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German Pages 329 [332] Year 2012
Péter Maitz (Hrsg.) Historische Sprachwissenschaft
Studia Linguistica Germanica
Herausgegeben von Christa Dürscheid Andreas Gardt Oskar Reichmann Stefan Sonderegger
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De Gruyter
Historische Sprachwissenschaft Erkenntnisinteressen, Grundlagenprobleme, Desiderate Herausgegeben von Péter Maitz
De Gruyter
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn
ISBN 978-3-11-027312-0 e-ISBN 978-3-11-027330-4 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalogue record for this book is available from the Library of Congress.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort
Der vorliegende Band enthält ausgewählte Beiträge eines Humboldt-Kollegs, das unter dem Titel Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? im September 2009 an der Universität Debrecen (Ungarn) veranstaltet wurde. Das Ziel des Kollegs war es, die erkenntnisleitenden Forschungsnormen der Historischen Sprachwissenschaft zu reflektieren und gemeinsam über Standort, Gegenwart und Zukunft des Faches nachzudenken. Ein weiteres wichtiges Anliegen der Veranstaltung war die kritische Auseinandersetzung mit der theoretischen und methodologischen Vielfalt der Historischen Sprachwissenschaft und mit der sich aus dieser Vielfalt ergebenden, sehr stark ausgeprägten Grundlageninstabilität des Faches. Die Absicht, durch die einzelnen Beiträge des Bandes diese Vielfalt der Disziplin abzubilden, erklärt nicht nur, warum die Beiträge zum Teil grundverschiedene und nicht selten unverträgliche sprachtheoretische und methodologische Positionen vertreten, sondern auch, warum auf eine redaktionelle Vereinheitlichung und gegenseitige inhaltliche Abstimmung der einzelnen Texte bewusst verzichtet wurde. An dieser Stelle sei der Alexander von Humboldt-Stiftung gedankt, ohne deren großzügige Unterstützung weder die Veranstaltung des Kollegs noch die Publikation dieses Sammelbandes möglich gewesen wäre. Dank gebührt darüber hinaus der Leitung der Universität Debrecen, die die Räumlichkeiten der Universität zur Verfügung gestellt hat sowie dem einstigen Ministerium für Bildung und Kultur der Republik Ungarn für die Übernahme eines Teils der Organisationskosten. Herzlich danke ich schließlich den Herausgebern der Reihe Studia Linguistica Germanica für die Aufnahme des Bandes in die Reihe sowie Claudia Greul (Graz/Pécs), Sebastian Bopp, ganz besonders aber Konstantin Niehaus und Simon Pickl (alle Augsburg) für die Übernahme eines Großteils der Lektorierungs- und Korrekturarbeiten. Münster, im Dezember 2011
Péter Maitz
Inhaltsverzeichnis
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Péter Maitz Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? Erkenntniswege und Profile einer scientific community im Wandel . . . . .
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Dieter Cherubim Verstehen wir den Sprachwandel richtig? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Jenŋ Kiss Sprachwandel: Ursachen und Wirkungen. Überlegungen zu einem alten Problemkreis der Sprachwissenschaft .
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Damaris Nübling Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie – am Beispiel der Phonologie, der Morphologie und der Pragmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Renata Szczepaniak Lautwandel verstehen. Vom Nutzen der Typologie von Silben- und Wortsprachen für die historische und die synchrone germanistische Linguistik . . . . .
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Anna Molnár Was Grammatikalisierungsforschung und Historische Grammatik einander zu sagen hätten. Eine Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . 105 Richard J. Watts Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? Eine neue Optik auf die Historische Linguistik . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
VIII
Paul Rössler Die Grenzen der Grenzen. Sprachgeschichtsperiodisierung zwischen Forschung und Lehre . . . . 153 Hiroyuki Takada ‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Eine sprachbewusstseinsgeschichtliche Annäherung an einen Schlüsselbegriff zwischen historischer Nähe- und Distanzsprache . . . 169 Stephan Elspaß Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? Überlegungen am Beispiel des ,Neuhochdeutschen‘ . . . . . . . . . . . . . . 201 Noah Bubenhofer / Joachim Scharloth Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte: Korpusgeleitete Zugänge zur Sprache der 68er-Bewegung . . . . . . . . . 227 Noah Bubenhofer / Juliane Schröter Die Alpen. Sprachgebrauchsgeschichte – Korpuslinguistik – Kulturanalyse . . . . . 263 Andreas Gardt Sprachgeschichte als Kulturgeschichte. Chancen und Risiken der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Marianne Bakró-Nagy Sprachgeschichte und Diachronie in der Finnougristik. Desiderate und Perspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
Péter Maitz
Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft? Erkenntniswege und Profile einer scientific community im Wandel
1. Problemstellung Dieses Buch handelt von der Historischen Sprachwissenschaft, ihren Erkenntnisinteressen, Grundlagenproblemen und Desideraten. Die Fragestellungen der einzelnen Beiträge sind dementsprechend zumeist durch metawissenschaftliche1 Probleme motiviert. Die Autorinnen und Autoren2 reflektieren – in der Regel gestützt durch objektwissenschaftliche Analysen – Möglichkeiten und Grenzen der unterschiedlichen Erkenntniswege, theoretische und methodologische Grundsatzfragen, nicht zuletzt aber auch wissenschaftsgeschichtliche, erkenntnistheoretische, wissenssoziologische Aspekte der Forschung. Wenn dabei von ‚Historischer Sprachwissenschaft‘ die Rede ist, so wird der Begriff – den Entwicklungen der letzten Jahrzehnte Rechnung tragend und im Gegensatz zu anderen, engeren Auslegungen (vgl. z. B. Mattheier 1998: 824 oder Polenz 2000: 9) – im weitestmöglichen Sinne verwendet. Es wird darunter diejenige linguistische Forschung verstanden, die ihren Gegenstand, die ‚Sprache‘, wie auch immer sie konzeptualisiert werden mag, als historisch gewachsenes und sich wandelndes Phänomen begreift und sie im Zusammenhang damit – entweder aus historischsynchroner, diachroner oder synchron-variationslinguistischer Perspektive – auf ihre Geschichte bzw. ihren Wandel hin untersucht, beschreibt und erklärt. Eine solche metawissenschaftliche Perspektive auf die Historische Sprachwissenschaft scheint mindestens aus drei Gründen vielverspre1 2
Unter ‚Metawissenschaft‘ wird – im Gegensatz zu ‚Objektwissenschaft‘ – eine Wissenschaft verstanden, deren Gegenstand selbst eine Wissenschaft ist. Aus platzökonomischen Gründen verwende ich im Folgenden bei Bezeichnungen für Personen nur das generische Maskulinum.
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chend, vielleicht sogar notwendig zu sein. Zum einen kann die bewusste und kritische Auseinandersetzung mit den in der alltäglichen Forschungspraxis oft unhinterfragt befolgten Forschungsnormen maßgeblich auch zur Lösung objektwissenschaftlicher Probleme beitragen. Zum anderen können auf diese Weise ebenso grundlegende theoretische und methodologische Desiderate sichtbar gemacht werden. Und schließlich kann die Reflexion über die interne Dynamik der Historischen Sprachwissenschaft auch wissenschaftstheoretisch bzw. epistemologisch relevante Erkenntnisse ans Tageslicht fördern, aus denen sich jedoch keineswegs nur für die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, sondern durchaus auch für die Historische Sprachwissenschaft selbst wichtige Konsequenzen ergeben können. Innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft – als Forschungsgebiet wie auch als wissenschaftliche Gemeinschaft – spielten sich nämlich in den vergangenen Jahrzehnten Entwicklungen ab, die zum einen aus wissenschaftstheoretischer Sicht bemerkenswert sind, zum anderen aber auch für den objektwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt innerhalb der Disziplin gewichtige Konsequenzen haben. Im Folgenden sollen zunächst – allein schon aus Umfangsgründen in stark vereinfachter und rudimentärer Form – diese Entwicklungen kurz nachgezeichnet werden.3
2. Die Anfänge Die Geschichte der Historischen Sprachwissenschaft ließe sich in drei wohlunterschiedene, voneinander recht klar abgrenzbare Phasen einteilen, wenn man für diese Einteilung zwei Kriterien heranzieht: (a) die Grundlagenstabilität, d. h. die Konsenshaftigkeit der forschungsleitenden Werte und Normen sowie (b) die Schärfe der Gruppengrenze, die die wissenschaftliche Gemeinschaft von der wissenschaftlichen Außenwelt trennt. Die erste von diesen drei Phasen umfasst jene Periode, in der die historische Sprachforschung im Grunde noch als die einzig denkbare und legitime Form der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Sprache gilt. Diese Periode, das 19. Jh. also, ist durch eine – zumindest im Vergleich zum gegenwärtigen Profil der Forschungslandschaft auffallende – relative Grundlagenstabilität gekennzeichnet. Vor dem Hintergrund eines positivistischen Wissenschaftsverständnisses4 dominieren (radikal) induktivis3 4
Die nachfolgenden Ausführungen basieren auf Maitz (i. Vorb.). Der (auch) im Kontext der Historischen Sprachwissenschaft stark negativ geladene und zumeist als pauschales Schimpfwort verwendete Terminus ‚Positivismus‘ wird hier selbstverständlich im wertneutralen Sinne verwendet. Darunter wird die Abneigung gegen eine explizite Theoriebildung verstanden, die Auffassung also, dass es angesichts der vermeint-
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tisch betriebene Forschungen zum germanischen Altertum und zur älteren deutschen Sprachgeschichte. Es handelt sich also um eine kumulative Forschungsphase mit allgemein anerkannten und konsenshaft befolgten (historisch-komparatistischen und später junggrammatischen) Forschungsnormen. Die weitgehende Dominanz der zeitgenössischen Historischen Sprachwissenschaft innerhalb der Linguistik, die starke interne Kohäsion der wissenschaftlichen Gemeinschaft und die Autorität ihrer Vertreter machen es möglich, dass konkurrierende Erkenntniswege und wissenschaftliche Leistungen vielfach abgelehnt oder einfach ignoriert werden und bestenfalls ein Schattendasein führen können. Dieser Situation, d. h. der starken Machtposition und Verschlossenheit der zeitgenössischen Historischen Sprachwissenschaft fällt u. a. auch Humboldts Schaffen zum Opfer. Humboldts Schüler, Heymann Steinthal stellt fest: Humboldt hat als Sprachforscher auf keinen seiner älteren oder jüngeren Zeitgenossen in spezifischer Weise, d. h. durch die ihm eigenthümlich angehörenden, von ihm geschaffenen Ideen eingewirkt. Er hat wohl von den Schlegels, den Grimms, den Bopps gelernt, sie aber von ihm durchaus nicht. (zit. nach Arens 1974: 205)
Und nach einer eingehenden Analyse des zeitgenössischen Rezensionswesens sieht auch Storost (1985) diese Behauptung bestätigt, indem er konstatiert: [D]ie sprachphilosophischen Gedankengänge Humboldts werden in keiner Weise nachvollzogen, mitgedacht, mitgeteilt, kommentiert, kritisiert oder auch nur angedeutet. (Storost 1985: 323)
Diese erste, progressive Phase der Geschichte der Historischen Sprachwissenschaft ist also durch eine relative Grundlagenstabilität in der Forschung und eine die linguistische Forschungslandschaft dominierende scientific community mit scharfer Gruppengrenze und starker interner Kohäsion gekennzeichnet. Grundlegend abweichende Positionen werden – wie der Fall von Humboldt oder später von Georg von der Gabelentz zeigt – nicht akzeptiert. Die historisch-philologische Arbeitsweise ist und bleibt zunächst weitgehend dominant, sowohl ahistorische als auch hypothetisch-deduktive bzw. sprachphilosophische Herangehensweisen werden vielfach als inadäquat und spekulativ abgestempelt und bewusst unterdrückt (vgl. Schmidt 1985: 169f.). Nach diesem progressiven ersten Abschnitt bricht ab der ersten Hälfte des 20. Jh. eine zweite, stagnative Phase ein. Durch das Aufkommen und lichen Selbstevidenz des Gegenstandes genügen würde, ohne Hypothesen an das Material heranzugehen (vgl. Boretzky 1977: 33).
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die Verbreitung ahistorischer Forschungsrichtungen in der Linguistik wird die Historische Sprachwissenschaft nunmehr in eine Art Defensive gedrängt. Zumindest gilt dies für den Status und das Prestige historischer Forschungen. Während es im 19. Jh. noch die Historische Sprachwissenschaft war, die Humboldts sprachphilosophisches Werk als spekulativ abstempeln und ahistorische Forschungen an die Peripherie der Linguistik drängen konnte, so hat sich diese Situation im Laufe des 20. Jh. umgekehrt. Zunächst vom Strukturalismus und später von der Generativen Grammatik wurde die Position der Historischen Sprachwissenschaft zutiefst erschüttert; es wurde die linguistische Relevanz historischer Beschreibungen und genetischer Erklärungen grundsätzlich in Frage gestellt und der gesamten historischen Sprachforschung ein erhebliches Theoriedefizit vorgeworfen. Die veränderten Prestigeverhältnisse zeigt in sehr transparenter Weise folgendes Zitat: Es genügt nicht, das Ohr an die Daten zu legen, bzw. die Daten allein sind stumm. [...] Es darf als Verdienst der Generativen Grammatik betrachtet werden, daß sie die Problematik der reinen (in der traditionellen historischen Sprachwissenschaft nicht unüblichen) Datenhuberei erneut thematisiert hat. Viele historische Linguisten erschöpft die (gewiß notwendige, unverzichtbare und ermüdende) Dateneinfuhr dermaßen, daß sie vor der eigentlichen (interpretativ-theoretischen) Arbeit aufhören. Die Sensitiveren unter ihnen haben seit der Generativen Grammatik wenigstens ein schlechtes Gewissen. (Mayerthaler 1998: 530)5
In wissenschaftssoziologischer Hinsicht ist es jedoch bemerkenswert, dass die – nach wie vor strikt philologisch orientierte – Historische Sprachwissenschaft trotz ihres Prestigeverlusts zunächst noch ihre starke institutionelle Position beibehalten kann. Germanistische Lehrstühle sind zumeist auch noch in den Nachkriegsjahrzehnten der ungeteilten, historisch orientierten germanischen Philologie (der „älteren deutschen Sprache und Literatur“) gewidmet. Und ebenfalls erst in dieser Zeit, in den 1960er und 1970er Jahren, kommt es zur Gründung der ersten germanistischen Fachzeitschriften, die bereits der ‚modernen‘, nicht mehr der philologischhistorischen Tradition verpflichteten Linguistik ein Forum bieten sollen. Was den Inhalt und vor allem die sprachtheoretischen und forschungsmethodologischen Grundlagen der historischen Sprachforschung betrifft, so ändert sich zunächst ebenfalls nicht viel. Die auch für die erste, progressive wissenschaftsgeschichtliche Phase kennzeichnende Grundla5
Zwar stammt dieses Zitat bereits aus der dritten, unten näher zu erläuternden wissenschaftsgeschichtlichen Phase der Historischen Sprachwissenschaft. Doch seine Grundhaltung und seine Aussage stehen eindeutig in der Tradition jener von außen kommenden Angriffe, die sich spätestens seit dem Auftreten des linguistischen Strukturalismus schon ab der ersten Hälfte des 20. Jh. – wenn auch zunächst in weniger polemischer Weise – melden.
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genstabilität bleibt erhalten.6 Die Historische Sprachwissenschaft beharrt auf den Forschungsnormen, die aus dem 19. Jh. ererbt worden sind. Fragestellungen und Forschungsmethoden folgen weitgehend der junggrammatischen Tradition, sie bleiben über Generationen hinweg „relativ konstant und unbestritten“ (Gardt/Mattheier/Reichmann 1995: VII). Zur Erhaltung dieser Grundlagenstabilität trägt selbstverständlich auch die inzwischen ausgesprochen feindselig gewordene Umgebung maßgeblich bei. Die Vertreter der neu aufkommenden, zumeist strikt ahistorischen Forschungsrichtungen fordern die Historische Sprachwissenschaft, wie das obige Zitat zeigt, vielfach auf eine ausgesprochen provokative und aggressive Weise heraus. Diese äußere Bedrohung sowie die scheinbare Unversöhnlichkeit der historisch-junggrammatischen Arbeitsweise mit den neuen Forschungsansätzen führen dazu, dass sich die Historische Sprachwissenschaft – nach wie vor – nach außen verschließt, was sie sich aufgrund ihrer starken und gefestigten institutionellen Einbettung (zunächst noch) leisten kann. Zusammenfassend kann man also in dieser zweiten wissenschaftsgeschichtlichen Phase der Historischen Sprachwissenschaft – ähnlich zur ersten – von einer institutionell gefestigten und ihre Machtposition zunächst bewahrenden scientific community sprechen. Ihre starke interne Organisation und ihre scharfe Gruppengrenze bleiben im Grunde ebenso bestehen wie die Grundlagenstabilität der Forschungspraxis, und zwar trotz des Umstands, dass die historisch-philologischen Analyseverfahren – im Gegensatz zur ersten Phase – einen nicht unerheblichen Prestigeverlust erfahren und von außen grundsätzlich in Frage gestellt werden.
3. Der Umbruch Die oben beschriebene Situation ändert sich ab den 1970er Jahren grundsätzlich. Zu dieser Zeit setzen wissenschaftsinterne und auch wissenschaftssoziologische Entwicklungen ein, die bis heute andauern und das Profil der Historischen Sprachwissenschaft maßgeblich prägen. Ab dieser Zeit tritt die Historische Sprachwissenschaft aus der stagnativen zweiten Phase ihrer Geschichte in eine progressive, auch die Gegen6
Freilich melden sich konkurrierende Forschungsansätze auch in dieser Phase. So etwa – um nur ein einziges Beispiel zu nennen – die Prager Strukturalisten, die mit dem Begriff der ‚dynamischen Synchronie‘ und dem Prinzip der ‚strukturellen Diachronie‘ die Saussure’sche Kluft zwischen synchroner und diachroner Sprachwissenschaft zu überbrücken versuchen und u. a. die Historische Phonologie begründen (Jakobson 1931). Doch derartige Ansätze gefährden (zunächst) keineswegs das Prestige und die Dominanz der junggrammatischen Arbeitsweise innerhalb der scientific community.
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wart mit einschließende dritte. Als progressiv kann diese Phase in zweifacher Hinsicht bezeichnet werden. Zum einen öffnet sich ein bedeutender Teil der bis dahin für historische Fragestellungen verschlossenen und vielfach auch feindlichen linguistischen Welt außerhalb der Historischen Sprachwissenschaft für die Historizität und die Dynamik von Sprache (vgl. Cherubim 1975: 2f., Boretzky 1977: 11). Zum anderen werden die klassisch-junggrammatischen Grundlagen sprachhistorischer Forschungen – unter externem Einfluss – auch innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft selbst immer öfter und stärker in Frage gestellt. Auch die Historische Sprachwissenschaft selbst öffnet sich also immer mehr für neue theoretische und methodologische Zugangsweisen. Durch diese beiden parallelen Entwicklungen wird die scharfe Grenze, die die wissenschaftliche Gemeinschaft von der linguistischen Außenwelt bis dahin getrennt hat, in einem bis dahin nie gesehenem Maße aufgelockert. Zu dieser immer intensiveren Annäherung einst antagonistisch erscheinender Positionen tragen natürlich zahlreiche Faktoren bei. Obwohl der Zeitraum bzw. die Entwicklungen, von denen hier die Rede ist, bislang keinen systematischen wissenschaftsgeschichtlichen Analysen unterzogen worden sind, so sollen manche der wichtigsten Faktoren, die in diesem Zusammenhang von Belang gewesen sein dürften, zumindest angedeutet werden. Von entscheidender Bedeutung ist erstens der Umstand, dass die progressiven linguistischen Schulen, die die historisch-dynamische Sprachbetrachtung in die Defensive gedrängt hatten, besonders ab den 1960er Jahren von verschiedenen Seiten und auf verschiedenen Ebenen heftig angegriffen wurden. Zum einen ist mehrfach auf die Unhaltbarkeit des strukturalistischen Postulats homogener Sprachsysteme und der scharfen Trennung zwischen Synchronie und Diachronie hingewiesen worden (vgl. z. B. Coseriu 1974, Weinreich/Labov/Herzog 1968 etc.). Im Zuge dessen kam es auch zur Begründung oppositioneller, dynamischer, die Kluft zwischen Synchronie und Diachronie überbrückender Sprachtheorien, wie etwa der Soziolinguistik (vgl. etwa Weinreich/Labov/Herzog 1968), der Natürlichkeitstheorie (vgl. Mayerthaler 1981, Wurzel 1984) oder der Grammatikalisierungstheorie (vgl. Lehmann 1995). Zum anderen wurden ab dieser Zeit genauso auch die sprachtheoretischen und methodologischen Grundlagen der Generativen Grammatik heftig angegriffen und es wurde auch deren wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung angezweifelt. Besonders ab den 1970er Jahren meldeten sich immer häufiger wissenschaftsgeschichtliche Interpretationen (z. B. Anttila 1975, Gray 1976, Murray 1980), die der gängigen Meinung, wonach Chomskys Auftreten in der Linguistik eine wissenschaftliche Revolution im Kuhn’schen Sinne eingeleitet hätte, skeptisch gegenüberstanden. Statt einer chomskyanischen
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Revolution sprachen sie von einem erfolgreichen Putsch, der von einer militanten Gruppe von Linguisten und begleitet von einer effektiven revolutionären Rhetorik mit dem Ziel der Machtergreifung durchgeführt wurde (vgl. Kertész 2009: 397). Auf diese Weise, durch die immer lauter werdenden kritischen Stimmen und das Aufkommen von progressiven Konkurrenten kam es dazu, dass die Position bzw. das Prestige der Richtungen geschwächt wurde, die der Historischen Sprachwissenschaft feindlich gegenüberstanden. Zweitens haben diese konkurrierenden Schulen nicht nur die (einstigen) ‚Feinde‘ historisch orientierter Forschungen angegriffen, sondern sie boten der Historischen Sprachwissenschaft zugleich auch die Möglichkeit an, an progressive Tendenzen in der Linguistik anzuknüpfen und auf diese Weise aus der stagnativen Phase herauszukommen. Im Anschluss daran wurden ab den 1970er und 1980er Jahren (Teil)Disziplinen wie – um hier nur zwei bis heute prominente von ihnen zu nennen – die Historische Pragmatik (vgl. z. B. Sitta 1980) und die Historische Soziolinguistik (vgl. z. B. Romaine 1982) begründet und ausgebaut. Bemerkenswert ist allerdings die Tatsache, dass sich diese neuen Richtungen innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft selbstständig, d. h. unabhängig von ihren ahistorisch-synchronen Pendants etabliert und institutionalisiert hatten.7 Die scharfe Grenze zwischen Synchronie und Diachronie, zwischen gegenwartsbezogener und historisch orientierter Sprachwissenschaft ist also bestenfalls sprachtheoretisch und methodologisch, keineswegs aber im soziologischen bzw. institutionellen Sinne aufgelockert bzw. aufgehoben worden. Durch die eigenständige Etablierung der Historischen Pragmatik, Soziolinguistik oder Semantik wurde sie sogar institutionalisiert und damit weiter verfestigt. In diesem Sinne hat sich die Gruppengrenze, die die Historische Sprachwissenschaft von anderen wissenschaftlichen Gemeinschaften innerhalb der Linguistik trennt, zwar ohne Zweifel aufgelockert, sie ist aber keineswegs verschwunden. Dies ist jedoch zumindest unter soziologischem Aspekt auch nicht verwunderlich. Denn die Aufhebung der Gruppengrenze und die Integration einst getrennter wissenschaftlicher Gemeinschaften hätten einen verstärkten Konkurrenzkampf als notwendige Konsequenz gehabt und zugleich auch die institutionelle Autonomie der Historischen Sprachwissenschaft gefährdet.
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So haben auch die genannten beiden Disziplinen ihre eigenen Organisationen, Konferenzen und Publikationsforen ins Leben gerufen; man denke nur an die Gründung des Journal of Historical Pragmatics neben dem Journal of Pragmatics, an das Historical Sociolinguistics Network, die Internet-Zeitschrift Historical Sociolinguistics and Sociohistorical Linguistics oder die Tagungsreihe Historische Soziolinguistik des Deutschen.
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Konvergenz und Integration – wie auch Divergenz – sind in der Forschungspraxis oder zwischen wissenschaftlichen Gemeinschaften aber keineswegs rein rationale Phänomene. In derartigen Dynamiken spielen oft auch psychologische Faktoren eine entscheidende Rolle (vgl. Kuhn 1976, Barnes/Bloor/Henry 1996). So war zur Öffnung der Historischen Sprachwissenschaft drittens auch die Entstehung und Verbreitung eines Krisenbewusstseins notwendig, das die Öffnung der Disziplin für neue Zugangsweisen als notwendig, zumindest aber als vorteilhaft erscheinen ließ. Dass dieses Krisenbewusstsein tatsächlich und zwar schon über einen längeren Zeitraum hinweg vorhanden war, belegt folgendes Zitat: Beschäftigt man sich in neuerer Zeit mit der Sprachgeschichte des Deutschen, so gehört es fast schon zum guten Ton, ein Lamento abzustimmen über den Verfall sprachhistorischer Traditionen in der Wissenschaftsgeschichte der Linguistik, über die Lückenhaftigkeit des Gegenstandsspektrums der Sprachgeschichte und über fehlende methodologische Konzepte. Während Sonderegger noch zurückhaltend von der ‚Problematik der deutschen Sprachgeschichtsschreibung‘ spricht, werden von Cherubim und anderen lange Listen von Desideraten und Forschungslücken zusammengestellt. (Mattheier 1995: 1)
Die Erneuerung einer Disziplin, die Veränderung der Forschungsnormen innerhalb einer wissenschaftlichen Gemeinschaft kann nur erfolgen, wenn die Mitglieder dieser Gemeinschaft auch individuell an der Erneuerung und der Übernahme der neuen Normen interessiert sind. Als vierter Faktor muss auch die Rolle dieser individuellen Ebene erwähnt und damit also danach gefragt werden, inwiefern die Öffnung etwa in Richtung der Soziolinguistik, der Pragmatik oder der Sprachtypologie auch für den einzelnen Forscher als verheißungsvoll erscheinen konnte. Zum einen darf nicht übersehen werden, dass es sich bei all den genannten Forschungsrichtungen um progressive Schulen handelt, die – auch außerhalb der Historischen Sprachwissenschaft – als prestigevoll und neuartig genug galten, um die neueren Forschungsgenerationen anzuziehen. Zum anderen waren sie offen genug, um diesen Forschergenerationen zahlreiche als relevant anerkannte ungelöste Probleme zu bieten, nicht zuletzt allein schon dadurch, dass sie auch für historische bzw. diachrone Fragestellungen offen waren. Somit haben sie über beide grundlegenden Eigenschaften verfügt, die nach Kuhn (1976: 25) Kandidaten für wissenschaftliche Paradigmen auszeichnen. Und drittens dürfte auch in unserem Zusammenhang noch ein weiterer Faktor von Belang gewesen sein, den Schmidt (1988) im Kontext der Etablierung des Strukturalismus in Deutschland erwähnt. Die neuen Forschergenerationen dürften demnach auch insofern am Bruch mit der philologisch-junggrammatischen Forschungstradition und an dem Anschluss an gruppenexterne, neue Forschungsnormen interessiert gewe-
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sen sein, als es ihnen schnellen Erfolg versprach, indem es erlaubte, „sich all das immense Wissen, das in hundert Jahren Sprachgeschichtsforschung zusammengetragen worden war, nicht aneignen zu müssen“ (Schmidt 1988; Hervorhebung im Original). Neben all den genannten werden sicher auch noch weitere, durch zukünftige wissenschaftsgeschichtliche Analysen zu ermittelnde Faktoren dazu beigetragen haben, dass sich die Historische Sprachwissenschaft ab den 1970er Jahren sowohl inhaltlich als auch vom Profil der Gemeinschaft her grundlegend verändert hat. Im Sinne des Gesagten wurde die einst scharfe Gruppengrenze deutlich aufgelockert und die frühere Grundlagenstabilität der Forschung wurde durch einen ausgeprägten Pluralismus abgelöst. Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte und auch die Gegenwart sind von einer nie vorher gesehenen Grundlageninstabilität und Diversifikation innerhalb des Faches, von einem Wettbewerb zwischen zahlreichen theoretisch und methodologisch divergierenden Forschungsansätzen gekennzeichnet. Induktivistische Zugangsweisen (z. B. Historische Philologie, junggrammatisch geprägte Historische Grammatik, Soziopragmatische Sprachgeschichte) existieren heute neben hypothetisch-deduktiv ausgerichteten Forschungen (z. B. Grammatikalisierungsforschung, Diachrone Sprachtypologie, Sprachwandeltheorie); systemimmanente (z. B. strukturalistische, typologische) Beschreibungs- und Erklärungsansätze neben stark gesellschafts- und kulturorientierten (wie z. B. Historische Pragmatik und Soziolinguistik); stark interdisziplinär angelegte Ansätze (z. B. Diskursgeschichte oder Kulturgeschichte der Sprache) neben eher reduktionistischen (z. B. Historische Grammatik).
4. Paradigmen in der Historischen Sprachwissenschaft? Die theoretischen und methodologischen Grundlagen und somit auch die Gegenstände vieler dieser neueren Forschungsrichtungen divergieren in dem Maße, dass es auf den ersten Blick gar nicht überrascht, wenn mehrere Forscher bereits von unterschiedlichen wissenschaftlichen Paradigmen innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft sprechen: Reichmann (1998: 6) vom historisch-genetischen Paradigma, Ágel (1999: 180) vom Grammatikalisierungsparadigma, Scharloth (2005) vom soziopragmatischen Paradigma, Greule (2005: 19) sogar vom Forschungsparadigma „Kanzleisprachen“ – und die Reihe ließe sich weiter fortsetzen. Es ist allerdings kaum zu übersehen, dass der Begriff ‚Paradigma‘ hier von verschiedenen Autoren zum Teil mit unterschiedlicher Intension verwendet wird. In vielen dieser Fälle handelt es sich um eine – auch außerhalb der Linguistik weit verbreitete – theorieneutrale Verwendung, so dass mit
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‚Paradigma‘ nichts weiter als ein relativ klar abgrenzbarer Forschungsansatz bzw. eine wissenschaftliche Schule gemeint wird. In anderen Fällen geschieht die Verwendung des Begriffs ‚Paradigma‘ bereits unter expliziter Bezugnahme auf Thomas S. Kuhns Wissenschaftstheorie (Kuhn 1976), in der ja der Begriff eine zentrale Rolle spielt. Besonders diese zweite, Kuhn’sche Verwendungsweise scheint aufgrund ihrer gewichtigen Implikationen interessant und einer kritischen Überprüfung wert zu sein. Gibt es tatsächlich mehrere verschiedene wissenschaftliche Paradigmen innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft? Haben sich in den vergangenen Jahrzehnten tatsächlich wissenschaftliche Revolutionen innerhalb des Fachs abgespielt? Haben die neuen Paradigmen tatsächlich die alten abgelöst, wie es nach Kuhn bei wissenschaftlichen Revolutionen geschieht? Oder handelt es sich vielleicht eher nur um eine unreflektierte, vulgarisierende Begriffsverwendung, die vor allem Legitimationszwecken dient? Diese Vermutung liegt nahe, und zwar aus mehreren Gründen. Erstens ist es bemerkenswert, dass (auch) in der Historischen Sprachwissenschaft auffallend häufig von Paradigmen die Rede ist, ohne dass durch entsprechende wissenschaftsgeschichtliche Analysen auch nur in einem einzigen Fall und auch nur annähernd plausibel nachgewiesen worden wäre, dass die als Paradigmen etikettierten Theorien wirklich über diejenigen Eigenschaften verfügen, über die sie verfügen müssen, wenn es sich bei ihnen um wissenschaftliche Paradigmen handelt. Zweitens haben wissenschaftsgeschichtliche Analysen der vergangenen Jahrzehnte mehrfach und überzeugend gezeigt, dass die Kriterien für wissenschaftliche Revolutionen bzw. Paradigmen im Kuhn’schen Sinne nicht einmal beim linguistischen Strukturalismus und der Generativen Grammatik erfüllt sind (vgl. z. B. Kertész/Rákosi/Bódog 2006, Percival 1976, 1977, 1981, Newmeyer 1986 etc.). Und wenn selbst diese – zweifelsfrei einmalig einflussreichen – Schulen nicht als Paradigmen ausgewiesen werden können, so ist es zumindest fraglich, inwiefern innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft von Paradigmen und Revolutionen die Rede sein kann. Allem Anschein nach haben wir es also auch innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft zunächst einfach damit zu tun, was – in unterschiedlichen Kontexten – auch von Fehér (1984: 299), Kertész (2010: 151f.) oder Lakoff (1989: 966) konstatiert wird. Damit nämlich, dass der Terminus ‚Paradigma‘ aus soziologischen Gründen, nämlich zu Legitimationszwecken verwendet wird, um die (vermeintliche oder wirkliche) Originalität einer Theorie betonen und die Reife der Disziplin unter Beweis stellen zu können. Disziplinen, die über keine wissenschaftlichen Paradigmen verfügen, werden ja von Kuhn als wissenschaftlich unreif eingestuft
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– und Kuhn selbst ordnet die meisten Sozial- und Geisteswissenschaften tatsächlich als unreif ein (vgl. Kuhn 1976: 30, 35). Kuhns Wissenschaftstheorie ist – wie oben bereits angedeutet – zur Interpretation von anderen Segmenten der Wissenschaftsgeschichte der Linguistik bereits angewendet worden. Für die Historische Sprachwissenschaft wurde sie jedoch bislang noch nicht fruchtbar gemacht. Eine philologisch gestützte wissenschaftsgeschichtliche Analyse der jüngeren Entwicklungen innerhalb der Disziplin im Lichte der Kuhn’schen Paradigmenlehre wäre jedoch aus mehrfacher Hinsicht ein lohnendes Unterfangen. Zum einen natürlich insofern, als eine solche Analyse zu einem differenzierteren Bild über Natur und Hintergründe des Erkenntnisfortschritts innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft verhelfen könnte. Und zum anderen auch insofern, als auf diese Weise erneut getestet werden könnte, ob Kuhns Wissenschaftstheorie, die ja am Beispiel der Naturwissenschaften ausgearbeitet wurde, auf die Linguistik überhaupt anwendbar ist. Eine solche Analyse kann hier natürlich nicht geleistet werden. Im Folgenden soll es dennoch versucht werden, Kuhns wissenschaftstheoretischen Ansatz auf die Historische Sprachwissenschaft zu projizieren, um wenigstens manche Besonderheiten in der Forschungsentwicklung der letzten Jahrzehnte beleuchten zu können.
5. Besonderheiten der Forschungsentwicklung Nach Kuhn ist für die normalwissenschaftliche Phase einer reifen Wissenschaft die Existenz und Akzeptanz eines einzigen vorherrschenden Paradigmas kennzeichnend. Dieses Paradigma wird von der wissenschaftlichen Gemeinschaft allgemein anerkannt und befolgt. Auf die Historische Sprachwissenschaft bezogen könnte daraus – im Lichte der Ausführungen in den vorangehenden Abschnitten – Mehrfaches folgen. Zum einen, dass sich die Disziplin immer noch in einer unreifen, vorparadigmatischen Phase befindet. Dafür spricht jedenfalls die gegenwärtige Grundlageninstabilität innerhalb des Fachs: Statt einer einzigen vorherrschenden Theorie haben wir es mit einer Vielzahl von konkurrierenden und oft auch inkompatiblen Ansichten über die theoretischen und methodologischen Grundlagen der Forschung zu tun. Es gibt keine allgemein gültigen und von allen geteilten Ansichten darüber, was und wie beschrieben und erklärt werden sollte. Es gibt also keine einhellig akzeptierten methodologischen und theoretischen Standards, so dass es mehrfach und immer wieder vorkommt, dass einzelne Forscher das Fachgebiet von Grund auf neu zu entwickeln versuchen (vgl. Kuhn 1976: 28). Verschiedene Forscher
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untersuchen zum Teil grundverschiedene Aspekte des Gegenstandsbereichs und liefern zum Teil Beschreibungen und Erklärungen, die nicht zusammengeführt bzw. aufeinander bezogen werden können (man vgl. etwa die Resultate der diachronen Sprachtypologie mit denen der Historischen Diskursanalyse, so etwa die Beiträge von Renata Szczepaniak und Noah Bubenhofer/Juliane Schröter in diesem Band). Und da dieser Pluralismus bzw. diese Grundlageninstabilität infolge der Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte nur zugenommen hat, könnte man sogar zum Schluss gelangen, dass die Historische Sprachwissenschaft noch nie so weit vom Zustand der Reife entfernt war, wie sie es heute ist. Ebenfalls als Zeichen der Unreife könnte der Umstand gedeutet werden, dass es gegenwärtig keine Sprachtheorie und auch keine Forschungsmethodologie innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft gibt, die allein vorherrschend wäre und nach ihrem Aufkommen die anderen, bis dahin herrschenden Ansichten verdrängt und abgelöst hätte. Hätte die Historische Sprachwissenschaft den Zustand der Reife erreicht und jemals ein Paradigma erworben, so hätte dies zur Folge haben müssen, dass die konkurrierenden Ansichten mit der Übernahme des neuen Paradigmas allmählich untergehen. Ein wichtiges Kennzeichen für dieses reife Stadium müsste weiters sein, dass fundamentale Neuerungen unterdrückt werden, da sie die Grundposition des Paradigmas und seiner Vertreter erschüttern könnten (Kuhn 1976: 20). All dies ist aber im Falle der Historischen Sprachwissenschaft – wie auch die Beiträge des vorliegenden Bandes eindrucksvoll zeigen – nicht gegeben. Die gegenwärtige Forschungssituation ist zwar von einem Konkurrenzkampf zwischen zahlreichen Ansätzen gekennzeichnet. Doch kann man – trotz der oft deutlich erkennbaren gegenseitigen Abneigungen – nicht behaupten, dass sie einander feindlich gegenüberstehen würden. Abweichende Positionen werden wenn schon nicht begrüßt, zumindest gegenseitig toleriert, so dass es gegenwärtig wohl kaum möglich wäre, einen Ansatz zu identifizieren, der als möglicher Paradigmakandidat zu Lasten der anderen allmählich die Oberhand gewinnen würde. Ähnlich problematisch wäre die Identifizierung von paradigmatischen Werken in der Geschichte der Disziplin. Wissenschaftliche Revolutionen bzw. Paradigmen sind nämlich nach Kuhn immer an bestimmte Werke gebunden, die „für nachfolgende Generationen von Fachleuten die anerkannten Probleme und Methoden eines Forschungsgebiets […] bestimmen“ (Kuhn 1976: 25). Sie verändern die Disziplin grundsätzlich und dienen zugleich als Vorbilder, „aus denen fest gefügte Traditionen wissenschaftlicher Forschung erwachsen“ (ebd.). Selbst wenn natürlich mehrere sehr einflussreiche Leistungen in der Geschichte der Historischen Sprachwissenschaft genannt werden könnten, ist es zu bezweifeln, dass es jemals
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ein allgemein anerkanntes, vorbildhaftes Werk unter ihnen gegeben hat, das die Disziplin – in der Art wie dies etwa Newtons Principia in der Physik getan hat (vgl. ebd.) – grundlegend umgestaltet hätte. Nicht einmal für Hermann Pauls Prinzipien der Sprachgeschichte (Paul 1995) lässt sich dies behaupten, obwohl es nach seinem Erscheinen im Jahre 1880 längere Zeit hindurch tatsächlich als kanonisches Werk galt. Zum einen darf nicht übersehen werden, dass es keineswegs die erste bedeutende Arbeit der Junggrammatiker war. Bereits in der zweiten Hälfte der 1870er Jahre sind grundlegende junggrammatische Arbeiten u. a. von Brugmann, Osthoff, Leskien und Sievers entstanden (vgl. z. B. Leskien 1876, Sievers 1876). Zum anderen kann von einer fundamentalen Veränderung der Disziplin auch insofern nicht die Rede sein, als die Junggrammatiker sowohl von ihrem Untersuchungsgegenstand als auch von ihrer naturwissenschaftlichen Orientierung her in der Tradition der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft standen (vgl. Gardt 1999: 278ff.). Auf der Suche nach einer Antwort auf die Frage, ob die Historische Sprachwissenschaft den Zustand der Reife im Kuhn’schen Sinne erlangt hat, ist es schließlich auch aufschlussreich, einen Blick auf die gängigen Lehrbücher des Fachs zu werfen. Hat nämlich eine Disziplin den Zustand der Reife erreicht und ein Paradigma erworben, so wird dieses Paradigma – d. h. das anerkannte Theoriegebäude zusammen mit erfolgreichen Anwendungen – zur Ausbildung der zukünftigen Forschergenerationen in Lehrbüchern dargestellt (vgl. Kuhn 1976: 25). Nun sind aber die Einführungen in die Historische Sprachwissenschaft von ihrem Inhalt her alles andere als einheitlich. Vielmehr spiegeln sie die oben beschriebene Grundlageninstabilität wider, die für die Disziplin in ihrem gegenwärtigen Zustand charakteristisch ist. Vergleicht man etwa Schmidt (2007), Polenz (2009) oder Nübling et al. (2010), so wird man schnell feststellen können, dass sie jeweils unterschiedliche Bilder über die Disziplin zeigen – sowohl hinsichtlich des Forschungsgegenstandes als auch in Bezug auf die Methodologie der Forschung wie auch hinsichtlich des Erklärungsanspruchs und des präferierten Erklärungstyps. In diesem Sinne kann man also feststellen, dass die gegenwärtigen Lehrbücher der Historischen Sprachwissenschaft die zukünftigen Forschergenerationen in jeweils unterschiedliche Forschungspraxen einführen – eine Situation, die für reife Wissenschaften eher als untypisch zu gelten hat. Aber selbst wenn die heutige Situation an vielen Punkten die Merkmale von unreifen Wissenschaften, d. h. von vorparadigmatischen Forschungsphasen trägt, kann man dennoch keineswegs behaupten, dass die Historische Sprachwissenschaft – anderen Bereichen der Linguistik ähnlich (vgl. Kertész/Rákosi/Bódog 2006: 438) – eine unreife Disziplin im
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Kuhn’schen Sinne wäre. Dagegen sprechen jedenfalls mehrere Argumente, von denen hier nur einige angedeutet werden können. Zum einen hat die Historische Sprachwissenschaft eine relativ hohe Stufe der Professionalisierung erreicht. Die Forschungen werden immer esoterischer, so dass der Laie in den meisten Fällen nicht mehr hoffen darf, „den Fortschritt durch das Lesen der Originalberichte der Fachleute verfolgen zu können“ (Kuhn 1976: 35). Zum anderen sind die Grundlagen der einzelnen etablierten Forschungsrichtungen in Hand- und Lehrbüchern dargestellt, so dass sich die Forscher auf subtile und esoterische Aspekte der untersuchten Phänomene konzentrieren können und nicht gezwungen sind, in Ermangelung von Konventionen ihr Fach jedes Mal von Grund auf neu zu entwickeln (ebd. 28, 34). Dies hat zur Folge, dass das Buch als Publikationsform immer mehr auf Hand- und Lehrbücher beschränkt ist, während die Forschungsresultate zu den einzelnen relevanten Teilproblemen – wie in reifen Wissenschaften üblich – zumeist in Form von kürzeren Aufsätzen in Zeitschriften und Sammelbänden erscheinen. Forschungsmonographien gehen in den meisten Fällen auch in der Historischen Sprachwissenschaft auf Qualifikationsschriften zurück, bei denen die Buchform jedoch konventionell festgelegt ist und erwartet wird. Die Bedeutung von Aufsätzen nimmt aber – wie auch in anderen Bereichen der Linguistik (vgl. Kabatek 2009: 46f.) – generell und immer mehr zu. Drittens ist die Historische Sprachwissenschaft institutionell sehr stark und fest eingebettet: Es sind ihr eigene Lehrstühle gewidmet, sie hat ihre eigenen internationalen Publikationsforen und Fachvereinigungen und das Fach ist auch in universitären Lehrplänen fest verankert. Ein solcher Institutionalisierungsgrad ist jedoch nach Kuhn (1976: 33f.) nur bei Wissenschaften erwartbar, die ihr erstes Paradigma bereits erworben und somit den Zustand der Reife erreicht haben. Und schließlich scheint unter den von Kuhn genannten Reifekriterien auch der Umgang mit linguistischen Daten einer kurzen Reflexion wert zu sein. Kuhn schreibt diesbezüglich Folgendes: Beim Fehlen eines Paradigmas oder eines Kandidaten für ein Paradigma scheinen alle Tatsachen […] gleichermaßen relevant zu sein. Folglich ist das Zusammentragen von Fakten in der Frühzeit eine Tätigkeit, die weit mehr dem Zufall unterliegt als die, welche die darauf folgende wissenschaftliche Entwicklung kennzeichnet. (Kuhn 1976: 30)
Nun können wir aber keineswegs behaupten, dass innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft ein unreflektierter und undifferenzierter Umgang mit linguistischen Daten herrschen würde. Im Gegenteil scheinen die methodologischen und empirischen Standards immer strenger – wenn auch keineswegs unbedingt einheitlich – zu sein. Die Repräsentativität der
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Daten und die empirische Adäquatheit der Beschreibungen und Erklärungen wird stärker denn je gefordert und reflektiert, wie dies etwa die Beiträge in Lobenstein-Reichmann/Reichmann (2003) oder auch die Texte von Stephan Elspaß, Anna Molnár, Damaris Nübling und Richard J. Watts in diesem Band eindeutig zeigen. Dieser bewusste und reflektierte Umgang mit linguistischen Daten ist zweifelsfrei im Kontext des Aufschwungs der Korpuslinguistik sowie als Folge bzw. als Teil derjenigen intensiven Auseinandersetzung mit der Beschaffenheit linguistischer Daten und Evidenz zu sehen, die innerhalb der Linguistik (vgl. Kertész/Rákosi 2008) und dabei auch innerhalb der Historischen Sprachwissenschaft (vgl. Fischer 2004, Jacobs/Jucker 1995, Lehmann 2004, Nagy C. 2008 etc.) in den vergangenen Jahren stattgefunden hat. Im Sinne des Gesagten scheinen also die Merkmale der gegenwärtig durch eine ausgeprägte Grundlageninstabilität gekennzeichneten Historischen Sprachwissenschaft weder mit der Kuhn’schen Konzeption von reifen Disziplinen vereinbar zu sein, noch erfüllen sie die Kriterien von unreifen Wissenschaften. Der Ausweg aus diesem Dilemma kann – im Einklang mit Percival (1976), Oesterreicher (1979: 53f.) und Kertész/Rákosi/Bódog (2006) – die Einsicht sein, dass Kuhns Modell, seine Unterscheidung zwischen reifen und unreifen Wissenschaften, viel zu starr ist, als dass sie auf die Linguistik und darin auf die Historische Sprachwissenschaft anwendbar wäre. Dieser Befund steht zwar mit Kuhns eigener Charakterisierung der Sozial- bzw. Geisteswissenschaften als unreife Disziplinen im Widerspruch. Doch er ist insofern nicht unbedingt verwunderlich, als Kuhns Augenmerk ausschließlich auf die Naturwissenschaften gerichtet war. In seinem Buch hat er weder die Linguistik, noch andere geistesbzw. sozialwissenschaftliche Disziplinen eingehend analysiert, so dass sein Werk letztlich die Frage offen ließ, ob die Lehre von der Struktur wissenschaftlicher Revolutionen auf diese Wissenschaften überhaupt angewendet werden kann. Von den Eigenheiten, die auf die Unvereinbarkeit der Kuhn’schen Lehre mit der internen Dynamik der Historischen Sprachwissenschaft hindeuten, soll hier zum Schluss noch eine weitere kurz angedeutet werden. Es handelt sich um die Frage, durch welche Faktoren die Entstehung von grundlegenden Neuerungen, d. h. die Begründung und Etablierung von neuen Forschungsansätzen in der Disziplin ausgelöst wurde bzw. wird. Dies ist ein Punkt, an dem eine weitere Besonderheit in der jüngeren Forschungsentwicklung erkennbar wird. Kuhn vertritt bezüglich dieser Frage die Grundthese, dass das Auftreten von konkurrierenden Forschungsweisen, die die Grundlagen der bis dahin herrschenden Forschungspraxis in Frage stellen, letztlich auf Anomalien zurückgeführt werden kann. Damit sind Entdeckungen oder neu-
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artige Tatsachen gemeint, die im Rahmen der alltäglichen Forschungspraxis auftauchen, die aber mit den Mitteln, die die wissenschaftliche Gemeinschaft als adäquat anerkennt und benutzt, nicht beschrieben und erklärt werden können. In dem Maße, wie die Zahl solcher Anomalien wächst und der Misserfolg der Versuche zur Behebung dieser Anomalien bewusst wird, kommt es zur Entstehung und Verbreitung eines Krisenbewusstseins innerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Das Vertrauen zu den bis dahin kollektiv anerkannten Überzeugungen, Methoden und Begriffen schwindet immer mehr (vgl. Kuhn 1976: 11, 65ff.). In diesem Klima kommt es dann zur Formulierung von Neuansätzen, die, wenn sie Erfolg versprechend und neuartig genug sind, auch von anderen Mitgliedern der Gemeinschaft übernommen werden. Wirft man einen Blick auf die Historische Sprachwissenschaft, so wird man recht schnell feststellen müssen, dass diese Beschreibung bestenfalls zum geringeren Teil auf die Entwicklungen innerhalb der Disziplin zutrifft. Fundamentale Neuerungen, d. h. voneinander relativ unabhängige und inkompatible Ansätze gibt es und gab es – wie gesagt – nicht wenige. Doch solche unter ihnen, deren Entstehung durch solche Anomalien in der alltäglichen Forschungspraxis ausgelöst worden wäre, können kaum genannt werden. Ein Beispiel hierfür könnte immerhin der von Vimos Ágel jüngst vorgeschlagene Ansatz einer dynamischen Grammatik (vgl. Ágel 2001, 2003, 2005) sein. Dessen Entwurf wurde – wie in Ágel (2003: 1) berichtet wird – in direkter Weise durch die Absicht motiviert, eine konkrete Forschungsaufgabe, nämlich die Erarbeitung einer neuhochdeutschen Sprachstufengrammatik, zu lösen: Als künftiger Autor der „Neuhochdeutschen Grammatik“ in der „Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte“ ist man doppelt in die Zange genommen. Denn einerseits hat man die Verpflichtung und auch den Willen, eine ehrwürdige Tradition historischer Grammatikforschung würdig fortzusetzen. Andererseits muss man auch den theoretischen Anforderungen genügen, die an Gegenwartsgrammatiken gestellt werden. Schließlich mündet ja die eigene historische Beschreibung unmittelbar in die Beschreibung der Gegenwartssprache. (Ágel 2003: 1)
Hier handelt es sich also tatsächlich um ein Forschungsproblem, das sich in eine Reihe von weiteren Problemen fügt, die sich im Rahmen einer anerkannten Forschungstradition stellen und von der wissenschaftlichen Gemeinschaft als relevant anerkannt werden. Bei der Lösung dieses Problems traten aber Anomalien, d. h. in diesem Forschungsrahmen nicht zu lösende Probleme auf, die letztlich zur Ablehnung der bis dahin befolgten Forschungsnormen und zur Erarbeitung von radikal abweichenden Forschungsgrundlagen führten (vgl. dazu auch Molnár, in diesem Band).
