Laissez-faire-Pluralismus: Demokratie und Wirtschaft des gegenwärtigen Zeitalters [1 ed.] 9783428408849, 9783428008841


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German Pages 532 [547] Year 1966

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Laissez-faire-Pluralismus: Demokratie und Wirtschaft des gegenwärtigen Zeitalters [1 ed.]
 9783428408849, 9783428008841

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Laissez - faire - Pluralismus Demokratie und Wirtschaft des gegenwärtigen Zeitalters

Laissez - faire - Pluralismus Demokratie und Wirtschaft des gegenwärtigen Zeitalters

Unter Mitarbeit von

Bernd Bender, Cyril Zebot, H.-J. Rüstow

Herausgegeben von

Goetz Briefs

DUNCKER & HUMBLOT/BERLIN

Alle Rechte Vorbehalten © 1966 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1966 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany

„Every institution which grapples with the problem of molding recalcitrant material into a fairer shape — and nothing is more recalcitrant than the passions and interests of men — runs the risk of being defeated by its material. And since the institution which proposes the ideal is itself served by fallible human beings, the danger is not only that the experiment may fail but that the artists themselves, wrestling with such insiduous substances as power, responsibility, and mate­ rial goods, may themselves be caught by these powerful instincts, may appropriate to themselves the power they sought to tame or the riches they had hoped to divert to a nobler cause.“ Barbara Ward (Faith and Freedom, New York 1958, S. 104)

Inhaltsübersicht Staat und Wirtschaft im Zeitalter der Interessenverbände Von Prof. Dr. Drs. h. c. Goetz Briefs, Georgetown University, Washington und Technische Universität, Berlin ................................

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Rechtsstaat und Sozialstaat. Zur Dialektik des heutigen Verfassungs­ staats Von Dr. Bernd Bender, Rechtsanwalt am Oberlandesgericht Freiburg 319

Inflationskräfte in pluralistischen Marktwirtschaften Von Prof. Dr. Cyril Zebot, Georgetown University, Washington ....... 383 Die Entwicklung der Lohn- und Gewinnquote in der Industriegesellschaft Von Prof. Dr. Hanns-Joachim Rüstow, Universität Erlangen-Nürn­ berg ....................................................................................................... 455

Vorwort Der Titel dieses Buches ist sein Thema. Wenn die Flagge die Ladung deckt, dann bleibt dem Vorwort nur die Deklaration der Ladung. Die Bezeichnung Laissez-faire wird herkömmlich für jene Phase des liberalen Kapitalismus verwandt, in welcher individuelle Marktagenten in Verfolgung ihrer Interessen und in Wettbewerb miteinander Preise und Einkommen bildeten. Begriff und Ära des Laissez-faire haben seit­ dem einen schlechten Ruf; nicht nur, was nicht weiter verwunderlich ist, bei Sozialisten, sondern selbst bei Neo-Liberalen, wenn auch mit Unterschieden in Nachdruck und Vorbehalt.

Angesichts dieser Sachlage erscheint es als ein gewagtes Unter­ nehmen, wenn dieses Buch die These vertritt, die Gesellschaft von heute konstituiere sich nach den Grundsätzen des Laissez-faire und verfahre dementsprechend. Anders ausgedrückt: sie sei in ihrer Kon­ zeption wie in ihrer Praxis eine neue Version des klassischen Liberalis­ mus und Individualismus. Wer diese Anschauung vertritt, hat die Beweislast. Es scheint so offensichtlich, daß da irgend etwas nicht stimmt. Kein Geringerer als Prof. Maritain protestierte lebhaft, als ich ihm vor Jahren die These auseinandersetzte. Erst als er das Manuskript meines Aufsatzes (The Roots of Totdlism. In: Thought. New York März 1944) gelesen hatte, war er völlig einverstanden. Daß eine entscheidende Wandlung seit der Höhe des 19. Jahrhunderts bis zum Scheitelpunkt des zwanzigsten vorliegt, ist mit Händen zu greifen und hat größte Aufmerksamkeit in der wirtschaftlichen und politischen Literatur gefunden. Die Wirklichkeit der „Gesellschaft des Überflusses“ und des Wohlfahrtsstaates spricht allzu laut gegen die Annahme, sie sei das Analogon zum Laissez-faire Liberalismus. Ist nicht die Gesellschaft der westlichen Demokratien heute die klare Antithese zur liberalen Gesellschaft des Neunzehnten? Damit wäre ein dialek­ tisches Verhältnis zwischen beiden zugegeben; die frühere Phase des Liberalismus wäre in der Antithese aufgehoben. Man hat nicht umsonst seinen Hegel und Marx gelesen und den Hegel in Marx entdeckt. Die alternative Annahme wäre die, daß zwischen dem klassischen und dem zeitgenössischen Laissez-faire keinerlei Beziehung und Verbindung be­ stehe. Die Gesellschaft des Überflusses wäre demnach völlig eigener Art; wie Pallas Athene dem Haupte des olympischen Zeus entsprang,

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Vorwort

so sei sie durchaus ein novum. Aber gegen solche nova spricht die Er­ fahrung, daß die Geschichte ein Kontinuum ist, wie L. v. Ranke es ausdrückt. Wenn die Dinge so stehen, dann scheiden beide Einwürfe aus, der von der Dialektik wie der von der Beziehungslosigkeit. Was bleibt übrig? Eine von den prägnanten, die Dinge ins Herz tref­ fenden Bemerkungen Schumpeters ist diese, daß nach dem Rückzug des Christentums säkulare Weltanschauungen „wie herrenlose Hunde“ in das Vakuum einrückten. Die beiden neuen Weltanschauungen, die Schumpeter im Auge hatte, identifizierte er als Liberalismus und Sozia­ lismus. Nach Fedor Stepun sind sie „metaphysische Milchbrüder“. Beide Weltanschauungen zehrten von derselben Substanz, von der religiösen und kulturellen Tradition der westlichen Welt. Jede von ihnen zielte auf das „Heil“, auf die „Emanzipation“ der Menschheit von den Fesseln der Vergangenheit; jede von ihnen auf ihre Weise und gemäß ihrer ideologischen Prägung und soziologischen Fundierung. In jeder von beiden lebte der Einschlag der Gnosis, wie Eric Vögelin mit Recht be­ merkt. Wegen ihres Erbes, das sie aus der Säkularisierung des abend­ ländischen Geistes mitnahmen, verfielen sie der Nemesis ihrer eigenen Säkularisierung, nämlich, wie Max Weber es ausdrückt, der Entzaube­ rung. Als Weltanschauung suchte der klassische Liberalismus wie der ent­ sprechende Marx’sche Sozialismus das Heil in den Dimensionen von Raum und Zeit des Menschen. So wird Raum und Zeit zur Fatalität für beide, weil Raum und Zeit des Menschen und der Menschheit be­ grenzt und knapp sind. Menschen und Dinge „stoßen sich hart im Raum“, hart auch in der Zeit; vor allem dann, wenn keine dritte Dimen­ sion für Mensch und Gesellschaft den Horizont der Transzendenz offen läßt.

Wo liegt der Herd der Entzauberung? Allgemein gesprochen in der Begegnung dieser säkulären Weltanschauungen mit der Wahrheit der Dinge von Mensch, Gesellschaft und Wirtschaft. Die philosophische Anthropologie beider Weltanschauungen stimmte nicht. Es stimmte auch nicht, daß der Staat kein Treuhänder des Gemeinwohls sei. Am wenigsten stimmte es, daß Gerechtigkeit keine Ordnungs- und Frie­ densregelung gesellschaftlicher Beziehungen sei. Es erwies sich als eine Fiktion, daß der Marktmechanismus oder der historische Prozeß die Gerechtigkeit funktionslos mache. An dem vielleicht noch so dumpfen Gefühl erlittener Ungerechtig­ keit entzündete sich die soziale Unruhe des 19. Jahrhunderts. Sie konnte in der Revolte und im Sklavenaufstand stecken bleiben; dann war sie kurzlebig. Sie konnte Formen, Strukturen und Funktionen entwickeln, die lebensfähig waren. Es dauerte Jahrzehnte, bis die entsprechenden erfolgreichen Formen und Strukturen gefunden wurden. Waren sie

Vorwort

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einmal da, dann kristallisierte sich aus der sozialen Unruhe die soziale Bewegung. Welches waren die schließlich bewährten Formen und Strukturen? Es mußte zunächst eine identische Notlage vorliegen, die nicht aus der Natur der Dinge stammte, sondern aus gesellschaftlichen Ursachen. Eine Deutung dieser Notlage und der Nachweis eines zweck­ mäßigen, gemeinsamen Vorgehens erforderte Führung; sie mußte iden­ tische Interessen innervieren, damit Organisation zustande kommen kann.

Das Ziel der Organisation war Gerechtigkeit. Aber es war die Ge­ rechtigkeit „für uns“. Nach Lage der Dinge, in Abwesenheit gesell­ schaftlich bestimmter Normen und Regeln, konnte die Gerechtigkeit keine andere als die „für uns“ sein. Das aber hieß, daß sie nach den Umständen und Bedingungen „unserer Lebenslage von uns“ definiert werde. Die Erfahrung lehrte bald, daß man sich innerhalb der Voraus­ setzungen und Gegebenheiten der bestehenden Ordnung einrichten müsse, und die Ordnung war die des liberalen Kapitalismus. Das aber bedeutete: das Lebensgesetz der um ihre Gerechtigkeit ringenden Or­ ganisationen hatte nach den Grundsätzen und Verfahren der liberalen und individualistischen Marktgesellschaft das jeweils mögliche Maß der Gerechtigkeit „für uns“ zu realisieren. Der Verband, ob Handwer­ kerbund, Gewerkschaft, landwirtschaftliche Verkaufsorganisationen oder Kartelle, adoptierte die Prinzipien des Liberalismus und Indivi­ dualismus, indem er sie zu Verhaltungs- und Verfahrensregeln seinerselbst machte. In der Terminologie der Wirtschaftstheorie: sie suchten die nach dem Grenznutzenprinzip entstehenden marktmäßigen Preise und Einkommen durch das Prinzip verbundener Nachfrage oder ver­ bundenen Angebots zu ersetzen. Einmal gefunden und mehr oder weniger bewährt, drängt das Prin­ zip der Preise und Einkommen regulierenden Verbände von der Peri­ pherie in das Zentrum der Gesellschaft vor. Politisch und wirtschaftlich formiert sich dabei die pluralistische Gesellschaft aus Verbänden, von denen jeder die Gerechtigkeit für sich zur Leitlinie hat. Die Verbands­ autonomie in Fragen der Preisbildung, der Löhne usw. ist der Ausdruck des Laissez-faire analog dem Laissez-faire des liberalen 19. Jahrhunderts.

Aber wie steht es um die vom klassischen Liberalismus vertretene Nichtintervention des Staates? Sie hat doch sicher keine Parallele im Laissez-faire Pluralismus, denn in ihm floriert der Staatseingriff wie nie zuvor und vermehren sich seine Bürokratien in Parthenogenese. Aber hier trügt, wie so oft, der Schein. Das pluralistische Laissez-faire hat am demokratischen Prozeß einen gewichtigen Hebel für die Ausein­ andersetzung zwischen den Verbänden um die jeweilige Gerechtigkeit „für uns“. Damit ist der demokratische Staat von heute kaum mehr ein pouvoir neutre; nach dem Urteil mancher Autoren könnte man beinahe

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Vorwort

die Staatsgewalt als pouvoir dirige, nämlich von machtvollen Verbän­ den dirigiert, bezeichnen. Überspitzt gesagt, die pluralistische Gesell­ schaft hat ihn weithin mediatisiert. Allerdings als Fiskalstaat hat er eine Souveränität zurückgewonnen, die er lange nicht mehr besaß. Die nach Gerechtigkeit „für uns“ fragmentierte Gesellschaft ist der problematische Sachverhalt, der alle westlichen Demokratien plagt. Er begegnet Schwierigkeiten nach der Seite wirtschaftlich rationaler Preisund Einkommensbildung, in Hinsicht auf Währungsstabilität und Voll­ beschäftigung; in der politischen Sphäre in dem Kampf um die Macht­ hebel in Regierung, Verwaltung und sogar Rechtspflege. Alle diese Fraglichkeiten haben ihren Widerhall in den Beziehungen der west­ lichen Demokratien nach Außen. Im tiefsten Grunde ist das Problem das der klaren Kontur von Staat und Gesellschaft. Man kann sich, hegelisch oder positivistisch, damit abfinden, daß das Seiende vernünftig oder das Faktische normativ sei. Aber wenn das Vernünftige zur Vernünftigkeit „für uns“ geworden ist und wenn Fak­ ten normativ sind, feiert der Pragmatismus seine Triumphe. Genau das ist der Fall. Die Begegnung der dritten Phase des Liberalismus, also des pluralistischen Laissez-faire, mit der dritten Phase der Demokratie, also der Demokratie der reinen politischen Zweckmäßigkeit, ist der Kern der gewaltigen Problematik in der westlichen Welt. Die Summe der Lösungsentwürfe, von denen einige im ersten Beitrag dieses Bandes behandelt werden, ist ein Gradmesser für die erkannte Dringlichkeit des Problems. Der vorliegende Band beschäftigt sich ferner mit einigen besonders dringenden Teilfragen, die der Laissez-faire Pluralismus aufwirft. Aus grundsätzlichen Erwägungen dürfte die Spannung zwischen Rechts­ staat und Sozialstaat Vorrang beanspruchen. Dr. Bernd Bender hat auf diesem Gebiete mehrfach publiziert; dankenswerterweise hat er dieses Referat übernommen. Prof. Zebot veröffentlichte vor einigen Jahren einen Aufsatz über Inflation im Weltwirtschaftlichen Archiv; sein Buch über Competitive Coexistence (Praeger Verlag, New York 1965) kommt auf das gleiche Problem in internationaler Sicht zurück. Sein Beitrag in diesem Bande betrifft die Beziehung zwischen Pluralismus und In­ flation. Die Frage der stabilen Quoten, vor allem der relativ stabilen Lohnquote, behandelte Professor Solterer in einem Sonderbeitrag (Duncker und Humblot, 1965) mit dem Nachdruck auf statistische Unter­ suchung. Prof. H. J. Rüstow behandelt im vorliegenden Bande den gleichen Problemkreis in einer scharfsinnigen theoretischen Analyse. Der Leser wird finden, daß der erste Beitrag in starkem Umfang aus­ ländische Quellen und Erfahrungen zu Rate zieht. Das hat seinen Grund nicht nur in der langjährigen Vertrautheit des Verfassers mit den Ver­ hältnissen fremder Nationen; er ist der Meinung, daß gerade auslän­

Vorwort

XIII

dische Entwicklungen und Erfahrungen auch sonst wertvoll sind; im Übrigen gilt der Satz: de te fabula narratur. Parallel zum Hellenismus der Antike gibt es heute eine zivilisatorische Atlantische Dünung, einen „Atlantismus“, der, in der Hauptsache von Nordamerika ausstrahlend, die ganze Ökumene bis in die Interna selbst des Kommunismus in sei­ nen Bann zwingt.

Der Herausgeber ist sich bewußt, nur einen Teil des gesamten Pro­ blemkomplexes angegriffen zu haben. Die ursprünglich geplante, um­ fassendere Untersuchung erwies sich aus personalen wie zeitlichen Gründen nicht durchführbar. Der Herausgeber legt Wert darauf, fest­ zustellen, daß die Mitarbeiter an diesem Gesamtwerk volle Freiheit ihrer wissenschaftlichen Überzeugungen besaßen. Herausgeber und Mitarbeiter sind der Fritz-Thys sen-Stiftung zu aufrichtigem Dank verpflichtet. Ihre generöse Unterstützung war eine wertvolle Hilfe. Unnötig zu sagen, daß die Stiftung grundsätzlich kei­ nerlei Einfluß, weder direkt noch indirekt, auf die von ihr geförderten Studien nimmt.

Ein Dankeswort an Privatdozent Dr. Hans H. Lechner für die liebens­ würdige Bereitwilligkeit, das Manuskript durchzusehen und das Regi­ ster zu besorgen; an Prof. Ludwig Hamburger, der vielerlei Anregun­ gen gab und Überschriften für die Untergliederung entwarf; an Wolf­ gang Wagner für wertvolle Hilfe bei den Korrekturen; an Fräulein Christa von Bomhard, die treulich als Sekretärin tätig war. Zwei Ver­ pflichtungen seien nicht zuletzt erwähnt: die an meine Frau Elinor für ihre unendliche Geduld und Ermutigung, und die an den Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, meinen alten Schüler und Freund, Ministerialrat a. D. Dr. Johannes Broermann.

Das Manuskript wurde Ende Juli 1966 abgeschlossen. Goetz Briefs

Staat und Wirtschaft im Zeitalter der Interessenverbände Von Prof. Dr. Drs. h. c. Goetz Briefs

Inhaltsverzeichnis Erstes Kapitel Vom klassischen Liberalismus zur Verbandsstruktur der Gesellschaft (Pluralismus) I. Die Verbände des Pluralismus ........................................................... a) Das Wesen des Verbandes............................................................... b) Der Begriff des Pluralismus .......................................................... c) „Wahrer“ und „falscher“ Pluralismus .......................................... d) Die doppelte Front des Pluralismus der Gegenwart................... e) Die Merkmale des Pluralismus der Gegenwart ...........................

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II. Der Pluralismus als Phase des Liberalismus.................................... a) Klassischer Liberalismus und Pluralismus der Gegenwart .......... b) Das reale ökonomische Substrat des Liberalismus...................... c) Die individualistische Komponente des Liberalismus ................. d) Zwei Versionen des Liberalismus ................................................. e) Liberalismus und individuelle Entscheidung................................ f) Die Dialektik des individualistischen Ethos ................................

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III. Die Entwicklung zum Liberalismus der zweiten Phase ................... a) Der Liberalismus der Teil-Kollektive.......................................... b) Die Übernahme liberal-individualistischer Grundsätze durch die Verbände ........................................................................................ c) Der Verband wird zur Institution................................................. d) Der Verband als Quasi-Person der liberalen Ordnung ...............

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37 39 41

IV. Pluralismus als Strukturprinzip der Gesellschaft............................. 42 a) Quasi-öffentliche Position des Verbandes .................................... 43 b) Grenzen der Verbandsambitionen................................................. 45 c) Privilegierte Verbände .................................................................. 46 d) Verband, Demokratie und Wirtschaftsgesetz ................................ 48

Zweites Kapitel Die Metamorphose der Demokratie im vollendeten Pluralismus I. Pluralismus und Gesellschaftliche Integration ................................ a) Wechselseitiger Ausgleich von Verbandsinteressen? ................... b) Konstituierung der Gesellschaft in Verbänden? .........................

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Inhaltsverzeichnis

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Repräsentation der Gesellschaft durch Verbände? ...................... Die Verbände Faktoren gesellschaftlicher Gerechtigkeit? .......... Die Verbände Instrumente des Gemeinwohls? ............................. Wer ist schuld? Der Staatsbürger? .............................................. Desintegrierung der Gesellschaft durch die Verbände? ............

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II. Pluralismus und Gesellschaftliches Ethos ....................................... a) Die Durchschnittsmoral unter Verbandsdruck ............................. b) Die individuelle Freiheit unter Verbandsdruck ........................... c) Die Vernunft unter Verbandsdruck ..............................................

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III. Pluralismus ohne Hemmungen .......................................................... a) Solidarität antagonistischer Gruppen? ......................................... b) Favorisierung durch Gesetzgebung und Exekutive...................... c) Von der Demokratie zum Demokratismus .................................... d) Imperialismus des Gesellschaftlichen ..........................................

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IV. Pluralismus und Staatsautorität........................................................ a) Polyzentrie der Macht.................................................................... b) Politischer Pluralismus .................................................................. c) Die Spannung zwischen Wohlfahrtsstaat und Hoheitsstaat............ d) Problematische Sachlage ...............................................................

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c) d) e) f) g)

Drittes Kapitel Die wirtschaftlichen Rückwirkungen des Laissez-faire-Pluralismus I. Pluralismus und Preisbildung ........................................................... a) Verbandsaktion als Faktor der Inflation....................................... b) Dikretionäre Preise und Inflation ................................................. c) Oligopol und Inflation .................................................................. d) Kapitalgewinne und Inflation ........................................................ e) Lohnpolitik und Inflation ............................................................. f) Das Einschrumpfen der Marktfunktion .......................................

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II. Pluralismus und Geldpolitik ............................................................... 119 a) „Gewerkschaftswährung“? ............................................................. 120 b) Verbandsaktion und Kreditvolumen ............................................ 122 III. Pluralismus und Produktivitätswachstum ....................................... 123

IV. Pluralismus und Verbandsbeziehungen .............................................. 132 a) Der Verband und seine Mitglieder ............................................... 132 b) Privilegierte und unterprivilegierte Verbände............................. 133 V. Wohin treibt der Pluralismus? ........................................................... 134 a) Flexibilität der Faktorkosten nur nach oben (Sperrklinke)........ 135 b) Lohnrunden ohne Ende? ................................................................ 136

Inhaltsverzeichnis

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Viertes Kapitel Entwürfe zur Lösung des pluralistischen Laissez-faire-Problems

1. Standortsbestimmung ......................................................................... 138 II. Anti-Pluralistische Kräfte ................................................................ 141

III. Kontrolle pluralistischer Kräfte ........................................................ 143 A. Nationale Lohn- und Preispolitik...................................................... a) Amtliche Kontrolle. Das Beispiel der Niederlande...................... 1. Auflockerung der amtlichen Kontrolle.................................... 2. Die Kontrolle wird subsidiär ................................................... b) Konsultative Kommissionen: der Fall Schweden ........................ 1. Vorbedingungen erfolgreicher Kontrolle ................................ 2. Kontrolle der Kapitalgewinne................................................. 3. Zusammenwirken der Gruppen ..............................................

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c) Leitlinien. Der Fall Großbritannien .............................................. 153 1. Die Nationale Einkommenskommission.................................... 154 2. Die Gewerkschaften versagen Mitarbeit ................................ 154 3. Die Kommission enttäuscht ..................................................... 155 4. Die Arbeiterpartei wird mit dem Problem konfrontiert........ 156 5. Die Regierung bringt Gewerkschaften und Arbeitgeber in eine neue Kommission zusammen ............................................ 157 6. Von der Konsultation zum gesetzlichen Zwang? ................... 158 7. Übergang zur nationalen Planung.......................................... 161 d) Leitlinien. Der Fall der Vereinigten Staaten................................ 177 1. Augenschein der Preisstabilität .............................................. 178 2. Täuschende Faktoren ............................................................... 180 3. Mißachtung der Leitlinien bei günstiger Konjunktur............ 181 IV. Rückblick und Ausblick ..................................................................... a) Gruppeninteresse und Gesamtwohl .............................................. b) Schwächen der Leitlinien-Politik ................................................. c) Anpassung von Löhnen und Preisen an die Produktivität? ....... d) Gefordert: eine neue Philosophie der Verbände.........................

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B. Kontrolle über Pluralistische Mächte ................................................ 193 a) Zentrale statt verbandsautonomer Lohnpolitik............................. 194 b) Gibt es eine ,Natur* der Verbände? .............................................. 199 C. Die Planung gemäß dem französischen Konzept ............................. a) Vom „Produkt der Technokraten“ zur „Sache aller Franzosen“ .. b) Zwischen Laissez-faire-Pluralismus und technokratischer Planung c) Die Verbände im Planentwurf ohne Planverantwortung............ d) Das Parlament entscheidet quodam modo, aber plant nicht........ e) Der Plan in seiner historischen Dialektik .................................... f) Einkommensplanung als Ergänzung zur Produktionsplanung ...

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Inhaltsverzeichnis

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g) Verbände und Einkommensplanung.............................................. 228 h) Die Vorbereitung des 5. Planes und die Diskussion über das Planen ............................................................................................. 230 i) Frankreichs 5. Plan ...................................................................... 235 D. Die Aussichten der Lösungsentwürfe............................................... 243

Fünftes Kapitel Logik und Dialektik des Laissez-faire-Pluralismus

I. Die Logik des Pluralismus. Die Überhäufung des Staates mit staatsfremden Aufgaben ................................................................ 245 a) Der Januskopf des Wohlfahrtsstaates .......................................... 247 b) Kollektive Moral mediatisiert die Individualmoral...................... 249 c) Das neue Ethos des Sozialen ........................................................ 251 d) Ist das Soziale als Invariable des Wirtschaftssystems denkbar? .. 252 e) Das Soziale als Kategorie sui generis .......................................... 255 f) Das Soziale als dominantes Ethos ............................................... 257 II. Von der Logik des Pluralismus zu seiner Dialektik. Der Fall Schweden......................................................................... 258 a) Eindeutige Herrschaft und Verantwortung ................................ 258 b) Ein Sonderfall a-typischen Maßhaltens? .................................... 262

III. Grenzen des Pluralismus .................................................................... 263

Sechstes Kapitel Von der freien Wildbahn in die Sackgasse?

Prosperität und Laissez-faire-Pluralismus ........ Globale Inflation? Wenn, wo liegt ihr Herd? ............................. Demokratie ohne Interessenverbände? ....................................... Die Aufhebung des Laissez-faire ................................................. Consensus als Grundsatz der Integration?................................... Die politische Entscheidung .......................................................... Die Revision des Gesetzes des Antritts der Verbände............... 1. Revision der Verbandstradition .............................................. 2. Die Revision der Verbandsfunktion ....................................... 3. Die Revision obsoleter Strukturen ......................................... h) Permanente Hochkonjunktur? ...................................................... i) Epilog............................................................................................... a) b) c) d) e) f) g)

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Erstes Kapitel

Vom klassischen Liberalismus zur Verbandsstruktur der Gesellschaft (Pluralismus) I. Die Verbände des Pluralismus Die pluralistische Gesellschaft von heute stellt sich als eine Vielheit von Verbänden dar: Einungen von Individuen oder Gruppen nach Maßgabe eines jeweiligen Interesses. Das Motiv der Einung, das Inter­ esse, kann real identisch sein; so haben etwa Kartelle, Bauernverbände und Gewerkschaften der ersten Anfänge ihre Solidarität in sozialen Mißständen, in der „Ungerechtigkeit des Marktes“ gesehen — Miß­ stände, gegen die der einzelne ohnmächtig war, die er aber im Bunde mit seinesgleichen zu beseitigen trachtete. In solchen Fällen kam die Einung aus der von der Gruppe gemeinsam empfundenen realen Not­ lage. Oder aber: Interessen werden als identisch unterstellt, während sie es in Wirklichkeit vielleicht nicht sind. Ein landwirtschaftlicher Inter essenverband mag Viehhaltung und Getreidebauern umfassen, deren Interessen konträr sein mögen und immer wieder irgendwie ausgehandelt werden müssen; ein Zweig der Arbeiterbewegung in U. S. A., The Knights of Labor, warf gelernte und ungelernte Arbeit mit Geistlichen, Ärzten usw. in einen Organisationstopf zusammen; Industrieverbände unterstellen gelegentlich Interessengemeinschaft mit landwirtschaftlichen Verbänden, wenn es sich etwa um Fragen des Schutzzolles oder des Kreditvolumens handelt, obwohl in Wirklichkeit die Interessen beider widerspruchsvoll sein mögen. Schließlich: Interessen können ideologisch als identisch hingestellt werden. Der Kardinalfall ist hier die Marxsche These von der Solida­ rität des internationalen Proletariats, parallel zur Solidarität des inter­ nationalen Kapitals. Wirtschaftliche Interessen sind nur ein, wenn auch gewichtiger Son­ derfall von Interessen. Interessen überhaupt weisen ein fast unbe­ grenztes Spektrum auf; daher ist es geboten, aus der Unzahl möglicher Interessen und entsprechender Verbände jene zu besondern, die für unsere Untersuchung wichtig sind. Es sind jene, deren Zweckbestim­ mung sich um das marktwirtschaftliche System, um die freie Unter­ nehmungswirtschaft, also um den Kapitalismus und seine Institutionen dreht.

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Briefs, Staat und Wirtschaft im Zeitalter der Interessenverbände

Wir unterscheiden: 1. Verbände, die grundsätzlich die Marktwirtschaft, das liberal-kapi­ talistische System, durch ein Gegensystem ersetzen wollen, das sich in aller Regel als gesellschaftswirtschaftliches System präsentiert, als kommunistisch, sozialistisch, syndikalistisch, gildensozialistisch usw.

2. Verbände, die innerhalb des bestehenden Systems durch Regulie­ rung von Angebot und Nachfrage, von Kosten und Preisen, von den Bedingungen des Kaufens und Verkaufens in je ihrem Sektor von ihnen definierte Interessen vertreten. Innerhalb des bestehenden Systems bedeutet, daß sie die Dynamik und den Rhythmus des Systems als ge­ geben hinnehmen. Verbände dieser Art sind abhängige Variable im doppelten Sinn, abhängig vom Wirtschaftssystem und von seinem Prozeß. 3. Verbände, die, ohne das System verwerfen oder ersetzen zu wollen, durch wirtschaftliche oder politische Macht oder durch beides zusammen, Mitbestimmung über den Prozeß der Wirtschaft erstreben. Innerhalb des Systems heißt hier, daß sie seine Dynamik und seinen Rhythmus in Kontrolle nehmen wollen und mehr oder weniger zu nehmen imstande sind. Verbände dieser Art sind relativ unabhängige Variable im System; relativ unabhängig insofern sie grundsätzlich nicht das System selber aufheben wollen — aus verschiedenen Gründen, auch dem, weil sie sich damit aufheben würden. Ihre Politik als unabhängige Variable findet demnach ihre Grenze an den Bedingungen und Voraussetzungen einer funktionierenden Unternehmungswirtschaft, eines operablen Sy­ stems freier Unternehmungen. 4. Verbände, deren primäre Zweckbestimmung jenseits des Marktes und wirtschaftlicher Interessen liegt; die also Zwecke der gegenseitigen Hilfe, der kulturellen, professionellen Bildung usw. im Auge haben. Solche Zwecke weisen häufig, wenn nicht in aller Regel, auch eine wirtschaftliche Seite auf. Sie kann intern geregelt werden, oder über den Markt, oder über die öffentliche Ausgaben Wirtschaft. In jedem Falle ist sie nicht primär; ihr wirtschaftlicher Aspekt ist nur Mittel zum Zweck. a) Das Wesen des Verbandes Es war die Rede von Verbänden. Was ist damit gemeint? Welcher Art sind sie, soziologisch gesprochen? Die hier in Frage stehenden Verbände können nicht als Personalgemeinschaften oder als Lebens­ gemeinschaften angesprochen werden. Soweit Verbände aus einer von der Gruppe zutiefst empfundenen gemeinsamen Geisteshaltung oder Lebensnotlage entspringen, haben sie Neigung, das Pathos und Ethos der Lebensgemeinschaft zu entwickeln; daran entzündete sich die

I. Kap.: Vom klassischen Liberalismus zur Verbandsstruktur

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soziale Bewegung des 19. Jahrhunderts. Das gilt für die frühen Kon­ sumvereine, Gewerkschaften und Bauernverbände. Bei Kartellen und Verbänden zur Wahrung wirtschaftlicher Interessen von Industrie und Landwirtschaft, Handel und Gewerbe ist in aller Regel kein Einschlag des Lebensgemeinschaftlichen zu vermuten; hier ist und bleibt die Solidarität ad hoc, bezogen auf, und begrenzt durch, den Zweck des Verbandes. Im Laufe der Zeit nimmt die Solidarität auch bei Gewerk­ schaften und Bauernverbänden den bloßen ad hoc Charakter an; im Vorgang der Institutionalisierung des Verbandes wird sie zunehmend formalisiert: vom Verbände aus gesehen wird sie unterstellt; vom Mitglied aus gesehen „ist man dabei“ oder „muß man dabei sein“. Unser Gegenstand, der typische Verband von heute, ist keine Lebens­ gemeinschaft; die Mitgliedschaft deckt nicht Personen in der Fülle ihrer Personalität, sondern Individuen, die mit anderen Individuen ein um­ schriebenes Gruppeninteresse durch Organisation vertreten und durch­ zusetzen beabsichtigen. Das Außenverhältnis dieser Verbände zeigt das Ethos der Fremdmoral, wie es unter gegenseitig Fremden üblich ist; in Zeiten der Spannung und scharfer Gegensätze wird es zur Feind­ moral. Die Form des Sichvertragens bei Fremdmoral ist der Vertrag; die Methodik des Sichvertragens, die zum Vertrage führt oder führen kann, ist das Verhandeln, das Aushandeln für den Ausgleich, notfalls der Kampf als Weg zum Sichvertragen und zum Vertrag.

Die Gesamtheit dieser Verbände stellt die pluralistische Gesellschaft von heute dar. Die für unsere Untersuchung primär infrage stehenden Verbände sind die unter 2. und 3. genannten. Sie, nicht der Kegelklub, der Sportverein, der Imkerverband oder das Rote Kreuz sind gemeint, wenn landläufig von Interessenorganisationen die Rede ist; ein spezifi­ sches Interesse, nämlich jenes, das um Einkommen, Kosten und Preise, Geld- und Kreditvolumen, Angebot und Nachfrage, Sparen und Inve­ stieren kreist, ist ihr Daseinsgrund und deckt ihren Aufgabenkreis. Parallel zu dem wirtschaftlichen im engen Sinn des Wortes verläuft das soziale Interesse, soweit die Sicherheit der Existenz der Gruppen, die persönliche und gruppenweise Selbstachtung, der gesellschaftliche Rang, kurz: Status an wirtschaftliche Voraussetzungen gebunden ist. Andererseits: Da in den westlichen Gesellschaften von heute die wirt­ schaftlichen Interessen, vertreten durch Verbände, das politische Mittel in zunehmendem Maße ansetzen, auch insofern als sie ursprünglich mögliche Aufgaben und Verantwortungen ihrer selbst auf den Staat abwälzen oder dafür den Staat zu Hilfe rufen, gewinnen die Verbände zwar freiere Hand für ihre im engeren Sinn wirtschaftlichen Interessen dem Marktpartner gegenüber, aber eine Fülle von im Raum der Wirt­ schaft anfallenden und zunächst dort zu lösenden verbands-sozialen Aufgaben und Verantwortungen wird dem Staate zugeschoben. Dadurch

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Briefs, Staat und Wirtschaft im Zeitalter der Interessenverbände

löst sich die enge Koppelung zwischen verbandswirtschaftlichen und verbandssozialen Aufgaben: das ,Soziale* wird zu einer eigenständigen Kategorie, ohne daß es möglich wäre, sie genau zu definieren. b) Der Begriff des Pluralismus

Das Wort Pluralismus erscheint zunächst als ein überflüssiges Fremd­ wort für das deutsche „Mehrheit“ oder „Vielheit“; aber niemand würde es einfallen, den Sand am Meere oder eine Kompanie von Soldaten als pluralistisch zu bezeichnen bloß weil sie schlechthin viele sind. Die Bezeichnung deutet darauf hin, daß eine Vielheit besonderer Art den technischen Begriff herausfordert. Noch ein weiteres ist zu bemerken: Die Endung ,ismus‘ deutet in aller Regel auf einen Gegensatz hin. Viel­ heit setzt sich als Pluralismus ab von einem Gegenbegriff, der einen nicht-pluralistischen Sachverhalt meint, d. h. einen individuellen. Dieser nun kann wieder in zwei Weisen auftreten; er kann einzelne Personen betreffen oder sich auf Kollektive als Individuen beziehen. Hier liegt die Alternative: Der Pluralismus kann seine Front gegen eine Gesell­ schaft beziehen, die grundsätzlich aus Individuen besteht, oder gegen eine Gesellschaft, in der Kollektive die Individuen zu Epiphänomenen der „wahren“ Realität, eben irgendeines Kollektivs, reduzieren. Wäh­ rend der Pluralismus z. B. religiöser Sekten vom 16. bis 18. Jahrhundert die Ansprüche der universalen Kirche oder von Staatskirchen ab­ wehrte, hat der Pluralismus der westlichen Gesellschaft von heute seine Front1 gegen den Individualismus des 19. Jahrhunderts2. Im einen Falle waren plurale Gebilde gegen den absoluten Anspruch von Staats­ kirchen zu verteidigen, im anderen Falle gegen die individualistische Gesellschaftslehre und Praxis. So wird die Front des Pluralismus, sein intentionaler Sinn, erst im historischen Kontext feststellbar.

Es herrscht Übereinstimmung darüber, daß alle menschlichen Gesell­ schaften auf irgendeine Weise pluralistisch sind; das gilt selbst für den totalen Staat irgendwelcher Artung. Der Grund liegt darin, daß der Mensch unter keinen gesellschaftlichen Verhältnissen zum Material eines Monolithen wird. Damit ist der Sozial-Absolutismus ausgeschlos­ sen; keine Gesellschaft ist eine absolute Einheit. Ebenso ausgeschlossen ist der absolute Individualismus; der Mensch ist wesenhaft Person in 1 Doch übersehe man nicht das Aufkommen einer neuen Front, nämlich der gegen den Zentralismus des modernen Wohlfahrtsstaates. Der „neue“ Kon­ servatismus wendet sich gegen die Macht der Verbände, insofern sie dem Staate immer mehr Zuständigkeiten einräumen oder zuschieben. 2 Wenn wir vom 19. Jahrhundert sprechen, denken wir nicht an die chro­ nologische Bestimmtheit; im wirtschaftlichen, sozialen und politischen Sinne reichte das 19. Jahrhundert für Westeuropa bis 1914, für die Vereinigten Staa­ ten bis 1933, dem „New Deal“.

I. Kap.: Vom klassischen Liberalismus zur Verbandsstruktur

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einer personalen Umwelt. Sein Personsein kann durch Sozialinstitutio­ nen überdeckt sein, eventuell bis zum Punkte der Absorption in kol­ lektive Strukturen; das schließt aber nie aus, daß der Protest und die Revolte zu irgendeinem Zeitpunkt offen ausbrechen. Sozial-Absolutismus (Totalismus) und Individual-Absolutismus (etwa im Sinne von Stirners Der Einzige und sein Eigentum 1844) sind theoretische Abstraktio­ nen, denen keine Wirklichkeit in aller geschichtlichen Erfahrung und nach aller philosophischen Anthropologie entspricht. Alle empirischen Gesellschaftsordnungen liegen zwischen beiden theoretischen Grenzfäl­ len; Pluralismus irgendeiner Art ist ihnen allen eigen. Der Pluralismus der Gegenwart steht im historischen Kontext des politischen und wirtschaftlichen Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Mit dem anhebenden 20. Jahrhundert (im hier gemeinten Sinn) kommt er real zur Entfaltung und begrifflich zur Klärung. Der Leipziger Historiker Karl Lamprecht, der die Neuzeit als Überleitung von der „mittelalterlichen Gebundenheit“ zur „individuellen Freiheit“ bezeich­ nete, übersah keineswegs die deutlichen Anfänge „eines neuen Zeit­ alters der Gebundenheit“. Schon vor Lamprecht hatten v. Gierke in seinen Untersuchungen über das mittelalterliche Genossenschaftswesen und — in England — Maitland’s parallele Forschungen die neue Per­ spektive eröffnet. In Frankreich sind es Leon Duguit und vor allem Maurice Hauriou, in Italien Gaetano Mosca, die das historische und sachliche Verständnis für die pluralistische Ordnung der Gesellschaft vorbereitet haben. Harold Laski warf das Problem des Pluralismus für die Verfassungslehre auf; J. N. Figgis tat dasselbe für die Kirchen. Bedeutende deutsche Beiträge zum Problem des Pluralismus werden im Text besprochen.

Die Pluralismus-Debatte der Gegenwart hat einen ehrwürdigen Vor­ läufer in der Zeit der antiken Polis. Zu Sokrates’ Ansicht von der Ein­ heit der Polis bemerkte Aristoteles3: „Einheit ist nötig, sowohl in der Familie wie im Staate (polis), aber nur in einem gewissen Umfang. Denn es gibt einen Grad von Einheit, wo der Staat so mächtig wird, daß er nicht mehr ein Staat ist, oder wo er, ohne aufzuhören, es zu sein, zu einem schlechten Staat wird, weil seine Harmonie in Uniformität aus­ artet.“ Er fügt hinzu: „Der Staat ist eine Polyarchie, die geeint und zur Gemeinschaft geformt werden muß durch Erziehung.“ Damit verwirft Aristoteles die absolute Polis, weil ihr das Merkmal der Gliederung fehle. Das Merkmal der Einheit aber fehlt dem anderen Extrem: Der Staat verblaßt, wenn die Gesellschaft als Summe von Individuen ver­ standen und auf Verträge zwischen ihnen reduziert wird. 3 Aristoteles, Politik. Buch II, Ch. 5.

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c) „Wahrer“ und „falscher“ Pluralismus Das gleiche Problem beschäftigte die katholische Soziallehre des Mittelalters und der Neuzeit. Grundlegend für sie ist der theologisch­ philosophische Begriff vom Menschen als Person, existierend in einer durch das Prinzip der Subsidiarität funktional und strukturell gestuften Umwelt von Verbänden natürlicher und zweckhafter Art, die vom Staate zusammengefaßt und überwölbt sind. Durch sie verwirklicht er seine doppelte Bestimmung: im Diesseits, das letzten Endes hinge­ ordnet ist auf das Jenseits. Personal-Gemeinschaften sind älter als der Staat, der, wie Gustav Gundlach4 es ausdrückte: nichts anderes ist als „die notwendige Projektion des ontologischen Seins- und Wertbestandes des Sozialen ins Organisierende und Organisierte, notwendig um der Rechtsordnung willen, die Gebrauch und Bestand der in und mit den sozial gegebenen Personenrechten verlangt“. Nach Heinrich Rommen5 bestehen die wahren Zwecke, Rechte und Verpflichtungen dieser natür­ lichen oder zweckhaften gesellschaftlichen Gebilde aus dem eigenen Recht der Verbände als Frucht des gemeinsamen Lebens selber; oder, wie Heinrich Pesch sagt: Der Gesellschaft als einem „moralischen Or­ ganismus“ liegt die Wechselwirkung der Verbände zugrunde, denen die Würde der moralischen Person zuzusprechen ist.

So sind die Vertreter des modernen Pluralismus mit der kirchlichen Soziallehre in einem Punkte einig: Beide betonen das Recht und die Notwendigkeit intermediärer Sozialgebilde zwischen Staat und Indi­ viduen. Damit hört die Einigkeit auf; es meldet sich ein gewichtiger Unterschied, insofern die katholische Soziallehre den Nachdruck auf die zusammenfassende Einheit der nach Seins- und Wertfülle geordneten Glieder legt, während im Pluralismus der Nachdruck auf ihrer Vielheit liegt. Trotzdem hat der Begriff des Pluralismus auch in der katholischen Soziallehre Anhänger gefunden; Beleg dafür ist die Jahresversammlung (Dez. 1955) der Catholic Economic Association^. Emile Bouvier bemühte sich dort, die katholische Soziallehre als pluralistisch gegen den „fal­ schen“ Pluralismus von Harold Laski und John N. Figgis z. B. abzu­ grenzen. Sein Versuch, die wirtschaftliche Auswirkung des „wahren“ Pluralismus in einer berufsständischen Ordnung hinsichtlich der Preis­ bildung, der Kapitalanlagen, der Struktur der Produktionskosten, schließlich der nationalen Einkommensverteilung und des Wachstums der Wirtschaft darzulegen, stieß seitens der Professoren David McCord

4 G. Gundlach, Katholizismus und Sozialismus. Stimmen der Zeit, Febr. 1958, S. 340, Herder, Freiburg i. B. 5 Heinrich Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, Leipzig 1936, S. 252 f. 6 Die Vorträge sind veröffentlicht in der Review of Social Economy, Mar­ quette University Press, Milwaukee März 1956.

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Wright und Edward Chamberlin auf erhebliche Bedenken und Kritik. Wir begegnen dem Begriff des Pluralismus und derselben Unterschei­ dung zwischen „wahrem“ und „falschen“ Pluralismus auch im deut­ schen Schrifttum7. v. Nell-Breuning unterscheidet zunächst zwischen Unitarismus und Pluralismus. Der Unitarismus will die Gesamtheit des Lebens „von der Spitze her zur straffgeleiteten Einheit zusammenfassen, nach einem einzigen Ordnungsprinzip aufbauen.“ Den liberalen Individualismus des 19. Jahrhunderts rechnet er neben dem Kollektivismus zu den unitaristischen Systemen — offenbar nicht ganz ohne Bedenken, denn er beruft sich auf „die Erfahrung“ und „wohl auch dem Wesen der Sache nach“8. Weiter: „Im Gegensatz zum Unitarismus betont der Pluralismus ursprüngliche und wesenhafte Verschiedenheiten der gesellschaftlichen Lebensbereiche und fordert für sie den entsprechenden Lebensraum, der ihnen gestattet, sich nach ihrem eigenen Lebensgesetz zu entfalten9. Das gilt vor allem für die Familie und die Kirche, aber auch für GeburtsHerrschaftsstände Patriziat und Zünfte10.“ Pluralismus besagt also „mehr als Dualismus“, und in der Tat besteht „innergesellschaftlich und innerstaatlich ein echter Pluralismus“. Allerdings findet v. Nell — und er bringt Beispiele dafür — daß auch im „echten“ Pluralismus die Gefahr des „Wildwuchses“ droht. Die westliche demokratische Gesellschaft ver­ fällt wegen ihrer, nach v. Nell, „unitaristischen“ Struktur in einen „un­ organischen Pluralismus“, weil „die Kultursachgebiete von der Bindung an das für sie alle gleichmäßig verbindliche Sittengesetz gelöst“ sind. Der moderne Staat hat die „so sich bildenden Interessenverbände (pres­ sure groups) nicht einzufangen und auf seine Turbinen zu leiten ver­ mocht11“; darum suchen sie sich „ihre eigenen verfassungsfremden, wenn nicht gar verfassungswidrigen Wege“. So wurden sie, „ohne es zu wollen und ohne Schuld, zu einer Bedrohung für den Staat“. Nach v. Nell ist „der Wildwuchs des modernen Pluralismus eine Tatsache“; in ihm liegt die Möglichkeit „der Entartung zur Anarchie“. Damit hat v. Nell den Punkt gewonnen, auf den es ihm ankam: „nur ein organischer Pluralismus eröffnet den Weg zur realen Demokratie12“.

d) Die doppelte Front des Pluralismus der Gegenwart

Es fragt sich, ob der Begriff des Pluralismus, wie er heute definiert und verstanden wird, in der katholischen Soziallehre einen legitimen 7 Wörterbuch der Politik (Heft 5, Spalte 449—460: Gesellschaftliche Ord­ nungssysteme. Herausgegeben von Dr. Herman Sacher und Oswald v. NellBreuning). 8 1. c. S. 451. 9 1. c. S. 425. 10 1. c. S. 453. 11 1. c. S. 455. 12 1. c. S. 460.

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Platz hat; es gibt Gründe dafür, ihn für systemfremd zu halten. Warum haben katholische Sozialtheoretiker ihn in ihr geistiges Arsenal auf­ genommen? Der tiefere Grund liegt wohl in der doppelten Front, die sie zu beziehen hatten: einerseits gegen Sozialismus und totalitäre Systeme, andererseits gegen den Liberalismus des 19. Jahrhunderts. Gegen den Kollektivismus aller Art hatten sie das Recht der pluralen Sozialgebilde und die relative Unabhängigkeit der Kultursachgebiete zu verteidigen; gegen den klassischen Liberalismus die organische Ein­ heit des gesellschaftlichen Lebens und das Gemeinwohl. Der Rückgriff auf die Bezeichnung Pluralismus war dem Kollektivismus gegenüber unangebracht, weil das wesentliche Argument gegen ihn in den christ­ lichen Begriffen von der Person und der Subsidiarität liegt; so hätte man dem Anspruch des Kollektivs, absolute Person zu sein, mit dem Begriff des christlichen Solidarismus im Sinne einer nach den Grund­ sätzen der Subsidiarität sich strukturierenden, vom Personwert aus­ gehenden Gemeinschaft begegnen sollen. Andererseits: da der klassische Individualismus heute in der Metamorphose des Gruppen-Individualismus erscheint und die individualistische Gesellschaft in einer Fülle von Interessenverbänden sich darstellt, hätte ihm gegenüber die Einheit der gegliederten Gesellschaft herausgestellt werden müssen und nicht der Pluralismus. Indem man den Begriff des Pluralismus adoptierte, verfehlte man die scharfe Abgrenzung gegen den Kollektivismus, wurde aber gleichzeitig in eine gemeinsame Front mit der nach Interessen organisierten Gesellschaft individualistischer Herkunft gedrängt. Damit war eine Bundesgenossenschaft gegeben, deren Unerwünschtheit viele kirchliche Erklärungen seit der Bulle Mirari vos (1832) und dem Syl­ labus (1864) unterstrichen hatten. Man fand den Ausweg durch die Unterscheidung zwischen dem „echten“, „wahren“ Pluralismus und dem „falschen“, dem „Wildwuchs“. Der heutige Pluralismus wendet sein Gesicht gegen den klassischen Liberalismus und seine Lehre vom bloß subsidiären Staat; beiden gegenüber betont er die Vielheit der Gruppen und ihre soziale wie poli­ tische Funktion; er muß also dialektisch verstanden werden. Die Katho­ lische Soziallehre dagegen ruht auf der ontologischen Fundierung der Gesellschaft; diese Differenz zwischen dem naturrechtlichen Ausgangs­ punkt einerseits und dem historisch-dialektischen andererseits sollte nicht durch unglückliche Wortwahl verdeckt werden.

e) Die Merkmale des Pluralismus der Gegenwart

Im Pluralismus der Gegenwart setzt sich die in Verbänden organi­ sierte Gesellschaft von der grundsätzlich individualistischen Struktur des 19. Jahrhunderts ab:

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1. Indem das Individuum in entsprechenden Ebenen seiner Existenz, vornehmlich der wirtschaftlich-sozialen, sich in Schutz- und Interessen­ verbänden zusammenschließt. Dieser Vorgang hat seine geschichtliche Parallele in der Commendatio des 10.—12. Jahrhunderts. Dem Wesen nach liegt in beiden Fällen das Gleiche vor: Die persönliche Freiheit belastet den Einzelnen mit Verpflichtungen, die ihm untragbar scheinen oder die er mit gering veranschlagtem Opfer abwälzen kann; auch mögen Machtverhältnisse bestehen, die es dem Freien geraten erschei­ nen lassen, sich in die Schutzgewalt eines Mächtigen zu begeben. Er wird die Last der Freiheit los durch die Commendatio an einen Schutz­ herrn, ob das nun ein Feudalherr13 war, oder, wie in heutigen Ver­ bänden, ein Schutzverband wirtschaftlich identischer oder für identisch angenommener oder erklärter Interessen. Die Folge der Commendatio, das Precarium, stellt sich ebenfalls für das commendierte Individuum im heutigen Verbandswesen heraus: Für die Entlastung von Verant­ wortungen der Freiheit und für die Sicherung, die er im Verband findet oder zu finden erwartet, begibt sich das Mitglied von Kartellen, Gewerkschaften, Bauernverbänden usw. gewisser Rechte und Chancen, die ihm als freien Agenten oder Außenseiter offen wären, und zahlt seine Beiträge.

2. Im entwickelten Pluralismus brechen die Verbände, ursprünglich gesellschaftlicher d. h. subpolitischer, privatrechtlicher Natur aus der gesellschaftlichen Ebene aus in die Sphäre des öffentlichen Rechts und der Politik. Sie beanspruchen, soweit ihre Interessen in Frage stehen, das Recht der Mitsprache bei der öffentlichen Willensbildung und Politik. 3. Die Mutation der individualistischen Gesellschaft zur pluralistischen schlägt auf den Staat zurück; gegen die Vorstellung vom Staate als einer mit Autorität und Hoheit ausgestatteten Friedens- und Ord­ nungsmacht ergibt sich im vollendeten Pluralismus eine Auffassung von ihm als einer durch gesellschaftliche Mächte mitbestimmten, wenn nicht gar mediatisierten und funktionalisierten Institution. II. Der Pluralismus als Phase des Liberalismus Oberflächlich betrachtet spricht das Ergebnis für die Deutung des Pluralismus als der Negation des klassischen Liberalismus und Indivi­ dualismus; statt des Einzelnen wird die Assoziation zum Agenten in wirtschaftlichen, sozialen und politischen Dingen. Wer aber geschicht-

13 Es ist bemerkenswert, daß Interessenverbände in Frankreich heute oft als feodalites bezeichnet werden. Siehe Val. R. Lorwin and Marc Vermang, Conflict and Compromise in Belgian Politics. (De Christlijke Werkgever. Nr. 12, Dez. 1964, S. 4 des Sonderdrucks). Brüssel.

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liehe Prozesse als Kontinuum begreift, wird nach der historischen Ver­ kettung zwischen Pluralismus und klassischem Liberalismus fragen müssen. Er wird überlegen, ob nicht der tiefste Grund des Pluralismus im Liberalismus selber liege; mit anderen Worten: ob nicht die plura­ listische Gesellschaft eine Phase in jener liberalen Dünung darstelle, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts über die westlichen Gesell­ schaften hereinbrach. Diese Ansicht wird hier vertreten. Es ist erstaunlich, daß die historische Eigenart der verbandsplurali­ stischen Gesellschaft so lange verkannt wurde. Soviel ich sehe, war es zuerst Jean Vialatoux, der in seinem Buche Philosophie Economique, Etudes Critiques sur le Naturalisme (Paris, 1932)14 die Verbandsgesell­ schaft als im Wesen liberal bezeichnete. Die Gründe für die späte Erkenntnis des Wesens der pluralistischen Gesellschaft als einer Phase des wirtschaftlichen Liberalismus liegen darin, daß die ersten Gewerkschaften, Bauernverbände und Kartelle als soziale Korrekturen an „ungerechten“ Marktpreisen und Löhnen empfunden und darum schließlich als per se nützlich und notwendig bewertet wurden. Ferner: antikapitalistische Ideologien und Bewegun­ gen, vor allem der Marxismus, konnten die Syndikate, Trusts und Ge­ werkschaften (letztere als „Avantgarde des Proletariats“) als Ansatz und Vorstufe der sozialistischen Zukunft werten; insofern fand man sie als „geschichtlich notwendig“ weil den Übergang zur neuen Gesell­ schaft ankündigend und einleitend. Übersehen wir weiter nicht, daß im Wesen der Verbände eine gewisse Zweideutigkeit liegt; sie bean­ spruchen, breite gesellschaftliche Strata zu repräsentieren: die Land­ wirtschaft, die Arbeiterschaft, das Gewerbe, die Industrie usw. Es ist ein Kern von Wahrheit in diesen Ansprüchen, insofern der betreffende

14 1. c. S. 65 ... „Mais qui ne voit, et de mieux en mieux, que, aussitöt admises ces interventions sociales, qui ecartent le liberalisme individualiste, un nouveau Probleme apparait: celui de la finalite meme de ces interventions. Un syndicat ouvrier, une Chambre patronale contrölent et limitent la liberte de leurs membres; mais ä quelles fins? Cette limitation a-t-elle pour fin ultime et absolue, sans reserve ni recours, l’interet particulier exclusif du groupe qui 1’edicte, et dont la liberte exterieure serait souveraine dans sa rencontre avec les libertes exterieures antagonistes? Comment alors ne pas voir qu’ä la libre concurrence entre individus, defendue par le liberalisme individua­ liste, s’est substitute tout simplement une libre concurrence entre groupes ou classes, et que cela encore est un liberalisme, qui soutient sa cause contre le bien superieur et la dignite spirituelle des personnes humaines?“ 1. c. 66—67 ... „une espece particuliere de liberalisme a vecu, ou du moins vieilli: celle sous laquelle le liberalisme se con^ut en 1791 ou en 1830. Mais comment ne pas reconnaitre le liberalisme sous les especes nouvelles et rajeunies qu’il revet sous nos yeux? Qu’est-ce, au fond, que le regne des syndicats de finance, ou des grands consortiums d’affaires, ou des actions privilegiees, ou encore du syndicalisme anarchiste dit d’action directe, sinon des regnes de forces qui, livrees ä leur libre jeu, arrivent alternativement ä percer dans le Systeme materialiste clos ou elles pretendent ne relever que d’eIles-memes? Qu’est-ce autre chose qu’une forme evoluee du Liberalisme?“

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Verband oder seine Dachorganisation gewisse umfassende Gruppen­ interessen — Schutzzölle, Patentrecht, Markenrecht, Geld- und Kredit­ volumen, Arbeitsrecht, Sozialpolitik, Sozialversicherung usw. — gegen­ über der Öffentlichkeit, dem Staate oder ihrer Gegengruppe vertreten. Aber darin liegt keinesfalls die primäre, täglich laufende Aufgabe des Einzelverbandes, um so weniger als er in der Regel seinem Dachverband gegenüber die Autonomie seiner Interessenwahrung verficht. Das täg­ liche Agendum der Verbände ist ihr Selbstinteresse15, d. h. Preise, Ver­ kaufsbedingungen, Löhne, Arbeitszeit usw.; hier liegt ihr eigentliches Aktionsfeld; und hier wirkt das Gesetz ihres Antritts; hierher stammen ihre Alltagsgrundsätze, Verfahrensweisen und Tradition. Die darüber hinausreichenden Ansprüche für die Rechte und Interessen des ganzen Stratums sind normalerweise anlaßbedingt, oft peripheral, oder auch Verdeckungsform von Sonderinteressen, die wegen ihres emotionalen Gehaltes für den Tageskampf nützlich sind. Es gehört zur Strategie aller Verbände, sich auf die Identität ihrer Interessen mit ihrem Ge­ samtstratum und mit dem Gemeinwohl zu berufen. All das und anderes mehr verhinderte die Einsicht in den dynami­ schen Zusammenhang zwischen Liberalismus und Verbandsgesellschaft. a) Klassischer Liberalismus und Pluralismus der Gegenwart

Zunächst eine Vorbemerkung über den Liberalismus. Das Wort taucht spät auf, obschon die Begriffe Liberalis, Libertas, Liberalitas dem Römischen Altertum wie dem Mittelalter durchaus geläufig waren. Die Wurzeln des Liberalismus reichen über die Aufklärungsära in den hochmittelalterlichen Nominalismus; ihm waren in der letzten Konse­ quenz die Kirche, der Staat, die Gesellschaft und die ganze reichge­ gliederte Welt ihrer Substrukturen bloße Namen für Beziehungen zwischen Individuen. Was im Mittelalter zunächst eine erkenntnistheo­ retische Auseinandersetzung unter Theologen und Philosophen war, wuchs sich über Jahrhunderte hinweg zur vorherrschenden Anschauung über Kirche, Gesellschaft und Staat aus. Ein zweites Element im Liberalismus ist der mit der Spät-Renaissance anhebende Säkularismus. Darunter sei hier verstanden die zunehmende Wendung des abendländischen Geistes zu Natur und Vernunft, zu den Gegebenheiten von Raum und Zeit ausschließlich; mit der Wirkung, daß die dritte Dimension des Menschen, seine transzendente Bestim­ mung, sein „Standort im Absoluten“ (Karl Jaspers) ihren zentralen Seinswert verliert und schließlich privatisiert, d. h. zur für das öffent15 Das gilt ausgesprochen für Kartelle und industrielle Verbände, weniger schon für Bauernverbände. Für die Gewerkschaften galt es solange nicht, wie sie echte Bewegung mit starkem Solidaritätsauftrieb waren. Erst für die Phase ihrer Institutionalisierung und Befestigung gilt das oben Gesagte. 2 Briefs

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liehe Leben belanglosen Privatangelegenheit reduziert wird. Der Clericus, der Theologe, der jahrhundertelang Berater und Wegweiser von Fürsten und Völkern war, wird vom „Philosophen“ im spezifischen Sinn des 18. Jahrhunderts, später dann vom Gelehrten, vom „Wissenschaft­ ler“, in seiner Rolle abgelöst. Damit steigt ein neuer Leittypus auf: der Clericus laicus wird nun zum Berater, Wertverkünder und Wegweiser von Regierung und Regierten; er findet in immer reicherem Maße die Akklamation, weil er „die Vernunft“ und „die Wissenschaft“ gegen Unvernunft und Ignoranz zu vertreten beansprucht. Man beachte den Wandel in der Rolle der Vernunft: War sie seit der klassischen Antike das Instrument des Geistes, mit dem die Wirklichkeit verstanden und beherrscht werden konnte, so wird sie für den Rationalismus des 18. Jahrhunderts zur schöpferischen Potenz. Religion, Natur und Ge­ schichte haben sich vor ihrem Forum auszuweisen und zu verantworten; ihr wird zugetraut, die Formen der menschlichen Existenz aus sich zu entwerfen, die, der „Natur“ entsprechend, harmonisch sind und zum Glücke führen. Im angenommenen Vermögen der Vernunft, durch das einzelmensch­ liche Interesse oder Glück zur gesellschaftlichen Harmonie zu führen, schlägt drittens ein Pelagianisches Motiv16, nun ins Säkuläre gewandt, durch: der Mensch kann aus eigener Kraft, in Raum und Zeit, ohne göttlichen Beistand, sein Heil erwirken, vorausgesetzt, daß er sich von den Irrungen der in die Geschichte einschlagenden Unvernunft befreit. Durch ,Emanzipation* kommt er ,zu sich selbst*, wird er frei von seiner ,Verfremdung* in Kirche, Staat und obsoleten Untergliederungen der Gesellschaft. Die perfectibilite de Vhomme war das Gespräch geist­ reicher Salons im 18. Jahrhundert; in ihrem Begriff schon deutete sich die Wandlung des Geistes von der rheologischen und religiösen Orien­ tierung zum bloß Humanen an; die Theologie von Fall und Erlösung säkularisierte sich zur Idee der stetigen Vervollkommnung des Men­ schen in Raum und Zeit, Natur und Geschichte. Der radikale Bruch mit der Vergangenheit schien mit der Emanzipation vollzogen; aber schon J. P. Proudhon17 stellte zu seinem Erstaunen fest, daß die Begriffsund Wertwelt der Aufklärung und ihrer Ableger, des Liberalismus und Sozialismus, ihre Wurzeln in ursprünglich religiösen Begriffen haben —

16 Pelagius war, wie der Kirchenlehrer Augustinus von ihm sagte, eine Art Laienmönch (velut monachus). Er bestritt die Lehre von der Erbsünde und leitete damit die Anschauung ein, daß der Mensch von Natur aus die vorwie­ gende Tendenz zum Guten habe, eine These, die schließlich in Rousseaus Doktrin von der natürlichen Güte des nicht durch Institutionen verdorbenen Menschen führte. Der Gesinnungsgenosse von Pelagius, Coelestius, präzisierte seinen Standpunkt, gegen Augustinus gewandt, dahin: „Posse esse homines sine peccato et facile Dei mandata servare.“ F. X. Kraus, Kirchengeschichte, S. 166. Trier 1896. 17 Confessions d’un Revolutionnaire, 1849.

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ein Punkt, den übrigens Joseph de Maistre vorher und später Donoso Cortez viel eindrucksvoller betonten18. Damit ist unterstellt, daß der abendländische Geist bis tief in die Aufklärung und reine Diesseitigkeit hinein seine Matrix in der christlichen Vergangenheit hatte. Ich be­ zeichne dieses unterströmige Nachwirken der christlichen Theologie in die Ära des Säkularismus hinein als kategoriale Prägung: Der Westen denkt und fühlt in nun säkularisierten Begriffen und Wertungen des christlichen Milleniums — aber in der dialektischen Wendung gegen die christliche Theologie. Die dritte Dimension des Menschen — sein Bezug zum Übernatürlichen — fällt aus, aber die kategoriale Prägung beherrscht immer noch das westliche Bild von Fall und Erlösung des Menschen in Raum und Zeit. Aus der Säkularisierung des mittelalter­ lichen Weltbildes haben letzten Endes alle modernen Sozialphilosophien ihre Prägung bezogen; insofern lebt selbst noch der Marxismus im geistigen Bezugssystem des orbis judaeo-christianus: Fall und Erlösung durch das stellvertretende Leiden des Proletariats bilden das Grund­ motiv seiner Geschichtsphilosophie. Erst Nietzsche und J. P. Sartre brechen aus der kategorialen Prägung bewußt aus. Der Liberalismus als Weltanschauung war schon grundgelegt in der Aufklärung des 18. Jahrhunderts; ihr Vater war John Locke; der Deis­ mus ihr pseudotheologisches Zwischenglied. Die systematische Entfal­ tung der Aufklärung vollendet sich in Frankreich mit der Großen Enzyklopädie (1751—1782). Aufklärung, „illuminisme “, „eclaircissement“, „enlightenment“ waren die Bezeichnungen für die geistige Wende der Zeit. Ein Zwischenfall in den spanischen Cortes (1812) setzte das Wort Liberalismus in Kurs: ein Vertreter der konservativen Partei bezeichnete die Verfassungspartei als vosotros liberales; die so Charak­ terisierten adoptierten den Namen mit Begeisterung. Der soziologische Träger des Liberalismus wechselte von den Intellektuellen der Auf­ klärung, den „frondeurs“ des Ancien Regime und der Kirche des 18. Jahrhunderts, zum Bürgertum des 19. Jahrhunderts; ihm ging es nicht so sehr um die ,Aufklärung* als um die Freiheit vom alles kontrol­ lierenden merkantilen Staat und um die Emanzipation von der Kirche. In seiner Vorstellung wurde die perfectibilite der Philosophes* zum ,Fortschritt*, verstanden als lineare Aufwärtsentwicklung der Mensch­ heit durch das Freisein von Dogmen, Autoritäten und Institutionen der Vergangenheit. b) Das reale ökonomische Substrat des Liberalismus

Damit haben wir die in der abendländischen Geistesgeschichte ruhen­ den Wurzeln der Aufklärung und des weltanschaulichen Liberalismus 18 Schumpeter spricht von den säkularistischen Weltanschauungen, die nach dem Rückzug des Christentums „wie herrenlose Hunde“ herumirrten.

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kurz gezeichnet. Ein Blick auf die Realfaktoren ist geboten. Der be­ deutendste unter ihnen war die Ausweitung des herkömmlichen euro­ päischen Horizonts auf die Welt. Sie begann mit den Kreuzzügen und gewann unerhörte Dimensionen seit der Ära der Entdeckungen19. Lernte man von der Newtonschen Astronomie und Physik die Mechanik des Himmels begreifen, so vom Zeitalter der Entdeckungen die neue Welt fremder Kontinente, fremder Kulturen, anderer Gesellschafts- und Sozialverhältnisse. Eine unerhörte Fülle von Schätzen und Gütern strömte der europäischen Metropolis zu; zur gleichen Zeit eröffnete die große Landnahme Übersee für die landarmen Bewohner der euro­ päischen Halbinsel Asiens. Der Historiker W. P. Webb (Universität Texas) verweist in seinem Buche Die Große Grenze20 darauf, daß im nordamerikanischen Bereich die Waldläufer, Trapper und Siedler sozu­ sagen „in der Falle der Freiheit“ (in the trap of freedom), der Selbst­ bestimmung und Selbstverantwortung gefangen waren. Es gab da kei­ nen Staat und keine geordnete Gesellschaft; keine Kirche außer der Bibel, die man in der Satteltasche bei sich hatte. Die primitivsten For­ men der Ordnung und Daseinssicherung hatte man in harten Kämpfen mit der Natur und feindlichen Eingeborenen erst zu entwickeln. Gleich­ heit und Demokratie waren, nach Webb, hier die gebotenen Formen des Zusammenlebens, der Puritanismus die angemessene religiöse Haltung. Webb folgert, daß der Reichtum an Gold und Silber, der aus der neuen Welt nach Europa strömte, die Grundlage für den Aufstieg des Kapitalismus bot; daß ferner die demokratische Lebensform, gebil­ det an der weiten offenen Grenze, auf die westeuropäische Metropolis zurückschlug; und schließlich, daß an derselben offenen Grenze der Calvinismus zur Weltmacht erwuchs.

Die ungeheure Landnahme, der Reichtum an edlen Metallen und die Berührung mit fremden, nichtchristlichen Kulturen erschütterten das abendländische Weltbild, wie es in der relativen Geschlossenheit des Mittelmeerkreises über die Jahrhunderte hinweg erwachsen war. Die gewaltige Erweiterung des Horizonts von Zeit und Raum sprengte die abendländische Tradition durch den Anspruch der autonomen Ver­ nunft, individueller Selbstbestimmung und durch die Geburt des demo­ kratischen Gedankens. Die Vorstellung von der ,Gesellschaft4 als auto­ nomer, nicht-staatlicher, nicht-kirchlicher Lebensgestalt gewann ihr konkretes Recht. 19 s. Adam Smith: The Wealth of Nations (4. Buch, 7. Kapitel, III. Teil der Ausgabe von Edwin Cannan, in Modern Library, S. 590): „The discovery of America, and that of a passage to the East Indies by the Cape of Good Hope, are the two greatest and most important events recorded in the history of mankind.“ 20 The Great Frontier, Boston 1952.

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Zwischen den neuen Kontinenten und dem europäischen Mutterland, der ,Metropolis4, entwickelten sich zunehmend dichte Handels- und Ver­ kehrsbeziehungen; sie wurden von Kaufleuten, Zwischenhändlern, Agenten, Kommissionären und Brokern getragen, von Versicherungs-, Arbitrage- und Kreditinstituten; kurz: in soziologischer Betrachtung entstand eine soziale Schicht, die man zusammenfassend als Händler bezeichnen kann, Händler in einem verschiedenen Sinn von dem Typus (mercator), den das Mittelalter kannte. Es entstand hier der schon in einem kapitalistischen Nexus operierende Händler, der Risiken über­ nimmt, Kapital vorschießt, in Reingewinn und Zinsen, in Kosten und Erträgen rechnen muß, wenn er bestehen soll: der Händler in einer Umwelt von Händlern. In diesem interkontinentalen Raum entfaltete sich zuerst die Vor­ stellung einer autonomen Wirtschaftsgesellschaft, getragen von einer besonderen Schicht, deren Denken um den Markt, um die Risiken des Marktes und um Reingewinne kreiste. Diese Schicht machte eine Er­ fahrung, die im Spät-Mittelalter nur am Rande abfiel21: nämlich, daß es Gesetzmäßigkeit in der Bildung von Kosten und Preisen, von Wechsel­ kursen gibt. Für sie löste sich daher das Handeln und der Handel grund­ sätzlich von dem moralischen Netzwerk, das den mittelalterlichen Wirt­ schaftsverkehr umsponnen hielt. Im Spiel der weltweiten Märkte er­ wuchs die Idee der ethischen Autonomie der Marktagenten: das Selbst­ interesse wird für sie zur bestimmenden Haltung; ihm wird vom Wett­ bewerb die Schranke gezogen. Daher kann eine ,heteronome‘ Ethik wie die des Christentums entbehrt werden; sie würde nur Verwirrung im ,Marktmechanismus4 veranlassen.

Das Bild vom Marktmechanismus lag nahe; es war um so über­ zeugender, als die anhebenden Naturwissenschaften in Prinzipien der Mechanik dachten; wo ein mechanisches Ineinanderspiel der Kräfte nachgewiesen oder vermutet wurde, da glaubte man, den wahren Zu­ sammenhang der Dinge gefunden zu haben oder auf seiner Spur zu sein22. So verbanden sich praktische Erfahrung und dominanter Geist der Zeit zum Bild eines „natürlichen44 Wirtschaftssystems, das von mechanisch wirksamen Gesetzen bestimmt werde. Kam dazu weiter die Überzeugung, die seit Cartesius, Spinoza und dem Deismus obsiegte, daß „Gott oder die Natur44 die Mechanik der Dinge auf Harmonie an21 Joseph Hoeffner (Statik und Dynamik in der Scholastischen Wirtschafts­ ethik 1955, S. 11) bemerkt, daß Petrus von Aragon schon von den Eigengesetzen des Marktes gesprochen habe: „Habet enim ille forus suas leges, ... quibus stando nulla injustitia committitur“. In: II. II. Divi Thomae Doct. Ang. Com­ mentaria „De Justitia et Jure“. Lugduni 1596, Qu. 77. a. I, p. 437. 22 cf. Lamettrie’s L’homme Machine (1748); d’Alembert’s Vorwort zur Großen Enzyklopädie, daß man endlich le vrai Systeme de la Nature gefunden habe.

