wissen und gegenwärtigem Handeln bzw. Bilden gerät in Vergessenheit, die Absicht, der Geschichtlichkeit der Formen gerecht zu werden, läuft an der mangelnden Rücksicht auf die Geschichtlichkeit von Gesinnung und des Modus von geschichtlicher Erinnerung und Reflexion selbst auf. Götz führt den Historismusbegriff eher beiläufig ein: »Das SichZurück-Beziehen auf etwas Vergangenes wird allgemein als ein Hauptindiz für den Historismus betrachtet; dieses Auswählen aus dem Formenvorrat der Kunstgeschichte, um ihn anzuwenden in der Gegenwart«.29 Er übernimmt also den uferlos ausgedehnten Sprachgebrauch, der überall dort von Historismus redet, wo »Stilaufnahmen« oder Rezeption historischer Formen stattfindet und weist dann nach, dass alle historisierende Formrezeption bedingt ist durch die Einstellung zur Geschichte überhaupt. Der – gegenüber der philosophischen und einzelwissenschaftlichen Reflexion – um ein Jahrhundert verspätete Versuch, das Denkmodell der Überzeitlichkeit und Ungeschichtlichkeit der Werte des klassischen Kanons auch im Bereich des Schönen aufzulösen, bleibt stehen bei der Rückverschiebung der Ungeschichtlichkeit vom Schönen zur Gesinnung und zum Denken. Zwar wird die Form der Absicht nach in den Zusammenhang geschichtlicher Wirk- und Bewegungskräfte gestellt, doch damit verwandelt sich nur die formgeschichtliche Ubiquität dessen, was Götz unter »Historismus« versteht, zur geistesgeschichtlichen Ubiquität. Anstelle des Schönen wird nun das historische Denken und seine Wirksamkeit in den jeweils gegenwärtigen Handlungsvollzügen enthistorisiert; das Neue, Unverwechselbare des historistischen Geschichtsdenkens, das Meinecke und Troeltsch eine »geistige Revolution« genannt haben,30 die sehr bestimmte historische Lokalisierung dieses Denkens um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, und damit auch die eigentlichen Merkmale jener von der »historischen Meinung« geprägten Kunst bleiben unbeachtet. Der Widerstand, den das »Schöne« als Bestandteil des klassischen Wertkanons seiner Historisierung entgegensetzt nimmt zuletzt die Form an, diesen Prozess selbst zu enthistorisieren.31 Dementsprechend bekämpft Götz die herkömmliche 29 Ebd., S. 197. 30 Vgl. Meinecke, Historismus (wie Anm. 5), Vorbemerkung, S. 1: » ... geistige Revolutionen, die einmal geschehen sind, können nicht ungeschehen und fürder unwirksam gemacht werden. Jede von ihnen wirkt in den Tiefen fort, auch wenn sie von einer neuen Revolution, wie sie heute wieder im Gange ist, abgelöst wird. Und das Aufkommen des Historismus war eine der größten geistigen Revolutionen, die das abendländische Denken erlebt hat.« E. Troeltsch, Die Krisis des Historismus, in: Die neue Rundschau 33,1 (1922), S. 573f.: »Der Historismus ... ist die erstliche Durchdringung aller Winkel der geistigen Welt mit vergleichendem und entwicklungsgeschichtlich beziehendem Denken, die eigentümlich moderne Denkform gegenüber der geistigen Welt, die von der antiken und mittelalterlichen, ja auch der aufgeklärt-rationalen Denkweise sich grundsätzlich unterscheidet«. 31 Der Vorgang erinnert an die Enthistorisierung von – selbst nur formbezeichnenden – Stilbegriffen, bei der ursprünglich kunst-historisch relativ genau lokalisierte Begriffe wie »Ba-

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Verachtung der historistischen Kunst mit einer Argumentation, die ihrerseits vom spezifischen Autonomiegedanken des 19. Jahrhunderts und einem aus ihm begründeten Originalitätspostulat ausgeht. Götz führt die negative Besetzung des Historismusbegriffs zurück auf das gesteigerte Originalitätspostulat von Kunsttheorie und Kunstkritik des 19. Jahrhunderts und bemüht sich zugleich um den Nachweis, dass der »Stileklektizismus« des 19. Jahrhunderts »auch schöpferische Züge tragen« könne.32 Und schließlich gibt er dem Historismus seine Originalität vor allem dadurch zurück, dass er ihn auch in Zeiten auffindet, denen so leicht niemand Spontaneität und originäre Schöpferkraft absprechen möchte, im Barock, und hier gerade wieder bei den ersten Originalgenies der Epoche: bei Bernini und Fischer von Erlach.33 Er senkt also mit der historischen Relativierung den Originalitätsanspruch an die Kunst generell, so dass auch der »stileklektizistischen Kunst des 19. Jahrhunderts« schöpferische Impulse zugesprochen34 werden können und führt zugleich den Nachweis höchst »schöpferischer« historistischer Kunst. Götz verabschiedet somit bewusst und mit prägnanter Begründung die Autonomie als Bewertungskriterium, als Denkmodell liegt sie jedoch noch immer seiner kunsthistorischen Begriffsbildung zugrunde: »Historismus in der Kunstgeschichte heißt: Kunst im Dienst einer Weltordnung, einer Staatsidee, einer Weltanschauung, die aus der Geschichte programmatisch ihre Denkmodelle und ihre Formenmodelle bezieht.«35 Das verdeckte Geltendmachen der Autonomienorm zieht die Konstruktion einer Art von Stil oder eines künstlerischen Gestaltungsprinzips nach sich, das sich entlang der abendländischen Kunstgeschichte sozusagen zeitlos durchhält: »Historismus (als Gesinnung) ist von Augustus bis Hitler natürlich nicht stets das gleiche. Aber auch die Kunst selbst ist zwischen Antike und Moderne in ihrer ästhetischen Begründung, ihren Techniken, ihren ideologischen Impulsen und ihren sozialen Bedingungen natürlich nicht stets das gleiche. Der Historismus des 19. Jahrhunderts ist nur eine zeitbedingte Sonderform des Historismus allgemein. Historismus durchwirkt die ganze abendländische Kunstgeschichte, begleitet sie als ›ein zweites Hauptthema‹ (Paatz).« Die Unterschiede von Renovatio und Renaissance, Klassik und Klassizismus, die Götz diskutiert, werden peripher gegenüber der Fundamentalkategorie »Historismus«, die Wandlungen des geschichtlichen Bewusstseins, der »Gesinnung«, die Unterschiede in den Konstellationen von Kunst und Lebensmächten fallen der Alternative: Dienst an außerästhetischen Lebensmächten oder Freiheit von außerästhetischen rock« oder »Manierismus« zur Phasenbezeichnung für ein hypostasiertes Stilablaufmodell und damit auch kunst-historisch beliebig werden. 32 Götz, Historismus (wie Anm. 5), S. 201. 33 Ebd., S. 210. 34 Vgl. ebd., S. 202–204. 35 Ebd., S. 212.

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Lebensmächten zum Opfer. Eben jene Wandlung der geschichtlichen Erfahrung und des geschichtlichen Bewusstseins, die nach Ausweis unseres begriffsgeschichtlichen Befundes die Neubildung des Historismusbegriffs hervorgebracht hat, wird eingeebnet zu einer vergleichsweise unerheblichen Veränderung. Herausgelöst aus der historischen Situation und Erfahrung, der er sich verdankt, erschließt der Historismusbegriff nur eine sehr allgemeine Vergleichbarkeit bildnerischer Phänomene über 2000 Jahre abendländischer Kunstgeschichte hinweg, nicht, wie es die Absicht war, ihre Geschichtlichkeit und damit ihre Besonderheit in der Zeit. Bezieht man die Kunstwissenschaftler Beenken und Götz in die Begriffsgeschichte von »Historismus« ein, so zeigt sich, dass sie wesentliche Bedeutungsfelder und Inhalte des Begriffs auch in der verspäteten Rezeption und jenseits der disziplinären Besonderheit entweder unreflektiert tradieren, oder ungeschichtlich reflektieren. Die Historisierung der Vernunft kehrt wieder in der Frage nach der Geschichtlichkeit der Kunst, die Problematisierung des Verhältnisses von historischem Wissen und gegenwärtigem Handeln im Thema »schöpferische Kraft und Originalität«. Diese Tradierung wesentlicher Bedeutungsgehalte des Historismusbegriffs durch die Disziplinen bis zur Rezeption in der Kunstwissenschaft selbst jedoch verweist auf eine Einheit von Problemen und Lösungsmodellen jenseits der Differenz von künstlerischer Produktion und wissenschaftlicher Reflexion. In welchen gemeinsamen Bedingungsfaktoren liegt diese Einheit begründet? Zu fragen ist nach jener zeitgenössischen Erfahrung, welche die Neubildung des Historismusbegriffs ausgelöst hat. Wir suchen die Antwort noch einmal mit Hilfe der begriffsgeschichtlichen Methode.

IV. Reinhart Koselleck hat, ausgehend von der Geschichte des Topos »Historia Magistra Vitae«, gezeigt, wie sich erst seit etwa 1750 der moderne, uns geläufige Begriff der »Geschichte« herausbildet.36 Von Cicero geprägt, in sich durchaus mehrdeutig und in der Geschichte der Geschichtsschreibung unterschiedlich ausgelegt, beherrscht der Topos die historische Pragmatistik und die historiographische Praxis bis zum Ausgang des 18. Jahrhunderts. Seine Auf36 R. Koselleck, Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: Natur und Geschichte. FS für Karl Löwith, Stuttgart 1967, S. 196– 219; vgl. dazu auch R. Koselleck u. H. Günther, Art.: »Geschichte« in: O. Brunner u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe (wie Anm. 2), Bd. 11, v. a. S. 641–691; Karl Keuck, Historia. Geschichte des Worts und seiner Bedeutungen in der Antike und in den romanischen Sprachen, Diss. Münster 1934.

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lösung sieht Koselleck durch mehrere entscheidende Verwandlungsprozesse des geschichtlichen Bewusstseins bedingt, aus denen wir drei herausgreifen. Erstens tritt an die Stelle des bislang üblichen Terminus »Historie«, der vor allem die Erzählung, die sprachliche Darstellung von Geschehenem bezeichnet, der Begriff »Geschichte«, der den Geschehniszusammenhang selbst zusammen mit dem Bericht über ihn meint. »Geschichte« ersetzt im Laufe des 18. Jahrhunderts »Historie« als einen vor allem literarisch, poetologisch reflektierten Begriff für eine literarisch-rhetorische Form, die durch ihren Gegenstand: Geschehnisse vor allem politischer Art zu beschreiben, und durch die Erzählintention: Belehrung zu praktischem Handeln zu sein, ausgezeichnet ist.37 Mit der Verschiebung des Sprachgebrauchs von »Historie« zu »Geschichte« geht die Belehrungsfunktion zunächst von der Erzählung auf die Ereignisse selbst über.38 Zweitens singularisiert der Sprachgebrauch der zweiten Jahrhunderthälfte die bislang pluralisch gebrauchten »Geschichten« zur »Geschichte«. 1748 definiert Jablonski’s »Allgemeines Lexikon der Künste und Wissenschaften« noch: »Die Geschichte sind (!) ein Spiegel der Tugend und der Laster, darinnen man durch fremde Erfahrung lernen kann, was zu tun oder zu lassen sei ...«39 1775 zieht erstmals Adelung in der lexikalischen Kodifizierung des Sprachgebrauchs die Vielzahl der Einzelgeschichten zur singularischen Form »die Geschichte« zusammen.40 Drittens bildet sich im gleichen Zeitraum, in dem der Kollektivsingular von »Geschichte« durchdringt, die neue Vorstellung und der Begriff einer »Philosophie der Geschichte«. In den seit 1760 entstehenden Geschichtsphilosophien strukturiert die Einsicht in eine spezifisch historische, in den Geschehnissen und ihrem Ablauf selbst begründete Zeit die Konzeption eines universalen Ereignisablaufs. Die Zeitkategorien, in denen bisher die Abfolge der Geschehnisse geordnet worden war, darunter die naturalen Kategorien des Sternenumlaufs und der natürlichen Erbfolge, lösen sich auf in der Zeitlichkeit der Ereignisse und ihrer Abfolge selbst. Hinter all diesen Veränderungen des historischen Bewusstseins, denen sich weitere, hier ausgesparte hinzufügen ließen, »kündigt sich ein Erfahrungswandel an, der unsere Neuzeit durchherrscht.«41 Eine neue, spezifisch neuzeitliche, in ihrer Entstehung genau datierbare und nachweisbare Zeiterfah37 Vgl. K. Heitmann, Das Verhältnis von Dichtung und Geschichtsschreibung in älterer Theorie, in: AFK 52 (1970), S.244–278. 38 Vgl. H. Luden, Handbuch der Staatsweisheit oder der Politik, Jena 1811, S. VIIf., nach Koselleck, Historia Magistra Vitae (wie Anm. 36), S. 202f. 39 Jablonski’s, Allgemeines Lexikon der Künste und – der Wissenschaften, Königsberg2 1748, Sp. 386. 40 Koselleck, Historia Magistra Vitae (wie Anm. 36), S. 203. 41 Ebd., S. 209.

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rung bringt seit 1750, beschleunigt und intensiviert seit 1789, den neuen Begriff der »Geschichte an sich« hervor, der mit seinem Bedeutungsgehalt: universaler Entwicklungsprozess zu sein, den Normativitätsanspruch der Exemplahistorien aufhebt. Die großen Taten der Antike sind als Vorbilder und Muster gegenwärtigen Handelns, Denkens und Bildens nicht mehr problemlos »gegenwärtig«. In der Kunsttheorie lässt sich dieses neue Zeitbewusstsein beobachten am Zerfall jener literarischen Gattung, in der noch am Ausgang der französischen Klassik über allen Zeitenabstand hinweg die normative Vergleichbarkeit des Früheren mit dem Gegenwärtigen vorausgesetzt worden war. Nach der »Querelle des Anciens et des Modernes« wird die vergleichende Parallele bei Schlegel und Schiller – schon mit dem Ergebnis der Einsicht in die Unvergleichbarkeit – zum letzten Mal aufgenommen.42 Der spezifisch moderne Erfahrungswandel setzt einen zweifachen Umwertungsprozess in Gang: Er entwertet Vergangenheit, soweit sie als Überlieferung und Tradition in der Gegenwart mit normativem Anspruch wirkt und präsent ist; er gibt der Vergangenheit ein neues, bislang unbekanntes Gewicht, soweit sie als Ereignisfolge Entstehungsbedingung der Gegenwart, mithin als Entwicklung gedacht ist. Die Zeiterfahrung des neuen Geschichtsbegriffs beruht auf dem Erlebnis beschleunigten und omnipräsenten Wandels in der sozialen und politischen Wirklichkeit jener Epoche, die in der deutschen Geschichtsschreibung seit Niebuhr den Namen »Revolutionszeitalter« erhalten hat.43 Jacob Burckhardt hat mit seiner Reflexion über die »geschichtlichen Krisen«, in denen er das eigene Erlebnis des Revolutionszeitalters zu verarbeiten suchte, die Kategorie bereitgestellt, in der sich der Wandel des Geschichtsbewusstseins seit der Mitte des 18. Jahrhunderts auf dem Grund des geschichtlichen Wandels begreifen lässt. Er sucht die Bestimmung der Krisenhaftigkeit einer Epoche in der temporalen Dimension auf und beschreibt Krise als »beschleunigten Prozeß«.44 Die beschleunigte Bewegung hat laut Burckhardt seit 42 Vgl. dazu H. R. Jauss, Literarische Tradition und gegenwärtiges Bewußtsein der Modernität; ders., Schlegels und Schillers Replik auf die Querelle des Anciens et des Modernes, in: ders., Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt 19745, S. 11–66 und S. 67–106. 43 Vgl. z.B.: Geschichte des Zeitalters der Revolution. Vorlesungen an der Universität zu Bonn im Sommer 1829, gehalten von B. G. Niebuhr, hg. von M. Niebuhr, 2 Bde., Hamburg 1845; L. v. Ranke in der Einleitung zur Vorlesung über ›Neueste Geschichte seit dem 18. Jahrhundert‹, publ. in: G. Berg, Leopold von Ranke als akademischer Lehrer, Studien zu seinen Vorlesungen und zu seinem Geschichtsdenken, Göttingen 1968; J. G. Droysen, Vorlesungen über die Freiheitskriege, 2 Bde., Kiel 1846; zur Konzeption des Revolutionszeitalters in der deutschen Historiographie: Hardtwig, Geschichtsschreibung (wie Anm. 25), S. 25–44; zum Wandel des Geschichtsbewusstseins neben dem bisher zitierten Aufsatz von Koselleck auch ders., Wozu noch Historie?, in: HZ 212 (1971), S. 1–18, hier S. 6–9; und: ders., Der neuzeitliche Revolutionsbegriff als geschichtliche Kategorie, in: Studium Generale 8 (1969), S. 225–238. 44 J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, Jacob-Burckhardt-Gesamtausgabe, hg. V. E. Dürr u.a., 14 Bde., Stuttgart, 1929–34, Bd. 7, S. 122.

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Beginn des Revolutionszeitalters die gesamte Existenz erfasst. »Alles bis auf unsere Tage«, heißt es im Manuskript seiner Vorlesung über die »Geschichte des Revolutionszeitalters« im Hinblick auf die Zeitgeschichte, sei »im Grunde lauter Revolutionszeitalter«. »Es ist ein und derselbe Sturm, der seit 1789 die Menschheit erfasst hat und auch weiterträgt.«45 Das Bild vom Sturm weist auf jene Erfahrung der Beschleunigung, welche die Gegenwart als Epoche der permanenten Reversibilität von den vergleichsweise statischen Verlaufsformen der vormodernen Geschichte abhebt. ›Was seither ist‹, lässt sich mit Burckhardt vor allem als ein neuartiges Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit bestimmen, ein Verhältnis, in dem Vergangenheit als selbstverständlich verhaltensnormierende Überlieferung, als Tradition fernrückt und in der Distanz reflexiver Vergegenwärtigung wieder hergestellt werden muss. Kontinuitätsbruch und die Gewinnung eines neuen, traditionskritischen Selbstbewusstseins, das den Geltungsanspruch des Überlieferten grundsätzlich bezweifelt, begründen sich auseinander, sind zugleich Movens und Folge der perennierten Bewegung des Revolutionszeitalters.46 Die Krise der Tradition in den Umbrüchen des Revolutionszeitalters und der Verlust des geschichtlich Vorgegebenen als handlungsbestimmender Lebenswirklichkeit begründet jedoch selbst die Notwendigkeit, auf der neuen Grundlage eines unübersteigbaren Distanzbewusstseins und unter dem methodischen Prinzip des »Zweifels«, hinter das auf keinen Fall zurückgegangen werden soll,47 die Vergangenheit erinnernd zu vergegenwärtigen: »Vor allem haben die gewaltigen Veränderungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts etwas in sich, was zur Betrachtung und Erforschung des Früheren und des Seitherigen gebieterisch zwingt, selbst abgesehen von aller Rechtfertigung oder Anklage. Eine bewegte Periode wie diese 83 Jahre Revolutionszeitalter, wenn sie nicht alle Besinnung verlieren soll, muss sich ein solches Gegengewicht schaffen«.48 Die Krise des Revolutionszeitalters stellt sich dar als die Beschleunigung und über das Maß früherer Krisen hinausgehende Intensivierung des Wandels von »irdischen Lebensformen aller Art: Verfassungen, bevorrechtete Stände, eine tief mit dem ganzen Zeitlichen verflochtene Religion, ein großer Besitzstand, eine vollständige gesellschaftliche Sitte, eine bestimmte Rechtsanschauung....« Diese Lebensformen widerstreben einer Änderung, aber »der Bruch ... der Sturz von Moralen und Religionen ... kommt 45 Zit. nach W. Kaegi, Jacob Burckhardt und sein Jahrhundert, Basel 1968, S. 15. 46 Vgl. u.a. J. Burckhardt, Briefe. Vollst. und krit. Ausgabe von M. Burckhardt, Bd. 2, Basel 1952, S. 201, Brief vom 13. 6. 1842. 47 In den methodischen Vorüberlegungen der ›Weltgeschichtlichen Betrachtungen‹ leitet Burckhardt eine besondere »Befähigung des 19. Jahrhunderts für das historische Studium« und damit deren kritische Methode aus der Auflösung traditionaler Begründung von Autorität her, sei es bei den Institutionen, wie den beiden »stabilen Potenzen« Staat und Kirche, sei es im Bereich des Wissens selbst; vgl. Burckhardt, Gesammelte Werke (wie Anm. 44), VII, S. 9–17. 48 Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen (wie Anm. 44), S. 11.

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doch. Inzwischen aber baut der Geist etwas Neues, dessen äußeres Gehäuse mit der Zeit dasselbe Schicksal erleiden wird«.49 Die Krisenphänomene dieser Übergangsphase und der Zerfall der vorrevolutionären Ordnung wurden weithin als »Dekorporation«, »Disproportionalisierung« und »Entsittlichung« erlebt.50 Soll nun endgültig nach dem Historismus in der Kunst gefragt werden, so gilt es zu prüfen: – erstens, ob die bislang eruierten Bedeutungskomponenten des Historismusbegriffs, dessen Geschichte nunmehr zurückbezogen wurde auf die Geschichte des Revolutionszeitalters, im Selbstbewusstsein der Künste ebenso auftreten wie in dem der Philosophie und der Wissenschaft; dies müsste sich zeigen lassen an einem neuartigen, reflexiven, »wissenden«, nicht traditionsbestimmten Verhältnis zur Wirklichkeit, an einer – wie immer artikulierten – Historisierung des Schönen und an einer ganz neuen Gewichtung der Vergangenheit als rational vergegenwärtigtem Entstehungszusammenhang und als Handlungsbedingung der Gegenwart; – zweitens, ob sich Krisenphänomene des Revolutionszeitalters in der Kunst niederschlagen. Dies müsste sich zeigen als Antwort auf Probleme oder als Befriedigung von Bedürfnissen, die aus diesen Krisenphänomenen entstanden sind. Als Antwort auf »Dekorporation«, »Disproportionalisierung« und »Entsittlichung« lassen sich denken: Integrationsverlangen und Identitätssuche; – drittens, ob sich ein Bedürfnis nach Orientierung in der Orientierungskrise der Gegenwart des Revolutionszeitalters artikuliert, das heißt, der Wunsch nach Normativität und der Anspruch, in die Wirklichkeit normativ hineinzuwirken. Diese Norm müsste gewonnen werden aus der bewusst erinnerten Vergangenheit. Ergibt sich auf diese Fragen eine positive Antwort, so sind offenbar Strukturmerkmale einer Phase künstlerischer Produktion und einer Gruppe von Kunstwerken aufgewiesen, welche historisch genau lokalisierbar und systematisch genau beschreibbar sind. Der Nachweis konstitutiver mentaler und kognitiver Verhaltensweisen, welche auch in philosophischer und wissenschaftlicher Arbeit und Selbstreflexion auftreten, würde eine Gemeinsamkeit von 49 Ebd., S. 5. 50 W. Conze, Das Spannungsfeld von Staat und Gesellschaft im Vormärz, in: ders. (Hg.), Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz, Stuttgart 1962; Die Begriffe »Dekorporation« und »Entsittlichung« entstammen dem liberal-konservativen und konservativen Denken des Vormärz; bei aller anklingenden Wertung scheinen sie geeignet zur Benennung struktureller Veränderungen im Gesellschaftsgefüge; vgl. auch die Beiträge von O. Brunner, R. Koselleck, W. Zorn und W. Fischer im selben Band; zur Bedeutung und Beurteilung des Revolutionserlebnisses vgl. u.a.: Th. Schieder, Das Problem der Revolution im 19. Jahrhundert, in: ders., Staat und Gesellschaft im Wandel unserer Zeit, München 1958, S. 11–57; Hardtwig, Traditionsbruch und Erinnerung (wie Anm. 1), S. 22f.

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Problemen und Lösungsmodellen jenseits der Differenz von künstlerischer Produktion und wissenschaftlicher Reflexion ans Licht bringen. Die Historisierung des klassischen Wertkanons des Wahren, Guten, Schönen wäre der Befund, den das Wort »Historismus« ungeachtet der disziplinären Differenz und der zeitlichen Verspätung in der Rezeption des Befunds wie des Begriffs durch die Kunstwissenschaft auf den Begriff gebracht hat. Dieser Nachweis kann hier nur in Andeutung geführt werden: schwerer als die quantitative Beschränkung des Materials auf einige Beispiele, an denen die genannten Gesichtspunkte herausgearbeitet werden sollen, wiegt dabei die qualitative Beschränkung auf theoretische Äußerungen und Selbstinterpretationen. Die Geschichte und damit der Wandel der »historistischen Kunst« selbst müssen ganz außer Betracht bleiben. Wenn dennoch der Versuch gemacht wird, »Strukturmerkmale historistischer Kunst« zu benennen, so handelt es sich um Schlussfolgerungen aus geschichtswissenschaftlicher Arbeit, die zur fächerübergreifenden Diskussion gestellt werden, nicht um kunstwissenschaftliche Analysen.

V. 1. Als Ernst Moritz Arndt, einer der Vorkämpfer für die Vollendung des Kölner Doms und insofern auch einflussreicher publizistischer Wegbereiter des Historismus in der Kunst, in der politischen Aufbruchstimmung der Freiheitskriege die Erinnerung an die vermeintlich so glanzvolle Geschichte des deutschen Mittelalters beschwor, wurde er nicht müde zu betonen: »Vergangenheit ist vergangen, und die Zeiten und Ströme fließen nimmer zu ihren Quellen zurück«.51 Gerade seine »Verehrung des Alten und die wehmütige Sehnsucht zu der verschwundenen Herrlichkeit des deutschen Reiches« habe ihm diese »gewaltige Wahrheit« aufgedrängt. Obgleich eine »furchtbare Lehre der Erfahrung« wird sie ausgehalten aus der Wendung zur Zukunft. Der Durchgang durch das Alte in der Erinnerung klärt den Entwurf dessen, was als »Neues würdig werden kann«.52 Arndt formuliert hier eben jene Erfahrung der Unaustauschbarkeit und damit letztgültigen Unvergleichbarkeit der Zeiten, die den Bedeutungswandel und Bedeutungsschwund des Historia-MagistraVitae-Topos ausgelöst hatte, und die genauso in den Selbstdeutungen und Reflexionen historisierender Künstler und Theoretiker des Historismus vorkommt als ausgeprägtes Differenzbewusstsein zur Vergangenheit, als Gegenwartspathos und als bewusster Bezug auf die Zukunft. Die neue Zeiterfahrung 51 E. M. Arndt, Entwurf einer teutschen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1814, S. 10f. 52 Vgl. ähnlich z.B. auch: A. Reichensperger, Die Christlich-Germanische Baukunst und ihr Verhältnis zur Gegenwart, Trier 18603, S. 57 u.ö.

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bewirkt ein neuartiges Bewusstsein der Zeit-Bedingtheit von Arbeitsbedingungen, Aufgaben und Gestaltungsproblemen der Kunst. Cornelius bewertet 1814 die Wiedereinführung der Freskomalerei danach, dass sie der deutschen Kunst ein Fundament »zu einer neuen, dem großen Zeitalter und dem Geist der Nation angemessenen Richtung« gebe.53 Schinkel prüft die altgriechische Baukunst, ob sie den »Bedingungen unserer neuen Weltperiode« entspricht und erwartet die »Vollendung der altdeutschen Baukunst von der kommenden Zeit«. »Um eine wirkliche Fortsetzung der Geschichte zuzulassen«, gehöre neben die »Kenntnis des gesamten historisch Vorhandenen eine Phantasie und das Divinationsvermögen, das rechte und gerade der Kunst nottuende Mehr wenigstens für die nächste Zukunft zu finden«.54 Abgesetzt von einer als irreversibel und mithin auch fremd empfundenen Vergangenheit wird die eigene Arbeit betont auf die vom Wandel her gedachte Zeitdimension der Gegenwart bezogen. Diesem zeitlichen, oder wenn man so will, historischen Singularitätsbewusstsein korrespondiert, gespeist gerade aus der Einsicht in die eigene Geschichtlichkeit, ein ganz selbstverständlich vorgetragener künstlerischer Originalitätsanspruch, der insofern in scharfem Kontrast zum heute noch weithin herrschenden Historismusverständnis und zu den wissenschaftlichen Deutungstopoi des Historismus steht, als er sich zu Eklektizismus und Verlust der schöpferischen Kraft in selbstbewussten Gegensatz stellt. Ausdrücklich richtet sich der Vorwurf unschöpferischer Müdigkeit, Gedanken- und Ausdruckslosigkeit gegen die klassizistische Tradition. Der am Historismusbegriff aufgezeigte Leitgedanke des selbständigen Handelns und Bildens lebt auf im Anspruch auf Freiheit von der bindenden Macht der Tradition. Er zeigt sich an der Herstellung eines reflexiven Verhältnisses zur Geschichte, an der Einsicht in das Gewordensein der Gegenwart und der konstitutiven Bedeutung der Vergangenheit für die gegenwärtige Wirklichkeit, der rationalen Vermittlung von Vergangenheit und Gegenwart: Schinkel z. B. erwägt, »was unsere Zeit in ihren Unternehmungen der Architektur notwendig verlangt« und findet zunächst »eine Kritik ... über das, was dem Geiste der Zeit selbst in diesen Untersuchungen ganz klar oder nicht klar ist... Zweitens ist ein Rückblick auf die Vorzeit notwendig, um zu sehen, was schon zu ähnlichen Zwecken vormals 53 Brief an Görres, 3. 11. 1814 in: E. Förster, Peter von Cornelius, Bd. 1, Berlin 1874, S. 152ff., hier: S. 155; vgl. dazu und zum Folgenden den etwa gleichzeitig geschriebenen und 1941 von Herbert von Einem publizierten Brief: H. v. Einem, Ein unveröffentlichter Brief des Peter Cornelius aus Rom, in: Deutschland-Italien, FS für W. Waetzold. Berlin 1941, S. 308ff., hier S. 309ff. 54 Aus Schinkels Nachlaß, hg. von A. v. Wolzogen, Bd. 3, Berlin 1863, S. 334, S. 199; vgl. ähnlich auch die Begründung zum Entwurf für die Begräbniskapelle der Königin Luise von Preußen (1810): »Ein jeder sollte darin gestimmt werden, viel Bilder der Zukunft zu schaffen, durch welche sein Wesen erhöht, und er zum Streben und Vollendung genöthigt würde«, ebd., S. 161.

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ermittelt ward und was als ein vollendet Gestaltetes davon für uns brauchbar und willkommen sein könne. Drittens, welche Modifikationen bei dem günstig Aufgefundenen für uns notwendig werden müssen. Viertens, wie und in welcher Art die Phantasie sich tätig beweisen müsse, für diese Modifikationen ganz Neues zu erzeugen, und wie dies ganz neu Erdachte in seiner Form zu behandeln sei, damit es mit dem geschichtlich Alten in einen harmonischen Zusammenklang komme, und den Eindruck des Stils in dem Werk nicht nur nicht aufhebe, sondern auf eine schöne Weise das Gefühl eines ganz Neuen neben dem Stilgefühl auf den Beschauer einfließen lasse, wodurch eine glückliche Schöpfung unserer Tage entstehe...«55 Tradition und gegenwärtige Reflexion treten in ein neuartiges Spannungsverhältnis. Die bewusste Anknüpfung an das Überlieferte erfolgt auf dem Grund kritischer Sichtung und klaren eigenen Urteils über das, was als bedenkens- und bewahrenswert in die eigene, Originalität beanspruchende Schöpfung eingehen soll. Die eigene Produktion ist unabdingbar an das geschichtlich Vorhandene gebunden, doch lässt sie sich die Prinzipien des Bildens nicht durch Tradition vorgeben, sondern entscheidet selbst darüber aus einer bewusst vergegenwärtigten Fülle von Möglichkeiten. In der bewussten Wiederaufnahme vergangener Formen bei gleichzeitigem Anspruch auf Umformung und Integration stellt Schinkel die unwiderrufliche und unumstößliche Distanz zur Vergangenheit her, er fordert Rückblick, nicht Rückkehr. Die kunst-historische und kunst-genetische Reflexion Schinkels erweist eigene, zeitgemäße und durch Zeitgemäßheit originale Gestaltung als möglich nur durch Überwindung der Tradition: »Ängstliche Wiederholung gewisser Anordnungen« wird abgelehnt, statt dessen die Frage aufgeworfen, »warum sollen wir immer nur nach dem Stile einer anderen Zeit bauen«, womit nicht die historistische Stilaufnahme gemeint ist, sondern das Fortarbeiten im Stilparadigma einer ungebrochenen Tradition: »Nur Mangel an Mut und eine Verwirrung vor gewissen Fesseln der Vernunft und eine Vorliebe für dunkles Gefühl und die Einräumung von dessen unbedingter Gewalt über uns, ohne einige Rücksicht auf die Verhältnisse im allgemeinen, die uns umgeben, und auf den Fortschritt, welchen wir auf unserem Standpunkt für die allgemeine Entwicklung des Menschengeschlechts zu machen wir durch die Vernunft verpflichtet werden, kann von solchem Unternehmen abhalten«.56 Schinkel bezieht seine eigene schöpferische Produktion in eine Geschichte des Fortschritts als der vernünftigen Entwicklung des Menschengeschlechts ein; sie begründet sich auf das Bewusstsein ihrer eigenen Geschichtlichkeit, ihres Ortes an einer bestimmten Stelle einer ins Unendliche offenen Entwicklung, 55 Schinkel, Gedanken, Bemerkungen und Notizen über Baukunst mit spezieller Rücksicht auf die Bearbeitung eines architektonischen Lehrbuchs, in: Wolzogen (Hg.), Schinkels Nachlaß (wie Anm. 54), S. 375. 56 Zit. nach: K. F. Schinkel, Aus Tagebüchern und Briefen, München 1967, S. 147f.

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wobei dieser Ort seine spezifischen und von aller vorherigen Kunst unterschiedenen Aufgaben und Lösungsmöglichkeiten bereitstellt. Bei seiner Gegenüberstellung von originalem Bilden und Macht des Herkommens bewegt sich Schinkel in Denkhorizont und Sprachformen aufklärerischer Traditionskritik und evoziert, übertragen, die Kantische Definition der Aufklärung als Herausführung der Kunstproduktion aus der »selbstverschuldeten Unmündigkeit«.57 Ist dieser Begriff selbst bei Schinkel verborgen hinter der Rede vom »dunklen Gefühl«, der »unbedingten Gewalt über uns«, den »Fesseln der Vernunft«, so steht er, umgekehrt zur Forderung nach Mündigkeit, bei Heinrich Hübsch programmatisch am Anfang seines Traktats ›In welchem Style sollen wir bauen?‹58 »Die Malerei und Bildhauerei haben in der neueren Zeit längst die todte Nachahmung der Antike verlassen. Die Architektur allein ist noch nicht mündig geworden, sie fährt fort, den antiken Styl nachzuahmen«. Solche Nachahmung in kanonischer Geltung gehaltener architektonischer »Exempla« kann Hübsch nur mehr in Kategorien der Herrschaft beschreiben, er findet sie »sklavisch«, traditionsgeleitetes Handeln erscheint als Unfreiheit, als Unterwerfung unter eine »durchaus fremde Vergangenheit«.59 Wie Schinkel macht er sich den in der frühen Geschichte des Historismus aufgezeigten Anspruch zu eigen, analog zu Wahrheit und ethischen Normen, das Schöne nicht als überzeitlichen, immergleichen, immer schon vorfindbaren Wert aufzufinden, sondern geht davon aus, den gegenwartsgerechten Stil in der Architektur »durch Reflexion erzeugen zu können«.60 Diese Reflexion hat von jenen Bedingungen auszugehen, von welchen die architektonische Formenbildung abhängig ist, will sie ihre Zwecke, schön, wahr und zweckmäßig zu sein, erreichen. Es sind dies »Baumaterial, technostatische Erfahrung, Klima und die allgemeinen Eigenschaften der Bedürfnisse, die in Klima und Kultur begründet sind«.61 Der von Hübsch geforderte Stil baut nicht auf einem immer gültigen Formenkodex auf, er ist nicht in Zeit und Raum übertragbar, sondern an Bedingungen des Ortes (Baumaterial, Klima) und der Zeit (technostatische Entwicklung, Kultur) gebunden.62 Hübsch bezieht den ›schönen‹ und ›wahren‹ architektonischen Stil in eine entwicklungsgeschichtliche Konzeption ein, welche er in zwei getrennte, aber 57 I. Kant, »Was ist Aufklärung«, in: Kants gesammelte Werke, hg. v.d. Kgl. Pr. Akademie d. Wiss., Bd. 7, Berlin 1912, S. 35. 58 H. Hübsch, In welchem Style sollen wir bauen, Karlsruhe 1828, S. 1. 59 Ebd., S. 30. 60 Ebd., S. 2. 61 Die Faktoren von Ort und Zeit kommen bei Hübsch schließlich im Begriff des Volkes zusammen, obgleich dieser noch nicht zum Volksbegriff des historistischen historisch-politischen Denkens entfaltet ist; zum »Fortschreiten der technostatischen Erfahrung« vgl. v.a. ebd., S. 9. 62 Ebd., S. 15.

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voneinander abhängige Entwicklungen auseinanderlegt. Die Steigerung der technostatischen Erfahrung, also eine Art Entwicklungsgeschichte der Technik, stellt die technischen Möglichkeiten für das jeweils gegenwärtige Bauen bereit, ein Stil, welcher die in der geschichtlichen Entwicklung gewonnenen technischen Möglichkeiten nicht ausschöpft, also hinter den gegenwärtigen Entwicklungsstand zurückgeht, erfüllt nicht die Kriterien des Schönen und Wahren. Wahrheit und Schönheit selbst bestimmen sich also aus ihrer Zeitgerechtheit. Diese beweist sich an der Befriedigung der »heutigen Bedürfnisse«.63 Die Bedürfnisse einer Zeit gelten als die »unmittelbaren Urheber« der architektonischen Schöpfungen. Die Bedürfnisse selbst wandeln sich im Laufe der Geschichte, Hübsch hält es für unmöglich, auf keinen Fall jedoch für wünschenswert, einmal entwickelte und befriedigte Bedürfnisse wieder aufzugeben. So ergibt sich die Geschichtlichkeit der Formen aus der Entwicklungsgeschichte der Bedürfnisse und der technischen Möglichkeiten, diese zu befriedigen. Mit der Historisierung von Bedürfnis und technischen Möglichkeiten setzt Hübsch die in die gesamtgeschichtliche Kulturentwicklung einbezogene Entwicklung der Formen sowohl gegen die ästhetische Verselbständigung der Schönheitskriterien wie gegen die Annahme von deren ungeschichtlicher Gültigkeit: »Wenn wir demnach einen Styl gewinnen wollen, welcher dieselben Eigenschaften, die wir an den als schön erkannten Bauarten so sehr erheben, besitzen soll, so muß derselbe nicht aus einer früheren, sondern aus der gegenwärtigen Beschaffenheit der natürlichen Bildungselemente hervorgehen«.64 Geringerer Kostenaufwand, größere Dauerhaftigkeit und vor allem die Möglichkeit, zeitgemäß große Räume zu überwölben, veranlassen Hübsch zur Anknüpfung an die im Mittelalter bereitgestellten Wölbungstechniken und begründen sein Votum für den Rundbogenstil gegen die klassische Tradition. Auch dort, wo sich das Programm historisierender Stilaufnahme gegen zentrale Ziele und Werte der Modernität richtet, wie bei 63 Ebd., S. 24. 64 Ebd., S. 13. Genauso versteht es sich für Schinkel »von selbst, daß das Streben nach dem Ideal in jeder Zeit sich nach den neu eintretenden Anforderungen modificieren wird, daß das schöne Material, welches die verschiedenen Zeiten für die Kunst bereits niedergelegt haben, den neuesten Anforderungen teils näher, teils ferner liegt und deshalb in der Anwendung für diese mannigfach modificiert werden muß, daß auch ganz neue Erfindungen notwendig werden, um zum Ziele zu gelangen, und daß, um ein wahrhaft historisches Werk hervorzubringen, nicht abgeschlossenes Historisches zu wiederholen ist, wodurch keine Geschichte erzeugt wird, sondern ein solches Genre geschaffen werden muß, welches im Stande ist, eine wirkliche Fortsetzung der Geschichte zuzulassen«, Schreiben Schinkels an den Kronprinzen, späteren König Maximilian II. von Bayern, über den Bau eines Königspalastes in Athen, Wolzogen (Hg.), Schinkels Nachlaß (wie Anm. 54), S. 334; vgl. z.B. auch die Argumentation für den Entwurf für das Mausoleum der Königin: die »Hauptidee« sei, »die freundliche und heitere Ansicht des Todes zu geben, welche das Christentum gewährt«; die Architektur des Heidentums sei in dieser Hinsicht »ganz bedeutungslos für uns«, aber für die »neuzuschaffende Richtung der Architektur dieser Art giebt uns das Mittelalter einen Fingerzeig«, ebd., S. 160f.

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dem Promotor der Kölner Dombau-Bewegung und der Neogotik um die Jahrhundertmitte, August Reichensperger, der sich in konservativer Aufklärungskritik gegen die liberale Handhabung von Begriffen wie »Freiheit«, »Fortschritt«, »Bildung«, »Humanität«, »Aufklärung« verwahrt, bleibt es im Paradigma dieses spezifisch modernen Entwicklungsgedankens. Reichensperger sieht die Geschichte der Individuen wie der Völker bestimmt durch ein »Moment der Freiheit«. Mit dem Begriff der Freiheit sei zugleich die Möglichkeit ihres Missbrauchs, der Begriff der Verirrung, »und folgeweise auch der Rückkehr aus selbsteigenem Antrieb und Entschluß notwendig gesetzt«. Solange die »moralische Lebenskraft eines Volkes dauert, geht die Strebung der Spirale weiter ins Unendliche, und nur scheinbar spielt die fortschreitende Kreisbewegung wieder zurück auf ihren Ausgangspunkt. Ihr Schritt zur Wahrheit hin, in welcher Richtung immer, ist Fortschritt, alles andere Rückschritt. Der unendlichen Perfektibilität steht eine unendliche Korruptibilität zur Seite«.65 Die geforderte Rückkehr zum Mittelalter erweist sich in Reichenspergers Spiralenmodell als Wiederannäherung von der Basis einer veränderten Ausgangslage aus, die korrigiert, aber nicht ungeschehen gemacht werden kann. In Gang gesetzt wird die Rückkehr als Fortschritt in der Annäherung an die Wahrheit durch »selbsteigenen Antrieb und Entschluß«.66 Autonom handelnd soll der Mensch den Gang der Entwicklung selbst bestimmen. Der Gestaltungs- und Selbstbestimmungsanspruch des neuzeitlichen Menschen ist unaufhebbar geworden, auch dort, wo ein letztlich antimodernes Programm verfolgt wird. Die Absicht kirchlicher Restauration kann den neuzeitlichen Anspruch auf Selbstbestimmung des eigenen Schicksals nicht mehr außer Kraft setzen, leitet sich vielmehr selbst aus ihm her und bestätigt ihn damit.67 Kirchlicher Restaurationswille ebenso wie politischer und gesellschaftlicher Modernisierungswille beginnt sich seine Tradition selbst zu wählen. Aus dem Horizont einer bewusst als Zeitekstasis erlebten und von aller Vergangenheit abgehobenen Gegenwart ist die Tradition verfügbar geworden. Sie hat ihren Führungsanspruch über Mentalität, kognitives Verhalten und Handeln verloren, es ist das gegenwärtige Handeln und Bilden, das sich jetzt einer wählbaren Tradition versichert. Aus der Mobilitätserfahrung der Gegenwart wird Tradition mobilisiert. Die potentielle Beliebigkeit des Rückgriffs verrät die Herrschaft der Gegenwart.

65 Reichensperger, Baukunst (wie Anm. 52), S. 50f. 66 Ebd., S. 50. 67 Vgl. so schon F. Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, Bd. IV, Freiburg 19363, S. 241f.

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V. 2. Aus den Bedingungen der Gegenwart und für die Bedürfnisse von Gegenwart und Zukunft zu arbeiten ist das erklärte Ziel der neuen, bewusst und selektiv auf die Vergangenheit zurückgreifenden Kunst. In ihrer Selbstauslegung wie in ihrer künstlerischen Produktion konzentriert sie sich auf zwei Referenzpunkte: auf Nation und Religion, und zwar in einer neuen und charakteristischen Verbindung beider. Auftraggeber und soziale Träger der Kunst waren bis dahin Fürsten, Dynastien und patrizische Familien, also Hof, Adel, Patriziat sowie die Kirche gewesen. Die Bedürfnisse und Erwartungen dieser Auftraggeber hatten Ikonographie und formale Gestalt wesentlich geprägt,68 vor allem die monumentale Kunst hatte Identifikations- und Herrschaftssymbole für »Herren mit Herrschaften« der societas civilis cum imperio geschaffen. Deren materielle Ressourcen und Bildung erlaubte die Beschäftigung und Bezahlung von Künstlern und ermöglichte Würdigung, Beurteilung und Genuss ihrer Produkte; vor allem aber schrieben Legitimitätsprinzipien und gesellschaftliche Leitbilder der societas civilis cum imperio die Repräsentation vor.69 Nirgends findet sich die Nation selbst außerhalb dynastischer Bezüge thematisiert, auch nicht in republikanisch verfassten Kleinstaaten der Frührenaissance, die sich nicht aus dem Nationalstaats-, sondern aus dem Polisprinzip herleiten. In der geschichtlichen Konstellation der europäischen Revolutions- und Nachrevolutionsjahre einerseits und der von den Zeitgenossen sogenannten Freiheitskriege andererseits bildet sich die »Nation« heraus, in den westlichen Staaten als, wie auch immer im einzelnen verfasste, rechtliche und politische Wirklichkeit, in Deutschland als politisch-soziale Leitvorstellung. Beispielhaft für diesen politisch-sozialen Wandlungsprozess und seine Auswirkung auf die Kunst ist die Entstehung des Nationaldenkmalgedankens.70 Das Denkmal, zentrale Aufgabe der Kunst seit je, findet in der Nation ein neues Subjekt, 68 Vgl. dazu in theoretischer Zusammenfassung: A. Gehlen, Zeitbilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei, Frankfurt a.M. 19652, Teil 1. 69 Vgl. ebd., S. 14ff.; speziell zur Frühneuzeit vgl. J. Frhr. v. Kruedener, Die Rolle des Hofes im Absolutismus, Stuttgart 1973, u.a. S. 21–24, S. 32–35. Zur societas civilis cum imperio als Prinzip der vormodernen Sozial- und Herrschaftsordnung: O. Brunner, Die Freiheitsrechte der altständischen Gesellschaft, und ders., Das »Ganze Haus« und die alteuropäische Ökonomik, in: ders., Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 19682, S. 187–198, S. 103– 127; vgl. auch Hardtwig, Geschichtsschreibung (wie Anm. 25). S. 273–360. 70 Vgl. dazu grundlegend: T. Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 133–173; sowie ders., Kirchen als Nationaldenkmal. Die Pläne von 1815, in: FS für O. v. Simson, Berlin 1977; zuvor: H. Schrade, Das deutsche Nationaldenkmal, München 1934, sowie jetzt G. Germann, Neugotik. Geschichte ihrer Architekturtheorie, Stuttgart 1974; S. L. Kerssen, Das Interesse am Mittelalter im deutschen Nationaldenkmal, Berlin 1975.

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denkbar erst seit deren Entstehung als »bürgerliche Öffentlichkeit, für die politische Selbstdarstellung im Denkmal nicht mehr Sache von Fürsten oder Bürokratien oder einer Amtskirche ist. Wer baut und feiert, für was gefeiert und gebaut wird, wessen gedacht wird – immer ist die aktive Nation in irgendeinem Sinn beteiligt, und noch die Denkmäler des preußischen und des bayerischen Königs appellieren an diese Nation und beziehen sie – vordemokratisch, aber nachabsolutistisch, in die Projekte ein«.71 An der Geschichte der Kölner Dombaurenovierung lässt sich zeigen, wie geschichtliche Kunst, Kunsthistorie, zeitgenössisches Kunstschaffen und der Nationalgedanke sich zu einem Interpretationszusammenhang verbinden, der die geschichtliche wie die gegenwärtige Kunst in die Mitte nationaler Identitätssuche und Identitätsbildung stellt. Der Nationalitätsgedanke leitet Auswahl und Bewertung jener geschichtlichen Kunstwerke und Kunstepochen, die, bewusst gewählt, der Gegenwart als Vorbilder hingestellt werden. Geschichte der Kunst und Geschichte der Nation verschmelzen, und in ihrer Einheit selbst enthüllt sich die Aufgabe der Kunst in der Gegenwart.72 Als Görres 1814 vorschlug, den Kölner Dom zu vollenden und zum Nationaldenkmal zu erklären, schwebte ihm ein Symbol eben dieser Einheit vor, ein Symbol, das seinen Wert nicht in historisch-kontemplativer, »ästhetischer« Abgeschiedenheit von der politischen und künstlerischen Wirklichkeit der Gegenwart erschöpfen, vielmehr ihn aus dem Anspruch gewinnen sollte, in die politische Öffentlichkeit der Gegenwart hineinzuwirken: »Solange soll Deutschland in Schande und Erniedrigung leben, preisgegeben eigenem Hader und fremdem Übermut, bis sein Volk sich wieder der Idee zuwendet, von der es sich, der Eigensucht nachjagend, losgesagt und bis es durch wahrhafte Gottesfurcht, gründlich treuen Sinn, festes Zusammenhalten in gleicher Begeisterung, und bescheidene Selbstverleugnung wieder tauglich werde, solche Werke wieder auszuführen ... Und weil wir darüber uns wieder auf uns selbst besonnen haben, darum ist auch an uns der Ruf ergangen, zu vollenden, wo jene es gelassen, und auszuführen, was ein Geschlecht, dem wir wieder gleich werden wollen, angefangen«.73 In der Anschauung jenes gotischen Bauwerks, an dem sich der neogotische Historismus als politisch-ästhetische Bewegung mit größter Breitenwirkung formierte, besinnt sich das neu entstehende Ganze, die Nation, auf sich selbst; sie klärt ihre Vorstellung über ihre eigene Vergan-

71 Nipperdey, Kirchen als Nationaldenkmal (wie Anm. 70), S. 421. 72 Über den Kölner Dom als Nationaldenkmal vgl. Kerssen, Mittelalter (wie Anm. 70), S. 16– 48, und T. Nipperdey, Der Kölner Dom als Nationaldenkmal in den 1840er Jahren, in: FS für Walter Bußmann, 1979. 73 J. Görres, Der Dom in Köln, in: Rheinischer Merkur Nr. 151, 20.11.1814, abgedruckt in: A. Reichensperger, Baukunst (wie Anm. 52), Anhang, S. 126; vgl. dazu T. Nipperdey, Kirchen als Nationaldenkmal (wie Anm. 70), S. 414f.

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genheit, ihre vermeintlichen Wesensmerkmale und ihre Zukunftsperspektiven; mit einem Wort: ihre Identität.74 Bedingung der Möglichkeit solcher Kontamination von Nation und Kunst ist der Volksgeistgedanke, ein Theorem, das die historistische Geschichtswissenschaft seit Savigny entwickelt und als komplexes, selbst wenig theoretisiertes Erklärungsmuster seinen Erzählungen und Interpretationen bis hin zu Meinecke zugrunde gelegt hat. Es meint die durchgehende Struktur oder, wie der Freiherr vom Stein sagte, den »inneren, unzerstörbaren Charakter der Nationalität«, der allem Handeln und allen Werken eines Volkes oder einer Nation zugrunde liegt, sie prägt und unverwechselbar macht, das vielfältig Einzelne zu einem Ganzen, zur Einheit zusammenfügt.75 In seinen Betrachtungen über die neu zu belebende monumentale Freskomalerei geht Cornelius 1814 von eben dieser Einheit aus und erhebt zur Aufgabe der monumentalen Kunst, den Volkscharakter zur Anschauung zu bringen, Ausdruck dieser außerästhetischen »Potenz« zu sein. Das Fresko müsste der deutschen Kunst eine »dem Geist der Nation angemessene Richtung« geben.76 Der Gedanke, den Kölner Dom zum Nationaldenkmal zu erklären, lässt über die neue Verbindung von Kunst und Nation hinaus auch eine neue Verbindung von Kunst und Religion erkennen. Für die christliche Erneuerungsbewegung seit 1800 gibt es viele Gründe.77 Es seien hier nur jene herausgegriffen, die auf die historisierende Kunst als Integrationsversuch und Identitätssuche hinweisen. Die Krise der alten Welt, ihrer politisch-sozialen Ordnung und ihrer religiösen Auslegung steht selbst im engen Zusammen74 Zur identitätsbildenden Leistung der Historie v.a.: H. Lübbe, Was heißt: Das kann man nur historisch erklären, in: Geschichte – Ereignis und Erzählung, hg v. R. Koselleck und W. H. Stempel, München 1973 (= Poetik und Hermeneutik, Bd. V), S. 542–554, 552ff.; ders., Der kulturelle und wissenschaftstheoretische Ort der Geschichtswissenschaft, in: R. Simon-Schaefer u. W. Ch. Zimmerli (Hg.), Wissenschaftstheorie der Geisteswissenschaften, Hamburg 1975, S. 132–140. 75 Frh. vom Stein, Briefe und Schriften, hg. von W. Hubatsch, Bd. 4, S, 243; vgl. T. Nipperdey, Kirchen als Nationaldenkmal (wie Anm. 70), S. 420f.; zum »Volk« als Bezugsgröße in der Architekturtheorie vgl. oben Anm. 61; Hübsch verbindet den technischen Fortschritt mit der Geschichte des Volkes: das »Fortschreiten der technostatischen Erfahrung ... muß um so regelmäßiger stattfinden, als namentlich bei demselben Volke keine frühere Erfahrung verloren geht...«, Hübsch, Style (wie Anm. 58), S. 9; Schinkel entwickelt in seinem Mausoleumsentwurf die Theorie der Gotik als deutschem Nationalstil; die »Freiheit und Ursprünglichkeit des Volksgeistes« der Deutschen habe, »fern davon, sich unbedingt dem Einfluß des Altertums hinzugeben, aus dem eigenen Freiheitssinne heraus allerdings unter Aufnahme früherer Formen eine eigen geartete Welt des Geistes und Lebens entstehen« lassen (wie Anm. 55), S. 157f.; vgl. dazu u.a. P. Frankl, The Gothic. Literary Sources and Interpretation through eight centuries, Princeton 1960; Germann, Neugotik (wie Anm. 70), S. 40–49, über die Inanspruchnahme der Gotik als englischer bzw. deutscher Nationalstil in der neogotischen Architekturtheorie. 76 Vgl. oben Anm. 55. 77 Zum Komplex: Nation und Religion und ihre Vereinigung im Denkmalsgedanken: Nipperdey, Kirchen als Nationaldenkmal (wie Anm. 70), passim.

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hang mit der neuzeitlich aufgebrochenen Differenz von innen und außen, von Subjektivität und Innerlichkeit hier, politisch-sozialer Ordnung dort. Der nach politischer Selbstbestimmung verlangende Untertan des absolutistischen Staates bedarf einer neuen Einheit von innerer Motivation, Handlungslegitimität und öffentlicher Macht, und der von oben reformierte Territorialstaat wie Preußen drängt selbst auf diese neue Einheit, wo sie der in der Tradition des absolutistischen Obrigkeitsstaates verharrende, neue »Staatsbürger« nicht haben will. In dieser Einheit sollen die Handlungsenergie und die Loyalitätsbereitschaft von Bürgern, die ihre staatliche Ordnung aus Freiwilligkeit, nicht aus Unterwerfung bejahen, dem staatlichen Handeln und dem gemeinen Wohl zugute kommen. Die Öffnung dieser Grenze zwischen Subjektivität und äußerer Ordnung ermöglicht die Vereinigung des »metaphysischen Bedürfnisses« (Burckhardt), das sich in Religion artikuliert, mit den Sinnentwürfen, die sich an die staatliche Ordnung knüpfen. Dieser Verbindung verdankt der Nationalstaat seine revolutionäre Kraft. Sie ermöglicht jene Sakralisierung der Nation und Nationalisierung des Sakralen, die in der Publizistik der Freiheitskriege und in den Entwürfen für Kirchen als Nationaldenkmäler ihren Höhepunkt erreicht.78 Vom Interesse des Staates als politischem System her gesehen birgt diese Entlassung der Innerlichkeit aus dem privaten in den öffentlichen Raum die Möglichkeit in sich, Loyalität und Tugend jenseits einer brüchig gewordenen »Theologie und Predigt des Gehorsams« neu und tiefer über die christliche Ethik zu begründen. Zu diesem Mittel der Systemstabilisierung durch politische Religion griffen alle Staaten, die nach 1789 eine revolutionäre Umgestaltung ihrer Ordnung erfuhren, sei es durch Revolution von unten wie Frankreich,79 sei es durch Revolution von oben, wie Preußen. Hatte sich die Emanzipation radikalen innerweltlichen Glücksanspruchs und der Glaube an die Machbarkeit eines rationalistisch verstandenen Glücks in der Revolutionsgeschichte schließlich in den Augen der Zeitgenossen als freiheitsfeindlich herausgestellt, so verstärkte diese Erfahrung zum einen den Rückgriff auf christliche Interpretationsmuster für die Zeitgeschehnisse, zum anderen auf jene nationale Vergangenheit, in der Nation und Religion scheinbar harmonisch vereint waren: das Mittelalter. Die integrative Leistung dieser neuen, allein aus den Ereignissen des Revolutionszeitalters zu verstehenden 78 So Nipperdey, Kirchen als Nationaldenkmal (wie Anm. 70); auf den interkonfessionellen Zug der Erneuerung des Christentums weist Nipperdey hin, ebd. S. 422 u.ö.; grundlegend zu der neuen Verbindung von Religion und Nation auch: R. Wittram, Kirche und Nationalismus in der Geschichte des deutschen Protestantismus im 19. Jahrhundert, in: ders., Beiträge zur Geschichte und Problematik des Nationalgeistes, Lüneburg 1949, S. 30–71; sowie Schnabel, Deutsche Geschichte (wie Anm. 67), Bd. IV, S. 309–320; vgl. auch F. Fischer, Der deutsche Protestantismus und die Politik im 19. Jahrhundert, gekürzt in: H. Böhme (Hg.), Probleme der Reichsgründungszeit 1848–1879, Köln 1968, S. 49–71. 79 Nipperdey, Kirchen als Nationaldenkmal (wie Anm. 70), S. 424f.

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Verbindung zwischen Religion und Nation im Staat ist daher unablösbar mit ihrer identitätsbildenden Leistung verbunden.

V. 3. Mit der Absicht auf Integration und Identitätsbildung zielt die Rückwendung zu geschichtlichen Formen des Schönen nicht auf bloße Formadaption, sondern – wie vor allem für die monumentale Kunst, für Denkmal, Kirchenbau und Fresko gezeigt wurde – auf anschauende und neuschaffende Vergegenwärtigung eines Zustandes der Nation, an den in politisch-moralischer Absicht wieder angeknüpft werden soll. Reichensperger will neben »der alten Sprache« und dem »alten Recht« die Kunst dem »neuen, jungen Leben wieder einimpfen«, sie also einbeziehen in den Kommunikationszusammenhang der Nation, nicht nur als privat interessierte Anschauung des Schönen, sondern als verhaltensprägendes und -normierendes Symbol von Interaktion.80 »Der Zustand der Künste« nämlich ist nicht bloß »ein Symptom des jedesmaligen gesellschaftlichen Zustandes, es besteht vielmehr eine Wechselwirkung zwischen ihnen, so daß man kaum zu sagen vermag, auf welcher Seite das Bedingte, auf welcher das Bedingende ist«.81 Reichenspergers Schrift über die »christlich-germanische Baukunst und ihr Verhältnis zur Gegenwart« ist ebensosehr politisch-gesellschaftliche Kampfschrift wie künstlerisches Programm.82 Die ästhetischen Kriterien erweisen sich als Kriterien auch der politisch-sozialen Ordnung. Reichensperger fordert die »harmonische Gesamtwirkung ..., worin das Einzelne, wenn auch noch so vollendet, doch immer dem Ganzen sich unterordnet, das Ganze aber seine Bestimmung, sowie überhaupt die ihm zugrunde liegende Idee in unzweideutiger, charakteristischer Weise zu erkennen gibt.«83 Der Harmonie der Proportionen und Konstruktionsteile84 entspricht die Harmonie der gesellschaftlichen Ordnung. Die Rückwendung zur Gotik richtet sich daher bei Reichensperger auf ein ganz bestimmtes, in den Stilformen anschaulich repräsentiertes Gesellschaftsmodell, das er im englischen Mittelalter verwirklicht sah: »Das von den Eroberern eingeführte Feudalsystem ... in das Gefüge der kirchlichen Struktur hineingewachsen ... bietet die bemerkenswerteste Analogie mit der gotischen Baukunst ... dar«; es erscheint »als eine wohlberechnete, mit klarer Besonnenheit abgewogene Verteilung zugleich der Macht und der Dienstbarkeit unter alle freien Genossen, 80 81 82 83 84

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Reichensperger, Baukunst (wie Anm. 52), S. 9f. Ebd., S. 46. Vgl. z.B. ebd., S. 10f. u. ö. Ebd., S. 16. Ebd., S. 27.

die durch eine abgestufte Reihe von Mittelmächten die Beherrschten mit der herrschenden Gewalt verknüpfte«.85 Zeitgeschichtlich bewusst bezieht Reichensperger das neogotische Kunstwerk zugleich auf die entstehende industrielle Welt, die mentalen und kognitiven Veränderungen, die von ihr ausgehen: Weit entfernt, wie er sagt, »den gewaltigen Aufschwung beseufzen zu wollen, den das Maschinenwesen in unseren Tagen genommen hat,« will er den Anspruch von Naturwissenschaft und Industrie doch auf die Herrschaft über die Elemente begrenzen und warnt, »nicht auch die höchsten Seelenkräfte des Menschen ihrem despotischen Szepter zu unterwerfen«.86 In scharfsinniger konservativer Industrialismuskritik bekämpft er die »Einseitigkeit, die nichts anderes gelten lassen will, als was sich messen, wägen und zählen läßt«.87 Das neogotische Kunstwerk wird zum Mittel, Wirklichkeitsbereiche des Menschen zu eröffnen und präsent zu halten, die in der Rationalität industriell geprägter Lebenswelt abgedrängt oder geleugnet werden. Vollendetes Werk und Herstellungsprozess verweisen aufeinander, indem sie der gleichen Idee verpflichtet sind. Von der handwerklichen Arbeit, die vor allem in der monumentalen Kunst zu leisten ist, verspricht sich Reichensperger die Rettung des an die Person gebundenen, von ihr begonnenen Werks, der individuellen und sinnbestimmten, der nicht-entfremdeten Arbeit.88 Noch ohne die antiindustrielle Stoßrichtung, aber in derselben Absicht hatte sich Schinkel 1819 von der Arbeit am Kölner Dom die Wiederbelebung des Kunsthandwerks versprochen; die Bauhütte sollte zur politischen, für ganz Deutschland vorbildhaften Schule für handwerkliche Ausbildung im Verein mit der rechten künstlerischen Gesinnung werden, die »alten werkmeisterlichen Tugenden unserer Vorfahren« wiederbelebt werden.89 Der Versuch, eine, historisch gesehen freilich zerfallende, Arbeitsverfassung und Arbeitsweise wieder herzustellen, enthüllt ein Interesse an Befindlichkeit und Verfasstheit des Menschen, das über eine rein ästhetische Reflexion hinausgeht. In der Klassizismuskritik von Hübsch und Reichensperger wird die Architektur, ihre Schönheit und Wahrheit, zurückbezogen auf den Menschen, der im Bauwerk seine Freiheit und seine Innerlichkeit zugleich anschaulich darstellen und erfahren will: Der klassizistische Wohnhausstil sei nicht »für freie Menschen ... am allerwenigsten für Intelligenzen, welchen das Reich der Idee und Tiefen des Daseins erschlossen sind, und die es drängt, ihr inneres Leben in entsprechenden Bildern äußerlich zu bekunden«.90

85 86 87 88 89 90

Ebd., S. 63. Ebd., S. 38. Ebd., S. 39. Ebd., S. 38. Wolzogen (Hg.), Schinkels Nachlaß (wie Anm. 54), Bd. 3, S. 194f. Reichensperger, Baukunst (wie Anm. 52), S. 26.