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Doch dieser Weg scheint keineswegs der übliche zu sein. Vielmehr werden neue, konkurrierende Sichtweisen – besonders in der jüngeren Forschungsgeschichte – zumeist von außen, durch den interdisziplinären Austausch mit anderen linguistischen und extralinguistischen Disziplinen, herangetragen. Es sind also weit weniger die im Rahmen der gängigen Forschungspraxis auftauchenden Anomalien als vielmehr soziologische Motive und nicht zuletzt natürlich die persönlichen Interessen der Forscher, die die Entwicklungsdynamik innerhalb der Forschung prägen. Als herausgegriffenes Beispiel hierfür soll an dieser Stelle der Entstehungskontext von lediglich zwei jüngeren Ansätzen, nämlich der Pragmatischen Sprachgeschichte (vgl. z. B. Sitta 1980, Cherubim 1998), sowie der Europäischen Sprachgeschichte (vgl. z. B. Reichmann 2001, 2002, Mattheier 2010) kurz erwähnt werden. Die Forderung zur Pragmatisierung der Sprachgeschichtsschreibung ist innerhalb der Germanistik ab den 1980er Jahren immer häufiger und prägnanter formuliert worden. Doch den Anlass dazu gab nicht etwa das Versagen der bis dahin weitgehend vorherrschenden philologisch-junggrammatischen Forschungstradition. In diesem Rahmen wird ja auch bis heute weiter gearbeitet. Vielmehr ging es – wie in Abschnitt 3 ausgeführt – darum, durch den Anschluss an progressive Forschungsrichtungen außerhalb des Fachs, in diesem Fall eben an die Pragmatik, die Historische Sprachwissenschaft zu erneuern und auch in den Augen der linguistischen Außenwelt wieder salonfähig zu machen. Hierzu ein Zitat aus einer Podiumsdiskussion, die unter dem bezeichnenden Titel Was soll Gegenstand der Sprachgeschichtsforschung sein? im Rahmen eines Symposions im Jahre 1992 veranstaltet wurde: Systemgeschichte soll zum Gesellschaftlichen hin funktionalisiert werden, um zu vermeiden, daß lediglich lautliche oder morphologische Systeme „rekonstruiert“ bzw. „hypostasiert“ werden, „die mit dem Handeln von Menschen oft herzlich wenig zu tun haben“ (D. Cherubim). (Reichmann et al. 1995: 455)
Am Zitat wird deutlich erkennbar, dass hinter der Forderung der Pragmatisierung in Wirklichkeit nichts anderes als die Absicht des Bruchs mit der junggrammatischen Tradition steckt. Die Argumentation erfolgt bereits aus einer genuin pragmatischen Perspektive, aus der die junggrammatischen Forschungskonventionen natürlich als defizitär erscheinen. Die Pragmatisierung der Sprachgeschichtsforschung wird nicht deswegen befürwortet, weil sie die Beseitigung von Anomalien verspricht, die im Rahmen der früheren Forschung nicht aus dem Weg geräumt werden konnten. Pragmatische Fragestellungen wurden ja bis dahin gar nicht erst formuliert. Die pragmatische Perspektive wird stattdessen insofern als nütz-
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lich dargestellt, als durch sie der viel getadelte junggrammatische Atomismus überwunden werden kann. In Bezug auf das Konzept der Europäischen Sprachgeschichte tritt uns im folgenden Zitat eine dezidiert soziologisch orientierte Argumentation entgegen. Auch in diesem Fall wird von dem neuen Ansatz nicht die Lösung von bis dahin als unlösbar erscheinenden Problemen erwartet. Im Zentrum der Argumentation steht die – viel zu oft außer Acht gelassene – Erkenntnis, dass auch wissenschaftliche Forschung im sozialen Kontext stattfindet und gesellschaftliche Interessen bedienen muss: (1) Wenn sich vor allem in der Schule, aber auch an der Universität auf die Dauer nichts […] hält, was nicht in der Gesellschaft als relevant, wichtig, interessant befunden wird, dann verliert die Sprachgeschichtsforschung herkömmlicher einzelsprachbezogen-nationaler Ausrichtung in dem Maße ihre gesellschaftliche Begründung, wie sich eine neue […] Identität ‚Europa‘ […] bildet. (2) Wenn man dem dadurch zu entgehen versucht, dass man die einzelsprachbezogen-nationale Sprachgeschichtsschreibung ihrer nationalen Komponenten entkleidet, […] dann ergibt sich vermutlich ein gesellschaftliches Motivationsproblem. Eine maximal sachlich (was auch immer das heißen mag) aufgezogene Geschichte einer Einzelsprache könnte sich als ohne Identifikationspotential entpuppen […]. (3) Man wird also […] eine Neubegründung der Sprachgeschichtsforschung in dem Sinne vorzunehmen haben, dass die Einzelsprache aus ihrem europäischen Rahmen heraus beschrieben wird. (Reichmann 2002: 40)
Und last but not least wird die Unvereinbarkeit des Kuhn’schen Wissenschaftsbildes mit der Historischen Sprachwissenschaft auch am Beispiel der in den vergangenen Jahrzehnten wieder sehr intensiv betriebenen Forschungen zur Sprachwandeltheorie erkennbar (vgl. Coseriu 1974, Croft 2000, Keller 1990, Labov 1994, 2001, 2010, Wurzel 1988 etc.). Man kann ja nicht behaupten, dass die Entstehung dieser neueren Sprachwandeltheorien von neuen Daten und Entdeckungen herbeigeführt worden wäre, die frühere Theorien falsifiziert hätten. Umso weniger ist dies der Fall, als die meisten modernen Sprachwandeltheorien von Forschern aufgestellt worden sind, die bis dahin zumeist oder ausschließlich außerhalb der Historischen Sprachwissenschaft tätig waren. Freilich gibt es auch Ausnahmen (vgl. etwa Lass 1980), doch insgesamt kann nach Hermann Paul kaum ein anderer führender Sprachwandeltheoretiker genannt werden, der selbst mit historischen Daten gearbeitet hätte (oder umgekehrt kaum ein Sprachhistoriker, der mit einer Sprachwandeltheorie hervorgetreten wäre). Die wichtigsten Impulse für diese Theorien lieferten also weniger in Anomalien wurzelnde Krisen als vielmehr Probleme und Erkenntnisse anderer linguistischer und extralinguistischer Disziplinen wie z. B. der Soziologie bzw. der Soziolinguistik (Labov, Croft), der Evolutionsbiologie (Croft) oder der Wirtschaftswissenschaft (Keller).
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Zusammengefasst kann also festgestellt werden, dass Kuhns Wissenschaftstheorie allem Anschein nach nicht in der Lage ist, all diejenigen Entwicklungen zu erklären, die sich im Laufe der Geschichte der Historischen Sprachwissenschaft abgespielt haben. Aber auch – und ganz besonders – die heutige Situation der Historischen Sprachwissenschaft zeichnet sich durch Eigenheiten aus, die sich vom von Kuhn gezeichneten Bild der Naturwissenschaften aber auch vom früheren Profil der Disziplin an vielen Punkten grundsätzlich unterscheiden. Wohin die geschilderten Entwicklungen der vergangenen Jahrzehnte führen werden, lässt sich kaum voraussagen. Auf der einen Seite hat es den Anschein, dass die Diversifikation und auf diese Weise die Grundlageninstabilität innerhalb des Fachs immer mehr zunimmt, da ältere Ansätze neben den neueren stets bestehen bleiben. Auf der anderen Seite führt aber der interdisziplinäre Austausch zur gleichen Zeit auch zu theoretischen und methodologischen Annäherungen und Konvergenzen, sowohl zwischen einzelnen Forschungsrichtungen innerhalb der Disziplin als auch zwischen der Historischen Sprachwissenschaft und anderen Disziplinen innerhalb wie außerhalb der Linguistik. Diese intensive und vielfältige Dynamik der letzten Jahrzehnte deutet zum einen auf eine in der Geschichte des Fachs wohl nie vorher vorhandene Vitalität hin. Zum anderen zeugt sie davon, dass die Historische Sprachwissenschaft ihre einstige periphere Stellung innerhalb der Linguistik verlassen hat und heute eindeutig zu den progressiven und innovativen Disziplinen innerhalb der Linguistik gehört.
6. Zu den Beiträgen des Bandes All diese Entwicklungen und Merkmale werden auch von den Beiträgen dieses Sammelbandes widerspiegelt. Sie vermögen zwar kein repräsentatives Bild über sämtliche Gegenstände, Methoden und Theorien innerhalb des Fachs zu geben. Durch ihre zumeist selbstreflexive Ausrichtung und ihre kritische Perspektive zeigen sie aber zahlreiche zentrale Entwicklungstendenzen, Desiderate und Zukunftsperspektiven des Fachs auf. Sie vertreten die verschiedensten Forschungsrichtungen: die Sprachwandeltheorie, die Diachrone Sprachtypologie und die Historische Grammatikographie; weiters die Grammatikalisierungsforschung, die Historisch-vergleichende Sprachwissenschaft, die Sprachgeschichtsschreibung, dabei u. a. die kulturhistorisch orientierte Sprachgeschichte sowie – innerhalb der Soziopragmatischen Sprachgeschichte – die Sprachgebrauchsgeschichte, die Sprachbewusstseinsgeschichte und die Historische Pragmatik. Damit decken sie zwar keineswegs das gesamte Forschungsspektrum innerhalb des Fachs ab, auf jeden Fall wird aber an ihnen diejenige Vielfalt an
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Gegenständen, Methoden und Theorien erkennbar, die für die Disziplin heute charakteristisch ist. Die meisten Beiträge sind aus einer germanistischen Perspektive heraus entstanden. Je ein Beitrag gewährt aber auch einen Einblick in einschlägige Probleme und Fragestellungen innerhalb der Anglistik (Richard J. Watts) und der Finnougristik (Marianne BakróNagy). An den Fragestellungen, methodologischen Herangehensweisen und theoretischen Orientierungen der einzelnen Aufsätze werden auch die vielfältigen interdisziplinären Beziehungen sichtbar, die die Historische Sprachwissenschaft von heute maßgeblich prägen. Ohne Vollständigkeitsanspruch kann in diesem Zusammenhang unter den linguistischen Teildisziplinen vor allem die Soziolinguistik (u. a. Elspaß, Takada, Watts), die Korpuslinguistik (Bubenhofer/Scharloth, Bubenhofer/Schröter, Elspaß), die Kognitive Linguistik (Watts, Kiss) oder die Sprachtypologie (Nübling, Szczepaniak) genannt werden; von den Wissenschaftsbereichen außerhalb der Linguistik wiederum u. a. die Kulturwissenschaft (Gardt), die Biologie (Kiss), die Mentalitätsgeschichte oder die discourse studies (Bubenhofer/ Schröter). In mehreren Beiträgen wird für den Abbau von (Teil)Disziplinengrenzen und die gegenseitige Annäherung von einst relativ autonomen und einander kaum wahrnehmenden linguistischen Forschungsgebieten argumentiert. So plädiert etwa Anna Molnár für mehr Austausch und gegenseitige Offenheit zwischen Grammatikalisierungsforschung und Historischer Grammatikographie; Renata Szczepaniak für die Anwendung sprachtypologischer Beschreibungs- und Erklärungsinstrumentarien in der Historischen Phonologie; Marianne Bakró-Nagy für die Einbeziehung von Erkenntnissen der Allgemeinen Sprachwissenschaft (u. a. der Sprachtypologie, der Grammatikalisierungsforschung oder der Laborphonologie) auch in etymologischen Forschungen; und Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth für den Anschluss der (historischen) Stilanalyse an Methoden der Korpuspragmatik. Auf der anderen Seite wird man aber an den Fragestellungen, methodologischen Reflexionen und nicht zuletzt natürlich an den kritischen, explizit oder implizit wertenden Äußerungen der Autoren auch die Konkurrenzen, Inkompatibilitäten und gegenseitige Abneigungen erkennen können, die – nicht selten unüberwindbar erscheinende – Trennlinien zwischen den einzelnen Forschungsrichtungen signalisieren. Auf der einen Seite plädiert etwa Damaris Nübling aus einer typologischen Perspektive heraus – ähnlich zu Anna Molnár – für problemorientiertes Denken und somit gegen eine isolierte Behandlung der einzelnen sprachhistorischen Epochen. Auf der anderen Seite geht Paul Rössler gerade der Frage nach, wie eine möglichst empirisch adäquate und sprachgeschichtsdidaktisch
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vorteilhafte Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte aussehen könnte. In ähnlicher Weise argumentiert Stephan Elspaß – im Einklang mit Dieter Cherubim, Jenő Kiss und Richard J. Watts – dagegen, in sterilen, in sich geschlossenen Sprachsystemen zu denken und bei Sprachwandelerklärungen den sozialen Kontext, d. h. die außersprachlichen Bedingungsfaktoren des Sprachgebrauchs gänzlich auszublenden. Auf der anderen Seite spricht sich aber Damaris Nübling entschieden für eine sprachtypologische Orientierung und damit für systemimmanente und prinzipiengesteuerte Erklärungen aus, da diese Richtung ihrer Ansicht nach „weit mehr verspricht als nur nach Sprachkontaktszenarien oder dem Einfluss gesellschaftlicher Veränderungen auf die Sprache zu suchen“. Und während sie sich – zusammen mit Renata Szczepaniak – für eine sprachtypologisch orientierte Historische Linguistik einsetzt und deren Nutzen an mehreren Beispielen auch veranschaulicht, widmet sich Stephan Elspaß in seinem Beitrag u. a. gerade auch der Frage, ob und inwieweit die zwangsläufigen Idealisierungen und Abstraktionen in der typologischen Arbeitsweise vertretbar und die zugrunde gelegten Daten – im Sinne von Ágel (2001: 139) – empirisch viabel seien.8 Generell lässt sich sagen, dass in den meisten Beiträgen des Bandes verschiedene Elemente der gegenwärtigen Forschungspraxis kritisch reflektiert und nicht selten sogar grundsätzlich in Frage gestellt werden. So kritisiert etwa Richard J. Watts den gegenwärtig immer noch viel zu verengten, selektiven und teleologischen Blick auf die Sprachgeschichte, der zu einem bedeutenden Teil der metaphorischen Struktur des wissenschaftlichen Diskurses bzw. einer Reihe von ideologisch generierten und diskursiv verfestigten Sprachmythen verschuldet ist. Die Beiträge von Noah Bubenhofer/Juliane Schröter, Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth und Stephan Elspaß können u. a. auch als ein Plädoyer für eine korpuslinguistische Neuorientierung in sprachhistorischen Forschungen gelesen werden. Und Anna Molnár weist in ihrem Aufsatz – im Einklang mit Ágel (2005) – auf die Unzulänglichkeit der Beschreibungskategorien wie auch der Anlage historischer Grammatiken hin, die ihrerseits u. a. die Integration von relevanten Erkenntnissen der Grammatikalisierungsforschung in die Historische Grammatikographie verhindern. Diese sind nur einige herausgegriffene Kritikpunkte und Forderungen, die neben den vielen anderen auf Schwachstellen bzw. aktuelle und möglicherweise die zukünftige Forschung prägende Entwicklungstendenzen hindeuten. An ihnen wird nicht zuletzt erkennbar, dass der besonders ab den 1980er Jahren einen enormen Aufschwung genommene Erneuerungsprozess innerhalb des Fachs bis heute andauert und keineswegs zu 8
Zu dieser Frage vgl. auch die Ausführungen in Oesterreicher (2001: 1573ff.).
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einem konsenshaften Abschluss gekommen ist. Die Entstehung eines einzigen einheitlichen, von der wissenschaftlichen Gemeinschaft allgemein anerkannten Paradigmas im Kuhn’schen Sinne ist in der näheren Zukunft allem Anschein nach nicht zu erwarten. Dies kann aber nur solange als negatives Zeichen gedeutet werden, solange man verkrampft am Kuhn’schen Wissenschaftsbild festhält und damit stillschweigend auch die Annahme akzeptiert, dass auch die Geisteswissenschaften nach dem von Kuhn über die Naturwissenschaften gezeichneten Bild zu funktionieren haben. Ist dies aber nicht der Fall, so kann die Vielfalt der Erkenntniswege umgekehrt gerade als Vorteil, u. a. als Zeichen der Vitalität und der Innovativität der Disziplin gesehen werden. Auf jeden Fall gilt aber, diesen Pluralismus und diese Grundlageninstabilität sowohl unter epistemologischem als auch unter soziologischem Aspekt zu reflektieren und bewusst zu steuern. Es bleibt zu wünschen, dass die Aufsätze dieses Sammelbandes zu einer solchen bewussten und reflektierten Auseinandersetzung mit den Grundlagen der Forschung anspornen und somit auch zum objektwissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt in der Historischen Sprachwissenschaft beitragen mögen.
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Péter Maitz
Dieter Cherubim
Verstehen wir den Sprachwandel richtig?1
1. Einleitung Die Ausgangsfrage dieses Bandes „Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft?“ soll, wie ich glaube, uns vor allem dazu anregen, gemeinsam darüber nachzudenken, was diese anerkannte Subdisziplin der Allgemeinen Sprachwissenschaft sein und was sie speziell leisten kann. Überzeugend beantworten können wir diese Frage wohl nicht, weil trotz einer kaum zu überblickenden Literatur seit junggrammatischer Zeit sichere Prognosen dazu kaum möglich sind.2 Und dies nicht nur, weil „der Geist weht, wohin er will“, sondern weil wissenschaftliche Entwicklungen komplexen Bedingungen oder Steuerungsfaktoren unterliegen, die man meist erst post festum dingfest machen oder rekonstruieren kann. Indem aber diese Frage in dieser hypostasierenden, aktivischen Form gestellt wird, veranlasst sie uns aber auch, daran zu erinnern, dass wissenschaftliche Disziplinen nicht im „luftleeren Raum“ agieren, sondern stets mit bestimmten Interessenkontexten und Konstellationen verbunden sind, in denen Gegenstände entworfen, Untersuchungszwecke formuliert und geeignete Untersuchungsmethoden dafür entwickelt werden.3 Wir alle wissen ja aus Erfahrungen, dass es so ‚rational‘ in der Praxis nicht läuft und dass es meistens mehrere Wege gibt, die uns „nach Rom“ führen.4 1 2
3 4
Der vorliegende Beitrag orientiert sich weitgehend an dem in Debrecen gehaltenen Vortrag, fügt aber erläuternde Anmerkungen und aktuelle Hinweise hinzu. Zwar gilt vielfach Jacob Grimm mit seinem Programm einer historischen Grammatik (1819) als Gründungsheros (vgl. Cherubim 1985), aber erst Hermann Pauls Prinzipien der Sprachgeschichte (1880) können m. E. als das eigentliche Gründungsdokument der modernen „Historischen Sprachwissenschaft“ gelten, dem dann am Ende des 19. Jh. allerdings eine Reihe weiterer „Summen“ (Prinzipienlehren) an die Seite gestellt werden können. Hier darf nur an F. de Saussures bekanntes dictum (1915: 23) erinnert werden: „Bien loin que l’objet précède le point de vue, on dirait que c’est le point de vue qui crée l’objet“. Hymes (1974) argumentiert daher zu Recht gegen die Vorstellung von „Paradigmawechseln“ (nach Th. S. Kuhn) in der Entwicklung der Sprachwissenschaft. Was meist eher zu beobachten ist, sind wechselnde Dominanzen in einem Feld mehrsträngiger Entwicklungen.
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Dieter Cherubim
Ich selbst habe mich schon länger (Cherubim 1975) mit dieser Teildisziplin und ihren unterschiedlichen Entstehungsbedingungen befasst und zu verstehen versucht, womit sie sich eigentlich beschäftigt und warum sie das tut. Angesichts der ja oft apostrophierten Vielfalt sprachhistorischer Ansätze war und ist das keine leichte Aufgabe, die man in einem Zugriff bewältigen könnte. Selbst Experten auf diesem Gebiet wie der frühere Tübinger Linguist Eugenio Coseriu († 2002) oder Wolfgang Ullrich Wurzel († 2001) aus Berlin, um nur zwei Namen von Kollegen zu nennen, die heute nicht mehr mitdiskutieren können, haben sich in immer wieder neuen Anläufen an diesem Problem versucht, ohne zu einer endgültigen Lösung zu kommen.5 Aber auch der Romanist Helmut Lüdtke könnte hier genannt werden, dessen systemtheoretischer Ansatz (Lüdtke 1980) keineswegs der letzte dieser Art war, wie gerade wieder aktuelle Diskussionsansätze zeigen, die die breitgefächerte Diskussion unter einem Dach zusammen zu führen und auf ein neues, modernen wissenschaftstheoretischen Ansprüchen genügendes Niveau zu heben versuchen (Zeige 2011).6 Mein eigener Versuch einer Vergewisserung, den ich hier unternehmen will und der auf einem Verständnis von Wissenschaftsentwicklung als Geschichte heterogener Problematisierungen fußt, wird also genau so vorläufig bleiben wie andere dieser Art und bedarf ebenso wie diese weiterführender Kritik und fördernder Umgestaltung. Dennoch darf man davon ausgehen, dass es für alle diskutierten Ansätze eine Art Grundlagenproblematik gibt, die es erlaubt, einen Zusammenhang zwischen unterschiedlich fokussierten Aspekten zu rekonstruieren.7 Dazu will ich folgende Schritte unternehmen: Erstens will ich versuchen, mein Verständnis des Sprachwandels als Konstitutions- bzw. Funktionsprinzip natürlicher Sprachen zu explizieren und danach fragen, wie dieses Prinzip „in the long run of linguistics“ Berücksichtigung fand. Letzteres kann hier selbstverständlich nur selektiv und exemplarisch geschehen. Zweitens will ich einige Überlegungen dazu anstellen, wie der Sprachwandel in den Gegenstandsbereich der heutigen Sprachwissenschaft integriert wird bzw. integriert werden kann. Drittens gehe ich davon aus, dass der Wandel natürlicher Sprachen ein komplexer Vorgang ist, dessen Untersuchung also eine fruchtbare Operationalisierung verlangt, die wenigstens ansatzweise skizziert werden soll. 5 6 7
Da auf die Menge ihrer Beiträge hier nicht im Einzelnen eingegangen werden kann, sei nur auf zwei immer noch lesenswerte Diskussionsbeiträge hingewiesen: Coseriu (1958) und Wurzel (1975). Eine neue Zusammenfassung und einen eigenen Ansatz versucht auch Kotin (2005, 2007); eher populär ist die Darstellung der Evolution von Sprache durch Deutscher (2005). Ähnlich geht jetzt auch Zeige (2011: 1ff.) vor.
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Viertens möchte ich das zentrale Problem der Erklärung des Sprachwandels ansprechen, das für mich nur durch Rekurs auf die vielfältigen Funktionen natürlicher Sprachen zu lösen ist, weil ich diese prinzipiell als Techniken verstehe, die vor allem der menschlichen „Verständigung“ dienen, und ihre Entwicklung keinen Zweck in sich selbst hat, – auch wenn es bisweilen so aussehen mag.8
2. Sprachwandel als Konstitutionsund Funktionsprinzip der Sprache Ich gehe davon aus, dass natürliche Sprachen verstanden werden können als historisch entwickelte, semiotische Techniken menschlicher Verständigung über die „Welt“, mit der wir es zu tun haben. Nicht zuletzt mit ihrer Hilfe konstruieren wir fortwährend die Wirklichkeiten, in denen wir leben, uns zurechtfinden müssen und unsere Interessen persönlicher oder sozialer Art verfolgen können. Techniken: das meint systematisch organisierte und habitualisierte Fertigkeiten, die wir uns in sozialen Zusammenhängen (Spracherwerb, Sprachsozialisation) aneignen und immer wieder in kommunikativen Akten überprüfen, festigen oder verändern. Dabei werden diese Techniken kulturell überformt (z. B. verschriftlicht, standardisiert), so dass sie ihren Benutzern nicht nur als Ausdruck ihrer Identität oder Lebensform bewusst, sondern auch in ihren historischen Dimensionen zugänglich werden können. Die Historizität natürlicher Sprachen bezieht sich jedoch nicht nur auf die Tatsache, dass sie alle eine Vergangenheit haben, die mehr oder weniger stark bis in die Gegenwart fortwirkt (Cherubim 2012), sondern auch auf die vielfältigen Möglichkeiten ihrer Veränderung und Reproduktion in Gegenwart und Zukunft. In ihr kommen Sprachverschiedenheit, Sprachvariation und Sprachwandel ebenso wie Spracherwerb und Sprachgebrauch sinnvoll zusammen.9 Insofern ist der Wandel von Sprachen weder eine bloße Akzidenz ihrer Systematik, noch eine pathologische Abweichung ihres Funktionierens, sondern ein konstitutives Moment, das ihren sinnvollen Gebrauch fortlaufend gewährleist. Wilhelm von Humboldts 8
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Mit „Verständigung“ als oberster Funktion natürlicher Sprachen sollen hier nur chiffrenartig alle unterschiedlichen Funktionszuweisungen auf den Punkt gebracht werden, die in der Linguistik diskutiert wurden. Vgl. etwa Oesterreicher (1979). Grundsätzlich scheinen mir aber immer noch die drei Bühlerschen Funktionen (Darstellung, Symptom, Appell) ein fruchtbarer Ausgangspunkt für alle derartigen Bestimmungen zu sein. Ihnen entsprechen heute die kognitiven, soziokulturellen und pragmatischen Zugriffe in der modernen Sprachwissenschaft. Vgl. dazu ausführlicher Oesterreicher (2001).
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„genetische Definition“ von Sprache10 weist also schon in die richtige Richtung, müsste aber sicher noch weiter „ausbuchstabiert“ werden. Wie in jeder Wissenschaft, die es mit komplexen Gegenständen zu tun hat, kann es daher auch in der Sprachwissenschaft zu Arbeitsteilungen kommen, die eine sinnvolle Konzentration ermöglichen, spezifischen Interessen gerecht werden und sogar eine eigene Logik entwickeln können. Die Historische Sprachwissenschaft beschäftigt sich, darüber dürfte Konsens bestehen, zentral mit dem Problem des Sprachwandels, seinen Bedingungen, Verlaufsformen und Konsequenzen im sprachlichen wie im außersprachlichen Bereich. Selbstverständlich kann man diesen Arbeitsbereich, z. B. aus methodischen Gründen, auch enger schneiden. Dies ist z. B. der Fall, wenn heute nur von Historischer Grammatik statt von Historischer Sprachwissenschaft gesprochen wird und erstere für letztere stehen soll.11 Man sollte sich aber im Klaren darüber sein, dass man so Idealisierungen des Gegenstandes vornimmt, die legitimiert werden müssen. Unter Sprachwandel verstehe ich eine Menge oder einen Zusammenhang von Veränderungen der Sprachtechnik, die deren System und Verwendung betreffen sowie nachhaltig sind, d. h. von den folgenden Generationen übernommen (Neuerung) oder nicht übernommen (Verlust) werden. Dazu gehört auch die Repräsentanz dieser Sprachtechnik im Bewusstsein ihrer Sprecher sowie ihre Verteilung auf unterschiedliche soziale Verhältnisse. Sprachwandel ist so stets mit Einstellungswandel und Wandel der sozialen Funktion sprachlicher Phänomene verbunden. Schon F. de Saussures geht in seinen Vorlesungen von drei konstitutiven Faktoren des Sprachwandels aus. Denn die Veränderbarkeit (mutabilité) sprachlicher Zeichen, die für ihn zu den Grundtatsachen der Sprache gehört, verdankt sich dem Zusammenwirken von drei Faktoren (1915: 112f.): dem System der Sprache (langue), der Zeit (temps) und der Sprachgemeinschaft (masse parlante). Aus dem Zusammenspiel der drei Faktoren ergibt sich so auch, wie Saussure es gefasst hat (1915: 108ff.), das paradoxe Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität in den natürlichen Sprachen.12 Helmut Lüdtke (1980: 4) hat in diesem Zusammenhang von der „Staffettenkontinuität“ natürlicher Sprachen gesprochen, die, solange sie „leben“, in komplexen Prozessen der Wiederaneignung von Generation zu Generation weitergegeben werden.
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Vgl. Humboldt (1830-1835: 418, 431). Auch Anttila (1993) geht bei seinen grundsätzlichen Überlegungen von einem genetischen Zeichenbegriff aus. In ähnlicher Weise hat Horst Isenberg (1965) zwischen einer „Theorie des Sprachwandels“ und einer „Theorie der Sprachentwicklung“ unterschieden. Vgl. auch dazu Cherubim (1975: 42f.). Vgl. dazu auch Cherubim (1998), Kotin (2005, 2007).
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Zum Sprachwandel als Konstitutions- bzw. Funktionsprinzip natürlicher Sprachen gehört weiterhin, dass er, wenn auch immer nur in Grenzen, von uns selbst wahrgenommen, reflektiert und produktiv, z. B. im Interesse der Wiederaneignung älterer Sprachzustände (Philologie) oder einer Sprachkultivierung (Stilistik, Sprachkritik), verarbeitet werden kann. Die Vorstellung, er ereigne sich nur „hinter dem Rücken“ der Sprachsubjekte, gleichsam per Anschub durch eine unsichtbare Hand (Keller 1990), erscheint mir von daher unzureichend oder sogar unangemessen.13 Angesichts dieser Evidenz des Sprachwandels im Sprachleben wie in unserer Wahrnehmung erscheint es erstaunlich, dass sich die Sprachwissenschaft in ihrer Entwicklung relativ wenig bzw. erst in neuerer Zeit intensiver damit befasst hat. Ich greife nur einige besonders interessante Positionen heraus. Für die antiken Grammatiker, denen es primär um die „Richtigkeit“ der Sprache ging (Siebenborn 1976), war das kein sonderlich wichtiges Thema;14 anders für die Textphilologie, die sich z. B. in Alexandria mit älteren Texten oder der Erklärung veralteten Wortguts (Etymologie) auseinandersetzen musste. In M. Terentius Varros leider nur fragmentarisch erhaltenen Schrift De lingua Latina (1. Jh. v. Chr.) finden wir bereits Ansätze zu allgemeineren Überlegungen zum Sprachwandel, die durch weiteres antikes Material (Glossen, Kommentare etc.) angereichert werden können (Schröter 1960). Motiviert durch den biblischen Mythos von der Sprachentstehung (Genesis) und Sprachdifferenzierung (Turmbau zu Babel) erörterte dann der italienische Dichter Dante in seiner poetologischen Programmschrift De vulgari eloquentia (um 1300) auch sprachhistorische Aspekte und verknüpfte sie mit sprachsoziologischen Beobachtungen. In den dadurch angestoßenen späteren Sprachdiskussionen der italienischen Renaissance (Hall 1936, Read 1977) wird das Thema des Sprachwandels bereits ausgiebiger behandelt. Dennoch bleibt diese Behandlung noch lange spekulativ, was auch für die darauf folgenden kulturhistorischen Bemühungen des Barock (z. B. J. G. Schottelius, J. G. von Eccard) und sogar die sensualistischen Sprachtheorien des 18. Jh. (Condillac, J. G. Herder, J. 13
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Dies gilt selbst dann, wenn man Kellers Zurückweisung einer bloßen Alternative von Kausalität und Finalität im Sprachwandel akzeptiert, d. h. mit ihm glaubt, dass der Sprachwandel weder allein durch außersprachliche Faktoren (z. B. soziale Veränderungen) bedingt wird noch von den Mitgliedern einer Sprachgemeinschaft für bestimmte Zwecke (z. B. Erfüllung neuer kommunikativer Bedürfnisse) intendiert wird. Das heißt aber m. E. nicht, dass finale Motivationen in Prozessen des Sprachwandels keine oder nur eine vernachlässigenswerte Funktion haben. Vgl. dazu auch das integrative Modell von Mattheier (1984: 729). Die Schwachstelle in Kellers Theorie des Sprachwandels scheint mir daher das Problem zu sein, wie es von kommunikativ motivierten Innovationen zu kollektiv akzeptiertem Wandel kommen kann. Doch vgl. jetzt Keller (2006). Doch vgl. Allen (1948).
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Ch. Adelung) noch gilt. Erst die großen sprachvergleichenden Untersuchungen des 19. Jh. (W. v. Humboldt, F. Bopp, A. F. Pott u. a.) lieferten dann eine hinreichende Materialbasis, um auf dieser Basis anspruchsvollere theoretische Modelle (Prinzipienlehren) entwickeln zu können. Hermann Pauls (1880) herausragender Versuch einer theoretischen Neubegründung der Sprachwissenschaft als historische Kulturwissenschaft blieb jedoch relativ wirkungslos angesichts der Tatsache, dass sich die dominanten Strömungen des Strukturalismus im neuen 20. Jh. vor allem am neuen synchronischen „Paradigma“ orientierten. Auch wenn das Thema „Sprachwandel“ so wenigstens optisch für einige Zeit in den Hintergrund trat, war es für die moderne Sprachwissenschaft keineswegs „verloren“,15 sondern konnte in anderen Konstellationen wieder neu belebt werden. Das geschah jedoch erst nach dem 2. Weltkrieg, vor allem im Kontext von dialektologischen Forschungen, in den USA, wobei die Revision früherer Ansätze, besonders auch Hermann Pauls, zu einem Programm empirischer sprachhistorischer Forschung verdichtet wurde, das sich später in großen Stadtstudien bewähren sollte. Es waren die Jiddisten Uriel Weinreich, William Labov und Marvin I. Herzog, die mit ihrem Beitrag Empirical Foundations for a Theory of Language Change (1968) diese Wende einleiteten, und vor allem Labovs Arbeiten waren in Folge wegweisend.16 Das Hauptverdienst dieses Neuansatzes war jedoch, zentrale Probleme einer Theorie des Sprachwandels formuliert zu haben, die auch heute noch die Diskussion bestimmen. In Anlehnung an diese bahnbrechende Studie von Weinrich, Labov und Herzog (1968) habe ich selbst (Cherubim 2003: 233) einige Problemstellungen formuliert, die m. E. für jeden Entwurf einer Theorie des Sprachwandels heute eine explorative Funktion übernehmen könnten: (1) das Konstitutionsproblem des Sprachwandels: Was ist Sprachwandel? Welcher Begriff von Sprachwandel erweist sich – für bestimmte Fragestellungen oder Untersuchungsinteressen – als fruchtbar? Wie lässt sich der Begriff des Sprachwandels sprachtheoretisch oder empirisch begründen? (2) das Beobachtungsproblem des Sprachwandels: Woran kann man Sprachwandel festmachen? Welche Bedingungen sollen für den erfolgreichen Vollzug von Sprachwandel gelten? Wie kann man ihn, wenn er – aus unterschiedlichen Gründen – nicht direkt erkennbar ist, rekonstruieren? Kann man ihn experimentell untersuchen?
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In Cherubim (1975) habe ich versucht, das durch Hinweise auf wichtige diachronische Ansätze zu relativieren. Ohnehin blieb das Interesse an Fragen des Sprachwandels in der sog. Indogermanistik stets virulent. Exemplarisch sei hier nur auf zwei Sammelbände mit wichtigen Arbeiten W. Labovs hingewiesen: Labov (1972a und b).
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(3) das Beschreibungsproblem des Sprachwandels: Wie kann man Sprachwandel in seinen verschiedenen Phasen (Motivation, Innovation, systematische Integration, Diffusion, Konsequenzen/Nachwirkungen) bzw. in seinem Verlauf (Prozessierung) mit seinen sozialen und sprachreflexiven Verarbeitungen modellieren? (4) das Erklärungsproblem des Sprachwandels: Wie kann man den Sprachwandel auf bestimmte (generelle/spezifische) Motivationen, Bedingungen oder sogar Ursachen zurückführen? Mit welchen (inner- oder außersprachlichen) Funktionen, Zwecken oder Leistungen lässt sich der Wandel von Sprachen verknüpfen? Kann man auf der Basis universaler oder einzelsprachlicher Prinzipien Sprachwandel prognostizieren? Im Folgenden wird es darum gehen, einige dieser Fragen, besonders (3) und (4), weiter zu entwickeln.
3. Zur Integration des Sprachwandels in den Gegenstandsbereich der Linguistik Die Entwicklung der strukturellen Linguistik im 20. Jh. brachte es mit sich, dass die Historische Sprachwissenschaft, die noch im Jahrhundert zuvor das Feld beherrscht hatte, weithin zugunsten einer ahistorischen Sprachforschung zurücktrat oder aus dem Blick zu geraten schien. Dieses mangelnde Interesse an der Historizität der Einzelsprachen war unterschiedlich begründet: Dazu trugen neben der ohnehin verbreiteten, starken Orientierung an den eher konservativen geschriebenen und standardisierten Sprachen (vgl. Lüdtke 1987), wie sie ja in Schule und Fremdsprachenunterricht vorrangig vermittelt wurden, auch moderne Modellierungen des Gegenstandes Sprache bei, die aus klassischen oder neuen Strukturwissenschaften (Logik, Mathematik, Informationstheorie, Kybernetik) stammten und wenig Platz für historische Fragestellungen zu bieten schienen. Und sie ersetzten die älteren Modelle, die den Naturwissenschaften des 19. Jh. (Physiologie, Biologie, Geowissenschaften) nahe standen und besonders dem Entwicklungsgedanken verpflichtet waren (vgl. auch Bechert 1988). Übergänge zwischen beiden Arten der Modellierung lassen sich etwa an der Nutzung des Organismuskonzepts festmachen, das für Hermann Paul und den Schüler der Junggrammatiker, F. de Saussure, noch attraktiv war, dann aber zugunsten des Struktur- und Systembegriffs aufgegeben wurde (Rensch 1967). Länger erhalten blieb freilich noch die Redeweise vom „Leben der Sprachen“, die ebenfalls ihre Wurzeln im 19. Jh. hatte, nun aber nur noch metaphorische Funktionen (z. B. in sprachkritischen Debatten) erfüllte.
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Noch ältere kulturhistorische Konzeptionen, wie wir sie aus dem 18. Jh. (z. B. von Herder oder Adelung) kennen und die vor allem nach außersprachlichen Motivationen (Sach-, Mentalitäts- oder Sozialgeschichte) für Sprachentwicklungen gefragt hatten, traten ebenfalls hinter den dominanten und überwiegend synchronischen Strukturanalysen moderner Linguistik zurück oder beschränkten sich auf anscheinend periphere Bereiche wie die Wörter-und-Sachenforschung, Etymologie und Onomasiologie. Dass sie aber keineswegs ganz verschwanden und heute sogar wieder belebt werden konnten, zeigen nicht zuletzt aktuelle romanistische Bemühungen, sie mit neuen kognitiven Fragestellungen zu verknüpfen und dadurch weiter zu entwickeln (Blank/Koch 2003).17 Im Zentrum der älteren sprachhistorischen Forschung stand häufig die Lexik der Sprachen. Die moderne Linguistik hat sich jedoch wieder stärker der Grammatik zugewandt. Auch dies trug dazu bei, dass sprachhistorische Aspekte vielfach zurück gedrängt oder einfach ausgeblendet wurden. Denn da Grammatik, speziell Grammatik im engeren Sinne von Syntax, der Organisationsbereich von Sprachen ist, der Sprachveränderungen weniger offen ist als die Lexik, schien auch weniger Bedarf an sprachhistorischen Fragestellungen zu existieren, zumal sie für die Ermittlung des Systemcharakters von Sprachen, die auf dem Programm stand, eher „störend“ wirken mussten. Traditionelle Wortgeschichte und strukturelle Grammatik standen nun unvermittelt nebeneinander oder traten sogar in Widerspruch zueinander. Das hat sich jedoch inzwischen verändert: Historische Grammatiken haben heute wieder eine neue Attraktivität bekommen, und Brückenschläge zwischen Lexik und Grammatik sind vielfach (z. B. in der Wortbildungsforschung und der Beschäftigung mit den sog. Grammatikalisierungen) möglich.18 Eine Konsequenz des offensichtlichen Rückgangs sprachhistorischer Interessen war auch, dass manchmal die entsprechende Disziplin „Historische Sprachwissenschaft“ aus dem Kernbereich der allgemeinen Sprachwissenschaft herausgenommen wurde und lediglich den Status einer sog. Bindestrichlinguistik analog zu Sozio-, Psycho- oder Pragmalinguistik (z. B. Geier 1998: 162) erhielt, auf die man in Einführungs- oder Hand-
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Da es hier nicht um Vollständigkeit geht, sind weitere Hinweise auf kulturhistorische Ansätze in der Sprachforschung des 20. Jh. (z. B. die materialistisch begründeten Ansätze der sowjetischen Psycholinguistik) nicht notwendig. Relativ offen für sprachhistorische Fragestellungen blieb die Beschäftigung mit der Lautstruktur von Sprachen. Nicht zu vergessen ist ja, dass gerade hier, im sog. diachronischen Strukturalismus von Roman Jakobson, André Martinet u. a., relativ früh die Verknüpfung von Entwicklungs- und Strukturkonzeptionen gelang.