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gelegt habe, dann schien die Vorstellung von der Marktgesellschaft auf eine solide Grundlage gestellt; sie hatte die Dignität einer Sozialphilo­ sophie. Adam Smith war der erste, der sie, trotz mancherlei Vorbehalte, zur Darstellung brachte23. Damit schließt sich die Reihe der hauptsächlichen Ideal- und Realfak­ toren, die zum klassischen Liberalismus führte. Das Grundpathos dieses Liberalismus war Emanzipation; sein Grundglaube sah im autonomen Individuum die Gesellschaft und Staat durch Verträge konstituierende Realität; er erwartete die Harmonie im menschlichen Zusammenleben von den selbstbestimmten Entschließungen und Handlungen der Ein­ zelnen; von ihnen her bestimmen sich Staat und Gesellschaft. Nicht als ob die Vorstellung von der Gesamtwohlfahrt keinen Platz mehr habe; aber sie wird verstanden entweder, wie bei dem Neo-Stoiker und Dei­ sten Adam Smith, als Ergebnis providentieller oder von der Natur be­ stimmter Harmonien aus individuellen Handlungen, oder als das Resul­ tat eines Nutzenkalküls individueller Handlungen. In letzterem Falle ist das Gesamtwohl die Summe der untereinander verfilzten individuellen Interessen. Jeremy Bentham (1748—1832), der Vater dieser Lösung, nahm an, die Fälle seien selten, wo sich widerstreitende Interessen der Verfilzung entzögen; der Normalfall sei, daß sie sich irgendwie ver­ bündeten oder ergänzten24. Die Gesellschaft ist nach Bentham ein fikti­ ver Begriff; realiter ist sie die Summe von immer eingegangenen, ver­ fallenden und neuen Verträgen unter Individuen. Der aller autonomen Hoheit bare Staat wird zum Hilfsorgan für die Zwecke der individuali­ stisch strukturierten Gesellschaft; die Kirche ein Relikt der dunklen Vergangenheit; der Glaube eine Privatangelegenheit derer, die nicht ohne ihn auskommen zu können glauben. Damit rühren wir an das Hauptproblem des klassischen Liberalismus, den Nachweis, wie vom Individuum her Staat, Gesellschaft und Wirt­ schaft sich zur harmonischen Wirklichkeit aufbauen. Uns beschäftigt hier die wirtschaftliche Erstreckung der Frage: Wie hängen das indivi-

23 Die präzise Zusammenfassung von Smith’s liberal-individualistischer Doktrin befindet sich in The Wealth of Nations (4. Buch, 9. Kapitel. Ausgabe Cannan, Modern Library S. 651): „All systems either of preference or of restraint, therefore, being thus completely taken away, the obvious and simple system of natural liberty establishes itself of its own accord. Every man, as long as he does not violate the laws of justice, is left perfectly free to pursue his own interest his own way, and to bring both his industry and capital into competition with those of any other man, or order of men. The sovereign is completely discharged from a duty, in the attempting to perform which he must always be exposed to innumerable delusions, and for the proper per­ formance of which no human wisdom or knowledge could ever be sufficient; the duty of superintending the industry of private people, and of directing it towards the employments most suitable to the interest of the society.“ 24 Jeremy Bentham, Deontology. London 1834 (Manuskript geschrieben zwischen 1814 und 1831).

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duelle Interesse und das Gesamtwohl zusammen? Nach welcher Regel muß der freie Entschluß des Einzelnen verfahren, damit der wirt­ schaftliche und soziale Prozeß sich zur Harmonie integrieren? Damit er­ öffnet sich der positive Aspekt des Liberalismus; sein innerster Auftrieb ist der Individualismus. c) Die individualistische Komponente des Liberalismus Die Grundsätze der individualistischen Doktrin lassen sich folgender­ maßen zusammenfassen: 1. Die Individuen sind in vollem Maße autonome Agenten ihrer Interessen und Handlungen; bei ihnen liegt die Entscheidung über den Einsatz ihrer Kräfte, Begabungen und Vermögensmacht. Der wirtschaft­ liche Ausdruck dieser Selbstbestimmung ist die Freiheit über das Was und Wie und Wann und Wo ihrer Arbeit, ihrer Investitionen, ihrer Verträge. 2. Das Korrelat dieser Freiheit ist die Selbstverantwortung; Erfolg oder Mißerfolg ist die Angelegenheit des Einzelnen. Kein Staat, keine Institution steht bereit, sie ihm abzunehmen oder aufzufangen. Es besteht also die engste Koppelung zwischen Handlung und Verant­ wortung. 3. Die Folgerung ist das Selbstinteresse als ausschließliche Verfahrens­ regel, als dominantes Ethos. Es darf nicht verstanden werden als ein faute de mieux. Selbstinteresse ist der motorische Antrieb der freien Wirtschaftsgesellschaft selber; ohne es würde das wirtschaftliche Ge­ triebe in Unordnung geraten durch falsche Anlage von Kapital, Boden­ nutzung und Arbeit, mit der Folge des Entgangs von Erträgen durch falsche Preise und Einkommen; und schließlich der Einbuße an allge­ meiner Wohlfahrt. Die Wirtschaftsgesellschaft, wie Smith sie entwarf, gleicht, wie Marx es ausdrückte, „einer Handelskompanie, in der jeder sozusagen ein Händler ist“. Der Händler denkt in Kosten und Erträgen; wenn er andere Motive querschlagen läßt, wird er bald aufgeben müs­ sen. Kurz: Der Mechanismus des Marktes fordert den Primat der individuellen Selbstinteressen. Das darf nicht verstanden werden als Freibrief für brutale Selbstsucht und Monopole; dafür sorgt die Kon­ kurrenz. Smith nahm an, die von ihm wesentlich negativ verstandene Tugend der Gerechtigkeit — Enthaltung von Schädigung der Inter­ essen und Rechte Dritter — bewirke, daß das Selbstinteresse nicht in Selbstsucht ausarte; er unterstellt das „wohlverstandene “ (enlightened) Selbstinteresse. Dabei hat er, worauf Alexander Rüstow25 und R. A.

25 Alexander Rüstow: Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als reli­ gionsgeschichtliches Problem, Zürich — New York, 1945. S. 52. Er verweist auf den Mangel soziologischer Voraussetzungen für den Wettbe­

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Nisbet26 hinweisen, die in der ihm bekannten Umwelt des vorindustriel­ len Zeitalters geltenden Grenzen und Hemmungen des Selbstinteresses im Auge. Der Druck auf Absenkung des geltenden, gerade noch trag­ baren, ,marginalen4 Selbstinteresses auf eine mindere, ,submarginale4 Ebene war ihm nicht geläufig; zu seiner Lebenszeit hatten die traditio­ nellen sozialethischen Maßstäbe noch Geltung; sie fanden ihre Stütze in staatlichen und kirchlichen Institutionen. 4. Wenn aber alle ihre Selbstinteressen verfolgen, dann herrscht freier Wettbewerb. Wiederum nicht als faute de mieux. Ihm wird zuge­ schrieben, daß er die individuellen Interessen zum Ausgleich bringe; daß er die Tugenden des Fleißes, der Sparsamkeit, der Sorgfalt in ge­ schäftlichen Dingen garantiere; daß er die Kräfte fördere und die Faktoren der Produktion nach den Punkten ihres optimalen Einsatzes und damit der besten Bedarfsversorgung lenke. Die Tugenden der probity and punctuality fanden sich, nach Smith, in der Welt der Händler und Kaufleute am meisten ausgeprägt; sie sind das Ethos, ohne das ein Kaufmann nicht bestehen kann. Am Wettbewerb wird das Wirtschaftsleben, das Produzieren um des Austausches willen, ein dynamischer Prozeß fortlaufender Anpassung an neue Sachlagen, stän­ diger Bewegung zu „natürlichen44 Preisen und Einkommen gerade durch die Streuung um die Gleichgewichtslage.

werbsmarkt, mit der Folge der fehlenden Integrationskraft der Konkurrenz und fährt fort: „Sobald das Erbgut überkommener Integrationen aufgebraucht war, trat infolgedessen eine fortschreitende Zersetzung und Atomisierung des Sozialkörpers ein.“ Mit Recht verweist Rüstow auf Adam Smith, der immer wieder moralische Einschränkungen bei der Betätigung des Selbstinteresses vorausgesetzt habe. So z. B. spricht Smith von dem „vom inneren Richter ge­ billigten Selbstinteresse innerhalb der Schranken der Gerechtigkeit“. Ähnlich Quesnay mit dem Ausdruck „interet bien entendu“. Rüstow fährt fort (S. 53): „Hinter den sozialethischen Einschränkungen, denen bei Smith die Betätigung des wirtschaftlichen Eigeninteresses noch unterliegt, hatte ursprünglich die Sanktion von Religion und Kirche gestanden. Im Zuge der allgemeinen Ver­ weltlichung waren jedoch als Garanten nur noch Gewissen und Sitte übrig­ geblieben, und der fortschreitende Auflösungsprozeß machte auf dieser Zwi­ schenstufe nicht halt. Während aber die Schranken ihrer religiösen Würde immer mehr verlustig gingen, wuchs dem Eigeninteresse seinerseits eine solche Würde neu zu.“ 26 Robert A. Nisbet: The Quest for Community. A Study in the Ethics of Order and Freedom. Oxford University Press 1953. S. 229: „As an abstract philosophy, individualism was tolerable in an age when the basic elements of social organization were still strong and psychologically meaningful. In fact, whatever its theoretical inadequacy, the philosophy of individualism may be said to have had a kind of pragmatic value in an age when the traditional primary relationships were, if anything, too strong, too confining. Today, however, the philosophy of individualism lacks even pragmatic justification. For the prime psychological problems of our age, the practical problems that is, are those not of release but of reintegration.“ Siehe auch 1. c. 237. Schumpeter: Capitalism, Socialism and Democracy, 1. Auflage, S. 162, be­ tont: „... that the capitalist order not only rests on props made of extra­ capitalist material but also derives its energy from extra-capitalist patterns of behavior which at the same time it is bound to destroy.“

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d) Zwei Versionen des Liberalismus Damit haben wir die Verfassung der liberal-individualen Ordnung in ihrer idealtypischen Reinheit gekennzeichnet. Es bleibt übrig, auf eine innere Spannung im klassischen Liberalismus hinzuweisen, die auf die Dauer weittragende Bedeutung gewann.

Zum Verständnis knüpfen wir an eine Bemerkung von Alexander Rüstow27 an, die in die Tiefe des Problems reicht. Er bemerkt, daß A. Smith, als Neo-Stoiker, der „Natur der Dinge“ und ihrer natürlichen Gesetzmäßigkeit durchaus vertraute. Eingriffe von außen, z. B. von Staat und Zünften, stören den natürlichen Ablauf der Wirtschafts­ vorgänge; sie sollten also beseitigt werden oder, im Falle des Staates, auf wenige subsidiäre Verantwortungen beschränkt werden. Nach Rüstow ist dagegen die neo-epikuräische, hedonistische Doktrin um der Ordnung des Lebens willen — damit das Chaos nicht in die Gesell­ schaft einbreche — geneigt, dem Staate größere Aufgaben und Verant­ wortungen zuzuweisen; die epikuräische Linie von Gassendi, Montaigne und Pierre Bayle zu Mandeville, d’Holbach, Lamettrie bis zu Bentham belegt Rüstows These. In Aufklärung und klassischem Liberalismus begegnen und überschneiden sich neo-stoische und neo-epikuräische Ideen; neben dem Neo-Stoiker Smith steht, trotz seines Protestes, der Neo-Epikuräer Bentham. Er lehnte die metaphysischen Voraussetzun­ gen von Smith entschieden ab; er glaubte an keine „unsichtbare Hand“, die die selbstinteressierten Akte der Einzelnen zur Harmonie prästa­ bilisierte; darum muß er den Zusammenhang von Selbstinteresse und Harmonie anders begründen. Das tut er durch den Rückgriff auf das Utilitätsprinzip, formuliert in der These, als vernünftiges Wesen sei jeder Einzelne darauf bedacht, die Summe seines Nutzens (happiness) zu maximieren. Nach Bentham geschieht das dadurch, daß jeder aus Eigeninteresse die Interessen ande­ rer in seine Handlungen einkalkuliere, sie also sozusagen mitnehme. Damit verliert das Selbstinteresse jene Naivität, die es für Smith besaß; das Benthamsche Individuum muß jede seiner Handlungen sorgfältig auf ihren Saldo an Nutzenüberschuß veranschlagen. Aber Bentham ent­ geht nicht der Nemesis aller hedonistischen Doktrin; schließlich muß er doch dem Staate weithin positive Aufgaben für die Maximierung der Gesamtwohlfahrt zuweisen. So wird für ihn der Staat zum Mitbeauf­ tragten einer utilitarischen Gesellschaft Einzelner für die Maximierung der Gesamtlustsumme28.

27 Alexander Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als reli­ gionsgeschichtliches Problem, 1945, pp. 9—10 und 62. 28 Es ist bezeichnend, daß Robert A. Nisbeth Adam Smith nur in weni­ gen kurzen Ausführungen erwähnt, man könnte sagen, streift (pp. 90.95.225), aber um so intensiver Bentham als einen der maßgebenden Geister des Bri-

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Wir erwähnen die Differenz zwischen Smith und Bentham aus einem besonderen Grunde: Im Benthamschen Entwurf stecken schon die Motive und Auftriebe des modernen Wohlfahrtsstaates. Bei Bentham schon fanden wir den Staat angerufen, durch scharfe Erbschaftsbesteue­ rung z. B. eine Umverteilung von Vermögen vorzunehmen, damit die Gesamtsumme des Nutzens, der happiness, maximiert werde. Immerhin handelt es sich bei ihm noch um „happiness“, die zum größten Glück der größten Zahl maximiert werde, während beim modernen Wohl­ fahrtsstaat die auf Individuen bezogene happiness durch das kategoriale Gruppenbedürfnis nach Wohlfahrt abgelöst wird. Nicht als ob Smith’s Argument von der invisible hand, die alle selbst­ interessierten Handlungen auf das Gesamtwohl hin dirigiere, haltbar gewesen wäre; in diesem Punkt war Benthams Protest gerechtfertigt. Der Grundirrtum beider lag in ihrem Glauben an die gesellschaftlich verfaßte Wirtschaft als mechanischem Prozeß; und nicht zuletzt, wie auch Paul Streeten29 gezeigt hat, in dem Einschlag der Selbsterlösung von Mensch und Gesellschaft. Erst nachdem die liberale Weltanschauung sich mit den sehr realen Interessen der aufsteigenden kapitalistischen Schicht begegnete und verbündete, erwies sich der illusionäre Einschlag, der bei beiden, bei Smith wie bei Bentham, vorhanden war. Es war das Verhängnis der politischen Ökonomie des klassischen Liberalismus, daß sie Sanktionen für das grobe Interesse der aufsteigenden Klassen bot; sie legitimierte sie, während sie gleichzeitig — abgesehen von Bentham — dem Staate seine Verantwortung für das Gemeinwohl be­ stritt. Gegenüber dem Elend der ersten Generation industrieller Lohn­ arbeiter befanden sich Staat und Gesellschaft in der beneidenswerten Lage, sich von Verantwortung entlastet zu wissen, während aus der gleichen Motivation heraus den unter Druck geratenen Sozialgruppen das Recht verweigert wurde, sich zum Zweck gemeinsamer Selbsthilfe zu verbinden. Das Naturrecht der Aufklärung, der Deismus und Ratio­

tischen 19. Jahrhunderts herausstellt. Das Prinzip, das für Benthams politische Theorie fundamental ist, ist dieses, daß die Freiheit des Individuums nur mög­ lich ist bei kollektiven Kontrollen und in ihrem Rahmen (1. c. S. 176). Die Idee eines zentralisierten Verwaltungsstaates liegt in der Logik des Benthamschen Denkens, wenn er die natürlichen und „sympathetischen“ Identifikationen von Interessen durch „künstliche“ Identifikation ergänzt. Die beiden ersteren beruhen auf den Grundsätzen seiner hedonistischen Psychologie; die dritte stammt aus seiner Vision einer politischen Gemeinschaft, die vernünftig und unpersönlich organisiert, allmächtig und monolithisch ist. Nisbeth fährt fort: „It may be true, as some unkind critic has suggested, that, whereas Bentham began with self-evident natural interest, he was forced to conclude with the policeman and the penitentiary. But the fact remains that for Bentham, as for Rousseau, the policeman and penitentiary were but means of ,forcing individuals to be free4.“ (1. c. S. 177). 29 Paul P. Streeten, Keynes and the Classical Tradition. In: Post-Keynesian Economics, edited by Kenneth K. Kurihara, Rutgers University Press, 1954.

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nalismus, die schottische Moralphilosophie von Hutcheson und Smith, die Nützlichkeitsethik von Bentham, Comtes Positivismus wie der bio­ logische Naturalismus von Herbert Spencer, Graham Sumner und Ben­ jamin Kidd — das, und vieles andere mehr, erwies sich als weltanschau­ licher Begleitchor eines gewaltigen wirtschaftlichen und sozialen Pro­ zesses, nämlich der wirtschaftlichen Emanzipation des bürgerlichen Zeit­ alters aus den geschichtsschweren Klammern der Vergangenheit, aus der gesellschaftlich vielfach gestuften Formenwelt des Mittelalters und des Ständestaates. Es formte sich das neue Bild einer Gesellschaft als einer „Handelskompanie, in der jeder ein Händler“ ist. e) Liberalismus und individuelle Entscheidung Es lag in der Konsequenz der Begegnung der liberalen Weltanschau­ ung mit dieser Wirklichkeit, daß die herkömmlichen Beziehungen zwi­ schenmenschlicher Art einer tiefgehenden Wandlung unterlagen. 1. An die Stelle des seit Jahrhunderten religiös-sittlich motivierten Verhältnisses zwischen Einzelnen und Sozialgruppen tritt die bloße Funktionalisierung der Beziehungen. Erwerben, Verwerten, Besitzen, Kosten und Preise, kurz: das Marktverhalten und der soziale Nexus werden säkularisiert, aus dem metaphysischen und ethischen Bezugs­ system herausgenommen und als bloße Funktion verstanden. 2. Gleichzeitig wird das Selbstinteresse als maßgebendes Motiv von Individuen gesetzt: An die Stelle der früher sozialethisch gebundenen und institutionell gesicherten Beziehungen tritt die Privatisierung der Beziehungen.

3. Bei der leitenden Anschauung von der Gesellschaft als einer Han­ delskompanie werden die gesellschaftswirtschaftlichen und, entspre­ chend, die sozialen Beziehungen kommerzialisiert: der Markt entscheidet über sie. Grundsätzlich werden alle Agenten am Markte als Händler in ihrer spezifischen Ware angesehen, ob sie nun Grundbesitzer, Bauern, Unternehmer, Handwerker oder abhängige Arbeiter sind. Privatisierung, Funktionalisierung und Kommerzialisierung hieß im tagtäglichen Leben aller Individuen, Familien und Gruppen, daß sie ihre wirtschaftlichen Entscheidungen und Handlungen nach Art des Handels, des Kaufmanns als Käufer und Verkäufer, rational nach Kosten und Erträgen auskalkulieren. Aber nicht jeder kann oder ist gewillt, seine Handlungen nach der Formel von Kosten und Erträgen auszurichten. Händlersein ist eine Teilfunktion im gesellschaftlichen Ganzen; es gibt geborene Helden und geborene Händler; aber der Mensch schlechthin ist weder das eine noch das andere. Es gibt mensch­ liche Beziehungen, und gerade die wichtigsten unter ihnen, die vitalen und spirituellen, die dem händlerischen Kalkül keine Chance geben.

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Aus vielen Gründen, des Ethos wie der biologischen Umstände, konnte die Handlungsfähigkeit breitesten Kreisen abgehen. Der Klassiker der Geschichte der britischen Gewerkschaften, Sidney Webb, verweist mit Recht darauf, daß die erste Generation von Industriearbeitern — und dasselbe galt in aller Regel für Handwerker, Bauern und Pächter — das neue Ethos des Individualismus einfach nicht begriffen; sie lebten noch im Ethos der Vergangenheit30. Abgesehen davon: die Chancen waren bei formaler Gleichberechtigung aller praktisch sehr unter­ schiedlich. Ihr Spektrum reichte weit: es gab den alten Reichtum be­ ruhend auf Grundbesitz, und den neuen Reichtum in Form von Geld­ kapital; es gab die alte Technik des Werkzeuges und der primitiven Kraftvorrichtung; daneben und dagegen entwickelte sich die neue Technik der Arbeits- und Kraftmaschinen. Es gab alle Stufungen des Besitzes vom größten bis zum kleinsten; vor allem aber gab es Besitz und Nichtbesitz; den letzteren in wachsendem Umfang. Kurz: es gab weder formale noch materielle Startgleichheit. Der klassische Individualismus glaubte die Startungleichheit dadurch beseitigen zu können, daß er alle Agenten im Marktprozeß unter das formale Prinzip des offenen Zugangs zum Markte und also des Wett­ bewerbs stellte. Er sah zu Smith’s Zeiten nicht voraus — Ricardo be­ merkte es erst in einer späteren Auflage seiner Principles, im 31. Kapi­ tel, Über Maschinenwesen —, daß der Übergang zur maschinellen Tech­ nik und der ihr entsprechenden Kapitaldimension die mögliche start­ egalisierende Wirkung des Wettbewerbs gründlich überrennen würden. Selbst so aber wäre die Startungleichheit gemildert worden, wenn Kapi­ talbildung und Arbeitsangebot sich im Gleichgewicht gehalten hätten. Aber das gerade war keineswegs der Fall, aus Gründen der starken Bevölkerungszunahme und der Auflösung alter Einkommens- und Erwerbstrukturen (Heimarbeit, feudale Gefolge, „enclosures“ von Ge­ meinland etc.); vor allem wegen der wirtschaftlich-technischen Dynamik des Zeitalters. Ohne diese Disparität wäre der Übergang von der vor­ industriellen zur industriellen Ära reibungsloser vollzogen worden als er nun war. Selbstinteresse und Wettbewerb hätten dann zu Löhnen und Preisen geführt, die den herkömmlichen Lebensstandard der

30 Ein Dokument der nachhinkenden Anpassung von Landarbeitern und kleinen bäuerlichen Existenzen an die industrielle Arbeit und die damit gehende Marktform des Arbeitsverhältnisses ist die als Manuskript gedruckte Schrift Ein Jahrhundert Fabrikleben auf dem Lande. Verfasser war der Sohn des Gründers der Schnellpressenfabrik Zell am Main, Friedrich von König. Die Schrift ist ein Dokument ersten Ranges für die sehr schwierige Einge­ wöhnung und Anpassung einer ländlichen Bevölkerung an industrielle Ar­ beitsverhältnisse. v. König vermerkt, daß es Jahrzehnte nahm, ehe man eine ins Industriesystem eingewöhnte Arbeiterschaft herangezogen hatte. Bemer­ kenswert ferner ist die mit dem Unternehmen gehende schnelle Hebung der Einkommen und des Wohlstandes der Belegschaft; aber auch der Wandel im Ethos der nun industriellen Bevölkerung.

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labouring poor31 bald weit überstiegen hätten. Wie wenig die sozialen Mißstände jener ersten Jahrzehnte auf das Wirtschaftssystem selber zurückzuführen sind, zeigt seit fast fünf Jahrzehnten das SowjetSystem, insbesondere heute das kommunistische China. Was immer das System der Wirtschaft sei, wenn chronische Disparität zwischen Kapital­ bildung und Arbeitsangebot vorliegt, ist soziales Elend nicht zu ver­ meiden32. 31 Die Geschichte dieser Verbindung zwischen Lohnarbeit und Armut hat An ton von Kostanecki in seinem Buche Arbeit und Armut. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte sozialer Ideen (Freiburg, Herder 1909) sorgfältig ge­ schildert. Bei Thomas Aquinas findet sich der Satz: „Mercenarii, qui locant operas suas, pauperes sunt, de laboribus suis victum quaerentes quotidianum“ (Summa II, I, q. 105, a. 2 ad 6.). Die späteren mittelalterlichen Statuten z. B. Heinrichs VII. aus den Jahren 1496/97, sprechen von „poor artificers“. Dann folgen zwei Gesetze der Königin Elisabeth, zunächst das bekannte Lehrlings­ gesetz (1561), das von „poor labourers“ spricht. Ein weiteres Gesetz von 1597 bis 1598 spricht von „poor artificers“, „labourers“. Von da ab geht die Ver­ bindung von „poor“ und „labourer“ in die englische Literatur ein; nach Ko­ stanecki „... jedenfalls seit dem 16. Jahrhundert setzen die Ausdrücke „poor labourers“ und „poor“ fast gleichzeitig ein, und beide beherrschen das Feld ganz ausschließlich. Im Laufe des 18. Jahrhunderts tritt aber der erstgenannte zu Gunsten seines damals aufkommenden Nebenbuhlers „labouring poor“ mehr und mehr zurück. Von den „poor“ spricht man indessen ganz in dem­ selben Maße nach wie vor.“ Häufig kommt einfach die Bezeichnung „the poor“ vor im Sinne von „Arbeitern“; so bei Davenant: „If the poor were always certain of work and pay for it, they would be glad to quit the nastiness which attends a begging and lazy life“; so bei Mandeville. 1767 spricht James Stuart von „industrious poor“. Kostanecki (S. 50) bemerkt, daß: „Erst mit dem Aus­ bruch der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts scheinen derartige synonyme Ne­ benbildungen fortzufallen. Erst jetzt steht der Ausdruck „labouring poor“ als ein weiterer Terminus fest da.“ Es zeugt für die eingefahrene Vorstellung, daß Lohnarbeit eng mit Armut verbunden sei, daß noch Ricardo gelegentlich von „the labouring poor“ spricht. Selbst John Stuart Mill (Principles, 1848) spricht gelegentlich noch von the „poor“ im Sinne von Arbeitern. 32 Die historische Kritik scheint inzwischen die Zustände des Kapitalismus im Übergang viel weniger dunkel zu malen als das herkömmliche Bild (mei­ stens vorgezeichnet von Friedrich Engels: Lage der Arbeitenden Klassen in England, 1844, und von Marx, vornehmlich im I. Band des Kapitels), sie dar­ stellte. Zeitgenössische britische Autoren wie Charles Babbage (On the Eco­ nomy of Machinery and Manufactures, London 1832) und Dr. A. Ure (Philo­ sophy of Manufactures, London 1835), über die Engels und Marx Hohn und Spott ausgossen, werden nach neueren Forschungen zur Ära des Übergangs zum Kapitalismus in gewissem Umfange rehabilitiert. Das Buch Capitalism and the Historians (1954) (herausgegeben von F. A. Hayek unter Mitwirkung britischer und amerikanischer Historiker, ferner Bertrand de Jouvenels) unter­ nimmt es, die Zustände des Übergangs und der I. Generation des Industrialis­ mus zurechtzurücken. Es sei besonders verwiesen auf Hayeks einleitenden Aufsatz History and Politics, und auf T. S. Ashtons The Treatment of Capita­ lism by Historians. Ashtons Beitrag The Standard of Life of the Workers in England 1790—1830 bringt eine Fülle interessanter statistischer Belege und Analysen. Das Buch belegt den Standpunkt, der hier betont wird: daß der entscheidende Faktor des sozialen Elends jener Jahrzehnte nicht das Wirt­ schaftssystem war, sondern die Disparität zwischen Kapitalbildung und Ar­ beitsangebot. G. von Schulze-Gaevernitz’ bedeutendes Buch Der Großbetrieb. Ein wirtschaftlicher und sozialer Fortschritt (1890) führt den Nachweis der sozialen Potenz der technischen Entwicklung an der Geschichte der britischen Baumwollindustrie.

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Wir erwähnten die Aufräumungsaufgaben des Liberalismus im poli­ tischen und wirtschaftlichen Sektor der westlichen Nationen und er­ innern uns der positiven Leistung, die die nach Selbstinteresse und Wettbewerb verfahrende „Gesellschaft von Händlern“ zu verbuchen hatte. Aber wir erinnern uns auch des weiten Spektrums persönlicher wie positionsbedingter Ungleichheit, das dem Einzelnen in dieser Ge­ sellschaft als Handelskompanie sich darbot. Wenn Disparität zwischen Kapitalbildung und Arbeitsangebot besteht und gleichzeitig die her­ kömmlichen Normen und Institutionen öffentlicher SozialVerantwortung abgebaut sind; wenn alte gefestigte Institutionen, Kostenstrukturen und Preise von der wirtschaftlichen Dynamik überrannt werden, dann gerät das herkömmliche Ethos unter scharfen Druck. Was gestern noch gelten­ des Maß an Verkehrsmoral von Grundherren, Gewerbemeistern, Geld­ verleihern und Händlern war, bietet eine Differenzialrente für die­ jenigen, die aus der Norm durch Unterbietung ausbrechen. Bezeichnen wir das gewohnheitsmäßige, in Sitte und Sozialrecht verankerte Mini­ mum an Verkehrsmoral als Grenznorm, als dasjenige Maß, das ,noch hingenommen wird*, als ,marginales Ethos* also, dann ist jede Unter­ bietung dieser Norm ,submarginal‘: ein Wildern im verbotenen Gehege. Erweist sich dieses Unterbieten als erfolgreich, dann löst es Wettbe­ werbsdruck gegen das bisherige Grenzethos aus; langsam senkt es sich auf eine tiefere Ebene ab, die nun zur marginalen wird. Herbert Spencer hat diesen Sachverhalt gesehen und in seinen Essays Moral (S. 134) sehr plastisch geschildert: „Wer in der Welt der Wirtschaft lebt, muß ihre sittlichen Maßstäbe sich zu eigen machen. Er darf sie weder überschreiten noch unterschreiten, noch darf er zu viel oder zu wenig Ehrlichkeit besitzen. Wer diese ethischen Grundsätze unterschreitet, wird ausgeschieden; jeder der sie nach oben überschrei­ tet, wird entweder heruntergezogen oder ruiniert. Wenn in Selbstver­ teidigung der zivilisierte Mensch zum Wilden unter Wilden wird, so scheint es wird der gewissenhafte Kaufmann gezwungen, genauso wenig skrupulös zu sein wie sein Konkurrent. Man sagt, das Gesetz der tierischen Welt sei „Fresse oder werde gefressen“; unsere Welt der Wirtschaft, so könnte man sagen, steht unter einem ähnlichen Gesetz: „Schwindle oder werde beschwindelt.** Ein System scharfer Konkurrenz, das, wie die Wirklichkeit zeigt, ohne entsprechende moralische Hem­ mungen verfährt, käme einem kommerziellen Kannibalismus sehr nahe. Seine Alternative: „Bediene dich derselben Waffen wie der Gegner, oder du wirst besiegt oder vernichtet.“

f) Die Dialektik des individualistischen Ethos Das Absinken eines geltenden Standards erfolgt nicht schlagartig und in der ganzen Breite; es geht von Einzelnen aus, die auf die Differen­

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zialrente aus Unterbieten der Standards bedacht sind. Ihnen folgen andere, bis sich schließlich die neue Ebene der Grenzmoral unterhalb der bisher geltenden formiert hat. In dem Vorgang liegt ein hoher Grad von moralischer und soziologischer Zwangsläufigkeit; der in diesen Prozeß verwickelte und von ihm bedrohte Einzelne ist im Zweifelsfall weder ein Heiliger noch ein Märtyrer, wenn seine Existenz auf dem Spiele steht. Im Durchschnitt fügt er sich dem submarginalen Druck33. Eine Analogie zu Greshams Gesetz scheint hier vorzuliegen: Wie nach Thomas Gresham — Schatzkanzler der englischen Königin Elisabeth (1558—1603) — das schlechte Geld das gute verdrängt, so verdrängt, ceteris paribus, das gesenkte Ethos das gehobene. Ein klassisches Bei­ spiel bietet das Schicksal des patriarchalischen Unternehmers; er ver­ trat, gemessen am Ethos von Selbstinteresse und Wettbewerb, ein höheres Niveau, indem er bessere als Marktlöhne zahlte, mit Ent­ lassungen rücksichtsvoller war, Wohnungen und Sparkassen für seine Leute einrichtete usw. Aber sein intramarginales Ethos war auf die Dauer dem Druck der Konkurrenz nicht gewachsen; er mußte sich dazu verstehen, auch Marktlöhne zu zahlen und sich den üblichen Praktiken betreffend Arbeitsbedingungen anzupassen.

Zwei Parenthesen sind hier einzuschalten. 1. Es könnte scheinen, als ob submarginale Vorstöße in aller Regel moralisch verwerflich wären; doch das ist nicht der Fall. Alte, obsolete Betriebe in Industrie, Handwerk, Landwirtschaft und Geldwesen emp­ finden das neue Ethos als im höchsten Maße ,submarginar weil für sie destruktiv, obschon, auf weitere Sicht gesehen, wirtschaftlich-technische Neuerungen zur Hebung der allgemeinen Wohlfahrt entscheidend bei­ tragen. Dieser Fortschritt, die Marktausweitung ermöglicht durch bes­ sere Verkehrs- und Transportmethoden, Herstellung neuer Waren und neuer Kreditformen, zerstören unvermeidlich frühere Formen der Pro­ duktion, der Zirkulation und Verteilung; sie erschüttern dabei das traditionale Ethos; aber im Endergebnis ist ihr Beitrag zur Wohlstands­ mehrung weiter Kreise der übergeordnete Wert. Von dieser Art sub­ marginaler Vorstöße zu unterscheiden sind jene, die, ohne gesellschaft­ liche Vorteile mit sich zu bringen, bloß dem Privatinteresse von Speku­ lanten, Schiebern und Kettenhändlern dienen: jener Kreise, für die der

33 Werner Schoellgen hat das Theorem von der Grenzmoral, das ich 1920 in meiner Kritik von Spenglers Untergang des Abendlandes, und später in dem von Vierkant herausgegebenen Handwörterbuch der Soziologie behan­ delte, in einer Sonderuntersuchung als äußerst fruchtbar vom moraltheologi­ schen Standpunkt nachgewiesen. (W. Schoellgen, Grenzmoral. Soziale Krisis und neuer Aufbau, Düsseldorf 1946.) Die Tübinger Dissertation von Dr. Helmuth Schneider über Grenzmoral (1956) behandelt das Problem vornehm­ lich in seiner wirtschaftlichen Bedeutung.

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englische Sprachgebrauch die Bezeichnungen chiseling, profiteering, racketeering und sharp dealers hat. 2. Die Analogie zu Greshams Gesetz — daß submarginale Praktiken auf die Dauer Ethos-Entropie veranlasse — hat ihren guten Sinn. Wenn das schlechte Geld das gute verdrängt, kann das Wirtschaftsleben schließlich auch mit schlechtem Geld auskommen; es richtet sich durch Anpassung von Kosten, Preisen und Einkommen auf das schlechte Geld ein. Damit verschwindet der Unterschied zwischen gutem und schlech­ tem Geld; das früher schlechte Geld ist nun Geld schlechthin. Silber­ oder Papiergeldumlauf ersetzen etwa eine frühere Goldwährung; aber gerade die Wahl der minderwertigen Währung kann erneute Chancen für die Entropie bis zu dem Punkte öffnen, wo die Währung wertlos wird. Wenn der Prozeß nicht gebremst wird, dann hilft nichts als die Rückkehr zu wertbeständigem Geld. Dasselbe gilt, analog, für die Dynamik der Grenzmoral. Ethos-Entropie mag ein langsamer oder ein schneller wirkender Prozeß sein, der jeweils Anpassungen in Sparen, Investieren, Preisen und Einkommen erfordert; aber der Verlauf selber involviert immer stärkere Demoralisierung und soziale Ungerechtigkeit, die beide schließlich dazu nötigen, dem Absinken des geltenden Ethos entgegenzuwirken. Mit anderen Worten: Der entropische Druck ruft ektropische Gegentendenzen hervor. Ektropische Gegentendenzen erscheinen in folgenden Formen: 1. Die Gesetzgebung zieht Grenzen gegen das Absinken der Verkehrsmoral am Kapitalmarkt, am Arbeitsmarkt, an Warenmärkten usw. Typisch die Gesetze gegen unlauteren Wettbewerb, zum Schutze von Frauen- und Kinderarbeit, die gesetzlichen Normen für Börse, Banken, Aktiengesellschaften usw. 2. Wirtschaftlich identische Interessengruppen entwickeln ethische Normen für ihren Innenverkehr z. B. durch Vereinbarungen betreffend den Börsenverkehr, den Großhandel, unter Ärzten usw. Ein Teil der Usancen ist Ausdruck von solchen gentlemen-agreements; sie stabili­ sieren grenzmoralische Normen für ihren Innenkreis. Dasselbe gilt im Kreis der Gewerkschaften (der ethische Kodex des Amerikanischen Gewerkschaftsbundes von 1956/57), für Kartelle, für Bauern- und Hand­ werkerverbände. Etwas wie geschäftsmäßige Berufsehre, vergleichbar der Standesehre des Offizierscorps und der Beamtenschaft, bildet sich für das Innenverhältnis von Wirtschaftsverbänden. 3. Verschärfter Preiswettbewerb ruft vielfach submarginale Einbrüche hinsichtlich der Menge und Güte von Waren und Dienstleistungen her­ vor. Es kann sich dann als profitabel erweisen, Formen des unvoll­ ständigen oder monopolistischen Wettbewerbs zu entwickeln, in denen Menge und Güte der Ware oder Leistungen garantiert werden — unter

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gleichzeitiger Fixierung eines Markenpreises. Der Markenhandel sucht seinen Vorteil durch Ausweichen vor dem submarginalen Druck gegen Warenmenge und Warengüte; dabei verschiebt sich der Wettbewerb vom Preis auf andere, dem Verbraucher wichtige, Leistungen. 4. Es bilden sich Kampf-Verbände solidarischer Innenhaltung für die Vertretung von ihnen definierter Interessen gegenüber anderen Marktpartnern. Das Organisationsmotiv beruht auf der — faktischen oder unterstellten — Identität von Interessen für Abwehr und Angriff, sei es am Arbeitsmarkt (die Gewerkschaften), an Warenmärkten (Kar­ telle), am Geld- und Kapitalmarkt, selbst für öffentliche und profes­ sionelle Dienste.

Alle erwähnten Abwehrformen gegen den freien Wettbewerbsmarkt und seine jeweils als submarginal empfundenen Tendenzen sind im späteren 19. Jahrhundert, dann in höchst gesteigerter Umfassung im 20. Jahrhundert, am Werk gewesen. Sie alle haben, direkt oder in­ direkt, zur Entwicklung der pluralistischen Gesellschaft ihren Beitrag geleistet.

In unserem Zusammenhang ist der Vorgang unter 4., der Aufstieg von Interessenverbänden, von entscheidender Bedeutung.

III. Die Entwicklung zum Liberalismus der zweiten Phase

a) Der Liberalismus der Teil-Kollektive Die Analyse des klassischen Liberalismus führt zur Frage nach dem Verhältnis der Verbände zu den liberalen und individualistischen Grundsätzen und zur wirtschaftlich-sozialen Wirklichkeit des 19. Jahr­ hunderts. Grundsätzlich gibt es drei Möglichkeiten: die bestehende Ordnung kann Verbände dieser Art als Fremdkörper empfinden, sie darum ablehnen oder verbieten; oder sie kann sie innerhalb ihres Ord­ nungsprinzips und -gefüges als Hilfsveranstaltungen für begrenzte Zwecke anerkennen und ihnen damit eine relative Daseinsberechtigung geben; oder schließlich: sie kann sie als zu ihrem Bestand integral ge­ hörend anerkennen. Angewandt auf unseren Fall fragt sich:

Öffnet die wirtschaftliche und soziale Dynamik der liberalen Wirt­ schaft Spielräume für Verbandszwecke und Verbandspolitik, sofern Interessenverbände toleriert, wenn nicht sanktioniert werden? Das mag davon abhängen, ob eine Verbandsart getragen wurde von sozialen Gruppen, die den liberalen Kapitalismus grundsätzlich aner­ kennen; oder von solchen, die ihn als System empfanden, dessen Würfel gegen sie geladen waren. Hier ist nun gleich zu bemerken, daß die 3 Briefs

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Interessenverbände zwar die Stadien der Ablehnung und der Tolerie­ rung durchlaufen haben, daß sie aber weder die subjektive noch die objektive Anerkennung als gesellschaftsintegrierende Gebilde erreich­ ten. Die im engeren Sinn gewerkschaftlichen Interessenverbände der Ar­ beiter traf von vorne herein der Vorwurf, Fremdkörper im Wirtschafts­ system zu sein und zwar aus beiden erwähnten Gründen: sie entstanden mit dem Durchbruch und Hochschwung des liberalen Kapitalismus, und sie waren sicherlich nicht seine Träger; im Gegenteil, diese Ordnung wurde ihnen (als einer zunächst peripheralen Schicht) gesetzlich wie praktisch auferlegt. Die Arbeiterbewegung in ihrer politischen wie in ihrer gewerkschaftlichen Gestalt war die Antwort. In beiden Gestalten wurde sie als systemfremd empfunden und entsprechend behandelt. Langsam aber fand die Gewerkschaft ihre „klassische“, d. h. ihre im System tragbare und von Rhythmus und Dynamik der Wirtschaft ab­ hängige Struktur und Funktion; entsprechend wurde sie als Hilfsein­ richtung für das Arbeitsverhältnis toleriert. Obgleich auch die Kartelle der Geschäftswelt anfänglich scharfer Kritik ausgesetzt waren, bis zum gesetzlichen Verbot z. B. in den Vereinigten Staaten, fanden sie schnel­ ler als die Gewerkschaften ihre Anerkennung, weil sie sich im Abklang der liberalen Ära formierten und zudem aus den Kadres der liberalen Geschäftswelt selber stammten. Wieso kann die Gewerkschaft, und dasselbe gilt für die Kartelle, auf dem Boden der herrschenden Ordnung existieren? Widerstreitet nicht schon der Verband als solcher dem Prinzip des Individualismus? Gilt nicht dasselbe für die Verbandsverantwortung, für das Verbandsinter­ esse; schließlich: Wo bleibt der Wettbewerb unter Individuen, wenn die Verbandspolitik Wettbewerb unter Mitgliedern ausschließt und ihre Tendenz auf das Monopol in ihrem Sektor des Marktes zielt? Allgemein ist zu sagen: theoretisch gesehen mögen die Verbände mit den Prinzipien der individualistischen Ordnung in offenbarem Wider­ spruch stehen, aber praktisch findet die Anwendung dieser Prinzipien im Wirtschaftsprozeß selber Chancen für erfolgreiche Verbandspolitik.

Die Frage bleibt, was wird aus dem liberalen Prinzip? Wird es hoff­ nungslos durchlöchert? Das liberale Prinzip, so sagten wir, ist grund­ sätzlich negativ: Der Staat hat nur subsidiäre Aufgaben und Verant­ wortungen für das Wirtschaftsleben., Er „steckt die Rennbahn ab“, wie Adam Smith sagte. Er sorgt für Sicherheit nach innen und nach außen, für Recht und Gesetzlichkeit in dem engen Rahmen, wie es der klassische Liberalismus verstand. Es ist keinesfalls seine Aufgabe, wirtschaftliche Kontrollen und soziale Normen zu erlassen. Gewerk­ schaften und Kartelle bestanden in ihren Anfängen darauf, daß der Staat ihnen keine Hindernisse in den Weg lege, daß die Gerichte ihnen

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keine Beschränkung aufnötigen usw. Sie wollten „freie“ Verbände sein, frei in erster Linie von allen gesetzlichen oder richterlichen Hem­ mungen. Es ist für diesen Verbandsliberalismus bezeichnend, daß die im Fahrwasser des Marxismus entstehenden Gewerkschaften zunächst die Bismarcksche Sozialversicherung ablehnten — bis sie merkten, daß diese auf die Dauer in ihre Hand spielte, insofern sie die Dimension der Gewerkschaftsfähigkeit und der Gewerkschaftswilligkeit durch ein Maß an Lebenssicherung erweiterte. Dann wurden sie zu energischen Vertretern von immer mehr Sozialpolitik und Sozialversicherung. Aber das gehört der zweiten Phase, der Phase nach 1890, an34. Offenbar steht das Verbandsprinzip in Spannung und Gegensatz zur liberalen Wirtschaftsordnung; ein Sachverhalt, der um so bemerkens­ werter ist, als es diese Wirtschaftsordnung existentiell voraussetzt. Das gilt ausgesprochen für die Anfänge der Gewerkschaft, und es gilt einigermaßen bis heute. Da die Gewerkschaften die Urform der moder­ nen Interessenverbände darstellen und ihre Anfänge in den Durchbruch und Hochschwung des Liberalismus zurückreichen, beginnen wir unsere Analyse mit der Frage nach dem „Gesetz“, nach dem sie „angetreten“ sind. Das Gesetz ist der klassische Wirtschaftsliberalismus in seinem positi­ ven Aspekt, dem wirtschaftlichen Individualismus. Die Arbeiterbe­ wegung, wie sie sich zuerst in England meldete, war ihrer selbst un­ sicher und unklar in Methodik und Zielen. Sie schwankte zwischen Sklavenaufstand (Ludditen Unruhen 1811—14), Hilfskassen auf Gegen­ seitigkeit (Friendly Societies) und politischer Bewegung (Chartismus). Erst seit 1852 formt sich das Gewerkschaftsprinzip klar heraus: es ist das Prinzip grundsätzlich pragmatischer Politik auf dem Boden der

34 In den U. S. A. hat sich der Gewerkschaftsbund, trotz der schon tiefen Depression, noch auf seiner Jahresversammlung von 1931 schärfstens gegen Sozialversicherung einschließlich der Arbeitslosenversicherung ausgeprochen, als Einrichtungen, die für Europa gut sein mögen, aber nicht für Amerika. Aber auf der nächsten Jahresversammlung wehte ein anderer Wind, der sich in der späteren Rooseveltschen New Deal Gesetzgebung nachdrücklich be­ merkbar machte. Freilich ist für diese Phase kennzeichnend, daß Arbeits­ losenversicherung die späteste Einrichtung war; sie stammt für Deutschland aus dem Jahre 1927; ähnlich und noch später wurde sie in anderen westlichen Ländern eingerichtet. Der Grund ist Idar: Arbeitslosenversicherung hemmt das freie Marktspiel der Lohnfindung und stört damit den Lohn als Funk­ tion von Angebot und Nachfrage. Das trifft nicht zu für jene Umstände, die den Arbeiter ohnehin vom Markte entfernen, also nicht für Unfälle, Krankheit, Invalidität und Alter. In solchen Fällen wirkt die Versicherung als Rotes Kreuz hinter der Marktfront, stört also nicht das reale Angebotsund Nachfrageverhältnis. Hinsichtlich der Kartelle ist Analoges zu be­ merken; ihre Existenz hing meistens an Schutzzöllen; ohne sie wäre die Kartellentwicklung in Deutschland nie so stark geworden. So war für die Kartelle der Schutzzoll ein Kausalfaktor parallel dem, den die Gewerk­ schaften an der staatlichen Sozialpolitik und Sozialversicherung hatten. 3*

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bestehenden liberal-kapitalistischen Ordnung. Hier und jetzt hat Or­ ganisation Chancen des Erfolges; sie können durch Verbandsaktion ausgenutzt werden. Der Verband also adoptiert die Grundsätze der individualistischen Ordnung für sich; er besteht auf seiner Selbstbestimmung, auf seiner Selbstverantwortung für seine Handlungen — sie gehen niemand etwas an —, auf dem ausschließlichen Verbandsinteresse, und auf der Kon­ kurrenz, der Auseinandersetzung mit dem Arbeitgeber und seinen Ver­ bänden. Der Verband besteht auf seiner Aktivlegitimation für seine Mitglieder, möglichst über deren Kreis hinaus, für den vom Verband gedeckten Sektor der Industrie; er will Löhne und Arbeitsbedingungen verbessern, eventuell mit der Streikdrohung oder dem Streik. Dieser Sachverhalt sei als das Gesetz des Antritts der Gewerkschaften ge­ kennzeichnet. Prinzipiell betrachtet stand die Gewerkschaft in offenbarem Gegen­ satz zur herrschenden liberalen Ideologie und Praxis; aber da, wo Arbeiter entweder durch ihre Gelerntheit oder durch momentane Markt­ konstellation die Disparität von Kapitalbildung und Arbeitsangebot überwanden, konnten sie das Verbandsprinzip erfolgreich anwenden. Darum fing die Gewerkschaftsbewegung in aller Regel bei den gelernten Arbeitern an; hier formierten sich zuerst relativ stabile Verbände; aber bei Konjunkturverfall wurden auch sie mitbetroffen; ihre Mitglieder­ zahl schmolz zusammen, ebenso ihre Kassenbestände — bis ihr der nächste Konjunktur aufschwung neue Chancen bot. In manchen Ländern, vor allem des europäischen Kontinents, sind die Gewerkschaften in der Umfassung der politischen Arbeiterbewegung, vorab des Marxismus, entstanden. Wo immer aber, und soweit sie die gewerkschaftlichen Ziele ernst nahmen, adoptierten sie das pragmati­ sche Prinzip, wie es zuerst in Großbritannien entwickelt wurde. Die schließliche Wirkung war, daß mit dem gewerkschaftlichen Erfolg der marxistische Antrieb erlahmte und die politischen Ziele sich nach ge­ werkschaftlichen Maßstäben, vornehmlich der Demokratie als der offen­ sten Form für gewerkschaftliche Aktionen, umorientierten. Die Kartelle der Unternehmer stehen unter dem gleichen Gesetz des Antritts, mit dem Unterschied freilich, daß es hier nie von ideologischen Motiven begleitet wurde. Kartelle waren von Haus aus pragmatisch, rein sachzweckbestimmt. Wenn Karl Legien, der langjährige Leiter der Generalkommission der Gewerkschaften, den Zweck der Gewerkschaf­ ten dahin formulierte, daß sie durch Zurückhaltung der Arbeit bessere Arbeitsbedingungen erzielten, so definierte er die Gewerkschaft als Kar­ tell, als Mengen- und Konditionenkartell. Nach Methodik und Ziel sind Gewerkschaften und Kartelle identisch; wenn die ersteren eine sozial­ politische Institution, begründet von Arbeitern für Arbeiter sind, so

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sind die Kartelle eine sozialpolitische Institution begründet von Unter­ nehmern für Unternehmer, von Firmen für Firmen; in beiden Fällen ist eine sozialpolitische Zweckbestimmung gegeben. b) Die Übernahme liberal-individualistischer Grundsätze durch die Verbände

Gewerkschaften, Kartelle, landwirtschaftliche Interessenverbände usw. sind Einrichtungen für die Abwehr eines von ihnen empfundenen oder vorgegebenen submarginalen Druckes; darüber hinaus für das corriger leurs fortunes am Markte. Sie treten zuerst sporadisch und ver­ suchsweise auf, in der Gunst oder Ungunst konkreter Marktverhält­ nisse; darum waren sie in aller Regel zunächst prekären Bestandes. Für sie alle dauerte es geraume Zeit, bis sie die Bedingungen ihrer Existenz und Funktion begriffen und entsprechend ihre Struktur und Pro­ gramme entwickelten. Sie alle machten die entscheidende Erfahrung, daß sie auf die Dauer nicht gegen den Rhythmus und die Dynamik des Marktes wirksam sein konnten. Hier liegt ein Sachverhalt von grundsätzlicher Bedeutung. Die Inter­ essenverbände durchlebten eine Phase eigener Art, solange und soweit sie in ihrer Existenz und Funktion durchaus von der Marktlage bedingt waren. Wir bezeichnen diese Periode als ihre erste Phase; wir kennzeich­ nen sie dahin, daß in ihr die Verbände sporadisch waren, um ihre Struk­ tur und mögliche Funktion rangen und über den Charakter von abhän­ gigen Variablen nicht hinauskamen. Abhängig wovon? Im Anschluß an Schumpeters Theorie des Kapitalismus verweisen wir auf die Schlüssel­ stellung des innovierenden Unternehmers; er ist der einzige „freie“, vom statischen Marktgesetz durch Innovation ausbrechende Agent. Seine erfolgreichen technisch-wirtschaftlichen Fortschritte und die Markt­ erweiterung, die, in ihrer Häufung und begleitet von Kreditausweitung, Aufschwung und Hochschwung einleiten, setzen die Voraussetzung für den gewerkschaftlichen Erfolg. An der Verknappung des Arbeitsmark­ tes einerseits, andererseits an der anfallenden Profitmasse, gewinnen die Gewerkschaften ihr Maß von Bewegungsfreiheit.

Man kann die Abhängigkeit der Gewerkschaft vom innovierenden Unternehmer in drei Thesen darstellen: Die Gewerkschaft setzt den Lohnarbeiter voraus; der Lohnarbeiter setzt die Arbeitsstelle voraus; die Arbeitsstelle setzt den Unternehmer voraus, der sie schafft und in Gang hält unter der Bedingung, daß sein Unternehmen rentabel ist. Ähnliches gilt für das Kartell; es setzt die operierenden Firmen voraus; die Firmen setzen den Markt voraus; der Markt setzt den Verbraucher voraus; wenn seine Nachfrage versagt, versagt auf die Dauer auch das Kartell; Kartellpreise und Kartellkonditionen geben dem vom Markt herkommenden Druck nach, eventuell mit der Folge der Zerstörung

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des Kartells. Das primitive Preiskartell der Anfänge zeigte eine ähnlich hohe Verfallsrate wie die frühen Gewerkschaften. Auf eine Schluß­ gleichung gebracht: Gewerkschaften und Kartelle setzen den Verbrau­ cher voraus, der in seiner Gesamtheit den Markt konstituiert. Der Markt seinerseits setzt den Unternehmer voraus als die Achse, um die sich der Prozeß dreht. Für diese Phase der Organisation gilt: Die Spiel­ räume der gewerkschaftlichen Bewegungsfreiheit sind letztlich vom Er­ folg oder Mißerfolg unternehmerischer Handlungen bestimmt35.

Hier rühren wir an einen Unterschied zwischen Kartell und Gewerk­ schaft. Kartelle sind grundsätzlich Mittel unternehmerischer Einfluß­ nahme auf die Marktlage (zum Markt in diesem Sinn gehört auch das Konditionenkartell, die in Deutschland weitest verbreitete Art des Kar­ tells). Anders als die Gewerkschaft in dieser Phase können straffe Kar­ telle Kontrolle über Angebot und Preise gewinnen ohne technisch-wirt­ schaftliche Innovationen und Markterweiterungen, ohne neue Produkte auf den Markt zu bringen oder herkömmliche Produkte zu verbessern. Soweit sie Angebot und Preise kontrollieren, erzielen sie Gewinne, die nicht aus Innovationen stammen. Soweit Kartelle durch bloße Ange­ botsregulierung monopolistische Marktmacht ausüben, sind die ange­ schlossenen Firmen nicht Unternehmer im Schumpeter’schen Sinn. Ana­ log gilt dasselbe für die Gewerkschaften hoher Berufsausbildung, soweit sie das Angebot von Arbeitskräften in ihrem Sektor unter Kontrolle nehmen konnten (closed shop, union shop, closed union). Sofern Kar­ telle ihren Markt beeinflussen, gewinnen jene Gewerkschaften einen er­ höhten Spielraum, die im erfolgreichen Kartellsektor angesiedelt sind, während die im kartellfreien Raum ansässigen Verbände die Zeche für die Erfolge der im kartellierten Sektor ansässigen Gewerkschaften mit­ zahlen. In diesem Fall eröffnet der Monopolgewinn den betreffenden Gewerkschaften ihre Chance; es besteht ein bilaterales Monopol36.

35 Diese gegenseitige Bedingtheit zwischen gewerkschaftlicher Existenz und gewerkschaftlichen Erfolgen einerseits, dem Kapitalismus und dem Unternehmertum andererseits, hat der hervorragende Führer der ameri­ kanischen Gewerkschaft der Damenkleiderbranche, David Dubinsky, seiner­ zeit auf die Formel gebracht: Unions need capitalism like the fish needs the water. Was er hier für die Gewerkschaften aussprach, nämlich, daß sie den Kapitalismus als System voraussetzen, gilt natürlich für alle modernen Interessenverbände. Ohne den Kapitalismus als operatives System würde ihnen die Voraussetzung ihrer Existenz fehlen. 36 Doch sollte man hier unterscheiden. Es gab und gibt einen Kartelltypus, vor allem in wenig dynamischen Industrien (im früheren Spiritus-Kartell, in Zweigen der Textil-Industrie), der durch Angebotskontingentierung Ren­ tabilität zu sichern trachtete. Anders kann es bei Syndikaten liegen, dem höchst entwickelten Kartelltypus, gekennzeichnet durch Absatzprognose, Quoten und zentrale Verkaufsstelle. Das Syndikat hat sich in einer Reihe von Fällen als Vorbedingung wirtschaftlich-technischer Fortschritte erwiesen. Das galt zum Beispiel für den Rheinisch-Westfälischen Kohlenbergbau. Die weite Streuung der Betriebe — viele Kleinbetriebe neben wenigen großen —

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c) Der Verband wird zur Institution Im Grade wie die Voraussetzungen zweckmäßiger Organisation und erfolgreicher Verbandspolitik erkannt und beachtet werden, gewinnt der Verband an Stabilität; der lange Aufschwung seit 1895 verknappte den deutschen Arbeitsmarkt mit der Wirkung des Zuflusses aus land­ wirtschaftlichen Gebieten, zumal des Ostens, selbst aus Polen und Österreich. Die Industrie im Rhein-Ruhr-Revier, die zunächst aus der Umgebung, der Eifel und dem Westerwald, Arbeitskräfte abgesaugt hatte, griff auf die Überschußarbeiterschaft der östlichen Güter über. Ähnliche Ausweitungen des Arbeitsmarktes traten schon früh in den Vereinigten Staaten als Dauervorgang auf durch freie Einwanderung bis 1922, durch Binnenwanderung seit der um sich greifenden Mechani­ sierung in der Landwirtschaft des mittleren Westens.

Wie das Verbandsprinzip Momentum gewann, befestigte der Verband sich zur Institution; er bestimmte den Umfang seiner Aufgaben und ent­ wickelte bürokratische Verwaltung. Er bildet sich sein Führungscorps; nicht mehr, wie bei den ersten Gewerkschaften, geht die Leitung unter den Mitgliedern reihum oder wird nebenberuflich besorgt. Entsprechend dem Verbandswachstum und seiner Institutionalisierung tritt der ur­ sprünglich „brüderliche“, solidarische, demokratische Geist im Verband zurück; die größere Wirksamkeit sachkundiger Leitung tritt in den Vor­ dergrund. Am Erfolg wird aus den sporadischen und oft ephemeren Ge­ werkschaften und Kartellen der ersten Anfänge die Gewerkschafts- und Kartellbewegung ausgelöst; das Verbandsprinzip gewinnt an Verbrei­ tung und Ansehen. Die lange Welle des konjunkturellen Niedergangs, unterbrochen nur von kurzwelligen Erholungen, zwischen 1873—1895 ist die Inkubationsperiode vieler Kartelle und Gewerkschaften; in ihr zeigten sich zuerst erfolgreiche Bemühungen auch ungelernter Arbeiter, sich zu organisieren (Londoner Docker-Streik, 1889). Gegen Ende der 90er Jahre kam dann die lange Aufschwungswelle, der von Schumpeter führte zu scharfem Wettbewerb und unrentablen Preisen; bei schlechtem Geschäftsgang legten viele der kleinen Zechen einfach still, um wieder auf­ zumachen, sobald die Preise etwas anzogen. Damit lag ein konstanter Druck auf dem Preisspiegel; die Wirkung war, daß Investitionen für technisch­ wirtschaftlichen Fortschritt ungenügenden Anreiz in der Ertragslage fanden. Erst nachdem 1893 das Syndikat gegründet war, bot sich genügend Anreiz für Innovationen und stärkere Investierungen. Ähnlich lagen die Dinge vor der Gründung des Rheinisch-Westfälischen Zement-Syndikats und in der Eisen- und Stahlindustrie. In diesen Fällen bot Syndizierung die Voraus­ setzung zu technisch-wirtschaftlichem Fortschritt, Verbesserung der Pro­ duktqualität (Zement!) und Markterweiterung. Die These Schumpeters vom Monopol als zeitlich begrenzten Phänomen im dynamischen Fortschritt der Wirtschaft findet hier ihre Bestätigung — mit dem Vorbehalt freilich, daß die befestigten Syndikate der Schwerindustrie über die Zyklen hinweg Oligo­ pole oder monopoloide Marktmacht bewahrten, sei es hinter dem Zollschutz, sei es gedeckt durch internationale Kartellvereinbarungen.

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sogenannte dritte „Kondratieff“. Mit ihm stiegen Preise und Gewinne; eine milde Inflation löste den Preisverfall der vorigen Jahrzehnte ab; in der Gunst des preis- und gewinninflationären Trends schossen Kartelle auf vielen Marktgebieten erneut auf, und gewann die Gewerkschafts­ bewegung an Breite und Stabilität. Das Verbandsprinzip fand seine Chance teils durch die Häufung wirt­ schaftlich-technischer Fortschritte (zunehmend wirtschaftliche Ausnut­ zung wissenschaftlicher Forschung in Landwirtschaft, Chemie, Elektro­ technik, Mechanik usw.) und die Markterweiterung; teils indem es nun durch Nachahmung dort Anwendung fand, wo es früher keinen Boden hatte fassen können. Es kennzeichnet diese Periode, daß jetzt Gewerk­ schaften ungelernter Arbeiter sich stabilisierten; daß ferner Kartelle dort Fuß fassten, wo sie vorher nicht aufgekommen waren. „Kinder der Not“ (Kleinwächter) in der wirtschaftlichen Flaute, wurden sie nun zu Mitteln, „den Markt in Ordnung“ zu bringen, seine „Schwankungen zu mildern“, „anständige“ Profite, Preise und Zahlungsbedingungen durch­ zusetzen; vielleicht sogar den Markt, wenn nicht zu beherrschen, so doch von der Angebotsseite her zu manipulieren (Syndikate der Schwer­ industrie seit 1893).

Die Verbandsausbreitung erfuhr weitere Beschleunigung dadurch, daß neue Verbände nun aus dem Motiv der Gegenmacht aufkamen: gegen die Gewerkschaft bilden sich Arbeitgeberverbände, gegen Kar­ telle der Schwerindustrien bilden sich Halbzeugverbände und Verbände von weiterverarbeitenden Firmen und Industrien. Generell, wie das Galbraith37 tut, die Verbandsbildung auf das Prinzip der Gegenmacht zurückzuführen, ist unhaltbar; die Formation von Gegenmacht ist ein Motiv neben anderen und nicht primären Ranges. Viel wichtiger da­ gegen war das Motiv der Nachahmung des auf einem Gebiet offenbar bewährten Prinzips nun auf einem anderen; also auf landwirtschaft­ lichen Märkten, bei Verarbeitungsindustrien, Angestellten, Beamten und selbst professionellen Berufen. Aus den sporadischen Anfängen des Verbandsprinzips entstand die Verbandsbewegung in breitem Umkreis.

Mit dem wachsenden Umfang der Verbandsbewegung tritt das Ver­ bandsprinzip in seine zweite Phase. Es bleibt in dieser Phase entschei­ dend wichtig, daß die Verbände über den Charakter abhängig variabler Faktoren im Wirtschaftsprozeß nicht hinauskamen. Es überlebte noch der Nachhall des Individualismus in der Überzeugung, daß Selbstinter­ esse und Wettbewerb die „natürliche“, die „vernünftige“ Steuerung fort­ schrittlicher Wirtschaft seien. Darüber war die öffentliche Meinung, ab­ gesehen von Arbeiterschaft und Handwerkern, immer noch ziemlich 37 American Capitalism. The Concept of Countervailing Power, 1952, 2. Aufl. 1956.

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einstimmig; ihr erschienen Kartelle und Gewerkschaften mehr oder weniger noch als Ausnahmen und Notstandsbehelfe. Neben diesen Moti­ ven die sehr reale Marktlage, die noch in Wettbewerb und Individual­ interessen sich geltend machte; und nicht zuletzt die institutioneilen Sicherungen des freien Marktes, die von der klassischen Goldwährung, der Diskontpolitik der Zentralbanken und der Rücksicht auf die Zah­ lungsbilanz herkamen. Der Charakter der Verbände als abhängiger Variabler trat in voller Klarheit bei Abschwung und Depression zutage; hier meldeten sich die Grenzen des Verbandsprinzips erneut und der Sachverhalt, daß Erfolg und Mißerfolg der Verbände von der Dynamik des wirtschaftlichen Prozesses abhängig waren. Abschwung und De­ pression zeigten ihnen, daß sie an Rhythmus und Dynamik der Wirt­ schaft gebundene, abhängige Variable waren. d) Der Verband als Quasi-Person der liberalen Ordnung

Grundsätzlich ist festzustellen, daß die Verbände kein autonomes Prinzip eines verbandseigenen Wirtschaftssystems besitzen: kein Leit­ bild einer gewerkschaftlichen oder kartellarischen Gesamtordnung der Wirtschaft. Die bestehende Ordnung ist das Datum für sie auch in dieser zweiten Phase. Sie sind und bleiben Suprastrukturen abhängig von der liberal-kapitalistischen Grundlage. Das gilt auch für die im sozialisti­ schen Bereich entstandenen Verbände; soweit sie als Gewerkschaft fun­ gieren, sind sie an die bestehende Ordnung gebunden. Das hielten ihnen die orthodoxen Intellektuellen des Marxismus vor; je mehr aber die Gewerkschaften fanden, daß hier und jetzt mit ihren Mitteln Erfolge zu verbuchen waren, revidierten sie, unterstützt von Eduard Bernsteins Angriff auf die Marxsche Orthodoxie, ihren Marx: die Avantgarde der Arbeiterbewegung wurde zunehmend die Gewerkschaft, also eine In­ stitution, die das herrschende System der Wirtschaft voraussetzt. Man kann sich einen Dialog zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaft vorstellen, in dem die letztere so argumentiert: „Ihr Arbeitgeber sagt, der Lohn werde durch Angebot und Nachfrage bestimmt. Gut; wir wer­ den versuchen, das Angebot zu begrenzen und genau nach Qualität und Leistung unseren Preis dafür fordern. Wir werden Euch nicht erlauben, das Lohnniveau nach dem Marginalprinzip, d. h. nach Maßgabe des drin­ gendsten Arbeitsangebots, zu bestimmen. Ihr sagt, Gewinne seien Eure Privatsache. Gut, die Löhne sind die Privatsache unseres Verbandes. Ihr sagt, es soll freies Lohnvertragsrecht gelten. Einverstanden; wir verlangen von Euch freie KollektivVereinbarung über die Löhne. Ihr sagt, Geschäft sei Geschäft. Einverstanden; wir werden Euer Ge­ schäftsprinzip nun auf unseren Verband übernehmen.

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Ihr sagt, der Staat solle sich nicht in die Regelung der Arbeitsbedin­ gungen einmischen. Gut, wir verlangen, daß der Staat alle legalen und verwaltungsmäßigen Hemmungen der Gewerkschaften ausräumt und sich nicht in Arbeitskämpfe zu Euren Gunsten einmischt. Ähnlich ließe sich ein Dialog des Kartells — im einzelnen verschieden je nach seiner Macht und Zweckbestimmung — sei es gegen den anony­ men Verbraucher, sei es gegen die Lieferanten, formulieren. Das Ergeb­ nis dürfte unbestreitbar sein: Die Verbände anerkennen die Grund­ sätze der individualistischen Ordnung, indem sie sie auf sich Übertragen. Damit sind die wesentlichen Züge der zweiten Phase der Verbands­ entwicklung gekennzeichnet. Wir fassen sie kurz dahin zusammen: Ver­ bände übernehmen die Grundsätze der liberal-individualistischen Ord­ nung mit der Maßgabe, daß der Verband nun ihr Subjekt wird. Mehr und mehr flüchten die einzelnen Marktagenten sich in die jeweiligen Interessenverbände, um an ihnen eine Abwehr gegen als ungerecht emp­ fundene Marktpraktiken zu haben; aber dann auch um den Verband als Mittel anzusetzen, autonom bestimmte Mindestbedingungen für Preise, Löhne und Konditionen herauszuholen. In dieser zweiten Phase bleiben die Verbände abhängige Variable; sie haben ihre Chance wie ihre Grenze am Gang der Wirtschaft.

IV. Pluralismus als Strukturprinzip der Gesellschaft

Die dritte Phase des ökonomischen Liberalismus: Die verbandspluralistische Gesellschaft

Die dritte Phase eröffnete sich in den westeuropäischen Ländern seit dem ersten Weltkrieg, für die Ver. Staaten seit der großen Depression. Beide Ereignisse enthüllten den tiefen Wandel von Wirtschaft und Ge­ sellschaft, der sich inzwischen vollzogen hatte. Die kriegführenden Staaten wie die depressionsgefährdete Gesellschaft der Vereinigten Staaten bemerkten zu ihrer Überraschung, wie abhängig sie von den auf Lohn- und Gehalt gestellten Sozialschichten des entwickelten Kapi­ talismus waren. Der erste Weltkrieg war der erste Ausdruck des totalen Krieges auch insofern, als sein Ausgang von der Produktivität der Wirt­ schaft für Waffen und Munition wie für die laufende Versorgung der städtischen Bevölkerung abhing. Alle Kräfte der Nation mußten zu­ sammengefaßt und auf das gleiche Ziel gerichtet werden, wenn der Krieg gewonnen werden sollte. Anonyme Massen von Individuen waren dafür schwer anzusprechen und einzuordnen. Gewiß, in der ersten Kriegsbegeisterung trat das Volk als emotionale Einheit auf, bereit zu allen Opfern; aber mit der Dauer des Krieges und seinen Härten wurde

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es wieder anonym, unfaßbar und bedrängt. Dafür konnten nun seine Repräsentanten aufgerufen werden: die Gewerkschaften, die Kartelle, die landwirtschaftlichen Verbände. Mochte der Krieg die Gewerkschaf­ ten an Mitgliedern reduzieren, aber ihre Führer wurden hoffähig und ministrabel; an repräsentativer Geltung und Einfluß gewannen sie dop­ pelt und dreifach. Es entstand eine Art notstandsbedingter Waffen­ brüderschaft zwischen Staat und Verbänden; ähnlich zwischen Gewerk­ schaften und Arbeitgebern. Dasselbe wiederholte sich für die Vereinig­ ten Staaten unter der Depression und dem New Deal. a) Quasi-öffentliche Position des Verbandes

Mit all dem verschob sich das herkömmliche Verhältnis zwischen Staat und Verbänden grundlegend; sie wurden für die Zwecke der Kriegs­ führung Transmission und Schalthebel zu Volk und Wirtschaft hin. Die Gegenleistung des vom Kriege bedrängten Staates an die linken Par­ teien und Gewerkschaften war die Zusage der durchgreifenden Demo­ kratisierung des Staates und die gesetzliche Anerkennung und positive Förderung der Gewerkschaften. Es war unvermeidlich, daß damit das Verbandsprinzip in allen sozialen Gruppen Anklang und Verbreitung fand. Nun erst bricht die Zeit an, wo der Drang zur Organisation allge­ mein wurde: teils zur Abwehr des Druckes seitens schon bestehender Verbände, teils aus Nachahmung, teils in Hinsicht auf die Chance, poli­ tisches Gewicht durch Organisation zu gewinnen. Das Volk in der Meta­ morphose einer Summe von Marktagenten begibt sich in die commendatio von Verbänden; es wird von ihnen dem Staate wie dem Markt­ partner gegenüber repräsentiert. Es mögen nicht alle Arbeiter und An­ gestellte, alle Landwirte, Unternehmer und Banken organisiert sein; aber die Verbände gewannen das Vertretungsrecht oder bestanden auf ihrer faktischen Zuständigkeit. Die Arbeitsbedingungen nichtorganisier­ ter Arbeiter, Angestellter oder gar Beamter, wie die Preislage von Kar­ tellaußenseitern wurden mehr oder weniger in den Sog der Normen gezogen, die von Gewerkschaften und Kartellen durchgesetzt waren. The Economist38 bemerkte, Labour, die britische Arbeiterpartei, sei der New Estate of the Realm, der neue Herrschaftsstand im britischen Reich. Das sollte nicht heißen, daß Labour immer regiert; aber es heißt, daß auch eine konservative Regierung z. B. nicht gegen Labour regieren kann; mit anderen Worten, daß sie in ihrer Politik sorgfältig the vested interest of Labour zu berücksichtigen hat. Dasselbe gilt für Westdeutsch­ land, für die Vereinigten Staaten auch unter der Präsidentschaft Eisen­ howers. Nur weil auch große Teile der Arbeiterschaft gegen Gewalt­ tätigkeit und Skandal einiger mächtiger Verbände protestierten, konn38 The Economist, Febr. 15, 1958, S. 588.