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An alledem wird deutlich, in welchem Maße diese Kunst versucht, in der sozialen, politischen und religiösen Wirklichkeit ihrer Zeit selbst sich zu verankern und in sie hineinzuwirken. Auf den verschiedensten Wegen sucht das Kunstwerk seinen Platz in der Mitte des Lebens: als Ermöglichung sinnerfüllter Arbeitsprozesse und humaner Lebensformen; als symbolische Integration und Identifikation der Nation; »Gottesfurcht, gründlich treuer Sinn, festes Zusammenhalten in gleicher Begeisterung und bescheidener Selbstverleugnung«, die Görres als Entstehungsbedingungen des Kölner Doms beschreibt, und um deren Wiederherstellung willen dem Dom sein Denkmalcharakter zugesprochen wird, sind nicht stilistische, ästhetische Qualitäten, sondern moralische und kommunikative Eigenschaften. Es geht darum, wie Schinkel sagt, mit Hilfe der Kunst »dem Lande einen edleren Charakter zu geben«.91 Durch die ästhetischen Kriterien hindurch wenden sich die Klassizismuskritik und die Selbstbestimmung der neuen traditionskritischen, historisierenden Kunst zur gegenwärtigen sozialen und politischen Wirklichkeit, die im Kunstwerk nicht nur implizit mit dargestellt, sondern verändert, verbessert werden soll. Dass Gemeinschaftsbildung, Arbeitsverfassung und Lebensform selbst Thema und Zweck künstlerischer Produktion werden, im Bewusstsein notwendiger Veränderung und Verbesserung, und nicht mehr implizit als bestehende Wirklichkeit im Schönen aufleuchten, dort immer schon mitgegeben sind, ist das grundlegend Neue, das diese Kunst von aller »alteuropäischen« Kunst unterscheidet. Die Kritik am klassizistischen Schönheitsideal stellt sich dar als Kritik zugleich am unwahren Verhältnis des Schönen zur Wirklichkeit und an schlechten Lebensformen. Das »Schauspielern, Kokettieren und Schwindeln, solches Pappen, Flicken und Klatschen, solcher hohler Bettelstolz, wie er sich allerwärts, bis hinauf zu den Mörtelpalästen unserer Hauptstädte aufbläht, mit einem Worte, eine solche Lügenhantierung war tief unter der Würde jener Meister des Mittelalters, deren innerstes Wesen vor allem das Gepräge der Wahrhaftigkeit und der Gesetzmäßigkeit an sich trug«92. Reichensperger sieht in der Kunstproduktion der Gegenwart auf allen Ebenen »falschen Prunk, Anarchie und babylonische Verwirrung« – Begriffe, die von der Bezeichnung geschmacklicher Verwirrung sogleich hinüberleiten zum Angriff auf eine falsche Auffassung und Darstellung von Wirklichkeit, in der der »Einklang des Wesens mit der Erscheinung«93 verlorengegangen sei. Bei Reichensperger ebenso wie Heinrich Hübsch enthält die Forderung nach Wahrheit zunächst eine Forderung nach funktionaler Richtigkeit und Zweckdienlichkeit, doch will sie mit dieser Entsprechung von Form und Leistung mehr als nur künstlerische Rationalität und Nähe in den Lebensvoll91 Zit. nach Nipperdey, Kirchen als Nationaldenkmal (wie Anm. 70), S. 415. 92 Reichensperger, Baukunst (wie Anm. 52), S. 18. 93 Ebd., S. 23.

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zügen. »Das Prinzip der früheren Kunst ist Wahrheit«94, Wahrheit, in welcher anschauliche Form und Zweckmäßigkeit übereinkommen zur Raumgestaltung, in der Wirklichkeit und Schein nicht auseinander klaffen. In der Kritik der klassizistischen Tradition, der Kritik an mangelnder Funktionalität, an der Maskenhaftigkeit von Bau-Formen als »unwahr« meldet sich der Wunsch nach Wiederherstellung der Einheit des Schönen mit dem Wahren und Guten und damit der Versuch, durch das Schöne hindurch die Lebenswirklichkeit im Ganzen normativ auszulegen, Sinnlichkeit, Gedanke und Moralität zusammenzufassen, in eine Welt, in der Politik, Ökonomik, Ethik und Ästhetik desintegriert sind zu konfligierenden Teilsystemen, einen reintegrierenden Weltentwurf hineinzutragen, eine pluralistisch sich aufspaltende Welt zu versöhnen mit Hilfe einer im Kunstwerk symbolisierten Totalität.

VI. Schinkel hat diesen Anspruch auf Normierung durch Rekurs auf die »wahre Wirklichkeit«95 präzis formuliert: »Der Architekt ist seinem Begriff nach der Veredler aller menschlichen Verhältnisse. ... In der Baukunst muß wie in jeder Kunst Leben sichtbar werden, man muß die Handlung des Gestaltens der Idee sehen und wie die ganze bildliche Natur ihr zu Gebote steht und sich herandrängt, um ihrem Willen zu genügen. Das Werk der Baukunst muß nicht dastehen als ein abgeschlossener Gegenstand, die echte wahre Imagination, die einmal in den Strom der in ihr angesprochenen Idee hineingeraten ist, muß ewig von diesem Werk aus weit fort gestalten und ins Unendliche hinausführen. Er muß dasselbe als einen Punkt betrachten, von welchem aus ganz in der Ordnung eingegangen werden kann in die unzertrennliche Kette des Universums«.96 Schinkel schließt mit dieser Reflexion an die Geschichte des alteuropäischen Idea-Begriffs an. In der Doppelbedeutung des künstlerischen Vorstellungsvermögens und des metaphysisch Wirklichen, deren Gewichtsverlagerungen Panofsky in seiner Geschichte des Idea-Begriffs dargestellt hat, verweist der Begriff auf das metaphysische Modell von Weltauslegung. Die Imagination ist nirgends beliebig, nur subjektiv, willkürlich, sondern bleibt, wie im Raum Alteuropas immer, was Panofsky verkannt hat, an ihr Substrat, die metaphysische Ordnungsganzheit gebunden.97 Schönheit ist Mitteilung der Ordnungsgestalt der Welt, ihrer Wahrheit, im Medium des sinnlich Er94 Hübsch, Style (wie Anm. 58), S. 19. 95 Vgl. dazu Hardtwig, Geschichtsschreibung (wie Anm. 25), S. 357–360. 96 Zit. nach K. F. Schinkel, Aus Tagebüchern und Briefen (wie Anm. 56). S. 146. 97 E. Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin 19602.

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fahrbaren. Das sinnlich Schöne ist Widerschein des vernünftig Wahren. Gerade diese Grundgestalt des Wirklichen meint Reichensperger, wenn er der »Idee des Wahren und Schönen« in ihrer Einheit wieder zur Anerkennung verhelfen will, und Hübsch, wenn er, Vitruv kritisierend, schreibt, die Architektur höre auf, wahr und wirklich zu sein und beginne, eine optische Kunst zu werden.98 Der Versuch, die verlorengegangene Einheit der anschaulichen Form mit der von ihr repräsentierten Wirklichkeit wieder herzustellen, der Versuch, die Einheit des Wertkanons des Wahren, Schönen, Guten wiederzugewinnen, bestätigt auf der Ebene künstlerischer Selbstreflexion jenes reflexive Verhältnis zur Wirklichkeit, das wir als Traditionsbruch und ineins damit als Modernitätsbewusstsein, als Fortschritts- und Entwicklungsgedanke, als Anspruch auf freie Selbstbestimmung gegenüber der Überlieferung beschrieben haben. Die Kunst tritt der Wirklichkeit gegenüber mit der Forderung nach ihrer Veränderung und bricht so mit ihrer traditionellen Selbstauslegung: Sie will oder kann nicht mehr Mimesis der Wirklichkeit sein, in der historistischen Thematisierung der sozialen und politischen Wirklichkeit zeigt sich, dass der Mimesisgedanke sein Fundament verloren hat: Die Annahme von der Vollkommenheit der Welt, die im Schönen, jenseits ihrer kontingenten Erscheinung, zur Anschauung gebracht wird. Wo in den Umbrüchen des Revolutionszeitalters die Wirklichkeit selbst als katastrophal empfunden wird, als desintegriert und rapide wandelbar, kann die Vollkommenheit der Welt nur mehr in ihrer Historizität dargestellt werden. Soll, wie in der bewussten und ostentativen, gegen die gegenwärtige Wirklichkeit und ihre Darstellung gerichteten Wiederaufnahme der Metaphysik des Schönen das Wirkliche als vernünftig, das Vernünftige als wirklich und beides als schön präsentiert werden, so bleibt angesichts der katastrophalen Gegenwart nur das Hereinholen eines vergangenen Ordnungsmodells von Wirklichkeit, nur so können die desintegrierten Teilbereiche des Wahren, Guten, Schönen wieder zur Einheit versöhnt werden. Bei Sinken der Dämmerung der alten Welt beginnt die Eule der Minerva ihren Flug. Das alteuropäische Modell der Weltauslegung, das seine selbstverständliche, das Bilden normierende Geltung verloren hat, wird bewusst einer Gegenwart entgegengestellt, die sich der Darstellung als exemplarischer Ordnung entzieht. Mit diesem Versuch verankert sich die Kunst bewusst in der Gegenwart und ist Teil der »neuzeitlich bewegten Geschichte« (Koselleck), indem sie Wirklichkeit nicht mehr abbilden, sondern formen und 98 H. Hübsch, Über Griechische Architektur, Berlin 1822, S. 36. Schinkel leitet seinen Bericht über das Projekt einer Kathedrale als Denkmal für die Befreiungskriege mit den Worten ein: »Die in unserem letzten Jahrzehnt so beunruhigende Aussicht für den ungünstigen Fortgang so mancher edlen Zweige des menschlichen Treibens und ganz besonders der schönen Kunst, hatte doch überall, wo Gutes und Schönes gewollt ward, ein erdrückendes Gefühl erzeugt, in welchem alle Kraft nach und nach zu versiegen schien«, Wolzogen (Hg.), Schinkels Nachlaß (wie Anm. 54), Bd. 3, S. 188.

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verändern will. Jedoch trägt sie die Entzweiung der modernen Welt nicht in sich aus, sondern sucht sie durch eine historisch gewordene Ganzheitsvorstellung zu überwinden. Dass diese Ganzheit nur im Modus der Erinnerung gelingt, die sich zur Gegenwart in ein zunehmend ästhetisch werdendes Verhältnis setzt, beschreibt die historistische Kunst selbst als einen charakteristischen Zug in der »Physiognomie der Entzweiungen«,99 welche die moderne Welt zeigt.

99 L. v. Ranke, Über die Restauration in Frankreich (1832), in: L. v. Ranke, Sämtliche Werke, Bd. 49/50, Leipzig 1887, S. 9.

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11. Nation – Region – Stadt. Strukturmerkmale des deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert Historiker des 19./20. Jahrhunderts neigten lange Zeit dazu, das Problem des politischen Regionalismus mit dem 19. Jahrhundert beginnen zu lassen und staatliche Identität, nationale Integration und politischen Regionalismus als spezifische Phänomene der modernen Gesellschaft zu betrachten. In der alten Welt habe die »Einheit von Herrschaft und Lebenswelt« in eine Vergangenheit jenseits aller Erinnerung zurückgereicht, sie sei daher als immer gültig erschienen und habe keiner besonderen Rechtfertigung bedurft. Wenn sich ein Wechsel in der politischen Herrschaft ereignete, so habe dies in der Regel die in der Landschaft lebenden Menschen nicht weiter berührt.1 Einige der Probleme, die der politische Regionalismus aufwirft, sind mit diesen Annahmen durchaus zutreffend benannt, doch scheint die Eindeutigkeit der Periodisierung problematisch – vor allem aus drei Gründen: Zum einen reicht der nationale Integrationsprozess tief in die frühe Neuzeit, selbst in das späte Mittelalter zurück;2 zum anderen sollten für die Frühe Neuzeit die ganze konfessionelle Problematik des »cuius regio eius religio« und die daraus resultierenden Spannungen im Auge behalten werden; schließlich entwickelten sich spätestens seit 1 Dieser Beitrag wurde inhaltlich geringfügig überarbeitet, in den Anmerkungen aber ergänzt durch einige wichtige Titel, die seit der Erstpublikation 1997 erschienen sind. H. Berding, Staatliche Identität, nationale Integration und politischer Regionalismus, in: ders., Aufklären durch Geschichte. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 1990, S. 248–309, hier S. 285. 2 W. Hardtwig, Vom Elitebewusstsein zur Massenbewegung. Frühformen des Nationalismus in Deutschland 1500–1840, in: ders., Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500–1914, Göttingen 1994, S. 34–54, sowie ausführlicher das Kapitel »Die Gelehrten und die Nation«, in: ders., Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Vom Spätmittelalter zur Französischen Revolution, München 1997, S. 197–238; H. Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, München 1994; G. Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806, München 1999; D. Langewiesche u. G. Schmidt (Hg.), Föderative Nation. Deutschland-Konzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000; für die Nationalisierung des Bewusstseins im Zeichen von Aufklärung und Empfindsamkeit u.a. einige Beiträge in: U. Herrmann (Hg.), Volk – Nation – Vaterland, Hamburg 1996; sowie ders. u.a. (Hg.), Machtphantasien in Deutschland: Nationalismus, Männlichkeit und Fremdenhass im Vaterlandsdiskurs deutscher Schriftsteller des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 1996; Forschungsüberblicke, die zugleich begriffliche Klärung anbieten: D. Langewiesche, Nation, Nationalismus, Nationalstaat: Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: NPL 40 (1995), S. 190–236; R. Stauber, Nationalismus vor dem Nationalismus? Eine Bestandsaufnahme der Forschung zu »Nation« und »Nationalismus« in der frühen Neuzeit, in: GWU 47 (1996), S. 139–165.

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der Mitte des 18. Jahrhunderts auch jene politischen Identitäten, die man zeitgenössisch mit dem Begriff »Patriotismus« benannte und die m. E. unmittelbar in die Vorgeschichte des modernen Regionalismus gehören. Dieser Patriotismus setzte ein neues soziales Engagement der aufgeklärten Schichten voraus und richtete sich immer auf ein historisch, dynastisch, territorialstaatlich definiertes Landesterritorium. »Mit dem Schicksal dieses Landes, das zum Vaterland (Patria) wurde, identifizierte man sich, bestrebt es zu reformieren.«3 Die politische Identitätsbildung in Mitteleuropa war schon im späteren 18. Jahrhundert durch das Nebeneinander miteinander konkurrierender Patriotismen charakterisiert, deren Ursprünge man zweifellos noch weiter zurückverfolgen kann. Die Frage der frühneuzeitlichen Vorgeschichte des modernen Regionalismus soll im Folgenden nicht weiter vertieft werden. Richtig ist zweifellos, dass sich in Deutschland mit der Territorialrevolution der Jahre 1803 bis 1815 das Verhältnis von Herrschaft und Land grundlegend veränderte. In der Tat zerbrach jetzt vielfach die alt-etablierte Identität von Lebens- und Herrschaftsräumen. »Zugehörigkeitsgefühl zur Heimat und Loyalitätsempfinden gegenüber einer dynastischen oder geistlichen Herrschaft« konnten auseinandertreten.4 Vor allem nahmen Gebietsveränderungen jetzt einen anderen Charakter an: Die neuen Staatswesen fassten ihre alten und neu hinzugekommenen Territorien unter gemeinsamen neuen Rechts- und Verfassungsord3 O. Dann u. M. Hroch, Patriotismus und Nationsbildung, unveröffentlichtes Manuskript (1994), S. 3; zum neuesten Forschungsstand zur Patriotismusdebatte sowie zur qualitativen Transformation des Nationalismus an der Wende vom 18. und 19. Jahrhundert vorzüglich W. Burgdorf, »Reichsnationalismus« gegen »Territorialnationalismus«. Phasen der Intensivierung des nationalen Bewußtseins in Deutschland seit dem Siebenjährigen Krieg, in: Langewiesche u. Schmidt (Hg.), Föderative Nation (wie Anm. 2), S. 158–189; Phasen der Intensivierung und Transformation des Nationalismus diskutiert jetzt gründlich auch U. Planert, Wann beginnt der ›moderne‹ deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit, in: J. Echternkamp u. S. O. Müller (Hg.), Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen 1760– 1960, München 2002, S. 25–60. 4 Berding, Staatliche Identität (wie Anm. 1), S. 285. Aus der inzwischen breiten Literatur zur Kontinuität zwischen den Verfassungs- und Bewusstseinsstrukturen des alten Reichs zu Realität und Konzepten eines föderativ organisierten Nationalstaats vgl. hier nur: H. Angermeier, Deutschland zwischen Reichstradition und Nationalstaat. Verfassungspolitische Konzeption und nationales Denken zwischen 1801 und 1815, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (107), Germanistische Abteilung (1990), S. 19–101; D. Langewiesche, Reich, Nation und Staat in der jüngeren deutschen Geschichte, in: HZ 254 (1992), S. 314–381; ders., Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation. Über Föderalismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte, in: Langewiesche u. Schmidt (Hg.), Föderative Nation (wie Anm. 2), S. 215–242; vgl. auch J. Whaley, Federal Habits. The Holy Roman Empire and the Continuity of German Federalism, in: M. Umbach (Hg.), German Federalism. Past, Present, Future, Basingstoke 2002, S. 15–41; lesenswert ist nach wie vor: T. Nipperdey, Der Föderalismus in der deutschen Geschichte, in: ders., Nachdenken über die deutsche Geschichte, München 1986, S. 60–109, der allerdings noch von einer sehr von der Sicht des entwickelten Nationalstaats geprägten Perspektive auf das alte Reich ausgeht.

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nungen zusammen. Dem Wechsel der Herrschaft folgten meist sehr intensive und bewusst gesteuerte Integrationsprozesse, deren Erfolg allerdings unterschiedlich rasch eintrat. Die alten Loyalitäten verschwanden nicht von einem Tag zum anderen. Aus ihnen konnte sich vielmehr ein neues Regionalbewusstsein aufbauen, das sich, soweit es irgend ging, historisch zu legitimieren suchte. Denn die Modernisierungs- und bewusste Integrationspolitik seit der Territorialrevolution und deren Sanktionierung im Wiener Kongress verschärfte die regionale Ausprägung verschiedener politischer Kulturen im Bereich des Deutschen Bundes in mancher Hinsicht und stellte die gleichzeitig sich entwickelnde Nationalbewegung vor Hindernisse, mit denen umzugehen sie schrittweise – und teilweise nach katastrophalen Misserfolgen – lernen musste. Region und Nation bildeten dabei die »Ankerpunkte eines Spannungsbogens«, der 1848/49 die Einigungspolitik und den Versuch einer gesamtstaatlichen Verfassungsbildung bestimmte.5 Seine handlungsprägende Kraft zeigte sich zum Beispiel sehr leicht fassbar an den politischen Biographien der Abgeordneten zwischen ihren regionalen Handlungsfeldern, den einzelstaatlichen Hauptstädten und der Frankfurter Paulskirche. Die konfessionellen Unterschiede, wirtschaftlichen Interessengegensätze, die Verwurzelung in den politischen Kulturen der Einzelstaaten, die damit verbundenen dynastischen Loyalitäten – all dies komplizierte den Prozess nationaler Integration. Die Revolution bewirkte allerdings trotz des kurzfristigen Scheiterns des nationalen Einigungsprojektes eine Wiederannäherung der divergenten Verfassungsentwicklung der deutschen Einzelstaaten. Sie setzte damit einen Prozess in Gang, der längerfristig ein Gegengewicht gegenüber der machtvollen und schubweise seit Jahrhundertbeginn und dann auch noch einmal nach der gescheiterten Revolution modernisierten Tradition deutscher Einzelstaatlichkeit schuf. Einzelstaatliche politische Handlungsräume und regionale konfessionelle, ökonomische und soziale Strukturen, die zum Teil die einzelstaatlichen Grenzen überschritten, blieben aber langfristig bestimmende Faktoren der entstehenden politischen Kultur des deutschen Nationalismus.6 5 H. Best, Zwischen Region und Nation. Die Abgeordneten der Thüringer Staaten in der Frankfurter Nationalversammlung, in: H. Mittelsdorf (Red.), Parlamente und Parlamentarier Thüringens in der Revolution von 1848/49, hg. v. Thüringer Landtag, Erfurt, Weimar 1998, S. 129. 6 Zur Bedeutung langfristiger regionaler Prägungen des politischen Bewusstseins etwa durch Mythen bereits sehr früh: H. Gollwitzer, Die politische Landschaft in der neueren deutschen Geschichte. Eine Skizze zum deutschen Regionalismus, in: Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte 27 (1964), S. 523–552; zur Geschichte von Wahlverhalten, Parteibildung und wirtschaftlichen Interessenverbänden: H. Best, Die regionale Differenzierung interessenpolitischer Orientierungen im frühindustriellen Deutschland – ihre Ursachen und ihre Auswirkungen auf politische Entscheidungsprozesse, in: R. Fremdling u. R. Tilly (Hg.), Industrialisierung und Raum. Studien zur regionalen Differenzierung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1979, S. 251–277; ders., Politische Regionen in Deutschland. Historische (Dis-)Kontinuitäten, in: D. Oberndörfer u. K. Schmitt (Hg.), Parteien und regionale politische

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Zwei Grundformen von politischem Regionalismus lassen sich in Deutschland im 19. Jahrhundert unterscheiden: zum einen der territorialstaatliche Regionalismus vor allem der süddeutschen, neu arrondierten, territorial erweiterten Mittelstaaten. Diese reformierten die Gesellschaft und die staatliche Verwaltung, verstärkten die Ausrichtung auf die Zentrale und setzten die Sozialisationsinstanzen Schule, Kirche und Militär gezielt ein, um einzelstaatlich-dynastische Loyalität und ein neues Staatsbewusstsein bei ihren Untertanen zu wecken. Zudem ergänzten sie ihre administrative Integration durch die höchst effektive parlamentarische Integration, die Einrichtung von Kammern. Damit gelang es in der Tat, die Liberalen, die Träger des Nationalgedankens, in die Einzelstaaten einzubinden – also, wenn man so will, ihren »Regionalismus« zu fördern. Regionalismen jedenfalls waren diese neuen einzelstaatlichen Loyalitäten aus der Sicht des vollendeten Nationalstaats bzw. deren Vorwegnahme im national-politischen Denken. Der zweite Typus umfasst die innerstaatlichen Regionalismen. Sie entstanden dort, wo territoriale Veränderungen stattgefunden hatten, also etwa bei der Angliederung der linksrheinischen Gebiete an Bayern, Hessen-Darmstadt und Preußen. Im Jahr 1848/49 kulminierten diese innerstaatlichen Regionalismen. Beim Kampf um die Reichsverfassung verfolgten z. B. die süddeutschen Demokraten zum Teil auch das Ziel, die Pfalz, Baden, Hessen-Darmstadt und Nassau zu einer Republik zu vereinigen.7 Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1991, S. 39–64; P. Steinbach, Die Politisierung der Region. Reich- und Landtagswahlen im Fürstentum Lippe 1866–1881, 2 Bde., Passau 1989; ders., Politisierung und Nationalisierung der Region im 19. Jahrhundert. Regionalspezifische Politikrezeption im Spiegel historischer Wahlforschung, in: ders., Probleme politischer Partizipation im Modernisierungsprozeß, Stuttgart 1982, S. 321–349. Zu Fragestellungen und Methoden der Regionalgeschichte (ohne speziellen Bezug auf ihr Verhältnis zur Nation) vgl. D. Briesen u. J. Reulecke, Stand und Perspektiven einer neuen Regionalgeschichte, in: Informationen zur Raumentwicklung 11 (1993), S. I-IV; allgemeiner: G. Brunn (Hg.), Region und Regionsbildung in Europa. Konzeptionen der Forschung und empirische Befunde, Baden-Baden 1996; zum neuen Forschungsinteresse an der Region im Kontext des europäischen Einigungsprozesses: G. Lottes (Hg.), Region, Nation, Europa. Historische Determinanten der Neugliederung eines Kontinents, Heidelberg 1992, darin besonders: H.-G. Haupt, Die Konstruktion der Regionen und die Vielfalt der Loyalitäten im Frankreich des 19. und 20. Jahrhunderts, S. 121–126; H.-G. Haupt u.a. (Hg.), Regional and National Identities in Europe in the 19th and 20th Century, The Hague 1998. Methodisch und in der Fragestellung weiterführend jetzt: T. Kühne, Imagined Regions. The Construction of Traditional, Democratic, and other Identities; T. Mergel, Mapping Milieus Regionally. On the Spatial Rootedness of Collectiv Identities in the 19th Century; H. Walser Smith, The Boundaries of the Local in Modern German History, in: J. Retallack (Hg.), Saxony in German History. Culture, Society, and Politics, 1830–1933, Ann Arbor 2000, S. 51–62, 78–95, 63–76. 7 Berding, Staatliche Identität (wie Anm. 1), S. 290f.; zur einzelstaatlichen Integrationspolitik vgl. M. Hanisch, Für Fürst und Vaterland. Legitimitätsstiftung in Bayern zwischen Revolution 1848 und deutscher Einheit, München 1991; sowie jetzt: A. Green, Fatherlands. StateBuilding and Nationhood in 19th Century Germany, Cambridge 2001; zur Bedeutung der

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Nach der Gründung des Norddeutschen Bundes und des Deutschen Reiches 1867 und 1870/71 entstand dann für den Nationalstaat eine Situation, die sich mit der der Mittelstaaten nach 1803/06 durchaus vergleichen lässt. Das Reich zog die Souveränitätsrechte an sich, Reichstag und Reichsbürokratie setzten einen letztlich sehr erfolgreichen Prozess der Zentralisierung und Vereinheitlichung in Gang. Eine ganz entscheidende Rolle übernahm dabei und beim Aufbau einer klein-deutschen nationalen Identität zudem die Reichsmonarchie.8 Was die Zugkraft der gesamtnationalen Identität angeht, ist es zweifellos richtig, dass bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges bei den meisten Bewohnern des deutschen Kaiserreichs die national-reichische vor der einzelstaatlich-regionalen Identität stand.9 Doch ist es sehr zweifelhaft, ob eine eindeutige Polarisierung von einzelstaatlich-regionaler und nationaler Loyalität der historischen Wirklichkeit gerecht wird. Bezeichnenderweise waren es gerade nicht-deutsche Historiker, die frühzeitig auf die Bedeutung der einzelstaatlich-regionalen Traditionen für das deutsche Nationalbewusstsein im Kaiserreich aufmerksam gemacht haben.10 Bis 1870/71 gab es keine eindeutige politische, soziale und kulturelle Identität »Deutschlands«, statt dessen koexistierten zahlreiche unterschiedliche Identitäten und die mit ihnen verknüpften Geschichtserzählungen. Diese verschwanden nach 1871 nicht einfach, sondern bestanden weiter und bildeten – jetzt überfangen von einem allmählich erstarkenden reichischen Einheitsbewusstsein – jenes Ensemble unterschiedlicher, wenn auch vielfach aufeinander bezogener Überlieferungen, das, gestützt auf die fortbestehende Staatlichkeit der »Länder«, das ge-

Kulturgeschichtsschreibung für das Verhältnis von regionaler und nationaler Identität vgl. C. Applegate, The Mediated Nation. Regions, Readers and the German Past, alle in: Retallack, Saxony (wie Anm. 6), S. 32–50. Zu den regionalen Bindungen des vormärzlichen Liberalismus vgl. W. Kaschuba, Zwischen Deutscher Nation und Deutscher Provinz. Politische Horizonte und soziale Milieus im frühen Liberalismus, in: D. Langewiesche (Hg.), Liberalismus im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Göttingen 1988, S. 83–108; H. Obenaus, Region und politisches Interesse im Vormärzliberalismus Preußens, in: ebd., S. 71–82; L. Gall u. D. Langewiesche (Hg.), Liberalismus und Region. Zur Geschichte des deutschen Liberalismus im 19. Jahrhundert, München 1995. 8 Vgl. W. Hardtwig, Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewußtsein im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, in: ders., Nationalismus und Bürgerkultur, S. 191–218; ders., Politische Topographie und Nationalismus. Städtegeist, Landespatriotismus und Reichsbewußtsein in München 1871–1914, in: ebd., S. 219–245. 9 Berding, Staatliche Identität (wie Anm. 1), S. 294; grundlegend jetzt: S. Weichlein, Nation und Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich, Düsseldorf 2004; irrig ist die Zuspitzung in der These von A. Confino, Federalism and the Heimat Idea in Imperial Germany, in: Umbach, German Federalism (wie Anm. 5), S. 75: »the new nation-state ... was allergic to competing sources of authority and legitimacy within its territory«. 10 J. Sheehan, German History 1770–1866, Oxford 1989, S. 1ff.; zuvor schon R. Evans, Rethinking German History. Nineteenth Century Germany and the Origins of the Third Reich, London 1987, ch. 3.

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schichtliche Fundament des deutschen Nationalbewusstseins abgab.11 Keinesfalls hat also das neue kleindeutsch-reichische Nationalbewusstsein ein fortbestehendes einzelstaatliches oder selbst innereinzelstaatliches Regionalbewusstsein ausgeschlossen – so wenig wie regionales Bewusstsein jeder Art vor 1870/71 nationales Bewusstsein ausschloss. Die Reichsgründung schuf ein neues Gehäuse für die Nation und bot damit den Rahmen für eine beschleunigte und intensivierte Fortsetzung der seit dem späten 18. Jahrhundert – mehr oder weniger retardiert – ablaufenden Nationsbildungsprozesse.12 Diese sogen das Bewusstsein regionaler Besonderheit nicht einfach in einem reichischen Nationalbewusstsein auf, vielmehr verstärkte sich nach 1871 und vor allem dann seit den 1880er Jahren die Tendenz, die Kluft zwischen regionaler und nationaler Zugehörigkeit im Konzept der »Heimat« zu überbrücken. Die Berufung auf die Heimat erlaubte es, die regionale Zugehörigkeit zu betonen und sich eben damit zugleich als Deutscher auszuweisen.13 Seit dem endgültigen Übergang Deutschlands vom Agrar- zum Industriestaat in den 1890er Jahren und den damit verbundenen industrialisierungskritischen und agrarromantischen Reaktionen bezog sich der »Heimat«-Begriff allerdings verstärkt auf Natur und Landschaft. Die ihm von Anfang an inhärente Komponente einer grundsätzlichen Modernitätskritik trat dabei immer stärker hervor.14 So tendierte das Konzept der »Heimat« je länger desto mehr dazu, zwar einerseits die Divergenz von Region und Nation zu überbrücken, gleichzeitig aber eine andere Friktion in der nationalen Gesellschaft – die zwischen Modernitätsverfechtern und Modernitätskritikern – zu vertiefen und damit die ursprüngliche Integrationsabsicht indirekt wieder zu unterlaufen. Vielfach bedurfte es auch gar nicht eines ausdrücklich gemachten Konzepts der »Heimat«, wie es die organisierte Heimatbewegung vertrat, um Region 11 Zum Vordringen des reichischen Einheitsbewusstseins, soweit dies an Denkmal und Fest abzulesen ist, vgl. W. K. Blessing, Der monarchische Kult, politische Loyalität und die Arbeiterbewegung im deutschen Kaiserreich, in: G. A. Ritter (Hg.), Arbeiterkultur, Meisenheim 1979, S. 185–208, bes. S. 186ff.; W. Hardtwig, Nationsbildung und politische Mentalität. Denkmal und Fest im Kaiserreich, in: ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 264–301; R. Alings, Monument und Nation. Das Bild vom Nationalstaat im Medium Denkmal. Zum Verhältnis von Nation und Staat im deutschen Kaiserreich, 1871–1918, Berlin 1996. 12 Vgl. dazu exemplarisch S. Weichlein, Sachsen zwischen Landesbewusstsein und Nationsbildung 1866–1871, in: S. Lässig u. K. H. Pohl (Hg.), Sachsen im Kaiserreich. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft im Umbruch, Weimar 1997, S. 241–270, hier S. 242f. 13 Vgl. C. Applegate, A Nation of Provincials. The German Idea of Heimat, Berkeley 1990. 14 Stärker auf die organisierte Heimatbewegung bezogen als Applegate, die das Konzept der Heimat am Beispiel der Rheinpfalz seit den 1850er Jahren verfolgt, ist A. Confino, The Nation as a Local Metaphor. Heimat, National Memory and the German Empire, 1871–1918, in: History and Memory 5 (1993), S. 42–86; ders., Die Nation als lokale Metapher. Heimat, nationale Zugehörigkeit und das Deutsche Reich 1871–1918, in: ZfG 44 (1996), S. 421–435; ders., The Nation as a Local Methaphor. Württemberg, Imperial Germany, and National Memory 1871–1918, Chapel Hill 1997.

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und Nation nicht in kontrastives, sondern in ein gegenseitiges Fundierungsverhältnis zu setzen. Das deutsche Nationalbewusstsein hatte schon in der ersten Jahrhunderthälfte Mittel und Wege gefunden, Region und Nation miteinander zu versöhnen. Neben dem einzelstaatlichen und dem innerstaatlichen Regionalismus sollte die Stadt als Ort einer eigenständigen Identitätsbildung nicht übersehen werden. Das betraf keineswegs nur die frühere freie oder Reichsstadt, sondern auch die einzelstaatliche Residenzstadt, die alte Landstadt, selbst die neue Industriestadt des 19. Jahrhunderts. Es empfiehlt sich, diesen »Lokalismus« nicht einfach dem Regionalismus zuzurechnen. Ehemalige Reichsstädte wie Nürnberg oder Augsburg gingen und gehen auch heute nicht darin auf, Teil von Regionen wie Schwaben oder Mittelfranken zu sein. Selbst Residenzstädte relativ straff zentralisierter Einzelstaaten wie Berlin oder München lassen sich, was ihre Identität bzw. ihr Selbstbewusstsein angeht, nicht auf ihre residenzstädtischen Funktionen reduzieren. Die von Fall zu Fall divergierende Tradition städtischer Eigenständigkeit, die spezifische Geschichte einer Stadt, die jeweilige kommunale Verfassung, unverwechselbare ökonomisch-soziale und kulturelle Strukturen der Stadt begründeten vielfach ein ausgeprägtes Identitätsbewusstsein, das im Gefüge der Loyalitäten von Stadt, Einzelstaat und Nation bzw. Nationalstaat durchaus eine prominente Rolle spielen konnte. Wie gesagt werden kann, dass keine andere europäische Nation so wie die deutsche ihren Nationalstaat als ein Ensemble von Einzelstaaten konstituierte,15 so ist anzunehmen, dass auch kein anderer europäischer Nationalstaat eine solche Vielzahl einzelner selbstverwalteter Städte mit so ausgeprägter eigener Geschichte, eigenem Geschichts- und Identitätsbewusstsein in sich aufnahm und integrierte wie der deutsche. Der enge, altüberlieferte und »insofern zur Identitätsbildung rückrufbare Konnex von Stadt und Bürgertum«,16 der für Deutschland z.T. bis weit in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts charakteristisch war, führte dazu, dass neben der spätabsolutistischen Territorialstruktur auch die »lokal-bürgerliche Tradition« gerade nicht zum Hemmnis auf dem Weg bürgerlicher Neuorientierung wurde, sondern dass sie ebenso wie jene zum prägenden Rahmen für den langen Übergang von der ständischen zur bürgerlichen und schließlich zur industriellen Gesellschaft und zu egalitär verfassten politischen Einheiten werden konnte.17 Erstaunlich lange – im Grunde bis 1918 (und z.T. noch darüber hinaus) – konnte das städtische Bürgertum in den rapide beschleunigten Urbanisierungsprozessen zwischen 1871 und 1914 und unter den ökonomischen und sozialen Bedin15 Confino, History and Memory (wie Anm. 14), S. 48. 16 K. Tenfelde, Stadt und Bürgertum im 20. Jahrhundert, in: K. Tenfelde u. H.-U. Wehler (Hg.), Wege zur Geschichte des Bürgertums, Göttingen 1994, S. 317–353, hier S. 317. 17 Kaschuba, Nation/Provinz (wie Anm. 7) S. 84; vgl. Tenfelde, Stadt und Bürgertum (wie Anm. 16), S. 341ff.

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gungen der Hochindustrialisierung seine politische Vorrangstellung in den Städten erhalten.18 Das erleichterte gerade bei alten städtischen Zentren ein durch rasanten Bevölkerungszuwachs, hohe Mobilität, industrielle Klassenbildung und die Neuorientierung vieler Bürger auf überörtliche Aufgaben und Interessen erstaunlich wenig gebrochenes Festhalten am überlieferten städtischen Identitätsbewusstsein. Je stärker sich dieser aus der Territorial- und Verfassungsstruktur des Alten Reiches überkommene und unter den Bedingungen der kommunalen Selbstverwaltungsrechte des 19. Jahrhunderts gewahrte, spezifisch städtische Lokalismus erhalten hatte, desto mehr bedurfte es auch eines eigenständigen Brückenschlags zwischen lokaler und einzelstaatlicher wie zwischen lokaler und nationaler Identität. Um nun das komplexe Beziehungsgefüge von lokaler, regionaler und nationaler Identität genauer beleuchten zu können, sollen im Folgenden einige Beispiele diskutiert werden, die – ungeachtet der Notwendigkeit, von Fall zu Fall zu differenzieren – doch einige weiterreichende Rückschlüsse erlauben.

Fallbeispiele: Rheinlande, Bayern, Württemberg Besonders aussagekräftig für das Verhältnis von nationaler und regionaler Identität im 19. Jahrhundert in den Jahren zwischen 1815 und 1848 in Deutschland ist zweifellos das Rheinland. 1815 an Preußen gefallen, stand es mit seiner tief verwurzelten katholischen Konfessionalität und mit seinem städtisch-bürgerlichen Charakter von Anfang an in einem deutlichen Spannungsverhältnis zum protestantisch-agrarisch geprägten Preußen. Kontroversen über das provinziale bzw. regionale Selbstverständnis der Rheinlande und den Charakter der preußischen »Nation« gab es daher seit der Angliederung. Sie verstärkten sich noch seit den Kölner Wirren 1837 und in den vierziger Jahren. Man kann drei Positionen unterscheiden: die preußisch-etatistische (die hier vernachlässigt werden kann), die katholische und die liberale, wobei die Grenzen zwischen den beiden letzteren mitunter fließender sind als man annehmen möchte. Wenn ein Liberaler von einer relativ homogenen preußischen Gesellschaft, einem »preußischen Volk« sprach, so war das mehr die Formulierung eines zukünftigen als die Beschreibung eines erreichten Zustandes. Der katholische Vorkämpfer Joseph Goerres sprach von der »rheinischen Nation« und grenzte sie von den altpreußischen Gebieten ab. Katholische rheinische Juristen verurteilten alle »auf eine Nivellierung der provinzi18 W. Hardtwig, Großstadt und Bürgerlichkeit in der politischen Ordnung des Kaiserreichs, in: L. Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im 19. Jahrhundert, München 1990, S. 19–64. Zur Beharrungskraft stadtbürgerlichen Selbstbewusstseins vgl. auch die Studien der Frankfurter Bürgertumsforschung; programmatisch: L. Gall (Hg.), Stadt und Bürgertum im Übergang von der traditionalen zur modernen Gesellschaft, München 1993.

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alen Unterschiede gerichteten Bestrebungen als unrheinisch«.19 Man insistierte also auf der provinzialen bzw. regionalen Eigentümlichkeit. Mehrfach waren aus dieser Position heraus Stimmen gegen den Vereinigten Preußischen Landtag zu hören, da dieser eine Dominanz der liberal-protestantischen Öffentlichkeit befürchten ließ. Die rheinische Besonderheit betonten wie die Katholiken auch die Liberalen, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Sie sahen in den (französischen) Institutionen und der freien Agrarverfassung Produkte der »uralten rheinischen Freiheitsliebe«. Dieser bewusst rheinische Liberalismus legte dann zunehmend seine antipreußische Frontstellung ab; 1840 warnte David Hansemann noch davor, der »Unabhängigkeit der [deutschen] Staaten nahezutreten«; die deutschen Kräfte »mögen sich vereinigen, aber es verfolge jeder Staat auf eigentümliche Weise deren Ausbildung«; im Jahr 1847 sprach Hansemann dann von »Preußens Beruf als erster Macht Deutschlands«.20 Die Liberalen waren zunehmend zu einer begrenzten Aufgabe der partikularen Freiheit bereit, um durch Einheit Freiheit für das Ganze zu erreichen. Jenseits dieser Unterschiede zwischen Katholiken und Liberalen fällt aber vor allem eine Gemeinsamkeit ins Auge: Beide betonten die preußische und deutsche Rolle des Rheinlands. Für den Demokraten Venedey hatte die Rheinprovinz die Aufgabe, »Preußen zu zwingen alle Tage immer deutscher zu werden, eine vollkommene Germanisierung Preußens mit Verfassung und Freiheitsrechten herbeizuführen«.21 Die Katholiken betonten zunehmend die Rolle der Rheinprovinz als Vermittlerin auf dem kulturell-religiösen Sektor. Die Rheinlande verbänden das südlich-katholische Element mit dem nördlich-protestantischen Preußen und brächten auf diese Weise Nord- und Süddeutschland einander näher. Bei Katholiken wie bei Liberalen zeigt sich also ein ausgesprochen regionaler Charakter der nationalen Vorstellungen. Regionale, partikularstaatliche und nationale Vorstellungen bzw. Mentalität sind hier eng verzahnt. Ein ganz ähnlicher Befund ergibt sich, wenn man sich nicht der Vorgeschichte des vorläufig gescheiterten nationalen Einigungsversuchs von 1848/49 zuwendet, sondern ein besonders signifikantes Beispiel für die möglichen Friktionen zwischen einzelstaatlichem Regionalismus und deutschem Gesamtstaats-Nationalismus im Vollzug des erfolgreichen nationalen Einigungsprozesses selbst betrachtet – die Verhandlungen des Bayerischen Landtags 1871 über den Beitritt zum Deutschen Reich. Dieser Quellenkomplex erweist sich für die Frage nach dem Verhältnis von Nationalismus, einzel19 Die Ausführungen zum rheinischen Patriotismus und Nationalismus stützen sich v.a. auf: A. Geisthövel, Nationale Vorstellungen in der preußischen Rheinprovinz 1837 bis 1847, Magisterarbeit, HU Berlin 1994, Zitate S. 90, 98. 20 Ebd., S. 96. 21 Ebd., S. 98.

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staatlichem Regionalismus und innerstaatlichem Regionalismus als höchst ergiebig und soll deshalb eingehender ausgewertet werden. Die Verträge über den Beitritt Bayerns zum Deutschen Reich wurden am 14. Dezember 1870 von der Regierung in den Landtag eingebracht; der Landtag setzte seinerseits eine Kommission mit 15 Mitgliedern ein, die entsprechend der Fraktionsstärke der einzelnen Parteien von der Patriotenpartei dominiert wurde, die den Vertrag ablehnte. Vom 11. bis 21. Januar 1871 debattierte der Landtag über das Majoritätsgutachten (Ablehnung der Verträge) und das Minoritätsgutachten (Beitritt zum Reich), bevor die Verträge am 21. Januar mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit äußerst knapp angenommen wurden (102 gegen 48 Stimmen). Von der Patriotenpartei stimmten 32 Abgeordnete für den Beitritt; die Fraktion brach darüber in einen nationalen und einen partikularistischen Flügel auseinander – eine Entwicklung, die sich bereits bei der Bewilligung der Kriegskredite im Juli 1870 angekündigt hatte.22 Die Gegner der Verträge führten insbesondere folgende Kritikpunkte an: die angebliche Mediatisierung Bayerns in einem gesamtdeutschen Nationalstaat unter deutlich sichtbarer preußischer Führung; den – wie sie unterstellten – unaufhaltsamen Trend des neuen Reichs zum preußisch dominierten Einheits- und zum halbabsolutistischen Militärstaat; und schließlich die befürchtete Einschränkung der bürgerlichen Freiheiten durch die neue Reichsverfassung. Die Hauptargumente der Befürworter dagegen lauteten: der Gang der historischen Entwicklung sei auf ihrer Seite, die Einheit Deutschlands unabwendbar; Bayern sei außerhalb des Deutschen Reiches weder wirtschaftlich noch politisch existenzfähig; trete Bayern dem neuen Reich nicht bei, so bliebe die Stellung der Bayerischen Pfalz ungeklärt. Als befremdlich könnte die Tatsache erscheinen, dass die Einigungsgegner konfessionelle Fragen und insbesondere die künftige Stellung der Katholiken im protestantisch dominierten Reich überhaupt nicht ins Feld führten. Der Grund hierfür lag zum einen darin, dass sich der hohe bayerische Klerus bereits im Vorfeld – in der Kammer der Reichsräte, später auch öffentlich – zustimmend zu einem Beitritt geäußert hatte; zum anderen musste selbst der Wortführer der Patrioten (Jörg) zugeben, dass ihn verschiedentlich Katholiken außerhalb Bayerns für einen Beitritt zu gewinnen suchten. Deren Argument lautete, dass das katholische Element im Reich durch einen Beitritt Bayerns gestärkt und dann »im deutschen Reichstag eine starke ›katholische Fraktion‹ wirksam sein und von der obersten Bundesregierung sicherlich nicht unter22 Dazu noch immer: M. Doeberl, Bayern und die Bismarcksche Reichsgründung, München 1925; T. Schieder, Die kleindeutsche Partei in Bayern in den Kämpfen um die nationale Einheit 1863–1871, München 1936, hier bes. S. 256ff.; K. Bosl, Die Verhandlungen über den Eintritt der süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund und die Entstehung der Reichsverfassung, in: T. Schieder u. E. Deuerlein (Hg.), Reichsgründung 1870/71. Tatsachen, Kontroversen, Interpretationen, Stuttgart 1970, S. 148–163.

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schätzt werden würde«.23 Auch die Befürworter des Beitritts sprachen die konfessionelle Frage wenig an. Andererseits fällt auf, dass die Redner nicht nur auf die politischen Einheiten »Deutsche Nation« und »Bayern« Bezug nahmen, sondern – deutlich davon geschieden – auch auf Regionen innerhalb des bayerischen Staates, die Pfalz, Schwaben, Altbayern, Franken, und auf die lokale Ebene, wobei die Stimmung in einzelnen Gemeinden und in den jeweiligen Wahlkreisen der Abgeordneten diskutiert wurde. Die Notwendigkeit des Beitritts Bayerns zum Reich wurde fast ebenso häufig mit regionalen wie gesamtbayerischen Zwängen und Entwicklungen begründet. Zugespitzt formuliert, gewinnt man aus der Debatte sogar den Eindruck, als habe sich der während der Formationsphase des Deutschen Reiches stark anschwellende Regionalismus innerhalb Bayerns nur in der größeren politischen Einheit Deutschlands bändigen lassen. Überblickt man die Argumente und Formulierungen, die auf einen Loyalitätskonflikt bzw. -ausgleich zwischen den verschiedenen politischen Einheiten schließen lassen, so ergibt sich eine Reihe aufschlussreicher Beobachtungen. Zunächst fällt auf, dass alle Redner unter »Vaterland« selbstverständlich Bayern verstanden. War hingegen das Deutsche Reich als »Vaterland« gemeint, so musste eine sprachliche Differenzierung hinzutreten, z. B. das »größere Vaterland«, von dem Bayern als das »engere Vaterland« abgegrenzt wurde; der Begriff »Nation« war für Deutschland reserviert.24 Auffallend häufig wurde der Beitritt Bayerns zum Reich mit dem Modell der Familie in Verbindung gebracht: Bayerns Teilnahme am Krieg sei eine Unterstützung der Familie durch den zurückkehrenden Sohn, dafür werde dieser am Herd und Herzen der Eltern und Geschwister im Vaterhaus aufgenommen.25 Bayern als Tochter Germanias werde sich, so die Zukunftsprognose, im Verbund mit den anderen Geschwistern der »jüngeren aber körperlich stärkeren Schwester Borussia« durchaus erwehren können;26 alle Stämme seien »Söhne des einen deutschen Vaterlands«;27 das Kleinod Bayern solle der gemeinsamen Mutter Deutschland anvertraut werden.28 Schließlich wurde die föderative Struktur des neuen Reiches mittels zweier unterschiedlicher Konstruktionsmodelle verdeutlicht: entweder durch den Gegensatz Süddeutschland – Norddeutschland (bzw. Preußen), wobei Bayern als staatliche Einheit neben Sachsen, 23 Die Debatte ist abgedruckt in: Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtages im Jahre 1870/71, Bd. IV; Stenographische Berichte Nr. 65–86; sowie: Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtages im Jahre 1870/71, Beilagen-Band IV, hier Beilage CV, S. 93. 24 Vgl. ebd. die Reden von Sepp, Völk, Schauß u.a. 25 Völk, ebd., Nr. 73, S. 159. 26 Gürtler, ebd., Nr. 74, S. 169. 27 Herz, ebd., Nr. 74, S. 185. 28 Von Schlör, ebd., Nr. 75, S. 204.

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Württemberg etc. trat, oder durch das Prinzip der sich im Reich vereinigenden deutschen Volksstämme. Dieses letztere Modell bot für Bayern den Vorteil, dass es von der Dominanz des preußischen Staates ablenkte, sich im Zweifelsfall stärker diversifizieren ließ – nicht nur Bayern, sondern auch Schwaben, Franken und Pfälzer traten auf – und damit regionalen Identitäten entgegenkam. Ein ganzer Komplex von Argumenten gruppierte sich um die Überzeugung, dass Bayern seit jeher ein untrennbarer Bestandteil Deutschlands gewesen sei, dass sich also bayerischer Patriotismus und deutscher Nationalismus notwendigerweise ergänzten. Den Reichsfreunden galt die Zugehörigkeit Bayerns zum Deutschen Reich ohnehin als selbstverständlich. Zusätzlich wurden dazu jedoch noch historische Argumente gebraucht, die den bayerischen Anteil an der Reichseinigungspolitik verdeutlichen sollten. Eine interessante Sonderstellung nahm dabei die Rede des Abgeordneten Sepp (früher Patriotenpartei, dann Einheitsbefürworter) ein, der aus einer Art »negativer« Reichspolitik Bayerns heraus die Notwendigkeit des Beitritts begründete. Der leitende Minister Lutz wies bei der Einbringung der Verträge darauf hin, dass Bayern immer ein Bestandteil von Deutschland, seine Zugehörigkeit im Gegensatz zu Deutsch-Österreich nie umstritten gewesen sei.29 Der Abgeordnete Gerstner warnte: Wenn man aufhöre, »deutsch zu sein, dann hören wir auch auf, bayerisch zu sein«.30 Und der Abgeordnete Sepp ergänzte: Jedes Mal, wenn Bayern sich vom Reich getrennt habe, habe dies mit einer Niederlage Bayerns geendet (von der Hermannsschlacht bis zur Vielvölkerschlacht von Leipzig 1813); man höre nicht auf, Bayer zu sein, wenn man sich mit den übrigen Deutschen verbinde; wäre Bayern schon früher reichsfreudig gewesen, hätten Elsass und Lothringen längst zurückerobert werden können; Deutschland werde erst durch den Beitritt Bayerns zu einer »Weltmacht«.31 Insgesamt vermengten sich bei Sepp Stolz auf Bayern und Tadel der bisherigen Reichspolitik Bayerns; das hieß aber umgekehrt auch: Nur weil das mächtige Bayern jetzt reichsfreudig sei, könne die Einheit Deutschlands zustande kommen.32 Eine andere und gewichtige Argumentationskette begründete daneben die Zustimmung zur nationalen Einheit aus den spezifisch einzelstaatlichen Interessen Bayerns. Hier gewinnt man den Eindruck, dass die Zahl der Einheitsanhänger gar nicht so sehr durch die Werbung für den Nationalgedanken als durch geschickte Hinweise auf das partikularistische Interesse Bayerns vergrößert wurde.33 So etwa wies der Abgeordnete Gerstner darauf hin, dass die dro29 30 31 32 33

Ebd., Nr. 66, S. 21. Ebd., Nr. 73, S. 142. Sepp, ebd., Nr. 73, S. 143–147. Vg1. auch ebd., Nr. 74, S. 174; Nr. 75, S. 199; Nr. 78, S. 283. Vgl. dazu die Kommentierung bei Schieder, Kleindeutsche Partei (wie Anm. 22), S. 286: In

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hende Isolierung Bayerns teurer käme als ein Bundesstaat Bayern; eine Orientierung auf Österreich würde Bayern in seiner wirtschaftlichen Entwicklung zurückwerfen; im übrigen könne der Beitritt zum Reich in Bayern selbst zu einer besseren Verwaltungspraxis führen.34 Der Abgeordneten Völk meinte, dass eine Beibehaltung der Selbständigkeit Bayern in Zukunft zum Spielball der anderen Mächte machen werde.35 Ein konservativ-partikulares Argument führte der Abgeordnete Fugger-Blumenthal an: Der Hauptcharakter des Bayern sei die Königstreue, deshalb müsse man dem Wunsch des Monarchen nach Beitritt folgen.36 Moderner und rationalistischer war dagegen das Argument, dass eine Sonderstellung Bayerns dessen Industrie und Finanzlage zerrütten würde.37 Wie schon erwähnt, spielte in der Debatte die Existenz innerbayerischer Regionalismen und deren mögliche Verstärkung im Zuge einer nationalen Reichsbildung ohne Bayern eine erhebliche Rolle. So war die künftige Stellung der Rheinpfalz ein Hauptargument der Beitritts-Befürworter. In der Tat, wäre Bayern nicht in den Bund eingetreten, so hätte die Gefahr bestanden, dass sich die dann nur von anderen Bundesmitgliedern umgebene Provinz über kurz oder lang von Bayern getrennt hätte. Es gab also einerseits ein erhebliches regionales Interesse der Pfalz am Beitritt Bayerns zum Reich – ein Interesse, das auch auf andere Regionen, insbesondere Franken, übergriff. Beide Regionen sahen ihre Entwicklungschancen besser im Reichsverband als im staatlichen Verband eines selbständigen Bayern gewahrt; diese regionalen Interessen hatten die nichtpfälzischen und nichtfränkischen Abgeordneten in Rechnung zu stellen. Völk etwa argumentierte, dass Bayern möglicherweise auch in Zukunft als völlig unabhängiger Staat bestehen bleiben könnte, allerdings nur, »wenn dieser Staat homogen zusammengesetzt wäre, wenn ein Volksstamm diesen Staat bilden würde«.38 Der Abgeordnete Golsen (Pfalz) wies darauf hin, dass der Wohlstand der Pfalz auf den Zollverträgen beruhe; trete Bayern dem Reich nicht bei, so habe die Pfalz zwei Souveräne; man wolle Bestandteil Bayerns bleiben, aber mit Bayern dem Deutschen Reich für immer angehören; es gebe kein Interesse an einer ausgedehnteren Selbstständigkeit Bayerns als in den Versailler Verträgen festgeschrieben;39 die Pfalz – so weiter Golsen – hätte sich bei Ausbruch des Kriegs durchaus für neutral erklären können, schließlich habe sie auch schon einmal zu Frankreich gehört; den Reden der Linken sei die »nationale Idee nicht so rein und erhebend zum Durchbruch« gekommen »wie sonst bei manchen anderen Gelegenheiten«. 34 Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtages; Stenographische Berichte, Nr. 73, S. 139–142; vgl. auch Nr. 74, S. 169. 35 Ebd., Nr. 73, S. 158. 36 Ebd., Nr. 74, S. 174. 37 Ebd., Nr. 74, S. 184. 38 Ebd., Nr. 73, S. 158. 39 Ebd., Nr. 76, S. 229f.

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allerdings habe man gerade während des Krieges auch den Nutzen des Militärbündnisses mit Preußen erkannt. Schließlich kam auch noch die Eigenständigkeit Bayrisch-Schwabens ins Spiel. Der Abgeordnete Hafenmaier erklärte: das ganze Allgäu wolle die Annahme der Verträge, da das württembergische Schwaben bereits im Reiche sei.40 Der Abgeordnete Frankenberger ergänzte: Zur Vollendung der nationalen Einheit werden sich die Brüder im Allgäu und Franken die Hände reichen; wenn nur die Pfalz, aber nicht Bayern beitrete, so bedeute dies eine klaffende Wunde, die vielleicht zu einer größeren Amputation führen müsse – womit die Trennung der Neubayern von Bayern und ihr selbständiger Eintritt ins Reich gemeint war.41 Der Abgeordnete Hohenadel brachte diese Argumentationsreihe schließlich auf den entscheidenden Punkt: Pfalz, Schwaben und die fränkischen Provinzen gravitierten zum Reich – die Gegner des Beitritts verdürben am Ende Bayern.42 Statt der Mainlinie – so war mehrfach zu hören – drohe jetzt die Donaulinie.43 Eine Ablehnung der Einheit aus regionalspezifischen Erfahrungen und Argumenten heraus blieb dagegen ganz vereinzelt. So erklärte der Abgeordnete Ruland zwar, er als Franke wisse, was preußische Herrschaft bedeute: »Ich fürchte, daß das Böse, was wir nahezu an hundert Jahren einst durch die Preußen erfuhren, im Frankenlande erfahren haben, daß das Böse auch das große bayerische Land erreichen könnte.«44 Doch wurde ihm bezüglich der Stimmung in Franken sofort widersprochen. Es waren tatsächlich die Neubayern, die sich am energischsten für die nationale Einheit aussprachen. Einzelne Regionen – so zeigt dieser Strang der Diskussion – wollten den Beitritt; zögen die anderen nicht mit, so zerfalle Bayern. Zugespitzt formuliert hieß das nichts anderes, als dass die politische Einheit »Bayern« nur durch den Beitritt zum Reich erhalten werden konnte. Aufschlussreich für das Verhältnis von einzelstaatlichem Regionalismus und nationalem Einheitsideal ist schließlich, wie die künftige Stellung und Aufgabe Bayerns im Deutschen Reich interpretiert wurde. Die Abgeordneten sahen Bayerns »Mission« im Neuen Reich vor allem darin, dass Bayern einer Entwicklung des Reichs zum Einheitsstaat entgegentreten und einen föderalen Reichsaufbau wahren werde. Aufgrund seiner Größe galt Bayern als der natürliche Führer aller außerpreußischen Staaten und der künftige Widersacher Preußens; aus dieser Rolle wachse dem Staat neuerlich Macht und Ansehen zu. Auf der Grundlage dieses Argumentationsmusters ließen sich einzel40 Ebd., Nr. 77, S. 254. 41 Ebd., Nr. 78, S. 272. 42 Ebd., Nr. 80, S. 325. 43 Verhandlungen der Abgeordneten des bayerischen Landtages, Beilage CV, S. 103. 44 Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtages, Stenographische Berichte, Nr. 72, 5. 132.

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staatlicher Patriotismus und gesamtstaatlicher Nationalismus sehr wohl vereinen, ja sie ergänzten und stützten sich gegenseitig. Das Minoritätsgutachten rechnete damit, dass es durch den Beitritt Bayerns zu einer Liberalisierung der Reichsverfassung kommen werde; die durch »die liberalen Elemente des Südens verstärkten freisinnigen Parteien im Reichstage« würden in diese Richtung wirken.45 Mehrfach war das Argument zu hören, dass der Beitritt Bayerns den Partikularismus im Neuen Reich stärken und das Gewicht Süddeutschlands vermehren werde.46 Wenn Bayern nicht beitrete, drohe der Einheitsstaat.47 Bayern und sein König seien der »naturgemäße Führer aller mindermächtigen Staaten«; wenn man den Unitarismus verhindern wolle, müsse man in das Reich hinein.48 Bayerns Beitritt werde von allen Staaten ersehnt, um die partikularistischen Elemente des neugegründeten Reichs zu stärken.49 Die Beitrittsverhandlungen im bayerischen Landtag und die dabei ausgetauschten Argumente können allerdings nicht schlechtweg als typisch für das Verhalten und die Denkweisen in den Einzelstaaten bei der Reichsgründung gelten. In Bayern verkörperte sich das einzelstaatliche Sonderbewusstsein noch ausgeprägter als in manchen anderen deutschen Ländern, daher musste auch besonders heftig und intensiv diskutiert werden. Die zur Kontrolle herangezogenen Verhandlungen des Württembergischen Landtags 1870 über den Beitritt zum Reich geben ein deutlich anderes Bild und lassen erkennen, dass die Intensität des einzelstaatlichen Regionalismus – ebenso wie die der innerstaatlichen Regionalismen – unterschiedlich ausgeprägt war. In Rechnung zu stellen sind dabei allerdings auch die unterschiedlichen Voraussetzungen für die Debatte selbst. Zum einen stand – im Gegensatz zu Bayern – in Württemberg aufgrund einer kurz zuvor abgehaltenen Landtagswahl von Beginn an fest, dass die Verträge eine ausreichende Mehrheit in der Kammer der Abgeordneten finden würden. Die Debatten waren daher weit weniger erregt und auch weniger grundsätzlich als in Bayern. Da die Gegner der Verträge zu keinem Zeitpunkt damit rechnen konnten oder mussten, dass ihre Haltung den Beitritt Württembergs zum Reich verhindern könnte, waren sie auch nicht 45 Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtages, Beilage CV, S. 84; vgl. auch dass., Stenographische Berichte, Nr. 78, S. 269. 46 Ebd., Nr. 73, S. 157. 47 Ebd., Nr. 76, S. 234; Nr. 74, S. 185. 48 Ebd., Nr. 80, S. 321, 324. 49 Ebd., Nr. 77, S. 257; vgl. auch Nr. 76, S. 216; in den süddeutschen Schulbüchern des Kaiserreiches nahmen die Beitrittsverhandlungen dann nur wenig, der deutsch-französische Krieg dagegen sehr viel Platz ein; insgesamt blieb der Geschichtsunterricht stark von einzelstaatlichen Traditionen geprägt, bis seit etwa 1900 die Überformung durch den nationalen Zuschnitt des Geschichtsbildes zunahm, vgl. K. D. Kennedy, Regionalism and Nationalism in South German History Lessons 1870–1914, in: German Studies Review XII (1989), S. 11–33; zur Amalgamierung von regionalem und nationalem Geschichtsunterricht auch Weichlein, Nationsbildung (wie Anm. 9).

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gezwungen, ihre Vorstellungen von einem weiterhin selbständigen Württemberg genauer auszuführen. Zum anderen war die Debatte in wesentlich geringerem Maße als in Bayern von der Loyalitätskonkurrenz zwischen Region, Partikularstaat und Nation geprägt. Regional – etwa im Sinne eines Gegensatzes von katholischen Oberschwaben und protestantischen Stuttgarter Hauptstädtern etc. – wurde überhaupt nicht argumentiert, partikularstaatlicher Stolz auf württembergische Errungenschaften blitzte nur äußerst selten auf.50 Die Verhandlungen bestimmte daher die Kritik der Vertragsgegner an den überhasteten Beitrittsverhandlungen noch während des Krieges und an einzelnen Passagen der künftigen Reichsverfassung. Insbesondere das Militärsystem, der Militäretat und die Bedrohung von Presse- und Vereinsfreiheit gerieten in die Kritik. Wenn es überhaupt partikularstaatliche Kritik am Beitritt gab, so argumentierte sie nie mit Württemberg allein, sondern immer mit »Süddeutschland« als größerer politischer Einheit, der Württemberg automatisch zugeordnet wurde. Als Vorbild für die Erringung umfassenderer Sonderrechte innerhalb des Reichs galt Bayern, und es wurde bedauert, dass man sich nicht enger an die bayerische Verhandlungsführung angeschlossen habe. Sowohl für die Gegner wie für die Befürworter schien jedoch unausgesprochen und übereinstimmend festzustehen, dass Württemberg die kritische Größe für eine tragfähige Selbständigkeit nicht erreichte. Ähnlich wie bei den Diskussionen in Bayern spielte allerdings das Argument eine Rolle, dass durch die neu ins Reich eintretenden Staaten das föderative Element des Reichs gestärkt werde.51 Im Unterschied zu Bayern jedoch schien diese Stärkung nur im Verbund mit den anderen Süddeutschen, nicht durch den alleinigen Beitritt Württembergs gewährleistet.

Lokale Denkmalskulturen im Kaiserreich Stützten sich diese Bemerkungen zum rheinischen und zum bayerischen Regionalismus bzw. Nationalismus auf das Zeugnis der Publizistik und Parlamentsreden bzw. -petitionen, so soll das Verhältnis von nationaler, regionaler und lokaler Identität nunmehr anhand von Denkmälern genauer untersucht werden. Für jede Art von Identitätsbewusstsein – das lokale, das einzelstaatliche, das innerstaatliche und das nationale – spielte die Erinnerungskultur eine herausragende Rolle. Beim einzelstaatlichen Regionalismus förderten die Staaten und Monarchen bewusst die Staats- und Dynastiegeschichte und 50 Verhandlungen der Württembergischen Kammer der Abgeordneten von 1870 bis 1872, Erster Protokoll-Band, Stuttgart 1870/71, passim. 51 Vgl. z.B. ebd., S. 35, 57.

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pflegten einzelstaatliche Mythen, die geeignet schienen, Staatsbewusstsein und Loyalität zur Dynastie im Bewusstsein und im politischen Gefühl der Bürger bzw. der Untertanen zu verankern.52 Systematisch wurden Kontinuitätslinien dynastischer, stammesmäßiger oder verfassungsgeschichtlicher Provenienz gezogen. Auch die innerstaatlichen Regionalismen beriefen sich natürlich auf die Geschichte der Landschaft, der Heimat und der ehemaligen Herrschaft. Die Denkmäler als die Erinnerungsstätten spiegeln das Problem des Verhältnisses von Stadt, Region und Nation allerdings nicht in allen Facetten wider. Sie sind schon qua notwendiger staatlicher Erlaubnis herrschaftsabhängig. Denkmäler sind – von Typ zu Typ unterschiedlich, aber im Ganzen doch unübersehbar – Produkte eher staatsnaher als staatskritischer sozialer Gruppen. Und schließlich ist an die prinzipielle Konsensbezogenheit der Denkmäler zu erinnern: Die Denkmalsrhetorik betont immer wieder, dass die Stätten der Erinnerung für alle da seien und dass sie prinzipielle gruppenübergreifende Identifikationsangebote machen. Diese Absicht beschränkt zweifellos die Aussagekraft der Denkmäler für bestimmte Fragestellungen. Für das Verhältnis von Stadt, Region und Nation lässt sich gleichwohl vieles von ihnen, ihrer Entstehungsgeschichte und der Diskussion um sie ablesen. Denn im Denkmal vollzieht sich im 19. Jahrhundert ganz wesentlich jene »invention of tradition«, die die angelsächsische Nationalismusforschung seit einigen Jahren in den Vordergrund gerückt hat. Das politische Denkmal in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist in der Regel das einzelstaatliche. Seit dem späten 18. Jahrhundert setzte zudem die »Patriotisierung« und »Moralisierung« der Denkmalsidee ein. Das Denkmal soll zu bürgerlicher Tugend erziehen, es soll den einzelstaatlichen Patriotismus wecken und stärken.53 Symptomatisch dafür ist – um ein Beispiel herauszugreifen – das Kreuzbergdenkmal in Berlin 1817/18 von Friedrich Schinkel. Es sollte an die Befreiungskriege erinnern und dabei den Gehalt einer ganzen Reihe von Einzeldenkmälern, die auf den Schlachtfeldern der Befreiungskriege errichtet werden sollten, in Berlin bündeln. Träger der Denkmalsinitiative war Friedrich Wilhelm III. von Preußen. Als Ort wählte man den Tempelhofer Berg, der denkmalstopographisch keinerlei besondere Eignung vorzuweisen hatte, außer, dass er die höchste Erhebung im Umkreis Berlins war.54 Vom Erinnerungswert her hätte es sehr viel näher gelegen, ein Denkmal auf dem Schlachtfeld von Leipzig zu errichten. Tatsächlich gab es, wie bekannt, lebhaf52 Hanisch, Fürst (wie Anm. 7), passim. 53 Vgl. T. Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: ders, Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufsätze zur neueren Geschichte, Göttingen 1976, S. 133–173, hier S. 133ff. 54 Vgl. P. Bloch, Das Kreuzberg-Denkmal und die patriotische Kunst, in: Jahrbuch preußischer Kulturbesitz XI (1973), S. 142–159.