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büchern notfalls sogar verzichten konnte.19 Dennoch hat die Nähe zu diesen „expandierten“ Sprachbeschreibungen dazu geführt, dass vergessene Aspekte historischer Sprachforschung wieder aktiviert werden konnten. Nicht zuletzt die aus der Soziolinguistik erwachsene intensive Sprachkontaktforschung hat Anstoß gegeben, sich mit sprachlichen Entwicklungen wie der Kreolisierung zu beschäftigen, an denen kurzfristige Sprachwandelprozesse modellhaft studiert werden können.20 Mein Appell ist jedoch grundsätzlicher und geht in die andere Richtung: Die Historische Linguistik sollte wieder in den Kern der Sprachwissenschaft zurückgeholt werden, weil sprachliche Entwicklungen ein zentrales Erprobungsfeld moderner Sprachtheorien darstellen.21 Schon Roman Jakobson hatte in einer aphasiologischen Studie (1960: 49) darauf hingewiesen, dass sich die Sprachwissenschaft, will sie ihren Gegenstand insgesamt oder spezielle Aspekte desselben wirklich verstehen, „mit allen Seiten“ des Lebens der Sprache („mit der Sprache in ihrer Tätigkeit, mit der Sprache in ihren Entwicklungstendenzen [drift], mit der Sprache in ihrer Ontogenese und mit der Sprache im pathologischen Abbau“) befassen müsse und – dies sei hinzugefügt – sich daran bewähren müsse. Denn die Erkenntnis struktureller Zusammenhänge in der sprachlichen Systematik, die heute als Hauptgegenstand der modernen Sprachwissenschaft gilt, bedarf stets der Rechtfertigung, dass sie auch in anderen Bereichen, z. B. von Sprachwandel und Sprachentwicklung, funktional angemessen interpretiert werden können. Umgekehrt heißt das aber auch, dass für das Verständnis des historischen Wandels von Sprachen in der Zeit jede Art von Sprachdynamik mit zu betrachten ist, unterschiedliche Typen von sprachlichen Produktionsfehlern ebenso wie die Erscheinungen sprachlicher Kreativität, sprachspielerisch und poetisch motivierte Abwandlungen ebenso wie bewusste Verletzung sprachlicher Regeln zu unterschiedlichen sprachkritischen oder aufklärerischen Zwecken.22
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Auch W. P. Lehmanns einschlägiger Artikel im Lexikon der Germanistischen Linguistik (1980) bedient sich des Labels „Historiolinguistik“, präsentiert aber eindrucksvoll die ganze Breite sprachhistorischer Ansätze traditioneller wie moderner Art. Freilich darf in diesem Zusammenhang an den Romanisten Hugo Schuchardt erinnert werden, der sich schon am Ende des 19. Jh. intensiver mit den Phänomenen Sprachmischung und Kreolisierung befasst hatte. – Auch andere Bindestrichlinguistiken sind inzwischen erfolgreich historisiert worden, vgl. z. B. Kilian (2005). Sprachwandel als „Fenster“ zur Sprachtheorie ist eine Vorstellung, die auch schon Kiparski (1968: 241) artikulierte. In Cherubim (1980) habe ich bereits eine ähnliche Position vertreten. In der Tendenz entspricht das durchaus dem Versuch von Hans Sperber (1914), so etwas wie eine „dynamologische Betrachtung des Sprachlebens“ zu etablieren.
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4. Zur Operationalisierung des Sprachwandels Der Sprachwandel ist, wenn man darunter mehr verstehen will als den Übergang zwischen zwei Zuständen A und A' (wobei eine Zeitdifferenz t2 > t1 und ein zu bestimmendes Kontinuitätsverhältnis A ~ A' vorausgesetzt wird), ein hochkomplexer Vorgang, dessen Umsetzung (Prozessualisierung) man sich in mehreren Schritten vorstellen kann. Dafür hat bereits Coseriu (1958) eine Art Ablaufmuster vorgeschlagen, das heute weiter zu entwickeln ist. Ich gehe dabei insgesamt von fünf Schritten aus:23 1. Motivation des Sprachwandels: Sie lässt sich meist erst post festum feststellen, zumal die Komplexität und Funktionsvielfalt natürlicher Sprachen so groß ist, dass alles Mögliche (z. B. Defekte, Asymmetrien oder Ungleichgewichtigkeiten im Sprachsystem, Ausspracheschwierigkeiten durch Lautwandel, Einwirkung von Fremdsprachen, fehlende Bedeutungsdifferenzierungen oder Wortlücken, affektive Verstärkungen, neu auftretende Kommunikationsbedürfnisse, sozialer Wandel) Sprachwandel auslösen kann, aber nicht muss. Von kausalen oder finalen „Ursachen“ kann jedoch hier nicht gesprochen werden (Keller 1990). Aber auch Voraussagen im Sinne von Präferenzen, die durch Natürlichkeitsprinzipien o. Ä. begründbar sind, bleiben problematisch.24 2. Innovation des Sprachwandels: Auch die Einführung von sprachlichen Neuerungen durch Einzelne, Gruppen oder Institutionen basiert auf einer nahezu unerschöpflichen Kreativität, die aber immer nur beschränkt genutzt werden kann und die auch nicht regellos erfolgt, um keine kommunikativen Abrisse oder kontraproduktiven Effekte zu erzeugen (Cherubim 1980). Innovationen sind also gleichsam Angebote oder potentielle Möglichkeiten zum Sprachwandel, die sicher in den meisten Fällen nicht zum Zuge kommen oder sich durchsetzen können. Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass solche Angebote in vielen Bereichen beständig produziert werden, ohne dass aber damit Sprachveränderungsabsichten verbunden sind. Schon für Hermann Paul (1880: 34) waren z. B. 23
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Nicht in diesen Zusammenhang gehört die Sprachursprungsfrage, die auch von Zeige (2011) mit Recht aus der Diskussion der Struktur des Sprachwandels ausgeklammert wird. Alle Sprachen, die wir kennen, sind bereits hochentwickelte Techniken kommunikativer Verständigung, und es gibt auch keine sicheren Kriterien, systematisch und/oder typologisch „primitivere“ Entwicklungszustände zu bestimmen. Sprachwandel setzt also für unsere Erkenntnis immer schon eine Sprache voraus. Interessante „Spekulationen zum Anfang der Sprache“ lieferte jüngst Wunderlich (2008). Vgl. etwa Vennemann (1983) und zur Anwendung des Konzepts der Natürlichkeit auf den Sprachwandel Wurzel (1975) und (1988a). Ein traditionelles Konzept ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Analogie, der schon beim römischen Grammatiker Varro, dann aber vor allem im 19. Jh., so auch bei Paul (1880), von großer Bedeutung für die historische Sprachforschung war (Wurzel 1988b).
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„die Vorgänge bei der Spracherlernung von der allerhöchsten Wichtigkeit für die Erklärung der Veränderung des Sprachusus“, obwohl hier, wo es ja primär um Einpassung geht, die Chance, etwas nachhaltig zu verändern, eher gering sein dürfte.25 Das gilt auch für die zahllosen Abwandlungen, die spontan im alltäglichen Sprechen, besonders auch in Sprachkontaktsituationen produziert, aber in den meisten Fällen nicht wahrgenommen oder weiter verarbeitet werden. Selbst intendierte und reflektierte Abweichungen im poetischen, politischen, satirischen oder wissenschaftlichen Sprachspielen führen, wie schon lange bemerkt wurde, nur in seltenen Fällen dazu, dass daraus Optionen für Sprachveränderungen entstehen.26 3. Diffusion des Sprachwandels: Sprache ist wesentlich ein soziales Phänomen: Sie wird nur im sozialen Kontext erworben, primär dort immer wieder rekonstruiert und kann ebenso nur in Prozessen sozialer Interaktion verändert werden. Das schließt weder den individuellen Sprachgebrauch noch eine quasi-autonome Dynamik sprachlicher Systematisierung aus, die gleichsam unterhalb des Bereichs sozialer Wahrnehmung und bewusster Verarbeitung bleiben kann. Um sprachliche Innovationen wirklich durchzusetzen, müssen jedoch Prozesse in Gang gesetzt werden, die wir aus anderen sozialen Bereichen (Schmidt 1976) kennen und die mit Bewertungen verbunden sind, wie sie vor allem von William Labov in vielen seiner Arbeiten (z. B. Labov 1965, vgl. auch Trudgill 1974) beschrieben wurden. Erst wenn mehr oder weniger spontan entstandene Varianten, Neubildungen etc. (Innovationen) einen bestimmten Status erhalten, den auch andere Sprachbenutzer oder Sprachbenutzergruppen akzeptieren und mit einem bestimmten Nutzen oder kommunikativem Wert verbinden können, entsteht tatsächlich Wandel, der eine bestimmte Richtung annimmt. 4. Integration des Sprachwandels: Sprachen als semiotische Techniken sind systematisch organisiert. Soll der Sprachwandel erfolgreich sein, muss er sich dieser Systematisierung einfügen.27 Die Systematik natürlicher Sprachen fungiert daher als eine Art Filter, der ihre Funktionsfähigkeit auf den verschiedenen Ebenen gewährleisten und damit auch die Richtung des Sprachwandels steuern kann. Das erklärt auch, dass Ansätze zum Sprachwandel stecken bleiben oder nicht zum Zuge kommen können. Und dadurch wird ebenfalls verhindert, dass es bei allzu starken Verände25 26 27
Dennoch wird diese Möglichkeit häufig noch als „Haupteinfallstor“ für den Sprachwandel angesehen; vgl. Baron (1977), Cherubim (1980: 33ff.). Reiches Material zu affektiv begründeten und anderen sprachlichen Abweichungen findet man in der sprachpsychologischen Literatur der 30er Jahre des vorigen Jahrhunderts, z. B. Havers (1931). Ich lasse hierbei undiskutiert, inwieweit die Systematisierung von Sprachen durch universale Prinzipien und/oder durch einzelsprachliche Organisation (Parametrisierung) bestimmt ist.
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rungen zu kommunikativen Abrissen zwischen den Sprachgenerationen kommt. Im Kern sind alle Sprachen, wenn auch in unterschiedlicher Weise, in drei Modulen organisiert: Lexik (Thematisierung), Grammatik (Konstruktion) und Pragmatik (Kontextualisierung). Zwischen ihnen gibt es verschiedene dynamische Übergänge (Schnittstellen), die im Deutschen etwa durch Phänomene der Wortbildung, Wortklassenzuordnung, Phraseologie, Pronominalisierung oder Vertextung repräsentiert werden. Dazu kommt die Organisation der Sprachtechnik im Bereich medialer (phonisch-graphischer) Vermittlung. Alle diese Module können bei erfolgreichem Sprachwandel mittelfristig zusammenwirken, auch wenn der Wandel zunächst auf einer Ebene beginnt. Stefan Sondereggers (1979: 297ff.) Schilderung der Langzeitentwicklung des deutschen Umlautsystems ist ein schönes Beispiel dafür, der Ein- und Ausbau des Artikelsystems seit dem Althochdeutschen ein anderes. Lexikalische Differenzierungen (z. B. im Bereich von Tierbezeichnungen) haben meist auch morphologische und syntaktische Folgen, und die Kontextualisierung solcher Erscheinungen im Sprachgebrauch (z. B. in Form von Affektbesetzung, Verteilung auf unterschiedliche Situationstypen, Varietäten oder Wissensvoraussetzungen) lässt meist auch nicht lange auf sich warten.28 5. Konsequenzen des Sprachwandels: Die durch Sprachwandel erzeugten Kettenreaktionen innerhalb der Sprachsystematik können auch zu weiterreichenden Veränderungen führen, die die Qualität der jeweiligen Sprache grundsätzlich betreffen.29 Für das Deutsche bekannt sind etwa der noch im Gang befindliche Umbau des morphologischen Teilsystems (synthetisch > analytisch), wodurch auch die Zuordnung zu den flektierenden Sprachen zunehmend in Frage gestellt wird. Auch der Kontakt mit anderen Sprachen kann typverändernd wirken. So ist innerhalb der historischen Syntax des Deutschen lange der Umfang und die Art des lateinischen Einflusses diskutiert worden, zumal dieser qua Übersetzung und Schulgrammatik bis in die Neuzeit nachwirkte. Wie das Beispiel des Engli28
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Vgl. auch Fritz (1998). Am Beispiel der Entwicklung von lexikalischen Bezeichnungen (Nominationen) für Sehhilfen (Brillen) im Deutschen habe ich selbst (Cherubim 2001) versucht, eine solche sprachsystematische Integration exemplarisch zu verdeutlichen. – Eine Art Kreislaufmodell der systematischen Integration (endogener Sprachwandel) sieht Lüdtke (1980: 10) vor: Ein außersprachlich gedachter Sachverhalt muss mit einem vorgegebenen lexikalischen Repertoire erfasst und auf bestimmte semantaktische Konzepte abgebildet werden; diese müssen wiederum gebenenen morphosyntaktischen Verkettungen genügen, bevor sie schließlich in lautliche Repräsentationen überführt werden. Der Kreislauf kann z. B. dann dadurch zustande kommen, dass im Sprachgebrauch Veränderungen bestimmter Art (z. B. Klitisierung, Abnutzungen, Vereinfachungen, Umdeutungen) auf die lautlichen Repräsentationen einwirken, so dass rückwirkend Unklarheiten auf den anderen Ebenen entstehen, die wieder korrigiert werden müssen. Vor allem E. Coseriu (1970) ist auf diese Schichtung des Sprachwandels mit interessanten Beispielen eingegangen.
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schen zeigt, konnte der zwangsweise Sprachkontakt mit den romanisierten Normannen nach Hastings (1066) auch zur Herausbildung einer anderen Ausbildung und Schichtung von Varietäten (Superstratbildung, Diglossie) führen, die durch die jüngere Entwicklung des Englischen wiederum nachhaltig verändert oder beseitigt wurden. Besonders erscheinen hier auch Veränderungen kognitiv-semantischer Art, die den Charakter einer Sprache nachhaltig verändern: So argumentiert z. B. Schirmer (1972) anhand von lexikalischem Material des 17. und 18. Jh. für einen Subjektivierungsschub (Psychologisierung) relativ zu der vorangegangenen Wortschatzentwicklung des Deutschen.
5. Zur Erklärung des Sprachwandels Der Versuch, Erklärungen für den Sprachwandel zu finden, hat die Historische Sprachwissenschaft früher und heute sicher am meisten beschäftigt, und es ist auch viel Energie darauf verwendet worden, diese Problemstellung selbst immer wieder zu rekonstruieren (Paul 1880, Spitzer 1943, Coseriu 1958, Weinreich/Labov/Herzog 1968, Lüdtke 1980, Keller 1990, Zeige 2011).30 Oft hat man sich auf einzelne Bedingungen oder „Ursachen“ konzentriert und sie zu verallgemeinern versucht: Neben heute kaum noch diskutierten anthropologischen und biologischen Voraussetzungen (der Mensch als ein prinzipiell der Veränderung unterworfenes Lebewesen) oder der Wirkung von Geographie und Klima31 wurden gerne der Kontakt zwischen verschiedenen Sprachen,32 Änderungen in der Sozialstruktur von Sprachgemeinschaften, materielle (z. B. technisch-wissenschaftliche Neuerungen), fachliche (horizontale oder vertikale) Ausdifferenzierung von Wissensbereichen und andere „exogene“ Faktoren zur Erklärung des Sprachwandels herangezogen. Ihnen wurden im Rahmen moderner, strukturalistischer Ansätze „endogene“ Faktoren der Sprachstruktur (z. B. Lücken, Asymmetrien, Ungleichgewichte, Defekte im Sprachsystem) gegenüber gestellt, die wiederum durch eine dritte Gruppe von psychischen oder mentalen Einflussgrößen funktional kontrolliert und gesteuert werden sollten: Anpassungs- und Ausgleichstendenzen, Streben nach Optimierung, Expressivität, Spielfreude etc., aber jeweils auch gegenteilige
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Vgl. auch Handbücher und Konferenzberichte wie Boretzky (1977), Davis (1990), zu neueren Diskussionen auch Davis/Iverson (1993). Ein schönes Beispiel etwa bei Spitzer (1943: 418); aber auch Saussure (1915: 202ff.). Gerade für das Deutsche ist nicht nur der direkte (kommunikative), sondern auch der indirekte (kulturelle) Kontakt mit anderen Sprachen wichtig gewesen, z. B. in Form von literarischen Vorbildern, Übersetzungen etc.
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Bestrebungen wie Dissimilation, Neutralisierung, Konservatismus etc.33 Dazu kamen kulturelle Faktoren, deren Einfluss ebenfalls nicht zu bestreiten war: Verschriftlichung, Normierung, Terminologisierung, Standardisierungen, Sprachkritik, politische Instrumentalisierung und Ähnliches.34 Keiner dieser vielen, verschiedenartigen Faktoren des Sprachwandels35 erweist sich jedoch als notwendige oder gar hinreichende Bedingung, weder für die Auslösung, noch für die Durchführung des Sprachwandels, taugt also nicht dazu, den Sprachwandel prinzipiell zu erklären, obwohl sie einzeln oder im Verbund (Malkiel 1967) durchaus wirksam sein können. E. Coseriu (1958) hat deswegen zu Recht zwischen der rationalen (prinzipiellen), der allgemeinen und der historischen (speziellen) Erklärung des Sprachwandels unterschieden. Für ihn resultiert der Wandel von Sprachen letztlich aus der „freien“ schöpferischen Sprachtätigkeit von Menschen: eine sicher zu stark idealisierende Annahme, die die Zweckgebundenheit sprachlichen Handelns ebenso wie die soziale, durch Kommunikation und Interaktion vermittelte Kontrolle natürlicher Sprachen, wie es gerade durch W. Labov (1965) und andere in letzter Zeit konkretisiert werden konnte, bei weitem unterschätzt. Dennoch wird man dem Sprachgebrauch selbst die entscheidende Rolle auch beim Wandel von Sprachen zuweisen: „Ce n’est pas un paradoxe de dire qu’ une langue change parce qu’elle fonctionne“ (Martinet 1974: 103). Hier kann erst zur Wirkung gebracht werden, was von „außen“, z. B. durch soziale Veränderungen, funktionale Zwecke, kommunikative Bedürfnisse oder mentale Verarbeitungen (Bewertungen, Einstellungen), oder von „innen“, durch sprachstrukturelle Gegebenheiten und Mechanismen, motiviert erscheint, danach aber erst durch unterschiedliche selektive Prozesse sowohl sprachsystematischer wie soziokommunikativer Art in direktionalen Sprachwandel überführt werden kann. Es kommt also darauf an, Sprachwandel im Prozess seiner Umsetzung zu erfassen und zu erklären, was weit über die Untersuchung einzelner Interaktionen hinausgeht, die bestenfalls, z. B. durch den Umgang mit sprachlichen Varianten, Abweichungen, Missverständnissen, Zweifelsfällen, metasprachlichen Korrekturen o. Ä., Indizien für den Wandel von Sprachen sichtbar machen oder modellhafte Konstruktionen dafür begründen können (vgl. Littlewood 1977). Dabei ist davon auszugehen, dass gerade die systematischen Zusammenhänge zwischen verschiedenen Fak33 34 35
Einige interessante Beispiele, vor allem aus der Entwicklung der romanischen Sprachen, aber auch mit Bezug auf die (damalige) deutsche Gegenwartssprache, finden sich bei Spitzer (1943), dem es besonders um den Faktor der Expressivität geht. Einige dieser vermittelnden Faktoren diskutiert Vachek (1962). Es ist ebenfalls davon auszugehen, dass für den Wandel auf den verschiedenen Ebenen von Sprachen (Lautwandel, lexikalischer oder grammatischer Wandel) unterschiedliche Veränderungsbedingungen relevant sind (so auch schon Spitzer 1943).
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toren des Sprachwandels sichtbar gemacht werden müssen,36 die methodisch begründete Isolierung einzelner (z. B. struktureller oder sozialer) Bedingungen hingegen problematisch ist, weil sie ein unangemessenes Bild von sprachhistorischen Vorgängen vermitteln, wie wir sie auch selbst (z. B. in Prozessen der Jargonisierung, des politisch-semantischen Wandels oder bei Grammatikalisierungen) erfahren können. Ein schematisches Bild von den Phasen des Sprachwandels im Prozess seiner Entstehung, Integration und Durchsetzung soll das folgende Modell liefern (vgl. Abb. 1), das aber noch weiterführender Explikationen und Problematisierungen bedarf:37 Dynamische, d. h. auf Veränderungen gerichtete Anforderungen von außen (exogene Faktoren) und „Spannungen“ innerhalb der vorgegebenen Systematik von Sprachen (endogene Faktoren)38 begründen (motivieren) im Sprachgebrauch Variationen. Werden diese bzw. eine Auswahl davon innerhalb einer Gemeinschaft in die Sprachsystematik und Spracharchitektur (1. Filter) eingepasst (integriert),39 entstehen Innovationen. Dadurch dass diese weiter verarbeitet (2. Filter), d. h. sozial verbreitet (Diffusion) und kulturell interpretiert (Bewertung) werden, kommt es zum Sprachwandel, der wiederum zu weiteren gerichteten Veränderungen in unterschiedlichen (sprachlichen und außersprachlichen) Bereichen Anlass geben kann. Systematische Rekonstruktion von Sprachwandel und seinen Folgen, wie es die Historische Sprachwissenschaft anstrebt, muss also zu verstehen versuchen, wie dieser Wandel durch Aussteuerung unterschiedlicher Kontexte und Funktionen in kommunikativen Prozessen zustande kommt. Man wird sich also bemühen müssen, so stellte bereits Theo Luckmann (1969: 1064) fest, „die Ursachen des Wandels in kommunikativen Vorgängen aufzudecken, in denen sich ja Sprache, Kultur und Sozialstruktur gemeinsam fortwährend und konkret aktualisieren“. – Angesichts
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Labov (1965: 91): „[…] that linguistic change cannot be explained by arguments drawn from purely internal relations within the system, even if external, sociolinguistic relations are recognized as additional conditioning factors. In the mechanism of linguistic changes which we have observed, the two sets of relations are interlocked in a systematic way“. Die Reihenfolge der Phasen wird hier bereits gegenüber dem oben (4.) Gesagten etwas verändert. Mit der Bezeichnung Spannungen soll hier nicht nur die bekannte Dynamik struktureller Systeme, wie sie vor allem André Martinet (z. B. Martinet 1952) herausgearbeitet hat, sondern auch das weite Feld „sprachlicher Antinomien“ angesprochen werden, die für die sowjetische Soziolinguistik Motor von Sprachentwicklungen sein können. Vgl. Girke/Jachnow (1974: 97ff.). Vgl. das oben bereits genannte Beispiel der Entwicklung des Umlauts im Deutschen (Sonderegger 1979: 297ff.). Integrationen auch dieser Art kommen aber nicht mechanisch zustande, sondern müssen über imitative und kommunikative Prozesse bewerkstelligt werden.
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der Lückenhaftigkeit des historischen Materials, selbst aus jüngeren Epochen, wahrlich keine ganz einfache Aufgabe!40
Dynamische Anforderungen von außen (Kontext)
MOTIVATION
(exogene Faktoren)
Interne Spannungen der sprachlichen Systematik (endogene Faktoren)
SPRACHGEBRAUCH INTERAKTION
VARIATION
Filter 1: Integration in Sprachsystem/-architektur
INNOVATION
Filter 2: Soziale Diffusion/ kulturelle Interpretation
SPRACHWANDEL Abb. 1: Phasenmodell des Sprachwandels
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Vgl. jetzt den aktuellen Versuch von Zeige (2011), N. Luhmanns Theorie der sozialen Systeme als Modell für die Erklärung des Sprachwandels als selbstgesteuerte (autopoetische) Reorganisation von Sprache in kommunikativen Prozessen zu nutzen.
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Sprachwandel: Ursachen und Wirkungen – Überlegungen zu einem alten Problemkreis der Sprachwissenschaft
1. Sprachwandel – etwas Unsystematisches? Die grundlegendste und zugleich am heftigsten umstrittene Frage in der Sprachwandelforschung ist die nach den Gründen für sprachlichen Wandel. Unstrittig ist, dass „der Sprachwandel und alle damit zusammenhängenden Probleme nach wie vor zu den faszinierendsten Themen gehören, die die Sprachwissenschaft zu bieten hat“ (Viereck 1977: 288). Doch daran, wie Sprachwandel zu erklären ist, scheiden sich seit jeher die Geister. Fest steht, dass die These eines unsystematischen Charakters der einzelnen Sprachwandelphänomene (Koppelmann 1956: 227) nicht akzeptiert werden kann. Diese Phänomene haben ganz bestimmte Gründe, und ebendiese gilt es nach meiner Auffassung in den Blick zu nehmen. Es ist in der Sprachgeschichtsforschung eine alte Frage, auf welche Weise und in welchem Maß Sprachwandel von außersprachlichen Faktoren abhängt. Es ist eine weit verbreitete Meinung, dass sich ein Einfluss soziokultureller Faktoren nur in Bezug auf den Wortbestand, nicht jedoch in Bezug auf das Sprachsystem feststellen lasse. Dahingegen möchte ich in meinem Vortrag ausdrücklich den Zusammenhang der drei Faktoren Sprache, Sprachgebrauch und Sprecher (Mensch) thematisieren. Im Fokus sollen dabei keine konkreten Sprachwandelphänomene stehen, sondern ein allgemeingültiges sprachlichen Wandel induzierendes Ursachensystem. Ich schicke voraus, dass mein Vortrag eher als eine Skizze denn als eine detaillierte Ausarbeitung zu betrachten ist. Dabei habe ich zwei Hauptausgangspunkte, nämlich erstens, dass die Sprecher sowohl biologische als auch gesellschaftliche Wesen sind; und zweitens, dass der Sprachgebrauch sowohl sprachsystematisch als auch soziokulturell eingebettet ist. In meinem Vortrag plädiere ich dafür, in die
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Erforschung der Gründe für Sprachwandel das Faktum einzubeziehen, dass im Leben des Menschen auch der Selbstregulierungsmechanismus (Homöostase) eine Rolle spielt. Nach diesem Prinzip steht jeder lebende Organismus in ständiger Wechselwirkung mit seiner Umgebung und wandelt sich laufend in einer Art und Weise, die es ihm erlaubt, seinen inneren Gleichgewichtszustand und seine organischen Funktionen aufrechtzuhalten. Es handelt sich dabei um die Erscheinung der erneuernden Bewahrung und bewahrenden Erneuerung, die auch die Sprachwissenschaftler gut aus dem Leben der Sprache kennen. Mit anderen Worten deuten die Erkenntnisse aus der Evolutionsforschung darauf hin, dass die auch für den Menschen typische, biologisch kodierte dynamische Anpassung, die sogenannte adaptive Dynamik (Pásztor et al. 2009: 1434), als ein an Sprachwandelprozessen beteiligter allgemeiner Mechanismus anzunehmen ist. Dahinter steht letztlich die Auffassung, dass zwischen dem Menschen als biologischem Wesen und dem Menschen als gesellschaftlichem Wesen ein fließender Übergang besteht (Pléh 1999: 80).
2. Begriffsinterpretationen Für das, was unter (der) Sprache zu verstehen sei, existieren enger und weiter gefasste Interpretationen. Die reduktionistische Interpretation ist m. E. nicht akzeptabel. Die Tatsache beispielsweise, dass die Lexik kein der Syntax ähnelndes, auf hohem Abstraktionsniveau beschreibbares Teilsystem bildet, ist kein hinreichender Grund, sie aus der Sprache auszuschließen. Konsequenterweise betrachte ich Sprache deshalb als integrales, organisch zusammengehöriges Ganzes der zur Rede benötigten konkreten Elemente und abstrakten Regeln. Darüber hinaus bestehen auch Unterschiede in der Beurteilung der Frage der Geschlossenheit bzw. Autonomie des sprachlichen Systems. Die Vertreter der strukturalen und formalen Richtungen halten dieses autonom, die Vertreter der funktionalen Richtung tun dies nicht. So vertritt z. B. Langacker (1987: 2f.) die Auffassung, dass die Grammatik gar keine autonome Repräsentationsebene darstelle. Vielmehr bildeten Lexikon, Morphologie und Syntax ein Kontinuum symbolischer Strukturen, die sich lediglich in verschiedenen Parametern voneinander unterscheiden, aber nur willkürlich in autonome Komponenten untergliedert werden können. Kertész (2000) argumentiert im Sinne einer holistischen Grundauffassung, dass sich die Kognition überhaupt nicht in autonome Teilsysteme aufteilen lasse. Dies würde einerseits bedeuten, dass das Sprachwissen viel eher aus der allgemeinen (nonverbalen) Intelligenz abzuleiten wäre als aus einer spezifischen sprachlichen Fähigkeit, die eventuell sogar
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von den sonstigen mentalen Fähigkeiten unabhängig ist. Zweitens bedeutete dies, dass auch zwischen sprachlichem Wissen und Weltwissen nicht scharf differenziert werden könnte. Und schließlich drittens, dass das nicht auf ein autonomes System zurückführbare Sprachwissen selbst nicht weiter in autonome Teilsysteme aufzugliedern ist (ebd., 215). Aus der Sicht des Sprachhistorikers ist die Sprache ein offenes, dynamisches System und als solches – und nur als solches – fähig, zu jeder Zeit die sich wandelnden sprachlichen Mitteilungsbedürfnisse der sich ständig wandelnden Sprechergemeinschaft zu befriedigen. Mit dem gesellschaftlichen Wandel ändern sich auch die Mitteilungsbedürfnisse der Sprecher, sodass auch die Sprache ständig gezwungen ist, sich anzupassen, und zwar durch die Sprecher, die ihren Sprachgebrauch ändern. Für den Sprachhistoriker kann die Sprache demnach kein idealisiertes Ganzes sein, sondern eine komplexe Menge von miteinander meist in Wechselwirkung stehenden historischen, territorialen bzw. gesellschaftlichen und funktionalen Varietäten. Es liegt auf der Hand, dass Modifizierungen der Sprache (gleich welcher Art) nur im Rahmen der Sprechhandlung durch die daran beteiligten Sprecher vor sich gehen und gefestigt werden können, innerhalb der Grenzen der ‚verbindlichen‘ Strukturbedingungen der Sprache (Herman 2001: 402). Nach Lüdtke (1979) ist Sprachwandel ein gemeinsames, unwillentliches und unbewusstes Produkt. Die Hauptrolle spielt dabei der Sprecher, also der Mensch, der die Sprache in einer konkreten Situation benutzt: Er wählt Kode und Stilregister und schöpft aus den Varianten der ihm zu Verfügung stehenden Kodes; zugleich sind ihm aber auch die Hände gebunden, weil er nur das und dieses nur so sprachlich zum Ausdruck bringen kann, was ihm der zur Verfügung stehende Kode gestattet (ebd., 27). Menschliche Mitteilungen sind immer soziozentrisch und themenorientiert. All das sind Umstände, die Sprachwandelforscher nicht außer Acht lassen dürfen. Die beiden radikalsten Formen von Sprachwandel sind die Geburt und das Aussterben von Sprachen. Wir wissen nicht, wie die menschliche Sprache entstanden ist, auch nicht, ob durch Monogenese oder Polygenese (vgl. Fedor et al. 2010: 545). Aber wir wissen, dass, nachdem sie entstanden war, neue Sprachen in den allermeisten Fällen durch dialektale Sonderentwicklungen, teilweise infolge sprachlicher Kontaktwirkungen entstanden sind. Auch das Aussterben von Sprachen ist in der großen Mehrzahl der Fälle auf gesellschaftliche Ursachen, seltener auf Naturkatastrophen und Kriege zurückzuführen. Sowohl Sprachgeburt als auch Sprachtod gehen also auf außersprachliche Ursachen zurück.
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3. Sprachwandel als Prozess In seiner Prozesshaftigkeit betrachtet besteht der Sprachwandel in der Veränderung einer Sprache, die sich in Abhängigkeit von den sich verändernden Mitteilungsbedürfnissen der Sprecher und den Gegebenheiten des jeweiligen Sprachsystems im Sprachgebrauch verwirklicht. Eine Begleiterscheinung bzw. Folge dieses Prozesses ist, dass im Sprachgebrauch einer Sprechergruppe und damit im Sprachwissen ihrer Mitglieder sprachliche Funktionen, Regeln oder Formen erscheinen, die von der bisherigen Sprachpraxis und dem bisherigen Sprachwissen abweichen. Um Sprachwandel nachzuweisen, werden demnach empirische Daten aus der alltäglichen, spontanen Sprachpraxis benötigt; die sprachliche Wirklichkeit bietet unwiderlegbare Evidenz. Sprachwandel ist ein verschlungener, unüberschaubarer und komplizierter Prozess mit vielen Faktoren, der auch die ständige und gleichzeitige Zu- und Abnahme aller lebenden Sprachen umfasst. Das Leben der Sprachen ist folglich keine geradlinige Entwicklung, kein teleologisch bestimmter Vervollkommnungsprozess. Dementsprechend umfasst Sprachwandel zwei Prozesse mit entgegengesetztem Vorzeichen, nämlich einerseits Ausbau/Differenzierung und andererseits Abbau/Reduzierung. Welcher von beiden die größere Rolle spielt, entscheiden ausschließlich außersprachliche Faktoren (vgl. z. B. Benkŋ 1988, Braun 1998, Chambers et al. 2002, Coseriu 1974, Polenz 1991). In diesem Zusammenhang taucht die Frage auf, ob sich die Sprachen ‚vom Komplizierten zum Einfachen‘ oder ‚vom Einfachen zum Komplizierten‘ entwickeln. Hutterer (1976: 22f.) meinte, so gestellt sei diese Frage irrelevant. Entscheidend sei einzig, dass eine Sprache kommunikativ ‚adäquatȧ sein, also den Bedürfnissen der Sprecher maximal entsprechen und sich in dieser Funktion vervollkommnen müsse. Welche sind nun die allgemeinen Charakteristika des Sprachwandels? Es sollen dafür fünf Punkte angeführt werden: 1. Sprachwandel ist in jeder lebenden Sprache wirksam. 2. Er entsteht nur im Sprachgebrauch. (Tote Sprachen ändern sich nicht.) 3. Er hängt eng mit der Sprachvariabilität zusammen und schafft diese zugleich auch neu. 4. Er ist aus der Sicht des Sprachsystems ein doppelter, in sich selbst gegensätzlicher Prozess: Er ist sowohl konvergent als auch divergent, d. h. er geht sowohl den Weg der Vereinheitlichung als auch den der Absonderung/Differenzierung.
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Auch hinsichtlich der Normenbildung wirkt er in entgegengesetzte Richtungen: Er produziert sowohl Innovationen als auch Archaismen. 5. Er ist spontan oder künstlich. Der Sprachgebrauch ist stets in einem Sprach- bzw. Regelsystem verankert. Dementsprechend verläuft auch der Sprachwandel nicht ‚chaotisch‘, sondern hat Gründe, die im Sprachgebrauch bzw. Sprachsystem zu suchen sind. Was lässt den Sprachwandel möglich (und nötig) werden? Einerseits ist dies die innersprachliche Variation, andererseits die Bevorzugung bestimmter Varianten durch die Sprecher, die von biologischen, psychischen und soziokulturellen Faktoren gelenkt wird (wir erinnern uns: der Mensch ist ein biopsychosoziales Wesen). Deshalb ist für die Untersuchung des Sprachwandels sowohl die Untersuchung der Variabilität im Sprachgebrauch als auch die Untersuchung der Art und Weise, wie die Sprecher aus den ihnen zur Verfügung stehenden sprachlichen Mitteln bzw. Varianten auswählen, von großer Wichtigkeit. Ein Axiom ist, dass in der Sprache nur dann etwas geschieht, wenn mit der Sprache etwas geschieht. Wann geschieht mit der Sprache etwas? Die Antwort ist: Wenn sie gebraucht wird. Das bedeutet, wenn Sprecher die Sprache in einer konkreten Situation zur Befriedigung aktueller sprachlicher Ausdrucksbedürfnisse benutzen. Aber die Sprache verändert sich nicht deshalb, um ihre sprachliche Kommunikations-, Mitteilungs- und Benennungsfunktion zu erfüllen, sondern weil sie diese erfüllt. Diese Funktionen resultieren aber nicht aus dem Sprachsystem, sondern aus den Bedürfnissen und Notwendigkeiten menschlicher Gemeinschaften. Denn ‚die Sprachen‘ selber können nicht kommunizieren und brauchen keine begriffliche Kodierung, um sich auf Dinge in der Welt beziehen zu können. Auch Sprachkontaktphänomene sind streng genommen die Folge des Kontakts der Sprecher verschiedener Sprachen. Sie können sogar dann zustande kommen, wenn die Sprecher die Sprache des anderen nicht verstehen (so würde das ungarische Wort vigéc nicht das bedeuten, was es bedeutet, nämlich ‘Hausierer’ und ‘Vertreter’, wenn die ungarischen Sprecher den deutschen Ausdruck wie geht’s verstanden hätten). Wann immer jemand etwas ausspricht oder niederschreibt, tut er dies, indem er aus dem ihm zur Verfügung stehenden Bestand sprachlicher Mittel auswählt, und zwar entsprechend seinen jeweiligen Mitteilungsbedürfnissen und seinem im weiteren Sinne verstandenen Sprachwissen. Festzuhalten bleibt also, dass der Sprachgebrauch stets sowohl in das Sprachsystem und als auch in die menschliche(n) Gemeinschaft(en) und deren Tätigkeiten eingebettet ist (d. i. die ‚doppelte Einbettung‘ des Sprachgebrauchs). Wie ohne einen Ball kein Ballspiel zustanden kommen kann (selbst wenn Spieler vorhanden sind), so kann es ohne die Sprache
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keinen Sprachgebrauch geben. Umgekehrt ist jede Sprache eine tote Sprache, wenn ihr die Sprecher fehlen – wie nun einmal auch mit Ball kein Ballspiel zustande kommen kann, wenn die Spieler fehlen. Die Entwicklung des Sprachwissens und des Wissens von der Welt vollzieht sich – im Zuge der sozial-kognitiven Entwicklung – parallel. Das genaue Verstehen der Diskurse setzt über die Sprachkenntnis hinaus auch die Kenntnis sozialer Schemata voraus.
4. Regelnde Faktoren und Mechanismen im Sprachwandel Die Sprachwissenschaft beschäftigt nicht nur die Frage, zu welchem Zweck die Menschen die Sprache gebrauchen, sondern auch, auf der Grundlage welcher Kenntnisse, welchen Wissens sie dies tun (können). Dieses Wissen setzt sich aus drei verschiedenen Arten von Wissen zusammen: Erstens der Sprachkompetenz, d. h. der Fähigkeit, grammatische (im weiteren Sinne) Sätze zu verstehen und zu bilden. Zweitens der pragmatischen Kompetenz, d. h. der Kenntnis der Normen des der jeweiligen Kommunikationssituation entsprechenden, zielführenden, wirksamen Sprachgebrauchs. Und drittens schließlich unser allgemeines (metasprachliches) Wissen über die Sprache. Diese drei Wissensbereiche sind nicht gleich wichtig und weisen auch nicht die gleiche Wandelbarkeit auf: Das Fundament unseres Sprachwissens bildet unsere Sprachkompetenz, die sich nach dem Ende des kindlichen Spracherwerbs kaum mehr verändert. Dagegen unterliegt unsere pragmatische Kompetenz (im besten Fall) lebenslangen Veränderungen, nämlich immer dann, wenn (sich verändernde) situative bzw. soziokulturelle Faktoren eine Anpassung erforderlich machen. Es gibt keine zwei Menschen (nicht einmal eineiige Zwillinge), deren Lebenserfahrung gleich wären, aber selbstverständlich unterscheiden sich die Menschen auch in der Art und Weise, wie sie Informationen kognitiv verarbeiten. Wir verändern uns ständig – deshalb wird in der Entwicklungspsychologie inzwischen die sogenannte Life-span-Perspektive verfolgt, wonach die menschliche Entwicklung eben nicht mit der Adoleszenz zu einem Abschluss kommt – und damit ändert sich auch unsere Position, die wir in den Sprechergemeinschaften einnehmen. Die Folge all dessen ist eine laufende Modifizierung unseres Sprachgebrauchs. Damit sind wir auf eine außerhalb des Sprachsystems zu verortende, biologisch und soziokulturell bestimmte Gruppe von Gründen für Sprachwandel gestoßen. Bekanntlich nennt die Fachliteratur als sichere, wahrscheinliche oder zumindest mögliche Erklärung für Sprachwandel zahlreiche innersprachliche (systematische) und außersprachliche Gründe, wie z. B. Analogie oder
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Systemzwang, Homonymenfurcht, Ökonomiestreben, Sprechtempoveränderung, innere und äußere Sprachkontakte, Kommunikations- und Bezeichnungserfordernisse usw. Die allgemeine Meinung besagt, dass das Bedürfnis nach wirkungsvoller Kommunikation die Redundanz steigert, während das Streben nach einer ökonomischen Ausdrucksweise diese verringert, bzw. dass im Zusammenspiel dieser drei Faktoren die Redundanz die ausgleichende Rolle einnimmt (vgl. Korhonen 1969; zuletzt Csúcs 2008: 139). Rufen wir uns nun die Grundfragen der allgemeinen Theorie des Sprachwandels ins Gedächtnis (vgl. Herman 1967: 1550). 1. Gibt es einen Mechanismus des Wandels der Sprachstruktur in der Sprache selbst, der für alle Sprachen verallgemeinert werden kann? Die Antwort lautet: Ja. Denn wenn es universale Sprachsytemerscheinungen gibt, dann müssen logischerweise auch Sprachwandeluniversalien (im strukturellen Sinne) existieren (Lüdtke 1979: 19). 2. Wenn es einen allgemeinen Mechanismus gibt, bietet dieser dann bereits eine hinreichende Erklärung für sämtliche Sprachstrukturveränderungen? Darauf können wir unserer gegenwärtigen Kenntnis nach mit Nein antworten. 3. Wenn es keinen allgemeinen Mechanismus gibt, dann müssen wir untersuchen, in welcher Weise die von außerhalb der Sprachstruktur kommenden Einflüsse die Modifizierung der Sprache beeinflussen. Wie wir wissen, ist auch die sprachliche Tätigkeit ein organischer Teil der Gemeinschaftstätigkeit des Menschen. Und sein Leben, seine Tätigkeit (zur Erinnerung: der Mensch ist ein biologisches und gesellschaftliches Wesen zugleich) werden auch vom biologischen Prinzip der Selbstregulation (Homöostase) im Gleichgewicht gehalten (vgl. Borhidi 2009). Dieses ist biologisch kodiert. Es ist ein Axiom, dass die kommunikative Wirksamkeit die Voraussetzung der gesellschaftlichen Existenz ist. Charakteristisch für das Sprachverhalten des Menschen ist deshalb das triebhafte (intuitive) Streben nach Sicherung des kommunikativen Erfolgs bzw. nach Beibehaltung eines wirksamen Zustandes des sprachlichen Mitteilungsverfahrens, d. h. der wechselseitige Zwang gegenseitigen Verstehens und Verstandenwerdens. Die kommunikative Wirksamkeit ist jedoch nicht nur die Voraussetzung der gesellschaftlichen, sondern mutatis mutandis auch der höherwertigen biologischen Existenz. Ähnliche Beobachtungen finden sich in neueren Studien von Ethologen in Bezug auf die Tierwelt (Csányi 2006: 393). Der Begriff der Homöostase wird indes nicht nur in der Biologie, sondern auch in der Kybernetik verwendet. In der Kybernetik wird darun-
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ter verstanden, dass die organischen Regulierungssysteme dafür sorgen, dass einzelne physiologische Mengen zwischen erlaubten Grenzen bleiben bzw. einen optimalen Wert annehmen können. Es wird angenommen, dass diese in Lebewesen und in der Technik auftretenden Regulationsprozesse gemeinsame Züge haben. Herman (1983: 726) ist der Meinung, dass die Sprache als ein in sich nicht völlig konsistentes, in verschiedener Hinsicht offenes System anzusehen sei und deshalb Spannungen, Gleichgewichtsstörungen zwischen ihren Elementen und Teilsystemen zustande bringt, die sie danach wiederum selbst mit Hilfe ihrer Korrektions- bzw. Kompensationsmechanismen korrigiert. Nach Baľczerowski (2008: 131) „nehmen in unserer sprachlichen Existenz irgendwelche konsolidierenden und regelnden Faktoren teil, doch ist deren Natur unbekannt“. Ich glaube, dass die erwähnten ‚Mechanismen‘ bzw. ‚konsolidierenden und regelnden Faktoren‘ mit dem allgemeinen Gesetz des bereits erwähnten Prinzips der adaptiven Dynamik zusammenhängen.
5. Gegen die einseitige Dekontextualisierung in der Sprachwandelforschung Eine wichtige Grundfrage bei der Untersuchung des Sprachwandels ist, wie wir „beim Verständnis der Verbindungsweise des inneren – innersprachlichen – Voraussetzungssystems der Veränderungen mit dem äußeren Faktorensystem“ weiter kommen können (Herman 2001: 402). Ich verweise auf Martinets Formulierung (gegen die Übertreibungen und die Einseitigkeit des frühen Strukturalismus), dass in der Erforschung des Sprachwandels die „anatomische“ (d. i. zur Systematik gehörige) Analyse auch durch die „physiologische“ Untersuchung (d. i. der mit der sprachlichen Tätigkeit zusammenhängenden Faktoren) ergänzt werden müsse (Antal 1984: 35). Auch Gadamer verurteilt in seiner auf Heidegger gestützten Kritik das Verständnis der Sprache als bloßes Instrument. Seine philosophisch-hermeneutischen Gedanken (vgl. Fehér 2004: 66) bestätigen die oben dargestellte (soziolinguistische) Auffassung des doppelten Eingebettetseins der Sprache bzw. des Sprachgebrauchs. Seit der sogenannten pragmatischen Wende in der Sprachwissenschaft sind auch in der Sprachgeschichtsforschung neue Ansätze und Teildisziplinen (Historische Pragmatik, Historische Soziolinguistik, Soziopragmatische Sprachgeschichte, Europäische Sprachgeschichte, Diskursgeschichte) entstanden. Auch kognitionspsychologische und hermeneutische Positionen weisen in diese Richtung, indem sie beide – entgegen der chomskyanischen Auffassung – die Sprache im Zusammenhang der allgemeinen menschli-
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chen Erkenntnis betrachten und zwischen dem Sprach- und Weltwissen keine scharfe Grenzlinie ziehen. Somit gilt, dass die wissenschaftliche Forschung „nach den modernistischen, die Immanenz der Struktur verkündenden, dekontextualisierenden Bestrebungen des 20. Jahrhunderts im 21. Jahrhundert als eine ihrer wichtigen Aufgaben haben [kann], dass sie […] wieder vereint, was zusammengehört, d. h. die Erscheinungen nicht in sich selbst, sondern in ihrem Verhältnis zueinander und zu ihrem Unterstützungsmedium zu verstehen versucht“ (Imrényi 2009: 50, vgl. auch Maitz 2000).