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ten Gesetze wie das Taft-Hartley und Landrum-Griffin eine Majorität in den gesetzgebenden Körperschaften finden. Labour ist also ein domi­ nantes Interesse, ob in der Regierung oder in der Opposition. Es ist nicht das einzige dominante Interesse; daneben, selbst wenn nur zeit­ weise und in konkreten Fällen akut, meldet sich das Interesse der orga­ nisierten Landwirtschaft. Auch bei ihr liegen wichtige Stimmblöcke, vertreten in starken Verbänden, die für konservative Regierungen ge­ radezu mitentscheidend sind. Das gilt fast ausnahmslos für die west­ lichen Demokratien; besonders stark für die Vereinigten Staaten, wo der landwirtschaftliche Mittlere Westen im Senat einen eventuell prohibitiven Stimmblock darstellt; für Frankreich mit seinem stark agraren Einschlag, aber auch für Westdeutschland, England, Holland und die Schweiz. Wo beide Gruppen durch Koppelung ihrer Interessen sich ver­ binden, wie in Schweden, verstärkt sich das Wahlgewicht der ver­ bündeten Gruppen zur schlechthinnigen Dominanz: Beide zusammen sind the New Estate of the Realm. Der neue Reichsstand hat Mitherrschaft, eventuell Herrschaft im Staate, also den Zugang zu den Machtmitteln des Staates; d. h. verwal­ tungsmäßig gesehen zur Bürokratie, in Geld- und Kreditangelegenhei­ ten zur Zentralbank, und vom Standpunkt der Besteuerung aus zu den Institutionen der Finanzhoheit. Damit gewinnt das Machtpotential star­ ker Verbände eine gewaltige Ausdehnung: sie haben Verfügung, min­ destens Mitbestimmung, über die politische Willensbildung und Appara­ tur des Staates. Damit wächst ihnen eine gesteigerte Verantwortung zu; sie können nicht, wie früher, Forderungen erheben und Programme auf­ stellen, die ihre Grenze schon am Markte oder am Widerstand des Gegenpartners finden würden. Nun liegt die Verantwortung eindeutig bei ihnen. Immerhin: soweit sie von den Erwartungen ihrer Mitglieder dirigiert werden oder in ihrer Tradition und ihren institutionellen In­ teressen gebunden sind, können sie Entscheidungen setzen, die das do­ minante Interesse verlangt, auch wenn die Gesamtinteressen dabei zu kurz kommen; schließlich gibt es ja den Ausweg, das Gruppeninteresse identisch mit dem Gesamtwohl zu deklarieren. Hier liegt unzweifelhaft der Anlaß zu Konflikten zwischen mächtigen Sonderinteressen und dem Gesamtinteresse. Es kann vorkommen, und es ist z. B. in Großbritannien vorgekommen, daß eine mit schwacher Mehrheit gewählte Labour-Re­ gierung Strukturveränderungen im Wirtschafts- und Steuerrecht, eine Wohlfahrts- und Versorgungspolitik durchsetzte, die eine nachher selbst mit starker Mehrheit gewählte Konservative Regierung nicht mehr rückgängig machen könnte, ohne Erschütterung im Leben der Nation hervorzurufen39. 39 Orton bemerkt (The Economic Role of the State, Chicago 1950, S. 101 f.), daß der zwangsmäßige Egalitarismus der Labour-Party in England eine

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b) Grenzen der Verbandsambitionen

Als Estate of the Realm gewinnen starke Verbände, zumal Gewerk­ schaften, mit oder ohne Rückhalt an landwirtschaftlichen Interessen, den Charakter einer relativ unabhängigen Variablen unwirtschaftlichen, sozialen und politischen Prozeß. Was ist gemeint mit dem Adverb rela­ tiv? Der vorhin erwähnte Fall Schwedens gibt uns eine Erklärung: Un­ ter der Voraussetzung, daß die Macht der dominanten Gruppe innerhalb der bestehenden Struktur von Wirtschaft und Gesellschaft ihren Ansatz und ihre Entfaltung finden will, wird die Grenze ihres Vermögens durch den Stand der wirtschaftlichen Dinge gezogen. Sie verzichtet darauf, eine andere, etwa kollektivistische Neuordnung in Wirtschaft und Ge­ sellschaft zu unternehmen; sie bleibt damit an die mehr oder weniger freie Unternehmungswirtschaft gebunden — mit dem Vorbehalt frei­ lich, daß sie deren Leistungspotenzial aufs Äußerste für sich auszunut­ zen bemüht ist. Für die Entscheidung gegen eine radikale Neuordnung von Wirtschaft und Gesellschaft kann die Einsicht mitbestimmend sein, daß dadurch die Tradition und Struktur, die zentralen Interessen des New Estate of the Realm, schließlich auch die Freiheit des im Verbände aufgehobenen Menschen gefährdet sein würden. Der Glaube an das Heil durch Sozialismus oder Sowietismus ist für den Menschen der west­ lichen Welt tief erschüttert, seitdem das reale Bild einer kommunisti­ schen Gesellschaft sich als Medusenhaupt entschleiert hat. Jedenfalls: Soweit die dominante Gruppe grundsätzlich auf eine Neu-Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft verzichtet, bleibt sie den Voraussetzungen einer unternehmungsmäßigen Wirtschaft verbunden und kommt inso­ fern nicht über den Charakter einer relativ unabhängigen Variablen hinaus. Ihre eherne Grenze liegt in den Möglichkeiten, die eine operable Unternehmungsgesellschaft bieten kann. Finanzpolitik zu Zwecken der Umverteilung betrieben habe, die schließlich dazu führte, daß der Schatzkanzler Sir Stafford Cripps der regierenden Labour-Party sagen mußte, was Labour sich in Zukunft an Wohlfahrt und Versorgung gesetzmäßig zuspreche, müsse von den Begünstigten selber be­ zahlt werden. Stafford Cripps hatte wörtlich gesagt: „We are thus faced with the choice as to how we should distribute the national product“ Orton fragt, wer ist dieses „we“ und was ist unser Mandat? „We“ are a government to whom, for the time being, is delegated by a narrow margin, pro tanto permission to legislate, on the above lines, subject to retrospective electoral confirmation. But there are underlying factors — historical, psychological, spiritual — that a wise government will bear in mind, for they are the ultimate determinants of social norms and social structure. They are not immutable; but they do not and cannot change as rapidly as do governments and programs. Too great a disparity between the rates of change produces underlying strain, with curious and sometimes dangerous effects. The under­ standing of these deeper factors is therefore not less important to practical politics than that of the current problems any government has to face. It was this common understanding between leaders of rival parties that gave British politics its extraordinary stability from Burke to Asquith.“

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Das einschränkende Wort von der relativ unabhängigen Variablen hat noch eine andere Bedeutung. Für den laufenden Sprachgebrauch gibt es „die“ Gewerkschaften, „die“ Landwirtschaft, „das“ Gewerbe, „die“ Industrie, als ob das je eindeutige Wirklichkeiten seien. Sie sind es nicht. Alle diese Begriffe sind Abstraktionen, die für die aggregative oder politische Betrachtung und für die Statistik ihren guten Sinn haben. Die Wirklichkeit der Gewerkschaften, der Unternehmer- und der landwirtschaftlichen Verbände zeigt einen hohen Grad von Macht­ differenzen in enger Bindung an die Siedlung der Verbände in ihren verschiedenen Wirtschaftssektoren. Es gibt Gewerkschaften, die in stark fortschrittlichen und ertragreichen Industrien angesiedelt sind; andere, die selbst bei wenig fortschrittlichen Industrien eine hohe soziale und politische Störungsmacht besitzen oder an neuralgischen Punkten des politischen Lebens beheimatet sind, etwa Bergarbeiter in stark zentra­ lisierten Bergbau-Revieren — während wieder andere, an Zahl viel­ leicht nicht unbeträchtliche Verbände, die aber in wenig progressiven, vielleicht sogar rückläufigen oder weit gestreuten Industrien ansässig sind, nur einen lokalen Wirtschaftsdruck ausüben und über geringes soziales und politisches Störungspotential verfügen. Verbände dieser Art, ob gewerkschaftlich oder landwirtschaftlich oder kleingewerblich organisiert, besitzen nicht den Charakter von unabhängigen Variablen; nach wie vor sind sie an Rhythmus und die Dynamik ihres Wirtschafts­ sektors gebunden. Für sie gilt, daß sie doppelt abhängig sind: vom Wirtschaftssystem wie alle anderen Verbände auch, und dazu gebunden an Rhythmik und Dynamik ihres eigenen Sektors. Sie verharren im Zustande der klassischen Gewerkschaft oder des klassischen Kartells des 19. Jahrhunderts.

c) Privilegierte Verbände

Wir verwenden die Bezeichnung „real-befestigt“ für die Verbände, die sowohl durch gesetzlichen Akt wie durch ihre Siedlung in wirt­ schaftlich privilegierten Sektoren zuhause sind. Die nicht in dieser Weise privilegierten Verbände mögen legal befestigt sein, aber ihnen fehlt die Voraussetzung zur vollen Ausnutzung dieser legalen Befesti­ gung: der fortschrittliche und ertragreiche Wirtschaftssektor. Manche Textil-Gewerkschaften gehören heute zu den bloß legal befestigten Verbänden, während Metallverbände, Buchdrucker und Bauarbeiter real befestigt sind. Einen Sonderfall bieten die Bergarbeiter-Verbände Deutschlands, Englands, der Vereinigten Staaten und sonstwo, die zwar in rückläufigen Wirtschaftssektoren angesiedelt sind, deren politische und soziale Störungsmacht aber ihnen die Vorteile der Realbefestigung — allerdings bei einem Rand von Arbeitslosigkeit — zuspielt.

I. Kap.: Vom klassischen Liberalismus zur Verbandsstruktur

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Wenn das politische Mittel vorzugsweise Verbänden mit umfassen­ dem Stimmgewicht bei Wahlen offen ist, gewinnen deren dominante Interessen Vorrang vor denen anderer Gruppen. Nur so erklärt es sich, daß Kartelle in den Vereinigten Staaten keine legale Anerkennung fin­ den konnten selbst zu einer Zeit, wo es die erklärte Politik des Bundes war, Gewerkschaften und landwirtschaftliche Verbände mit allen Mit­ teln zu fördern, auch wenn diese Förderung zu scharfem Druck auf Ge­ werbe und Industrie führte. Hier äußert sich ein Sachverhalt, den Prof. Roscoe Pound40 (Harvard) behandelt. Er spricht von den amerikanischen Gewerkschaften als einer vom Recht und den Gerichten privilegierten Institution und vergleicht ihre Privilegien mit denen von Königen, Re­ gierungen und Grundbesitzern unter dem alten britischen Common Law41. Im einzelnen weist er nach, daß die Gewerkschaften eine mar­ kante Sonderstellung im Recht erhalten haben wie es keine andere Interessengruppe im Land erreicht hat. Keine andere Gruppe von Per­ sonen kann wie sie beanspruchen, daß ihre Rechte und Pflichten so dis­ kretionär von öffentlichen Arbeitsverwaltungen definiert werden, wie es zu ihrem Vorteil geschieht42. Unersetzbarer Schaden kann durch Ge­ werkschaftsaktionen irgendwelchen Unternehmungen angetan werden, ohne daß Aussicht auf entsprechende Wiedergutmachung besteht. Pound besteht darauf, den Gewerkschaften seien Zuständigkeiten zugebilligt und Handlungen erlaubt, die für jede andere gesellschaftliche Gruppe contra legem seien und zivile wie strafrechtliche Verfolgung nach sich ziehen würden.

Von ihren Anfängen an hatten die Gewerkschaften immer Lohner­ höhungen direkter oder indirekter Art als Mittel zur Hebung des Le­ bensstandards der arbeitenden Bevölkerung durchzusetzen sich bestrebt. Hierin sehen sie heute noch ihre primäre Aufgabe, aber sie können ihr heute um so ungehemmter nachkommen, als das Arbeitsrecht und das politische Mittel zu ihrer Verfügung stehen. Äußerst günstig war die Sachlage der Nachkriegszeit seit 1945 aus mehreren Gründen. Einmal weil die Wirtschaftstheorie von Keynes von ihnen als Rechtfertigung gewerkschaftlich erwirkter „wirksamer Nachfrage“ und implicite als ein Argument für Vollbeschäftigung durch steigende Löhne und fort­ gesetzte Lohnrunden gedeutet wurde; so glaubte man im Besitz einer ökonomischen Theorie zu sein, die der gewerkschaftlichen Lohnpolitik die lang entbehrte, wirtschaftlich einwandfreie Fundierung gab. Daß die Berufung auf Keynes bei weitem nicht inallerwege und jeder Aktion der Gewerkschaften ihre Sanktion verlieh, ist natürlich klar. Ferner: 40 In seiner Studie Legal Immunities of Labour Unions, American Enter­ prise Association, Washington D. C. 1957. 41 1. c. S. 21. 42 1. c. S. 31.

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der ungeheure Nachholbedarf und die Erfordernisse des Wiederaufbaus, die aufgestaute Kaufkraft in den meisten Ländern und die aufgescho­ benen Investitionen für Instandsetzung und Erneuerung von Betriebs­ anlagen und Maschinenpark — all das zusammen mit den wirtschaftlich­ technischen Anforderungen des Kalten Krieges und dem Wiederauf­ flammen von Buschkriegen in Korea, Vietnam, Suez, Kongo, Malaya, usw. leiteten eine relativ lange, nur von vier Rezessionen unterbrochene Konjunkturwelle ein, die den Gewerkschaften periodische Lohnrunden und eine Politik der Sperrklinke erlaubte. So ergab sich ein Klima stei­ gender Erwartungen, das einsichtsvollen Gewerkschaftsführern ge­ legentlich recht unbequem wurde. Anders als es je den Mitgliedern der klassischen Gewerkschaft möglich war, schien sich ein fast grenzen­ loser Horizont wünschenswerter Arbeitsbedingungen zu eröffnen; wo das Gewerkschaftsmittel für sich genommen nicht ausreichte, konnte man den Staat verantwortlich halten. Der klassischen Gewerkschaft war diese Gunst der Umstände nicht geboten, ebenso wenig übrigens wie den Kartellen und den landwirtschaftlichen Verbänden des 19. Jahr­ hunderts.

d) Verband, Demokratie und Wirtschaftsgesetz Damit stoßen wir auf eine Einsicht von fundamentaler Bedeutung. Wir können sie kurz dahin zusammenfassen, daß im vollendeten Plura­ lismus die dritte Phase des wirtschaftlichen Liberalismus sich mit der dritten Phase der Demokratie, also ihrer rein pragmatischen Phase, be­ gegnet und durchdringt.

Man kann diese dritte Phase in folgenden Thesen zusammenfassen: 1. Interessenverbände bleiben in ihrer Inkubationsperiode gebunden an die Dynamik der Wirtschaft selber; über rechtliche Duldung und periodische Erfolge im Wirtschaftsraum kommen sie nicht hinaus. Im Zustande der Befestigung haben sie einen gesicherten privatrechtlichen Status, darüber hinaus die Würde einer halböffentlichen Institution. Das gilt vor allem für gewerkschaftliche, landwirtschaftliche und gewerb­ liche Verbände, während die Kartelle in einer Reihe von westlichen Ländern keine legale Befestigung erreichten und ihre materiale Markt­ macht begrenzt blieb. 2. In der ersten Phase waren Verbände abhängige Variable im wirt­ schaftlichen wie im politischen Prozeß. In der Phase des entwickelten Pluralismus haben manche, und zwar die mächtigsten, den Status von relativ unabhängigen Variablen gewonnen.

3. In ihrer ersten Phase besaßen die Verbände nur sehr begrenzte politische und soziale Störungsmacht. Im vollendeten Pluralismus ist

I. Kap.: Vom klassischen Liberalismus zur Verbandsstruktur

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diese Grenze weit hinausgeschoben, bis zu dem Punkt z. B., wo heute Verbände der Docker und Hafenarbeiter die ganze Ostküste der U.S.A, wochenlang stillegen konnten, oder sich weigerten, den an Rußland ver­ kauften Weizen zu verladen, bis ihnen erhebliche Konzessionen gemacht wurden. 4. In ihrer ersten Phase zog die Marktlage den Verbänden mehr oder weniger unverrückbare Aktionsgrenzen. In der gegenwärtigen Phase der gegenseitigen Durchdringung von demokratischem Staat und plura­ listischen Verbänden ist die Marktlage selbst der Manipulierung durch das politisch-wirtschaftliche Mittel zugänglich geworden. An dieser Stelle ist eine Ortsbestimmung geboten. Das Gesetz des Antritts der Interessenverbände liegt in den Thesen des klassischen Liberalismus beschlossen; vom Individuum nun auf die Verbände be­ zogen, wurden sie damit deren Lebensprinzip. Wir erinnern uns, daß der Vater des klassischen Liberalismus, Adam Smith, einen Schritt von ungeheurer Tragweite tat, als er den Bereich der wirtschaftlichen Pro­ duktion und Verteilung aus der herkömmlichen Integration im Normen­ system und Gesamtleben der Gesellschaft als eine autonome Seinsprovinz herauslöste und unter ihr eigenes Gesetz stellte; unter ein Ge­ setz, das nur mit Einbuße an Wohlstand und Fortschritt verletzt werden könnte. In ihrer Inkubationsphase bleibt die Verbandsweit diesem Ge­ setz verhaftet. Anders aber in der Phase des entwickelten Pluralismus. In dieser Phase gewinnen jedenfalls die Verbände, die starke Wähler­ kontingente im demokratischen Staat kontrollieren oder über beträcht­ liche Störungsmacht verfügen, einen Grad von Macht über den Wirt­ schaftsvorgang selber. Es kann der Eindruck entstehen, daß damit der Wirtschaftsvorgang selber ganz dem „Gesetz“ entrückt sei; also daß der in straffen Verbänden organisierte Mensch die volle Freiheit über Pro­ duktion und Verteilung gewonnen habe. Es sei nicht bestritten, daß die Verbände, verglichen mit der Ära des klassischen Liberalismus und ihrer Inkubationsperiode, eine gewisse Kontrolle über den Prozeß der Wirtschaft gewonnen haben; aber was zu bestreiten ist, ist dieses, daß sie damit die Gesetzmäßigkeit der wirtschaftlichen Dinge im Grundsatz aufgehoben haben. Darauf ist später zurückzukommen.

Zweites Kapitel

Die Metamorphose der Demokratie im vollendeten Pluralismus I. Pluralismus und Gesellschaftliche Integration Die Metamorphose der westlichen Gesellschaft von der individuali­ stischen zur gruppenindividualistischen Struktur stößt auf dieselbe Frage, die die Klassiker des Liberalismus beschäftigte: Wie wird die Vielfalt der Interessen — hier von einzelnen, dort von Verbänden — zum harmonischen Ausgleich, zur Integration gelangen?

a) Wechselseitiger Ausgleich von Verbandsinteressen?

Man könnte erwägen, ob sich die pluralistischen Verbände nicht gegenseitig im Gleichgewicht erhielten, mit der Wirkung, daß dem Staate, wie in der Ära des klassischen Liberalismus, nur subsidiäre Aufgaben zufallen werden. Galbraith1 bemüht sich um den Nachweis, daß der Interessenausgleich durch die Auseinandersetzung unter den Verbänden selber erfolgt, indem anstelle des auf derselben Marktseite wirkenden Wettbewerbs der Wettbewerb von der Gegenseite her trifft, nicht von Wettbewerbern derselben Branche, sondern von Verbrauchern und Zulieferfirmen. Er stellt zwei Thesen heraus: 1. Die amerikanische Gesellschaft hat durch gewaltige technisch-wirt­ schaftliche Fortschritte und unerhörte Leistungen den Lebensstandard aller Kreise beispiellos gehoben. Armut in den USA ist heute nur noch ein Randphänomen, das aus persönlichen Gründen oder bei isolierten, sozusagen gestrandeten, Gruppen auftaucht.

2. Die Hauptsektoren der amerikanischen Wirtschaft sind in mächti­ gen Gewerkschaften und landwirtschaftlichen Verbänden, in Handels­ vereinigungen (Trade Associations) usw. organisiert. In diesem System von Gegenmächten liegt die Erklärung für die gewaltige Produktivität der Wirtschaft und für die Hebung des Verbrauchs. Indem Macht Ge­ genmacht hervorruft, entsteht ein Gleichgewichtszustand als Ergebnis der Auseinandersetzung unter den Gegenmächten ähnlich dem, der sich im 19. Jahrhundert aus dem individualistischen Wettbewerb ergab.

American Capitalism, The Concept of Countervailing Power, 1952.

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b) Konstituierung der Gesellschaft in Verbänden? Galbraith ist damit auf den Sachverhalt gestoßen, den wir als die dritte Phase des wirtschaftlichen Liberalismus bezeichneten. Seine Ana­ lyse muß als gescheitert angesehen werden, weil, seiner eigenen Angabe nach, bei Inflation kein Gleichgewicht entsteht; die Gegenmächte unter­ liegen dann der Versuchung, sich zu Lasten Dritter, vor allem der Ver­ braucher, zu verbünden, während bei trendmäßiger Deflation ohnehin der Druck der Marktlage die Führung übernimmt. Wenn, was durchaus erwogen werden kann und von manchen Autoren angenommen wird, der inflationäre Druck in das System der Gegenmächte eingebaut ist, dann fällt Galbraith’ Argument in sich zusammen. In der zweiten Auf­ lage seines Buches (1956) unterstreicht er übrigens nicht mehr, wie in der ersten, die wirtschaftliche Bedeutung der Gegenmächte, sondern ihre soziale.

Man könnte weiter fragen, ob nicht den pluralistischen Verbänden die Konzeption einer integralen Gesellschaft als regulative Idee vor­ schwebt, an der die Ziele und laufenden Ansprüche der Verbände Maß und Grenze fänden. Wenn unsere These vom Gesetz des Antritts der Interessenverbände zutrifft, dann kann von einer solchen Konzeption nicht gesprochen werden; gegen sie spricht übrigens die landläufige Er­ fahrung2. Die Vorstellung, daß die Interessenverbände irgendwie eine Koordi­ nation ihrer Ziele und Zwecke finden würden, lag den ersten Vertretern der Lehre vom Pluralismus nahe. W. A. Orton3 bemerkt, daß sich Libe­ rale, gemäßigte Sozialisten, die Gewerkschaften, die Katholiken und die Gilden-Sozialisten alle auf das Prinzip des Pluralismus einigen zu kön­ nen glaubten. Sie alle fühlten, daß eine konstruktive und logische Alter­ native zum „monistischen Staat“ sich da forme, eine neue Vision einer funktionalen Demokratie, in welcher persönliche Freiheit sich erfülle in der Harmonie von freien Verbandshandlungen, die das kulturelle und das wirtschaftliche Leben der Gesellschaft bereichern könnten. Aber: It was a fine dream while it lasted. Nach den inzwischen gemachten Er­ fahrungen finden sich, so fährt Orton fort, die Vertreter der freien Ver­ bandsbildung vor einem schwierigen Dilemma. Sie müssen sehr sorg­ fältig erwägen, unter welchen Umständen oder Bedingungen die unbe2 Es geht nicht an, auf den französischen Syndikalismus von George Sorel und G. H. G. Cole’s Gilden-Sozialismus hinzuweisen. In beiden Fällen er­ scheint die Gewerkschaft als einziges Strukturprinzip und Funktionsträger der Wirtschaftsgesellschaft; in beiden Fällen also wäre der Pluralismus be­ seitigt in der nach dem Syndikats- oder Gildenprinzip durchorganisierten Gesellschaft. 3 The Economic Role of the State, Chicago 1950, S. 78.

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Briefs, Staat und Wirtschaft im Zeitalter der Interessenverbände

grenzte Verbandsfreiheit das Gemeinwohl fördert oder das Gemeinübel vermehrt4.

Karl Dietrich Bracher5 sieht Anlaß, die „Fiktion“ vom neutralen Staat über der Gesellschaft aufzugeben und den Prozeß der Integrie­ rung, der Umsetzung gesellschaftlicher Interessen in die Politik, voll in das demokratische Funktions- und Kontrollgefüge einzubauen. Die Folge ist eine erhebliche Wandlung des Verhältnisses zwischen Par­ teien, Parlament und Regierung. In Reaktion auf die Zwangsgemein­ schaft des Dritten Reiches und als Konsequenz der Sozialen Marktwirt­ schaft habe die westdeutsche Gesellschaft Interessenverbände entwikkelt, „die rasch alle Gewohnheiten des Lobbyismus, der Werbung, der Demonstration von den westlichen Nachbarn annahm und noch auf eigene Weise steigernd ausgestaltete“. Er spricht von der fast uferlosen Zahl von Organisationen und der Art ihrer Einflußnahme über hunderte von Büros in Bonn. Presse, Parlaments- und Parteianalysen haben nur teilweise deutlich gemacht, über welche personellen und finanziellen Zusammenhänge diese Einflußnahme stattfindet. „Neben einer riesigen Zahl spezialisierter Einzelgruppen stehen soziale Großverbände, die nach ihrer Mitgliederzahl, ihrer Organisationsdichte und Finanzkraft die Parteien bei weitem übertreffen und die eigene gesellschaftspoliti­ sche Funktionen beanspruchen und auch ausüben, insbesondere die Gewerkschaften, die Unternehmerverbände und die Bauernverbände.“ Bracher6 erörtert die Möglichkeit, daß die Verbands-Aktivität „gerade in einer Zeit der Spezialisierung, der Entfremdung des Menschen gegen­ über einem unüberschaubar komplizierten Staat die demokratische Wil­ lensbildung und zugleich die Möglichkeit der Kontrolle verbessern, wenn es gelänge7, den ungeregelten Antagonismus der Verbände in eine geregelte und dadurch begrenzte Mitwirkung am politischen Prozeß und an der Sachberatung zu verwandeln. Nur dann, so scheint es, können wir hoffen, zwischen der Scylla der Expertokratie und der Charybdis der Verbändeherrschaft die politische Demokratie hindurchzusteuern“.

4 1. c. S. 78: „The liquidation of individualist dogma was a necessary step for­ ward toward a more humane society and a useful check on the trend toward the monistic state. But by itself it solved no fundamental problems. Human pur­ poses are not necessarily purified or ennobled by being pursued in associ­ ations; they merely gain a higher potential, for better or worse. The reader may ask himself which way, on the whole, it has gone in our time and whether there is any general rule or principle of discrimination between types of associated action.“ 5 Die zweite Demokratie in Deutschland — Strukturen und Probleme. In: Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft, Berlin 1963. 6 1. c. S. 123. 7 Von mir kursiv. (G. Briefs.)

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Hans Huber8 sei hier zitiert, weil er, zwar aus Schweizer Erfahrung sprechend, doch das typische Bild der Sachlage in allen westlichen De­ mokratien zeichnete: „Die Wirtschafts- und Sozialverbände werden zur Besorgung öffentlicher Aufgaben herangezogen, was von ihrer Seite Einflußnahme bedeutet. Vor allem beherrschen sie kräftig und in den verschiedensten Formen das Vorverfahren der Gesetzgebung. So sind sie in den Expertenkommissionen ausgiebig vertreten; diese Kommis­ sionen gleichen zumeist Interessenparlamenten im Kleinformat, mit einem Anhängsel von Wissenschaftlern und Verwaltungsleuten. Es hängt damit zusammen, daß die Fachkunde meist bei denen gesucht werden muß, die zugleich interessiert sind. Nach der Bundesverfassung müssen die Verbände zu den Gesetzes-Vor entwürfen der Regierung auch angehört werden; Anhörung bedeutet auch wieder, und weit mehr als in den „Hearings“ der amerikanischen Gesetzgebung, Einflußnahme auf die ersten Weichenstellungen. In der Schweiz bestätigt sich sodann augenfällig, was Prof. Ehrmann von den amerikanischen pressure groups sagte: Sie können schwerlich zusammen eine Mehrheit bilden und eine politische Meinung dem Land als die eigene aufzwingen, aber sie können leicht eine Mehrheitsbildung für eine politische Meinung verhindern und Impulse lahmlegen. Dazu eignet sich auch das Gesetzes­ referendum. In der Schweiz muß man auch feststellen, daß Vorschläge für den Erlaß oder die Änderung von gesetzlichen Erlassen vielmals unterbleiben, wenn keine Verbandsorganisation dahinter steht; die Ini­ tiative ist also immer einseitiger in die Hand der Verbände gelegt...“ Und weiter: „Das Nebeneinander-Bestehen öffentlicher und privater Machtzentren ist also wegen der Verantwortlichkeitsfrage ein weithin noch ungelöstes Problem. Die Staatsmacht ist ständig in Gefahr, da und dort zur Beute der anderen Mächte zu werden. Aber es ist zuzugeben, daß die Verbände den Staat auch entlasten und Repräsentation wirt­ schaftlicher und sozialer Interessen fließend ist.“ c) Repräsentation der Gesellschaft durch Verbände?

Joseph Kaiser9 findet die Interessengruppen nicht bestimmt aus dem universalen Ordo, „sondern aus der Stoßkraft ihrer Interessen“; seit­ dem „jene polare Beziehung, deren Modell das Verhältnis von König und Volk ist, sich auch in Europa nicht mehr von selbst versteht, seit­ dem der Staat nicht mehr etwas der Gesellschaft Vorgegebenes ist, son­ dern von ihr im Laufe des 19. Jahrhunderts erobert wurde, und darum nun aus ihr konstituiert werden muß“. Ferner: „Der Interessen-Plura­ 8 Die Schweizerische Demokratie, ebendort, S. 102 f. 9 Die Repräsentation Organisierter Interessen, 1. Aufl. Berlin und Mün­ chen, S. 321.

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lismus der modernen Gesellschaft ist dagegen der Repräsentation durch eine nationale Institution grundsätzlich nicht fähig. Vielmehr ist die organisierte Interessenwahrnehmung als solche in der unendlichen Viel­ falt ihrer Formen und gegenüber den verschiedenen Adressaten selbst eine Art Repräsentation, keine institutioneile, sondern eine faktische Repräsentation, eine representation de fait‘10.“ In diesem Zusammenhang verdient Johannes Messners11 sorgfältige und verdienstvolle Untersuchung über den Funktionär besondere Be­ achtung, teils wegen der zugrunde liegenden naturrechtlichen Doktrin, die die fundamentale Schwäche der modernen Demokratie ins Licht rückt, teils wegen des realistischen Zugriffs auf die Wirklichkeit; schließlich wegen seines Vertrauens, daß der Mensch die gesellschaft­ lichen Dinge doch in Ordnung bringen könne. Messner unterscheidet zwischen Legitimität und Legalität. Legitimität ist die übergesetzliche Grundlage des demokratischen Gemeinwesens bei allem Wandel seiner gesellschaftlichen Prozesse; Legalität ist die gesetzesrechtliche Recht­ fertigung der laufenden Politik von Parteien und Verbänden. „Das Prinzip der Legitimität besteht in der Anerkennung einer Rechtswirk­ lichkeit, die in ihren Grundzügen dem Willkürwillen entzogen ist. Nach diesem Prinzip ist der Staat selbst, besonders in seiner demokratischen Form, Herrschaftsordnung im Dienste der Freiheitsordnung... Legiti­ mität bedeutet demnach die Souveränität des Rechts vor und über der Souveränität des Volkes und des Staates“12, während das Prinzip der Legalität die Rechtfertigung von Aktionen im demokratischen Staate durch gesetzesrechtliche Regelungen bedeutet13. Entscheidungen und Handlungen von Verbänden und Parteien können also sehr wohl die Legalisierung von Unrecht sein, im politischen wie im wirtschaftlichen Bereich; so z. B., wenn Unternehmer und Gewerkschaften wirtschaftlich wichtiger Gruppen Löhne und Gewinne erstreben, die kosten-inflato­ risch sind, damit gegen „Gerechtigkeit und Billigkeit“ verstoßen und schwächere Sozialgruppen schädigen (das Gleiche gilt natürlich für Kar­ telle und Syndikate, für landwirtschaftliche und professionelle Ver­ bände). Allen legitimitätswidrigen Aktionen ist gemeinsam, daß sie auf dem Einsatz von Macht beruhen. Der Machteinsatz überlegener Ver­ bände verletzt das Gemeinwohl und damit die Gerechtigkeit. Das Zen­ tralproblem der pluralistischen Demokratie ist daher die Wahrung des Legitimitätsprinzips; das ist ihr eigentlicher Lebensnerv. “Die Funktio10 Kaiser, 1. c. 354. 11 Johannes Messner, Der Funktionär. Seine Schlüsselstellung in der heuti­ gen Gesellschaft. Innsbruck 1961. Siehe ferner Messners monumentale Social Ethics, St. Louis und London 1965, und die Studie Das Gemeinwohl. Idee und Wirklichkeit. Osnabrück 1962. 12 1. c. S. 151. 13 1. c. S. 152.

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näre dieser Verbände und Mächte haben daher den Finger an diesem Lebensnerv14.“ Wir fanden das Gesetz des Antritts der Verbände in der Berufung auf jene gesellschaftliche Vernunft, die die Grundlage auch der modernen Demokratie ist: in der Vernünftigkeit der Selbstinteressen und ihren aus wirtschaftlichem und politischem Wettbewerb folgenden Ergebnissen für das Gemeinwohl; was von der Theorie der klassischen Demokratie wie der klassischen Wirtschaftslehre übersehen wurde, ist, „daß es im öffentlichen Leben die reine Vernunft nicht gibt“. Inter­ essen, im 19. Jahrhundert die von Individuen, heute von Kollektiven, können der vernünftigen Einsicht im Wege stehen; der Widerspruch müßte sich in der pluralistischen Wirtschaftsgesellschaft und Demokra­ tie viel massiver auswirken, als in der individualistischen Phase des 19. Jahrhunderts.

d) Die Verbände Faktoren gesellschaftlidier Gerechtigkeit?

Es ist nun keineswegs so, daß Messner die pluralistische Demokratie schwarz in schwarz malt, im Gegenteil; die Bilanz im Sinn des Ge­ meinwohls zeigt einen erheblichen Kreditposten für sie. Die pluralisti­ sche Demokratie hat als neues Ziel des Gemeinwohls die Gerechtigkeit für alle gesellschaftlichen Gruppen gewonnen; wenn sie „einen An­ näherungs-Quotienten in der Verwirklichung des Gemeinwohls erreicht hat, dann ist sie positiver zu werten, als es oft bei ihrem Vergleich mit der klassischen Demokratie geschieht“15. Messner verbreitet sich über diese positiven Wirkungen. In erster Linie erwähnt er die gerechtere Einkommensverteilung; nicht ohne den diskutierbaren Zusatz, daß sie nicht der gewachsenen Produktivität zuzurechnen ist, als vielmehr wesentlich dem Verbandspluralismus: „Was ökonomisch im Vergleich zu früher dazugelernt wurde, besteht in der Möglichkeit staatlicher Intervention mit den Mitteln der Konjunkturpolitik.“ Freilich ein wesentlicher Antrieb zum Einsatz der Mittel geht von den Verbänden vermittels des Einflusses auf die Parteipolitik aus. Im Vordergrund steht dabei die organisierte Arbeiterschaft, „die die ganze Dynamik des Ver­ bandspluralismus in Bewegung brachte“16. Diese Dynamik sei der ge­ rechteren Verteilung des Sozialproduktes wie seinem Wachstum zuzu­ schreiben. Wesentliche Vorteile für das Gemeinwohl ergeben sich aus der Auseinandersetzung der Verbände um ihre Interessen. „Nicht, daß die Verbände in erster Linie darauf aus wären, das objektiv Gerechte zu finden (das ist eine Frage der Verhältnisgröße, die weder meßbar noch eindeutig bestimmbar ist)“17, aber Annäherung an die objektive 14 15 16 17

1. c. 1. c. 1. c. 1. c.

S. 154. S. 155. S. 156. S. 157.

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Gerechtigkeit werde erreicht; „tatsächlich wollen sich die Streitparteien selbst bei ihren Auseinandersetzungen immer auch des Eindrucks der Gerechtigkeit ihrer Forderungen versichern“. Für Messner steht fest, „daß die sittlich-rechtliche Urteilskraft der menschlichen Vernunft nicht in Zweifel ist, wenn Gruppen der Gesellschaft, die über keine Ver­ bandsmacht verfügen, benachteiligt sind, und wenn andere, die die Anerkennung ihrer Forderungen durch Machteinsatz erzwingen, ver­ mögen, sich gerechtigkeits- und gemeinwohlwidrige Vorteile zu be­ schaffen ... zwar wird der Interessenausgleich innerhalb der pluralisti­ schen Gesellschaft weiter nach dem ihm eigenen Grundgesetz erfolgen“, dem des „wohlverstandenen Gruppeninteresses“; die Verbände werden sich aber „in zunehmendem Maße zur Rücksicht auf die von Gerechtig­ keitssinn und daher von sachlichen Erwägungen geleitete öffentliche Meinung genötigt sehen“... Dann folgt eine Wendung, die das er­ wähnte Argument abschwächt, wenn nicht gar aufhebt: „Jedermann weiß, wie sehr in Fragen der wirtschaftlichen Interessendynamik noch viel mehr als der politischen die öffentliche Meinung heute der Urteils­ kraft und des Urteilswillens entbehrt18. Wir finden bei Messner den optimistischen Einschlag, das Vertrauen, „daß der Mensch im Widerspruch zu den Theorien über seinen Unter­ gang in der Automatik der kollektiven Kräfte die Gesellschaft nach seinen eigenen Ordnungsprinzipien zu organisieren vermag“19. Es mag sich zeigen, „daß gerade die pluralistische Demokratie unentbehrliche Kräfte zur Rettung der Demokratie erwecken wird... nur die freie Gesellschaft kann pluralistische Gesellschaft sein, nur sie ermöglicht selbstverantwortliche Wahrung der Gruppeninteressen, nur sie ermög­ licht den Funktionär, der nicht nur Befehlsvermittler im reglementären Gesellschaftsprozeß ist“20. Messners „optimistischer Unterton“ ist in seinem Glauben an die natürliche Vernunft und Freiheit des Menschen und seinem natur­ rechtlichen Status begründet. Gegenüber dem landläufigen Pessimismus betont er, grundsätzlich mit Recht, die Kräfte der Selbsthilfe, die dem Menschen gegeben sind; er hätte das Wort des Psalmisten zitieren können: Deus sanabiles fecit nationes. Darüber besteht kein Streit, so­ lange und sofern zugegeben wird, daß es nicht bloß ,vernünftig in der Geschichte' zugeht. Messner weiß das sehr wohl; sein Argument gegen die klassische Demokratie zeigt es. Also die ,Heilbarkeit' von Mensch und Gesellschaft kann sich auch dialektisch vollziehen, über die Negation, über radikalen Fehlschlag, der geschichtlich notwendig sein mag, ehe die Kräfte der Heilung wirksam werden. 18 1. c. S. 165. 19 1. c. S. 169. 20 1. c. S. 162.

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Natürlich ist Messner vertraut mit den negativen Wirkungen des Pluralismus; dabei deckt sich sein Urteil weithin mit dem anderer Autoren. Mit Boulding21 teilt er die Überzeugung, daß die Automatik des Wettbewerbs in Grenzen unentbehrlich sei; er sagt22: „Eine Auto­ matik ist aber deshalb notwendig... weil ausschließlich moralische Appelle an die Verbände völlig zwecklos sind“ — ein Punkt, den Werner Schoellgen in seinem Buch über Grenzmoral stark betont. Messner pflichtet der Auffassung bei, die Walter A. Joehr23 vertreten hat: Joehr habe „als erster die Kompromiß-Funktion des Wettbewerbs und deren Bedeutung für die Zukunft der Demokratie gesehen, womit die viel umstrittene Konkurrenz in einem neuen Licht erscheint“. Und er zitiert Joehr: „Die Konkurrenz ist eine Kompromisse ersparende automatische Entscheidungsmaschinerie beim System des organisierten Interessenaus­ gleichs.“ Messner betont jedoch, daß es sich nur um den Wettbewerb handeln kann, der seine soziale Funktion erfüllt. Er verweist auf das „Soziale“ in der sozialen Marktwirtschaft; es müsse in seiner doppelten Bedeutung gesehen werden, insofern als Wettbewerb die Preise in Richtung auf die Grenzkosten dirigiere, dadurch auf Preissenkung hin, die ihre soziale Funktion im Dienste der Allgemeinheit ist; insofern weiter, als Konkurrenz eine Ordnungsfunktion besitzt, indem sie das Monopol ausschließe und Schmutz- und Schleuderkonkurrenz ver­ hindere. Messner weiß sehr wohl, daß der demokratische Staat, ver­ strickt ins Gewirre der sich widersprechenden und nach Machtfülle dif­ ferenzierten Verbandsinteressen das Aufkommen unentwickelter Ge­ biete im regionalen Bereich verhindern kann; für sie hat der Staat im Interesse seiner Gemeinwohlverantwortung auch einzutreten. Es kommt dabei zu einem circulus vitiosus: Untergrabung und Überbeanspruchung der Staatsautorität fördern sich gegenseitig24. Damit stößt er auf die Dialektik des Wohlfahrtsstaates, auf die wir verschiedentlich hin wie­ sen: der demokratische Staat läßt sich von den pluralistischen Verbän­ den als Juniorpartner oder als ihr Instrument mediatisieren; aber im gleichen Vorgang gewinnt er ein übersteigertes Maß von fiskalischer Hoheit: der Fiskalstaat wird zum grimmigen Schatten des Wohlfahrts­ staates. Messner beklagt, man sehe das Bedenkliche und die Gefahren für die pluralistische Gesellschaft „zu einseitig auf Seiten der Verbände und der Funktionäre ... vielmehr die Staatsführung angesichts der Dynamik dieser Gesellschaft hat die Möglichkeit, den Primat der Politik in ihrem wesenhaften, d. h. gemeinwohlbezogenen Sinn gegenüber dem 21 Organisational Revolution. New York, 1953. 22 Messner, 1. c. 177. 23 Der Kompromiß als Problem der Gesellschafts-, Wirtschafts- und Staats­ ethik. In: Recht und Staat, 1957. 24 Messner, 1. c. S. 186.

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Druck der gesellschaftlichen Kräfte und Mächte zu sichern“25. Durch­ aus einverstanden; aber vielleicht hätte doch eine konstitutive Schwäche der Staatsgewalt relativ zu mächtigen Verbänden hier be­ achtet werden müssen. Sie liegt darin, daß demokratische Parteien und Regierungen sich periodisch zur Wahl stellen müssen, während in aller Regel die Funktionäre und Oligarchen der Interessenverbände, selbst wenn periodische Wahlen im Verbandsstatut vorgesehen sind, erfahrungsgemäß in ihren Ämtern perennieren. Dafür läßt sich eine Unsumme von Belegen beibringen. Verglichen mit der Stabilität der Verbandsführung ist die demokratisch zu wählende Volksvertretung und Regierung periodisch gezwungen, sich von den Verbänden politisch bestätigen zu lassen und ihnen Rede und Antwort zu stehen. Wo all­ gemeine Wahlen, wie in den Vereinigten Staaten, kurzfristig anfallen, bleiben die Repräsentanten des Volkes und die Exekutive unter dauern­ der Kontrolle seitens machtvoller Verbände; bis zu dem Punkte sogar, wo Gewerkschaften und landwirtschaftliche Verbände jede einzelne Ab­ stimmung eines Repräsentanten genau verbuchen, publizieren und für die nächste Wahl auf Eis legen. Wenn der Kandidat für die Kaiser­ krone des Heiligen Römischen Reiches von sieben Kurfürsten abhängig war und ihren territorialen Sonderinteressen von Wahl zu Wahl die Substanz des Reiches stückweise veräußern mußte, bis das Heilige Reich zum Scheinreich wurde — muß man sich nicht fragen, ob nicht heute das Analogon zu den sieben Kurfürsten die Oligarchen und Magnaten machtvoller Verbände sind? Beweist nicht jede Wahlkampagne, daß die Anwärter für Volksvertretung und Regierung Wahlkapitulationen unterschreiben müssen, durch die die Autorität des Staates dadurch vermindert wird, daß der Staat in die Strudel der Auseinandersetzung der pluralistischen Mächte hineingezogen wird? Formiert sich nicht, um die Analogie weiter zu treiben, aus der Fragmentierung der staat­ lichen Souveränität ein wildes System von mehr oder weniger interessen-territorialen Gewalten innerhalb, neben, wenn nicht in Sonder­ fällen wenigstens anspruchsweise, über dem Staat26? 25 Messner, 1. c. S. 187. 26 Dr. Karl Blessing, Präsident der Bundesbank hat (in seinem Vortrag vom 8. Dezember 1964 vor den Mitgliedern der Technisch-Wissenschaftlichen Vereine in Köln) auf das Treibhaus hingewiesen, das die importierte Infla­ tion in Deutschland erzeugt habe und „in manchen die Sinnesorgane für die Gefahren abstumpfe. Wieder einmal rückt der Termin für allgemeine Wah­ len näher. Wieder einmal beginnt das Buhlen um die Gunst des Wählers, und wieder einmal glaubt man, daß man Wahlgeschenke aller Art machen muß. Fast alle Leistungen, die man jetzt gewährt, sind nicht einmalig, son­ dern wiederkehrend. Fast alle Leistungen belasten die öffentlichen Etats in den kommenden Jahren. Alle öffentlichen Ausgaben sind in unserem Land auf Zuwachs zugeschnitten, wie der Anzug eines jungen Mannes, der noch im Wachstum begriffen ist ... Gott gebe es, daß dieser Zuwachs der Ein­ nahmen immer eintreffen werde; was einmal wird, wenn er nicht oder nicht

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Soweit geht die Parallele zwischen den Wahlkapitulationen des Hl. Römischen Reiches und der heutigen Demokratie. Aber dann meldet sich der große Unterschied. Dem Heiligen Römischen Reich hat das Wahlkollegium der Fürsten keine WohlfahrtsVerantwortung für einen Pluralismus von Gruppeninteressen auferlegt; darum konnten die Kurfürsten dem Kaiser auch die fiskalische Hoheit beengen und be­ streiten. Die Kurfürsten des heutigen Pluralismus aber gewinnen an Macht und Einfluß dadurch, daß sie dem Staat Verantwortung für immer mehr Wohlfahrt rundherum, wenn nicht gar für Versorgung zuschieben. Nell-Breuning wiederholt hier A. Rüstows sarkastisches Wort von der „komfortablen Stallfütterung“, die der Wohlfahrtsstaat für „die braven Bürger“ zu gewährleisten habe. Während also im Heiligen Römischen Reich auch das gelinde Maß von fiskalischer Sou­ veränität des Reiches verramscht wurde, gewinnt in der pluralistisch durchsetzten Demokratie der Staat um so mehr an fiskalischer Sou­ veränität, je mehr er als Wohlfahrts- und Versorgungsstaat an ihr ver­ liert. Hier liegt eine gefährliche Dialektik deswegen, weil auf die Dauer auch die wohlfahrtsbegünstigten Gruppen bemerken, daß sie für die weitgestreuten Benefizien schließlich doch selber zahlen müssen. An dieser Stelle meldet sich der Engel der Versuchung: dem Konflikt durch jenes Verfahren der Mittelbeschaffung auszuweichen, das dem Staate heute, scheinbar mit einem Minimum von Aufwand und Verlegenheit, zur Verfügung steht, nämlich Inflation und Budget-Defizite. Nicht nur die Leichtigkeit des Zugangs zu inflationären Medien ist es, die die Ver­ suchung nahelegt; vielmehr ist es die Tatsache, daß Inflation auf kurze Sicht, „milde Inflation“ d. h. bevor sie davonläuft, zur Belebung der Wirtschaft, zu steigender Lagerhaltung, steigenden Investitionen, wach­ sender Beschäftigung, steigenden Erträgen und Löhnen, zur Schuld­ entlastung von Firmen und öffentlichen Körperschaften beiträgt. Infla­ tion in ihren Anfangsstadien erzeugt eine wirtschaftlich-soziale und politische Euphorie, die allzu vielen Kreisen des öffentlichen und pri­ vaten Lebens Vorteile verspricht — auch solche, die institutioneilen Interessen entgegenkommen. Damit treffen wir den kritischen Punkt des Arguments von Messner, nämlich seine These, daß die Bedenken und Gefahren des Pluralismus weniger den Verbänden als dem Ungenügen der Demokratie selber in dem erwarteten Umfang eintreten sollte? Auch die überproportionalen Steuereinnahmen, die z. T. Begleiterscheinungen der schleichenden Inflation sind, werden einmal ein Ende finden. Wenn also der Zuwachs eines Tages aufhören sollte, würden die öffentlichen Etats einschließlich des Sozialetats defiziär werden... wir lehnen es ab (er spricht von der Bundesbank), die importierte Inflation, die glücklicherweise aufgehört hat, durch eine innere Inflation zu ersetzen.“

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zuzuschreiben seien. Die Mariage de Convenance zwischen Demokratie und Pluralismus nimmt der Demokratie jene Autorität und Souverä­ nität, die allein ihr erlauben würden, die pluralistischen Interessen so in Schach und Proportion zu halten, daß sie das Gemeinwohl nicht ge­ fährden; anders ausgedrückt: die pluralistischen Interessen so zu inte­ grieren, daß sie das Gemeinwohl fördern. e) Die Verbände Instrumente des Gemeinwohls? Die Frage des Verhältnisses zwischen pluralistischer Gesellschaft und dem Gemeinwohl hat weiter eine sorgsame Erörterung durch Dolf Sternberger gefunden; auch er wägt die politisch-wirtschaftliche Ver­ nunft und Unvernunft, die Chancen und Gefahren des Pluralismus mit großer Sachlichkeit ab. Sternberger27 gibt einen kurzen, aber gehaltvollen Überblick über das Wesen und den verantwortlichen Träger des Gemeinwohls, wie es von Thomas v. Aquin bis zu Hegel erörtert wurde, und fragt dann, ob das Gemeinwohl, das heute nicht von einer Instanz jenseits der Sphäre der pluralistischen Mächte wahrgenommen werde, vielleicht innerhalb ihrer verwirklicht werden könne. Er zählt fünf Punkte auf, die ihn vermuten lassen, das sei in der Tat der Fall. 1. Sternberger glaubt, eine Parteiregierung sei durchaus fähig, das allgemeine Beste zu befördern, ja man könne es auch „wahrnehmen“. Je mehr eine Partei eine regierungsfähige Volkspartei ist, „die in sich selber eine soziale Integration vollzieht“, desto mehr kann sie das all­ gemeine Beste fördern. Ein System von zwei Hauptparteien, deren jede eine potentielle Regierungspartei, freilich auch eine potentielle Opposi­ tionspartei darstellt, biete „unvergleichlich bessere Bedingungen zur Auffindung und zur Wahrnehmung des allgemeinen Besten“ als ein Viel-Parteien-System. Soweit herrscht Übereinstimmung zwischen Sternberger und A. F. Hermens, der die Gefahren des Proporzes mit großer Meisterschaft auf breiter Basis herausgearbeitet hat. Wir kom­ men darauf zurück.

2. Sternberger hält gesellschaftliche Interessenorganisationen als solche zur Regierung für unfähig, selbst wenn sie sich zu Koalitionen verbinden. „Sie können es im besten Falle nur zu einem Ausgleich untereinander bringen, aber nicht zur Führung einer Staatsgesellschaft (S. 34). Allerdings ist er der Meinung, daß manche, und zwar gerade große Parteien, solche Koalitionen darstellen; außerdem lebt in ihnen ein „durchgängiger Parteiwille“, Gegensätze zu einigen oder sogar 27 Das Allgemeine Beste. Politik für uns Alle oder für die Interessenten? In: Tagungsprotokolle Nr. 16 der Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirt­ schaft, Ludwigsburg 1961.

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einzuschmelzen. Im gewissen Sinn sei gerade dieser Parteiwille eine Gefahr für die Wahrnehmung des Gemeinwohls. Allerdings, wenn der Parteiwille schwach wird, dann treten die Sonder-Gruppen schärfer hervor und im selben Maße wächst die Gefahr, „daß eben eine bloße Addition von Leistungen für partikuläre Bedürfnisse an die Stelle der Wahrnehmung des Allgemeinwohls tritt“. Wenn diese Gefahr eintritt, droht der Zerfall der Partei und es „vermindert sich wohl auch im gleichen Maße ihre Anziehungskraft auf die Wähler“. 3. Das Parlament, die Regierung konfrontiert mit ihrer Opposition, ist fast genötigt, Interessenpolitik zu verhüten oder doch abzuschleifen. Audi hier wieder Gefahrenpunkte: z. B. aus dem Rückgang der Plenar­ beratungen und dem Vor rücken des Ausschuß wesens, zumal bei einem System stark spezialisierter und permanenter Fachausschüsse. Denn „die Experten, die in diesen Ausschüssen sitzen, sind im allgemeinen auch Interessenten... Fachausschüsse können eben zu institutionalisier­ ten Interessengruppen entarten“ (S. 35). 4. „Vielleicht der wichtigste Punkt“: ein Kabinett, das mehr ist als eine Zusammenkunft von Ressort-Chefs, auch mehr als eine Zusammen­ kunft von Fachleuten, kurz „ein Kabinett, welches in seinem Schoße berät und als Körperschaft... gemeinsame Meinungen und einen ge­ meinsamen Willen ausbildet“, kann das allgemeine Beste wahrnehmen. Auch hier ein Gefahrenpunkt; er besteht darin, daß Fachministerien verschiedener Art und die Korrespondenz mancher Ressorts mit be­ stimmten Interessenorganisationen doch die Aussicht auf Wahrung des Gemeinwohls eben durch ihr Ressortinteresse verhüten: „ ... es gibt Momente, wo man schockartig plötzlich die Idee hat, es scheine, daß das Arbeitsministerium für die Gewerkschaften, das Wirtschaftsmini­ sterium für die Industrie und den Handel, das Landwirtschaftsministe­ rium für die Bauern, das Familienministerium für die Familienver­ bände und das Flüchtlingsministerium für die Flüchtlingsverbände da sei, zumal wenn personalpolitische Verschränkungen zwischen der Ministerialfunktion und der Verbandsfunktion hin und her gehen. Wären nicht die klassischen Ressorts des Äußeren, des Inneren, der Justiz und der Finanzen, so könnte man wirklich zuweilen den Eindruck gewin­ nen, der ganze parlamentarische und parteiliche Integrationsgewinn gehe an dieser Stelle wieder zum Teufel“ (1. c. S. 35)28. 28 Zur Illustration des Gesagten sei ein Brief an den Herausgeber des Econo­ mist (11. Januar 1964, S. 81) zitiert. Der Economist hatte in der Ausgabe vom 7. Dezember gewisse Fälle des Government by Committee (Regierung durch par­ lamentarische Ausschüsse) kritisiert, empfahl aber (14. Dezember 1963) selbst ein Kommitee für die Untersuchung der Gemeindefinanzen. Dazu bemerkt der Einsender des Briefes: „What is needed in the first place is a political decision to be made again and again. The possible alternatives are well enough known, and all present difficulties. The political decision to be made is whether the revival of local government by furnishing it with more independent sources

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5. Schließlich, und hier spricht Sternberger „mit aller Gewißheit..., daß alle diese Möglichkeiten, alle diese Potenzen der Auffindung und Verwirklichung des Gemeinwohls, die in den politischen Körpern und Institutionen angelegt und freilich auch wiederum jederzeit gefährdet sind, sich in der Tat nicht von selbst, nicht automatisch aktualisieren. Das Gemeinwohl stellt sich nicht von selbst aus dem Zusammentreffen, aus dem Streiten und Verhandeln der partikulären Interessen her. Es kann auch Aufsplitterung und Zerfall eintreten. Auch die bloße Addi­ tion von Gefälligkeiten an diese und jene und schließlich an möglichst alle Interessenorganisationen, die sich gemeldet haben, ist eine Art des Zerfalls und der Desintegration, eine sehr unangenehme Art des Legi­ timitätsverschleißes eines solchen Verfassungsstaates. Das Gemeinwohl kommt nicht von selbst, sondern man muß es wollen. Nur eine mora­ lische Gesinnung kann die Institutionen selber so modeln und tauglich machen, daß sie eben die Eignung beweisen, das allgemeine Beste zu befördern. Mit einem Wort: Bürgerliche Tugend kann nicht entbehrt werden“. f) Wer ist schuld? Der Staatsbürger? Damit hat Sternberger das Problem in die Ebene der Ethik gescho­ ben. George J. Stigler29 (Chicago University) nimmt es dort auf: „Wir“ sind verantwortlich, „wir als Bürger“. Demokratische Regierungen können die Industrie nicht unter Kontrolle nehmen, es sei denn sie lasse es zu. Viel gefährlicher als ein offener Zusammenstoß zwischen Regierung und Geschäftswelt — Stigler denkt offenbar an den Konflikt zwischen der amerikanischen Stahlindustrie und dem Präsidenten in der Frage der Stahlpreiserhöhung im Jahre 1961 — sei das Einverständ­

of finance is an objective for which it is worth accepting the admitted dif­ ficulties. Unless such a decision is made, an expert committee would be wasting its time. If such decision was made, then nothing would concen­ trate more wonderfully the minds of an expert committee of civil servants and local treasurers than the threat of actually having to carry out what they recommend.“ 29 George J. Stigler, Policies for Growth. In: A Symposium on Economic Growth. Sponsored by The American Bankers Association, New York 1963. (1. c. p. 108): „But I am suggesting something more: that Government has become something of a whipping boy for the widespread decline in enter­ prise and independence in the population. The more economic policies of our Government are truly representative of strong desires in the community. We have ourselves, not our Congressman, to blame if we are committed to a hundred programs to restrain competition, to subsidize industries and localities, to utilize obsolete production methods, to warm the cold winds of adversity, and to fan the flames of group interests. It is characteristic and I think also a virtue of a democratic society that its basic policies mirror faithfully the morals and the philosophy of its citizens. It must nevertheless, have been pleasant, when there were kings, to have a villain who wasn’t oneself.“

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nis zwischen Regierung und Industrie (oder auch der Regierung und der Landwirtschaft) hinsichtlich politischer Preis- oder Angebotskon­ trollen, weil dabei die Kontrollen höchst wirksam sind. Er findet, daß eine vernünftige Wirtschaftspolitik „unzufriedene Geschäftsleute, em­ pörte (outraged) Gewerkschaftsführer und enttäuschte (frustrated) Bürokraten“ nach sich zieht. Die Regierung sei zum Prügelknaben für das weitverbreitete Absinken von Unternehmungsfreude und Unab­ hängigkeitsgefühl der Bevölkerung geworden; aber: „Der Vorwurf liegt bei uns, nicht bei den gesetzgebenden Körperschaften; wir sind zu tadeln für die hunderte von Programmen zur Einschränkung des Wettbewerbs, für die finanzielle Hilfeleistung an Industrien und Ge­ bietsteile, für die Existenz veralteter Produktionsmittel, für den wohli­ gen Wind der Wohlfahrt in allen Notständen des Lebens wie für die entfachte Hitze von Gruppen-Interessen.“ Seiner Meinung nach ist es die Tugend der Demokratie, daß ihre grundlegende Politik getreu die Moral und Lebensphilosophie ihrer Bürger wiederspiegelt; daher die Verantwortung des Bürgers für jene hunderte von schädlichen Pro­ grammen.

Man kann mit Recht fragen, wer der Bürger sei, der hier zur Verant­ wortung verpflichtet wird, und vielleicht sogar, wo er steckt. Die bürgerlichen Tugenden, die von ihm verlangt werden, sind schwer aufzubringen, wenn ihr Träger sich in die Commendatio eines Ver­ bandes begeben hat. Der Verband ist nicht gegründet, um bürgerliche Tugenden zu pflegen; er hat eine ,Tugend4 spezifischer Art; sie liegt in der Wahrung von Interessen seiner Mitglieder und schließlich auch seiner institutionellen Interessen. Als Mitglied von solchen Verbänden hat der Bürger mehr oder minder der Freiheit entsagt — soweit sie ihm vom Verbände aus disziplinären und solidarischen Gründen nicht einfach abgesprochen wird —, seine bürgerlichen Tugenden nach der von Stigler erwähnten Richtung zu üben. Natürlich kann erwidert werden, daß die Mitglieder des Verbandes durch ihre Mitarbeit im Verband die bürgerlichen Tugenden doch durchsetzen könnten, viel­ leicht mit größerem Nachdruck, weil sie nun im Verbände und durch ihn vertreten werden. Hier aber sei Schoellgens Bemerkung erwähnt, daß es „einen saugenden moralischen Unterdrück“ gibt, der aus der Dynamik des gesellschaftlichen Lebens stammt; daher könne vom Ein­ zelnen nicht erwartet werden, daß er nach den Regeln der Moral durch­ aus lebe30. Ferner: die Erfahrung lehrt, daß die Aktivlegitimation für Entscheidungen nicht so sehr bei der Mitgliedschaft liegt als bei der oft oligarchischen Führung oder beim Innenkreis ehrgeiziger Verbands­ leiter; dafür gibt es seit Robert Michels’ Studie über die Oligarchie im Parteienwesen eine Fülle weiterer Belege. 30 W. Schoellgen, Grenzmoral. S. 41.

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In summa: Der Interessenverband verfolgt Interessen; dafür wurde er gegründet und darin liegt sein Gesetz des Antritts. Wieviel „bürger­ liche Tugend“ im Verband ihre Chance hat, das ist eine quaestio facti, auf die es keine allgemeine Antwort gibt; aber ein Licht auf die Ant­ wort wirft der Titel des Buches eines sehr beachtlichen amerikanischen Professors der Politischen Wissenschaften; das Buch von H. D. Lasswell trägt den Titel: Politics: Who Gets What, When, How? (N. Y. 1936). Die Verantwortung für bürgerliche Tugenden hat sich weithin auf Ver­ bandsmagnaten und Funktionäre verlagert; der Konflikt zwischen Ver­ bandsinteressen und Bürgerethos gehört dabei zur Tragik der Männer, die die Entscheidung fällen. Für sie ist die Versuchung, ihre Seele durch Identifikation von Bürgertugend und Verbandsinteresse zu retten, sehr naheliegend; um so mehr, wenn ihnen von der Seite der Wirtschafts­ theorie her eine Art Alibi dafür geboten wird. Daß heute die Berufung auf Keynes31 weithin als solches Alibi gilt, dürfte landläufig bekannt sein.

Stigler verpaßt den Punkt, auf den es ankommt; um so schärfer visieren ihn Robert A. Dahl und Charles E. Lindblom32. Beide Autoren bemerken den starken Widerspruch zwischen der Vorstellung vom „souveränen Volk“ einerseits, der Fragmentierung des Volkes anderer­ seits in eine konfuse Fülle von Verbänden. Bei diesen liegen politisch 31 John T. Dunlop (Harvard) sprach von einer „Travestie“ der Keynesschen Doktrin, die seitens der Gewerkschaften bevorzugt wird. Keynes hat stets betont, daß seine Doktrin kein Freibrief für Inflation sei. Wenn er managed money dem starren Goldstandard vorzog, so plädierte er damit keineswegs für eine dauernde, kumulative Inflation, die unter dem Druck pluralistischer Mächte durch den demokratischen Prozeß vor sich gehen könnte. Für die kurze Dauer empfahl er stabile Preise und stabile Löhne, auf die lange Sicht stabile Preise bei langsam steigendem Lohnspiegel. Es stimmt auch nicht, daß Keynes für absolute Vollbeschäftigung aller Resourcen eingetreten sei; immer bestand er darauf, Geldumlauf und Kredit so zu bemessen, daß Sparen und Investieren ihren Gang nehmen könnten, daß der Preisspiegel verhältnismäßig stabil sei und daß die Produktivität Kosten und Preise in Schranken halte; ferner, daß in Zeiten des Hoch­ schwungs Steuern erhöht und Budgetüberschüsse erzielt würden, — umge­ kehrt natürlich bei beginnendem Rückschlag. Es ist zu vermuten, daß er mit der in England landläufigen Parallele zwischen dem — in der Regel über­ schätzten! — Produktivitätszuwachs und Lohnerhöhungen nicht einverstan­ den wäre. Wie Graham Hutton (Inflation and Society, London 1960, S. 96) bemerkt, waren Keynes Vorschläge ganz in Ordnung; nicht in Ordnung war sein Optimismus über die landläufige Politik und die Politiker, über Arbeit­ geber und Gewerkschaften. Der inflationäre Druck kam fortgesetzt aus die­ sen Quellen, und wenn Währungskrisen die Folge waren — so in Frankreich, England, Niederlande und Schweden usw. — wurde Geld- und Kreditvolu­ men nicht managed to compensate the booms, sondern man zog Abwertung mit allen möglichen Kontrollen über alle möglichen Bereiche wirtschaftlicher Tätigkeit vor. So wurde der inflationäre Prozeß wiederum in Gang gesetzt: „Keynes would have been the foremost to denounce such behavior as the doom of democracy.“ 32 Politics, Economics and Welfare, New York 1953, S. 500.

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und wirtschaftlich wichtige Entscheidungen, ohne daß sie dafür Legiti­ mation besäßen; die Folge sei der fortwährende Kuhhandel, der Streit über Interessen und Interessenabgrenzung und der Abschluß von treaties — Dahl und Lindblom verwenden diesen Ausdruck statt agree­ ments, um die politische Bedeutung von Abkommen zwischen mächtigen Verbänden oder zwischen ihnen und der Regierung wirksam zu unter­ streichen. Dabei verliert die Demokratie an Glanz und Autorität; sie is shorn of its magical legalistic incantations (1. c. 498); mit der Wir­ kung, daß sie häufig nur ein Partner unter anderen beim Aushandeln von Interessen ist. Trotz Bodins Doktrin von der Souveränität muß der Staat sich zum Aushandeln bereit finden; ob es sich nun um mächtige Wirtschaftsverbände, Gewerkschaften, oder landwirtschaftliche Ver­ bände handelt: seine Vertreter müssen mit Verbands-Oligarchen an einem Tisch sitzen, um einen „unstabilen Friedensvertrag, genauer gesagt, einen Waffenstillstand mit Befristung auszuhandeln“. Die Regierung und ihre Vertreter repräsentieren dabei nicht das sou­ veräne Volk; sie repräsentieren Bevölkerungs-Bruchteile, die außer­ stande sind, ihre Interessen verbandsmäßig zu Gehör zu bringen. Dann folgt der lapidare Satz: Sometimes the sovereign people is neither sovereign nor a people (1. c. 498). Dahl-Lindblom zitieren zu­ stimmend J. R. Commons: Corporations, unions and political parties are organized pressure groups... the economic pressure groups really become an economic parliament of the American people more represen­ tative than the Congress elected by territorial divisions. Dahl- Lind­ blom sprechen von the bargaining democracy — der Demokratie des fortwährenden Aushandelns von Interessen zwischen organisierten Gruppen; die Autoren halten es für unzulässig, von Arbeitern, Kapi­ talisten und Landwirten zu sprechen, wo es sich in Wirklichkeit um deren Verbände handelt, genauer gesagt um die Führer der Verbände, denen das Aushandeln obliegt. Die Frage, ob nicht durch Aushandeln auf nationaler Ebene die plura­ listischen Mächte derart ihr Gleichgewicht finden könnten, daß der Staat in eine gewisse Neutralität zurückfallen könne, wird kurz ge­ streift. Dahl-Lindblom33 weisen darauf hin, daß die These vom Aus­ handeln auf nationalem Umkreis und das davon erwartete Gleich­ gewicht eine Verschiebung der individualistischen Grundsätze des klas­ sischen Liberalismus auf die nach Interessen organisierte Gesellschaft sei, wobei der Regierung die Rolle eines bloßen Nachtwächters zufalle. Der klassische Liberalismus aber unterstellte die politische Gleichheit der Individuen; von einer Gleichstellung der Verbände könne unter den Bedingungen des Pluralismus keine Rede sein, weil die Verbände sehr verschiedenes politisches Gewicht haben. Zugegeben, daß die 33 1. c. S. 507. 5 Briefs

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Mehrheit des Volkes nicht regieren kann34; ferner, daß die Regierungen verhandeln, Kompromisse machen und besorgt sein müssen, damit die Gesellschaft nicht auseinanderfällt; aber etwas ganz anderes ist es, wenn man diesen Tatbestand zur Norm für das Erstrebenswerte macht und darauf besteht, die Politik dürfe nicht einmal versuchen, das letzte entscheidende Wort zu sagen. Aus vielen Gründen muß der Staat Mit­ verantwortung im Vorgang des nationalen Aushandelns von Interessen teilen; er muß nein sagen können und eventuell aus eigener Autorität entscheiden: „Anything less is an abdication of the democratic goal35“

g) Desintegrierung der Gesellschaft durch die Verbände?

Ernest S. Griffith36 beginnt sein zehntes Kapitel über die pressure groups und den Kongreß mit den Worten: „Das schwierigste Problem für die Staatsführung ist heute nicht die Beziehung zwischen Regie­ rung und Individuen, sondern diejenige zwischen der Regierung und den wirtschaftlichen Gruppen.“ Seiner Meinung nach haben die Grup­ pen im einzelnen den Wunsch, ihren Beitrag zum Allgemeinwohl zu leisten „gemessen natürlich an der Prosperität ihrer eigenen Gruppe“. Für sie ist also ihr Gruppeninteresse identisch mit dem Gemeinwohl. Griffith leugnet nicht, daß in manchen Fällen die Identität gegeben ist; in anderen Fällen mag es nicht durchaus zutreffen; in dritten Fällen mag kein Grund vorhanden sein, Gruppeninteressen und Gemeinwohl in Beziehung zu setzen. Die soziologische Folge der Interessenverschie­ denheit ist die Fragmentierung der Gesellschaft — er gebraucht den Ausdruck dispersiveness; — die politische Folge ist der fragmentarische Staat (dispersive state). Diesen „spontanen Pluralismus“ führt er zu­ rück auf technologische und soziologische Ursachen; er hält ihn für irreversibel, aber verständlich. Das Problem der Staatsführung ist klar: wie können die Konflikte zwischen den Gruppen ausgeglichen und wie kann das Gruppenverhalten mit dem Gemeininteresse integriert werden, ohne die Spontaneität von Individuen und Gruppen in einer dynami­ schen Wirtschaft zu zerstören? Hier liegt „eine Aufgabe ersten Ranges“ für die Volksvertretung und ihre unabwälzbare Verantwortung. Was 34 Joseph de Maistre, in seinen Considerations sur la France (1795), be­ merkt dazu mit gallischer Kürze: Le peuple ne reside pas ä Paris. 35 Dahl-Lindblom, 1. c. S. 508. 38 Congress. Its Contemporary Role. Second Edition, New York 1956: „ ... the dominant characteristic of society and state alike is this pattern of organized group activity, often in fact in the interest of the whole (though accidentally so), but often also to a very considerable extend in conflict with such interests“ (1. c. S. 121). Ferner: (1. c. S. 135) „So accustomed has each group become to the utilization of government to carve out for itself a greater share of the national income regardless of consequences that over-all co-ordination is most likely to seem a thwarthing or blocking of the very heart of what the group deems important to itself and what it has rationalized into identifying with the national welfare.“

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die Aufgabe erschwert, sei die Tatsache, daß die Gruppen selber im Staate und in seinen Sonderverwaltungen sich angesiedelt haben, so z. B. das Landwirtschaftsministerium vertritt Interessen der Landwirte, das Arbeitsministerium die der Gewerkschaften; Sonderadministrationen werden unter Umständen noch stärker den Mantel des öffentlichen Interesses tragen, aber in Wirklichkeit im Dienste von organisierten Sonderinteressen stehen. Dasselbe muß auch von den Volksvertretern gesagt werden; auch sie sind das Ergebnis, die „Kreaturen“ derselben dispersiven Gesellschaft. Griffith ist aber doch der Meinung, daß die Volksvertreter, wenn sie im Parlament und den Kommissionen Entscheidungen zu treffen haben, nicht daran vorbeikommen, den Unterschied zwischen Sonder­ interessen und Gemeinwohl zu respektieren. Daraus ergeben sich Schwierigkeiten für den Parlamentarier: die Gruppe, die ihn gewählt hat, verlangt Loyalität zu ihrem Gesamtprogramm; sie wird ungeduldig, wenn er glaubt, er habe die Freiheit, seiner eigenen Überzeugung nach mit Ja oder Nein zu stimmen oder sich der Stimme zu enthalten. Nach Griffith sind sich verhältnismäßig wenige Parlamentarier in ihren Entscheidungen (operatively) im klaren, daß eine Verantwortung für die Integration von Interessen zum Gemeinwohl ihre Aufgabe ist. Was die Sachlage besonders erschwert sei, daß die Interessen der Wirtschaft, der Landwirtschaft, der Gewerkschaften und der neu sich meldenden Gruppe der älteren Leute, daneben der Gruppe der Beamten, der Ver­ braucher usw., schließlich die dritte Staffel, die der freien Berufe, sich in Wirklichkeit wiederum aufsplittern in Sondergruppen, und daß Riva­ lität innerhalb der Großgruppen dauernd am Werke ist. In mehr oder weniger großem Umfange hat das manchen schwebenden Gesetzesvor­ lagen den Todesstoß versetzt. Glücklich sind jene Volksvertreter, die ihre Überzeugung vertreten können, weil die Interessenlagerung ihres Wahldistrikts ihr entspricht. Andere mögen ihre Überzeugung auf alle Fälle vertreten und die politischen Konsequenzen auf sich nehmen, mit dem Resultat, daß sie eventuell bei der nächsten Wahl ausfallen. Wieder andere verwässern ihre Überzeugung, weil sie für ihre Wiederwahl auf andere Sondergruppen Rücksicht zu nehmen haben. Auch mögen relativ kleine Gruppen von Parlamentariern vorhanden sein, die ohne feste Bindung ihr Votum abgeben; sie mögen im Einzelfalle das Züng­ lein an der Waage darstellen. Griffith gibt schließlich zu, daß hart­ näckige Minoritäten durch ihre organisierte Macht sich gegen den Willen der Mehrheit durchsetzen können, wenn die Majorität unorgani­ siert und im Grunde ohne feste Überzeugung ist. Abschließend findet Griffith doch, daß der Kongreß die langsichtigen öffentlichen Inter­ essen wahrt und daß er einen Anspruch darauf hat, danach beurteilt zu werden, und nicht nach den Manövern, die kurzfristig den Inter­ essen nachgehen (1. c. S. 132). 5*

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Briefs, Staat und Wirtschaft im Zeitalter der Interessenverbände II. Pluralismus und Gesellschaftliches Ethos

Die Vertreter der sorgsamen Abwägung des Für und Wider hinter­ lassen beim Leser den Eindruck, daß wegen der pluralistischen Durch­ dringung von Staat und Gesellschaft die Realität des Gemeinwohls und die Gemeinwohlverantwortung schließlich doch im Ungewissen verschweben. Alle diese Autoren sind mit Orton der Meinung, daß die Demokratie immer eine „moralische Proposition“ sei, sogar eine „sehr gewagte und anstrengende Proposition“. Alle stimmen darin überein, daß die Demokratie keineswegs, schon garnicht in einer pluralistischen Gesellschaft, ohne ethische Fundamente auskommen könne: „Man muß das Gemeinwohl wollen“ (Sternberger).

a) Die Durchschnittsmoral unter Verbandsdruck Einverstanden. Aber hier meldet sich der Moraltheologe Werner Schoellgen zum Wort: „... daß das Leben sich in die Polarität von gut und böse nicht einfangen läßt, daß es — schwer begreiflich für Schreib­ tisch-Logik — gewissermaßen ein Mittleres gibt, eine Tragik, ein Mit­ gerissenwerden von einem saugenden moralischen Unterdrück, einer unpersönlichen, nur soziologisch faßbaren Dynamik des gesellschaft­ lichen Lebens. Den einzelnen aufrufen, sich zu widersetzen, höhere Motive zu bewahren, heißt geradezu, jeden zum Martyrium aufzu­ fordern, zu einer heroischen Existenz, zu der gerade auch nach den Regeln der Moral der Durchschnittsmensch, als der Mensch unterwegs, der Unvollkommene, der sich noch bis zur Sterbestunde Entwickelnde, das Glied der Kirche als der großen Erziehungsgemeinschaft, nicht als einer Sekte von Reinen und Vollkommenen, nicht alltäglich aufgerufen werden darf37.“ Dem Wollen, das mehr als Velleität ist, sind offenbar Grenzen gesetzt; seit der Nikomachischen Ethik gehört diese Erkenntnis zum festen Bestand der abendländischen Weisheit. In allem Wollen und Handeln ruht, nach Karl Jaspers, die Möglichkeit des Scheiterns. Das Wollen ist eine von kontingenten Umständen abhängige Variable — ausgenommen für den Heiligen, den Helden und den Märtyrer — wie Schoellgen es deutlich gemacht hat. Ein Zitat aus F. W. Eggleston38 beleuchtet das Gesagte: „Die Lage wird bestimmt durch pressure groups, deren Einfluß auf die Demokratie eines der schwersten Probleme dar­ stellt. Der freie Mann kann sich organisieren wie er will. Die vom Eigeninteresse ausgehende politische Theorie und Ethik (des Utilitaris­ mus) glaubte, das wohlverstandene Eigeninteresse würde den Einzelnen veranlassen, sich am Nutzen der größten Zahl zu orientieren; doch der

37 Grenzmoral, 1. c. S. 41. 38 Reflections of an Australian Liberal. 1953, zitiert nach Messner, Soziale Frage, 6. Aufl. 1956, S. 631.