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te Bemühungen zu einem solchen – im Blick auf die nationalpolitische Bedeutung, die den Befreiungskriegen zugesprochen wurde – zentralen Monument. Diese Initiativen scheiterten. Statt dessen ließ der preußische Monarch an einem erinnerungspolitisch gleichgültigen Ort ein Denkmal errichten, das auch mit optischen Signalen die Erinnerung an die Befreiungskriege im Sinne eines einzelstaatlichen Zentralismus bündeln sollte. Er machte sich also den Erinnerungsgedanken partiell zu eigen, blockierte aber damit gerade, was mit den Leipziger Denkmalsinitiativen erreicht werden sollte: ein für alle gleich verbindliches Zeichen des gesamtnationalen Gedenkens. Diese Indienstnahme des politischen Denkmals für die Verankerung partikularstaatlicher Identität ist in der ersten Jahrhunderthälfte die Regel. Auch das erste verwirklichte große Nationaldenkmal in Deutschland, die Walhalla Ludwigs I. bei Regensburg, verbindet bekanntlich den kulturnationalen Anspruch mit der Legitimierung der staatenbündischen Ordnung des Deutschen Bundes. Im Restaurationsklima der fünfziger Jahre eignete sich gerade das kulturnationale Denkmal mitunter vorzüglich dazu, die nachrevolutionär gedämpften, aber im Scheitern des revolutionären Einigungsversuchs keineswegs untergegangenen nationalpolitischen Hoffnungen im Sinne einzel-

Abb. 4: Nationaltheater mit Goethe-Schiller-Denkmal in Weimar (1857)

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staatlich-monarchischer Legitimitätssteigerung zu kanalisieren – wie etwa beim Goethe-Schiller-Doppeldenkmal von 1857 in Weimar.55 Eine starke regionalistische Fundierung weisen auch die Entstehungsgeschichten der großen Nationaldenkmäler des Kaiserreichs noch auf, vom Niederwalddenkmal bis zum nicht mehr verwirklichten Riesenprojekt eines Bismarck-Nationaldenkmals bei Bingerbrück, das vorrangig vom Westen Deutschlands getragen wurde, während der Süden und noch viel stärker der Osten Deutschlands sich entschieden zurückhielten.56 Generell kann man sagen, dass die deutsche Denkmalbewegung in ihrer nationalen Ausdehnung keineswegs auf regionale Bezüge verzichtete, sondern die Nation als eine »föderale Einheit regionaler Beziehungsnetze« darstellte.57 Selbst residenzstädtisch-lokale Denkmalskulturen dokumentieren, welche Rolle die Präsentation einzelstaatlicher Identität noch im Kaiserreich spielen konnte. Ein gutes Beispiel dafür bietet die bayerische Haupt- und Residenzstadt München. Die Stadt war schon in der Frühen Neuzeit in ihrer anschaulichen Gestalt von der Dynastie wesentlich mitgeprägt worden. In deren Zeichen stand denn auch die politische Topographie, wie sie sich im Laufe des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat.58 Den Monarchen wurde jeweils an zentraler Stelle ein charakteristisches Denkmal gesetzt: dem Gründer des Königreichs, Max I. Joseph, im Typus eines Philosophendenkmals, dessen Sohn Ludwig I. ein Reiterdenkmal in seiner Prachtstraße, der Ludwigstraße, dessen Sohn Maximilian II. ein Standbild wiederum in seiner Prachtstraße, der Maximilianstraße. Im Kaiserreich dagegen verlor sich die eindeutige landesdynastische Dominanz in der Denkmalstopographie. Für Ludwig II. ergriff ein privater Verein eine erfolgreiche Denkmalsinitiative, das Standbild selbst wurde jedoch auf 55 Wolfgang Hardtwig, Das Denkmal der Kulturnation, in: D. Appelbaum (Red.), Das Denkmal. Goethe und Schiller als Doppelstandbild in Weimar, Tübingen 1993, S. 154–157; vgl. den Beitrag von L. Ehrlich im selben Band; sowie A. Green, Fatherlands (wie Anm. 7), S. 298ff. 56 M. Dorrmann, Das Bismarck-Nationaldenkmal am Rhein. Ein Beitrag zur Geschichtskultur des Deutschen Reiches, in: ZfG 44 (1996), S. 1061–1089, hier S. 1069f.; vgl. Das KaiserWilhelm-Denkmal der Provinz Westfalen auf der Hohensyburg. Denkschrift, hg. von dem geschäftsführenden Ausschuß, Dortmund 1889, S. 12: »Wandern nun die Bewohner der Provinz Westfalen zu dem Kaiser Wilhelm-Denkmal, so begegnen sie sich nicht nur in der Liebe zum ganzen deutschen Vaterlande, sondern auch in der ermutigenden Freude über die Zusammengehörigkeit der in Freud und Leid zusammenstehenden Heimatgenossen, als die Nachkommen der alten Sachsen. Und gerade aus diesem – in dem Manne aus dem Volke leichter zu entzündenden – Stammesgefühl saugt die Vaterlandsliebe ihre beste Nahrung.« (Freundlicher Hinweis von Gunther Mai, Erfurt). 67 C. Tacke, Denkmal im sozialen Raum. Nationale Symbole in Deutschland und Frankreich im 19. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 196. 58 Vgl. dazu ausführlicher W. Hardtwig, Soziale Räume und politische Herrschaft. Leistungsverwaltung, Stadterweiterung und Architektur in München 1870 bis 1914, in: W. Hardtwig u. K. Tenfelde (Hg.), Soziale Räume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im Vergleich 1850 bis 1933, München 1990, S. 59–153, hier S. 123–128.

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Abb. 5: Denkmal für König Max I. Joseph in München

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den Brückenpfeiler einer abgelegenen Isarbrücke abgeschoben. Für den seit 1886 regierenden Prinzregenten Luitpold schließlich gab es zum 90. Geburtstag 1911 die private Stiftung eines Reiterdenkmals für Otto von Wittelsbach, den Gründer der Dynastie. Das Monument selbst war nicht kontrovers, wohl aber der Ort der Aufstellung. Der Prinzregent selbst wünschte den Odeonsplatz als Standort. Damit wäre vor der Feldherrenhalle, durch den anschaulichen und inhaltlichen Bezug des Reiterdenkmals auf die bayerischen Feldherren Tilly und Wrede, eine rein dynastisch-militärische Platzikonologie entstanden – so jedenfalls argumentierte die zuständige, 1901 vom Prinzregenten selbst berufene Monumentalbaukommission und lehnte diese Platzierung ab. Man setzte das Reiterdenkmal schließlich auf den Platz vor dem Bayerischen Heeresmuseum, wo es heute den Eingang zum architektonischen Monstrum der neuerrichteten Staatskanzlei markiert – hinter dem in den Boden versenkten Kriegerdenkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs aus den 1920er Jahren. In diesem Fall dominiert eindeutig der einzelstaatlich-landesdynastische Bezug des Denkmals. Ähnlich beim »Friedensengel«, dem weithin sichtbaren Monument am Isarhochufer. Dieses Denkmal – ein Friedensgenius auf einer hohen Säule – wurde 1896 bis 1899 von der Stadtgemeinde errichtet, aus Anlass der 25. Wiederkehr des Friedens von Frankfurt.59 In der Ikonographie des Denkmals und in der Einweihungsrede des Ersten Bürgermeisters fehlt es nicht an Bekundungen eines kräftigen reichischen Nationalismus. Aber in diesem von der bayerischen Haupt- und Residenzstadt getragenen Monument tritt ein spezifisch bayerisch-einzelstaatlicher Patriotismus doch sehr deutlich hervor. Das Denkmalsprogramm stellte die bayerischen Generäle neben die Kaiser des Deutschen Reichs, neben den Organisator der preußischen Heeresmacht, Roon, den Generalstabschef Moltke und den politischen Reichsgründer Bismarck. Die Festansprachen und Kommentierungen hoben dieses bayerische Sonderbewusstsein noch stärker hervor mit dem Hinweis auf die Ruhmestaten der bayerischen Armee, mit den Huldigungen an den Prinzregenten und dem Hinweis auf Ludwig I. als Schöpfer gesamtnationaler Denkmäler wie der Befreiungshalle von Kelheim – der »monumentalen Verherrlichung des deutschen Gedankens«.60 Es ist bemerkenswert, wie stark dieses Fest der republikanischen Stadtgemeinde München im Zeichen der Repräsentation der einzelstaatlich-monarchischen Herrschaft stand. In unserem 59 Ausführlicher ebd., S. 128–133. 60 Zit. n. ebd., S. 129f.; für die Stadtplanung ist das starke lokale und regionale Beharrungsvermögen kürzlich an einem Beispiel analysiert worden, bei dem eine nationalpolitische Ideologisierung nach 1871 besonders nahelag: Straßburg; vgl. A. Maas, Stadtplanung und Öffentlichkeit in Straßburg 1870–1918/25. Vom Nationalbewusstsein zur regionalen Identität städtischer Interessengruppen, in: C. Cornelissen u.a. (Hg.), Grenzstadt Straßburg. Stadtplanung, kommunale Wohnungspolitik und Öffentlichkeit 1870–1940, St. Ingbert 1997, S. 207–275.

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Zusammenhang kommt es darauf an zu sehen, wie hier eine kommunale Denkmalsetzung in den Dienst einzelstaatlich-dynastischer Herrschaftsdarstellung trat, wie dieser Landespatriotismus stark gemacht wurde, aber sich gleichwohl mit einem ausgeprägten reichsbezogenen Nationalismus vertrug – jenseits aller Kontroversen, die eben darüber in den Zeitungen ausgetragen wurden. Die Denkmalskultur einzelstaatlicher Residenzstädte gibt allerdings nur unzulänglich Auskunft über das tatsächliche Verhältnis von nationaler, regionaler und städtischer Identität. Tiefer hinein in deren komplizierte Gemengelage führt ein drittes Beispiel, die Denkmalskultur Nürnbergs. Nürnberg war bis 1806 freie Reichsstadt gewesen, wurde dann nach Bayern einverleibt, bewahrte sich aber ein lebhaftes Sonderbewusstsein, zu dem im Kaiserreich das reichsstädtische Erbe, die protestantische Prägung in dem mehrheitlich katholischen Bayern und die Herrschaft des Kommunalliberalismus wesentlich beitrugen.61 Anders als im Falle Münchens fällt hier die starke städtisch-lokalpatriotische Verankerung der Denkmalskultur ins Auge. Im Zentrum der Aufmerksamkeit standen Denkmäler für lokale bürgerliche »Heroen« von allerdings überregionaler Bedeutung: das Dürer-Denkmal, schon 1828 konzipiert und 1840 eingeweiht, das Denkmal für Hans Sachs, 1840 begonnen, aber erst 1874 abgeschlossen, Denkmäler für den Bildschnitzer Veit Stoß, den Buchdrucker Franz Koberger oder den Kosmographen Martin Behaim.62 Dieser Lokalismus schloss nationale Aspekte der jeweiligen Denkmalssetzung nicht aus, im Gegenteil, er disponierte eher für nationale Konnotationen, allerdings nur für ganz bestimmte. Das erste große Nationaldenkmalsprojekt des Kaiserreichs, das Niederwalddenkmal von 1883, fand in Nürnberg minimale Resonanz. Die Sammlungen blieben so gut wie erfolglos, kein Mensch besichtigte die Entwürfe, und die lokale Presse interessierte sich kaum für die Einweihungsfeier. Hingegen waren der Bau und die Einweihung des HansSachs-Denkmals im Jahr 1874 für Bürger und Stadtverwaltung gleichermaßen ein Großereignis. Die Nürnberger betrachteten es als ihr Nationaldenkmal, ähnlich wie das Dürer-Denkmal. Beide, Sachs und Dürer, repräsentierten die »goldene Zeit Nürnbergs«, und damit auch die Deutschlands, die im Denkmal vergegenwärtigt wurde. Hinter beiden Denkmälern stand ein mehr kulturell als politisch definiertes bürgerliches Selbstverständnis, das sich an einer großen lokalen und zugleich an der nationalen Vergangenheit orientierte. 61 Vgl. Hardtwig, Großstadt und Bürgerlichkeit (wie Anm. 18), S. 19–64 passim; vgl. dazu auch H.-W. Schmuhl, Bürgerliche Eliten in städtischen Repräsentativorganen. Nürnberg und Braunschweig im 19. Jahrhundert, in: H.-J. Puhle (Hg.), Bürger in der Gesellschaft der Neuzeit. Wirtschaft – Politik – Kultur, Göttingen 1991, S. 178–198. 62 Hierzu und zum Folgenden vgl. M. Vogt, Die in Nürnberg grassierende Denkmalseuche. Lokalstudien zu Planung und Realisierung nationaler Denkmäler im Kaiserreich, Magisterarbeit Erlangen 1991.

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Abb. 6: Hans-Sachs-Denkmal in Nürnberg (1874)

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Die starke lokale Verankerung der Denkmalskultur zeigt sich auch an anderen Beispielen. Die Entstehung des Nürnberger Kriegerdenkmals nach 1871 zögerte sich im Vergleich zu anderen Städten lange hinaus (bis 1876) und war vergleichsweise wenig aufwändig. Dies wurde beklagt, ebenso wie das Ergebnis der eigenen Sammlungen für das Nürnberger Bismarck-Denkmal. Denkmäler waren lokale Statussymbole in der Rivalität der Städte. Da es sich aber um eine reichsweite Städterivalität handelte, verwiesen die lokalen Denkmalssetzungen und die lokalen Diskussionen um sie doch immer auch auf die Nation. Auch von der Finanzierung her lassen sich das Dürer-Denkmal und das Hans-Sachs-Denkmal als lokale Nationaldenkmäler verstehen. In beiden Fällen starteten die Nürnberger reichsweite Kampagnen zu ihrer Finanzierung, für Hans Sachs brachten sie selbst rund 40% der Gesamtsumme auf, der Rest ging durch Spenden, Sammlungen und Benefizveranstaltungen außerhalb Nürnbergs ein.63 Zwischen den jeweils aufeinander bezogenen lokalen und nationalen Dimensionen der Denkmalskultur Nürnbergs steht die einzelstaatlich-landespatriotische. Sie ist für die Verschiebung der Gewichte zwischen Region bzw. Einzelstaat und Nation sehr aufschlussreich. Die Nürnberger spendeten fleißig für ein Denkmal Maximilians II. und sie errichteten 1900/1901 ein ungewöhnlich prominent situiertes und großes Prinzregent-Luitpold-Denkmal direkt vor dem Bahnhof. Dieses erweist sich allerdings als das Ergebnis eines kommunalpolitisch-bürgerlichen und einzelstaatlich-monarchischen Interessendeals. Industrie, Handel und Magistrat betrieben energisch den Bau eines neuen Bahnhofs, und in einem Aktenvermerk, der den Denkmalsplan erstmals formulierte, hieß es: »So wäre es möglich, diesen Neubau dadurch zu fördern, daß derselbe mit dem vorgesehenen Luitpold-Denkmal in Beziehung gebracht wird.«64 Tatsächlich ließ sich dieses Denkmal völlig problemlos und innerhalb kürzester Zeit finanzieren, das Komitee verzichtete auch auf weitere Mitsprache bei der Gestaltung, das Denkmal wurde in Rekordzeit verwirklicht. Damit ist klar, dass es primär nicht einen bayerisch-partikularstaatlichen Patriotismus manifestierte, sondern den Preis für den ökonomisch notwendigen Bahnhofsneubau darstellte. Interesse verdient in diesem Zusammenhang auch die Errichtung des Nürnberger Kaiser-Wilhelm-Denkmals. Der Plan dazu entstand im Kontext jener massenhaften Denkmalsbewegung, die wie in anderen Städten so auch in Nürnberg unmittelbar nach dem Tode des Kaisers im März 1888 einsetzte.65 Das Denkmalskomitee war personell sehr eng mit der Stadtverwaltung verflochten und nahm damit halbamtlichen Charakter an. Die Regierung von Mittelfranken machte jedoch Einwände geltend, die auf politische Bedenken 63 Ebd., S. 28, 89ff. 64 Zit. n. ebd., S. 50. 65 Vgl. dazu Hardtwig, Bürgertum, Staatssymbolik (wie Anm. 8), S. 213ff.

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schließen lassen – Bedenken, die schlagartig verschwanden, als der Erste Bürgermeister von Stromer auf den Gedanken verfiel, dem Prinzregenten Luitpold die persönliche Protektion des Denkmalsplans anzutragen. Das Protokoll der Einweihungsfeier im November 1905 war peinlich darum bemüht, auch bei der Enthüllung eines Hohenzollern-Denkmals die Zugehörigkeit der Stadt zu Bayern zu betonen. Doch ist nicht zu übersehen, dass es primär um die Ehrung des Kaisers ging und dem Prinzregenten nur aus Anstand die gleiche oder eine ähnliche Aufmerksamkeit zuteil werden sollte. Ein Problem scheint das Verhältnis zwischen Reich und Einzelstaat und ihren jeweiligen Repräsentanten aber nur für die Behörden gewesen zu sein. Ein Festgedicht aus dem Nürnberger Bürgertum brachte demgegenüber die in der Stadt vorherrschende Stimmung wohl treffend zum Ausdruck: »Blau und weiß sind unsere Farben / Treu und deutsch sei unser Sinn.«66 Der Stolz auf die Tatsache, dass man ein Kaiser-Wilhelm-Denkmal in seinen Mauern hatte, sowie die einzelstaatlich-bayerische und lokale Loyalität vertrugen sich problemlos miteinander. Im übrigen ruhte diese lokal verankerte, national bezogene Erinnerungskultur auch wesentlich auf handfesten Interessen. Bei den Großprojekten ging es immer um die Frage einer bundes- bzw. reichsweiten Ausschreibung oder der Betrauung von lokalen Künstlern. Immer wieder wurde, wenn Nürnberger als Entwerfer oder Handwerker beschäftigt waren, die Qualität der Arbeit hervorgehoben. Für Bildhauer, Architekten, Steinwerker und Gießereien stellte das Denkmal einen gewichtigen Wirtschaftsfaktor dar. Der Markt war heftig umkämpft zwischen lokalen und auswärtigen Firmen. Angesichts dieser ökonomischen Dimension des Denkmalwesens erwiesen sich nicht-nürnberger überregionale Projekte nur dann als erfolgreich, wenn in Nürnberg oder außerhalb Nürnbergs spezifische Gruppeninteressen angesprochen wurden. Beim Hans-Sachs-Denkmal gelang es, die SchuhmacherInnungen in ganz Deutschland für das Projekt zu mobilisieren. Umgekehrt waren die Nürnberger Lehrer, aber eben nur diese bereit, für ein auswärtiges Denkmal der Gebrüder Grimm Geld zu spenden. (Interessanterweise erwies sich das Hans-Sachs-Denkmal auch als spendenattraktiver als das Kriegerdenkmal; es gab zwar eine stärkere emotionale Teilnahme breiterer Volksschichten am Kriegerdenkmal, sie schlug sich jedoch nicht in einer entsprechenden Spendenbereitschaft nieder.)67 Auch jetzt, im Kaiserreich, blieb die Bürgeridentität lebensweltlich noch ganz wesentlich an die städtische Herkunftswelt und an die gesellschaftliche und politische Einheit der Stadt gebunden. Die nationale Identität wurde integriert, indem auf dem Weg über die 66 Zit. n. Vogt, Nürnberg (wie Anm. 62), S. 65; vgl. dazu auch A. Schmidt, Feste feiern. Nürnbergs politische Festkultur und die Mentalität der Nürnberger im Kaiserreich, Magisterarbeit Erlangen 1991, S. 71ff. 67 Vogt, Nürnberg (wie Anm. 62), S. 86ff., 100ff.

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Erinnerungen der Beitrag der Stadt zu nationaler Geschichte und Kultur in die Stadt hereingeholt oder – umgekehrt formuliert – indem die lokale Geschichte national interpretiert wurde. Nationalität und Stadtbürgerlichkeit verschmolzen auf diese Weise. Hans Sachs erscheint daher bei den Festlichkeiten zur Einweihung des Denkmals 1874 als »Muster ehrbaren Bürgerlebens« und zugleich und eben damit als Kämpfer gegen die Feinde des Reiches; oder, noch deutlicher: Hans Sachs war »ein Urbild und Prophet des ächten deutschen Bürgerthums, ein Prophet des neuen himmlischen Reiches gereinigten, wahren Glaubens und echter Frömmigkeit, ein Prophet des neuen deutschen Reiches«.68 Symptomatisch für die spezifisch bürgerliche Verknüpfung von städtischem Lokalpatriotismus, Bürgerlichkeit und Nationalität ist die Akzentverschiebung, die sich zwischen 1874 und 1894 ergab, als man in Nürnberg den 400. Geburtstag von Hans Sachs feierte: Dieser, der »Heger des deutschen Bürgertums«, dieses »Musterbild deutscher Bürgeraristokratie«, habe auch die »Feinde im Innern, welche den Bestand des Reiches gefährden und untergraben und die äußeren Feinde ermuntern«, sehr wohl erkannt.69 Städtisch-bürgerliche und nationale Identität fielen zusammen aber mir Stoßrichtung gegen die sozialdemokratische Arbeiterschaft. Die städtische Honoratiorenschaft grenzte sich – stellvertretend für die durch ein restriktives Gemeindebürger- und kommunales Wahlrecht aus der Gesamtheit der Stadtbewohner herausgehobene Stadtbürgerschaft – nach unten ab und betonte über die Feier des städtischen und zugleich nationalen Heldens ihren kommunalen und nationalen Führungsanspruch. Stadtbürgerlich-lokale und nationale Identität stimmten jetzt auch darin überein, dass diese Identitäten gleichermaßen klassenpolitisch anschaulich untermauert wurden. Das Stadtbürgertum versuchte, diese Klassenkluft, die sich ihr zugleich als Riss in der nationalen Identität der Gesellschaft auf gesamtstaatlicher Ebene darstellte, symbolisch durch das Integrationsangebot von Denkmal und Fest zu überspielen. Das gelang freilich nicht, schon 1874 blieb die Beteiligung der Schuhmacher-Innungen an der Denkmalssetzung gering. 1894 aber schufen sich die Nürnberger Sozialdemo68 E. K. Julius Lützelberger, Hans Sachs. Sein Leben und seine Dichtung, Nürnberg 1874, nebst einem Anhange: Geschichte des Denkmals nebst einer Abbildung derselben und der Beschreibung der Enthüllungsfeierlichkeiten, zit. n. Schmidt, Feste feiern (wie Anm. 66), S. 44f. Eine solche Verknüpfung von stadtbürgerlichem Selbstbewusstsein, das sich auf eine weit zurück reichende, mittelalterliche Tradition bezieht und neuer »reichischer« Identität, von Partikularismus und Nationalismus dürfte für die meisten Großstädte des Reiches charakteristisch sein; für Hamburg vgl. jetzt: M. Umbach, Reich, Region und Föderalismus als Denkfiguren in politischen Diskursen der Frühen und der späten Neuzeit, in: Langewiesche u. Schmidt (Hg.): Föderative Nation (wie Anm. 5), S. 203ff. 69 Zitate aus den Festreden von 1894 nach Schmidt, Feste Feiern (wie Anm. 66), S. 47; zum Ganzen ebd., S. 44–52; ders., Wo Sachs gesungen hat. Zum Hans-Sachs-Gedenken in Nürnberg im 19. und 20. Jahrhundert, in: Pirckheimer Jahrbuch 10 (1995), S. 157–188, hier S. 167–174.

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kraten ihren eigenen Hans Sachs und feierten ihn in einer eigenen Versammlung. Auch dieser Hans Sachs war freilich ein Deutscher, der ein »geeintes starkes, deutsches Vaterland unter einem von Herzen deutschen Kaiser« erstrebt habe, der friedliebend, aber doch zum Tod fürs Vaterland bereit, der volksnah und kritisch gegen »Großkaufleute und Börsianer seiner Zeit« gewesen sei.70 Nürnberger Bürger und Nürnberger Arbeiter erfanden sich also jeweils einen erstaunlich ähnlichen Lokal- und Nationalhelden, die stadtbürgerliche Gleichsetzung von lokaler und nationaler Identität griff in bemerkenswertem Umfang auf die bloßen »Einwohner« über, die weithin noch auf das Stadtbürgerrecht verzichten mussten.

Nationale Identität als Synthese Deutsches Nationalbewusstsein im 19. Jahrhundert – so lässt sich zusammenfassen – setzte also nicht die Erosion oder das Verschwinden regionaler und lokaler Loyalitäten voraus, sondern baute auf ihnen auf, das Nationalbewusstsein konstituierte sich förmlich auf der Grundlage lokaler und regionaler Identität. Regionen und Städte, auch Landschaften, die gar nicht politisch konstituiert waren, traten in einen Wettstreit und überboten sich gleichsam an »Deutschheit«. In den Beitrittsdebatten des bayerischen Landtags 1871 nahm Sepp für die bayerischen Könige Ludwig I. und Ludwig II. in Anspruch, dass sie die »deutschesten unter den deutschen Fürsten« seien.71 Zum selbstverständlichen Repertoire dieses lokal und regional fundierten Nationalismus gehörte es auch, für die eigene politische und kulturelle Einheit eine herausragende Besonderheit in Anspruch zu nehmen – eine Leistung oder Errungenschaft, die es so nirgendwo sonst in Deutschland gebe. Die Bremer Organisatoren der Schiller-Feiern von 1859 hoben die republikanische Staatstradition Bremens hervor, mit der man in Deutschland einzigartig dastehe.72 Mehrfach und in verschiedenen Regionen ganz analog begegnet man dem Argument, Hamburg oder Württemberg etc. seien jeweils der wichtigste Bestandteil des neuen Reiches. Nachdem am 28. Februar 1871 die Meldung von der Einnahme von Paris eingetroffen war, erklärte der Hamburger Senator Petersen: »Wir Deutschen sind das erste Volk der Welt geworden, und Hamburg ist die Perle der deutschen Kaiserkrone.«73 Sachsen empfand sich als die »Werkstatt des 70 M. Wittig, Hans Sachs. Ein Erinnerungsblatt für das arbeitende Volk zur 400jährigen Geburtstagsfeier des Volksdichters, Nürnberg 1894; zit. n. Schmidt, Feste feiern (wie Anm. 66), S. 69. 71 Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtages, Stenographische Berichte, Nr. 73, S. 144. 72 D. K. Buse, Urban and National Identity. Bremen 1860–1920, in: Journal of Social History 26 (1993), S. 521–537, hier S. 526. 73 Zit. nach T. v. Elsner, Kaisertage. Die Hamburger und das Wilhelminische Deutschland

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Deutschen Reiches« und selbst für das bis 1866 in Personalunion mit England regierte ehemalige Königreich Hannover mit seinem starken welfischen Sonderbewusstsein wurde eine besondere ›Deutschheit‹ in Anspruch genommen, die sich hier auf die Hochschätzung der englischen freiheitlichen Traditionen und Institutionen bezog.74 Noch in den Auseinandersetzungen der Weimarer Republik um die Errichtung eines gesamtnationalen Denkmals für die Gefallenen des Ersten Weltkrieges wurde für einen Standort auf den Weserbergen bei Bückeburg/Rinteln mit dem Argument geworben, dass diese Landschaft gleichsam die deutscheste unter allen deutschen Landschaften sei, ausgezeichnet durch »die überragende Höhe, [den] herrlichen Blick in eine der schönsten Landschaften unserer deutschen Heimat mit zahllosen Wahrzeichen aus den stolzesten Zeiten deutscher Geschichte, [der] unvergleichlichen Lage an der Weser, dem deutschesten der deutschen Ströme«.75 Die Rückseite der Medaille dieses Argumentationsmusters war allerdings, dass es notwendigerweise eine Herabsetzung der anderen regionalen und lokalen Einheiten in sich enthielt, die dann je nach Situation und Interessenlage mit großer Schärfe hervortreten konnte. Die Diskussion um den Standort des geplanten Ehrenmals in der Weimarer Republik mündete z.B. rasch in einen Streit darüber, in welcher der deutschen Regionen die deutsche Geschichte und Kultur am reinsten verkörpert sei und welcher dabei eine Sonderstellung zukomme. Für die tatsächliche Integrationsleistung des Nationalstaats war es zweifellos am förderlichsten, wenn man wie der bayerische Abgeordnete Sepp 1871 argumentierte, dass die angestrebten Ziele am besten zusammen mit den anderen Stämmen des Reiches zu erreichen seien – so z.B. die Verminderung des preußischen Armeebudgets zusammen mit den »rechthaberischen Schwaben«, den »hartnäckigen Alemannen, besonders wenn die Elsässer dazukommen«, den »blinden Hessen«, den »unerbittlichen Hannoveranern«, den »gescheiten Rheinländern«, den »witzigen Sachsen und Schlesiern«, den »betriebsamen Schleswig-Holsteinern«.76 Die Beispiele belegen, dass der im Nationalstaat fortbestehende Regionalismus natürlich nach wie vor auch Sprengstoff für die innere Einheit der Nation bereithielt – ungeachtet der auf die gemeinsame Nationalität der Regionen im Spiegel öffentlicher Festkultur, Frankfurt a.M. 1991, S. 76. Zu den Problemen beim Eintritt Hamburgs in das Reich aufschlussreich R. Mauschild-Thiessen, Hamburg im Kriege 1870/71, in: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 37 (1971), S. 1–45. 74 Zit. n. Weichlein, Sachsen (wie Anm. 12), S. 248; M. John, National and regional identities and the dilemmas of reform in Britain’s ›other province‹: Hanover, c. 1800 – c. 1850, in: L. Brockliss u. D. Eastwood (Hg.), A Union of multiple identities. The British Isles, 1750–1850, Manchester 1997, S. 179–192, hier S. 188f. 75 Zit. n. M. Lurz, Kriegerdenkmäler in Deutschland, Bd. 4: Weimarer Republik, Heidelberg 1985, S. 53f. 76 Verhandlungen der Kammer der Abgeordneten des bayerischen Landtages, Stenographische Berichte, Nr. 73, S. 146.

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und Städte gegründeten Zusammengehörigkeit. Vor allem die einzelstaatlichen Dynastien interpretierten den politischen Regionalismus in ihrem Selbstbehauptungskampf gegen einen primär reichisch begründeten Nationalismus nicht nur als nationsbildendes Komplementärphänomen, sondern als autonome Größe. Mit der einsetzenden Auszehrung der tatsächlichen Funktionen der Länder im Kaiserreich verlor jedoch der Gesichtspunkt der Rivalität zwischen einzelnen Ländern bzw. zwischen Ländern und Reich an realer Bedeutung. Unzweifelhaft drangen in den Jahren zwischen 1871 und 1918 ein reichischer Nationalkult und ein reichisches Nationalbewusstsein vor, die auf die Fundierung auf Städte und Regionen weniger angewiesen waren als das ältere Nationalbewusstsein und das die Identitäten zunehmend überlagerten.77 Im Ganzen aber sind die Wechselbeziehungen zwischen lokaler, regionaler und nationaler Identität für die Geschichte des deutschen Nationalismus im 19. Jahrhundert zentral.

77 Vgl. v.a. Blessing, Monarchischer Kult (wie Anm. 12); Hardtwig, Nationsbildung und politische Mentalität (wie Anm. 11); ders., Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewußtsein im Deutschen Kaiserreich (wie Anm. 8); zuletzt mit sehr scharfer Formulierung dieses Sachverhalts: F. Schmoll, Verewigte Nation. Studien zur Erinnerungskultur von Reich und Einzelstaat im württembergischen Denkmalkult des 19. Jahrhunderts, Tübingen-Stuttgart 1995.

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12. Architektur, Stadterweiterung und gemeindliche Selbstverwaltung in Deutschland im 19. Jahrhundert. Das Beispiel München I. Das Erscheinungsbild der großen Stadt ist heute sehr stark durch Systemzusammenhänge bestimmt, die sich der sinnfälligen optischen Gestaltung entziehen. Die optimale Verwertung der Bodenrente lässt der architektonischen und städtebaulichen gestalterischen Phantasie nur noch sehr wenig Spielraum. Spektakuläre Inszenierungen von »öffentlichem Raum« reduzieren das »Öffentliche« vielfach auf Show-Angebot und Massenunterhaltung. Urbanität schrumpft häufig zu bloßer Funktionalität. In der Reaktion darauf hat sich in Deutschland vielfach die Neigung zu einer nostalgischen und manchmal auch schematischen und sterilen Wiederbelebung des Alten entwickelt. Den ausdruckslosen Bürohäusern moderner Innenstädte, den Banken, Konzernverwaltungen und Einwohnermeldeämtern, den sachlichen Palästen der privaten und öffentlichen Bürokratie, denen mit Glasfassaden und postmodernen Giebeln mitunter völlig bedeutungsfreie optische Zeichen angeklebt sind, kann man die Funktionsstränge, die in ihnen zusammenlaufen, nicht ansehen. Dagegen konnte in der alten Stadt – und mitunter auch noch in der Stadt des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts – eine aus heutiger Sicht überschaubare Lebenswelt architektonisch geformt und sinnlich repräsentiert werden. Die »gesellschaftlichen Funktionen des städtischen Lebens, die der kulturellen und kirchlichen Repräsentation des Arbeitens, des Wohnens, der Erholung und des Feierns konnten in Zwecke, in Funktionen der zeitlich geregelten Benutzung von gestalteten Räumen übersetzt werden«1. Insofern lohnt es, nicht nur aus antiquarischen Gründen, sondern auch aufgrund der vielfachen Erfahrung einer erstaunlichen Lebensqualität von städtischen Quartieren, die ihre räumliche und optische Signatur zum Teil noch der Vormoderne und der Früh- und Hochindustrialisierungsphase verdanken, der Entstehung und den Funktionsmechanismen großstädtischer Raumgestaltung im Industriezeitalter nachzugehen. Im Vordergrund soll dabei die Ausge1 J. Habermas, Moderne und postmoderne Architektur, in: ders., Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt 1985, S. 25f.

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staltung von »öffentlichem Raum« stehen. Eine solche Untersuchung lässt sich sinnvoll nur exemplarisch durchführen. Geeignet wäre dazu grundsätzlich jede der zahlreichen deutschen Großstädte im späten 19. Jahrhundert. Aus praktischen Gründen wird hier München gewählt. Die Stadt ist nicht »typisch« für die moderne Stadt im Industrialisierungsprozess – doch bekanntlich ist jede Stadt ihren individuellen Weg in die Moderne gegangen. Immerhin ist die spezielle Geschichte Münchens im Urbanisierungsprozess des 19. Jahrhunderts insofern verallgemeinerungsfähig, als die Stadt in durchschnittlicher Weise am Bevölkerungswachstum und auch an der Erweiterung der gewerblichen zur Industriewirtschaft teilgenommen und als eine von vielen Residenzstädten alte zentralörtliche Funktionen mit moderner Industrieproduktion und Dienstleistungen verbunden hat. Wenn von der städtebaulichen Gestaltung Münchens im 19. Jahrhundert die Rede ist, denkt man natürlich zuerst an Ludwig I. und seine großzügigen Planungen, oder an die Prachtstraße seines Sohnes und Nachfolgers Maximilian, die Maximilianstraße. Das Erscheinungsbild der Stadt ist im Ganzen aber sehr viel mehr durch die Stadterweiterungen in der Hochindustrialisierungsphase nach 1873 geprägt – stilistisch gleichzeitig die Blütephase und der Ausklang des späten Historismus. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche wirtschaftlichen, politischen, sozialen und kulturell-konfessionellen Interessen zu wesentlichen städtebaulichen und baupolitischen Entscheidungen dieses Zeitraums geführt haben. Ich versuche zu zeigen, wie sich Strukturen der bürgerlich-industriellen Gesellschaft, der gesellschaftlichpolitischen Ordnung sowohl des Staates wie der Stadtgemeinde, und die Befriedigung kultureller und religiöser Bedürfnisse sinnlich-anschaulich darstellen und das Umweltgebiet einer Großstadt mit ganz besonderen Voraussetzungen – Haupt- und Residenzstadt Bayerns – gestalten. Besonderes Gewicht soll dabei auf die »politische Topographie« gelegt werden. Für die urbanistische Durchdringung der städtischen Agglomeration, für die sinnlich-anschauliche Präsenz der politischen Gemeinde, für das »Stadtbild« im engeren Wortsinn sind auch in der urbanisierten Großstadt der Jahrhundertwende die öffentlichen Bauten so wesentlich wie in der älteren Bürger- und Fürstenstadt.2 Ihnen kommt die Aufgabe zu, im Stadtbild Akzente zu 2 Vgl. dazu ausführlicher W. Hardtwig, Soziale Räume und politische Herrschaft. Leistungsverwaltung, Stadterweiterung und Architektur in München 1870 bis 1914, in: ders. u. K. Tenfelde (Hg.), Soziale Räume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im Vergleich 1850 bis 1933, München 1990, S. 59–154; der vorliegende Beitrag ist eine stark gekürzte und leicht veränderte Fassung dieser Studie; dort auch zahlreiche Literaturnachweise, auf die hier verzichtet wurde. Aus der nach Fertigstellung des Textes erschienenen Literatur bleibt außerdem hinzuweisen auf: E. Angermaier, München als süddeutsche Metropole. Die Organisation des Großstadtbaus 1870 bis 1914, in: R. Bauer (Hg.), Geschichte der Stadt München, München 1992, S. 307–335; M. Krauss u. F. Beck (Hg.), Leben in München. Von der Jahrhundertwende bis 1933, München 1990; C. Zimmermann, Die Zeit der Metropolen. Urbanisierung und Großstadt-

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setzen und die politische Ordnung symbolisch darzustellen. Sieht man von der Sondererscheinung repräsentativer Straßenanlagen wie etwa der Ringstraße in Wien oder der Maximilianstraße in München in den 1850er und 1860er Jahren ab, so ist der qualitative Einfluss öffentlicher Bauten auf die Gestaltung der Bebauungspläne um die Jahrhundertmitte gering. In dem Maße aber, wie der Schematismus geometrischer Rasterbebauung besonders seit Beginn der siebziger Jahre durchbrochen und aufgelockert wurde, erhielten auch die öffentlichen Bauten hervorgehobene Plätze außerhalb des normalen Planrasters zugewiesen, so dass sie zur Pointierung des Stadtbildes beitragen konnten. Von der Menge der veränderten oder neuen Bauaufgaben fiel dabei allerdings ein Teil in die Kompetenz überlokaler Verwaltungen, so etwa Bahnhöfe, Post- und Telegraphenämter oder Zollbauten. Der intensivierte Verkehr verlangte den verstärkten Ausbau von Brücken, die Daseinsvorsorge den von Elektrizitätswerken, Gasanstalten, Großmarkthallen, Bädern und Krankenhäusern. Aus der städtischen Bautätigkeit sollen einige Beispiele herausgegriffen werden, die für die Bedingungen, Aufgaben und Leistungen der Gemeinde besonders charakteristisch sind.

II. Für die einzelnen Stadtbewohner trat die Stadt als politische und als Verwaltungskörperschaft vielleicht am unmittelbarsten mit ihrer Zuständigkeit für Schule und schulische Sozialisation in Erscheinung. Bis etwa um 1870 befand sich das Münchner Volksschulwesen – unter geistlicher Schulaufsicht und noch beeinflusst von der Modernitätsskepsis des katholischen Milieus – in einem desolaten Zustand. Daher ergriffen die liberalen Regierungen in den 6oer Jahren die Initiative zu einer umfassenden Reform des Volksschulwesens auf staatlich-gemeindlicher Grundlage. Gestützt auf eine Fortschrittsmehrheit in der Zweiten Kammer versuchte die Regierung Hohenlohe-Schillingsfürst 1866, die Reform mit einem Schulgesetz abzuschließen. Dieser Schulgesetzentwurf wurde von der Abgeordnetenkammer mit 114 gegen 26 Stimmen angenommen, von der Ersten Kammer aber abgelehnt und damit zu Fall gebracht. Die Reaktion der liberal dominierten Gemeindegremien Münchens bestand darin, als ausdrückliche Ersatzlösung für die gescheiterte entwicklung, Frankfurt a.M. 1996; sowie: R. Zerback, München und sein Stadtbürgertum. Eine Residenzstadt als Bürgergemeinde, 1780 bis 1870, München 1997. Zur Information aus kunsthistorischer Sicht: N. Huse, Kleine Kunstgeschichte Münchens, 2. Aufl., München 1992; H. Schnell u. H. J. Selig, 100 Bauwerke in München. Ein Wegweiser zu Bauwerken von historischem und baukünstlerischem Rang, Regensburg 1997; K. G. Schich, München als Kunststadt. Dokumentation einer kunsthistorischen Debatte von 1871 bis 1945, Wien 1994.

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gesamtstaatliche Lösung ein »Schulstatut« für die Stadt München zu verabschieden. Es trat am 1.1.1872 in Kraft und bildete dann die Grundlage für eine umfassende Neuorganisation des Volksschulwesens auf gemeindlicher Ebene. Die Zuspitzung des Streits um die Volksschule im Zeichen des Kulturkampfes3 und die eminente Bedeutung der Schulpolitik für das liberale Bürgertum erhellt ein Kommentar der Allgemeinen Deutschen Lehrerzeitung vom 28. Mai 1871 zum Schulstatut. »Nicht leicht dürfte in einer Stadt das Volksschulwesen so sehr im Argen liegen als in unserer Haupt- und Residenzstadt München. Die tonsurierten Häupter haben jede vernünftige Neuerung hintangehalten«. Die gemeinsame bürgerliche Überzeugung von der Notwendigkeit der Bildung überwog schließlich die konfessionell-parteilichen Gegensätze. Den vom Bürgermeister Widenmayer, einem protestantischen Liberalen, ausgearbeiteten Entwurf nahm das Magistratskollegium mit nur einer Gegenstimme, das Gemeindebevollmächtigtengremium sogar einstimmig an.4 § 1 legte die Schulsprengelbestimmung in die Hand der Gemeinde, löste sie damit von der bisherigen automatischen Bindung an den Pfarrsprengel und schuf damit eine wesentliche Voraussetzung für die Möglichkeit, Simultanschulen einzurichten; § 9 richtete das andernorts längst eingeführte Institut des Oberlehrers ein und entmachtete damit praktisch die geistlichen Schulinspektoren; § 16 regelte das Besetzungsverfahren der Lehrstellen neu und eindeutiger zugunsten der Gemeinde nach dem Motto: Wer bezahlt, schafft auch an; die §§ 13 und 15 schränkten die Nebentätigkeit der Lehrer drastisch ein und legten die Wochenlehrverpflichtung auf 28 Stunden fest; § 17 erhöhte die Lehrergehälter, die §§ 18/19 regelten die Pensionsberechtigung neu. Vor allem aber setzten die §§ 2 und 3 garantierte Leistungen der Gemeinde in Bezug auf den Schulraum fest. Die Klassenstärke sollte 60 Schüler nicht überschreiten, eine Schule sollte nicht mehr als 28 Klassen enthalten; der Magistrat verpflichtete sich, bei Überschreiten dieser Zahlen eine neue Schule einzurichten; die hier festgelegten Bestimmungen sollten innerhalb von fünf Jahren verwirklicht werden. Tatsächlich hat die Stadt dann bei der qualitativen Verbesserung des Volksschulunterrichts und beim Schulhausbau bis 1914 auch Erstaunliches geleis3 Zur parteipolitischen Entwicklung der Münchener Gemeindegremien bis 1870 vgl. jetzt Zerback, München und sein Stadtbürgertum (wie Anm. 2), S. 278–295. 4 Zur Verabschiedung vgl. Stadtarchiv München, Ratssitzungsprotokolle 22. Juni 1871 und 29. Dezember 1871; Lokalschulsitzungsprotokolle 3. Juli 1871 und 10. Juli 1871; Gemeindebevollmächtigten-Sitzungsprotokoll vom 31. Juli 1871. Die Stadtverwaltung agierte bei ihrer Schulpolitik auch danach noch keineswegs in einem interessen- und emotionsfreien Raum. Um die Einführung der Simultanschule und um die Schulversorgung durch einzelne Klosterschulen kam es in den 1870er Jahren zu erbitterten Auseinandersetzungen. Eingemeindungen haben dagegen bei der Schulversorgung kaum zu Schwierigkeiten geführt, vgl. dazu ausführlicher, Hardtwig, Soziale Räume (wie Anm. 2), S. 105–112.

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tet. Sie legte allein zwischen 1870 und 1905 32 neue Volksschulbauten an. Obgleich die Schülerzahl sich zwischen 1870 und 1890 fast verdreifachte und dann jeweils zwischen 1890 und 1900 sowie zwischen 1900 und 1905 noch einmal um circa ein Drittel zunahm, wurde die Schulversorgung dabei eminent verbessert. Die Stadt entwickelte dafür ein eigenes Schulhausbauschema, nach dem die Stadtbaumeister ab 1890 jährlich durchschnittlich 1 1/2 Schulen errichteten. Dem Bau selbst war dabei einerseits die Aufgabe einer anschaulichen Selbstdarstellung der politischen Bürgergemeinde und ihrer kulturellen Leistungen, andererseits eine pädagogische Funktion zugedacht. Er sollte »als Ganzes nach seiner äußeren und inneren Gestaltung auf die Geschmacksbildung anregend wirken und im Stadtbild zu einer entsprechenden Wirkung kommen«.5 Das gelang vor allem bei den Bauten von Carl Hocheder, Robert Rehlen, Wilhelm Bertsch, Theodor Fischer und Hans Grässel. Während die Schulhäuser bis etwa zur Mitte der achtziger Jahre noch einem schematischen Normalgrundriss folgten und nach außen ein etwas starres späthistoristisches Gepräge zeigten, entfaltete sich der Schulhausbau seit Anfang der neunziger Jahre gerade in den Stadterweiterungsgebieten stilistisch freier und im Grundriss variabler. Man wählte nach Möglichkeit noch unbebaute Grundstücke und passte jetzt bewusst den Grundriss dem gegebenen Bauplatz an. So erhielt Theodor Fischer 1897/98 das ehemalige Pfarrhaus der alten Schwabinger Dorfkirche und fügte es als Wohnung für den Oberlehrer und Hausmeister dem Neubau an. Hans Grässel entwickelte aus der Form des Bauplatzes in der Fürstenriederstraße und aus den baupolizeilichen Vorschriften eine besonders variantenreiche Außenerscheinung. Robert Rehlen verband 1903/04 beim Schulhaus in der Boschetsriederstraße nahe dem Obersendlinger Industriegebiet den Querflügel mit dem Übungshof einer vorgelagerten Feuerwache und fasste sie mit dem Schulhaus zu einer Baugruppe zusammen. Soweit möglich bevorzugte man einen Grundriss mit zwei rechtwinklig aufeinanderstoßenden Gebäudeflügeln, die den Schulhof einrahmten, doch wurde dieses Schema den jeweiligen Erfordernissen angepasst. Die meist mehrflügeligen, mit hohen Giebeln und Türmen ausgezeichneten Bauten hatten eine starke raumorganisierende Wirkung, so dass sie das Siedlungsbild gerade in den Stadterweiterungsgebieten aufs stärkste gliederten und pointierten. Theodor Fischer z.B. legte schon bei seiner Überarbeitung des Alignementplans für Schwabing die hervorgehobene Lage des projektierten Schulhauses am Elisabethplatz fest und gab dem Äußeren durch die jeweils drei Quergiebel an den Fronten und durch den asymmetrisch zwischen die beiden

5 R. Rehlen, Gebäude für Erziehung und Bildung, in: München und seine Bauten, hg. v. Bayerischen Architekten- und Ingenieursverein, München 1912, S. 606, 616.

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Abb. 7: Theodor Fischer, Volksschule in Schwabing (1897/98)

Flügel gesetzten Turm seinen stattlichen Charakter, ohne dass der repräsentative Anspruch im Platz- und Straßenbild aufdringlich wirken würde.6

6 Vgl. G. Albers, Theodor Fischer und die Münchener Stadtentwicklung, in: Bauen in München 1890–1950. Eine Vortragsreihe in der Bayer. Akad. der Schönen Künste, Arbeitsheft der Landeszentrale für Denkmalspflege, München 1980, S. 6–25; zu Theodor Fischer allgemein: S. Fisch, Theodor Fischer in München (1893–1901) – Der Stadtplaner auf dem Weg zum Beamten, in: E. Mai u.a. (Hg.), Kunstpolitik und Kunstförderung im Kaiserreich. Kunst im Wandel der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Berlin 1982, S. 245–259.

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III. Ludwig I. hatte dem Münchner Stadtbürgertum gegenüber die Stadtentwicklung auf die Dimensionen einer ästhetisch bewussten und repräsentativen Residenz- und Hauptstadtkonzeption verwiesen – mit allen Einseitigkeiten und autokratischen Attitüden, die seine Projekte und Initiativen kennzeichnen.7 Eingelöst wurde dieses Programm tatsächlich erst in der Hochindustrialisierungs- bzw. Urbanisierungsphase nach 1871, besonders nach 1890. In den öffentlichen Bauten verschmolzen historisches Erbe und die konkreten Bedürfnisse einer rasch expandierenden Großstadt in einer durchaus charakteristischen Weise durch die häufig gelungene Verbindung von Funktionalität (und insofern Modernität) mit bewusst traditionsbezogenen Stilelementen und einer repräsentativen Außenerscheinung. Charakteristisch dafür sind eine Reihe von Bauten der Wohlfahrtsfürsorge, die zwischen 1871 und 1914 auf dem Gelände der alten und neuen Vorstädte errichtet wurden, so das Kinderasyl in der Hochstraße, das Bürgerheim, das Armenversorgungshaus, das Heilig-Geist-Spital am Dom-Pedro-Platz und das Waisenhaus. Seit dem Ende der siebziger Jahre projektierten die Gemeindekollegien, das Waisenhaus an der innerstädtischen Findlingstraße durch einen Neubau zu ersetzen. Das Projekt zog sich aber wegen des Mangels an einem geeigneten Grundstück und wegen anderer Aufgaben bis 1895 hin. Dann errichtete der städtische Baurat Hans Grässel auf einem Grundstück, das die Stadt auf dem Gebiet des eingemeindeten Vororts Neuhausen gekauft hatte, eine großzügige und im Innern dekorativ ausgestaltete Anlage. Sie schuf Platz für 149 »ehemalige katholische Waisenkinder hier heimatberechtigter armer Personen«, die von Englischen Fräulein und einem vom Magistrat gestellten Volksschullehrer in Nebentätigkeit betreut wurden.8 Die Finanzierung des Neubaus stellte keine Schwierigkeit mehr dar, weil das alte Waisenhaus bei den steigenden innerstädtischen Preisen mit Gewinn verkauft werden konnte. Die Gemeinde hatte für das neue Waisenhaus einen höchst prägnanten Standort gewählt: den Platz am östlichen Ende der Auffahrtsalleen, genau gegenüber Schloss Nymphenburg. Bedenken wegen der Stadtferne wurden ausgeräumt, indem man auf die zu erwartende bauliche Entwicklung der Stadt verwies, die es außerdem nötig machen werde, auf dem anliegenden Grundstück eine neue Schule zu errich7 Vgl. die Beiträge in: W. Nerdinger (Hg.), Romantik und Restauration. Architektur in Bayern zur Zeit Ludwig I. Ausstellungskatalog Münchener Stadtmuseum, München 1987; bes. W. Nerdinger, Weder Hadrian noch Augustus. Zur Kunstpolitik Ludwig I., ebda. S. 9–16. 8 Verwaltungsbericht der Haupt- und Residenzstadt München 1895, S. 8; zum Folgenden: Verwaltungsbericht 1899, S. 175–179; K. Grässel, Das Heiliggeistspital München, München 1910, S. 36–63.

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ten. Hans Grässel baute sie 1899 – das erste seiner Münchner Schulhäuser. Das Waisenhaus setzt den städtebaulichen Akzent am Ostende des Kanals vor allem durch die herkömmlich monumentalisierende symmetrische Grundanlage, einerseits unterstrichen durch den Kirchturm und den an eine Kirchenfassade erinnernden Mitteltrakt, aber auch in einer für Grässel typischen Weise gemildert durch den zurücktretenden, nach Süden vorgestreckten Krankenflügel sowie durch eine verhalten historisierende, neubarocke Formensprache. In der Planung Grässels sollte der städtebauliche Zusammenhang mit der Nymphenburger Schloßanlage noch zusätzlich betont werden durch eine großzügige, aber geschlossene und damit die Blickführung zwischen den beiden Abschlüssen konzentrierende Villenbebauung auf beiden Seiten des Nymphenburger Kanals; dieser Grässelsche Plan wurde dann allerdings in der Ausführung durch eine offene Villenbebauung stark modifiziert. Zum städtebaulichen Ensemble fügt sich das Waisenhaus aber auch von seiner Rückseite und dem Hof her mit der Volksschule, der Kirche und vor allem dem Heilig-Geist-Spital am Dom-Pedro-Platz zusammen (Abb. 8). 1897 beschloss der Magistrat die Planung eines Neubaus, der das alte Spitalgebäude an der innerstädtischen Mathildenstraße ersetzen sollte. Eine Lösung des Finanzierungsproblems kam rascher als erwartet. Auf eine entsprechende Anfrage der Staatsregierung, die das alte Gelände für das Projekt einer neuen Poliklinik und Augenklinik im zentralen Krankenhausviertel östlich der Theresienwiese benötigte, verlangte der Magistrat die für den Neubau veranschlagte Summe von 2,5 Mill. Mark. 1904 konnte mit den Arbeiten begonnen werden. Grässel selbst beschreibt recht aufschlussreich den Zusammenhang von architektonischen Gestaltungsprinzipien mit dem Verständnis von Bürgerlichkeit in der durch den Zensus definierten politischen Gemeinde: in der »architektonischen Gliederung« sei »ruhige Schlichtheit notwendig« gewesen, gepaart aber mit einer gewissen Würde, welche eine so angesehene alte Stiftung und der Aufenthalt von Bürgern und Bürgerinnen Münchens verdienten. Denn nur solche Bürger(innen) und Inhaber der goldenen Dienstbotenmedaille für mindestens 25-jährige Dienstzeit bei einer und derselben Herrschaft wurden im Heilig-Geist-Spital aufgenommen.9 Dem Bau selbst gelang eine ortsbewusste Synthese von Modernität und Traditionalismus: Eine funktionale Anlage, die allen Erfordernissen des zeitgenössischen Wohnstandards und der Hygiene genügte, wurde mit einem Dekorum verbunden, das im Selbstverständnis der traditionellen, im ständischen Gesellschaftsmodell fundierten politischen Bürgergemeinde wurzelte. Dieses Prinzip der ständisch gestuften Bürgergemeinde war allerdings seit dem Auftauchen der ersten Sozialdemokraten in den städtischen Kollegien ab 1890 nur mehr kurzfristig aufrechtzuerhalten und wurde mit der Wahlrechts9 Ebd., S. 45.

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reform von 1908 bereits sehr weitgehend und 1919 endgültig vom egalitären Prinzip der Einwohnergemeinde abgelöst. Patriarchalismus und bürgerlichreligiöser Traditionalismus verweisen zurück auf das formale Vorbild süddeutscher Klosteranlagen des 18. Jahrhunderts und auf die Anlehnung an barocke Formen. Diese werden durchaus im Sinne des frühen Historismus gehandhabt, der den Anspruch erhob, durch die und mit der Form die Lebenswirklichkeit im Ganzen normativ auszulegen. Der großstädtische Baubeamte genügte den Bedürfnissen und Standards der technischen Entwicklung und reagierte mit seiner Architektur auf die Bevölkerungszunahme und die vermehrten Leistungsforderungen an die städtische Verwaltung in der urbanisierten Großstadt. Er tat dies aber mit einer urbanistischen Konzeption und einer Formensprache, die sich der reinen Zweckrationalität bewusst entzog, die im Sinne von Camillo Sittes Städtebautheorie »malerische« Wirkungen vormoderner, vermeintlich naturwüchsiger Stadtgestaltung absichtsvoll einplante und auf dem Boden modernitätsfeindlicher Großstadtkritik traditionelle bürgerliche Urbanität und den Naturbezug ländlicher Bauformen zu verbinden suchte.10 Tatsächlich ist es Grässel gelungen, mit diesem Ensemble im »Heimatstil« ein Stadterweiterungsgebiet, das erst 20 bis 30 Jahre später voll bebaut wurde, anschaulich mit dem Altstadtbereich zu verklammern, in sich zu gliedern und ihm einen intim ländlich-urbanen Mittelpunkt zu verleihen. Zu den signifikanten neuen Bauaufgaben des Industriezeitalters gehört neben der Fabrik, dem Bahnhof und dem Kaufhaus die Messehalle bzw. das Ausstellungsgebäude. München hatte hier zunächst mit seinem Glaspalast, einem der Gründungswerke der Industriearchitektur in Deutschland, sehr früh den Anschluss an die internationale Entwicklung gefunden. Maximilian II. wollte den planmäßigen monumentalen Städtebau seines Vaters fortsetzen, zugleich aber mit der ersten deutschen Industrieausstellung 1854 in München die Leistungskraft der bayerischen Wirtschaft demonstrieren.11 Ein halbes Jahrhundert später baute die Stadtgemeinde München nach langer Vorund Planungsgeschichte innerhalb eines Jahres 1907–8 eine neue Ausstel10 Vgl. C. Sitte, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen. Ein Beitrag zur Lösung moderner Fragen der Architektur und monumentalen Plastik unter besonderer Beziehung auf Wien, Wien 1889, Wien 19656; zum spezifisch münchnerischen »Heimatstil«, der seit 1876 u.a. von Gabriel von Seidel und Franz Seitz zum Programm erhoben wurde, vgl. H. Habel, Späte Phasen und Nachwirkungen des Historismus, in: Bauen in München (wie Anm. 6), S. 26– 40; W. Nerdinger, Neue Strömungen und Reformen zwischen Jugendstil und Neuem Bauen, ebd., S. 41–64; zur großstadtkritischen Heimatschutz- und Heimatbewegung, vgl. K. Bergmann, Agarromantik und Großstadtfeindschaft, Meisenheim 1970; A. Lees, Debates about the Big City in Germany 1890–1914, in: Societas, Bd. V (1975), S. 31–47. 11 Vgl. zuletzt V. Hütsch, Der Münchener Glaspalast 1854–1931. Geschichte und Bedeutung, München 1980; grundsätzlich v.a. U. Haltern, Die Welt als »Schaustellung«. Zur Funktion und Bedeutung der Internationalen Industrialisierungsausstellungen im 19. und 20. Jahrhundert, in: VSWG 60 (1973), S. 1–40; E. Kreker, Die Weltausstellungen im 19. Jahrhundert, Göttingen 1975.

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Abb. 8: Waisenhaus von Hans Grässel (1904–1907)

lungsanlage in noch erheblich großzügigeren Dimensionen: den »Ausstellungspark« auf der Theresienhöhe hinter der Bavaria, einen Stadtpark von 25,5 ha mit mehreren Ausstellungshallen, Verwaltungsgebäuden und einem Restaurant nach den Plänen der Stadtbaumeister Wilhelm Bertsch und Richard Schachner (Abb. 9). Der Anlass zur Errichtung des Ausstellungsparkes ist für München charakteristisch: Dem Prinzen Ludwig fiel 1892 auf, dass sich hinter dem Bavariapark eine Reihe von mehrgeschossigen Wohnhäusern in den Prospekt von Schwanthalers Ruhmeshalle und ihrer Umgebung hineingeschoben hatten. Um das ausladende, die bayerische Staatstradition glorifizierende Denkmalsgelände der monumentalen »Bavaria«, das die Oktober-Fest-Wiese nach Norden begrenzt und überragt, vor weiterer Beeinträchtigung durch eine solch unpas278

Abb. 9: Theresienwiese mit Ruhmeshalle und Bavaria; Bavariapark (Ausstellungsgelände); im Hintergrund das Arbeiterviertel Westend sowie das großbürgerliche Wiesenviertel mit Mietvillen, Luftbild (1920)

sende Bebauung zu bewahren, schlug er vor, auf der Theresienhöhe einen Platz für feste Ausstellungen zu schaffen. Zwar haben sich dann ganz andere Interessen und Institutionen des Projektes bemächtigt, aber das Motiv einer repräsentativen Anlage blieb. Die erste Anregung von 1892 brachte zunächst keine greifbaren Ergebnisse.12 Es gab ein endloses Hin und Her, aber plötzlich, ab 1904, führte der 1. Bürgermeister, von Borscht, die komplizierten Verhandlungen mit einzelnen Grundstückseignern, besonders mit der Erbengemeinschaft des Münchener Großbauers Matthias Pschorr, energisch durch. Die Stadt selbst betätigte sich dabei übrigens als Bodenspekulant. Der Plan Gabriel von Seidls, der dem durchgeführten Projekt zugrunde liegt, wurde so abgeändert, dass selbständige Bauplätze jenseits des begrenzenden Pschorr-Rings zu liegen kamen. Die 12 Das Folgende vor allem nach der Denkschrift des 1. Bürgermeisters von Borscht vom 1.12.1904, in: Stadtarchiv München, Ausstellungen und Messen 209; Staatsministerium des Inneren für Kinder- und Schulangelegenheiten an den Münchener Magistrat, 18. November 1904, Stadtarchiv München, ebd.

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ausführlichen Berechnungen gehen von sehr hohen Wiederverkaufspreisen bzw. Pachtgebühren infolge der erwarteten Wertsteigerung des Geländes aus. Auf dieser Grundlage wurde das Projekt dann ausgeführt bzw. finanziert. Dass sich die Stadt schrittweise zur Übernahme der Hauptträgerschaft entschloss, hatte zwei Ursachen. Zum einen waren die Bürger des Stadtteils bzw. der westlichen Viertel aktiv geworden. 1903 konstituierte sich ein »Verein Ausstellungspark«. Eine Eingabe von angesehenen Bürgern der westlichen Stadtviertel forderte einen Stadtpark vor allem aus dem Interesse an infrastrukturellen Verbesserungen: Der Verein wollte Ausstellungsbauten, Gartenanlagen, Sportplätze und Geschäfte errichten. Tatsächlich übernahm die Stadt dann nicht nur die Ausführung der festen Bauten, sondern auch die übrigen vom Verein anvisierten Aufgaben. Für die Stadtentwicklung selbst ist wichtig, dass die Viertel westlich und südlich des Stadtparks beschleunigt in den Genuss der verbesserten Infrastruktur durch Straßenbau, Gas-, Strom- und Trambahnanschluss kamen. Allerdings ließ sich auch durch den Bau eines betont großzügigen und großräumigen Messegeländes die Struktur der Münchner Wirtschaft nicht einfach verändern. Auch die neuen Räume wurden – wie zu erwarten – für kunstgewerbliche Kleinausstellungen und für Vergnügungsveranstaltungen genutzt, nicht aber für größere Industrieausstellungen.13 Das Unterhaltungsangebot löste schließlich Proteste der Gastwirteorganisationen gegen die geschäftsschädigende Konkurrenz des Ausstellungsparkes aus: Der Magistrat solle die Interessen der Bürger und Steuerzahler unterstützen und nicht als konkurrierender Unternehmer auftreten.14 Schwierigkeiten dieser Art entstanden aus der Ausdehnung und Umwidmung des ursprünglichen Projekts. Unter dem Druck der allgemeinen Städtekonkurrenz und einer nicht nur konjunkturellen, sondern strukturellen Krise der Münchner Wirtschaft seit 1900, angestoßen von Interessenten der Stadtteilerschließung und teilweise auch von Sachzwängen der Planung und des Grundstückserwerbs hatten sich die Gemeindekollegien zu einem großangelegten Stadtentwicklungsprojekt entschlossen – die zweite Ursache. Der Ausstellungsbau selbst ist eine Ausdrucksform der industriellen Leistungsgesellschaft. Hier wird der technische und gestalterische Entwicklungsstand aller möglichen Produkte präsentiert. Darüber hinaus machen Ausstellungshalle und -gelände den Versuch, die gegenseitige Abhängigkeit von 13 Der Bayerische Industriellenverband verhielt sich distanziert; er warb für die Beschickung durch die Industrie, aber, wie es heißt, nur aus »lokalpatriotischer Pflicht« und weil es sich um »vitale Münchener Interessen« handele, nämlich das Renomee der Stadt im Vergleich zu Berlin, Dresden u.a., Bericht der Münchener Sektion des Bayerischen Industriellenverbandes, Ausstellung 1908, Stadtarchiv München, Museen und Ausstellungen 213; vgl. auch Verwaltungsbericht 1909, S. 252–255. 14 Stadtarchiv München, Ausstellungen und Messen 213, Eingabe an Magistrat und Gemeindebevollmächtigtengremium vom 22. Dezember 1909.