6. Mensch, Sprache, Sprachgebrauch und Sprachwandel – eine Kette zusammengehöriger Entitäten Die obigen Gedankengänge können – in einige Thesensätze komprimiert – folgendermaßen zusammengefasst werden: 1. Der Mensch ist ein natürliches (biologisches) und zugleich gesellschaftliches (soziales) Wesen. 2. Der Mensch bzw. die menschliche Kultur und die Sprache bedingen sich gegenseitig: Das Eine ist nicht möglich ohne das Andere. 3. Die Sprache ist ein offenes und dynamisches System. Der Bestand an sprachlichen Zeichen und die die Zeichenbenutzung ermöglichenden und zugleich determinierenden Regeln müssen als ein organisch zusammengehörendes Ganzes betrachtet werden. 4. Die gesamte Natur folgt dem biologischen Prinzip der Anpassung. Vor diesem Hintergrund gibt es auch die Überlegung, die Darwinތsche Theorie der natürlichen Selektion mit Hilfe des Begriffs der adaptiven Dynamik neu zu formulieren (vgl. Borhidi 2009: 1434). Der den dynamischen Anpassungsprozess regulierende Mechanismus ist der der Homöostase bzw. inneren Selbstregulierung. 5. Die spezifische Eigenschaft des Sprachgebrauchs ist sein doppeltes Eingebettetsein: Er ist immer an ein Sprachsystem und zugleich an Menschen bzw. eine Gemeinschaft gebunden. 6. Sprachwandel kommt nur beim Sprachgebrauch zustande. 7. Das jeweilige Sprachsystem ist einerseits offen für Wandel, legt zugleich aber auch die Art und Weise fest, in der dieser erfolgen kann. 8. Die eigentliche Ursache (der ‚Anstoß‘, der ‚Zündfunken‘) des Sprachwandels ist in der sprachlichen Tätigkeit des biopsychosozial determinierten Menschen zu suchen. Will man die Ursachen
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des Sprachwandels untersuchen, so dürfen folglich die außersprachlichen Faktoren, die den Menschen in der Art und Weise, wie er Sprache gebraucht, direkt oder indirekt beeinflussen, nicht unberücksichtigt bleiben. Die für die Natur, also auch die für das Leben des Menschen und sein (sprachliches) Handeln typische adaptive Dynamik darf nicht außer Acht gelassen werden.
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Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie – am Beispiel der Phonologie, der Morphologie und der Pragmatik
1. Wohin sollte die Historische Sprachwissenschaft auch steuern? Die Historische Sprachwissenschaft war (allzu) lange Zeit ein Ableger der Mediävistik und weniger der Linguistik. Entsprechend bestand (und besteht immer noch) an vielen Universitäten das primäre Ziel der Historischen Sprachwissenschaft darin, den Studierenden die Kompetenz für die Übersetzung ahd. und mhd. Texte zu vermitteln. Hinzu kam (kommt) das relativ zusammenhangslose Auswendiglernen eines ganzen Katalogs an Lautgesetzen sowie einiger Flexionsregeln – auch dies primär zu Zwecken der richtigen Übersetzung. Am Ende einer solchen Ausbildung bestand die Herausforderung schriftlicher und mündlicher Examensprüfungen darin, ältere Textpassagen zu übersetzen sowie ein paar Gesetze aus dem Katalog der Laut- und Flexionsregeln auf ausgewählte Wortbeispiele anzuwenden, Langvokale zu identifizieren und die eine oder andere Ablautreihe zu bestimmen. Warum-Fragen wurden kaum gestellt. Das im Kontext des Übersetzens aufkeimende Interesse etwa an Gesetzen morphologischen oder semantischen Wandels (unterschiedliche Wortbedeutungen sind ja allgegenwärtig) wurde mit wenigen Sätzen bedient, doch selten zu einem eigenen Thema gemacht. Das Gros der sprachhistorischen Einführungen – selbst solche neuesten Datums – verharrt ungerührt in diesem Stadium althergebrachter Gemütlichkeit. Unmittelbar erkennbar ist dies an der traditionellen Einteilung in ‚Das Althochdeutsche‘, ‚das Mittelhochdeutsche‘ und ‚das Frühneuhochdeutsche‘. Immer noch arbeitet man sich durch diese hermetischen Blöcke, bei denen die thematischen Fäden immer wieder abreißen, um 100 Seiten später – wenn überhaupt – wieder aufgenommen zu werden. Phänomenbezogen
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Denkende wurden (und werden) systematisch entmutigt, sich mit der Entwicklung solcher ‚Fäden‘, z. B. des Umlauts, der Entstehung und Entwicklung des Ablautsystems, der Verschriftung etc., zu befassen und womöglich nach der Ratio dahinter zu fragen. Dabei liefert die schriftlich bezeugte Geschichte der deutschen Sprache den unschätzbaren Vorteil beträchtlicher diachroner Tiefe: 1200 Jahre (vergleichsweise) reich belegter Sprachzeugnisse bilden eine solide Basis für Einsichten in die Prinzipien des Sprachwandels und seine bedingenden Faktoren. Indessen hat sich mittlerweile einiges verändert: Endlich sind Projekte zur Aufbereitung, Verfügbarmachung und Annotierung historischer Korpora gestartet, die bald präzise und repräsentativ(er)e Aussagen zu sprachgeschichtlichen Abläufen erlauben und so manches bisherige Wissen korrigieren werden. Nichtannotierte Korpora sind schon seit längerer Zeit digital verfügbar (vgl. das Projekt Titus an der Universität Frankfurt: http://titus.uni-frankfurt.de). ‚Regionale Sprachgeschichtsforschung‘ ist ein weiteres Stichwort der konsequenten Umsetzung dessen, was man zwar wusste, doch zu wenig berücksichtigt hat: Die diatopische Vielfalt des Deutschen seit Beginn seiner Überlieferung und die schon frühe Eigenständigkeit der Dialekte. Weitere Differenzierungen werden nun diachron untersucht, z. B. Soziolekte, Fachsprachen, externe wie interne Sprachkontakte. Die Mündlichkeits-/Schriftlichkeitsforschung wird auf die Diachronie ausgeweitet. Auch wurden weitere, bisher stark vernachlässigte sprachliche Domänen (neben der Phonologie und Morphologie) diachron erschlossen, was neuere Untersuchungen zur Wortbildung, zur Syntax, zur Pragmatik, zum graphematischen Wandel zeigen. Den m. E. entscheidenden Impuls für den Anschluss der Historischen Sprachwissenschaft an linguistische Fragestellungen und Theorien hat die Grammatikalisierungsforschung seit den 1980er Jahren erbracht. Seitdem erfährt die Sprachgeschichte ein bisher nicht dagewesenes Interesse verschiedener linguistischer Disziplinen. Deutlich wurde dabei aber auch: Es bedarf umfassender Kenntnisse sowohl der sprachhistorischen Daten als auch der Theorie(n). Das eine schließt also das andere nicht aus, beides ergänzt sich und ist gleichermaßen erforderlich, um echte Erkenntnisfortschritte zu erzielen. Dies bedeutet für die universitäre Lehre: Was früher Examenswissen war, ist heute Grundstudiumswissen. Wo früher die sprachgeschichtliche Ausbildung geendet hat, bildet sie heute Ausgangspunkt für weiterführende, spannende Fragen. Soviel zu dem häufig zu vernehmenden Eindruck, dass die sprachhistorische Ausbildung früher besser und fundierter war. Aus eigener Erfahrung füge ich hinzu: Sie war außerdem langweilig, Vieles hat sich wiederholt, der Blick auf das Ganze hat gefehlt. Die neue Erfahrung lehrt: Die Studierenden akzeptieren trotz heutzutage deutlich größerer Arbeitsbelastung nicht nur ein höheres Ni-
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veau, sie schätzen es auch, was sich an ihrer generell hohen Leistungsbereitschaft, an anspruchsvollen Diskussionen und guten Haus- und Abschlussarbeiten zeigt. Auch wird immer wieder von Lehramtsstudierenden die Absicht geäußert, vermehrt sprachhistorische Einheiten in den Unterricht einbringen zu wollen: Sprachgeschichte wird als wichtig begriffen. Themen, die sich besonders für Lehramtsstudierende eignen und daher in den universitären Unterrichtskanon gehören, sind die Onomastik (vorrangig, doch keineswegs zwingend, die Anthroponomastik), die sog. Zweifelsfall-Linguistik, die nach dem Hintergrund aktueller Schwankungsfälle fragt und dabei nicht selten auf (schon im Frühnhd. fußenden) Sprachwandel stößt, die Phraseologie, aber auch Veranstaltungen zur Grammatikalisierung, zum Sprachwandel prinzipiell, zur historischen Graphematik, Phonologie, Morphologie, Syntax, Semantik, Pragmatik. Ein Motor sprachlichen Wandels besteht in der Tatsache, dass jede sprachliche Ebene sich nach spezifischen Optimierungsprinzipien wandelt und dabei andere Ebenen beeinträchtigen kann. Einen solchen Antagonismus werden wir mit dem Beispiel des phonologischen und des morphologischen Wandels kennenlernen (vgl. Abschnitt 2 und 3). Die Historische Linguistik braucht sich also nicht zu verstecken oder zu rechtfertigen, wenn sie lebensnah vermittelt wird. Eine weitere Bereicherung und – buchstäblich – Horizonterweiterung erfährt die Historische Sprachwissenschaft durch die Wahrnehmung der Sprachtypologie, so wie umgekehrt die Sprachtypologie durchaus und zunehmend an sprachhistorischen Erkenntnissen interessiert ist, auch wenn sie (die Typologie) – oft zwangsläufig – strikt synchron-vergleichend verfährt und dabei meist – für Philologen oft schwer erträglich – sehr grobrastrig vorgeht. Dennoch tun sich interessante Verbindungen auf. Croft (2003) spricht im Zusammenhang diachroner Forschung von einer „dynamicization of typology“ (232ff., vgl. auch Ineichen 1991: 123ff.). Rekonstruierte Systeme (z. B. Lautsysteme) können angesichts der Kenntnis sprachtypologischer Verbreitungen als mehr oder weniger plausibel bewertet werden. Umgekehrt kann die Historische Sprachwissenschaft, indem sie genau die Dynamik sprachlicher Veränderung erforscht, z. B. zeigen, welche Merkmale bei einem typologischen Wandel früher/später ab- oder aufgebaut werden, wie die Implikationen zwischen den Merkmalen beschaffen sind, welche typologischen Merkmale eher hart oder weich sind, kurz: in welcher Sukzession sich ein Sprachtyp auf- oder abbaut. Ich möchte, um konkret zu werden, drei Beispiele für den produktiven Dialog zwischen Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie liefern: 1. Den phonologisch-typologischen Wandel des Deutschen von einer Silben- zu einer Wortsprache, 2. die frühnhd. ‚Justierung‘ der Abfolge grammatischer Kategorien am Verb gemäß der universellen Rele-
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vanzskala, und 3. die Entwicklung unseres Höflichkeitssystems am Beispiel der Anredepronomen. Weder liefere ich Neues noch kann ich ins Detail gehen. Es geht hier nur darum, für die gegenseitige Wahrnehmung und Zusammenarbeit linguistischer Disziplinen zu werben.
2. Präteritum(s?)schwund, Subjekt(s?)pronomen und Merkmal(s?)analyse: Der phonologisch-typologische Wandel des Deutschen von einer Silben- zu einer Wortsprache – am Beispiel heute schwankender Fugenelemente Heutige Zweifels- oder Schwankungsfälle, die nach der Definition von Klein (2003, 2009) von erwachsenen Muttersprachlern bemerkt und reflektiert werden, können in gewisser Hinsicht mit Beben verglichen werden: Es finden (die Menschen stark verunsichernde und beunruhigende) Verwerfungen statt, die auf Verschiebungen tiefliegender tektonischer Platten zurückgehen. Was sich mit welchem Tempo wohin verschiebt und weshalb, ist nicht sichtbar. Einer der größten und bei Sprachberatungsstellen am häufigsten nachgefragten Zweifelsfälle bildet die s- vs. Null- oder Nichtverfugung von Komposita wie in der Überschrift genannt, doch ließen sich diese Beispiele mühelos vervielfachen: Sie gehen in die Hunderte. Einige weitere Beispiele: Interessen(s?)bekundung, Respekt(s?)person, Denkmal(s?)pflege, Lehramt(s?)kandidat, Seminar(s?)arbeit, Antrag(s?)formular, Erbschaft(s?)steuer. Allein in der linguistischen Fachterminologie gibt es mehr als ein Dutzend solcher Fälle. Man hat lange nach den Gründen für diese Unsicherheit der sVerfugung gesucht (die bei diesem Prozess auf Kosten der Nullfuge zunimmt) und kam dabei auf so abwegige Erklärungen, dass es einfach besser klinge, wenn da ein -s- stünde (dies wurde nicht nur von Bastian Sick vertreten) bzw. dass das Wort leichter mit -s- aussprechbar sei (Busch/ Stenschke 2007: 87). Letzteres kann leicht zurückgewiesen werden: Jedes -s- im Wortauslaut führt zu einem phonologischen Komplexitätszuwachs – und genau hierin besteht die eigentliche Begründung für das -s-, allerdings von ganz anderer Seite her argumentierend (s. u.). Zunächst seien die beiden bekanntesten Begründungen für die Setzung der s-Fuge referiert, die morphologischer Natur sind. Erstens: Es gibt sog. schließende Suffixe, d. h. solche, die keine weitere Derivation erlauben. Dies gilt für -ung, -sal, -in, -ion, -ling, bedingt auch für -schaft und -heit (Aronoff/Fuhrhop 2002), vgl. Liebling, aber *lieblinglich, *Lieblingin etc. Solche Suffixe werden durch die s-Fuge für die Kompositi-
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on geöffnet: Liebling-s-essen. Allerdings erfasst dieses Prinzip der Öffnung morphologisch schließender Suffixe für die Komposition nur einen kleinen (den obigen) Ausschnitt der Fugenvorkommen. Zweitens: Je morphologisch komplexer das Erstglied sei, desto eher werde dieses verfugt (Henzen 1965, Ortner et al. 1991, Fuhrhop 1996, 1998). Damit diene die s-Fuge der Segmentierung morphologisch besonders komplexer Wörter. Tatsächlich deuten zahlreiche Kompositapaare vom Typ Hofmauer, aber Friedhof-s-mauer, Kaufpreis, aber Verkauf-s-preis, Fahrtzeit, aber Abfahrt-s-zeit darauf hin. Allerdings hat Kürschner (2003) bei einer Korpusanalyse festgestellt, dass morphologisch besonders komplexe Erstglieder, nämlich solche, die selbst ein Kompositum bilden, aus dieser Komplexitätsregel ausscheren (Tab. 1). Tab. 1: Abhängigkeit von Null- und -s-Fuge von der morphologischen Komplexität des Erstglieds (nach Kürschner 2003)
Fugenelement
alle Komposita
Komposita mit polymorphemischen Erstgliedern Erstglied ist Kompositum
Erstglied ist derivationell komplex
Null Ø
58%
66%
29%
-s-
25%
27%
67,5%
Werden im Schnitt alle Komposita zu 58% nullverfugt und zu 25% sverfugt (die s-Fuge ist das häufigste von insgesamt sechs Fugenelementen), so ändert sich dies kaum, wenn das Erstglied seinerseits ein Kompositum bildet. Beispiele: Bilderbuch-Ø-wetter und Rückruf-Ø-aktion. Nur dann, wenn die morphologische Komplexität auf Derivation basiert, schnellt die sVerfugungsrate von 25% auf 67,5% hoch (Beruf-s-wunsch, Absicht-serklärung). Also kann es sich nur um eine spezifische Form morphologischer Komplexität handeln, die die s-Fugensetzung begünstigt. Eine weitere morphologische Begründung, nämlich die, dass es sich bei der s-Fuge um Genitivflexive handle, muss angesichts zu vieler Gegenbeispiele verworfen werden: Weder handelt es sich bei einem Freundeskreis um den *‘Kreis eines Freundes ތnoch bei dem Lieblingsessen um das *‘Essen des/eines Lieblingsތ. Schließlich treten die meisten s-Fugen unpa-
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Damaris Nübling
radigmisch auf, allen voran alle die (und das sind die meisten), die auf feminine Erstglieder folgen (Abfahrt-s-zeit): Hier wäre es unsinnig, von Flexiven zu sprechen. Wie in Nübling/Szczepaniak (2008, 2009) gezeigt, ist die Fugensetzung prosodisch-phonologisch gesteuert: Anhand einer großen Korpusuntersuchung kamen wir zu dem Ergebnis, dass in dem Maße, in dem das Erstglied von dem für das Deutsche geltenden phonologischen Wortideal des einfüßigen Trochäus mit Reduktionssilbe (Typ Mutt[ǁ], Kann[NJ]) abweicht, das Erstglied mit -s- verfugt wird. Das heißt: Je phonologisch ‚schlechter‘ das Erstglied und je schwieriger damit seine Wortgrenzen perzipierbar sind, desto eher wird sein rechter Wortrand markiert (verfugt), vgl. Abb. 1. Die s-Fuge ist damit ein Signal schlechter phonologischer Wortqualität. Umgekehrt werden Trochäen mit Reduktionssilbe am seltensten s-verfugt. Dies geschieht nur dann, wenn es sich um deverbale Nomina handelt, d. h. um solche, die mit Infinitiven homophon und daher mit diesen verwechselbar wären: Wissen-s-bestand, Glücken-s-bedingung, Verhalten-s-weise. phonologische Wortqualität: schlecht
gut
Produktivität der s-Fuge: stark
… viele Zweifelsfälle …
schwach Derivate mit betontem Präfix/ Komposita:
Derivate mit unbetontem Präfix oder Suffix Beruf-s-wunsch,
Anruf-Ø-beantworter,
Berufung-s-zusage
Weckruf-Ø-funktion Fremdwörter
Station-s-ärztin
Respekt-s?-person
Präteritum-s?-schwund
Abb. 1: Die Abhängigkeit der s-Fugensetzung von der phonologischen Wortqualität des Erstglieds
Vom gegenseitigen Nutzen von Historischer Sprachwissenschaft und Sprachtypologie 69
Diese auf die Wortqualität bezogene phonologische Regel erklärt z. B., weshalb besonders viele s-verfugte Erstglieder Fremdwörter sind. Regelmäßig werden finalbetonte auf -ität und -ion (aber auch viele andere) verfugt, denn diese divergieren durch Mehrfüßigkeit, Vollvokale in unbetonten Silben und Nicht-Initialakzente am stärksten vom Erbwortschatz (zu Näherem vgl. Nübling/Szczepaniak 2009). Doch auch die bisher morphologisch (partiell) begründeten Sachverhalte werden phonologisch besser erfasst und erklärt: Die morphologisch schließenden Suffixe sind nichts anderes als nebenbetonte Suffixe mit Vollvokal (im Fall von -ung sogar unbetont mit Vollvokal), d. h. Hybride, deren Zugehörigkeit zum Erstglied durch die s-Setzung unterstrichen wird. Schließlich erzeugen auch die derivationell komplexen Erstglieder (im Unterschied zu den kompositionell komplexen) phonologische Komplexität, indem gerade die unbetonten Präfixe für nichttrochäische und (hinten) schwa-lose Strukturen sorgen, daher Rufmord, aber Berúf-s-wunsch, Kaufpreis, aber Verkáuf-s-preis. Dieser Typus wird zu über 80% verfugt und generiert damit eher wenige Zweifelsfälle. Nur zu 36% verfugt und eine Quelle von Zweifelsfällen sind die Erstglieder mit betontem Präfix bzw. grundsätzlich solche Bildungen, die zwar trochäisch strukturiert sind, aber hinten keine Reduktionsvokale enthalten: Merkmal(s?)analyse, Denkmal(s?)pflege, Antrag(s?)formular. Auch auffällig viele Fremdwort-Erstglieder befinden sich unter den Zweifelsfällen. Was haben diese Befunde mit der Typologie zu tun? Sehr viel, denn, um im Bild zu bleiben, bildet sie die tektonischen Platten darunter. Wie der Beitrag von Renata Szczepaniak in diesem Band zeigt, hat das Deutsche einen tiefgreifenden phonologischen Wandel von einer ahd. Silbenzu einer nhd. Wortsprache durchlaufen – und fährt auch heute noch fort, die Wortsprachlichkeit auszubauen (vgl. ausführlich Szczepaniak 2007 und einführend Szczepaniak 2008: 11–41). Während die phonologischen Prozesse des Althochdeutschen (und Westgermanischen) allesamt auf eine Optimierung der universell gültigen Idealsilbe CV hinauslaufen (westgerm. Konsonantengemination, ahd. i-Umlaute, ahd. Vokalharmonien epenthetischer Vokale, Vorkommen von Vokal- und Konsonantenepenthesen, Assimilationen, Notkersches Anlautgesetz) oder zumindest silbenbezogen verlaufen (die gesamte 2. Lautverschiebung), vollzieht sich zum Mhd. hin in vielerlei Hinsicht eine Verschlechterung der Silbenstruktur (Endsilbenabschwächung, Aufspaltung/Asymmetrisierung des Haupt- und Nebentonvokalismus, Syn- und Apokopen, Entstehung komplexer Konsonantengruppen) und gleichzeitig, besonders zum (Früh-)Nhd. hin, ein Aufbau an Wortsprachlichkeit, d. h. die phonologischen Prozesse profilieren zunehmend die Informationseinheit Wort (oder Morphem) und/oder wählen es zu ihrer Bezugsdomäne. Dies beginnt zunächst mit der Regulierung
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und Stabilisierung der Wortgröße zum Trochäus ab mhd. Zeit sowie mit dem Abbau der Geminaten zur gleichen Zeit. Dazu gehört auch die Phonologisierung der Umlautprodukte, die Entstehung ambisilbischer Konsonanten, die frühnhd. Dehnung in offener Tonsilbe – bis hin zu Konsonantenepenthesen, die nunmehr das genaue Gegenteil einer CVOptimierung bewirken, nämlich die rechte Wortrandverstärkung: mhd. ieman > nhd. jemand, saf > Saft, obez > obst, mâne > Mond etc. Die Wortränder werden außerdem (vorne) durch die Aspiration anlautender prävokalischer Plosive, durch die Entstehung des Glottisverschlusses und (hinten) durch die Auslautneutralisierung, durch die heute massenhaft entstehenden silbischen Nasale und Liquide sowie die Verletzung der Sonoritätshierarchie durch extrasilbische Konsonanten in Aus-, aber auch Anlautclustern profiliert: [Ǵt]adt, O[pst]. Genau hierein fügen sich die Fugenelemente, und zwar nicht nur, indem sie die geringe wortphonologische Qualität des Erstglieds signalisieren, sondern indem sie sozusagen aktiv zusätzlich zur Verschlechterung eben dieses Wortauslauts beitragen durch die Verstärkung des rechten Wortrands: Wie auch schon Wegener (2006) anhand monosyllabischer Erstglieder festgestellt hat, tritt das frikative Fugen-s besonders dann gerne an das Erstglied an, wenn es Extrasyllabizität erzeugt, d. h. wenn es konsonantisch stärkeren Lauten (also Plosiven) folgt: Ort-s-zeit, Wirt-s-haus, auch Geburt-s-tag, Abfahrt-s-zeit, Ankunft-s-zeit, Meisterschaft-s-favorit, Mehrheits-meinung, Kind-s-kopf, Verbund-s-lösung, Geduld-s-faden. Überall hier erweitert das Fugen-s nicht einfach nur den Konsonantencluster, sondern es verschlechtert ihn durch die Verletzung des kontinuierlichen Zuwachses an konsonantischer Stärke. Nicht zufällig, so muss man schlussfolgern, hat von den sechs Fugenelementen ausgerechnet -s- das Rennen gemacht. Eine Option wäre gewesen, mit dem einstigen Allomorph -es- zu alternieren und damit Trochäen zu erzeugen (was -n- und -en- leisten). Genau dieser Weg wurde nicht eingeschlagen, da typologisch schon eine andere Richtung eingeschlagen war: Der heutige wortsprachliche Ausbau besteht darin, den rechten Wortrand auszubauen, komplexer zu machen. Nur wenn man diese typologische Drift des Deutschen kennt, versteht man das heutige Fugenverhalten mit all seinen Schwankungsfällen, die von nichts anderem als gegenwärtig sich vollziehendem Sprachwandel zeugen. Diese prosodisch-phonologische Typologie von Silben- versus Akzent- bzw. Wortsprachen wurde schon länger beschrieben und von Auer (2001) präzisiert und weiterentwickelt. Mit der Arbeit von Szczepaniak (2007) wurde sie erstmals sprachgeschichtlich nutz- und fruchtbar gemacht bzw., in den Worten von Croft, dynamisiert. Auf diese Weise lässt sich ermitteln, wie im Einzelnen der (ahd.) silben- bzw. (fnhd.) wortsprachliche Ausbau (aber auch der silbensprachliche Abbau im Mhd.)
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abläuft, welche Merkmale es genau sind, die früher auftreten und welche erst später. Schließlich zeigt sich, dass der wortsprachliche Ausbau nur anfänglich in der Vernachlässigung und Verschlechterung der Silbe besteht und später zu ganz anderen Maßnahmen greift. Es existiert in der deutschen Sprachgeschichte übrigens kein einziger phonologischer Wandel, der sich nicht in diese typologische Drift einfügte. So erfahren alle über Generationen hinweg auswendig gelernten und kaum verstandenen phonologischen Prozesse eine übergreifende Einordnung und Erklärung – und dies gilt auch für manchen aktuellen Zweifelsfall.
3. Die frühnhd. ‚Justierung‘ der Abfolge grammatischer Kategorien am Verb gemäß der universellen Relevanzskala Die deutsche Sprachgeschichte ist, wie der vorige Abschnitt gezeigt hat, viele Jahrhunderte lang von phonologischem Wandel dominiert gewesen. Phonologischer Wandel folgt anderen Gesetzen als morphologischer Wandel. Es nimmt daher wenig wunder, dass diese phonologischen Prozesse destruktive Auswirkungen auf die Morphologie hatten. Erst nach mhd. Zeit beginnt die Morphologie, sich zu reorganisieren und die Folgen des Lautwandels zu ‚reparieren‘. Nach welchen Prinzipien dies erfolgt, erweist ein Blick auf die verbalflexionsmorphologische Typologie, wie sie von Bybee (1985) anhand des synchronen Vergleichs von 50 verschiedenen (weder areal noch ‚genetisch‘ zusammengehörigen) Sprachen erarbeitet wurde. Ihre daraus abgeleitete Relevanzskala verbaler Kategorien erfährt eine zuvor ungeahnte Bestätigung durch die Diachronie des Deutschen: Streng relevanzgesteuert treten bei diesem im Frühnhd. stattfindenden morphologischen Umbau kategorielle Stärkungen relevanter (Tempus, Modus) sowie Schwächungen weniger relevanter Kategorien (Numerus, Person) ein. Dabei erweist sich die sog. Tempusprofilierung bis heute als das flexionsmorphologische Leitmotiv des deutschen Verbs. Bybee selbst hat in ihrem Beitrag von 1994 „Morphological universals and change“ ihre synchron-typologisch gewonnenen Befunde auf die Diachronie bezogen, wenngleich nicht auf die deutsche und wenig detailliert. Dies soll im Folgenden getan werden (vgl. ausführlich Nübling/Dammel 2004). Bei der typologischen Untersuchung erwiesen sich als die weltweit häufigsten Verbalkategorien Person, Numerus, Modus, Tempus, Aspekt, Diathese und Valenz. Das Deutsche realisiert nur die ersten vier flexivisch, weswegen wir uns nur auf diese beschränken. Die formale Abfolge dieser vier Kategorien am Verb folgt zuvörderst dem sog. Relevanzprinzip, womit sog. diagrammatischer Ikonismus entsteht:
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A meaning element is relevant to another meaning element if the semantic content of the first directly affects or modifies the semantic content of the second. If two meaning elements are, by their content, highly relevant to one another, then it is predicted that they may have lexical or inflectional expression, but if they are irrelevant to one another, then their combination will be restricted to syntactic expression. (Bybee 1985: 13; Hervorhebungen im Original)
Numerus und Person sind weniger relevant, da sie nur die Aktanten der Handlung bezeichnen, die die Aktion zwar ausführen, sie jedoch nicht in ihrer Beschaffenheit modifizieren. Außerdem wird der Aktant üblicherweise durch ein nominales oder pronominales Subjekt ausgedrückt, weshalb Bybee hier von sog. „agreement categories“ (Bybee 1985: 28) spricht. Demgegenüber modifizieren andere Kategorien durchaus die Verbalhandlung selbst: So bezieht sich Aspekt (der heute nicht mehr flexivisch realisiert wird) auf ihren internen Verlauf, indem er verschiedene Phasen fokussiert (inchoativ/ingressiv, durativ, resultativ/perfektiv etc.). Anders Tempus, dem zwar auch ein hoher Relevanzgrad zukommt, das aber die durch das Verb bezeichnete Handlung nur extern temporal situiert, sie als solche jedoch intakt lässt: Die Handlung wird nur in verschiedene Zeitstufen transponiert. Modus bezeichnet im weitesten Sinn die Haltung des Sprechers zum Sachverhalt, d. h. zur gesamten Proposition; sie verändert nicht die Semantik des Verbs, sondern macht Aussagen über den Faktizitätsgrad der Proposition, wie ihn der Sprecher einschätzt, oder zur Quelle, aus der sein das Wissen bezieht. Im Imperativ fordert der Sprecher zum Vollzug der Handlung auf. Allerdings werden diese (und die hier nicht genannten) unterschiedlich relevanten Informationen in den Sprachen der Welt keineswegs alle flexivisch ausgedrückt. Hier ist das sog. Allgemeingültigkeitsprinzip (generality) zu berücksichtigen, das einen möglichst geringen semantischen Gehalt der Kategorie vorsieht, um sie damit umso kompatibler für die Verbbedeutung zu machen: However, generality distinguishes inflectional from all the rest. Inflectional categories are more general – have a wider range of applicability with predictable meaning – than lexical, derivational, or periphrastic categories. Thus generality is a necessary defining feature of inflection (Bybee et al. 1994: 22).
Damit ergibt sich für das Deutsche eine Relevanzskala wie in Abb. 2 (S. 73). Wenn der Relevanz- oder der Allgemeingültigkeitsgrad zu hoch ist, wird – je nachdem – die betreffende Kategorie über andere formale Verfahren kodiert (lexikalisch, derivationell, syntaktisch). Der dritte Faktor, der dieses Funktions-Form-Verhältnis maßgeblich steuert, ist die Tokenfrequenz, die sich a) in die lexikalische und b) in die kategorielle oder grammatische Frequenz aufspaltet: a) geben als Verblexem
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kommt bedeutend häufiger vor als beben; b) grammatische Kategorien(kombinationen) werden unterschiedlich häufig aktiviert: So ist die 3.Sg.Präs. viel häufiger als die 2.Pl.Prät. (zu diesen Frequenzen vgl. Tomczyk-Popiľska 1987). Hohe Tokenfrequenz wirkt auf den Ausdruck grammatischer Kategorien prinzipiell fusionierend (komprimierend), d. h. sie sorgt, unabhängig vom Relevanzgrad, für Linksverschiebungen auf der Skala in Abb. 2. Tempus
Numerus
+ Relevanz - Allgemeingültigkeit
Modus
Person
- Relevanz + Allgemeingültigkeit
fusionierender Ausdruck mehr Allomorphie Abb. 2: Die Flexionskategorien des Verbs im Deutschen nach Relevanz- bzw. Allgemeingültigkeitsgrad und ihr Bezug zu Fusion und Allomorphie
Abb. 3 (S. 74) liefert ein Beispiel dafür und zeigt, dass das Tempusmorphem in einem selteneren Verb (wie beben) additiv markiert wird (wenngleich das Dentalsuffix der hohen Relevanz von Tempus wegen in direkte Nachbarschaft zum Stamm tritt), während frequente Verben (wie geben) die Tempusinformation (trotz gleichen Relevanzgrads) direkt in den lexikalischen Stamm integrieren (Ablaut), hier also echte Fusion (Wurzelflexion) zulassen. Die wenig relevante Person/Numerus-Endung steht dagegen bei beiden Verbformen in der Peripherie. Insgesamt ist gabst deutlich kürzer als bebtest, was dem Prinzip formaler Kürze bei Hochfrequenz entspricht. Der nach den langen Phasen phonologischen Wandels einsetzende morphologische Wandel bestätigt auf fast vorbildhafte Weise die Gültigkeit dieser drei Prinzipien: Im Frühnhd. werden die minderrelevanten Kategorien (Person, Numerus) geschwächt und die relevanten (Modus, Tempus) gestärkt, im Einzelnen abhängig von den konkreten Frequenzen. Abb. 4 (S. 74) zeigt das gesamte Bild, das hier nur auszugsweise behandelt werden kann (vgl. eingehend Nübling/Dammel 2004).
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schwache Verben: beben
starke Verben: geben
(geringe lexikal. Frequenz)
(hohe lexikal. Frequenz)
Relevanz
Relevanz
‘beben‘ ތPrät.‘ ތ2.Sg.ތ
‘geben‘ ތPrät.‘ ތ2.Sg.ތ
beb – t – est
gab – st
Abb. 3: Frequenzbedingte Markierungsunterschiede beim Präteritum von beben und geben
Stärkung, Profilierung TEMPUS MODUS
ASPEKT
NUMERUS PERSON
Schwächung, Nivellierung +relevant
-relevant 17. Jh.–heute
< 14.–16. Jh.
< 13. Jh.
Abb. 4: Übersicht über relevanzgesteuerte Stärkungen und Schwächungen verbaler Kategorien im Deutschen
Im Folgenden wird aus diesem Komplex nur 1.) die Schwächung von Person sowie 2.) die Stärkung von Tempus herausgegriffen. 1.) Schwächung/Nivellierung von Person, hier nur am Beispiel der 2.Sg.: Der blind wirkende phonologische Umlaut hat zu morphologischen
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Verzerrungen geführt. So hat die ahd. Endung -i der 2.Sg.Prät. starker Verben den Stammvokal umgelautet: ahd. bundi > b[y]ndi > mhd. bünde ‘bandstތ. Aus phonologischer Perspektive handelt es sich um eine regressive Fernassimilation, die die Silbennuklei artikulatorisch einander annähert, während aus morphologischer Perspektive diese Person/NumerusInformation in die Wurzel gelangt – und dort auch verbleibt, nachdem der Umlaut im Mhd. phonologisiert war. Damit hat eine wenig relevante Kategorie einen formal-fusionierenden Ausdruck erlangt, wie dies nur hochrelevanten Kategorien gebührt. Darüber hinaus hatte die 2.Sg.Prät. einen vom Sg.-Paradigma abweichenden Ablaut. Zum Flexiv der 2.Sg. gab es noch zwei weitere Allomorphe, -t im Präsens von Präteritopräsentia (du wilt) und -st sonst. Schon im frühen Frühnhd. wird der Umlaut aus der 2.Sg.Prät. beseitigt, dabei auch noch die Ablautstufe des Präteritum Singular übernommen und außerdem das häufigste Allomorph -st: du bünde > du band(e)st. Damit war die Personenkategorie aus dem Stamm beseitigt. Im späteren Frühnhd. wird die t-Endung der Präteritopräsentia – ganz der lexikalischen Frequenz dieser Verben folgend – durch nun uniformes -st ersetzt: du wilt > du willst. Dies zeigt Tab. 2 (S. 76). Auch der Grad an Allomorphie ist relevanzabhängig: Bei hoher Kategorienrelevanz leisten sich die Sprachen viel, bei geringer wenig Allomorphie (vgl. Abb. 2). Auch diesbezüglich hat eine ‚Justierung‘ des Personenausdrucks stattgefunden. 2.) Stärkung/Profilierung von Tempus: Durch die Entwicklung von mhd. bünde > fnhd. band(e)st wird – zunächst – Numerus gestärkt insofern, als nun Ablautstufe 2 für den Singular zuständig ist (band/bandest/band) und Ablautstufe 3 ausschließlich den Plural (bunden/bundet/bunden). Die Numerusstärkung (vgl. den gestrichelten Pfeil von Person zu Numerus in Abb. 4) bestand jedoch nur vorübergehend, wie Tab. 3 (S. 76) zusammenfasst: Der präteritale Numerusausgleich, die wohl größte morphologische Umwälzung im Frühnhd., vernichtet bald wieder diese wurzelinterne (ablautende) Numerusopposition, und zwar zugunsten von Tempus. In dem Moment, in dem der Ablaut sich aus dem Numerus (im Prät.) zurückzieht, ist es einzig und allein noch die relevante Tempuskategorie, die von diesem salienten, wurzelinternen Ausdrucksverfahren Gebrauch macht: Der Rückzug von Numerus aus der Verbwurzel dient (‚passiv‘) der Stärkung von Tempus (vgl. den gestrichelten Pfeil von Numerus zu Tempus in Abb. 4). Weitere Faktoren, die den präteritalen Numerusausgleich begünstigt haben, werden in Nübling (1998) diskutiert; hierzu gehört u. a. der sich im Frühnhd. anbahnende Präteritumschwund, der eine rückläufige Kategorienfrequenz und damit den Abbau morphologischer Differenzierungen bewirkt.
76
Damaris Nübling Tab. 2: Schwächung von Person durch Reduktion von Allomorphie: die 2. Person Singular
‘2.Sg.ތ Flexionsklasse/ Kategorienkombination
st. Vb./ Ind.Prät.
Präteritopräs./ Ind.Präs.
sonst
Allomorphe im Mhd.
{Pl.-AL, UL + -e} (du) bünde
{-t} (du) wilt
{-st} (du) gibst
uniformes Morphem im Nhd.
{-st} du bandst, willst, gibst
Tab. 3: Von der Personennivellierung zur Numerusprofilierung – und von der Numerusnivellierung zur Tempusprofilierung
Prät.Ind.
Mhd.
Frühnhd.
Nhd.
Sg.
1. 2. 3.
bant bünd-e bant
band band-est band
band band-est band
Pl.
1. 2. 3.
bund-en bund-et bund-en
bund-en bund-et bund-en
band-en band-et band-en
kein klares System (Plural relativ homogen)
Personennivellierung > Numerusprofilierung (Numerusablaut): band vs. bunden
Numerusnivellierung (prät. Numerusausgleich) > Tempusprofilierung: binden vs. band vs. gebunden
Neben dieser ‚passiven‘ Stärkung von Tempus durch Rückzug von Numerus aus dem Ablautverfahren erfährt die Tempuskategorie weitere, ‚aktive‘ Profilierungen, z. B. durch die Fragmentierung des Ablautsystems, die umgekehrt als Tempusallomorphiezuwachs zu bewerten ist und von der Stärke der Tempuskategorie zeugt. Hinzu kommt die hohe lexikalische Frequenz, die auch heute noch den ca. 150 verbleibenden starken Verben zukommt, nachdem minderfrequente in die schwache Klasse abgewandert sind (Augst 1975). Wie es im Einzelnen zur Entstehung von heute über
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40 Ablautalternanzen aus dem mhd. Siebenreihensystem kam, hat sowohl a) morphologische als auch b) phonologische Gründe. Zu jedem nur ein Beispiel: a) Dass werden – wurde – geworden heute ein (extrem tokenfrequenter) Einzelgänger ist, liegt (unter anderem) an der anderen Ausgleichsrichtung, die dieses Verb beim präteritalen Numerusausgleich gewählt hat: Während üblicherweise die 2. Stufe (die einstige Prät.Sg.-Stufe) generalisiert wurde (vgl. werfen – warf – geworfen), hat dieses Verb zur 3. Stufe (dem Prät.Pl.) gegriffen. b) Auch kommen – kam – gekommen ist heute ein (extrem tokenfrequenter) Einzelgänger, der auf die singuläre Assimilation von ahd. queman > mhd. komen zurückgeht (progressive Labialisierung von e>o durch [w]). Bei quellen ist dies beispielsweise nicht eingetreten (zu solchen Irregularisierungsstrategien vgl. Nübling 2000). Im Gegensatz zu Bybee (1994), auch Bybee et al. (1994), die in ihrem diachronen Ansatz die Genese von relevanzgesteuerter Morphologie über Grammatikalisierungen verfolgt, also neu entstehende, junge Morphologie zum Thema hat, zeigt das Beispiel der deutschen Sprachgeschichte, dass sich auch längst vorhandene, d. h. alte, doch ‚verzerrte‘ Morphologie reorganisieren kann – und dies exakt dem Relevanzprinzip folgend: Es gibt m. W. keinen morphologischen Wandel im (Früh-)Nhd., der dieses Prinzip konterkariert. Dies gilt auch für die Nominalmorphologie. Überdies hat sich auch gezeigt, wie Schwächungen der einen Kategorie Stärkungen einer anderen bewirken können, d. h. es besteht komplexe Interaktivität zwischen den Kategorien und ihren Markern. Solche nur über die diachrone Forschung zu gewinnenden Beobachtungen und Einsichten bereichern die typologische Forschung.
4. Die Entwicklung des deutschen Höflichkeitssystems am Beispiel der Anredepronomen Ein Musterbeispiel für die Synthese allgemein-sprachtypologischer Erkenntnisse mit konkret-sprachgeschichtlichem Wandel liefert Simon (2003a) mit der Untersuchung Für eine grammatische Kategorie ‚Respekt‘ im Deutschen. Synchronie, Diachronie und Typologie der deutschen Anredepronomina (vgl. auch Simon 1997 und 2003b). Wieder können wir nur einen Aspekt herausgreifen, der speziell die Entwicklung des deutschen Anredepronominalsystems betrifft und es erstmals überzeugend erklärt. Der Verlauf ist in Tab. 4 (S. 78) zusammengefasst: Ein im Germanischen vermutlich einstufiges Adressatensystem entwickelt sich nach und nach zu einem mehrstufigen, bis hin zu einem fünfstufigen im frühen Nhd. Heute ist mit der Opposition du/Sie ein zweistufiges System erreicht. Dass immer mehr Höflichkeitsstufen hinzukamen, wird erstens mit dem inflationären Ge-
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Damaris Nübling
brauch bisheriger Höflichkeitsformen begründet, zweitens mit gesellschaftlichem Wandel (Ständegesellschaft), der sich direkt im Anredesystem abbildet, und drittens mit Sprachkontakt v. a. zum Lateinischen (vos) und Französischen (vous), der besonders für das Ihrzen ab dem Ahd. verantwortlich gemacht wird (vgl. z. B. Besch 1996, 2003). Tab. 4: Diachronie der pronominalen Anrede einer Einzelperson (aus Dammel 2008 nach Simon 2003a)
du Germ. Stufe 1
er/sie
(dieselben) Sie er/sie
(dieselben) Sie ihr
ir
Ihr
ihr
er/sie
Sie
du
Du
du
du
du
17. Jh.
18. Jh.
Stufe 3
Stufe 4
Ahd.Fnhd. Stufe 2
frühes 19. Jh. Stufe 5
Nhd. Std. Stufe 6
Sprachkontakt wird allzu oft sogar für die Erklärung grammatischen Wandels herangezogen (dass er an lexikalischem Wandel beteiligt ist, ist unbestritten), wahrscheinlich weil eine solche Erklärung einfach und auch für Laien intuitiv zugänglich ist und weil man immer Kontaktszenarien findet, wenn man sich Mühe gibt. So wird der lange Zeit favorisierte und in vielen Einführungen immer noch nachzulesende Einfluss der lateinischen auf die deutsche Syntax nach und nach überzeugend zurückgewiesen. Dies dürfte weitgehend auch für unser Anredesystem gelten, wenngleich eine zumindest katalysatorische Wirkung des romanischen auf das deutsche System nicht auszuschließen ist. Mit dem typologischen Blick macht Simon (2003a) jedoch plausibel, dass die formal pluralische Anrede an Einzelpersonen auch ohne romanischen Kontakteinfluss entstanden sein kann: „[D]ie höfliche Pluralanrede [ist] innerhalb der Sprachen der Welt dermaßen weit verbreitet, dass unmöglich in allen Fällen von einer Beeinflussung durch das Alte Rom ausgegangen werden kann“ (104). Besonders die weiteren Ausbaustufen (er/sie im Sg. und Sie im Pl.), bei denen romanischer Kontakteinfluss versagt, legen es nahe, dass es sich um eigenständige und typologisch gut beobachtbare Entwicklungen handelt, die genau diese Implikationskette voraussetzen. Sie basieren auf dem bekannten face- bzw. Höflichkeitsmodell von Brown/Levinson (1987), das
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zwischen einem a) positive face und einem b) negative face unterscheidet: a) positive face: Das Gegenüber wird erhöht, erfährt Lob, Bestätigung und offene Wertschätzung (vgl. Allerdurchlauchtigster Fürst!), was sich auch in der Pluralisierung seiner Anrede manifestieren kann, d. h. die Wichtigkeit der Person wird durch ihre Vervielfachung ikonisiert; b) negative face: Der Adressat möchte nicht beeinträchtigt und zu nichts genötigt werden, daher lautet hier die Devise: ‚give options!‘. Indirektheit ist hier die sprachliche Konsequenz, etwa die Imperativvermeidung bei Aufforderungen, der Gebrauch unpersönlicher Konstruktionen, häufiger Konjunktivgebrauch (ich hätte gern ein Brot – mitgedacht: wenn es Ihnen nichts ausmacht), Abschwächungen, Entschuldigungen etc. Das Ihrzen wird meist als positive Höflichkeitsstrategie interpretiert (Erhöhung der Wertigkeit des Adressaten, Machtmetapher), es kann aber auch als negative gedeutet werden, indem dem Adressaten die Option gegeben wird, „sich in eine größere Gruppe zurückzuziehen und dadurch unmittelbare Reaktionsverantwortung zu verweigern“ (Simon 2003a, 105). Favorisiert man letztere Deutung, so fügt sich dies gut in das auf Indirektheit basierende, d.h. negativen Strategien folgende Gesamtbild der kategoriellen Verschiebungen (vgl. auch Head 1978): Je eher man den Blick vom Gegenüber abwendet, je weniger man es fixiert – und dies gilt gleichermaßen für sprachliche Strategien –, desto höflicher behandelt man es. Dies bedeutet: Das Gegenüber wird sprachlich möglichst diffus und vage erfasst. Die Numerusverschiebung Sg.>Pl. lässt es in einer Menschenmenge verschwinden. Was nun im 17. Jh. mit der er/sie-Anrede folgt, ist die komplette Blickabwendung, nach Simon (2003a) die „Verabwesendung“ des Gegenübers: Man tut so, als spräche man über eine dritte Person, die ja nicht einmal im Raum anwesend und damit sichtbar zu sein braucht. Der Numerusfolgt also eine sog. Personenverschiebung von 2.Person > 3.Person. Im 18. Jh. steigert sich das Verfahren noch einmal, indem die Numerus- mit der Personenverschiebung kombiniert wird: Sie (mit Pl.-Kongruenz). Gleichzeitig (aber davon unabhängig) tauscht die ihr- mit der er/sie-Anrede den Platz: er/sie wird zur sog. Dienstbotenanrede degradiert, während ihr sich darüber setzt. Auch dies lässt sich mit dem Blickabwendungskonzept motivieren: Setzt die er/sie-Anrede immerhin die Wahrnehmung des natürlichen Geschlechts voraus, so abstrahiert die pluralische Sie-Anrede davon, d. h. das Gegenüber wird immer vager, es verschwindet immer mehr. Somit ist die Entwicklung des deutschen Anredesystems ein Paradebeispiel für die sukzessive zunehmende Indirektheit, basierend auf dem Konzept der negativen Höflichkeit. Eine andere Reihenfolge als die eingetretene ist nicht denkbar. Indem das Deutsche – trotz vielfachen Sprachkontakts – diesen eigenständigen Weg gewählt hat – es gibt nicht viele Sprachen, die so weit gegangen sind –, bedarf auch die Begründung der ersten Ausbaustufe der ihr-Anrede
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nicht zwingend des Sprachkontakts (für weitere Argumente dagegen vgl. Simon 2003a). Für viele weitere, faszinierende Beobachtungen, auch zu anderen Sprachen und Kulturen, sowie zu neuen Perspektiven und Erklärungen hinsichtlich der deutschen Sprachgeschichte ist die genannte Monografie sehr zu empfehlen: Ohne diesen typologischen Blick über den Tellerrand bliebe unser Wissen beschränkt.