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Fluch der modernen Demokratie ist der organisierte Eigennutz... Die Funktionäre dieser organisierten Interessenmächte sind gewöhnlich achtbare Menschen, gute Ehemänner und Väter; sie wissen jedoch die Gruppen-Interessen nicht durchzusetzen außer durch Unterordnung der öffentlichen Interessen unter das Sonderinteresse, dem sie dienen. Die sittlichen Maßstäbe werden damit unterminiert.“ Wenn ein wildes Gestrüpp von rechtlichen, sozialen, verbandsvertraglichen und fiskalischen Auflagen die Entscheidungen und Hand­ lungen der Wirtschaft überlagert, liegt die Gefahr nahe, daß produkti­ vitäteinschränkende oder die Produktion in falsche Geleise lenkende Ausweichwege gefunden werden, weil die Anforderungen an das Ethos der Agenten im Wirtschaftsvorgang das tragbare Maß überschreiten. Angesichts dessen muß man v. Nell zustimmen, wenn er gelegentlich bemerkt, das wirtschaftliche und politische Leben sollte mit einem Minimum an moralischen Anforderungen an Einzelne und Gruppen auskommen: „Moral ist ein knappes Gut und man sollte deshalb vor­ sichtig damit umgehen und sie nur dann verlangen, wenn es nicht mög­ lich ist, durch zweckmäßige positive Ordnungen auf die subjektive An­ strengung des Einzelnen zu verzichten.“ Das Gute, das Richtige muß eine Umwelt von Normen und Institutionen vorfinden, die ihm erlaubt, möglichst zwanglos zum Zuge zu kommen. Das ist eine überaus wichtige Erkenntnis; man sollte ihr die Würde eines Gesetzes vom zunehmenden Ertrag vermeidbarer ethischer Anforderungen zusprechen. Wenn das Alltagsleben in eine Unsumme von Gesetzen, Kommentaren, Verwal­ tungsmaßnahmen, richterlichen Entscheidungen und verbandsmäßigen Normen gespannt ist, dann ist die Versuchung fast unwiderstehlich, aus dem Wust der oft widersprechenden Normen auszubrechen, weil sich niemand mehr auskennt — ganz abgesehen von der Prämie, die mit dem Ausbrechen aus den Normen gehen kann39. Ein anderer Aspekt desselben Zusammenhangs wird von Walton Hamilton40 unterstrichen. Wenn das Sich-nicht-mehr-auskennen vom

39 William Robeson (Administrative Law in England 1919—48. Zitiert nach Joseph Kaiser, Die Repräsentation Organisierter Interessen, S. 248. fn.) bietet ein eindrucksvolles Bild von der Verworrenheit, die die Folge der Überbürdung mit Gesetzen und Vorschriften ist. „This is a jungle in which the theoretical student is lost for cues. Its inhabitants are, he knows, competent and well-intentioned persons; it is to be hoped that they are familiar with the jungle paths which link their little plots of cultivation ... but if they do not, there is nothing any one outside can do to help them, because no one outside the jungle can hope to understand it.“ 40 „In fact all regulatory measures, however righteous their intent, run the risk of becoming legal defenses for private restraints. Where business takes to politics, the police power becomes a counter in an acquisitive game. All over the country the use of a legal sanction as a defense against autho­ rity is widespread. Such instances do not prove that the sheer contact with a regulatory measure creates an immmunity. But it does allow privilege to dig in behind a fortified line and calls for enforcement to look well to its

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akademischen Sachverständigen gilt — wieviel mehr für die Praktiker und Bürokraten des laufenden Alltags! Der Handelnde steht in stän­ diger Versuchung, bedenkenlos zu handeln, vielleicht gewissenlos im Sinne des ethisch submarginalen Vorgehens, um überhaupt erst zu sachlichen Entscheidungen zu kommen. Wenn die Dinge so liegen, dann gewinnt Jellineks Wort von der „normativen Kraft des Faktischen“ Gewicht. Wenn das Faktische nor­ mative Geltung hat, dann sind jene Gruppen und Mächte privilegiert, die Fakten setzen können. Ihre Fakten mögen mit geltenden ethischen Standards vereinbar sein; oder sie mögen in den trüben Wassern zwi­ schen den geltenden Standards liegen; oder schließlich ethisch ent­ schieden submarginal sein, also die geltenden Standards einfach igno­ rieren. Darin mag ein unter Umständen verhängnisvoller Beitrag zur Absenkung des politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Ethos liegen. Wenn z. B. die Gewerkschaft der Lokomotiv-Heizer in den U. S. A. ver­ langt und seit Jahren unter Streik-Drohung durchsetzt, daß zehntau­ sende von Heizern auch auf Diesellokomotiven, wo nichts zu heizen ist, ihre hochbezahlten jobs mit sehr kurzen Arbeitsstunden weiterbehalten, dann ist das ein Faktum und zugleich ein submarginaler Einbruch, dessen normative Wirkung, z. B. bei auch nur geringer oder bloß mög­ licher Arbeitslosigkeit, anderswo zur Nachahmung verleitet; oder wenn die Electrical Workers’ Union in New York bei vollem, wenn nicht sogar übervollem Beschäftigungsstand die 20-Stunden-Woche (mit entsprechendem Lohnausgleich) verlangt und die 25-Stunden-Woche durchsetzt, dann ist dieses Faktum ein Signal für andere Verbände, die vielleicht mehr Grund haben, auf kürzere Arbeitszeiten zu dringen als die Electrical Workers in New York. Aus Landwirtschaft und Industrie könnten weitere Beispiele angeführt werden. In all diesen Fällen liegen Fakten vor, die normative Kraft ausstrahlen. Wir erinnern uns, daß Adam Smith von der „Natur der wirtschaft­ lichen Dinge“, vom obvious and simple system of natural liberty sprach; darin äußerte sich seine neo-stoische Philosophie. Das war ein geistesgeschichtlich wie wirtschaftspolitisch revolutionärer Akt, weil er die Sphäre der Wirtschaft aus dem integralen, ethischen NormenSystem heraushob und autonom machte. Wir erinnern uns weiter, daß mit Bentham eine neo-epikuräische Wendung kam, die ein Maß der Freiheit des Menschen in Dingen der Verteilung anerkannte. Der Schüler Benthams, John Stuart Mill, erklärte entsprechend, daß die volkswirtschaftliche Verteilung dem menschlichen Willen nach utilitarischen Prinzipien frei verfügbar sei. Die neo-epikuräische und utilitaristrategy.“ [Walton Hamilton, Antitrust in Action. Monograph No. 16, Investi­ gation of Concentration of Economic Power. Gov. Printing Office, Washing­ ton 1940.]

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sehe Linie hat seitdem das Feld erobert, je länger je mehr. Wenn Inter­ essen verbandsmäßig institutionalisiert sind; wenn die Verbände das Geheimnis ihrer Macht im Erwecken von steigenden Erwartungen besitzen; wenn sie zudem in einer Travestie der Keynes’schen Wirt­ schaftslehre ein Alibi für „effektive Kaufkraft“ als Mittel der Vollbe­ schäftigung von Arbeit und Kapital besitzen, dann läuft der Voluntaris­ mus wild, zumal wenn er auf den Mythos eingeschworen ist, daß der Staat auch für widerspruchsvolle Forderungen verantwortlich zeichnen soll. Wenn die Dinge so liegen, dann haben sie ihre Seinsnorm ver­ loren und damit ihr Maß; das Sachliche und Vernünftige kann vom Unsachlichen und Unvernünftigen nicht mehr unterschieden werden. b) Die individuelle Freiheit unter Verbandsdruck

Auch die Dezidierten unter den Verehrern (und Nutznießern) der pragmatischen Allianz zwischen pluralistischen Mächten und der Demo­ kratie können ihre Besorgnisse nicht verhehlen. Die Besorgnisse be­ treffen zunächst die Wahrung der Freiheit des Menschen und des Bürgers: wer wird ihr Hüter sein in dieser überwältigenden Kombina­ tion von Staatsgewalt und befestigten Kollektivinteressen? Wenn der Verband, dem der Einzelne die Wahrung seiner Interessen in Commen­ dation gab, nun im demokratischen Staat an realer Befestigungsmacht so gewaltig gewinnt — wird sein institutionelles Interesse nicht den Vorrang vor dem Mitgliederinteresse, vor der freien Selbst- und Mit­ bestimmung der Mitglieder verlangen? Wird er nicht auf totale Reprä­ sentation drängen? Der Anspruch z. B. des Amerikanischen Gewerk­ schaftsbundes in einer Streitsache vor dem Obersten Bundesgericht zeigt, wie hier die Freiheit des Mitgliedes vom institutioneilen Inter­ esse des Verbandes, befestigt durch gesetzliche Privilegien und exe­ kutive Gunst, überrannt wird. In dieser Streitsache behauptet der Ameri­ kanische Gewerkschaftsbund, die Gewerkschaft sei „die Regierung über alle Arbeitsstellen“ im Lande; darum habe kein Arbeiter das Recht, eine Stelle zu nehmen oder zu halten, wenn er nicht Mitglied einer Gewerkschaft, und zwar einer der bestehenden und zuständigen Ge­ werkschaften sei41. 41 Brief for Appellants, American Federation of Labor, et al. v. American Sash & Door Company, et. al., October Term, 1948, No. 27. 335 US 538. Um das hier zugrundeliegende Argument mit aller Deutlichkeit herauszustellen, sei es etwas ausgiebiger zitiert. Der amerikanische Gewerkschaftsbund fol­ gerte folgendermaßen. 1. Arbeiter können unter Wettbewerb nur zugrunde­ gehen (can only die). Wenn die Koalitionsfreiheit wirkliche Bedeutung haben soll, dann muß sie das Recht umschließen, den Wettbewerb unter Arbeitern auszuschließen und die gewerkschaftlichen Tarifsätze und Regeln als eine Bedingung für Beschäftigung anzunehmen. 2. Alle Arbeiter in Bergbau, Fabriken oder Geschäften sind Mitglieder einer Gesellschaft, die von der Gewerkschaft regiert wird. Alle Arbeiter sind gehalten, dieser Gesellschaft beizutreten und sich ihrer Regierung (go-

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Dem entspricht andererseits die Besorgnis von Verbänden, zumal der Gewerkschaften, ob nicht der Einsatz des politischen Mittels den Ver­ band in die fatale Lage bringt, am Erfolg seiner Politik nun das lebendige Interesse der Mitglieder zu verlieren. Wer wird der Hüter der institutioneilen Interessen des Verbandes an Sicherheit und Expan­ sion sein, wenn die Mitglieder apathisch werden und die jüngere Gene­ ration jenseits der Erinnerungen der Vergangenheit und der Tradition

vernment) zu unterwerfen, wenn sie eine Stelle nehmen oder halten wollen. Der Arbeiter, der Beschäftigung annimmt, wird zum „Mitglied einer wirt­ schaftlichen Gesellschaft, deren Regierung die Gewerkschaft ist“. Es ist von wesentlicher Bedeutung, daß jeder ihr bei tritt. In einem gewissen Sinn hat die Gewerkschaft die Macht und die Verantwortung einer Regierung. Dieser letzte Punkt wird nochmal unterstrichen mit der Bemerkung, daß Mitglied­ schaft in der Gewerkschaft verglichen werden kann mit der Bürgerschaft in der politischen Gesellschaft. Beide sind mit Zwang verbindlich. 3. Die Freiheitsrechte des individuellen Arbeiters, die von der Verfassung der Vereinigten Staaten geschützt sind, are inferior to, and subject to the collective constitutional right of a labor union to govern him. Daß damit vom Amerikanischen Gewerkschaftsbund ein altes Prinzip der Feudalzeit bedenkenlos in die Gegenwart übernommen wurde — nämlich das Prinzip nulle terre sans seigneur — ist offenbar den Autoren dieser Ein­ gabe an das Oberste Bundesgericht entgangen. Nichts charakterisiert besser den Unterschied zwischen der klassischen Gewerkschaft und der befestigten als dieses Abweichen von der Grundhaltung, die die klassische Gewerkschaft einnahm. Ihr ging es um die Personrechte und die Personwürde des einzelnen Arbeiters; sie suchte sie zu schützen gegen submarginale Prak­ tiken von der Arbeitgeberseite her; den Arbeiter will sie wirtschaftlich, so­ zial und kulturell heben durch verbesserte Bedingungen im Arbeitsprozeß. Es sei auch darauf verwiesen, daß es sich bei dem erwähnten Standpunkt des Gewerkschaftsbundes nicht nur um den Gewerkschaftszwang, sondern um die Zwangsgewerkschaft handelt: der Arbeiter muß jener Gewerkschaft angehören, die eine (selbstbestimmte!) Jurisdiktion über sein Arbeitsfeld besitzt. Es ist ihm also verwehrt, etwa ein neue Gewerkschaft zu gründen, die ihm aus irgendwelchen Gründen besser passen würde. Etwas anders, aber ebenso bedenklich, steht es um die agency agreements, also um zwangsweise Solidaritätsbeiträge zu einem Verband, dessen Mit­ gliedschaft man nicht annimmt. Was hier im Grundsatz verlangt wird, ist eine gewisse fiskalische Hoheit der Gewerkschaft als verbindlich über alle Arbeiter, die in der vom Verband reklamierten Jurisdiktion ihre Arbeits­ stelle suchen oder halten. Konkurrierend mit der Fiskalhoheit des Staates wird hier eine private Fiskalhoheit verlangt; qua solcher wird der ihr Unter­ worfene, obwohl nicht Mitglied des Verbandes, zu Steuern für Verbands­ kosten, für Verbandszwecke auch politischer und kultureller Natur heran­ gezogen, die er aus Gewissensgründen (Quaker und Mennoniten in USA) durchaus verneinen würde. Es ist wohl keine Übertreibung zu sagen, daß die Gewerkschaft sich durch Agency-Verträge eine finanzielle Bewegungs­ freiheit beschaffen könnte, bei der die Gefahr der Korruption nicht ausge­ schlossen ist. Das wurde in den USA klar durch die in vielen Bänden nieder­ gelegte Untersuchung des McClellan-Ausschusses des Senats und durch das Buch des früheren Justizministers, jetzt Senators Robert Kennedy: The Enemy Within. Man muß sich ferner grundsätzlich darüber klar sein, daß mit dem er­ zwungenen agency agreement ein bedenklicher Wandel in der Rechtslage von Nicht-Mitgliedern verbunden sein kann. Wo der gesetzlich erlaubte und sogar regierungsseitig geförderte union shop besteht, ist der dem agency agreement unterworfene Arbeiter immer in Gefahr, bei Entlassungen,

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des Verbandes aufwächst42? Unter solchen Umständen meldet sich dann die Neigung, die doppelseitige Befestigung des Verbandes als Hebel zum Organisationszwang anzusetzen; hier ebenfalls sei auf das obige Zitat verwiesen. Auch das sei nicht unerwähnt, daß sich Gegendruck meldet: neunzehn Staaten der Vereinigten Staaten haben auf ihrem Recht (Paragraph 14 b des Taft-Hartley-Gesetzes) bestanden, die Zwangsgewerkschaft (Union Shop) gesetzlich zu verbieten, notorisch mit dem Einverständnis auch weiter Arbeiterkreise. Weiter: Besorgnisse, ob nicht die Autorität des Staates überbean­ sprucht und verwirtschaftet wird für wohlfahrtspolitische Zwecke43,

Seniorität oder beim Aufrücken in bessere Arbeitsstellen gegenüber dem Mitglied des Verbandes beeinträchtigt zu .sein. Er ist sozusagen ein Arbeiter oder Angestellter minderen Rechts. Hier zeigt sich auch die wahre Absicht des agency agreement: es ist eine indirekte Methode des Gewerkschafts­ zwangs. Im Prinzip gilt dasselbe für Zwangskartelle und landwirtschaftliche Verbände, soweit Zwangsmitgliedschaft besteht oder gefördert wird. Es ist wohl zu verstehen, daß die Gewerkschaften, wie es gegenwärtig der Fall ist, ihren Mitgliedbestand sichern und aus der Flaute der letzten Jahre herausbringen wollen; darüber herrscht Einigkeit. Aber sie sollten bedenken, daß ihren Interessen andere Rechte und Interessen grundsätzlich vorzuord­ nen sind, auf die Dauer auch im besten Interesse der Gewerkschaften und ihrer Ziele selber. Vorzuordnen ist einmal das Allgemeinwohl, dessen Be­ stand und Sicherung auch die Gewerkschaften schützt; ferner, und vielleicht noch wichtiger, das Freiheitsrecht des einzelnen Mannes, für sich zu ent­ scheiden, ob er einem Verband beitreten will oder nicht. Man könnte grund­ sätzlich die Gewerkschaften zu einer öffentlich-rechtlichen, dem Gemein­ wohl dienenden und verantwortlichen Instanz erheben, aber die Folge wäre unausbleiblich, daß sie in ihren Entscheidungen und Handlungen öffent­ licher Regelung unterfallen. Sie können nicht die beste zweier Welten für sich beanspruchen, private Vereinigung zu sein, aber quasi-öffentliche Rechte und Privilegien zu genießen. Wenn dieser Zustand besteht, können sie je nachdem die eine oder andere Möglichkeit ausschöpfen, indem sie sich gegen öffentliche Ansprüche auf ihren Charakter als Privatvereinigung zurück­ ziehen, oder sich auf ihre öffentlichen Privilegien berufen, um private Inter­ essen des Verbandes durchzusetzen. Dazu hat mit Recht v. Nell-Breuning das Nötige bemerkt. 42 Schelsky, H.: Die skeptische Generation — eine Soziologie der deutschen Jugend, Düsseldorf/Köln 1963, S. 359: „So kommt es zu dem für unsere Zeit typischen Dilemma in der Haltung gegenüber der Gesamtgesellschaft: Man stellt maximale Forderungen an staatlicher Daseinsvorsorge, verbindet sie aber mit einer überzeugten Ablehnung sowohl der staatlichen Ansprüche und Einflußnahme auf das eigene Leben als auch seiner steigenden Büro­ kratisierung, da man für die Notwendigkeit der Zusammenschlüsse auf Grund ihrer Weitschichtigkeit und Kompliziertheit jede unmittelbare per­ sönliche Erfahrung und Vorstellung verloren hat.“ 43 Das führt zu jener abstrusen Vielregiererei, die der Vorsitzende des Aufsichtsrats einer kleinen Papierfabrik in Wisconsin, N. H. Bergstrom, nicht ohne Sarkasmus, in seinem Jahresbericht von 1964 kennzeichnet: „Das Vaterunser hat 65 Worte; die berühmte Adresse des Präsidenten Lincoln in Gettysburgh hatte 266 Worte; die Zehn Gebote haben 296 Worte; die Un­ abhängigkeitserklärung der USA hat 300 Worte. Aber eine jüngste Ver­ ordnung der Regierung, die den Preis für Kohl festsetzte, hat 26 911 Worte. Es würde wahrscheinlich 26 911 000 Worte erfordern, wenn die Federal Trade Commission die Regierung wegen price fixing desselben Kohls verklagen würde.“

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oder übersteigert wird in Hinsicht auf deren fiskalischen Deckung. Das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft — früher in der Regel ein Gegenstand akademischer oder parteipolitischer Erörterung — ist heute in die Diskussion auch der Berechtigten und Verpflichteten geworfen. Sie wollen wissen, wie weit die Zwangsgewalt des Staates trägt auch da, wo sie Wohlfahrt spendet oder zu spenden vermeint. Die Frage wurde akut im Falle der Amish Sekte, die, nach altem Stile Landwirtschaft und Viehzucht treibend, aus religiösen Gründen in mustergültiger Weise für ihre Alten, Kranken und Hilfsbedürftigen sorgte. Niemand bestritt, daß sie das taten; aber die Regierung gab ihnen keine Exemption von der Zahlung der Sozialbeiträge. Da die Amish sich weigerten, sie zu zahlen, ging der Fiskus mit ZwangsVerkäufen von Hausrat, Vieh usw. gegen sie vor, um die Beiträge einzuholen. Orton erwähnt ein Zirkular der Britischen Wohlfahrtsbehörde, das die Aufforderung zu privaten Spenden für Hospitäler und Kliniken als improper bezeichnete44. Besorgnisse ferner um die soziale Gerechtigkeit: haben wir nicht all­ zuviel Vertrauen in die durch Wohlfahrtsbürokratie, Interessenverbände und soziale Institutionen zu pflegende Gerechtigkeit gesetzt? Umschließt nicht der Apparat, der um der Wohlfahrt und der Gerech­ tigkeit willen so breit ausgebaut wurde, Gelegenheit und Anlaß für spezifische soziale Ungerechtigkeiten? Liegen in ihm nicht amtseigene Versuchungen und objektive Anlässe zu bürokratischer „Erledigung von Fällen“, zu Wohlfahrts- und Gerechtigkeitsverkürzungen aus ,tech­ nischem4 Recht und administrativer Diskretion? Quis custodiet custodes?

Franz Neumann45 spricht von der Verfremdung des Bürgers von der Demokratie, die in Europa und langsam auch in Amerika sich bemerk­ bar mache. Diese Apathie habe drei Wurzeln; die eine ist Indifferenz überhaupt; die andere ist die epikuräische Nichtzuständigkeit der Politik für die menschlich wichtigen Belange; die dritte liegt im schlech­ ten Funktionieren der heutigen Demokratie; und sie hält Neumann für die gefährlichste von den dreien. Sie stammt aus der wachsenden Kom­ plexität der Regierung, dem anwachsenden öffentlichen und gesell­ schaftlichen Leben, aus der Konzentration privater Sondermacht, aus der Verhärtung der Parteien zu Maschinen, die wegen der steigenden Kosten der Politik die Neigung zeigen, neue Parteien vom politischen Markt auszuschließen. Einige der vorgeschlagenen Heilmittel verstärken nur die Übel; so z. B. das der korporativen Ordnung. Andere, beschei­ denere, drängen darauf, die politische Demokratie durch die Wirt­ schaftsdemokratie zu komplettieren. Aber sie übersehen die Tatsache, 44 The Economic Role of the State, 1. c. S. 115. 45 Franz Neumann: The Democratic and the Authoritarian State. Essays in Political and Legal Theory. The Free Press, Glencoe, Illinois, 1957.

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daß die Theorie der Demokratie nur gültig ist für die Organisation des Staates und seiner territorialen Substrukturen, niemals aber für be­ sondere Aufgaben46.

Die Forderungen der deutschen Gewerkschaften auf Wirtschaftsdemo­ kratie durch Mitbestimmung mögen aus anderen Gründen nützlich sein, aber sicher nicht aus demokratischen Erwägungen. Für ebenso unsinnig hält Neumann die Demokratisierung der öffentlichen Verwaltung. Auch hier gilt, daß das Prinzip der Demokratie, die Gleichheit, nicht in einer bürokratischen Struktur wirksam werden könne47.

c) Die Vernunft unter Verbandsdruck Noch mehr vom Übel aber ist die Teilnahme von pressure groups in der Praxis der Staatsverwaltung, in administrativen Entscheidungen, also in was in Deutschland „funktionale Verwaltung“ genannt wird. Die öffentlichen Institute der Arbeitsverwaltung erscheinen dabei als „demokratisch“, wenn interessierte Arbeitgeber und Gewerkschaften in der Willensbildung mitentscheiden, wobei die Regierung zum honest broker zwischen den widerstreitenden Interessen wird. Dagegen Neu­ mann: Das Einvernehmen zwischen gegensätzlichen Interessenverbän­ den über ihre Sonderprobleme und der resultierende Kompromiß ist nicht notwendig identisch mit ihrem Gesamtinteresse48.

46 1. c. S. 191. “There is but one democracy, political democracy, where alone the principle of equality can operate.” 47 1. c. S. 191. “Demands for equality in bureaucracies and for responsibility downward within the bureaucratic structures tend to destroy an oderly administration.” 48 1. c. S. 192: “... when the interest groups become semi-public bodies, part and parcel of the state machine, their independence lost, spontaneous responsiveness to policy decisions is weakened. The social organization turns into bureaucratic, semi-state structures, incapable of acting as critics of the state. ... Thus the essence of the democratic political system does not lie in mass participation in political decisions, but in the making of politically responsible decisions. The sole criterion of the democratic character of an administration lies in the full political responsibility of the administrative chief not to special interests, but to the electorate as a whole... Represen­ tation is not agency; the representative is not an agent, acting on behalf of another’s rights and interests, but one who acts in his own right although in another’s (the national) interest. Political action in a democracy is the free election of representatives and the preservation of spontaneous respon­ siveness to the decisions of the representatives. This, in turn, requires that social bodies such as political parties and trade unions remain free of the state, open, and subject to rank and file pressure; and that the electorate, if faced with serious problems, be capable of spontaneously organizing itself for their solution.“

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Schließlich: ernsthafte Besorgnisse in Hinsicht auf die Verzerrung von Kosten- und Preisstrukturen durch soziale und sozialpolitisch wohlgemeinte, aber falsch angesetzte Reformen, Auflagen und Kon­ trollen sind nicht von der Hand zu weisen. Zeigt nicht die lebhafte Diskussion um die Neuordnung und Integration der Sozialpolitik den Ernst des Problemkomplexes, der hier vorliegt und den sachgerecht anzufassen wegen der Durchdringung demokratischer Entscheidungen mit pluralistischen Interessen überaus schwierig, wenn nicht hoffnungs­ los ist? Wie ist es zu verantworten, daß der Vorschlag von Wilfried Schreiber zur Dynamischen Rente — gegen den man aus wirtschaft­ lichen Erwägungen gewisse Vorbehalte machen kann — im Geschiebe der pluralistischen und parlamentarischen Kräfte ins Unsinnige ver­ kehrt wurde? Warum ist eine „soziale“, im wirklichen Sinn des Wortes gerechte Reform der Krankenversicherung im Konflikt mit befestigten Interessen unmöglich durchzubringen? Ein langer Katalog solcher Fragen könnte aus allen westlichen Demokratien leicht angeführt wer­ den; er würde die historische Ironie beleuchten, daß das Zeitalter der Vernunft in seine Negation umschlägt: das Vernünftige, das sachlich Gebotene, kann nicht mehr geschehen, weil die Sondervernunft be­ festigter Interessen es nicht erlaubt.

III. Pluralismus ohne Hemmungen Sind die Gefahren, die so eindrucksvoll von Sachverständigen ge­ schildert wurden, bloße Möglichkeiten, die alles menschlich Erstrebte negativ begleiten, Kinderkrankheiten oder Kurzschlüsse? Es liegt wenig Grund vor, diesen Optimismus zu hegen. Die Ver­ mutung ist berechtigt, daß die Gefahren und Besorgnisse, von denen die Rede war, im System des Pluralismus eingebaut sind — von dem Augenblick an, wo pluralistische Gewalten ihren Charakter als relativ unabhängige Variable entweder durch ihre wirtschaftliche Druckmacht oder durch die Engagierung des politischen Mittels oder durch Kombi­ nation beider für ihre dem Gesetz ihres Antritts entsprechenden Zwecke realisieren können.

a) Solidarität antagonistischer Gruppen?

Soweit der Charakter als unabhängiger Variablen nur aus der wirt­ schaftlichen Druckmacht realbefestigter Verbände stammt, ist zu fra­ gen, warum die Adressaten dieser Macht ihr kein genügendes Gewicht entgegensetzen können. Darauf gibt es keine einfache Antwort. Gegen den Machtdruck konsolidierter Kartelle, Syndikate, landwirtschaftlicher Verbände kann der letzte Verbraucher sich überhaupt nicht wehren; er ist anonym, unorganisiert und politisch nicht repräsentiert. Wehren kann sich aber der WeiterVerarbeiter gegen ein Syndikat; in der Regel

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indem er den Druck weitergibt; auch wohl, indem er ihm widersteht oder sich selbst kartelliert. Gegen den Druck mächtiger Gewerkschaf­ ten können sich Oligopolunternehmen und Industrien durch Kostenein­ sparung, durch Kostenüberwälzung, auf dem Wege der Markterweite­ rung bei sinkenden Stückkosten, durch Ausdehnung ihres Produktions­ programms usw. wehren. Im übrigen sind die starken Adressaten druck­ mächtiger Verbände der Erwägung zugeneigt, daß sie auf längere Sicht mit dem Gegenpartner auskommen müssen; daß sie ferner etwa einen langen Streik kostspieliger finden — kostspieliger auch an nicht­ pekuniären Folgen — als halbe oder Dreiviertelzugeständnisse. Diese mögen die Rechte der Aktionäre verkürzen; aber das Hemd fried­ licher Beziehungen zu Belegschaft und Gewerkschaft liegt den Unter­ nehmungsleitern oft näher als der Rock der Aktionärsinteressen. Wenn im übrigen das dominante Klima einer Zeit das Soziale ist, dann zieht auch in die Direktion großer Unternehmungen und ganzer Industrien ein neues Ethos ein, das Pathos des Sozialen; der nächstliegende Aus­ druck davon ist die Akkommodation mit Belegschaft, Betriebsrat und Gewerkschaft. Das ist durchaus wünschenswert und gut, soweit es sein Maß hält und nicht zu Lasten anonymer Dritter und einer vernünftigen Struktur von Kosten und Preisen geht.

b) Favorisierung durch Gesetzgebung und Exekutive

Eine neue Sachlage ergibt sich, sobald das Soziale als dominantes Ethos den demokratischen Prozeß durchsäuert. Hier wächst den be­ günstigten Verbänden eine Machtpotenz zu, über die sie als Privat­ organisation nicht verfügen. Durch Gesetz und Rechtsprechung können sie nun auf zwingende Normen zu ihren Gunsten rechnen; Gesetz und administrative Praxis legen fest, was, wenn bloß durch Verbandsdruck erreicht, immer prekär bliebe und abhängig von der nächsten Depres­ sion. An der doppelten Befestigung, der legalen wie der realen, haben starke Verbände nun ihre fast lückenlose Panzerung — fast lückenlos, denn zwei Schwächen bleiben: eine von der Außenseite her, nämlich vom Gang der Wirtschaft durch eventuell anfallende Arbeitslosigkeit, durch Inflation, durch Defizite in der Zahlungsbilanz; eine von der Innenseite her: die schwindende Solidarität des Mitgliederkreises, aus­ gedrückt in Verbandsmüdigkeit. Die amerikanische Literatur — und nicht nur sie — über die Krisis der Gewerkschaften heute ist in vollem Flor, in einem Land, wo die legale und reale Befestigung der großen führenden Verbände solange wasserdicht zu sein schien. Daß ein Aspekt der Krise auf den rücksichtslosen Ansatz der durch Gesetz und Recht privilegierten Gewerkschaften und landwirtschaftlichen Verbände zu­ rückzuführen ist, wird wenig erörtert, ist aber eine unbestreitbare Tat­ sache.

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Ohne den Rückhalt an der Demokratie hätten auch die stärksten Verbände nie das volle Maß des Charakters unabhängiger Variabler erhalten können. Aber warum hat sich die Demokratie diesem Engagement mit den pluralistischen Kräften so bereitwillig zur Verfügung gestellt? Wir erwähnten die geschichtlichen Ereignisse — Krieg und Depres­ sion — die dazu führten. Es bleibt trotzdem zu überlegen, ob nicht in der Begründung und Wertung der Demokratie selber Wandlungen vorliegen, die die Schleusen für die Mediatisierung des demokratischen Staates durch pluralistische Interessen öffneten. Johannes Messner49 hat in einer ausgezeichneten Darlegung klargemacht, daß die Demo­ kratie nicht ein Wert an sich sei; sie vermöge sich auch nicht aus sich selbst zu rechtfertigen, ebenso wenig wie der Staat oder das Privat­ eigentum oder eine andere gesellschaftliche Institution. Auch die Selbst­ bestimmung des Volkes in seinem politischen Willen kann nicht die Rechtfertigung der Demokratie sein; Messner zitiert zustimmend Carl Schmitt: „Sobald die Demokratie den Inhalt eines in ihr selbst ruhen­ den Wertes bekommt, kann man nicht mehr im formalen Sinn Demo­ krat um jeden Preis sein.“ Auch die Begründung Benthams lehnt Mess­ ner mit Recht ab; sein Argument liefe auf die Rechtfertigung der Demo­ kratie durch die Demokratie hinaus; und Messner bemerkt zutreffend, Bentham sei „mitverantwortlich für die heutige Vorherrschaft der Konsumwerte und der materiellen Werte im Wertwillen des Volkes“. Aller Demokratie muß ein Konsensus voranliegen, der nicht auf Inter­ essen, die ja nicht einmal auf derselben Marktseite, viel weniger auf der entgegengesetzten Marktseite identisch sind, fundiert werden kann. Die Fundierung kann nur in einer gemeinsamen religiös-sittlichen Über­ zeugung liegen50. Der demokratische Gedanke muß an Wertfülle und Überzeugungskraft eingebüßt haben, ehe der Staat zum Vorspann von Sonderinteressen gewissermaßen mediatisiert werden konnte. Hier muß ein Wandel vor sich gegangen sein, ehe der Einbruch von Sonderinter­ essen in die politische Ebene die Dignität eines unvermeidlichen Ge­ schickes bekommen konnte. In seinem Buch: Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als reli­ gionsgeschichtliches Problem51 beschäftigt sich Alexander Rüstow mit 40 Der Funktionär, S. 145 ff. 50 William Aylott Orton, The Liberal Tradition — A Study of the Social and Spiritual Conditions of Freedom, New Haven, Yale University Press 1946, p. 96. „The evaluation of anything is impossible without a standard. The assumption that out of the clash of group interests as such a harmo­ nious synthesis can be devised or discovered is simply a return to natural law by the back window because the key of the door has been lost. As Woodrow Wilson said in 1918, „interest does not bind men together: interest separates men.“ 51 Zürich, New York 1945, S. 79 ff.

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der pluralistischen Entartung des Staates. Ausgehend von den ver­ hängnisvollen Entartungstendenzen des „ sub theologischen Liberalis­ mus“ weist er auf die Schwäche des Staates hin, die den gesellschaft­ lichen Interessengruppen ihre große Chance eröffnete. Solange der Staat der liberalen Verkehrsgesellschaft gegenüber noch einigermaßen neutral war, hatten alle Interessenverbände „ein gemeinsames egoisti­ sches Interesse, ihn zu schwächen“. Sobald aber „die Zitadelle des Staa­ tes irgendwelchen gesellschaftlichen Interessengruppen ihre Tore geöff­ net hatte, gewannen diese Gruppen das umgekehrte Interesse an einer möglichsten Erweiterung seiner Ingerenz, weil das ja nun mittelbar eine Erweiterung ihrer eigenen Machtsphäre bedeutete“. Rüstow spricht von dem „feudaloiden Charakter“ des modernen pluralistischen Staates; er verweist darauf, das sei schon früh erkannt und erstaunlich klar gekennzeichnet worden von Frederic Bastiat in seinem Aufsatz L’Etat (Journal des Debats. 25. Sept. 1848)52. Den historischen Anfang des „pathologischen“ Pluralismus sieht Rüstow in Bismarcks Wen­ dung zur Schutzzollpolitik (1878—79) und in des Kanzlers „zynischem Hohn“, die alten Gesinnungs- und Überzeugungsparteien“ zu Interessenten-Haufen umzuwandeln, die durch Fütterung aus der Staats­ krippe gefügig zu halten er glaubte. Seine Nachfolger machten die Er­ fahrung, daß der Staat, der damit anfängt, die Bestien des Gruppen­ interesses zu füttern, damit endet, daß er von ihnen aufgefressen wird.“ Selbst vorbildliche Klein-Demokratien, wie die Schweiz und Schweden, haben sich nicht von dieser verhängnisvollen Politik freihalten kön­ nen. Die U. S. A. haben mit dem New Deal begonnen, „das pluralistische Füttern aus der Staats-Krippe... in erschreckender Weise“ zu verall­ gemeinern. Rüstow sieht ein anderes krasses Sympthom der gleichen pluralistischen Staatserweichung in der Legalisierung des Aussper­ rungsrechts der Arbeitgeber und des Streikrechts der Gewerkschaften. Das war ein Rückfall in das mittelalterliche Fehderecht. Natürlich konnte der Staat die Arbeiter nicht in der mißlichen Lage lassen, in der

52 Ich zitiere nach Rüstow: „L’etat, c’est la grande fiction ä travers laquelle tout le monde s’efforce de vivre au depens de tout le monde.“ „Car, aujourd’hui comme autrefois, chacun, un peu plus, un peu moins, voudrait bien profiter du travail d’autrui. Ce sentiment, on n’ose l’afficher, on se le dissimule ä soi-meme; et alors, que fait-on? On imagine un intermediaire, on s’adresse ä l’Etat, et chaque classe tour ä tourvient lui dire:Vous qui pouvez prendre loyalement, honnetement, prenez au public, et nous partagerons. Helas! L’Etat n’a que trop de pente de suivre le diabolique conseil; car il est compose de ministres, de fonctionnaires, d’hommes enfin qui, comme tous les hommes, portent au coeur le desir et saisissent toujours avec empressement l’occasion de voir grandir leurs richesses et leur influence. L’Etat comprend done bien vite le parti qu’il peut tirer du röle que le public lui confie. Il sera l’arbitre, le maitre de toutes les distinees; il prendra beaucoup, done il lui restera beaucoup ä lui-meme; il multipliera le nombre de ses agents, il elargira le cercle de ses attributions; il finira par acquerir des pro­ portions ecrasantes.“

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sie sich vor dem gesetzlichen Koalitions- und Streikrecht befanden; aber ein richtig verstandener Liberalismus hätte einen anderen Ausweg finden müssen. Im übrigen sei das „illiberale Wohlwollen gegenüber dem Monopolismus der Gewerkschaften nur ein Symptom jener sub­ sozialistischen Knochenerweichung aus schlechtem sozialen Gewissen“, deren Heros Archigetes John Stuart Mill war. Die falschen Toleranz­ grundsätze des Liberalismus verhinderten, „begrenzende soziologische Randbedingungen für die Gültigkeit liberaler Gesetze zu erkennen“. So ließ man antidemokratische Parteien ins Kraut schießen, die die De­ generation der Marktwirtschaft und die aus ihr entstehenden Schäden demokratisch ausnutzten und die sich mit erpresserischer Brutalität an dem korrupten Spiel des Pluralismus beteiligten (1. c. S. 30). Rüstow betont die Notwendigkeit eines starken unabhängigen Staates, der seine Eingriffe auf das wirklich unentbehrliche Minimum beschränkt und in seiner Politik marktkonform vorgeht (1. c. S. 94). Man kann Rüstows Gedankengang noch etwas weiter ausspinnen, indem man dem Wandel der demokratischen Idee selbst nachgeht.

c) Von der Demokratie zum Demokratismus Sehen wir zu. Die ältesten Demokratien des Westens, die der Schweiz, der Niederlande, Englands, der Vereinigten Staaten beriefen sich auf religiöse oder naturrechtliche Motive; sie glaubten an eine gottgegebene Ordnung der menschlichen Gesellschaft, die der transzendenten Be­ stimmung des Menschen zu dienen habe. Der für alle integrale Demo­ kratie entscheidende Konsensus in grundlegenden Überzeugungen und Wertungen des menschlichen Zusammenlebens lag nicht im bloß Fak­ tischen53. Seit dem Zeitalter des Rationalismus und der Säkularisierung des Geistes verlor die religiöse Fundierung der Demokratie ihre Gel­ tung; an ihre Stelle trat die rationalistische Begründung durch J. Bent­ ham, Benjamin Constant, Victor Considerant, Hans Kelsen usw. De­ mokratie wird zur politischen Daseinsform des Menschen im Zeitalter der vollendeten Vernunft erklärt. Das mag philosophisch und akade­ misch überzeugend sein; aber Demokratie lebt nicht in der dünnen Luft des Gedankens; sie existiert in der Arena des Alltags und begeg­ net dort den miteinander ringenden Interessen. An deren Ausein­

53 W. A. Orton, The Economic Role of the State, Chicago 1950, S. 33/34: .. True, we test our immediate purposes by our values, or, if we do not, history will do it for us; but we do not deduce our values from our con­ cepts. They come from somewhere else; they rest on an original act of affirmation or intuition, as does the United States of America — „We hold these truths to be self-evident“. Every sound philosophy, from Aristotle on, starts with an affirmation which is an act of will. It says, „The nature of man is thus and so, and therefore.. “ The beginning of wisdom is to re­ cognize the character, the locus, of this affirmation.“

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andersetzung wandelt sich die Vernunft in die konkrete „Vernünftig­ keit“ der je um ihre Interessen besorgten Gruppen. Jene unter ihnen, die die Demokratie aus Gründen der Gleichberechtigung verlangen, haben Alliierte in ihrem Kampf; die Gegengruppe, die von Max Weber als Honoratioren-Demokratie bezeichnet wurde, unterliegt dem durch Krieg, Inflation und Depression verstärkten Drang zur Massendemo­ kratie.

Immerhin bleibt zu erklären, warum die Massendemokratie nun der Mediatisierung durch die pluralistischen Gruppen ausgesetzt wurde. Kurz gesagt: für sie war sie ein Hebel zur Macht, der kurze Umweg für die Sicherung vielleicht längst erstrebter Ziele, ein Mittel zur lega­ len und administrativen Befestigung von erwünschten Normen und Interessen, die ohne diese Verankerung im Politischen prekär ge­ blieben wären. Wenn auch nur ein mächtiger Verband am demokra­ tischen Staat den Hüter seiner Interessen findet, folgen andere zwangs­ läufig nach, teils um die Differenzialrente der zuerst Gekommenen aus­ zugleichen, teils um ihre eigenen Vorteile zu finden. Schließlich wird die Inanspruchnahme des Staates zum selbstverständlichen Mittel aller Interessenverbände, gleichgültig welches konkrete Motiv leitend ist. d) Imperialismus des Gesellschaftlichen In jedem Falle ist die Wirkung, daß die pragmatische Verbandspolitik die Wendung zur pragmatischen Demokratie in sich schließt. Hans Huber54 ist der Auffassung, gesellschaftlicher Pluralismus und plurali­ stisch durchsetzte Demokratie seien beide zusammen „von dem glei­ chen Vorgang, nämlich der Umwandlung der Gesellschaft selber be­ troffen“ worden; im Grunde gehen, nach Huber, „nicht Einwirkungen von einer gewandelten Gesellschaft aus und auf die Demokratie hin, so daß sie nur ,betroffen4 wäre; sie wird durch die stürmischen Vor­ gänge nicht nur fortgetragen, in Mitleidenschaft gezogen. Vielmehr geht sie in Wahrheit selber mit; die Umwälzung der Gesellschaft ist auch die ihrige; sie fließt mit in den gesellschaftlichen Prozessen“. Wenn ich recht verstehe, sieht Huber in der heutigen Demokratie nicht eine abhängige Variable gesellschaftlicher Gegebenheiten; der gesell­ schaftliche Prozeß nimmt die Demokratie nicht mit in seine Dynamik, sondern es vollzieht sich beides in einem Akt: gesellschaftlich und poli­ tisch. Immerhin bleibt zu fragen: muß nicht schon die Demokratie die Würde einer grundsätzlichen Ordnungsform des politischen Lebens ver­ loren haben, ehe sie sich nicht nur so mitnehmen läßt, vielmehr im gesellschaftlichen Wandel mitschwimmt? Mußte dazu nicht schon die

54 Hans Huber, Die Schweizerische Demokratie. In: Die Demokratie im Wandel der Gesellschaft, Berlin 1963, S. 98. 6 Briefs

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Grenze zwischen Staat und Gesellschaft flüssig geworden sein, über jenes natürliche Maß gegenseitiger Anpassung hinaus, das von der Dynamik des Lebens selber gefordert wird? Hat nicht der Verlust der metaphysischen und moralischen Fundierung der Demokratie und deren Abstellung auf rationalistische Grundsätze die grundsatzlose Grenzver­ wischung erleichtert, wenn nicht gar provoziert? Auf kürzeste Form gebracht: ist nicht der Sieg des gesellschaftlichen Pluralismus über die Demokratie vollendet, wenn aus der Demokratie als politischer Ord­ nungsform eine säkulare Weltanschauung gemacht wird? Ist sie dann nicht in ihrem innersten Wesen pervertiert zum Demokratismus? Demokratismus äußert sich heute in der Forderung nach Demokratisie­ rung aller Lebensgebiete ohne Rücksicht auf die Tatsache, daß die vital und spirituell fundamentalen Gemeinschaftsformen menschlicher Exi­ stenz denaturiert, das heißt um ihre wesenhafte Verantwortung und um ihren grundlegenden Wert für das Leben der Gesellschaft gebracht werden. Ist es abwegig zu behaupten, daß dieser Demokratismus den unfundierten, dafür um so arroganteren Anspruch erhebt, Ersatz für die religiös-sittliche Fundierung der Gesellschaft zu sein? Und lauert hier nicht die Gefahr, daß die Freiheit und Personenwürde des Men­ schen, deren Ausdruck im öffentlichen Wesen die Demokratie ist, im Demokratismus ihrer dialektischen Verneinung ausgesetzt sei? An dieser Stelle liegt heute für die westlichen Demokratien die ent­ scheidende Frage. Es kann sein, daß die Entartung der Demokratie zum Demokratismus die westliche Form des Totalismus ist, eine Art west­ licher Bolschewismus, der sich von seinem Original nur dadurch unter­ scheidet, daß er nicht mit der radikalen, Menschen mordenden und vitale Institutionen zerstörenden Revolution kommt, sondern als all­ mählicher, kriechender Prozeß im Namen der Wohlfahrt für alle und der Lebenssicherheit von der Wiege bis zum Grabe55. Wenn die Dinge auf diesen Punkt treiben, dann wird unter der Flagge des Demokra­ tismus der absolute, der totale Staat unvermeidlich sein.

55 Ich verweise auf den ausgezeichneten Vortrag von Anton Böhm, vom 8. Februar 1963; gehalten vor dem II. politischen Seminar der Staatsbürger­ lichen Vereinigung über das Thema: Wohlfahrtsstaat, Versorgungsstaat, So­ zialer Rechtsstaat. Dort der Satz: „Der perfekte Versorgungsstaat ist die westliche Form des totalitären Kollektivismus. Sein inneres Organisations­ gesetz hebt die Freiheit des Bürgers auf. Parlamentarische und demokra­ tische Verfassungen können im Versorgungsstaat nur eine täuschende Fas­ sade vor einer gesellschaftlichen Wirklichkeit sein, aus der die Freiheit ver­ schwunden ist.“ Zum gleichen Thema: Wilfried Schreiber, Kommen wir am Versorgungs­ staat vorbei?, gehalten auf der Jahrestagung 1962 des BKU, dessen Vor­ schläge (S. 15—22) außerordentlich erwägenswert sind. (Siehe auch F. A. Hayek, The Constitution of Liberty, vor allem das 19. Kapitel. S. 290 ff., das eine gründliche Analyse und Kritik der amerikanischen Sozialversicherung enthält.)

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IV. Pluralismus und Staatsautorität Die Grenzverschiebung zwischen Staat und pluralistischer Gesell­ schaft wirft eine Fülle von Fragen auf; im Grunde aber kreisen sie alle um einen Punkt: Verschwimmt nicht der Ort der für ein geordnetes Gemeinwesen notwendigen Autorität und Verantwortlichkeit im Un­ gewissen, wenn er ins Geschiebe pluralistischer Kräfte kommt?

a) Polyzentrie der Macht Diese Ungewißheit über den Ort der Autorität und Verantwortlich­ keit hat das Wort von den Mitregierungen, genauer gesagt von den „Unterregierungen“ (subgovernments) aufkommen lassen. Douglass Cater56 drückt es in seinem zweiten Buch57 so aus: „Macht in Washington hat viele Verkleidungen. Sie kann auf Gesetz beruhen, aber mit an Wortreichtum wohlgezogenen Grenzen. Oder sie kann bestehen, ohne irgendwie schriftlich niedergelegt zu sein, aber doch mit großer Wir­ kung. Sie kann sich herleiten aus gesicherten Stellungen — und der Kongress ist nicht der einzige Platz, wo Seniorität die Regel ist. Sie kann beweglich und vorübergehend sein. Sie kann sich auf Vernunft stützen und auf unvernünftige Leidenschaften; auf Sachverstand oder auf Mangel an Sachverstand. Sie kann still und geheim sein, oder sie kann in diesen Zeitalter der Öffentlichkeit ein Phänomen sein, das sich fast ausschließlich in wortreichem Lärm äußert58.“ Die vielen Verkleidungen der Macht zu regieren geben Anlaß zu schweren Auseinandersetzungen um die ’Quote4 im Markt des Regie­ rens. Cater behandelt diese Konflikte der sub governments innerhalb des Weißen Hauses, der gesetzgebenden Körperschaften, des Pentagon, der politischen Parteien, der Lobbies am Orte, und der Presse. Gewiß hat der Präsident seine gesetzlich und verfassungsmäßig umschriebene Macht; aber wer ist der Präsident? Ist es seine Person? Ist es sein aus­ gewählter Stab im Weißen Haus? Sind es die Chefs der Departments (Ministerien)? Sind es die Dutzende der dem Präsidenten direkt ver­

56 The Fourth Branch of Government, 1959 Die Presse ist der Vierte Zweig der Regierung. 57 Power in Washington. A Critical Look at Today's Struggle to Govern in the Nation's Capital. New York 1964. 58 „Power in Washington has many guises. It can be statutory its limits specified with verbal niceties; or it can be nowhere written down with every bit as specific. It can be derived from tenure — and Congress is not the only place where seniority counts. It can be a sturdy product of mass organisa­ tions. It can be mobile and transitory. It can be derived from reason and from unreasoning passion, from expert knowledge or lack of it. It can be silent and secretive, or, in an age of publicity, it can be a phenomen based almost exclusively in noise.“ 6*

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antwortlichen Sonderverwaltungen? Daneben gibt es noch die ver­ schiedenen Hohen Gerichtshöfe, mit dem Obersten Bundesgericht an der Spitze, die Embassy Row und die Internationalen Institutionen des Geld- und Kapitalmarktes in Washington; schließlich die U. N. in New York. Alle diese Stellen faßt Cater in seinem ersterwähnten Buch als the Fourth Branch of Government zusammen; sein 1964 erschienenes Buch geht mehr ins Einzelne. Es ist keine Rede davon, daß eine ein­ deutige power elite Washington heute regiert. Die Wirklichkeit zeigt eine Fragmentierung der Macht, die zwar theoretisch das vielgerühmte System der Gegengewichte (checks and balances) darstellen soll; ob es aber praktisch diese Funktion auf die Dauer erfüllen kann, bleibt eine offene Frage. Cater anerkannt durchaus die Bedeutung der eingebauten Regulierungen und Hemmungen, sieht aber doch in der Existenz der Nebenregierungen besorgniserregende Zeichen einer Macht, die ohne genügende Verantwortung ausgeübt wird. Anstatt der weitschauenden Strategen der Politik kommen die Taktiker des Alltags, die skilled operators hoch; ihr Geschäft sind die Fall-zu-Fall-Koalitionen für kurz­ fristige Zwecke und Interessen. Mit derselben Einsicht und kritischen Schärfe wie Cater hat James Burnham in seinem Buch Congress and the American Tradition (Chi­ cago 1959) die Rückwirkung des Pluralismus auf den demokratischen Prozeß gekennzeichnet. Höchst instruktiv sind die Zitate59, die die Spannung zwischen dem Kongress und der Bürokratie der Sonder­ verwaltungen darlegen. Eine Auswahl sei hier mitgeteilt; aus ihr möge der Leser einen Einblick in die Konflikte gewinnen, die vorliegen. Ich zitiere: „Der Beamte der Sonderverwaltungen hat ein Programm auszuführen, an das er glaubt. Die Frage, ob der Kongreß es autorisiert hat, ist ihm nicht wichtig; er ist der Meinung, daß wenn der Kongreß die Sachlage kännte und wüßte, was vernünftig sei, so würde er mit ihm einer Meinung sein. Daher folgt er seinen eigenen Ideen und versucht damit durchzukommen. “ Ein anderer hoher Beamter einer Sonderver­ waltung: „Die Verwaltungszweige marschieren voran und machen Ge­ setze und Entscheidungen, die auf statistischer Analyse und Sachver­ stand beruhen. Beides kann nicht vom Kongreß erwartet werden, wenn er Gesetze macht... Die Aufsicht des Kongresses über Verwaltungszweige ist furchtbar. Er schreibt vor, was wir tun können... aber die Sache selbst ist zu komplex und verschiedenartig, als daß Ausschüsse des Kongresses sie verstehen könnten.“ Ein anderer Beamter: „Alles, was der Kongreß tut, geschieht im Hinblick auf die Wahlen. Theoretisch ist das Mitglied des Kongresses gehalten, für das zu stimmen, was dem Lande zur Wohlfahrt gereicht... Aber seien wir doch praktisch und bekennen, daß er das nicht tut... Der Kongreß repräsentiert die selbst­

59 1. c. S. 164—166 f.

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süchtigen Wünsche des Volkes; er angelt nach Wahlstimmen, was die Verwaltungsbürokratie nicht nötig hat... Ich glaube nicht, daß es Sache des Kongresses ist, die Tätigkeit der administrativen Behörden zu überwachen. Im Moment, wo der Kongreß die Macht hätte, mich zu entlassen, hätte er eine politische Waffe, die die ganze beamtenmäßige Verwaltung erschüttern würde... Unser größtes Problem hinsichtlich des Kongresses ist, Gelder von ihm bewilligt zu bekommen, aber auch die Tatsache, daß er immer wieder Gesetze macht, ohne Rücksicht auf deren Wirkung in der Verwaltung... Wir haben einen Vertreter nötig, der nichts anderes tut, als Kontakte mit dem Kongreß zu nehmen, Briefe zu beantworten, den Abgeordneten Information zu geben usw....“ Das Bild, das Cater und Burnham darstellen, ist am Beispiel von Washington gewonnen. Daß es heute mit mehr oder weniger Recht für alle pluralistischen Gesellschaften gilt, dürfte schwer zu bestreiten sein. Eine Analyse besonderer Art findet man bei einem höchst angesehe­ nen Vertreter der politischen Wissenschaften. Hans Morgenthau (The Purpose of American Politics, New York 1960, S. 223) besteht darauf, daß alle großen, vitalen Gesellschaften der menschlichen Geschichte ihren Glauben an objektive Grundsätze von allgemeiner Gültigkeit hatten; ob man sie nun naturrechtlich begründet oder für empirisch bestätigt hält, ist nicht entscheidend. Die Gültigkeit letzter Grundsätze schuldet, wie Morgenthau bemerkt, nichts der Gesellschaft. Wie das Gesetz der Schwerkraft sind sie ge­ geben, ob man sie anerkennt oder nicht. Die Gesellschaft ist Erfolg oder Mißerfolg im Grade, wie sie sich nach diesen Grundsätzen richtet oder sie ignoriert. Was Morgenthau für die amerikanische Gesellschaft sagt, gilt heute wohl für alle westlichen Demokratien. In allen hat „die Gesellschaft“ Vorrecht und Bestimmung in den Sphären der menschlichen Existenz. Die dem entsprechende politische Praxis des Pluralismus läßt keinen Raum für objektive Werte allgemeiner Gültigkeit, noch für Wahrheiten die selbstverständlich sind, noch für absolute Maßstäbe der Sittlich­ keit60. In seinem Abschnitt über die Gegenwärtige Krisis spricht Morgen­ thau61 von zwei Paradoxen. Das eine von ihnen liegt in dem Grundsatz der Majorität als Folge der allgemeinen Demokratisierung. Aus ihm folgt das Paradox auf der Seite der Exekutive selber, deren Macht im Verhältnis zum Volke unerhört angewachsen ist. Die Demokratisierung führt zum Machtzuwachs der Regierung auf Kosten des Volks, aber mit

60 1. c. S. 224: „Man in the mass, the majority of men in a given society at a given time, becomes the measure of all things, and what the majority wants is good because it wants it.“ 61 1. c. S. 247.

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einem klaren Verlust an Regierungsmacht überhaupt. Die Regierung ist mächtiger als je dem Volke gegenüber, regiert aber trotzdem weni­ ger als früher, wo sie schwächer war. Das ist die paradoxe Situation, Ergebnis der Auflösung der Regierungsmacht von Innen wie von Außen. Die halbautonomen, exekutiven Ministerien und, neben ihnen, die Konzentration von Macht in der Gesellschaft sind zwei Typen neofeu­ daler Gewalten, die das Paradox der durch Machtfülle geschwächten Regierung erklären. Die in allen westlichen Staaten wachsende Vielheit der unterstaatlichen Verwaltungszweige hat zwar ihre Autorität von der Exekutive oder von der Volksvertretung; aber weder das Haupt der Regierung noch die Volksvertretung ist im Stande, sie zu kontrol­ lieren. Für Amerika sprechend bemerkt Morgenthau62, der exekutive Zweig der Regierung habe sich zu einem enormen Apparat an quanti­ tativer und qualitativer Komplexität ausgewachsen; die Funktion der Exekutive hat sich in eine Fülle von Verwaltungszweigen fragmentiert und wieder fragmentiert. Zwischen ihnen bestehen viele Kompetenz­ streitigkeiten und mangelndes Einverständnis, obschon der Sache nach weitgehend Kooperation geboten wäre. Was fehlt, ist die klare Direk­ tion und Kontrolle von oben her; darum kann der eine Verwaltungs­ zweig drauf los verwalten, ohne sich mit dem andern zu verständigen. Parallel dieser quantitativen Fragmentierung der Zuständigkeiten verläuft die qualitative. Sie ist die Folge der technischen Verwickeltheit der Fülle exekutiver Aufgaben. Das Ergebnis ist eine relative Selbständigkeit im Verfahren; sie mag in wichtigen Verwaltungszwei­ gen geradezu ein Monopol darstellen. Hintergrund des Monopols ist eine spezialisierte Sachkenntnis; sie wird in aller Regel mit einem Wall von Verschwiegenheit umgeben, damit weder das Parlament noch die Öffentlichkeit oder rivalisierende Verwaltungszweige dahinter kom­ men. Anstatt daß die Regierung mit starker und wohlüberlegter Stimme spricht, spricht sie mit vielen Stimmen und jede von ihnen sucht die andere zu übertönen — trotzdem ist alles in Wirklichkeit schwach und widerspruchsvoll. Morgenthau bemerkt63, ein Zustand der Krisis im politischen Raum gehöre zur normalen Existenz der Vereinigten Staaten. Die Konstitution habe zwar unter extremen und ungewöhnlichen Be­ dingungen mit Krisen gerechnet, aber sicher nicht mit der Krise als the normal condition of American existence. Was Morgenthau hier für Amerika sagt, gilt (mit der Ausnahme Frankreichs unter de Gaulle) mehr oder weniger für alle westlichen Demokratien. Es konnte nicht ausbleiben, daß diese Paradoxe im Prozeß des Regie­ rens selber und diese Fragmentierung der Regierungsmacht eine offene Einladung an die gesellschaftlichen Mächte darstellt, wie sie vorab in

62 1. c. S. 275. 63 1. c. S. 279.

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der Wirtschaftssphäre gegeben waren. Man muß sogar hinzufügen, daß gerade die Fragmentierung der Regierungsmacht den pluralistischen Mächten einen sonst nicht möglichen Auftrieb gab. Die neuen Feudal­ herrn im Regierungsprozeß verbünden sich mit den Fürsten der Privat­ mächte im gesellschaftlichen Raum, wobei jeder seinen Sonderzweck verfolgt. Die pluralen Mächte im Regierungsraum versuchen, ihre feudale Domäne, und damit ihre Quote an Regierungsmacht, zu ver­ mehren. Die feudalen Mächte im gesellschaftlichen Raum streben nach der Kontrolle des Regierungsapparats für ihre Sonderzwecke, ohne Rücksicht auf die öffentlichen Gewalten und zu ihren Lasten. Die staat­ liche Hoheit wird von beiden Seiten her ins Kreuzfeuer genommen. Die Sphäre der wirtschaftlichen Angelegenheiten, beraubt aller Autonomie, die sie früher hatte, gerät unter die Kontrolle der Politik; sie antwortet damit, daß sie selbst die politischen Entscheidungen zu kontrollieren sucht. Morgenthau findet das Kennzeichen unserer Zustände nicht im Mangel an der gegenseitigen Abgestimmtheit von Politik und Ökono­ mie, sondern in der „positiven philosophischen Rechtfertigung“ des Man­ gels. In gewissem Umfang ist der Staat nicht mehr nur ein Schieds­ richter, sondern gleichzeitig der stärkste Spieler im Felde, der um des Ergebnisses willen die Spielregel ändert, wie es gerade paßt64. Der Wettbewerb im ökonomischen Felde entartet unvermeidlich in Wett­ bewerb um politische Macht. Unabhängige Verwaltungsorgane geraten unter den Einfluß wirtschaftlicher Kräfte, zu deren Kontrolle sie ein­ gerichtet wurden. Die pressure groups beanspruchen die primäre Loyali­ tät der Einzelnen, die ihnen Sicherheit und Lebensstandard verdanken. Wenn diese riesenhaften Konzentrationen wirtschaftlicher Macht, die sich in den großen Unternehmungen und Gewerkschaften formiert haben, zu Mächten eigenen Rechtes würden, würden sie endgültig über ihre vitalen Interessen entscheiden und die Regierung nur zur Ratifi­ zierung ihrer Entscheidungen brauchen. Wenn dieser neue Feudalismus nicht kontrolliert und begrenzt wird, könnte er die Funktionen des Staates übernehmen, um das Überleben der machtvollen wirtschaft­ lichen Gruppen zu sichern. Die Wirtschaft der U.S.A, würde dann zu einem gigantischen System befestigter Interessen werden, das den Staat nur noch gebraucht, um sich selbst vor Wettbewerb zu schützen. Was kann der Staat tun, um seine Souveränität über diese gesellschaft­ lichen Mächte wieder herzustellen? Aber ein Staat, der dazu stark ge­ nug wäre, müßte auch stark genug sein, die wirtschaftlichen Entschei­ dungen und Handlungen aller Einzelnen zu kontrollieren, zu hemmen und mitzulenken. Aber das würde die individuelle Freiheit, vor allem in wirtschaftlichen Dingen, aufheben. Hier liegt, nach Morgenthau65, das 64 1. c. S. 281. 65 1. c. S. 286.

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wirkliche Dilemma: Eine Regierung, die zu schwach ist, die Freiheit des Einzelnen im Zaum zu halten, ist auch zu schwach, ihre Souveränität gegen den neuen Feudalismus zu behaupten. Andererseits: eine Re­ gierung, die stark genug ist, den neuen Feudalismus unter Kontrolle zu nehmen um der Freiheit des Einzelnen willen, ist auch stark genug, die Freiheit aller zu vernichten. Der Rückzug der öffentlichen Gewalt vor der Expansion der „Privat­ regierungen“ (1. c. 289), wie sie bei machtvollen Verbänden vorliegen, manifestiert sich deutlich darin, daß sie ihre fundamentale Funktion nicht mehr erfüllen kann: die Funktion, das öffentliche Interesse und besonders den öffentlichen Frieden gegen Gewalttat, Streik und physi­ sche Gewalt der Privatregierungen zu verteidigen. In den Kämpfen zwischen großen Firmen und großen Gewerkschaften scheint es sich um wirtschaftliche Streitpunkte zu handeln; in Wirklichkeit handelt es sich um den Besitz der Macht, entweder zwischen Unternehmungsleitern und Gewerkschaften oder zwischen Gewerkschaften oder um beides. Die Auseinandersetzung endet schließlich mit einer Konspiration zwi­ schen Firmen und Gewerkschaften, die die Last auf den Verbraucher schiebt. Die Schwäche der Regierung offenbart sich in alldem. Morgen­ thau66 kommt zu dem Ergebnis, daß die öffentlichen Gewalten spora­ disch zur Politik der Nadelstiche greifen, der sie sich mehr oder weniger gutwillig in der Art eines Rituals unterwerfen. Wenn eine Regierung durch die Perversion des demokratischen Prozesses zum Mädchen für alles wird, was sich als öffentliche Meinung präsentiert, wird sie schwach; sie setzt dann nämlich einen fatalen Mechanismus in Gang, bei dem die öffentliche Meinung unter die Kontrolle machtvoller Verbände gerät. Die öffentliche Meinung wird dann zum Instrument machtvoller Gesellschaftsgruppen, die darauf ausgehen, die öffentliche Gewalt zu entwaffnen. Der Anschein der staatlichen Souveränität wird in einem gewissen Umfang von der Steuerseite her, von der Führung des Präsi­ denten und von der Macht nationaler Zwecke gewahrt, aber auch nach diesen drei Richtungen hin hat Morgenthau seine Vorbehalte. Ist der nationale Konsensus stark genug, sich gegen die Sonderinteressen und deren Politik zu formieren? Kann Gleichheit und Freiheit, getrennt wie sie sind von einer allgemein anerkannten objektiven Ordnung, der die öffentlichen Gewalten verpflichtet sind, die Zufälligkeiten des status quo überleben? Er möchte kein klares „ja“ zu dieser Frage sagen67. 66 1. c. S. 288. 67 1. c. S. 292. “Thus while the consensus, albeit serving nothing more than a hedonism of the status quo, strengthens the public power, the decline of objec­ tive standards adds to the weakness of the public power, which must find in the maintenance and improvement of the material status quo its foremost purpose and justification.”

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b) Politischer Pluralismus Ein Sonderfall pluralistischer Durchdringung der Demokratie liegt vor, wenn die Verfassung den Grundsatz der Verhältniswahl anstatt der Mehrheitswahl vorsieht. Das Undemokratische wie das Unrealisti­ sche dieser Regelung ist seit Walter Bagehots klassischer Kritik an John Stuart Mills Argument für den Proporz bekannt. Max Weber hat gleich in den Anfängen der Weimarer Republik die verhängnisvolle Wirkung der Verhältniswahl gekennzeichnet: „Bei den nächsten Wahlen wird eintreten, was bei dieser (1919) sich erst im Keim zeigte: Die Berufsver­ bände (Hausbesitzer, Diplominhaber, Festbesoldete, Bünde aller Art) werden die Parteien zwingen, lediglich zum Zweck des Stimmenfangs deren (der Berufsverbände) besoldete Sekretäre an die Spitze der Listen zu stellen. Das Parlament wird so eine Körperschaft werden, innerhalb derer solche Persönlichkeiten, denen die nationale Politik Hekuba ist, die vielmehr der Sache nach unter einem imperativen Mandat von öko­ nomischen Interessen handeln, den Ton angeben: Ein Banausenparla­ ment, unfähig in irgendeinem Sinne eine Auslesestätte politischer Füh­ rer darzustellen.“ Wenn heute einer der Forscher im Gebiete der politischen Wissen­ schaften das Verdienst hat, die entscheidenden Argumente sachlogisch wie empirisch gegen den Proporz geführt zu haben, so ist es F. A. Her­ mens. In einzelnen Schriften wie vor allem in seinem Buche Demokratie oder Anarchie™ hat Hermens den Kampf gegen den Proporz geführt. In unserem Zusammenhang handelt es sich um den Einfluß des Pro­ porzes auf den Pluralismus der gesellschaftlichen Gruppen. Interessen­ parteien können sich bei Mehrheitswahl, so argumentiert Hermens69, nicht in reiner Form entwickeln. Das soll nicht heißen, daß Interessen nicht politisch vertreten seien; im Gegenteil, jede Partei wird den For­ derungen von Verbänden Verständnis entgegenbringen, aber nur so­ weit, wie andere Interessen dem nicht entgegenstehen. Hermens ver­ weist mit Recht auf den Erziehungsprozeß, dem der Wahlkandidat wie die Interessengruppen bei Mehrheitswahl unterliegen; der Kandidat muß sich mit der wirtschaftlichen Lage jeder Gruppe vertraut machen; die Interessenverbände ihrerseits merken, daß ihre Forderungen keine unbedingte Priorität haben. Das Bild ändert sich bei Verhältniswahl70: „Ein Appell an die Mehr­ heit ist nicht länger nötig; jede Interessengruppe mit einer noch so klei­ nen Mitgliederzahl hat die Möglichkeit, eine eigene Partei zu gründen. Anfangs mag nur ein Bruchteil der Angehörigen dieser Gruppe für die

68 1951. Übersetzt nach der englischen Ausgabe: Democracy or Anarchy, 1941. 69 1. c. S. 28. 70 1. c. S. 29.