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Produktion, Handel und Konsum in den immer ausgedehnteren wirtschaftsräumlichen Einheiten der Region, der Nation und des internationalen Marktes buchstäblich zu inszenieren und in die Grenzen der Lebenswelt zurückzuholen. Das Ausstellungsgelände als Stadtpark präsentiert sich andererseits aber auch als Kritik und als Kompensation industrialisierungstypischer, rein funktionaler Raumgestaltung und ihr entsprechender Lebensformen. Schließlich ist nicht zu übersehen, dass sich hier auch ein traditioneller Aspekt urbaner Lebensweise in erlebbare Gestalt umsetzt: ein erhöhtes Angebot an Information und Kulturgenuss, an Freizeitgestaltung und Unterhaltung. Zur baulichen Gestaltung im Einzelnen schrieb der Magistrat ein Preisausschreiben aus, zu dem 41 Entwürfe eingingen. Die Jury, zusammengesetzt aus prominenten Münchner Architekten bzw. Bildhauern (Adolf von Hildebrand, Bruno Paul, Paul Pfann, dazu Gabriel von Seidl, Ernst Pfeifer und die Münchner Stadtbaumeister Karl Hocheder, Robert Rehlen und Adolf Schwienig, sowie fünf Magistratsmitglieder bzw. Gemeindebevollmächtigte) verlieh den ersten Preis an den städtischen Bauamtmann Wilhelm Bertsch; die einzelnen Bauten wurden dann bekannten Münchner Architekten wie Paul Pfann zugeschlagen.15 Das Ergebnis gilt künstlerisch als provinziell.16 Wenn die großen Industrieausstellungen in den europäischen Städten von 1853 bis zum Ende der achtziger Jahre als »architektonische Großereignisse« geplant worden sind,17 so dominierte im Münchner Ausstellungsgebäude nicht der Zug zur Internationalität und zum Weltmarkt, sondern – den Gegebenheiten der bayerischen Wirtschaft und stadtmünchnerischer Mentalität folgend – die Neigung zur Tradition, zur ländlichen und vorindustriellen Herkunftswelt. Die Bauten stellen stimmungshafte und folkloristische Elemente in den Vordergrund, die Heimatkunstbewegung zeigt hier ihre lokalpatriotische, münchnerisch-bayrische Kehrseite.

IV. Für die planende Gestaltung und Beeinflussung der städtischen Raumgestalt im engeren Sinne, für die Baumasse der Straßen, Plätze, der öffentlichen Bauten, der privaten Wohn-, Gewerbe- und Industriebauten, besaßen die Städte seit der Jahrhundertmitte zwar ein Instrumentarium in den Bauordnungen und in der Alignementplanung, aber diese Mittel reichten für die Bedürfnisse der Großstädte in der Urbanisierungsphase nicht mehr aus. In den meisten 15 Stadtarchiv München, Preisausschreiben über bauliche Ausgestaltung (Details) des Ausstellungsparks, Ausstellungen und Messen 213. 16 Vgl. W. Nerdinger, Neue Strömungen und Reformen (wie Anm. 10), S. 54f. 17 J. Habermas, Moderne und postmoderne Architektur (wie Anm. 1), S. 11–29.

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Städten stammten die baurechtlichen Bestimmungen noch aus dem Mittelalter; sie waren allerdings von den Landesherren teilweise modifiziert und reformiert worden, vor allem, um bei den fürstlichen Stadterweiterungen ein einheitliches Erscheinungsbild der Straßenzüge und Plätze zu schaffen.18 Erst nach 1850 begannen die zuständigen Landesregierungen die Einzelbestimmungen teilweise zu revidieren und in systematischen Baupolizeiordnungen zusammenzufassen – so etwa mit der 1853 erlassenen »Baupolizeiordnung für Berlin und dessen Baupolizeibezirk« und der »Allgemeinen Bau-ordnung für die Kgl. Haupt- und Residenzstadt München 1863«.19 Diese Bauordnungen der Jahrhundertmitte verzichteten weitgehend auf konkrete Gestaltungsanweisungen, wie sie in den absolutistischen Modellbauverordnungen üblich gewesen waren und in München in der Ära Ludwigs I. auf dem Wege sehr einschneidender Einzelfallverordnungen und Ministerialentschließungen immer noch Anwendung fanden. Im Allgemeinen ging es jetzt nicht mehr darum, formale Einheitlichkeit und bestimmte Formvorstellungen positiv durchzusetzen, vielmehr beschränkte man sich darauf, Verunstaltungen zu verhindern und ein Minimum an konstruktiver Sicherheit und Feuersicherheit zu garantieren. Die Bauordnungen der Jahrhundertmitte können insofern als typisch »liberal« gelten. Sie reduzierten den behördlichen Einfluss und die behördlichen Aufsichtsrechte so weit als möglich und räumten umgekehrt den Bauunternehmern bzw. Bauherren ein Höchstmaß an Entscheidungsfreiheit ein. Die Folgen dieser Liberalisierung des Baurechts in einer Phase gleichzeitigen starken Bevölkerungswachstums und -zustroms zu den 18 Solche Bauvorschriften formen vor allem das Erscheinungsbild absolutistischer Stadtanlagen, wie Mannheim, Karlsruhe und die im 18. Jahrhundert entstandenen Teile Berlins; in München hatten sie Geltung für den ehemaligen nordwestlichen Festungsbereich; das Folgende zusammengefasst vor allem nach H. J. Selig, Münchener Stadterweiterungen von 1860 bis 1910. Stadtgestalt und Stadtbaukunst, Diss. München 1978; für München vgl. weiter F. Schels, Die Entwicklung des öffentlichen Baurechts der K. Haupt- und Residenzstadt München, München 1915; J. Wiedenhofer, Die bauliche Entwicklung Münchens, München 1916; älterer allgemeiner – internationaler – Überblick: R. Hartog, Stadterweiterungen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1962; vgl. auch T. Rönnebeck, Stadterweiterungen und Verkehr im 19. Jahrhundert, Stuttgart u.a. 1971; G. Fehl u. J. Rodriguez-Loves (Hg.), Städtebau um die Jahrhundertwende, Köln 1980; G. Fehl (Hg.), Stadterweiterungen 1800–1875. Von den Anfängen des modernen Städtebaus in Deutschland, Hamburg 1983. 19 Grundlegend jetzt zur Geschichte der Stadtplanung Münchens S. Fisch, Stadtplanung im 19. Jahrhundert. Das Beispiel München bis zur Ära Theodor Fischer, München 1988; bahnbrechend zum Zusammenhang von politisch-gesellschaftlichen Ordnungsvorstellungen und Konzeptionen des Städtebaus waren die Arbeiten von G. Albers, bes.: Vom Fluchtlinienplan zum Stadtentwicklungsplan. Zum Wandel städtebaulicher Leitvorstellungen und Methoden in den letzten hundert Jahren, in: Archiv für Kommunalwissenschaften 6 (1967), S. 192–211; ders. (Hg.), Entwicklungslinien im Städtebau. Ideen, Thesen, Aussagen 1875–1945. Texte und Interpretationen, Düsseldorf 1975; ders., Theodor Fischer und die Münchner Stadtentwicklung bis zur Mitte unseres Jahrhunderts, in: Bauen in München 1890–1950. Eine Vortragsreihe in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, Arbeitsheft des Bayer. Landesamtes für Denkmalpflege, München 1980, S. 6–25.

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Städten, in einer Phase andauernden Wohnungsmangels also, sind bekannt – vor allem vom Beispiel Berlins her, wo neuerdings nicht mehr so sehr der Hobrechtsche Alignementplan, sondern die Bauordnung von 1853 für die Ausbreitung des Mietskasernenbaus verantwortlich gemacht wird.20 Im Unterschied zur Berliner Bauordnung, die den Boden praktisch unbeschränkt der spekulativen Nutzung freigab, blieb die Münchner Bauordnung von 1863 erheblich stärker an den Maßstäben spätklassizistischer Stadterweiterung orientiert. Sie hielt zum einen noch an ästhetischen Postulaten fest und verhinderte zum anderen eine ähnlich dichte Bebauung wie in Berlin.21 Zur Entlastung der Behörden selbst dort, wo das Baurecht zur Einladung zum Mietskasernenbau wurde, muss allgemein auch gesagt werden, dass man sich um 1850/1860 noch keinen Begriff von der bevorstehenden städtischen Bevölkerungsverdichtung machte und machen konnte. Dichte Bebauung war zwar von den Metropolen wie Paris und Wien her bekannt, in den deutschen Städten aber bis um 1850 nicht üblich. Seit circa 1860 versuchten die Behörden dann aber doch zumindest teilweise, die Monotonie geschlossener Bebauung aufzulockern,22 indem sie jetzt die Baublockdimensionierung zu differenzieren begannen. Als Instrument, um die für sie vor allem interessante Gestaltung des Straßenquerprofils und der Plätze sicherzustellen, stand ihnen der Fluchtlinienplan (Preußen) oder Alignementplan (Bayern) zur Verfügung. Damit legten sie die Breite und die Aufteilung der Straße fest, ihre Linienführung, die Tiefe der Vorgärten und ähnliches. Zudem fixierte man damit das Straßennetz und die Art und Dichte der Bebauung in den Gebieten, in die hinein sich nach dem Willen der Behörden das Wachstum der Stadt ausdehnen sollte, oder von denen man absah, dass hier ein Bedarf nach Aufschließung der Grundstücke eintreten werde. Kennzeichnend für die Stadterweiterung des 19. Jahrhunderts ist dabei die Partikularität der Alignementplanung. Die Stadtplaner – von Profession Ingenieure und Geometer – erfassten jeweils einzelne Viertel oder Gebiete und teilten sie nach Straßenführung, Platzgliederung und Parzellen auf. Dies änderte sich grundsätzlich auch nicht, seit um die Jahrhundertmitte in den großen Metropolen wie Berlin und Wien das Bevölkerungswachstum dazu zwang, die Agglomeration von Bauten in größe20 Die Auseinandersetzung um den Hobrechtplan zieht sich bereits seit den 1870er Jahren durch die Wohnungsreformdiskussion und kulminiert in der Anklage von W. Hegemann, Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskasernenstadt der Welt, Lugano 1930, Berlin 19632; zur Kritik: E. Heinrich unter Mitarbeit von H. Juckel, Der Hobrechtplan, in: Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte 13 (1962), S. 41–57, bes. S. 43 und 50. Die Berliner Bauordnung von 1853 ließ die Bebauung mit mehrstöckigen Mietshäusern in allen Straßen – mit Ausnahme der kleinsten – zu; sie beseitigte damit alle gesetzlichen Handhaben gegen die Ausbreitung des Mietshausbaues, der die höchste Rendite versprach. 21 Ein Drittel des Grundstücks hatte als Hoffläche frei zu bleiben. Die Abstände zwischen Vorder- und Rückgebäude und ihre Höhe waren genau geregelt. 22 Vgl. Rönnebeck, Stadterweiterungen und Verkehr (wie Anm. 18), S. 39.

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rem Rahmen in geordnete Bahnen zu lenken. Auch der viel umstrittene Hobrechtplan in Berlin entwarf noch kein differenziertes Planungsschema für die ganze Stadt, obgleich hier eine neue Dimension der Weiträumigkeit und des Vorausdenkens erreicht ist.23 Die innere Aufteilung und Ordnung der Erweiterungsdistrikte folgte bis zum Ende der 1880er Jahre mehr oder weniger strikt den Schemata der sogenannten »künstlichen Stadterweiterung«: dem »Rechteck- oder Dreiecksystem« oder auch einer Mischung beider. Insbesondere das Rechtecksystem beherrscht das Erscheinungsbild der Großstadt im 19. Jahrhundert. Es teilte die zur Bebauung vorgesehene Fläche durch ein gleichmäßiges System gleichgroßer Straßenzüge in einheitliche Raster; daraus ergaben sich die eminenten Vorzüge des Systems: die Einteilung in gleichmäßig große, leicht bebaubare Parzellen und die unbegrenzte Erweiterungsfähigkeit. Demgegenüber warf das Dreiecksystem immer wieder die Schwierigkeit auf, unregelmäßige und also schwer zu bebauende Parzellen insbesondere an den Schnittstellen der Straßen zu schaffen. Seit der Jahrhundertmitte bemühten sich die Städteplaner aber schon vielfach, den strengen und starren Schematismus des Rechtecksystems durch unterschiedliche Blockabmessung, variierende Straßenquerprofile oder vereinzelt auch durch gekrümmte Straßenführung aufzulockern. Die hier allgemein skizzierten Entwicklungen und Tendenzen der Stadterweiterung finden sich exemplarisch auch in München. Das Einreißen der Wälle zwischen 1795 und 1801 legte um die alte Stadt einen schmalen Ring, der entweder grün blieb oder zur Anlage neuer, ringförmiger Straßenzüge – wie der Sonnenstraße – oder Plätze, wie dem Maximiliansplatz, genutzt wurde. Jenseits dieser Grenze erfolgte in der Ära Max-Josephs – also bis 1825 – die Anlage der Maxvorstadt. Der städtische Baukörper dehnte sich dabei nach Norden im Winkel zwischen Brienner Straße und Ludwigstraße aus, die auf der Grundlage älterer topographischer Gegebenheiten – der Schwabinger Landstraße und des Walles – neue städtebauliche Hauptachsen schufen. Die nächste systematische Stadterweiterung, die Anlage des Gärtnerplatzviertels ab 1860, erschloss das noch weitgehend unbebaute Gelände der Isarvorstadt zwischen dem Tal, also der Hauptachse zur Isarbrücke, altem Stadtkern im Westen und Isar im Osten. Das sogenannte Franzosenviertel am Ostbahnhof, dessen Plan von Oberbaurat Zenetti 1870 fertiggestellt wurde, schließt östlich an die eingemeindete Vorstadt Haidhausen an, nördlich der radialen Hauptverkehrsader der Rosenheimer Straße (Abb. 10). Im Norden und Nordosten entwickelte sich das Wachstum entlang der Schwabinger Landstraße, der 23 Gerade dies brachte aber auch Gefahren mit sich. Die Kritik am Hobrechtplan wirft ihm vor allem vor, er habe die Bauspekulation auf die von ihm aufgeschlossenen Teile des Stadterweiterungsgebietes gelenkt und damit zur übermäßigen Konzentration der Bevölkerung in bestimmten Quartieren mit extrem verdichteter Überbauung beigetragen.

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Schleißheimer Straße und der Dachauer Straße. Die Zwickel zwischen diesen Radialachsen wurden durch die Alignementpläne für Schwabing und Neuhausen aufgefüllt. Bis 1893 fügte man in den verschiedenen Wachstumszonen der Stadt jeweils kleinere Flächen von Fall zu Fall an. Die Ordnungsprinzipien für die topographische Gestaltung sind auch hier zunächst die des sogenannten »geometrischen Städtebaus«. Die Tradition von Stadterweiterungsanlagen, die ihre Gestalt dem Repräsentationswillen absolutistischer Monarchen verdanken, geht dabei einigermaßen bruchlos in das Erweiterungsdenken eines Planers wie des Stadtbaurats Arnold Zenetti über, der als repräsentativ gelten kann für die Stadterweiterungskonzeptionen der 1860er, 1870er und 1880er Jahre.24 Es gilt hier allerdings zwischen der Kontinuität von wiederaufgenommenen barocken, klassizistischen und spätklassizistischen Städtebaukonzeptionen monarchisch-residenzstädtischer Provenienz, sozialräumlicher Aufteilung, wohnräumlicher Qualität und Quartierbildung im Stadterweiterungsgebiet zu unterscheiden und deren Zusammenhang jeweils im Einzelfall zu untersuchen. Die nach Entwürfen von Sckell und Fischer zu Beginn des 19. Jahrhunderts angelegte Maxvorstadt zerfällt deutlich in zwei Teile: einen vergleichsweise kleinen symmetrischen Zwickel im Süden, teils villenartig offen, teils geschlossen bebaut, aber von Anfang an gedacht als Wohnbezirk für die Oberund Mittelschicht. Dieser Bezirk vermittelt zwischen der alten Kernstadt und der weit ausgreifenden, auch urbanistischen, Kunststadtkonzeption Ludwigs I. mit der Achse der Brienner Straße, dem Rondell des Karolinenplatzes und dem Obelisk als Monument zur Erinnerung an die Gefallenen der napoleonischen Kriege, mit den Propyläen, der Glyptothek und dem Kunstausstellungsgebäude am Königsplatz und mit den Pinakotheken im Norden. Der nördliche Teil der Maxvorstadt ist vollkommen regelmäßig und mit sehr groß dimensionierten Baublöcken, schematisch und undifferenziert bebaut, – gerade auch deswegen, weil diese Erweiterungszone für das Gewerbebürgertum und damit auch die Mischlage von Gewerbebetrieb und Wohnung gedacht war, wobei die Überbauung der einzelnen Karrées dem Bedarf überlassen blieb. Die Planung selbst stellte nur sicher, dass geschlossene Straßenfronten entstanden. Hier schloss die Bebauung zuerst die Fronten zur Straße hin. Im Zuge der Bevölkerungsverdichtung seit den 1850er Jahren wurden aber auch die Innenhöfe der regelmäßigen Karrées immer dichter mit Flügel- und Rückgebäuden überzogen, so dass hier bis zur Jahrhundertwende ein eng bebautes Viertel entstanden war, in dem kleine Gewerbebetriebe, Wohnungen für Handwerker, aber auch für großbürgerliche Beamtenfamilien, die Professorenschaft der nahen Universität, für Freiberufler und Künstler eng beieinander lagen. 24 Zu den Stadterweiterungsplanungen stütze ich mich im folgenden auf Selig, Münchner Stadterweiterungen (wie Anm. 18).

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Die formale Gestalt des ersten großen Neubauviertels der zweiten Jahrhunderthälfte ist dann bereits das Ergebnis eines neuartigen Zusammenspiels von königlicher Baukommission mit ihren gestalterischen Vorstellungen, Stadtmagistrat und privater Bodenspekulation. 1830 bereits hatte der neuadlige Hofbankier und kgl. Kämmerer Simon von Eichthal einen Plan zur Erschließung des Geländes rund um die Fraunhoferstraße eingereicht. Es handelte sich um den Kernbereich der späteren sogenannten »Isarvorstadt« zwischen südlicher Altstadt und Isar, ein feuchtes, von Bächen durchzogenes, von einzelnen Gewerbebetrieben genutztes Terrain, das Eichthal aufgekauft hatte. Eichthal plante, das Gelände zu parzellieren und dann die Grundstücke für einen von ihm erhofften Mietshausbau größeren Stils zu verkaufen. Da aber die Nachfrage nach Mietshäusern in München – anders als in Berlin – bis zum

Abb. 10: Übersichtsplan, Münchener Osten (1908); links mit den radialen Straßenzügen das Isar- oder Gärtnerplatzviertel, rechts auf halber Höhe das Ostbahnhof- oder »Franzosenviertel«

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Ende der 1860er Jahre gering blieb, mussten Simon und später sein Sohn Carl Eichthal mit der gewinnträchtigen Aufschließung des Terrains bis zum Beginn der 1860er Jahre warten. 1861 konnte mit dem Verkauf der Parzellen und dem Bau des Viertels begonnen werden. Entscheidend ist, dass hier in den 1860er und 1870er Jahren ein Wohnviertel noch nach den spätklassizistischen Ordnungs- und Schönheitsvorstellungen der 1820er Jahre errichtet wurde – im Grundriss sternförmig von einem zentralen Platz, dem Gärtnerplatz, ausstrahlend, die Straßen begrenzt von geschlossenen Häuserfronten aus einheitlich viergeschossigen Häusern mit gleicher Traufhöhe und Dachform – das ganze Neubauviertel von der baulichen Gestalt her in sich weitgehend vereinheitlicht. Eichthal versuchte offenkundig, sein spekulatives Stadterweiterungsprojekt »emporzusanieren« und damit beim Grundstücksverkauf eine entsprechende Wertsteigerung zu erzielen; dieser Absicht dürfte sowohl die Zentralisierung der Anlage um einen repräsentativ ausgestalteten Platz, wie vor allem der Bau eines Theaters gedient haben, das gegen den anfänglichen Widerstand der staatlichen Aufsichtsbehörde, aber mit – vorsichtiger – Unterstützung des Magistrats geplant und äußerst zügig errichtet wurde (das »Gärtnerplatztheater, 1865), woraufhin der Häuserbau am Platzrondell erst richtig in Gang kam. Das »Emporsanieren« eines alten Arme-Leute-Viertels oder eines sozial abgesunkenen Stadtteils durch ein repräsentatives, meist öffentliches Gebäude ist ein häufig praktiziertes Konzept des alteuropäischen Städtebaus. Im Fall der Isarvorstadt in spekulativer Absicht durchgeführt, trieb es einen charakteristischen Widerspruch hervor; das spätklassizistisch-residenzstädtische Gestaltungsrepertoire ließ sich vorzüglich instrumentalisieren für eine optimale Kapitalverwertung im Mietwohnungsbau.25 Hinter dem schlichten, seiner ursprünglichen Verwendung nach betont großbürgerlich-aristokratischen Lebensformen zugeordneten Fassadentypus breitete sich in den 1880er und 1890er Jahren das konzentrierteste Wohnungselend der Landeshauptstadt aus – neben dem urbanistisch vergleichbaren Franzosenviertel in Haidhausen rechts der Isar und den seit der Mitte der 1880er Jahre weitgehend gestaltlos-wildwüchsig entstehenden Arbeitervierteln im Westend und um den Schlachthof herum. Über den Transmissionsriemen der Kapitalverwertung übernahm ein betont vornehmes Formenarsenal die Funktion, Solidität und Stil vorzutäuschen, wo Armut und Bedrängnis vorherrschten. Form und Gehalt, Dekorum und Realität waren auseinander25 Vgl. dazu auch Fisch, Stadtplanung im 19. Jahrhundert (wie Anm. 19), Tabelle 18. 1875 bereits standen die im Gärtnerplatzviertel gelegenen Reichenbach- und Corneliusstraße mit 60,7 und 55,6 Einwohnern je Anwesen an der dritten und vierten Stelle unter den fünf relativ am dichtesten bewohnten Straßen Münchens, 1880 und 1885 gehörten drei, 1890/95 zwei der fünf dichtest besiedelten Straßen zum Gärtnerplatzviertel, 1890 nahm die Westermühlstraße mit 84,0 und die Ickstattstraße mit 82,4 Einwohnern pro Anwesen die absolute Spitzenposition ein.

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getreten, das anschauliche Erscheinungsbild eines Wohnviertels und seine ökonomisch-soziale Struktur hatten nichts miteinander zu tun. Hier trat eine neuartige Ungleichzeitigkeit zwischen der Geschichte der Formen und dem ökonomisch-sozialen Modernisierungsprozess auf, der zweifellos gefördert wurde durch den Residenzstadtcharakter Münchens. Städtebau und Stadterweiterungsplanung blieben dem residenzstädtischen Ordnungs- und Gestaltungsmodell des Ancien Régime noch verpflichtet, während sich die eigentliche Wachstumsdynamik der Stadt auch hier spätestens seit der landesweiten Einführung von Gewerbefreiheit und Freizügigkeit 1868 dem ökono-

Abb. 11: Gärtnerplatz, Grundriss. Hell hervorgehoben das heute denkmalsgeschützte Ensemble

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mischen Konkurrenzprinzip der liberalen und individualistischen bürgerlichen Gesellschaft und weitgehend industrialisierungsbedingten Urbanisierungsprozessen verdankte. Als typische Stadterweiterungsplanung der Gründerzeit ist auch das Ostbahnhofviertel (auch »Franzosen-Viertel« wegen der Straßennamen nach Schlachten aus dem deutsch-französischen Krieg) das Ergebnis einer großangelegten Bauspekulation des Barons Carl von Eichthal. Eichthal hatte fast das ganze Gelände zwischen dem späteren Ostbahnhof, der Ausfallsachse der Rosenheimer Straße und der späteren Wörth- und der Steinstraße aufgekauft – wohl im Wissen um die Errichtung des Ostbahnhofs, die seit 1868 projektiert wurde. Nachdem mit dem Bau der Eisenbahnlinie nach Simbach und Rosenheim durch die Ostbahngesellschaft die grundsätzliche standortpolitische Entscheidung gefallen war, überplante der städtische Oberbaurat Arnold Zenetti das Gelände zwischen Bahnhof und dem alten Kern der eingemeindeten Vorstadt Haidhausen. Ausgehend vom Bezugs- und Blickpunkt des Bahnhofs entwarf er ein regelmäßiges Rechteckraster, in sich zusätzlich gegliedert durch vom Ostbahnhof ausstrahlende Diagonalen (vgl. Abb. 10, S. 286; rechts am Bildrand der Orleansplatz am Ostbahnhof). Damit hielt Zenetti zwar am herkömmlichen geometrischen Grundschema fest; der Eindruck von Starrheit und Öde, der sich aus einem Netz rechtwinklig oder in einem Winkel von 45 Grad aufeinandertreffender Straßen mit fugenloser Blockbebauung auf gleichgroßen Parzellen und mit einheitlicher Gesimshöhe ergibt, ist auch heute aus dem Gebiet zwischen Rosenheimer- und Wörthstraße nicht wegzudiskutieren. Aber es gelang ihm doch eine gewisse Rhythmisierung und Auflockerung im baulichen Erscheinungsbild des Viertels, indem er halbrunde, runde und quadratische Platzformen (Orleansplatz, Weißenburgerplatz und Pariserplatz) und forumsartige Straßenerweiterungen abwechselte und den Straßen unterschiedliche Querprofile gab. Die geschlossene Bauweise, die bei Straßenbreiten von nicht mehr als 50 bis 80 Fuß und bei vier- oder fünfgeschossigen Häusern einen schluchtartigen Raumeindruck vermittelt, genügte sowohl den Bestimmungen der Münchner Bauordnung von 1863 als auch den Verwertungsinteressen des Grundbesitzers, wobei das eine, die Bauordnung, nicht aus dem anderen, den spekulativen Interessen, abgeleitet werden kann. In der Urbanisierungsphase der Großstadt München traf das noch im Ancien Régime wurzelnde Konzept eines zugleich funktionalen, aber auch Anforderungen der Würde und Ansehnlichkeit genügenden Ausbaus der Hauptstadt mit den Leitvorstellungen des liberal orientierten Städtebaus der Gründerzeit, nämlich Funktionalität, Verkehrsgerechtigkeit und Reduktion des Staatseinflusses sowie mit den charakteristischen Interessen kapitalistischer Bodennutzung zusammen – wiederum, ähnlich wie beim Gärtnerplatzviertel, mit widersprüchlichen Ergebnissen. Mit urbanistischen Motiven des barocken Städtebaus und dem Formenrepertoire der Platzfiguren 289

wird dem Viertel eine ästhetische Grundstruktur aufgeprägt, die mit dem Dekorum der Neurenaissancefassaden aus den 1870er und den Neubarockfassaden aus den 1880er Jahren durchaus harmoniert, zugleich aber eine Geordnetheit des gesellschaftlichen Lebens suggeriert, die der Wirklichkeit in keiner Weise entsprach. Der vergleichsweise hohe Bestand an Leerwohnungen – 1880 circa 12%, 1890 circa 9% im Stadtbezirk XV (= Franzosenviertel) – verdeutlicht, wie sehr hier am Bedarf vorbeigebaut worden war.26 Daher wurden die Wohnungen geteilt, mit dem Ergebnis, dass die durchschnittliche Zahl der Haushalte pro Anwesen in einzelnen Straßen bis 1910 auf 16, 18, im Extremfall der Lothringerstraße auf 26 ansteigen konnte, die Behausungsziffer sogar gelegentlich auf 100 Personen pro Anwesen – bei einem Münchner Durchschnitt von 8,8 Haushalten pro Anwesen und 35,6 Bewohnern pro Anwesen.27 Es handelt sich beim optischen Erscheinungsbild des Viertels allerdings um eine Fiktion, die aus heutiger Sicht über ihre ästhetische Dimension und ihre optischen Reize eine gewisse Autonomie gegenüber den damit verdeckten realen Lebensformen beanspruchen kann und in den letzten zwanzig Jahren eine überraschend weitgehende Rechtfertigung erfahren hat. Im Rahmen herkömmlicher städtebaulicher Prinzipien, aber mit der Besonderheit innerstädtischer Pavillonbebauung ausgezeichnet, hielt sich auch die Ausgestaltung des Wiesenviertels im Halbkreis um die Theresienwiese. Hier fand man 1882 nach langem Tauziehen zwischen den Gemeindekollegien, besonders dem Magistrat einerseits und den Grundbesitzern des bis zu Beginn der 1880er Jahre unbebauten Areals andererseits, einen Kompromiss, in dem Baurat Voit zahlreiche Entwürfe aus den vorangegangenen acht Jahren zu dem Konzept verarbeitete, das heute praktisch unverändert erhalten ist.28 Er zentrierte die Anlage auf den Festplatz der Theresienwiese hin, so dass die Querstraßen im Raum zwischen Schwanthaler-Paul Heyse/Herzog-Heinrich- und Lindwurmstraße alle auf die Bavaria zulaufen (Abb. 9). Wie vorgesehen entstand nach diesem Konzept in der Umgebung des Stadtparks Theresienwiese ein Viertel mit Mietvillen vornehmen Zuschnitts. Die Stadt erließ zu diesem Zweck detaillierte Bauvorschriften; an allen Straßen durften nur einfache Bauten oder Pavillongruppen bis 35 m Länge entstehen, wobei jede Pavillongruppe eine architektonische Einheit bilden sollte; die Gebäudehöhe wurde für Vorderbauten auf 15 m, bei Rückgebäuden auf 8 m festgelegt; 26 E. Hertrich, Probleme der Verwaltung eines Arbeiterviertels. München Haidhausen 1854– 1914, Magisterarbeit München 1983, S. 61. 27 Ebd., S. 84. 28 Zu dem rechtlichen Instrumentarium, das die städtischen Juristen dabei entwickelten vgl. Fisch, Stadtplanung im 19. Jahrhundert (wie Anm. 19); vgl. dazu auch den Beitrag von S. Fisch, Neue Aspekte der Münchener Stadtplanung zur Zeit Theodor Fischers (1893 bis 1901) im interurbanen Vergleich, in: W. Hardtwig u. K. Tenfelde (Hg.), Soziale Räume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im internationalen Vergleich 1850–1933, München 1990, S. 175–191.

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zwischen den Häusern musste ein Abstand von 12 m eingehalten werden; zum Bavariaring hin, der das Viertel in der Richtung zur Theresienwiese abschließt, waren Vorgärten von 8 m Tiefe vorgeschrieben, alle Einfriedungen durften nur mit Eisengittern vorgenommen werden; »lästiges Gewerbe« war verboten. Mit diesen Auflagen erzwangen die städtischen Juristen zusammen mit den Beamten des Stadtbauamtes die optische Konzentration auf die stattlichen, vielfach historistisch mit Türmen, Erkern, Freitreppen, Dachvorsprüngen und Portalschmuck ausgestalteten villenartigen Großbauten in gartenartigen Anlagen, wobei der Blick auf die Architektur durch das Verbot von Mauerzäunen freigehalten wurde.29 Noch vor dem Durchbruch einer neuen Auffassung von der Notwendigkeit eines nicht mehr nur rational-pragmatischen, sondern »künstlerischen Städtebaues« seit dem Beginn der 1890er Jahre setzte sich damit zumindest der Wunsch nach gesteigerter optischer Abwechslung und Überraschung, nach architektonisch-plastischer Gruppierung von Bauten auf einem kleinen Fleck des innerstädtischen Siedlungsbereiches durch. Im übrigen verraten die Auseinandersetzungen um die Bebauung der Theresienwiese, zu der das schließlich verplante Areal ursprünglich gehört hatte, dass sich neben dem üblichen Konflikt zwischen Grundbesitzern und Stadtbehörde erstmals ein breiteres Interesse des städtischen Publikums an Fragen der Stadtgestaltung regte. Insofern kann die Suche nach einem Kompromiss zwischen Partikularinteressen und Gemeinwohl im Fall des »Wiesenviertels« als symptomatisch gelten für eine neue Aktualisierung des Problems »Städtebau« in der städtischen Öffentlichkeit und für einen tiefgreifenden Bewusstseinswandel, der schließlich seit 1889 über die Grenzen der einzelnen Großstädte hinweg zu einer neuen Bewertung aller mit dem Städtebau zusammenhängenden Fragen führte. 1889 hob der Wiener Architekt und Leiter des staatlichen Kunstgewerbemuseums, Camillo Sitte, die theoretische und indirekt auch praktische Auseinandersetzung mit dem Städtebau auf eine neue Ebene. Durchaus im Kontext der zeitgenössischen städtebaulichen Diskussion, aber doch einen wesentlichen Schritt über die dominierende funktional-technische Sichtweise hinausgehend verlangte er, ästhetische oder, wie man damals vielfach synonym dazu sagte, malerische Gesichtspunkte stärker als bisher zu berücksichtigen, ohne die Funktionstüchtigkeit als Hauptgesichtspunkt aller städtischen Raumordnung hintanzustellen.30 Sittes Buch brachte Nöte und Lösungsmöglichkeiten des Städtebaus in der Phase stärkster Bevölkerungsverdichtung auf eine kurze Formel, die freilich nur vorübergehend tragfähig war. Gegenüber der Ver29 Vgl. Selig, Münchner Stadterweiterungen (wie Anm. 18), S. 72ff. 30 C. Sitte, Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (wie Anm. 10); grundlegend zur Geschichte der Städtebautheorie in Deutschland 1870–1914: G. R. Collins u. C. C. Collins, Camillo Sitte and the Birth of Modern City Planning, London 1965.

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ödung der Stadt und ihres baulichen Erscheinungsbildes brachte er rationalitäts- und modernitätskritisch ein ursprüngliches Verlangen nach Vielgestaltigkeit, Abwechslungsreichtum und Proportionierung der gebauten Umwelt zum Ausdruck und empfahl die Rückkehr zu Gestaltungsprinzipien der mittelalterlichen, der Renaissance- und der Barockstadt. Mit seinen Beispielen schöpfte er späthistoristisch aus dem unbegrenzten Schatz historischer Vorbilder, die er nicht nur gelehrt analysierte, sondern deren noch präsenten Zauber er dem gebildeten Kenner alter Städte, insbesondere des Südens, nostalgisch in Erinnerung zu rufen verstand. Scharfsinnig kritisierte er etwa den Verlust an Proportion und sinnentsprechender Gliederung besonders bei der Ausgestaltung der Plätze. Aus heutiger Sicht freilich tritt die Widersprüchlichkeit seiner Vorschläge scharf hervor. Wenn er darauf hinwies, dass die Platzanlagen der alten Städte auch Zwecken der politischen Repräsentation und der öffentlichen Feste gedient hätten, so ließen sich diese Funktionen der mittelalterlichen oder frühneuzeitlichen politischen Körperschaft »Stadt« in der modernen industrialisierten und technisierten Einwohnergemeinde nicht einfach wiederherstellen. Wenn er zu Recht darauf insistierte, dass Stadt und Platz in der alten Stadt nicht nur Ort des Verkehrs und der schnellstmöglichen Verbindung von A nach B gewesen sei, so ließen sich gerade bei der Trennung von Arbeits- und Wohnplatz, bei der Verdichtung und Technisierung des Verkehrs Straße und Platz nicht einfach als Kommunikationsraum im alten Sinne wiederherstellen. Die Fragen der Massenunterbringung in Mietshaus und Wohnhausbau ließ Sitte in seiner Fragment gebliebenen Schrift ganz außer acht. Sein künstlerisches Konzept, die Herstellung malerischer Wirkungen durch Blickführung in Toren und Bogen, durch asymmetrische Gruppierung der Bauten, durch Herstellung von Bauensembles, in denen etwa die Kirche nicht mehr freigestellt werden sollte wie bisher, unterlag letztlich einem unaufhebbaren Widerspruch: dass das »Gewachsene« der alten Städte, in denen das Stadtganze aus lokalen geographischen Voraussetzungen, aus einem Jahrhunderte langen Wachstum, aus wirtschaftlich-sozialen Machtverhältnissen, aus politischen und religiösen, symbolischen Bedeutungen, die längst verloren waren, in einem kurzfristigen ästhetischen Kalkül wiederhergestellt werden könne. Es ist aber unverkennbar, dass auch in der modernen Großstadt, ohne dass die politische, gesellschaftliche und religiöse Realität der alten Stadt wiederherstellbar gewesen wäre, durch rationales künstlerisches Kalkül in Anlehnung an die historischen Vorbilder künstlerische Formen geschaffen wurden, die auf das ästhetische Bild der Stadt und damit auf die sinnlich vermittelte Wahrnehmung der räumlichen Umwelt unmittelbar einwirken konnten. Was die Anwendung der neuen Städtebautheorie in München angeht, so hat u.a. Theodor Fischer als Leiter des 1893 neu geschaffenen Stadterweiterungsbüros am städtischen Bauamt mit einigen wenigen Akzentsetzungen die be292

reits bestehende Alignementplanung in Schwabing im Sinne von Sittes Lehren umgestaltet: Durch Verschmälerung oder Verbreiterung von Straßen und durch asymmetrische Platzanlagen brachte er Abwechselung in die Gleichförmigkeit und gab der heutigen Gestalt Schwabings mit der Leopoldstraße ein axiales Zentrum. Auf der Grundlage von Sittes städtebaulichen Reformvorschlägen, wachsender Anforderungen an die Gemeindegremien durch eine Vielzahl jetzt nötiger neuer oder neuen Situationen anzupassender Stadterweiterungsplanungen, schließlich gefördert auch durch das Zusammentreffen zufälliger günstiger Umstände, kam es dann 1893 zur Ausschreibung jenes in der Städtebauliteratur vielzitierten Münchner Stadterweiterungswettbewerbs, in dem erstmals Planungskonzepte für den gesamten Stadtraum angefordert wurden – bezogen auf die Annahme eines weit in die Zukunft hineinreichenden weiteren Wachstums der Stadt. Im Gefolge des Wettbewerbs richtete der Magistrat 1893 ein spezielles Stadterweiterungsbüro beim Stadtbauamt ein, mit dem – durchaus gegen Widerstände aus dem Gemeindebevollmächtigtengremium – Stadtplanung institutionalisiert wurde. Unter Federführung der Bürgermeister und des Leiters des Büros, Theodor Fischer, erarbeiteten Architekten und Juristen schließlich zwischen 1900 und 1904 den Staffelbauplan für die gesamte Stadt München, der es erlaubte, mit einem flexiblen Instrumentarium die Art, Höhe und Dichte der Bebauung für den ganzen Stadtraum nicht nach einer schematischen ringförmigen Zoneneinteilung, sondern ausgerichtet am differenzierenden Prinzip einzelner Stadtteilzentren, zu steuern. Gegenüber dem vorherrschenden, angesichts des Problemdrucks im rapiden Städtewachstum aber modifizierungsbedürftigen rein liberalen Eigentumsverständnis schränkte dieses Planinstrument die unbedingte private Baufreiheit auch durch den Grundsatz kommunaler Planungshoheit ein.31

V. Zu den stadtbildbeherrschenden Bauten gehört neben den spezifisch-modernen Bauaufgaben wie Bahnhof, Krankenhaus oder Ausstellungshalle nach wie vor eine, wenn nicht die traditionelle Bauaufgabe überhaupt: die Kirche. Für uns heute sind die Kirchen dieser Epoche Bestandteil der alltäglichen Lebensumwelt: St. Paul an der Theresienwiese von Georg Hauberrisser (1906 geweiht); Neu-St. Anna im Lehel von Gabriel von Seidl, städtebaulich außergewöhnlich gelungen eingeführt in den alten intimen Vorstadtplatz; die Heiligkreuzkirche, die mit ihrer prägnanten Einturmfassade auf dem Giesinger 31 Zusammenfassend dazu jetzt Fisch, Stadtplanung im 19. Jahrhundert (wie Anm. 19), S. 254–270.

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Berg aufragt; St. Maximilian am westlichen Isarufer, das weithin sichtbare Münchner Notre Dame sozusagen (1901 geweiht); die Schwabinger Pfarrkirche St. Ursula (1897 geweiht), von August Thiersch in lombardischem Quattrocento-Stil errichtet, ein wirkungssicherer Abschluss der Friedrichstraße; oder das stilistisch anspruchsvolle neuromanische St. Benno (1895 geweiht), errichtet von Leonhard Romeis, der die Dome von Limburg, Bamberg und Basel zu synthetisieren versuchte (Abb. 12). Unser Thema sind hier nicht primär Stilfragen,32 sondern die Frage nach den raumorganisierenden Kräften und Antrieben der städtischen Gesellschaft und den ökonomischen, politischen und konfessionellen Bedingungen, unter denen die Kirche ihren Teil zur räumlich-sozialen Durchgliederung der Stadt und zum sozialen Handeln in diesen Räumen beitrug. Angestoßen wurde die Neubautätigkeit durch eine spezifisch urbanisierungsbedingte Notlage – das Wachstum der großen Stadt seit der Jahrhundertmitte. Die alte Pfarrsprengeleinteilung platzte aus allen Nähten.33 Das Wachstum hatte einerseits die alten innerstädtischen Pfarreien erfasst – wie die St. Anna-Vorstadt im Lehel, die von 3.000 1808 auf 17.000 »Seelen« 1880 zunahm; es hatte aber auch die eingemeindeten Vororte ergriffen. Als ein Beispiel für viele: Giesing zählte 1872 circa 8.000 Pfarrmitglieder, 1910 über 30.000. Die Kirche reagierte schließlich darauf. Erzbischof Anton von Steichele beschrieb in einem Aufruf am 20.11.1883 den Notstand der Münchner Seelsorge, appellierte an die Opferwilligkeit der Gläubigen und kündigte die Gründung von zunächst 3 neuen Pfarreien an. 1884 gründete er einen Zentral-KirchenbauVerein, unter dessen Dach in den einzelnen Pfarrgemeinden zusätzlich eigene Kirchenbauvereine entstanden. In einem Wettbewerb wurde der zu bauende Entwurf ermittelt. Auf diese Weise entstand am Rande der Altstadt und in den Stadterweiterungsgebieten ein Kranz neuer und meist höchst monumental konzipierter Kirchenbauten, insgesamt zwischen 1887 und 1908, also innerhalb von 19 Jahren, 12 katholische Pfarrkirchen. Finanziert wurden sie nach einem identischen Grundmuster: Wohlhabende Gemeindemitglieder stifteten meist einen Teil oder das ganze Grundstück, so bei St. Anna der ehemalige Sägemüller und spätere Privatier Georg Heindl, so auch bei St. Margareth in Sendling, wo 1896 drei Bauern oder »Gutsbesitzer« den Platz für die Kirche hergaben. Die Stadt gewährte einen erheblichen Zuschuss, so bei St. Anna 100.000 Mark bei einem Kostenvoranschlag für den gesamten Kirchenbau von 550.000 Mark. Einen erheblichen Betrag brachte immer der lokale Kirchenbauverein zusammen. Wohlhabende eingesessene Bürger hatten mit der tradi32 Vgl. dazu H. Habel, Der Münchner Kirchenbau im 19. und frühen 20. Jahrhundert, München 1971. 33 Zum Folgenden ausführlicher und mit den entsprechenden Einzelbelegen: Hardtwig, Soziale Räume, (wie Anm. 2), S. 135–147.

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tionellen Frömmigkeitsäußerung der Stiftung daran erheblichen Anteil, am markantesten wohl der Bildhauer und Erzgießer Ferdinand von Miller, der mit der Stiftung des Baugrundes für St. Benno ein Gelübde für die glückliche Aufstellung der Bavaria erfüllte. Bewusst im Sinne der patriarchalischen Tradition bewegte sich auch der Prinzregent, wenn er das Patronat über einen Neubau übernahm, oder wenn er sich mit Schenkungen an der Innenausstattung beteiligte (so z.B. mit dem Hochaltar von St. Benno). Stilistisch spannt der Münchner Kirchenbau zwischen 1830 und 1914, mit dem entschiedenen Schwergewicht auf den Jahren der dynamischsten Urbanisierungsphase zwischen 1887 und 1912, den Bogen vom frühen neugotischen Historismus der Maria-Hilf-Kirche über die dogmatisch-starre Stilnachahmung der neugotischen Hl.-Kreuzkirche bis zum synkretistischen Historismus etwa Gabriel von Seidls, der in St. Rupert im Westend eine neuromanische Formensprache mit barocken Raumkonzeptionen zu verschmelzen suchte. Auf die gehäuften Probleme, die sich aus dem nie dagewesenen Bevölkerungswachstum ergaben, auf die Verdichtung des Wohnens, die sozialräumliche Segregation der Handwerker- und Arbeiterviertel, die räumliche Ausprägung industriegesellschaftlicher Klassenschichtung, auf die hohe Mobilität der Arbeiterschaft, die Politisierung auch der kommunalen Entscheidungsgremien reagierten katholischer Klerus und Bevölkerung mit dem Bau großräumiger Pfarrkirchen, die sich an die romanischen und gotischen Dome und Stifte und an barocke Kirchen- und Klosteranlagen anlehnten. Gabriel von Seidl spielte bei St. Anna auf die romanische Portalplastik von Autun oder St. Trophîme in Arles an, auf das Hauptportal von Vézelay und das Fürstenportal von Bamberg. Bei der Pfarrkirche St. Rupert im Zentrum des Arbeiterquartiers Westend arbeitete Seidl mit Zwerggalerien, Blendarkaden und Blendzwerggalerien, die die Außenansicht an eine romanische Dreikirchenanlage wie St. Aposteln in Köln annähern. Was aber verband die Handwerker, Krämer und Angestellten im Lehel mit dem Hauptportal in Vézelay, was die Neuhausener Arbeiter und Kleinbürger mit der Formensprache des Limburger Doms, die ihnen in St. Benno vorgesetzt wurde? Die Kirchen vor allem aus den Jahren eines systematisierten Sakralbaus nach 1883 sind in der Tat »bühnen-bildhafte Schauplätze des privaten und gesellschaftlichen Lebens, welche die unästhetisch gewordene, sozial rückständige industrielle Arbeitswelt und deren Probleme verleugnen und die harte Realität eines auf Produktion und Profit eingestellten Alltags verschleiern«; durchwegs haftet »diesen meist überdimensionierten Pfarrkirchen etwas Irreales an, ein Mangel an Bindung an das Volk, eine Diskrepanz zu den realen Bedürfnissen«.34 Es ist kaum vorstellbar, dass diese gelehrte Stilkunst im proletarischen oder kleinbürgerlichen Milieu der Hochindustrialisierungsära 34 Habel, Der Münchner Kirchenbau (wie Anm. 33), S. 32.

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Abb. 12: Pfarrkirche St. Benno in München-Neuhausen von Leonhard Romeis (1893–1895)

eine reale, daseinsprägende Gegenwelt vergegenwärtigt habe, wie dies bei den historischen Vorbildern der Fall gewesen sein mag. Ökonomische Realität, soziale Alltagserfahrung, religiös-kirchliche Lebensinterpretation, Frömmigkeit oder Indifferenz der Vorstadtbewohner und die Gestalt des christlichen Kultraumes waren jedenfalls nicht im Einklang. Ideologische Züge dieses dekorativen Historismus sind unübersehbar. Für St. Rupert im Westend musste Gabriel von Seidl – der Repräsentant münchnerischen Heimatstils und bevorzugter Architekt des süddeutschen Großbürgertums und des Neuadels – mit extrem niedrigen Baukosten auskommen. Sie kontrastieren merkwürdig zu der ostentativen Monumentalität des neuromanischen Sakralbaus. Die bürgerliche Kunstschriftstellerei der zwanziger Jahre enthüllt nichtsahnend, aber überdeutlich die Verschleierungsfunktion einer solchen Formensprache: 296

»Kaum ein stärkerer Gegensatz läßt sich vorstellen zwischen der frohen Pracht des Künstlerhauses und dem strengen Ernste, der großartigen Schlichtheit der im Jahre 1901 begonnenen, 1903 vollendeten St. Rupertuskirche in dem neuen westlichen Stadtteile Münchens. Hier führte in harter, von veredelnden geistigen Anregungen ferner Arbeit eine einfache Bevölkerung ihr entbehrungsreiches Leben. Ungewisses Ahnen von etwas Höherem, Schönen jenseits der niedern Mühsal des Alltags sucht nach dem Wunderbaren in unbewußtem Sehnen, sucht es auf Wegen und Irrwegen. In alten Zeiten waren Priester zugleich Künstler, in den unserigen soll der Künstler zugleich ein Priester sein. Nur so vermag er den Weg zu zeigen, der zu den lichten Höhen führt. Erfüllung geheiligten Apostolates ist es, in das Dunkel bedrückter Gemüter, in die Armut engen Fronlebens die befreienden, beglückenden, hoffnungserweckenden Strahlen der wahren, das ist der Gott geweihten Kunst hineinleuchten zu lassen. Das ist die Bedeutung der Rupertuskirche dort draußen im Münchener Westend«.35 Eine solche Interpretation historistischer Sakralbaukunst läuft darauf hinaus, dass die architektonisch-symbolische Vergegenwärtigung der Heilsbotschaft klassenbedingtes Elend momentan vergessen machen soll; eben damit sanktioniert sie das Elend freilich auch und interpretiert es als Teil der göttlichen Erhaltungsordnung. Räumliche Distanz bedeutet soziale Distanz. Die Distanz wird durch den Integrationsanspruch des bürgerlichen Historismus zwar optisch-ästhetisch überbrückt, aber lebensweltlich und bewusstseinsmäßig nicht in Frage gestellt oder gar aufgehoben. In Einzelfällen konnte der Neubau monumentaler historistischer Kirchen in Handwerker-Arbeiterquartieren sogar Klassenspannungen innerhalb der katholischen Kirchengemeinden aktualisieren, so dass der aufkeimende Gegensatz zwischen katholischer Unterschicht und katholischem Bürgertum die Einheit des kirchlich geprägten Milieus sprengte. Der Druckpunkt, von dem aus die von Kirche und Zentrum in Anspruch genommene innerkatholische Klassenharmonie aus den Angeln gehoben wurde, ist dabei natürlich nicht die dem durchschnittlichen Gemeindemitglied fern stehende Frage des Stils, sondern das Geld. Das zeigt sich besonders deutlich am Beispiel der Kirchenbauplanung für St. Margareth in Sendung, um die zwischen 1903 und 1913 ein Konflikt ausgetragen wurde, der symptomatische Züge hat und auch über München hinaus Beachtung fand. Der 1893 gegründete Sendlinger Kirchenbauverein beschloss einen außergewöhnlich aufwändigen und monumentalen Neubau in Formen des römischen Hochbarock (Architekten M. Dosch und E. X. Boemmel), zu dessen Finanzierung 1902 ein Kredit über 700.000 Mark

35 O. Döring, Gabriel von Seidl (Die Kunst dem Volke 51), hg. v. der Allgemeinen Vereinigung für Christliche Kunst, München 1924, S. 16.

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bei der Bayerischen Hypotheken- und Wechselbank aufgenommen wurde.36 In der konjunkturellen Krise der Jahre nach 1900 war die Kirchengemeinde damit völlig überfordert, 1903 bereits konnten die Annuitäten nicht bezahlt werden. Die Sozialdemokraten nutzten diese günstige Gelegenheit zu einer sehr erfolgreichen Agitation, die ihnen die absolute Mehrheit in den Kirchengemeindegremien einbrachte, bis sie 1913 von dem jetzt nach St. Margarethen versetzten früheren »roten Kaplan« Alois Gilg, einem energischen Vertreter des Arbeiterflügels im politischen Katholizismus, nach allen Regeln der politischen Kunst wieder überspielt wurden.37 Eine solche Zuspitzung des Streits um das Sakralbauprogramm wie in Sendling blieb allerdings vereinzelt, zu Vorfällen vergleichbarer Dimension ist es offenkundig nirgendwo sonst gekommen. In der Nachgeschichte des Kulturkampfes und im Zuge der Auseinandersetzungen zwischen Zentrum und Sozialdemokraten entfachten freilich die Grundsteinlegungen und Einweihungen Münchner Vorstadtkirchen immer wieder Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit. Zweifellos ging bei alledem der Einfluss der Kirche auf das Denken und Fühlen der Vorstadtbewohner zurück, wenn auch viel weniger, als man lange geglaubt hat. Bei den entscheidenden Sendlinger Kirchenwahlen von 1913, bei denen man laut Pfarrer Gilg den Eindruck haben konnte, es handele sich um eine »hochwichtige Reichstagswahl«, traten 1155 Wahlberechtigte den Gang zu den Urnen an;38 die Pfarrstatistik von St. Benno registrierte unter den 25.000 Katholiken der Pfarrei 1904 4.000 Kirchbesucher. Von den rund 29.000 Katholiken der Pfarrei St. Benno im Jahr der Einweihung 1895 gehörten 629 dem Kirchenbauverein an, ein Verhältnis, das ähnlich auch für die übrigen Kirchenbauvereine gilt.39 Im Sozialraum des proletarischen Milieus blieb die späthistoristisch-dekorative, vom bürgerlich-gelehrten Zugang zur Vergangenheit bestimmte sakrale Kunst zwar ein Fremdkörper, der nur in bürgerlich-klassengebundenen ideologischen Äußerungen über die lebensweltliche Enge des Quartiers hinausweisen konnte. Bezogen auf die politische Bürgergemeinde, die bis 1919 vom Bürgertum bestimmt blieb, trug das Sakralbauprogramm aber zweifellos 36 Die Vorgänge in St. Margareth nach dem Bericht des Pfarrers Alois Gilg, Bericht über den Neubau der katholischen Pfarrkirche St. Margareth in München-Sendung von 1892–1918, 1935, handschriftliches Manuskript im Diözesanarchiv München, Akt des Erzbischöflichen Ordinariats München-Freising, betrifft: Pfarrkirche-Pfarrhof St. Margareth München-Sendling. 37 Zu solchen Konflikten in der Nachgeschichte des Kulturkampfes und im Zuge des Streits zwischen SPD und Zentrum, sowie zu interkonfessionell-konservativen Verbrüderungsparolen gegen die vermeintlichen Gefahren von unten vgl. z.B. Münchener Tageblatt, 31. Oktober 1889, S. 10; Augsburger Post, 16. Februar 1903; Münchener Tageblatt, 31. Oktober 1889. 38 Gilg, Bericht (wie Anm. 36), S. 72. 39 Vgl. Rechenschaftsberichte des Central-Vereins für Kirchenbau in München für die Jahre 1889–1910, München 1890–1911.

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zur Integration der Gesamtbevölkerung bei. Über die Spannungen des Kulturkampfes und seiner Nachwirkungen hinweg blieb die pfarrgemeindliche Gliederung der städtischen Bevölkerung ein grundlegender Ordnungsfaktor – die Anwesenheit von Regierungsvertretern und Magistrat bzw. Gemeindebevollmächtigten bei den Grundsteinlegungen und Einweihungen symbolisiert dies ebenso wie die Mitfinanzierung der Bauten durch Staat und Gemeinde. Auch die Monarchie blieb beim Sakralbau im Stadtraum präsent, wenn auch nur noch in sehr abgeschwächter Form. Ludwig I. hatte seine christliche Staatsidee gerade auch im Kirchenbau anschaulich gemacht. In der Regierungszeit des Prinzregenten, der Ära der liberal-kulturkämpferischen Beamtenregierungen, verblasste die Idee einer symbolischen Darstellung der Christlichkeit des Staates zum bloßen Patriarchalismus. Das kirchenbauende Bürgertum selbst betonte allerdings ausdrücklich, wie sehr bayerische Staatlichkeit, stadtmünchnerische Tradition und Religiosität in ihrem Bewusstsein zusammengehörten.40 Religiosität und Staatsloyalität, evoziert durch den sakralen Raum und eingeübt in der Praxis des kirchlichen Lebens – auf diesem nicht hinterfragten Gesinnungsfundament beruhte aber auch der evangelische Kirchenbau. Der erste Leiter des Münchener Stadterweiterungsbüros, Entwerfer des Friedensdenkmals auf dem Isarhochufer, des sogenannten »Friedensengels«, und erfolgreicher Entwerfer öffentlicher und privater Bauten, Theodor Fischer, schuf mit der Erlöserkirche (1899–1901) an der Münchner Freiheit ein künstlerisch moderneres und bedeutenderes Bauwerk als die katholischen Vorstadtkirchen. Die Erlöserkirche, betont unaufwändig konzipiert, an die Tradition spätgotischer Landkirchen angelehnt, mit dem Verzicht auf wucherndes Ornament bereits auf Stilelemente der neuen Sachlichkeit vorausweisend, in der freien und asymetrischen Gruppierung der Anräume den Ideen Sittes über einen »malerischen« Städtebau in der Moderne verpflichtet, hält auch heute dem architekturhistorisch, dem ästhetisch und dem urbanistisch interessierten Urteil stand. Das Bauvorhaben ist hier weniger klerikal dominiert, Vorsitzender des Kirchenbauvereins war nicht der Pfarrer, sondern ein Fabrikant. In seiner Ansprache bei der Einweihungsfeier beschrieb der Architekt, den man – von seinem Werk her gesehen – als Repräsentanten des kulturell fortschrittsfreudigen Teils des gebildeten deutschen Bürgertums ansehen kann, die Kirche zunächst als »ein Stück Heimatkunst, eine echt bayerische Kirche«, wobei er ihr eine aus dem deutschen Ursprung des Protestantismus begründete na40 Der Kirchenbauverein München-Sendling etwa ließ gerade in den Jahren des verschärften Klassenkonflikts in der Gemeinde seinen Rechenschaftsbericht unter dem Titel erscheinen: »Unter dem Allerhöchsten Protektorate seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Luitpold des Königreichs Verweser: Rechenschaftsbericht 1908 zur Erbauung der katholischen Stadt-Pfarrkirche als Gedächtnis an die Mordweihnacht 1705 und zur Feier der Errichtung des Königreichs Bayern 1806«, München 1909.

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tional-deutsche Bestimmung hinzufügte, die er mit Kritik an dem oft »fremdländischen« Historismus der zeitgenössischen katholischen Sakralbaukunst verband. Zum Schluss wünschte er, in dieser Kirche möge »ein Geschlecht« heranwachsen, »das Gott fürchtet, den König ehrt und der Obrigkeit gehorsam ist«.41 Als gelungenes Beispiel eines modernen Kirchenbaus um 1900 übernimmt die Erlöserkirche heute, obwohl weitgehend herausgelöst aus ihrem ursprünglichen optischen Zusammenhang, raumordnende Funktionen. Gerade diese Leistung lässt sich aber auch dem späthistoristisch-dekorativen katholischen Kirchenbau in den Münchner Vorstädten nicht absprechen. Im anschaulichen Erscheinungsbild der Stadt – und damit auch in ihrer räumlichen Ordnung – nehmen diese Kirchen einen wesentlichen Platz ein – natürlich auch deshalb, weil München, nach wie vor der Kunst- und Residenzstadt-Idee verpflichtet, stadtbildbeherrschende Großbauten für die industrielle Produktion und für die modernen Dienstleistungen nicht oder nur viertelweise konzentriert zugelassen hat. Die späthistoristischen Sakralbauten der Hochindustrialisierungsphase gehören zur alltäglichen Lebensumwelt des heutigen Großstädters, auch wenn sie nicht mehr die Zentren eines geschlossenen konfessionellen Milieus oder schichtenspezifisch bestimmter und sozialräumlich deutlich abgegrenzter Quartiere sind, und auch wenn sie noch weniger als in ihrer Entstehungszeit den ihnen zugedachten Auftrag erfüllen, die quartiersinterne Kommunikation und Geselligkeit um sich zu zentrieren. Die moderne Verkehrsführung hat sie häufig zwischen Autostraßen eingesperrt oder in eine Randlage verdrängt. Aber im Raumbild der Stadt übernehmen sie noch immer die Funktion von Mittelpunkten. Jenseits der sozialräumlichen Grenzlinien innerhalb der Stadt bildet die Erschließung der Stadterweiterungsgebiete mit den historistischen Sakralbauten ästhetisch ein integrierendes Element, das die architektonische Identität der Haupt- und Residenzstadt Bayerns wesentlich prägt. Historismus lässt sich allgemein verstehen als Versuch, der »Idee des Wahren und Schönen«, wie Heinrich Hübsch, einer der Vorkämpfer des Historismus 1822 formuliert hatte, zur Anschauung zu verhelfen.42 Das Schöne soll Mitteilung der Ordnungsgestalt der Welt im Medium des sinnlich Erfahrbaren sein. Dies, ebenso wie die darauf verweisende Idee eines Gesamtkunst41 Ansprache T. Fischers am 6. Oktober 1901, abgedruckt in: Evangelisches Gemeindeblatt. Für den Dekanatsbezirk München 10, 1901, S. 164. 42 Zu den Zielen und Funktionen des Stilhistorismus im 19. Jahrhundert vgl. W. Hardtwig, Kunst und Geschichte im Revolutionszeitalter. Historismus in der Kunst und der Historismusbegriff der Kunstwissenschaft, in diesem Band, S. 205–239, sowie M. Brix u. M. Steinhauser, Geschichte im Dienste der Baukunst. Zur historistischen Architektur-Diskussion in Deutschland, in: diess. (Hg.), Geschichte allein ist zeitgemäß. Historismus in Deutschland, Gießen 1978, S. 199–328.

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werks, die Gabriel von Seidl oder Leonhard Romeis zumindest für die bildende Kunst zu verwirklichen suchten, war in der Wirklichkeit der Hochindustrialisierungsära und angesichts der sozialen Lasten des Urbanisierungsprozesses nur noch durch »Negation des Gegenwärtigen und phantasmagorisches Zurückbeschwören des Vergangenen« möglich. So hat es jedenfalls Gottfried Semper bereits 1851 formuliert.43 Eine hochkomplexe Gesellschaft mit vielschichtigen, in sich höchst widersprüchlichen Bedürfnis- und Interessenlagen bedarf aber auch, je rascher sie sich wandelt, der Präsenz des Altvertrauten. Die Aura von Leere und Substanzlosigkeit, die von historistischen Kirchen immer auch ausgeht, entspringt ihrem Anspruch, mit historisierendem Formenrepertoire ästhetische Mimesis der Wirklichkeit zu sein – einem Anspruch, den sie nicht einlösen konnte. Er ging schon in der Entstehungszeit der Bauten an der Wirklichkeit vorbei, aber er bestimmt auch nicht mehr den Rezeptionshorizont des heutigen Betrachters und Benutzers. Die heutige Wahrnehmung zielt, vielfach entlastet von metaphysischen Postulaten, vor allem auf den Ausdruck eines entschiedenen Formenwillens und auf die optische Vielgestaltigkeit – Anschauungswerte, die seit der Krise des Funktionalismus und der Herrschaft einer Bautätigkeit, die dessen Formensprache unter dem Diktat der Profitinteressen ausgebeutet und entstellt hat, zum allgemeinen gesellschaftlichen Bedürfnis geworden sind.

43 G. Semper, Wissenschaft, Industrie und Kunst – Vorschläge zur Anregung nationalen Kunstgefühls, in: ders., Wissenschaft, Industrie und Kunst und andere Schriften, ausgewählt und redigiert v. H. H. Wingler, Mainz 1966, S. 43f.