5. Fazit und Ausblick Die drei Beispiele aus der historischen Phonologie, Morphologie und Pragmatik haben gezeigt, dass man sich neuer Erkenntnis- und Erklärungsmöglichkeiten beraubt, wenn man den Blick nicht über den Tellerrand der eigenen Sprach(geschicht)e richtet. Schon der Vergleich dicht verwandter Sprachen und Sprachgeschichten wie der germanischen erweist schnell, dass es viele Möglichkeiten gibt, bei ähnlichen Voraussetzungen unterschiedliche Wege einzuschlagen, und dass dies nicht immer nur dem Sprachkontakt geschuldet sein kann. So haben sich die nordgermanischen Sprachen Schwedisch und Norwegisch silbensprachlich organisiert, während Englisch, Dänisch und Deutsch wortsprachlich ausgebaut haben – mit jeweils unterschiedlichen Strategien, aber – aus typologischer Perspektive – in die gleiche Richtung gehend. Es wird der Forschung der nächsten Jahre vorbehalten sein, die zahlreichen Strategien wortsprachlichen Ausbaus zu dokumentieren und zu systematisieren. Auch aus verbalmorphologischer Perspektive haben die germanischen Sprachen zwar unterschiedliche Systeme ausgebildet, doch folgen sie – mit jeweils eigenen konkreten Umsetzungen – dem typologisch gewonnenen Relevanzprinzip. So kultiviert z. B. das schwedische Verbalsystem einen anderen Ausschnitt aus der Relevanzskala, indem es die niedrigrelevanten Kategorien Person und Numerus, ja sogar Modus komplett abgebaut, doch den (hochrelevanten) Aspekt – neben dem Tempus – ausgebaut hat (hierzu vgl. Schmuck 2010). Auch die sehr verschiedenen Adressatensysteme in der Germania wären es wert, in ihrer Genese typologisch verglichen zu werden; selbstverständlich sind Dialekte gleichermaßen einzubeziehen (vgl. zum Bairischen und Niederdt. Simon 2003a, zum Afrikaans Simon 2010). Wichtig ist bei alledem: Es geht nicht um die Erfüllung typologischer Muster um ihrer selbst willen, und noch weniger geht es um die Bestückung abstrakter Theorien durch die selektive Auswahl historischer Daten. Ausgangspunkt sind einzig die sprachhistorischen Daten und Befunde. Letztlich sind es universell geltende kognitive, aber auch anthropologische
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und soziale Faktoren, die für die mehr oder weniger starke Verbreitung sprachlicher Erscheinungen in den Sprachen der Welt verantwortlich sind. Auch hierzu erfolgt derzeit viel Wissenszuwachs, der von der Historischen Sprachwissenschaft zur Kenntnis genommen werden sollte – so wie umgekehrt die Historische Sprachwissenschaft zu dieser Diskussion beitragen kann, indem sie wertvolle Daten und Befunde zum Wandel liefert. Umso bedauerlicher ist es, dass selbst jüngst erschienene Einführungen in die deutsche Sprachgeschichte die typologische Forschung ignorieren. Man sollte sie zumindest als alternative Erklärungsangebote neben andere stellen und es den Lesern selbst überlassen, was sie für plausibel halten. Zumindest sollte man ihnen den Weg in diese Richtung, die weit mehr verspricht als nur nach Sprachkontaktszenarien oder dem Einfluss gesellschaftlicher Veränderungen auf die Sprache zu suchen, nicht verbauen.
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Damaris Nübling
Renata Szczepaniak
Lautwandel verstehen. Vom Nutzen der Typologie von Silben- und Wortsprachen für die historische und die synchrone germanistische Linguistik
1. Historische Phonologie als Unterrichtsund Untersuchungsgegenstand Historische Phonologie gehört zu den zentralen und traditionsreichsten Bereichen der Historischen Sprachwissenschaft; dies galt schon für das 19. Jh., als die Historische Sprachwissenschaft entstand. Allerdings beschränkt sich die Vermittlung der historischen Lautlehre, die größtenteils schon von Wilhelm Braune und Hermann Paul entwickelt und in späteren Auflagen bearbeitet und erweitert wurde, bis in die heutige Zeit hinein auf die (bestenfalls chronologische) Aufzählung einiger Lautgesetze, wie etwa der i-Umlaut, die zweite Lautverschiebung, die Nebensilbenabschwächung sowie Apokopen und Synkopen. An Erklärungen wurde nicht viel geboten, sieht man von einigen wenigen strukturalistischen Erklärungsansätzen wie der Erkenntnis von Schub- und Sogwirkungen ab. Während in anderen Bereichen der Historischen Sprachwissenschaft durchaus typologische Analyseinstrumentarien zur Interpretation des morphologischen oder syntaktischen Wandels angewandt wurden – etwa um die zunehmende Tendenz zur Klammerbildung oder den graduellen Übergang von der freien zur festen Wortstellung zu erklären –, sind übergreifende Erklärungsansätze in der Lautlehre bisher Fehlanzeige gewesen. Man hat sich mit erstaunlich wenig begnügt, die reine Deskription reichte. Erfreulicherweise bietet die aktuelle phonologische Forschung moderne Paradigmen, die neues Licht auf die historische Lautlehre werfen und ihr einen wichtigen Status zuweisen. In diesem Beitrag wird am Beispiel der relativ jungen, von Auer (1993, 2001) entwickelten phonologischen Typologie von Silben- und Wortsprachen diskutiert, wie man mit Hilfe typologischer Ansätze den Schwerpunkt in der sprachhistorischen Phonolo-
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Renata Szczepaniak
gieforschung und in der universitären Lehre von der Deskription auf die Explanation verlagern kann. Mit diesem typologischen Ansatz, der in Abschnitt 2 präsentiert wird, erfahren die bisher zusammenhanglos behandelten Lautwandelphänomene des Deutschen eine übergreifende Erklärung, die eine typologische Drift vom silbensprachlichen Althochdeutschen zum wortsprachlichen Neuhochdeutschen aufdeckt (s. Abschnitt 3). Die Stärkung des phonologischen Wortes, d. h. die Hervorhebung von Sinneinheiten erweist sich dabei als ein zentrales Sprachwandelprinzip im Deutschen. Mit dieser typologischen Drift können auch Veränderungen in anderen Teilbereichen der Grammatik erklärt werden. So sind u. a. die heutige Variation des starken Genitivs (Fluges vs. Flugs) und die wachsende Produktivität der s-Fuge auf die zunehmende Relevanz des phonologischen Wortes zurückzuführen (s. Abschnitt 4). Weitet man den Blick auf den gesamten germanischen Sprachzweig aus, werden gegensätzliche typologische Entwicklungen sichtbar (s. Abschnitt 5): Im Gegensatz zur wortsprachlichen Entwicklung des Neuhochdeutschen weisen das Schweizerdeutsche, besonders das Walserdeutsche, aber auch das Luxemburgische deutlich mehr silbensprachliche Züge auf (Szczepaniak 2007b, c, 2010a). Im Nordgermanischen ist der wortsprachlichen Tendenz des Dänischen die Silbensprachlichkeit des Schwedischen gegenüberzustellen (Nübling/Schrambke 2004).1
2. Die Typologie von Silben- und Wortsprachen Die Typologie von Silben- und Wortsprachen basiert auf der Beobachtung, dass sich phonologische Regeln und Prozesse auf verschiedene Domänen wie Silbe, Wort oder Phrase beziehen können (Nespor/Vogel 2007). Weiterhin beobachtet Auer (1994), dass die phonologische Silbe keine universale Bezugsdomäne für phonologische Regeln und Prozesse ist. Interessanterweise treten in der Geschichte des Deutschen zunehmend das phonologische Wort und der phonologische Fuß als Konkurrenzdomänen auf, d. h. immer wichtiger wird die Position der Silbe im Wort oder im Fuß (Szczepaniak 2007a). Seit dem Mittelhochdeutschen beziehen sich immer mehr phonologische Prozesse auf diese Domänen, so dass sich beispielsweise die heutige Distribution des Hauchlautes h nicht unter 1
Die hohe theoretische und praktische Attraktivität dieser Typologie wurde auf dem vom 29.–31. März 2009 am Freiburg Institute of Advanced Studies (FRIAS) abgehaltenen Workshop über „Phonological Typology of Syllable and Word Languages in Theory and Practice“ unter Beweis gestellt (s. http://www.frias.uni-freiburg.de/lang_and_lit/veranstaltungen/ phonological-work-lili). In den Beiträgen wurden diachrone und synchrone Phänomene in verschiedenen, auch nicht-indoeuropäischen Sprachen typologisch untersucht.
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Lautwandel verstehen
Bezug auf die phonologische Silbe adäquat beschreiben lässt, da h nicht im Anfangsrand jeder Silbe stehen kann. Das Auftreten von h ist nicht silben-, sondern wortbezogen, da es auf die Stammsilbe beschränkt ist, die gewöhnlich am Anfang eines (einfüßigen) phonologischen Wortes steht wie in haben [[ȷhaȿ.bƞn]F]ƹ.2 ƹ F Ƴs
Ƴw
ha
ben
Abb. 1: Das phonologische Wort als Bezugsdomäne für phonologische Prozesse und Regeln am Bespiel der nhd. Distribution des Hauchlauts h
Die kontrastiv-typologische Untersuchung von Auer (1993) zeigt, dass neben der Silbe das phonologische Wort als zentrale phonologische Domäne fungieren kann. Abhängig davon, welche der beiden Hauptdomänen, die Silbe oder das Wort, in den Vordergrund tritt, werden zwei Sprachtypen unterschieden: die Silbensprache und die Wortsprache. Die einzelnen Sprachen stehen einem der beiden Typen unterschiedlich nahe. Sie können sich auch im Laufe ihrer Geschichte typologisch umorientieren, was auf die Entwicklung des Deutschen zutrifft (s. Abschnitt 3). Tab. 1 fasst die wichtigsten typologischen Kriterien zusammen. In Silbensprachen beziehen sich die Regeln und Prozesse auf die Silbe und ihre optimale Struktur. Dagegen kumulieren Wortsprachen Regeln und Prozesse, die das phonologische Wort exponieren. Silbensprachen haben eine einfache Silbenstruktur, die von der Position im Wort unabhängig ist. Deshalb ist für eine Silbensprache eine Symmetrie zwischen dem betonten und dem unbetonten Vokalismus und Konsonantismus charakteristisch. Diese betrifft auch die qualitativen und quantitativen Eigenschaften der Phoneme. Das phonologische Wort bleibt auf diese Weise ‚unsichtbar‘. Sogar der Wortakzent kann fehlen, oder er wird nur schwach realisiert. Im Gegensatz dazu kann man in Wortsprachen sehr komplexe Silben beobachten. Die wortpositionsabhängige Ausdifferenzierung sowohl der Silbenstruktur als auch des Vokal- und Konsonanteninventars profilieren das phonologische Wort, das auch durch einen dynamischen, phonetisch deutlich realisierten Wortakzent markiert wird. 2
Für weitere Details s. Wiese (1996: 60), Szczepaniak (2007a: 303ff.).
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Renata Szczepaniak Tab. 1: Typologische Kriterien für Silben- und Wortsprachen SILBENSPRACHE (leichte Aussprache)
WORTSPRACHE (Markierung morphologischer Struktur)
Silbenstruktur
einfach (Ideal: CV-Silbe)
komplex und hochvariabel
Vokalismus/ Konsonantismus
symmetrisch
asymmetrisch
Quantität
in allen Silben gegeben
auf bestimmte Wortpositionen (meist betonte Silben) beschränkt
- kein Wortakzent, musikalischer Wortakzent, Phrasenakzent - phonetisch schwach realisiert
- dynamischer Wortakzent
Wortakzent
silbenbezogen und -optimierend
wortbezogen und -optimierend
Klassifikationsparameter
phonetische und phonologische Prozesse
- phonetisch deutlich realisiert
In Silbensprachen bestehen Äußerungen aus Reihungen von optimalen, leicht aussprechbaren und gleichgeformten Silben − dies garantiert eine leichte Aussprache. Diesen Typus repräsentiert u. a. das Spanische, in dem die CV-Silbe mit ca. 60 % den mit Abstand frequentesten Silbentyp darstellt (Dauer 1983, Lloyd/Schnitzer 1968, Szczepaniak 2009). Im Spanischen können sogar ganze Sätze aus CV-Silben bestehen: La semana pasada se fue rápida ‘Die letzte Woche verging schnell’. In Wortsprachen wie dem heutigen Deutsch hingegen werden Verletzungen der Silbenstruktur und wortbezogene Differenzierungen im Silbenbau dazu genutzt, das phonologische Wort und damit die morphologische Information hervorzuheben. Zu solchen wortphonologischen Strategien gehört der Schwa-Vokal, der ausschließlich in unbetonten (meist Flexions- oder Derivations-)Silben auftritt, während betonte Stammsilben immer Vollvokale enthalten, z. B. Ta.ge [taȿ.gƞ].
3. Lautwandel verstehen: Der lange Weg des Deutschen von einer Silben- zu einer Wortsprache Betrachtet man die Geschichte des Deutschen aus dieser typologischen Perspektive, erfahren sämtliche phonologischen Prozesse eine übergreifende Erklärung. Ihre chronologische Abfolge erweist sich als prinzipiengesteuert; sie weist auf einen konsequenten Ausbau wortphonologischer Strategien hin, die den phonologisch-typologischen Wandel vom silbensprachlichen Althochdeutschen zum wortsprachlichen Neuhochdeutschen
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Lautwandel verstehen
sichtbar werden lassen. Diese Drift wird im Folgenden an ausgewählten Prozessen aufgezeigt (eine detaillierte Darstellung bietet Szczepaniak 2007a). Der typologische Umbruch vollzieht sich während des Übergangs vom Alt- zum Mittelhochdeutschen, so dass im Frühneuhochdeutschen bereits die Phase der wortsprachlichen Verstärkung eintritt. Das heutige Deutsch verfügt über eine ganze Reihe von phonologischen Prozessen und Regeln, die sich auf das phonologische Wort beziehen. Zur Hervorhebung des Wortes wird auch die Silbenstruktur genutzt; beispielsweise nehmen Silben mit konsonantischem Nukleus nur die unbetonte Position im Wort ein, z. B. [bmʆ] in oben [ȷoȿ.bmʆ]. 3.1 Das silbensprachliche Althochdeutsche: Der i-Umlaut und die zweite Lautverschiebung Der silbensprachliche Charakter des Althochdeutschen lässt sich an den Prozessen aufzeigen, die im universitären Unterricht einen zentralen Platz einnehmen. Dies sind der althochdeutsche Umlaut und die zweite Lautverschiebung. Die Betrachtung des Umlauts sollte von der Beobachtung ausgehen, dass das Vokalsystem des Althochdeutschen im Gegensatz zum heutigen keine akzent-/wortbezogene Ausdifferenzierung aufwies. So kamen Vollvokale (ähnlich wie im heutigen Spanisch) sowohl in betonten als auch in unbetonten Silben gleichermaßen vor, z. B. bina ‘Biene’, himil ‘Himmel’ oder erda ‘Erde’. Dies trug dazu bei, dass alle Silben innerhalb eines Wortes qualitativ gleichwertig waren, während im heutigen Deutsch mit Hilfe der Vokalqualität die Wortstruktur hervorgehoben wird. symmetrischer Vokalismus im Althochdeutschen
ƹ
ƹ
F
F
Ƴs
Ƴs
Ƴw u i
i o
e
u o
e
asymmetrischer Vokalismus im Neuhochdeutschen
Ƴw
i
u e
o
a
a
a
Vollvokale
Vollvokale
Vollvokale
e Reduktionsvokale
Abb. 2: Vokalqualität und Wortstruktur im Althochdeutschen und im Neuhochdeutschen
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Renata Szczepaniak
Da die althochdeutschen Vokale in betonten und unbetonten Silben qualitativ gleichwertig waren, unterlagen sie gleichermaßen assimilatorischen Prozessen. So war der Umlaut ein Prozess, in dem sich der unbetonte iVokal in silbischer und nicht-silbischer Position, d. h. als vokalischer Silbengipfel oder als Halbvokal i֒ fernassimilatorisch auf den ihm vorausgehenden nicht-palatalen Tonvokal auswirkte (Braune 2004: 55).3 Es kam zur Frontierung des Tonvokals, wodurch die Silbenkette ähnlicher wurde, z. B. vorahd. faris > ahd. feris > nhd. fährst.
vorahd.
Ƴ
Ƴ
fa
ris
ahd.
Ƴ
Ƴ
fe
ris
>
Abb. 3: Der althochdeutsche i-Umlaut als Vereinheitlichung der Silbenkette
Der i-Umlaut ist einer von vielen fernassimilatorischen Prozessen, denen die althochdeutschen Vokale unterworfen waren. Weniger bekannt sind vokalharmonische Anpassungen der althochdeutschen Sprossvokale, die schon durch ihr Auftreten die Silbenstruktur optimierten, z. B. ahd. wurm > wurum ‘Wurm’ oder berg > bereg ‘Berg’ (Reutercrona 1920). Qualitativ vereinheitlicht wurden auch die Mittelsilbenvokale, die meist die phonologischen Merkmale der Endsilbenvokale kopierten, z. B. wuntar ‘Wunder’ − wuntoro (Gen. Pl.) (s. Wilmanns 1911: 384, Becker 2000, Szczepaniak 2007a, b). (1) Vokalharmonien im Althochdeutschen (a) Sprossvokale (progressive Assimilation) ahd. wurm > wurum ‘Wurm, Schlange’ ahd. berg > bereg ‘Berg’ (b) Mittelsilbenvokale (regressive Assimilation) ahd. wuntar ‘Wunder’ – wuntoro (Gen. Pl.) ahd. wolkan ‘Wolke’ – wolkono (Gen. Pl.) 3
Ähnliche Phänomene fanden auch in der westgermanischen Vorstufe statt, vgl. die westgermanische Hebung e > i vor i, i֒ und u (germ. *nemis > westgerm. *nimis > nhd. (du) nimmst, aber (wir) nehmen) und die westgermanische Senkung i > e und u > o vor a, e und o (germ. *wulfaz > westgerm. *wolf ‘Wolf’). Im Gegensatz zu den Hebungen und Senkungen im Westgermanischen bestand der althochdeutsche Umlaut in der Palatalisierung (Frontierung) des Tonvokals.
Lautwandel verstehen
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All diese vokalischen Prozesse waren Ausdruck der althochdeutschen Silbensprachlichkeit. Sie optimierten die Silbenstruktur und führten dazu, dass benachbarte Silben einander ähnlicher wurden.4 Die silbensprachliche Tendenz des Althochdeutschen ist auch im konsonantischen Bereich deutlich zu sehen. Sie steuerte u. a. die Distribution der Produkte der zweiten Lautverschiebung sowie ihre diatopischen Durchsetzungsgrade, bekannt als der Rheinische Fächer (s. dazu Nübling et al. 2010: 26ff.). Der silbenbezogene Charakter der zweiten Lautverschiebung wird im Folgenden an der Tenuesverschiebung vorgestellt, dem auch im universitären Unterricht die meiste Beachtung geschenkt wird. Die Tenuesverschiebung umfasst Schwächungsprozesse, denen die germanischen Plosive p, t und k unterlagen. In Tab. 2 werden die Schwächungsprodukte unter Berücksichtigung der Verschiebungskontexte aufgelistet und mit unverschobenen Formen im Englischen kontrastiert. Im Anschluss wird eine silbenphonologische Analyse vorgeschlagen. Tab. 2: Tenuesverschiebung im Althochdeutschen 1) nach Konsonant engl. ahd. help hëlpfan heart hërȃa work wërk (obd. wërch)
AFFRIKATEN 2) in Geminate engl. ahd. apple apful sit siȃȃan wake wecken (obd. wechen)
3) am Wortanfang engl. ahd. path pfad ten ȃehan corn korn (obd. chorn)
FRIKATIVE nach Vokal engl. ahd. open offan water waȃȃar make maƷƷŇn
Wie Abb. 4 (S. 92) zeigt, können grundsätzlich zwei Schwächungsgrade unterschieden werden: Die Affrikaten pf, ts und (im Altalemannischen) kƷ repräsentieren einen geringeren Schwächungsgrad als die Frikative f(f), ȃ(ȃ) und Ʒ(Ʒ) (s. Sonderegger 2003). Die Schwächungsgrade korrelieren v. a. mit artikulatorischen Gegebenheiten, da der pulmonische Luftstrom mit unterschiedlicher Intensität im Mundraum behindert wird. Vom Konsonantischen Stärkegrad ist die Position der Laute in der Silbe abhängig. Laute mit hohem Konsonantischem Stärkegrad stehen in der Peripherie der Silbe. Zum Silbenzentrum hin wächst hingegen der Sonoritätsgrad der Laute, weswegen Vokale (die sonorsten Laute) gewöhnlich den Silbengipfel bilden, vgl. krank [kDZaČk]. Die Silbenstruktur ist dabei umso besser, je größer die Sonoritäts- bzw. 4
Die althochdeutschen Vokalfernassimilationen trugen dazu bei, die Unterschiede zwischen den Silben einzuebnen. Ihr Geltungsbereich war jedoch durch die Domäne des phonologischen Wortes oder der klitischen Gruppe eingegrenzt, vgl. ahd. gibetŇs ir > gibetis ir (von gibetŇn ‘beten, bitten’). Dadurch signalisierten ähnliche Silben ex negativo die Wortgrenzen oder die Grenzen klitischer Gruppen.
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Stärkeunterschiede zwischen benachbarten Lauten sind (zu den Silbenpräferenzgesetzen s. Vennemann 1986).5 höchste Konsonantische Stärke
höchste Sonorität Vokale
Liquide r, l
Nasale
Frikative Affrikaten f(f), ȃ(ȃ), Ʒ(Ʒ) ࣴpf, ௬ts, ௬kƷ
Plosive p, t, k
Affrizierung Frikativierung Abb. 4: Die Konsonantische Stärke der Produkte der Tenuesverschiebung
Die Distribution der althochdeutschen Verschiebungsprodukte war silbenbezogen, was hier am Beispiel von p expliziert wird: Folgte der Plosiv einem Konsonanten (meist Liquid oder Nasal), war nur eine Affrizierung möglich, s. (2a). Auf diese Weise ist der Sonoritäts- bzw. Stärkeunterschied nur geringfügig verringert worden. In einer Geminate wurde nur der zweite Teil geschwächt: p.p > p.pf, so blieb der Silbenkontakt unverändert. Dies bedeutet, dass zwei gewöhnlich unterschiedene Kontexte, die nach Konsonant und in Geminate (s. (2a)), silbenphonologisch zusammengefasst werden können. Nur nach einem Vokal konnte der Plosiv bis zu einem Frikativ geschwächt werden. So wurde ein ausreichender Stärkeunterschied gewahrt (s. (2b)). (2) Die silbenphonologische Analyse der Tenuesverschiebung (a) Affrikaten (postkonsonantisch) vorahd. *hel.pan > ahd. hel.pfan vorahd. *dorp > ahd. dorpf vorahd. *ap.pla > ahd. ap.pful (b) Frikative (postvokalisch) vorahd. *skip > ahd. skif(f) vorahd. *o.pa.na > ahd. of.fan (c) Ausnahme (Affrikaten am Wortanfang) vorahd. *plegana > ahd. pflegan Nur im Wortanlaut gab es keine Variation, so dass in den oberdeutschen Dialekten (mit Ausnahme des Altalemannischen) in dieser Position eine 5
Vennemann (1986) beschreibt die silbischen Präferenzgesetze am Beispiel der historischen Phonologie der romanischen (Silben-)Sprachen. Die Relevanz der Präferenzgesetze in der Geschichte des Deutschen ist viel geringer und trifft v. a. auf die Entwicklungen im Althochdeutschen zu.
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Affrikate auftrat, s. (2c). Dies zeigt, dass die Domäne des phonologischen Wortes im Althochdeutschen eine geringe Rolle spielte: Der wortinitiale Konsonant veränderte sich zwar nicht in Abhängigkeit vom vorausgehenden Laut, doch wurde der Wortanfang nicht durch einen völlig anderen Konsonanten markiert, d. h. nicht hervorgehoben. 3.2 Der typologische Umbruch im Mittelhochdeutschen: Nebensilbenabschwächung, Vokaltilgung und die Phonologisierung der Umlautvokale Die Bedeutung des phonologischen Wortes nahm vom Alt- zum Mittelhochdeutschen kontinuierlich zu. Seine Struktur erfuhr eine deutliche Hervorhebung bereits durch die sog. Nebensilbenabschwächung. Der qualitative Abbau der Vokale führte zur Entwicklung von Reduktionssilben in unbetonter Position, wodurch die betonte Stammsilbe an Prominenz gewann. Im Anschluss an die Nebensilbenabschwächung sorgten Synkopen und Apokopen für die Regulierung der Größe des phonologischen Wortes, so dass seit dem Mittelhochdeutschen das trochäische Ideal gilt (s. Eisenberg 1991). Das qualitative Gefälle zwischen betonten und unbetonten Silben wurde durch die Phonologisierung der Umlautvokale vergrößert, da diese den betonten Vokalismus noch weiter anreicherten (vgl. Abb. 5). Die wortphonologische Regulierung zeitigte Konsequenzen nicht nur auf der phonologischen, sondern auch auf der morphologischen Ebene (s. Abschnitt 4). ƹ F Ƴs ·e, ü, ä, ö, æ, œ , iu, öu, üe, a, ë, i, o, u, Ć, ē, ĩ, Ň, ş, ie, ei, uo, ou
Ƴw [NJ]
Abb. 5: Ausdifferenzierung des betonten und unbetonten Vokalismus im Mittelhochdeutschen
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3.3 Die Stärkung der Wortsprachlichkeit im Frühneuhochdeutschen: Dehnung in offener Tonsilbe und Konsonantenepenthese
(des) Krugs [kDZuȿks]
wachsende Konsonantische Stärke
Während Apokopen und Synkopen im Mittelhochdeutschen noch silbenbezogenen Beschränkungen unterworfen waren − die Tilgung war nur nach Liquiden und Nasalen möglich −, wurden diese im Frühneuhochdeutschen nach und nach aufgegeben (s. Paul 1998: 81, Wilmanns 1911: 356). Indem der unbetonte Vokal im Frühneuhochdeutschen ungeachtet der silbischen Outputstruktur getilgt werden konnte, entwickelten sich in wortfinaler Position extrasilbische Konsonanten, d. h. Konsonanten, deren Konsonantische Stärke geringer war als die des linksstehenden Lautes, z. B. s in Krugs (< mhd. kruges) oder st in gibst (< mhd. gibest). Da extrasilbische Konsonanten seit dem Frühneuhochdeutschen nur wortfinal auftreten, signalisieren sie deutlich den rechten Wortrand und sind damit wortoptimierend. uȿ DZ s k
k
Abb. 6: Extrasilbische Konsonanten als Marker des rechten Wortrands
Im Zuge der Vokaltilgungen nahm im Frühneuhochdeutschen auch die Komplexität der Konsonantencluster zu (Werner 1978): Tab. 3: Wachsende Komplexität der Konsonantencluster vom Mittel- zum Neuhochdeutschen Mhd.
Nhd.
Zweigliedrige Cluster
31
45
Dreigliedrige Cluster
12
62
Viergliedrige Cluster
–
33
Fünfgliedrige Cluster
–
3
Zusätzlich wurde die phonologische Wortgestalt (und damit die morphologische Struktur) durch die frühneuhochdeutsche Konsonantenepenthese exponiert, s. (3). An das Wortende traten verstärkend v. a. dentale Plosive an (s. Moser 1951). Sie erhöhten die Konsonantische Stärke am rechten Rand eines phonologischen Wortes. In phonologisch komplexen Wörtern,
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z. B. [orden]ƹ[lîch]ƹ, wurde durch den epenthetischen Konsonanten die interne morphologische Struktur verdeutlicht {ordent}{lich}. (3) Frühneuhochdeutsche Konsonantenepenthese (a) am absoluten Wortende mhd. mâne > (f)nhd. Mond mhd. obeȃ > (f)nhd. Obst (b) an der phonologischen Wortgrenze mhd. ordenlîch > (f)nhd. ordentlich mhd. gelëgenlîch > (f)nhd. gelegentlich Zur Optimierung des phonologischen Wortes führte auch die sog. Dehnung in offener Silbe, die auf die betonte Wortposition beschränkt war. Im Zuge dieser Entwicklung wurde die leichte Tonsilbe eliminiert, z. B. mhd. lë.ben (kurz) > (f)nhd. l [eȿ].ben. Seitdem ist die betonte Silbe im Deutschen obligatorisch schwer. Die Dehnung erhöhte den Unterschied zwischen betonten und unbetonten Vokalen, da zum qualitativen Kontrast (Vollvokale vs. Reduktionsvokale) der quantitative hinzutrat. Der Silbenrand der Tonsilbe hat seitdem eine obligatorische postvokalische Position. Becker (1998: 77) spricht von der Kernsilbe mit einer immer zu besetzenden Implosion. Das Neuhochdeutsche verfügt über ein stark profiliertes phonologisches Wort, was zur Markierung der morphologischen Struktur beiträgt und somit die Dekodierung des Redeflusses erleichtert.
4. Konsequenzen der zunehmenden Profilierung des phonologischen Wortes für die Morphologie am Beispiel der Genitivvariation Der Nutzen dieser phonologisch-typologischen Analyse ist vielfältig und weitreichend. So zog die wortphonologische Stärkungstendenz Veränderungen auf anderen Sprachebenen, z. B. in der Morphologie, nach sich. Viele Zweifelsfälle im heutigen Deutsch können erst unter Berücksichtigung der diachron zunehmenden Bedeutung des phonologischen Wortes zufriedenstellend erklärt werden. Im Folgenden wird gezeigt, dass die heutige Variation des starken Genitivs (des Fluges vs. des Flugs) auf die diachron zunehmende Relevanz des phonologischen Wortes zurückzuführen ist. Auch das diachrone Verhalten der s-Fuge und die heutige Variation der s-Verfugung (Antragformular vs. Antragsformular) ist wortphonolo-
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gisch bedingt (s. Nübling/Szczepaniak 2008, 2009, 2011 und Nübling in diesem Band). Im heutigen Deutsch stehen für Maskulina und Neutra zwei Formen des starken Genitivs zur Verfügung, wobei die Distribution zwischen freier, gradueller und Nullvariation oszilliert: (4) Genitivvariation im Neuhochdeutschen (a) Nullvariation (nach zweisilbigen Simplizia, Suffigierungen) des Vaters, des Abends des Reichtums, des Lehrlings (b) graduelle Variation (-s überwiegt nach Derivaten (v. a.) mit betontem Präfix; -es überwiegt nach einsilbigen Simplizia auf Plosive und Affrikaten) des Ursprungs, des Antrags des Kindes, des Weges (c) freie Variation (nach einsilbigen Simplizia auf Nasal oder Frikativ) des Traums/des Traumes, des Kaufes/des Kaufs Die Wahl des kurzen oder langen Genitivs ist von der phonologischen Struktur der Basis abhängig, wobei zum einen die Größe des phonologischen Wortes und seine interne phonologische Komplexität und zum anderen die Komplexität des wortfinalen Konsonantenclusters und der Stärkegrad des finalen Konsonanten ausschlaggebend sind (Szczepaniak 2010b). Im Mittelhochdeutschen setzte die Tendenz zur Regulierung der phonologischen Wortgröße ein, die in Apokopen und Synkopen ihren Ausdruck fand (s. Abschnitt 3.2). Seitdem stellt der Trochäus die ideale Wortgröße im Deutschen dar. Im Zuge der Vokaltilgung in drei- und mehrsilbigen Wortformen entwickelte sich die nicht-silbische Genitivvariante -s, z. B. mhd. [fateres]ƹ > [faters]ƹ. In diesem phonologischen Kontext ist die kurze Genitivvariante heute obligatorisch. Sie garantiert den Erhalt der optimalen Wortgröße. Eine korpuslinguistische Untersuchung der heutigen Distribution des s-Genitivs in Szczepaniak (2010b) gibt Hinweise darauf, dass für seine diachrone Durchsetzung die Größe der Basis und ihre phonologische Komplexität ausschlaggebend waren (s. Abb. 6). So tritt die kurze Genitivendung heute obligatorisch an Derivate mit unbetontem Suffix wie Lehrer, die ähnlich wie zweisilbige Simplizia (Vater, Abend ) ein einfaches (einfüßiges und zweisilbiges) phonologisches Wort bilden, z. B. [ȷleȿ.DZǁ(s)]ƹ. Dies spricht dafür, dass es der Umfang des phonologischen
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Wortes ist und nicht die morphologische Struktur, die über die Genitivform entscheidet. Obligatorisch ist die s-Endung auch nach Derivaten mit betontem Suffix (Reichtum). Hier tritt die Genitivendung an das phonologische Wort [tuȿm]ƹ, das immer unter Nebenton in Kombination mit einem anderen, hauptbetonten phonologischen Wort auftritt. Solche wortwertigen Derivationssuffixe verlieren im Zuge ihrer weiteren Entwicklung allmählich den phonologischen Wortstatus. Sie werden enttont und unterliegen dabei der Vokalreduktion. So existiert bereits eine Variante mit ungespanntem Vokal [tǻm]. Der Umfang der gesamten Suffigierung war ausschlaggebend für die Durchsetzung der kurzen Genitivendung. In Derivaten mit betontem Präfix (z. B. Anstand) und in Komposita (z. B. Kontostand) handelt es sich ebenfalls um komplexe Wörter. Die Genitivendung tritt hier jedoch an ein phonologisches Wort (z. B. [Ǵtant]ƹ), das auch allein auftreten kann. Umso interessanter ist die Tatsache, dass die kurze Genitivendung bei Derivaten mit betontem Präfix (Typ Anstand) deutlich häufiger gewählt wird als bei Komposita, s. Tab. 4. Die Häufigkeit der s-Endung bei Komposita wurde in Szczepaniak (2010b) an ausgewählten Beispielen ermittelt. So oszilliert die relative Frequenz von -s nach Komposita mit Werk als Zweitglied zwischen 0,43 und 0,86, während sie nach dem Simplex Kampf nur den Wert von 0,39 erreicht. Die Auswertung der Häufigkeit von -s nach dem Simplex Stand, nach Derivaten mit -stand und nach Komposita mit Stand als Zweitglied zeigt, dass die Tendenz zur kurzen Endung bei Komposita geringer ist als bei Derivaten mit betontem Präfix. Die lange Genitivendung wird tendenziell dann gewählt, wenn das letzte phonologische (einsiblige) Wort sehr salient und prosodisch stabil ist, also v. a. in (transparenten) Komposita. In solchen Fällen dient die es-Endung zum prosodischen Aufbau von diesem phonologischen Wort zum Trochäus, z.B. Konto+standes. Tab. 4: Relative Frequenz der kurzen Genitivendung Morphologische Struktur
Phonologische Struktur
Simplex (Stand ): Derivate mit unbetontem Präfix (Bestand ): Komposita (darunter Kontostand ): Derivate mit betontem Präfix (Aufstand ):
[[Ƴ]F]ƹ [[Ƴ]F]ƹ [[Ƴ]ƹ[Ƴ]ƹ]ƹ [[Ƴ]ƹ[Ƴ]ƹ]ƹ
Relative Frequenz der kurzen Genitivendung 0,06 0,11 0,28 0,37
Derivate mit unbetontem Präfix (Typ: Erfolg, Bestand ) bestehen aus einem phonologischen Wort mit einer abweichenden Struktur: unbetonte + betonte Silbe. Die heutige Variation mit einer nur leichten Tendenz zur kur-
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zen Genitivendung hat ebenfalls prosodische Gründe: Die lange Genitivendung ist nicht so stark dispräferiert wie bei Derivaten mit betontem Präfix, weil sie zur Bildung eines trochäischen Betonungsmusters beiträgt (Erfólges). Die relative Frequenz der kurzen Genitivendung beträgt hier nur 0,67, während sie nach Derivaten mit betontem Präfix, bestehend aus zwei phonologischen Wörtern, den Wert von 0,78 erreicht (s. Szczepaniak 2010b). Tab. 5: Phonologische Struktur und die Genitivvariation im Neuhochdeutschen Morphologische Struktur
Beispiel
Einsilbiges Simplex: Derivate mit unbetontem Präfix: Komposita: Derivate mit betontem Präfix: Derivate mit betontem Suffix: Derivate mit unbetontem Suffix: Zweisilbige Simplizia:
Stand Bestand Kontostand Aufstand Reichtum Lehrer Vater
relative Frequenz 0,37 0,67 k. A. 0,78 oblig. oblig. oblig.
phonologische Struktur
-es
[[Ƴ]F]ƹ [[Ƴ]F]ƹ [[Ƴ]ƹ[Ƴ]ƹ]ƹ [[Ƴ]ƹ[Ƴ]ƹ]ƹ [[Ƴ]ƹ[Ƴ]ƹ]ƹ [[ƳƳ]F]ƹ
-s
Über die Genitivform entscheidet jedoch nicht nur die phonologische Größe und Komplexität der Basis, sondern auch die Qualität und Quantität des konsonantischen Wortauslauts. Dieses Variationskriterium geht ebenfalls auf die mittel-/frühneuhochdeutsche Zeit zurück, in der die silbenphonologischen Beschränkungen der Vokaltilgungen im Zuge der wortsprachlichen Entwicklung stufenweise abgebaut wurden: Zunächst konnte der Vokal nur nach Liquiden und Nasalen getilgt werden (mhd. spiles > spils); erst im Frühneuhochdeutschen war die Vokaltilgung nach Frikativen und Plosiven möglich (mhd. kruges > (fr)nhd. Krugs) (s. Abschnitt 3.2). Die graduelle Durchsetzung der kurzen Genitivendung deckt sich mit ihrer heutigen Frequenz. Wie Tab. 6 (S. 99) zeigt, ist die kurze Genitivendung nach einsilbigen Simplizia auf Liquid vorherrschend, während ihr Anteil nach Nasalen geringer ist und mit steigender Konsonantischer Stärke des finalen Konsonanten sukzessive weiter sinkt (Genaueres s. bei Szczepaniak 2010b). Die lange Endung garantiert bessere Aussprechbarkeit nach Affrikaten und nach der st-Gruppe. Darüber hinaus ermöglicht nur die lange Endung die konsonantische Realisierung des basisauslautenden r durch Resilbifizierung: Haa.res. Ähnliche sonoritätsbezogene Frequenzunterschiede bestehen auch bei Derivaten mit unbetontem Präfix, deren durchschnittliche relative Frequenz 0,67 beträgt. Während nach auslautenden Plosiven freie Variation zwischen kurzer und langer Endung konstatiert werden kann (0,57), über-
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wiegt die kurze Endung deutlich nach auslautenden Nasalen (0,9) und Liquiden (0,96).
Relative Frequenz der kurzen Genitivendung 0,74 0,60 0,44 0,21 0,21 0,11 0,11
Beispiel (des Pfahls) (des Lärms) (des Kochs) (des Bett(e)s) (des Haar(e)s) (des Kampf(e)s) (des Dienst(e)s)
Finaler Konsonant [l] Nasale Frikative Plosive [ǁ/DZ] Affrikaten [st]
wachsende Konsonantische Stärke
Tab. 6: Relative Frequenz der kurzen Genitivendung und der Stärkegrad des Basisauslauts
Zusätzlich sinkt die Wahrscheinlichkeit einer kurzen Genitivendung mit zunehmender Komplexität des finalen Konsonantenclusters, wobei hier gilt, dass, je umfangreicher die Konsonantengruppe, desto höher die Konsonantische Stärke des auslautenden Konsonanten ist: Tab. 7: Genitivvariation und die Komplexität des finalen Konsonantenclusters Anzahl der basisfinalen Konsonanten ein Konsonant zwei Konsonanten drei Konsonanten
Relative Frequenz der kurzen Genitivendung 0,42 (des Huhns) 0,29 (des Pferd(e)s) 0,09 (des Obst(e)s)
5. Typologische Unterschiede innerhalb der Germania Der ausgeprägte wortsprachliche Charakter des (Standard-)Deutschen tritt noch deutlicher hervor, wenn man es mit anderen, eng verwandten Sprachen oder den deutschen Dialekten kontrastiert. Obwohl die Typologie der Silben- und Wortsprachen relativ jung ist, liegt bereits eine Reihe von aussagekräftigen Studien vor, die auf tiefgreifende typologische Unterschiede hinweisen. Diese erlauben generell die Annahme, dass das Standarddeutsche einen besonders hohen Wortsprachlichkeitsgrad erreicht hat, während sowohl Dialekte als auch die umgangssprachliche Sprechlage einige silbenphonologische Optimierungen aufweisen. Gesicherte Erkenntnisse liegen mit Nübling/Schrambke (2004) zu alemannischen Dialekten vor, in denen sich ein typologisches Nord-/Südgefälle abzeichnet: So wird beispielsweise der Definitartikel d im Nordalemannischen vor
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einem vokalisch anlautenden Wort (ags ‘Achse’, Anna, Uni) mit Verschlusslösung und in neuester Zeit sogar mit einem intervenierenden Knacklaut realisiert (älter d ags, d ana, d uni, jünger d ȅags, d ȅana, d ȅuni), wodurch die morphologische Grenze verdeutlich wird. Im Südalemannischen wird hingegen durch die Resilbifizierung die silbische Struktur optimiert: takzʂ, tanȿa, tuni. Die bei diesem und weiteren Phänomenen zu beobachtende, von Norden nach Süden zunehmende Silbensprachlichkeit weist darauf hin, dass im Südalemannischen (darunter das Schweizer- und auch das Walserdeutsche aus Issime) die silbensprachliche Tendenz diachron seit dem Althochdeutschen nicht nachgelassen hat. Die typologische Kontinuität des Schweizerdeutschen äußert sich u. a. in den konsonantischen Assimilationen, die zur Verwischung der Wortgrenzen führen. Ähnliche ausspracheerleichternde Prozesse sind aus dem Althochdeutschen bekannt (s. Szczepaniak 2007b): Tab. 8: Parallelen zwischen den wortübergreifenden Assimilationen im Althochdeutschen und im heutigen Schweizerdeutschen Althochdeutsch _m]ƹ[[lab] ahd. hŇhunberg > hŇmberg ‘hohes Gebirge’ _n]ƹ[[kor] ahd. harmscara > haranskara ‘Bestrafung’ _Ņ]ƹ[[hint] ahd. boumgarto > boungarto ‘Obstgarten’ _p/b]ƹ[[lab] ahd. erdberi > erbper ‘Erdbeere’ _k/g]ƹ[[hint] ahd. râtgebo > râgebo ‘Ratgeber’
Heutiges Schweizerdeutsch _m]ƹ[[lab] alem. [paޝmfaޝr‘ ]ۑbahnfahren’ _n]ƹ[[kor] (nur in tautosyllabischen Clustern, z. B. chunt ‘kommt’, frönd ‘fremd’) _Ņ]ƹ[[hint] alem. [wܭƾ ܵun‘ ]ݕwann kommst (du)?’ _p/b]ƹ[[lab] alem. ärbäbe ‘Erdbeben’ _k/g]ƹ[[hint] alem. [haƾkkܭlt] ‘Handgelt’
Offensichtlich werden silbensprachliche Charakteristika an der südlichen Peripherie der Germania, möglicherweise unter verstärkendem Einfluss des Sprachkontakts mit der silbensprachlichen Romania, beibehalten. Auch der walserdeutsche Inseldialekt von Issime (Aostatal) hat phonologische Regeln der vokalischen Fernassimilation konserviert und sogar ausgebaut (Szczepaniak 2007c). So galt im Althochdeutschen eine Beschränkung der vokalharmonischen Anpassung des Mittelvokals an den Endvokal auf dreisilbige Wortformen, z.B. ahd. bittar ‘bitter’ − bitteres (Gen. Sg. Mask. st. Fl.), aber bitteremo (Dat. Sg. Mask. st. Fl.), nicht *bittoromo. Diese Beschränkung wird im Walserdeutschen von Issime aufgegeben, z. B. buttilji ‘Fläschchen’ − buttiljunu oder sogar buttuljunu (Dat. Pl.). Auch das mit dem Deutschen eng verwandte Luxemburgische weist mehr silbensprachliche Phänomene als das Deutsche auf (Szczepaniak
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2010b). Zu den prominentesten Beispielen gehört die sog. n-Regel, die Resilbifizierungs- und Tilgungsprozesse eines wortauslautenden n umfasst (s. Gilles 1999, 2006). Generell wird der n-haltige Wortauslaut nur in artikulatorisch günstiger Umgebung erhalten: Vor vokalischem Anlaut des Folgewortes kommt es zur Resilbifizierung, z. B. gudden Auto [gu.dƞ.nau.to] ‘gutes Auto’. Lautet das Folgewort auf einen Dental oder h an, entsteht an der Wortgrenze ein leicht aussprechbarer Konsonantencluster, weswegen n erhalten bleibt: gudden Dag [gu.dƞn.daȿx] ‘guter Tag’. Vor anderen Konsonanten wird der Nasal getilgt, z. B. gudde_ Wäin [gu.dƞ.væǛn] ‘guter Wein’. Auf die konservierende Wirkung des Sprachkontakts können silbensprachliche Elemente auch in dem an der Grenze zur Romania gesprochenen Flämischen zurückgeführt werden. So zeigt Noske (2007), dass das Flämische im Gegensatz zum Standardniederländischen deutlich mehr silbensprachliche Züge bewahrt hat. Beispielsweise finden im Flämischen viele Resilbifizierungen statt, während im Standardniederländischen die morphologische Grenze mit dem Knacklaut gestärkt wird, z. B. on+eens ‘uneins’ fläm. [Dž.neȿns] vs. ndl. [Džn.ȅeȿns]. Darüber hinaus bestehen im nordgermanischen Zweig u. a. tiefgreifende typologische Unterschiede zwischen dem wortsprachlichen Dänischen und dem deutlich silbensprachlicheren Schwedischen (Nübling/ Schrambke 2004). So gibt es im Schwedischen Konsonantenassimilationen, die sowohl im Wort (Wortsandhi) als auch an Wortgrenzen stattfinden, z. B. [rs] > [dz] univer[dz]itet ‘Universität’ (Wortsandhi) und för tre år sedan [oȿdzen] ‘vor drei Jahren’ (Satzsandhi). Das Schwedische verfügt über drei unbetonte Vollvokale [a], [ǻ] und [e], während das Dänische, ähnlich dem Deutschen, nur noch [ƞ] kennt, vgl. dän. ryge [ȷDZyȿƞ] vs. schwed. ryka [ryȿka] ‘rauchen’.