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Partei stimmen; aber der erste Erfolg wird andere heranlocken, und bald kann die neue Partei festen Boden unter den Füßen haben. Wenn eine Gruppe das erreicht hat, müssen die anderen folgen, schon aus Angst, daß diejenigen, die eine eigene Partei auf die Beine gebracht haben, einen unverhältnismäßigen politischen Einfluß ausüben könn­ ten. Bei den logischen Folgen dieser Entwicklung braucht man sich nicht aufzuhalten. Die von diesen neuen Parteien in das Parlament entsand­ ten Abgeordneten sind an die Berücksichtigung nur eines Interesses ge­ bunden — das der Gruppe, auf deren Unterstützung ihr Mandat beruht. Sie haben einzig mit Rücksicht auf ihre eigenen Interessen ihre Stimme abzugeben.“ Hermens zitiert ein schlagkräftiges Beispiel aus A. W. Dicey’s Introduction to the Study of the Law of the Constitution71: „67 Impfgegner, die zufällig im Unterhaus zu Sitzen kommen, etwa als Konservative oder Liberale, würden, soviel ist sicher, etwas ganz ande­ res darstellen als 67 Abgeordnete, die ihr Mandat der Impfgegnerschaft verdanken. Der Unterschied ist der: Im ersteren Fall würde jeder der Impfgegner wissen, daß es Fragen von dringlicherer Bedeutung gibt als die Impfgegnerschaft; aber die 67 Abgeordneten, die unter einem Ver­ hältniswahlsystem zum Zwecke einer völligen Abschaffung des Impf­ gesetzes gewählt wurden, würden — man möchte fast sagen, müßten — diese Abschaffung als den beherrschenden Gegenstand ihrer parlamen­ tarischen Tätigkeit ansehen.“ Die Wähler im System des Proporzes, so­ weit sie nach wirtschaftlichen Interessen wählen, haben ihre Integration in eben diesen Interessen und sind entsprechend weniger interessiert an allgemeinen Entscheidungen, die das Parlament auf vielen Gebieten zu treffen hat, so etwa in Fragen des Verhältnisses zwischen Kirche und Staat, der Ehe- und Scheidungsgesetzgebung usw. Interessenparteien können ihre Stimmen auf nicht-wirtschaftlichen Gebieten gegen Kon­ zessionen aushandeln, die ihnen vorzugsweise erwünscht sind. Hermens verweist auf die Praktik der Wirtschaftspartei des Deutschen Mittel­ standes in der Weimarer Periode. „Wo solche Tauschgeschäfte möglich werden, hat das politische Leben einen unübertreffbaren Tiefstand er­ reicht, und die Wähler werden das auf die Dauer nur schwer ertragen. Es kann dahin kommen, daß sie sich mit Abscheu gegen diese ,Interessenhaufen* wenden und sich den extremen Parteien anschließen, die auf einem politischen Prinzip gegründet sind, nämlich der unbedingten Ablehnung aller demokratischen Einrichtungen.“ Hermens betont mit Recht die Gefahr, die aus dem Proporz für die politische Führung er­ wächst: „Es ist eine Erfahrungstatsache, daß die Art von Kandidaten, die unter den beiden Wahlsystemen erfolgreich sind, ganz verschieden ist72.“ Das Mehrheitssystem billigt den Preis dem zu, welcher dem

71 London 1920, S. LXXII. 72 1. c. S. 31.

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Durchschnittswähler in seinem Wahlkreis annehmbar ist. Im allgemei­ nen werden die Kandidaten vorgezogen, die nicht zu eng mit irgend­ einem besonderen wirtschaftlichen Interesse in Verbindung stehen; andernfalls könnte die Partei wesentliche Bestandteile der Wähler­ schaft verlieren. Die besten Aussichten hat ein Kandidat, der in allen Kreisen Beliebtheit genießt.“ Bei Proporz genügt es für den Kandidaten, wenn eine bestimmte Berufs- oder Einkommensgruppe ihn für geeignet hält, ihr Interesse zu vertreten. Dabei gilt es als selbstverständlich, daß politische Ansichten vom Beruf bestimmt werden; daß also Landwirte durch Landwirte, Handwerker durch Handwerker, Angestellte durch Angestellte zu vertreten sind73.

Von der Verhältniswahl wie von den Interessenparteien her, die sich auf ihrer Grundlage bilden, befürchtet Hermens den Niedergang der politischen Elite auch anderer Parteien. Sie können nur dann mit den Interessengruppen konkurrieren, wenn sie auf ihren Listen Vertreter solcher Gruppen vorweisen können; dabei kann es vorkommen, daß die Auswahl dieser Kandidaten nicht in der Hand der Partei selber liegt, sondern von den Berufsverbänden her bestimmt wird. Das kann zu Mißständen führen; einige markante Fälle werden von Hermens zitiert, so das Abschieben überalterter Parteisekretäre in die Partei als Ab­ geordnete, damit der Berufsverband die Pensionen für sie sparen kann. Hermens hat sehr wohl den Einfluß der Interessengruppen auf die demokratischen Parteien gesehen; was er74 sagt, gilt auch bei Mehr­ heitsprinzip, indem die Interessenverbände den konkurrierenden Par­ teien je ihre Wünsche betreffend Vertretung vorlegen und eventuell aufnötigen. Erwähnt wurde schon das Verfahren amerikanischer Ver­ bände, über jede Abstimmung der einzelnen Mitglieder des Kongresses genau Buch zu führen; damit wird auch bei Mehrheitsprinzip ein Zwang auf die Parteien ausgeübt, in der Auswahl den Interessen pluralistischer Mächte entsprechend vorzugehen. Das zeigt sich besonders stark bei Wahlen zum Kongress und bei Präsidentenwahlen; es gehört zur Strate­ gie landwirtschaftlicher und gewerkschaftlicher Verbände, den Par­ teien bei den Wahlgängen Kandidaten zu empfehlen und eventuell zu finanzieren, die offensichtlich als quasi-Funktionäre des betreffenden Verbandes in den Kongreß einziehen. Selbst der Präsident (oder Pre­ mierminister) kann unter Umständen bei landslides' als Mandatar be­ festigter Interessengruppen gewählt werden und sich so fühlen.

73 Nach Hermens entschuldigte sich die Wirtschaftspartei des Deutschen Mittelstandes, daß einer ihrer Abgeordneten Universitätsprofessor war; die Partei betonte, man habe ihn als Hausbesitzer gewählt, d. h. nicht als Pro­ fessor (1. c. S. 32). 74 1. c. S. 32.

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In summa: Hermens hat Recht, wenn er die fatalen Auswirkungen des Proporzes auf den demokratischen Prozeß betont; daß aber auch bei Mehrheitswahl der Pluralismus der Interessenverbände an der Demo­ kratie seinen Hebel findet, gibt er durchaus zu. Hans Huber75 verweist, ebenso wie Hermens, auf die Folgen der Ver­ hältniswahl. In der Schweiz sei bei den Referendumsabstimmungen der Einfluß der Parteien auf den Entschluß des Aktiv-Bürgers von jeher gering gewesen, der Einfluß der Verbände dagegen mächtig angewach­ sen: „Das reine Verhältniswahlverfahren hat diese Entwicklung geför­ dert; die auffallendsten Erscheinungen sind hier: Aufkommen eines parteiinternen Proporzes in den dadurch geschwächten wirtschaftlich gemischten Parteien, Ablösung des politischen Führers durch den Inter­ essenvertreter auch in den Kadern der Parteien, Abgabe parteipolitisch gemischter (panaschierter) Wahllisten durch die Bürger als Verbands­ angehörige, zunehmende, auch politische Bedeutungslosigkeit der Un­ organisierten.“

c) Die Spannung zwischen Wohlfahrtsstaat und Hoheitsstaat

Der Herd der chaotischen Beziehungen zwischen Gesellschaft und Staat liegt in der mangelnden Ordnung des Verhältnisses zwischen Staatshoheit und gesellschaftlichen Mächten; wie Arnold Gehlen76 seine eigene und die Auffassung anderer deutscher Autoren ausdrückt: „Die staatshoheitliche Herrschaft leidet an Substanzschwund. “ Er zitiert Riesmann: Führer von nationalem Rang seien diejenigen, die die Interessen­ gruppen in Schach halten könnten. Forsthof in seinem Aufsatz „Das Politische Problem der Autorität“ (zitiert von Gehlen) und Werner Weber77 finden den Ort und die Aufgabe der Staatshoheit als keiner klaren Bestimmung zugänglich. Dazu bemerkt Gehlen: “... dem plura­ listischen Aufbau der Gesellschaft folgt nun seinerseits der Staat, den man in seinen Funktionen, in Rechtsprechung, Verwaltung und Gesetz­ gebung am ehesten als ein Aggregat von Operationsformen mit wech­ selnden Schwerpunkten beschreibt.“ Zwar sind wichtige Kompetenzen letzter Herrschaftsordnung erhalten geblieben, vor allem das Monopol des legitimen Gewaltgebrauchs, aber: „Im ganzen läßt sich deutlich eine Transformation des Staates von Begriff und Wesen der Herrschaft und Autorität weg feststellen. Der Weg führt hin zu einem Garanten der Wohlfahrtsgesellschaft“ (S. 41). Mit welcher Wirkung? „Im Bewußtsein der Massen ist nicht nur die Garantie des Lebensstandards, sondern des75 Die Umwälzungen im Staatsgefüge. Ordo. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft. Bd. VII. S. 190. 76 Arnold Gehlen. Industrielle Gesellschaft und Staat. Politisches Seminar der Staatsbürgerlichen Vereinigung. 1954. Vierte Tagung. Juni 1959. S. 35 ff. 77 Der Staat und die Verbände. 1952.

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sen laufende Steigerung zu einem Rechtsanspruch geworden, dessen Ein­ lösung man vom Staate erwartet.“ Der industrielle Prozeß setzt „ab­ sichtslos und unkontrolliert irgendwelche, seien es auch nur vergleichs­ weise Notstände und Ungleichheiten“; diesen zu begegnen „werden Kategorien von Berechtigten definiert und besser gestellt“. Die Not­ stände, für die der Staat angerufen wird, sind „anonyme Erzeugnisse des wirtschaftlichen Prozesses“.

Aber wer ist dieser wirtschaftliche Prozeß? Er treibt aus vielen Grün­ den weiter; sein Demiurg ist der Unternehmer, der technisch-wirtschaft­ liche Neuerungen in Gang setzt. Ein Marxist würde im Gewinnmotiv, in seiner Terminologie in der „Ausbeutung“, den Grund des Weiter­ treibens sehen. Was, wenn das Gewinnmotiv in vielen Unternehmungen aus irgendwelchen Gründen keine Möglichkeit findet, z. B. wegen man­ gelnder Kapitalbildung, überhöhter Steuerlast, mangelnder Rechts­ sicherung der Kapitalanlagen, untragbarer Lohnkosten usw.? Hört da nicht von selbst die Funktion des Staates als eines „Produktionsfaktors im wirtschaftlichen Kreislauf“78 von selber auf? Würde da nicht zutage treten, daß „der Staat“ kein, „von der Wirtschaft her gesehen, Produk­ tionsfaktor ersten Ranges ist?“ Aber das nur nebenbei, zur Illustration dafür, daß weder der Staat noch die Interessenverbände Faktoren der Produktion sind. Sie sind Institutionen, die die kommutative Gerech­ tigkeit des Marktes durch Ein- und Überbauten distributiver Gerechtig­ keit überhöhen wollen. Der Wirtschaftsprozeß ist nicht so anonym wie Gehlen glaubt; hinter ihm steht in unseren westlichen Gesellschaften der gewaltige Druck pluralistischer Mächte, die den Staat für ihre Zwecke und Interessen engagieren — mit der möglichen Wirkung, daß Kostenverzerrungen und Kostenüberhöhungen wirtschaftlich-technische Neuerungen, aber auch das Ausscheiden marginaler Unternehmungen veranlassen — worauf dann wiederum Notstände eintreten, für deren Beseitigung der respektive Interessenverband den Staat verantwortlich hält. Wie das Eichhörnchen Rattatöskr auf der Eiche Yggdrasil rennt der Staat von Notstand zu Notstand, stopft hier Löcher, die anderswo Löcher wieder aufreißen, und stopft diese in weiterer Folge, mit dem­ selben Effekt. Das ist der Hintergrund, auf dem Gehlens treffende Bemerkung über den Staat als pouvoir neutre ihre Bedeutung erlangt. Die „herrschafts­ arme Ordnung“ des Wohlfahrts- und Verteilungsstaates verlangt eine Ergänzung, „weil die Vorstellungen und Ideen, die sich die Menschen vom Staate machen, selber sehr wesentliche dynamische und wirk­ same Faktoren im sozialen Leben darstellen“79. In den sozial verbreite-

78 So Gehlen, 1. c. S. 42. 79 1. c. S. 44.

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ten Vorstellungen vom Staate steckt noch „seine Qualität als Partei­ überlegener Schiedsrichter und Garant des Gemeinwohls“; also ein pouvoir neutre. „In diesem Sinn gibt es eine objektive Staatsidee, die wenig formuliert, aber sehr stark moralisch gestützt ist.“ Der Begriff des pouvoir neutre ist nicht so klar wie er aussieht; an anderer Stelle80 spricht Gehlen in glücklich gewählter Terminologie von der „Macht­ fülle, die der Staat haben muß, um eine gruppenüberlegene Politik auf eigener Ebene zu treiben“, ohne in Totalismus zu verfallen. d) Problematische Sachlage Das Problem, wie ein Maß von Ordnung und Regelung in das Ver­ hältnis zwischen Staat und Verbände zu bringen sei, beschäftigt auch W. Hennis81. Mit Recht betont er die Nützlichkeit des Sachverstandes der Verbände, die berechtigte Anhörung der von einer gesetzlichen Regelung Betroffenen usw. Aber er sieht ihre Problematik scharf; er spricht von einer seltsamen Privilegierung der Verbände, einer einge­ schränkten Tolerierung unabhängiger Sachverständiger, von einer sehr formalen Anhörung der Länder — all das aber unter „so gut wie voll­ ständiger Aussperrung von Parlament und allgemeiner Öffentlich­ keit“82. Das Prinzip der Verantwortlichkeit der Regierung, ihr Charak­ ter als fiduciary power, als Amtsgewalt gebunden an die Zwecke des Gemeinwesens, wird von den Parteien nicht grundsätzlich in Frage ge­ stellt83.

Aber es wird von den Interessenverbänden in Frage gestellt84. Auch Hennis stößt hier, wie Gehlen, auf die Frage, wie die Verbandsmacht in 80 1. c. S. 46. 81 W. Hennis, Partei und Verbände in der Pol. Willensbildung der Bundes­ republik. Politisches Seminar der Staatsbürgerlichen Vereinigung. 1954. Mai 1961. S. 42 ff. 82 „Die Öffentlichkeit erfährt von den Verhandlungen zwischen Verbandsund Ministerialbürokratie in der Regel nur etwas, wenn diese Verhandlun­ gen nicht zu einer Übeeinstimmung führen und die Verbände — oft mit auf­ gesetzter Pathetik — den Fluchtweg in die Öffentlichkeit beschreiten. Haben sie dazu keinen Anlaß, so kann man in der Regel annehmen, daß eine Vor­ lage „verbandsfest“ gemacht worden ist, worauf die Begründungen der Re­ gierungsvorlagen, die an den Bundesrat gehen, denn auch gelegentlich hin­ weisen mit dem Unterton: Wer an dieser Vorlage rüttelt, der soll selbst zusehen, wie er mit den Verbänden auskommt. Es kann nicht verwundern, daß es schon öfters den Zorn eines an einer Materie besonders interessierten Abgeordneten erregt hat, daß er als Abgeordneter nicht in der Lage ist, einen Regierungsentwurf zu Gesicht zu bekommen, den er als Mitglied eines Spitzenverbandes großzügig zugestellt bekommt. Aber in keinem dieser Fälle ist der Mechanismus, der dieses Verfahren bestimmt, vom Parlament oder dem betroffenen Abgeordneten angegriffen worden.“ 83 1. c. S. 60 f. 84 1. c. 61... „sie üben erhebliche politische Macht aus, verfahrenstechnisch sind sie in den Rang verfassungsrechtlicher Einrichtungen erhoben, unsere

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öffentliche Verantwortung zu nehmen sei. Zwei Lösungen kommen in Betracht: einmal Wirtschaftsparlamente, zweite Kammer oder quasi­ beratende Körperschaft. Er lehnt diese Lösung ab, wie das — mit vor­ züglicher Begründung — auch der Wirtschaftsbeirat des Wirtschafts­ ministeriums im Jahr 1964 getan hat. Der andere Weg ist die amerika­ nische Lobby-Gesetzgebung; sie sieht Registrierung und Offenlegung der Ziele und verwendeten Mittel vor. Mit Recht ist Hennis auch diesem Weg gegenüber kritisch; er findet ihn zwar „als nicht ganz nutzlos, aber doch als wenig erfolgreich“. Sehr viel mehr erwartet er sich davon, die Adressaten der Verbände einer verstärkten Rechenschaftspflicht zu unterwerfen85. In einer Weise ergänzt Hennis die Auffassung von Gehlen vom Er­ fordernis eines pouvoir neutre, insofern er die öffentliche Klarstellung von Verbandseinflüssen auf Gesetzgebung und Verwaltung wünscht und damit den staatlichen Behörden eine Rückendeckung vor Einflüssen gibt, die sich anonym, d. h. außerhalb aller Öffentlichkeit, einschalten. Die Ausführungen von Gehlen wie von Hennis kommen grundsätzlich der Haltung nahe, die der früher von uns zitierte William Orton, aller­ dings mit starkem Nachdruck auf das klassische Naturrecht, vertreten hat. Von demselben Ausgangspunkt argumentiert die Katholische Staats- und Sozialtheorie, so vor allem Nell-Breuning und Gundlach. Gundlach86 verneint die Möglichkeit weltanschauungsfreier Parteien — Verfassungsordnung gibt ihnen die Möglichkeit politischen Einflusses, aber nirgendwo zeigt sie Ansätze, diesen Einfluß in öffentliche Verantwortung zu nehmen. Die Verbände entziehen sich nicht nur der öffentlichen Verantwor­ tung; an der Stelle, wo ihr Einfluß besonders wichtig ist — im Bereich der Exekutive im Gesetzgebungsverfahren —, entzieht er sich auch der Öffent­ lichkeit.“ 85 1. c. 63 „Die Regierung müßte verpflichtet sein — und Entsprechendes sollte für die Begründungen gelten, die die Berichterstatter der Ausschüsse des Bundestags vortragen — darüber Aufklärung geben, in welcher Weise die Verbände versucht haben, den Entwurf zu beeinflussen, gegebenenfalls, indem man einfach als Anlage die entsprechenden Schriftstücke der Ver­ bände beifügt. Ähnlich verfährt der schweizerische Bundesrat, der seinen Entwürfen in der Anlage die Gutachten, Denkschriften und Vernehmlassun­ gen der Verbände einfach anhängt. Auf diese Weise könnte man zumindest zu einer gewissen Festlegung der Verbände auf eine einmal bezogenen Po­ sition kommen. Während nämlich die Bundesregierung an einen Entwurf, den sie dem Bundesrat zugehen läßt, gebunden bleibt, und so, nachdem sie die Initiative ergriffen hat, verpflichtet ist, nun für ihren Entwurf einzu­ stehen, ist es die Praxis der Verbände, je nach Lage, in den späteren Stadien des Gesetzgebungsverfahrens, wenn gewisse Forderungen einmal erfüllt sind, den Versuch zu machen, darüber hinauszugehen oder auch gänzlich neue Forderungen nachzuschieben. Zum anderen würden durch eine Veröffent­ lichung der formulierten Verbandsziele auch die Gegenkräfte zu eventueller Ausübung von Gegenmacht aufgerufen sein. Die Verbände müßten sich mehr als gegenwärtig im Schutz der ministeriellen Heimlichkeit überlegen, was sie billigerweise fordern und behaupten können. Die hier vorgeschlagene win­ zige Korrektur unseres Gesetzgebungsverfahrens ist keine Patentlösung, aber sie vermeidet eine festere Form für den Einbau der Verbände in die verfassungsmäßige Ordnung.“

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„es sei denn man konstituiere das Wesen einer politischen Partei nicht unter der Voraussetzung des Staates als objektiven Zweckgebildes des ,Gemeinwohls4, sondern man leite umgekehrt den Staat aus dem politi­ schen Handeln der Individuen ab“. Gundlach sieht schon in der Erfah­ rung bestätigt, „daß auf diesem Wege immer ein Punkt kommt, wo der Staat als Eigenständiges sich dem Bewußtsein der Menschen aufdrängt; sie finden, daß die Interessen etwas überhören lassen, was da sein muß und soll, nämlich das Gemeinwohl, das ist der Staat, der mehr ist als das Produkt formaler Integration von den bei Wahlen politisch gewor­ denen, und dies heißt hier zahlenmäßig integrierten, Individuen“.

Vor fast 200 Jahren bezeichnete Adam Smith den Staatsmann — er hatte offensichtlich den des absolutistischen und merkantilistischen Zeit­ alters im Auge — als that insidious and crafty animal vulgarily called statesman. Wir ermessen den Abstand von jener Zeit und die lange Wegstrecke, die wir seitdem gegangen sind. Was heute den Betrachter geradezu bestürzt, ist das maßlose Vertrauen, das dem Staat in seinen vielerlei Repräsentanten und Bürokratien entgegen gebracht wird; in einem Umfang und in einer Fülle von Ebenen, die dem Staatsmann des Absolutismus nicht einmal in den Sinn kamen. Was noch mehr bestürzt, ist die Abwesenheit einer klaren Scheidung zwischen Staat und Gesell­ schaft und, nicht minder, die von Grundsätzen für Entscheidungen und Handlungen. Man versteht Friedrich Hayeks87 summarisches Urteil: „Es ist daher auch nicht verwunderlich, daß die moderne demokratische Ge­ setzgebung, die sich weigert, sich allgemeinen Regeln zu unterwerfen und versucht, jedes auftretende Problem nach seinem speziellen Ver­ dienst zu lösen, bisher zu einem Resultat geführt hat, das wahrschein­ lich die irrationalste und desorganisierteste Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten ist, die je von überlegter menschlicher Entscheidung herausgebracht wurde88.“ 86 Kapitalismus und Sozialismus. Stimmen der Zeit. 1958. S. 341. 87 Vortrag von F. Hayek; gehalten in der Universität Köln am 5. Juli 1963, erschienen in Kyklos, August 1963. 88 Daniel Villey, Marche et Plan, I. L’option de Systeme. In: Revue d’Eco­ nomic Politique, Paris 1964) charakterisiert dieses Zeitalter mit größerer Bitterkeit und Härte als Hayek. Von Frankreich sprechend bemerkt er (S. 4-5): „Mais notre epoque dedaigne, deprecie, voire condamne les doctrines. Elle est adoxale, meme adoxaliste, ou anti-doxaliste. Pourquoi? J’en crois apercevoir quelques raisons. 1° La barbarisation generale de l’esprit contemporain. L’inculture classique, la stupefiante inculture philosophique des elites qui montent. 2° Le developpement des techniques, la proliferation de toutes ces activites qui se proposent au cerveau, l’envahissent, l’accaparent, le fatiguent, et qui ne sont pas la pensee. 3° L’acceleration de l’histoire, qui impose aux doctrines des rythmes d’adaptation trop febriles. Elles s’essoufflent alors, eiles ne peuvent pas suivre. Leurs habits se demodent avant meme d’etre uses. Cela les demode elles-memes. 4° Une certaine devirilisation des esprits, qui affaiblit le sens de l’engagement personnel et le goüt de l’affrontement doc­ trinal. La technique appliquee, l’empirisme, le neutralisme (meme „actif“),

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le coexistentialisme, le desarmement ideologique, le syncretisme, l’irenisme sont autant de bons pretextes pour se tenir ä l’ecart des affrontements, pour s’embusquer, pour fuir les combats ideologiques... Beaucoup de petites solutions concretes tres serieusement et honnetement etudiees: pas de grands problemes speculatifs. Notre epoque valorise la competence aux depens de la personnalite intellectuelle. Nous semblons en mar ehe vers une republique d’änes savants, cocassement deguises de toges professorales.“ Auf der anderen Seite findet man den Dogmatismus z. B. der marxistischen Gruppen, die ursprünglich für friedliche Koexistenz waren, aber ohne sich ideologisch zu verstehen; daher ein Dogmatismus, dem eine zusammen­ hängende Theorie fehlt. Begeisterter Beifall für Johny Hallyday, dem Mar­ xisten, der dem Theologen erklärt: „Notre disaccord n’est que theorique... Decidement, e’est le temps des copains.“ Es ist fast 100 Jahre her, daß Jakob Burckhardt mit fast seherischer Klarheit die Krise des demokratischen Staates kennzeichnete. (Weltgeschicht­ liche Betrachtungen, hier zitiert nach der Ausgabe von 1963, Stuttgart.) „Von unten herauf wird kein besonderes Recht des Staates mehr anerkannt. Alles ist diskutabel; ja, im Grunde verlangt die Reflektion vom Staat die ständige Wandelbarkeit der Form nach ihren Launen. Zugleich aber verlangt sie für ihn eine stets größere und umfangreichere Zwangsmacht, damit er ihr ganzes sublimes Programm, das sie periodisch für ihn aufsetzt, verwirklichen könne... Der Staat soll also einesteils die Verwirklichung und der Ausdruck der Kulturideen jeder Partei sein, andernteils nur das sichtbare Gewand des bürgerlichen Lebens und ja nur ad hoc allmächtig. Er soll alles Mögliche können, aber nichts mehr dürfen; namentlich darf er seine bestimmte Form gegen keine Krisis verteidigen, — und schließlich möchte man doch vor allem wieder an seiner Machtübung teilhaben... Man will eben die größten Hauptsachen nicht mehr der Gesellschaft überlassen, weil man das Unmög­ liche will und meint, nur Staatszwang könne dies garantieren.“ (1. c. S. 134/135.) Im ähnlichen Sinne drückt sich Yves R. Simon aus (Philosophy of Demo­ cratic Goverment. University of Chicago Press, Chicago and London 1951): „Preserving principles may be more difficult in a democracy than in nondemocratic societies. In democracy more than in any other regime it is a problem to assert principles in such a way as not to jeopardize the free dis­ cussion of means, and to insure free discussion of means without jeopardizing the principles without which social life no longer has end or form. The risks proper to democratic practice demand that the assertion of principles be more profound, more vital, and more heartfelt than elsewhere. Unless this assertion is embodied in the living essence of community life, it will be nonexistent. Bureaucratic procedure cannot do a thing about it. A demo­ cratic society that loses its spirit is readily delivered to desintegration, for it no longer has any means of asserting its principles. The current objection which describes democracy as incapable of organisation because it is con­ tinuously belabored by the restlessness of universal criticism holds for every democratic society that has lost its spirit. It is true that to the forces of criti­ cism inevitably released by the democratic process of persuasion, academic and bureaucratic statements of principles are no match. In recent years, the decline of the democratic spirit has occasioned the rise of a sort of coercion in which it is easy to recognize the most radical enemy of democracy.“ (1. c. S. 125.)

Drittes Kapitel

Die wirtschaftlichen Rückwirkungen des Laissez-faire-Pluralismus I. Pluralismus und Preisbildung Eine Vorbemerkung zur Terminologie. Daß die pluralistische Form der westlichen Wirtschaftsgesellschaften etwas mit dem klassischen Liberalismus und seinem Laissez-faire zu tun hat, wurde außer vonVialatoux auch von B. C. Roberts (London University) zum Ausdruck ge­ bracht. In seinem Buche1 gebraucht er den Ausdruck laissez-faire-collec­ tivism als Bezeichnung für die Politik der britischen Gewerkschaften2. Unglücklicherweise verfiel er dabei auf einen Unbegriff; kein Kollek­ tivismus kann laissez-faire zum Grundsatz haben. Worum es sich in Wirklichkeit handelt, ist das Laissez-faire pluralistischer Mächte; sie sind gewiß, organisatorisch gesehen, Teil-Kollektiva, aber das konstituiert noch keinen Kollektivismus. Der Sache nach geboten ist der Begriff des laissez-faire-Pluralismus; er allein kennzeichnet den klassischen Libe­ ralismus und Individualismus als die Matrix des Pluralismus; er allein macht deutlich, daß es sich beim Pluralismus um eine Entwicklungs­ phase, nämlich die dritte, des klassischen Liberalismus handelt.

a) Verbandsaktion als Faktor der Inflation

Soviel mir bekannt, ist Henri Aujac der erste Autor, der die Inflation mit der pluralistischen Struktur der demokratischen Gesellschaften in funktionalen Zusammenhang brachte3. Aujac kommt aus der Schule von Francois Perroux, der die übliche Theorie der Inflation — Überschuß der disponiblen Kaufkraft über das vorhandene Warenangebot — ablehnt; nach Perroux stammt Inflation

1 Trade Unions in a Free Society (London 1959, S. 2). 2 Es ist klar, daß es sich nicht bloß um Gewerkschaften handelt, sondern um alle real befestigten Interessenverbände. 3 Henri Aujac. Une hypothese de travail: L’Inflation, consequence monetaire du comportement des groups sociaux“, Economic Appliquee, April/ June 1950. Abgedruckt in den International Economic Papers No. 4 pp. 109—123: Inflation as the Monetary Consequence of the Behaviour of Social Groups.

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aus dem mangelnden Gleichgewicht, verursacht durch erhebliche Unter­ schiede im Strom von Waren und Dienstleistungen einerseits, dem Geld­ strom andererseits, innerhalb und zwischen den verschiedenen Sektoren der Wirtschaft. Nicht globale Quantitäten und deren Proportion, son­ dern die Fülle von Sonderproportionen erklären das Phänomen der Inflation. Dieser Nachdruck auf die Sektoren statt auf das Universum der Geld- und Güterrelation war wohl der Anlaß für Aujac, das Infla­ tionsproblem von der Seite der organisierten Interessen her zu behan­ deln. Er stellt4 die Thesen auf: 1. Inflation ist das Ergebnis des Gruppen­ verhaltens — man muß hinzufügen: unter heutigen Verhältnissen, in der Phase des gesellschaftlichen und politischen Pluralismus. 2. Die Grup­ pen sind historische Gebilde; soziologische Untersuchung kann sie in einem wirtschaftlich entwickelten Land identifizieren. Zum Unterschied von früher „ist es viel weniger gewiß, daß Unterordnung von Gruppen unter Individuen besteht. Wir sind der Meinung, und glauben dazu be­ rechtigt zu sein, daß Gruppen heute immer größeren Zusammenhalt ge­ wonnen haben und daß sie gegenwärtig viel bedeutsamer sind als sum­ mierte Individuen in der Verhaltung zum Netzwerk monetärer Bezie­ hungen und zu den Möglichkeiten des Einflusses auf sie. Wenn diese Annahme zutrifft, dann sind es dieselben Gruppen, deren Verhalten für die Inflation verantwortlich ist, oder die je nach Lage der Dinge als Opfer der Inflation erscheinen. Verhaltensweise und Situation beziehen sich auf dieselbe soziale Gruppe; es existiert eine direkte Verbindung zwischen ihnen“. Inflation existiert, wenn bestehende monetäre Beziehungen durch Aktion und Reaktion von sozialen Gruppen gestört werden, gleichgültig ob diese Störung aus politischen, wirtschaftlichen oder anderen Grün­ den erfolgt. „Wenn es einigen Gruppen gelingt, aus dem zwischengruppen-monetären Gleichgewicht auszubrechen, veranlassen sie erheb­ liche Änderungen in Richtung und Umfang des Güter- wie des Geld­ stromes; damit ist die Gefahr der Inflation gegeben.“ Natürlich hängt alles von der Schlagkraft der Gruppe ab, die gegen ein bestehendes Gleichgewicht im Geld- und Güterstrom rebelliert; in der Praxis wird es darauf ankommen, wieviel reale Macht sie über die anderen Gruppen hat, gleichgültig, ob diese Macht wirtschaftlicher oder politischer Art ist. Mit welchem Recht betrachtet Aujac Inflation als Wirkung von Aktio­ nen sozialer Gruppen? Sein Argument ist kurz dieses. Handlungen von Einzelnen im Wirtschaftsgang können, für sich genommen, inflationäre Effekte nicht bewirken; ein Masseneffekt ist erforderlich. Den hat nur die Gruppe — wir würden sagen, der Interessenverband. Regierungen, die über das Monopol des rechtlichen Zwanges gebieten, sind nie völlig

4 1. c. S. 110. 7*

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frei von der Rücksicht auf soziale Gruppen, aber sie können die Be­ ziehungen zwischen Gruppen beeinflussen. Wenn der Marktmechanis­ mus außerstande ist, die wirtschaftlichen Relationen im Gleichgewicht zu halten, dann kann die Regierung Maßnahmen treffen, die Gruppen daran zu hindern, aus dem Marktmechanismus auszubrechen; sie kann also das Gruppenverhalten zur Anpassung nötigen und damit inflatio­ nären Druck dämpfen. Das Problem der Inflation sieht also je nach der Autorität des Staates sehr verschieden aus: es ist einfacher bei autori­ tären Staaten, schwierig bei Demokratien; bei ihnen ist entscheidend, welche Partei oder soziale Gruppe im Besitz der politischen Macht ist. Gegen den Ausgangspunkt vom Güter- und Geldstrom her statt vom Verhalten organisierter Gruppen wendet Aujac ein, daß der Güter- und Geldstrom selber nur erklärlich und bedeutsam ist in seiner Beziehung zum Verhalten von Gruppen. Die ausschließliche Analyse vom Geldund Güterstrom her unterstellt eine mechanistische Erklärung des Gruppenverhaltens, die Aujac fragwürdig findet, weil Handlungen von sozialen Gruppen ein „kreatives“ Element zeigen, das nicht auf physi­ kalische Kausalität reduziert werden könne. Dynamische Unternehmer und Verbraucher veranlassen Änderungen in den Produktionsfunktio­ nen oder im Verbrauch; sie schaffen so neue Daten. Auch wirkt sich im Gruppenverhalten das geschichtliche Element der Gruppentradition aus. Das Ergebnis kann, nach Aujac, dahin formuliert werden, daß in dem immer beweglichen, gegenseitig bedingten Gesamt von Kapital, Geldund Güterstrom und Gruppenverhalten das letztere der autonom trei­ bende Faktor sei5. Aujac hat das Verdienst, auf die gleichgewichtstörende und inflatio­ näre Trends auslösende Macht organisierter Gruppen hingewiesen zu haben. Wenn er (in dem oben erwähnten Zitat) im Gruppenverhalten den autonom treibenden Faktor sieht, so unterstellt er, daß das Geldund Kreditvolumen quodam modo eine abhängige Variable ist. b) Diskretionäre Preise und Inflation I.

Die real-befestigten Verbände — ob ihr Machtpotential nun wirt­ schaftlich oder politisch oder in beidem zusammen begründet ist — be­ sitzen je ein Maß von diskretionärer Bewegungsfreiheit auf ihrem Marktsektor, das den Verbänden in der zweiten Phase des wirtschaft­ lichen Liberalismus nicht verfügbar war. Die Nachfrageelastizität von Preisen und Löhnen konnte damals die entsprechende Verbandspolitik steuern; heute liegt dieser direkte und eindeutige Zusammenhang nicht 5 1. c. S. 112.

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mehr vor. Nur wenn längere und intensive Deflationen zu Betriebsein­ schränkungen, Stillegungen und Arbeitslosigkeit führen würden — was aber aus sozialen und politischen Gründen nicht tragbar wäre6 — würde der Markt mit elementarer Dynamik wieder durchbrechen. So­ weit sich bei milden Rückschlägen Preise und Kosten entgegen der Marktlage halten, vertiefen und verlängern sie die Rezession; und wenn man sie mit monetären und kreditpolitischen Mitteln zu beheben trach­ tet, läuft man Gefahr, über periodische Wirtschaftsbelebungen und Rückschläge immer stärkere Dosen derselben Medizin ansetzen zu müssen. Die Ansicht, daß Preise und Löhne im weiten Umfang von Firmen und Interessenverbänden diskretionär bestimmt oder mitbestimmt sind, hat zur Doktrin von den administrativen Preisen und der administra­ tiven Inflation geführt. Gardiner Means7 fand auf Grund statistischer Daten über Preisvariationen in verschiedenen Wirtschaftszweigen, daß neben den mehr oder weniger wettbewerbsbestimmten Marktgebieten ein Sektor vorhanden sei, dessen Preissymbol er diskretionäre Preise nannte. Die Möglichkeit, den Preis in diesem Sektor diskretionär zu bestimmen, kann in dreifacher Weise gegeben sein: 1. durch die Bandbreite der relativen Indifferenz, die Preisvariationen für die Gewinne haben; 2. aus der Alternative zwischen Gewinnmaxi­ mierung auf kurze oder lange Sicht. Diese beiden Arten möglicher Preisdiskretion stammen nicht aus der Größe von Betrieb und Unter­ nehmung, noch aus ihrem eventuellen Monopolcharakter; 3. eine weitere Möglichkeit diskretionärer Preispolitik liegt vor: in der Kapitalmacht insbesondere konzentrierter Industrien liegt der wirtschaftlich wich­ tigste Spielraum für Preisdiskretion, und von hier entwickelt sich, nach Means, ein konstanter inflationärer Druck. Means leugnet nicht, daß auch von den Löhnen, die ja ebenso diskretionär bestimmt sind, eine Aufwärtsspirale von Preisen erfolgen könne; wenn sie dem Wachstum der Produktivität vorauslaufen, entwickeln auch sie „wahrscheinlich“ einen aufwärts treibenden Preisspiegel. Woher auch immer der Preis­ auftrieb erfolgt: Preise können steigen ohne Steigen der Kosten, und ohne von der Nachfrage stimuliert zu sein.

6 Administered Prices: A Compendium on Public Policy. Subcommittee on Antitrust and Monopoly. US Government Printing Office, Washington: 1963. p. 12: „Samuelson and Solow have suggested — tentatively, to be sure — that an unemployed rate of 5V2 percent may be required to achieve price stability. (Lerner has put the figure as high as 7 percent). At an unemploy­ ment level less than that the economy may suffer from recession and infla­ tion at the same time. Moreover, attempts to control the inflation by restrict­ ing aggregate demand tend to aggravate the recession, while attempts to cure the recession tend to aggravate the inflation, thus confronting the policy maker with apparently impossible choices.“ 7 Gardiner Means, Pricing Power and the Public Interest, Study based on Steel, p. XIX. New York 1962.

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Means glaubt auf Grund seiner statistischen Analyse behaupten zu können, die großen industriellen Kapitalgesellschaften seien in der amerikanischen Wirtschaft dominant und bei ihnen liege die zentrale Macht über Preise. Zwei Drittel und mehr der amerikanischen Produk­ tion falle in das „graue“ Preisgebiet, das sich zwischen Wettbewerbs­ preisen und öffentlich regulierten Monopolen erstrecke. Dieses Gebiet werde von seiner eigenen Logik bestimmt; sie stamme aus der Tren­ nung zwischen Kapitaleigentum und Kapitalleitung. Die mächtigen Manager bezielen eine gewisse Rate des Reingewinns durch Preise (target-rate of return-pricing)*, die erheblich über den „legitimen“ Preisen liegen. Daraus folge eine unbillige Einkommensverteilung, der Streit zwischen Arbeitgeber und Gewerkschaften um ihre Anteile, die Fehlleitung von Kapitalanlagen und schließlich der verlangsamte wirt­ schaftliche Fortschritt9. 8 Walton Hamilton (Antitrust in Action. Investigation of Concentration of Economic Power. Temporary National Economic Committee. Monograph No. 16. 1940. S. 12 ff.) hatte schon darauf aufmerksam gemacht, daß das Antitrustgesetz von 1890 eine Form der Konkurrenz erzwingen wollte, die den kleinen Betrieben und den kleinen Märkten der Vergangenheit angemes­ sen war, die aber ihren Sinn beim Aufstieg des groß industriellen Zeitalters verlor. Hamilton fand, daß Großindustriefirmen gezwungen sind, hinsichtlich Investitionen, Kosten und Preise auf lange Sicht zu planen, und daß darum die Anforderung, im üblichen Auf und Ab der Preise kurzfristig zu planen, fast unmöglich sei. Ein Automobilkonzern oder eine große Ölfirma müssen auf lange Sicht planen; sie entwickeln daher das Verfahren, das ihnen das Vorausplanen möglich macht. Offenbar soll die Theorie des Oligopols hier eine Lücke füllen, weil Preisphänomene vorliegen, die nicht von der her­ kömmlichen Theorie verständlich gemacht werden können. Eins der Preis­ phänomene, die hier einspringen, wird als target-return-pricing bezeichnet. Anstatt den Vorgang der Preisbildung von Kosten- und Nachfrageschätzun­ gen herzuleiten und dann den Punkt zu fixieren, wo Gewinn-Maximierung vorliegt, ist der Verlauf bei target-return-pricing umgekehrt. Als Aus­ gangspunkt wird ein Kapitalgewinn, bezogen auf den Buchwert der Aktiva, über einen Zyklus hinweg visiert; dieser Kapitalgewinn wird so gewählt, daß er möglichst keinen Anreiz für Konkurrenzgründungen oder Wettbe­ werbseinbrüche erlaubt. Daraufhin wird ein standard Volume festgestellt, also eine Rate der Ausnutzung der Kapitalanlage über den Zyklus hinweg. Weiterhin werden Standardkosten bei gegebenem Standardvolumen errech­ net, das den Plangewinn auf das investierte Kapital zu erbringen hat. Damit ist der target price festgestellt. Wenn es sich als notwendig erweist, die Standardproduktion neu zu fixieren oder Standardkosten zu ändern, oder wenn die Rate des Gewinns geändert werden soll, dann wird der Aufschlag entsprechend angepaßt. Es handelt sich also bei target-rate-of-return-Preisfestsetzung nicht um Maximierung der Gewinne auf kurze Frist; es wird nicht von kurzfristigen Angebot- und Nachfrageverhältnissen ausgegangen, sondern von einem längerfristigen Gewinnansatz, dessen Periode gute und nicht so gute Zeiten deckt und der eine Kapazitätsausnutzung veranschlagt, die sich mit den technischen Bedingungen, mit der Kapazität der Industrie und ihrem herkömmlichen Marktanteil verträgt. 9 Means, 1. c. S. 274 ff. Die etwas sonderbaren Vorschläge von Means, die diskretionäre Preiskompetenz der Manager zu beseitigen oder unter Kon­ trolle zu nehmen, interessieren uns hier nicht.

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Für Means steht fest, daß die Marktmacht der großen „kollektiven“10 Unternehmungen, allerdings nicht nur dieser, inflationären Auftrieb auslöst; ihre diskretionären Preise sind der Zündpunkt einer Inflation, die vornehmlich aus der Macht großer Kapitalgesellschaften über ihre Preise stamme. Means fand, daß in den Jahren 1953 bis Mai 1957, dann weiter in der Rezession von 1958—59, die marktbestimmten Preise stark nachgaben, während sie im Sektor „kollektiver“ Unternehmungen unentwegt an­ stiegen. Darin sah er ein „neues Phänomen, das in unserer Geschichte der Preise nicht beobachtet wurde“11. Er kam zum Ergebnis, daß alle hochkonzentrierten und gemischten Industriegruppen Preisauftriebe zeigten, auch wenn der Wettbewerbssektor starke Preiseinbrüche auf­ wies. Neuere empirisch-statistische Analysen haben den Meanschen Nach­ weis der administrativen Inflation nicht bestätigt12. Und zwar aus meh­ reren Gründen. Zunächst: nach Means führen die diskretionären Preise der Kapitalgesellschaften hochkonzentrierter Industrien zu Hemmungen des Produktionsoptimums. Dabei übersieht er die Faktoren außerhalb der Marktmacht, die periodische, nicht kontinuierliche Preisanpassungen verursachen, so z. B. Einflüsse der Jahreszeit oder die Differenz zwi­ schen Listenpreisen und Effektivpreisen. Zu berücksichtigen ist ferner die Tatsache, daß Preisserien beruhend auf amtlichen Angaben höhere Flexibilität zeigen als jene von nicht-amtlichen Stellen. Von Bedeutung ist auch die Zahl der ihre Preisänderungen berichtenden Firmen; je größer die Berichtzahl z. B. beim Bureau of Labor Statistics ist, desto größer die Zahl der Preisänderungen. Bemerkenswerte Unterschiede im Preiswechsel zeigen sich auch zwischen Grundstoff- und Halbzeugindu­ strien und in der Verfeinerung. Wichtiger noch als diese Einwände statistisch-technischer Natur, und entschieden von grundsätzlicher Bedeutung, ist die Frage, ob zurei­ chende Gründe für die Annahme von Means vorliegen, jede diskretio­ 10 Collective enterprises in seiner Terminologie; er verwendet noch nicht, soviel ich weiß, den später von Galbraith benutzten Begriff des „Oligopolen Sektors“. 11 Hearings before the Subcommittee on Antitrust and Monopoly. Part I, 7. Juli 1957, S. 88. 12 H. W. Briefs, Pricing Power and „Administrative“ Inflation, Washing­ ton, D. C. 1962, S. 33—34... „Are there satisfactory reasons for believing that every effort to limit price variability through conscious policy should be judged a contravention of market signals which tends to impair economic efficiency? If the answer is in the negative, if one trusts the evidence to the effect that some and perhaps even most efforts to follow a conscious price policy succeed only in containing short-run price fluctuations, then the effec­ tive scope of „administered“ pricing in the sense relevant to Dr. Means’ argument (and to every other position depending upon some such concepts) is very greatly reduced.“

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näre Entscheidung über Preise müsse notwendig die für Marktpreise angenommene optimale Leistungseffizienz beeinträchtigen13. Weiterhin ist es fraglich, ob das analytische Schema von Means und seine Grund­ lage in seinem Wettbewerbsbegriff brauchbar ist. Wettbewerb wird von ihm nicht verstanden als eine Summe von formalen Propositionen über die Logik der Maximierung von Erträgen, auch nicht als eine Summe von Aussagen über Anpassungstendenzen gemäß marginalen Änderun­ gen der wirtschaftlichen Daten; Means versteht darunter eine genaue Beschreibung dessen, was vorgeht, wenn viele Anbieter und viele Nach­ frager sich marktmäßig begegnen. Daraus folgt für ihn, daß bei Wett­ bewerb der Ansatz der Produktionsmittel und der Gleichgewichtszu­ stand fortwährend mit den grundlegenden wirtschaftlichen Bedingun­ gen übereinstimmen: Optimaler Ansatz der Faktoren sei praktisch gesichert. Dagegen ist einzuwenden, daß Preisänderungen auf kurze Sicht nicht mit grundlegenden wirtschaftlichen Änderungen zu korrespondieren brauchen. Kurzfristige Preisänderungen können das Ergebnis von Zu­ fallsstörungen (random disturbances), von Täuschungen über die Markt­ lage, von Wirtschaftsentscheidungen, die sich auf die Dauer als wider­ spruchsvoll herausstellen, vom Kleben an Routineverfahren sein. Damit sind Risiken verbunden und entsprechende Preisbewegungen, die den Grad der Ungewißheit verstärken; mit der Folge, daß Investitionen falsch geplant sind oder eingeschränkt werden müssen; daß Substitution von Faktoren nicht entsprechend stattfindet und daß schließlich der technisch-wirtschaftliche Fortschritt verlangsamt wird. Häufiger Wech­ sel der Preise hat auch seine Kosten.

Neuere statistische Forschungen von George Stigler, Jules Backman, Wesley Yordon, William Fellner und anderen kommen zum Ergebnis14, daß kein einfacher und direkter Kausalzusammenhang zwischen allge­ meinem Preisauftrieb und industrieller Konzentration besteht. Obschon Preisdiskretion sich durch das ganze Gewebe der modernen Wirtschaft vom Kleinhandel bis zum Großunternehmen durchzieht, darf man sie nicht für die Abwesenheit von Wettbewerb noch auch für die Tatsache der Konzentration haftbar machen. Preisdiskretion findet sich in Indu­ strien mit geringem Konzentrationsgrad und in solchen mit sehr hohem; sie findet sich in Marktgebieten, wo Wettbewerb stark fühlbar ist und in solchen, wo Wettbewerb sich anders als durch Preise vollzieht. Mit anderen Worten: Industrien mit hoher Preisdiskretion und solche mit 13 H. W. Briefs, 1. c. S. 35... „Where actual conditions approximate the theoretical case for pure competition, economic efficiency is by no means guaranteed“. 14 Administered Prices. A Compendium on Public Policy, Washington 1963. Seite 33.

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starkem Wettbewerb schließen sich nicht gegenseitig aus, weil auch bei Wettbewerbsindustrien Preisdiskretion vorkommt. Preise können stei­ gen, bevor die Wirtschaftsexpansion die Zone der praktisch vollen Beschäftigung erreicht; aber wenn sie es tun, dann sind die Gründe dafür nach aller Wahrscheinlichkeit sehr viel verwickelter als Means’ und Galbraith’s15 These von der Marktmacht es darstellen. Means’ Begriff der diskretionären Preise enthält schon in sich eine Beschränkung, wenn nicht ein Vorurteil. Nicht als ob er übersehen hätte, daß auch Löhne zum Bereich diskretionärer Bestimmung ge­ hören; aber wenn er dieser Tatsache volles Gewicht zugeteilt hätte, dann hätte er es zum Ausdruck gebracht etwa im Begriff der admini­ stered resources, der alle Ebenen diskretionärer Kosten und Preise dekken würde, auch die der Landwirtschaft. Dann wäre die Einseitigkeit seines Arguments vermieden worden, daß es sich um die diskretionäre Preismacht der großen Firmen und Konzerne handle. Means anerkennt zwar die Unvermeidlichkeit und wirtschaftliche Bedeutung diskretio­ närer Preis- und Kostenbestimmungen, aber nicht ohne durch seine Ter­ minologie wie durch den Gang seines Arguments nahezulegen, daß inflationärer Druck seine Hauptquelle in den Industrien der kapital­ mächtigen Firmen und Konzerne habe. Die überaus weitschichtige Diskussion über diskretionäre Preise, Kosten und Einkommen in den Ver. Staaten hat zu keinem eindeutigen Ergebnis geführt. Es gibt mancherlei Gründe dafür, darunter zwei mehr technischer Art: der eine ist die Wahl der Ausgangsbasis für die statisti­ sche Analyse und ihr Zeithorizont; der andere liegt in den Unzulänglich­ keiten des statistischen Materials und, oft genug, der Materialbearbei­ tung. Wichtiger ist folgendes. Am vorliegenden Problem scheiden sich die Wege zwischen vor-Keynes’scher und Keynes’scher Theorie. Das zeigt sich deutlich in der Auseinandersetzung etwa zwischen Mises, Hayek, Machlup, George Stigler einerseits, andererseits etwa Means, Galbraith, Lanzilotti und Fellner. Weiter ist festzustellen, daß der Er­ fahrungsbereich der Nachkriegsperiode zu kurz und zu vieldeutig ist, als daß ein klares und entscheidendes Urteil gewonnen werden könnte. Die meisten Untersuchungen behandeln die vier wirtschaftlichen Rück­ schläge, die seit 1949 vorliegen; diese haben das Problem zutage geför­ dert, weil in ihnen erst der Rückschlag mit Inflation zusammenging; weil gleichzeitig Wettbewerbspreise dem zyklischen Wechsel mehr oder weniger folgten, während andere Preisebenen das nicht taten. Diese letzteren waren es, die Means’ Aufmerksamkeit auf sich zogen und zur Theorie der diskretionären Preise führten. Wenn man die Dinge auf diesem Hintergrund betrachtet, stellt sich heraus, daß der Struktur-

15 John Kenneth Galbraith, Market Structure and Stabilisation Policy. Review of Economics and Statistics, May 1951.

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wandel der Nachkriegs-Wirtschaft und -Gesellschaft, nämlich der Über­ gang zur pluralistischen Struktur der Gesellschaft, doch wohl im Zen­ trum der Entscheidung steht; das hat Galbraith in seinem Buche Ame­ rican Capitalism. The Concept of Count erveiling Power gesehen, ohne eine zutreffende Deutung zu geben. Wie die Dinge liegen, kann man von zwei Richtungen sprechen, die nicht zum Ausgleich gekommen sind. Die eine der beiden ist der Mei­ nung, es gäbe bestimmte Herde diskretionärer Macht über Marktpreise; wirtschaftspolitisch gesprochen drehe es sich also darum, durch weitere Gesetzgebung, durch verschärfte Anwendung bestehender Gesetze oder eventuell durch oberstgerichtliche Entscheidungen diese Macht zu be­ schneiden, wenn nicht ganz zu beseitigen16.

Die andere Auffassung ist die, daß es sich nicht um solche markante Zentren diskretionärer Wirtschaftsmacht handle, sondern daß Macht­ elemente verschiedenen Grades über den ganzen Wirtschaftsbereich und seine Institutionen gestreut seien. Sie im einzelnen klar herauszu­ stellen, ihre gegenseitigen Beziehungen statistisch zu analysieren ist — abgesehen von den statistisch-technischen Unzulänglichkeiten — eine praktisch unmögliche Aufgabe, weil es sich um einen ständigen Wechsel im Fluß dieser Beziehungen und Zusammenhänge handelt. Das um so mehr, als ein weiterer Faktor vorliegt, von dem praktische Rückwirkun­ gen und psychologische Einflüsse auf Erwartungen fortgesetzt ausgehen, nämlich der Faktor des öffentlichen Eingriffes, der Wirtschaftspolitik einschließlich der Geld- und Kreditpolitik, und, bei weitem nicht zuletzt, der Steuerpolitik. Es stimmt schon, wenn ein früherer Vorsitzender des Wirtschaftsbeirates des Präsidenten, Edwin G. Nourse, bemerkt, die freie Unternehmenswirtschaft sei kein Präzisionsinstrument mit ge­ nauen Toleranzen und eindeutigen Kontrollen von außen her17. Nourse

16 Dieser Meinung ist u. a. The Economist (London, 18. April 1964, S. 264). Unter Bezug auf die Anklage gegen acht amerikanische Stahlfirmen bemerkt er, daß, wenn das Gericht sie schuldig finde, hier ein einfaches Vergehen gegen die Antitrust-Akte vorliege. Er fährt fort, einige Sachverständige seien der Meinung, die Verurteilung erfolge wegen old-fashioned price fixing; es handele sich hier also nicht um einen Fall der „neumodischen Theorie der diskretionären Preise“. Danach wäre das „mysteriöse“ Verhalten der Preise während der 50er Jahre vielleicht die Folge von collusion in restraint of trade, hätte also mit Preisdiskretion nichts zu tun. 17 Hearings on Administered Prices, 1957, Part I, Opening Phase. Eco­ nomist’s Views, S. 13 “... It is a loose combination of working parts, with wide tolerance of different and even inconsistent ways of functioning and subject to conditioning rather than control from the outside — that is, society — and to power drives, insubordination, and compromise from within. Economics does not furnish us means of physical measurement, mathe­ matical deduction, laboratory experiment, and pilot-plant demonstration comparable to those of .science and engineering. We still have to rely to a large extent on pragmatic tests and popular value judgements. We await the

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bemerkt mit Recht, der Antitrust Act von 1890 sei ohnehin schon stark durchlöchert dadurch, daß Farmer und Gewerkschaften von ihm nicht erfaßt seien; nicht nur das, weitere Gesetze haben Ausnahmen für be­ stimmte andere Zweige von Handel und Wirtschaft vorgesehen. Hier zeigt sich die pragmatische Politik in ihrer vollen Unzulänglichkeit: die Zweige, die gesamtwirtschaftlich als Kostenfaktoren am stärksten ins Gewicht fallen, genießen Immunität von der Antitrust-Gesetzgebung; dabei wird erwartet, daß die Antitrustbehörden für den Rest der Wirt­ schaft auf strengste Befolgung der gesetzlichen Vorschriften halten.

c) Oligopol und Inflation Im Anschluß an die Doktrin von den diskretionären Preisen hat John Kenneth Galbraith (J. K. Galbraith. Market Structure and Stabilization Policy. The Review of Economics and Statistics, May 1957, pp. 124—133) zu zeigen versucht, daß im „oligopolen Sektor“ eine zeitweise Aus­ nutzung von nicht-realisierten, kurzfristigen Monopolgewinnen (nonliquidated short run monopoly gains) stattfinde, entweder in Erwartung steigender Löhne oder drohender Kontrolle durch die Anti-Trust-Be­ hörden. Die monopoloiden Firmen würden demnach ihre Gewinne nicht kurzfristig, sondern über Zeit maximisieren. So liegt für Galbraith die Ursache der Verzerrung von nationalen Kosten- und Preisstrukturen im „oligopolen Sektor“.

Namhafte Autoren, darunter Stigler, Backman und Adelman18 bestrei­ ten, daß es einen oligopolen Sektor im Sinne von Galbraith gebe. Es gibt oligopole Firmen wie z. B. die vier Großen in der amerikanischen chemischen und pharmazeutischen Industrie, die, weit entfernt davon, eine diskretionäre Preispolitik nach oben zu betreiben, eher Neigung nach der Seite der Preissenkung zeigen; das gilt auch für Firmen in der elektrischen, Aluminium- und Zementindustrie usw. Die Präsenz weni­ ger Verkäufer auf einem Markt ist noch kein Grund für die Annahme, daß bei ihnen der Herd der Preisinflation zu suchen ist. Das soll nicht revelation of gross defects in practical operation to point the direction of reform and get acceptance of needed change. Personnally, I do not subscribe to the view that, under the divergent but roughly or partially countervailing impact of administered prices and ad­ ministered wages, we have effected a rolling adjustment to a state of con­ tinuous dynamic equilibrium and stabilized prosperity. I feel rather that we are just coming to the real testing time with reference to the quality of administration on both sides ...“ „... We are confronted with the pressing problem of seeing to it that big business does not become managerial domination, that big labor does not become union dictation, and that big government does not become authori­ tarianism ...“ 18 Siehe ihre Ausführungen in: Administered Prices. A Compendium on Public Policy. Washington 1963.

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heißen, daß es nicht das Phänomen des Oligopols und der von ihm mit gewisser Diskretion manipulierten Preise gibt; aber es gibt keinen de­ finierbaren „oligopolen Sektor“, der jene preisbestimmende Verfü­ gungsmacht hat19. Es gibt neben den von Galbraith visierten Oligopolen den Fall des Oligopols, dessen Preise von der Marktlage mehr oder weniger, auf kürzere oder längere Frist, abhängig sind.

d) Kapitalgewinne und Inflation Ein weiterer Fall ist zu erwägen. Unter normalen Friedensbedingun­ gen ist es vorstellbar, daß Inflationsdruck weder aus der Übernachfrage nach den Produkten bestimmter Industrien noch aus aggressiver Preis­ politik großer Firmen herkommt. Der Herd dieses inflatorischen Drukkes könnte darin liegen, daß große Gewinne, beruhend auf voller Aus­ nutzung modernster Betriebsanlagen, zu höheren Lohnforderungen und zum Auftrieb anderer Kosten Anreiz geben. Von diesen Gewinnen kann dann ein inflatorischer Effekt ausgelöst werden, wenn auch nur in der Art, daß mögliche Senkung von Marktpreisen ausbleibt. Die Statistiker haben sich bisher um diese Möglichkeit nicht oder nicht ausreichend be­ müht; doch hat der Jahresbericht des Wirtschaftsbeirates (Council of Economic Advisors to the President 1964) diesen Herd der Inflation mit gewissem und wohl auch etwas politischem Nachdruck erörtert20. Mit Befriedigung sieht der Beirat auf die relative Stabilität des Preisspiegels seit 1957; er hofft, daß die inzwischen Gesetz gewordene Herabsetzung der Steuern um 11,6 Milliarden Dollar weder die Gewerk­ schaften noch die Industrie dazu verleite, Preise und Löhne zu erhöhen. Aber er bemerkt beunruhigende Anzeichen steigender Preise: Eine Minderheit weit verstreuter Firmen und Industrien habe kürzlich den Markt für Preisaufschläge abgetastet21. Mehr und mehr Firmen, die nicht scharfem Wettbewerb ausgesetzt seien, suchten ihre Gewinne durch Preiserhöhungen zu verbessern; das provoziere Forderungen nach immer steigenden Löhnen. Die Arbeiter besonders solcher Industrien,

19 H. W. Briefs, 1. c. S. 35 ... „Neither Galbraith nor anyone else has pro­ vided the empirical specifications necessary to give practical meaning to the term ,oligopolistic sector4. Judging from the empirical results below, there is no such thing.“ 20 Economic Report of the President, January 1964, 4. Kap. S. 112—120. Dort wird gesagt, daß „The bargaining power of unions and the market power of large firms can interact to inject an inflationary bias into our price­ wage performance“. Der Leser beachte die Inversion: zuerst wird die bar­ gaining power der Gewerkschaften, danach die market power of large firms erwähnt, aber dann werden die Stellen umgedreht; die Rede ist nun von price-wage performance. Nach dem Vordersatz könnte der Leser vermuten, die Löhne liefen den Preisen voran; aber der Nachsatz legt das Umgekehrte nahe. 21 Economic Report 1964, 1. c. S. 115.

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die großen Produktivitätszuwachs und hohe Gewinne zeigen, würden unruhig und drängten auf starke Lohnaufbesserungen. Die Regierung müsse demgegenüber darauf bestehen, daß die allgemeine Preislinie und die Lohnlinie — diese angepaßt an das Wachstum der Durchschnittsproduktivität (3,2 °/o) — gehalten werde; darum der Rück­ griff auf die Leitlinien für gewerkschaftliche Lohnpolitik, die schon von Präsident Kennedy vorgesehen waren und die seit dem Bericht des Präsidenten (1962) Ausnahmen für besondere Fälle vorsehen. Maßstab möglicher Lohnerhöhung bleibe der nationale Durchschnitt des Pro­ duktivitätswachstums22.

e) Lohnpolitik und Inflation Mit der gleichen Frage nach den Ursachen inflationären Druckes der Nachkriegszeit beschäftigte sich G. Haberler23. Er ist geneigt, im Kosten­ stoß (wage push), verbunden mit Nachfragedruck und Vollbeschäftigung, den Herd der Nachkriegsinflation zu sehen. Der Druck der Löhne sei eindeutig feststellbar in Perioden nachlassender Wirtschaftstätigkeit, aber verdeckt, schwer auszuwerten und von anderen Ursachen zu unterscheiden während Perioden der Prosperität Die Starrheit der Löhne nach unten im Zusammenhang mit der Politik der Vollbeschäfti­ gung erkläre weitgehend den chronischen, obschon stoßweisen Infla­

22 Trotz dieser amtlich verkündeten Lohnpolitik hat die Gewerkschaft der Automobilarbeiter im Sommer 1964 eine Lohnrunde gewonnen, die den Zu­ wachs der Durchschnittsproduktivität erheblich überschreitet. Da 1965 wei­ tere Tarife großer Verbände ausliefen, mit bedeutenden Lohnerhöhungen einschließlich von Nebenleistungen, konnte angesichts der komparativen Lohnpolitik hier ein Herd starken Kostenauftriebs liegen. Denselben Sachverhalt kennzeichnet Otto Veit (Was ist säkuläre Inflation? Deutsche Bundesbank. Auszüge aus Presseartikeln Nr. 8, 29. Januar 1964, S. 9)... „Die Wirtschafts- und Sozialverfassung unserer Zeit birgt hunderte von Anlässen, die den Umschlag der Kreditinflation in eine offene Preis­ inflation bewirken können. Im letzten Grunde wurzeln sie darin, daß in einer auf allgemeine Wohlfahrt eingestellten Gesellschaft Veränderungen nur nach oben, niemals nach unten zugelassen werden. Arbeitsentgelte, Urlaub, Frei­ zeit, Verbrauch, Bildung, Lebensfreude — alles darf immer nur zunehmen, niemals sinken, vielleicht sogar niemals unverändert bleiben. Ist eine solche Gesamtsituation begleitet und getragen von einer kreditinflatorischen Unterstömung, so ist nicht zu verwundern, daß man hart am Rand der offenen Preisinflation wandert. Fast muß man erstaunt sein, daß die Warenpreise nicht noch mehr in Bewegung geraten, als im letzten Jahrzehnt geschah. Aber die Rettung war, daß in dem Wettlauf zwischen Zunahme der Pro­ duktivität und Kreditinflation die erstere meist überwog. Inwieweit dies auf die Dauer so sein wird, ist .schwer zu sagen. Keinesfalls braucht man aber erstaunt zu sein, wenn es einer Zentralbank nicht gelingt, Lohnerhö­ hungen und allgemeine Preiserhöhungen, die einmal eingetreten sind, wieder rückgängig zu machen. Auch dadurch ist das System der Index-Währung gefährlich.“ 23 Gottfried Haberler, Inflation. Its Causes and Cures. 2. Aufl. American Enterprise Association, Washington 1961. S. 31 ff.

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tionsdruck und damit die Preiskurve der Nachkriegsperiode. Haberler betont den grundlegenden Unterschied zwischen der Wirkung von indu­ striellen Monopolen und Oligopolen einerseits, starken Gewerkschaften andererseits. Eine der Differenzen bestehe darin, daß die Gewerk­ schaftspolitik Lohnstarre nach unten, Flexibilität nach oben beziele; diese Sperrklinke hebe den Preisspiegel bei günstigem Wirtschaftsver­ lauf und verhindere sein Absinken bei Rückschlägen. Haberler gibt zu, daß auch gewisse Preise nach unten starr sind, aber er hält die Starrheit der Löhne für viel weiterreichend und nachhaltiger als die Starrheit der Preise. Auch sind seiner Meinung nach Monopole auf der Unter­ nehmerseite in einer schwächeren Lage als Monopole auf der Gewerk­ schaftsseite, weil sie nicht jene „physische Zwangsmacht, strenge Dis­ ziplin und intensiven Zusammenhalt ihrer Mitglieder“ haben, wie sie bei vielen Gewerkschaften gefunden werden könne. Im übrigen seien industrielle Monopole in einigen Ländern, vor allem in den Ver. Staa­ ten, gesetzlich verboten oder unter Kontrolle genommen, wovon die Gewerkschaften de jure oder de facto ausgenommen sind. Schließlich: angenommen, Monopole und Oligopole existierten auf den Produkt­ märkten, während der Arbeitsmarkt ein Wettbewerbsmarkt sei; Haber­ ler ist überzeugt, daß darin kein Grund für einen fortgesetzten Anstieg von Preisen und Kosten vorliege: „Solche Machtstellungen würden zu einem einmaligen Preisanstieg, zu einem einmaligen inflationären Druck führen, aber nicht zu einer fortgesetzten Inflation des Preisspiegels.“ ... Kurz: „Unregulierte Unternehmensmonopole haben verschiedene Auswirkungen inflationärer Art als unregulierte Monopole von Ge­ werkschaften; die ersten führen nicht zu einem kontinuierlichen Auf­ trieb der Kosten, wie es Gewerkschaften tun.“ Eine andere Version der Lohninflationstheorie wird von Charles L. Schultze vertreten24. Er behandelt die erste Friedensinflation in den USA, diejenige von 1955—57, und zieht aus ihr seine Folgerungen. Inflation zur Friedenszeit verläuft in aller Regel ruhiger und mehr punktweise als die Nachkriegsinflation. Was sie kennzeichnet, ist die rapide Ausdehnung der Nachfrage in einzelnen Sektoren der Wirtschaft, während sie in anderen Sektoren relativ stabil bleibt oder sogar nach­ läßt. Für die Inflation von 1955—1957 war die außerordentlich starke Investitionstätigkeit verantwortlich; sie trieb die Preise für Rohstoffe und Arbeit scharf hoch, mit der Folge einer entsprechenden Reaktion in der Gesamtwirtschaft. Auch Industriezweige, deren Produkte nicht er­ höhter Nachfrage begegneten, fühlten die Rückwirkung; ihre Kosten stiegen durch den Wettbewerb um Arbeiter und Rohstoffe an. Schultze findet, daß selbst bei steigenden Preisen die Industriesektoren außerhalb

24 Charles L. Schultze, Recent Inflation in USA. Study Paper No. I, Joint Economic Committee, 86th, Congress. Washington D. C., September 1959.

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der Kapitalgüterindustrien im Großen und Ganzen nicht in der Lage waren, alle ihre Fixkosten zu decken. Wenn es sich um allgemeine Preisstabilität handelt, dann sollten den Preisauftrieben in expandie­ renden Industrien weichende Preise in anderen Industrien entsprechen; aber das sei in der Wirtschaft der Ver. Staaten nicht der Fall, weil Preise und Löhne inflexibel geworden sind. Sie reagieren zwar schnell auf steigende, nicht so aber auf sinkende Nachfrage, und zwar deshalb, weil die Gewerkschaften Löhne nach unten inflexibel halten und weil die Firmen, die im allgemeinen ihre Preise zu vollen Kosten setzen, große Mühe haben, ihre Preisstrukturen zu halten, wenn sie wachsende Kosten decken und ihren Kapitalgewinn einigermaßen halten wollen. Darum verbreiten sich Preis- und Lohnanstiege einzelner Sektoren durch die ganze Wirtschaft, ob Übernachfrage vorliegt oder nicht. Obschon Schultze die Anschauung verwirft, daß „Löhne an sich“ die inflationäre Spirale auslösen könnten, findet er doch, daß sie eine Hauptkraft in der Verzerrung in dem schon bestehenden Spiegel der Geldlöhne darstellen. In den Aufschwungs]ahren von 1955—1957 haben sich die Lohnerhöhungen der Kapitalgüterindustrien durch die ganze Ökonomie verbreitet25; bei den Kapitalgüterfirmen stiegen sie über 11 °/o an, in der Industrie im Ganzen um 10 °/o. Bemerkenswert ist sein Hinweis auf den Wechsel in der Kostenstruktur der amerikanischen Wirtschaft; der Anteil der fixen ist gegenüber dem der variablen Kosten scharf gestiegen, zu einer Zeit, wo die Belegschaftszahl der Produktions­ arbeiter in den Verarbeitungsindustrien stark abfiel, während die Zahl der Angestellten aller Art, deren Einkommen als Fixkosten behandelt wird, um 369 000 anstieg. Die nach 1957 folgende Rezession senkte den Spiegel der Nachfrage erheblich ab, für manche Firmen und Industrien unter ihrer optimalen Leistung, mit der Wirkung, daß die Einheits­ produktkosten anstiegen und der Druck auf die Kapitalgewinne sich schärfte. Die Firmen suchten dann ihre hohen Kosten teilweise durch Preisaufschläge einzuholen, was nicht überall gelang. Die Folgerung, die Schultze für die Geld- und Fiskalpolitik zieht, ließ nur die Alter­ native übrig, entweder die Nachfrage durch selektive Steuern und Kreditkontrollen zu regulieren, oder sich mit mäßigem Preisaufschlag abzufinden. Allgemeine Verknappung der Zirkulationsmittel und Nach­ frageminderung durch Besteuerung würde zu Arbeitslosigkeit und zur Hemmung des wirtschaftlichen Wachstums führen, ohne daß Preise und Löhne sich entsprechend anpassen würden, es sei denn, die Rezession würde gewaltsam die Sperrklinken aufbrechen, die das amerikanische Preissystem heute nur nach oben flexibel machen, nicht nach unten.

25 Übereinstimmend mit Schultze auch Otto Eckstein und Thomas Wilson: Determination of Money Wages in American Industry. The Quarterly Journal of Economics. August 1962.

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In einer kurzen, aber ebenso ehrgeizigen wie dogmatischen Studie unternimmt Weintraub26 den Nachweis, daß die Löhne den Auftrieb zur Inflation gegeben haben: The wage level, not the money supply governs the price level. Damit hat er die Rolle der Zentralbank als nicht entscheidend hingestellt; er findet, sie sei ein armseliges Instru­ ment, wenn es sich darum handelt, wirtschaftliche Stabilität zu sichern (1. c. S. 88). Er analysiert den Faktor ,k‘: die Summe der Nicht-Arbeits­ einkommen, wie Renten, reine Zinsen, Kapitalgewinne vor und nach Steuern, und Abschreibungen; er kommt dann auf Grund statistischer Belege zum Ergebnis, daß diese Einkommen in einem minimalen Ver­ hältnis zur Entwicklung der Lohneinkommen für die Jahre 1929—1957 standen; nicht nur das, sie zeigen auch, verglichen mit den 20er und 30er Jahren, eine Tendenz zur Stabilität auf einer relativ niedrigen Basis27. Auffallend dabei ist die relative Konstanz der Komponenten. Weintraub schließt, der einzige Faktor, der für den inflationären Auf­ trieb verantwortlich gehalten werden müsse, liege bei den Löhnen. Wenn er ebenfalls betont, der Lohnspiegel, nicht das Geldvolumen bestimme den Preisstand, hat er implicite angenommen, daß die gewerk­ schaftliche Lohnpolitik eine condominiale Macht über das Geld- und Kreditvolumen der Nation besitzt. Damit begegnet er sich mit den noch zu erwähnenden Ausführungen von Allan Sproul und John Hicks. Seine Folgerung ist die, daß die Notenbank an ihre Aufgabe mit unzureichen­ den Mitteln herangeht; ferner, daß die Bank Kenntnis davon zu neh­ men hat, daß den Lohnspiegel in Schach zu halten ihre primäre Auf­ gabe ist28.