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Herrscher – Künstler – Kenner

13. Kugler, Menzel und das Bild Friedrichs des Großen In der Geschichtskultur der Deutschen seit der Mitte des 19. bis weit ins 20. Jahrhundert hinein nimmt die von Franz Kugler verfasste und von Adolph Menzel illustrierte »Geschichte Friedrichs des Großen« eine zentrale Stelle ein. Sie beeinflusste die Vorstellung, die man sich von Persönlichkeit und Charakter, vom individuellen Lebensschicksal, der Herrschaftsleistung und der historischen Bedeutung des Königs machte, vermutlich mehr als die historische Spezialforschung einschließlich der umfangreichen Biographie Reinhold Kosers. Denn sie ermöglichte es den Lesern, sich über die intellektuelle Aneignung des Themas hinaus ein Bild, oder besser: konkrete Bilder zu machen von jener Herrscherpersönlichkeit, die – neben dem Nichtdeutschen Napoleon – auf die Machtverteilung und Staatenordnung auf dem Boden des alten »Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation« bis hin zur preußischdeutschen Reichsgründung von oben den denkbar größten Einfluss ausgeübt hat. Der tatsächlichen historischen Bedeutung entsprachen der Glanz und die Widersprüchlichkeit einer Persönlichkeit, die durch exzeptionelle Feldherrnleistungen ebenso faszinierte wie durch eine außergewöhnliche Intellektualität, durch die Beherrschung der diplomatischen Künste ebenso wie durch die immense Verwaltungsarbeit als aufgeklärter Despot und »erster Diener seines Staates«. Persönlichkeit und historische Bedeutung dieses Herrschers haben von seinen Lebzeiten an eine Vielzahl unterschiedlicher Deutungen erfahren.1 Für die Mythisierung des Königs in der kollektiven Erinnerung der Deutschen dürfte jedoch das Gemeinschaftswerk von Kugler und Menzel eine auschlaggebende Rolle gespielt haben.2 1 Zum Begriff der Geschichtskultur vgl. W. Hardtwig, Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 8f.; Zum Bild Friedrichs II. in der Geschichtsschreibung: W. Bußmann, Friedrich der Große im Wandel des europäischen Urteils, in: ders., Wandel und Kontinuität in Politik und Gesellschaft. Ausgewählte Aufsätze zum 60. Geburtstag, hg. von W. Pöls, Boppard am Rhein 1973, S. 255–288; zur Prägung des Friedrich-Bildes durch Kugler (und Menzel) noch in den Friedrich-Filmen der zwanziger Jahre vgl. S. Cornelisen, Geschichtsdarstellung im Film. Vergleichende Analyse zweier »Preußenfilme« in der Weimarer Republik, Mag.-Arbeit Berlin (HU) 1998, S. 54 u.ö. 2 Vgl. dazu vor allem F. Forster-Hahn, Adolph Menzel’s «Daguerreotypical« Image of Frede-

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Franz Kugler war, als er im Februar 1839 die Korrespondenz mit seinem Leipziger Verleger Weber über die Publikation einer Geschichte Friedrichs des Großen eröffnete, 31 Jahre alt.3 Er war eine ausgesprochene Mehrfachbegabung, hatte sich an der Universität Berlin ab 1826 und in Heidelberg überwiegend mit der Dichtung des Mittelalters befasst, ab 1827 mehr oder weniger autodidaktisch mit architekturhistorischen Studien begonnen, zusammen mit anderen jungen Malern in Berlin ernsthafte Modellstudien getrieben und nach dem Besuch der Bauakademie in Berlin 1829 das Feldmesser-Examen abgelegt, wohl in der Absicht, Architekt zu werden. Er gehörte einem Freundeskreis mit Karl Rosenkranz, Johann Gustav Droysen, Felix Mendelssohn, Friedrich Drake, Heinrich Heine und Adalbert Chamisso an. Ein »Skizzenbuch«, das er 1830 in Berlin herausgab, enthält eigene Verse und Liedkompositionen (darunter ausgesprochen populär gewordene wie »An der Saale hellem Strande«) und vor allem eigene Radierungen. Als Kugler an Menzel mit der Frage herantrat, ob er eine von ihm zu schreibende Geschichte Friedrichs des Großen illustrieren wolle, verfügte er also bereits über praktische künstlerische Erfahrung. Wissenschaftlich-literarisch war er bis dahin hauptsächlich mit dem Aufsatz »Über die Polychromie der griechischen Architektur und Skulptur und ihre Grenzen« (1835); sowie mit der ersten Auflage seines »Handbuchs der Geschichte der Malerei seit Constantin dem Großen« (1837) hervorgetreten. Unmittelbar nach dem »Friedrich« entstand seine »Pommersche Kunstgeschichte« (1840). Ab 1835 war er Professor an der Akademie der Künste in Berlin. Für die Disziplingeschichte der neuentstehenden Kunstwissenschaft war neben seinem »Handbuch der Geschichte der Malerei« vor allem sein »Handbuch der Kunstgeschichte« (1. Auflage 1842, 5. Auflage 1872) von Bedeutung. 1843 wurde Kugler von Friedrich Eichhorn in das Preußische Kultusministerium berufen, wo er 1848 zum Vortragenden Rat aufstieg. Aus der Praxis der Verwaltungsarbeit heraus publizierte Kugler 1847 eine Schrift über »Die Kunst als Gegenstand der Staatsverwaltung«, in der er auf der Basis breiter theoretischer Erörterungen das Konzept eines modernen Kulturverwaltungsstaates entwarf. Sein vitales Interesse an der Gegenwartskunst und an den zu seiner Zeit tätigen Künstlern schlug sich 1845 in einer scharfsinnigen und realistischen Analyse der Marktbedingungen der gegenwärtigen Kunstproduktion nieder; mit dem Titel »Über den Pauperismus in der Kunst« übertrug Kugler den zeitgenössischen Orientierungsbegriff für die aktuelle soziale und ökonorick the Great: A Liberal Bourgeois Interpretation of German History, in: The Art Bulletin 59 (1977), S. 242–261. 3 Eine vorzügliche Gesamtwürdigung Kuglers aus der Sicht des Historikers gibt: W. Treue, Franz Theodor Kugler, Kulturhistoriker und Kulturpolitiker, in: HZ 175 (1953), S. 483–526; vgl. auch L. Koschnick, Franz Kugler (1805–1858) als Kunstkritiker und Kulturpolitiker, Diss. Berlin 1983.

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mische Krise auf die Künstlerwelt. Nach 1848 verlegte sich Kugler hauptsächlich auf die dramatische Produktion mit – bald vergessenen – Theaterstücken. Zur Vielseitigkeit der Persönlichkeit gehört schließlich eine eminente Begabung zur Geselligkeit, die Kugler u.a. in dem einflussreichen Literatenverein »Tunnel über der Spree« (dem u.a. auch Theodor Fontane und Emanuel Geibel angehörten), aber auch in der häuslichen Geselligkeit auslebte, in der sich der junge Jacob Burckhardt als Schüler und Mitarbeiter Kuglers überaus wohlfühlte.4 Einige der kunsttheoretischen Prämissen, die Kugler zu seiner Anfrage ausgerechnet bei dem damals 23jährigen Menzel bewegten, lassen sich seinem 1837 publizierten Aufsatz »Über geschichtliche Kompositionen« entnehmen. Hier besprach er die zwölf Kreidelithographien Menzels zu »Denkwürdigkeiten aus der Brandenburgisch-Preußischen Geschichte« (1834–36) und knüpfte daran allgemeine Reflexionen über historische Darstellungen in der Bildenden Kunst. Er kritisierte die herkömmliche Historienmalerei, exemplarisch vorgeführt an einem Bild über die »Belehnung des Kurfürsten Friedrichs des I. von Hohenzollern mit der Mark Brandenburg«. Eine solche »Darstellung ... politischer Förmlichkeit[en]« erfasse nicht die eigentlich wirkenden Kräfte und Begründungszusammenhänge und die historischen Persönlichkeiten. Vielmehr komme es für die »künstlerische Behandlung der Geschichte ... ebenso, wie für die poetische Behandlung derselben« darauf an, »die ethischen Momente ins Auge zu fassen, diejenigen, in welchen das einzelne Individuum mit seiner hervorragenden Geisteskraft in die Interessen der Zeit hineingreift.« Konzentriere man sich auf diese »ethischen Momente«, so ergäben sich auch Szenen, die für die bildliche Darstellung geeignet seien.5 Die zweite, nicht minder erhebliche Schwierigkeit bei geschichtlichen Darstellungen sei es, die »höhere Würde der Kunst festzuhalten, sie nicht ins Genremäßige herabsinken zu lassen«. »Gemessenheit und innerliche Gesetzmäßigkeit«, die man mit dem Worte ›Styl‹ zu bezeichnen pflege, müssten gewahrt werden. Kugler verlangte also einerseits »historische Treue«; diese aber sollte nicht soweit gehen, dass die eigentliche Aufgabe der Kunst Schaden nahm, die Wirklichkeit oder – wie Kugler sagte – »das Leben« in einem »höheren Lichte zu verklären«. Kugler polemisierte also gegen eine idealisierende Historienmalerei, ohne grundsätzlich von der Forderung nach Idealität der Kunst abzugehen. Positiv hob er hervor, dass Menzels Blätter »in den Geist der verschiedenen Epochen und Verhältnisse, welche sie darstellen«, vorzüglich einführten.6 Wenn Kugler also ausdrücklich für die Historiendarstellung »äußere repräsentative Acte« ablehnte und andererseits an Menzels Blättern das »durchgreifend innere Le4 Vgl. W. Kaegi, Jacob Burckhardt. Eine Biographie, Bd. 2, Basel 1950, S. 29ff. 5 F. Kugler, Ueber geschichtliche Compositionen, in: Museum. Blätter für bildende Kunst, Jg. 5, Hefte 10–12 (1837), S. 75. 6 Ebd., S. 76.

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ben« lobte, dann haben wir hier bereits die Forderungen und Hoffnungen präzise formuliert, die sich 1838/39 mit seiner Anfrage an Menzel verbanden. Meinungsverschiedenheiten mit Menzel konnten allenfalls in einer Frage entstehen, die sich bei der Illustration des Lebens Friedrichs des Großen schlechterdings nicht umgehen ließ: wie die Kostüme der Akteure dargestellt werden sollten. Der »Kostümstreit« hat bekanntlich auch die Bildhauerei vom ausgehenden 18. bis in die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts beschäftigt – von den Projekten für ein Friedrich-Denkmal nach dessen Tod bis zum Goethe-Schiller-Doppeldenkmal Rietzschels in Weimar und zu den zahllosen Bismarck-Denkmälern.7 Einerseits verstand sich eine wirklichkeitsnahe, historisch exakte Darstellung des Kostüms im Jahrhundert des Historismus und speziell unter dem Vorzeichen einer gerade von Menzel vorangetriebenen »realistischen« Sicht auf die Wirklichkeit nahezu von selbst. Andererseits schien eine allzu wirklichkeitsnahe Wiedergabe der jeweils zeitgenössischen Kleidung den idealen Kern jedes Kunstwerks auszuhöhlen, an dem gerade der Historismus entschieden festhielt.8 Kugler ging ausführlich auf die Kostümfrage ein und argumentierte hier durchaus in klassizistischer Tradition. Das Kostüm des klassischen Altertums schien ihm das Künstlerische schlechthin, und auch das Kostüm des Mittelalters schien ihm für die künstlerische Behandlung, zumindest aber für »malerische Effekte« brauchbar, während ihm die Kostüme des 18. und 19. Jahrhunderts »jeder großartig künstlerischen Behandlung geradezu im Wege zu stehen« schienen.9 Noch in den sechziger Jahren schrieb Max Schasler, der Herausgeber der Zeitschrift der Deutschen Kunstvereine, der naturgemäß den bürgerlichen modernen Strömungen in der Kunst seiner Gegenwart durchaus offen gegenüberstand, dass sich Person und Umwelt Friedrichs des Großen für den Historienmaler eigentlich nicht eigneten – aus Stilgründen, weil Darstellungen aus der Geschichte Friedrichs des Großen »immer ins Genrehafte hinüberspielen.«10 Schasler bezog sich dabei zwar nicht ausdrücklich, aber zweifellos implizit auf Menzels Friedrich-Gemälde aus den fünfziger Jahren. Die Gattungsdifferenz zwischen Malerei und Graphik spielte bei dieser Argumentation keine erhebliche Rolle, denn die Gegenüberstellung von Historie und Genre taucht auch in Kuglers Besprechung der Menzelschen Lithographien auf. Umgekehrt unterschied auch Menzel hier nicht zwischen den StilLagen der unterschiedlichen Gattungen. In seinem ersten Brief zu den Kugler7 Vgl. u.a. J. von Simson, Christian Daniel Rauch und sein Entwurf, in: F. Haniel u. Cie (Hg.), Das Denkmal. Goethe und Schiller als Doppelstandbild in Weimar, Tübingen 1993, S. 73ff. 8 Vgl. W. Hardtwig, Kunst und Geschichte im Revolutionszeitalter. Historismus in der Kunst und der Historismusbegriff der Kunstwissenschaft, in diesem Band, S. 205–239. 9 Kugler, Compositionen (wie Anm. 5), S. 76. 10 Zit. nach P. H. Feist, Adolph Menzel und der Realismus, in: A. Menzel, Nationalgalerie: Gemälde, Zeichnungen. Ausstellung 1980, Berlin 1980, S. 21.

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Illustrationen überhaupt berichtet er gerade über seine Kostüm- und Ausrüstungsexerzitien: »Ich sitze jetzt an Vorstudien bis über die Ohren, ich habe mir Gelegenheit verschafft, alle Waffen und Kleider aus den Zeiten Friedrichs, die noch hier auf dem königl. Muntierungs-Depot aufbewahrt werden auf dem Modell nach der Natur studieren zukönnen, das ist mir ein großer Vortheil. Ich kann dadurch den Sachen die Authenticität geben.«11 Menzels Drang nach Wirklichkeitsnähe überwindet auch ohne erkennbare Mühe oder ausdrückliche Überlegung die Fremdheit und die bürgerlichen politisch-ästhetischen Vorbehalte gegenüber dem Rokoko als der Formenwelt des Ancien Régime. Die »Modificationen«, die Kugler 1837 bei der Kostümdarstellung forderte, wenn ein »höheres Werk der Kunst« hervorgebracht werden solle, hat Menzel nicht vorgenommen – und nichts deutet darauf hin, dass Kugler daran Anstoß genommen hätte.12 Im Gegenteil, man wird annehmen dürfen, dass Menzels Friedrich-Illustrationen Kuglers Vorstellungen darüber, wie eine zeitgemäße Historienmalerei auszusehen habe, noch einmal ein Stück erweitert und geöffnet, ja – vor dem Hintergrund des politischen Klimas im preußischen Vormärz gesehen – radikalisiert haben. Anhaltspunkte dafür finden sich in Kuglers Stellungnahme in einem Streit, in den sich Kugler 1843 ausgerechnet durch seinen Schüler und Freund Jacob Burckhardt verwickeln ließ. Burckhardts wie Kuglers Voten lesen sich dabei wie indirekte Kommentare zu Menzels Friedrich-Darstellungen, und zwar sowohl retrospektiv zu den Kugler-Illustrationen der Jahre 1839–41 als auch prospektiv zu den Ölskizzen und Gemälden, von »König Friedrichs II. Tafelrunde in Sanssouci« und »Flötenkonzert Friedrichs des Großen in Sanssouci« (1848) über die »Bittschrift« (1849), »Friedrich der Große auf Reisen« (1853/54), »Friedrich der Große und die Seinen bei Hochkirch« (1856), »Bonsoir, Messieurs« (oder: »Friedrich der Große in Lissa«, 1858) bis zu der unvollendeten »Ansprache Friedrichs des Großen an seine Generale vor der Schlacht bei Leuthen« (1859–61).13 Der Streit war ausgelöst worden durch einen Ausstellungsbericht Jacob Burckhardts über die große Kunstausstellung in Berlin im Spätherbst 1842 im Schorn’schen »Kunstblatt«.14 Burckhardt ergriff hier entschieden Partei gegen die spätnazarenische Kunsttheologie und Geschichtsmalerei, wie er sie in den Werken Overbecks und Cornelius’ vor allem in München vor Augen hatte. In der Berliner Ausstellung wurden zwei belgische Historienbilder gezeigt, die »Abdankung Karls V.« von Gallait und 11 Adolph von Menzels Briefe, hg. von H. Wolff, Berlin 1914, S. 29. 12 Kugler, Compositionen (wie Anm. 5), S. 76. 13 Vgl. dazu C. Keisch, in: ders. u. M. –U. Riemann-Reyher (Hg.), Adolph Menzel 1815–1905. Das Labyrinth der Wirklichkeit, Köln 1996 (= Ausstellungskatalog Berlin 1996), S. 134–39, S. 141–43, S. 183–187, S. 195–198; sowie H. Kohle, Menzel als Historienmaler, ebd., S. 481–493. 14 Kunstblatt vom 3. Januar 1843 bis zum 21. März.1843, im Folgenden referiert nach Kaegi, Burckhardt II (wie Anm. 4), S. 226–243.

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der »Geusenbund« von Bièfve, die in der deutschen Kunstszene dieser Jahre insgesamt eine heftige Kontroverse auslösten.15 Burckhardt plädierte gegenüber den von ihm als »schwach und theatermäßig« empfundenen deutschen Historienbildern voll »hohler Pretension« und gemalt in einem »toten Graubraun« zunächst – ästhetisch – für die Bedeutung der Farbe, begründete die Schwäche der deutschen Kunstproduktion auf diesem Sektor dann aber historisch-politisch und schließlich gattungsästhetisch in einer Weise, die auf dem Feld der Kunstkritik dem Zugriff Menzels auf das Friedrich-Thema vor allem seit 1848 ganz und gar entspricht. Historienmalerei – so Burckhardt – setzt eine erlebte Historie voraus: »Die deutschen Regierungen, besonders König Ludwig, haben schon so viele Darstellungen aus der vaterländischen Geschichte malen lassen; woher kommt es dann, daß wir hinter unsern Nachbarvölkern zurückgeblieben sind? – fürs erste genügt es nicht, eine Geschichte gehabt zu haben. Man muß eine Geschichte, ein öffentliches Leben mitleben können, um eine Geschichtsmalerei zu schaffen.«16 Als der publizistische Hauptverfechter der nazarenischen Richtung, Ernst Förster, u.a. mit einer scharf polemischen Rezension von Burckhardts »Belgischem Cicerone« antwortete, sah sich schließlich Kugler selbst, neben dem in München wohnenden Ernst Förster Mitherausgeber des »Kunstblatts«, zu einer Verteidigung Burckhardts herausgefordert, die sich wie eine erläuternde Paraphrase zu Menzels Friedrich-Darstellungen liest. Bemerkenswerterweise verschärft der soeben erst als Ministerialrat ins Preußische Kultusministerium berufene Kugler noch die bei Burckhardt angeschnittene »linke« historisch-politische Argumentation: der nazarenischen Forderung nach einer von »poetischen und religiösen Ideen belebten Kunst« hielt er in einer typisch vormärzlich-liberalen Wendung entgegen: »Ich wüßte kaum irgendwo mehr Poesie zu finden als in dem glorreichen Freiheitsringen der Niederländer... Seien wir aufrichtig, lieber Freund! unsere Kunst hatte bisher ein exklusives, ich möchte sagen, aristokratisches Element in sich.« Den Werken der Münchner spüre man an, »daß sie aus der, allerdings notwendigen Zurückgezogenheit, aus der Kontemplation, aus der geistigen Flucht vor dem Leben entstanden sind ... Die Kunst soll aber dem Leben nicht fremd bleiben; im Gegenteil, es ist ihr Beruf, das Leben in seiner vollen frischen Unmittelbarkeit zu durchdringen und sich davon durchdringen zu lassen ... Unsere Kunst muß jenem aristokratischen Element ... als notwendiges Gegengewicht ein demokratisches zugesellen ... Nur wo ein kräftiges Gemeingefühl im Volke waltet, wo dasselbe eine nationale Existenz hat, da gewinnen auch die künstle-

15 Vgl. dazu auch W. Schlink, Jacob Burckhardt und die Kunsterwartung im Vormärz (= Frankfurter Historische Vorträge, H. 8, Wiesbaden 1982). 16 Zit. Kaegi, Burckhardt II (wie Anm. 4), S. 235f.

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rischen Darstellungen jene sieghafte Existenz, der wir unseren Sinn nicht verschließen können.«17 Das ist genau der zeitgeschichtliche Erfahrungshintergrund, aus dem heraus sich der Revolutionsanhänger Menzel seit 1848 in der Wendung gegen die einsetzende Reaktion dem – freilich idealisierten – historischen Leitbild eines volksnahen und reformfreudigen Friedrich zuwandte und der die antiakademische Bildgestaltung, die bereits für die Kugler-Illustrationen charakteristisch ist, dann noch einmal verstärkte.18 Wie sehr hier Burckhardts und Kuglers Forderung nach einer neuen, lebensnäheren und lebendigeren Historie mit Menzels künstlerischen Intentionen gerade zur Darstellung Friedrichs übereinstimmten, zeigt sich schließlich im gemeinsamen Bekenntnis zum »Malerischen«. Burckhardt bemängelte an der deutschen Historienmalerei die unzulängliche Darstellung »bewegter Figuren« und das Zurücktreten der Farbe;19 Kugler mahnte »frische Energie ... Kraft der Existenz ... Fülle des Daseins« an und fasste diese Wünsche unter dem Stichwort des »malerischen Stils« zusammen.20 Knapp drei Jahre zuvor hatte Menzel mitten in der Arbeit an den Kugler-Illustrationen das Programm seiner künftigen Friedrich-Bilder entworfen: »... trotz all diesem Aerger, Friedrich über Alles! Mich hat nicht bald was so ergriffen, der Stoff ist so reich, so interessant, so großartig, ja, worüber Sie zwar den Kopf schütteln werden, wenn mans genauer kennenlernt, so malerisch, daß ich bloß einmahl so glücklich werden möchte, aus dieser Zeit einen Ziklus großer historischer Bildern malen zu können.«21 Kugler kalkulierte mit seiner Absicht, ein »Volksbuch« über Friedrich zu schreiben, kühl auf den literarischen Markt. Das Jahrhundertjubiläum von Friedrichs Regierungsantritt musste dem Buch Zuspruch sichern, der Leserkreis sollte möglichst breit sein und auch den »Gewerbetreibenden und den Landmann«22 einschließen – was freilich neben den ökonomischen und literatenmäßigen auch politisch-weltanschauliche Gründe hatte. Schadows spätere Kritik an Menzels Illustrationen hat Kugler zunächst empört, dann aber sehr rasch wegen ihrer absatzfördernden Wirkung höchlich erfreut.23 Dass Kugler das Buch überhaupt illustrieren ließ, ergab sich ganz wesentlich aus der Ab-

17 Ebd., S. 243, 242. 18 Vgl. dazu T. W. Gaehtgens, Vom historischen und zeitgenössischen Genre. Menzels geschilderte Authentizität und der französische Bildbegriff, in: Keisch u. Riemann-Reyher (Hg.), Adolph Menzel (wie Anm. 13), S. 469–481. 19 Zit. Kaegi, Burckhardt II (wie Anm. 4), S. 232–235. 20 Ebd., S. 242. 21 Menzel, Briefe (wie Anm. 11), S. 49. 22 F. Kugler, Briefe über die Geschichte Friedrichs Großen, in: Die Neue Rundschau, Jg. 22, H. 12 (Dezember 1911), S. 1723–1739; vgl. auch S. 1739. 23 Ebd., S. 1737.

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sicht, damit »bedeutend zur Vergrößerung von dessen Popularität« beizutragen.24 Diese erhoffte Popularität stand bei Kugler freilich im Kontext eines umfassenden national-pädagogischen Konzepts, in dem die Kunst die zentrale Stelle einnahm. Der Gedanke, dass von der Kunst eine weitreichende erzieherische Wirkung ausgehe, war seit dem Aufbruch des Neuhumanismus in Deutschland weit verbreitet und keineswegs auf die »Bewegungspartei«, die Reformorientierten in Staat und Gesellschaft beschränkt. Auch Ludwigs I. von Bayern und seines Nachfolgers Maximilians II. Mäzenatentum verdankte sich zu einem Gutteil der Überzeugung, dass von der Anschauung von Kunstwerken eine kulturell-politische Orientierung ausgehe, die allerdings primär der monarchischen Integration des Staates dienen sollte.25 1847 leitete Kugler seine Schrift »Über die Kunst als Gegenstand der Staatsverwaltung« mit einem Satz Wilhelm von Humboldts von 1809 ein: »Man kann es überhaupt nicht genug wiederholen: Kunstgenuß ist einer Nation unentbehrlich, wenn sie noch irgend für etwas Höheres empfänglich bleiben soll.« Die Wissenschaft – so Kugler – sei dazu berufen, den Menschen »geistig frei« zu machen, die Kunst, »ihm das Gepräge des geistigen Adels zu geben«.26 Dieser über den ästhetischen Genuss weit hinausgehenden Aufgabenzuweisung an die Kunst kam im Denken Kuglers auch deswegen eine besondere Bedeutung zu, weil er seine unmittelbare Gegenwart als Epoche eines bedeutenden Aufschwungs der Kunst erlebte und deutete. »Es scheint, als ob sich unsere Zeit wiederum einem der Höhepunkte, deren die Kunstgeschichte so wenige zählt, anzunähern im Begriffe stehe«, schrieb er im zweiten Band seines »Handbuchs der Geschichte der Malerei« 1837.27 – Zu einem Zeitpunkt also, als er Menzels frühe Kreidelithographien zur brandenburgischen Geschichte gerade gesehen hatte und sich mit der Idee einer Friedrich-Biographie befasst haben muss. Schon in den frühen dreißiger Jahren sprach er von dem »gegenwärtigen hohen Aufschwunge der Kunst« und von der »außerordentlichen Ausbildung« deren gerade die »vervielfältigenden Künste« in neuerer Zeit fähig geworden seien.28 Wie auch Jacob Burckhardt war ihm die fundamentale Kluft zwischen der Kunst der alten Welt und seiner Gegenwart, die mit dem reflexiven Verhältnis des Historismus zur Vergangenheit angebrochen war, noch nicht zum Problem geworden, er maß gegenwärtige und vergangene Kunst mit denselben 24 Ebd., S. 1723. 25 Vgl. dazu W. Hardtwig, Privatvergnügen oder Staatsaufgabe? Monarchisches Sammeln und Museum 1800–1914, in diesem Band, S. 323–344. 26 Zit. nach Treue, Kugler (wie Anm. 3), S. 494. 27 Franz Kugler, Handbuch der Geschichte der Malerei von Constantin dem Großen bis auf die neuere Zeit, Bd. 2, Berlin 1837, S. 318. 28 1834, zit. nach Treue, Kugler (wie Anm. 3), S. 495.

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Maßstäben und ästhetischen Kategorien und hatte so ein durchaus positives Verhältnis zu seiner Gegenwart und ihrer Kunst: »Die Gegenwart hat doch das höchste Recht, sie verlangt doch die höchsten Äußerungen des Lebens. Was nützt eine Reihe großer Ahnen, wenn der Enkel sich ihnen nicht würdig anreiht?«29 Wenn also Kugler bei Adolph Menzel Illustrationen zu seiner Friedrich-Biographie in Auftrag gab, dann geschah dies zweifellos in der Absicht, gerade die national- und – ins Demokratisch-Fortschrittliche gewendet – die volkspädagogische Leistungsfähigkeit der gegenwärtigen Kunst für die Popularität des Buches und – damit verbunden – für die Verbreitung seines liberalen Friedrich-Bildes zu nutzen. Stärker als der Text selbst schien die Illustration für die Aufgabe der Vergegenwärtigung des Vergangenen geeignet: »Die Illustration eines solchen Werkes durch eine bedeutende Anzahl künstlerischer Darstellungen ... wird eben überall zur unmittelbaren Veranschaulichung des Gesagten dienen. Dies ist hier schon von bedeutenderer Wichtigkeit als z.B. bei der Geschichte Napoleons, da die ganze Zeit Friedrichs der unsrigen ungleich ferner liegt und die äußere Form und Sitte des Lebens der letzteren uns somit fremder sein muß. Eine unmittelbare Vergegenwärtigung der letzteren aber wird in der Tat auch für das allgemeinere Verständnis jener Zeit und ihres Charakters wichtige Punkte hinzufügen. Überhaupt aber scheint es, daß die Geschichte Friedrichs zu bildlicher Illustration ganz vorzüglich geeignet ist.« Zwar sei die Geschichte Napoleons z.B. noch heroischer und tragischer, doch erlaube die Geschichte Friedrichs eine größere »Vielseitigkeit der Darstellung«; Friedrichs Leben biete ein »mannigfach bewegtes, ... schicksalsvolles Jugendleben«, das Verhältnis zu den »ausgezeichnetsten Literaten seiner Zeit (namentlich zu Voltaire)«, das »väterliche Verhältnis zu seinen Untertanen«, vor allem aber böten Friedrichs Kriege den »größten Wechsel der Begebenheiten«.30 Gleichwohl musste gerade bei einem Thema wie diesem die Einstellung des Hofes bzw. der Umgang mit ihm sorgfältig bedacht werden. Kugler schlug vor, den Kronprinzen (Friedrich Wilhelm IV.), mit Hilfe eines Vorab-Exemplars des Prospekts zu gewinnen, der bereits einzelne Holzschnitte enthalten sollte. Günstig schien ihm auch, dass das Werk in Leipzig gedruckt werden sollte, also unbehelligt blieb von den »ängstlichen Rücksichten der hiesigen Zensur«.21 Ein wirklicher Konflikt mit dem Hof deutete sich dann allerdings nur an einer Stelle an, und dabei handelte es sich auch nur um eine befürchtete, nicht eine reale Intervention. Bezeichnenderweise ging es dabei vorrangig um die Qualität der von Pariser Holzschneidern gefertigten Holzschnitte. Menzel hatte 29 F. Kugler, Handbuch der Geschichte der Malerei, Bd. 2, zit. nach Treue, Kugler (wie Anm. 3), S. 489. 30 Kugler, Briefe über die Geschichte Friedrichs des Großen (wie Anm. 22), S. 1723, vgl. auch S. 1730. 31 Ebd., S. 1727.

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Abb. 13: Hausandacht bei Friedrich Wilhelm I.; Holzschnitt zu Franz Kuglers »Geschichte Friedrichs des Großen« (1840–1842), Bock 470

sich darüber beim Verleger beschwert und Kugler schloss sich der Klage an. Er bezog sich dabei vor allem auf das Blatt, das den frömmelnden Friedrich Wilhelm I. in Gesellschaft des Hallenser Pietisten Francke und einiger Höflinge zusammen mit seinen feixenden Kindern Friedrich und Wilhelmine zeigt. Hier habe die grobe Ausführung der Pariser Holzschneider aus Menzels Blatt eine »unverschämte Satire« gemacht, die – so Kugler – »eine üble Wirkung für mein künftiges hiesiges Schicksal ausüben« könne: »dieser dicke breitmäulige Pfaff, zu dem der zwar beschränkte, doch so edle und menschenfreundliche Francke umgestaltet ist, diese steifen, frazzenhaften Kerle, die an der Tafel umherstehen, scheinen bei einer so delicaten Szene sehr übel gewählt (und Menzel versicherte mich, daß es nicht von ferne seine Absicht gewesen sei, diese Scene zu übertreiben.)«32 Zwar hat Kugler mit aller Deutlichkeit seine Absicht ausgesprochen, ein »Volksbuch« zu schreiben.33 Es fällt jedoch auf, dass explizite politische Begründungen dafür fehlen. Das mag zwei Gründe haben: zum einen war eine liberale Grundeinstellung für Geistmenschen in diesen Jahren mehr oder 32 Ebd., S. 1735f. 33 Ebd., S. 1723.

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weniger selbstverständlich, in denen sich sogar der Berliner Student Jacob Burckhardt in starken Worten über die unverständige Freiheitsfeindlichkeit des Berliner Hofes beschwerte; zum anderen: gerade in den späten dreißiger Jahren erreichten Restauration und Repression in Preußen ihren Höhepunkt, bevor mit dem Thronwechsel von 1840 eine erste, deutliche Lockerung eintrat.34 Wichtiger für unseren Zusammenhang sind die konzeptionellen Folgen von Kuglers Volksbuchabsichten. Sie betreffen zum einen Kuglers Umgang mit den Quellen und der vorliegenden wissenschaftlichen Literatur, zum anderen seine Erzählhaltung und damit die Gliederung und Anlage des Buches überhaupt. Ganz zu Anfang seines Briefwechsels begründet er seine Hinwendung zu dem Thema mit dem fortgeschrittenen Forschungsstand, der es erlaube und geradezu verlange, dass aus diesen Forschungen jetzt eine Darstellung hervorgehe, die deren Ergebnisse »in größeren Zügen« wiedergebe. Bilanz und Popularisierung der Forschung also, nicht Teilnahme an ihr ist die Absicht. Das bedeutet auch, dass Kugler bewusst auf das Anekdotische setzte, um, wie er sagte »auf eine solche individualisierende Weise das allgemein Ausgesprochene zu beleben, durch prägnante Beispiele zu veranschaulichen«.35 Der Volksbuchcharakter verlangte schließlich zwar einerseits, dass »überall die strengste historische Wahrheit« zugrunde gelegt werden sollte, dass das Buch aber im Ganzen einen »poetischen« Charakter haben sollte.36 In diesem »poetischen Charakter« kommen die literarische Darstellung Kuglers und die bildnerische Menzels zusammen – auf diese Einheit hin ist das Werk von Anfang an angelegt. Für beide – so hatte Kugler 1837 formuliert – komme es darauf an, die »ethischen Momente ins Auge zu fassen, diejenigen, in welchen das einzelne Individuum mit seiner hervorragenden Geisteskraft in die Interessen der Zeit eingreift.« An dieses Konzept hat sich Kugler nun in der Tat sehr weitgehend gehalten. Das Werk gliedert sich in vier Bücher: »Jugend«, »Glanz«, »Heldentum«, »Alter«. Das erste Buch erzählt sehr breit – auf 138 Seiten – die Kindheit und vor allem, in fünf Kapiteln von rund 60 Seiten, den Vater-Sohn-Konflikt zwischen Friedrich Wilhelm I. und seinem Sohn, wobei auch die restlichen drei Kapitel des ersten Buches noch vielfach von diesem Thema durchzogen sind. Das zweite Buch – »Glanz« – schildert die Jahre von Friedrichs Regierungsantritt 1740 bis zum Beginn des Siebenjährigen Krieges 1756. Dreieinviertel Jahre dieses Zeitraums von 16 Jahren sind ausgefüllt durch die Feldzüge des Ersten und Zweiten Schlesischen Krieges; sie nehmen von den insgesamt rund 160 34 J. Burckhardt, Briefe. Vollständig und kritisch bearbeitete Ausgabe, hg. von M. Burckhardt, Bd. 1, Basel 1949, S. 242f; dazu allgemeiner W. Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jacob Burckhardt in seiner Zeit, München 1974, S. 290ff. 35 Kugler, Briefe über die Geschichte Friedrichs des Großen (wie Anm. 22), S. 1724. 36 Ebd., S. 1728.

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Seiten dieses Buches 60 Seiten ein, also mehr als ein Drittel. Diese Relation mit der starken Gewichtung des Krieges fällt noch mehr auf, wenn man sich vor Augen führt, was in diesem Buch sonst noch untergebracht werden musste: das immerhin zentrale Kapitel über Friedrichs Regierungsantritt, die Schilderung des Philosophen von Sanssouci und die gesamte politische Geschichte Preußens bis zum Siebenjährigen Krieg. Noch sehr viel deutlicher tritt die Vorherrschaft des Krieges im Gesamtwerk im dritten Buch – »Heldentum« – hervor. Es behandelt auf 218 Seiten ausschließlich die Feldzüge 1756 bis 1763.37 Das letzte, mit 108 Seiten weitaus kürzeste Kapitel – »Alter« – bietet dann die gesamte politische, soziale und kulturelle Geschichte Preußens in den immerhin 23 verbleibenden Jahren bis zum Tod Friedrichs. Kuglers Geschichte Friedrichs des Großen ist also, so kann man ohne Übertreibung sagen, überwiegend und durchaus bewusst Kriegsgeschichte. Einen immerhin auffälligen zweiten Schwerpunkt bildet dann die Jugendgeschichte Friedrichs oder – genauer – die Geschichte der Familie Friedrich Wilhelms I. Hier schildert Kugler viel sozusagen »Privates«: Die Kränklichkeit, das »schweigsame, fast schwermütige Wesen«38 des jungen Friedrich – übrigens auch die gesundheitliche Anfälligkeit des Vaters. Dem heutigen Leser drängt sich bei der Lektüre die psychische und psychosomatische Kehrseite des zeitweilig lockeren, meist jedoch überaus strengen Hoflebens auf.39 Breit ausgemalt wird die Mildtätigkeit des kleinen Friedrich,40 viel Aufmerksamkeit widmet Kugler den Freunden und Helfern des heranwachsenden Kronprinzen und seinem Verhältnis zur Schwester,41 dann seiner Verschwendungssucht. Bemerkenswert unverblümt schildert Kugler andererseits die Erziehungspinzipien und das Verhalten des Vaters, seine rasenden Zornesanfälle, die Szenen, in denen Friedrich vor dem von seinen Mordimpulsen überwältigten Vater nur durch das Dazwischentreten Dritter gerettet wurde. (In den Kategorien der Schicksals-Psychologie Leopold Szondis handelt es sich bei Friedrich Wilhelm I. um einen Affekttotschläger, der gleichwohl, wie der mehrfach von seinen Zornesanfällen übermannte Moses, der legitime und berufene Gesetzgeber seines Volkes ist.42) Friedrichs Protest gegen den Vater, 37 Vgl. dazu vor allem die eingehende Analyse bei P. Paret, Menzels Illustrationen zur »Geschichte Friedrichs des Großen«, in: ders., Kunst als Geschichte. Kultur und Politik von Menzel bis Fontane, München 1990, S. 34–61 sowie weiterhin ebd., S. 62–65: »Menzels Historismus« und S. 66–74: »Das weitere Schicksal der ›Geschichte Friedrichs des Großen‹«. 38 Geschichte Friedrichs des Großen, geschrieben von Franz Kugler, gezeichnet von Adolph Menzel, mit 378 Holzschnitten des Meisters, Leipzig 1840, hier benutzt in der Reprint-Ausgabe, Leipzig o.J., S. 38. 39 Ebd., S. 44. 40 Ebd., S. 20f. 41 Ebd., S. 55ff. 42 Vgl. L. Szondi, Kain. Gestalten des Bösen, Bern 19782; ders.: Moses. Antwort auf Kain, Bern l973.

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sein Fluchtversuch und die damit verbundenen Ansätze zur Konspiration erhalten dadurch eine gewisse Berechtigung. Gleichwohl sind die Abschnitte über die Gefangenhaltung Friedrichs, die Verhöre, die Exekution des Haupthelfers Katte, auf den Grundton der »Schuld« in Friedrichs Auflehnung gegen den Vater gestimmt.443 Letztlich ist der Vater im Recht, wenn er den hochbegabten, aber vom rechten Weg eines Thronfolgers abirrenden Sohn mit drakonischen Maßnahmen auf diesen rechten Weg zurückführt. Unterwerfung und Versöhnung sind daher entschieden geschönt und geglättet, es findet sich kein Hinweis auf eine psychische Narbenbildung bei Friedrich, politisch mündet das erste Buch in die Botschaft, dass der durch den Vater auf seinen eigentlichen Weg – den der militärischen Tat – geführte Sohn den Auftrag des Vaters erfüllt, die bisherigen Demütigungen Preußens durch Österreich zu rächen. Im Ganzen gewährt dieses erste Buch bemerkenswerte Einblicke in die Psychopathologie des Hauses Brandenburg. Kugler konnte sich dergleichen wohl erlauben, weil mit dem Einschwenken Friedrichs auf den Königsweg des Feldherrn-Monarchen das Verhalten des Vaters letztlich gerechtfertigt war. Gleichwohl wird das desaströse Familienleben, das einen der spektakulärsten Skandale in der Monarchenwelt des 18. Jahrhunderts verursachte, erstaunlich nahegerückt. Der Hof wird entauratisiert, aber das Treiben dort bleibt letztlich unangreifbar, weil – gleichsam auf dem Weg eines in Shakespearesche Konfliktdimensionen gesteigerten bürgerlichen Bildungsromans – aus ihm das Wunder »Friedrich der Große« hervorgeht. Einen weiteren Schwerpunkt setzt Kugler schließlich bei Friedrich als Förderer der Wissenschaften und Künste. Die Geistigkeit der – so Kugler – »glückselig heiteren Jahre« des Kronprinzen in Rheinsberg wird ausführlich geschildert, ebenso Friedrichs Bemühung um Christian Wolff, sein Umgang mit Voltaire, die Förderung von Akademie und Oper usw.44 Macht und Geist sind in Friedrich versöhnt – das ist die Botschaft. Allerdings steht eben doch die militärische Ausdehnung der Macht ganz im Zentrum der Darstellung – Geistestätigkeit lässt sich ja bekanntlich auch bei weitem nicht so anschaulich beschreiben, zumal in einem Volksbuch. Gleichwohl ist diese vermeintliche Versöhnung essentiell, für den Bestand des neu erweiterten Preußen existentiell. Immer wenn Preußen am Ende scheint, den Feinden schutzlos ausgeliefert – nach den verheerenden Niederlagen von Kolin und Kunersdorf –, gewinnt Friedrich durch Dichten seine Spannkraft zurück und wirft sich den Gegnern mit erneuerter Kraft entgegen.45

43 Kugler, Geschichte Friedrich des Großen (wie Anm. 38), S. 66–81. 44 Ebd., S. 111ff. 45 Ebd., S. 492f. u.ö.

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Abb. 14: Friedrich schreibt nach der Schlacht von Torgau in einer Dorfkirche Befehle; Holzschnitt zu Franz Kuglers »Geschichte Friedrichs des Großen« (1840–1842), Bock 721

Kummer macht Kugler allerdings Friedrichs Ablehnung der deutschen zeitgenössischen Literatur. Denn hier tut sich für ihn ein Widerspruch auf, den er am Ende nicht auflösen, nur stehen lassen kann: der Widerspruch von Friedrichs Unverständnis für wesentliche Segmente der deutschen Kultur und seiner militärisch-politischen »Aufgabe«, die letztlich eine deutsche ist. So wie der Große Kurfürst als erster nach dem Dreißigjährigen Krieg angesichts der Übermacht Frankreichs den »deutschen Namen mit Würde zu vertreten wusste«, so wie Österreichs diplomatische Ränke an Friedrich Wilhelms I. »deutscher Ehrlichkeit« abprallen, so vertritt auch Friedrich die deutsche Sache, nicht nur gegen Frankreich und die immer »barbarischen Horden« des russischen Heeres, sondern auch gegen das notorisch »eifersüchtige« Österreich. Kugler kann durchaus als Anhänger des spezifisch »borussianischen« Geschichtsbildes gelten. Es besteht in der Überzeugung, dass Preußens Herrscher von Anfang an, bewusst oder unbewusst, die nationale Einheit der Deutschen als Ziel ihrer Politik vor Augen gehabt hatten. Die klassische 316

Ausformulierung dieses Geschichtsbildes mit Johann Gustav Droysens »Geschichte der preußischen Politik« fällt zwar erst in die Jahre nach dem gescheiterten Einigungsversuch von 1848/49, wesentliche Elemente dieses historisch-politischen, preußenbezogenen kleindeutschen Deutungsmusters lagen jedoch bereits im Vormärz vor.46 In Kuglers »Friedrich« fehlt die explizite nationalpolitische Teleologie, doch betont er wie später Droysen und Heinrich von Treitschke die Modernisierungsleistungen der preußischen Monarchen. Interessanterweise verzichtet Kugler im »Volksbuch« darauf, seine leitende Überzeugung von der »großen Mission, welche Preußen zu Theil ward« abstrakt auszuformulieren – so wie er es wenig später in seiner umfangreichen »Neueren Geschichte des preußischen Staates« getan hat. Dass es »kein äußerlicher Zufall« war, »was diesen Staat aus einem nicht gar umfassenden kaiserlichen Lehen zu einer der Großmächte Europas umschuf«47 – diese These lag aber auch dem »Friedrich«-Buch zugrunde und bestimmte dessen erzählerischen Plot. Zu den charakteristischen Inhalten dieses borussianischen Überzeugskomplexes gehört schließlich auch, dass die preußische und schließlich deutsche Sache selbstverständlich protestantisch ist; gern flicht Kugler Anekdoten über bornierte katholische Priester, besonders über die prinzipiell »schlauen« Jesuiten ein.48 Ironische Untertöne dieser Kugler-Paraphrase sollten nicht überzeichnet werden. Denn was uns heute zur Ironie herausfordert, ist liberal-nationalprotestantischer Common Mind der dreißiger und vierziger Jahre. Bei Kugler scheint er im Ganzen eher gedämpft als forciert. Auch gegen Preußens Gloria in seinen Fürsten verhält sich Kugler nicht unkritisch. Die Kritik betrifft durchaus auch Friedrich selbst – eher angedeutet, wo von den Grenzen der philosophischen und dichterischen Begabung des Königs die Rede ist, durchaus deutlich dann aber vor allem im letzten Buch, wo es um die höchst konservative Innenpolitik des späten Friedrich geht. Diese Art von Kritik war andrerseits auch wieder selbstverständlich – man hätte ja sonst die preußischen Reformen zu Beginn des Jahrhunderts für unnötig erklären und im übrigen die eigene Bürgerlichkeit verleugnen müssen. Historisch, von den Voraussetzungen her interpretiert, ist die ›Geschichte Friedrichs des Großen‹ ein exzellentes Buch: Es will keine Geschichte Preußens geben, sondern konzentriert sich bewusst und im Blick auf den Volksbuchcharakter auf die Person Friedrichs. Brillant nutzt Kugler das Darstellungsmittel der Personalisierung, um ein historisches Geschehen nahe zu 46 Vgl. dazu W. Hardtwig, Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. l03-l60. 47 F. Kugler, Neuere Geschichte des preußischen Staates, S. 5, zit. nach Treue, Kugler (wie Anm. 3), S. 486. 48 Kugler, Geschichte Friedrichs des Großen (wie Anm. 38), S. 5, 12, 95, 98f., 109f., 155 u.ö.

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rücken und anschaulich zu machen.49 Brillant handhabt Kugler auch die Rolle des anekdotenhaft ausmalenden, oder konzentriert verknappenden, des nahebringenden, notfalls aber auch distanzierenden Erzählers. Er bedient sich durchaus der Stilmittel der Hagiographie, aber sparsam und kontrolliert. Dieser konzeptionelle Zugriff und diese Erzählhaltung aber verdanken sich wesentlich der Absicht, ein illustriertes Volksbuch zu schaffen. Das Buch ist von Anfang bis Ende auch auf die Illustrationen hin geschrieben. Kugler hat das ganze Thema nicht zuletzt im Blick auf seine Illustrierbarkeit gewählt.50 Sorgen machten Kugler im Blick auf die Illustrationen allerdings die Friedensphasen von Friedrichs Herrschaft. Denn anders als bei der »gewaltigen Tragödie des Siebenjährigen Krieges« sei es bei diesen Perioden schwierig, dem Leser »... ein gleichmäßiges Interesse einzuflößen und namentlich dem Zeichner eine fortlaufende Gelegenheit zu bildlichen Darstellungen zu geben ...«.51 Es sei daher nötig, sich des Stoffs vollständig zu bemächtigen und zwar so, »daß überall von vorn herein auf den Zeichner gleichmäßig Rücksicht genommen wird.«52 Das heißt mit anderen Worten, dass Kugler dem Krieg auch aus Gründen der Illustrierbarkeit möglichst viel Raum gibt. In Menzel hatte Kugler einen Partner gefunden, der nicht nur seinem künstlerischen Credo entsprach, sondern auch in seinen politischen Grundüberzeugungen mit ihm übereinstimmte und der sich der gestellten Aufgabe leidenschaftlich verschrieb. Seinem Freund C. H. Arnold teilte Menzel im September 1840 mit, er sitze jetzt »seit über einem Jahr in den Zeichnungen zum Leben Friedrichs des Großen, die Arbeit füllt mich so ganz aus, daß ich alle meine andern Arbeiten und Bestellungen habe theils quittiren theils bis zu Ende der Sache hinausschieben müssen, so ist auch jetzt von malen nicht die Rede, das wäre mir schrecklich, wenn ich nicht bei dieser meiner vorhabenden Sache mit dem höchsten Interesse und der Liebe wäre, und wenn ich gleich nicht wirklich male, so raffinire ich doch darin.«53 Charakteristisch ist die Unbedingtheit seines Strebens nach Wirklichkeitsnähe für die zahlreichen kriegerischen Darstellungen. Nicht nur war ihm wichtig, dass Kugler »nach sehr guten und sehr detaillierten Quellen« schrieb, er selbst trieb Studien am Objekt bei Manövern des preußischen Heeres und im königlichen »Muntirungs-Depot«, um dadurch »den Sachen die Authenticität« zu geben.54 Jede seiner Illustrationen musste mit der historischen Überlieferung übereinstimmen, in Fragen der historischen Richtigkeit geneh49 Vgl. dazu W. Hardtwig, Personalisierung als Darstellungsprinzip, in: S. Quandt u. G. Knopp (Hg.), Geschichte im Fernsehen. Ein Handbuch, Darmstadt 1988, S. 234–241. 50 Kugler, Briefe über die Geschichte Friedrichs des Großen (wie Anm. 22), S. 1723. 51 Ebd., S. 1728. 52 Ebd. 53 Menzels Briefe (wie Anm. 11), S. 48, vgl. auch ebd., S. 34, 44, 58. 54 Ebd., S. 29f.

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migte er sich keine künstlerischen Freiheiten. Mit der Gefahr möglicher Parteilichkeit zu Gunsten Preußens setzte er sich bewusst auseinander: »Damit Sie nicht glauben, als seie ich partheiisch eingenommen, so diene Ihnen und Anderen zur Nachricht, daß ich bei all den kriegerischen Bildern auch österreichische Schlachtberichte habe vorliegen gehabt (audiatur et altera pars!)«.55 Was das Verhältnis zu den Kriegsgegnern Friedrichs und deren Darstellung angeht, so hielt sich Menzel von der optischen Ausprägung von Feindbildern weitgehend frei, anders als Kugler etwa bei der literarischen Charakterisierung vor allem der russischen Truppen. Das Selbstbild Preußens, das er mit seinen Illustrationen entwarf, kam im Wesentlichen ohne ein anschauliches Feindbild aus. Die historisch-politische Überzeugungsgrundlage des Werks war für Menzel wie für Kugler ein Nationalbewusstsein, das keine Spannung zwischen preußischer und deutscher Loyalität kannte und das sich – ähnlich wie bei Kugler – vor allem auf dem Gebiet der künstlerischen Rivalität äußerte. So wie Kugler »deutsche Denkmäler nur durch deutsche Künstler« ausführen lassen wollte56 – und die Friedrichs-Biographie war ein literarisches »Denkmal« – so drang auch Menzel gegenüber dem Verleger, der die niederen Preise der Pariser Holzschneider ins Feld führte, darauf, dass mit dem Schneiden seiner Zeichnungen deutsche Künstler betraut würden: »... am meisten würde ich mich ... freuen, wenn Sie sich mit denen über die Preise einigten, denn ich kann Ihnen nicht [ver]bergen, daß es meinem Nationalgefühl wehe thut, wenn an einem so nationalen Werk die Einheimischen allen Antheil verlören.«57 Menzel fügt diesem Appell an das Nationalbewusstsein des Verlegers allerdings die Einschränkung hinzu: »indeß sind das nur fromme Wünsche, die wie sich von selbst versteht, stärkeren Interessen nachstehen müssen.«58 Diese stärkeren Interessen sind die des Marktes, für die Menzel ähnlich wie Kugler ein ausgeprägtes Interesse zeigte. Wie Kugler war er sich bewusst, dass zum Jubiläumsjahr 1840 eine starke Konkurrenz an Friedrich-Publikationen bestand und wie Kugler »hoffte« er »zu Gott, daß wir die Concurrenz schlagen werden.«59 Wenn Kugler das Buch von vornherein bewusst auf dessen Illustrierbarkeit hin schrieb, so blieb Menzel umgekehrt mit seinen Zeichnungen außerordentlich dicht am Text. Die allermeisten Illustrationen lassen sich unmittelbar einem im Text dargestellten Geschehen, häufig auch einer pointierten Friedrich-Anekdote zuordnen. Eine Ausnahme machen symbolische Darstellungen wie etwa der »Tod als Trommler«, die auf eine allgemeine Aussage zielen. Reichen Stoff für die Illustrationen boten die dramatische Jugendgeschichte 55 56 57 58 59

Ebd., S. 52. 1837, zit. nach Treue, Kugler (wie Anm. 3), S. 493. Menzels Briefe (wie Anm. 11), S. 40, vgl. auch S. 30. Ebd., S. 49. Ebd., S. 29.

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Friedrichs bzw. Szenen aus der Familiengeschichte der Hohenzollern von Friedrichs Geburt bis zum Tod seines Vaters 1740 (vgl. Abb. 13, S. 312). Das vierte und letzte Buch – »Alter« – hielt Kugler sehr knapp, in Übereinstimmung mit Menzels Skepsis über dessen Illustrierbarkeit; Menzel fand diesen letzten Lebensabschnitt Friedrichs »wirklich in dankbaren Motiven weniger reich«.60 Am dankbarsten für einen Zeichner war zweifellos der Krieg.

Abb. 15: Friedrich im Gewühl der Schlacht von Torgau; Holzschnitt zu Franz Kuglers »Geschichte Friedrichs des Großen« (1840–1842), Bock 720

Eine genauere Prüfung des dritten Buches, »Heldenthum«, das den Siebenjährigen Krieg behandelt, lässt eine durchaus vielschichtige Erfassung des Krieges bei Menzel erkennen. Menzel zeigte sich fasziniert vom Krieg und dem Militärischen an sich, bei aller Würdigung der Person des Feldherrn Friedrich des Großen. Friedrich ist 25 Mal dargestellt, in unterschiedlichen Rollen: Friedrich, das Schlachtfeld überblickend (2), Friedrich inmitten seiner Offiziere (6), Friedrich inmitten seiner Soldaten oder ihnen vorausreitend in der Schlacht (6), der einsame Feldherr nach Niederlagen oder in Krisensituationen (6); die restlichen fünf Zeichnungen illustrieren vor allem Friedrich-Episoden wie die Gefangennahme der österreichischen Offiziere in Lissa o.ä. Erheblich zahlreicher aber sind Kriegsszenen ohne Friedrich, die 60 Ebd., S. 63.

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sich wieder nach inhaltlichen Schwerpunkten zusammenfassen lassen: Elfmal hat Menzel den Alltag der Soldaten dargestellt – mitunter durchaus genreartig oder pittoresk – von verschiedenen Varianten des Marschierens über leichte, scharmützelartige Rencontres mit dem Gegner bis zu Schanzarbeiten und dem Verweilen der Truppen im Winterlager. Die brutale Härte und Wildheit des Kampfes, die freilich auch mehrfach in Szenen mit dem kämpfenden Friedrich zutage tritt, steht sechsmal im Vordergrund; in elf Fällen kann man davon sprechen, dass Menzel die Grausamkeit und das Elend des Krieges selbst thematisiert hat, wobei auch die drei Szenen, die den Tod bzw. den Leichnam von Unterführern und des Dichters Ewald von Kleist darstellen, eingerechnet werden. Ihnen stehen vier Zeichnungen gegenüber, die den Mut der einzelnen Offiziere verherrlichen, sowie generell die Initialen, die in aller Regel die Darstellung des Militärischen ins Pittoreske wenden, etwa mit Szenen aus den Winterlagern.

Abb. 16: Preußische Soldaten am Schanzgraben arbeitend; Holzschnitt zu Franz Kuglers »Geschichte Friedrichs des Großen« (1840–1842), Bock 729

Man wird bei alledem kaum sagen können, dass Kugler und Menzel hier ein Werk zum Lob des Friedens geschaffen haben. Im Zentrum steht der Krieg, an dessen prinzipieller Legitimität das 19. Jahrhundert noch keinen Zweifel kannte. Als grundsätzlich delegitimiert gilt der Krieg erst seit seinem Formwandel im Weltkrieg 1914–18 – und auch dann polarisierte sich die öffentliche Meinung in weltanschaulich vertiefte Kriegsablehnung oder Kriegsverherrlichung. Kugler wie Menzel irrten sich aber durchaus, was die Illustrierbarkeit 321

Abb. 17: Die Preußen lagern nach der Schlacht bei Hochkirch im Freien; Holzschnitt zu Franz Kuglers »Geschichte Friedrichs des Großen« (1840–1842), Bock 683

der fürstlichen Friedensarbeit angeht. Denn viel bewegender als die königlichen Kriegstaten hat schon der junge Menzel die nicht zuletzt aus einer unüberbrückbaren Einsamkeit gespeiste Menschlichkeit des alten Königs erfasst.

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14. Privatvergnügen oder Staatsaufgabe? Monarchisches Sammeln, bürgerliche Kunstkompetenz und Museum 1800–1914

I. Sammeln und Kunstfördern sind auch im 19. Jahrhundert noch vorrangig eine monarchisch-dynastische Angelegenheit. Allerdings zeichnen sich im Lauf des Jahrhunderts bei den institutionellen Voraussetzungen, im Umfang, in der Zielsetzung und im persönlichen Zuschnitt dieser Aktivitäten wesentliche Änderungen ab. Kunstförderung und Mäzenatentum gehen von der hochadlig-adligen Elite zunehmend an das aufsteigende Bürgertum über. In der monarchischen und staatlichen Kunstverwaltung üben bürgerliche Künstler und Kunstkenner wachsenden Einfluss aus. Gleichwohl liegt die Kunst – und damit auch die Sammelpolitik vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch weitgehend im Ermessen der Fürsten. Im Folgenden soll zunächst das persönliche Profil der fürstlichen Sammler und Mäzene in Umrissen angedeutet werden. Anschließend sollen die institutionellen Vorgaben und Veränderungen behandelt und schließlich einige allgemeinere Überlegungen über Bedingungen und Inhalte der monarchischen Kunstförderung zwischen 1800 und 1914 angestellt werden. Dabei ist die Vielgestaltigkeit der deutschen Staatenwelt und des Kosmos der Höfe zu berücksichtigen, den Deutschland im 19. Jahrhundert darstellt. Um diese Vielfalt zumindest schwerpunktmäßig erfassen, daneben aber auch die unleugbaren Gemeinsamkeiten des monarchischen Sammlertums herausarbeiten zu können, sollen einige Hauptbeispiele monarchischer Sammeltätigkeit – Preußen, Bayern, Baden, HessenDarmstadt, punktuell auch Österreich – im Mittelpunkt stehen. Der Schwerpunkt liegt dabei mehr auf dem frühen als auf dem späten 19. Jahrhundert. Es kann sich im übrigen um nicht mehr als eine Zwischenbilanz auf der Grundlage einer im Ganzen spärlichen und im Einzelnen höchst ungleichgewichtigen Forschung handeln. Zentrale Aspekte des Themas, wie etwa die Sammlungspolitik Preußens in der Ära Friedrich Wilhelms IV., sind bislang nicht systematisch aufgearbeitet, während die Kunstpolitik und Sammlungstätigkeit der bayerischen Wittelsbacher in den letzten Jahren größere Aufmerksamkeit gefunden hat. Zu den Klein- und Mittelstaaten ist man überwie323

gend auf verstreute Aufsätze älteren Datums angewiesen. Zwar ist die Geschichte des modernen Museums als Institution von der kunstgeschichtlichen Forschung der letzten Jahre zunehmend in den Blick genommen worden, sie bedarf aber weiterhin differenzierender Untersuchungen, gerade, was das Zustandekommen der Sammlungen1 und den Beitrag einzelner Personengruppen, Grundzüge der Sammlungspolitik und das Verhältnis von Kunstverwaltung und kunstinteressierter Öffentlichkeit angeht. Eine Untersuchung der Sammeltätigkeit der Monarchen im 19. Jahrhundert und ihres Beitrags zur Entstehung des modernen Museums hat sich im Spannungsfeld höchst unterschiedlicher kultureller, gesellschaftlicher und politischer Bedürfnisse und Interessen zu bewegen. Der Aufstieg und der erhöhte Partizipationsanspruch des Bürgertums und der unterbürgerlichen Schichten, die Ausweitung und Verdichtung der Staatstätigkeit sowie ihre zunehmende Verselbständigung vom Willen und Einfluss des Monarchen und die Verselbständigung und zunehmende gedanken- und gefühlsprägende Kraft einer bürgerlich bestimmten ästhetischen Kultur führen am Ende zu einer fundamentalen Demokratisierung des Sammelns. Diese Entwicklung vollzieht sich schrittweise, zögerlich und in mancher Hinsicht widersprüchlich. In ihrem Zentrum stehen die Monarchen, die ihre Sammeltätigkeit zunächst ausweiten, auf die Grundlage neuer fachlicher Kompetenz stellen, die Sammlungen selbst zunehmend öffentlich zugänglich machen, schrittweise verstaatlichen und sich aus der persönlichen Verwaltung zurückziehen. Trotzdem bleibt die persönliche Beziehung der einzelnen Monarchen zur Kunst auch am Ende der Epoche noch ein gewichtiges Faktum der Kunstpolitik und Kunstförderung. Einzelne Monarchen wie Ludwig I. von Bayern am Anfang oder Großherzog Ludwig Ernst von Hessen-Darmstadt am Ende der Epoche übernahmen in der Kunstförderung eine so bestimmende Rolle, dass sich zwangsläufig die Frage nicht nur nach der Rolle der einzelnen Herrscher, sondern auch ihrer jeweiligen Vorgänger und Nachfolger, der Dynastien, einstellt. Gab es hier – über die Generationen hinweg – besondere Präferenzen und Traditionslinien? Welcher Stellenwert ist überhaupt Einzelpersönlichkeiten – Trägern von Amtscharisma wie den Monarchen, aber auch herausragenden beamteten oder nicht-beamteten Kunstberatern – bei der Ausbildung des modernen Kultur- bzw. Kunstförderungsstaates zuzuschreiben? Fragen dieser Art können hier nicht systematisch verfolgt, sondern nur von Einzelfall zu 1 Einen ersten Überblick geben V. Plagemann, Das deutsche Kunst-Museum 1790–1870, München 1967; die Beiträge in: B. Deneke u. R. Kahsnitz (Hg.), Das kunst- und kulturgeschichtliche Museum im 19. Jahrhundert, München 1977; G. Calov, Museen und Sammler des 19. Jh. In Deutschland, in: Museumskunde 38, Heft 1–3, Berlin 1969; E. Mai u. P. Paret (Hg.), Sammler, Stifter und Museen. Kunstförderung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1993; G. u. W. Braun (Hg.), Mäzenatentum in Berlin. Bürgertum und kulturelle Kompetenz unter sich verändernden Bedingungen, Berlin 1993.

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Einzelfall angeschnitten werden. Unbestreitbar ist zunächst, dass das gegenüber Österreich und Preußen politisch eher unbedeutende Bayern in der ersten Jahrhunderthälfte in der Kunstpolitik und Kunstförderung eine aus dem üblichen Rahmen fallende Rolle gespielt hat. Daher soll mit den bayerischen Monarchen begonnen werden.

II. Kurfürst Max IV. Joseph (seit 1799), seit 1806 König Max I. Joseph von Bayern, war bei seinen Landeskindern bekannt und beliebt nicht zuletzt wegen seiner Neigung zum »gütigen Gewährenlassen«. Dementsprechend kann man bei ihm auch kein weiterreichendes »programmatisches Konzept gezielter Förderung von Künstlern durch Aufträge und königlicher Repräsentation durch Kunstkäufe« erwarten.2 Er steht im Schatten seines Sohnes – und ist gerade deshalb möglicherweise der typischere Repräsentant monarchischer Kunstförderung im frühen 19. Jahrhundert. Er verzichtete auf jedes persönliche Regiment in Kunstsachen, delegierte alle wesentlichen Entscheidungen an ein »Kunstkomitee«, das sich aus Hofmalern, Galeriebeamten, dem Akademiedirektor und Akademieprofessoren zusammensetzte – und war doch als Sammler und Mäzen auch persönlich präsent. Gelegentlich erlaubte er sich überraschend private Käufe, selten zur Freude seiner Berater, die feststellen mussten, dass die »Güte« des Königs den Praktiken der Händler nicht immer gewachsen war.3 Er bewies eine entschiedene Vorliebe für die Tier- und Landschaftsmalerei und verhalf damit nolens volens der um Anerkennung kämpfenden frühen Freiluftmalerei der Münchner Schule – Max Joseph Wagenbauer, Johann Jakob Dorner d. J., Simon Warnberger, Ludwig Neureuther und anderen – zu Brot und Anerkennung. Er verlieh ihnen Pensionen, für die sie jährlich »sorgfältig ausgeführte Zeichnungen, d.h. Aquarelle, und auch Ölgemälde an das kurfürstliche Handzeichnungskabinett und die Bildergalerie« liefern mussten.4 Seit 1820 betrieb er den Ankauf der Testamentseröffnung von David Wilkie, da er ausdrücklich den Wunsch hatte, ein Bild des damals anerkanntesten englischen Genremalers zu besitzen. Seine Neigung zum Genre hat die Münchner Malerei der folgenden Jahrzehnte durchaus beeinflusst. Gerade der unprätentiöse, aufs Private zielende Geschmack des Königs gewann hier eine gewisse stilfördernde Funktion. Zutreffend schrieb Sulpiz 2 B. Hardtwig, König Max Joseph als Kunstsammler und Mäzen, in: H. Glaser (Hg.), Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat. Beiträge zur Bayerischen Geschichte und Kunst 1799–1825, München 1980, S. 423–439, hier S. 423. 3 Ebd., S. 426. 4 Ebd., S. 427.

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Boisserée 1828 an Goethe über die Münchner Kunstsituation: »Die Genremalerei ..., welche von König Max fast ausschließlich begünstigt wurde, überläßt König Ludwig ihrem Schicksal, sie findet außer im Beifall vieler einzelner Liebhaber ihre Hauptstütze im Kunstverein.«5 Anders dann Ludwig I.: Sein Kunstinteresse und seine Kunstpolitik gingen sofort ins Große. 1804/05 erlebte er als l8jähriger auf seiner Kavalierstour in Venedig vor Canovas Hebe sein künstlerisches Erweckungserlebnis;6 insgesamt reiste er siebenundzwanzigmal nach Italien, dabei allein dreizehnmal nach Rom. »Ich will der Stifter werden einer Sammlung antiker Produkte der Bildkunst«, schrieb er 1806 und begann damit den Aufbau der Antikensammlung der Glyptothek.7 Gleichzeitig begann er systematisch frühe Italiener zu kaufen. 1827 gelang ihm der Ankauf der Sammlung Boisserée, 1828 der der Sammlung Oettingen-Wallerstein mit ihrem Bestand schwäbischer, fränkischer, ober- und mittelrheinischer Gemälde. Systematisch förderte er die Nazarener durch Stipendien, Ankäufe oder Berufungen nach München. Bis zur Eröffnung der Neuen Pinakothek 1853 hatte er einen repräsentativen Bestand von etwa 300 Gemälden zur süddeutschen Malerei des frühen 19. Jahrhunderts angesammelt. Er verfolgte seine Ziele planvoll, schrittweise, kenntnisreich, qualitätsbewusst und ungemein ausdauernd – einzelne Ankäufe beschäftigten ihn über zehn und zwanzig Jahre hinweg – auf der Grundlage einer umfangreichen Bildung, häufig persönlicher Anschauung und genauer Kenntnis der zeitgenössischen Kunstszene.8 Nach Ludwigs Rücktritt 1848 gerieten Kunstförderung und Mäzenatentum der bayerischen Monarchen dann – zumindest was den Museumsbereich angeht – in normalere Bahnen. Max II. konzentrierte sich auf seine Gründung, das Bayerische Nationalmuseum 1854, wobei er sich bei der Konzeption, Ausstattung und Finanzierung persönlich stark engagierte.9 Ludwig II. fiel wegen 5 Ebd., S. 428; zum Kunstverein und zur Vorliebe Ludwigs I., für die »historische Landschaft« vgl. B. Eschenburg, Landschaftsmalerei in München zwischen Kunstverein und Akademie und ihre Beurteilung durch die Kunstkritik, in: A. Zweite (Hg.), Münchner Landschaftsmalerei 1800–1850, Aust. Kat. München 1979, S. 116–125; E. Rödiger Bierhaus, Die historische Landschaftsmalerei in München unter König Ludwig I., ebd., S. 126–148; allgemein zur Geschichte der Kunstvereine P. Gerlach, Vom realen Nutzen idealer Bilder. Kunstmacht und Kunstvereine, Aachen 1994. 6 Vgl. dazu und zum Folgenden R. Wünsche, Kronprinz Ludwig als Antikensammler, in: H. Glaser (Hg.), Krone und Verfassung (wie Anm. 2), S. 439–447, hier S. 439. 7 Brief Ludwigs an Friedrich Müller, 2.4.1806, zit. ebd., S. 439. 8 Zu den Gemäldesammlungen Ludwigs vgl. C. Syre, »Wirken Sie, was Sie vermögen«. – Die Erwerbungen italienischer Gemälde in der Korrespondenz mit den Kunstagenten, in: »Ihm, welcher der Andacht Tempel baut ...« Ludwig I. und die Alte Pinakothek. FS zum Jubiläumsjahr 1986, München 1986, S. 41–55; P. Eikemeier, Die Erwerbungen altdeutscher und altniederländischer Gemälde, ebd., S. 56–67; vgl. auch C. Heilmann, Zu Ludwigs Kunstpolitik und zum Kunstverständnis seiner Zeit, ebd., S. 16–24. 9 O. Lenz, Bayerisches Nationalmuseum, in: Hundert Meisterwerke aus dem Bayerischen Nationalmuseum, München 1956, S. 7–33, besonders S. 7ff.