6. Zusammenfassung Der typologische Ansatz von Silben- und Wortsprachen bereichert die linguistische Forschung und Lehre in vielerlei Hinsicht. Zum einen macht seine explanative Kraft die historische Phonologie zum attraktiven Unterrichtsgegenstand. Erst aus dieser Perspektive erfahren die bisher zusammenhanglos behandelten Lautwandelprozesse eine übergreifende Erklärung. Zum anderen führt die typologische Analyse des Lautwandels im Deutschen zur Aufdeckung eines zentralen Sprachwandelprinzips: In der Geschichte des Deutschen treten phonologische Prozesse auf, die das phonologische Wort nach und nach immer deutlicher hervorheben und optimieren, meist auf Kosten der phonologischen Silbe. Damit wandelt sich das Deutsche von einer Silben- zu einer Wortsprache.
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Die Tendenz zur Hervorhebung des phonologischen Wortes zieht Veränderungen in anderen Bereichen der Grammatik nach sich. So kann die heutige Variation zwischen kurzer und langer Genitivendung auf die typologische Drift vom silben- zum wortsprachlichen Pol zurückgeführt werden. Die Entwicklung der kurzen Genitivendung geht auf die seit dem Mittelhochdeutschen gültige Tendenz zur Regulierung der Wortgröße (auf den Trochäus) zurück. Ihre Durchsetzung wurde zum einen durch die phonologische Wortgröße und -struktur gesteuert, so dass umfangreiche phonologische Wörter heute eher die kurze Endung nehmen als einsilbige Simplizia. Zum anderen war die allmähliche Aufgabe der silbenphonologischen Beschränkungen für die heutige Korrelation zwischen der Frequenz der kurzen Endung und der Qualität und Quantität der basisfinalen Konsonanz verantwortlich. Die phonologischen Unterschiede zwischen dem (Standard-)Deutschen und seinen Dialekten sowie zwischen den germanischen Sprachen können ebenfalls auf silben- bzw. wortoptimierende Tendenzen zurückgeführt werden. So kultivieren Dialekte und Sprachen an der Grenze zwischen Romania und Germania mehr silbensprachliche Elemente als das Standarddeutsche. In diesem Bereich besteht ein großer Bedarf nach weiterer Forschung, die sich auch der Frage widmen sollte, welche system- und gebrauchslinguistischen Faktoren den typologischen Wandel steuern. Es ist nicht auszuschließen, dass in der entscheidenden frühneuhochdeutschen Phase der wortsprachlichen Stärkung die schriftsprachlichen Vereinheitlichungstendenzen mit hineinwirkten.
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Anna Molnár
Was Grammatikalisierungsforschung und Historische Grammatik einander zu sagen hätten. Eine Bestandsaufnahme
1. Problemstellung Die beiden im Titel miteinander in Verbindung gesetzten Begriffe würden einen Hardcore-Grammatikalisierungsforscher wohl etwas stutzig machen, da die Fragestellungen der klassischen Grammatikalisierungsforschung vorrangig sprachtheoretisch und universalgrammatisch ausgerichtet und von der traditionsreichen historischen Grammatikschreibung weit entfernt sind. Der Konjunktiv des Verbs wiederum deutet darauf hin, dass der Austausch der Forschungserfahrungen und -ergebnisse zwischen diesen beiden Disziplinen heute noch nicht Wirklichkeit ist. Dabei bietet sich, so denke ich, die Verbindung der beiden Forschungsfelder geradezu an – und zwar aus drei Gründen: (a) Grammatikalisierung steht an der Schnittstelle zwischen Synchronie und Diachronie. Sie verläuft durch die Zeit und ist/sollte somit ein historisch belegbarer Prozess sein. (b) Grammatikalisierung ist ein spezieller Sprachwandelprozess, der von der Lexik in die Grammatik führt. Lexeme, die der Grammatikalisierung unterliegen, verlieren stufenweise ihre Autonomie und werden immer mehr den Restriktionen der Grammatik untergeordnet. (c) Grammatikalisierung geht oft auch mit Wortartenwechsel einher. Die Wortarten bilden die Grundkategorien der Grammatiken, so auch von Grammatiken historischer Sprachstufen. Obwohl die Anschlussmöglichkeiten auf der Hand liegen, so lässt sich dennoch eine fehlende Interaktion zwischen der Grammatikalisierungsforschung und der Historischen Sprachwissenschaft bzw. Grammatik konstatieren. Die Ursachen für die gegenseitige Nichtbeachtung liegen in den unterschiedlichen Forschungsinteressen und in dem unterschiedlichen metho-
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dischen Herangehen. Die Grammatikalisierungstheorie ist eine attraktive und elegante Theorie für die Rekonstruktion und Erklärung bestimmter Sprachwandelphänomene, wohingegen historische Grammatiken das statische und – mehr oder weniger – idealisierte grammatische System einer Sprachstufe beschreiben wollen. Die in den Sprachstufengrammatiken dargestellten Wortarten können allerdings auch die Ergebnisse von Grammatikalisierungen sein, wie z. B. die deutschen Präpositionen (z. B. infolge, anhand) oder Konjunktionen (z. B. weil). Während also die Grammatikalisierungsforschung an der logischen Ableitbarkeit der sekundären Wortart von der primären und an der Aufdeckung der Regelmechanismen des Wandels interessiert ist, Erklärungen anstrebt, liegt das Ziel der historischen Grammatiken in der Deskription des Sprachsystems, der systematischen Darstellung der klassischen Wortarten und deren Formveränderungen. Grammatikalisierungsbeschreibungen zeigen die Übergänge von einer Kategorie in eine andere auf, historische Grammatiken gehen von festen, tradierten Kategorisierungen von Wörtern aus. Entsprechend ihren verschiedenen Forschungsinteressen unterscheiden sich die beiden Disziplinen auch in der Methodologie, derer sie sich bedienen. Das methodische Vorgehen in der Grammatikalisierungsforschung ist deduktiv, d. h. den Ausgangspunkt bildet eine Theorie, die es durch die Sprachdaten zu verifizieren/falsifizieren gilt. Die Grammatik einer historischen Sprachstufe dagegen wird abstrahiert aus den einzelnen, schriftlich überlieferten Sprachdaten, die Rekonstruktion des Systems erfolgt durch Induktion. Die beiden daraus resultierenden verschiedenen Sprachbeschreibungen können stichwortartig wie folgt zusammengefasst und einander gegenübergestellt werden: Tab. 1: Grundlagenunterschiede zwischen Historischer Grammatikographie und Grammatikalisierungsforschung
Sprachauffassung Ziel Methodologie Leitprinzip
Historische Grammatikographie
Grammatikalisierungsforschung
statisch
dynamisch
Beschreibung des idealisierten Sprachsystems einer Periode induktiv deskriptiv
Aufdeckung der Regelmechanismen des Sprachwandelprozesses deduktiv explanativ
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Diese gravierenden Unterschiede dürften erklären, warum Themen und Fragestellungen, die für die Grammatikalisierungsforschung relevant sind, in den historischen Grammatiken keine Rolle spielen. Die folgende Analyse setzt sich zum Ziel, anhand einiger Beispiele, die aus der einschlägigen Forschungsliteratur herausgegriffenen wurden, auf versäumte oder mögliche Verbindungen der beiden Forschungsfelder hinzuweisen. Im Abschnitt 2 wird zunächst die gegenwärtige Forschungssituation aus dem Blickwinkel der Grammatikalisierungsforschung geschildert. Darauf folgt im Abschnitt 3 die Formulierung von Desideraten und möglichen Forschungsperspektiven sowohl für die Grammatikalisierungsforschung als auch für die Historische Grammatikographie des Deutschen. Im Abschnitt 4 wird schließlich für ein erweitertes und dynamisches Grammatikverständnis plädiert.
2. Die Forschungssituation heute im Einzelnen 2.1 Grammatikalisierungsforschung ahistorisch Im Falle der ahistorisch betriebenen Grammatikalisierungsforschung geht man von der Beobachtung der sog. synchronen Variation der Verwendungsweisen (lexikalisch/grammatisch) aus, durch logische Schlussfolgerung stellt man eine Ableitungsbeziehung zwischen den Elementen der Variation her und weist das Phänomen anhand theoretisch bereits festgelegter Parameter als Grammatikalisierung aus. Die meisten Fallstudien in der frühen Phase der Grammatikalisierungsforschung (d. i. in den 1990er Jahren) entstanden so – wohl auch aus Begeisterung über die theoretische Eleganz dieses Ansatzes. Zur Illustration dieser Position diene hier eine Äußerung von Christian Lehmann, dem theoretischen Grundsteinleger der Grammatikalisierungsforschung. In einem frühen Aufsatz über Grammatikalisierungsphänomene im Gegenwartsdeutsch (Lehmann 1991) weist er einige als Nonstandardformen eingestufte Phänomene der deutschen Gegenwartssprache (wie brauchen als Modalverb oder die Subordination mit V2Stellung) als Grammatikalisierungsphänomene aus – und liefert nebenbei auch eine methodische Selbstreflexion: Not being a Germanist, I am not in the best position to write on grammaticalization in German. […] There is also the methodological difficulty of chronology. Historical linguists and philologists are used to working through the relevant corpus in order to ascertain the earliest occurence of a given phenomenon and to trace its tradition. I have not been able to do this. All I can say is that, except where stated otherwise, the phenomena treated have aroused my attention during the past ten years or so as things that were not formerly in the language. Many of them are not in the grammars.
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[…] There it is shown that some of the nonstandard features of contemporary German have been in the language since the Old High German stage. Even a phenomenon that has been spreading only since very recently does not need to have been invented very recently. It is quite possible that it can be found in earlier literature, and such earlier occurences may or may not be the source of the recent development. (Lehmann 1991: 494f., Hervorhebung A. M.)
Das Zitat zeigt die Haltung des Theoretikers, der es – anders als historische Linguisten oder auch Philologen – nicht für seine Aufgabe hält, dem Grammatikalisierungsprozess auch in historischer Hinsicht auf die Spur zu gehen.ͳ Diese Haltung ist symptomatisch für die Zeit der Etablierung der Grammatikalisierungstheorie. Für unser Thema ist sie aber nicht – bzw. wenn überhaupt, dann nur wegen der möglichen Attitüde des Grammatikalisierungsforschers – relevant, weshalb an dieser Stelle auf eine weitere Kommentierung verzichtet werden soll. 2.2 Historische Variationen auf ein Thema: Modalverben Hilfs- und Modalverben (besonders die epistemisch verwendeten Modalverben) gelten als das am häufigsten bearbeitete Thema in der Grammatikalisierungsforschung überhaupt, aber auch in der gegenwärtigen Germanistik werden die Modalverben des Deutschen aus unterschiedlichen Forschungsperspektiven bearbeitet. Fritz (1997) schilderte eine semantische Entwicklungsgeschichte der Modalverben, Diewald (1999) stellte ihre Grammatikalisierung und Polyfunktionalität dar; die Korrelation von Form und Funktion bei den Modalverben wurde in dem Tübinger Modalverbprojekt Modalität und Modalverben im Deutschen aufgedeckt (vgl. Müller/ Reis 2001). Keine dieser Arbeiten will und kann auf die Erschließung der historischen Dimension der Modalverbfunktionen verzichten, wenn sie dabei auch methodisch unterschiedlich vorgehen mögen. Besonders auffällig ist dieser Unterschied in den bereits genannten Arbeiten von Fritz (1997) und Diewald (1999), die damals innerhalb von zwei Jahren erschienen sind. Fritz’ Abhandlung ist theoretisch dem evolutionären Prinzip verpflichtet, wonach die historische Entwicklung durch den neuen Gebrauch von alten Mitteln vorangetrieben wird (Fritz 1997: 2). Die Untersuchung rechnet 1
Lehmann denkt heute über die Frage der historischen Datierung bei Grammatikalisierungsbeschreibungen anders. In der Datendiskussion, die zurzeit im Rahmen der theoretischen Linguistik läuft, vertritt er einen markanten Standpunkt des Empirismus (vgl. Lehmann 2004a: 187ff.). So verlangt er eine empirische Evidenz in der Grammatikalisierung, zu der folgende Konstellation von Daten notwendig ist: zwei historische Stufen einer Sprache L, die ältere L1 und die jüngere L2 (vgl. Lehmann 2004b: 155ff.).
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von vornherein mit der Vielfalt der Verwendungsweisen der Modalverben, von denen zentrale Typen hervorgehoben werden; die Modalverbgeschichte wird daher als „Veränderung ganzer Konstellationen von Verwendungsweisen“ dargestellt (Fritz 1997: 26). Den Ausgangspunkt der Untersuchung bilden also die unterschiedlichen Verwendungsweisen, d. h. der vielfältige Sprachgebrauch, der keine einheitliche semantische Entwicklung, sondern unterschiedliche Entwicklungstypen zur Folge hat. Fritz arbeitet induktiv, d. h. er geht von den Sprachdaten aus und versucht, eine Typologie der semantischen Entwicklung zu geben. Anders konzipiert ist die Monographie Die Modalverben im Deutschen. Grammatikalisierung und Polyfunktionalität von Diewald (1999). Im Gegensatz zu Fritz verfolgt Diewald keine historische Fragestellung; sie will stattdessen eine Darstellung des heutigen Modalverbsystems mit seinen lexikalischen und grammatischen Funktionen bieten und geht dabei von der plausiblen Annahme aus, dass die grammatischen Funktionen jüngere Entwicklungen darstellen und Grammatikalisierungsprozessen zu verdanken sind. Der Grammatikalisierungsansatz liefert hier also den Erklärungsrahmen für die Polyfunktionalität der Modalverben, es wird gezeigt, wie die verschiedenen Verwendungsweisen mit verschiedenen Grammatikalisierungsgraden korrelieren. Diewald wählt eine deduktive Vorgehensweise, sie testet die Theorie an empirischen Sprachdaten. In Verbindung mit einer Korpusauswertung ermöglicht der Grammatikalisierungsansatz die Erschließung jener Kontextfaktoren, die die einzelnen Phasen der Grammatikalisierung prägen. Der semantische Wandel von der lexikalischen Vollverbfunktion hin zur grammatischen Funktion der Faktizitätsbewertung wird auf diese Weise in Korrelation mit deutlichen strukturellen Veränderungen im Kontext geschildert (vgl. Abb. 1, S. 110). Dieses Dreiphasenmodell wird dann konkretisiert auf die Grammatikalisierung der sechs deutschen Modalverben, wie Abb. 2 (S. 111) zeigt. Ein großer Vorteil dieses Dreiphasenmodells der Grammatikalisierung besteht darin, dass die Kriterien des Prozesses bzw. die semantischen Kontextmerkmale der Phasen so allgemein formuliert sind – semantische und strukturelle Vorbedingungen, Auslösung der Grammatikalisierung, Reorganisation und Differenzierung, kritischer Kontext, isolierender Kontext –, dass dieses Modell nicht nur bei der Rekonstruktion der verschiedenen Modalverbfunktionen, sondern auch bei der Beschreibung anderer Grammatikalisierungsfälle Anwendung finden kann.
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Abb. 1: Phasen der Grammatikalisierung der Modalverben im Überblick (Diewald 1999: 384)
So verschieden die Ansätze und die Forschungsergebnisse zur Herausbildung der epistemischen Verwendung der Modalverben auch sind – sie könnten dennoch eine angemessene Grundlage auch für die systematische historische Darstellung dieser polyfunktionalen Wortart liefern. Während jedoch in den Grammatiken der Gegenwartssprache den Modalverben zumeist ein ganzes Kapitel gewidmet ist, fehlt diese Wortart bzw. Katego-
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rie in den historischen Grammatiken völlig. Auf eine mögliche Ursache weist Diewald hin: Die Polyfunktionalität der Modalverben steht also allen Versuchen einer strikten Kategorisierung im Wege: Die Modalverben sind interkategorial. Diese Interkategorialität ist jedoch nicht Ausdruck einer zufällig eingetretenen Störung der Ordnung des Sprachsystems, sondern ein Fall von Divergenz, also das erwartbare Resultat eines historischen Grammatikalisierungsprozesses bei gleichzeitigem Weiterbestehen weniger grammatikalisierter, lexikalischer Gebrauchsweisen. (Diewald 1999: 4)
Abb. 2: Die Phasen der Grammatikalisierung bei den sechs Modalverben (Diewald 1999: 430)
Trotz dieser Schwierigkeiten ist es schwer akzeptabel, dass eine Wortart mit so hoher Gebrauchsfrequenz, die noch dazu gründlich erforscht ist, in den historischen Grammatiken nicht präsent ist. Diese Grammatiken sind nach der junggrammatischen Tradition so aufgebaut, dass sie eine Lautlehre, eine Flexionsmorphologie und Syntax beinhalten. Nach dieser Konzeption kommen die Modalverben höchstens unter den Präterito-Präsentien vor. Diese Situation weist auf eine der Unzulänglichkeiten der traditionellen Grammatikschreibung historischer Sprachstufen hin, wo man – unter anderem – mit der angeführten Interkategorialität nichts anfangen kann. Wie auch dieser konkrete Fall zeigt, wird im Lichte der Ergebnisse der modernen Forschungen und so auch der Grammatikalisierungsforschung die Ausarbeitung einer neuen Konzeption der historischen Grammatikschreibung immer dringender (s. dazu ausführlicher Abschnitt 3.2).
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2.3 Grammatikalisierungsbeschreibungen mit Daten aus zweiter Hand – und die möglichen Konsequenzen Grammatikalisierungsforscher kommen meistens nicht aus der historischen Linguistik. Damit sind diejenigen, die eine historisch adäquate Erklärung anstreben und präsentieren wollen, bei der historischen Dokumentierung ihrer Thesen auf Daten aus zweiter Hand angewiesen. Die fehlende historisch-philologische Forschungspraxis bzw. die mangelnde sprachhistorische Kompetenz kann aber die wissenschaftliche Leistung beeinträchtigen und sogar zu Fehlinterpretationen führen. Dies war beispielsweise der Fall in einem Beitrag eines Sammelbandes zur Grammatikalisierung im Deutschen (Wegener 2005). In dem Aufsatz wird die Entstehung der deutschen Pluralmarker -e, -en und -er geschildert, die durch morphologische Reanalyse von alten Stammbildungssuffixen zu Pluralsuffixen geworden sind. Die Grammatikalisierung verläuft nach dieser Interpretation von einem weniger grammatischen (Derivationsformativ) zu einem stärker grammatischen Element (Flexionssuffix). Die Verfasserin meint die Grammatikalisierung durch phonologische Reduktion und semantisches Ausbleichen zu bestätigen. Als phonologische Reduktion wird die Nebensilbenabschwächung angeführt, von der aber in mittelhochdeutscher Zeit (fast) alle, also auch nichtgrammatikalisierte Nebensilben – und nicht nur die der Pluralsuffixe! – erfasst sind. Dieses Argument ist also ein schwacher Beweis für die mit Grammatikalisierung meistens einhergehende phonologische Reduktion. Aber auch von dieser Schwachstelle abgesehen ist es methodisch symptomatisch, dass die germanistischen Nachschlagewerke und Sprachstufengrammatiken in der sonst imponierenden Bibliographie unterrepräsentiert sind. Bei der sprachhistorischen Beweisführung argumentiert die Verfasserin vielmehr mit Thesen der Klassiker der Grammatikalisierungstheorie wie Lehmann (1995), Traugott (2001) u. a. Die Ignorierung der germanistischen Fachliteratur beeinflusst dementsprechend auch die Handhabung der Daten. Beispielsweise wird Germanisches mehrfach für indoeuropäisch gehalten (vgl. Wegener 2005: 91, 92, 97), wie an folgender Stelle: Unser erstes Beispiel, das Suffix -ir der indoeuropäischen [sic!] kleinen Klasse von Neutra hatte zusammen mit dem Genus kollektive Bedeutung. Indoeuropäisch [sic!] Nom. Sg. hrind Pl. hrind-ir-u ‚Rind‘-COLL-NUM/CAS ‚Rind(erherde)‘ (Wegener 2005: 97)
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Diese Prämissen beeinflussen natürlich die ganze Argumentation und das Ergebnis, wonach deutsche Pluralmarker ihren Ursprung in indoeuropäischen (!) Derivationssuffixen hätten. Im Gegensatz dazu wissen wir, dass die Numerusprofilierung des Deutschen mit flexivischen Mitteln erst seit frühneuhochdeutscher Zeit in ausgeprägter Form vorhanden ist (vgl. Reichmann/Wegera 1993: 164), im Alt- und Mittelhochdeutschen zeigt sie nur erste Ansätze (vgl. Braune/Reiffenstein 2004: 181; Paul 2007: 184). 2.4 Grammatikalisierung mit historischer Evidenz. Beispiel: Modalpartikeln Im Optimalfall werden zum Testen von Grammatikalisierungsannahmen historische Korpusuntersuchungen vorgenommen; auch die Orientierung des Forschers in der authentischen Fachliteratur ist gesichert. Dass die Korpusbasiertheit, d. h. die Konfrontation der Grammatikalisierungstheorie mit eigens recherchierten historischen Sprachdaten ertragreich sein kann, wird immer öfter auch in der Grammatikalisierungsforschung erkannt. Als Paradebeispiel dafür könnte die Darstellung der Genese der Modalpartikeln gelten. Auf diesem Forschungsfeld haben Hentschel (1986), Abraham (1990) und Meibauer (1994) Pionierarbeit geleistet, aber auch Burkhardt (1994) und Simon (1996) haben zur Geschichte der Modalpartikeln mit Hilfe von Korpusauswertungen Wertvolles beigetragen. Der Untersuchung an historischem Material verdanken wir z. B. die Erkenntnis über die Korrelation zwischen topologischem Mittelfeld und der Herausbildung der Wortart Modalpartikel (Abraham 1990), die inzwischen zum konstitutiven Merkmal dieser Wortart geworden ist. Auch in meiner eigenen Forschungspraxis im Bereich der Modalpartikelgenese (vgl. Molnár 2002) wurde ich durch die Korpusrecherche zu neuen Einsichten inspiriert, die manche Annahmen über die Grammatikalisierung zu Modalpartikeln modifizierten, ergänzten oder zu neuen Hypothesen über den möglichen Verlauf führten. So forderten Untersuchungen an frühneuhochdeutschen Texten Korrekturen an der Datierung des Prozesses, und nur die Korpusarbeit ermöglichte die Einbeziehung gewisser Kontextfaktoren und Kollokationen, die bei der Grammatikalisierung des Spenderlexems zur Modalpartikel eine Rolle gespielt haben. Während beispielsweise die Grammatikalisierungsliteratur keine plausible Erklärung für die Herausbildung der vermutungsanzeigenden Modalpartikel wohl (bzw. den semantischen Wandel des bestätigenden Adverbs wohl zu dem Hypothesenfunktor wohl ) findet, können Recherchen in Texten des 16. Jh. zeigen, dass die hypothetische Bedeutungskomponente wahrscheinlich der häufigen Kollokation mit weiteren Hypothesenanzeigern wie den episte-
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misch verwendeten Modalverben mögen und werden zu verdanken ist, mit denen wohl in frühneuhochdeutschen Texten mehr als zweimal so häufig vorkommt als selbständig. Die Auswertung einer vergleichbaren Zahl von Belegen in einem gegenwartssprachlichen Korpus (Mannheimer Wendekorpus) ergab, dass diese Kollokation in der Gegenwartssprache nicht mehr so ausgeprägt ist: Selbständig kommt wohl mehr als doppelt so häufig vor als mit den Vermutung signalisierenden Modalverben können evtl. dürfen. Diese Daten lassen die Annahme zu, dass wohl die hypothetische Bedeutung wahrscheinlich dem vermutungsanzeigenden Modalverb mögen abgewonnen hat und nun auch in selbständiger Verwendung Hypothese zu signalisieren fähig ist. Die Annahme des durch die Kontextfaktoren motivierten semantischen Wandels gibt – selbst wenn sie durch weitere Untersuchungen widerlegt werden sollte – eine der sprachlichen Realität angemessenere Erklärung für die Grammatikalisierung zu dem Hypothesenfunktor wohl, als dies logisch-spekulative Ableitungen tun.
3. Bilanz und Konsequenzen Die aus der aktuellen Forschungsliteratur herausgegriffenen Fälle sollten illustrieren, dass die Kooperation zwischen linguistischer Theoriebildung und historischer Grammatik alles andere als zufriedenstellend ist. Der erste Schritt, dieser Situation Abhilfe zu verschaffen, besteht in der Sensibilisierung der Beteiligten. Im zweiten Schritt könnten dann die Konsequenzen gezogen, d. h. die einschlägigen Ergebnisse gegenseitig integriert werden. Aus meiner Sicht wären folgende Konsequenzen zu ziehen. 3.1 Die Konsequenzen für die Grammatikalisierungsforschung Da der theoretische Rahmen der Grammatikalisierung inzwischen in großen Zügen ausgearbeitet ist, gilt es nun, ihre Thesen an sprachhistorischen Fakten und Korpora zu testen und damit zu verifizieren, falsifizieren oder modifizieren. Zwar nicht so sehr in theoretischen Werken, aber umso mehr in Fallstudien zur Grammatikalisierung ist die Belegung der aufgestellten Thesen mit historischen Daten notwendig. Dazu ist es allerdings unerlässlich, dass der Forscher erstens mit den historischen Daten kompetent umgehen kann und zweitens über die Geschichte des untersuchten Phänomens in einschlägigen Werken, so z. B. in historischen Grammatiken, nachschlägt. Diese Forderungen stehen im Einklang mit einer methodologischen Empfehlung in der neueren germanistischen Sprachwissenschaft (Ágel
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2001), wonach die Beschreibung und Erklärung gegenwartssprachlich beobachteter Phänomene auch sprachhistorisch adäquat, d. h. der sprachhistorischen Beschreibung des Phänomens angemessen, sein soll. Ágel nennt diese methodologische Forderung das Prinzip der Viabilität (Ágel 2001: 319). Eine Möglichkeit für viable Beschreibungen und Erklärungen bestimmter Sprachphänomene könnte gerade die Grammatikalisierungsforschung liefern, die ja die synchrone Sichtweise mit der diachronen verbindet. Außerdem kann eine gewisse Bewandertheit in der Sprachgeschichte den Grammatikalisierungsforscher auch davor schützen, gewisse als normwidrig empfundene Phänomene der Gegenwartssprache als neuzeitliche Grammatikalisierungsfälle zu interpretieren, obwohl sie, wie ein Blick in die Sprachgeschichte beweist, gar keine Neuentwicklungen sind. Auf eine Erscheinung dieser Art macht Freywald (2008) aufmerksam. Sie zeigt – wenngleich sie damit nicht auf den Prozess der Grammatikalisierung abzielt – am Beispiel der Interpretation von weil- und dass-Sätzen mit Verbzweitstellung die Gefahren einer ahistorischen Herangehensweise auf: Zeitliche Einordnungen zur Entstehung der weil-V2-Konstruktion, wie „in der letzten Dekade“ (Zifonun et al. 1997, S. 465), „seit einiger Zeit“ (Uhmann 1998, S. 92), „in jüngster Zeit“ (Helbig 2003, S. 6) fallen exakt mit dem Einsetzen einer breiteren linguistischen Diskussion dieses Phänomens zusammen. Dagegen haben historisch orientierte, wie die von Eroms (1980), Selting (1999) oder Elspaß (2005), gezeigt, dass die historische Kontinuität der Verbstellungsvarianz nach Kausalkonjunktionen seit dem Alt- und Mittelhochdeutschen keine unplausible Annahme ist. […] Möglicherweise haben wir es bei dass mit V2 jedoch nicht mit einer gänzlich neuen Entwicklung zu tun, sondern lediglich mit einer quantitativen Zunahme der dass-V2-Konstruktionen. (Freywald 2008: 278f., Hervorhebungen A. M.)
Diese und ähnliche Feststellungen geben zu Bedenken, ob sich nicht manche Grammatikalisierungsbeschreibungen sogar erübrigen, da das als normwidrig und als neuzeitliche Grammatikalisierung interpretierte Phänomen bereits für die historischen Perioden belegt ist oder in der – nicht überlieferten – Sprechsprache dieser Perioden vorhanden gewesen sein könnte. 3.2 Die Konsequenzen für die Historische Grammatikographie des Deutschen Die Ergebnisse der Grammatikalisierungsforschung erweisen sich für die historische Grammatikographie in mehrfacher Hinsicht als relevant, geben
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gleichzeitig aber auch die Art und Weise der Grammatikschreibung zu bedenken. Ihre Relevanz ist im Prinzip schon dadurch gegeben, dass die im Grammatikalisierungsprozess entstehenden sprachlichen Einheiten nicht mehr lexikalische, sondern grammatische Inhalte bezeichnen – neue, dann grammatische Funktionen übernehmen und nach dem Abschluss dieses Prozesses als grammatische Kategorien gelten. Grammatische Kategorien und grammatische Inhalte gehören aber eindeutig zum Inventar der Grammatik, so auch der historischen Grammatik. Andererseits stellt die Grammatikalisierungsforschung die Schreiber traditioneller Grammatiken aufgrund der – ohnehin schon komplizierten – Wortartenproblematik vor schier unüberwindbare Schwierigkeiten, schließlich sollen diese Entscheidungen über die Kategorisierung von Wortarten treffen (wobei sie der traditionellen Einteilung und der Anlage klassischer Grammatiken folgen). Die Ergebnisse der Grammatikalisierungsforschung deuten allerdings darauf hin, dass die Grenzen zwischen Lexik und Grammatik fließend sind und Grammatikalisierungsphänomene eher ein Kontinuum von Wortarten zeigen, womit sie die Statizität des grammatischen Systems und die Adäquatheit diskreter grammatischer Kategorien in Frage stellen. Aus der Sicht des Grammatikalisierungsforschers erscheint daher das Konzept einer emergent grammar (Hopper 1987) angemessener als die festen Kategorien traditioneller historischer Grammatiken. Solange aber die Grammatiken sich der traditionellen Kategorisierung von Wortarten bedienen und nach der traditionellen Anlage (Lautlehre, Flexionsmorphologie, Syntax) konzipiert werden, sind diese zwei Sichtweisen inkompatibel und Grammatikalisierungsphänomene können in die Sprachstufengrammatiken kaum integriert werden. Das komplizierte Problem Wortarten und Grammatikalisierung wurde bereits 2003 auf einem Siegener Kolloquium thematisiert. In einer etwas zugespitzten Formulierung äußerte man sich dazu folgenderweise: Traut man der zusehends sich einbürgernden Rede von der „Grammatikalisierung“, so scheint der elementare Gegensatz von Grammatik und Lexikon in der Sprachwissenschaft viel von seiner Schärfe zu verlieren. Was heute als „Grammatik“ imponiert, das wirkt weniger fremd und eigenständig, wenn es als diachron transformierte, kontextgeneralisierte und semantisch verdünnte Lexik reinterpretiert werden kann. (Knobloch/Schaeder 2005: V)
Entgegen dieser übertriebenen Kritik des Einflusses der Grammatikalisierungsforschung auf die Grammatikauffassung könnten manche Ergebnisse der Grammatikalisierungsforschung für die historischen Grammatiken durchaus gewinnbringend sein. So haben die Grammatikalisierungsforschung und die Historische Semantik z. B. die Genese bestimmter
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sprachlicher Mittel der epistemischen Modalität (wie etwa die epistemisch verwendeten Modalverben und Modalpartikeln) erschlossen und jene syntaktischen und Kontextfaktoren aufgedeckt, in denen sie auftreten und die eine Unterscheidung von ihren Homonymen ermöglichen. Auch der ungefähre Zeitpunkt, zu dem die schon eindeutig grammatikalisierten Formen in den Texten in größerer Frequenz zum Vorschein kommen, wurde bestimmt. Für die Datierung der epistemisch verwendeten Modalverben geben sowohl Diewald (1999: 430; s. oben Abb. 2) als auch Fritz (1997: 13) eine tabellarische Übersicht; aus beiden geht hervor, dass die Epistemifizierung – eine Ausnahme bildet mögen, das bereits althochdeutsch in dieser Funktion belegt ist (vgl. Fritz 1997: 13) – nicht vor dem 16. Jh. eingetreten ist. In Bezug auf die Modalpartikeln hat Burkhardt (1994: 140) eine entsprechende Tabelle vorgelegt; auch hier wird ersichtlich, dass – bis auf denn und doch – die bereits althochdeutsch belegt sind, das Auftreten der Modalpartikeln in die Zeit zwischen dem 16. und 19. Jh. fällt. Die neueren Forschungen haben also die konstitutiven Merkmale und die Umstände der Entstehung dieser Wortarten bzw. der neuen Funktionen bereits etablierter Wortarten aufgedeckt; diese Ergebnisse könnten in die betreffenden historischen Grammatiken eingehen. Von zeitlicher Bedeutung ist in Bezug auf die oben erwähnten epistemischen Ausdrucksmittel neben der althochdeutschen vor allem auch die frühneuhochdeutsche und die neuhochdeutsche Grammatik, in diesen Perioden wird die Epistemifizierung intensiv (vgl. dazu Ágel 1999). Eine neuhochdeutsche Sprachstufengrammatik liegt noch nicht vor, die Frühneuhochdeutsche Grammatik von Reichmann/Wegera (1993) ist im Grunde genommen noch der traditionellen Konzeption historischer Grammatiken verpflichtet und integriert diese neuen, grammatikalisierten Funktionen nicht in die Beschreibung des Sprachsystems. Neben konzeptionellen Gründen spielte dabei auch eine Rolle, dass zum Erscheinungszeitpunkt der Frühneuhochdeutschen Grammatik die Ergebnisse der neueren Forschungen noch nicht publiziert waren. Für eine Neubearbeitung dieser Grammatik wären aber die grammatikalisierten Modalpartikeln und die epistemischen Modalverben äußerst relevant, da sie gerade in den Texten der frühneuhochdeutschen Periode als neue sprachliche Mittel sichtbar werden. Ein solches Vorhaben zur Integration der neuesten Forschungsergebnisse verlangt allerdings die Veränderung des Grammatikbegriffs und auch der Anlage historischer Grammatiken, damit sie den neuen Kategorisierungen gerecht werden. Nur ein neues Grammatikverständnis ermöglicht die Unterbringung von Grammatikalisierungsphänomenen in Grammatiken der Gegenwartssprache und auch der historischen Sprachstufen. In der neueren Diskussion über die Historische Grammatikschreibung (Lobenstein-Reichmann/Reichmann 2003) sind zwei Stichwörter gefallen, die für
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zukünftige Grammatikschreiber ausschlaggebend und für das hier behandelte Thema relevant sind: Die Bezeichnung problemorientierte Grammatik, geprägt von Reichmann (2003), und die Konzeption der dynamischen, d. h. panchronischen und panmedialen, Grammatik von Ágel (2003, 2005). In dem Dilemma der Grammatiktypen gilt Reichmanns problemorientierte Grammatik als der Gegensatz zu der sog. Ergebnisgrammatik. Der Unterschied zwischen den beiden liegt in der „Gewichtung von historischgrammatischen Fragen einerseits und Problembezug anderseits“ (Reichmann 2003: XII). Die bisherigen, der junggrammatischen Tradition folgenden historischen Grammatiken des Deutschen sind in diesem Sinne Ergebnisgrammatiken, sie beschreiben das (idealisierte) Sprachsystem der jeweiligen Periode als Ergebnis einer Entwicklung, nach den Sprachrängen geordnet und in den überlieferten, festen Kategorien. Eine problemorientierte historische Grammatik dagegen sollte verschiedene grammatische Probleme fokussieren, z. B. die Ausdrucksmöglichkeiten bestimmter grammatischer Inhalte (Temporalität, Modalität, Aspektualität) oder grammatikinterne Veränderungen (wie z. B. Klitisierung, Auxiliarisierung, Grammatikalisierung usw.). In einer solchen Grammatik ist es vorstellbar, dass man beispielsweise auf dem Problemfeld Modalität auch der Signalisierung der Sprechereinstellungen ein Kapitel widmet, und in einem solchen Kapitel könnten Ausdrucksmittel wie epistemische Modalverben oder Modalpartikeln des Deutschen behandelt werden, soweit diese Problematik für die jeweilige historische Periode relevant ist. Die angeführten epistemischen Ausdrucksmittel deuten noch auf ein weiteres Desiderat Historischer Grammatikschreibung hin: Einstellungsmarker und sprechsprachliche Ausdrucksformen wie epistemisch verwendete Modalverben und Modalpartikeln, Diskurspartikeln sowie andere pragmatisch motivierte Ausdrucksmittel, deren Genese von der Grammatikalisierungsforschung bereits rekonstruiert wurde, fehlen in den historischen Grammatiken völlig. Diese Außerachtlassung pragmatisch motivierter Sprachformen steht im Zeichen einer grammatikographischen Tradition, die nach der sog. pragmatischen Wende kaum noch haltbar ist. Auch diesem Mangel Historischer Grammatikschreibung will die von Ágel geprägte dynamische Grammatiktheorie (2003, 2005), auch in anderer Hinsicht eine willkommene Neukonzeption der Grammatikschreibung, abhelfen. Dort wird die Forderung nach einer panchronischen und panmedialen Grammatik gestellt: In der Geschichte der Sprachwissenschaft wurde die Wortartenproblematik bekanntlich unter zahlreichen Perspektiven zu einem sinnvollen Untersuchungsobjekt gemacht. […] Doch es fehlen zwei bedeutende Perspektivierungen, die zahlreiche grammatische Probleme, darunter auch die Wortartenproblematik, in ein neues Licht rücken könnten:
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1. die Perspektive eines nicht synchronizistischen, sondern gleichermaßen gegenwarts- wie geschichtsbezogenen ‚panchronischen‘ Grammatikverständnisses und 2. die Perspektive eines nicht skriptizistischen, sondern das jeweilige historische Beziehungsgefüge von Mündlichkeit und Schriftlichkeit reflektieren wollenden ‚panmedialen‘ Grammatikverständnisses. […] Unser grammatiktheoretischer Apparat ist funktional der Analyse und Beschreibung von Synchronien – genauer: von verschriftlichten Gegenwartssprachen – angepasst. Ein ‚panchronisches‘ Kategoriensystem existiert erst in Ansätzen. (Ágel 2005: 96; Hervorhebungen A. M.).
In einer panchronisch konzipierten Grammatik, die in dem System auch den Wandel reflektiert und dadurch den historischen Bezug des jeweiligen grammatischen Phänomens herstellt, können Phänomene der Grammatikalisierung sehr wohl ihren Platz finden. Die panmediale Grundlage einer solchen Grammatik wiederum würde dafür sorgen, dass auch Phänomene der Mündlichkeit Eingang in die grammatische Beschreibung finden. Dafür erforderlich sind allerdings „ganz neue Analyse- und Beschreibungskategorien“ (Ágel 2005: 98), die noch zu schaffen sind und die als Grundlage für eine neu strukturierte Darstellung des grammatischen Systems gelten können. Was unser Grammatikverständnis betrifft, meldet sich die Notwendigkeit eines Umdenkens an jeder Ecke der linguistischen Forschung. Die am meisten artikulierte Forderung ist die nach der Einbeziehung gesprochensprachlicher Phänomene in die linguistische Forschung. Als erster Ansatz zur Integration und Kodifizierung der Grammatik der gesprochenen Sprache in die Grammatik der Gegenwartssprache gilt das Kapitel Grammatik der gesprochenen Sprache (Fiehler 2005) in der neu bearbeiteten 7. Auflage der Duden-Grammatik (Duden 2005). Diese wurde um eine Grammatik des Textes und eine Grammatik der gesprochenen Sprache erweitert/vervollständigt. Allerdings wird der Forscher auch auf dem Gebiet der gesprochenen Sprache mit dem Problem der adäquaten Beschreibungskategorien konfrontiert, weil ein „Kategoriensystem, das […] funktional auf die gesprochene Sprache zugeschnitten wäre, im Moment nur in Grundzügen existiert“, wie auch Fiehler (2005: 1178) bekennt. Das Anliegen der Verfasser von Gegenwartsgrammatiken, die Mündlichkeit in die grammatische Beschreibung zu integrieren, könnte – wenn auch mit Einschränkungen – einen Anstoß geben für die Historische Grammatikographie. Natürlich ist es wegen der fehlenden Dokumentiertheit schwieriger, die Sprechsprache früherer Perioden zu erforschen; dennoch ermöglichen die Ausweitung der Textgrundlage und die Auswertung neuer Textsorten Rückschlüsse auf die gesprochene Sprache in früheren Perioden. Wie deutlich geworden ist, gibt die Grammatikalisierungsforschung auch Anlass zum Nachdenken über die konzeptionellen Fragen der Histo-
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rischen Grammatikschreibung. Grammatikalisierungsphänomene setzen ein neues, dynamisches Grammatikverständnis voraus, das auch mit Übergangsphänomenen zwischen Lexik und Grammatik etwas anzufangen weiß und die scharfe Grenze zwischen synchroner und diachroner Sprachbeschreibung aufhebt. Diewald (2008: 1), die auch eine Neuinterpretation der grammatischen Bedeutung und der Grammatik vorgelegt hat, plädiert sogar für einen „grammatikalisierungsaffinen Grammatikbegriff“.
4. Fazit Die Fragestellung dieses Beitrags wurde inspiriert durch die Beobachtung, dass die neueren Forschungserträge der theoretischen Lingusitik und damit der Grammatikalisierungsforschung nicht in die historische Sprachbeschreibung und Grammatikographie des Deutschen eingehen – und umgekehrt auch die Grammatikalisierungsforschung nicht in ausreichendem Maße von den Forschungserträgen der Historischen Grammatikographie Gebrauch macht. Die Gründe für die gegenseitige Nichtakzeptanz liegen (a) in der unterschiedlichen Sprachauffassung und (b) in der unterschiedlichen Forschungsmethodologie. Aus der in diesem Beitrag präsentierten – und wohl noch mit weiteren Daten und Aspekten zu ergänzenden – Bestandsaufnahme über die gegenwärtige Situation ergeben sich aber bereits Konsequenzen, die für beide Bereiche aufschlussreich sind. Für die Grammatikalisierungsforschung gilt: (a) Die Thesen der Grammatikalisierungstheorie sollten an sprachhistorischen Belegen getestet werden, die Erklärungen und Ableitungen konkreter Grammatikalisierungsfälle sprachhistorisch adäquat sein. (b) Der Grammatikalisierungsforscher soll genügend sprachhistorische Kompetenz aufweisen. Für die Historische Grammatikographie gilt: (a) Sie ist im Grunde bis heute der junggrammatischen Tradition verhaftet – mit traditioneller Anlage, statischer Sprachauffassung und scharf voneinander getrennten Kategorien. Diese Darstellungsweise ist nicht geeignet, um Grammatikalisierungsphänomene, die ja gerade die sprachlichen Übergänge verkörpern, zu integrieren. (b) Behoben werden können diese traditionellen Mängel nur durch einen weiter gefassten Grammatikbegriff und eine Neukon-
Grammatikalisierungsforschung und Historische Grammatik
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zeption der Historischen Grammatikographie. Diese Neukonzeption soll – auf einer dynamischen Sprachauffassung beruhen; – nicht nur ergebnis-, sondern auch problemorientiert sein; – außerdem – soweit es die Beleglage ermöglicht – auch die Sprachformen der Mündlichkeit und – pragmatisch motivierte Ausdrucksformen wie z. B. die der Sprechereinstellung in die Grammatik integrieren. – Zu einer so konzipierten historischen Beschreibung des Sprachsystems sollen neue, adäquate Beschreibungskategorien ausgearbeitet werden. Im Lichte dieser Erwartungen sollten die Forschenden beider Disziplinen mehr Offenheit gegenüber den Ergebnissen der jeweils anderen zeigen. Der reflektierte Austausch zwischen Grammatikalisierungsforschung und Historischer Grammatikschreibung würde nämlich viel dazu beitragen, dass die Historische Grammatikographie problemorientierter und theoriefreundlicher, die Grammatikalisierungsforschung auf diachroner Ebene authentischer betrieben wird. Die Ergebnisse der Grammatikalisierungsforschung können zusammen mit weiteren Erkenntnissen der theoretischen Linguistik die theoretische Bereicherung und die längst aktuelle konzeptionelle Erneuerung der historischen Sprachbeschreibung fördern.