Der Rat der Europäischen Organisation für Wirtschaftliche Zusam­ menarbeit veröffentlichte 1961 eine Untersuchung über das Problem der steigenden Preise29. Im 5. Kapitel wird die Rolle der Löhne im Preis­ anstieg erörtert, im 6. Kapitel die Rolle der Monopolpreise. Im Hinblick auf die Rolle der Monopole und Oligopole erfolgt30 die Feststellung, daß

26 Sidney Weintraub, A General Theory of the Price Level, Output, In­ come Distribution and Economic Growth. Chilton Company Book Division. Philadelphia and New York. 1959. 27 1. c. S. 94—101. 28 1. c. S. 91—92: „In the past, union leaders could plunge ahead with money wage demands, and see them acceded to by business, because both could decide that inflation was someone else’s child. That is, practical men, pondering like academic people on the EOE, might have held the Federal Reserve responsible, the unions and apologists could blame „monopolies“. Our analy­ sis showing ,k‘ rather rigid — even lower in the 1950’s than in the 1930’s — throws this chestnut back into fire, for final burning... Union leaders can never again evade price level responsibility for any immoderate wage change exactions.“ (1. c. S. 92.) 29 The Problem of Rising Prices. By Will. Fellner et al. Published by the OEEC 1961. 30 1. c. S. 69.

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das verfügbare statistische Material nicht daraufhin deute, daß dieser Faktor seit 1952 eine bedeutsame Ursache steigender Preise gewesen sei. Es sei möglich, daß Einzelstudien über besondere kleinere Indu­ strien oder Unternehmungen Ausnahmen zutage fordern würden, aber der verfügbare Nachweis für Europa lege die Annahme nahe, daß in verarbeitenden Industrien im Ganzen die Preiserhöhungen sich inner­ halb der Grenzen hielten, die durch steigende Kosten von Arbeit und Rohstoffen gezogen waren. Die sinkenden Preise in Industrien mit starkem Produktivitätswachstum und die relative Stabilität der Preise in Zeiten starker Nachfrage zeigen an, daß die Firmen in den meisten Industrien eine stabile Politik der Gewinne verfolgt haben. Im übrigen ist der Bericht der Meinung31, daß die Gefahr einer aggressiven Preis­ politik zu Zwecken hoher Gewinne begrenzt sei; sie könne auf die Dauer nur Öl in das Feuer einer an sich schon inflationären Sachlage gießen. Dann folgt der Satz: „Aber es ist unwahrscheinlich, daß das die eigentliche Ursache sei; ebenso kann es nicht die Ursache der fortgesetzt steigenden Preise sein.“ Hier wiederholt der Bericht den Punkt, den wir schon vorher bei Haberler fanden: Ein Anstieg der Profite unter­ scheidet sich vom Lohnanstieg. Es kann durchaus eine Lohnpreisspirale geben, aber nicht eine Gewinnpreisspirale, und zwar aus dem ein­ fachen Grund, weil der die Nachfrage einschränkende Effekt von höhe­ ren Preisen sich sofort einstellen würde, wenn die Verbraucher einkom­ men nicht entsprechend stiegen — abgesehen davon, daß eine diskretio­ näre Politik steigender Gewinne jederzeit unvermeidlich beschränkt sei auf ein paar Industrien. „Es gibt keine Gewinnrunden von Jahr zu Jahr“; aber die Lohnrunden sind eine alljährliche Erfahrung. So liegt der Akzent des Berichtes auf der Seite der Löhne ein­ schließlich der Lohnnebenkosten. Eine vernünftige Lohnpolitik sei nötig und die Regierungen sollten sie sich wohl überlegen. Die Kunst des Regierens stehe hier infrage; sie müsse verstanden werden als ein Prozeß, der widerspruchsvolle Gruppeninteressen mit dem Gemeinwohl in Einklang bringt. Dafür gebe es keine magische Formel; immerhin, wenn der politische Wille existiert, Inflation zu vermeiden, dann könnte ein pragmatisches Vorgehen der Regierungen Wege und Mittel finden, die mit grundlegenden Institutionen, dem Temperament und der wirt­ schaftlichen Struktur des Landes vereinbar seien32. Die Regierung sollte vor allem eine Lohnpolitik für die Angestellten des öffentlichen Sektors haben; die Wirklichkeit zeige aber, daß sie sie nicht hat33. Statt 31 1. c. S. 70. 32 1. c. S. 58. 33 1. c. S. 58. Der zweite Bericht der OEDC (Paris 1964, S. 15) hat angesichts der Einwände der konsultativen Gewerkschaftskommission seine oben zitierte Stellungnahme abgeschwächt und zugegeben, daß Inflationsdruck von den Kapitalgewinnen herkommen könne. 8 Briefs

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dessen verfolge sie sozusagen eine Politik der zufälligen Anlässe (hapha­ zard) und lasse sich vom Druck von außen — also von den Ansprüchen organisierter Interessen — leiten. Die Auffassung des OEEC Reports von der Rolle der Regierung in der Lohnpolitik nimmt offenbar einen weiteren Parameter ihrer Be­ wegungsfreiheit an, als er unter den Gegebenheiten einer pluralistisch durchsetzten Demokratie vorhanden ist34. Was in früheren Ausführun­ gen als die dritte Phase des wirtschaftlichen Liberalismus bezeichnet wurde: nämlich die gegenseitige Durchdringung von Staat und Gesell­ schaft, genauer gesagt des demokratischen Staates, der in einer plurali­ stischen Gesellschaft von einer Fülle oft widersprechender Interessen bedrängt und dabei weithin mediatisiert wird, ist nicht genügend in Anschlag gebracht. Der Anruf an die Regierung setzt eine Autorität für ihr Wahrung des Gemeinwohls voraus, die wie die Dinge liegen, real nicht garantiert ist. Der vierte Bericht des Britischen Council on Prices, Productivity and Income35 bemerkt, der gewerkschaftliche Druck auf immer steigende Löhne sei ein neues Phänomen. Zwar sei es eine alte Erfahrung, daß einzelne Gruppen und Personen jede Gelegenheit benutzen, ihre Geld­ einkommen zu heben — aber sie waren früher nicht in der Lage, das immer wieder (persistently) zu tun. Heute sei das anders; Lohnein­ kommen steigen in jährlichen Runden. Ist das die Folge einer Nach­ frageinflation? Das war die früher einhellig angenommene Erklärung. Inzwischen sei eine andere, dazu konkurrierende aufgekommen: neben dem Anzug (pull) der Preise und Löhne von der Nachfrage her meldet sich ein cost-push, der von der Marktmacht der Interessenverbände her­ kommt. Der Bericht kommt zum Ergebnis, daß sich allmählich ein weites Maß von Übereinstimmung gezeigt hat: beide, Nachfrage wie Kostenstoß, haben seit dem Kriege ihre Bedeutung in der wechsel­ vollen Geschichte von Preisen und Löhnen. Der Report untersucht den periodischen Wechsel zwischen dem Druck der Nachfrage und dem der Kosten; auch Roy Harrod36 geht den Beziehungen zwischen beiden (im

34 Als Beleg dafür ein Zitat des OEEC Report (S. 56): „Governments cannot allow the large and powerful force that comes from the present wage negotiation machinery to remain outside the arena of stabilization policy without serious risk of having its efforts to put on a good performance inside the arena frustrated.“ Immerhin kommen gelegentlich Hinweise auf die Grenzen einer regierungsseitigen Lohnpolitik vor, so z. B. (S. 63 Abs. 4): „Where wage-push inflation tends to develop, governments committed to a national wages policy would, in our opinion, have to become involved in rather extensive regulations relating to individual wages and prices. In such circumstances, political considerations and the usual group pressures would exert a very significant influence on the wage and price structure and also on the general wage and price level.“ 35 London, July 1961, S. 15. 36 The British Economy, New York and London, 1963.

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siebten Kapitel) während der Nachkriegszeit sorgfältig nach, mit der Neigung, dem Kostenstoß die Vorhand zu geben. Der erwähnte Bericht des Rates kommt37 noch einmal auf den für uns wichtigen Unterschied zwischen ,früher* und ,heute* zurück; sachlich trifft er damit unsere Unterscheidung zwischen einer Ära, in der die Verbände abhängige Variable im Wirtschaftsvorgang waren, und der­ jenigen, wo sie, real befestigt, relativ unabhängige Variable sind. ,Früher* waren TarifVerhandlungen ein Streit um den Wertanteil an einem bestimmten Produkt; aber ,heute* (in recent years) gehen Lohn­ erhöhungen und Gewinnsteigerungen zusammen. Das Realeinkommen hat sich mit der wachsenden Produktivität gehoben; aber soweit Löhne über den Grad des Produktivitätswachstums hinaussteigen, kann das Ergebnis nur Inflation, nicht ein höherer Anteil am Marktprodukt sein. ,Früher* war der einzelne Industriezweig unabhängig von Tarifver­ handlungen, weil seine Lohnzahlkraft von seinem Produktmarkt ab­ hing; ,heute* dagegen veranlaßt Lohnerhöhung in einem Sektor solche in anderen Sektoren38. Wenn ,früher* Firmen ihre Löhne verbesserten, war es immer mal hier, mal dort (one at a time); die fallweise Aufbesserungen hatten so gut wie keinen Einfluß auf die Kosten der Lebenshaltung. ,Heute* da­ gegen wird die Kaufkraft von erhöhten Löhnen reduziert durch den Anstieg der Preise, den die Lohnerhöhung auslöst. ,Früher* gab es keine festen Termine für den Auslauf von Tarifverträgen; oft liefen sie jahrelang unverändert weiter; ,heute* dagegen gibt es fast jähr­ liche Lohnrunden. ,Früher* waren die Tariflöhne die Effektivlöhne; ,heute* liegen sie oft, gelegentlich erheblich, unter den Effektivlöhnen; die Differenz ist das Ergebnis lokaler Vereinbarungen etwa zwischen Firmen und Betriebsvertretungen (shop stewards). „In a word, full employment has transformed the working of collective bargaining but not its structure and procedure “

f) Das Einschrumpfen der Marktfunktion Was hier als die Differenz zwischen ,früher* und ,heute* gekenn­ zeichnet wird, deckt sich mit unserer Unterscheidung zwischen der Verbandsmacht in der zweiten und der in der dritten Phase. Die indivi-

37 1. c. S. 27. 38 Die klassische Wirtschaftstheorie nahm an, Wettbewerb mache die Lohnebenen interdependent; doch das wurde schon von J. E. Cairnes (Some Leading Principles of Political Economy. London 1874) und von Francis Amasa Walker in der Lehre von den noncompeting groups bestritten. Die von manchen Gewerkschaften verfolgte komparative Lohnpolitik resultiert in einer spezifischen Art von Lohninterdependenz, hinter der als Motiv insti­ tutionelle Interessen, Druck seitens der Mitglieder und Ambitionen der gewerkschaftlichen Führung zu suchen sind. 8*

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dualistische Doktrin, in großem Umfange aber auch die Praxis des liberalen Kapitalismus, verstand den Markt als offen, autonom und interdependent. Diese Kriterien sind in der Phase des vollendeten Pluralismus in höchstem Maße modifiziert, das eine oder andere der Kriterien gelegentlich praktisch nicht länger nachweisbar — im ,nor­ malen4 Verlauf der Dinge, d. h. vorausgesetzt, daß keine Depression die elementare Dynamik des freien Marktes wieder in Bewegung setzt; vorausgesetzt ferner, daß die heute verfügbaren antizyklischen Mittel zur Abwehr von Depressionen ungenügend wirksam sind. Wenn und soweit die verfügbaren Methoden zur Stabilisierung der Konjunktur und der Wachstumspolitik erfolgreich sind, wird der offene, autonome und interdependente Markt auf indirekte oder subsidiäre Funktionen beschränkt — soweit er nicht spezifische Fluchtrichtungen einschlägt; über die später. Die Möglichkeit liegt vor, daß Korrekturen auch an dem Restbestand des freien Marktes, aus sozialen Gründen vorgenommen, seinen Umkreis weiter verengen. So kommt es, daß Verzerrungen von Kosten und Preisen, die unter dem Einfluß von verschieden starken Machtfaktoren unvermeidlich sind, die Marktfunktion zusätzlich er­ schweren. Kennzeichnend für die gegenwärtige Sachlage in den Ver­ einigten Staaten ist es, daß im Ernst niemand daran denkt, die be­ stehenden Kosten- und Preisverzerrungen — auf die S. Slichter schon vor Jahren hinwies und die schlechterdings nicht zu leugnen sind, — in Ordnung zu bringen; dafür wird der Weg aus der Verklemmung in Steuerreduktion und Budget-Defiziten gewählt, von denen man sich eine starke Hebung der Verbrauchernachfrage mit der Folge zuneh­ mender Investitionen und der Minderung der Arbeitslosigkeit ver­ spricht. Also gibt es — abgesehen von gewissen, volkswirtschaftlichen Rand­ gebieten — den offenen, autonomen und interdependenten Wettbe­ werbsmarkt nicht mehr, wie er im 19. Jahrhundert, wiederum abge­ sehen von Ausnahmen, gegeben war. Selbst wenn starke Kostendiffe­ renziale durch Produktivitätszuwachs ohne Preisaufschlag kompensiert werden, bleibt immer noch das Differenzial bestehen, vor allem zwi­ schen Industrien stark wachsender Produktivität einerseits, langsam, wenn überhaupt anwachsender des tertiären Sektors (Dienstleistungs­ gewerbe) andererseits. Natürlich melden sich dann Bestrebungen zum Ausgleich, so etwa durch komparative Lohnpolitik oder durch Er­ höhung von gesetzlichen Mindestlöhnen. Damit kommt die ganze Ko­ stenstruktur ins Geschiebe, wiederum mit der Möglichkeit neuer Ver­ werfungen. Da der Prozeß durch Lohn- oder Preissperrklinken daran gehindert wird, die Verzerrung durch flexible Kosten zu revidieren, so droht der Trend, wenn auch periodisch gemildert oder gar unter­ brochen, in der Gesamtlinie nach oben zu gehen.

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Wie lange kann er nach oben gehen? Es gibt, etwa für die Mehrzahl der Südamerikanischen Staaten, aber zeitweise auch für Westeuropa, Beispiele genug, die anzeigen, daß er fast grenzenlose Möglichkeiten nach oben hat, mit der Folge des Kaufkraftschwundes der Währung, vielleicht nachdem man alle Möglichkeiten internationaler Verschul­ dung erschöpft hat. Die absolute Grenze der Inflation ist der Wert­ nullpunkt der Währung; auch das ist durchexerziert worden. Anders, wenn die Währung mit allen Mitteln auf dem gesetzlich vorgeschrie­ benen Standard verteidigt wird. Es müssen ungewöhnliche Umstände vorliegen, die den Trend nach oben dann auf längere Zeit erlauben; aber auch hier kommt der Tag der Abrechnung. Das haben die Vereinigten Staaten spätestens seit 1957/58 erfahren und erfuhren es bis 1964/65. Seit 1957/58 hat eine Ära ihr Ende ge­ funden, während derer sie ihre Geld- und Kreditpolitik betreiben konnten, ohne sich über deren internationale Rückwirkung viele Ge­ danken zu machen. Sie konnten ihre Bankrate an die Verzinsung der ungeheuer angeschwollenen Nationalschuld binden; sie konnten kurz­ fristige Schatzwechsel mit 1 °/o verzinsen trotz westeuropäischer Zins­ sätze von 4 °/o und mehr, ohne einen den Dollar gefährdenden Gold­ verlust befürchten zu müssen. Sie konnten ungeheure Summen für den Wiederaufbau Europas und die wirtschaftliche Hebung unterentwickel­ ter Länder ausgeben ohne besondere Besorgnisse für ihre Zahlungs­ bilanz; Goldverluste waren, weltwirtschaftlich betrachtet, durchaus er­ wünscht und rational, solange sie nicht die Stabilität des Dollars ge­ fährdeten. Die Vereinigten Staaten konnten ihre eigene Landwirtschaft mit Subventionen unterstützen und die anfallende Überproduktion teil­ weise auf fremden Märkten zu geringen Preisen oder frei abschieben. Sie konnten sich Lohnsteigerungen von jährlich 8—10 °/o mehr erlauben und den anfallenden Preisanstieg in Kauf nehmen, soweit er nicht durch Produktionszuwachs diskontiert wurde. Der Nachholbedarf des Landes selber, die überaus starke auswärtige Nachfrage zusammen mit der Erbschaft des Krieges, dem Kaufkraftüberhang, machten es möglich, in diskretionärer Weise aus dem Vollen zu schöpfen. Diese Ära ist nun abgeschlossen, teils wegen des Wiederaufbaus der westeuropäischen Wirtschaften und Japans, teils wegen der Absorption des Kaufkraftüberhanges im Preisspiegel. Was sich seit 1957 abzeich­ nete, ist der starke Goldverlust39, die Befürchtung für den Dollar als Weltwährung, Kapitalexport auch als Ausgleich überhöhter inländischer Produktionskosten; schließlich, trotz des fehlenden Ausgleichs in der Zahlungsbilanz, das Festhalten am Dollarpreis von 35 Dollar für die

39 Von über 22 Mrd. Dollar 1946 auf rund 13 Mrd. Dollar Juni 1966, wovon rund 11 Mrd. gesetzlich für den Notenumlauf und die Deckung der Depo­ siten der Mitgliedsbanken (jetzt gesetzlich aufgehoben) gebunden sind.

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Unze Feingold, mit der Folge einer Spannung zwischen der inneren und äußeren Kaufkraft des Dollars (geschätzt auf 10—15 °/o). Gesamtergeb­ nis: ein Grad von Arbeitslosigkeit der politisch bedenklicher ist als wirtschaftlich und sozial40. Die lokale und regionale Streuung der Ar­ beitslosigkeit (Bergbau), die Arbeitslosigkeit von Farbigen und Jugend­ lichen insbesondere, und ihr, relativ geringer, Einschlag in den fort­ schrittlichen Industrien als Folge der Automation — all dieses unter­ streicht den politischen Aspekt der Arbeitslosigkeit. Soweit sie in ver­ zerrten Kosten- und Preisstrukturen und Immobilität des Arbeits­ faktors begründet ist, ist es verfehlt, ihr mit dem Argument fehlender Kaufkraft, noch stärkeren Lohnanstiegs bei stark verkürzter Arbeits­ zeit, oder durch generelle Budgetdefizite zu Leibe zu gehen; die Ver­ zerrung wird dadurch nicht aufgehoben, eher gesteigert. Auch besteht die Gefahr, daß neue Anreize zu inflationärem Druck ausgelöst werden. Die Erfahrung der Nachkriegszeit, nicht nur in U. S A., zeigt, daß die Natur der wirtschaftlichen Dinge sich unter einer noch so starken Decke von Kontrollen, Regulierungen, sozialen Maßnahmen, Subsidien und was immer, auf die Dauer doch meldet. Die Frage bleibt bloß, wieviel Sachvernunft zur Bewältigung der Aufgabe bei den gesetzgebenden Körperschaften und den Interessenverbänden aller Art mobilisiert wer­ den kann. Freilich soll nicht übersehen werden, daß eine bemerkenswerte Milde­ rung des Drucks auf die amerikanische Zahlungsbilanz von dem starken Anstieg der Kosten und Preise vor allem in Westeuropa herkommt. Samuelson41 konnte mit Recht darauf hinweisen, daß mehr als alle

40 Wenn man, wie es geschieht, die Friktionsarbeitslosigkeit mit 3 °/o be­ mißt, handelte es sich um eine Differenz von ±1, — abgesehen davon, daß die statistische Messungsmethode „liberaler“ ist als in irgendeinem anderen Land. Das zeigte sich drastisch in dem statistischen Anstieg der schwedischen Arbeitslosigkeit, als man dort vor einigen Jahren die amerikanische Be­ messungsmethode einführte. 41 Paul Samuelson: Fiscal and Financial Policies for Growth. Proceedings of a Symposium on Economic Growth, Washington 1963, S. 78 ff. Von ihm dort auch (S. 100) die offenherzige Feststellung: „...When a currency is overvalued, adjusting to that situation by running a sluggish slow-growth economy is a remedy worse than the disease. The correct things should be done and if that should reveal the untenability of existing parities, it will have been time to learn about the hard facts of life.“ Siehe auch: West Europe's Booming Economies are Imperiled by Inflation. New York Times, 22. III. 1964. S. E 3. Dasselbe brachte Albert Rees (Proceedings of a Symposium on Employ­ ment. Sponsored by the American Bankers Association, Washington 1964, S. 27) zum Ausdruck: „ ... the technological changes associated with auto­ mation are not yet over and may still be in their infancy. While the rate of growth of an infant technology, like that of an infant animal, may never again be reached, the absolute amount of change and of displacement will probably increase in the years ahead. We can therefore expect continued

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amerikanischen Maßnahmen zur Regulierung der Zahlungsbilanz vom Auftrieb der europäischen Kosten, besonders der Löhne, geleistet wor­ den sei. II. Pluralismus und Geldpolitik Wenn die Verzerrungen der Kostenstruktur inflationäre Trends aus­ lösen, dann fragt sich, woher die monetären und kreditmäßigen Vor­ aussetzungen dazu stammen. Damit rühren wir an einen weiteren Sachverhalt, der die Verbandspolitik, soweit sie unabhängige Variable ist, charakterisiert. Kurz gesagt: Machtvolle Verbände gewinnen einen Grad von für Sonderinteressen ausnutzbarer Mitbestimmung über die Steuerpolitik und das Geld- und Kreditvolumen der Volkswirtschaft, den sie nicht besaßen, solange sie abhängige Variable waren. Im 19. Jahrhundert war der Einfluß der Finanzpolitik — abgesehen von nationalen Notständen — geringfügig und fast ohne Orientierung an sozialen oder wirtschaftlichen Gesichtspunkten; die Diskontpolitik der Zentralnotenbanken richtete sich nach dem Stand der Zahlungsbilanz und den Währungsreserven. Wenn Gold trendmäßig abfloß oder der Geld- und besonders der Kapitalmarkt überhitzt waren, wurde der Diskont erhöht. Die daraus folgende Kreditverteuerung nötigte die Unternehmungen, kurz zu treten, Investierungen aufzuschieben oder zu unterlassen, die Produktion zu drosseln und Entlassungen vorzu­ nehmen. Preise und Löhne reagierten darauf, bis die Dinge langsam ins Gleichgewicht kamen.

Diese im System eingebaute Automatik ist heute weithin verloren42. Darauf wies Allan Sproul43, der frühere Präsident der New York Cen­ tral Reserve Bank, mit folgenden Worten hin: Wie die Dinge liegen, „kommt es vor, daß das zentrale Banksystem — Ihre Bundesbank — gezwungen ist, öffentliche Unsinnigkeiten (public folly) und maßlose

unemployment problems affecting laborers, operatives and clerical workers. The course of aggregate demand is much more hazardous to forecast. The near term future is brightened by the prospect of an immediate tax reduction and by recent acceleration of the growth of the money supply. The long­ term prospects for adequate demand are less certain. If reduction in un­ employment is accompanied by rising prices, which we are unwilling to accept, there could be a return to tight money policies that would increase unemployment again. Perhaps the greatest uncertainty is created by the balance-of-payments problem. It may not be possible to maintain adequate demand at the present fixed foreign-exchange value of the dollar. If it is not, I would prefer to alter our rigid international monetary arrangements rather than to continue to tolerate avoidable waste of human resources...“ 42 S. den zweiten Absatz des vorhin angeführten Zitats aus Otto Veits Aufsatz. 43 In einem Vortrag vor der California Bankers’ Association am 21. Mai 1957.

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private Forderungen (private greed) als Daten hinzunehmen (to validate), indem sie wachsende Kosten und Preise mit steigendem Geldvolumen honoriert, gleichgültig, wie wenig ihr das passen mag und wie unab­ hängig sie von politischem Druck sein mag“.

a) „Gewerkschaftswährung“? John R. Hicks, ein Sachverständiger von internationaler Anerken­ nung, hatte schon in seiner Theory of Wages, London 1935, den Ge­ werkschaften die Macht zugeschrieben, den Wettbewerb am Arbeits­ markte mehr oder weniger auszuschalten; dabei hatte er wohl in erster Linie die Verbände gelernter Arbeiter im Auge. In einer späteren Studie44 nimmt er diesen Faden wieder auf. Nach Hicks ist die Zentral­ bank zur abhängigen Variablen geworden; ihre Geld- und Kredit­ politik paßt sich den Kostenstrukturen an, die durch Tarifverträge festgelegt werden. Im 6. Kapitel unterscheidet er zwischen Stabilität im alten Sinn (charakteristisch für die Phase des liberalen Kapitalis­ mus) und Stabilität „im gegenwärtigen Sinn“; die erstere hielt die Löhne fest und ließ die Preise fluktuieren, während die letztere die Löhne nach oben sich bewegen läßt und die Preise stabil zu halten sich bemüht. Hicks fragt, wie die Löhne so beeinflußt werden könnten, daß sie sich wirtschaftlich richtig zu der neuen Stabilität verhalten. Seiner Meinung nach kann die verbandsautonome Lohnpolitik nicht zu stabilen Preisen führen, auch ganz abgesehen von der mangelnden Widerstandskraft der Arbeitgeber. Darum schlägt er eine Modernisie­ rung der alten Stabilität vor: die Löhne sollen stabil gehalten werden außer wenn tarifmäßige Erhöhungen keine Lohn-Lohnspirale auslösen. Der Anstieg gewisser Löhne dürfe nicht das bestehende social wage pattem (Lohnstruktur) verzerren. Wie das zu machen sei, verschweigt Hicks.

In diesem Zusammenhang bemerkt er, die klassische Goldwährung sei heute von einer labour-currency abgelöst worden; das habe den Vor­ teil, Arbeitslosigkeit in Grenzen zu halten. Aber damit seien Nachteile verbunden: einmal der, daß, anders als der Goldstandard, der LabourStandard ein nationaler Standard sei, mit seinen Schwierigkeiten für internationale Wertrelationen und natürlich die Zahlungsbilanz; ferner, daß der Geldwert nun ein Nebenprodukt der Verbandslohnpolitik ge­ worden sei, womit die Neigung zur Inflation vorwalte. Auf den Einfluß relativ unabhängiger Variabler auf das Geld und Kreditvolumen wies auch Jörgen Pederson hin45. In den Niederlanden

44 Essays in World Economics, Clarendon Press, Oxford 1959. 45 Wage Fixing According to the Price Index. In: International Economic Papers Nr. 4 1954, S. 106.

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sei die Regierung für die Lohnpolitik und damit für die Geldpolitik verantwortlich; „. . . wheras an arrangement which leaves wage-fixing entirely to the organizations of the labour market, in fact gives these organizations sovereign control over the development of the monetary system. Under the latter arrangement, it should at least be declared openly that these organizations have the responsibility. This has never been done; we continue to delude ourselves in believing that the res­ ponsibility rests — as it should — with the central bank, although the bank lacks the power to make itself solely responsible“.

Dasselbe Problem beschäftigt Kurt Steiner46. Steiner definiert zu­ nächst die „beschäftigungsneutrale gewerkschaftliche Lohn- und Be­ schäftigungspolitik“47. Bei staatlicher Garantie der Vollbeschäftigung muß die nicht-beschäftigungsneutrale gewerkschaftliche Politik zu stär­ kerer Vermehrung der Geldmenge führen, als es der preisneutralen Geldvermehrung entsprechen würde. Die staatliche Einwirkung kann sich aktiv oder passiv gegenüber den Kräften verhalten, die auf Aus­ weitung der Zirkulation hindrängen. Gerade durch Lohnerhöhungen werden solche Kräfte in Bewegung gesetzt, zunächst wegen der Wir­ kung steigender Löhne auf vermehrten Konsum und auf eventuell verringerte Sparneigung. Darin liegt die Gefahr einer teilweisen Finan­ zierung von Investitionen durch die Geldschöpfung der Banken. Dazu kommt, daß höhere Löhne häufig eine verringerte Kassenhaltung, mit oder ohne Zunahme des Kreditbedarfs der Unternehmer, auslösen: die höheren Löhne verlangen größere Mittel, die ihrerseits die Selbst­ finanzierung erschweren und unter Umständen zur Substitution von Arbeit und Kapital führen. Kurz: „Die zur Erhaltung der garantierten Vollbeschäftigung notwendige Geldmengenvermehrung nimmt zu mit dem Ansteigen der Differenz zwischen der tatsächlichen und der beschäftigungsneutralen Lohnerhöhung48. “

Sumner Slichter49, im Anschluß an ein damals noch ungedrucktes Manuskript von Jaroslaw Vanec50, erörterte die Macht der Gewerk­ schaften, durch Kollektivverträge die Einkommenskapazität der Wirt­ schaft zu heben. Er hat dabei amerikanische Verhältnisse im Auge; aber da seine Ausführungen eine gewisse Geltung auch für andere Länder haben, seien sie hier etwas breiter dargelegt.

. 46 Die Gewerkschaften in der heutigen Gesellschaftsordnung. Veröffent­ lichungen der Hochschule St. Gallen, Zürich-St. Gallen 1960. 47 1. c. S. 230 ff. 48 Steiner, 1. c. 231. 49 Economics and Policy Makers, Brookings Lectures 1958—59, Washing­ ton, S. 122 ff. 50 G. Vanec, The Argument for Higher Wages in Depression Revisited. Vortrag gehalten auf der Jahresversammlung der Amerikanischen ökono­ metrischen Gesellschaft, Dez. 1958.

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b) Verbandsaktion und Kreditvolumen

Slichter schreibt den Tarifverträgen die Wirkung zu, das National­ einkommen (im Nominalausdruck) zu heben. Er findet zwei Punkte von großer Bedeutung: 1. durch Tarifverträge wird die Empfindlichkeit der Wirtschaft für zeitweilige Kontraktion gemindert; die Löhne im organisierten Sektor zeigen hohe Widerstandskraft; darum fällt die Nachfrage nach Ver­ brauchsgütern nicht entsprechend, wie in den typischen Depressionen des 19. Jahrhunderts. Auch Arbeitslosenversicherung und Versorgungs­ maßnahmen stützen den Nachfragespiegel des Verbrauchs; darum bleibt der frühere kumulative Preissturz aus oder er mildert sich erheblich. 2. Tarifverträge verstärken den an sich gegebenen Trend der Preise, beim Aufschwung zu steigen. Die durch Tarifverträge veranlaßten höheren Kosten — soweit sie nicht durch Produktivitätszuwachs kom­ pensiert werden — und Preise tendieren dahin, den Geldumlauf zu er­ weitern und das Kreditsystem anwachsen zu lassen; letzteres mit der Wirkung, daß die Bankzinsen in Schach gehalten werden; mit der ferneren Wirkung, daß Geldeinkommen nicht entsprechend fallen, wenn die Produktion zurückgeht. In einer geschlossenen, d. h. von der Welt­ wirtschaft nicht abhängigen Wirtschaft, haben Tarifverträge die Nei­ gung, erhöhte kurzfristige Aufwendungen und höhere Einkommen anstatt Arbeitslosigkeit zu erzeugen; daher sei die Tendenz der Tarif­ verträge, Löhne heraufzuschrauben, nicht selbstregulierend (not selflimiting); es fehlt ihnen die eingebaute Bremse. Slichter fährt dann (S. 136) fort: „Früher waren die hauptsächlichen Schöpfer von Kauf­ kraft die Banken; die Bundesbank wurde errichtet, um das Kredit­ volumen der Banken zu regulieren... aber jetzt sind die Gewerkschaf­ ten wichtige Quellen für die Schöpfung von Einkommen geworden. Wäre es nicht an der Zeit, diese Macht der Gewerkschaften über das nationale Kreditvolumen unter Kontrolle zu nehmen?“ Nach Slichter liegt hier ein neues Problem, das die Wirtschaftswissenschaften ver­ kannt haben, weil sie keine richtige Einsicht in die wirtschaftliche Natur der Gewerkschaften besaßen; sie haben nicht bemerkt, daß sie eine einkommensschöpferische Institution sind. Schließlich sei eine Debatte anläßlich der Hearings on Administered Prices im Senat der Vereinigten Staaten51 erwähnt. In dieser Debatte 51 Subcommittee on Anti-Trust and Monopoly, Washington 1957. Part. I, S. 122. Siehe auch G. Bombach: Ursachen der Nachkriegsinflation und Probleme der Inflationsbekämpfung. In: Stabile Preise in wachsender Wirtschaft, Tübin­ gen 1960, S. 203: „Die entscheidenden Preise (d. h. insbesondere die Löhne) bil­ den sich auf gleichgewichtslosen Märkten, und es gibt keinen Mechanismus der dafür sorgt, daß sich automatisch die „richtigen“ Proportionen einstellen. Wir können entweder darauf hoffen, daß das Gleichgewicht der Kräfte — der Kampf der großen Machtgruppen gegeneinander und die Interventionen

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begegneten sich Gardiner Means und der wirtschaftliche Sachverstän­ dige des betreffenden Senatsausschusses, Dr. Blair. Blair wollte von Means erfahren, ob es nicht automatische Sicherungen gegen die Spirale von steigenden Kosten und Preisen und wachsendem Geldvolumen gebe. Means gab zu, daß kein eingebauter Mechanismus diese Spirale verhindere. Darauf Blair: „Manipulierte Preise finden also immer wieder ihre Validierung in fiskalischer und monetärer Anpassung?“ Darauf Means: „Das ist der Punkt, den Slichter betont. Der wesentliche Unterschied zwischen ihm und mir besteht darin, daß er die gewerk­ schaftliche Tarifpolitik primär haftbar macht, während ich der Auf­ fassung bin, daß die Spirale von beiden Seiten herkommen kann, von der Preispolitik der Unternehmungen wie von den Gewerkschaften.“ In summa: soweit Geschäftswelt und Verbände Mitbestimmung über das Geld- und Kreditvolumen haben, fehlt die Steuerung, mit der die Preis-Lohnspirale, die Lohn-Preisspirale und die Lohn-Lohnspirale unterbrochen werden könnten. Wenn dabei noch die Verantwortung für Vollbeschäftigung bei der Regierung liegt, dann droht die Gefahr, daß der Ansatz fiskalischer oder kreditpolitischer Mittel den Auftrieb zur Inflation verstärkt. Diese Gefahr ist um so größer, je stärker die financial intermediaries, die von der Zentralbank nicht kontrolliert sind, das Liquiditätsvolumen steigern; nicht nur das, sondern auch, daß sich die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes und Kredits steigert, die zu steuern die Zentralbank außerstande ist. Für die Vereinigten Staaten stellt die Zentralbank 1965 fest, daß die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes unverhältnismäßig gestiegen sei — ein Tatbestand, der sich ihrer Kontrolle entzieht.

III. Pluralismus und Produktivitätswachstum

Der Charakter von Verbänden als relativ unabhängiger Variablen (vorab der Gewerkschaften, weil sie im Gegensatz zu den Firmen und Industrien auf periodische Lohnerhöhungen zielen, während jene wegen der Wahrung der Rentabilität auf Kosteneinsparung bedacht sein müssen), äußert sich in der Mitbestimmung — vermittelt durch steigende Lohnkosten — über den technisch-wirtschaftlichen Fortschritt, über neue Märkte und Marktausbreitung, über Betriebsstandorte, über die Art und Vielfalt der Produktion in Unternehmungen usw. Die Ge­ werkschaften rühmen sich oft, den technisch-wirtschaftlichen Fort­ schritt durch ihre Lohn- und sonstige kostende Arbeitsbedingungen ge­ der Geld- und Fiskalpolitik in dieser oder jener Richtung, zu einem guten Teil wieder ausgelöst durch die Aktionen der großen Gruppen — am Ende vernünftige Proportionen garantiert, oder es muß ein Gremium geben, das für die Abstimmung aller Ansprüche an das vorhandene Angebot sorgt, sei es „Konjunkturrat“ oder wie auch immer genannt.“

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fördert zu haben; darin liegt unter gewissen Voraussetzungen ein un­ bestreitbares, nicht nur wirtschaftliches Verdienst; aber auf die Vor­ aussetzungen kommt es an, und auf das Maß der Beschleunigung der Fortschritte. Es gibt Grade und Gezeiten des technischen Fortschritts, die sozial äußerst bedenklich sind; das empfinden einige Gewerk­ schaften, in den Vereinigten Staaten wie auch in Deutschland, heute be­ sonders peinlich wegen der rapiden Ausbreitung der Automation52. 52 Nach Angaben von Business Week (28. III. 1964) sollen täglich 5500 Ar­ beitsstellen durch Automation verloren gehen, d. h. auf das Jahr berechnet rund 2 Mill. Arbeitsstellen. Allerdings ist eine „hohe amtliche Stelle“ der Meinung, daß die Automation langsam zu einem Anstieg der Beschäftigung führen würde. Das ist genau der Punkt, den Yale Brozen in einer Studie über Automation herausgestellt hat; sie erschien in American Enterprise Institut, Washington, 1963. Es ist verständlich, daß unter diesen Umständen die Mitglieder der Gewerkschaften weniger an erhöhten Löhnen interessiert sind als an Sicherheit der Arbeitsstellen und an Versorgung für den Fall der Entlassung. Das Amerikanische Arbeitsministerium (Labor Dept.) veröffentlichte Ende 1964 einen amtlichen Bericht über die Wirkung der Automation auf die Beschäftigung, der doch ein anderes als das übliche Bild bietet. Der Bericht verneint nicht, daß manche Arbeiter in manchen Firmen ihre Arbeitsstellen durch Automation verlieren, noch wird verneint, daß in stagnierenden oder rückläufigen Industrien die Gesamtzahl der Arbeitsstellen abnimmt. Auf weiteren Horizont gesehen wird jedoch festgestellt, daß Automation kein besonderes Problem für Amerika darstellt. Daß trotz des Hochschwungs, der nun schon im vierten Jahre anhält, die Arbeitslosigkeit hartnäckig hoch­ bleibt, hängt in der Hauptsache mit dem starken Zugang von Jugendlichen zum Arbeitsmarkte zusammen. Genauere Information über eine Anzahl Distrikte beweist nicht, daß Automation und überhaupt technologischer Fortschritt auf weitem Maßstabe ein stärkerer Faktor in der Arbeitslosigkeit sei als in der Vergangenheit. Die Zahl der verfügbaren Arbeitsstellen ist im Jahre 1964 auf 70 Mill, angewachsen, d. h. um 1,5 Mill, mehr als 1963, und die Gesamtzahl der beschäftigten Personen hat sich um 3,6 Mill, erhöht. Die Beschäftigung der verarbeitenden Industrien hat bis November 1964 um 400 000 Arbeitsstellen, verglichen mit 1963, zugenommen. Der Bestand der sogenannten Produktionsarbeiter in derselben Industrie hob sich um 370 000 gegenüber dem Vorjahr. Selbst unter den Büroangestellten, bei denen man den Einschlag der Automation am meisten fürchtete, ist die Zahl der ver­ fügbaren Arbeitsstellen um 75 000 auf 2,957 Mill, angewachsen. Der Bericht leugnet nicht, daß, relativ gesprochen, weniger zusätzliche Angestellte be­ schäftigt werden, insofern könnte man nur von einem Verlust an potentiellen Arbeitsstellen sprechen; aber in aller Regel ist nach Ausweis dieses amt­ lichen Berichts im Durchschnitt keine zusätzliche Arbeitslosigkeit entstanden. Was die Verarbeitungsindustrien insbesondere anlangt, wird festgestellt, daß ungefähr 50 % mehr Arbeiter angestellt als entlassen wurden. Der Bericht beschäftigt sich dann mit einem statistischen Bereich, der zwar die am wenigsten zuverlässigen ziffermäßigen Angaben macht, aber die Wir­ kung der Automation am deutlichsten zeigen würde. Automation hat die gesamtwirtschaftliche Produktivität gesteigert, aber die zahlenmäßigen Unterlagen sind schwierig auszuwerten und die Daten oft unvollständig; immerhin macht die Regierung gewisse Schätzungen, die einen Anhalt für den Einfluß der Automation auf die Produktivität geben. Wir können sie dahin summieren: der Zuwachs der Produktivität in den letzten vier Jahren war hoch, aber nicht auffallend hoch; er belief sich auf 3,3 °/o im Jahre 1962, im Jahre 1963 auf 3,5 °/o, welche Ziffer auch für 1964 Geltung hat. Die amtliche Auffassung ist, daß Automation das Wachstum der Produktivität erheblich

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Das klassische Beispiel ist der amerikanische Kohlenbergbau; hier hat die Gewerkschaft systematisch und bewußt durch Hochtreiben der Löhne und von Lohnnebenkosten, durch Verkürzung des Arbeitstages und eingelegte Feierschichten die Konzentration der Unternehmen und Betriebe erzwungen; neben den institutionellen Interessen des Berg­ arbeiterverbandes war dabei das Argument seines autokratischen Füh­ rers John L. Lewis leitend, Bergarbeit sei gefährlich und menschenun­ würdig. Solange andernorts Voll- und Übervollbeschäftigung herrschte, konnten Bergarbeiter ohne Schwierigkeit abwandern. Aber seit Jahren erschwerte die auch außerhalb des Bergbaus anfallende Arbeitslosigkeit das Abwandern. Daher die Notstandsgebiete in West-Virginia, Ken­ tucky, Ohio und Pennsylvania; ähnlich übrigens im schottischen Berg­ bau. Wohl zu beachten, es war nicht nur der Druck der Lohneinheits­ kosten, sondern auch das Vordrängen von Naturgas und Öl als Energie­ quellen; die Kombination dieser drei Kausalfaktoren ist haftbar für die umfassende und überaus schnelle Rationalisierung im Bergbau. Wie das Gewicht sich zwischen den Kosten der Kohle und den kon­ kurrierenden Betriebsstoffen verteilt, mag schwer auszumachen sein; aber es ist kein Zweifel, daß die Löhne eine erhebliche Rolle in der Beschleunigung des Prozesses gespielt haben. Hier und in einer Reihe von anderen leicht nachzuweisenden Fällen (Amerikanische und Briti-

verbessert, aber daß selbst das bis jetzt noch nicht einwandfrei nachzuweisen sei. Diese amtliche Stellungnahme deckt sich mit jener, die die Mehrzahl der ökonomischen Sachverständigen immer vertreten hat, nämlich, daß die Automation von heute nichts anderes ist als die Fortführung eines Prozesses der Rationalisierung, der sich über hundert Jahre hingezogen hat (New York Times vom 3. Jan. 1965: Job Data Rebut Automation Fear). Ende 1965 und vor allem 1966 zeigte sich ein erheblich verändertes Bild. Die Erwerbslosigkeit ging auf 4 °/o zurück; die zuständigen Behörden erwarten, daß sie in kurzer Zeit auf reine Friktionsarbeitslosigkeit — 3 °/o — reduziert wird. Der Hauptherd der noch bestehenden Arbeitslosigkeit liegt bei ungelernten Arbeitern, hier vor allem bei Negern und Jugendlichen, aber auch hier sind die Ziffern rückläufig. Die Sachverständigen der offiziellen Arbeitsbehörde stellen das Paradox fest, daß eine große Anzahl offener Stel­ len, die wenig oder keine Gelerntheit und Schulbildung verlangen, einfach nicht zu füllen sind. Der Sekretär (Arbeitsminister) des Department of Labor bemerkt dazu: „Es ist durchaus möglich, daß hier letzten Endes eine Ironie der Gesellschaft des Überflusses vorliegt, einer Gesellschaft, die hohe Schulbildung besitzt — wenn der Punkt kommt, wo die schmutzige Arbeit niemand mehr findet, der sie tun will.“ Die Vereinigten Staaten fühlen nun den Ausfall ihrer früher billigen und ungelernten Arbeit von Einwanderern. Das Einwanderungsgesetz vom September 1965 deutet an, daß man darauf bedacht ist, bestimmte Kategorien gelernter Arbeiter zuzulassen. The Sunday Star (13. Februar 1966) wies auf die Maurer aus Irland hin, und aus Canada kommen Scharen von gelernten Arbeitern. Die Luftfahrtindustrie macht alle Anstrengungen, Techniker und Ingenieure aus England heran­ zubringen. Obwohl das neue Gesetz erst seit Dezember 1965 in Kraft ist, liegen der Bundesarbeitsbehörde schon bald 50 000 Bewerbungen ausländi­ scher Arbeiter für Einwanderung vor. Viele Industrien haben ihre eignen Aus­ bildungsprogramme. Dem Senat liegen Anträge vor, die Kosten dieser Pro­

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sehe Eisenbahnen z. B.) hat die systematisch betriebene Verteuerung der Arbeitskosten den Punkt erreicht, wo sie auf die Gewerkschaften selber zurückschlägt, in Mitgliederschwund, im Unbehagen, daß Lohn­ erhöhungen doch nur „hölzerne Groschen“ (wooden nickels, Walter Reuther) sind, in der Angst vor Arbeitslosigkeit, in der Apathie der Mitglieder. In all dem zeigt sich die relative Seite der Gewerkschaft als einer unabhängigen Variablen; ihr Prinzip erschöpft sich, wenn sie als Institution von den Folgen ihrer eigenen Politik gefährdet wird. Übersehen wir nicht eine andere Seite der gewerkschaftlichen Mitbe­ stimmung für den technisch-wirtschaftlichen Fortschritt. In den anglosächsischen Ländern vor allem ist es Standard-Politik für manche Ver­ bände gelernter Arbeiter, den technischen Fortschritt, soweit er gewerk­ schaftliche Interessen schädigt oder die Beschäftigung einschränkt, mit zusätzlichen Kosten zu belasten, wenn nicht gar zeitweise aufzuhalten. Verbände ungelernter Arbeiter der Vereinigten Staaten, z. B. der Docker an der Atlantischen wie an der Pazifischen Küste, lassen sich neuer­ dings den technischen Fortschritt, soweit er mit der Minderung der Arbeitsstellen verbunden ist, sozusagen abkaufen. Ein Phänomen be­ sonderer Art stellt sich bei dem Verband der Lokomotiv-Heizer dar; er ist bestrebt, die Gewerkschaft als Institution aufrechtzuerhalten, ob­ schon ihre Funktion praktisch entfallen ist. Ansätze nach einer ähn-

gramme steuerabzugsfähig zu machen. Wie zu erwarten war, ist das wirt­ schaftliche Klima überaus günstig für die gelernten Berufe. In einem extre­ men Falle sind Stundenlöhne für Fachingenieure (nicht zu verwechseln mit Diplomingenieuren), die die Krähne bei Neubauten bedienen, von Dollar 7,75 verlangt worden; selbst für Lehrlinge dieses Berufes werden durchschnitt­ lich Dollar 4,55 verlangt. Der scharfe Anstieg der gelernten Löhne, die weithin als Schlüssellöhne dienen, ist die Sorge der Regierung, zumal in Hinsicht auf den Nachfragedruck, der vom Kriege in Vietnam ausgelöst wird. Nimmt man dazu die Tatsache, daß die Gewerkschaften in der Zeit der Unterbeschäftigung kollektivvertraglich die Arbeitsstunden reduziert haben, aber 50 % des Normallohnes für Überstunden erhalten, dann wird deutlich, wie stark bei der intensiven Nachfrage die Firmen auf Überstunden zurückgreifen müssen, deren Kosten scharf anziehen. In einer Weise kann man sagen, daß Automation in dieser Sachlage geradezu eine wirtschaftliche Notwendigkeit wird, um Kosteninflation einigermaßen zu mindern. Evening Star zitiert Präsident Johnson: „Das sind die Probleme, die wir seit zehn Jahren anzutreffen erwarteten. Sie sind der Preis für unsern Erfolg.“ In der zweiten Februarwoche hat sich das gemischte Kommitee des Kongresses (Joint Economic Committee) mit dem Wirtschaftsbericht des Präsidenten für 1966 beschäftigt. Vier Vertreter der Wirtschaftswissenschaft, wurden dabei vernommen. Drei von ihnen waren der Auffassung, die Nation müsse mit ernsthafter Inflation rechnen; nur einer von den vier, Professor Solow, äußerte sich günstig über die Wirtschaftspolitik des Präsidenten und über seinen Wirtschaftsbericht. Die drei andern, Neil Jacoby (früheres Mitglied des Wirtschaftsrats des Präsidenten), Richard Musgrave und Henry Briefs waren überzeugt, daß der Ansatz des errech­ neten Preisanstieges (Deflator) von 1,8 °/o (zufolge des Wirtschaftsbeirates) zu niedrig sei. Nach der Berechnung von H. Briefs müsse er mit 2,6 °/o ver­ anschlagt werden. Musgrave plädierte für baldige Steuererhöhungen, um die Überhitzung der Konjunktur und die inflatorischen Trends abzubremsen.

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liehen Haltung zeigen sich im März/April 1965 und 1966 bei den Tarif­ verhandlungen im New Yorker Druckgewerbe; die typographischen Verbände scheinen auch hier eine Art Existenzgarantie durch Kollek­ tiv Vereinbarung bei schwindenden Funktionen anzustreben. Auch für die Landwirtschaft kann gesagt werden, daß der Druck ihrer Verbände auf Regierung und Parteien an den Punkt zu kommen droht, wo es genug ist und wo Forderungen kein Gehör mehr finden. Das gilt vor allen Dingen für die Vereinigten Staaten, als dem Lande, das vom Problem der agraren Überschüsse mehr als irgend ein anderes bedrängt wird. In der von ihren Verbänden weithin dirigierten agraren Schutzpolitik tritt die Komplexität und die interne Spannung der Interessen unter den Gegebenheiten der pluralistischen Gesellschaft mit aller Schärfe zu Tage. Der Kern des landwirtschaftlichen Fragenkreises liegt darin, daß die Produktivität in diesem Sektor schneller wächst (5—10 Prozent) als die Nachfrage nach den meisten Agrarprodukten; eine Ausnahme bilden nur die Länder, die auch die Landwirtschaft unter zentrale Planung stellen. Dazu kommt die Nachfrageverschiebung nach Veredelungs­ produkten, insbesondere der Viehwirtschaft, also weg vom Brotge­ treidebau zu Futtermitteln. Wie Gregory King schon vor 200 Jahren feststellte, besteht ein disproportionales Verhältnis zwischen agrarem Überangebot und Agrarpreisen: Die Preise fallen relativ stärker als das Überangebot. Bei voller Marktfreiheit haben Bauern und Farmer herkömmlich dadurch reagiert, daß sie die Produktion stärker aus­ dehnten, um am Mehrprodukt den Ausgleich für den Preisverfall zu gewinnen. Das war eine falsche Kalkulation, wenn kein Gewinn pro Einheit des Produktes zu erzielen war. Verständlicherweise haben die Landwirte, ähnlich wie die gelernten Arbeiter, sich schon früh in Interessenverbänden organisiert; aber ähn­ lich wie für die Gewerkschaften galt für sie, daß ihre Verbände den Markt nicht beherrschen konnten. Andererseits hatten sie den Gewerk­ schaften gegenüber den Vorteil, daß Regierungen und öffentliche Mei­ nung ein offeneres Ohr für ihre Nöte hatten. Man half ihnen mit Schutz­ zöllen, mit verbilligten Frachtraten, in Deutschland für längere Zeit mit dem Einfuhrschein-System, durch besondere Institute des agraren kurzfristigen und langfristigen Kredits, durch Schulung und For­ schungsinstitute. Solange die Landwirte sich abhängig vom Markte wußten, maßen sie das agrartechnisch Mögliche am wirtschaftlich Ertragreichen, wenn auch — wie erwähnt — die Rechnung nicht immer aufging. Erst in der Phase des vollendeten Pluralismus und der Befestigung organisierter Interessen kam auch für die Landwirtschaft die große

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Wende. Nun gewannen ihre machtvollen Verbände den Charakter von relativ unabhängigen Variablen — zwar nicht auf der Marktseite, aber durch den demokratischen Prozeß; sie konnten nun ihre wirtschaft­ lichen Interessen weithin dem demokratischen Staat verantwortlich zu­ schieben. Sie glaubten dazu um so mehr berechtigt zu sein, als die steigenden Kosten des Industriesektors den landwirtschaftlichen Ver­ brauch industrieller Güter verteuerten. Die steigenden Löhne und Ge­ hälter der Industrie veranlaßten scharenweise Abwanderung land­ wirtschaftlicher Arbeiter, was wiederum zu erhöhter Kapitalaufwen­ dung und, durch oft starke Verschuldung, zu erhöhter Zinsbelastung führte. Die Politik der Paritätspreise suchte eine Angleichung städti­ scher und landwirtschaftlicher Einkommen zu bewirken; verstärkte Intensivierung der Produktion und wachsende Betriebseinheiten dien­ ten demselben Zweck. In den Vereinigten Staaten kam man den Far­ mern mit der Beschränkung der Anbauflächen zu Hilfe, aber das setzte eine weitere Prämie auf wachsende Produktivität. Die gewählten Me­ thoden des Agrarschutzes konnten nicht verhindern, daß die Produk­ tivität auf wichtigen Marktabschnitten der Nachfrage davonlief. Im Schutz starker Verbände, die ihr Gewicht bei den Wahlen geltend ma­ chen konnten, verließ sich der Landwirt nun vornehmlich auf die agrartechnische Seite seines Einkommensproblems: Wie hole ich ein Maximum an Produkt aus der reduzierten Anbaufläche heraus? Für die wirtschaftlichen Rückwirkungen dieses Verfahrens hatte sein Interes­ senverband die Hilfe des Staates zu engagieren. Auf diese Weise erhielt das Wettrennen zwischen wachsender Pro­ duktivität und dem Hinterherlaufen der Staatshilfe seinen vollen Schwung. Verbandsfunktionäre und die Bürokratie der agraren Verwal­ tung wuchsen über alle Massen an, nicht nur in getreuer Nachfolge des Parkinson’schen Gesetzes, sondern vor allem, weil sie eine überaus komplizierte Gleichung zu lösen hatten.

Natürlich zeigt das Bild von Land zu Land seine Besonderheiten. Es sieht anders aus für Deutschland, das seine agraren Überschuß­ gebiete verloren hat; anders für Britannien, das seine Landwirt­ schaft schon seit der Freihandelsgesetzgebung von 1846 einschrumpfen ließ und seit dem Ottawa-Abkommen von 1931 Rücksicht auf die Agrarüberschüsse des Commonwealth zu nehmen hat, wobei es gleich­ zeitig gewisse Gebiete seiner eigenen Landwirtschaft durch ausge­ sprochene Marktregulierung schützt; noch anders für Frankreich mit seiner relativ starken agraren Struktur; wieder anders für die Ver­ einigten Staaten mit ihrer seit Jahrzehnten rückläufigen Zahl land­ wirtschaftlicher Betriebe bei zunehmender Betriebsgröße. (Von einem früheren Maximum von über 9 Millionen Farmen operieren heute weniger als 4 Millionen, während nach Ansicht der Sachverständigen

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des Landwirtschaftsministeriums zwei Millionen Betriebe vollauf ge­ nügen würden, um allen Bedarf an Nahrungs- und Futtermitteln und technisch verwertbarer Faser zu befriedigen.) Eine besondere Sachlage liegt für die Schweiz, Dänemark und Holland vor. Den vielen Varianten ist hier nicht nachzugehen; aber allen ist ein Problem gemeinsam: Wie kann man die Gleichung finden für die verschiedenen öffentlichen und privaten, in aller Regel organisierten und politisch einflußreichen Inter­ essen, die um die Lösung des agraren Überschusses kreisen. Diese Problematik hat im Falle der Vereinigten Staaten ein Sach­ verständiger von großer Erfahrung und hohem Rang kürzlich be­ leuchtet. Willard W. Cochrane, Professor für Landwirtschaft an der Universität Minnesota, war vier Jahre (1960—64) Ratgeber des Land­ wirtschaftsministeriums und Leiter einer agrar-ökonomischen Abtei­ lung. Seine Erfahrungen legte er in einem Vortrag vor der Jahres­ versammlung der Farm Economic Association im Dezember 1964 nieder53.

Cochrane behandelt zunächst die sehr komplexe administrative Seite des Problems, das sich aus der Zusammenarbeit landwirtschaftlicher Forschung und der Landwirtschaftspolitik einerseits des Präsidenten und des Fachministers, andererseits den verschiedenen Sonderver­ waltungen und zwischen ihnen selber ergab; Schwierigkeiten, die da­ durch überhöht wurden, daß der Kongreß in Dingen der Landwirt­ schaftspolitik seine eigene, wiederum vielgespaltete Meinung hat, weil die Mitglieder des Kongresses ihr Auge immer auf die nächsten Wahlen richten, die sie dem unmittelbaren Druck der Interessenverbände ihres Wahlbezirks ausgesetzt halten. Es gibt, unter Umständen äußerst leb­ hafte, Auseinandersetzungen innerhalb des Ministeriums über die Zu­ ständigkeitsverteilung der verschiedenen Ressorts, über das Was und Wie der Entscheidungen in diesem oder jenem Falle, über die Statisti­ ken, die in reicher Fülle vorliegen, aber wegen ihrer Mehrdeutigkeit ein Spielball wirtschaftlicher und politischer Interessen sind. Die Regie­ rung mag Gesichtspunkte ihrer eigenen Art haben, wenn sie das Ge­ samtinteresse aus der Fülle der Widersprüche von Sonderinteressen destillieren soll; aber der Kongreß hat auch seine eigenen Gesichts­ punkte. Die Repräsentanten überwiegend landwirtschaftlicher Gebiete — insbesondere die Senatoren, von denen jeder Staat zwei bestellt, auch derjenige, der wenig Landwirtschaft hat — stehen fortgesetzt unter dem Druck der landwirtschaftlichen Verbände und ihrer Lobbies. Auf der anderen Seite stehen die Interessen der industriereichen Ge­ biete; hier reagiert die Bevölkerung scharf auf die Preise der Agrar­ 53 Some Observations of an Ex-Economic Advisor. Or what I learned in Washington. Abgedruckt im Journal of Farm Economics, Mai 1965, S. 447 bis 461. 9 Briefs

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Produkte; hier bestehen Preisindices für Löhne, die die Lohnebene an die Agrarpreise binden, freilich mit Anpassung mehr nach oben als nach unten. Mit dem Rückgang der landwirtschaftlichen Bevölkerung und der rapide steigenden Verstädterung des Landes wird der Konflikt zwischen dem Agrarinteresse an Paritätspreisen, Marktregulierungen und Stützungsaktionen aller Art, andererseits denen der nichtland­ wirtschaftlichen Bevölkerung zunehmend schärfer. Nach Cochrane nähert sich die bisherige Agrarpolitik des Landes dem Punkte, wo die städtische Bevölkerung, vor allen Dingen die organisierte Arbeiter­ schaft, unwillig wird, in höheren Lebensmittelpreisen und steigenden Steuern die Kosten der amtlichen Landwirtschaftspolitik zu tragen. Dies um so mehr, als die Stützungspolitik hochkonzentrierten land­ wirtschaftlichen Unternehmungen riesige Subsidien zahlt, während die mittleren und kleineren Betriebe, die Unterstützung oft wirklich nötig hätten, mit kleinen Summen abgefunden werden. Die verstädterte Be­ völkerung hat an steigenden Lebensmittelpreisen ihren politisch emp­ findlichen Punkt; jede Aktion der Regierung auf diesem Gebiete bringt dem Präsidenten eine Flut von Protesten — ihm als dem einzigen Amtsträger, der vom ganzen Volk gewählt ist. Kein Präsident kann es also auf sich nehmen, der Landwirtschaft durch das Mittel steigender Lebensmittelpreise zu Hilfe zu kommen; Cochrane hält das für politi­ schen Selbstmord. Die Interessenverbände der Farmer lehnen es ab, sich mit zwangs­ mäßiger Anbauregulierung zufrieden zu geben, es sei denn, daß man ihnen erhöhte amtliche Festpreise zubilligt. Aber das ist politisch nicht tragbar. Weniger Widerstand begegnet die freiwillige Beschränkung der Anbaufläche, vorausgesetzt, daß dafür Preisentschädigungen geboten werden und es dem Farmer frei bleibt, jene Produktionszweige einzu­ schränken, bei denen es ihm vorteilhaft erscheint.

Es ist nun nicht so, als ob die Bewältigung des agraren Überschusses auf nur wenige Verfahren zurückgreifen könnte; es gibt deren viele, und mancherlei Kombinationen unter ihnen sind möglich. Jede hat ihre Vorteile und Nachteile. Einige kosten mehr, andere weniger; einige gehen von der bebauten Fläche aus, andere von den Mengen. Politik der Kosten, Preise, Anbauflächen, Hektarerträge, Viehbestände, Export­ möglichkeiten: all das ist in verschiedenen Kombinationen auf der Suche nach einer perfekten Lösung durchexerziert worden. Aber es gibt keine perfekte Lösung, und man weiß es. Cochrane zieht den Schluß: die Lösung des Problems liegt nicht bei der Verfahrensweise; sie verlangt eine politische Entscheidung: „Was fehlt, ist der Mut zur Entscheidung und zum Handeln bei den politischen Instanzen, den landwirtschaftlichen Interessenverbänden, den Farmern selbst und den wirtschaftlichen Sachverständigen, die als Ratgeber Entscheidungen

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treffen müssen, die aber in jedem Falle Interessen verletzen, wenn das Problem des Überschusses gelöst werden soll.“ Die Führer der Bauern­ verbände gleichen Alchemisten, die, anstatt Gold aus Blei zu gewinnen, landwirtschaftliche Überschüsse in höhere Einkommen, geringere finan­ zielle Aufwendungen der Regierung, in sinkende Lebensmittelpreise und in weniger Produktionskontrolle zu verwandeln suchen. Dieses vielfache Ziel kann nicht gleichzeitig erreicht werden. Bleibt der Aus­ weg der Ausfuhr in die hungrigen Gebiete Asiens, Afrikas und kom­ munistischer Länder. Aber Australien, Kanada und Frankreich be­ werben sich um diese Märkte; außerdem gibt es in den Vereinigten Staaten die amtliche Verfügung PL 480, die die Kosten für Lagerung, Ladung und Transport, zum großen Teil mit Rücksicht auf die hohen Löhne der amerikanischen Handelsmarine (Tarifsätze bis zu 550 Dollar pro Monat, während englische, norwegische und andere Linien mit einem Bruchteil dieser Kosten rechnen) unverhältnismäßig verteuern. Nach Cochrane „drückt sich“ Amerika um die hier liegende Frage der Verbesserung und Verbilligung der Ausfuhr herum, weil man den vielen organisierten Interessen im Hinblick auf die nächsten Wahlen nicht auf die Zehen treten will.

Cochrane betont, der Farmer sei unter den Bedingungen des freien Marktes sehr viel besser über die wirtschaftlichen Rückwirkungen seiner Betriebsgebarung informiert gewesen; wenn er es nicht war, so lernte er es bald. Der Farmer der Sechziger Jahre — verglichen mit dem früherer Jahrzehnte — sei der bei weitem produktivere Typ, aber er sei einfach blind für die wirtschaftliche Seite seines Betriebspro­ gramms. Sein Blick reiche über seine Farm und die nächste Gemeinde, aber nicht darüber hinaus in die weiteren wirtschaftlichen Zusammen­ hänge, in die Interdependenz der verschiedenen Erwerbszweige und die Auswechselbarkeit von Produkten untereinander. Diese wirtschaft­ liche „Unbildung“ des Farmers sei verständlich, weil er die Verant­ wortung für seine Erträge auf seinen Verband abschiebt, der sie wieder­ um in die politische Ebene verschiebt, die nun wiederum im Gewirr der Interessenkonflikte außerstande ist, das Gemeinwohl zu definieren. Darum sieht Cochrane eine Krisis in der landwirtschaftlichen Politik voraus: die verstädterte Bevölkerung wird zunehmend unwillig, für Überschußprodukte steigende Preise und für deren Kosten steigende Steuern (6—7 Milliarden Dollar jährlich) zu zahlen. Die städtische Bevölkerung habe seit Jahrzehnten — seit 1933 — die Last getragen; der Punkt sei nun erreicht, wo man nicht mehr will. Wenn Cochrane recht hat, ist auch auf dem Gebiete der Landwirt­ schaft das pluralistische Laissez faire an seine Grenzen gestoßen. Seine Auffassung wird von Sachverständigen wie Karl Brandt (Stanford) und von H. S. Houthakker (Harvard) durchaus geteilt; beide haben sich 9*

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bemüht, ein System der Ablösung für die Kosten der Stillegung von Anbauflächen zu entwickeln. Karl Brandt hat als Mitglied des Wirt­ schaftsrates beim Präsidenten und als Ratgeber Kennedys, aber auch in zahlreichen Vorträgen und Aufsätzen, darauf hingewiesen, daß der Punkt erreicht sei, wo die agrare Schutzpolitik nicht mehr tragbar sei und abgelöst werden müsse. Er, wie auch Houthakker, haben vorge­ schlagen, diese Ablösung über eine Periode von fünf bis sieben Jahren in der Weise vorzunehmen, daß die Zuschüsse von Jahr zu Jahr weniger werden, so daß der Farmer sich während dieser Gnadenfrist ohne allzu große Opfer umstellen könne. Bis jetzt hat freilich keine Regierung sich dieses Programm zu eigen gemacht. Man weiß auch aus den agrar­ politischen Schwierigkeiten der EWG-Länder, wieviel Widerstände — organisiert oder nicht — wirtschaftlicher, politischer oder emotionaler Art sich einer Agrarreform entgegenstellen, die die Frage des Über­ schusses zu regeln unternimmt. IV. Pluralismus und Verbandsbeziehungen

a) Der Verband und seine Mitglieder Das Gesetz ihres Antritts, das unter sehr veränderten Voraussetzun­ gen in der Tradition, der Struktur und Politik der Verbände, insbeson­ dere der Gewerkschaften, weiterwirkt, führt schließlich dazu, daß insti­ tutionelle Interessen mächtiger Verbände sich mehr oder weniger autonom zu setzen die Neigung haben; autonom unter Umständen gegenüber den Forderungen des vom Staate zu vertretenden Gemein­ wohls, aber auch gegenüber den Mitgliederinteressen. Mindestens im Zweifelsfalle verlangt das Verbandsinteresse Priorität vor dem Mit­ gliederinteresse, oft über die pekuniäre Seite hinaus in die persönliche Urteils- und Bewegungsfreiheit. Es kann zum autonomen Verbands­ interesse werden — und die Gefahr liegt besonders bei amerikanischen Verbänden vor und wird häufig in der Diskussion über die gegenwärti­ ge Gewerkschaftskrise auch von einsichtsvollen Gewerkschaftssachver­ ständigen und -führern betont — eine Politik des quieta non movere zu befolgen, Verbandsrisiken zu vermeiden und die Verbandsoligarchien ungestört ihre laufenden Geschäfte wahrnehmen zu lassen54. Aber auch andererseits: Verbände können Forderungen rücksichtslos vorantreiben gerade um die Verbandstreue der Mitglieder zu sichern und Unorganisierte hereinzuholen. Dann kann es zu nicht-beschäfti­

54 Das sind Klagen, die von Solomon Barkin, dem früheren Leiter des wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des Textilarbeiterverbandes, von Sidney Lens (The Crisis of American Labor, New York 1959), einem früheren Gewerkschaftsführer und Sachverständigen in Gewerkschaftsfragen, aber neuerdings auch von akademischen, den Gewerkschaften nahestehenden Kreisen erhoben werden. Ich erwähne Miernyks Buch (William H. Miemyk, Trade Unions in the Age of Affluence. New York 1962) und das Buch von

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gungsneutralen Lohnerhöhungen kommen. Im übrigen: wenn irgend­ ein Verband, auch eine Gewerkschaft, aus institutionellen Interessen steigende Erwartungen zu wecken für angezeigt hält, dann löst er den tragischen Sachverhalt aus, daß erfüllte Forderungen immer neuen Druck auf weitere Forderungen veranlassen; den weiteren tragischen Sachverhalt, daß jede erfüllte Forderung schon im Augenblick ihrer Erfüllung — schon im Hinblick auf die Erfüllung — einen psychologisch bedingten Wertabschlag erleidet. Das ist eine Erfahrung, die erprobte Verbandsführer jederzeit bestätigen können, weil aus ihr eine Fülle von Schwierigkeiten für die Führung erwachsen. b) Privilegierte und unterprivilegierte Verbände Der Unterschied zwischen real und bloß legal befestigten Verbänden hat wirtschaftliche Rückwirkungen von erheblicher Bedeutung, weil mit der realen Befestigung ein Grad von Mitbestimmung im Wirt­ schaftsprozeß selber gegeben ist, der diesen Verbänden als unabhängi­ gen Variablen eine privilegierte Position gegenüber den anderen gibt. Der real befestigte Verband kann diese Position für seine spezifischen Forderungen ausnutzen; er kann sich verbesserte Voraussetzungen für seine Forderungen mitbestimmen, wenn nicht sogar verschaffen. Soweit das der Fall ist, kann es für die bloß legal befestigten Verbände günstige sowohl wie ungünstige Rückwirkungen haben. Günstige Rückwirkungen z. B. und vor allem durch Mitbestimmung seitens der real-befestigten Verbände über das Geld- und Kreditvolumen, über die Höhe der Zins­ sätze usw. Die Zirkulationserweiterung kommt allen zugute, vielleicht sogar den professionellen Verbänden; aber immer vorausgesetzt, daß inflationäre Trends vermieden werden. Die möglichen ungünstigen Aus­ wirkungen zeigen sich in mehrfacher Weise:

a) Realbefestigte Gewerkschaften können eine Lohnpolitik betreiben, die hochbezahlte „jobs“ für die dort ansässigen Arbeiter zum geschlos­ senen Gehege macht. Das Ergebnis ist Verzerrung der Lohnstruktur durch Begrenzung, wenn nicht Ausschaltung des Wettbewerbs im be­ treffenden Marktsektor. Paul E. Sultan, The Disenchanted Unionists, New York and Evanston 1963; ferner B. J. Widick, The Triumphs and Failures of Unionism in the United States, Boston 1964. Die Titel der Bücher drücken schon Kritik und Besorg­ nisse über den jetzigen Stand des amerikanischen Gewerkschafts wesens aus, und das in einem solchen Maße, daß der Präsident des amerikanischen Ge­ werkschaftsbundes, Georg Meany, auf einer Tagung des Bundes äußerst scharfe Worte gegen die akademischen Kritiker fand, die früher sich so warm für die Gewerkschaften eingesetzt hätten. Diese akademischen Kritiker haben etwas begriffen, was Meany noch nicht begriffen hat, weil er in Be­ griffen und Vorstellungen der Vergangenheit lebt; sie haben die Gefahren erkannt, in die eine Gewerkschaftspolitik ausmündet, wenn sie glaubt, den Krieg von vorgestern führen zu müssen.

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b) Das Verfahren verstärkt den Wettbewerb in den nicht privilegier­ ten Sektoren des Arbeitsmarktes, weil hier zusätzliches Angebot auf den Lohnspiegel drückt. c) Die privilegierten Verbände können anfallende Produktivitäts­ steigerungen zusammen mit den im gleichen Sektor angesiedelten Fir­ men und Industrien ausschöpfen; die kostenmäßig gegebene Möglichkeit der Preissenkung in diesem Sektor bleibt aus, mit der Wirkung, daß der Verbrauch nicht sein an sich mögliches Maximum erreicht. d) Daraus folgt eine spezifische Rückwirkung auf die Beschäftigungs­ lage der Industrien selber; der bei gegebenem Produktivitätsgrad wett­ bewerbsmögliche Radius des Marktes wird künstlich verengt, unter Bevorzugung freilich jenes gehobenen Verbrauchs, der das Produkti­ vitätswachstum für sich ausschöpfen kann. Die Struktur des Gesamt­ verbrauches und damit der Produktion wird erheblich durch die Politik privilegierter Verbände verzerrt. e) Wenn die unterprivilegierten Gruppen aufholen, etwa durch Orga­ nisation, staatlich festgesetze Minimallöhne und Minimalpreise, durch Subsidien oder selektive Kredit- und Zinspolitik, dann kann das ganze Kosten- und Preisniveau sich nach oben verschieben, teils automatisch soweit Index-Löhne vereinbart sind, wie häufig in Dänemark und den Vereinigten Staaten; teils dadurch, daß der Kaufkraftverlust privile­ gierter Sektoren, verursacht durch das Aufholen der nicht-privilegier­ ten, das Bestreben nach Kompensation auslöst55. f) Damit kann der Kostenspiegel im fortschrittlichen wirtschaftlichen Sektor sich erneut nach oben verlagern, soweit die Nachfrage genügend elastisch ist. Andernfalls ist die Folge weitere Rationalisierung und Automatisierung; mit dem Ergebnis von Arbeitslosigkeit gerade im privilegierten Sektor. In einem gewissen, nicht näher bestimmbaren Umfange ist die derzeitige Arbeitslosigkeit im amerikanischen Bergbau auf diese Ursache zurückzuführen.