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Abb. 18: David Wilkie, Die Testamentseröffnung (1820)

Abb. 19: Johann Georg von Dillis, Kronprinz Ludwig auf der Überfahrt von Neapel nach Sizilien (1817)

seiner Präferenz für den Schlösserbau und die Musik Richard Wagners für das Museum praktisch aus. Seit 1886 aber erlebte die Wittelsbachische Kunstförderung unter dem Prinzregenten Luitpold noch einmal eine moderate Blüte. Luitpold stilisierte sich als Förderer der Künste, pflegte genussvoll seine zahlreichen Künstlerbekanntschaften durch seine Atelierbesuche und legte eine private Gemäldesammlung zeitgenössischer Künstler an, die bei seinem Tod rund 500 Gemälde umfasste, davon etwa 200 von Münchner Malern.10 Weiter als in Bayern fielen die Extreme monarchischer Sammelpolitik und Kunstförderung in Preußen auseinander. Zweimal – bei Friedrich Wilhelm III. und Wilhelm I. – begegnet man einem wohlwollenden Desinteresse an der Kunst, zweimal – bei Friedrich Wilhelm IV. und Wilhelm II. – dagegen ins Extrem gesteigerten Formen des persönlichen Regiments, das sich allerdings für eine qualitätsvolle und planmäßige Kunst- und vor allem Sammlungspolitik eher negativ auswirkte. Friedrich Wilhelm III. misstraute seinem eigenen Urteil in Kunstfragen, aber er misstraute zumindest in seiner Sammelpolitik mitunter auch überlegenen Beratern. Rumohrs Ankaufstätigkeit in Italien wurde vielfach gehemmt, sein Wunsch nach einer leitenden Stellung in 10 Vgl. H. Ludwig, Kunst, Geld und Politik um 1900 in München. Formen und Ziele der Kunstfinanzierung während der Prinzregentenzeit 1886–1912, Berlin 1986, S. 359ff.

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der Museumsverwaltung ging nicht in Erfüllung.11 Die große Crux Berlins in der Regierungszeit Friedrich Wilhelms IV. war die Bestellung des Mediziners und Diplomaten Ignaz Maria von Olfers zum Generaldirektor der preußischen Museen 1839 bis 1868.12 Der König, leidenschaftlich an allen Kunstfragen interessiert und ein begabter Dilettant auf dem Gebiet der Architektur,13 überließ dem Nichtfachmann Olfers alle wesentlichen Entscheidungen. Sie überstiegen sowohl dessen Arbeitskraft als seine Kompetenz, nicht aber seine Herrschsucht. Gustav Friedrich Waagen als Direktor der Gemäldegalerie musste seine Sachkenntnis drei Jahrzehnte lang diesem kontraproduktiven Doppelregiment Friedrich Wilhelm IV. – Olfers unterordnen.14 Trotzdem kam der preußische Staat in den Besitz riesiger Sammlungen. Unter Friedrich Wilhelm III. gelang mit der Sammlung Giustiniani der Ankauf einer der großen Sammlungen eines römischen Adelshauses. Christian Carl von Bunsen als Botschafter in Rom, Rumohr als Bevollmächtigter und Waagen als Direktor der Gemäldegalerie gehören zu den großen Connaisseuren, die zwischen 1820 und 1860 den italienischen Markt absuchten.15 Die größte Bereicherung erfuhr die Gemäldesammlung bereits 1821 durch den Kauf der Sammlung eines in Deutschland tätigen englischen Kaufmannes, Edward Solly.16 Die Nationalgalerie entstand im Anschluss an eine reichhaltige Stiftung – 262 Gemälde lebender, überwiegend deutscher Künstler – des 1861 verstorbenen Kaufmanns und Bankiers Joachim Heinrich Wilhelm Wagener.17 Wilhelm I. nahm die Schenkung an, machte die Gemälde bereits zwei Monate später der Öffentlichkeit zugänglich, appellierte an die Gebebereitschaft wei11 Vgl. dazu F. Stock, Rumohrs Briefe an Bunsen über Erwerbungen für das Berliner Museum, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 44 (1925) Beiheft, S. 1–76 passim. 12 Vgl. dazu noch immer J. Friedländer u. R. Schöne, Zur Geschichte der Königlichen Museen in Berlin. FS zum 50jährigen Bestehen, Berlin 1880, S. 3–58, besonders S. 51f.; sowie W. Waetzold, Die staatlichen Museen zu Berlin 1830–1930, in: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 51 (1930), Beiheft, S. 193ff.; ders, ebd., S. 51f.; 13 Vgl. L. Dehio, Friedrich Wilhelm IV. von Preußen. Ein Baukünstler der Romantik, München 1961, sowie neuerdings: H. Engel, Friedrich Wilhelm IV. und die Baukunst, in: O. Büsch (Hg.), Friedrich Wilhelm IV. in seiner Zeit, Berlin 1987, S. 157–203; vgl. Stock, Rumohrs Briefe (Anm. 11). 14 Einen vorzüglichen Einblick in die Praxis dieser Erwerbungstätigkeit gibt der Briefwechsel zwischen Bunsen und Rumohr; zu Rumohr vgl. auch Calov, Museen und Sammler (wie Anm. 1), S. 114. 15 Vgl. dazu Friedländer u. Schöne, Königliche Museen (Anm. 12), S. 24ff.; Calov, Museen und Sammler (wie Anm. 1), S. 112f. 16 F. Hermann, Edward Solly, Geschäftsmann, Kunstsammler, Kunsthändler, in: Jahrbuch Preußischer Kulturbesitz Bd. VII (1969), S. 149–158; v.a. C. Brinkmann, Gemäldegalerie, Edward Solly, in: Berliner Museen, Berichte aus den preußischen Kunstsammlungen Berlin Bd. XLI (1919), Nr. 1, S. 6–22. 17 L. Reidemeister, Die Nationalgalerie und ihre Stifter. Ausstellung zum Hundertjährigen Bestehen der Nationalgalerie, Berlin 1961; P. O. Rave, Die Geschichte der Nationalgalerie Berlin, Berlin 1968.

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terer Stifter und bereicherte die Sammlung im Lauf der Jahre mit einigen Gemälden aus seinem Besitz.18 Zwischen den Extremen – Ludwig I. und Friedrich Wilhelm III. oder Wilhelm I. – liegen dann eine Reihe mittel- und kleinstaatlicher deutscher Fürsten wie der Großherzog Leopold von Baden (1830–1852), sein Sohn und Nachfolger Friedrich I. (1852–1907) oder die Großherzöge von Hessen-Darmstadt und Sachsen-Weimar. Leopold von Baden hatte auf einer Italienreise 1816 selbst zu sammeln begonnen und besaß in dem badischen Geschäftsträger am Römischen Hof, Friedrich Maler, einen kompetenten Agenten in Italien.19 Friedrich I. gab dem Karlsruher Kunstleben mit der Gründung der Akademie der bildenden Künste 1854 entscheidenden Auftrieb. Die Privatsammlung Leopolds mit zeitgenössischen Werken wurde 1852 bereits der Kunsthalle einverleibt.20 Ein Thema für sich und eine eigene Untersuchung wert wäre die Frage nach der mäzenatischen Bedeutung von Monarchinnen bzw. Frauen aus regierenden Häusern. Den Kernbestand der Karlsruher Kunsthalle zum Beispiel stellte die Sammlung der 1783 gestorbenen Markgräfin Caroline Louise, die selbst malte und eine besondere Vorliebe für bürgerlich-häusliche Szenen der Niederländer, für Stilleben (Chardin) und Schäferszenen (Boucher) hatte. Die Frau des Großherzogs Leopold, Sophie von Schweden, hat ihren Mann wohl in seiner Kunstförderung bestärkt,21 und die hessen-darmstädtische Erbprinzessin nahm Zeichenunterricht bei dem Landschaftsmaler und frühen Meister der Ölskizze Georg Wilhelm Issel. Den Erwerb des Konvoluts von Zeichnungen aus dem Nachlass des früh verstorbenen Carl Philipp Fohr verfolgte sie mit persönlicher Anteilnahme.22

18 Ähnlich wie bei Wilhelm I. und Wagener lässt sich später im Verhältnis Wilhelm II. zu James Simon ein besonderes Verdienst des Monarchen nicht erkennen; vgl. H.-G. Wormit, James Simon als Mäzen der Berliner Museen, in: Jahrbuch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz 1964, S. 191–199. 19 A. von Schneider, Die Erwerbungen der antiken Sammlungen für das Museum Leopoldinum durch den Badischen Geschäftsträger am römischen Hofe Friedrich Maler, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins Bd. 100 (1952), S. 692–714, besonders S. 694. 20 Vgl. dazu ausführlicher O. Zirk, Zur Geschichte der Karlsruher Kunsthalle, Karlsruhe 1954. 21 Ebd., S. 6ff.; von Schneider, Museum Leopoldinum (wie Anm. 19), S. 694; vgl. auch L. Benedict, Der badische Hofmaler Karl Kuntz, 1770–1830, Karlsruhe 1981, S. 23. 22 K. Lohmeyer, Aus dem Leben und den Briefen des Landschaftsmalers und Hofrats Georg Wilhelm Issel, Heidelberg 1929, S. 81, 108.

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III. Die unterschiedlichen Formen des persönlichen Engagements und der persönlichen Einflussnahme von Monarchen und ihren Familien werfen jenseits des individuellen Profils der monarchischen Sammler auch die Frage nach ihren Beratern, nach der Bedeutung und dem Wandel der Kunstverwaltungen und – allgemeiner noch – nach dem Verhältnis von Herrscher-(Familie) und Staat in Bezug auf die Sammlungspolitik auf. Auch in dieser Hinsicht zeigen sich von Herrscher zu Herrscher, von Dynastie zu Dynastie, von Staat zu Staat erhebliche Unterschiede. Jenseits dieser Divergenzen lässt sich aber doch eine durchgehende und übergreifende Entwicklung aufzeigen. Kurfürst Max IV. Joseph von Bayern – später König Max I. – schuf 1799 eine zentrale Verwaltungsbehörde für die aus den Wittelsbacher Sammlungen zusammengewachsene Gemäldegalerie. Sie unterstand seit dem Erlass der bayerischen Verfassung 1818 der Verwaltung des Staates und damit auch der Kontrolle der Kammern. Dasselbe gilt für das 1854 gegründete Bayerische Nationalmuseum. Die Neue Pinakothek dagegen wurde erst 1915 den Staatsgemäldesammlungen eingegliedert. Sie war bei ihrer Eröffnung 1853 eine reine Privatsammlung, allerdings von Anfang an als öffentliches Museum konzipiert. Seit den siebziger Jahren gab es neben den königlichen auch staatliche Ankäufe. Dementsprechend wurde die Galerie von zwei Direktoren verwaltet, einem Maler für das Privateigentum des königlichen Hauses, und einem Kunsthistoriker für die Staatssammlung.23 Trotz der Tendenz zur Verstaatlichung der Sammlungen blieben das Haus Wittelsbach bzw. die Monarchen in der Museumspolitik institutionell präsent. Wie diese Präsenz ausgefüllt wurde, das war dann jenseits der institutionellen Vorgaben wiederum wesentlich die Sache des persönlichen Interesses und Formats der Monarchen. Ludwig I. verfügte schon als Kronprinz, ebenso wie seit 1825 als König, über höchst kompetente und gewiegte Berater. Der wichtigste ist Johann Georg von Dillis, oberbayerischer Försterssohn, genialer Maler und vor allem Zeichner, seit 1790 Galerieinspektor, 1808–1816 Professor für Landschaftsmalerei an der Akademie, seit 1822 Centralgalerie-Direktor und Leiter des Handzeichnungskabinetts.24 Seit seiner Reisebegleitung nach Südfrankreich 1806 wurde er zum wichtigsten Berater und Vertrauten des Kronprinzen in allen künstlerischen Fragen. Bewusst ordnete er seine künstlerische Aktivität der Funktion des Museumsmannes und Fürstenberaters unter – wie die umfangreiche, 675 publizierte Briefe umfassende Korrespondenz mit Ludwig beweist –, allerdings nicht ganz klaglos.25 23 Ludwig, Kunst, Geld und Politik (wie Anm. 10), S. 131ff. 24 Zur Biographie von Dillis v.a. R. Messerer, Georg von Dillis, München 1961. 25 Zur Dokumentation des Verhältnisses Ludwig – Dillis: R. Messerer, Briefwechsel zwi-

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Abb. 20: Johann Georg von Dillis, Blick auf St. Peter (1818)

An zweiter Stelle ist der Maler und Bildhauer Johann Martin von Wagner zu nennen, der auf den Rat von Dillis hin seit 1810 als Kunstagent Ludwigs in Rom tätig war – 49 Jahre lang, bis zu seinem Tod 1859.26 Dillis und Wagner machten Kaufvorschläge, fertigten detaillierte Gutachten über Rang, Erhaltungszustand und Wert der Objekte an, sondierten und kauften je nach den Umständen und standen dabei in engstem persönlichem Kontakt zu Ludwig. Dieser forderte umfassende Auskünfte und gab präzise Anweisungen, legte Kaufsummen bzw. Margen selbst fest, trieb unentwegt an und blieb bei allem so präsent, wie nur irgend vorstellbar. Den durch Dillis exemplarisch verkörperten Typus, den bürgerlichen Künstler,27 der zugleich Kunstberater und Agent und dann oft auch Museumsschen Ludwig I. von Bayern und Georg von Dillis, 1807–1841, München 1966 (= Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte Bd. 65). 26 Vgl. v.a. Wünsche, Antikensammler (wie Anm. 6), S. 440ff.; Calov, Museen und Sammler (wie Anm. 1), S. 124ff. 27 Zum Werk von Dillis vgl. B. Hardtwig, Johann Georg von Dillis, Wilhelm von Kobell und die Anfänge der Münchner Schule, in: Zweite, Landschaftsmalerei (wie Anm. 5), S. 58–77; dies., Johann Georg Dillis und die Porträtkunst um 1800. »Armeleutekunst« und »Individualität«, in: Münchner Jahrbuch für bildende Kunst 1984, S. 157–188; dies., Vom Bettler zum König, Dillis Porträtkunst und dies., Der Mensch in der Natur, Dillis’ Landschaftskunst, in: Christoph Heilmann (Hg.), Johann Georg von Dillis (1759–1841), Landschaft und Menschenbild, Ausst. Kat. Bayerische Staatsgemäldesammlungen München, Neue Pinakothek, München 1991, S. 38–47 und S. 48–59.

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mann war, findet man an den deutschen Höfen sehr oft. In Darmstadt übernahm der Landschaftsmaler Georg Wilhelm Issel, der künstlerisch vor allem mit seinen Ölskizzen einen eigenständigen Platz in der deutschen Landschaftsmalerei gewonnen hat, diese Rolle, ohne allerdings zu der von ihm sehnlichst erwünschten Galerieleitung zu kommen.28 In Österreich brachten es die Kammermaler um Erzherzog Johann, den späteren Reichsverweser von 1848/49, Karl Russ und Johann Peter Krafft zum Kustos und zum Galeriedirektor.29 In Preußen berieten u.a. Schinkel und Rauch den König bei Ankäufen. Für das weitere Gedeihen der Sammlungen im Lauf des Jahrhunderts sollte es dann allerdings sehr darauf ankommen, wie weit sich die Professionalisierung der Galerieleitungen durchsetzte. Karlsruhe krankte daran, dass Philipp Jacob Becker, Carl Frommel und schließlich auch Karl Friedrich Lessing zwar anerkannte Künstler waren, über kunstgeschichtliche Schulung aber nicht verfügten.30 Als Gradmesser für das persönliche Interesse und die Energie der Monarchen erweist sich die Frage, wie weit sie jeweils persönlich den Kontakt zu ihren Vertrauensleuten hielten oder sich – was sich nicht notwendig negativ auswirken musste – auf die bürokratischen Strukturen verließen. Das eine Extrem verkörpert Ludwig I., das andere Friedrich Wilhelm III. Die Indifferenz des preußischen Königs in der Kunst- und Sammlungspolitik wurde zumindest teilweise ausgeglichen durch die Leistungen des Reformbeamtentums. Der preußische Gesandte am Vatikan, Bunsen, sicherte die Ankäufe Rumohrs Berlin gegenüber ab, Staatskanzler Hardenberg persönlich erreichte nach langem Hin und Her den Ankauf der Sammlung Solly, der Kultusminister Altenstein und vor allem Wilhelm von Humboldt trieben neben Friedrich Schinkel den Bau des Neuen Museums voran.31 Schinkel erhielt immerhin durch Kabinettsordre 1826 den Auftrag, die Einrichtung der Museen in Paris und London zu studieren. 1828 konstituierte sich auf das anfängliche Betreiben Schinkels hin eine Kommission, die für die Planung und die Organisation des Museums zuständig sein sollte. Ihr gehörten u.a. Schinkel und Rauch an, die Leitung übertrug der König Wilhelm von Humboldt. Bei alledem wurde Rumohr geflissentlich übergangen, obwohl sich der Kronprinz 28 Vgl. Lohmeyer, Leben und Briefe (wie Anm. 22), passim. 29 Die Kammermaler um Erzherzog Johann, Ausst. Kat. Neue Galerie am Landesmuseum Johanneum Graz, Graz 1959, S. 33, 38. 30 Zirk, Zur Geschichte (wie Anm. 20), S. 16f.; ähnlich löste sich die aus einem Legat des sächsischen Staatsministers Bernhard von Lindenau hervorgegangene Gemäldegalerie »Neue Meister in Dresden« erst von ihrer Provinzialität, als Karl Woermann nach Schnorr von Carolsfeld und Julius Hübner das Direktorenamt übernahm (1882), vgl. H. Marx, Die Dresdner Gemäldegalerie. Bemerkungen zur Geschichte ihrer Wirkung und ihres Ruhmes, in: Dresdner Kunstblätter, Monatsschrift der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden 11 (1967), S. 46–51. 31 Hierzu im Ganzen Friedländer u. Schöne, Königliche Museen (wie Anm. 12), S. 22ff.; sowie Waetzold, Staatliche Museen (wie Anm. 12).

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für ihn einsetzte. Auf Humboldts Betreiben sollte die Leitung der Sammlung ausdrücklich nicht einem Einzelnen allein überlassen werden. Er schlug vor, eine »artistische Kommission« einzusetzen, die unter dem Vorsitz des General-Intendanten nach Mehrheit entscheiden sollte. Ein Statut von 1835 fixierte diese antiabsolutistische Museumsverfassung.32 Friedrich Wilhelm IV. beschränkte dann in einer Reihe von Erlassen 1843/44 die Tätigkeit der artistischen Kommission und erließ 1854 ein neues Statut, das ganz auf die Verwaltung durch die »Allerhöchste Person« selbst bzw. den Generaldirektor zugeschnitten war und zu den schon angedeuteten Missständen führte, bis Wilhelm I. 1868 den ursprünglichen Zustand im Wesentlichen wiederherstellte. Aufschlussreich für den Grad der direkten Präsenz des Monarchen in der Kunstförderung ist auch jeweils die Frage, inwieweit der bürokratische Dienstweg eingehalten oder durchbrochen wurde. So wie Johann Georg von Dillis zur Regierungszeit Max I. Joseph über den Galeriedirektor Johann Christian von Mannlich mit dem König korrespondierte, ehe Ludwig die persönliche, herzliche Beziehung herstellte, so gelangten die Briefe Issels in Darmstadt über den Geheimen Kabinettsekretär Schleiermacher und die Briefe Friedrich Malers in Karlsruhe über den leitenden Minister Friedrich Karl Frhr. von Blittersdorf an den Monarchen, was eine entsprechende Aufwertung der Stellung der leitenden Beamten mit sich brachte. Auch Ludwigs Nachfolger in München stützten sich auf persönliche Berater aus den Kunstinstitutionen, Max II. auf Karl Maria von Aretin, den Generaldirektor des Haus- und Hofarchivs, und Luitpold auf Adolf Paulus, den Geschäftsführer der Münchner Künstlergenossenschaft – aber ihre Rolle und ihr Einfluss sind doch mit der von Dillis und Wagner nicht zu vergleichen. Im Ganzen ist diese Beratertätigkeit von Künstlern und Kunstkennern kein neues Element fürstlicher Sammlungs- und Kunstpolitik. Schon die frühneuzeitlichen Herrscher zogen vielfach Ratgeber heran, die dabei ihren Herren und Auftraggebern auch mehr oder weniger persönlich nahe traten.33 Neu hinzu kommt dagegen die Tendenz zur Verfachlichung und Bürokratisierung dieser künstlerischen Beratung. Zu den Charakteristika dieser Kunstförderung gehörte auch die direkte Künstlerförderung. Wie schon im 18. Jahrhundert pflegten die Monarchen das Romstipendium für begabte Künstler und das Reisestipendium für spezielle Zwecke. Dazu gehören etwa Carl Rottmanns Italien- und Griechenlandreisen zur Vorbereitung seiner Freskenzyklen; dazu gehört dann bei Ludwig auch die persönlichere Unterstützung z.B. durch Vorauszahlung auf ein Gemälde, die günstige Vermietung von Atelierräumen in seiner römischen Villa Malta, die 32 Ebd., S. 50. 33 Vgl. dazu M. Warnke, Hofkünstler. Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers, Köln 1985, S. 142ff.

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Ausstattung der Bibliothek der deutschen Künstler und die Sorge für Grabmäler und Gedenktafeln deutscher Künstler in Rom. Mit der Berufung von Künstlern nach München für große Aufträge oder auf Professuren, wie bei Peter Cornelius 1818, verfolgte Ludwig vor allem seine eigenen herrschaftlichen Zwecke, aber eine – wenn auch weitgehend absolutistische – Form der Künstlerförderung war das doch auch.34 In der patriarchalisch-liberalen Amtsführung des alten Prinzregenten Luitpold stand, da es an eigenen kunstpolitischen Programmen oder Ideen ganz fehlte, die Künstlerförderung überhaupt vor der Kunstförderung. 1911 richtete Luitpold eine eigene Stiftung ein zur Unterstützung in Bayern lebender bedürftiger Künstler. Sie wurde dann in der Art einer Alterspension vergeben.35 Die Kosten für diese Art der Künstlerförderung bestritten die Monarchen teilweise aus ihrer »Privatschatulle«.36 Auch ein bedeutender Teil der Ankäufe, so etwa für die »Gemäldesammlung der Kgl. Älteren Pinakothek« – wie die Alte Pinakothek noch hieß, – für die Glyptothek, die Neue Pinakothek und das Bayerische Nationalmuseum wurde aus diesem Fond bezahlt. Der Kern der Antikensammlung einschließlich der Ägineten, des Barberinischen Fauns u.a. sind ebenso von Ludwig »privat« erworben worden wie der größte Teil der frühen Italiener bis zu Raffael und der gesamte Kernbestand an Gemälden des 19. Jahrhunderts. Ludwig führte damit die Praxis seines Vaters ins Extrem gesteigert weiter, wobei ihm die Einschaltung manchmal auch mehrerer Sachverständiger zur Taxierung ebenso zugute kam wie seine Knauserigkeit. Hinzu kam aber von Anfang an der staatliche Ankaufsetat. Für die Neue Pinakothek wurde er erstmals 1886 angesetzt mit 20000 Mark, in den folgenden Jahren aber rasch erhöht.37 Sofern das Geld das A und O des Sammler- und Mäzenatentums ist, kann man sagen, dass der Staat seit der Jahrhundertmitte entschieden an Bedeutung gewann, die monarchischen Förderer aber mit abnehmender Bedeutung bis zum Übergang zur Republik präsent blieben. Damit sind nun schon die allgemeinen Voraussetzungen, Wesensmerkmale und Entwicklungstendenzen des monarchischen Sammlertums im 19. Jahrhundert angeschnitten. Sie sollen abschließend ohne Anspruch auf Vollständigkeit und strenge Systematik im Zusammenhang andeutend skizziert werden.

34 G. Scheffler, Deutsche Künstler um Ludwig I. in Rom. Ausst. Kat. Staatliche Graphische Sammlung München, München 1981, S. 38, 57, 69, 80. 35 Ludwig, Kunst Geld und Politik (wie Anm. 10), S. 282ff. 36 Der Begriff der »Privatschatulle« ist allerdings irreführend; es handelt sich um die dem Monarchen bzw. seinem Haus zustehende Apanage – in Bayern 12% des Staatshaushalts. 37 Ludwig, Kunst, Geld und Politik (wie Anm. 10), S. 139ff.; in Preußen erfolgte die Etatfestsetzung gleichzeitig mit dem Statut von 1835; Friedländer u. Schöne, Königliche Museen (wie Anm. 12), S. 50.

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IV. Als erste und wichtigste Voraussetzung für den eminenten Aufschwung des monarchischen Sammelns im frühen 19. Jahrhundert ist die neuartige Verfügbarkeit von Kunstwerken aller Gattungen und Zeiten seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts zu nennen. Dieser Vorgang hat verschiedene Aspekte, die aufeinander verweisen und hier etwas apodiktisch nebeneinandergestellt werden. Die napoleonische Territorialrevolution und die gesellschaftlich-herrschaftlichen Umbrüche der Revolutionszeit zwischen 1789 und 1815 – sowie Napoleons Kunstraubpraxis – machten eine Menge von Objekten disponibel, die sonst nicht oder nur in kleinerer Zahl und geordneterer Form auf dem Kunstmarkt erschienen wären. Hinzu kommt der plötzliche Strukturwandel großer Vermögen. Ludwigs außerordentliche Erfolge etwa, aber auch die Tätigkeit Bunsens und Rumohrs für Preußen, wurden begünstigt durch den explodierenden römischen Kunstmarkt seit 1798, der Eroberung Roms durch die Franzosen. Die römischen Adelshäuser, die Braschi, Giustiniani, Barberini, Rondanini brauchten plötzlich Geld und sahen sich gezwungen, ihre Sammlungen ganz oder teilweise zu verkaufen. Ludwig verfolgte genau ihre finanziellen Verhältnisse und setzte gezielt seine Agenten auf sie an. Als zudem nach der Niederlage Napoleons die geraubten Kunstschätze in Paris wieder zur Disposition standen, wollten oder konnten zahlreiche Besitzer wichtiger Werke die nötigen Transportkosten nicht bezahlen und verkauften ihre Schätze an Ort und Stelle.38 In den meisten Fällen sorgte allerdings die scharfe Konkurrenz der Kaufinteressenten dafür, dass die Preise nicht ins Bodenlose fielen. Hinzu kam, dass die Säkularisierung und die schlagartige Enteignung der kirchlichen Besitztümer in einem nie da gewesenen Ausmaß sakrale Kunstwerke zur Verfügung stellten, darüber hinaus aber auch die Einstellung zur Kunst veränderten und so die neue Bildungsreligion der Kunstverehrung ermöglichten, die dem Gedanken musealer Anhäufung von Kunstwerken einen ganz neuen Stellenwert verlieh.39 Der historistische Übergang zur Bildungs- und Kunstreligion führte – zweitens – zu einem neuen Universalitätsanspruch der Sammlungspolitik. Ludwig I. zum Beispiel hatte sehr persönliche Vorlieben und Verständnisschwächen – für die herkömmliche Historie und die überhöhte Landschaft und gegen die realistische Landschaftsmalerei. Aber er achtete bei seiner Künstlerförderurig doch bewusst auf Ausgewogenheit und folgte in seiner Sammlungspolitik dem Anspruch, die gesamte europäische Kunstgeschichte möglichst vollständig in exemplarischen Stücken präsent zu haben. So sam38 Vgl. v. a. Wünsche, Antikensammler (wie Anm. 6), passim. 39 Zur Sakralisierung der Kunst u.a. W. Hardtwig, Geschichtsschreibung zwischen Alteuropa und moderner Welt. Jakob Burckhardt in seiner Zeit, München 1974, S. 244ff.

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melte er gezielt lückenfüllend von Giotto bis Belotto; dazu kamen die Bestände zur antiken Kunst. Als er das Gefühl hatte, hier eine gewisse Repräsentativität erreicht zu haben, wandte er sich seit Beginn der dreißiger Jahre der zeitgenössischen Kunst zu. Dabei erscheint sogar die Hypothese plausibel, dass er Alte und Neue Pinakothek in der Art einer biblischen Konkordanz aufeinander bezogen habe. Universell war zumindest anfangs auch das Sammeln der Agenten und Kunstberater anderer deutscher Monarchen angelegt. Rumohr und Friedrich Maler spürten Gemälde ebenso wie antike Vasen oder Kunsthandwerk der Renaissance auf. Leopold von Baden oder Issel sammelten genauso gut mittelalterliche Glasmalereien wie zeitgenössische Zeichnungen. Rumohr schlug in einer Denkschrift 1829 den Aufbau einer Sammlung zeitgenössischer Kunst, Issel die Errichtung eines »Volksmuseums« vor.40 Dieser Universalitätsanspruch wird zwar in einer durchaus persönlichen Weise verwirklicht – vor allem, wenn man an Ludwig I. denkt –, er steht aber doch auch drittens im Zusammenhang mit einer Teil-Verstaatlichung der Kunstpolitik. Dabei gewann der Staat gegenüber dem Monarchen bzw. der Dynastie immer mehr an Gewicht. Kunstankauf, Kunstförderung, selbst Künstlerförderung mit Stipendium und ähnlichem wurden zunehmend zu Staatsaufgaben erklärt und vom Staat auch wahrgenommen. In Bayern z.B. begann sich mit Max Joseph eine weitgehende institutionelle Eigenständigkeit der Sammlungen durchzusetzen. Ludwigs extreme Form des persönlichen Regiments unterbrach diesen Trend nur vorübergehend. Das bedeutet, dass die patriarchalisch-subjektive Sammlungspolitik und Künstlerförderung zurückging. Diese Verstaatlichung41 ermöglichte aber auch, dass sich das Sammlertum von monarchischer Willkür, von Hofpolitik und Hofkabale stärker als zuvor zu lösen begann. So wie man von einer Teil-Verstaatlichung der Kunstpolitik sprechen kann, so deutlich tritt umgekehrt – viertens und etwas burschikos ausgedrückt – eine »Teil-Privatisierung« des Herrschers ein. Seit dem späteren 19. Jahrhundert wandelten sich feste Konventionen des Herrscherbildes und Herrscherverhaltens und ermöglichten dem Monarchen mehr Privatheit. Im Falle Ludwigs kommt der besondere Tatbestand hinzu, dass es seit 1798 auch Angehörigen regierender Häuser möglich war, sich ohne aufwändige Hofhaltung in Rom aufzuhalten. Das verlängerte den neuen, aufklärerisch geprägten Stil ständeverschmelzender Geselligkeit42 in die Lebensführung des 40 Stock, Rumohrs Briefe (wie Anm. 11), S. 53; Lohmeyer, Leben und Briefe (wie Anm. 22), S. 86. 41 Vgl. dazu den Überblick bei U. Scheuner, Kunst als Staatsaufgabe im 19. Jahrhundert, in: E. Mai u. S. Waetzold (Hg.), Kunstverwaltung, Bau- und Denkmalpolitik im Kaiserreich, Berlin 1981, S. 13–46. 42 Vgl. dazu für die frühe Neuzeit W. Hardtwig, Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution, München 1997; für das 19. Jarhundert: ders., Art.: Verein. Gesellschaft, Geheimgesellschaft, Assoziation, Genossenschaft, Gewerkschaft, in: W. Conze u.a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur

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Herrschers hinein und ermöglichte ihm neue, zugleich intensive, aber zu nichts verpflichtende, vielseitige, nach persönlicher Neigung und Interesse gestaltete Formen des Umgangs. »Hier, hier lebt der Mensch« – schrieb Ludwig 1829 an Goethe; hier könne er »von des Thrones Kette ... für einige Zeit befreit ... als Privatmann glücklich leben«.43 Hier konnte er teilnehmen an dem privatisierten und damit auch demokratisierten Leben, das die Künstler gern mit dem Schlagwort von der »Künstlerrepublik« umschrieben. Zwar ist die Nähe von Künstler und Herrscher schon vorher ein Thema, doch dürfte es etwas Neues sein, wenn der junge Franz Horny schrieb: »Man glaubt eher mit einem Studenten als mit einem Prinzen umzugehen, so ungeniert ist man bei ihm.«44 Wieder prägte sich das Neue bei Ludwig besonders stark aus, aber die Tendenz zur Privatheit und persönlichen Nähe blieb: Prinzregent Luitpold von Bayern etwa lud wie sein Vater noch im hohen Alter Künstler an seine Tafel und besuchte sie im Atelier.45 Ähnlich pflegte auch Wilhelm II. seine persönlichen Künstlerbekanntschaften.46 Höchst aufschlussreiche Züge nahm diese persönliche Beziehung des Monarchen zum Künstler auch bei den Habsburgern an. Das persönliche kunstpolitische Profil Kaiser Franz I. blieb undeutlich. Er trat ebenso wenig in Erscheinung wie sein preußischer Widerpart Friedrich Wilhelm III. Dagegen brach sein jüngerer, begabterer und im Volk ungleich beliebterer Neffe Erzherzog Johann wie kaum ein anderer regierender Herr des 19. Jahrhunderts aus den höfischen Konventionen aus. Das bestimmte auch die Schwerpunkte und den Stil seines Sammler- und Förderertums. Er verband in ganz singulärer Weise aufklärerisches Erbe mit Volksnähe und einer neuen Betonung von »Heimat«, lehnte die Wiener Romantik und das Nazarenertum entschieden ab und versuchte – in seinem Rahmen erfolgreich – mit seiner Arbeits- und Wohnweise einen neuen, antihöfischen monarchischen Lebensstil zu kreieren. Seit 1802 versammelte er einen Künstlerkreis um sich, der teils aus festbestallten »Kammermalern«, teils aus von Fall zu Fall mit Aufträgen versehenen Künstlern bestand.47 In der Tradition aufklärerischer »Landesaufnahme« politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 789–829; der Begriff der ständeverschmelzenden Geselligkeit nach T. Nipperdey, Verein als soziale Struktur in Deutschland im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 174–205. 43 Zitiert nach Scheffler, Deutsche Künstler (wie Anm. 34), S. 7. 44 Zitiert ebd., S. 44; grundlegend jetzt für die frühe Neuzeit Warnke, Hofkünstler (wie Anm. 33), S. 142ff. 45 Ludwig, Kunst, Geld und Politik (wie Anm. 10), S. 353ff. 46 Zum Verhältnis Wilhelms II. zu Kunst und Künstler jetzt v.a. P. Paret, Die Berliner Secession: Moderne Kunst und ihre Feinde im kaiserlichen Deutschland, Frankfurt a.M. 1983. 47 Die Kammermaler um Erherzog Johann: Ausstellung von Ölgemälden, Aquarellen und Graphiken zur Eröffnung der neuen Schauräume, Ausstellungskatalog: Neue Galerie, Graz 1959 S. 7ff., 45.

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bevorzugte er eindeutig exakt identifizierbare Alpenlandschaften, vor allem der Steiermark und Tirols, die Wiedergabe bäuerlicher Bräuche, von Industriewerken und Arbeitsmethoden; dazu kamen Genredarstellungen, Szenen aus dem Leben des Erzherzogs, von der Geschichte seiner Liebe zu Anna Plochl über Bilder seiner Besitzungen bis zu Erinnerungen an Reisen und Jagden. Nachdem er Schloss Wernburg aufgegeben und 1818 mit dem Kauf des Brandhofes ein »volksnahes« Domizil bezogen hatte, wandte er sich auch von den bis dahin gern gesehenen Darstellungen aus der vaterländischen Geschichte und von den Porträts vorbildhafter Persönlichkeiten ab. Künstler, Monarch und Berater wussten sich bei alledem – fünftens – einer Gemeinschaft untergeordnet, die sie gemeinsam umfasste und verpflichtete: der Nation. Ludwig kultivierte bekanntlich ein sehr ausgeprägtes nationaldeutsches Bewusstsein, das freilich mehr die Kultur- als die Staatsnation meinte. Während Max Joseph noch eindeutig »vaterländische Maler bayerischer Landschaften« bevorzugt hatte, betonte Ludwig die Zugehörigkeit aller – gerade auch der gegensätzlichen – Künstler und Künstlergruppen in Rom zur gemeinsamen deutschen Nation. Man steht also vor unterschiedlichen und ungleichzeitigen Vorstellungen von »Vaterland und Nation«. Das moderne Verständnis von Nation setzte sich dabei nur langsam durch.48 Seit dem Beginn des Jahrhunderts stieg das »vaterländische Gemälde« zur neuen Gattung auf, unter deren Vorzeichen sich auch neue gemeinsame Interessen von Monarch und Künstler geltend machen ließen. Der Porträtmaler Joseph Stieler zum Beispiel wollte für die »vaterländische Bildergalerie in Darmstadt« ein »etwa aus drei Figuren« bestehendes Historienbild schaffen, und Issel vermittelte diesen Wunsch an den Kabinettsekretär Schleiermacher bzw. den Großherzog.49 Johann Georg von Dillis notierte 1807 in Italien in sein Tagebuch: »Ich habe den König von der Malerei [das vermeintliche Selbstbildnis Raffaels, .W. H.] – in meinen Händen – in deutschen Händen. Es lebe der Prinz, der Beschützer der Künste. Ich bin nun der glücklichste Mensch von der Welt, seinen Wunsch erfüllt zu sehen ... Hierher hat die Kunstwelt gewallfahrtet, künftig wird die Welt hin nach meinem Vaterland wallen – und leben und verherrlichen den Schöpfer dieser Reliquie. Nicht ein heiliges Gebein bringe ich, den Geist, die Seele eines Kunstheiligen.«50 Stärker zurückbezogen auf praktische Zwecke der Wohlfahrtspflege blieb fast gleichzeitig, 1811, der Begriff des »Vaterlandes« bei Erzherzog Johann. In 48 Einführende Diskussion der Begrifflichkeit und der unterschiedlichen Formen nationalen Bewusstseins bei H. A. Winkler (Hg.), Nationalismus, Meisenheim 1978; W. Hardtwig, Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500–1914, Göttingen 1994. 49 Lohmeyer, Leben und Briefe (wie Anm. 22), S. 91. 50 Abgedruckt bei Messerer, Dillis (wie Anm. 24), S. 27; zur politischen Integrationsfunktion der »Vaterländischen Landschaften« in der Territorialrevolution des frühen 19. Jahrhunderts vgl. auch Benedict, Hofmaler Kuntz (wie Anm. 21), S. 15f.

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den Statuten des von ihm gegründeten Museums, des Johanneums in Graz, heißt es: »Stäte Entwickelung, unaufhörliches Fortschreiten ist das Ziel jedes Einzelnen, jedes Staatenvereins, der Menschheit ... Dasselbe [das Nationalmuseum], soll alle in den Umkreis der National-Literatur gehörigen Gegenstände in sich begreifen«. Zu diesen Gegenständen gehört die Erziehung zu Naturwissenschaft und Technik, zur rationellen Landwirtschaft, aber eben auch die »Landesaufnahme« mit künstlerischen Mitteln. Mit diesem aufklärerisch-utilitaristischen, den Gegensatz von »Kunst« und »Künsten« im alten Wortsinn noch übergreifenden Programm wurde das Johanneum vorbildhaft für eine ganze Reihe von Landesmuseen, u.a. in Prag (1818/20), Brünn (1818), Innsbruck (1823), Laibach (1821/31).51 Mit der nationalen Orientierung verbindet sich – sechstens – in der Kunstpolitik der Museumskonzeption und der Künstlerförderung die pädagogische Leidenschaft des Jahrhunderts. Sie führt zu der Auffassung, dass Kunst und Museum als ideale Instrumente der National-Pädagogik anzusehen seien. In München wie in Berlin konzipierte man die Gemäldegalerien als nationale Bildungsanstalten. Das Museum, so heißt es in einem Gutachten Humboldts 1833, muss Objekte versammeln, die »vorzugsweise sowohl auf die Kunst, als auf das Gefühl derselben in der ganzen Nation einwirken. Die Antiken- und Gemäldegalerie müssen daher den Kern der Anstalt, ja eigentlich die ganze Anstalt selbst ausmachen ...«.52 Hierin äußert sich das charakteristische neuhumanistische und vornationalistische Verständnis von Nation als Kulturund Bildungsgemeinschaft, das noch eng mit dem einzelstaatlichen Patriotismus verwoben war. In der Museums- und Sammlungspolitik der monarchischen Staaten hatte es unter anderem die Vorliebe für die Gipsabdrucksammlungen zur Folge. Gesammelt wurde vielfach nach dem Gesichtspunkt, dass das heimische Museum exemplarische, die Schulung des »Nationalgeschmacks« fördernde Antiken, wenn nicht im Original, so zumindest im Abguss besitzen müsse. Berater wie Friedrich Maler in Baden oder Rumohr in Preußen führten einen weithin vergeblichen Kampf gegen diese künstlerische Nationalerziehungsideologie aus dem Geist der Antike und forderten als entscheidende Kriterien bei Ankäufen »Seltenheit, inneren Wert, Erhaltung« des einzelnen Werks.53 Die monarchischen Sammler ebenso wie ihre Berater verstanden die Schulen der alten wie der Gegenwartskunst als Mittel der Geschmacksbildung für Künstler und Publikum. Das deutsche Fresko schien wegen seiner Monu-

51 Dazu W. Wagner, Die frühen Museumsgründungen in der Donaumonarchie, in: Deneke u. Kahsnitz, Museum im 19. Jahrhundert (wie Anm. 1), S. 19–28. 52 Zitiert nach Friedländer u. Schöne, Königliche Museen (wie Anm. 12), S. 48. 53 Rumohr, in: Stock, Rumohrs Briefe (Anm. 11), S. 5.

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mentalität und Sichtbarkeit für diesen Zweck besonders geeignet.54 Max II. sah die Aufgabe seines Nationalmuseums im Wesentlichen darin, dass es auf die geistige Entwicklung seines Volkes einwirke. Allerdings war auch diese Idee zunehmender Erosion ausgesetzt. Der Nachfolger Aretins als Direktor, Jakob Heinrich von Hefner-Alteneck, interessierte sich weniger für die nationale Bildung, sondern sah im Museum eine Vorbildersammlung für die zeitgenössische Kunst bzw. das Kunstgewerbe.55 Damit reagierte das Bayerische Nationalmuseum seit 1868 erstmals – wenn auch indirekt – auf die Herausforderung der Industrialisierung. Eine erzieherische Absicht ohne ausdrücklich nationalen Beigeschmack stand auch deutlich hinter der Konzeption der größten privaten Sammlung und späteren Stiftung dieser Jahre in München, der Galerie des Grafen Schack, der zudem, deutlicher als alle anderen privaten Sammler und Stifter, den Stil des monarchischen Sammlers und auch der monarchischen Kunstförderung nachahmte. Der Glaube an den erzieherischen Nutzen der Werke gab Schacks »Kunstintendanten« Franz von Lenbach die Idee einer umfassenden Kopiensammlung ein. Sie erreichte 85 Nummern, umfasste »unbestrittene Höhepunkte der Gattung«, ernährte Berufskopisten und junge Künstler und trug, so liest man im Schack-Katalog – zum Ruin von Lenbachs schöpferischem Vermögen bei.56 Die Nationalpädagogik der fürstlichen Kunstförderer war keineswegs selbstlos. Denn sie verband sich – siebtens – mit der Funktion der Herrschaftsdarstellung und Herrschaftslegitimation von Monarchie, Dynastie und jeweiliger Herrscherpersönlichkeit. Von Anfang an blieben Kunstsammeln und Kunstfördern einbezogen in die herkömmliche Fürsten- und Staatenrivalität. Der Erwerb einer Vasensammlung durch Preußen trug zum Beispiel dazu bei, dass Ludwig I. um 1820 den Skulpturenkauf zurückstellte und nun seinerseits eine der bedeutendsten europäischen Vasensammlungen aufzubauen begann.57 Das Freskenprogramm Wilhelm Kaulbachs für die Neue Pinakothek sah die Darstellung der »neueren Kunst« vor, »wie sie durch seine Majestät den König hervorgerufen«.58 Anlässlich des Rombesuchs Ludwigs 1859 schuf ein Dutzend Künstler unter der Leitung von Cornelius ein dreiteiliges Transparentgemälde: In der Mitte sitzt die Muse der Dichtkunst, von links schreiten »in dichtem Zug die hervorragendsten Künstler aller Zeiten, von rechts die bedeutendsten Kunstmäzene der Mitte zu«.59 Die Griechenland-Aufträge für

54 Vgl. dazu W. Hardtwig, Kunst und Geschichte im Revolutionszeitalter. Historismus in der Kunst und der Historismusbegriff der Kunstwissenschaft, in diesem Band, S. 205–239. 55 Vgl. Lenz, Bayerisches Nationalmuseum (wie Anm. 10), S. 16. 56 E. Ruhmer (Hg.), Schack-Galerie, München 1969, S. 9–13. 57 Wünsche, Antikensammler (wie Anm. 6), S. 446. 58 Zitiert nach Scheffler, Deutsche Künstler ( siehe Anm. 35), S. 46. 59 Ebd., S. 66.

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Heß und Rottmann dienten der Rechtfertigung und Glorifizierung der Wittelsbacher-Herrschaft Ottos in Griechenland.60 Nach 1848 erhielt dann das Motiv der Herrschaftslegitimation eine neue Dringlichkeit. Unter Hinweis auf die »Schwächung der monarchischen Erinnerungen durch ... Revolutionen« begründete Karl Maria Freiherr von Aretin, Vorstand des Münchner Geheimen Staats- und Hausarchivs, unzweifelhaft im Einklang mit Maximilian II. die Notwendigkeit eines »Wittelsbacher Museums« – wie es zunächst hieß: »Durch ein solches Museum würde dem bayerischen Volk sozusagen vor Augen gestellt, wie seine Fürsten ihm von jeher auf der Bahn der Zivilisation, Wissenschaft und Kunst vorangeleuchtet haben und die Anhänglichkeit an das angestammte Herrscherhaus könnte dadurch nur bestärkt werden.«61 Luitpold schließlich pflegte die Wittelsbacher Haustradition. »Protektor der Kunst« zu sein, gehörte für ihn primär zu den dienstlichen Obliegenheiten seines Herrscheramtes.62

V. Trotz der offenkundigen und bei den Zeitgenossen auch ganz unumstrittenen Instrumentalisierung des Sammelns und der Kunstförderung zu herrschaftlichen Zwecken, wie sie aus den vorgetragenen Beobachtungen und Überlegungen hervorgeht, sollte man die Spannung zwischen bürgerlichem Partizipationsanspruch und Verbürgerlichung der Kultur einerseits, monarchischer Autokratietradition und höfischer Lebensweise in Deutschland nicht überzeichnen. Deren vielfach unproblematische Nähe zeigt sich vor allem, wenn man den Blick weglenkt von Berlin und auf die vermeintliche künstlerische Peripherie richtet, auf die deutschen Klein- und Mittelstaaten.63 Denn hier finden sich – anders als im Zentrum – Beispiele gelungener Integration bürgerlicher Kunstabsichten in einem noch vom Hof bestimmten Ambiente, so etwa beim Prinzregenten in Bayern, aber auch bei dem ganz anders gelager60 Vgl. dazu H. Friedel, Das Bild Griechenlands in der Münchner Malerei, in: Zweite, Landschaftsmalerei (wie Anm. 5), S. 116–125. 61 Zitiert nach Lenz, Bayerisches Nationalmuseum (Anm. 9), S. 7. 62 Zur Praxis Luitpolds, für die zahlreichen Kirchenneubauten der Hochindustrialisierungsphase in München Ausstattungsstücke zu stiften, vgl. W. Hardtwig, Soziale Räume und Politische Herrschaft, Leistungsverwaltung, Stadterweiterung u. Architektur in München 1870 bis 1914, in: W. Hardtwig u. K. Tenfelde (Hg.), Soziale Räume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im Vergleich 1850 bis 1933, München 1990, S. 59–154, bes. S. 144f. 63 Die Bedeutung der Epizentren der deutschen Staatenwelt im Kaiserreich für den Durchbruch der Moderne betont auch: W. Mommsen, Die Kultur der Moderne im Deutschen Kaiserreich, in: W. Hardtwig u. H.-H. Brandt (Hg.), Deutschland auf dem Weg in die Moderne, München 1992, S. 254–274, bes. S. 258.

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ten Fall des Großherzogs Ernst Ludwig von Hessen-Darmstadt mit der Mathildenhöhe64 oder – wenn auch nur kurzfristig – im Großherzogtum Weimar mit Harry Graf Kessler und Henry van de Velde. Die monarchische Kunstförderung nimmt hier die Tradition auf, die wesentlich zur Wirklichkeit der deutschen Staatenwelt im 19. Jahrhundert gehört: die manchmal verblüffende und eklatante Modernität der Höfe gegenüber einer zäh im Alten verharrenden Bürgerlichkeit.65 Bei der Kunstförderung lässt sich dies u.a. ablesen an manchen Kunstvereinen. Im Karlsruher Kunstverein z.B., dem dritten in der Serie großer Kunstvereinsgründungen in Deutschland, spielten von Anfang an der Großherzog und die großherzogliche Familie eine wesentliche Rolle. Die Ankaufskommission des Vereins bestand jahrzehntelang ausschließlich aus Hofkünstlern. Der konservative Minister von Blittersdorf übernahm als zeitweiliger Direktor des Kunstvereins die Funktion eines in jeder – künstlerischen – Hinsicht »progressiven« Kunstförderers.66 Die Geschichte der bildnerischen Hochkultur und damit auch die Geschichte der Kunstförderung und speziell des Sammelns verläuft gerade in Deutschland im 19. Jahrhundert nach demselben Muster wie die Geschichte der politischen und gesellschaftlichen Machtverteilung: evolutionär und stark beeinflusst durch die Impulse monarchisch-obrigkeitlich gelenkter Reform. In der Frühphase der Französischen Revolution, 1790, hatte eine Künstlerversammlung in Paris eine Resolution mit der These verabschiedet: »Die Künste des Vergnügens, die überall der Herrschaft der Vernunft vorangegangen sind ... brauchten Aufsehen erregende Unterstützung. Heute können sie auf Mäzene verzichten: Die Bedürfnisse einer gebildeten Nation genügen, ihnen Bewegung und Lebendigkeit zu erhalten.«67 Damit griffen die revolutionären Künstler, zumindest was Deutschland angeht, der tatsächlichen Entwicklung weit voraus. In der vorrevolutionären Situation von 1845 propagierte Franz Kugler in Berlin als Mittel gegen den »Pauperismus auch in der Kunst« zwar vor allem die bürgerliche Selbsthilfeform des Vereins. Er fügte aber auch hinzu: »Manches Umfassende für die Kunst ist durch das Interesse und die Liebhaberei einzelner Hoch64 Dessen Sammeltätigkeit und Kunstpolitik ist trotz aller Beachtung, die inzwischen die Jugendstilkolonie auf der Mathildenhöhe in Darmstadt gefunden hat, bisher nicht im Zusammenhang untersucht. 65 M. Stürmer, Höfe in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: Hardtwig u. Brandt, Deutschland (wie Anm. 64), S. 222–251. Zutreffend beobachtet A. J. Mayer, Adelsmacht und Bürgertum. Die Krise der europäischen Gesellschaft 1848–1914, München 1984, S, 199, dass es in Deutschland – wie auch in England oder Rußland – üblich wurde, große Museen nach Herrschern zu benennen. 66 Umgekehrt ist zu beachten, wie sorgfältig die Vereine für historische Kunst dann später monarchische und politisch indifferente oder nicht-monarchische Bilder austarierten, vgl. dazu C. B. Sternberg, Die Geschichte des Karlsruher Kunstvereins, Diss. Karlsruhe 1977, S. 12 ff., 24, 27, 50, 66ff. 67 Zitiert nach Warnke, Hofkünstler (wie Anm. 33), S. 310.

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stehender veranlaßt; mit Sorge muß man des Tages gedenken, wo der eine oder der andere unter den Mäcenaten vom Schauplatz seiner Thätigkeit abgerufen wird.«68

68 Über den Pauperismus auch in der Kunst, in: Kunstblatt Nr. 71, 4.9.1845, S. 397; zur zunehmenden Sammelbereitschaft von Industrie und Handel vgl. R. Lenman, Painters, Patronage and the Art Market in Germany, 1850–1914, in: Past and Present 23 (1989), S. 109–140; sowie Mai/Paret (Hg.), Sammler (wie Anm. 1); Braun (Hg.), Mäzenatentum (wie Anm. 1).

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15. Berliner Kunstszene und Mäzenatentum im Kaiserreich. Wilhelm von Bode, Eduard Arnhold, Harry Graf Kessler Der Museumsmann Wilhelm Bode, der Sammler Eduard Arnhold und der Kunstvermittler Harry Graf Kessler haben das Kunst- und Kulturleben in Deutschland in der Wilhelminischen Ära zutiefst beeinflusst.1 Sie interessieren als Persönlichkeiten, doch lassen sich an ihnen auch wesentliche Aspekte der Kunstdiskussion, Kunstförderung und Kunstpolitik in der Epochenwende um 1900 darstellen. Die Kunst in ihrem Verhältnis zu Öffentlichkeit und Politik verdient Aufmerksamkeit nicht nur im Blick auf die Kunstgeschichte im engeren Sinn. Auch der gesellschaftliche und politische Wandel lässt sich von der Seite kultureller Vorgänge und Leistungen, in diesem Fall speziell der ästhetischen Kultur her, genauer beleuchten. Im Zentrum der folgenden Überlegungen stehen einzelne Persönlichkeiten. Der Historiker ist aufgefordert, sie in ihrer Unverwechselbarkeit zu verstehen, zugleich aber im Besonderen das Allgemeine aufzusuchen und zu begreifen, für welche allgemeingesellschaftlichen, kulturellen und politischen Wandlungsprozesse die individuellen Akteure und ihr Wirken stehen. Es soll also zunächst versucht werden, die Leistungen Bodes, Arnholds und Kesslers zu skizzieren, dann aber soll nach den gemeinsamen Bedingungen gefragt werden, unter denen sie aufgetreten sind. Schließlich soll diskutiert werden, in welcher Weise sie dazu beigetragen haben, die Kunstwahrnehmung, das Kunstinteresse und die öffentliche und private Kunstförderung in der Wilhelminischen Ära auf neue Grundlagen zu stellen.

Wilhelm von Bode. Der Großorganisator und Großakquisitor Wilhelm Bodes Aufstieg zum »Bismarck der Museumswelt«, wie ihn Karl Scheffler genannt hat,2 war alles andere als geradlinig. Der aus einer Braun1 Bei dem vorliegenden Text handelt es sich um einen Vortrag, der 1993 in Berlin in der Villa von der Heydt im Rahmen einer Reihe über ›Mäzenatentum in Berlin‹ gehalten wurde. Diesen Text zu ändern, erschien dem Autor nicht sinnvoll, der Vortragscharakter wurde beibehalten. Die seitherige Forschungsentwicklung fasst ein Anhang im Anschluss an den Text zusammen. 2 K. Scheffler, Erinnerungen an Wilhelm Bode, in: K. Scheffler, Eine Auswahl seiner Essays aus Kunst und Leben 1905–1950, hg. von C. G. Heise u. J. Langner, Hamburg 1969, S. 140.

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Abb. 21: Max Liebermann, Bildnis Wilhelm von Bode (1904)

schweiger Beamten- und Juristenfamilie stammende Bode unterzog sich den typischen Prozeduren der bildungsbürgerlichen Sozialisation, Jurastudium und studentischem Verbindungsleben, freudlos, aber gehorsam. Erst nachdem umständlich der Rat Carl Schnaases eingeholt worden war, erlaubte der Vater dem fertigen Braunschweiger Referendar das Zweitstudium der Kunstgeschichte, das Bode allerdings weitgehend autodidaktisch betrieb. Am 2. August 1872 trat er auf Betreiben des Direktors der Gemäldegalerie, Julius Meyer, die Stelle eines Assistenten zunächst an der Plastischen Abteilung der Berliner Museen an. Bode hat kurz vor seinem Tod 1929 seine rastlose, außerordentlich vielseitige und zugleich konzentrierte, höchst erfolgreiche, aber auch von endlosen Krankheiten behinderte Tätigkeit in aufschlussreichen, aber merkwürdig 346

öden Memoiren rekonstruiert. Sie reihen im Wesentlichen Erwerbungsgeschichten aneinander, entweder die misslungenen, bei denen er regelmäßig nachweist, um wieviel teureres Geld das British Museum oder Rothschild das entsprechende Werk dann später gekauft haben; oder gelungene Erwerbungen, die Bodes überragende Kennerschaft unter besonderer Berücksichtigung der Unfähigkeit aller anderen Beteiligten ins hellste Licht rücken. Aber was sich auch immer beim Leser an Reserve aufbauen mag gegen den »Autokrat«, wie Karl Scheffler meinte, gegen sein »persönliches Regiment«, gegen die »Rücksichtslosigkeit des Generalgewaltigen«,3 eines wird man ihm mit Jacob Burckhardts Worten nicht absprechen können: das »Königsrecht des Bestimmten über das Unbestimmte«. Es zeigte sich unter anderem an folgenden Punkten: Zunächst setzte Bode durch, dass die Einkaufspolitik der Preußischen Museen mit ihrem bis dahin fest fixierten Klassizismus und mit der Tradition brach, Kopien bzw. Gipsabgüsse zu erwerben. Das war im Vergleich mit anderen großen Sammlungen überfällig, in Berlin aber wohl aufgrund des nachwirkenden Einflusses Friedrich Wilhelms IV. noch nicht selbstverständlich. Sodann gelang es ihm, die Bestände der Berliner Museen praktisch in allen Bereichen, vom Orientteppich über das Kunsthandwerk und die Plastik bis zu den Gemälden vor allem des 16. und 17. Jahrhunderts, in ganz außerordentlichem Umfang zu vermehren. Die Grundlage dieses Erfolgs war die Kombination zweier Fähigkeiten, die beim Kunstfreund nicht immer zusammenkommen: Bode kannte den Kunstmarkt wie kein anderer, oder – mit den Worten Max Liebermanns – »kein Mensch auf der Welt hat wie Bode eine auch nur annähernd große Warenkenntnis«,4 und er fundierte seine Kennerschaft und damit seine Ankaufspolitik auf eigene Forschungen, die er mit bemerkenswerter Konstanz neben aller praktischen Museumsarbeit durchhielt. Beides, Marktkenntnis und Forscherkompetenz, bildete dann auch die Grundlage für seine Beziehung zu den Sammlern. Er war die Autorität, er ermunterte und beriet die in ihrem Kunsturteil naturgemäß meist noch unsicheren Kunstsammler aus dem aufstrebenden Wirtschaftsbürgertum, und vor allem: Er war es, der die gelegentliche Metamorphose des Sammlers zum Mäzen beförderte. Höchst erfolgreich verstand er zum Wohl der Berliner Museen das Grunddilemma jedes Sammlers zu nutzen, das ein Chronist der Berliner Privatsammlungen 1870 mit folgenden Worten umschrieb: »Nichts ... ist ihm [dem Sammler] schmerzlicher und bildet geradezu die dauernde Qual seines Lebens als der Gedanke, daß diese ganze, mit so großer Mühe zusammengebrachte ... Sammlung ... nach dem Tode ihres Schöpfers durch 3 K. Scheffler, Der Museumskrieg, Berlin 1921, S. 52f. 4 Zit. n. I. Geismeier, Fünfundsiebzig Jahre Bodemuseum 1904–1979, in: Forschungen und Berichte, Staatliche Museen zu Berlin, Bd. 23, Berlin 1983, S. 130–137, hier S. 136.

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den unbarmherzigen Hammerschlag des Auctionators zersprengt wird. Diese durch den ›Kunstauctionator‹ repräsentierte grausame Ironie des Schicksals erscheint gleichsam als die Strafe, welche der Genius der Kunst für derartige persönliche Monopolisierung auferlegt. Um dem Schmerz dieses vorgeahnten Geschickes zu entgehen oder ihn doch zu mildern, bleibt ihm nur ein Mittel ... Vererbung der Sammlung an ein öffentliches Kunstinstitut«. Damit erscheint dann auch der »Genius der Kunst versöhnt, weil sie [die Sammlung] nunmehr der Beschränktheit des Monopols entzogen und als Gemeingut der Nation dem freien und unselbstsüchtigen Genuß der Gesamtheit zurückgegeben« ist.5 Ebenso beharrlich und methodisch, wie Bode die Sammler erst beriet und dann, keineswegs immer mit Erfolg, an ihre Dankesschuld gegenüber dem Vertreter der Museen erinnerte, verfuhr er, um das Projekt des Kaiser-Friedrich-Museums Wirklichkeit werden zu lassen. 1896 gründete er den KaiserFriedrich-Museums-Verein und schuf damit eine neue, wirkungsvolle Struktur für ein organisiertes Mäzenatentum. 1904 war das viel umstrittene und mit unübersehbaren Schwächen behaftete Haus fertig. Bode hatte damit Raum geschaffen für die wesentlich von ihm selbst erweiterten Bestände der Kunst von der Spätantike bis ins 18. Jahrhundert. Dies war ihm vor allem auch deshalb gelungen, weil seine erfolgreiche Sammelpolitik in nahtloser Übereinstimmung stand mit Wilhelms II. preußisch-dynastisch und national motivierter Kunstpolitik, der es vor allem um herrscherliche Repräsentation durch monumentale Kulturbauten zu tun war. Tatsächlich gelang es Berlin in der Ära Bode in vergleichsweise kurzer Zeit, mit dem Ausbau seiner Museen »Weltgeltung« – wie es in der Literatur gerne heißt – zu erlangen. Gegen diese Seite der wilhelminischen Weltgeltungsambitionen wird man am wenigsten etwas einzuwenden haben.

Eduard Arnhold. Der Unternehmer als Sammler und Mäzen Steht man bei Bode vor dem kunstpolitischen Großorganisator und Großakquisitor der Epoche, so bei Eduard Arnhold vor einem ihrer bemerkenswertesten Großunternehmer. Arnhold wurde 1849 als drittes Kind des jüdischen Arztes Dr. Adolf Arnhold geboren, kam 1863 als Lehrling in die Berliner Kohlenhandlung Caesar Wollheim, trat 1875 26jährig als Teilhaber in die Firma ein und übernahm sie 1882 nach dem Tod des Kommerzienrates Wollheim als Alleininhaber. Er gehört zum Kreis der überwiegend jüdischen Unternehmer, der Caros, Huldschinskys und Friedländers, die den Kohlenbergbau und 5 M. Schasler, Zur Geschichte der Berliner Privatgalerien, in: Deutsche Kunst-Zeitung, Jg. 15 (1870), S. 115.

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die Eisenindustrie Oberschlesiens aufbauten. Arnholds Geschäft war der Kohlehandel, vor allem mit Berlin. Um die Jahrhundertwende deckte er fast ein Viertel des gesamten Kohlebedarfs der expandierenden Reichshauptstadt, 1914 nahm er in der Rangliste der Berliner Millionäre hinter Fritz von Friedländer-Fuld und Rudolf Mosse den dritten Platz ein. 1889 wurde er Mitglied des Aufsichtsrates der Dresdner Bank, 1912 deren geschäftsführender Vorsitzender. Im Krieg trug er als ständiger Berater des Reichskommissariats für Kohleverteilung wesentlich zur Erfüllung des Hindenburg-Programms für die Kohleversorgung bei. 1918 bis 1921 war er sachverständiges Mitglied der deutschen Delegationen in Versailles, in Spa und auf der Londoner Konferenz. Der Verlust der oberschlesischen Kohlengruben beeinträchtigte Arnhold erheblich, aber nicht existenzbedrohend. Er starb 1925 hoch geehrt; die Nobilitierung hatte er abgelehnt, nicht aber die Berufung ins preußische Herrenhaus 1913. Mit diesen Ehrungen bedankte sich der preußische Staat auch für Arnholds umfassendes Mäzenatentum, das, sollte es angemessen gewürdigt werden, das ganze preußische Ordenssystem zu sprengen drohte. In der Personalakte Arnholds im Geheimen Staatsarchiv Berlin-Dahlem finden sich umfangreiche Unterlagen zu Ordensfragen, darunter ein Schreiben des Staatsministeriums an den Kaiser vom 15. April 1910, das folgende Erörterungen enthält: »Je mehr die Wissenschaft mit zunehmender Vertiefung zu umfassenden Großunternehmungen fortschreitet, je mehr die Preise der Erwerbungen für die heimischen Sammlungen durch die Amerikanische Konkurrenz ins Ungemessene anschwellen, je mehr die Bekämpfung von Volkskrankheiten und sozialer Not große Mittel erfordert, umso mehr ist die Staatsverwaltung zur Durchführung der ihr obliegenden Aufgaben genötigt, sich an die Hilfe Privater zu wenden. Diese ist aber erfahrungsgemäß davon abhängig, daß der Staat in geeigneten Fällen besondere Anerkennung nicht versagt.« Da aber die vorhandenen Orden im Falle Arnholds möglicherweise nicht als »entsprechende Auszeichnung« angesehen werden könnten, schlug das Ministerium vor, für solche besonderen Fälle neue Orden, etwa eine Wilhelms-Medaille oder ein Wilhelmskreuz, zu schaffen.6 Im Falle Arnholds dürften diese Erwägungen müßig gewesen sein. Er wahrte zwar das Ansehen seines Namens mit großer Entschiedenheit und beträchtlichem geschäftlichen Risiko, auch etwa gegen den preußischen Handelsminister Brefeld, der über einen 1901/02 lancierten Angriff auf den von Arnhold dominierten oberschlesischen Zwischenhandel stürzte, aber sein Mäzenatentum war für Arnhold viel zu sehr Teil seiner Persönlichkeit, als dass er es von solchen Auszeichnungen abhängig gemacht hätte.