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Richard J. Watts
Sprachgeschichte oder die Geschichte einer Sprache? Eine neue Optik auf die Historische Linguistik
1. Eine Anekdote aus der englischen Sprachgeschichte Ich fange diesen Beitrag mit einer kurzen ‚Anekdote‘ aus der englischen Sprachgeschichte an. Die Entstehung des altenglischen Epos Beowulf wird üblicherweise irgendwo zwischen dem 8. und dem 10. Jh. datiert.1 Es wird auch traditionell angenommen, dass das bestehende Manuskript mehrmals abgeschrieben wurde, in verschiedenen dialektalen Varietäten des Altenglischen. Diese Annahme, oder eher Spekulation, stellt die kanonische ‚Wahrheit‘ der Entstehung des Beowulf dar, obwohl es jedem Forscher während der ganzen Rezeptionsgeschichte seit dem 17. Jh. bewusst war, dass es nur ein Manuskript (im Manuskriptkodex Cotton Vitellius A xv) gab. Anglisten hatten sogar großes Glück, dass beim Brand im Ashburton House gegen Ende Oktober 1731 Cotton Vitellius A xv auf den Rasen hinausgeworfen wurde, immer noch intakt trotz leichter bis mittelschwerer Brandschäden an allen Rändern. Seit dem Aufkeimen des regen Interesses am Beowulf nach John Mitchell Kembles Übersetzung im Jahre 1837 ist aber allgemein angenommen worden, dass das gerettete Manuskript den Endpunkt einer Reihe von Beowulf-Manuskripten darstellt. In der Zwischenzeit sind aber keine weiteren Exemplare zum Vorschein gekommen, und Kers (1957) Datierung von altenglischen Manuskripten stellt eine relativ breite Zeitspanne von 50 Jahren (von 975 bis 1025) als mögliche Entstehungszeit des Beowulf-Manuskriptes in Cotton Vitellius A xv fest. Die ‚Geschichte‘ der langen Überlieferung des Beowulf wurde aber in den Kanon der philologischen Beschreibung der Geschichte des Englischen aufgenommen, ohne ernsthaft hinterfragt zu werden, bis Kiernan (1981) eine 1
Manche sind sogar bis ins 7. Jh. zurückgegangen, andere hingegen – mit etwas größerer Vorsicht – haben das 9. Jh. als Entstehungspunkt bestimmt. Bisher hat niemand außer Kington-Oliphant (1878) die kühne These gewagt, den Entstehungspunkt des Beowulf im 5. Jh. zu bestimmen: „The old Epic, written on the mainland, sets before us the doughty deeds of an Englishman, before his tribe had come to Britain.“
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peinlich genaue Untersuchung des Manuskripts unternahm und damit den Kanon selber in Frage stellte. Es soll hier auf die Einzelheiten von Kiernans Analyse verzichtet werden (vgl. hierzu Watts 2011, Kap. 2). Im Großen und Ganzen aber schlug er die auch von mir verfochtene Gegenthese vor, 1. dass das Manuskript das einzige war, 2. dass der ältere der beiden Schreiber, B, das Beowulf-Manuskript als sein höchst persönliches ‚Projekt‘ behandelte, und 3. dass Schreiber B mindestens die Geschichte von Beowulfs Heimkehr nach seinen Abenteuern in Dänemark selber schrieb, um die Geschichte des jungen Beowulfs am Hof des dänischen Königs Hrothgar mit der Geschichte des vom älteren Beowulf verlorenen Kampfes gegen den Drachen zu verbinden.2 Verfechter einer früheren Datierung des Beowulf-Epos bleiben aber hartnäckig (vgl. die Beiträge in Chase 1997), was, im Lichte der neuen kodikologischen und paläographischen Beweisstücke, die Kiernan und andere Forscher gegen die These der frühen Datierung aufgeführt haben, unweigerlich zu den folgenden drei Fragen führt: 1. Wie ist es möglich, dass die Argumente für eine spätere Datierung des Beowulf am Anfang des 11. Jh. immer noch abgelehnt werden? 2. Was geht durch die Akzeptanz dieser durchaus plausiblen Erklärung verloren? 3. Was sind die Konsequenzen für die Zukunft der Geschichte der englischen Sprache, wenn neue, gut fundierte Thesen in philologischen Kreisen nicht angenommen werden? Im vorliegenden Beitrag wird die These aufgestellt, dass in der Anglistik die Sprachgeschichte eine spezifisch englische ist, die aus einer allgemeinen Theorie der Geschichte von sprachlichen Varietäten, also einer Auffassung der Spachgeschichte als permanente Wandlung eines jeweiligen Sprachsystems, so gut wie nichts gemeinsam hat. Im Gegenteil strebt sich eine solche Sprachgeschichte teleologisch nach einer vollständig homogenen Sprache, die es in Wirklichkeit nie geben kann. Falls aber an dieser Stelle der Eindruck erweckt wird, dass es sich hier nur um die englische
2
Der Kern dieses Arguments beruht in der jetzt fast sicheren Tatsache, dass Folio 179 des Manuskripts ein Palimpsest ist, der vom Schreiber B ca. 10 Jahre nach der ersten Niederschrift angefertigt wurde (für Einzelheiten vgl. Kiernan (1996) und Watts (2010: Kapitel 2; vgl. auch Westphalen 1967).
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Sprachgeschichte handelt, sei auf zwei aktuelle Forschungsansätze kurz hingewiesen. Das folgende Zitat stammt von Klaus J. Mattheier (2010): The concept of a ‘national language history’ has dominated the view of what historical linguistics should be concerned with in relation to virtually all European languages, and continues to do so today. The theoretical starting point of this view – which at the very least needs to be seriously questioned – is the thesis that the ‘standard’ language is the genuine teleological goal of any historical language development. And the path trodden by a speech community in developing a standard language, a unifying language, a literary language, at the same time represents the central content of language history. Most German language histories, but also the histories of other languages, are constructed along these lines. They represent a section of the historical journey, or even the whole journey, of a language towards a normed and unified standard form. (Mattheier 2010: 353f.)
In ihrer Analyse der heutigen Destandardisierungsprozesse im isiXhosa, einer südafrikanischen indigenen Sprache, klassifizert Deumert jede Sprachstandardisierung nach Beck/Willms (2004) als eine „zombie category“: Beck [(2002: 24)] takes the zombie category seriously as a heuristic and lists three defining principles: (a) territorial bias (methodological nationalism), (b) collective bias, and (c) teleological bias (‘west is best’ as the guiding principle of modernization, as opposed to seeing social development as open-ended). Standard languages with their close association to nation states, collective (national, class) identities and teleological histories provide a close fit. And like other zombie categories the standard language haunts the minds of speakers (and those linguists who believe in languages as unitary, well-defined and countable objects) […]. (Deumert 2010: 259)
Mit dem Ausdruck „Zombie“-Kategorie versteht Deumert einen sozialen Begriff, der immer noch benutzt wird, aber dessen ursprünglicher Sinn schon längst verloren gegangen ist.3 Antworten auf die oben offengelassenen Fragen zum Thema Beowulf werden am Schluss dieses Beitrags gegeben und sie legen Zeugnis davon ab, dass der Widerstand gegen neue Interpretationen der Entstehungsgeschichte des Epos einen Teil der „Zombie“-Kategorie „Standardenglisch“ darstellt. Im 2. Abschnitt wird die Entstehung der modernen Auffassung der Geschichtswissenschaft im frühen 19. Jh. mit der Entstehung der modernen Sprachwissenschaft verglichen. Daraus wird klar, dass die Anfänge der modernen Sprachwissenschaft als Teil der dominanten Auffassung der 3
Der Begriff wird immer noch benutzt, entweder aus nostalgischen Hoffnungen, den Inhalt des Begriffs auf irgendeine Art wieder herzustellen oder einfach weil die Benutzer nicht gemerkt haben, dass sich der soziale (hier soziolinguistische) Kontext, in dem der Begriff entstanden ist, jetzt wesentlich geändert hat.
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Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 19. Jh. zu verstehen ist. Der 3. Abschnitt bietet aus dem breiten Spektrum der Kognitiven Linguistik eine kurze Zusammenfassung der Theorie der konzeptuellen Metaphern (CMT) und der Theorie des „cognitive blending“ (CBT) an, um die verblüffenden Ähnlichkeiten bei der Konzeptualisierung des Begriffs „Nationalstaat“ und Sprache aufzuzeigen. Anhand der konzeptuellen Metaphorisierung werden Aussagen über Sprache generiert, die als der Stoff von Sprachmythen dienen. Im 4. Abschnitt wird gezeigt, dass Sprachmythen dann benutzt werden, um dominante, hegemoniale Diskurse über Sprache und Sprachgeschichte zu bilden, die bis heute maßgeblich an der Steuerung von kanonischen Auffassungen der Geschichte verschiedener Sprachen beteiligt sind. In diesem Abschnitt wird diese These an einigen Ausschnitten aus Büchern kritisch belegt, die in der letzten Hälfte des 19. Jh. die Geschichte des Englischen behandeln. Der Abschnitt schließt mit dem Argument, dass solche hegemoniale Sprachdiskurse zu Archiven (oder Diskursarchiven) im Sinne von Foucault werden können, die das, was in der Historischen Linguistik gesagt werden darf, geregelt wird. Der 5. Abschnitt kehrt zur CBT zurück, um zu beweisen, dass menschliche Sprache mit ihrer ganzen Heterogeneität, Variabilität und Kreativität im Zentrum der Historischen Linguistik anstelle des Begriffs „Sprache X“ stehen soll. Ich schließe im 6. Abschnitt mit einem neuen, eher etwas subversiven Ansatz zur Erforschung des geschichtlichen Aspekts der menschlichen Sprache. Es wird dort argumentiert, dass historische Linguisten eine Pflicht haben, die Diskursarchive, in denen sie arbeiten, genauer zu hinterfragen, und die Verbindung des Nationalstaats mit der Standardsprache als überholt, wenn nicht gerade gefährlich, zu beurteilen.
2. Die Entstehung der Disziplin „Geschichtswissenschaft“ im frühen 19. Jahrhundert und ihre Beziehung zur „Sprachwissenschaft“ Es ist wohl allgemein bekannt, dass die Anfänge der Linguistik als moderne, wissenschaftliche Disziplin am Anfang des 19. Jh. in Arbeiten von Franz Bopp, Jacob und Wilhelm Grimm, Rasmus Rask, Friedrich Schlegel, Georges Cuvier u. a. m. (vgl. Lehmann 1992) liegen. Während dieser Zeit sind aber auch die Anfänge der modernen Geschichtswissenschaft anzusetzen, und es war wohl kein Zufall, dass sich beide Wissenschaften im frühen 19. Jh. gegenseitig beeinflussten. Verknüpfendes Element bei dieser gegenseitigen Beeinflussung war das Aufkeimen des Begriffs des Nationalstaates, wie aus Johann Gottlieb Fichtes Reden an die deutsche Nati-
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on (1808) ersichtlich wird. Fichte bezog sich geschichtlich auf ein idealisiertes Bild des Heiligen Römischen Reichs und sprachlich auf die postulierte Reinheit der deutschen Sprache, um für die Schaffung eines geeinten deutschen Nationalstaates zu plädieren. Kernpunkt des Nationalstaatenbegriffs war das Streben nach Homogenität, das einen teleologischen Endpunkt der Vollkommenheit als Ziel der Gesellschaft setzte. Wie aber Hegel bemerkte, wäre der Endpunkt der Geschichte auf eine Zusammenschmelzung der gegensätzlichen Weltanschauungen und Lebensformen auf eine bestimmte Lebensform gerichtet, die gewaltsame Konflikte überwinden soll. Das Streben nach der Vollkommenheit eines Nationalstaates müsste aber unweigerlich in Konflikten mit anderen enden, daher das Paradoxon des Begriffs „Nationalstaat“. Ziel des Nationalstaates war also das Erreichen einer homogenen politischen Organisation in einem homogen fassbaren Territorium. Als gewünschte Werkzeuge zum Erreichen dieses Ziels wurden eine homogene und legitimierte Nationalsprache und eine homogene Staatsreligion postuliert, mittels derer eine „wahre“, homogene Geschichte des Staates errichtet werden sollte. Vom historischen und sprachwissenschaftlichen Standpunkt her gesehen gilt es aber aus unserer heutigen Sicht folgende Fragen zu beantworten: (1) Was bedeutet in diesem Kontext eine homogene Geschichte? (2) Was bedeutet eine Sprache? (3) Was bedeutet eine Nationalsprache? (4) Was bedeutet eine homogene Nationalsprache? Allgemeines Ziel dieses Beitrags ist es, die Fragen (2–4) zu beantworten, die zur „Zombie“-Kategorie „Nationalsprache“ oder „Standardsprache“ gehören. Um an den Kern der ersten Frage zu gelangen, beziehe ich mich auf einen der bekanntesten und produktivsten französischen Historiker der ersten Hälfte des 19. Jh., Jules Michelet. In den Jahren zwischen 1820 und 1823 schrieb Michelet als junger Mann eine Art Tagebuch, in dem er seine Reisen durch Europa und seine Ideen und Eindrücke aufschrieb. Nach seinem Tod im Jahre 1874 ließ seine Witwe diese Schriften nicht freigeben, und sie konnten erst 1959 von Paul Viallaneix veröffentlicht werden. Auf S. 293 steht Folgendes:4 Der individuelle Mensch erscheint einen Augenblick lang, bindet sich am gemeinsamen Denken und stirbt; aber die Spezies, die nicht stirbt, sammelt die endlose Frucht seines vergänglichen Daseins. Auf diese Weise einigt eine immense Kette von Entdeckungen und guten Taten alle Zeitalter. Währenddem Generationen 4
Ich habe den Text ins Deutsche übersetzt und trage die volle Verantwortung für irgendwelche Fehler.
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verschwinden und Rassen aussterben, lebt der gemeinsame Gedanke weiter. Immer der gleiche, immer größer und immer in tausend verschiedenen Formen enthält dieser Gedanke die Identität der Menschheit, wie Gedächtnis und Bewusstsein die Identität des Individuums enthalten. (Michelet 1959: 293; meine Hervorhebungen)
Das vergängliche Individuum wird in der Spezies „Mensch“ enthalten. Es „bindet sich am gemeinsamen Denken“, das als „Frucht“ einer endlosen Kette von vergänglichen Dasein konzipiert wird. Michelet stellt sich vor, dass der gemeinsame Gedanke „immer der gleiche“ bleibt und dass die Identität der ganzen Menschheit im gemeinsamen Gedanken wie die Identität jedes einzelnen Menschen in seinem Gedächtnis und Bewusstsein enthalten ist. Der individuelle Mensch erinnert sich aber nur an die Ereignisse seines Lebens. Michelets Auffassung der Geschichte zielt also auf die Verkörperung des gemeinsamen Gedankens der Menschheit, um dem individuellen Menschen ein erweitertes Bewusstsein dessen zu erschaffen, was vor seinem eigenen Leben geschehen war. Und in diesem Sinne wird der gemeinsame Gedanke zum Überbegriff, den Michelet in seinen späteren Schriften als den französischen Nationalstaat versteht. Kippur fasst diese Entwicklung wie folgt zusammen: As Michelet moved towards writing the history of France, so, too, did his unit of historical discourse narrow from humanity to France. […] the progress of humanity became virtually synonymous with the course of modern French history. (Kippur 1981: 43)
Kippur beschreibt Michelets Auffassung des höchsten Lebensziels jedes individuellen Menschen in den Ecrits de jeunesse als die Pflicht […] to unify himself not only with his own historical epoch, but with all past history. Since personal knowledge and worth derived from fulfilling this duty, morality itself became dependent upon the degree of harmony each individual achieved with the history of humanity. […] Isolated men, removed from the heartbeat of humanity, were without history, without meaning, and probably without morality. (Kippur 1981: 31)
Für Michelet waren die Regeln und Gesetze der Geschichte buchstäblich in Sprachen, Gewohnheiten und Ideen verkörpert und hatten dadurch das Wesen und die universelle Natur der Nationalstaaten bestimmt. Ähnliche Gedanken sind in Edward Gibbons The History of the Decline and Fall of the Roman Empire, vol. 1 (1776) und Mme. de Staëls De l’Allemagne (1813) zu finden. Was bei Michelet auffällt, ist eine Metaphorik, die konzeptuell begründet ist und einer im 19. und 20. Jh. durchdringenden, kognitiven Konzeptualisierung des Nationalstaates wie auch der Sprache zugrunde liegt. Eine Sprache/ein Nationalstaat wird nicht mit nur einem menschli-
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chen Körper, sondern auch mit einem Menschen schlechthin mit all seinen geistigen und moralischen Eigenschaften verglichen und, weil eine konzeptuelle Metapher fürs Verständnis des Abstrakten wesentlich ist, auch genau so verstanden. Die Metapher wird somit zur Wirklichkeit. Der Begriff „konzeptuelle Metapher“ und die im 19. wie auch im 20. Jh. gebräuchlichen konzeptuellen Metaphern für eine Sprache/einen Nationalstaat werden im folgenden Abschnitt dargelegt.
3. Kognitive Metaphern des Nationalstaates und der Sprache Um abstrakte Begriffe zu konzeptualisieren, sind wir gezwungen, auf fundamentale körperliche Erfahrungen zurückzugreifen, die wir in der ersten vorsprachlichen Phase unseres Lebens gemacht haben. Aus unseren ersten Erfahrungen mit dem eigenen Körper und dem jeweiligen physikalischen Kontext, in dem wir uns befinden, bilden wir sogenannte „Image- und Aktionsschemata“, Aktionsrahmen und Handlungsskripte als Teile unserer Kognition, die selbstverständlich durch ständige Kontakte zu anderen Menschen sozial und kulturell gesteuert sind. Erst nach Erwerb der menschlichen Sprache sind wir in der Lage, Konzeptualisierungen von abstrakten Begriffen zu konstruieren und diese werden nochmals vom Sprachgebrauch anderer Menschen gesteuert. Weil diese Konzeptualisierungen auf den schon gespeicherten Netzwerken unserer Kognition und dem Filtereffekt der jeweiligen Sprache beruhen, wird hier von „konzeptuellen Metaphern“ gesprochen. In den späten 70er und frühen 80er Jahren des letzten Jahrhunderts wurde von Forschern wie George Lakoff, Mark Johnson, Mark Turner, Zoltán Kövecses, Rafael Núñez u. a. m. die Theorie der konzeptuellen Metaphern (Cognitive Metaphor Theory/CMT) entwickelt, die einen neuen philosophischen Blick auf Prozesse des Wissens und Verstehens im Gegensatz zu rationalistisch-essentialistischen Erklärungen bietet. Um solche metaphorischen Prozesse besser zu schildern, wende ich mich auch einem etwas später von Gilles Fauconnier und Mark Turner (2002) entwickelten Ansatz in der Kognitiven Linguistik zu, der „Cognitive Blending Theory“ (CBT). Der zugrundeliegende Begriff der CBT ist der des „mental space“ (‚mentaler Raum‘), den Fauconnier und Turner wie folgt beschreiben: Mental spaces are small conceptual packets constructed as we think and talk, for purposes of local understanding and action […]. [They] are connected to longterm schematic knowledge called “frames” […]. Mental spaces are very partial. They contain elements and are typically structured by frames. They are interconnected, and can be modified as thought and discourse unfold. Mental spaces can
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be used generally to model dynamic mappings in thought and language. (Fauconnier/Turner 2002: 40)
Mentale Räume werden im Verlauf der entstehenden sozialen Interaktion konstruiert und verwendet, worauf sie normalerweise nachher gelöscht werden. Einige aber werden ins Langzeitgedächtnis hinübergetragen, wo sie in bestehende Netzwerke eingefügt werden. Ein solcher Transfer bedingt immer eine gewisse Reorganisation der vorhandenen Schemata, Rahmen und Aktionsskripte. Sie werden also mit anderen schon vorhandenen Konzepten zusammengeschmolzen (‚blended‘). Folgende zwei Punkte sind hier zu bemerken: 1. Mentale Räume im Verstehensprozess, der in winzigen Bruchteilen von Sekunden stattfindet, bleiben fast immer unterhalb der Bewusstseinsschwelle, wie ebenfalls die schon vorhandenen Rahmen und Skripten, aus denen Elemente beim Verstehensprozess herangezogen werden. 2. Linguistische Äußerungen schaffen auch mentale Räume, die verstanden werden müssen. Da abstrakte, in linguistischen Äußerungen erscheinende Begriffe durch den Prozess des „blending“ begriffen werden, handelt es sich zunächst um Verschnitte (‚blends‘), die bereits gespeicherte Begriffe aus den Rahmen und Skripten der Kognition in einen leeren mentalen Raum projizieren. Greifen wir nun den Begriff des „Nationalstaates“ auf, so ergibt sich eine Projektion aus mindestens zwei verschiedenen Rahmen, aus demjenigen des Menschen und demjenigen eines Behälters (vgl. die Hervorhebungen, die beim obigen Zitat aus Michelets Ecrits de Jeunesse gemacht wurden). Der leere mentale Raum wird durch die metaphorische Projektion aus diesen schon gespeicherten Rahmen gefüllt, so dass jede Äußerung, die den abstrakten Begriff enthält, den Inhalt der metaphorischen Projektion im Verschnitt anregt. Die Bedeutung eines Begriffs wie „Nationalstaat“ oder „Sprache“ wird also aus diesem Verschnitt konstruiert. Dies kann dargestellt werden wie folgt: Abb. 1 (S. 133) stellt zwei verwandte Prozesse dar: X die Entstehung einer kognitiven Metapher als Verständnis der vom Lexem Nationalstaat angeregten Bedeutung und deren Einbettung als kognitiver Rahmen im Langzeitgedächtnis; Y der Prozess des Verstehens, wenn das Lexem Nationalstaat im diskursiven Kontext verwendet wird. Der zu konzeptualisierende Begriff wird in den Verschnitt projiziert wie auch gewisse Eigenschaften des „Mensch-Seins“ (aber sicher nicht alle) aus dem kognitiven Rahmen MENSCH. Im Verschnitt (‚blended space‘) bedeutet der Kasten
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einen neu konstruierten mentalen Raum, der in der jeweiligen interaktiven Situation operationalisiert werden kann5 und/oder gespeichert und eingebettet wird im Langzeitgedächtnis. Bei Michelet finden wir eine zweite Stufe der konzeptuellen Metapher, in der eine schon vorhandene konzeptuelle Metapher DER MENSCH IST EIN BEHÄLTER auch in den Verschnitt projiziert wird.
● x (wo x = der neu zu konzeptualisierende Begriff „Nationalstaat“)
Nationalstaat ●
Mentaler Raum 1: Äußerung
KOGNITIVER RAHMEN: MENSCH ●
KOGNITIVER RAHMEN: NATIONALSTAAT ●
Mentaler Raum 2: neu zu definierender Begriff
●x ● MENSCH ● DER NATIONALSTAAT IST EIN MENSCH
Mentaler Raum 3 = Verschnitt kognitive Metapher
Abb. 1: Konstruktion der kognitiven Metapher DER NATIONALSTAAT IST EIN MENSCH und eines neuen kognitiven Rahmens NATIONALSTAAT
Wenn konzeptuelle Metaphern wie diese im soziokommunikativen, diskursiven Kontext aktiviert werden, führen sie fast automatisch zu einer großen Vielfalt von Aussagen, die für den Benutzer als „wahr“ gelten. Im Falle des Begriffs NATIONALSTAAT sind folgende durchaus möglich:
usw.6 5 6
Fauconnier und Turner (2002) bezeichnen diesen Prozess als „running the blend“. Es darf hier daran erinnert werden, dass Ronald Reagan in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts den Begriff „Schurkenstaat“ gebrauchte, der im Diskurs von George W. Bush im jetzigen Jahrzehnt als Bezeichnung von Nationalstaaten wie Nordkorea, Irak und Iran wieder erschien.
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Bezeichnenderweise werden ähnliche konzeptuelle Metaphern verwendet, um den abstrakten Begriff „Sprache“ zu konzeptualisieren, so dass eine Fülle von Aussagen aus dem kognitiven Rahmen MENSCH auch hier zu finden ist:
usw.
Drei Einschränkungen müssen aber an dieser Stelle gemacht werden. Erstens: Wie im letzten Abschnitt erwähnt, werden der konzeptuellen Metapher der Sprache ebenso häufig geistig/moralische wie auch körperliche Eigenschaften des Menschen entnommen und in Aussagen verwendet. Zweitens, einige menschliche Eigenschaften werden kaum in Verbindung mit Sprachen gebracht, so dass Aussagen wie „Sprache X ist unterernährt“ oder „Sprache X ist blond“ kaum anzutreffen sind. Die dritte Einschränkung ist für die Weiterentwicklung des hier aufgeführten Arguments von eminenter Bedeutung, d. h. die Rede ist immer von einer Sprache und nie von Sprache an sich (m. a. W. menschlicher Sprache). Dies ist eine Konsequenz der engen Verbindung zwischen der Konzeptualisierung eines Nationalstaates und derjenigen einer Nationalsprache, wie aus Michelets Werk ganz klar ersichtlich wird. Dieser dritte Punkt wird den Rest dieses Beitrags ganz klar bestimmen. Bevor die Verknüpfungen zwischen konzeptuellen Metaphern und daraus entstehenden Aussagen auf der einen Seite und der diskursiven Entstehung von Sprachmythen (und auch Mythen des Nationalstaates) auf der anderen zur Sprache kommen, sollen hier drei weitere konzeptuelle Metaphern kurz aufgeführt werden, die im 19. Jh. als Grundlage für die Bildung von Sprachmythen verwendet wurden. Es sind dies die Metapher der Sprache als Mitglied einer Familie – SPRACHE X IST MITGLIED EINER SPRACHFAMILIE –, die natürlich direkt aus der Metapher SPRACHE X IST EIN MENSCH abgeleitet wird, die Metapher der Sprache als eine Pflanze – SPRACHE X IST EINE PFLANZE – und die Metapher der Sprache als eine geologische Formation – SPRACHE X IST EINE GEOLOGISCHE FORMATION. Aus der ersten Metapher entstehen Aussagen wie: – –
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– – usw. Die zweite konzeptuelle Metapher ergibt Aussagen wie die folgenden: – – – usw. Aussagen wie die folgenden könnten mindestens im 19. Jh. aus der dritten konzeptuellen Metapher erscheinen: – – < Merkmal z in Sprache X ist das Fossil aus einem früheren Zeitalter> usw. Im Falle dieser metaphorischen Quelle für Aussagen über Sprachen muss klar festgehalten werden, dass diese Metapher aus anderen konzeptuellen Metaphern konstruiert ist, im 19. Jh. infolge des regen Interesses an der Geologie entstand und heutzutage kaum aufzufinden wäre.
4. Sprachmythen und ihre Verwendung beim Aufbau von hegemonialen Diskursen über die englische Standardsprache Die aus konzeptuellen Metaphern stammenden Aussagen werden diskursiv verwendet und liefern somit den potentiellen Inhalt von narrativen Texten.7 Genau an dieser Stelle setzt die Wichtigkeit des Mythosbegriffs ein. Das griechische Wort ƬƽƨƯƲ bedeutet ‚Geschichte‘ und bezieht sich auf das menschliche Bedürfnis, Gegenstände, Ereignisse, Glauben und Erklärungen narrativ ins Leben zu rufen. In der heutigen Welt fristet das deutsche Lexem Mythos eine Art zweifelhafter Existenz. Wenn von „Mythen“ die Rede ist, besteht eine Tendenz, sie mit Unwahrheiten gleichzusetzen, 7
Der Begriff „Text“ an dieser Stelle soll möglichst breit verstanden werden. Dazu gehören nicht nur diskursive Sequenzen in der Form von schriftlicher Sprache, sondern auch mündliche Sequenzen wie auch Kommunikationsbeiträge aus einer ganzen Reihe von semiotischen Systemen: Musik, Gesten, Zeichnen, Malerei, Mimik, u. a. m.
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obwohl man sich davor hüten sollte, sie als bewusste Lügen zu verstehen. Sie sind in ihrem Wesen fiktive Artefakte, die einen größeren oder kleineren Kern von Wahrheit besitzen, und sie werden nicht mit der Absicht erzählt, den Zuhörer irrezuführen. Mythen sind die narrativen Erklärungen, an die eine Gemeinschaft glaubt und glauben muss, um die Komplexität der Welt zu verstehen, in der sie lebt, und sie werden nicht selten als Teil einer langen kulturellen Tradition geehrt. Ähnlich wie im Falle von bekannten Volkstraditionen ist es kaum möglich, einen Urerzähler zu identifizieren, was dazu führt, dass ein Mythos nicht als persönliches, individuelles Narrativ verstanden werden kann. Im Gegenteil wird er jedem Mitglied einer Gemeinschaft sozial im Laufe der Interaktion mit anderen und kulturell durch eine institutionelle Überlieferung von Generation zu Generation weitergereicht. Im Laufe dieser Überlieferung wird der Mythos zum „Eigentum“ der Gemeinschaft, indem er wiederholt durch Zuhören, Aufnehmen und Nacherzählen in sozialen Institutionen wie Familie, Schule, Kirche, Medien, Politik, u. a. m. legitimiert wird. Auf diese Art und Weise können Mythen auch zu wichtigen Bestandteilen von dominanten Diskursen werden. Kognitiv gesehen liefern sie eine narrative, kulturelle Einbettung von Glauben, die es einem ermöglichen, eine feste Basis zu konstruieren, worauf Identitätsakte in entstehender sozialer Praxis ausgeführt werden können. Der Hauptgrund für das Weiterexistieren von Mythen kann somit wie folgt erklärt werden: „[they] fulfil a vital function in explaining, justifying and ratifying present behaviour by the narrated events of the past“ (Watts 2000: 33). Das Zweifeln an einem Mythos kann als ketzerischer Akt verstanden werden, da die „objektive“ Wahrheit eines Mythos letzten Endes nicht relevant ist, solange an ihn als Bestandteil einer Gemeinschaft fest geglaubt wird. Sprachmythen sind also im Laufe der Zeit in einer Gemeinschaft entstandene und verbreitete Geschichten […] about the structure of language and/or the functional uses to which language is put. […] The beliefs have formed part of [a] community’s overall set of beliefs and the life-styles that have evolved on the basis of those beliefs for so long that their origins seem to have been obscured or forgotten. They are thus socioculturally reproduced as constituting a set of “true” precepts in what appears to the community to be a logically coherent system. (Watts 1999: 68)
Wenn solche Mythen in die diskursiven Glaubensstrukturen einer Gemeinschaft aufgenommen werden und damit als eine „objektiv“ wahre Erklärungsgrundlage für sprachliche Angelegenheiten gelten, die durch die sozialen Institutionen der Gemeinschaft verbreitet werden, werden sie zu
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wichtigen Bausteinen eines hegemonialen Diskurses über die Sprachvarietät(en) der Gemeinschaft. Die Hauptthese dieses Beitrags besteht darin, dass die Verschmelzung der Sprachwissenschaft und der Geschichtswissenschaft während der ersten Hälfte des 19. Jh. durch die Konzeptualisierung des Begriffs „Nationalstaat“ zu einem solchen hegemonialen Diskurs führte. Ziel dieses Diskurses war es, einen homogenen Nationalstaat durch eine legitimierte, homogene Nationalsprache zu konstruieren. Um die Homogenität der Nationalsprache zu erreichen, mussten Prozesse der Standardisierung rigoros durchgeführt und alle anderen Sprachvarietäten strikt ausgeschlossen werden. Dieses Ziel hatte aber einen ganz wichtigen und von den staatlichen Institutionen immer wieder verleugneten Haken: Sprachen leben von der Heterogenität und vom Wandel und können nie in der Homogenität oder einer vermeintlichen Perfektion existieren. Im weiteren Verlauf dieses Abschnitts werden jetzt einige Ausschnitte aus englischen Fachbüchern zu den Themen „englische Sprache“ und „Geschichte der englischen Sprache“ in der zweiten Hälfte des 19. Jh. vorgestellt und kritisch kommentiert. Angefangen wird mit einem einflussreichen kleinen Buch von Richard Chevenix Trench mit dem Titel English Past and Present: Eight Lectures (1855). Auf S. 11 beschäftigt sich Trench mit dem Verschwinden des Konjunktiv Präsens aus dem Englischen: One who now says, “If he call, tell him I am out” … is seeking to detain a mood, or rather the sign of a mood, which the language is determined to get rid of. (Trench 1855: 11)8
Die ‚Geschichte‘, die Trench an dieser Stelle erfindet, um die archaische Natur des Konjunktiv Präsens im Englischen zu unterstreichen, betrifft einen Sprecher, der den Konjunktiv-Modus unbedingt behalten will und eine personifizierte Sprache, die die feste Absicht hat, diese Struktur verschwinden zu lassen. Grundlage der Geschichte ist die konzeptuelle Metapher DIE SPRACHE ENGLISCH IST EIN MENSCH, und die aus dieser Metapher entstandenen Aussagen sind und . Der Mythos, der hier durchschimmert, ist „der Mythos der legitimen Sprache“ (vgl. Watts 2011, Kap. 9), der aus dem „Mythos der höflichen Sprache“ im 18. Jh. transformiert worden ist und jetzt als Teil des hegemonialen Diskurses der Standardsprache oder der Nationalsprache dient.9
8 9
Sämtliche in Kursivschrift gedruckten Sequenzen in den restlichen Zitaten dieses Abschnitts sind meine Hervorhebungen. In Tat und Wahrheit aber existiert diese Konstruktion immer noch in bestimmten Dialekten und erfährt momentan ein regelrechtes Comeback in der „Standardsprache“ (vgl. Auer 2008 und 2009).
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Aussagen aus der konzeptuellen Metapher SPRACHE X IST MITGLIED den Grundstein für die folgende kleine Geschichte von Trench (1855):
EINER SPRACHFAMILIE bilden
When we call to mind the near affinity between English and German, which, if not sisters, are at any rate first cousins, it is remarkable that almost since the day when they parted company, each to fulfil its own destiny, there has been little further commerce in the way of giving and taking between them. (Trench 1855: 136)
Hier werden „Englisch“ und „Deutsch“ – natürlich die Standardvarietäten der beiden Sprachen – als „Cousinen ersten Grades“ benannt, und sie sind beide weiblich. Dazu scheint Trench es zu bedauern, dass er sie nicht Schwestern nennen kann. Weil sie Menschen sind, müssen sie ihre Lebenswege alleine gehen und können miteinander handeln – obwohl sie dies nicht allzu häufig gemacht haben. Um Aussagen aus der konzeptuellen Metapher SPRACHE X IST EINE PFLANZE zu belegen, wird an dieser Stelle auf drei weitere Ausschnitte aus Trench (1855) kurz hingewiesen: One branch of the speakers of a language engrafts on the old stock numerous words which the other does not in the same way make its own […]. (Trench 1855: 50) Our own is, of course, a living language still. It is therefore gaining and losing. It is a tree in which the vital sap is circulating yet […]. (Trench 1855: 85) It is true that there happened here what will happen in every attempt to transplant on a large scale the words of one language into another. (Trench 1855: 98)
Und schließlich, bevor einige Zitate aus dem Werk anderer Autoren aufgeführt werden, wollte ich der Leserin/dem Leser dieses köstliche Zitat nicht vorenthalten: Its [die Genitivform des Personalpronomens it] is, in fact, a parvenu, which has forced itself into good society at last, but not with the good will of those who in the end had no choice but to admit it. (Trench 1855: 149)
In dieser Geschichte handelt es sich um eine Sprache (Englisch), die als „parvenu“ alles unternimmt, um in der guten Gesellschaft akzeptiert zu werden. Trenchs Humor enthält an dieser Stelle mehr als einen Kern der geschichtlichen Wahrheit und deutet darüber hinaus auf die klassenspezifischen Unterschiede zwischen der legitimen Standardsprache der gebildeten Sozialschichten im frühviktorianischen England (der sogenannten „refined language“, die nur an den „public schools“ erworben werden
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konnte) und allen anderen Varietäten des Englisch (der sogenannten „vulgar language“ der ungebildeten Klassen der Gesellschaft10). Die konzeptuelle Metapher SPRACHE X IST EINE GEOLOGISCHE FORMATION, die nach dem 19. Jh. kaum anzutreffen ist, kann sicherlich nicht auf Image- und Aktionsschemata, Aktionsrahmen und Handlungsskripte zurückgeführt werden, sondern sie stellt eine Projektion von einem kognitiv eingebetteten semantischen Rahmen dar, der von Geologen bei der Konzeptualisierung ihrer Disziplin konstruiert wurde. Trotzdem haben sich viele englischsprachige Sprachwissenschaftler in Großbritannien und den USA dieser Konzeptualisierung der Sprache bedient. Die Geschichte des Englischen wurde als eine historische Anhäufung von Gesteinsschichten oder als Schichten von Bodensatz gesehen, in denen Fossilien oder Skeletten zu finden waren. Als Beispiel dient das folgende Zitat aus Arthur Champneys’ History of English (1893), in dem er den unausgesprochenen Buchstaben als „fossil“ bezeichnet: First of all, the differences in spelling may be briefly dismissed. Enough has been said before on the use of I where we now use J, on the difference of principle in the use of U and V, and about the final E, which is now a kind of fossil in the language. (Champneys 1893: 327)
Oliver Farrar Emerson in seinem History of the English Language (1894) projiziert die konzeptuelle Metapher nicht nur auf die Sprache sondern auch auf soziale Unterschiede, indem er die Sprache als eine Anhäufung von Schichten analog zu gesellschaftlichen Schichten konzeptualisiert und sich damit nochmals auf die klassenspezifischen Unterschiede zwischen der legitimen Sprache Standardenglisch an der Oberfläche und allen anderen Varietäten tiefer unten bezieht: Moreover, in addition to these linguistic areas representing the words actually used by individuals or by classes of society, there are in the same linguistic area what may be called language strata, overlying one another and differing from one another. (Emerson 1894: 115)
Ein früheres Beispiel dieser konzeptuellen Metapher für die Sprachgeschichte wird in einer sehr bildlich konstruierten Erzählung aus Henry 10
Die „ungebildeten“ Schichten bestanden aus all denen, die nur „schooled“ und nicht „educated“ waren und die im politischen System das Wahlrecht nicht ausüben durften. Der „Mythos der legitimen Sprache“ war also schon seit den 1790er Jahren in Großbritannien der treibende Motor eines durch und durch politisierten hegemonialen Sprachdiskurses, der auf der einen Seite die Standardsprache zum Symbol des Nationalstaates emporstilisierte, während er auf der anderen Seite all denen, die dieser Sprache nicht mächtig waren, den Zugang zu den politischen und gesellschaftlichen Prozessen des Staates verweigerte (vgl. Smith 1989; Watts 2010: Kap. 8 und 9).
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Welsfords On the Origins and Ramifications of the English Language (1845) dargestellt: The Sanskrit may be regarded as the pure fountainhead: the streams which flowed from it remained long in a troubled state from the turbulence of the middle ages, till, having found a more spacious and secure channel, they have gradually deposited the dregs of the Frankish, the Anglo-Saxon, the Cimbric, and the Celtic and reappeared in the beautiful languages of Montesquieu and Racine, of Goete [sic.] and Schiller, of Byron and Scott. (Welsford 1845: 259)
Er fängt mit Sanskrit an, das er als „pure fountainhead“ der späteren indoeuropäischen Sprachen beschreibt. Durch die Wirren des Mittelalters fließen aus dieser Quelle stammende Bächer und Flüsse, die „dregs“11 absetzen. Diese „dregs“ haben sich im Laufe der Zeit zu „the beautiful languages“ Französisch, Deutsch und Englisch entwickelt. Dabei bezieht er sich auf bekannte Literaten und damit auf die jeweilige standardisierte Schriftsprache. Die Botschaft ist klar: Die Geschichte der Sprache ist die Geschichte der legitimen Standardsprache, die hier sogar als Kultursprache hochstilisiert wird. Im dominanten Diskurs über die englische Sprache in der zweiten Hälfte des 19. Jh. und durch weite Strecken des 20. Jh. können viele ähnliche Zitate gefunden werden, in denen mindestens drei der vier im 19. Jh. üblichen konzeptuellen Metaphern (1. SPRACHE X IST EIN MENSCH, 2. SPRACHE X IST MITGLIED EINER SPRACHFAMILIE und 3. SPRACHE X IST EINE PFLANZE) zum Vorschein kommen. Die erste und weitaus häufigste Metapher wird auch auf den abstrakten Begriff des „Nationalstaates“ projiziert, während die dritte seit mindestens dem 16. Jh. als wichtiger Teil des englischen Kolonialdiskurses dient. Als Beleg für diese Feststellung zitiere ich aus einem bedeutenden Text des 16. Jh. von Richard Stanihurst (A Treatise Containing a Plain and Perfect Description of Ireland (1577). Während der Herrschaft von Elizabeth I gab es in der südlichen Provinz Irlands, Munster, zwei wichtige, vom Earl von Desmond durchgeführte Aufstände gegen die englische Krone, der erste von 1569 bis 1573 und der zweite von 1579 bis 1581. Seit den Kilkenny Statuten im 14. Jh. waren die Beziehungen zwischen den im kleinen Gebiet um Dublin herum12 eingekesselten Engländern und den gälisch-sprechenden Iren immer äußerst gespannt gewesen und der Sprachdiskurs der Engländer enthielt immer wieder Forderungen, irisches Territorium durch die Einführung der englischen Sprache und die Errichtung von Plantagen zu pazifizieren. Nach dem ersten Desmond-Aufstand wurde beschlagnahmtes Land in 11 12
Das englische Lexem dregs kann entweder im geologischen Sinn als ‚Bodensatz‘ oder aber im moralisch-gesellschaftlichen Sinn als ‚Abschaum‘ verstanden werden. „The English Pale“ oder „the Pale of Dublin“.
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Munster an Engländer geschenkt, die bereit waren, den Boden zu bepflanzen. Zwei bekannte Empfänger von Land in Munster waren Sir Walter Raleigh und der Dichter Edmund Spenser. Stanihurst war ein protestantischer Anglo-Ire aus Dublin, der genau zur Zeit der ersten Plantagen nach dem ersten Desmond-Aufstand sein Plain and Perfect Description of Ireland schrieb. Folgender Ausschnitt aus diesem Text enthält eine Fülle von Aussagen aus der konzeptuellen Metapher SPRACHE X IST EINE PFLANZE wie auch Aussagen aus einer eng damit verwandten Metapher EIN LAND IST EINE PLANTAGE: And truly, so long as these impaled dwellers did sunder themselves as well in land as in language from the Irish: rudeness was day by day in the country supplanted, civility engrafted, good laws established, loyalty observed, rebellion suppressed, and in fine the cornerstone of a young England was like to shoot in Ireland. But when their posterity became not altogether so wary in keeping, as their ancestors were valiant in conquering, the Irish language was free denizened in the English pale: this canker took such deep root, as the body that before was whole and sound, was by little and little festered, and in manner wholy [sic] putrified. (1577, in Crowley 2000: 32)
Was hier zu lesen ist, sind die Anfänge eines kolonialen Diskurses, durch den die Metapher der Plantage buchstäblich sowie metaphorisch zur Berechtigung und Beschönigung der kolonialen Hegemonie und Ausbeutung in Irland, Nordamerika und anderswo auf der Welt benutzt wurde. Der Diskurs über die Geschichte der englischen Sprache entwickelte sich also zu einem wichtigen Element im politisch dominanten Diskurs des Nationalstaates und des Kolonialismus, der aufgrund bestimmter Sprachmythen und der Verstrickung der Sprachwissenschaft mit der Geschichtswissenschaft vom ausgehenden 18. Jh. bis weit ins 20. Jh. konstruiert wurde. Somit entstand aus diesem Komplex von eng verstrickten Diskursen ein Archiv im Sinne von Foucault. Foucault (1969: 170) beschreibt ein Archiv (das ich „Diskusarchiv“ nennen werde) als […] la loi de ce qui peut être dit, le système qui régit l’apparition des énoncés comme événements singuliers. [(…) das Gesetz, das bestimmt, was gesagt werden kann, das System der Erscheinungsform von Äußerungen als einzelne Vorkommnisse.]
Die Wichtigkeit des Begriffs „Archiv“ für Foucaults archäologischen Ansatz wird im folgenden Zitat klar: La mise à jour, jamais achevée, jamais totalement acquise de l’archive, forme l’horizon général auquel apparient la description des formations discursives, l’analyse des positivités […]. Le droit des mots […] autorise donc à donner à ces
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recherches le titre d’archéologie. Ce terme n’incite à la quête d’aucun commencement; il n’apparente l’analyse à aucune fouille ou sondage géologique. Il désigne le thème général d’une description qui interroge le déjà-dit au niveau de son existence […]. L’archéologie décrit les discours comme des pratiques spécifiées dans l’élément de l’archive. (Foucault 1969: 136) [Die Aktualisierung des Archivs – nie abgeschlossen und nie ganz erworben – bildet den allgemeinen Hintergrund, gegen den die Beschreibung von diskursiven Formationen und die Analyse von Positivitäten angepasst werden […]. Das Gesetz des Wortes […] berechtigt also den Gebrauch des Begriffs „Archäologie“ für diese Forschung. Der Terminus regt uns nicht an, einen Anfang zu suchen; er gleicht keiner Ausgrabung und auch keiner geologischen Untersuchung. Er skizziert das allgemeine Thema einer Beschreibung, die das in Frage stellt, was schon gesagt wurde auf der Ebene seiner Existenz […] „Archäologie“ beschreibt Diskurse als spezifische Praxen in der Grundeinheit des Archivs.]