V. Wohin treibt der Pluralismus? Der schon erwähnte 4. Bericht des Britischen Councils on Prices, Pro­ ductivity and Income entwickelte im 3. Kapitel eine elegische Philo­ sophie der wirtschaftlichen Sachlage unter den Bedingungen einer pluralistisch durchsetzten Demokratie.. Wegen ihrer Bedeutung über Großbritannien hinaus sei sie hier kurz skizziert.

55 Kjeld Philip, Structural Changes on the Labour Market and Mobility of the Wage Level. In: International Economic Papers No. 2, London 1952; ebenso: Jorgen Pedersen, Wage Fixing according to the Price Index; ferner Henri Aujac, Inflation as the Monetary Consequence of the Behaviour of Social Groups. Beide letzteren Aufsätze in: International Economic Papers. Nr. 4, London 1954.

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Großbritannien leidet an einer Art hartnäckiger Unordnung (obsti­ nate disorder); sie besteht in der dauernden Tendenz der Produktion, hinter Löhnen und Gewinnen zurückzubleiben. In den letzten zwölf Jahren sei das Nationalprodukt um ein Drittel gewachsen; der Lebens­ standard hätte sich also um ein Drittel erhöhen können. Tatsächlich aber haben sich Gewinne und Löhne in derselben Zeitspanne mehr als verdoppelt; genauso die Kleinhandelspreise. Der Vorgang hat nur unerwünschte Rückwirkungen auf der ganzen Linie gezeigt und keines­ falls die Auffassung bestärkt, daß eine mäßige Inflation das Wachstum der Wirtschaft fördere. Im Gegenteil: hätte man die „illusionären“ Lohn- und Gewinnverbesserungen nicht gehabt, so wäre der Reallohn mehr gewachsen als er jetzt — trotz der nominalen Aufschläge — ge­ wachsen ist. Dann folgt die Feststellung: „Dieses Ergebnis hat niemand wirklich gewollt, und was hier vorliegt ist in der Tat ein neues Phäno­ men.“ In der einen oder anderen Weise leiden alle industriellen Demo­ kratien an demselben Übel; kein Land hat bisher eine sichere und aus­ reichende Methode gefunden, des Übels Herr zu werden. Die Verant­ wortung dafür ist in den Fehlentscheidungen über Kosten und Ge­ winne weit gestreut; um so stärker die Notwendigkeit, der Dinge Herr zu werden. Wenn alle ein stillschweigendes Übereinkommen eingehen würden, den Umfang zu mindern, in dem sie sich „mehr Geld ver­ schaffen“, dann wären alle in der Lage, mehr zu kaufen (1. c. S. 18). Die „Alle“, die hier gemeint sind, sind die Interessen verbände; es kön­ nen nicht die individuellen Agenten im Marktvorgang sein, denn sie hätten als Individuen keine Macht über den Markt und seine Preis­ bildung.

a) Flexibilität der Faktorkosten nur nach oben (Sperrklinke)

Es gehörte zur Dynamik der ersten und zweiten Phase des wirtschaft­ lichen Liberalismus, daß Kosten und Preise empfindlich auf den Wechsel der Nachfrage reagierten — ausgenommen bei Syndikaten, die von der Unternehmerseite Angebot unter Kontrolle halten konnten, sofern sie gegen fremden Wettbewerb durch Zölle oder internationale Verein­ barungen wirksam geschützt waren. Daß mit dieser laufenden Anpas­ sung von Löhnen und Preisen sozial und wirtschaftlich bedenkliche Folgen verbunden waren, hat man schon lange vor Keynes gewußt. Im Grade, wie die auf Lohn und Gehalt gestellten Schichten an Umfang und Gewicht zunahmen, konnte Arbeit nicht mehr als bloßer Kosten­ faktor für die Nachfrage von im Nexus der liberalkapitalistischen Wirtschaft nicht gebundenen Schichten der eigenen wie fremder Volks­ wirtschaften bewertet werden. Der Anteil des heimischen Verbrauchs am Sozialprodukt wurde mehr und mehr zur Bedingung des ausge­ glichenen Verlaufs beider. Das Arbeitseinkommen erschien somit in

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doppelter Eigenschaft: als Kostenfaktor, der zugleich zunehmend Ge­ wicht als Nachfrage für Erzeugnisse des industriellen Sektors gewann. Den primär an Einkommen interessierten Gewerkschaften wurde diese Wendung früher klar als den primär an Kosten interessierten Ar­ beitgebern und den durchschnittlichen Vertretern der Wirtschaftswis­ senschaften. Das Einkommen der auf Lohn und Gehalt gestellten Sozialgruppen gewann nun, theoretisch weiter begründet von Keynes, seine volle Bedeutung. Es konnte nicht ausbleiben, daß diese allzu leicht überbetont wurde; aus naheliegenden Gründen insbesondere seitens der Gewerkschaften. Stabilisierung der Untergrenze des Lohnes, Flexibi­ lität nach oben für die auf Lohn und Gehalt gestellte Sozialschicht wurden ihr vordringliches Anliegen. Es war schon immer ihr bewußtes Bestreben, die Löhne auf der jeweils erreichten Stufe auch gegen wid­ rige Marktumstände festzuhalten; aber das war nur möglich, wenn Arbeitslosigkeit verhütet wurde. Sollte sich also aus dem Stabilhalten nach unten, dem Auftrieb der Löhne nach oben Arbeitslosigkeit er­ geben — über ihren perennierenden Bestand, der aus Friktionen oder andern kurzfristigen Gründen vorliegen könne, — dann lag es im institutionellen Interesse der Gewerkschaften, dem Staat die Verant­ wortung für sie zuzuschieben. Mit dieser Lösung schien beiden gedient, den Arbeitslosen und den Gewerkschaften. Das ist der Zusammenhang, durch den Löhne und Gehälter ihre frühere Elastizität verloren. Man vergleiche den starken Unterschied zwischen Lohn- und Preisflexibilität im 19. Jahrhundert (der Ver­ einigten Staaten vor 1933) und nachher. In der Nachkriegsperiode, für Westeuropa schon nach dem ersten Kriege, für Amerika seit dem New Deal, milderten sich diese Unterschiede erheblich. Preiseinbrüche von der Art, wie sie vordem vorkamen, waren kaum mehr zu verzeichnen, vor allem nicht seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Das spiegelt nicht nur die Verantwortung der Regierung für annähernde Vollbe­ schäftigung wieder, sondern auch die darin liegende Chance der Ge­ werkschaften, den Ausgangspunkt ihrer Lohnpolitik nun von dem je erreichten Lohnstand zu nehmen56, mindestens von dem je erreichten Tarifstand, soweit die Nachfrage, insbesondere nach gelernten Arbei­ tern, zu übertariflichen Lohnsätzen führt (wage drift),

b) Lohnrunden ohne Ende? Da in der unmittelbaren Nachkriegszeit der Auftrieb von Preisen — außer den landwirtschaftlichen, soweit sie nicht gestützt waren — und Löhnen im großen Ganzen sich als irreversibel erwies, lag die Lohn­ ebene für die neue Ära des gedeckten Nachholbedarfs und des absor­ 56 Das gilt beispielsweise für Schweden, wo infolgedessen neue Lohnfor­ derungen in der Regel mäßiger sind als da, wo sie vom bestehenden Tarif ausgehen.

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bierten Kaufkraftüberhangs fest, während das beschleunigte Wachstum der Produktivität in führenden Industrien den dort angesiedelten Ge­ werkschaften neue Chancen für höhere Löhne und Lohnnebenleistun­ gen bot. Wirtschaftskontraktionen, die erfolgten, zeigten durchschnitt­ lich geringen Preisverfall und praktisch keine Anpassung der Tarif­ sätze (wohl der Lohneinkommen!) nach unten; im Gegenteil, vielfach liefen die Löhne dem Wachstum der Produktivität in maßgebenden Industrien voraus. A. F. Burns57 bemerkt mit Recht, daß die eigent­ liche Marktmacht der Gewerkschaften sich im Abschwung zeige; der Lohnspiegel — wir müssen hinzufügen: vor allem der real befestigten Verbände — wird durchgehalten; ja es stellt sich heraus, daß er trotz Arbeitslosigkeit fast ungestört weitersteigt, mäßiger in Tarifsätzen, aber dafür oft um so stärker in den Nebenbedingungen des Lohnes (Arbeitszeitverkürzung, Werkspensionen, Urlaub usw.). Burns bemerkt, es habe sich so etwas wie ein Recht auf jährliche Lohnrunden, minde­ stens als selbstverständlich, entwickelt, etwas, das man ohne weiteres erwarten kann, und das Anlaß zu Unruhe gibt, wenn es nicht erfolgt. Indexlöhne zusammen mit oft mehrjähriger Laufzeit von Tarifen, die übrigens häufig mit einer Wiedereröffnungsklausel versehen sind, also während der Laufzeit den Gewerkschaften die Möglichkeit geben, die Löhne zu erhöhen, sind ein erheblicher Faktor des Kostenauftriebs und damit auch inflatorischer Trends geworden. Daher die vielfach ver­ tretene Auffassung, inflatorischer Druck sei in den Nexus dieser Dinge eingebaut. Das gilt vor allem für die Vereinigten Staaten und Großbritannien; zeitweise für Frankreich und Italien; zunehmend für Deutschland, die Schweiz und Holland. Per Jacobsson58, der hervorragende Leiter des Internationalen Wäh­ rungsfonds, sagte vor einigen Jahren das Ende der Inflation voraus. Es häufen sich heute die Anzeichen, daß die Periode der relativen Stabilität (1958—1963) zu Ende geht; jedenfalls ist das die Sorge der Regierungen und maßgebender Sachverständiger in allen westlichen Ländern. Es gibt gute Gründe für die Vermutung, daß Intervalle von relativer Preisstabilität doch nicht den inflationären Trend aufhalten können, solange der demokratische Prozeß dem Druck der Sonder­ interessen organisierter Gruppen ausgesetzt ist59. 57 Prosperity without Inflation, Fordham University Press, New York 1959, S. 18. 58 Per Jacobsson: Western European Growth Experience. Proceedings of a Symposium on Economic Growth. Washington 1963. S. 37 ff. 59 Graham Hutton, Inflation and Society, London 1960. S. 83 ... „if a coherent, progressive, democratic society is to persist, they (die Interessen­ verbände) must never be allowed to get what they squeal for. The purchas­ ing power of that society’s money — the measure of all material values and their interrelationships by which alone growth itself is measurable — must be kept as stable, reliable and calculable as possible, no matter who squeals or for what“.

Viertes Kapitel

Entwürfe zur Lösung des pluralistischen Laissez-faire-Problems I. Standortsbestimmung An dieser Stelle empfiehlt es sich, das Ergebnis unserer bisherigen Darlegungen in einer Standortsbestimmung zusammenzufassen.

1. Die Interessenverbände, die die pluralistische Gesellschaft kon­ stituieren, sind nach den Grundsätzen des klassischen Liberalismus in seiner Konkretisierung als liberaler Kapitalismus angetreten. Sie ent­ sprechen diesem Gesetz des Antritts nach Struktur, Funktion und Tradition bis heute — also unter erheblich veränderten Voraussetzun­ gen und Gegebenheiten.

2. Der aus Krieg oder Depression geborene Staat der egalitären Demo­ kratie fand die klassische Gestalt der Interessenverbände, die der Ge­ werkschaften, der Landwirtschaft und des Kleingewerbes nach Funk­ tion, Struktur und Tradition vor. Er sanktionierte ihr Gesetz des An­ tritts und stattete sie mit privatrechtlichen und — in gewissem Um­ fange — öffentlich-rechtlichen Privilegien und Immunitäten aus. Damit eröffnete er ihnen ein gegenüber früher gewaltig erweitertes Wirkungs­ feld. Die Überlegung, ob das Gesetz des Antritts unter den veränderten Umständen und Verhältnissen sich mit wirtschaftlichen Anforderungen, dem demokratischen Prozeß und dem Gemeinwohl vertragen würde, lag entsprechend dem Druck der Umstände dem Gesetzgeber fern; sie wurde sicher nicht von den Verbänden selber angestellt. 3. Das weltanschauliche Vakuum, entstanden im Gefolge der Entideo­ logisierung von klassischem Liberalismus und klassischem Sozialismus, gab die Bahn frei für den am Gesetz des Antritts orientierten Prag­ matismus; das gilt für den wirtschaftlichen wie für den sozialen Bereich. Da dieser Pragmatismus in der Form der Massendemokratie seine be­ sonderen Chancen hatte, zu einer Zeit, wo die Freiheit der Nation wie der Verbände von totalitären Mächten bedroht war, gewann die Nei­ gung Oberhand, aus der Demokratie die Dogmatik des Demokratismus zu machen. Damit steigerte man sie zu einer im ganzen Umkreis des gesellschaftlichen Seins Verbindlichkeit fordernden Lebensform.

IV. Kap.: Entwürfe z. Lösung d. pluralistischen Laissez-faire-Problems 139 4. Was der demokratische Staat den Verbänden geben konnte, war legale Befestigung; ob sie real werden konnte, hing von den wirtschaft­ lichen Umständen ab. Es zeigte sich der große Unterschied an wirt­ schaftlicher wie politischer Macht zwischen Verbänden bloß legaler Be­ festigung und denen, die aus wirtschaftlicher oder politischer Druckund Störungsmacht real befestigt waren. Das Anwachsen der Dienst­ leistungsgewerbe schafft insofern eine neue Sachlage, als ihr politisch­ soziales Gewicht stark anstieg, während in vielen Sektoren ihr Pro­ duktivitätszuwachs sich um ± 0 bewegt. Deren Realeinkommen parti­ zipierten nicht entsprechend an den höheren Zuwachsraten der Produk­ tivität, soweit diese in wachsenden Gewinnen und Lohnerhöhungen ab­ geschöpft werden. Auch die Einkommen der in marginalen Unter­ nehmungen beschäftigten Personen hängen zurück. 5. Aus Erwägungen sozialer wie politischer Art muß der Staat vor Wahlen das politische Gewicht der wachsenden Dienstleistungsgruppen berücksichtigen; das gilt vor allem für die Beamten und die anwachsende Gruppe der Sozialrenter. Wo der Ausgang der Wahl von der Haltung verstreuter Randgruppen abzuhängen scheint, sind Konzessio­ nen auch für sie fällig.

6. Soweit sie gemacht werden, sind steigende Kosten nicht zu ver­ meiden. Wenn sie nicht durch wachsende Produktivität kompensiert werden, muß ihr Niederschlag zu steigenden Preisen oder Steuern führen. Das wiederum beschneidet die Kaufkraft der Einkommen gün­ stig placierter Verbände, die nun ihrerseits durch Preissteigerungen, Indexlöhne oder durch Paritätspreise (für die Landwirtschaft) aufzu­ holen versuchen. 7. Der in diesen Zusammenhang eingebaute Trend zu steigenden Kosten und Preisen wird von der Zentralnotenbank — selbst wenn sie formal unabhängig ist — mehr oder weniger durch das Anschwellen des Geld- und Kreditvolumens honoriert. Sie kann den außerhalb ihrer Verantwortung entstehenden Kosten und Preisstrukturen nicht mehr, wie die Zentralbank des 19. Jahrhunderts, bloß mit Diskontpolitik be­ gegnen. Wenn dem Staat die Verantwortung für Vollbeschäftigung zu­ geschoben wird; wenn gleichzeitig Lohn- und Gehaltskosten und manche Preisebenen starr nach unten sind; wenn jährliche Lohnrunden mit einer gewissen Selbstverständlichkeit anfallen, dann ist die Autonomie der Zentralnotenbank erheblich verengt. Die Flexibilität der Faktor­ kosten, die früher der Zentralbank erlaubte, mit diskontpolitischen Mitteln auszukommen, fehlt im Laissez-faire-Pluralismus; tendenziell wird sie selber eine Variable im wirtschaftlich-sozialen und im demo­ kratischen Prozeß. Wenn ihr, wie der U. S. A. Bundesreservebank zwi­ schen 1946—1958, überdimensionierte Währungsreserven zur Verfügung stehen, kann sie eine diskretionäre Diskontpolitik verfolgen. Aber das

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ist keine Dauerlösung, ebenso wenig wie Ziehungen auf den Inter­ nationalen Währungsfond oder Stillhalte- und Reserveabkommen mit Internationalen Kreditinstituten oder swap-Abkommen. Kreditverknap­ pung wird aus sozialen Erwägungen (eventuell anfallende Arbeitslosig­ keit, Betriebsstillegungen, untragbare landwirtschaftliche Hypothekenund Betriebs-Zinsen) nur im beschränkten Maße möglich. Ein anderer Umstand spielt noch mit. Im Bereich hochkonzentrierter Industrien liegen Firmen, die aus eigenen Mitteln finanzkräftig sind oder durch Zwischen-Firmen-Kredite genügend Liquidität besitzen, ohne normalerweise auf Bankkredite zurückgreifen zu müssen. Hier liegt ein wichtiger Interessenunterschied zwischen prosperierenden, fortschrittlichen Firmen und Industriesektoren einerseits, vielen mitt­ leren und kleinen Unternehmen andererseits. Daher der Protest dieser Kreise, vor allem in England, Vereinigten Staaten und West-Deutsch­ land, da durch Zinserhöhung der Bundesreservebank kleinere und mitt­ lere Unternehmungen, unter denen noch starker Preis-Wettbewerb herrscht, zum Unterschied von den großen Firmen und Sektoren hart betroffen werden1. 1 Die Herrschaft der Zentralbank über den Geldmarkt, die Professor Plenge in seinem Buch Von der Diskontpolitik zur Herrschaft über den Geld­ markt (1913) signalisierte, hat heute dadurch Einbuße erlitten, daß Kredit­ quellen außerhalb der Kontrolle der Zentralbank und weithin unabhängig von ihrer Geldmarktpolitik vorhanden sind. Solche Kreditquellen gibt es in erheblichem Umfang; man spricht von financial intermediaries, die sich neben den Kommerzbanken und mit ihnen konkurrierend entwickelt haben. Dahin rechnen Versicherungsgesellschaften (heute in USA zunehmend in ihrer Vorrangstellung bedrängt von dem Anwachsen der Werkpensionsfonds für Arbeiter und Angestellte (gegenwärtig 88 Mrd. Dollar, mit starker Zu­ wachsrate), Sparkassen, Baugenossenschaften, Bausparvereine und Kredit­ vereine (credit unions); aber die größte Rolle spielen die Finanzierungs­ gesellschaften für die Käufe dauerbarer Verbrauchsgüter, in erster Linie für den Ankauf von Kraftwagen. In den USA sind diese Kreditquellen im Unterschied zu den Kommerzbanken nicht an die Zinsmaxima für ZeitDepositen gebunden und von den Vorschriften über Reservehaltung bei der Zentralbank und von der Bundesdepositenversicherung befreit. Der jüngste Zuwachs zu diesen financial intermediaries ist die von der First National Bank of Boston aufgenommene Praxis, Kredit am offenen Markt durch Ausgabe kurzfristiger Wechsel (Notes) der Bank zu beschaffen. Das Verfahren ist für die Bank etwas billiger als Depositenzinsen, weil für diese Notes weder Reserveverpflichtungen bei der Zentralbank noch Auslagen für Depositenversicherung bestehen. Die ausgebende Bank kann jede Sicht und jede Zinsrate ansetzen, die von der Marktlage gefordert wird; auf diese Weise können die Kreditbanken (commercial banks) mit anderer Nachfrage nach kurzfristigem Kredit Schritt halten und sich dagegen schützen, daß der Zins des offenen Marktes den Satz übersteigt, den sie für Zeitdepositen unter der Regel Q zu zahlen haben. Das Beispiel der First National Bank of Boston hat bei anderen Banken reichlich Nachahmung gefunden. Auf An­ frage bei der Bundes-Reserve-Bank (6. XII. 65) erfolgte die Auskunft, der Gesamtbetrag der marktgängigen Certificates of deposit betrage z. Z. 16,4 Mrd. Dollar. Marktgängig waren anfangs die Depositenzertifikate, deren Nominalwert 100 000 Dollar und mehr ist; die Praxis nahm 1966 zu, auch er­ heblich kleinere Einheiten auszugeben.

IV. Kap.: Entwürfe z. Lösung d. pluralistischen Laissez-faire-Problems 141

Der Kern des Problems liegt 1. darin, daß machtvolle Interessen­ verbände den Status relativ unabhängiger Variablen im wirtschaftlich­ sozialen Prozeß gewonnen haben, 2. darin, daß sie am demokratischen Staat einen Juniorpartner, wenn nicht ein Instrument, ihrer Inter­ essenpolitik besitzen. II. Anti-Pluralistische Kräfte Es ergeben sich also zwei Fragen.

1. Kann die laissez-faire-pluralistische Struktur der Gesellschaft da­ durch überwunden werden, daß die Interessenverbände das Gesetz ihres Antrittes aufgeben oder es an die neuen Gegebenheiten anpassen, mit der Folge, daß über ihrem chaotischen Geraufe Begriff und Realität des Gemeinwohls2 klar hervortreten?

2. Kann das Verhältnis zwischen demokratischem Staat und plurali­ stischen Mächten derart gestaltet werden, daß diese sich einer am Ge­ meinwohl orientierten Staatspolitik unterordnen?

Zunächst ist festzustellen, daß hier keine eindeutige Antwort, die den Gesamtkomplex der Verbände deckt, möglich ist. Soweit wirt­ schaftliche Vereinigungen, insbesondere Kartelle, in Frage kommen, zeigen sich breite Variationen: vom Kartellverbot in den U. S. A. über eine Reihe von Schattierungen — etwa in der bedingten und zeitlich begrenzten Anerkennung von Kartellen im Einzelfalle, wie in Deutsch­ land und England — bis zu ihrer gesetzlichen Anerkennung und sogar ihrer gouvernmentalen Förderung wie etwa in Frankreich. Ähnliche Er­ scheinungen in England, wo das Kartellwesen gesetzlich geregelt ist, und wo Preisbindungen zweiter Hand3 neuerdings von Fall zu Fall auf2 Es sei an dieser Stelle vermieden, die Problematik des Gemeinwohls zu untersuchen. Es ist in unserem Zusammenhang vollständig ausreichend, und allgemein anerkannt als ausreichend, daß die Kriterien des Gemeinwohls im wirtschaftlichen Sinne heute zusammengefaßt werden können als 1. Vollbeschäftigung (abgesehen von der Friktionsarbeitslosigkeit) 2. Stabilität des nationalen Preisspiegels 3. Ausgleich der internationalen Zahlungsbilanz. Diese drei Kriterien werden gewöhnlich als das magische Dreieck be­ zeichnet, dessen Lösung allen Regierungen des Westens beträchtliche Kopf­ schmerzen verursacht. 3 Nicht einmal hinsichtlich der Kartellverbotsgesetze in den USA kann ge­ sagt werden, daß sie allgemein-verbindliche Geltung besitzen. Ausdrücklich von den betreffenden Gesetzen (Sherman Act, Clayton Act) sind ausgenom­ men die Gewerkschaften, Verbände der Landwirtschaft, der Fischerei und Försterei. Preisbindungen zweiter Hand sind nach dem Robinson-Patman Act erlaubt. Derselbe Gesetzgeber, der collusion in restraint of trade straf­ rechtlich verfolgt, hat die Gewerkschaften mit gesetzlichen und administra­ tiven Privilegien ausgestattet, wie sie kein anderer Verband nur annähernd besitzt. Daneben die wirtschaftlich höchst irrationale Agrarpolitik, die die Lebenskosten für viele landwirtschaftliche Produkte stark verteuert, wäh­

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gelockert werden. Es bestätigt sich, was sich in den Vereinigten Staaten beim Prohibitionsgesetz von 1921 zeigte: Wenn eine Gesetzgebung nicht auf die Gesetzestreue der Bevölkerung rechnen kann, schwebt sie in der Luft; das ist eine Erfahrung, die seit dem Diokletianischen Preis-Edikt (301 n. Ohr.) immer wieder gemacht werden konnte. Isidor von Sevilla hat sie in seinen Dekretalen der Nachwelt vermacht. Der Leser soll nicht den voreiligen Schluß ziehen, daß die amerika­ nische Gesetzgebung gegen Trust und Kartelle wirkungslos geblieben sei; aber daß der Erfolg begrenzt war und daß das Gesetz Umgehungen provozierte, bleibt doch Tatsache — ganz abgesehen von den wirt­ schaftlichen Rückwirkungen, die die Praxis der Anti-Trust-Behörde nach sich gezogen hat. Sehr viel freundlicher als zu den industriellen und Handels-Kartellen hat sich der Staat zu den landwirtschaftlichen Verbänden verhalten; auch hier gelegentlich, wie in England, Frank­ reich, Westdeutschland und der Schweiz, mit entsprechenden Privi­ legien und Exemptionen. Aus Gründen, die erörtert wurden, haben die westlichen Demo­ kratien den Gewerkschaften eine Art privilegierten Status zuerkannt. Das Mindeste, was für Schweden, Westdeutschland, Vereinigte Staaten, England und die Schweiz gesagt werden kann, ist daß ihre leitenden Persönlichkeiten zum Establishment gehören4. Bei manchen Variationen im einzelnen zeigt das Gesamtbild der westlichen Demokratien einen Schwerpunkt bei den Gewerkschaften, der aus ihrer dreiseitigen Ver­ ankerung stammt: aus ihrer Verankerung in der Wirtschaft durch Mit­ rend sie gleichzeitig einen staatlichen Aufwand von ca. 6 Milliarden Dollar verlangt, der steuerlich aufzubringen ist. Diese widerspruchsvolle Politik verstärkt die Konzentrationsbewegung und beschleunigt den technisch-wirt­ schaftlichen, arbeitssparenden Fortschritt. Aber es gibt auch Ausweichfor­ men, die demselben Zweck dienen wie Kartelle (die jetzt illegale Politik der Frachtbasen, suggestive Analysen von Betriebskosten seitens der Handels­ vereinigungen, fiktive Auktionen im Käsegroßhandel in Plymouth (Wiscon­ sin), gentlemen agreements, Preisführung, nicht zuletzt Kollusion zwischen lokalen Gewerkschaften, Lieferanten- und Arbeitgeberverbänden — oft unter stillschweigendem Einverständnis lokaler Behörden wie z. B. im Bau­ gewerbe. Davon gaben die T.N.E.C. Hearings, u. a. in den Monographien 16 von Walton Hamilton und 21 von Clair Wilcox, ein anschauliches Bild. 4 Name und Begriff des Establishment sind britischen Ursprungs. Eines von den bekanntesten Establishments ist der Cliveden Set, der seit Jahren vielfach in der Presse zitiert wurde. John K. Galbraith definiert Establish­ ment als eine kleine Gruppe von hochgestellten Persönlichkeiten, die das Beste der „herkömmlichen Weisheit“ (Conventional Wisdom) darstellen und denen verantwortliche Kreise im Land vertrauensvoll großen Einfluß zu­ erkennen: „They are the pivotal people“ (zitiert nach der 2. Auflage von Richard H. Rovere. The American Establishment and other Reports. Opinions and Speculations, S. 5). Mit Establishment geht kein öffentliches Amt oder Mandat irgendwelcher Art; in aller Regel ist es keine Organisation, sondern ein loser, aber persönlicher Zusammenhang von Einzelnen und ihren Kreisen. Was sie verbindet, ist ihre Lebensphilosophie und ihre Wertwelt im weite­ sten Sinn des Wortes. Das Establishment ist politisch, ohne in der Politik engagiert zu sein: es herrscht, so könnte man fast sagen, ohne zu regieren.

IV. Kap.: Entwürfe z. Lösung d. pluralistischen Laissez-faire-Problems 143 bestimmung über Löhne und andere Arbeitsbedingungen, eventuell zu sichern durch Streikdrohung oder Streik; in der Politik durch ihr Stimmgewicht bei Wahlen; schließlich in ihrem Appell an Massen­ emotionen, die wegen der sozialen Mißstände des 19. Jahrhunderts immer noch entzündet werden können, auch abgesehen von dem Nach­ hall der marxistischen Arbeitswert- und Ausbeutungstheorie5. Das magische Dreieck hat seine Problematik aus vielen Quellen, unter denen nach überwiegender Ansicht der Sachverständigen die wichtigste doch auf der Seite der Gewerkschaften liegt.

III. Kontrolle pluralistischer Kräfte

Man kann, wenn man von offiziellen Mahnungen zur Mäßigung von Forderungen absieht, drei Versuche der Lösung des magischen Drei­ ecks feststellen: 1. Es werden von Seiten der Regierung Leitlinien (guide posts oder guide lines) aufgestellt, die den Vertragspartnern einen Anhalt für ihre Forderungen geben, einen „vernünftigen“ Anhalt im Sinne der Wahrung der Stabilität des Preisspiegels.

2. Weiter geht der Vorschlag, durch die Schaffung eines zentralen Lohnamtes in die Lohnstruktur Vernunft und Ordnung zu bringen.

5 Louis Salleron (Les Catholiques et le Capitalisme. La Palatine, ParisGeneve, 1951, S. 211) stellt für Frankreich jedenfalls fest, daß in der An­ fangsperiode des industriellen Kapitalismus die Arbeiterschaft noch in den Kategorien der Vergangenheit, einer verfaßten (corporative) und religiösen Gesellschaft lebte. Als sie dann zum Selbstbewußtsein, d. h. zum Bewußtsein ihrer gesellschaftlichen Lage kam, verbesserte sich ihre materielle Lage. Heute gibt es keine extreme Armut mehr, sicher nicht für eine große Min­ derheit, wenn nicht für eine Mehrheit, und im politischen Leben hat die Arbeiterschaft beinahe eine dominante Rolle gewonnen, während die Mono­ tonie der Arbeit durchbrochen ist durch die große Verschiedenheit des tech­ nischen Apparates und der Aufgaben, die verlangt werden. Anders ausge­ drückt: Heute sind die Bedingungen des Lebens nicht mehr „proletarisch“, während niemals so viel vom Proletariat gesprochen werde wie heute. Woher kommt das? Hier lassen wir besser den Autor selber sprechen: „... L’explication premiere semble etre foumie par la Psychologie. Elle est simple: les phenomenes (surtout sociaux) ne sont generalement percus dans une con­ science claire que longtemps apres qu’ils se sont manifestes. Nous en avons ici la verification dans les deux sens... En effet, lorsque le fait proletarien est ä son maximum ä la fin du XVIIIe siede et au debut du XIXe, il est peu ressenti en tant que tel, parce que nouveau. L’ouvrier est alors miserable, mais il subit plus qu’il ne realise l’horreur de sa condition. Marx le sait bien qui expliquera qu’il faut faire prendre conscience auxproletairesdeleur misdre afin de les dresser ä la revolution. Or aujourd’hui, c’est le contraire. La misere des travailleurs est constamment mise en avant, et on insiste lourdement sur le phenomene proletarien, alors que la realite est autre. Au fond, il y a toujours une part de convention dans le vocabulaire, convention qui se nourrit d’une conscience collective eclose ä une realite anterieure et qui prolonge cette realite d’une maniere partiellement artificielle.“

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3. Man unternimmt „indikative“ volkswirtschaftliche Planung im Sinne eines dritten Weges zwischen Laissez-faire-Pluralismus und kol­ lektiver Zwangsplanung.

A. Nationale Lohn- und Preispolitik a) Amtliche Kontrolle. Das Beispiel der Niederlande Den Anfang mit einer nationalen Lohnpolitik — abgesehen von kommunistischen und faschistischen Staaten — machten die Nieder­ lande im Jahre 1945. Dahinter stand die schwierige Aufgabe des Wieder­ aufbaus und der Anpassung der nationalen Wirtschaft an den Verlust der Kolonien. Parteien und Verbände stimmten darin überein, daß besondere Maßnahmen des Übergangs erforderlich seien; darum wurde ein amtlicher Ausschuß Stiftung der Arbeit eingesetzt, der die Lohn­ vereinbarungen im Gesamtinteresse der Nation zu überwachen hatte und dessen Entscheidungen gerichtlich erzwungen werden konnten. Auch konnte der Ausschuß Lohnerhöhungen vornehmen, soweit sie von der Regierung für richtig erachtet wurden. Gewerkschaften und Ar­ beitgeberverbände konnten gemeinsam Vereinbarungen treffen, die dann aber von dem Ausschuß überprüft wurden. 1951 wurde ein Sozial­ und Wirtschaftsrat, besetzt mit Vertretern der Regierung und der Tarifparteien, eingerichtet; seine Aufgabe war es, die Regierung in allen Angelegenheiten der allgemeinen Wirtschaftspolitik einschließlich von Löhnen und Preisen zu beraten. Den Anfang machte die Fest­ setzung von Mindestlöhnen. Wie das Land sich langsam erholte, ging man dazu über, Lohnsteigerungen zuzulassen, und zwar gleichmäßig für alle in Frage stehenden Arbeitergruppen. Damit war ein hoher Grad von Starrheit gegeben insofern die Differenzierung der Löhne und die besondere Lage von Industrien zu kurz kamen. 1959 entschloß man sich, die Löhne mehr an das Produktivitätswachstum einzelner Indu­ strien anzupassen. Diese Politik wurde 1961 wieder geändert, indem das Gesamtwachstum der Produktivität nun als Maßstab für Lohner­ höhungen festgesetzt wurde; diese Lohnpolitik wurde eng verbunden mit einer entsprechenden Preispolitik. Das Ministerium für Wirtschaft­ liche Angelegenheiten bestand darauf, daß Industrien mit stärkerem Wachstum ihrer Produktivität einen Teil davon dem Verbraucher in Preissenkungen zukommen lassen sollten; zu diesem Zweck fanden Sonderverhandlungen zwischen Industrievertretern und Regierung statt. Der im Juli 1962 veröffentlichte Report des Sozialwirtschafts­ rates bedeutete eine Neuorientierung der Politik; die staatliche Kon­ trolle über Lohnabkommen wurde gemildert und den Vertragspartnern die Verantwortung dafür zugewiesen, daß ihre Lohnsätze mit den Anforderungen der Gesamtwirtschaft übereinstimmen, so wie diese

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halbjährlich vom Sozialwirtschaftlichen Rat beurteilt wurden. Dabei behielt sich die Regierung das Recht der Intervention gegen gesamt­ wirtschaftlich unerwünschte Lohnabkommen vor, eventuell das Recht, Löhne vorübergehend einzufrieren. 1. Auflockerung der amtlichen Kontrolle Unzufriedenheit über die amtliche Lohnkontrolle zeigte sich schon seit der wirtschaftlichen Erholung, die 1952/53 einsetzte. Die Gewerkschaf­ ten, die bis dahin, besonders aus Rücksicht auf Vollbeschäftigung, eine maßvolle Lohnpolitik betrieben, verlangten nun ihren Anteil an der wachsenden Produktivität; die Regierung gab nach und erlaubte einen erheblichen Anstieg der Löhne nach einem Einheitsmaßstab für alle Beschäftigungen. Zu gleicher Zeit aber drängten die Gewerkschaften wie auch einige Arbeitgeberverbände auf mehr Freiheit für ihre Lohn­ vereinbarungen; nur der sozialdemokratische Niederländische Gewerk­ schaftsbund, der eng mit der offiziellen Regierungspolitik hinsichtlich der Löhne ging, war anderer Auffassung. Darum wurde erst nach den Wahlen von 1959, infolge deren die Arbeiterpartei aus der Regierung ausschied, ein weiterer Schritt zur Auflockerung der Lohnkontrolle getan. Jetzt wurde der Produktivitätszuwachs als Maßstab genommen; aber die Regierung bestand auf ihrem Recht, getroffene Lohnverein­ barungen zu billigen oder zu verwerfen. Deswegen fühlten sich die Tarifpartner immer noch unzufrieden, weil in ihrer Verhandlungsfrei­ heit beschränkt. Man darf nicht vergessen, daß der Produktivitäts­ zuwachs als Maßstab für Lohnerhöhung, wie die Dinge lagen, proble­ matisch war; statistisch völlig unerfaßt waren ungefähr 30 °/o der Unternehmungen; für weitere 30 °/o lagen keine ausreichenden Unter­ lagen vor. So versteht man, daß die Tarifpartner sich über Lohn­ erhöhungen einigten und sich ihre eigenen Vorstellungen über den Produktivitätszuwachs machten. Die Wirkung war, daß die Löhne be­ trächtlich anzogen, die Regierung in Sorge wegen inflationärer Auf­ triebe geriet und für die Zahlungsbilanz fürchtete. Darum suchte sie zu bremsen; aber die Tarifpartner, insbesondere die Gewerkschaften, fan­ den es unerhört, daß getroffene Lohnvereinbarungen nun von den Lohnkontrollstellen der Regierung verworfen werden konnten. Zu Hilfe kam den Tarifpartnern der große wirtschaftliche Auf­ schwung der nächsten Jahre mit seiner Versteifung am Arbeitsmarkt; wie die Dinge lagen, konnten die Gewerkschaften ohne große Mühe die Zuwachsrate der Produktivität in den Löhnen abfangen. Da das Bau­ gewerbe fast keinen Zuwachs an Produktivität aufwies, da aber gleich­ zeitig das Wohnungsproblem im Lande als äußerst vordringlich emp­ funden wurde, mußte befürchtet werden, daß, wenn die Löhne im 10 Briefs

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Baugewerbe nicht entsprechend anzogen, die höheren Löhne anderwärts oder sogar im benachbarten Deutschland Abwanderung von Bauarbei­ tern aus ihrem Gewerbe veranlassen würden. Die Regierung sah einen Ausweg darin, anstatt Lohnerhöhung gemäß dem jährlichen Produk­ tivitätszuwachs zu billigen, einen zehnjährigen Durchschnitt der Wachstumsrate als Maßstab von Lohnerhöhung zugrundezulegen; sie bestand gleichzeitig darauf, daß die Lohndifferenziale reduziert wür­ den. 2. Die Kontrolle wird subsidiär

All das waren Notbehelfe; im Jahre 1963 mußten die Lohnrestriktionen wesentlich aufgelockert werden. Unter dem Druck der Tarifpartner, vor allem der Gewerkschaften, aber auch großer Firmen, wurde eine grundsätzliche Revision der gesetzlichen Lohnpolitik vorgenommen: nur wenn die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände es verlangten, oder wenn die Lohnentwicklung aus Gründen des nationalen Interesses zu stürmisch wurde, sollte der Ausschuß für gesetzliche Lohnkontrolle in Tätigkeit treten. Das neue Verfahren gilt formal bis zum heutigen Tage. Es sieht einen halbjährlichen Bericht des Sozialwirtschaftlichen Rates vor, der auf Grund wirtschaftlicher Indices die Leitlinie für die Lohnvereinbarung feststellt. Daraufhin berät sich die Regierung mit dem paritätischen Ausschuß (Stiftung der Arbeit); aber ihre Wünsche sind Leitlinien, die nicht gesetzlich erzwungen werden. Falls die Warenpreise dazu Anlaß geben, werden auch sie in die Beratung einbezogen. Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände besprechen dann die Aussichten der Lohn­ verhandlungen nach Industrien und Firmen; darauf folgen Verhandlun­ gen innerhalb der Arbeitgeber- wie der Gewerkschaftsseite über je ihre Forderungen, und zwischen den drei Verbänden auf der Gewerkschafts­ seite und verschiedenen Verbänden auf der Arbeitgeberseite. Der pari­ tätisch zusammengesetzte Ausschuß besitzt die Zuständigkeit für die endgültige Entscheidung über alle Tarifverträge; er hat also die Kom­ petenz, die früher der von der Regierung eingesetzte Ausschuß besaß. Nicht als ob der letztere beseitigt sei; alle eingegangenen Verträge müs­ sen ihm unterbreitet werden; er kann von der Stiftung der Arbeit ver­ langen, daß sie einzelne Verträge genauer unter die Lupe nehme; er kann auch empfehlen, daß der Minister für die Sozialen Angelegenhei­ ten von seinem Recht Gebrauch macht, eingegangene Tarifvereinbarun­ gen ganz oder teilweise als ungültig zu erklären. Auch kann er Zwangs­ schlichtung vornehmen, wenn die Tarifpartner sich nicht einig werden; notfalls kann er bestehende Tarife für mehrere Monate einfrieren. Die mehrfachen Reformen der niederländischen Lohnpolitik haben die Tarifpartner nicht befriedigt; einige von ihnen bestehen auf völliger

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Tariffreiheit. Die Regierung fand sich damit in einer verzwickten Lage: die anhaltende Prosperität versteifte den Arbeitsmarkt und führte bei großen Firmen zu übertariflichen Löhnen, gelegentlich auch zur Hor­ tung von Arbeitskräften. Auch die Leitlinie (2,7 °/o) löste bei dieser Lage der Dinge Unzufriedenheit aus. Der vom Arbeitsmarkt her kommende Auftrieb führte vielfach zu übertariflichen Sätzen; dieselbe Wirkung hatte das sich hier und da ausbildende ,Padrone‘-System6; es lohnte sich für geschäftstüchtige Leute, Arbeiterkolonnen zusammenzustellen und für eine Kommission nachfragenden Firmen zur Verfügung zu halten. Auch das war eine Weise, die bestehenden Grenzen des Lohnauftriebs zu umgehen. Das Jahr 1963 zeigte eine geradezu explosive Lohnentwicklung; die Regierung mußte einer lO°/oigen Steigerung zustimmen mit der Be­ gründung, 5 % davon sei Ausgleich für Löhne an fremden Arbeits­ märkten, die anderen 5 °/o Ausgleich für übertarifliche Sätze. Die Ver­ einbarung vom Oktober 1963 erlaubte, daß die Lohnsteigerung auf die Preise aufgeschlagen werden durfte. Im Frühjahr 1964 stellte sich her­ aus, daß die Arbeiter erheblich mehr als eine 5°/oige Steigerung der Reallöhne erreicht hatten; Schätzungen zufolge lag das Durchschnitts­ einkommen im April 1964 um 15—20 Prozent höher als vorher. Das kam natürlich im Preisspiegel zum Ausdruck, und so gab es Anlaß zu neuen Befürchtungen für die Ausfuhr und die Zahlungsbilanz.

Daß diese Befürchtungen sich trotz vorübergehender Schwierigkeiten in der Zahlungsbilanz nicht bewahrheiteten, hing in der Hauptsache damit zusammen, daß der Lohnspiegel, obschon er im Jahre 1964 über den Produktivitätszuwachs hinausging, keine Defizite in der Zahlungs­ bilanz verursachte, weil er insgesamt für die Niederlande noch nicht ganz den deutschen Lohnspiegel aufgeholt hatte. Der Economist (6. März 1965, S. 1004—5) stellt fest, daß, obschon der niederländische Lohnspiegel so stark anstieg, er immer noch niedriger lag als der eini­ ger Nachbarn des Landes; und wenn das System der Lohnkontrolle durchlöchert und inflationär wurde, so war es immer noch weniger durch­ löchert und inflationär als in anderen Ländern. Hier liegt die Geheim­ waffe der Niederlande in dem Kampf um die Exporte. Wie lange sie auslangt, ist eine andere Frage.

Die neueste Wendung in der gewerkschaftlichen Politik ist die Forde­ rung der Katholischen Verbände nach einem Anteil der nicht verteilten Gewinne der Industrie. Die Gewerkschaften betonen, sie hätten 20 Jahre lang seit dem Kriegsende mit Forderungen zurückgehalten und dem Lande zum Wohlstand verhülfen. Aber wie steht es um die Arbeiter? Die Arbeitgeberseite wehrt sich mit Hand und Fuß gegen diese Forde-

8 Der niederländische Ausdruck ist Koppelbaazen. io*

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rungen; wie üblich, ist die Frage dem Sozial- und Wirtschaftsrat zu einer intensiven Studie zugewiesen worden. Was daraus folgen wird, bleibt abzuwarten. (Siehe: Reformbestrebungen im niederländischen Gesellschaftsrecht. Neue Zürcher Zeitung, 21. März 1965.) Gegen Ende 1965 hat das Kontrollsystem für alle praktischen Zwecke aufgehört, wirksam zu sein. Die Löhne überschritten bei Vollbeschäfti­ gung und stellenweise fühlbarer Verknappung am Arbeitsmarkt bei weitem den Zuwachs der Produktivität; infolgedessen zogen die Preise erheblich an. Das niederländische Verfahren, das sich für einige Jahre bewährte, war auf die Dauer nicht imstande, inflationäre Auftriebe zu vermeiden. Die Gründe liegen auf der Hand; der Hochschwung im benachbarten Deutschland und anderen Nachbarländern veranlaßte den Aufwärtssog der niederländischen Löhne; Abfluß von Arbeitskräften versteifte den nationalen Arbeitsmarkt; der starke Bedarf von gelerntem Personal (z. B. der Philips-Werke, der Allgemeinen Kunstseide und anderer gro­ ßer Industrien) veranlaßte einen ,Wage-drift‘, dem die Gewerkschaften folgten und dem die offizielle Lohnpolitik nachzugeben hatte; nicht zu­ letzt: der jährliche Produktivitätszuwachs belief sich seit 10 Jahren auf 5 %. Die niederländische Leitlinienpolitik war der erste Versuch dieser Art in Friedenszeiten; er ließ die Voraussetzungen seines Erfolges wie seines Mißerfolges klar zutagetreten. Was sich deutlich zeigte, war die Wechselbeziehung zwischen Erfolg und Mißerfolg: der ursprüngliche Erfolg der Politik veränderte die Daten, von denen sie ausging; der veränderte Datenrahmen gab den Kräften des Marktes scharfen Auf­ trieb, mit der Wirkung, daß die um den Markt zentrierten Verbände Gelegenheit und Anlaß fanden, den gesetzlichen oder administrativen Normen gegenüber auf ihrer Bewegungsfreiheit zu bestehen. Dahin drängten ihre Tradition, ihre Funktion und ihre Struktur, all das ver­ dichtet zum Interesse an der institutionellen Selbstbehauptung und der Wahrung wohlerworbener Rechte. Wie gegenwärtig, um die Mitte 1966, andere westliche Länder, so sind auch die Niederlande von einer Überhitzung der Konjunktur und deren unerwünschten Begleiterscheinungen geplagt. Die Überhitzung äußert sich im starken Anstieg der Verbraucherpreise, in fortgesetzt steigenden Löhnen und Gehältern, in der Verknappung des Kapital­ marktes und entsprechend steigenden Zinssätzen, und in Defiziten in der Zahlungsbilanz. Die Verschuldung von Staat, Provinzen und Ge­ meinden ist stark angewachsen; sie beläuft sich auf insgesamt 47 Mil­ liarden Gulden. Das Budget Defizit wird für 1966 auf eine Milliarde Gulden veranschlagt, für 1967 auf den dreifachen Betrag. Das Regie­ rungsprogramm sucht die Investitionen für die Güter des Privatver-

IV. Kap.: Entwürfe z. Lösung d. pluralistischen Laissez-faire-Problems 149 branches zu dämpfen, um mehr Spielraum für soziale Infrastrukturen und Gemeinschaftsaufgaben zu gewinnen. Der sozial-ökonomische Rat dagegen ist der Meinung, daß die für diesen Zweck benötigten mehre­ ren Milliarden Gulden einen weiteren Akzent auf Konjunkturüberhit­ zung, also auf Inflation und Defizite in der Zahlungsbilanz, setzen würden. Er appelliert an die Regierung, die Ausgaben der Öffentlichen Hand einzuschränken; gleichzeitig ersucht er Arbeitgeber und Gewerk­ schaften, bei den kommenden Lohnverhandlungen der Gesamtlage Rechnung zu tragen und maßzuhalten. Als unzureichend begegnet das von der Regierung vorgelegte Stabilisierungsprogramm weiterhin der Kritik politischer wie wirtschaftlicher Kreise; andere Gruppen und Verbände wiederum, darunter das Baugewerbe, Forschungsanstalten, Universitäten und Gemeinden, beschweren sich, daß die Regierung un­ genügende Mittel für ihre Aufgaben und Anforderungen bereitstelle. So stehen auch die Niederlande vor der Frage, wie der Staat, die Verbände und Verbraucher dazu gebracht werden können, ihr Klima der steigenden Erwartungen und Forderungen zu dämpfen und inner­ halb ihrer Mittel zu leben.

b) Konsultative Kommissionen. Der Fall Schweden. Schweden ist in gewisser Weise ein analoger Fall. Gösta Rehn7 unter­ sucht die Frage, wie bei der Dezentralisierung gewerkschaftlicher Lohn­ politik und Vollbeschäftigung inflatorische Auftriebe vermieden werden könnten. Er hält es für wahrscheinlich, daß eine stärkere Zentralisierung der Lohnpolitik erforderlich sei, wenn die Lohnentwicklung verantwort­ lich oder vernünftig sich innerhalb der Wachstumsrate der nationalen Produktivität anpassen sollte.

1. Vorbedingungen erfolgreicher Kontrolle Zwei Bedingungen müssen erfüllt werden, daß Löhne sich in diesem Rahmen bewegen. 1. Durchschnittsprofite dürfen nicht zu hoch sein. Aber Rehn ist sich wohl bewußt, daß sie die Tendenz haben, bei Vollbe­ schäftigung hoch zu sein, und daß ferner ihre Reduktion, wenn sie mit irgendwelchen steuerlichen Mitteln vorgenommen wird, nicht die Voll­ beschäftigung gefährden darf. Das ist schwer zu machen, aber unum­ gänglich nötig. Wenn Gewinne hoch sind, kann man eine freie Gewerk­ schaftsbewegung nicht hindern, die Löhne hinaufzutreiben, selbst wenn die Führung überzeugt ist, daß steigende Löhne über die Rate des Pro­ duktivitätszuwachses hinaus zu steigenden Preisen, damit wieder zu höheren Kapitalgewinnen und schließlich, früher oder später, zu gefähr-

7 Wages Policy under Full Employment, ed. by Ralph Turvey. 1952.

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licher Inflation führen, die man wiederum nur aufheben kann unter Verlust der Vollbeschäfigung. Die zweite Bedingung, die Rehn setzt, ist die, daß Lohndifferenziale nicht zu stark sein dürfen. Er spricht von der Ungerechtigkeit, die während langer Perioden von freien Arbeitsver­ trägen darin bestand, daß sich starke Arbeitslosigkeit in einigen Indu­ striesektoren vorfand, zusammen mit großen Differenzen in Löhnen für gleiche Leistung. Sobald Vollbeschäftigung erreicht ist, sind diese nicht mehr tragbar. Schweden zeige praktisch einen einheitlichen Ar­ beitsmarkt, weil mehr Stellen da sind als Angebot; daher sind die Lohndifferenziale stark vermindert. Kurz: Die Möglichkeit einer stabi­ len Lohnentwicklung darf nicht durch andere Maßnahmen der Wirt­ schaftspolitik gefährdet werden, die auf dem Wege über ansteigende Kapitalgewinne den Lohnspiegel nach oben treiben, selbst wenn die Gewerkschaften eine verantwortliche Lohnpolitik betreiben wollen. Ferner: die Lohnstruktur muß innerlich zusammenhängend sein; hier liegt die Aufgabe der für die Lohnpolitik Verantwortlichen, und der Hauptgrund für eine stärkere zentrale Direktion der Lohnpolitik als sie bisher in Schweden oder Britannien geübt wurde.

2. Kontrolle der Kapitalgewinne

Die äußere Bedingung für Lohnstabilität liegt also nach Rehn bei der Kontrolle der Kapitalgewinne: Man muß darauf achten, daß die Kapi­ talgewinne im allgemeinen so klein sind, daß Wettbewerb zwischen Firmen um die Arbeiter vermieden wird. Andererseits ist für manche Firmen die Profitrate so klein, daß die Nachfrage nach Arbeitskräften nachläßt. Was übrig bleibt, ist, den Staat für die Behebung der Ar­ beitslosigkeit verantwortlich zu machen. Zwei Typen also der Politik der Vollbeschäftigung liegen vor: der eine, bei dem preistreibende wirk­ same Nachfrage durch Preiskontrolle, Investitions-Kontrolle, Lohnkon­ trolle oder, seitens der Gewerkschaft, Verantwortlichkeit bei Lohnver­ trägen verhindert wird; der zweite Typ ist der, wo derselbe Grad der Beschäftigung durch reduzierte Nachfrage erreichbar ist, die dann durch besondere lokale oder marginale Maßnahmen ergänzt werden muß — um der Vollbeschäftigung willen. Im letzteren Falle würde also Kauf­ kraft weggepumpt werden, mit der Wirkung, daß der Spiegel der Nach­ frage sinkt und Inseln von Arbeitslosigkeit erscheinen, die man nicht neu überfluten darf dadurch, daß man wiederum den Nachfragespiegel hebt, sondern dadurch, daß man sie wegschafft. Die Alternative zur Vollbeschäftigung bei unterdrückter Inflation (with all its muddle, dis­ tortions and bureaucracy) ist nicht das Ziel, die Vollbeschäftigung auf­ zuheben, sondern andere Methoden dafür zu finden8. 8 „If the trade unions attempt to assume the responsibility for maintaining economic stability by abstaining from wage increases in such inflationary

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Das Verfahren, Vollbeschäftigung durch Verstärkung der effektiven Nachfrage stärker anlaufen zu lassen als das Warenangebot ist, bedeu­ tet, daß Vollbeschäftigung zu hohen Profiten, zu starker Nachfrage nach Arbeitskräften und daher zu ,wage drift' führt. Genau das ist die Poli­ tik, die nach Rehn in Schweden, England und anderen Ländern verfolgt wird, wo die Regierungen entweder die Lohnlinie einführen oder eine restriktive Lohnpolitik betreiben, um die Produktion der Gesamtnach­ frage anzupassen. Wenn eine anti-inflatorische Politik erfolgreich ist, würde das Sparen so steigen, daß die Kontrolle von Kapitalanlagen vermieden werden könnte. Der Akzent liegt auf dem Anwachsen des Sparens, wenn das Geichgewicht zwischen Produktion und effektiver Nachfrage gewahrt werden soll9. Im allgemeinen ist die zuverlässige Quelle des Sparens in den nichtverteilten Kapitalgewinnen zu suchen; mit anderen Worten, die Gewerkschaften müssen die Kapitalgewinne auf genügender Höhe belassen, damit die Unternehmer in der Lage und geneigt sind, das für die Neuanlage nötige Kapital aus den Rücklagen zu bilden. Rehn findet, man könne das den Gewerkschaften nicht zumuten; es hieße etwas Un­ vernünftiges von ihnen zu verlangen. Sie haben diese unnatürliche Politik, hohe Profite nicht durch hohe Löhne anzugreifen, während und nach dem Kriege erlaubt; niemand kann erwarten, daß sie es jetzt tun. Rehn wendet sich dann zur Frage der Lohndifferenziale. Einiger­ maßen vernünftig niedere Profite sind keine genügenden Bedingungen für vernünftige Lohnforderungen. Wenn der Staat Vollbeschäftigung um jeden Preis haben will, dann können Gruppen von Arbeitern Forde­ rungen stellen, die gewisse Sektoren von Industrien stillegen; die dort anfallende Arbeitslosigkeit wird dann zur Verantwortung des Staates10. Rehn plädiert für interindustrielle Lohnangleichungen; die bestehende Lohnpolitik nach Sektoren führe dazu, daß Gebiete schlechterer Löhne Aufbesserungen verlangen nach Maßgabe der höheren Löhne; diese wiederum treiben ihre eigenen Forderungen hinauf, weil an andere Zu­ geständnisse gemacht worden sind. Bei Vollbeschäftigung haben beide Forderungen Chancen des Erfolges für sich, und so mögen die Gewerk­ schaften geradezu ein spontaner Faktor der Inflation werden, selbst wenn der Arbeitsmarkt nicht übermäßig versteift ist. Man kann den

situations, they will not succeed for any longer period and they would very soon appear to their members to be meaningless organisations. Only if there is no overtension of the labor market can the trade unions conceivably adjust their wage demands to current economic conditions“ (1. c. S. 36). 9 „If the large masses of the people, the wage earners, generated this saving, all would be well, but this is rather improbable“ (1. c. S. 37). 10 „In a full-employment society it becomes unnecessary for every trade union to have regard to the financial stress of these employees. Every union can draft a wage policy without concern for the profitability of the work done“ (1. c. S. 39).

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Druck auf Lohnangleichung, der unvermeidlich ist, nicht durch Absen­ kung höherer Löhne herbeiführen; es kann sich vernünftigerweise nur darum handeln, die Lohnsteigerungen der anderen Lohngruppen im Maß zu halten. Eine Periode steigender Preise wird unvermeidlich bei Vollbeschäftigung; es ist dafür zu sorgen, daß ein annehmbares Ver­ hältnis zwischen den verschiedenen Lohngruppen besteht. Das ist aber nur durch eine neue Lohnstruktur zu erreichen. Rehn zielt auf eine zentral geplante Lohnpolitik, die bisher nicht bestanden hat, aber für die die Gewerkschaften mit Recht Verantwortlichkeit anzuerkennen haben. Der Zentralverband würde den einzelnen Nationalverbänden im höhe­ ren Lohnsektor die Auflage machen müssen, die Chance, die ihnen Vollbeschäftigung bietet, nicht zu mißbrauchen; derselbe Zentralver­ band müßte den Einzelgewerkschaften klar machen, daß die Staats­ garantie von Vollbeschäftigung nicht ohne ihre Bedingungen ist und nicht einschließt, daß der Staat die Folgen von Lohnerhöhungen für die Beschäftigung zu tragen immer willens ist. Kurz: es muß Solidarität in der Lohnpolitik herrschen. Damit hat Rehn die verwickelte Problematik gewerkschaftlicher Lohnpolitik im Zustande der Vollbeschäftigung und lohnpolitischer Autonomie der Einzelverbände klar unterstrichen. Sein Vorschlag der zentral dirigierten Lohnpolitik ist in einem späteren Zusammenhang zu behandeln. Für Rehn stand der gewerkschaftliche Aspekt der Verteilungspolitik im Vordergründe. Lindahl’s Ausführungen zielen auf die wirtschaftliche Problematik der schwedischen Gewerkschaftspolitik.

Eric Lindahl11 bemerkt, die Politik der seit 1932 herrschenden sozial­ demokratischen Partei ziele darauf, den Anteil der untern Einkommens­ gruppen möglichst zu heben, aber „im Rahmen der freien Unterneh­ mung und des Privateigentums“ (1. c. S. 12). Die Maßnahmen lassen sich in zwei Gruppen teilen. Zunächst einmal soll eine mehr gleichmäßige Verteilung des Einkommens gesichert werden; weiter soll das National­ einkommen durch Vollbeschäftigung und technische Verbesserung von Produktion und Handel gesteigert werden. Bezüglich des ersten Zwekkes bemerkt er, nach einer groben Schätzung betrage die Umvertei­ lung von hohen zu niederen Einkommen praktisch nicht mehr als 10 °/o; der Transfer sei mehr psychologischer als wirtschaftlicher Natur. Dabei sei aber der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit so sehr gemildert worden, daß die „sogenannte“ Ausbeutung der Arbeit durch das Kapital in Einzelfällen durch eine Ausbeutung des Kapitals durch die Arbeit 11 Swedish Experiences in Economic Planning. American Economic Asso­ ciation, Papers and Proceedings 1950,

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kompensiert wurde. „Da nun die Arbeiter und die niederen Einkom­ mensgruppen praktisch nichts mehr aus den kapitalbesitzenden Grup­ pen herausquetschen können, mußten sie die Folgerung ziehen, daß jede Verbesserung ihrer Einkommenslage vom Wachstum des nationalen Einkommens abhinge. Daher fühlen sie sich für die Steigerung des Anreizes zur Arbeit, für Sparen und für Investieren verantwortlich: ein Sachverhalt, der gleichzeitig eine definitive Begrenzung der Umver­ teilung einchließt12.“ 3. Zusammenwirken der Gruppen

In unserem Zusammenhang ist Lindahls Ansicht wichtig, daß indu­ zierte Preisbewegungen, verursacht durch eine Divergenz zwischen ge­ plantem Sparen und geplanten Investitionen, wie auch die autonomen Preisbewegungen, unter Kontrolle genommen werden müßten. Hier seine Feststellung: „In Schweden ist es politisch unmöglich, einem all­ gemeinen Anstieg der Löhne durch monetäre und fiskalische Mittel ent­ gegenzuwirken, die zu größerer Arbeitslosigkeit fühlen. Darum haben wir einen anderen Weg gewählt: den Weg der gegenseitigen Verständi­ gung zwischen den Verbänden von Arbeitern, Farmern und Arbeit­ gebern etc. auf der einen Seite, den Behörden auf der anderen. Jede Gruppe verspricht dabei, keinerlei Aktionen zu unternehmen, die die Stabilisierung der Kaufkraft während des nächsten Jahres gefährden, aber unter der Voraussetzung, daß die anderen Gruppen je sich ent­ sprechend verhalten und daß eine vernünftige Politik von den Behörden betrieben wird.“ Lindahl findet, die monetäre und Kreditpolitik Schwe­ dens in den Nachkriegs jähren sei nicht ideal gewesen; die inflationäre Lücke habe sich nicht geschlossen, trotz Preiskontrolle, Quotas usw., trotz der unterdrückten Inflation. Unter dem Druck der steigenden Nachfrage war der autonome Lohn- und Preisanstieg unvermeidbar. Persönlich ist er der Meinung, darin mehr Knut Wicksell folgend als der General Theory von Keynes, eine stärker restriktive Geld- und Steuerpolitik hätte der Lage besser gedient als die unterdrückte Infla­ tion. (Auf Schweden ist in anderm Zusammenhang zurückzukommen.) c) Leitlinien. Der Fall Großbritannien

Großbritannien setzte 1957 einen Rat für Preise, Produktivität und Einkommen (Council on Prices, Productivity and Incomes) ein, dessen jährliche Berichte wertvolle Analysen über Investitionen, Löhne und Preise veröffentlichten. Dabei wurde mehrfach festgestellt, daß die Löhne dem Produktivitätszuwachs davonlaufen, und zwar gelegentlich 12 1. c. S. 13.

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im Verhältnis von 2,5 :1. Daraufhin wurde 1963 eine Lohnpause ein­ gelegt, die zwar in einer Reihe von Fällen durchbrochen wurde, aber doch mäßigend wirkte, zumal die Regierung das Lohnverhalten der nationalisierten Industrien kontrollieren konnte; freilich nicht ohne auch hier unerwünschte Konzessionen machen zu müssen.

1. Die Nationale Einkommenskommission Da der Rat mehr oder weniger akademisch blieb, wurde im November 1962 die National Income Commission (NIC) eingesetzt: ihr obliegt es, Lohnforderungen in den privaten Industrien zu beurteilen, wenn die Tarifpartner sie der Kommission unterbreiten. Die Lohnverantwortung für die nationalisierten Industrien blieb bei der Regierung; wenn sie es verlangt, kann die Nationale Einkommenskommission auch Lohnverein­ barungen in der Privatindustrie, die nicht schon während der Lohnver­ handlungen ihr unterbreitet wurden, entscheiden. Weisungsgemäß soll die Einkommenskommission die Löhne nach Maßgabe des nationalen Interesses entscheiden; die Gesamtgeldeinkommen sollen gebunden blei­ ben an das langfristig projizierte Wachstum der Produktivität. Rück­ sicht ist auch zu nehmen auf die Nachfrage nach Arbeitern in den ver­ schiedenen Sektoren der Wirtschaft wie auf regionale Bedürfnisse, da­ mit eine optimale Nutzung aller wirtschaftlichen Hilfsquellen gesichert werde. Die Kommission soll ferner die Rückwirkung erwägen, die von einzelnen Lohnabkommen auf andere Industrien und Dienstleistungs­ gewerbe ausgehen könnten; gleichzeitig soll sie ein wachsames Auge auf die Bewegung der Kapitalgewinne werfen und die Regierung in­ formieren, wenn solche Gewinne sich gerade bei Zurückhaltung in Lohnforderungen ergeben. Der Kommission steht keine gesetzliche Macht zur Verfügung, ihre Entscheidungen zu erzwingen; sie kann nur mit Mahnungen zum Maßhalten operieren; man rechnete damit, daß die Veröffentlichung ihrer Entscheidungen einen gewissen Druck auf das Verhalten der Verbände ausüben werde.

2. Die Gewerkschaften versagen Mitarbeit Die Britische Einkommenskommission hatte von Anfang an mit dem Mißgeschick zu rechnen, daß die Gewerkschaften systematisch ihre Mit­ arbeit in jeder Hinsicht versagten und grundsätzlich erklärten, keine von den Ergebnissen und Empfehlungen der Kommission anzuerkennen — es sei denn, daß sie sich zufällig mit den Forderungen der Gewerk­ schaften deckten. Auch der spätere Versuch, Ende 1963, den national­ wirtschaftlichen Entwicklungsrat (National Economic Development Council — NED) mit einer gewissen Aufsicht über die Lohnentwicklung zu betrauen, schlug fehl, obschon diesem Rat die Gewerkschaften bei-

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traten. Damit war auch dieser Weg einer lohnpolitischen Aufsicht prak­ tisch verschlossen; er wurde nicht weiter verfolgt. Die Gewerkschaften bestanden darauf, daß die Kapitalgewinne und die Preise in das Schema der Einkommens- bzw. der Entwicklungskommission eingebaut werden sollten; nachdem sie damit nicht durchdrangen und vielleicht nach Lage der Dinge kaum hätten durchkommen können, blieb ihre Bewegungsfreiheit in Lohnfragen ungehemmt. 3. Die Kommission enttäuscht

Die Britische Einkommenskommission hat nicht den Erwartungen entsprochen, die man auf sie setzte. Sie hat z. B. für die schottischen Baugewerkschaften, für die Londoner Busfahrer, für den Maschinen­ bau, ferner für die Gewerkschaft der Postangestellten usw. Lohnsätze bewilligen müssen, die über der amtlich vorgeschlagenen Leitlinie lagen. Andere Verbände haben daraufhin entsprechend ihre Forde­ rungen erhöht. Es sei auf eine Anzahl von Aufsätzen im Economist ver­ wiesen13. Von grundsätzlicher Bedeutung ist der Artikel vom 14. Dezem­ ber 1963: How to save an Incomes Policy, Hier die Feststellung: „Wenn die Produktion sich um 4 °/o steigert, ist es wahrscheinlich, daß Lohnein­ kommen in den verarbeitenden Industrien vom Markte her automatisch um ungefähr 2 °/o anziehen wegen der Überstunden, wegen BonusZahlungen und freiwilligen Zuschlägen seitens der Firmen. In manchen Industrien steigen die Lohneinkommen autonomer Art weniger hoch; in anderen steigen die Wochenlöhne selbst auf kurze Sicht und ohne direkte Intervention der Gewerkschaften um mehr als zwei Prozent. Auf mittlere Sicht betrachtet mögen die automatischen Lohnsteigerun­ gen höher sein, weil Firmen, die Arbeiter anziehen oder halten wollen, sich gegenseitig mit Lohnangeboten überbieten. Wenn die Nachfrage nach Arbeitern sehr stark ist, kann der automatische Anzug der Löhne den nationalen Produktivitätszuwachs überschreiten. Wenn die Dinge so liegen, ist der Druck der Nachfrage entsprechend; es wäre sinnlos, die Gewerkschaften zur Mäßigung aufzufordern oder zu nötigen; Drosse­ lung der Nachfrage wäre dann die gebotene Politik“. Aber der Econo­ mist ist der Meinung, die Steigerung der Lohnsätze sei in der Haupt­ sache nicht die Folge der Nachfrage nach Arbeitern gewesen; der cost push der Gewerkschaften sei wohl die unbestreitbare Ursache. Die Nachfrage der Firmen gehe von einem Lohnspiegel aus, der schon durch den gewerkschaftlichen Tarif inflatiert wurde. Nicht als ob die Ge­ werkschaftsführer oder der Teil unter ihnen, der die Verbandspolitik 13 The Economist (30. November 1963); The Pause That Was Not. Ibidem: By Bus and By Rail (21. Dezember 1963). Weiter: Income Policy: Post Mortem (1. August 1964 S. 459).

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verteidigt, das verneinen würden. Aber sie seien nachdrücklich der Auffassung, daß ohne ihre jährlichen Lohnrunden die Jahreslohnein­ kommen hinter dem jährlichen Produktivitätszuwachs zurückblieben. Die Folge davon wäre eine unsoziale Verschiebung im Nationaleinkom­ men von den Löhnen zu den Kapitalgewinnen. Der Economist bezwei­ felt das Argument; der Wettbewerb und die Regierungspolitik würden kein derartiges Steigen der Kapitalgewinne erlauben. Die Logik der Leitlinien sieht man darin, daß die autonomen Lohnanstiege, bewirkt durch steigende Produktivität oder wachsende Nachfrage nach Arbei­ tern, das Gesamtarbeitseinkommen nicht über den nationalen Produk­ tivitätszuwachs hinausheben. Was in Wirklichkeit häufig vorkommt ist, daß die zentralen Lohnvereinbarungen sich an, oder in der Nähe der Rate des Produktivitätszuwachses hielten; damit setzen sie auf den autonomen Lohnauftrieb, der von der Nachfrage am Arbeitsmarkt her­ stammt, ein inflationäres Element. Das Heilmittel würde in einer Politik liegen, die der Kosteninflation an der Quelle auf den Leib rückt; gegenwärtig liege diese Quelle bei den nationalisierten Industrien, aber auch bei Privatunternehmen; hier also soll man Widerstand leisten. Aber gerade das geschehe aus politischen Erwägungen häufig nicht. Eine Leitlinie, wie sie das Britische Budget für 1964 vorsah (3—3,5 °/o), hat sich von politischen Gesichtspunkten leiten lassen; es sah aus wie die „lowest conceivable figure that might still save the country from inflation“14. Die günstigen Umstände, die zeitweise diese Erwartungen zu rechtfertigen schienen, hätten inzwischen an Wirksam­ keit eingebüßt; die Leitlinien für diese Löhne sind durch manche Lohn­ bewilligungen auf 4 °/o (das ist die Rate des Produktivitätszuwachses, mit der die National Economic Development Commission (NEDC) für 1964 rechnete) und über 4 °/o gestiegen. Für 1965 müsse man mit neuem Inflationsdruck rechnen, der auf den Kostendruck zurückzuführen sei.

4. Die Arbeiterpartei wird mit dem Problem konfrontiert

Nachdem die Britische Labour-Partei im Oktober 1964 zu einer wenn auch äußerst knappen Mehrheitsregierung kam, war die Frage der nationalen Einkommenspolitik verschärft lebendig geworden15, vor allem in Hinsicht auf die Schwäche des Pfund Sterling, deren äußer­ 14 Dann folgt der Satz: „If Britain did not have such a thing as annual national wage bargaining by so many confederations of unions, the most likely result in the last decade would have been that we could have had rising production, full employment and a slowly falling price level too.“ Dann folgt der resignierte Nachsatz: „Still, nobody has been suggesting, not even in the last year, that we should aim at any utopian policy“ (1. c. S. 1138). 15 New York Times, 22. November 1964: Laborites shape Wage Price Curb. Ferner: Economist, 14. November 1964: Wages Next.