6 Vgl. Geheimes Staatsarchiv, Berlin, I. Hauptabteilung, Rep. 90, 2136.

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Abb. 22: Eduard Arnhold in seinem Haus Regentstr. 19, um 1920, vor Manets Gemälde »L’Artiste« (1875)

Seit Beginn der siebziger Jahre sammelte Arnhold, und er zählte zu den wenigen Sammlern sowohl von alter als auch moderner Kunst. Eine sehr viel wichtigere Beraterfunktion als Bode nahm für ihn deshalb auch Hugo von Tschudi ein. Arnholds Anschaffungen moderner Kunst bewegten sich im Rhythmus der im jeweiligen Jahrzehnt bekannt werdenden Richtungen: zuerst die Düsseldorfer Landschafts- und Genremalerei der Andreas Achenbach und Ludwig Knaus, dann Böcklin, Feuerbach und Marées sowie Menzel und Lenbach, wozu dann nach 1900 zahlreiche Werke der Secessionisten Gaul, von Hildebrand, von Hofmann, von Kalckreuth, Klinger, Leibl, Leistikow, Stuck, 350

Thoma, Trübner, Uhde, Ury usw. kamen. Seit 1896 verlagerte er dann den Schwerpunkt seines Interesses auf französische Impressionisten, darunter insgesamt sechs Monets, mehrere Manets, mehrere Degas’, Landschaften von Sisley und Pissarro, aber auch von Cézanne. Arnhold konnte seine Sammlung über die Krise seines Wirtschaftsimperiums hinweg erhalten, in alle Welt verstreut wurde sie erst nach 1933. Parallel zum Aufbau seiner eigenen Sammlung war Arnhold unablässig mäzenatisch tätig. Er stellte Tschudi Geld zum Ankauf vor allem französischer Werke zur Verfügung und ermöglichte damit zusammen mit anderen Stiftern erst den Aufbau der Impressionistensammlung der Nationalgalerie. Neben die Kunstförderung traten in generösem Umfang die Künstlerförderung und die Förderung der Kunstwissenschaft. 1911 stiftete Arnhold die Deutsche Akademie Villa Massimo in Rom und schenkte sie dem preußischen Staat, er schuf einen »Eduard-Arnhold-Hilfsfonds für Künstler«, und kontinuierlich unterstützte er mit kräftigen Dotationen die Biblioteca Hertziana. Diese Förderungen fielen besonders ins Gewicht, seit mit Kriegsniederlage, politischem Systemwechsel und Inflation die Mittel des Staates für die Kunst- und Künstlerförderung noch erheblich knapper geworden waren, als sie es ohnehin immer sind. Wer für irgendein fundiertes künstlerisches Anliegen Geld brauchte, wandte sich an Arnhold, sei es Max Liebermann mit der Bitte um Unterstützung für die Zeichenschule des Herrn von Kunowski, seien es Eberhard von Bodenhausen und Harry Graf Kessler in ihren Finanznöten mit der Zeitschrift »Pan«. Ein Brief Bodenhausens, des Mitstreiters Kesslers am »Pan«, führt Bode, Kessler und Arnhold am 6. April 1900 in einer sehr charakteristischen Konstellation zusammen. Bodenhausen schreibt an Kessler, »daß Arnhold sehr viel mehr täte, wenn Du [Kessler] und Bode mit einem fertigen Organisationplan [für einen erneuerten ›Pan‹] vor ihn trätet. Er hat einen enormen Berliner Lokalpatriotismus.«7

Harry Graf Kessler. Avantgarde-Promotion und Elitebewusstsein Projekte zur Förderung der modernen Kunst zu machen, diese Projekte aber auch beharrlich und schwungvoll zu verfolgen und dazu tausend Kontakte spielen zu lassen, das war in der Tat das Lebenselixier Harry Graf Kesslers. Kessler ist zweifellos die glänzendste, aber auch die eigentlich tragische Gestalt im Kreis der hier behandelten Kunstpolitiker und -förderer. Schon seine Herkunft hat den Reiz des Ungewöhnlichen. Als Sohn eines überaus erfolgrei7 Ekkehard von Bodenhausen – Harry Graf Kessler. Ein Briefwechsel 1894–1918, ausgewählt und hg. v. H.-U. Simon, Marbach 1978, S. 54.

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chen, polyglotten und 1879/81 in den Grafenstand erhobenen Bankiers und dessen offenbar überaus attraktiver, aus irischem Uradel stammender Frau in Paris 1868 geboren, erhielt er seine Schulbildung an illustren Institutionen in Paris und Ascot, studierte dann Jura in Leipzig, hörte dort aber bereits kunstgeschichtliche Vorlesungen. Die Absicht, in den diplomatischen Dienst einzutreten, misslang, wahrscheinlich aufgrund einer Intrige des späteren Reichskanzlers von Bülow. Kessler war finanziell unabhängig und blieb berufslos, suchte aber und fand rasch den Kontakt zu den wichtigsten Köpfen der Berliner Kunstszene und wurde 1895 Aufsichtsrat und Vorstandsmitglied der Genossenschaft für den »Pan«. Hofmannsthal, mit dem er bald befreundet war, bezeichnete ihn als »Künstler im lebendigen Material«, er verschaffe »Seelen einen Anblick« und führe »Erscheinungen einander zu«.8 Damit ist wohl Kesslers wichtigste Eigenschaft getroffen. Hofmannsthal spricht von dessen »zehntausend Bekannten«, Kesslers Tagebuch selbst nennt in fünf Jahrzehnten rund 40.000 zeitgenössische Namen. Kessler war der Gesellschaftsmensch schlechthin, aber zumindest bis zur Mitte der zwanziger Jahre war diese Existenzform nicht nur Selbstzweck, sondern stand auch im Dienste der maßgeblichen Idee der künstlerischen Avantgarde: durch die nonkonformistischen, die Fesseln der Tradition sprengenden, die Grenzen der Nationen überspringenden Künste ein immer größeres Publikum zu einem neuen Lebensstil zu erziehen und an eine Reform des ganzen Lebens heranzuführen. 1909 bereits spricht Kessler in einem Brief an seinen Freund Bodenhausen von der »modernen Welt, die in den letzten 10 bis 20 Jahren durch unsere und die vorhergehende Generation geschaffen worden ist«.9 Und 1925, in der Gedenkrede auf Paul Cassirer, heißt es dann noch präziser, Kunst, Gesellschaft und Politik aufeinander beziehend: »Die Auflehnung der neunziger Jahre und der ersten Jahre dieses Jahrhunderts war in Wirklichkeit der Anfang der Revolution. Das Brüchige des kaiserlichen Systems ist in Kunst und Literatur viel früher gespürt und begriffen worden als in der Politik.«10 Diese Äußerung belegt allerdings auch, dass Kesslers grenzenlose ästhetische Rezeptivität zumindest bis 1918 durchaus blinde Flecken in der Wahrnehmung der politisch-sozialen Welt einschloss. Erst die Niederlage von 1918 und die revolutionären Ereignisse in Berlin machten ihn zum aufmerksamen und teilnehmenden Beobachter auch der plötzlich zu Akteuren gewordenen Arbeitermassen und ihrer politischen Führer. Sein Ziel einer Lebensreform durch Bewusstseinsveränderung, die durch eine zeitgemäße Kunst angestoßen werden sollte, verfolgte Kessler mit einer Fülle von Aktivitäten. Er gehörte zusammen mit seinem Freund Bodenhausen 8 H. v. Hofmannsthal, Reden und Aufsätze, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1979, S. 448. 9 Bodenhausen – Kessler, Ein Briefwechsel (wie Anm. 7), S. 90. 10 H. Graf Kessler, In memoriam Paul Cassirer (1926), in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2, S. 272–276, hier S. 275.

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Abb. 23: Edvard Munch, Harry Graf Kessler (1906)

zu den treibenden Kräften im »Pan«. Als kompetenter Berater im Hintergrund unterstützte er den modernitätsfreundlichen Kurs des aufstrebenden InselVerlags. Wieland Herzfeldes Zeitschrift »Neue Jugend« unterstützte er 1916 durch Zuschüsse und Bürgschaften bei den Lieferanten. Mit seinen Essays über eine Reihe moderner Künstler versuchte Kess1er systematisch, deren 353

Arbeit dem deutschen Publikum nahe zu bringen. Im Kampf um die Berliner Secession polemisierte er erbittert gegen Anton von Werner und die Akademie. Er zählte zu den organisations- und geschäftskundigen Gründern und Propagandisten des Künstlerbundes und war dessen zweiter Vorsitzender. Er sammelte das Modernste, das jeweils zu haben war, unter anderem in den neunziger Jahren die französischen Neoimpressionisten, dann Rodin und Maillol, mit denen er befreundet war; ein Gemälde Beckmanns kaufte er bereits bei dessen erstem Auftreten, ebenso Werke von George Grosz, den er für den »Höllenbreughel« der Epoche hielt.11 Nahtlos geht dabei das Sammeln in die Künstlerförderung über; Munch-Zeichnungen kaufte Kessler, obwohl sie ihm nicht gefielen, nur weil es dem Künstler schlecht ging;12 Lesser Urys »Der Mensch« empfahl er zum Ankauf durch die Nationalgalerie, was an Bode scheiterte,13 usw. Auf höhere Ebenen der Kunstpolitik stieß Kessler dann 1901/02 vor, als es ihm aufgrund seiner persönlichen Verbindungen und glänzenden Umgangsformen gelang, die Berufung Henry van de Veldes nach Weimar durchzusetzen. Im Auftrag des Großherzogs eröffnete van de Velde 1902 sein »Kunstgewerbliches Seminar« in den Räumen der Kunstschule. Damit verbunden war eine Berater- und Koordinierungsfunktion für die künstlerische Seite des Sachsen-Weimarischen Gewerbes und der Bautätigkeit. Kessler selbst wurde 1903 zum ehrenamtlichen Leiter des »Museums für Kunst und Kunstgewerbe« berufen. Für kurze Zeit schien es so, als ließe sich hier im großen Maßstab ein Zentrum der Kunst-, Gesellschafts- und Lebensreform organisieren. Aber die Weimarer Hofgesellschaft reagierte am Ende nicht anders als die Berliner. Kessler scheiterte gerade an seinen beachtlichen Anschaffungs- und Ausstellungserfolgen. Nach diesem kurzen Zwischenspiel in offizieller Funktion kehrte er in seine alte Rolle des allgegenwärtigen Connaisseurs und Anregers zurück. Wie die meisten deutschen Intellektuellen, Gelehrten und Künstler blieb er 1914–1917 vom allgemeinen Kriegsgrößenwahn nicht verschont, engagierte sich aber nach der Novemberrevolution bei der linksliberalen DDP und bei der Deutschen Friedensgesellschaft und warb für eigene Völkerbundprojekte. Seit der Mitte der zwanziger Jahre spiegeln seine Tagebücher eine zunehmende Vereinsamung wider, die Sammlung wurde Stück für Stück verkauft. Kessler finanzierte aber noch die Verbreitung von Anti-Hitler-Plakaten John Heartfields. Im Februar 1933 nahm er an der letzten öffentlichen Kundgebung deutscher Intellektueller gegen Adolf Hitler teil und ging dann ins Exil, wo er 1935 starb. 11 Vgl. H. Graf Kessler, Tagebuch eines Weltmannes, hg. von G. Schuster u. M. Pehler, Marbach 1988, S. 311f. 12 Vgl. ebd., S. 64. 13 Vgl. Bodenhausen – Kessler, Ein Briefwechsel (wie Anm. 7), S. 30, 135.

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Die drei hier in aller Kürze vorgestellten Gestalten des Berliner Kunstlebens in der Wilhelminischen Ära, der bildungsbürgerliche Kulturverwalter Bode, der jüdische Unternehmer Arnhold, der Halbkünstler und Gesellschaftsmensch Kessler, gehörten ganz unterschiedlichen sozialen Sphären an. Trotzdem haben sich ihre Wege vielfach gekreuzt. Bei allen Unterschieden gehören sie aus der Fernsicht von heute zusammen. Dieses Aufeinanderbezogensein lässt sich genauer beschreiben als mit dem bloßen Hinweis auf ihre Zeitgenossenschaft. Im Folgenden soll also versucht werden, Strukturen dieser Berliner Gesellschaft um 1900 herauszuarbeiten, die die Hinwendung einer aufgeschlossenen Minderheit zur Moderne, den Willen zum Sammeln, die Bereitschaft zum Mäzenatentum und den Aufstieg Berlins zur Kulturmetropole besser erklären können als mit der bloßen Darstellung individueller Begabungen und Leistungen.

Die neuen Formen der Soziabilität und die Dialektik von Demokratisierung und Elitebildung Diese neuen Formen der Soziabilität nehmen ältere Verhaltens- und Organisationsweisen auf, intensivieren und transformieren sie aber zu neuen Strukturen der Kommunikation, die den Durchbruch der künstlerischen Moderne ermöglichten. Zunächst ist hier der Salon zu nennen. Kesslers Salon in seiner Wohnung in der Nähe des Anhalter Bahnhofs in Berlin und in der Cranachstraße in Weimar war jeweils ein großes gesellschaftliches Ereignis, zu dem Kessler kunstvoll Gäste zusammenführte, die aus gesellschaftlich-beruflichen, intellektuellen oder auch nur aus Gründen des geselligen Vergnügens voneinander etwas wollten und voneinander etwas hatten. Der Salon ist der wichtigste Ort der »Vernetzung« von Geist bzw. Kunst, Geschäft und Politik, von Establishment und Newcomern. Zwischen Kunstsammeln und Salongeselligkeit scheint dabei noch ein besonderer Zusammenhang zu bestehen. Es gibt zwar auch den Typus des einsamen Sonderlings, der seine Schätze im Verborgenen hortet, aber das ist die Ausnahme. Kessler wollte seine delikate Van de Velde-Wohnungseinrichtung mit einem von ihm neu erworbenen Seurat oder Maillol selbstverständlich zeigen, und Analoges gilt für die meisten Sammler. Arnhold hielt Salon, und dort verkehrte, ebenso wie im Salon Bernsteins, des ersten großen Moderne-Sammlers in Berlin, natürlich auch Wilhelm Bode. Max Liebermann sprach in Bezug auf den Salon Bernstein vom Wiederaufleben des Salons der Henriette Herz um 180014 und macht damit auf die historischen Zusammenhänge aufmerksam, in denen die Salonkultur zu sehen ist. Sie ist die Sozialform verstärkter Öffnung der gebil14 Vgl. N. Teeuwisse, Vom Salon zur Secession, Berlin 1986, S. 88f.

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deten und bildungsfreudigen sozialen Gruppen zueinander und damit die Sozialform geselliger intellektueller Horizonterweiterung. Es machte einen erheblichen Unterschied, ob man zu den kulinarischen Festen im Haus des Bankiers Bleichröder oder zum Salon im Hause Bernstein, Arnhold oder Kessler ging, wobei die politisch einflussreicheren Kreise zweifellos bei Bleichröder verkehrten. Wichtiger noch als der Salon war der Zusammenschluss der Künstler selbst zu Avantgarde-Gruppen. Er beginnt, nach einzelnen Vorläufern wie der Lukas-Bruderschaft der Nazarener zu Beginn des Jahrhunderts, in den achtziger Jahren in Berlin mit der Künstlerkolonie der Brüder Hart und wird dann in der Künstlergeschichte der Moderne bestimmend. Er verbindet sich mit der Kritik am bürgerlichen Vereinsgedanken, betont jetzt nicht mehr wie die Künstlervereinigungen des 19. Jahrhunderts die Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft, sondern die Distanz zu ihr und unterstreicht insofern die Krise der bürgerlichen Geselligkeit seit dem Ausgang des Jahrhunderts. Die Berliner Secession war eine Evasion aus dem Verein Berliner Künstler (1841) und aus der Allgemeinen Deutschen Kunstgenossenschaft. Ganz ähnlich wie in Berlin verlief der Abspaltungsprozess der Moderne auch in München, Wien und andernorts. Der Secession folgte in der oppositionellen Abgrenzung gegen die offizielle Kunstpolitik die Gründung des Künstlerbundes, und fast gleichzeitig entstanden die ersten Expressionistenvereinigungen, die »Brücke« (1905) und – nach einigen Übergangsstufen der Organisation – »Der Blaue Reiter« (1911/12). Diese neuen Formen der Künstlersoziabilität stärkten die Stoßkraft der Avantgarde, aber sie förderten und untermauerten auch das vielleicht bestimmende Dilemma im Verhältnis von moderner Kunst und Gesellschaft: die Dialektik von Demokratisierung und Elitebildung. Das späte 18. und das 19. Jahrhundert hatten mit dem Übergang von der fürstlichen Kunstkammer zum Museum, mit der Entstehung der Kunstvereine und überhaupt einer neuen bürgerlichen Kunstöffentlichkeit, mit den neuen graphischen Techniken, der Expansion des Kunstmarktes usw. die Chancen des Kunstzugangs immer mehr verbreitert. Auch der Aufschwung des Sammler- und Mäzenatentums im späten 19. Jahrhundert gehört zu dieser Demokratisierung des Kunstzugangs. Ihr laufen um die Jahrhundertwende zwei nicht immer eindeutig zu trennende Bewegungen zuwider: die konservative und die modernistische Kritik an Egalität und an der »Masse«. Konservativen Motiven entstammte die Klage über die Entstehung eines zahlenmäßig ausufernden »Kunstproletariats« bei Bode,15 aber auch bei Liebermann, wenn er an Arnhold schreibt: »Solange 15 Vgl. etwa W. Bode, Rembrandt als Erzieher von einem Deutschen, in: Preußische Jahrbücher, Bd. 65, Berlin 1890, S. 301–314, hier S. 312f., wo Bode seiner Befürchtung Ausdruck verleiht, dass diejenigen die nicht zu den »wenigen großen Talenten« zählen, im »sozialistischen

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der Staat Millionen vergeudet, das Proletariat in der Kunst großzuziehen, ist es ein nobile officium der wahrhaft Kunstbegeisterten, für Einführung eines vernünftigen Unterrichts in der Kunst einzutreten.«16 Modernistisch dagegen ist die Polemik Kesslers gegen das »allgemeine Stimmrecht« in der deutschen Kunstgenossenschaft mit der er den abgrenzenden Eliteanspruch der Secessionisten argumentativ untermauert, und die Verehrung für Nietzsche, jenen Menschen – wie Kessler im Tagebuch schreibt –, »der in seinen Neigungen und Abneigungen, in seinem Streben und in seinen Träumen der Ausdruck einer neuen Art, der Typus des geistig Vornehmen, aber nervös Zerrütteten im Kampfe mit der steigenden Demokratisierung ist.«17 Die Art und Weise, wie sich Bode, Arnhold und Kessler zu den AvantgardeBewegungen stellten, ist symptomatisch für die immer größere Kluft, die sich zwischen der überwiegenden Mehrheit eines durchaus kultivierten Kunstpublikums und den radikal modernistischen, sich antibürgerlich gebenden Kunstrebellen auftat. Arnhold sammelte das jeweils Neue, vollzog aber nicht mehr den Schritt von den Impressionisten zu den Expressionisten; Bode engagierte sich noch beim »Pan«, lehnte aber die nachliebermannsche Moderne ab, wobei er allerdings eine Mittelposition insoforn einnahm, als er sich für die Kunstgewerbebewegung stark machte; Kessler blieb jeweils an der Spitze der Bewegung. So antibürgerlich sich andererseits die Kunstrebellen gaben, der Brückenschlag zwischen Kunst und Publikum gelang am Ende dann doch nur durch die bürgerlichen Kunstfreunde, vor allem durch ästhetisch interessierte Geschäftsleute und Unternehmer, etwa im Deutschen Werkbund, die sich mit dem sachlichen Design der Moderne den neuen Massenmarkt für Gebrauchswaren zu erschließen hofften, durch die Mäzene wie Arnhold und Kessler, die sammelnd in Neuland vorstießen, und schließlich durch die die Partei der Moderne ergreifenden, nicht historistisch ausgewogen sammelnden Museumsdirektoren, wie Kessler gern einer gewesen wäre und Hugo von Tschudi und Alfred Lichtwark über viele Jahre hinweg gewesen sind.

Mäzenatentum und soziale Aufstiegsmobilität Die Berliner Soziabilität führte Personen zusammen, die ganz unterschiedlichen sozialen Herkunftskreisen entstammten, die aber auch typisch sind für das Ausmaß der sozialen Durchlässigkeit der deutschen Gesellschaft im Kai-

Proletariat« landen; verblüffend das Wohlwollen, mit dem Bode Julius Langbehns Bestseller besprach und damit einem der Hauptwerke des Kulturpessimismus zu seiner rasanten Publizität verhalf; zu Langbehn vgl. F. Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr, Bern 1963. 16 M. Liebermann, Siebzig Briefe, hg. v. F. Landsberger, Berlin 1937, S. 42. 17 Kessler, Tagebuch eines Weltmannes (wie Anm. 11), S. 90.

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serreich und für die neu entstehenden Strukturen der sozialen Schichtung. Wilhelm Bode stammte, wie erwähnt, aus bildungsbürgerlichem Haus. Er betonte diese Bürgerlichkeit, ließ sich aber 1914 gleichwohl nobilitieren. Das ist nicht ganz so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen könnte. Denn Eduard Arnhold, der aus bildungsbürgerlicher Familie stammende jüdische Wirtschaftsbürger und Millionär, lehnte den Adelstitel ab – ebenso übrigens wie James Simon, Carl Fürstenberg, die Hamburger Ballin und Warburg, aber auch die nicht-jüdischen Ruhrindustriellen Krupp (Vater und Sohn), Thyssen, Stinnes und Kirdorf. Der bildungsbürgerliche Sohn des aufgestiegenen Wirtschaftsbürgers Kessler dagegen legte durchaus Wert auf seine etwas exzentrische, vom Vater ererbte Gräflichkeit – exzentrisch, weil die Erhebung in den Grafenstand höchst ungewöhnlich war. Henry van de Velde etwa gab sich bewusst Mühe, mit der Einrichtung des Kesslerschen Wohnhauses in Weimar dessen aristokratischer Lebensführung zu entsprechen. Bei allen Herkunftsunterschieden war die Standeszugehörigkeit offenkundig nicht mehr entscheidend. Alle drei – Bode, Kessler und Arnhold – verkehrten in denselben gesellschaftlichen Kreisen. Kessler nahm insofern noch eine gewisse Sonderstellung. ein, als er den Umgang mit den Spitzen der Gesellschaft durch seine Kontakte auch mit der nicht-etablierten Künstlerschaft ergänzte. Es war – so kann man mit Otto Hintze abkürzend feststellen – einerseits eine großbürgerlich-adlige Verwaltungselite, andererseits eine großbürgerlich-adlige Wirtschaftselite entstanden, in der »die Standesunterschiede zu verblassen [begannen] vor der sozialen Bedeutung der Berufsstellung mit ihrem Rang, ihren Auszeichnungen und Ehrenvorrechten, ihren Ansprüchen an gesellschaftliche Bildung und Lebenshaltung.«18 Kunstsammler- und Mäzenatentum schlugen eine geistige und kommunikative Brücke zwischen bürgerlich-adliger Bildungs- und Wirtschaftselite. Blickt man in der Geschichte der informellen Kunstförderung etwas weiter zurück, so wird deutlich, dass sich im Kunstsammeln und im Mäzenatentum Prozesse des Elitenwechsels widerspiegeln. Bei einer kursorischen Berechnung auf der Grundlage von Schaslers bilanzierender Geschichte der Berliner Privatsammlungen 1870 zeigt sich, dass sich adlige, wirtschaftsbürgerliche und bildungsbürgerliche Sammlungen bis dahin in etwa die Waage hielten.19 Danach verschob sich das Schwergewicht immer mehr zu den Unternehmern, besonders zu den jüdischen. Peter Paret allerdings will dem jüdischen Sammler- und Mäzenatentum keine Sonderrolle zugestehen. Er hat dabei den Satz Heinrich Heines für sich, die Juden seien wie die Menschen, unter denen sie lebten, nur noch ausgesprochener als diese. Aber die Vielzahl der jüdischen Sammlungen, die ge18 O. Hintze, Der Beamtenstand (1911), in: ders., Soziologie und Geschichte, Gesammelte Abhandlungen, Bd. II, hg. v. G. Oestreich, Göttingen 19642, S. 66–125, hier S. 99. 19 Schasler, Berliner Privatgalerien (wie Anm. 5), S. 113–138.

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rade zwischen 1870 und 1914 entstanden, fällt doch ins Auge, von Gerson Bleichröder bis James Simon und Eduard Arnhold, um nur die Extreme unterschiedlicher Sammlungsstile zu benennen.20 Theodor Fontanes hat in einem Brief aus dem Jahr 1890 auf die Bedeutung des jüdischen Unternehmertums für das Berliner Kunstleben – gerade auch im Zusammenhang mit der Geselligkeitskultur hingewiesen: »Ich habe ... unserm von mir aufrichtig geliebten Adel gegenüber einsehen müssen, daß uns alle Freiheit und feinere Kultur, wenigstens hier in Berlin, vorwiegend durch die reiche Judenschaft vermittelt wird. Das ist eine Tatsache, der man sich schließlich unterwerfen muß und als Kunst- und Literaturmensch (weil man sonst gar nicht existieren könnte) mit Freudigkeit.«21 Betrachtet werden sollte auch ein weiterer Gesichtspunkt, der bei der Behandlung des Kunstmäzenatentums meist etwas unterbelichtet bleibt. Die Kunstförderung ist gerade beim unternehmerischen Mäzenatentum fast immer nur ein Faktor unter vielen und meist, in Zahlen ausgedrückt, keineswegs der wichtigste. Der steinreiche Gerson Bleichröder, der Bankier Bismarcks, war offenbar ästhetisch ungebildet, aber er sammelte, unterstützte Künstler und half zum Beispiel dem Germanischen Nationalmuseum mit Dotationen; aber die dafür aufgewändeten Summen blieben verschwindend gering gegenüber den Stiftungen an Robert Koch oder für zahllose karitative Zwecke. Ähnliches gilt für Simon und für Arnhold – allerdings mit einer deutlichen Gewichtsverschiebung zur Kunst hin. Die größten Summen dürften dabei neben der Wohltätigkeit für die Wissenschaftsförderung ausgegeben worden sein. Eduard Arnhold spielt eine, wenn nicht überhaupt die führende Rolle – neben dem Präsidenten Adolf von Harnack – in der 1911 gegründeten Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft, der heutigen Max-Planck-Gesellschaft. Er gehörte ihrem eigentlichen Entscheidungsgremium, dem Verwaltungsausschuss, von der Gründung bis zu seinem Tod 1925 an. Arnhold sprang immer wieder mit größeren Summen ein, aber er betätigte sich auch als Einwerber von Spenden im Kreise seiner Unternehmerkollegen.22 Alles dies ging ihm leicht von der Hand, Arnhold war, wie Adolf von Harnack in seiner Gedächtnisrede sagte, ein »freudiger Mann«,23 ihn zog neben seiner unternehmerischen Arbeit die Tätigkeit in den Selbstverwaltungsgremien der Wirtschaft, in der Wissenschafts- und Kunstförderung ebenso an, wie er sie beherrschte. Bei der Fülle dieser Aktivitäten tritt allerdings auch 20 P. Paret, Bemerkungen zu dem Thema: »Jüdische Kunstsammler, Stifter und Kunsthändler«, in: E. Mai u. P. Paret (Hg.), Sammler, Stifter und Museen, München 1993. 21 T. Fontane, Gesammelte Werke, Zweite Reihe, 5 Bde., Berlin 1920, Bd. 5, S. 278f. 22 Vgl. z.B. den Schriftwechsel des Geschäftsführers der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft mit Arnhold, in: Archiv zur Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft, Hauptabteilung I, Rep. 1A, 1691. 23 A. v. Harnack, Gedächtnisrede bei der Trauerfeier für Herrn Geheimen Kommerzienrat Eduard Arnhold am 15. August 1925, in: ders., Aus der Werkstatt des Vollendeten, Gießen 1930, S. 269–274, hier S. 272.

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deutlich hervor, wie sehr sich die private Initiative im Falle Arnholds, aber auch seiner deutsch-jüdischen Unternehmerkollegen, in der betonten Nähe zu Staat und Monarchie entfaltete. Damit ist ein weiterer Problemkreis angeschnitten.

Die Entwicklung von Kulturverwaltungsstaat und Öffentlichkeit und das Verhältnis von Kunst und Macht Das Sammeln und die damit verbundenen Formen des Mäzenatentums hatten seit der Renaissance schon weitere Kreise ergriffen. Aber die Kunstförderung war bis um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert doch vorrangig Sache der Fürsten bzw. der Höfe sowie des Adels und allenfalls der Stadtgemeinden gewesen. Der Kulturverwaltungsstaat im heutigen Sinne bildete sich erst im Laufe des 19. Jahrhunderts heraus. Symptomatisch für diesen Prozess ist die große Denkschrift Franz Kuglers von 1843 in seiner Eigenschaft als Kunstreferent im Preußischen Kultusministerium: »Über die Kunst als Gegenstand der Staatsverwaltung mit besonderem Bezuge auf die Verhältnisse des preußischen Staates«. Kugler umreißt hier den Gesamtumfang der staatlichen Verantwortung für die Kunst: die Gründung und Fortführung der Akademien, Musikschulen, technischen Kunstanstalten, die Förderung und Anerkennung der Künstler durch Zuwendungen und Auszeichnungen, die Unterhaltung von Museen und – in ersten Ansätzen – die Denkmalpflege, schließlich die Förderung des Theaters.24 Dieses Programm stand im Einklang mit den Erwartungen der bürgerlichen Öffentlichkeit, die in der staatlichen Kunstpflege sowohl eine inhaltliche Gestaltungs- als auch eine Erziehungsaufgabe sah. Aber Staat und Monarchie wurden gerade auf dem Gebiet der Kunstpflege nur sehr langsam entflochten, und die Bürokratisierung – das heißt auch Versachlichung und Professionalisierung – der Kunstpflege ging nur in permanenten Reibungen mit dem bis 1918 anhaltenden höfischen Einfluss vonstatten. In Preußen und Berlin waren seit Friedrich Wilhelm III. diese Reibungen und damit auch die Reibungsverluste bekanntlich besonders heftig, einmal wegen der persönlichen Eigenheiten der Monarchen in ihrem Verhältnis zur Kunst, vor allem aber, weil Wilhelm II. der schon von Friedrich dem Großen verabschiedeten Vorstellung eines monarchischen Gottesgnadentums nachtrauerte. Die Politisierung der Kunstszene in Berlin nach 1890 entzündete sich an einer besonderen Variante des deutschen Grundproblems der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Der Kaiser suchte ein in der west- und mitteleuro24 F. Kugler, Über die Kunst als Gegenstand der Staatsverwaltung mit besonderem Bezuge auf die Verhältnisse des preußischen Staates, Berlin 1847.

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päischen Kulturentwicklung längst obsolet gewordenes monarchisches persönliches Regiment durchzusetzen in denselben Jahren, die künstlerisch den Durchbruch zur Moderne brachten. Das trieb die Politisierung der Kunstdiskussion besonders voran, aber es handelte sich nicht nur um ein preußisches Problem; vielmehr spitzte sich hier nur die überall mehr oder weniger starke Spannung zwischen Substanzverlust des Hofes und Bedeutungsgewinn der Staatsverwaltung besonders zu. Im Zentrum dieses Geschehens stand, außer Tschudi, Wilhelm Bode. Er hat es im Rückblick sarkastisch kommentiert, aber er hat sich auch virtuos darin bewegt. Als er 1872 bei den Berliner Museen anfing, war der Generaldirektor Graf Usedom. Usedom war vorher Botschafter in Italien gewesen, verfügte über keinerlei spezielle Qualifikation für sein Amt, außer gesellschaftlicher Begabung und guten Beziehungen zum Hof. Dann allerdings besserten sich die Zustände. Nachfolger Usedoms wurde nicht, wie Bode zu befürchten Anlass hatte, der Baron von Dachröden, den Bode kurz vor der erwarteten Ernennung beim Spaziergang im Tiergarten traf, lange schmale Zettel in der Hand, die er erst zu verstecken suchte, bevor er dann erklärte: »Ich habe mir die Lebensdaten der größten Künstler aufgeschrieben, die ich gerade auswendig lerne. Ich möchte mich doch auf jede Weise auf das Amt des Generaldirektors vorbereiten, das ich wie Sie wissen – demnächst übernehmen soll.«25 Nachfolger wurde vielmehr Richard Schöne, der erste sachlich kompetente und ausgebildete Generaldirektor, der zudem 1878 in seiner Eigenschaft als Kunstreferent im Kultusministerium für den Erlass eines neuen Museumsstatuts gesorgt hatte, auf dessen Grundlage sich von jetzt ab die Professionalisierung der Museumsarbeit und der Ausbau der staatlichen Museen vollzog. Die weitere Entwicklung verlief allerdings durchaus widersprüchlich und geht in einer simplen Gegenüberstellung – hier Fortschritt durch eine professionalisierte Kunstverwaltung, dort Erstarrung durch einen reaktionären Hof – nicht auf. Richard Schöne handelte, rein institutionell gesehen, moderner als sein Nachfolger im Amt des Generaldirektors, Bode, indem er sich vor allem an das Ministerium wandte. Er rieb sich dabei auf und musste 1905 Platz machen für Bode, der wesentliche Erfolge gerade durch seinen außerinstitutionellen Umgang mit der Hofgesellschaft und dem politischen Establishment, mit Herbert von Bismarck, dem Legationsrat von Holstein, dem von ihm im übrigen verachteten Kaiser Friedrich und schließlich mit Wilhelm II. erzielte. Das Problem, die Spannung zwischen Hof und Staat, stellte sich, wie erwähnt, auch außerhalb Berlins und konnte dabei auch in ganz anderem Licht erscheinen. Gewann man einen Monarchen für die eigenen, etwa auch ultramodernen Zwecke, so ließen sich gerade durch den im verfassungsrechtlichen 25 W. v. Bode, Mein Leben, Bd. 1, Berlin 1930, S. 61f.

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Sinne eher anachronistischen Zugriff auf den Monarchen spektakuläre Fortschritte erzielen: so im Fall des Hessen-Darmstädtischen Großherzogs Ernst Ludwig und der Darmstädter Mathildenhöhe, so aber auch im Falle Harry Graf Kesslers und des Großherzogs von Weimar. Der Nachteil war allerdings, dass bei einer solchen Kalkulation auf einen »benevolent absolutism« das Vorhaben ebenso spektakulär scheitern konnte, wie es zustande gekommen war. So wichtig solche institutionellen Strukturen für die Kunstförderung und das Mäzenatentum im Kaiserreich auch waren, ist es doch notwendig festzuhalten, dass kunstpolitisch oder mäzenatisch relevante Macht nicht nur durch Hofkontakte oder in staatlichen Institutionen verfügbar war, sondern zunehmend auch in den organisatorischen und kommunikativen Strukturen der aristokratisch-bürgerlich – industriellen Übergangsgesellschaft. Es war zwar gerade in den Weimarer Jahren, dass Kessler sich mächtig fühlte; der Verlust der Weimarer Stellung nach zwei erfolgreichen Jahren stürzte ihn in eine Existenzkrise, die sich in extremer Unruhe und Umtriebigkeit äußerte. Aber ein Teil der »kunstpolitischen« Instrumente im weiteren Wortsinn, die er in Weimar 1905 vor seinem geistigen Auge Revue passieren ließ, waren ihm auch nach seinem Sturz geblieben. Am 5. November 1905 findet sich im Tagebuch die Eintragung: »Mir überlegt, welche Wirkungsmittel ich in Deutschland habe: d. Deutsche Künstlerbund, meine Stellung in Weimar, inclusive d. Prestiges trotz des großherzoglichen Schwachsinns, die Verbindung mit der Reinhardtschen Bühne, meine intimen Beziehungen zum Nietzsche Archiv, zu Hofmannsthal, zu van de Velde, meine nahen Verbindungen zu Dehmel, Liliencron, Klinger, Liebermann, Ansorge, Gerhard Hauptmann, außerdem mit den beiden einflußreichsten Zeitschriften »Zukunft« und »Neue Rundschau« und ganz nach der anderen Seite hin zur Berliner Gesellschaft, Harrachs, Richters, Sascha Schlippenbach, dem Regiment und schließlich mein persönliches Prestige. Die Bilanz ist ziemlich überraschend und wohl einzig. Niemand anders in Deutschland hat eine so starke, nach so vielen Seiten reichende Stellung. Diese ausnutzen im Dienste einer Erneuerung Deutscher Kultur: Mirage oder Möglichkeit? Sicherlich könnte Einer mit solchen Mitteln Princeps Juventutis sein! Lohnt es die Mühe?«26 Seit der gescheiterten Bewerbung in den diplomatischen Dienst trieb Kessler sozusagen Kunstdiplomatie größten Stils in den Strukturen der bürgerlich-aristokratischen Kunstöffentlichkeit, bis ihm dann seit der Mitte der zwanziger Jahre der gesellschaftliche Umbruch, das Abbröckeln des Vermögens und das eigene Altern auch diese Möglichkeit entzogen. Die Beziehung zur Macht ist auch für diejenigen Sammler und Mäzene ein Thema, die durch Eduard Arnhold repräsentiert werden. Chaim Waitzmann, einer der Gründer des Staates Israel, hat sie 1923 die »Kaiser-Juden« genannt 26 Kessler, Tagebuch eines Weltmannes (wie Anm. 11), S. 186.

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und damit ihren betonten Monarchismus und deutschen Patriotismus kritisiert. Neben Eduard Arnhold gehörten dazu u.a.: Leopold Koppel, Inhaber des Bankhauses Koppel und Begründer der Deutschen Gasglühlicht AG (des Vorläufers von Osram), Franz von Mendelssohn, Mitinhaber des Bankhauses Mendelssohn, Paul von Schwabach, Mitinhaber des Bankhauses Bleichröder, der schlesische Kohlenindustrielle Fritz von Friedländer-Fuld. Sie alle verkehrten bei Hof, besaßen, bauten oder erwarben Adelspalais bzw. große Villen im Tiergarten und kauften Landgüter. Sie alle spielten, überproportional in den Gremien der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft vertreten, eine herausragende Rolle bei der Wissenschaftsförderung, wobei es gleichwohl in den Leistungen und im Auftreten erhebliche Unterschiede gab. Fritz von Friedländer-Fuld etwa, der sich hatte taufen und nobilitieren lassen, fiel, ganz anders als Arnhold, der Taufe und Nobilitierung abgelehnt hatte, durch den Bau eines überaus prunkvollen Palais’ am Pariser Platz durch den Hofarchitekten von Ihne auf, nicht aber durch besonderes Kunstmäzenatentum. Mäzenatentum dieser Art verbürgte Nähe zum Kaiser, dem symbolischen und im Wilhelminismus eben immer noch teilweise faktischen Zentrum der Macht. Arnholds tatsächliche Loyalität zeigte sich in der Revolution 1918, als er dem Kaiser seine Besitzungen zur Verfügung stellte. Die Inklination zur Macht ist im übrigen keine Spezialität von Unternehmern wie Arnhold, sie ist beim Sammler- und Mäzenatentum auch sonst zu beobachten. Eine Auswertung Kölner Sammelinventare des späten 18. Jahrhunderts zum Beispiel hat gezeigt, dass adlige und bürgerliche Funktionseliten, die der Hierarchie der Macht nahe standen, bereits mit geringerem Vermögen zu sammeln anfingen als die übrigen Kunstbesitzer. Andererseits sammelten Wirtschaftsbürger, offenbar mehr auf den Erfolg als auf die Ehre orientiert, erst dann, wenn sie über ein wesentlich größeres Vermögen verfügten als die adligen Kunstbesitzer.

Das Verhältnis von Urbanität und Identität Es ist allerdings auch nicht zu übersehen, dass die Nähe von Kunst und Macht und damit auch die Spannung zwischen Kunst und Macht im kaiserlichen Berlin besonders gesteigert war, aus Gründen, die sich aus der Geschichte der Stadt ergeben. Der Ausbau Berlins zur politischen Metropole des neuen Großstaates verlief sehr viel weniger als der etwa von Paris, London oder Wien naturwüchsig und spontan und sehr viel mehr »machtgesteuert« oder »machtorientiert«.27 Der Aufstieg Berlins zur »verspäteten Metropole« (René König) 27 Vgl. L. Gall, Berlin als Zentrum des deutschen Nationalstaats, in: W. Ribbe u. J. Schmädeke (Hg.), Berlin im Europa der Neuzeit, Berlin, New York 1990, S. 229–236, hier S. 234.

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seit 1871 brachte es mit sich, dass seither fast alle Standortentscheidungen von Unternehmern, Interessenvertretern, aber auch von Kulturproduzenten und Kulturinteressenten an der politischen Hauptstadtfunktion der Stadt orientiert waren, so dass der machtorientierte Prozess der Metropolenbildung zugleich »ein Grundmodell für die Durchformung, die Durchorganisation der Gesellschaft« abgab.28 Zugleich brachte diese verspätete Metropolenbildung mit besonderer Schärfe die spezifischen Probleme der modernen Großstadt auf die Tagesordnung. Während die meisten Hauptstädte Europas sich in ganz anderen Fristen entwickelt hatten, trafen im Falle Berlins nach 1871 vier Faktoren aufeinander und verstärkten sich gegenseitig: ein die Grenzen des damals Vorstellbaren sprengendes Bevölkerungswachstum; die in Berlin schon seit dem Beginn des Jahrhunderts zügig voranschreitende und nach 1871 noch einmal beschleunigte Industrialisierung; der Ausbau der Hauptstadt des neuen Nationalstaats und – als Folge dieser drei Prozesse – die besonders beschleunigte und spannungsreiche Urbanisierung. Nirgendwo in Deutschland prallten daher auch die Gegensätze so scharf aufeinander: in der Sozialtopographie der Stadt zwischen dem Wohnungselend in den proletarischen Quartieren des Nordens und Ostens, den Zentren der revolutionären Unruhen von 1918/19 einerseits, und den luxuriösen Stadtlandschaften im Süden und Westen andererseits; und in der politischen Kräfteverteilung zwischen Kommune, Reichstagsvertretung und höfisch-monarchischem Zentrum. Auf der kommunalen Ebene mit ihrem eingeschränkten Wahlrecht dominierten die Fortschrittsliberalen, bei den Stichwahlen zum Reichstag auf der Basis des allgemeinen gleichen Männerwahlrechts die Sozialdemokraten, und beiden stand das höfische und politische Establishment um Kaiser und Kanzler mit unverständiger Ablehnung gegenüber. Mit alledem wurde Berlin auch zum Hauptgegenstand der um 1900 bereits ausufernden Großstadtliteratur und Großstadtkritik. In ihr ging es bei aller Breite der Aspekte und der höchst unterschiedlichen Konsequenzen, die aus den Analysen und Reflexionen jeweils gezogen wurden, letzten Endes um ein Thema: die prekäre Identität des Einzelnen im Ansturm der modernen Lebensmächte. Dazu zählten die Zeitgenossen u.a. die Temposteigerung in allen Lebensvollzügen, die »entwurzelnde« (wie es hieß) Mobilität, die Überschwemmung der Wahrnehmungskraft durch die Reizvielfalt, die Potenzierung der Leistungsanforderungen, die zunehmende Spezialisierung. Das brillanteste und für die Stadtsoziologie folgenreichste Dokument dieser Großstadttheorie ist Georg Simmels Essay »Die Großstädte und das Geistesleben«, 1903. Als Hauptkennzeichen der großstädtischen Existenz arbeitete Simmel ihre Rationalität und Objektivität heraus, das heißt aber auch auf der Ebene der Kultur: das 28 Ebd., S. 234.

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Zurücktreten dauerhafter und verbindlicher Regeln und vor allem ein »Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele«.29 Mit diesem Identitätsproblem in »unserem«, wie Hofmannsthal klagte, »bis zur Verworrenheit komplizierten Kulturleben«30 waren alle drei in dieser Studie behandelten Akteure konfrontiert, wenn auch unterschiedlich ausgeprägt und akzentuiert: Wilhelm Bode, stolz auf seine bürgerliche Herkunft, aber voller Verachtung für die bürgerliche Revolution von 1848/49, der »Bismarck des Museumswesens«, der erfolgreich bei Hof antichambrierte, leistungsversessen, aber heimgesucht von den Symptomen der um 1900 zu der Krankheit der Moderne reüssierten Neurasthenie. Eduard Arnhold, der jüdische Sozialaufsteiger, Sohn eines leidenschaftlichen 1848ers und »Kaiser-Jude« par excellence; und schließlich der neuadlige berufslose Harry Graf Kessler, der dieses Identitätsproblem nicht nur bis an den Rand des Erträglichen erlitten, sondern auch aufs exakteste beschrieben hat. »..... Wenn dieses ruhige Haus [in Berlin bzw. Weimar] ... nicht dahinterstünde, wäre der Anblick meines Lebens für mich doch anders, zerrissener, sprunghafter, unsicherer, während dieser Hintergrund mir wenigstens die Illusion einer Einheit giebt. Und welches Leben bietet mehr als eine eingebildete Einheit, wenigstens innerlich? Äußerlich kann sich mit der Zeit eine Einheit der Wirksamkeit herausstellen; aber innerlich, wer ist nicht innerlich tausendfältig, ob er stillsitzt oder in der Welt an zwanzig verschiedenen Orten zwanzig verschiedene Seelen hat und der Reihe nach in jedem Jahre immer wieder aufleben läßt?«31 An anderer Stelle spricht er (1895) vom »lebenslangen Kampf einer Persönlichkeit gegen die ihre Triebe, ihren Willen und selbst ihr Identitätsbewußtsein auflösenden Strömungen des modernen Lebens ...«.32 In den zeitgenössischen Reflexionen über die moderne Großstadt dominieren bei aller ebenfalls vorhandenen Fortschrittsfreude letztlich die kritischen Akzente. Aber gerade Viten wie die Bodes, Arnholds oder Kesslers zeigen doch auch, wie die großstädtische Urbanität dem »Fachmenschentum ohne Geist«, wie Max Weber das genannt hat, und der modernen Partikularität auch eine Chance symbolischer Universalität entgegenstellte: die Versenkung in das Kunstwerk. Sie prägte – zumindest hat man diesen Eindruck – auch den Lebensentwürfen Bodes, Arnholds und Kesslers einen Zug zur Universalität ein: bei Bode in der fast die gesamte alte Kunst erfassenden Kennerschaft, bei Arnhold in der Selbstergänzung des Wirtschaftsmannes durch sein Sammlerund Mäzenatentum und bei Kessler, dem umgekehrt gerade die Universalität 29 G. Simmel, Philosophie des Geldes, Berlin 19872, zit. n. R. Richter, Lebensstile in der städtischen Gesellschaft, in: M. Haller u.a. (Hg.), Kultur und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1989, S. 657. 30 Kessler, Tagebuch eines Weltmannes (wie Anm. 11), S. 249. 31 Ebd., S. 213. 32 Ebd., S. 60.

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seiner Wahrnehmungskraft zur größten Gefahr zu werden drohte, in der Fähigkeit zur Konzentration auf sein Tagebuch, mit dem er die Chronik der Epoche schrieb. Zu den Chancen der Urbanität gehörte es aber auch, dass sich die Wege von drei Persönlichkeiten wie der hier dargestellten immer wieder kreuzen konnten. Und das war um 1900 in einer solchen Zuspitzung der Fähigkeiten und Wirkungschancen dann eben doch nur in Berlin möglich – Berlin, das, wiederum verspätet, seit 1890 endlich auch zur Kulturmetropole aufstieg. Der Hinweis auf die Kulturstadt Berlin ist hier nicht rhetorisch gemeint, sondern provoziert zum Schluss einen Blick auf die Gegenwart, der zwar nicht zeigen will, was man aus der Geschichte lernen kann, der aber doch eine historische Anmerkung zu der Frage erlaubt, warum Kunst- und Kulturförderung und Mäzenatentum gerade in der heutigen Umbruchsituation der Stadt so wichtig sind. Die Jahre um 1900 sind Jahre eines großen Themenwechsels in der öffentlichen, allerdings bürgerlich dominierten Diskussion, weg vom Primat des Klassenbegriffs und des sozialen Konflikts, hin zum Primat des Fahnenworts »Kultur«. Das bedeutet nicht, dass soziale Konflikte unwichtig oder schlicht verdrängt worden wären. Vielmehr schlug sich darin unter anderem die Einsicht in die sozialintegrativen Möglichkeiten von Kultur, gerade auch der Großstadtkultur nieder – von den egalitär allen Stadtbewohnern angebotenen Leistungen der Daseinsvorsorge bis hin zu den Werken der Hochkultur, die jetzt prinzipiell jedermann so zugänglich wurden wie nie zuvor. Das heute erneut zu verspäteter Metropolenfunktion aufsteigende Berlin braucht diese sozial versöhnende Präsenz von Kultur wie keine andere Stadt, gerade wenn richtig ist, was Karl Scheffler 1910, ohne die Zukunft vorausahnen zu können, als das »Schicksal« dieses »hart determinierten Stadtindividuums« beschrieb: »immerfort zu werden und niemals zu sein«.33

Anhang zum Forschungsstand Seit der Vortragsreihe, in deren Rahmen die Skizze entstand, hat die Forschung vor allem zum Berliner Mäzenatentum einen beachtlichen Aufschwung erlebt. Vor allem hat die Bürgertumsforschung angefangen, den Anteil des Bürgertums an der Museumskultur des Kaiserreichs intensiver zu erfassen. Sie nimmt dabei – mit beträchtlicher Verspätung – ein Forschungsinteresse auf, das in der Kunstgeschichte seit deren Öffnung zu spezifisch historischen Fragestellungen und Methoden seit den späten sechziger Jahren bereits intensiv bearbeitet wird.

33 K. Scheffler, Berlin. Ein Stadtschicksal, Berlin 1910, S. 266ff.

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Zu den hier behandelten drei Persönlichkeiten der Berliner Kunstszene sind inzwischen neue Quellenpublikationen und Monographien erschienen. Zu Bode: Wilhelm von Bode, Mein Leben, hg. von Thomas W. Gaehtgens u. Barbara Paul, 2 Bände, Berlin 1997; Manfred Ohlsen, Wilhelm von Bode. Zwischen Kaisermacht und Kunsttempel. Biographie, Berlin 1995; Thomas W. Gaehtgens u. Peter-Klaus Schuster (Hg.), »Kennerschaft«. Kolloquium zum 150. Geburtstag von Wilhelm von Bode (= Beiheft zum Jahrbuch der Berliner Museen 38), Berlin 1996. Zu Eduard Arnhold: Michael Dorrmann, Eduard Arnhold (1849– 1925). Eine biographische Studie zu Unternehmer und Mäzenatentum im Deutschen Kaiserreich, Berlin 2002. Zu Harry Graf Kessler: Burkhard Stenzel, Harry Graf Kessler. Ein Leben zwischen Kultur und Politik, Weimar 1995; Gerhard Neumann u. Günter Schnitzler (Hg.), Harry Graf Kessler und seine Tagebücher in der Zeit der Weimarer Republik, Frankfurt a.M. 1994; Peter Grupp, Harry Graf Kessler 1868–1937. Eine Biographie, München 1995. Zur Kunstpolitik Wilhelms II. und der Reaktion darauf als prägendem Faktor der Berliner Kunstszene vgl. jetzt Martin Stather, Die Kunstpolitik Wilhelms II., Konstanz 1994; Wolfgang Hardtwig, Kunst, Liberaler Nationalismus und Weltpolitik. Der Deutsche Werkbund 1907–1914, in: ders., Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500–1914, Göttingen 1994, S. 246–275, mit besonderem Bezug auf Hugo von Tschudi, S. 262ff. Dass Mäzenatentum ›bürgerliches Handeln par excellence‹ war, ist inzwischen Konsens, vgl. Jürgen Kocka, »Bürger als Mäzen. Ein historisches Forschungsproblem«, in: Thomas W. Gaehtgens u. Martin Schieder (Hg.), Mäzenatisches Handeln. Studien zur Kultur des Bürgersinns in der Gesellschaft, Berlin 1998, S. 34; vgl. auch Andreas Schulz, Mäzenatentum und Wohltätigkeit – Ausdrucksformen bürgerlichen Gemeinsinns der Neuzeit, in: Jürgen Kocka u. Manuel Frey (Hg.), Bürgertum und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert, Berlin 1998, S. 240; Elisabeth Kraus, Jüdisches Mäzenatentum im Kaiserreich. Befunde – Motive – Hypothesen, ebd., S. 39; als ausführliche biographische Studie vgl. jetzt auch Olaf Mathes, James Simon. Mäzen im Wilhelminischen Zeitalter, Berlin 2000. Die Berliner Juden gelten als »Pioniere der jüdischen Moderne« in Deutschland, vgl. Steven M. Lowenstein, Die Berliner Juden 1770–1830: Pioniere Jüdischer Moderne, in: Reinhard Rürup (Hg.), Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien, Berlin 1995, S. 25. Berlin entwickelte sich seit der Jahrhundertwende allerdings auch zu einem Zentrum des Zionismus, vgl. dazu den Überblick über die Jüdische Kultur im Berlin der Weimarer Republik mit ihrer Vorgeschichte im Kaiserreich bei Michael Brenner, The Renaissance of Jewish Culture in Weimar Germany, New Haven 1996 sowie ders., Zwischen Ost und West: Berlin als Zentrum Jüdischer Kultur in der Weimarer Republik, in: Rürup, S. 197–214. Brenner hebt hervor, dass die Herausbildung einer jüdischen Kultur in Berlin keineswegs im Zeichen einer »Ghettoisi367

erung« stand, sondern den Versuch einer Minderheit darstellt, die sich nicht nur religiös als eigenständig verstand, ihre kulturelle Eigenart zu bewahren bzw. neu zu definieren. In der Forschung über jüdisches Mäzenatentum in Berlin besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass Juden proportional mehr stifteten als ihre nicht-jüdischen Mitbürger. Cella-Margaretha Girardet, Jüdische Mäzene für die preußischen Museen zu Berlin. Eine Studie zum Mäzenatentum im deutschen Kaiserreich und in der Weimarer Republik, Egelsbach u.a. 20002, S. 9, geht davon aus, dass zwischen 1880 und 1933 der Anteil der Juden an den Kunststiftungen in Berlin ungefähr 80% betrug. Vgl. auch Peter Paret, Bemerkungen zu dem Thema: Jüdische Kunstsammler, Stifter und Kunsthändler, in: Ekkehard Mai u. Peter Paret (Hg.), Sammler, Stifter und Museen. Kunstförderung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, Köln 1993, S. 176. Es macht wenig Sinn, diese Zahl mit dem jüdischen Anteil an der Gesamtbevölkerung Berlins zu vergleichen (bis 1933 etwa 4%), vgl. Gabriel E. Alexander, Die jüdische Bevölkerung Berlins in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts: Demografische und wirtschaftliche Entwicklungen, in: Rürup (Hg.), Jüdische Geschichte, S. 118. Der jüdische Beitrag ist aber auch überproportional, wenn man ihn mit dem Anteil der Juden – etwa 60% – an den wirtschaftlichen Eliten vergleicht. Ein wichtiger Grund für die starke jüdische Beteiligung am Berliner Mäzenatentum liegt also in der Tatsache, dass die Berliner Juden eine ausgesprochen bürgerliche Schicht waren, wohlhabender, gebildeter und mehr an Kunst interessiert als ihre Glaubensgenossen in anderen deutschen Städten, vgl. Rürup, Einleitung, in: ders. (Hg.), Jüdische Geschichte, S. 9; Dolores L. Augustine, Die jüdische Wirtschaftselite im wilhelminischen Berlin: Ein jüdisches Patriziat?, ebd., S. 110, Wilhelm Treue, Jüdisches Mäzenatentum für die Wissenschaft, in: Werner E. Mosse u. Hans Pohl (Hg.), Jüdische Unternehmer im Deutschland in 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1992, S. 287. Auch Untersuchungen des Stiftungswesens in Wien, Köln, Hamburg oder Frankfurt unterstreichen einen besonderen jüdischen Anteil, vgl. die Beiträge in Kocka u. Frey (Hg.), Bürgerkultur und Mäzenatentum. Hier interessiert besonders der Beitrag der Berliner Juden als Sammler und Mäzene im Bereich von Kunst und Kultur. Der Aufschwung der Berliner Kunstsammlungen und ihr Anschluss an die Spitze der internationalen Museen verdankt sich wesentlich dem Engagement der wohlhabenden jüdischen Bürger, vgl. Girardet, Jüdische Mäzene, 2000, S. 14f. Paret, Bemerkungen, in: Mai u. Paret (Hg.), Sammler, Stifter und Museen,1993, S. 179 verweist auf den wichtigen Beitrag jüdischer Kunsthändler, die oft auch Kunst sammelten. Vergleichsweise wenig erforscht ist dem gegenüber noch der jüdische Anteil an der Förderung der Wissenschaften; zur Rolle Eduard Arnholds in der KaiserWilhelm-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften jetzt Dorrmann, Eduard Arnhold, 2002, S. 188ff. 368

Vielfach ist die Frage diskutiert worden, ob und inwiefern sich das jüdische Mäzenatentum von dem der nicht-jüdischen Bürger unterschied. Die Stifterprofile weisen zunächst vor allem Gemeinsamkeiten auf: die Stifter und Spender stammten fast alle aus dem gehobenen Wirtschaftsbürgertum, also aus Handels-, Banken- und Industriekreisen, vgl. Derek J. Penslar, Philanthrophy, The ›Social Question‹ and Jewish Identity in: Imperial Germany, in: Leo Baeck, Institute. Yearbook, 38 (1993), S. 51–73; Girardet, Jüdische Mäzene, 2000, S. 16; Schulz, in: Kocka u. Frey (Hg.) Mäzenatentum, 1998, S. 245. Jüdisches wie nicht-jüdisches Mäzenatentum ist, nachdem die vormodernen Eliten sich an Stiftungen und Spenden kaum noch beteiligten, in erster Linie eine bürgerliche Angelegenheit, nicht zuletzt, weil sich Adlige wegen der gestiegenen Preise am Kunstmarkt oft nicht mehr an der Sammler- und Stifterkultur beteiligen konnten, vgl. u. a. Sven Kuhrau, Der Kunstsammler als Mäzen. Sammeln und Stiften als Praxis der ›kulturellen Elite‹ im wilhelminischen Berlin, in: Thomas Gaethgens u. Martin Schieder (Hg.), Mäzenatisches Handeln, 1998, S. 43f. Die zentrale Frage lautet hier aber, ob sich jüdische und nicht-jüdische Mäzene hinsichtlich der Gründe und Motive ihrer Sammler- und Stiftertätigkeit unterschieden. Die Gemeinsamkeiten beider Gruppen scheinen zu überwiegen. Mehrfach wurde darauf hingewiesen, dass das private Mäzenatentum als »Distinktions- bzw. Integrationsmittel einer sich neu formierenden reichshauptstädtischen Oberschicht« verstanden werden kann, vgl. Kuhrau, Der Kunstsammler, 1998, S. 39. Auf der anderen Seite verband sich mit sozialer Wohltätigkeit durchaus der Wille, soziale Gegensätze zu vermindern, vgl. z. B. Philipp Sarasin, Stiften und Schenken in Basel im 19. und 20. Jahrhundert. Überlegungen zur Erforschung des bürgerlichen Mäzenatentums, in: Kocka u. Frey (Hg.), Bürgertum und Mäzenatentum, 1998, S. 205, 209, 200; Schulz, in: Kocka u. Frey (Hg.), Bürgertum und Mäzenatentum, 1998, S. 253; Kraus, Jüdisches Mäzenatentum, 1998, S. 41, nimmt an, dass die jüdischen Mäzene als früher oder aktuell diskriminierte Bürger zweiter Klasse durch die Wohltätigkeit ihre Sympathien mit »anderen, wenn auch vornehmlich in sozialer Hinsicht, Unterprivilegierten« geäußert hätten. Zweifellos fand das Bürgertum über Wohltätigkeit bzw. Mäzenatentum Zugang zu den Kreisen der vorindustriellen Eliten. In Berlin wurde es Wirtschaftsbürgern, die um 1900 offiziell noch nicht zur gesellschaftlichen Spitze zählten, durch Mäzenatentum möglich, die hofstädtische Etikette zu durchbrechen und Kontakt zu Adel und Hof herzustellen, vgl. Kuhrau, Der Kunstsammler, 1998, S, 45f. Auch Paret, Bemerkungen, in: Mai u. Paret (Hg.), Sammler, Stifter und Museen, 1993, S. 178, verweist auf die Wichtigkeit des Wunsches nach Anerkennung und sozialem Aufstieg im Mäzenatentum Berlins und meint, dass sich nichtjüdische und jüdische Spender in diesem Punkt nicht unterschieden und gleichermaßen nach – vor allem kaiserlicher – Anerkennung gestrebt hätten. 369

Eng verbunden mit der Rolle des Sozialprestiges ist die Vermutung, dass viele Mäzene spendeten, um ihren Reichtum zu rechtfertigen. Durch Förderung von Kunst und wohltätigen Einrichtungen konnte man dem eigenen Reichtum das »Anstößige« nehmen. Laut Girardet, Jüdische Mäzene, 2000, S. 35, sahen sich gerade jüdische Großbürger als Millionäre und als Juden einem besonderen Legitimierungsdruck ausgesetzt und wollten durch wohltätiges Handeln antisemitischen Vorwürfen vorbeugen oder sie entkräften. Andererseits zeigt Dorrmann, Eduard Arnhold, 2002, S. 253 u.ö., dass sich Arnhold mit antisemitischen Vorbehalten selten auseinanderzusetzen hatte und dass sein philanthropisches und mäzenatisches Engagement lange vor solchen Vorwürfen einsetzte. Als weiteres Motiv für privates Mäzenatentum nennt Sarasin, Stiften und Schenken, 1998, S. 201/2, die Deutungsmacht, die Stifter und Spender durch ihre Wohltätigkeit erlangten. Kunstförderer konnten durch ihre Tätigkeit gezielt bestimmte Künstler und Stile fördern. Für Paret, Bemerkungen, in: Mai u. Paret (Hg.), Sammler, Stifter und Museen, 1993, S. 178, trägt das Bürgertum, dessen gesellschaftliches Ideal allgemein eng mit der Unterstützung von Wissenschaft, Bildung und Kunst verknüpft gewesen sei, durch sein Mäzenatentum zu seiner »eigenen kulturellen Basis« bei. Gelten die genannten Gründe und Motive für das Bürgertum generell, so werden doch auch spezifisch jüdische Motive debattiert. Paret, Bemerkungen, in: Mai u. Paret (Hg.), Sammler, Stifter und Museen, 1993, S. 178, zufolge war das Sammeln und Spenden zu wohltätigen Zwecken für Juden auch ein Zeichen ihrer Assimilation und ihrer Gleichheit in der deutschen Gesellschaft; ähnlich auch Kraus, Jüdisches Mäzenatentum, 1998, S. 41f. Treue sieht im jüdischen Mäzenatentum auch einen Ausdruck des Bekenntnisses zur deutschen Kultur bzw. des Zugehörigkeitsgefühls zu der Stadt, in der man wohnte, Treue, in: Mosse u. Pohl (Hg.), Jüdische Unternehmer, 1992, S. 287f. Während Kraus, in: Kocka u. Frey (Hg.), Bürgertum und Mäzenatentum, 1998, S. 42ff, für die jüdische Wohltätigkeit auch religiöse Motive und Hintergründe annimmt, zeigt Dorrmann für Eduard Arnhold, 2002, S. 108, 253 u.ö., dass sich dessen anfangs dominierende Unterstützung von Institutionen der jüdischen Gemeinde Berlins aus der »gesellschaftlichen Verankerung in einer ethnisch-religiösen Minderheitenkultur« erkläre; die Gruppensolidarität mit anderen Juden barg zudem die Möglichkeit, »eine moderne, nicht primär religiös definierte Form jüdischer Identität auszuleben« (S. 253). Vielfach wird angenommen, jüdische Bürger seien entscheidend an der Verbreitung der modernen Kunst beteiligt gewesen. Dem gegenüber weist Paret, Bemerkungen, in: Mai u. Paret (Hg.), Sammler, Stifter und Museen, 1993, S. 181ff. darauf hin, dass der Ursprung dieser Vorstellung in der Ideenwelt der antisemitischen Rechten liege, die so den der deutschen Kultur »fremden« Charakter der neuen Kunst begründet habe. Paret zufolge liegt ein Grund für die starke, wenn auch nicht herausragende Beteiligung von Juden an der 370

Durchsetzung der modernen Kunst in Deutschland darin, dass sich die Juden als Randgruppe in Deutschland von der Gesellschaftskritik der Moderne besonders angezogen fühlten. Anhand einer Untersuchung der Abonnenten der Zeitschrift »Pan« zeigt Paret allerdings, dass die jüdische Komponente bei den Förderern der Moderne eher untergeordnet war, schließlich habe der jüdische Arzt oder Rechtsanwalt den gleichen konservativen Geschmack gehabt wie sein christlicher Kollege. Eine plausible und über die gängigen Negativund Positiv-Klischees hinausgehende Erklärung für die Vorliebe jüdischer Berliner Kunstsammler für den Impressionismus bietet Dorrmann, Eduard Arnhold, 2002, S. 148, an: Die impressionismusfreudigen jüdischen Kunstsammler seien eng mit einander bekannt bzw. verwandt gewesen; jüdischen Sammlern sei es häufiger als den nicht-jüdischen Anhängern des Impressionismus gelungen, auch ihr »unmittelbares Umfeld« für den Impressionismus zu gewinnen. Ein wesentlicher fördernder Faktor waren also einerseits ihre »relative Abschließung gegenüber anderen Gesellschaftskreisen«, andererseits die »Sozialbeziehungen innerhalb der jüdischen Wirtschaftselite, insbesondere der Familienverbände der Cassirers, Mendelssohns und Oppenheims«.

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Verzeichnis der ersten Druckorte

1. Formen der Geschichtsschreibung: Varianten des historischen Erzählens, in: Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Geschichte. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 169–188. 2. Historismus als ästhetische Geschichtsschreibung: Leopold von Ranke, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 99–114. 3. Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität: Der Historismus in neuer Sicht, in: Historische Zeitschrift 252 (1991), S. 1–32. 4. Die Krise des Geschichtsbewusstseins in Kaiserreich und Weimarer Republik und der Aufstieg des Nationalsozialismus, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 2001, München 2002, S. 47–75. 5. Alltagsgeschichte heute. Eine kritische Bilanz, in: Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Eine Diskussion, hg. von Winfried Schulze, Göttingen 1994, S. 19–32. 6. Fiktive Zeitgeschichte? Literarische Erzählung, Geschichtswissenschaft und Erinnerungskultur in Deutschland, in: Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow (Hg.), Verletztes Gedächtnis. Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt a.M./New York 2002, S. 99–123. 7. Die Historiker und die Bilder. Überlegungen zu Francis Haskell, in: Geschichte und Gesellschaft 24 (1998), S. 305–322. 8. Von der Utopie zur Wirklichkeit der Naturbeherrschung, in: Neue Wege der Ideengeschichte, Festschrift für Kurt Kluxen zum 85. Geburtstag, hg. von Frank-Lothar Kroll, Paderborn, München, Wien, Zürich 1996, S. 217–233. 9. Naturbeherrschung und ästhetische Landschaft. Zur Entstehung der ästhetischen Landschaft am Beispiel der Münchner Schule, in: Münchner Landschaftsmalerei 1800–1850, hg. von Armin Zweite, München 1979 (= Ausstellungskatalog Städtische Galerie im Lenbachhaus, München 1979), S. 40–57. 372

10. Kunst und Geschichte im Revolutionszeitalter. Historismus in der Kunst und Historismusbegriff der Kunstwissenschaft, in: Archiv für Kulturgeschichte 61 (1979), S. 154–190. 11. Nation – Region – Stadt. Strukturmerkmale des deutschen Nationalismus und lokale Denkmalsstrukturen, in: Ekkehard Mai (Hg.), Das KyffhäuserDenkmal 1896–1996. Ein nationales Monument im europäischen Kontext, Köln/Weimar/Wien 1997, S. 53–84. 12. Soziale Räume und politische Herrschaft. Leistungsverwaltung, Stadterweiterung und Architektur in München 1870–1914, in: Wolfgang Hardtwig/ Klaus Tenfelde (Hg.), Soziale Räume in der Urbanisierung. Studien zur Geschichte Münchens im Vergleich 1850–1933, München 1990, S. 59–153 (Auszug). 13. Kugler, Menzel und das Bild Friedrichs des Großen, in: Jahrbuch der Berliner Museen, Neue Folge, Bd. 41 (1999), S. 215–232. 14. Privatvergnügen oder Staatsaufgabe? Monarchisches Sammeln und Museum 1800–1914, in: Sammler, Stifter und Museen. Kunstförderung in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Ekkehard Mai und Peter Paret, Köln/Weimar/Wien 1993, S. 81–103. 15. Drei Berliner Porträts: Bode, Arnhold, Kessler, in: Günter und Waltraut Braun (Hg.), Mäzenatentum in Berlin. Bürgersinn und kulturelle Kompetenz unter sich verändernden Bedingungen, Berlin/New York 1993, S. 39–71.

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Bildnachweis

Jörg P. Anders, Berlin: Abb. 21 und 23; Bayerisches Landesamt für Denkmalpflege, München: Abb. 5; Bayerische Staatsgemäldesammlungen, München: Abb. 1, 2, 18 und 20; Roland Dreßler, Weimar: Abb. 4; Stadtarchiv München: Abb. 7, 8, 9, 10, 11, 12 und 19; Stadtarchiv Nürnberg: Abb. 6; Ullstein Bilderdienst, Berlin: Abb. 22; Von der Heydt-Museum, Wuppertal: Abb. 3.

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Register

1. Personenregister Achenbach, Andreas 350 Adelung, Johann Christoph 38, 220 d’Agincourt, Seroux 143 Alexander, Gabriel E. 368 Althaus, Paul 82 Andersch, Alfred 115 Andrae, Johann Valentin 156, 158, 164 Ansorge, Conrad 362 Aretin, Karl Maria Frhr. v. 334 Arndt, Ernst Moritz 224 Arnhold, Eduard 345, 348–350, 355–360, 362f. 365, 367f., 370f. Arnold, C. H. 318 Augustine, Dolores L. 368 Augustus 218 Bacon, Francis 156, 159f., 162f., 165, 171 Bairoch, Paul 175 Ballin, Albert 358 Barnes, Thomas 168 Barth, Karl 82 Baumgartner, Hans Michael 24 Becker, Jurek 116 Becker, Philipp Jacob 333 Beckett, Thomas 140 Beckmann, Max 354 Beenken, Hermann 213–215, 219 Behaim, Martin 261 Belotto, Bernardo 337 Below, Georg v. 61 Benn, Gottfried 80, 89, 96, 101 Benz, Ernst 91 Bernini, Gian Lorenzo 218 Bernstein, Carl 355f. Bertram, Ernst 93 Bertsch, Wilhelm 273, 278, 281 Bethmann-Hollweg, Theobald 87 Bièfve, Edouard de 308 Bieneck, Horst 115 Bismarck, Herbert v. 361 Bismarck, Otto v. 80, 101, 258, 260, 263, 306, 359

Bleichröder, Gerson 356, 359 Blittersdorf, Friedrich Karl Frhr. v. 334, 343 Bloch, Ernst 95, 160, 174 Blumenberg, Hans 48 Böcklin, Arnold 350 Bode, Wilhelm v. 345–348, 350f., 355, 358, 361, 365, 367 Bodenhausen, Eduard v. 351f. Boemmel, E. X. 297 Boisserée, Sulpiz 325f. Böll, Heinrich 114–116 Borscht , Wilhelm Georg v. 279 Boucher, Francois 330 Boulton, Matthew 170 Braniß, Christlieb Julius 209–211 Brefeld, Ludwig 349 Brenner, Michael 367 Brenz, Johannes 107 Brunelleschi, Filippo 151 Brusasorzi, Domenico 141 Bülow, Bernhard Fürst v. 352 Bunsen, Christian Carl von 329, 333, 336 Burckhardt, Jacob 26, 38, 42, 44, 53f., 58, 66, 69, 76, 90, 138, 142, 147, 149–153, 187, 221f., 233, 305, 307–310, 313, 347 Campanella, Tommaso 156, 158f., 163f. Campe, Joachim Heinrich 38 Carlyle, Thomas 26 Fam. Caro 348 Caroline Louise 330 Cassirer, Paul 352 Comte de Caylus, Anne-Claude-Philippe 142 Cézanne, Paul 351 Chamberlain, Houston Stewart 79, 81–84, 94, 96, 101 Chamisso, Adalbert 304 Chardin, Jean-Baptiste-Siméon 330 Chladenius, Johann Martin 74 Cicero 219 Clemens VII. 141

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Cohen, Hermann 210f. Comenius, Amos 164 Contarini, Gasparo 40 Cornelius, Peter 225, 232, 335, 341, 307 Curtius, Ernst Robert 136 Dachröden, Baron v. 361 Dahn, Felix 81, 87, 96 Danto, Arthur C. 24 Darré, Richard Walter 97, 101 Degas, Edgar 351 Dehmel, Richard 362 Dibelius, Otto 97 Dillis, Johann Georg v. 175, 192, 197, 199– 201, 331f., 334, 339 Dilthey, Wilhelm 209 Dinter, Artur 79 Döblin, Alfred 89 Doderer, Hemito v. 116 Donatello 152 Dorner, Johann Jakob d. J. 325 Dorrmann, Michael 367f., 370f. Dosch, M. 297 Drake, Friedrich 304 Droysen, Johann Gustav 22, 28, 31, 37, 51, 54f., 58, 66f., 67, 69–74, 76, 90,147, 205, 304, 317 Dürer, Albrecht 135, 261, 263 Dvorák, Max 136 Eckhart, Dietrich 84 Eggers, Kurt 90 Eichhorn, Friedrich 304 Eichthal, Carl 287, 289 Eichthal, Simon 287 Elias, Norbert 111, 163 Engels, Friedrich 61 Ernst Ludwig v. Hessen-Darmstadt 324, 343, 362 Eschenburg, Johann Joachim 38 van Eyk, Jan 152 Feuerbach, Anselm 350 Fischer, Theodor 273, 274, 285, 292f., 299 Fischer v. Erlach, Johann Bernhard 218 Fohr, Carl Philipp 330 Fontane, Theodor 305, 359 Förster, Ernst 308 Frankenberger (Abgeordneter im bayerischen Landtag ) 253 Franz I. 338 Freud, Sigmund 111 Frey, Manuel 367f., 370 Freyer, Hans 82, 99 Frick, Wilhelm 96 Fam. Friedländer 348

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Friedländer, Max J. 136 Friedländer-Fuld, Fritz v. 349, 363 Friedrich I. von Baden 330 Friedrich I. von Hohenzollern 305 Friedrich II. (Stauferkaiser) 80, 90, 91, 94 Friedrich II. 55, 93, 97, 172, 303f., 306-311, 313–322, 360 Friedrich III. 361 Friedrich Wilhelm I. 313f., 316 Friedrich Wilhelm III. 183, 256, 328–330, 333, 338, 360 Friedrich Wilhelm IV. 36, 311, 323, 328f., 334, 347 Fritsch, Theodor 79 Frommel, Carl 333 Fryes, Northrop 26 Fugger-Blumenthal 252 Fühmann, Franz 116 Fürstenberg, Carl 358 Gaehtgens, Thomas W. 367–369 Gallait, Louis 307 Gaul, Gustav 350 Gehlen, Arnold 200 Geibel, Emanuel 305 George, Stefan 80, 91, 93, 94 Gerstner (Abgeordneter im bayerischen Landtag) 251 Gervinus, Georg Gottfried 23, 67 Gilg, Alois 298 Ginzburg, Carlo 106 Giotto di Bondene 337 Giovio, Paolo 138 Girardet, Cella-Margaretha 368–370 Giustiniani, Benedetto und Vincenzo (Sammlung) 329 Gobineau, Arthur Comte de 82 Goebbels, Joseph 84, 96, 97 Goethe, Johann Wolfgang v. 172–174, 193, 195–197, 258, 306, 325, 338 Gogarten, Friedrich 82 Golsen (Abgeordneter im bayerischen Landtag) 252 Gordianus d. Jüngere 137 Görres, Joseph 231, 236, 247 Götz, Wolfgang 206f., 215–219 Grass, Günter 114 Grässel, Hans 273, 275–278 Grimm, Hans 86 Grimm, Jacob und Wilhelm 264 Grosz, George 354 Grupp, Peter 367 Guizot, Francois 150 Gundolf, Friedrich 80, 94 Günther, Hans Friedrich Karl 78, 84, 96

Hafenmaier (Abgeordneter im bayerischen Landtag) 253 Halbwachs, Maurice 130 Hansemann, David 248 Hardtwig, Wolfgang 367 Hargreave, James 169 Harnack, Adolf v. 359 Hart, Heinrich und Julius 356 Hartfield, John 354 Hartlib, Samuel 162, 164 Fam. v. Harrach 362 Hartung, Fritz 86 Haskell, Francis 136–139, 142f., 145–152 Hassinger, Erich 145 Hauberrisser, Georg 293 Hauptmann, Gerhard 362 Haushofer, Albrecht 85, 96 Heerens, Arnold Ludwig Herrmann 75 Hefner-Alteneck, Jakob Heinrich 341 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 39, 44, 61f., 71, 145, 191, 203f., 208 Heidegger, Martin 82 Hein, Christoph 121, 125f., 129ff., 134f. Heindl, Georg 294 Heine, Heinrich 304, 358 Heinrich IV. 41, 176 Held, Jutta 197 Hempel, Carl Gustav 24 Herder, Johann Gottfried 138, 144f. Hermlin, Stephan 116 Herz, Henriette 355 Herzfeld, Wieland 353 Heussi, Karl 206 Heym, Stefan 116, 121f., 129ff., 134f. Hildebrand, Adolf v. 281, 350 Himmler, Heinrich 96, 97, 101, 115 Hindenburg, Paul v. 97 Hintze, Otto 82, 358 Hirsch, Emanuel 91 Hitler, Adolf 84, 96–98, 101f., 218, 354 Hocheder, Carl 273, 281 Hofmann, Karl v. 350 Hofmannsthal, Hugo v. 84, 352, 362, 365 Hohenadel (Abgeordneter im bayerischen Landtag) 253 Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig Fürst zu 271 Hornemann, Martin 106 Hübsch, Heinrich 227f., 235f., 238, 300 Huizinga, Johan 138, 150–153 Fam. Huldschinsky 348 Humboldt, Wilhelm von 21, 22, 52, 59, 66f., 73, 190, 310, 333f., 340 Hume, David 143

Issel, Georg Wilhelm 330, 333f., 337, 339 Ihne, Ernst v. 363 Jablonski, Johann Theodor 220 Erzherzog Johann 333, 338f. Johnson, Uwe 115 Jörg, Joseph Emanuel 249 Jung, Edgar 96 Jünger, Ernst 77, 80, 84, 96 Kahler, Erich von 81 Kalckreuth, Stanislaus v. 350 Kant, Immanuel 56, 147, 185, 200, 210, 227 Kantorowicz, Ernst 80, 90f., 96, 119 Karl V. 140f., 308 Kaulbach, Wilhelm 141 Kelley, Donald R. 145 Kempowski, Walter 115f. Kessler, Harry Graf 343, 345, 351–358, 362, 365, 367 Kirdorf, Emil 358 Kleist, Ewald v. 321 Klinger, Max 350, 362 Knaus, Ludwig 350 Koberger, Franz 261 Koch, Robert 359 Kocka, Jürgen 367–370 Koeppen, Wolfgang 114 Kolbe, Wilhelm 175, 187–201 König, Réne 363 Koppel, Leopold 363 Koselleck, Reinhart 72, 145, 205, 219f., 238 Koser, Reinhold 303 Kosinna, Gustav 86 Krafft, Johann Peter 333 Kraus, Elisabeth 367, 369f. Krupp, Alfred und Friedrich Alfred 358 Kugler, Franz 303–322, 360 Kuhrau, Sven 369 Kunowski, Woldemar 351 La Curne de Saint-Palaye, Jean-Baptiste 142 Lagarde, Paul de 79, 86, 91, 94 Lamprecht, Karl 60f., 69, 89, 148, 150 Langbehn, Julius 79, 81, 83f., 86, 91 Lange, Friedrich Albert 210 Leibl, Wilhelm 350 Leibniz, Georg Wilhelm 162, 171 Leistikow, Walter 350 Lenbach, Franz v. 341, 350 Lenz, Max 45, 78 Lenz, Siegfried 115 Leo X. 143 Leopold von Baden 330, 337 Lessing, Karl Friedrich 333 Lichtwark, Alfred 357

377

Liebermann, Max 347, 351, 355, 356, 362 Liliencron, Detlev v. 362 Livius 69 Lori, Johann Georg 180 Lorrain, Claude Gallée 192–195 Lowentein, Steven M. 367 Ludwig, Emil 80, 119 Ludwig I. 257f., 260, 266, 270, 275, 282, 285, 299, 308, 310, 324, 326, 329, 331–333, 335, 339, 341 Ludwig II. 258, 266, 326 Ludwig XIV 44 Luitpold, Prinzregend 260, 263f., 328, 334f., 338, 342 Luther, Martin 107, 140 Lutz (bayerischer Minister) 251 Lyotard, Jean Francois 112 Maffei, Scipio 141 Mai, Ekkehard 368–370 Maillol, Aristide 354f. Maler, Friedrich 330, 334, 337, 340 van Mander, Karel 195 Manet, Édouard 251 Mann, Golo 31, 119 Mann, Heinrich 83 Mann, Thomas 80, 81, 83, 88, 91 Mannlich, Johann Christian v. 334 Marcks, Erich 45, 78, 86 Marées, Hans v. 350 Maria Theresia 172 Marquard, Odo 203 Marx, Karl 61f. Max I. Joseph 258, 284, 325, 331, 334, 337, 339 Maximilian II. 36, 258, 263, 270, 277, 310, 326 Meckel, Eberhard 123 Meckel, Christoph 121ff., 129f., 134f. Meinecke, Friedrich 48, 51, 55, 59, 61, 73, 206, 217, 232 Mendelssohn, Felix v. 304 Mendelssohn, Franz v. 363 Menzel, Adolph 303–313, 318–32, 350 Meyer, Arnold Oskar 86 Meyer, Eduard 82 Meyer, Heinrich 197 Meyer, Hermann Julius 156 Meyer, Julius 346 Michelet, Jules 26, 32, 42, 138, 145, 148 Miller, Ferdinand v. 295 Moeller van den Bruck, Arthur 84, 96 Moltke, Helmuth v. 260 Mommsen, Theodor 26, 68ff., 76 Mommsen, Wilhelm 86 Monet, Claude 351

378

Montesquieu, Charles-Louis de 138, 140, 151 Montfaucon, Bernard de 138f. Morus, Thomas 155–159, 161–163 Möser, Justus 48 Mosse, Rudolf 349 Mosse, Werner E. 368, 370 Muchembled, Robert 109, 111 Munch, Edvard 354 Muratori, Ludovico Antonio 138, 140, 142 Napoleon Bonaparte 80, 303, 311, 336 Neumann, Gerhard 367 Neureuther, Ludwig 325 Niebuhr, Barthold Georg 69, 221 Niekisch, Arthur 96 Nietzsche, Friedrich 27, 37f., 58, 93f., 112, 357, 362 Nipperdey, Thomas 33 Nora, Paul 129 Novalis 208 Oettingen-Wallerstein, Kraft Ernst und Ludwig (Sammlung) 326 Oexle, Otto Gerhard 91 Ohlsen, Manfred 367 Olfers, Ignaz Maria von 329 Oncken, Hermann 78, 86, 91 Overbeck, Friedrich 307 Panofksy, Erwin 187, 237 Paret, Peter 358, 368–371 Pastor, Willy 82 Paul, Bruno 281 Paul III. 40f. Paulus, Adolf 334 Penslar, Derek J. 369 Petersen, Marcus Hermann 266 Petersen, Julius 91 Petrarca 137, 187 Pevsner, Nikolaus 215 Pfann, Paul 281 Pfeifer, Ernst 281 Piranesi, Giovanni Battista 145 Pissarro, Camille 351 Plochl, Anna 339 Pohl, Hans 368, 370 Prantl, Carl 209–211 Proust, Marcel 136 Pschorr, Matthias 279 Rachfahl, Felix 61 Raffael 335, 339 Ranke, Leopold von 22, 26, 30, 31, 35–50, 51– 54, 58, 66f., 69, 72–74, 76, 90, 147, 150 Ratzel, Friedrich 85 Rauch, Christian Daniel 333

Rehlen, Robert 273, 281 Reichensperger, August 229, 234–236 Reinhardt, Max 362 Rembrandt van Rijn 81 Renan, Ernest 148 Reynolds, Joshua 191f. Richelieu, Armand Jean du Plessis, cardinal de 164 Fam. Richter 362 Rickert, Heinrich 210–213, 216 Ritter, Gerhard 58, 86, 91 Ritter, Joachim 187f., 190, 200 Robertson, William 143 Rodin, Auguste 354 Romeis, Leonhard 294, 300 Roon, Albrecht Graf v. 260 Rosenberg, Alfred 84, 96f., 101 Rosenberg, Hans 97 Rosenkranz, Karl 304 Rossignol 164 Rothfels, Hans 86 Rottmann, Carl 334 Ruisdael, Jacob 193–196 Ruland (Abgeordneter im bayerischen Landtag) 253 Rumohr, Friedrich v. 328, 333, 336f. Rürup, Reinhard 367f. Ruskin, John 138, 141, 148f., 151 Russ, Karl 333 Sachs, Hans 261, 263–266 Saldern, Jakob v. 106 Sarasin, Philipp 369f. Savigny, Friedrich Carl v. 232 Seitz, Lienhart 107 Semper, Gottfried 301 Sepp, Joseph Nepomuk 251, 267 Seurat, Georges 355 Schachner, Richard 278 Schack, Adolf Friedrich Graf v. 341 Schasler, Max 306, 358 Scheffler, Karl 345, 347, 366 Schieder, Martin 367, 369 Schiller, Friedrich 66, 68, 136, 190–192, 199, 221, 258, 266, 306 Schinkel, Friedrich 225–226, 333, 235–237, 256 Schirach, Baldur v. 96 Schlegel, Friedrich 136, 221 Schleiermacher 334, 339 Schlippenbach, Sache 362 Schlosser, Christoph Friedrich 75f. Schmitt, Carl 85 Schnabel, Franz 58, 59 Schnitzler, Günter 367 Schwienig, Adolf 281

Schnaases, Carl 346 Schneider, Reinhold 95 Schöne, Richard 361 Schreiner, Klaus 93 Schulz, Andreas 367, 369 Schuster, Peter Klaus 367 Schwabach, Paul v. 363 Sckell, Ludwig v. 285 Seidl, Gabriel v. 279, 281, 293, 295f., 300 Simmel, Georg 88, 364 Simon, James 358, 359, 367 Sisley, Alfred 351 Sitte, Camillo 277, 291–293 Smith, Adam 176 Solly, Edward (Sammlung) 329, 333 Sophie von Schweden 330 Spahn, Martin 86 Spengler, Oswald 80–82, 84f., 89, 96, 118 Spranger, Eduard 82 Stather, Martin 367 Steichele, Anton v. 294 Freiherr vom Stein 232 Stenzel, Burkhard 367 Stieler, Joseph 339 Stinnes, Hugo 358 Stoecker, Adolf 88 Stoß, Veit 261 Strauss, E. 203 Stromer, Ulmann v. 264 Stuart, Maria 140 Stuck, Franz v. 350 Sully, Herzog v. 176 Swift, Jonathan 37 Sybel, Heinrich von 37 Szczypiorski, Andrzej 121, 126f., 129ff. Szondi, Leopold 314 Taine, Hippolyte 138, 148 Thaer, Albrecht von 11, 170f., 183–185, 191 Thiers, Adolphe 150 Thiersch, August 294 Thoma, Hans v. 351 Thyssen, Fritz 358 Tilly, Johann Tserclaes v. 260 Tocqueville, Alexis de 26, 42 Tönnies, Ferdinand 88, 91 Treitschke, Heinrich v. 33, 37, 317 Treue, Wilhelm 368, 370 Troeltsch, Ernst 84, 206, 217 Trübner, Wilhelm 351 Tschudi, Hugo v. 350f., 357, 361, 367 Uhde, Fritz 351 Uhlmann, Fred 116 Ury, Lesser 351, 354 Usedom, Graf v. 361

379

van de Velde, Henry 343, 354f., 358, 362 Venedey 248 Vico, Enea 141 Virchow, Rudolf 82 Voit, Richard Jakob August v. 290 Völk, Joseph 252 Voltaire 138, 143, 311, 315 Vovelle, Michel 108 Waagen, Gustav Friedrich 329 Wagenbauer, Max Joseph 325 Wagener, Joachim Heinrich Wilhelm 329 Wagner, Johann Martin 332, 334 Wagner, Richard 79, 87f. Waitzmann, Chaim 362 Wallenstein, Albrecht Wenzel Eusebius 140 Walser, Martin 116, 120 Fam. Warburg 358 Warburg, Aby 140 Warnberger, Simon 325 Watt, James 170 Weber, Max 54, 57, 60, 63ff., 69f., 73, 75f., 82, 99, 149, 365

Werner, Anton v. 354 Westenrieder, Lorenz v. 181f. White, Hayden 25, 26, 31, 41 Widenmayer, Johannes v. 272 Wilhelm I. 93, 263f., 328f., 334 Wilhelm II. 79, 80, 328, 338, 348, 360f. Wilkie, David 325 Wilser, Ludwig 82, 98 Wilson, Richard 191f. Winckelmann, Johann Joachim 21, 138, 144, 151 Wirth, Albrecht 82 Wittelsbach, Otto v. 260 Wolf, Christa 116, 121, 124f., 129f., 134f. Wolff, Christian 315 Wollheim, Caesar 348 Woltmann, Ludwig 84 Wrede, Graf v. 260 Zedler, Johann Heinrich 155 Zemon Davis, Natalie 106 Zenetti, Arnold 285, 289 Zweig, Stefan 118

2. Sachregister Adel, adelig 12, 14, 70, 177, 181f., 230, 196, 310, 329, 336, 352, 358ff., 363, 370. Agrar-, agrarisch 11, 158, 170f., 177ff., 181, 184, 245, 247 – Agrargesellschaft, Agrarverfassung 11, 17, 71, 158, 177, 248 – Agrarreform 11, 170, 183 – Agrarrevolution 167, 170, 175, 177, 179, 184 Akademie/n 84, 87, 93, 160, 162 , 163, 165, 169, 171, 180, 182, 183, 189, 304, 315, 325, 330, 331, 351, 354, 360 Alltagsgeschichte, alltagsgeschichtlich (Erfahrungsgeschichte, erfahrungsgeschichtlich) 103, 104, 105, 106, 107, 110, 112 Altertum, Antike 43, 63, 89, 143, 144, 159, 219, 221, 227, 306, 326, 335, 337, 340, 348 Altertumswissenschaft 56, 90, 138, 142, 144, 150 Alteuropa, alteuropäisch 17, 20, 26, 71, 73, 155, 184–187, 192f., 198f., 202, 236ff., 287 Antisemitismus, antisemitisch 79, 370 Arbeit 156–160, 164, 170ff., 177, 184f., 190f.,

380

195–200, 209, 224ff, 229, 235f., 264, 269, 276, 297, 303, 304, 309, 318, 322, 338, 354, 359, 361 – Begriff der Arbeit 11, 70f., 185, 199 – industrielle Arbeit, Industriearbeit 12, 59, 196, 295 – landwirtschaftliche Arbeit, Landarbeit s. Landwirtschaft – rationelle Arbeit (Emanzipation der Arbeit) 70, 157, 158, 159, 164, 166, 171, 179–186, 196, 198–201 – Wissenschaft als Arbeit, Forschungsarbeit (s. auch Forschung: Wissenschaft als Forschung) 16, 26, 58, 68ff., 72, 74f., 76, 152, 159, 160, 164, 167, 170f., 185f., 224 Arbeiter, Arbeiterschaft, Arbeiterbevölkerung 13, 265, 260, 287, 295, 297f., 352 Arbeiterbewegung 88 Arbeitsteilung 26, 65, 69, 76, 160 Architektur, architektonisch, Baukunst, Bauwerk/e 17, 196, 213f., 225–228, 231, 234f., 237, 260f., 263, 269, 270–277, 280–290, 292, 301, 304, 326, 333, 348, 354, 363 – Denkmalbau (s. auch Nationalisierung)

93, 101, 144, 255–258, 260–265, 267, 278, 299, 306, 319, 360 – Industriearchitektur s. Industrie – Sakralbau/ten 234, 294–301 – Städtebau 269–292, 301, 363 Ästhetik, ästhetisch, Ästhetisierung 7, 141, 152 – Ästhetik und Geschichtsschreibung s. Geschichtserzählung – Ästhetik und Kunst s. Kunst: Emanzipation der Kunst – Ästhetik und Natur s. Landschaft Aufklärung, aufklärerisch, aufgeklärt 11, 16, 19, 37, 57, 66, 70, 74ff., 143, 145, 170, 172f., 180, 181, 185, 200, 206, 211, 227, 229, 241, 303, 337, 340

– bürgerliche Gesellschaft 11, 13f., 16, 47, 49, 57, 62, 66, 70, 108, 155, 186, 187, 190, 191, 199, 201, 246, 270, 288, 356 – bürgerliche Identität s. Identität – bürgerliche Kultur (s. im einzelnen: Kultur) 342 – bürgerliche Kunst, Kunstvorstellung, Künstler 18, 296f., 306f., 315, 323f., 330, 332, 342f., 356f., 363f., 369 – bürgerliche Lebensform 12, 87, 195, 199, 287 – bürgerliche Werte 9, 11, 13, 182, 256, 261, 272, 294, 366, 367 – bürgerliches Zeitalter 7, 9, 12, 13, 16, 17, 18 Dichter, Dichtung 21, 22, 28, 84

Bauern, bäuerlich 105, 177–182, 184f., 190, 199, 201, 279 Begriffsgeschichte, begriffsgeschichtlich (zur Methode) 205ff. Berlin, Berliner 18, 36, 38, 78, 136, 183, 246, 256, 282ff., 286, 304, 307, 313, 329, 333, 340, 342f., 345–371 Beruf, Berufe 66, 70, 72, 76, 81, 82, 83, 285, 341, 352, 355, 358, 365 Bildung, gebildet 71, 76, 159, 164, 171, 182, 203, 229, 236, 272, 315, 326, 340, 341, 346, 352, 355, 356, 358, 370 – Bildungsreligion (s. auch Geschichtsreligion) 59, 74, 336, 341 – historische Bildung (s. auch historisch: historisches Wissen) 57, 212, 215 – Bildungsbürger, Bildungsbürgertum, bildungsbürgerlich s. Bürger Bürger, Bürgertum, Bürgerlichkeit, bürgerlich 9, 88, 92, 100, 159 – Bürgertumsbegriff 13f., 206 – Bildungsbürger, Bildungsbürgertum, bildungsbürgerlich 11, 13, 58, 59, 60, 83, 123, 137, 346, 355, 358 – Gewerbebürger, Gewerbebürgertum, gewerbebürgerlich 13, 285 – Großbürger, Großbürgertum, großbürgerlich 296, 358, 370 – Kleinbürger, Kleinbürgertum, kleinbürgerlich 100, 295 – Staatsbürger, Staatsbürgertum, staatsbürgerlich 200, 233 – Staatsbürgergesellschaft 12, 186 – Stadtbürger, Stadtbürgertum, stadtbürgerlich 17, 185, 191, 200, 246, 261, 263–266, 270, 275ff., 280, 298f. – Wirtschaftsbürger, Wirtschaftsbürgertum, wirtschaftsbürgerlich 11, 13, 100, 347, 358, 363, 369

Elite/n, elitär 12, 60, 97, 100, 106, 112, 139, 323, 351, 355, 356, 357, 358, 363, 368, 369, 371 Enzyklopädie, enzyklopädisches Wissen 48, 67, 205 Erinnerung, Erinnern 117, 121ff., 127f., 192, 217, 222, 223, 224, 239, 240, 285, 229, 339, 342 – Erinnerungsbedürfnis 128f. – individuelle, individualisierte Erinnerung 130, 132 – kollektive Erinnerung 255, 256, 265, 303 – Erinnerungsgeschichte, erinnerungsgeschichtlich 140f., – Erinnerungskultur 117f., 121, 131, 135, 255, 264 – Erinnerungsort 129, 256 – Erinnerungspolitik, erinnerungspolitisch 128, 131, 138, 141, 257, 264 Erzählung, Erzählen – als nicht-fiktionale historische Darstellungs- und Erkenntnisform s. Geschichtserzählung – literarische, fiktionale Erzählung s. Literatur Erzähler, Erzählfigur 32, 33, 39, 40, 41, 77, 123, 124, 318 Europa, europäische Staatenordnung, europäisch 44ff., 50, 83, 86, 87, 103, 108, 143, 146, 157, 162, 165, 166, 167, 175, 176, 177, 179, 180, 183, 213, 214, 281, 230, 241, 246, 281, 317, 336, 341, 360, 364 Fiktion, fiktiv, Fiktionalität, fiktional 28f., 34, 88, 114, 115, 119, 132, 148, 153, 156, 161, 171, 174, 290 Fiktionalisierung 28, 121, Forschung

381

– Begriff der Forschung 70f., 146 – Bürgertumsforschung 99f., 366–371 – geschichtstheoretische Forschung s. Geschichtstheorie – historiographiegeschichtliche Forschung 51, 112, 137, 139, 145, 146 – historische Forschung s. Geschichtswissenschaft, Geschichtsschreibung – Hochkulturforschung 10 – kunstgeschichtliche Forschung 324 – Nationalismusforschung 256 – Naturforschung s. Wissenschaft – Organisation der Forschung 159f., 163, 170f. – Wissenschaft als Forschung, Forschungsarbeit (s. auch Arbeit: Wissenschaft als Arbeit) 65, 68, 75, 104, 160 Frühgeschichte s. Vor- und Frühgeschichte Gedächtnis 19, 117 – kollektives, kulturelles 117, 131, 134 – individuelles 130 (Individualisierung des Gedächtnisses) Gelehrte/r 11, 47, 58, 66, 68f., 71, 72, 81, 83, 138, 139, 159, 160, 164, 169, 180, 199, 292, 295, 298, 354 Geopolitik 79, 85f. Germanistik, Germanist, germanistisch 78, 90, 91 Geschichte, geschichtlich – Begriff der Geschichte (s. auch Historie) 20f., 74f., 209 – geschichtliche Entwicklung, geschichtliche Zeit 88f., 90, 92, 97, 98, 101, 109, 220f., 227ff. Geschichtsbewusstsein 16, 30, 57f., 77, 90, 149, 211, 215ff., 220f., 224ff., 229, 246 Geschichtsdenken, Geschichtsbild 15, 16, 18, 21, 23, 40, 51, 55, 117, 152, 217, 221, 227ff., 230, 316f. – aufklärerisches Geschichtsbild 32, 47, 66 – historistisches Geschichtsbild (s. auch Historismus, Geschichtsreligion) 47, 56f., 66, 69, 75, 217 – bei Ranke (s. auch Geschichtsreligion) 42– 49, 52 – bei Marx (s. materialistischer Historismus) 61f. – marxistisch-leninistisches Geschichtsbild 109 – Krise des historistischen Geschichtsbildes (s. im einzelnen: Raum, geschichtlicher Entwicklungsgedanke, Nationalisierung, Mythisierung, Religion: Sakralisierung) 77, 78, 79, 84, 86f., 89, 94f., 95f., 97, 98, 100f., 110

382

– nationalsozialistisches Geschichtsbild 78, 97, 101 Geschichtserzählung (Geschichtsschreibung) 24ff., 28, 30, 36, 44, 75, 114, 137, 140, 244 – arbeitende, rationale, analytische, distanzierende: wissenschaftliche 16f., 19, 28, 117, 119, 132f., 135, 206, 232, 244 – ästhetische, ästhetisierte 32, 41, 48f., 76, 89, 146, 305 – literarische, fiktionale s. Literatur – moderne, strukturgeschichtliche 32 – rhetorisch-humanistische, exemplarische 20, 21, 25, 39, 75, 220 – traditionelle, narrative 32 – Geschichtserzählung Leopold von Rankes 38–42, 44 – historisches Volksbuch Franz Kuglers 313–318 – Geschichtserzählung und Geschichtsforschung 26f., 28, 68 – Geschichtserzählung und Geschichtstheorie 30f., 34, 72 – Geschichtserzählung und Literatur (s. auch Literatur) 39, 48, 117f., 132ff. – Theorie/Typologie der Geschichtserzählung 22f., 25f., 27, 28, 35, 42 Geschichtsinteresse 27, 30, 33, 112f., 135, 145, 147 Geschichtskultur 78, 101, 141, 303 Geschichtsphilosophie 39, 61, 71, 208, 210f., 220 Geschichtsreligion, geschichtsreligiös, Geschichtstheologie, geschichtstheologisch 15, 32, 36, 42ff., 49–61, 63f., 66, 73 Geschichtsschreibung 9, 15, 16, 19, 21–33, 35, 37, 39, 41f., 46, 49, 51f., 55, 67f., 75f., 81, 85, 91, 104f., 118f., 137ff., 143ff., 149f., 219, 221 Geschichtstheorie, geschichtstheoretisch 19, 20–25, 30f., 34, 40, 49ff., 54, 56, 62f., 72, 74, 103, 118, 139, 145, 146, 151 Verwissenschaftlichung von Geschichte, Geschichtsschreibung 19, 25, 30, 31, 38, 55, 118f., 145, 147 Geschichtswissenschaft, geschichtswissenschaftlich 7, 9, 13, 15ff., 19, 22ff., 26f., 30, 35, 39, 49, 51, 54–62, 64, 66, 68f., 70ff., 78, 81, 86f., 89, 103ff., 112, 117f., 121, 125, 132ff., 137, 139f., 143, 145ff., 150, 155, 205, 208, 211, 216, 224, 232 »Historia« 142, 146, 219, 224 Historie 20, 28, 30, 37, 39, 46, 48, 68, 73, 74, 142, 144, 146, 205, 211, 219f., 221, 306, 308f., 336 – Begriff der Historie 20f., 219f.,

– Historienmalerei, Geschichtsmalerei, Geschichtsillustration 91, 146, 305, 307f., 310f., 339 Historik 42f., 55, 56, 67, 72, 147 historisch – Historische Anthropologie 90 (prähistorische Anthropologie), 103, 112 – historisches Bewusstsein s. Geschichtsbewusstsein – historische Darstellungsformen s. Geschichtserzählung – historische Erklärung 25, 26 – historische Erzählung, historisches Erzählen s. Geschichtserzählung – historische Erkenntnis 22, 23, 34, 141, 142, 144, 146ff., 150ff., 205ff., 209f., 212 – Theorie der historischen Erkenntnis 23, 150ff., 205ff. – historische Forschung s. Forschung – historische Persönlichkeit 42, 43, 80, 139, 138, 303, 305 – historischer Roman s. Literatur – Historische Sozialwissenschaft s. Sozialwissenschaft – historische Wahrheit 81, 118, 148, 313, 319 – historisches Wissen (s. auch Bildung) 19, 46, 48, 57, 77, 102, 118, 207, 213, 219 – Historische Zeitschrift 82, 98 Historismus, historistisch – Begriff des Historismus 206–212, 219, 225 – geschichtswissenschaftlicher 17, 23, 31, 48, 51f., 55–62, 64, 66f., 72–75, 85, 89–92, 97, 145ff., – kunstwissenschaftlicher 17, 205, 207f., 212–219, 224, 227, 231 – künstlerischer, architektonischer 218, 223–227, 231, 239, 270, 277, 295ff., 299f., 306, 310, 336, 357 – Frühhistorismus (geschichtswissenschaftlicher), frühhistorsitisch 19, 21, 23, 65 – Späthistorismus (geschichtswissenschaftlicher, künstlerischer), späthistoristisch 60, 86, 270, 277, 292, 298, 300 – idealistischer Historismus 62 – materialistischer Historismus 61f. – Krise des Historismus (s. auch Krise des historistischen Geschichtsbildes) 56f., 59, 88, 98, 97f., 100, 118 – history (vs. memory) 16 Hochkultur s. Kultur Idealismus, deutscher Idealismus, idealistisch 59, 60–63, 123, 208, 209 Idee (als metaphysische Größe) 52f., 57, 59ff., Imperialismus, imperialistisch 45f., 369

Industrie, industriell 99, 170, 235, 245, 252, 263, 269, 273, 280, 300, 338, 349, 358, 363 – Industrialisierung (Industrialisierungskritik) 12, 168, 170f., 235, 245f., 246, 270, 275, 281, 289, 292, 295, 341, 364 – industrielle Gesellschaft – Klassengesellschaft 49, 57, 62, 108, 235, 245ff., 270, 280, 295, 362, 369 – industrielle Lebenswelt (Industriearchitektur [Industrieausstellung]) 235, 246, 270, 277, 280f., 300 – Industrielle Revolution 155, 167, 168, 170 – Industriewirtschaft 72, 196, 270, 295, 300 – Industriezeitalter 269, 277, 295 Identität – bürgerliche 247, 261, 263, 265, 273, 277, 298, 317, 342, 365, 367f. – individuelle 110, 126, 130, 133, 364f. – kollektive 43, 46f., 110 – kulturelle 18, 244, 261, 266, 368 – nationale 18, 46f., 140, 231–234, 240f., 244–250, 255, 257, 261, 264–268, 319, 339 – regionale (einzelstaatliche, lokale, städtische) 12, 242, 244–247, 251, 255, 257f., 261, 265–268 Ideologie, ideologisch 51, 125, 129 – nationale (Kulturideologie) 123, 342 – nationalsozialistische s. Nationalsozialismus – rassistische s. Rasse – sozialistische 122, 123, 125 – Ideologiekritik, ideologiekritisch 38, 137, 218, 296, 298 – Ideologiegeschichte, ideologiegeschichtlich 82, 96 Intellektuelle/r, intellektuell 83, 121, 145, 163, 199, 354, 355f, – intellectual history 99 Kaiserreich 77, 79, 82, 83, 100, 123, 244, 255, 258, 261, 264, 268, 357, 361, 366ff. Kapitalismus, kapitalistisch 15, 45, 77, 176f., 289 Katholizismus, katholisch 36, 41, 97, 116, 141, 164, 246ff., 255, 261, 271, 275, 294f., 297ff., 317 Kirche/n, kirchlich (Kirchengebäude s. Architektur: Sakralbau/ten) 43, 45, 97, 107, 163, 229ff., 243, 269, 293–299, 336 Kommunismus, kommunistisch 45, 122, 127, 158 Konservativismus, konservativ (konservative Kritik) 13, 26, 38, 90, 116, 229, 235, 252, 317, 343, 356, 371 »Konservative Revolution« 84, 89, 96

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Krieg/e – Siebenjähriger Krieg 311, 313f., 318f.,320– 322 – Befreiungskriege 224, 230, 233, 256f. – Deutsch-Französischer Krieg 249f., 263, 289, 252, 354 – Erster Weltkrieg 9, 89ff., 244, 260, 267, 321, 349, 352 Kultur, kulturell 59f., 64, 85, 89, 102, 105, 150f., 183, 187, 195, 211, 213, 227f, 242, 248, 255, 261, 263, 269, 272, 299, 303, 316, 324, 342, 345, 348, 355, 359, 361f., 364, 366–370 – Begriff der Kultur 10f., 111, 184f. – Kulturgeschichte, kulturgeschichtlich 111, 137f., 142f., 148f., 153, 314 – Kulturindustrie 15 – Kulturkampf, kulturkämpferisch 272, 298f. – Kulturkritik, kulturkritisch 104 – Kulturnation, kulturnational 257, 265, 267, 339f. – Kulturpessimismus, kulturpessimistisch 79, 82, – Kulturpolitik (s. auch Kunstpolitik), kulturpolitisch 18, 304, 310, 324, 345, 355, 366 – Kulturtheorie, kulturtheoretisch 94, 111 – Kulturwissenschaft, kulturwissenschaftlich 10, 82, 137 – cultural turn 10 – Hochkultur 9, 10, 89, 111, 343, 366 – Massenkultur, massenkulturell 10 – Stadtkultur, stadtkulturell 246, 258, 261, 263, 265f., 269f., 270, 273, 281, 364, 366 Kunst, Künste, künstlerisch 64, 68, 71, 87, 89, 100, 136ff., 141, 143f., 146f., 150ff., 175, 185f., 188, 190f., 197f., 203ff., 208, 213– 220, 223–227, 230–239, 280f., 285–300, 304–311, 323–371 – ästhetische Kunst s. Emanzipation der Kunst – bürgerliche Kunst s. Bürger, Bürgertum – historistische Kunst s. Historismus – sakrale Kunst s. Architektur, Baukunst – alteuropäisches Kunstverständnis (Kunst als Mimesis) 190, 192, 194, 197ff., 202, 236ff., 310 – Emanzipation der (ästhetischen) Kunst 10, 190, 194, 197–204, 238f. – Nationalisierung der Kunst s. Nationalisierung – Kunstförderung (private, fürstliche, staatliche) 14, 323–328, 334, 337f., 342ff., 351, 353, 358ff, 366, 368, 370f. – Kunstgeschichte (s. auch kunstwissen-

384

– –

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schaftlicher Historismus), kunstgeschichtlich 81, 139, 143, 145ff.. 150, 205, 208, 214–219, 226, 231, 304, 310, 324, 331, 333, 336, 345, 352, 366 Kunstgeschichte und Geschichtswissenschaft (s. auch Bildquellen) 150ff. Kunstpolitik (s. auch Kulturpolitik), kunstpolitisch 18, 323–328, 331, 333, 337, 340, 345, 348, 351, 352, 354, 356, 360ff., 367 Kunstsammlungen 18, 28, 138, 142, 324, 326, 328ff., 333–337, 341, 347–351, 354, 358f. Kunstsammler, Sammler- und Mäzenatentum, Sammlungspolitik 323ff., 328, 331, 333–341, 345, 347ff., 355f., 358, 362f., 365, 368–371 Kunsttheorie, kunsttheoretisch 146 Kunstverein/e s. Verein/e Kunstwissenschaft, kunstwissenschaftlich136, 139, 187, 205, 207f., 212f., 215, 218f., 224, 351 Kunst und Wissenschaft 22, 39, 65 Künstler (s. auch Bürger, Bürgertum: bürgerliche Kunst) 18, 304, 323, 325, 328f., 32–341, 343, 345, 352, 354ff.

»Lamprechtstreit« 61 Land, ländlich 12, 174–186, 189, 191, 195, 199f., 235, 240f., 245f., 265, 261, 363 – Landarbeit s. Landwirtschaft – Landwirtschaft, landwirtschaftlich (s. auch rationelle Arbeit) 30, 158, 170, 171, 12, 30, 158, 170f, 175, 177–185, 195 Landschaft 151 – alteuropäische Landschaft (in der Darstellung) 191–196, 198f. – ästhetische, ästhetisierte Landschaft (Natur als Landschaft) 17, 175f., 187–203, 336 – politisch-geographische Landschaft (s. auch Region) 245, 246, 256, 266f., 339 – Landschaftsmalerei 151, 175, 191–203, 325, 330f., 333, 336, 338ff., 350f. – Stadtlandschaft 18, 200, 364 Leistung 65, 69 – Leistungsgesellschaft 11, 270, 280, 364f. – Leistungsverwaltung 13 – Leistungswissen 26 Liberalismus, liberal, Liberale 37, 45, 83, 100, 122, 131, 168, 171, 247, 254, 271f., 289, 293, 299, 308, 311, 335 – liberales Bürgertum 11, 271f. – liberale Gesellschaft 57, 71, 135, 288 – liberale Wirtschaft, Wirtschaftsverfassung, Wirtschaftssubjekte 11, 47, 168f.

– bürgerlich-liberal 58, 83, 100, 122 – fortschritts-liberal 37, 42, 58, 90, 171, 364 – linksliberal 354 – nationalliberal 37, 243, 317, 367 Liberalisierung 71, 254, 282, 312 linguistic turn 24, 25, 35, 117, 119, 133 Literatur, Literaten, literarisch 83, 84, 88, 95, 100, 114f., 133, 140, 143 – literarische Geschichtserzählung, historischer Roman, autobiographischer Roman, Biographie 78, 80, 96, 114, 119f., 122, 126, 128f., 141, 313–318 – Literarität von Historikertexten (s. auch Geschichtserzählung und Literatur) 117, 120, 133 – literarischer Markt, Büchermarkt 83, 114 – Literaturtheorie, Literaturwissenschaft 25, 42 Mäzen, Mäzenatentum s. Kunstsammler memory (vs. history) 16 Mentalität, mentalitär 12, 30, 32, 60, 121, 148, 179, 223, 229, 235, 248, 281 – Mentalitätsgeschichte, mentalitätsgeschichtlich 96, 103, 110 Milieus, Quartiere 12, 101, 106, 269, 271, 285, 295, 297f., 300, 364 Mittelalter, mittelalterlich 37, 43, 44, 55, 89ff., 110, 138, 140, 142, 152f., 155, 177, 224, 228f., 233f., 236, 240, 282, 292, 304, 306, 337 Moderne, modern – gesellschaftliche Moderne, moderne Gesellschaft 11, 12, 25, 35, 47, 70, 91, 92, 99, 108, 134, 147, 148, 151, 155, 186f., 190, 240 – moderne Lebenswelt, moderne Erfahrung (s. auch Krise der Moderne) 156f., 171f., 178, 186f., 190, 192, 203f., 269f., 275f., 292, 300f., 364f. – künstlerische Moderne, moderne Kunst 18, 136, 299, 306, 350–357, 361, 367f., 371 – literarische Moderne, moderne Literatur 34 – Krise der Moderne (Entzweiung der Moderne) 47, 48, 50, 77, 88f., 97, 239 – Modernität 109, 136, 186f., 228, 238, 275f., 343 – Modernitätskritik 104, 245, 271, 277, 292 – Modernitätstheorie s. Geschichtsdenken, Geschichtsbild – Vormoderne 30 – vormoderne societas civilis 12 München, Münchner (Münchner Schule) 17, 78, 84, 175, 192f., 199, 246, 258, 260f.,

269–272, 274–300, 308, 325, 326, 328, 334f., 340ff., 356 Museum, Museen, museal 138, 139, 140, 148, 260, 291, 323f., 326, 328f., 332–337, 340f., 342, 345–348, 354, 355, 357, 359, 360f., 366–369 Mythos, Mythen, Mythologie, mythisch 15, 92ff., 101, 129, 136, 140, 192, 256 Mythisierung 91f., 97, 303 Nation, Nationen, Nationalität, national 14, 42, 43f., 49, 55, 58, 83, 84, 86, 90, 94, 135, 147, 151, 165, 176, 225, 230–235, 240–265, 281, 299, 303, 308, 310f., 316, 229, 340, 343, 348, 364 – Nationalbewusstsein s. Identität – Nationalgedanke, Nationalidee (s. auch Identität, Ideologie) 14, 46f., 123, 230, 231, 243, 251, 339 – Nationalisierung (insb. des Geschichtsbildes und der Kunst im Nationaldenkmalsgedanke), Nationalpädagogik 45, 86f., 230– 233, 234, 256–261., 260f., 265, 267, 340f., 343, 376 – Nationalismus, nationalistisch 15, 95, 100, 240, 242, 248, 251, 254ff., 260f., 266, 268 – Nationalreligiosität, nationalreligiös 93, 95, 97, 100, 230, 233f., 240 – Nationsbildung 47, 230, 240, 242, 245f., 249, 251ff., 267f., 316, 341 Nationalsozialismus, nationalsozialistisch 58, 96, 101, 126f. – nationalsozialistisches Geschichtsbild s. Geschichtsdenken, Geschichtsbild; Krise des historistischen Geschichtsbildes – nationalsozialistische Ideologie 77, 101 – nationalsozialistische Machtergreifung 78, 99 Natur, natürlich 64, 70, 156, 161, 179, 183– 204, 237, 245, 269, 277, 307 – Begriff der Natur (alteuropäischer, aufklärerischer) 184ff., 187, 190, 192, 198, 200, 203 – Ästhetisierung der Natur s. Landschaft – Naturbeherrschung, Objektivierung der Natur 11, 12, 155, 157, 158, 167, 170ff., 175f., 179, 183–196, 198f., 201 – Natur und Geschichte 209–212, 220 – Naturwissenschaft, Naturforschung s. Wissenschaft Neuzeit, Frühe Neuzeit, neuzeitlich 9, 10, 13, 26, 37, 49, 63f., 72, 75, 89, 110, 137, 139, 145, 147, 148, 155, 173, 184, 186, 188, 195, 199, 212, 220, 229, 232, 238, 240f., 258, 292, 334, 367

385

Objektivität, objektiv 36, 37, 38, 46, 49, 50, 58, 64, 72, 74ff., 97, 132f., 134, 187 Objektivierung, objektiviert 188, 190, 198, 203, 364 Objektivismus, objektivistisch 58, 62, 67, 73 Poetik, Poetologie (und Geschichtswissenschaft) 23, 24, 25, 28, 30f., 42, 81 Positivismus, positivistisch 28, 81 Protestantismus, protestantisch 36, 149, 164, 247ff., 255, 261, 272, 299 – Kulturprotestantismus, kulturprotestantisch 42 – Nationalprotestantismus, nationalprotestantisch 93f., 97, 100, 317 Providenz (s. auch Geschichtsreligion) 42 Quellen – Schriftquellen (literarische, dokumentarische) 31, 32, 56, 106, 120, 133, 141f., 144 – Bildquellen 137–142, 146–153 – Quellenkritik 35, 56, 120, 139, 145, 205 Rasse, rassistisch 82, 97f. – Rasseforschung, Rasseforscher 78 – Rassegeschichte, rassegeschichtlich 82, 85, 87, 94, 98 – Rasseideologie, rasseideologisch 90, 96 Rationalität, rational 65, 75, 81, 88, 158, 163, 166, 171f., 181, 184, 190f., 199ff., 203f., 223, 225, 233, 235f., 252, 277, 291, 364 – Rationalitätskritik 292 – Rationalitätsstandards 30, 66, 81 – Rationalisierung (s. auch rationelle Arbeit, Naturbeherrschung, Industrialisierung) 11, 155, 159 Raum (als historisch-politischer Begriff) (s. auch Geopolitik) 84–86 »Real-Geistiges« (Ranke) 53, 59 Reformation 44, 107, 140, 155 Region, regional (einzelstaatlich) regionalistisch 14, 15, 18, 106, 240–267, 281 – regionale Identität s. Identität – Regionalismus (einzelstaatlicher Patriotismus), regionalistisch 240f., 243, 246, 248– 256, 258, 260, 267f., 340 Religion, Religiosität, religiös 51, 59, 60, 63f., 73, 75, 87, 94, 108, 148, 157, 160, 162, 164, 169, 203, 204, 212, 214, 222, 230, 232, 236, 248, 270, 277, 292, 296, 299, 308, 368 – politische Religion, historisch-politische Sakralisierung (s. auch Nation: Nationalreligiosität) 93f., 230, 232f. – Religionsgeschichte, religionsgeschichtlich 149, 210 Renaissance 44, 150ff.,

386

Revolution, revolutionär 58, 164, 166, 170, 182, 183, 192, 217, 233, 241f., 257, 342f., 352 – 1848 35, 257, 309, 365, 365 – 1919 352, 354, 363f. – Revolutionszeitalter (Französische Revolution) 45, 55, 138, 140, 155, 191, 205, 221, 222f., 230, 233, 238, 336, 343 – Industrielle s. Industrie – »Konservative« s. »Konservative Revolution« – nationale 95 – sozialistische 88 – wissenschaftliche 167, 168, 171, 201 Sacrum Imperium 44 Sozialgeschichte, sozialgeschichtlich 33, 60, 83, 97, 100, 103f., 108, 111, 132, 139 Sozialismus, sozialistisch 45, 88, 122, 131, 134 Sozialwissenschaft, sozialwissenschaftlich 10, 94, 99, 104 – Historische Sozialwissenschaft 35, 103, 106, 108, 112 Staat, Staaten, staatlich 13, 42, 43, 47, 59, 60, 71, 74, 85, 107, 155, 163, 165, 167 Stand, Stände, ständisch 11f., 48, 70f., 155, 160, 191, 199, 223, 246, 276, 337 Stadt, Städte, städtisch 12, 13, 145, 158, 160, 158f., 175, 180, 183, 185, 186, 190, 191, 195, 198ff., 246f., 256, 258, 260f., 264f., 269–292, 301, 363 – Städtebau s. Architektur: Städtebau – Stadtbürger s. Bürger, Bürgertum – Stadtkultur s. Berlin, München, Identität: städtische – Stadtverwaltung 13, 17, 261, 263 Technik, Techniker, technisch, Technisierung 11, 12, 97, 157, 158, 159, 167–170, 183, 188, 195f., 228, 277, 280, 291f., 340, 350, 356 Theodizee 42, 55 Theologie, theologisch 54, 82, 91 »Theoria« 11, 71, 73f., 111, 186–190, 198f., 202 Tradition, traditionell 129, 142, 177, 184f., 187f., 190, 192f., 198, 201f., 209–212, 221f., 225–229, 233, 238, 242, 244, 246, 256, 266f., 275, 277f., 281, 285, 293, 295, 299, 306, 324, 338, 342f., 347 Traditionalismus, traditionalistisch 276 Traditionskritik 33, 129, 134, 222, 236f. Universalgeschichte, universalgeschichtlich 45, 63

Urbanisierung, urbanisiert, urbanistisch 12, 17, 176, 346, 270, 275, 277, 282, 285, 287, 289, 294f. 300, 364 Utopie, Utopist/en, utopisch 15, 134, 155– 159, 161–165, 167, 170–174 Verein/e, Sozietät/en, Gesellschaft/en, Club/s 12, 14, 163, 164, 165, 167, 168, 169, 171, 178, 181, 182, 191, 255, 120, 280, 294, 295, 298, 299, 305, 306, 326, 343, 348, 356 Vergessen 120, 126ff., 130 Volk, Völker 42ff., 49, 71, 74, 85, 86, 94, 95, 98, 126, 151, 166, 173, 196, 229, 231f., 248, 251f., 264, 266, 295, 308f., 311, 314, 338f., 341f. Volksgeschichte, volksgeschichtlich 111 völkisch, völkische Ideologie 84, 93, 94 Vor-, Ur- und Frühgeschichte 82, 86, 90, 91 Weimarer Republik 77, 80, 86, 97, 101, 118, 267 Weltgeschichte, weltgeschichtlich 37, 41, 53, 74, 85, 101, 149 Wissenschaft, Wissenschaften, Wissenschaftler, wissenschaftlich (allg.) 26, 38f., 47, 60, 63ff., 69ff., 81, 82, 87, 93, 113, 134, 136,

– – – – – – – –

141, 143, 155, 159, 160, 165, 167, 169, 170, 171, 180, 182, 182–186, 188f., 190f., 203, 223f., 235, 310, 315, 340, 349, 359, 363, 368 Wissenschaft als Arbeit, wissenschaftliche Arbeit (moderne Wissenschaft) s. Arbeit Wissenschaftlichkeit 58, 132 Wissenschaftsgeschichte, wissenschaftsgeschichtlich 83, 98, 111, 139, 165, 206 Wissenschaftskritik, wissenschaftskritisch 94 Wissenschaftslehre 75 Wissenschaftstheorie, wissenschaftstheoretisch 63, 82 Krise der Wissenschaft 77 Naturwissenschaft (Naturforschung), naturwissenschaftlich 59f., 88, 98, 143, 159ff., 160, 163f., 167, 168, 171, 179, 180, 181, 182, 184, 184, 188, 189, 189, 203, 235, 340

Wohlfahrt 13, 15, 16, 71, 160, 162, 164, 167, 171f., 189, 275, 339 Zeitgeschichte, zeitgeschichtlich 114 – zeitgeschichtliche Erfahrung 117, 309 – Zeitgeschichtsschreibung 120

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Wolfgang Hardtwig

Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland, 1500-1914 Ausgewählte Aufsätze „Im Zuge der Aktualisierung der Nationalismusforschung nach der weltpolitischen Wende 1989 legt der Autor zehn in den Jahren 1982-1992 entstandene Beiträge als Sammelband vor, die ihn als ungewöhnlich kompetenten und eigenständigen Experten ausweisen. Er zeigt sich ebenso vertraut mit alten Denkmustern klein- und großdeutscher Provenienz wie mit neuen, vielfach sozialgeschichtlichen Nationalismusinterpretationen. Hardtwig befasst sich mit Ulrich von Hutten und Frühformen des Nationalismus, dem Phänomen einer betont deutschen Ausrichtung der Aufklärung, den Anfängen der Burschenschaft, der disparaten Entwicklung des Nationalismus in einer breit gefassten Phase der Reichsgründung, der komplexen Ausformung des Nationalismus im Kaiserreich und schließlich dem janusköpfigen ,progressiven‘ Nationalismus eines Max Webers oder Friedrich Naumanns. Wenn künftig davon auszugehen ist, dass Hardtwigs Buch zur Pflichtlektüre für all diejenigen wird, die sich mit dem Nationalismus in Mitteleuropa befassen, so liegt dies vornehmlich an der historischen Tiefe seiner Ausführungen. Der Autor zeigt die dichte Verwurzelung auch des modernen Nationalismus gerade in Denk- und Verhaltensmustern, die zur Zeit der Wende vom 15. und 16. Jahrhundert aufblühten.“ Das Historisch-Politische Buch

Manfred Hettling / Stefan-Ludwig Hoffmann (Hg.)

Der bürgerliche Wertehimmel Innenansichten des 19. Jahrhunderts Werte spielen wieder eine Rolle – dies zeigen nicht zuletzt die Klagen über ihren Verlust. Dadurch erinnert sich die Öffentlichkeit auch wieder an die Tugendlehren des 18. und 19. Jahrhunderts. In der ständischen Gesellschaft wurden dem Einzelnen feste Werte und Verhaltensweisen zugewiesen, die religiös legitimiert wurden. Mit dem Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft zerbricht dieses Normengefüge. Es entstand ein neues Wertesystem, welches das Leben nicht mehr religiös, sondern innerweltlich, bürgerlich-zivil regelte. Dieser „bürgerliche Wertehimmel“ sollte die neue Ordnung moralisch begründen. Die bürgerlichen Werte wurden so selbst wieder überhöht und sakralisiert. Die Autoren des Bandes untersuchen verschiedene Werte wie Selbständigkeit, Freiheit, Liebe und Treue; sie fragen nach den Formen der individuellen Aneignung von Werten, aber auch nach den sozialen Bedingungen, unter denen sich diese Aneignungsprozesse vollzogen. Die historische Betrachtung von Werten macht tiefliegende Umbrüche im Bewusstsein einer Epoche sichtbar und zeigt, wie zeitgebunden und umkämpft Wertmaßstäbe sind.

Bürgertum Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte

Band 23: Michael Schäfer

Bürgertum Neue Folge

Bürgertum in der Krise

Studien zur Zivilgesellschaft

Städtische Mittelklassen in Edinburgh und Leipzig 1890 bis 1930 2003. 456 Seiten mit 10 Tabellen, kartoniert ISBN 3-525-35688-9

Band 2: Ulrike Gleixner

Pietismus und Bürgertum Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit

Band 22: Guido Hausmann (Hg.)

Gesellschaft als lokale Veranstaltung Selbstverwaltung, Assoziierung und Geselligkeit in den Städten des ausgehenden Zarenreiches 2002. 485 Seiten mit zahlreichen Tabellen und 2 Karten, kartoniert ISBN 3-525-35687-0

Band 21: Stefan Gorißen

Vom Handelshaus zum Unternehmen Sozialgeschichte der Firma Johann Caspar Harkort im Zeitalter der Protoindustrie (1720-1820) 2002. 456 Seiten mit 9 Abbildungen, 7 Graphiken und 10 Tabellen, kartoniert ISBN 3-525-35686-2

Band 20: Frank-Michael Kuhlemann

Bürgerlichkeit und Religion Zur Sozial- und Mentalitätsgeschichte der evangelischen Pfarrer in Baden 1860-1914 2001. 555 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-35685-4

2005. Ca. 512 Seiten, gebunden mit 30 Abbildungen ISBN 3-525-36841-0

Ulrike Gleixners Untersuchung zeigt an der Praxis des Pietismus im akademisch gebildeten Bürgertum Alt-Württembergs die Durchsetzung einer neuen und eigenen Kultur der »Spiritualisierung des Alltags«.

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Die Verbürgerlichung der deutschen Juden: eine beispiellose Erfolgsgeschichte.

Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 167: Uffa Jensen

161: Nikolaus Buschmann

Gebildete Doppelgänger

Einkreisung und Waffenbruderschaft

Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert 2005. Ca. 400 Seiten mit 3 Abbildungen, kartoniert ISBN 3-525-35148-8

Die öffentliche Deutung von Krieg und Nation in Deutschland 1850-1871 2003. 378 Seiten mit 11 Abbildungen, kartoniert ISBN 3-525-35142-9

165: Jürgen Schmidt

Begrenzte Spielräume

160: Christian Müller

Eine Beziehungsgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum am Beispiel Erfurts 1870–1914

Verbrechensbekämpfung im Anstaltsstaat

2005. 432 Seiten mit 23 Tabellen und 1 Karte, kartoniert ISBN 3-525-35147-X

164: Florian Cebulla

Rundfunk und ländliche Gesellschaft 1924–1945 2004. 358 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-35145-3

163: Philipp Heldmann

Herrschaft, Wirtschaft, Anoraks

Psychiatrie, Kriminologie und Strafrechtsform in Deutschland 2004. 337 Seiten mit 2 Abbildungen, kartoniert ISBN 3-525-35141-0

159: Anne Lipp

Meinungslenkung im Krieg Kriegserfahrungen deutscher Soldaten und ihre Deutung 1914-1918 2003. 354 Seiten mit 18 Abbildungen, kartoniert ISBN 3-525-35140-2

158: Sven Oliver Müller

Konsumpolitik in der DDR der Sechzigerjahre

Die Nation als Waffe und Vorstellung

2004. 336 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-35144-5

Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg

162: Gunilla-Friederike Budde

Frauen der Intelligenz Akademikerinnen in der DDR 1945 bis 1975 2003. 446 Seiten mit 17 Tabellen, kartoniert ISBN 3-525-35143-7

2002. 427 Seiten, kartoniert ISBN 3-525-35139-9