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liches Anzeichen die Alternative zwischen Abwertung oder Erhöhung der Bankrate war16. Labours Vorwurf gegen die Nationale Einkommenskommission war der, sie sei einseitig auf Kontrolle der Löhne bedacht gewesen; nun sol­ len alle Einkommenszweige der Aufsicht der Kommission unterstehen. Die Arbeiterpartei hat gegenüber der früheren konservativen Partei den Vorteil, daß sie direkte Interessenverbindungen zum Trades Union Congress besitzt; das kann ein Vorteil sein, vorausgesetzt, daß der T. U. C. wirklich Einfluß auf die angeschlossenen Verbände, vor allem aber, durch die Verbände, auf die Betriebsräte (shop stewards) gewinnt. 5. Die Regierung bringt Gewerkschaften und Arbeitgeber in eine neue Kommission zusammen

Der Arbeitsminister erreichte gegen Ende 1964 eine Vereinbarung (Declaration of Intent)17 zwischen den Gewerkschaften und den Arbeit­ gebern; ihr folgte im Frühjahr 1965 die Einrichtung des Apparates, der die Einkommensentwicklung insgesamt unter Kontrolle zu nehmen hat. Daß dieses Übereinkommen in einem Augenblick zustande kam, wo die staatliche Schiedsstelle (Court of Inquiry) gewissen Kategorien von Eisenbahnern eine Lohnerhöhung von 9 °/o, also weit über die Leit­ linie hinaus, zusprach, war ein böses Omen; nicht minder ominös die Tatsache, daß eine Anzahl von Firmen schon durch Lohnabkommen und Arbeitszeitverkürzungen, vereinbart im Vorjahr, gebunden war. Diese Abkommen deckten einen weiten Sektor der Arbeiterschaft, ungefähr 6 Mill, in Maschinenbau, Kraft- und Gasmaschinen, Baugewerbe, Textil, Ackerbau und anderen mehr. Viele dieser Verpflichtungen liegen über der alten Leitlinie von ^Iz %, die (nach Diskont des Kapitalfaktors) einer Zuwachsrate von 4 °/o entsprechen soll. Jetzt, wo die britische Wirtschaft Gefahr läuft, anstatt eines 4 °/oigen Wachstums vielleicht nur 2 % erreichen zu können, wird der Abstand zwischen den begünstigten Sektoren des Arbeitsmarktes und den anderen, nicht so gut placierten, um so größer sein. Gleichgültig, was die neue Einkommenspolitik ver­ sucht, ob sie die bereits vorliegenden Tarifabkommen der neuen Ein­ kommenspolitik unterordnet oder ob sie den nichtprivilegierten Sektor 16 Am 23. November 1964 fiel die Entscheidung zugunsten der Erhöhung der Rate von 5 auf 7 °/o (im Juni 1965 reduziert auf 6 °/o); damit wurden die Kosten für andere als die Kredite der Zentralbank noch um 1 bis IV2 % ver­ teuert. Da die Labour-Regierung schon vorher höhere Pensionen für Witwen und andere soziale Maßnahmen als vordringlich bezeichnet hatte, war sie nun genötigt, sich dem Problem der Einkommenspolitik ernsthaft zuzu­ wenden. 17 Der Economist vom 19. Dezember 1964 bezeichnet dieses Abkommen als Treaty, damit andeuternd, daß es etwas von der Natur eines Vertrages zwi­ schen Großmächten an sich habe.

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an den privilegierten angleicht — sie hat sich zur ersten Alternative entschlossen —, sie visierte entweder verschärfte Kosteninflation oder höchst kritische Spannungen innerhalb der Gewerkschaften und der regierenden Partei. Wie der Economist (2. Januar 1965, S. 21) be­ merkt, war der Versuch der Labour-Regierung, eine Einkommenspolitik im Jahre 1950 durchzusetzen, daran gescheitert, daß die Gewerkschaften, deren Löhne nicht indexmäßig geregelt waren, sich weigerten, hinter denen zurückzubleiben, deren Löhne bei steigenden Kosten der Lebens­ haltung automatisch Zuschläge erfuhren. Nun stand die Labour-Party vor einer ähnlichen Situation, und zwar unter erheblich erschwerten wirtschaftlichen und politischen Umständen. Es ist für die Labour-Regierung nicht leicht, Lohnforderungen unter Kontrolle zu nehmen, weil sich die Gewerkschaften allzuoft damit recht­ fertigen können, daß viele Firmen Angst vor technischen Fortschritten haben und es vielfach vorziehen, den heimischen Markt zu versorgen, anstatt mühsam fremde Märkte zu gewinnen. Es gehört zur Verantwortung der Regierung — und das wird offen anerkannt —, darauf zu dringen, daß die technische Apparatur und die Geschäftspraxis vieler Firmen und Industrien modernisiert werden. Das setzt voraus, daß auch längst überfällige gewerkschaftliche Arbeits­ normen beseitigt werden. Damit wird manchmal der betreffende Be­ rufsverband selber seine Existenzberechtigung verlieren; man weiß, wie weit das britische Gewerkschaftswesen aufgesplittert ist und konser­ vativ an seinen herkömmlichen Gebilden und Verfahren hängt. Auch das Schrittmaß der Modernisierung umschließt Schwierigkeiten für die Gewerkschaften, weil es nicht überall gleichmäßig vor sich gehen kann; die wirtschaftlichen Voraussetzungen für gewerkschaftliche Erfolge sind also sehr verschieden gelagert. Wie, wenn die schrittweise vor sich gehende Modernisierung zur Häufung solcher Unterschiede gewerk­ schaftlicher Möglichkeiten und der Arbeitsbedingungen führt? Sollen die besser placierten Verbände auf ihre Chancen verzichten, weil die Labour-Regierung eine nationale Einkommenspolitik nach Maßgabe des durchschnittlichen Produktivitätszuwachses zu verfolgen die Absicht hat?

6. Von der Konsultation zum gesetzlichen Zwang? Mitte Februar 1965 erschien das Britische Weißbuch über den National Board for Prices and Income. Es bezog sich auf das Übereinkommen, das der Arbeitsminister zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerver­ bänden getroffen hatte. Die Regierung rechnete auf freiwillige Mit­ arbeit der beiden Partner; aber sie sah vor, daß Entscheidungen der Kommission dann zwingendes Recht sind, wenn das öffentliche Inter­ esse es verlangt. Die Arbeitgeber befürchten, daß der Ausschuß zäher in

IV. Kap.: Entwürfe z. Lösung d. pluralistischen Laissez-faire-Problems 159 Preisfragen als in Lohnfragen sein würde, wenn es zu gesetzlichen Zwang kommt; sie wissen von lange her, daß die Gewerkschaften grund­ sätzlich jede Reduktion einmal erreichter Tarife des Arbeitsvertrages ablehnen; ferner, daß sie jährlich steigende Löhne und verbesserte Arbeitsbedingungen erwarten. Die Regierung hat es sich vorbehalten, selber zu entscheiden, welche Preisaufschläge der Kommission zur Prü­ fung zu überweisen sind; wieviel Willen und Kraft wird sie haben, dasselbe bei den Lohnvereinbarungen zu tun? Immerhin ist es ein Fort­ schritt, daß die Kommission über schwebende wie über schon abge­ schlossene Lohnvereinbarungen befinden wird. Das hat aber seinen Haken darin, daß sie vor der Entscheidung eine mehr oder weniger gründliche Prüfung der Berechtigung von Forderungen vornehmen muß. Die Unterlagen für Preiserhöhungen sollen innerhalb von zwei bis drei Monaten, für Lohnerhöhungen „wenn möglich noch früher“ zur Verfügung stehen. Wenn ein Anspruch auf Lohnerhöhung seitens einer Schlüsselindustrie zur Entscheidung vorliegt, besteht die Gefahr, daß andere Ansprüche präjudiziert werden.

Der im Frühjahr 1965 veröffentlichte Aufriß des Verwaltungsappa ­ rates sieht reichlich bürokratisch und schwerfällig aus. Abgesehen davon hängt alles davon ab, mit wieviel Energie er unbilligen Ansprüchen ent­ gegentritt. Ein Musterfall, der wenig vertrauenserweckend war, lag bald vor.

Der Postminister fand es für richtig, den Angestellten der Post gleich eine Lohnerhöhung von 20 °/o zwischen Anfang 1964 und 1966 zuzubilli­ gen; nicht nur das, er bewilligte auch eine Minderung der wöchentlichen Arbeitszeit um zwei Stunden, was praktisch darauf hinausläuft, den meisten Postangestellten Zuschläge für Überzeit zu geben. Damit tat er genau das, was das vorher veröffentlichte Weißbuch der Labour-Regie­ rung stärkstens mißbilligte. Der Economist18 befürchtete, daß mit dieser Aktion des Postministers der Startschuß für eine Reihe anderer Indu­ strien und Gewerkschaften gesetzt sei, deren Verträge in absehbarer Zeit zur Verhandlung kommen. Darunter z. B. die Eisenbahnarbeiter, die erst kurz vorher eine Aufbesserung von 9°/o erhielten; die Lon­ doner Busfahrer, deren Forderungen einen fast ständig steigenden ,Lift‘ darstellen, und viele andere. Es wird befürchtet, daß mächtige Gewerkschaften, deren Mitglieder besonders gut bezahlt sind und die herkömmlich sich auf betriebsgebundene lokale Vereinbarungen stützen, jetzt das Muster setzen für Forderungen anderer Verbände. Die Stahl­ arbeiter und Bergleute meldeten sie schon laut an, mit der Begrün­ dung, bei ihnen lägen Sonderverhältnisse vor. Die Bergleute fanden die Sonderverhältnisse darin begründet, daß die Abwanderung von 18 24.—30. IV. 1965 S. 388.

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Bergarbeitern nur durch einen hohen Lohnanstieg im ganzen Bergbau aufgehalten werden könne — einschließlich jener Zechen, die längst hätten stillgelegt werden sollen. Die National Board of Prices and Incomes hat inzwischen seinen zweiten Bericht vorgelegt19. Er behandelt die Löhne im Druckereige­ werbe ausschließlich der Zeitungsgewerbe. Der Economist vergleicht die Arbeitgeber und Gewerkschaften mit zwei Schwergewichtskämpfern, die sich im Dunkeln im Schlamm herumwälzen; auf beiden Seiten herrscht völlige Unkenntnis über den Gegenstand des Streites. Wir­ kung: Die Leistung pro Arbeitsstunde ist ein wenig gestiegen, die Löhne haben scharf angezogen, die Gewinne sind gefallen, aber die Preise sind gestiegen. Der Board fühlt sich verpflichtet, hier zu helfen, findet es aber weise, alte Sünden nicht zu erörtern. Er läßt die schnell aufeinander folgenden inflatorischen Lohnerhöhungen seit 1962 ungerügt, verurteilt aber Indexlöhne und Verträge mit Abnehmern über Lohn-Preisklau­ seln. Das alles ist passe; die neuen Lohnforderungen beschäftigen ihn ausschließlich. Der neue Kollektivvertrag sieht 3,5 °/o Lohnerhöhung ab Mai 1965 und weitere 5 °/o (gebunden an den Lebenshaltungsindex) für Januar 1966 vor. Auf der Gewerkschaftsseite befürchtete man den Ver­ lust von Arbeitsplätzen und blieb daher mehr oder weniger bei den üblichen Verfahren, die Arbeit zu strecken; mit dem Erfolg, daß Ar­ beitslosigkeit in England „am Job existiert“, wie das ein amerikanischer Beobachter feststellte. Strukturelle Reformen auf der Gewerkschafts­ seite seien nötig, wie der Economist20 unterstreicht. Die Industrie leidet an Zersplitterung und an mangelnder Betriebsgröße. Dem Board wäre ein paritätisch besetzter Ausschuß für Arbeitskraft mit einem unab­ hängigen Vorsitzenden erwünscht; seine Aufgabe sol1 es sein, möglichst viele Statistiken und sonstige Informationen zu sammeln, auf deren Grundlage der Board die Entscheidung fassen könnte. Der Economist bemerkt ironisch, solche Kommissionen hätten die Neigung, sich zu multiplizieren; dasselbe gelte für Ausschüsse, die Tatsachen feststellen sollen. Die Zeitschrift schließt mit dem skeptischen Bemerken, der Be­ richt verstärke die Sorge, ob die Aufgabe, für die die Einkommenskom­ mission geschaffen wurde, überhaupt lösbar sei. Widerstand gegen die von der Labour-Regierung vorgesehene Na­ tionale Einkommenspolitik mit ihrer Rückwirkung auf die Politik der Gewerkschaften zeigte sich also schon bevor der Apparat in Gang ge­ setzt war. Cousins, Präsident der mächtigen Transportarbeitergewerk ­ schaft und Mitglied des Kabinetts, verlangte, die Regierung solle in Dingen der Lohnpolitik „realistisch“ sein; damit kennzeichnete er die Vorschläge des Weißbuches als unrealistisch. In den Gewerkschaften

19 Wages, Costs and Prices in the Printing Industry. London (Cmnd 2750). 20 Jones the Facts, 21. August 1965.

IV. Kap.: Entwürfe z. Lösung d. pluralistischen Laissez-faire-Problems 161 selber zeigte sich erhebliche Unruhe; man fragte, ob es nicht die Auf­ gabe des Gewerkschaftsführers sei, alles herauszuholen, was heraus­ geholt werden könne. Wenn er seinen Leuten mit Rücksicht auf natio­ nale Interessen Mäßigung zumutet, wirft man ihm vor, er sei bereit, sie zu verkaufen (selling out his men). Verglichen mit Arbeitern anderer entwickelter Länder fühlen sich die britischen Arbeiter unterbezahlt; wieso, fragt man, kann man uns zumuten, den Gürtel enger zu schnallen? Wenn die Regierung inflationäre Preise und Löhne wegen der Zah­ lungsbilanz unter Druck setzen will, was geht das den Mann im Betrieb an, der seine Familie mit einem Einkommen von DM 200 in der Woche ernähren muß? Wovon er noch Steuern zahlt! Solche Kritik deutet die Schwierigkeiten an, mit denen das Programm von Labour zu rech­ nen hat21.

7. Übergang zur nationalen Planung Ihrer Prägung durch die Fabisch-sozialistische Tradition entsprechend hatte die Arbeiterpartei in ihrem Wahlaufruf von 1964 ein Programm wirtschaftlicher Planung angekündigt, das, zusammen mit der Lohnund Preispolitik, das Kernstück eines neu aufzubau^nden Großbritan­ nien darstellen sollte. Ende September 1965 ist dann das Dokument über den nationalen Plan erschienen. (Für das Jahr 1966 ist ein Sonderplan beabsichtigt, dem dann eine Serie von Fünfjahresplänen folgen soll.) Es ist eine umfangreiche Studie von 494 Seiten, die eine Fülle wertvol­ ler Statistiken enthält und mit größter Sorgfalt alle Hemmungen und Hindernisse der britischen Wirtschaft nachweist und behandelt. Der Plan sieht einen Zuwachs des Sozialproduktes von 25 °/o bis zum Jahre 1970 als Ziel vor. Er will gleichzeitig in derselben Zeit das Budget für Verteidigung und Hilfe an unentwickelte Völker reduzieren, in der Ab­ sicht, die Einsparung für eine Ausdehnung der Regierungsausgaben um 29 °/o bis 1970 zu erreichen; darunter in der Hauptsache für Straßen­ bauten, öffentlichen Wohnbau, für die nationale Gesundheit, für Wohl­ fahrtszwecke und andere soziale Anforderungen. Man rechnet mit einer Umschichtung von 600 000 Arbeitern aus der Landwirtschaft, aus Berg­ bau, Transport, Flugzeugbau, Textilien und Schuhen in die stark wach­ senden Gebiete der Erziehung, des Maschinenbaus und der öffentlichen

21 New York Times, Economic Policies of Laborities Under Heavy Fire. 4. Mai 1965. Siehe vor allem: The Rot Spreads. (The Economist, June 5th 1965 S. 1135.) Dort der Hinweis, daß weitere Lohnerhöhungen erheblicher Art schnell durchgedrückt oder energisch erhoben wurden, ehe der Apparat der Kontrolle in Wirksamkeit trat. Der Druck dazu kommt aus den Be­ trieben; Gewerkschaftsführer wären im Geheimen dankbar, wenn die Re­ gierung diesen Forderungen gegenüber fest bliebe. Siehe ferner (ibidem) den kurzen Artikel: Enochy or Anarchy, der die wilden Betriebsstreiks und ihre soziologischen Untergründe behandelt. 11 Briefs

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und privaten Dienste. Selbst so noch sieht der Plan ein Defizit von 200 000 Arbeitern voraus, das nur durch wachsende Produktivität pro Kopf vermieden werden könne. Die Zuwachsrate wird mit 3,8 °/o ange­ nommen; gegenwärtig liegt sie bei ungefähr 3 °/o. Der Plan ist indikativ und entbehrt jeder zentralen Exekutive; keine neuen Planungsorgane sind vorgesehen, wie auch die bestehenden Räte für Nationalwirtschaftliche Entwicklung mit ihren Unterabteilungen (Neddys) und ebenso das Amt für Preise und Einkommen keinerlei exe­ kutive Gewalt besitzen. Die ,demokratische4 Version des Planes soll fortlaufend ihre Erfül­ lung dadurch finden, daß Regierung, Industrie und Gewerkschaften in gegenseitigem Einvernehmen vorgehen. Der Wirtschaftsminister er­ klärte, das sei der in keinem anderen Land vorhandene wirtschaftliche wie politische Ausdruck der Demokratie; eine wahre Partnerschaft zwi­ schen Regierung, Wirtschaft und Gewerkschaften werde so geschaffen. Allerdings hinge der Plan davon ab, daß herkömmliche Haltungen, Ver­ fahrensweisen und Traditionen der Verbände ihn nicht sabotieren. Ge­ waltige Wandlungen bei Industrie und Gewerkschaften seien nötig; keine Gruppe solle glauben, die anderen sollten sich bessern, während sie selbst die alte bliebe. Der Minister sah in Lohn- und Preispolitik den Schlüssel für den Erfolg des Planes und für das Wachstum der Pro­ duktivität; vor allem müsse die inflatorische Spirale zwischen Löhnen und Preisen gebrochen werden. Es ist das Merkwürdige an diesem als Nationalplan veröffentlichten Dokument, daß es weder ein richtiger Plan noch eine fundierte Prognose der Zukunft, noch ein Wegweiser in die Zukunft ist. Im Grunde bleibt der Erfolg des Planes der Kräftekonstellation der Verbände und der Regierung überlassen, wobei man auf den „demokratischen“ Konsenz und auf die Informationen der (ohnehin unzureichend funktionierenden) Organe der National Economic Development Commission sich verläßt. Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung22 bemerkt, ist der Plan im Hinblick auf die Mentalität der Auslandsgläubiger nicht nur wiederholt aufgeschoben, sondern auch stark liberalisiert worden. Das Schwer­ gewicht liege nicht auf dem, was die Wirtschaft für die Regierung tun solle, sondern umgekehrt. Der Economist (18. September 1965) drückt seine Skepsis dem Plan gegenüber schon in der Überschrift aus: „Natio­ nal Platitudes“: wertvolle Informationen tauchen „aus einer weiten, grauen See von Platitüden auf“. Dieselbe Zeitschrift findet mancherlei am Plan zu tadeln. Der Plan litt von vornherein daran, daß niemand genau wußte, welchem von zwei Zwecken er dienen solle: ist er eine Fanfare, das Land für die Möglichkeiten des wirtschaftlichen Wachstums

22 F. A. Z. 4. Oktober 1965: Von links nach rechts. Englands Wirtschafts­ plan, Expansion gefordert, Restriktion verordnet.

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wach zu machen und das zu tun, was die Sachlage erfordert, oder ist er in der Hauptsache eine statistische Blaupause für das, was sich für ver­ schiedene wirtschaftliche Zahlenverhältnisse ergäbe, wenn das vorge­ schlagene Wachstum erreicht wird? Als eine Fanfare für wirtschaftliche Reform findet der Economist den Plan ungefähr so radikal wie eine aus dem Wasser gezogene Henne. Auch die mehr technische Seite des Planprogramms findet erhebliche Kritik, insbesondere insofern, als der Plan auf einer Menge von Fragebogen basiert, die von Wirtschaftsver­ bänden auszufüllen waren; sie sollen angeben, mit welchem Wachstum sie bis 1970 rechneten: an Produktivität, Ausfuhr, Arbeitsangebot und Investierung. Der einzige Richtpunkt, den die Regierung dafür gab, war die Eröffnung, das durchschnittliche jährliche Wachstum des Sozialpro­ duktes würde sich auf 3,8 °/o belaufen, wenn alles sich der Annahme entsprechend entwickle. Dabei ist das Wachstum des Exports mit 5,25 °/o pro Jahr angenommen; hier liegt das Schwungrad des ganzen Planes, der im übrigen keine positive Anregung gibt, wie das Ziel erreicht wer­ den soll. Es ist hier nicht der Ort, die äußerst sachverständige Kritik des Economist im einzelnen zu behandeln, noch zu unterstreichen, daß der Plan keinerlei Anreiz für Neuinvestitionen und für bedeutsame Innova­ tionen bietet. Die Vermutung wird ausgesprochen, daß jede neue Ermu­ tigung zu Investitionen in den Verarbeitungsindustrien die auswärtigen Gläubiger von Sterling-Guthaben in Panik versetzen würde. Schließlich summiert der Economist sein Urteil: Die rauhe Wahrheit über diesen Plan ist, daß er an drei Fehlern leidet: er ist nicht radikal genug in seinen Schätzungen, nicht in seinen Zielen, und er kommt im falschen Moment — zu einer Zeit, wo die Regierung in der Besorgnis für das Pfund Sterling und wegen der schwachen Mehrheit im Parla­ ment nicht das tun kann, was sie gerne möchte. Sie spricht von Wachs­ tum und von großen sozialen Reformen, aber sie wagt es nicht einmal, auf „weißem Papier“ darzulegen, wie sie das durchführen will23. So hat die Arbeiterregierung heute Verantwortung, aber ohne Macht, und das schlägt zurück auf dieses Plankonzept, das als das Kernstück ihrer Strategie gepriesen wurde. Auch Times24 verhielt sich äußerst kritisch. Die nationale Einkom­ menspolitik, ein integraler Teil der Regierungsstrategie, sei bis jetzt nicht recht zum Zuge gekommen; politisch aber sei die Veröffentlichung des Planes ein geschickter Schachzug zu einer Zeit, wo das Planen wie­ der en vogue sei. Mag der Plan eine „umständliche Übung des gesunden Menschenverstandes“ sein, aber seine Schwächen werden sich bald zei­ gen. Was uns vorliegt, ist ein Papierplan, ein mehr rhetorisches Bild, aber man weiß, daß solche Rhetorik verwundbar ist. 23 .. not with all those foreign bankers looking on“. 1. c. S. 1073. 24 Labour's Phase Two Opens. 1. Oktober 1965. S. 11. ii*

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Wenige Tage vor dem Beginn des Britischen Gewerkschaftskongresses (Anfang September 1965) veröffentlichte der Economist (4. Sept. 1965) einen schon im Titel seine Skepsis andeutenden Aufsatz Who will change the trade unions. Der einleitende Satz lautet: The situation in the British trade union movement is normal; the long crisis remains at its height. Der Autor des Aufsatzes spricht von drei Funktionen des Gewerkschaftsbundes; der Bund bietet zunächst Jahr für Jahr ein Schauspiel schlechter Publizität für die Arbeiterpartei; ferner bringt er jährlich eine Anzahl von Delegierten zusammen, von denen erwartet wird, daß sie die nationale Einkommenspolitik unterstützen. Im April billigten die meisten Gewerkschaftsvertreter diese Politik und ver­ dammten den Widerspruch einer großen Gewerkschaft (General Wor­ kers Union); aber das wirkliche Verhalten der meisten Gewerkschaften seitdem habe ihren Applaus als pure Heuchelei erwiesen. Jetzt droht gesetzliche Kontrolle; was wird man tun? Wird man wieder leisetreten, Schritt für Schritt nirgendwohin gehen? Wird man auf gesetzliche Lohn­ kontrolle mit dem Generalstreik antworten? Das ist unwahrscheinlich; es fehlt das Geld, und man möchte auch die Arbeiterpartei nicht in Ver­ legenheit bringen. Vielleicht sollte man die Unannehmlichkeit der ge­ setzlichen Regelung einer kommenden konservativen Regierung über­ lassen? Das wird verworfen; wenn die Arbeiterregierung einmal tapfer entschieden hat, Kontrolle sei nötig, dann muß sie sie selber durchsetzen. Die dritte Aufgabe des Gewerkschaftsbundes sei, sich im vollen Licht der Öffentlichkeit als den great estate of the realm zu zeigen; aber diese Funktion wird nur mit äußerster Unwirksamkeit erfüllt. Seit langem schwebt die Frage der Reform des Britischen Gewerkschaftswesens; das Ergebnis bisher ist, daß diese Reform von innen nicht möglich ist; der Gesetzgeber muß eingreifen. Und nun entwirft der Economist die drin­ gendste Aufgabe der Gesetzgebung: Die privilegierte Stellung, die das Gesetz von 1906 den Gewerkschaften gibt, sollte nur jenen Gewerkschaf­ ten gewährt werden, die nach den Regeln und Normen sich verhalten, welche von einem amtlichen Registrar den Gewerkschaften vorgeschrie­ ben werden; also etwa Regeln zum Schutze der persönlichen Freiheit, auch eine Abkühlungsperiode nach amerikanischem Muster bevor ein Streik ausgerufen werden kann; oder geheime Abstimmung vor Streiks. Es sei zu erwägen, ob nicht der Registrar berechtigt sein soll, nur eine Gewerkschaft in einem Unternehmen oder einer Industrie anzuerken­ nen und unter dem Gewerkschaftsgesetz zu registrieren — womit die unglaubliche Konfusion und die Schwierigkeiten vermieden würden, die aus der Vielzahl von verhandelnden Verbänden bei Unternehmungen sich ergeben. Viele wilde Streiks und Kontraktbrüche würden so aus der Welt geschafft. Schließlich könnten wilde Streiks auch dadurch ver­ hütet werden, daß man die Arbeitswilligen — im Jargon der angel­

IV. Kap.: Entwürfe z. Lösung d. pluralistischen Laissez-faire-Problems 165 sächsischen Gewerkschaften scabs genannt — wieder „respektabel“ mache, so daß es nicht mehr vorkommen kann, daß Tausende von Ar­ beitern Arbeitszeit und Löhne verlieren, bloß weil aus kleinen Anlässen irgendwo ganze Betriebe stillgelegt werden. Dieser Aufsatz war ein bemerksenwertes Präludium zum Gewerk­ schaftskongreß des Jahres 1965. Die Zuspitzung der äußerst schwierigen Lage im Spätsommer veranlaßte die Arbeiterregierung, den Gewerk­ schaften die Alternative zu stellen, entweder ihr Haus selbst in Ord­ nung zu bringen oder es durch sie in Ordnung bringen zu lassen. Eine gesetzliche Regelung stand zur Erwägung, der zufolge jede Preis- oder Lohnerhöhung vom Nationalen Ausschuß für Preise und Einkommen geprüft würde; falls die Forderung nicht mit dem nationalen Interesse übereinstimmte, würde sie ungesetzlich sein. Der Vorsitzende des Ge­ werkschaftsbundes war vom Premierminister empfangen und auf die Lage Englands mit großem Ernst hingewiesen worden: Preise und Ein­ kommen steigen andauernd, sogar jetzt noch mehr als früher, als es keine Nationale Einkommenskommission gab; und sie steigen heute sogar in kürzeren Zeiträumen. Die Gewerkschaften müßten sich ent­ schließen, selbst ihren Forderungen die Zügel anzulegen, wenn sie ver­ meiden wollten, daß die Regierung sie am Zügel nehme. Die Regierung verlangte einen Monat Zeit für die Prüfung von Forderungen und zwei weitere Monate, wenn die betreffenden höheren Preise oder Löhne dem Ausschuß zur Entscheidung überwiesen würden25. Der Gewerkschaftsbund witterte Gefahr in der gesetzlichen Kontrolle der Löhne. Sie mußte, wenn irgend möglich, vermieden werden. Der Präsident des Gewerkschaftsbundes, Mr. George Woodcock, erklärte den versammelten Delegierten: Wenn Ihr gegen die gesetzliche Rege­ lung seid, müßt Ihr Entschlüsse fassen, die es der Regierung erlauben, von gesetzlichen Maßnahmen abzusehen. Euer Beschluß muß ein ge­ waltig starker Ersatz für das sein, was andernfalls verordnet wird. Freiwillig sollen die dem Gewerkschaftsbund angeschlossenen Verbände Löhne und Lohnnebenbedingungen derart mäßigen und dem Gewerk­ schaftsbund zur Vorkontrolle und Begutachtung vorlegen, daß gesetzliche Normen sich erübrigen. Wenn die Regierung bis Dezember 1965 oder Januar 1966 feststellt, daß solche Garantie nicht gegeben ist, dann wird die gesetzliche Regelung unvermeidlich. Die Alternative würde sein, daß die Gewerkschaften verantwortlich wären für das zurückbleibende Sozialprodukt und für wachsende Ungerechtigkeit zwischen den ver­ schiedenen Verbänden innerhalb des Gewerkschaftsbundes selber. Wie zu erwarten war, ergab sich eine äußerst lebhafte Debatte; ver­ ständlich, weil es sich für die einzelnen Verbände darum handelte, ihre 25 Times vom 9. September 1965: T.U.C.: Mr. Woodcock Warns Unions on Pay and Prices Control.

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Tarifhoheit zurückzuschneiden. Wie ein Delegierter es ausdrückte: Diese Einkommenspolitik ist eine Frage des in for a penny in for a pound (man reicht den Finger und verliert die Hand); es habe angefangen mit dem Abkommen von Dezember 1964 (Declaration of Intent), aber nur Narren könnten glauben, das sei genug. Seine Gewerkschaft sei nicht willens, nun, nachdem sie der Arbeiterregierung zur Macht verhülfen habe, etwas zu versprechen, was nicht im besten Interesse der Mitglie­ der liege. Mag sein, sagte er, daß die Regierung in Schwierigkeiten ist; aber sie soll anerkennen, daß Gewerkschaftsführer Verpflichtungen gegen ihre Mitglieder hätten; sie würden nicht dafür bezahlt, Lohn­ erhöhungen aufzuschieben oder einzufrieren oder den Lebensstandard zu senken. Wenn die Delegierten das vorgelegte Dokument anerkennen, das ja praktisch die Verfassung der Verbände in den Papierkorb werfe, dann hätten die Verbandsleiter immer noch ihren Mitgliedern Rede und Antwort zu stehen. Andere Delegierte erklärten, sie seien zwar von der Notwendigkeit der Nationalen Einkommenspolitik überzeugt, aber was ihnen nun ab­ verlangt werde, gehe gegen das Interesse ihrer Mitglieder. Das Land sei krank nicht wegen der hohen Löhne, sondern wegen der hohen Preise, vor allem aber wegen der militärischen Aufwendungen. Der letztere Punkt wurde mehrfach betont, so von einem Delegierten der Gewerkschaft Chemie und einem des Vereinigten Verbandes der Kessel­ macher, Schiffsbauer usw. Wenn der Arbeitsminister bei Beginn des Gewerkschaftskongresses sagte, das Land lebe über seine Mittel, so gelte das vor allem für die Rüstungsaufwendungen. Andere Delegierte verlangten, man müsse den Gewerkschaften mehr Zeit lassen, die Sache zu überlegen; was die Regierung ursprünglich an verbesserten Lebens­ bedingungen und Sozialaufwendungen versprochen habe, verwandle sich nun schleunigst in ein Programm lohnpolitischer Beschränkungen; schon jetzt, unter der freiwilligen Mitarbeit mit dem Ausschuß für Na­ tionale Einkommenspolitik, gebe es lange Wartezeiten, bis man eine Entscheidung in Lohnfragen erhalte. Der Sprecher fügte hinzu, all das reize die Arbeiter, sich durch wilde Streiks jene Vorteile zu verschaffen, die die Gewerkschaften nicht einmal auf langen Umwegen beim Sie­ bungsverfahren durch den Einkommensausschuß erreichen könnten. Genug der Einzelheiten. Das Ergebnis der Abstimmung war fol­ gendes: Für Nationale Einkommenspolitik 6,13 Mill. Stimmen (vertreten durch Delegierte), dagegen 2,2 Mill. Stimmen. Zugunsten des Regie­ rungsvorschlages 5,25 Mill. Stimmen, dagegen 3,13 Mill. Stimmen (dar­ unter einige sehr starke Verbände). Bemerkenswert war die Klage, daß das Bild (image) der Gewerk­ schaften in der Öffentlichkeit stark gelitten habe, besonders unter den

IV. Kap.: Entwürfe z. Lösung d. pluralistischen Laissez-faire-Problems 167 jugendlichen Arbeitern, die übrigens auch eine erschreckende Unkennt­ nis über Wesen und Wirken der Gewerkschaften besäßen. Man müßte jüngere Leute in die Führung aufrücken lassen, damit das Bild der Gewerkschaft als ein „müder Karrengaul sich in das eines rassigen dreijährigen Renners“ verwandle. Times26 begrüßte die Beschlüsse des Kongresses als einen Wende­ punkt in der gewerkschaftlichen wie der nationalen Entwicklung. Sie sah in ihnen den Beginn einer zentralgewerkschaftlichen Lohnpolitik. Die Verbände hätten nun mit Mehrheit beschlossen, den Britischen Gewerkschaftsbund über schwebende Forderungen zu informieren, sie mit ihm, wenn so gewünscht, zu besprechen und keinesfalls Forderun­ gen voranzutreiben, die der T.U.C. nicht examiniert habe. Ist das ge­ schehen, so können sie ihre Forderungen den Firmen vorbringen; aber es wird von ihnen erwartet, daß sie die weiteren Gesichtspunkte des nationalen Interesses und die Rückwirkung ihrer Forderungen auf an­ dere Gewerkschaften im Auge behalten. Der Einfluß des Generalrates des T.U.C. ist zwar nur moralischer Natur, aber er hat großes Gewicht dadurch, daß im Hintergrund die Drohung gesetzlicher Kontrolle steht. Times registriert einige von den zahllosen Problemen, die nun auszu­ arbeiten sind. Was, wenn die Lohnforderungen sich gegenseitig von Verband zu Verband steigern? Was in Hinsicht auf Gewerkschaften (und es sind zahlreiche), die dem T.U.C. nicht angeschlossen sind? Wel­ cher Art werden die Beziehungen zwischen dem Gewerkschaftsbund, dem Wirtschafts- und Arbeitsministerium und dem Nationalen Ausschuß für Preise und Einkommen sein? Woher soll der T.U.C. ausreichende Infor­ mation über den Stand von Firmen und Industrien gewinnen, um sich ein vernünftiges Urteil zu bilden? Werden die wilden Streiks, die ohne­ hin grassieren, nun noch mehr an der Tagesordnung sein? Der Präsident des T.U.C. selber hat Zweifel ausgedrückt, ob die Ge­ werkschaften die Regierung zufriedenstellen könnten und also gesetz­ liche Kontrolle unterbleiben könne; aber er machte sich stark, dafür zu plädieren, daß, wenn Gesetzgebung kommen soll, sie für Preise und nicht für Löhne gelten solle. Ob der Gewerkschaftsbund durch seine Lohnpolitik die Zuwachsrate der Produktivität heben könne, sei zwei­ felhaft; der Vorschlag, die Rate zu heben und dadurch die Nationale Lohnpolitik überflüssig zu machen, wurde von dem Vorsitzenden einer der stärksten Gewerkschaften (General Workers Union) mit der Be­ merkung abgefertigt, der gewerkschaftliche Beitrag zur Produktivitäts­ verbesserung seit 1945 sei überhaupt nur ein Lippenbekenntnis ge­ wesen27.

26 9. September 1965. 27 Auch der Daily Telegraph (10. September 1965) hat schwere Bedenken, ob es weise wäre, dem Gewerkschaftsbund das Recht zum Einspruch gegen

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Mit ähnlichem Unbehagen wie der T.U.C., wenn auch aus anderen Gründen, hat der Bund der Britischen Industrie die Nationale Preisund Einkommenspolitik angenommen (Mitte September 1965). Seine Einwendungen waren dreifach: Das freiwillige System habe nicht ver­ sagt; die jetzt vorgelegten Vorschläge würden zu Ungerechtigkeiten führen; schließlich wäre das langsichtige Heilmittel für die schlechte Lage der britischen Wirtschaft das Wachstum der Produktivität, zu welcher aber die Vorschläge keinen Beitrag leisteten. Der Rat des Bun­ des beschloß, mit der Regierung zusammen eine dringende Studie zu unternehmen, um die Maßnahmen für freiwillige Erfüllung der Anfor­ derungen stabiler Preise zu finden. Das Hauptproblem für England sei der wirkungsvolle Einsatz der Arbeitskraft; würde das erreicht, dann würden fast alle anderen Schwierigkeiten verschwinden und das ganze Problem der Zahlungsbilanz sei gelöst. Würde es nicht erreicht, dann würden die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des Landes anwachsen; der britische Lebensstandard sei dann nicht aufrecht zu erhalten28. Schließlich hatte sich noch der politische Arm der Gewerkschaften mit dem Plan und der nationalen Einkommenspolitik zu befassen. Der Kongreß der Labour Party (Ende September 1965) hat die Re­ gierungserklärung zum Plan und zur Einkommenspolitik trotz des Widerspruchs von einigen starken Verbänden angenommen. In der Diskussion kamen die üblichen Argumente ausgiebig zur Sprache, so­ wohl diejenigen, die sich auf den Mangel sozialistischer Planung bezo­ gen, wie solche, die die Einschränkung der gewerkschaftlichen Tarif­ autonomie scharf verwarfen. Die Regierung veteidigte sich mit allem Nachdruck; insbesondere der Premierminister entfaltete das volle Maß seiner taktischen Begabung; hinter sich hatte er das Bewußtsein, gegen überlebte Traditionen auf der Gewerkschaftsseite das nationale Inter­ esse zu vertreten. Ob das Planprojekt in der Zukunft sich bewähren wird, ist im Augenblick nicht zu entscheiden. Wie die Dinge liegen, muß man eher damit rechnen, daß auch ihm die Gefahr von dem wahrschein­ lichen Scheitern der nationalen Einkommenspolitik droht, auf das die FAZ in dem erwähnten Aufsatz hinwies. Denselben Punkt machte der Economist in dem oben erwähnten Aufsatz; noch kritischer und begrün­ deter in: Report from Brighton29 (11. September 1965) — in der Tat ein Meisterstück sozio-politischer Analyse.

Lohnforderungen zu geben. Andererseits aber wolle man die Rolle des T.U.C. nicht sabotieren. Zur Zeit könne niemand mit Gewißheit sagen, ob der Ge­ werkschaftsbund die zureichende Information und die operativen Möglich­ keiten habe, als Sieb für Lohnforderungen derartig zu wirken, daß die Regierung von gesetzlichen Maßnahmen absehen könne. 28 Times 16. September 1965: Industrialists accept Warning Plan. 29 Eine große Sorge der Gewerkschaften wie der Industrie und der Regie­ rung sind die vielen wilden Streiks, zumal in der Automobilindustrie. Die Regierung hat nun Anfang Oktober 1965 einen obersten Schlichter im Ein­

IV. Kap.: Entwürfe z. Lösung d. pluralistischen Laissez-faire-Problems 169 Ihre bis Ende März 1966 hauchdünne Majorität nötigte die Regierung angesichts der Lage Englands, eine Fülle sozialer und wohlfahrtsstaat­ licher Programmpunkte beiseite zu lassen und praktisch sich einem Programm zu verpflichten, das auch die konservative Partei, wenn sie im Amte wäre, zu erfüllen gehabt hätte. Der linke und militant-soziali­ stische Flügel der Gewerkschaften fand sich in der Zwangslage, in wei­ tem Umfange mitzumachen, wenn Labour im Amte bleiben sollte. Was nicht verhütet werden konnte, war eine Anzahl von Lohnerhöhungen, die weit über der offiziellen Leitlinie lagen; einige von ihnen wurden noch schnell unter Dach gebracht, ehe der kritische Zeitpunkt gesetz­ licher Aktion zur Wahrung der Leitlinie fällig war. Die Androhung des Generalstreiks der Eisenbahngewerkschaften für den 14. Februar 1966 für weit überhöhte Forderungen wurde zum Prüfstein für die Labour­ regierung. Hätte der Streik in dieser führenden, nationalisierten Indu­ strie stattgefunden, in einer Industrie, die fortgesetzt Unterbilanz zeigt, dann wäre das Schicksal der Labourregierung besiegelt gewesen. Die Gewerkschaften hatten schon die Streikabstimmung vorgenommen; sie ergab aber nur eine kleine Mehrheit (12 gegen 11) für den Streik. Der Premierminister griff dann in letzter Stunde ein und zwar mit einer Technik, die sehr an die des Präsidenten Johnson erinnert, mit der Technik des come brother, let's all reason together. Kein Zweifel, Wil­ son hatte die Gewerkschaften in der Zange; doch sei nicht übersehen, daß der Preis 14 Mill. Dollar an Mehrlöhnen war. Immerhin: die Ge­ werkschaft hatte ein Lohnpaket von 65,25 Millionen Dollar verlangt! Feststellung verdient noch die Tatsache, daß sie sich nicht dazu verstan­ den hat, das britische Eisenbahnsystem durch Änderung obsoleter Ar­ beitsregeln effektiv zu machen. Der Herd des Übels also, nämlich verlustbringende Regeln und zum Teil veraltete Anlagen konfrontiert mit dauernd steigenden Löhnen, bleibt unberührt30.

The Economist (12. Februar 1966: Strike without a Policy?) bemerkt, die Regierung habe sich an den Rand des Generalstreiks heranmanöverieren lassen „mit der weißen Fahne gehißt von allen Masten“. Sie habe den Gewerkschaften eine Reihe von stets besseren Angeboten gemacht, „mit dem einzigen Ergebnis, daß diese nein sagten“, weil sie genau wußten oder zu wissen glaubten, daß weitere Konzessionen auf diese Weise zu gewinnen wären. Da sich zur selben Zeit die Bergleute mit neuen Forderungen meldeten, lag die Gefahr vor, daß die nationale

vernehmen mit Firmen und Gewerkschaften für die Automobilindustrie be­ stellt, der die vollen Rechte eines Untersuchungstribunals (Court of Inquiry) haben soll; er kann Zeugen vorladen und Urteile fällen. Damit hat die Re­ gierung den wild-streikenden Betriebsvertretungen eine „stiff dose of indu­ strial medicine“ verabreicht — unter dem Segen der Gewerkschaften! Sunday Times, London. 3. Oktober 1965, S. 1. 30 Sunday Star, Washington. 13. November 1966.

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Einkommenspolitik zum Scheitern verurteilt sei; um so mehr, als die Regierung den Termin von Neuwahlen erwog, die sie nur mit den Ge­ werkschaften gewinnen könnte31. Inzwischen haben die Neuwahlen (31. März 1966) stattgefunden; sie brachten Labour eine Majorität von 97 Sitzen. Nun hat die regierende Partei die Möglichkeit, die wirtschaftlichen Dinge in Ordnung zu brin­ gen, vor allem die Kostenstruktur auch von der Seite der Löhne her wettbewerbsfähig zu gestalten. Die Regierung unterbreitete dem Parla­ ment eine entsprechende Gesetzesvorlage. Es war vorauszusehen, daß der britische Gewerkschaftsbund weit überfordert war, als clearinghouse oder Kontrollstation für Lohn­ forderungen zu dienen. Ihm fehlte der Apparat, und die Autorität zu­ mal machtvollen Verbänden gegenüber, von denen einige, wie die Bergleute, einen militanten Linksflügel aufweisen. Es handelte sich im September 1965 darum, die Labour Party, in der kritischen Periode vor den Wahlen, nicht mit einem Gesetzesvorschlag in Verlegenheit zu bringen, der die Tarifautonomie der Verbände beschränken würde. Andererseits: die internationale Finanz hatte das Pfund mit gewaltigen Bereitschaftskrediten gerettet und damit der Labourregierung einen großen Dienst erwiesen — allerdings mit der mindestens moralischen

31 Die Bemerkung von Prof. Erhard (in seinem Vortrag vor der 24. Tagung der ASM, Mai 1965), nämlich daß das, was von den Gruppenvertretern an Forderungen an Regierung und Parlament herangetragen wird, mit dem nicht immer viel gemein hat, „was die Menschen im Innersten wollen“, fand im Frühjahr 1966 in Amerika eine unerwartete Bestätigung durch eine Um­ frage des als zuverlässig bekannten Institute of Public Opinion, Princeton, NJ. Ihre Ergebnisse lagen im kritischen Moment vor, wo die Regierung, ihrem Wahlversprechen folgend, dem Kongress die Aufhebung des Paragraphen 14 b des Taft-Hartley-Gesetzes vorlegte. Mit Recht konnte der Gewerkschaftsbund annehmen, daß der Kongress der Vorlage zustimmen würde; das Haus der Repräsentanten hatte, wenn auch mit schwacher Majorität, schon für die Aufhebung entschieden; und die Zustimmung des Senats schien sozusagen nur eine bloße Formalität. Aber die republikanische Partei, unterstützt von einer Anzahl demokratischer Senatoren, verhinderte durch geschäftsord­ nungsmäßige Taktik die Debatte über den Regierungsantrag; keine quali­ fizierte Mehrheit war für die Eröffnung der Debatte zu gewinnen. Audi das Weiße Haus zeigte keine Bereitschaft, Druck auszuüben. Der Regierungs­ antrag fiel also durch. Das Ergebnis der Umfrage mag dabei eine Rolle ge­ spielt haben. Es zeigte, daß 64 °/o der Befragten gegen die Aufhebung des Paragraphen 14 b waren, also gegen die Zwangsgewerkschaft; 14 % dafür; der Rest enthielt sich der Äußerung oder hatte keine Meinung. Für frei­ willige Mitgliedschaft in den Gewerkschaften ergab sich eine solide Mehr­ heit von 58 °/o bis zu 70 °/o, je nach Staaten. 35 °/o der befragten Gewerk­ schaftsmitglieder stimmten gegen die Zwangsgewerkschaft, waren aber für freiwillige Mitgliedschaft. 61 °/o (gegen 25 °/o) der Befragten sprachen sich gegen Tarifverträge aus, die bestimmen, daß alle Mitglieder der Belegschaft der betreffenden Gewerkschaft beizutreten hätten; widrigenfalls muß der Arbeitgeber sie entlassen. Die erwähnte Befragung, im Einklang mit der Stimmung der weitaus überwiegenden Mehrheit im Lande, die jeder Kan­ didat für den Kongreß selber feststellen konnte, brachte die Wende in dem fast 20jährigen Kampf um 14 b.

IV. Kap.: Entwürfe z. Lösung d. pluralistischen Laissez-faire-Problems 171 Auflage, daß die Regierung die Lohninflation unterdrücke. So mußte man noch vor den Wahlen zeigen, daß man diese Verpflichtung hono­ rierte. Die Regierung fand die Gleichung zwischen diesen beiden Ver­ bindlichkeiten einerseits im Termin der Vorlage des Gesetzes, kurz vor dem Wahltag, womit sie eine gefährliche Debatte im Parlament um­ ging; andererseits in den Bestimmungen des Gesetzes selber.

Der Economist (26. Februar 1966, S. 733) stellt kategorisch fest, Groß­ britannien hänge in den wichtigsten Aspekten der modernen Einkom­ menspolitik weit hinter andern Ländern zurück, „selbst hinter Ländern wie Schweden“. Die nationale Einkommenspolitik habe sich bei frem­ den Nationen besser bewährt, sei es wegen der Schwäche ihrer Ge­ werkschaften, sei es wegen der besseren Einsicht und überlegenen Führung der Gewerkschaften, sei es wegen der höheren Wachstumsrate, oder schließlich weil Gesetzgebung und Verwaltung den Gewerkschaf­ ten engere Grenzen zögen. Da Großbritannien in den erst erwähnten Hinsichten weit zurückhänge, bliebe nichts übrig als die Sanktion der Einkommenspolitik durch das Gesetz. Der zweite Abschnitt der Gesetzesvorlage betrifft das Verfahren für die Preis- und Einkommenskontrolle. Er wird nicht automatisch mit dem Inkrafttreten des Gesetzes verbindlich werden; erst eine besondere Order in Council, die, gebilligt vom Unterhaus und alle zwölf Monate erneuert, würde den Apparat des Gesetzes in Bewegung bringen. Es ist offensichtlich, daß diese Regelung durch den Instanzenzug mit dem Zeitfaktor spielt. Wenn Firmen oder Industrien sich mit ihren Gewerkschaften über Lohnzuschläge einig geworden sind, ist der Wirtschaftsminister davon zu verständigen. Innerhalb der Frist von 30 Tagen ruht die Lohnerhöhung. Wenn der Minister Veranlassung sieht, den vereinbarten Lohnsatz der Einkommenskommission zu über­ weisen, dann ruht sie für weitere drei Monate, oder bis zu dem Augen­ blick, wo die Entscheidung der Kommission gefallen ist. Da die Kom­ mission aber die Entscheidung nicht gesetzlich erzwingen kann, sind die Parteien nachher frei, die üblichen Kampfmittel anzuwenden. Für die Dauer der Stillhaltefrist ist jede Streikdrohung mit Geldstrafe zu be­ legen. Wenn sie unter Zustimmung oder Duldung oder durch Nach­ lässigkeit (neglect) auf Seiten der Verbände erfolgt, dann sind sie (und wohl auch ihre Funktionäre) strafbar. Die Umständlichkeit des Verfahrens hat ihren Grund in den Ein­ wendungen der Gewerkschaften gegen den ursprünglichen Entwurf. Der Economist (1. c. S. 773) sieht aber doch drei Fortschritte der Vor­ lage: 1. sie bietet den Prüfstein dafür, ob die gewerkschaftliche Mono­ polmacht Lohnerhöhungen nichtinflationärer Art inflationär zu über­ steigern in der Lage und willens ist. 2. Die vorgesehenen Wartefristen sind an sich schon geeignet, das Maß der Kosteninflation zu dämpfen.

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Allerdings könnten die Gewerkschaften dem ausweichen, indem sie das Zeitintervall zwischen kollektiven Vereinbarungen verkürzen. Es wäre dann Sache der Arbeitgeber, dagegen Widerstand zu leisten. 3. Nach­ dem der Abschnitt II des Gesetzes in Wirksamkeit getreten ist, würde die Einkommenskommission es wahrscheinlich mit den jährlichen Schlüssel-Lohnforderungen zu tun haben. Bis jetzt betrafen die Über­ weisungen an sie (mit Ausnahme des Abkommens mit den Eisenbahn­ gewerkschaften von 1965) nicht die üblichen Schrittmacher des jähr­ lichen Kostenanstiegs; es waren mehr Fälle, die von zuständigen (oder nicht so zuständigen) Kabinettsministern aus Rücksichten der day to day diplomacy an die Kommission geleitet wurden. Der erwähnte Artikel hält es für möglich, daß die Einheitlichkeit der nationalen Lohnund Preispolitik dadurch gestört werde, daß statt des Wirtschafts­ ministers verschiedene Ressortminister ein Überweisungsrecht rekla­ mieren könnten, und zwar unter dem Druck ihnen nahestehender Gewerkschaften; so z. B. der Minister für Brennstoffe Lohnerhöhungen für Bergarbeiter, der Verteidigungsminister Lohn- und Gehaltser­ höhungen für die bewaffnete Macht usw. Es gäbe dann keinen ein­ deutigen Ort der Verantwortung in Lohn- und Preisfragen; politische Interessen und Ressortzwecke würden keine klare Linie erlauben. Das für Preiserhöhungen vorgesehene Verfahren ist formal das gleiche wie das für die Löhne. Hier wieder waltet, mal ä propos, der Grundsatz der Parität. Was in der nationalen Lohnfrage fehlt, besteht schon für die Preisentwicklung in den Gesetzen gegen Monopole, über Markt- und Preismanipulierung (Restrictive Practices Act) und selbst im geltenden Recht der Gesellschaften. Abgesehen davon ist Wettbewerbs­ druck im Gütersektor unvergleichlich viel lebendiger als am Arbeits­ markt. Eine große Firma etwa der Seifenbranche ist außer Stande, Monopolpreise durchzuhalten; aber wo ist die Gewerkschaft der Kessel­ macher, die mit der andern Gewerkschaft der Kesselmacher in Wett­ bewerb steht? Die vorgesehene Regelung von Löhnen und Preisen hat keine direkte Einwirkung auf die „Arbeitslosigkeit an der Arbeitsstelle“, die ameri­ kanische Wirtschaftsberater britischer Firmen zu ihrem Erstaunen feststellten. Wie weit hier die regierende Partei durchzugreifen im­ stande ist, wieweit das Ministerium für technische Entwicklung die vielfach überalterte technische Ausrüstung von Firmen und Industrien und ihre wirtschaftliche Größendimension im Einklang mit der aus­ ländischen Konkurrenz bringen wird, bleibt abzuwarten.

Die nun auch in der Labour Party durchdringende Neigung, dem Gemeinsamen Markt beizutreten, könnte, wenn erfolgreich, von außen her jenen Druck auf rationelle Arbeitsmethoden und technische Ver­ besserungen ausüben, der von Seiten der nationalen Einkommenspoli­

IV. Kap.: Entwürfe z. Lösung d. pluralistischen Laissez-faire-Problems 173 tik schwerlich zu erreichen ist. Was aber, wenn der Beitritt zur EWG nicht erreichbar ist? Es liegt eine tragische Ironie darin, daß Labour mit einer Verantwortung belastet ist, die einer Tory-Regierung eher ent­ spräche, aber die doch, wie die Dinge liegen, auf Labour fällt und fast nur von Labour getragen werden kann.

Die im Mai 1966 angekündigte und inzwischen in Kraft getretene Lohnsummensteuer (selective employment tax) zielt dahin, Überangebot und Überbeschäftigung in den Dienstleistungsgewerben durch steuer­ liche Begünstigung den produktiven Sektoren zuzuleiten. Ein ganzer Rattenschwanz von schwierigen, sachlichen und technischen Fragen ist die Folge. Gibt es einen eindeutigen Gradmesser für Überbeschäfti­ gung? Soweit Horten von Arbeitskräften in produktiven Sektoren vor­ liegt, wie bemißt man dort Unterbeschäftigung? Und wer bemißt sie? Wieviel Ausnahmen wird man zugestehen, denen prompt andere For­ derungen von Ausnahmen folgen? Wieviele gewerkschaftliche und politische Interessen werden sich geschädigt fühlen und protestieren? Die abstrakten Begriffe von Dienstleistungs-versus-produktive Ge­ werbe verdecken ein weites Feld realer Differenzen. The Times (Many New Anomalies, 16. 6. 1966) hält dafür, dem am 15. 6. vorgelegten Gesetzentwurf fehlten klare Unterscheidungen; er führe geradezu ins Chaos; in wichtigen Hinsichten werde er zur Farce. Ähnlich kritisch The Economist (18.—24. 6. 1966). Die Lohnsummensteuer zielt auf eine strukturelle Anpassung am Arbeitsmarkt verschiedener Sektoren; sie gehört wesentlich — wie wir später sehen werden — zu den politischen Entscheidungen, die der Überwindung des laissez-faire-Pluralismus vorangehen müssen, wenn das wirtschaftliche Gemeinwohl verwirklicht werden soll. Eine weitere, der Möglichkeit nach einschneidende politische Ent­ scheidung hat die britische Regierung am 28. Juli 1966 getroffen. Dieses Mal handelte es sich um die dringende Frage, ob das Pfund, das wiederum schärfstem Druck ausgesetzt war, abgewertet oder auf der bestehenden Parität gehalten werden sollte. Unterstützt von dem Bankenkonsortium der Zehn und dem Währungsfond, aber auch stärkstens von Washington, entschied sich die Regierung für die Verteidi­ gung der alten Parität. Mit gewissem Recht bezeichnete der Economist (23. 7. 1966, S. 368) die Gesetzesvorlage, die primär die Währung ver­ teidigt, als A Bankers Budget.

Ein kurzes Weißbuch: Prices and Incomes Stability (CMND 3073) vom 29. Juli entwickelt das Programm der Regierung. Im ersten Ab­ schnitt findet sich der Satz, das Land benötige eine Atempause von zwölf Monaten, um das „excessive Anwachsen“ der Einkommen ins

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Gleichgewicht mit der Wachstumsrate der Produktivität zu bringen. Wie soll das geschehen? Mit dem Inkrafttreten des Gesetzes sollen alle Einkommen für sechs Monate eingefroren werden; für das folgende Halbjahr soll stärkste Zurückhaltung geübt werden. Nach Ablauf der zwölf Monate soll die Preis- und Einkommenskommission es unter­ nehmen, Preise und Einkommen mit der Produktivitätszunahme in Einklang zu halten. Geldstrafen bis zu 500 Pfund sind vorgesehen für Ausbrüche unberechtigter Art, sei es auf der Seite der Gewerkschaften, der Unternehmer und Arbeitgeber, oder selbst von Individuen. Wo besondere, im Weißbuch beschriebene Umstände vorliegen, darf Ein­ kommenserhöhung stattfinden. Wie die Einkommen, so sind auch die Preise eingefroren, wiederum abgesehen von besonderen Umständen, so z. B. bei Verteuerung ausländischer Rohstoffe und Hilfsmittel der Produktion. Im übrigen sollten die Unternehmungen, auch die nationa­ lisierten (die dazu freilich wenig Chancen haben), steigende Kosten in ihren Erträgen oder in technischen, kostensparenden Verbesserungen absorbieren. Wo das nicht möglich ist, unterliegen Preiszuschläge einer „rigorosen Untersuchung“ auf ihre Berechtigung hin durch die natio­ nale Preis- und Einkommenskommission. Wo Verträge über Lohn­ erhöhungen oder Arbeitsverkürzungen an oder nach dem 20. Juli vor­ liegen, oder wo Gleitlöhne für die Zeit zwischen dem 20. Juli 1966 und dem 30. Juni 1967 vereinbart wurden, ferner in zwei anderen Fällen, sollten diese Vereinbarungen für die Dauer des Lohnstops aufgescho­ ben werden. Zwar können neue Tarifverträge abgeschlossen werden, aber sie dürfen während der Stillhalteperiode nicht in Kraft treten. Parallel zu dieser Politik der Einkommens- und Preiskontrolle läuft die der Einsparung bei öffentlichen Haushalten, geschätzt für die ganze Laufzeit des Gesetzes auf 150 Mill. Pfund im Inland, im Ausland auf 100 Mill. Steuererhöhungen insbesondere auf dem Verbrauch, Er­ höhung der Anzahlung bei Abschlagskäufen und scharfe Reduktion der Devisen für Auslandsurlaube von 250 auf 50 Pfund: All das ist vor­ gesehen, die überhitzte Nachfrage zu drosseln. Die Einsparungen der Öffentlichen Hand, zusammen mit der Verminderung des privaten Verbrauchs, würden einen Deflationsfaktor von rund 600 Mill. Pfund ergeben — abgesehen noch von Multiplikatoreffekten. Die Lohnsum­ mensteuer, deren Erträge für das letzte Quartal 1966 mit 300 Mill. Pfund angesetzt sind, sollen erst im Frühjahr 1967 an die verarbeiten­ den Industrien (manufacturing industries) ausgezahlt werden; das wirkt zusätzlich als ein deflatierendes Moment, weil den Banken untersagt ist, Kredite für die Aufbringung dieser Steuer zu gewähren. Der Verband der Britischen Industrien hat erhebliche Bedenken und Vorbehalte gegen dieses Programm, insbesondere gegen die Rückwäl­

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zung von 365 seit dem 20. Juli erhöhten Preisen; aber im Ganzen hat er sich mit der Tatsache abgefunden, daß Preise, Gewinne usw. dem Stop unterliegen — eine Haltung, die um so eher verständlich ist, weil hier eine Arbeiter-Regierung den Gewerkschaften Vernunft beizubrin­ gen unternahm; und das wissen die Arbeitgeber sehr zu schätzen. Daß den Gewerkschaften das Gesetz wenig Zustimmung abgewann, ist be­ greiflich; dafür symptomatisch war der Rücktritt des Präsidenten der mächtigsten Gewerkschaft aus dem Kabinett Wilson; aber auch der öffentliche Protest von 49 und die Stimmenthaltung von 26 Labour­ abgeordneten bei der ersten Lesung der Regierungsvorlage. In Erwar­ tung des Protestes auf ihrer eigenen Seite hatte die Regierung ein be­ trächtliches Maß von Entgegenkommen und Kompromissen in die Ge­ setzesvorlage eingebaut: 1. indem sie auch Preise, Dividenden, Mieten u. a. in den Stop einbezog — ohne Rücksicht auf die wirtschaftlich sehr verschiedene Bedeutung des Preisstops verglichen mit dem Lohnstop. 2. indem sie dem Einkommensstop den Charakter der „Freiwilligkeit“ zusprach — eine sichtliche Konzession an gewerkschaftliche Eifersucht auf ihre Autonomie in Fragen der Arbeitsbedingungen; aber dafür wurde ihnen gleichzeitig Mitsprache in strittigen Fällen zugestanden. 3. indem sie die Geltung des Gesetzes auf ein Jahr beschränkte. Ver­ längerung ist ausgeschlossen. Wenn sich nach Ablauf des Jahres heraus­ stellen sollte, daß das Gesetz versagt hat, muß der parlamentarische Apparat für ein neues Gesetz aufgeboten werden. All das waren Zu­ geständnisse an den militanten Flügel in Partei und Gewerkschaften. Als Abschlagszahlung war ihnen schon die beschleunigte Wiederver­ staatlichung der Stahlindustrie versprochen worden. Bei der Eile, mit der die britische Regierung den Gesetzentwurf durch die parlamentarische Mühle jagt, wird die Kombination von Ent­ schlossenheit und Kompromissen, von Mut und Vorsicht, zur Schicksals­ frage für den Erfolg. Ob das Pfund mit den gewählten Methoden zu retten ist, wird im wesentlichen davon abhängen, ob der britische Kosten- und Preisspiegel in der Alternative von zu wenig und zu viel Deflation seinen Pegel findet. Bei zu viel oder zu wenig Deflation wird das Pfund, spätestens nach seiner mittelfristigen Deflation, d. h. nach den ersten sechs Monaten der Verbindlichkeit des Gesetzes, höchstwahr­ scheinlich wieder unter Druck kommen. Dasselbe würde sich ergeben, je näher der Termin des Ablaufes des Gesetzes im Juni 1967 heran­ kommt: zurückgestaute Forderungen an Löhnen und Preisen würden mit Wucht vordringen. Es fragt sich in Hinsicht auf den kritischen Termin auch, wieviel Kredit die Labourregierung, im Inland wie im Ausland, inzwischen möglicherweise eingebüßt haben könnte. Die Dinge wären aussichtsreicher, wenn das Gesetz (und seine Anwendung!) zu­ reichende Anreize zur technischen Modernisierung vieler Firmen und

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einiger Industrien geboten hätte, ebenso zur Konzentration überflüssig gestreuter Unternehmungen (und vieler Gewerkschaften). Auch ist es schwer zu sehen, wo sein Einfluß auf die Verbesserung der Ausfuhr liegt. Was diese Schwächen des Gesetzes potenziert, ist seine kurze Geltung; alle Interessen, die sich von ihm zu kurz gekommen glauben, schärfen ihre Munition für seinen Ablauf. An dem Punkte liegt wieder­ um die Gefahr für die Währung: extra et intra muros könnte sich die Spekulation für den Juni 1967 bereit machen. In seinem oben zitierten Artikel bezeichnet der Economist das Gesetz kurzer Hand als a misery, auf Deutsch: ein Elend; und die Begründung für dieses Urteil ist kaum verfehlt. Aber im selben Artikel anerkennt der Autor den „Mut“ der Labour-Regierung. Mut zu den Schwächen des Gesetzes ist sicher nicht gemeint; also zu was sonst? In unserer Terminologie: der Mut, die pluralistischen Mächte, wenigstens tentativ und mit Vorsicht, auf die Hörner zu nehmen, gleichzeitig den demo­ kratischen Prozeß, wiederum tentativ und vorsichtig, unter die legitime Autorität der für das Gemeinwohl verantwortlichen Regierung zu beu­ gen — auf die Gefahr hin, daß von den drei zeitgenössischen Erforder­ nissen des konkreten Gemeinwohls eines zu kurz kommt: Die Voll­ beschäftigung. Zugegeben wiederum, die Regierung gibt sich optimisti­ schen Erwartungen über das Maß der Arbeitslosigkeit hin, die aus der Deflation folgt; es mögen mehr als die angenommenen 1,5 bis 2 % sein; vielleicht weniger als 4 °/o, von denen der Economist spricht. Immerhin: ihr Programm rechnet mit einem Anwachsen der (ohnehin geringen) Arbeitslosigkeit — was im Einzelfalle für die betroffene Gewerkschaft und ihre Mitglieder (Bergbau!) schmerzlich genug sein wird. Es kann durchaus sein, ja es ist sogar wahrscheinlich, daß bei der pluralistischen Struktur der westlichen Gesellschaften und der Verzahnung pluralisti­ scher Mächte mit der politischen Willensbildung die drei Erfordernisse des konkreten Gemeinwohls heute nicht zusammen erfüllt werden können. Soll man Beispiele von anderswo zitieren, etwa von West­ deutschland, den Niederlanden, den USA oder Schweden? Gewiß, es gibt da Varianten, aber sie berühren nicht die Kernfrage. d) Leitlinien. Der Fall der Vereinigten Staaten Die Vereinigten Staaten haben seit 1958 Leitlinien für die Lohnent­ wicklung aufgestellt, nach denen die Tarifpartner sich verhalten sollen. Die Leitlinien zielen auf Lohnbewegungen im Gleichtakt mit dem Zu­ wachs der Gesamtproduktivität. Der erste Vorschlag solcher Leitlinien findet sich im Wirtschaftsbericht des Präsidenten vom Jahre 1958; Löhne und Preise sollten Rücksicht auf die Stabilität der Währung und

IV. Kap.: Entwürfe z. Lösung d. pluralistischen Laissez-faire-Problems 177 des Gesamtpreisspiegels nehmen. Der Bericht des Präsidenten vom Jahre 1962 erläuterte die Politik der Richtlinien für nicht-inflationäre Lohnverhandlungen und Preise: wenn Stundenlöhne weniger anwach­ sen als die Produktivität, dann wird der Anteil der Kapitalgewinne wachsen oder Preise werden fallen, oder beides kann sich ergeben. Um­ gekehrt: wenn die Tariflöhne dem ProduktivitätsWachstum voraus­ laufen, dann wird die nationale Lohnquote steigen oder die Preise wer­ den steigen oder beides kann sich ergeben; aber: alle Stundenlöhne mögen entsprechend dem nationalen Produktivitätszuwachs steigen, ohne daß sich, aus diesem Grunde allein, der relative Anteil der Löhne und der Kapitalgewinne am Sozialprodukt verschiebt. Damit würde jede Art Einkommen stetig im absoluten Betrag wachsen und das Preis­ niveau könnte stabil bleiben. Wenn einzelne Industrien einen unver­ hältnismäßig hohen Zuwachs an Produktivität zeigen, dann sollte er sich nicht in steigenden Löhnen niederschlagen, sondern die Preise soll­ ten entsprechend nachgeben; wenn das umgekehrte Verhältnis vorliegt, sollten sie entsprechend steigen dürfen. Der Preisspiegel würde stabil bleiben, wenn die beiden Raten — die höhere und die niedere — des Produktivitätszuwachses sich ausgleichen. Allerdings sollte die Zu­ wachsrate an Produktivität nicht das einzige Kriterium für das Lohnund Preisverhalten sein; Lohnerhöhungen könnten erforderlich sein um das Arbeitsangebot entsprechend zu verteilen oder um ungewöhnlich niedere Löhne auszugleichen. Daher läßt der Bericht die Möglichkeit offen, Löhne über oder unter der Rate des Produktivitätszuwachses zu halten; so z. B. in Rücksicht auf die erwünschte Mobilität von Arbeitern oder dann, wenn Löhne für gleiche Arbeitsleistung unverhältnismäßig tiefer liegen als anderswo. Seit dem Report von 1964 wird die Leitlinie mit 3,2 % angesetzt. Die Ziffer war gemeint als allgemeine Orientierung, nicht als handliche Formel für Löhne und Preise. Was tatsächlich passierte, war, daß sie zur Formel wurde, weil Gewerkschaften, Arbeitgeber und öffentliche Meinung sich schwer durch die Kasuistik der vom Bericht des Beirates angenommenen Modifikationen durchfinden konnten. Auch Preise kön­ nen von der geltenden Bindung an den Produktivitätszuwachs abhän­ gen, so z. B., wenn eine Industrie oder Firma zu Zwecken ihrer Be­ triebserweiterung oder wegen steigender Materialkosten investiert. Der nächste Bericht des Präsidenten und seines wirtschaftswissen­ schaftlichen Beirates erschien im Januar 1965. Der Hochschwung der Wirtschaft war ein Aktivposten, den der Beirat verbuchen konnte, und den der Präsident mit großer Befriedigung in seiner Rede über den Stand der Nation (Januar 1965) vortrug. Natürlich konnten zwei nega­ tive Dinge nicht verheimlicht werden, einmal das laufende hohe Defizit in der Zahlungsbilanz, weiter die Besorgnis wegen steigender Löhne 12 Briefs

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und Preise und der Lagerbildung im Hinblick auf den drohenden Stahlstreik ab 1. Mai 1965. Die schon seit Monaten im Gange befindliche Lagerbildung würde, mit oder ohne Streik, später zu scharfen Pro­ duktionseinschränkungen führen und möglicherweise zu einem Herd verlangsamter Konjunktur werden. So liege in der Entwicklung der Lohnkosten ein Element der Ungewißheit; daher warnte der wirtschaft­ liche Beirat wiederum vor unerwünschten Kostenauftrieben und stellte die Lohn-Preislinie als „von aller wirtschaftlichen Logik gefolgert“ hin.

Dieser Bericht des Wirtschaftsbeirats hatte dieselben Leitlinien wie der frühere. Daß sie realistisch seien, ist schwer zu behaupten; insbe­ sondere ist kaum zu erwarten, daß Industrien mit unterdurchschnitt­ licher Zuwachsrate in der Lage sind, Preise zu steigern, weil in der Regel die geringere Zuwachsrate an Produktivität Ausdruck schwacher Nachfrage oder ungenügender Kapitalbildung, eventuell mangelnder Innovationen ist. Bei den Dienstleistungsgewerben, wo die Zuwachsrate im Ganzen geringer liegt als bei den anderen, muß man unterscheiden; soweit die Dienstleistungen im öffentlichen Sektor vorliegen, steht hier immer der Rückgriff auf den Staat zur Verfügung, der für seine Be­ amten zu sorgen hat, nicht nur für sie, sondern auch für nicht-beamtete Beschäftigte; und in aller Regel sorgt er für sie durch steigende Ein­ kommen. Ganz anders in Dienstleistungsgewerben des privaten Sektors; hier können Einkommen, die durch steigende Preise an Kaufkraft­ schwund leiden, nicht durch Rückgriff auf den Fiskus ausgeglichen wer­ den. Auch gewerkschaftliche Maßnahmen würden hier an die Grenze des Möglichen stoßen, mit der Wirkung, daß anderenfalls Erwerbslosig­ keit anfällt. 1. Augenschein der Preisstabilität

Der Präsident sprach von der Preisstabilität, die sich zwischen 1958 bis 1964 gezeigt habe; er bemerkte aber, daß die Nation auch im laufen­ den Jahre (1965) sich keine inflationären Auftriebe erlauben dürfe. Das Preisniveau hat in den letzten Jahren einen unerwarteten Grad von Stabilität gezeigt; die Preise sind in dieser Periode (Ausgangsbasis 1957/59 = 100) nur um 8 °/o gestiegen. Es ist beachtenswert, daß im Anstieg des Verbraucherindexes die Preise der verarbeitenden Indu­ strien (manufacturing industries) keinerlei Rolle gespielt haben; der Anstieg von 8 °/o des Verbraucherpreisindexes ist fast ganz den steigen­ den Kosten der Dienstleistungsgewerbe zuzurechnen, unverhältnis­ mäßig weniger den Nahrungsmittelpreisen. Dagegen sind die steigenden Kosten für gewisse Metalle, insbesondere der Nicht-Eisengruppe, im Preisindex zum Ausdruck gelangt. Der Großhandelsindex ist stabiler geblieben als der Verbraucherpreisindex. Zu einem erheblichen Teil ist

IV. Kap.: Entwürfe z. Lösung d. pluralistischen Laissez-faire-Problems 179 die Stabilität der Preise der Tatsache zu verdanken, daß die Wirtschaft in diesen letzten Jahren nicht auf vollen Touren lief, also daß die Pro­ duktionskapazität (Optimum geschätzt auf 92 °/o — mit starken Diffe­ renzen innerhalb industrieller Sektoren) nicht ausgenützt war. Die Re­ gierung wies mehrfach darauf hin, daß wegen des relativ hohen Grades der Erwerbslosigkeit und der ungenügenden Ausnutzung der Betriebs­ anlagen ihre Politik der Steuersenkung sinnvoll war, und daß von dort her die Nachfrage stark angeregt wurde. Jetzt aber, wo die Ausnutzung der Betriebsanlagen um 4 und mehr Prozent stärker als etwa vor drei Jahren sei, nähere man sich der Ausnutzung, die, wenn überschritten, zu steigenden Preisen mit der Folge wiederum steigender Gewinne und Löhne führen müßte — trotz einem Stand der Erwerbslosigkeit, der zwar etwas gesenkt, aber immer noch etwas über 4 °/o lag.

Ob die Politik der Leitlinien, insbesondere für Löhne, in Zukunft wirkungsvoller ist als in der Vergangenheit, ist fraglich. Maßgebende Vertreter des Gewerkschaftsbundes und von Einzelverbänden haben vor der Öffentlichkeit die amtlichen Leitlinien als unverbindlich abge­ lehnt. Im Baugewerbe wird sie — trotz eines gewissen Bestandes von Arbeitslosigkeit