Mit „positivité“ meint Foucault das, was die besondere Einheitlichkeit des Diskurses über die Zeit seiner Dominanz charakterisiert. Die „Positivität“ eines Diskurses ist also das Gesetz über das, was gesagt werden darf, m. a. W. sie wird vom Archiv gesteuert, worin der Diskurs enthalten ist. Mit dem Zerfall des Archivs des Nationalstaates und der Nationalsprache droht der ganze Diskurs der Homogenität und der Standardisierung zu einer „Zombie“-Kategorie zu werden. Grund für diesen Zerfall und die damit verbundene Unfähigkeit zu begreifen (oder begreifen zu wollen), dass der soziolinguistische Kontext, in dem der Begriff entstanden ist, sich wesentlich geändert hat, ist nach Deumert die Tatsache, dass […] the standard language haunts the minds of speakers (and those linguists who believe in languages as unitary, well-defined and countable objects). (Deumert 2010: 259)
In diesem Punkt stimme ich mit Deumert vollständig überein, und diese Zustimmung beruht auf der Überzeugung, dass der Fokus in der historischen wie auch in der Theoretischen Linguistik viel zu stark auf Sprachen statt auf die menschliche Sprachfähigkeit gesetzt wurde. Wie man im Standardenglischen so schön sagt, „the cart has been put too often before the horse“. Dies wird das Thema des folgenden Abschnitts sein.
5. „Replacing the horse before the cart“ Im Jahre 1968 wurde ein wichtiger Beitrag zur Historischen Linguistik von Weinreich, Labov und Herzog mit dem Titel „Empirical foundations for a theory of language change“ in einem von Lehmann und Malkiel herausgegebenen Sammelband veröffentlicht. Dieser Beitrag ist seither zu einem
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Klassiker der Historischen Soziolinguistik geworden. Als Hauptthema des langen Artikels wurden die theoretischen und methodologischen Ansätze diskutiert, die bei der Untersuchung des Sprachwandels berücksichtigt werden müssten. Darüber hinaus ist der Beitrag als eine frühe, implizite Anerkennung der Existenz eines archetypischen „Mythos der Homogenität“ zu betrachten. Weinreich et al. gehen von der folgenden Prämisse aus: Jeder Versuch, eine Theorie des Sprachwandels zu entwickeln, ist von vornherein beeinträchtigt, wenn die Theorie auf einer strukturalistischen oder einer generativistischen Auffassung der Sprache beruht. Dies wird an einer Stelle ganz explizit ausgedrückt: […] structural theories of language, so fruitful in synchronic investigation, have saddled historical linguistics with [four basic paradoxes] which have not been fully overcome. (Weinreich et al. 1968: 98)
Im Rahmen des hiesigen Beitrags sind die ersten drei Paradoxa wichtig: 1. das Paradoxon der Sprache als homogenes System, 2. das Paradoxon, dass jeder Sprachwandel von einem homogenen sprachlichen Zustand zum nächsten führt, 3. das Paradoxon, dass dieser Ansatz es dem Forscher nicht erlaubt, die von Weinreich et al. postulierte ordentliche Differentiation (‚orderly differentiation‘) im System der menschlichen Sprache zu erklären. Das erste Paradoxon ist bereits im vorhergehenden Abschnitt zur Sprache gekommen. Wird die menschliche Sprache als die kognitive Fähigkeit jedes Menschen betrachtet, eine sehr große Menge linguistischer Konstruktionen (phonologische, morphologische, syntaktische, semantische) zu erwerben, zu speichern und zu gebrauchen, so ist diese Fähigkeit sicherlich systematisch. Aber die gleiche Sprachfähigkeit muss allen Sprachbenutzern auch ermöglichen, das System je nach den Bedürfnissen des jeweiligen sozialen Kontexts zu manipulieren. Genau dies wird unter dem Begriff „ordentliche Differentiation“ verstanden. Sprachliche Homogenität aber impliziert eine Gesetzmäßigkeit, die dem Prinzip der „ordentlichen Differentiation“ widerspricht und darin liegt das Paradoxon. Das zweite Paradoxon ergibt sich aus dem ersten. Auch wenn eine Sprache ein homogenes System wäre, so wird sie von Leuten aus verschiedenen Gesellschaftsschichten und Altersgruppen gesprochen. Mit anderen Worten, ein homogener Zustand einer Sprache folgt nicht auf den vorhergehenden. Es wird immer Variabilität in der Gruppe und im individuellen Sprecher geben, so dass die neue, aus dem Wandel entstehende Konstruktion immer mit älteren Formen koexistieren und sich überlappen wird.
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Diese beiden Parodoxa führen zum dritten, indem eine Beharrung auf Homogenität eine Analyse dieser Überlappungen automatisch ausschließt. Die menschliche Sprachfähigkeit ermöglicht den Gebrauch einer Sprachvarietät, die in ständiger sozialer Interaktion mit anderen Mitgliedern der gleichen sozialen Gruppe oder Gemeinschaft erworben wird, um die physischen, sozialen und mentalen Welten des Individuums in Einklang mit den Welten anderer zu bringen. Sie bietet eine unendliche Zahl von Gelegenheiten, die mentalen Welten des Individuums zu vergrößern und auszudehnen. Gemäß Cumming/Ono (1997: 132) wird in diesem sozio-kognitiven Prozess „the actual production of syntax […] locally managed“, und ihre „Regeln“ werden zur „construction of particular speakers” (Bex 2008: 222). In diesem Sinne „grammars are ‘emergent’ at the moment of utterance“ (Bex 2008: 224). Man stelle sich eine kleine, abgelegene Gemeinschaft vor (wie etwa diejenige auf Tristan da Cunha, die von Schreier 2003 beschrieben wird). Die linguistischen Konstruktionen, die die Mitglieder dieser Gemeinschaft erwerben, um Bedeutungen anzuregen und auszuhandeln, werden automatisch verwendet. Es gibt keine „Fehler“‚ nur verfehlte Bedeutungen. Zum Zwecke der Koexistenz, der Zusammenarbeit und manchmal auch ab und zu der Austragung von Konflikten ist es völlig belanglos zu fragen, wie die Mitglieder der Gemeinschaft ihre Sprachvarietät benennen. Es genügt, wenn die linguistischen Konstruktionen in Instanzen sozialer Praxis verwendet werden können. Dies gibt also unweigerlich Anlass zu den folgenden zwei Fragen: 1. Warum ist es wichtig, in solchen Situationen auf das homogene System einer Sprache oder Sprachvarietät zu beharren? 2. Ist es nicht viel wichtiger, wenn die Sprecher die potentielle Heterogenität dieser Sprache/Sprachvarietät voll ausnutzen können? Das erste Paradoxon liegt also in der Hypostasierung von individuellen Sprachen, d. h. in der Suche nach homogenen Sprachsystemen statt in der Erforschung der sozio-kognitiven Mechanismen, die die Entstehung von Grammatiken in der Produktion von Äußerungen befähigen. Weinreich et al. sind der Meinung, dass jedes Sprachsystem Homogenität und Heterogenität gleichzeitig aufweist, aber sie sind sich auch bewusst, dass darin ein Paradoxon besteht. Aus diesem Grunde kritisieren sie Versuche, ein vollständig homogenes Sprachsystem zu konstruieren, als „needlessly unrealistic“ und als „a step backwards“. Im dritten Abschnitt dieses Beitrags skizzierte ich einen sozio-kognitiven Ansatz zum Erforschen der menschlichen Sprache, in dem die Sprachfähigkeit aus anderen kognitiven Fähigkeiten stammt und mit ihnen
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eng verbunden ist, dies im Gegensatz zum generativen Verständnis der Sprache als ein unabhängiges Modul der Kognition. Trotzdem müssen wir uns die Frage stellen, warum immer noch von Sprachen und Sprachvarietäten die Rede ist. Nur wenn diese Frage adäquat beantwortet ist, wird es wieder möglich sein, das Pferd vor den Wagen zu spannen, die soziale Kategorie der Standardisierung als „Zombie-Kategorie“ zu entpuppen und eine neue Optik auf die Historische Sprachwissenschaft zu wagen. Zunächst muss festgestellt werden, dass alle Menschen ein grundlegendes Bedürfnis spüren, als ratifizierte Mitglieder einer sozialen Gruppe oder sogar mehreren sozialen Gruppen zu funktionieren. Um dies zu erreichen, sind alle Menschen unweigerlich genötigt, diejenigen linguistischen Konstruktionen zu erwerben, die andere in der Gruppe benutzen. Der Schritt von der menschlichen Sprachfähigkeit zu einer „Sprache“ kann also als kognitiver Verschnitt (‚blend‘) verstanden werden:
● x (wo x = der neu zu konzeptualiserende Begriff „Englisch“)
Englisch ●
Mentaler Raum 1: Äußerung
Mentaler Raum 2: neu zu definierender Begriff
KOGNITIVER RAHMEN 1: SOZIALE PRAXIS ●
●x ● [immer wieder wiederkehrende linguistische Konstruktionen u. daraus konstruierte Bedeutungen]
KOGNITIVER RAHMEN 2:
● [linguistische Konstruktionen u. daraus konstruierte Bedeutungen bilden Teil einer Gruppenidentität]
EIGENSCHAFTEN DER SOZIALEN GRUPPE ●
Mentaler Raum 3 = Verschnitt des aus KG 1 und KG 2 relevanten Wissens
NEUER KOGNITIVER RAHMEN 3: DIE ENGLISCHE SPRACHE
weitere Wissenselemente, die im Laufe der Zeit aus anderen kognitiven Rahmen in diesen hineinprojiziert werden
Abb. 2: Entstehung eines neuen kognitiven Rahmens SPRACHE X aus dem mehrmaligen und immer wieder neu angereicherten Operieren des Verschnitts
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Abb. 2 stellt den Prozess der Herausbildung eines neuen kognitiven Rahmens SPRACHE X (hier Englisch) aus den immer wieder in Instanzen sozialer Praxis neu stattfindenden Vorkommen von Lexemen und linguistischen Konstruktionen dar, die sich irgendwie auf ein in sich geschlossenes Sprachsystem beziehen. Die linguistischen Konstruktionen, die wir selber benutzen, zusammen mit der bewussten oder unbewussten Wahrnehmung, dass andere in der Gruppe diese Konstruktionen auch benutzen, werden in einen kognitiven Verschnitt hineinprojiziert, der irgendwann ins Langzeitgedächtnis als kognitiver Rahmen transferiert wird (vgl. die Bildung von konzeptuellen Metaphern in Abschnitt 3). So verstanden ist der Begriff „eine Sprache“ nichts anderes als eine frühe konzeptuelle Metapher und der kognitive Rahmen „Sprache X“ wird durch eine zusätzliche konzeptuelle Metapher SPRACHE X IST DIE SPRACHE/DIE EIGENSCHAFT/ DAS EIGENTUM VON GRUPPE X angereichert. Durch die spätere Bildung der konzeptuellen Metapher SPRACHE X IST EIN MENSCH werden dann weitere Bedeutungskomponenten in den kognitiven Rahmen projiziert. So gesehen ist der Schritt von der Sprachfähigkeit zur Konzeptualisierung einer Sprache nichts anderes als die Bildung einer konzeptuellen Metapher, die von allen Mitgliedern der sozialen Gruppe vollzogen worden ist. Wenn diese Theorie des kognitiven Herauskristallisierens des Begriffs „Sprache X“ plausibel ist, überrascht es nicht, dass die „Wahrheit“ der Existenz von Sprachen allgemein angenommen wird. Es ist auch nicht erstaunlich, wenn die Gruppe (oder Gruppen), die, ihrer Wahrnehmung nach, die Sprache X verwendet, gemeinsame Geschichten (Mythen) erfindet, um die Existenz der Sprache zu erklären, zu rechtfertigen und damit zu ratifizieren. Sprachmythen entstehen also aus dem fast archetypischen „Mythos der linguistischen Homogenität“ und sie bieten ein probates Mittel, die eigene Gruppe von anderen Gruppen abzugrenzen. Im Prozess der Sprachstandardisierung entsteht im Laufe der Zeit eine Varietät als die mythische, homogene Varietät oder die „Kultursprache“; in vielen Fällen wird sogar eine Varietät dazu „erkoren“. Dieser Prozess führt fast unweigerlich dazu, dass anderen Varietäten soziokulturelle Gültigkeit abgesprochen wird. Viel schlimmer aber ist die Tatsache, dass die Variabilität und Heterogenität der menschlichen Sprache im Bestreben geleugnet wird, die Sprache aus einer Sprache zu machen, d. h. im Bestreben, die einzig gültige, legitime Sprache der Gruppe (und nachher des Nationalstaates) zu konstruieren. Legitimität wird dann in Homogenität und Immutabilität verwandelt. Die mythische Konstruktion der Sprache führt zu negativen Wertvorstellungen anderer Sprachen oder Sprachvarietäten und auch derer, die der Sprache nicht mächtig sind. Mit anderen Worten fungiert sie als Prozess des Othering.
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6. Historische Linguistik, quo vadis? Im Titel dieses Beitrags wird eine neue Optik auf die Historische Linguistik versprochen und es ist wohl an der Zeit, dieses Versprechen einzulösen. Im Sinne von Mattheier (2010) und Deumert (2010) ist es nicht länger möglich, auf die theoretischen und methodologischen Prinzipien von Weinreich et al. (1968) zu verzichten und weiterhin auf die Geschichte einer Sprache zu beharren, wenn diese Sprache (im Falle des hiesigen Beitrags Englisch) als die einzig legitime Varietät betrachtet wird. Dies führt zu einer Betrachtungsweise des Sprachwandels, die ich als „funnel vision“ (‚Trichter-Perspektive‘) bezeichne (vgl. Watts 2011, Kap. 12), in der individuelle Sprachgeschichten als Geschichten der nationalen Standardsprachen zu Kosten aller anderen Varietäten konstruiert werden. Die TrichterPerspektive kann in der folgenden Abbildung metaphorisch als die Produktion eines edlen Sprach-Weins konzeptualisiert werden, die nach einer jahrhundertelangen Gärungs-, Beimischungs-, Anreicherungs- und Lagerungszeit zustande kommt:
Abb. 3: Die Trichter-Perspektive einer Sprachgeschichte
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Da es sich hier um „die englische Sprache“ handelt, dauerte dieser Prozess seit dem 5. Jh. Grundtraube der Weinsorte waren Varietäten des Angelsächsischen,13 und die Beimischungen waren im Laufe der langen Gärungs- und Anreicherungszeit Varietäten des Altnordischen, normannische Varietäten des Altfranzösischen und viele andere Traubensorten. Im Trichter hatte diese Mischung am Anfang des 18. Jahrhunderts den engen Hals erreicht und konnte sorgfältig in die Flasche hineingefiltert werden. Was diese Konzeptualisierung sabotiert, ist die Tatsache, dass der Trichter ziemlich löchrig war und viele Sprachsorten gar nie in den engen Hals hineinflossen, sondern irgendwo neben der Flasche landeten. Dazu gab es auch einen Filter von Metaphern, Mythen und Diskursen vom früheren 19. Jh. bis ins späte 20. Jh., der alle Unreinheiten herausfilterte. Man kann sich dies wie in Abb. 4 vorstellen.
Abb. 4: Die Trichter-Perspektive der Geschichte des „Englischen“ mit dem löchrigen Trichter und dem Diskursfilter
Eine Konzeptualisierung der englischen Sprachgeschichte wie in Abb. 4 zeigt, wie wenig Inhalt die Flasche wirklich haben kann. Sie macht
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es auch klar, dass andere Varietäten des „Englischen“ sträflich vernachlässigt worden sind und sie erleichtert die Auffassung, dass Standardisierung tatsächlich eine „Zombie“-Kategorie ist. Dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass die Standardsprache durchaus eine Berechtigung hat. Sie ist letzten Endes auch eine Varietät der jeweiligen Sprache, aber sie verdient einen anderen Forschungsansatz als den bisher üblichen. Gehen wir aber davon aus, dass die menschliche Sprachfähigkeit vor dem Herauskristallisieren von einzelnen Sprachvarietäten steht, so werden wir kaum Gelegenheit haben, solche Kommunikationsprozesse entstehender sozialer Praxis in vergangenen Zeiten zu beobachten. Historische Linguisten sind dazu gezwungen, mit schriftlichen Quellen zu arbeiten und diese sind auch selten in genügender Menge vorhanden. Trotz all dieser Schwierigkeiten sollten sich historische Linguisten aber immer die Reihenfolge „menschliche Sprachfähigkeit Ⱥ einzelne Sprachvarietäten“ als grundlegendes Prinzip ihrer Forschungstätigkeit ans Herz legen. Die wichtigste Erkenntnis für den historischen Linguisten des Englischen liegt aber im Diskursfilter, der über dem Schluss des engen Trichterhalses gesetzt wurde. Er besteht aus Sprachmythen, die in dominante, gesellschaftspolitische, klassenspezifische Diskurse über die englische Sprache gewoben sind. Eine wichtige Aufgabe für die Historische Linguistik der Zukunft soll es also sein, in jedem Fall, wo eine Verquickung des Nationalstaates und einer Standardsprache zum Vorschein kommt, eine genaue Untersuchung der Quellen dieser Mythen und der sozio-kulturellen Prozesse, durch die sie zu mächtigen Sprachdiskursen geworden sind, zu unternehmen. Für den Laien ist die Standardsprache eine ‚Realität‘, die aus einem immer noch lebendigen Diskursarchiv produziert wird. Sie ist keine „Zombie“-Kategorie. Dem Linguisten obliegt es, den Beweis zu erbringen, dass die Kategorie, wenn auch nicht ganz leer, trotzdem mit einem ganz anderen Inhalt gefüllt werden sollte. Zurück zum Beowulf. Am Anfang dieses Beitrags wurden drei Fragen aufgestellt: – Wie ist es möglich, dass die Argumente für eine spätere Datierung des Beowulf am Anfang des 11. Jh. immer noch abgelehnt werden? – Was geht durch die Akzeptanz dieser durchaus plausiblen Erklärung verloren? – Was sind die Konsequenzen für die Zukunft der Geschichte der englischen Sprache, wenn neue, gut fundierte Thesen in philologischen Kreisen nicht angenommen werden? Es ist jetzt auch an der Zeit, diese Fragen zu beantworten. Die Rezeption des Epos von 1837 bis in die 90er Jahre des letzten Jahrhunderts war derart mit der Suche nach einer Quelle des „Englischtums“ und der Berechtigung des theoretischen Konstrukts des englischen Nationalstaates be-
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schäftigt, dass zwei starke Mythen entstanden, der „Mythos der uralten Sprache“ und der „Mythos der ungebrochenen Tradition des Englischen“. Bei der Verschmelzung der Standardisierung mit der Idee des Nationalstaats wurden diese Mythen zu Wahrheiten und sie wurden operationalisiert, um einen hegemonialen Sprachdiskurs zu gestalten, in dem Englisch eine längere Geschichte als jede andere europäische Sprache erhielt. Eine Datierung im frühen 11. Jh. hätte dieses Vorhaben hingegen erheblich gestört, beispielsweise durch die Tatsache, dass das Hildebrandslied bis ins 9. Jh. datiert ist. Die zweite und dritte Frage wurden durch diesen Beitrag – hoffentlich – schon beantwortet.
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Paul Rössler
Die Grenzen der Grenzen. Sprachgeschichtsperiodisierung zwischen Forschung und Lehre
1. Aktuelle Periodisierungsvorschläge Rund um die zeitliche und kriterielle Einordnung des Neuhochdeutschen ist die Periodisierungsdebatte in der germanistischen Sprachgeschichtsforschung in den letzten Jahren neu entbrannt.1 Dabei geht es vor allem um die Bewertung dessen, was vielfach in der Forschung und vor allem in der akademischen Lehre als Gegenwartssprache bezeichnet wird, innerhalb (oder außerhalb) des Neuhochdeutschen und darum, nach welchen sprachsysteminternen und sprachgebrauchsinternen sowie sprachexternen Merkmalen eine Epochenbegrenzung gerechtfertigt erscheint. Bär (2000: 29–32) setzt mit der Mitte des 20. Jh. eine vom Neuhochdeutschen begrifflich und vor allem nach außersprachlichen Merkmalen zu trennende Sprachepoche an und schlägt den Terminus „E-Hochdeutsch“ vor. Er begründet die Wahl der Variable E mit einer seit ca. 1950 „[…] in vielen Bereichen egalitären, engagierten und emanzipierten Gesellschaft“ (Bär 2000: 31), die ein durch die elektronische Kommunikation und durch den Einfluss des Englischen geprägtes Deutsch im Kontext der europäischen Einigung spreche. Für Ernst (2007) ist der Einfluss der Sprachnormen seit dem späten 19. Jh. salient. Er plädiert für den Begriff „Normdeutsch“ ab etwa 1875, weil [m]it der Herausbildung einer kodifizierten Norm im Deutschen […] sich die sprachlichen Varietäten [verlagern], und dies bleibt nicht ohne Folge für die diachrone Linguistik. So könnte man sagen, dass mit einer deutschen Norm andere Beschreibungskriterien als die der historischen Dialektologie angewandt werden müssen, es also zu einem ‚Paradigmenwechsel‘ kommt. (Ernst 2007: 68)
1
Vgl. Bär (2000), Hupka (2001), Ernst (2007), Schmidt (2007), Elspaß (2008), Rössler (2008).
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Elspaß (2008: 4, 13) beurteilt Bärs und Ernsts Periodisierungsvorschläge kritisch. In seiner Datierung ähnlich wie Bär (2000), in Terminologie und Begründung dafür aber deutlich different, plädiert Elspaß (2008: 2, 3) für eine Umbenennung der seit Wilhelm Scherer tradierten Epoche des Neuhochdeutschen in „Mittelneuhochdeutsch“, die um 1950 vom Gegenwartsdeutsch abgelöst werde. Für die Periodengrenzen von ca. 1650 bis ca. 1950 sei […] ein sachgerechter und für sprachhistorische Untersuchungen beschreibbarer Zeitraum erfasst sowie mit „Mittelneuhochdeutsch“ eine zutreffende, griffige und in bisherige Benennungsschemata sich einfügende Bezeichnung für diese Periode gefunden. (Elspaß 2008: 16)
2. Ontik und Hermeneutik So unterschiedlich die Periodisierungsvorschläge im Einzelnen sind, so besteht doch Konsens darin, dass „[j]ede Sprachperiodisierung und jede Epoche […] ein Konstrukt“ (Elspaß 2008: 16) ist. Diejenigen, die über Sprachepochengrenzen und -merkmale debattieren und diese so gleichermaßen konstruieren, eint ein philosophisch-hermeneutisches Geschichtsverständnis, das sich von einer positivistischen Vorstellung einer ‚objektiven‘ Historizität abhebt. Gerade die Tatsache, dass innerhalb weniger Jahre über dasselbe Objekt Sprache vom 19. bis 21. Jahrhundert so differente Interpretationen vorliegen, beweist den konstruktivistischen Charakter der Sprachgeschichtsperiodisierung. Sprachgeschichtsforschung kann hier als Teil der Geschichtsforschung aufgefasst werden. Sprachgeschichtsforschung ist aber auch gleichzeitig Teil der Geschichte: Das Verstehen von Geschichte gehört selbst zur Geschichte dank der Wirkung von Tradition; jedes Verstehen kann das zu Verstehende verändern, gehört zu seiner Wirkungsgeschichte. Das Objekt ‚Geschichte‘ ist nicht positivistisch vorgegeben, sondern konstituiert sich aus Verstehen (Gadamer [1958]) und aus Erkenntnisinteressen (Habermas 1968). (von Polenz 1991: 19–20)
Freilich darf dieser philosophisch-hermeneutische Geschichtsbegriff nicht zu einem beliebigen Geschichtsrelativismus führen. Im sprachhistorischen Zusammenhang bedeutet dies, dass Sprache in ihrer Historizität objektiv, d. h. als Objekt durchaus faktisch ist. Ihre Interpretation, d. h. die (subjektive) Deutung ist es nicht. Die Schwierigkeit besteht darin, dass wir uns nie anders als interpretierend dem Objekt der historischen Sprache nähern
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können. Die Herausforderung für Sprachhistoriker2 ist es, sich nicht nur auf die Beschreibung dessen zu konzentrieren, was sich nicht mehr ändert, also auf die sprachhistorischen Gegebenheiten, sondern darüber hinaus zu reflektieren, wie das Gegebene in den Griff zu bekommen ist. Paradox ist, dass, obwohl es feststeht, das historische Objekt Sprache schwer greifbar ist. Die Sprache, mit der sich die Sprachhistoriker beschäftigen, ist Geschichte im doppelten Sinne: unveränderlich, weil vergangen, in ihrer ontischen Dimension; veränderbar, weil Konstrukt, in ihrer hermeneutischen Dimension. Als narratives Dispositiv wird sie von ihrem Ende her erzählt. Als solches hat Sprache auch Anfang, Mitte, dramatische Brüche usw. Sie hat einen Verlauf. Die Akteure, also die Sprecher (und Schreiber) in der Geschichte, nehmen die Kapitel der Sprachgeschichte kaum bis gar nicht wahr.3 Das darf nicht überraschen, existieren diese Kapitel ontisch doch gar nicht. Erst nachträglich werden sie von den Sprachhistorikern, gleichsam den Erzählern dieser Geschichte, gesetzt. Ordnen und zuordnen bedeutet für Sprachhistoriker, wie sie die sich ständig verändernde Sprache in zeitliche Abschnitte gliedern können. Ordnen und Zuordnen in einem zeitbezüglichen Koordinatensystem ist Periodisieren. Wirkungs- und rezeptionsgeschichtlich ist dabei nicht unbedingt diejenige Erzählung der Sprachgeschichte am erfolgreichsten, die in ihrer Kapitelgliederung, d. h. in ihrer Periodisierung der sprachgeschichtlichen Ontik am nächsten kommt. Hermeneutisch muss die Periodisierungsgeschichte klar von der Sprachgeschichte selbst unterschieden werden, so wie die Geschichte der Periodisierungen von den Periodisierungsvorschlägen zu trennen ist. Während die Sprachgeschichte eo ipso als abgeschlossenes, ontisches datum statisch ist, dynamisiert sich die Erzählung davon immer wieder von Neuem, werden doch Periodisierungen immer wieder mit unterschiedlichen Gewichtungen vorgenommen. Die Vertreter der sprachhistorischen Zunft stehen dabei vor einem Paradoxon: Einerseits nimmt in den letzten Jahrzehnten allgemein das Bedürfnis nach Taxonomierung und Hierarchisierung aller Lebens- und Wissensbereiche zu. Selbst die institutionelle Sprachwissenschaft kann sich diesem Trend nicht entziehen, wie die (von Sprachwissenschaftlern
2 3
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden auf die Nennung beider Geschlechter verzichtet. Gemeint sind aber natürlich stets Sprachhistoriker und Sprachhistorikerinnen, Forscher und Forscherinnen, Linguisten und Linguistinnen etc. Über die begriffliche und inhaltliche Differenzierung von Intentionalität, Planung und Bewusstsein sprachlichen Wandels in Bezug auf einzelne Sprecher vgl. Keller (2003: 25–29).
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initiierte) Wahl der Wörter und Unwörter des Jahres4 und die zahllosen Uni-Rankings zeigen. Kaum ein Institut, das nicht, wenn es in einem Ranking gut abschneidet, dieses auch auf Pinnwänden und in den Gängen mit gewissem Stolz herzeigt und damit nicht nur sich selbst, sondern auch das betreffende Ranking legitimiert. Alle Rankings sind dem Bedürfnis nach Ordnung im Chaos geschuldet, die immer ein Prinzip voraussetzt: Vergleichbarkeit. Der Vergleich ist ein der Wissenschaft seit je vertrautes Verfahren. Besonders in der empirischen Wissenschaftstradition stellen Erkennen, Ordnen und Zuordnen basale methodische Werkzeuge dar. Die omnipräsente Kanonisierung in Form von Rankings scheint insofern eine Spielart der Verwissenschaftlichung des Alltags zu sein.5 Die meisten Kanonisierungen sind allerdings popularisierte Versionen wissenschaftlicher Forschung. Die nichtwissenschaftliche Öffentlichkeit kann so Gefahr laufen, einen falschen, simplifizierten Eindruck wissenschaftlicher Arbeit und Methodik zu erhalten und dementsprechend der Komplexität von Sachverhalten und Problemen nicht adäquate Lösungen zu erwarten. Andererseits – um auf das erwähnte Paradoxon zurückzukommen – führt die omnipräsente und Vergleichbarkeit voraussetzende Kanonisierung dazu, dass auch schwer bis Unvergleichbares miteinander verglichen wird.
3. Das Dilemma der Kriterienwahl Sprachhistoriker sind mit dieser Inkommensurabilität konfrontiert, wenn sie Sprachgeschichte periodisieren und dabei bestimmte, aus ihrer Sicht für die Sprachepoche charakteristische Kriterien wählen. Die vor allem seit Beginn des 19. Jh. bis heute geführte Periodisierungsdebatte zur deutschen Sprachgeschichte ist geprägt von sprachwandeltheoretischen Positionen, die entweder auf innersprachlichen oder außersprachlichen Kriterien oder meist auf einer Mischung von beiden fußen. Reichmann (1992: 196) listet an für die Periodisierung besonders relevanten außersprachlichen Kriterien folgende auf: den sozialen Status der Träger der einzelnen Varietäten, die jeweils führende Dynastie, Religion, Bildungsgeschichte, relevante Erfindungen und geistesgeschichtliche Wen4
5
So sind in der Jury des ‚Österreichischen Worts des Jahres‘ ausschließlich Mitglieder philologischer Institute der Universität Graz vertreten, vgl. http://www-oedt.kfunigraz.ac.at/ oewort/0Allgem/Jury/jury.htm. Deutschlands jeweiliges ‚Wort des Jahres‘ wird durch den Hauptvorstand und die Mitarbeiter der Gesellschaft für deutsche Sprache gewählt. Dabei handelt es sich großteils ebenfalls um Linguisten mit universitärem Hintergrund, vgl. http://www.gfds.de/wir-ueber-uns/hauptvorstand/. Zur Kanonisierung im germanistischen Kontext allgemein vgl. Struger (2008), zur Ranking-Liste als Kanon vgl. Schacherreiter (2008).
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depunkte. Roelcke (1995: 338) fasst die außersprachlichen Kriterien mit den Stichwörtern Medien, Kultur, Sprachreflexion, Gesellschaftsgeschichte, Sprachträger, Herrschaftsgeschichte, einzelne Personen und einzelne historische Ereignisse zusammen. Diese Liste kann je nach Epoche und gesellschaftlicher Entwicklung erweitert werden und stellt kein geschlossenes Kriterienbündel dar. An innersprachlichen Kriterien für die Periodisierung finden sich Varietäten, Lautung, Schreibung, Morphologie, Syntax, Wortschatz, Text, Textüberlieferung, Stil, Verbreitung, System, Interferenz und die Entwicklungsgeschwindigkeit (Roelcke 1995: 338). Hupka (2001: 877–878), Schmidt (2007: 17) und Elspaß (2008: 4–6) weisen auf die Notwendigkeit einer weiteren Unterteilung der innersprachlichen Kriterien hin, indem sie zwischen sprachstrukturellen und sprachgebrauchsorientierten Faktoren mit unterschiedlichen Benennungen differenzieren. So betont z. B. Elspaß: Sprachstrukturelle Entwicklungen allein stellen kein hinreichendes Kriterium für Periodengrenzen dar, weil hier nicht mit abruptem Sprachwandel zu rechnen ist. Im Gegenteil, für die Grammatik etwa zeigt sich gerade in konzeptionell mündlicher Hinsicht immer deutlicher eine ausgesprochene historische Kontinuität. […] Im Zuge der pragmatischen Wende, die mit Verspätung auch die Sprachgeschichtsforschung erreichte, […] sind soziolinguistische und pragmalinguistische Kriterien in die Diskussion gebracht worden. Hier handelt es sich also wieder um (inner)sprachliche Kriterien, allerdings eben nicht um sprachstrukturell relevante. Vielmehr zielen solche Kriterien direkt auf Sprachgebrauchsgeschichte, Sprachmentalitätsgeschichte bzw. in einem weiteren Sinn auf Sprachgeschichte als Kulturgeschichte. (Elspaß 2008: 5)
Welche außersprachlichen, sprachstrukturellen oder sprachgebrauchsorientierten Kriterien ein Sprachhistoriker auswählt, hängt nicht nur vom sprachwandeltheoretischen Standpunkt ab, der explizit vertreten wird oder, wie meist im 18. und 19. Jh., implizit mitgedacht ist, ohne benannt zu werden, sondern die Kriterienauswahl bestimmt auch wesentlich Benennungen und Datierungen der Sprachperioden (vgl. Cherubim 1975: 7– 51). Wie schon am Beispiel der sog. Gegenwartssprache und am Neuhochdeutschen eingangs gezeigt, können diese sich sehr voneinander unterscheiden.
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4. Die Entdeckung des Frühneuhochdeutschen Der vorliegende Beitrag konzentriert sich nicht auf den zeitlichen Endrand des Neuhochdeutschen, sondern auf dessen Anfang und somit auf die germanistische Debatte im 19. Jh. um das Frühneuhochdeutsche als eigenständige Sprachperiode.6 Am Anfang des Jahrhunderts ging Jacob Grimm in der ersten Auflage der Deutschen Grammatik von einer Dreigliederung der deutschen Sprachgeschichte in Althochdeutsch, Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch aus. Schon in der zweiten Auflage wenige Jahre danach (1822) relativiert er seine ursprüngliche Trias: Zwischen meiner darstellung des mittel- und neuhochdeutschen wird eine lücke empfindlich seyn; mannigfaltige übergänge und abstufungen hätten sich aus den schriften des vierzehnten so wie der drei folgenden jahrhunderte sammeln und erläutern laßen […]. (Grimm 1822: 10)
Dennoch sieht Grimm die Phase zwischen der mittelhochdeutschen und der neuhochdeutschen Periode als Übergang und nicht als eigenständige Periode an. Der Zeit vom 14. bis zum 17. Jh. gibt erst einige Jahrzehnte später Wilhelm Scherer einen eigenen Namen. Er nennt sie „Uebergangsoder frühneuhochdeutsche Zeit“ (Scherer 1890: 12) und etabliert sie als eigenständige Epoche zwischen dem Mittelhochdeutschen und dem Neuhochdeutschen. Scherer betont mit der Namengebung aber auch die Nähe des Frühneuhochdeutschen zum Neuhochdeutschen hinsichtlich der Periodisierungskriterien. Trotz der unterschiedlichen sprachwandeltheoretischen Auffassungen und der unterschiedlichen Gewichtung des Frühneuhochdeutschen verbindet Grimm und Scherer die Ablehnung einer Begrenzung sprachgeschichtlicher Perioden oder Übergangsphasen durch punktuelle Datierungen. Grimm beschränkt sich darauf, die Sprachperioden in Jahrhunderten anzugeben. Scherer datiert aus praktischmethodischen Gründen dennoch punktuell und nennt einzelne Jahreszahlen (vgl. Grimm 1822: 10–16, Scherer 1890: 10).
5. 300 – Scherer revisited Dass Scherers Modell insbesondere in lehrorientierten Sprachgeschichten bis heute übernommen wird, liegt vermutlich gerade darin, dass er konkrete Jahreszahlen nennt und vor allem darin, dass diese zu einer leicht merkbaren Periodisierung in Epochen von jeweils 300 Jahren führt. Auch 6
Im Kontext der Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte als Phänomen der Kanonbildung wurden Teile dieses Beitrags bereits in Rössler (2008) veröffentlicht.
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Elspaß (2008) greift Scherers Modell mit dessen lernpragmatischem Vorteil auf: „Man kann sich diese Einteilung deshalb gut merken, weil sie jeweils 300 Jahre in eine Sprachperiode fasst“ (Elspaß 2008: 2). Dieser auf das mnemotechnisch günstige Gleichmaß der Sprachperioden gerichtete Fokus führt folgerichtig zu einer Neubestimmung des Neuhochdeutschen um 1950. Elspaß (2008: 2–3) plädiert mit vor allem sprachgebrauchsinternen und sprachexternen Argumenten für eine Umbenennung des Neuhochdeutschen in „Mittelneuhochdeutsch“ und ab etwa 1950 in „Gegenwartsdeutsch“, während Ernst (2007) die Scherer’sche Periodisierung der 300-Jahr-Schritte aufbricht und dem Primat der (Jahres-)Zahl grundsätzlich skeptisch gegenübersteht: Man darf nicht zuerst eine Grenze festlegen und dann nach ihrer Begründung fragen, sondern muss die umgekehrte Methode wählen: Zuerst müssen die sprachlichen Fakten sondiert und beurteilt werden, und erst dann kann über eine Epocheneinteilung diskutiert werden. (Ernst 2007: 61)
Gemeinsam ist Ernst (2007), Elspaß (2008) sowie allen Periodisierungsvorschlägen der jüngeren Zeit nach dem pragmatic turn in der Linguistik der geschärfte Blick auf sprachexterne sowie sprachgebrauchsinterne Kriterien gegenüber dem Scherer’schen Modell, das sprachsystemintern geprägt ist. Die auf „soziopragmatische[n] Theorien des Sprachwandels“ (Polenz 1991: 28) fußenden jüngeren Periodisierungsvorschläge ähneln – trotz der oben gezeigten Debatten – in der akademischen Lehre überraschenderweise meist sehr jenen Scherers. Obwohl manche Forscher wie z. B. Wolf (1989) in dieser überraschenden Datierungsähnlichkeit trotz unterschiedlicher Merkmalausrichtung nur ein Scheinproblem sehen, weil „[…] die sprachexternen historischen Phänomene […] eben nur indirekt mit der Sprachgeschichte zusammen[hängen], [a]ndererseits […] die Sprache als System nicht für sich, sondern für die Menschen einer Sprachgemeinschaft [existiert]“ (Wolf 1989: 122), bleibt ein methodisches Problem bestehen. Die kriterienkombinierten Periodisierungsvorschläge müssen nämlich ihre Periodisierungen nach den einzelnen Kriterien dieser Kombination abgleichen. Die Grenzen einer Periode, definiert durch ein innersprachliches Kriterium, müssen keineswegs mit jenen eines außersprachlichen oder sprachgebrauchsorientierten Kriteriums übereinstimmen. Auch innerhalb innersprachlicher Kriterien kann es zu großen Unterschieden in den Periodengrenzen kommen. Diese Schieflage in kriterienkombinierten Periodisierungen führt vor allem bei lehrorientierten Sprachgeschichten dazu, die Datierungen aufgrund der Einzelkriterien in der Synopsis der Periodisierung nicht mehr oder zumindest nicht gebührend zu berücksichtigen. Anstatt dessen greift man auf Bewährtes, d. h. in der Periodisie-
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rungsliteratur bereits Etabliertes zurück und passt an die Scherer’sche Gliederung an: Angesichts der genannten Unsicherheit hinsichtlich der einzelnen Kriterien und Merkmale ist es kaum verwunderlich, daß ein solcher Abgleich in der Regel weniger sprachgeschichtlichen Gegebenheiten als vielmehr periodisierungsgeschichtlichen Vorgaben folgt. (Roelcke 1995: 482)
6. Ein neuer Vorschlag zur Periodisierung: das ‚Dachfonds‘-Prinzip Ein Abgleich anderer Art wird im Folgenden vorgeschlagen. Dieser unterscheidet sich von den bisherigen Periodisierungsvorschlägen insofern, als er sich auf einen neuen methodischen Zugang beschränkt und keine konkrete Datierung vorschlägt. Diese könnte allerdings ohne Weiteres aus der Methode deduziert werden. Gleichzeitig bedient sich dieser methodische Vorschlag der bereits vorhandenen Periodisierungsmodelle. Betont sei, dass sich die hier vorgestellte Methode ausschließlich für lehrinduzierte Sprachgeschichten eignet und keineswegs die Bemühungen um eine Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte auf der Basis einzelmerkmalorientierter Forschungen ersetzen kann. Es geht um eine Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte nach einer Art ‚Dachfonds-Prinzip‘. Der Terminus Dachfonds stammt aus dem Finanzwesen (vgl. Weber 2004: 53, 127). Bei einem Dachfonds bzw. engl. fund of funds handelt es sich um einen speziellen Typ eines Investmentfonds, der das Geld des Anlegers in Anteilen von mehreren Investmentfonds veranlagt. Dabei stehen den Fondsmanagern alle Investmentfonds offen, die nicht selbst Dachfonds sind, um sog. Kaskadeneffekte zu vermeiden. Durch die Dachfonds-Konstruktion kann der Fondsmanager des Dachfonds die einzelnen abzudeckenden Marktsegmente mit den jeweils attraktivsten Fonds belegen. In dieser Weise kann praktisch jedes Rendite-Risiko-Profil dargestellt werden. Für den Investor besteht der Vorteil in einem breit diversifizierten und aktiv gemanagten Portfolio. Dabei kann nicht nur über einzelne Wertpapiere gestreut werden, sondern auch über verschiedene Fondsmanager und Fondsgesellschaften. Wichtig für diesen Diversifikationsaspekt ist allerdings einerseits die Unabhängigkeit des Dachfondsmanagements, sodass sicher gestellt ist, dass nicht verstärkt Fonds eines bestimmten Hauses berücksichtigt werden. (Wilske 2010)
Die breite Diversifikation des Dachfonds kann dazu genutzt werden, das Investitionsrisiko gegenüber einer Investition in nur einen Fonds zu verringern. Das Fondsprinzip selbst beruht schon auf der Verteilung von
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Investitionsrisiken, weil ein Fonds schon unterschiedliche Anlageformen in sich vereint. Ein Dachfonds bietet den Vorteil, mögliche Verluste einzelner Fonds, ganz zu schweigen von Aktien innerhalb eines Fonds, abzufedern und durch die Renditen der anderen Fonds auszugleichen. Er hat aber auch den Nachteil, sehr hohe Gewinne einzelner Aktien oder Fonds durch die breite Diversifikation ebenfalls auszugleichen und damit die Gesamtrendite zu verringern. Das Diversifikationsprinzip des Dachfonds auf die lehrorientierten sprachgeschichtlichen Periodisierungen zu übertragen bedeutet, die Periodisierungsvorschläge zur deutschen Sprachgeschichte als Fonds zu betrachten. Die Periodisierungen entsprechen insofern schon dem Fondsprinzip, als sie bereits basierend auf einer Auswahl von sprachgeschichtlichen Kriterien eine Periodisierung vornehmen. Das ‚Investitionsrisiko‘, im übertragenen Sinne also die Nähe zur sprachgeschichtlichen Ontik, ist in der einzelnen Interpretation, d. h. in der einzelnen Publikation, relativ hoch. Manche davon erzielen hohe Gewinne, sind also mit ihren Interpretationen und darauf aufbauenden Periodisierungsvorschlägen sehr nahe an den sprachhistorischen Gegebenheiten. Andere hingegen machen Verlust, weisen also einen hohen Grad an Fehlinterpretation auf. Die jeweilige sprachtheoretische Position wird die Meinung über Nähe und Distanz zur sprachhistorischen Ontik bestimmen. Die Schlussfolgerung über den Wert einer Periodisierung wird so immer durch die Brille der vertretenen sprachhistorischen Theorie gefiltert. Wenn man nun die risikobehafteten Periodisierungsvorschläge einzelner Forscher übereinander legt, somit die Zahl der Periodisierungen maximiert und ihren Durchschnittswert errechnet, minimiert man das Risiko einer krassen Fehleinschätzung der Periodisierung. Die teilweise sehr unterschiedlichen Zugänge zur Periodisierung könnten mit dem ‚Dachfonds‘-Prinzip ausgeglichen werden, indem auf einer methodischen Metaebene eine möglichst große Zahl an außersprachlichen, systeminternen und Sprachgebrauchskriterien zur Periodisierung miteinbezogen wird. Zwar führt diese Meta-Periodisierung nicht zwangsläufig zur größten Übereinstimmung mit den sprachhistorischen Gegebenheiten, sie minimiert aber die Gefahr der Fehleinschätzung in der Periodisierung. Die hier vorgeschlagene Periodisierungsmethode der deutschen Sprachgeschichte auf der Basis der vorliegenden Periodisierungen hätte zwei Vorteile: 1. Sie ist im Arbeitsaufwand bewältigbar, wenn man sie mit einem neuen Großprojekt vergleicht, das wieder beginnend von der Interpretation der sprachhistorischen Gegebenheiten selbst ausgehen müsste. 2. Sie könnte einen konkreten Periodisierungsvorschlag liefern, der nicht dem annalistischen Prinzip der 300-Jahr-Schritte folgt, wie dies die meisten bisherigen lehrorientierten Periodisierungen
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tun, sondern sie könnte ohne großen Aufwand die Ergebnisse spezieller Forschungen zur Periodisierung miteinbeziehen. Die vorgeschlagene Periodisierungsmethode eignet sich vor allem für den lehrorientierten Bereich, weil sie zu konkreten Jahreszahlen bzw. zumindest angenäherten Jahreswerten und auch konkreten Begrenzungen von Übergangszeiträumen führt. Das ist mnemotechnisch leicht verwertbar und damit in der universitären Lehre des Grundstudiums gut umsetzbar. Die gesammelten Periodisierungsvorschläge von Roelcke (1995) würden sich als Arbeitsgrundlage gut eignen. Selbstverständlich erspart diese Methode nicht die weitere Erforschung der sprachhistorischen Gegebenheiten in den unterschiedlichen Subsystemen und die Erforschung der historischen Gegebenheiten, die auf die Sprachsystem- und Sprachgebrauchsgeschichte einwirken. Dass dieser Erkenntnisgewinn stets prozesshaft ist im Gegensatz zur sprachlichen Ontik, die – wenn historisch – abgeschlossen und als solche unveränderbar ist, versteht sich von selbst.
7. Periodisierung und Institution Als hermeneutische Methode erscheint die Periodisierung der Sprachgeschichte janusköpfig. Periodisierung ist auf Beschreibungsverfahren sprachgeschichtlicher Gegebenheiten angewiesen, die ihrerseits in einer hermeneutischen Tradition stehen. Indem sie auf Daten, die von der jeweiligen hermeneutischen Vorgehensweise abhängig sind, aufbauen muss, ist sie Objekt im hermeneutischen Prozess. Periodisierung wird aber nicht nur gestaltet, sondern sie gestaltet Wissen selbst. In diesem Sinne ist sie Subjekt, weil sie als Interpretationsverfahren ein hermeneutisches Konstrukt darstellt, das nicht mit der sprachhistorischen Ontik per se zu verwechseln ist. Auf diesen konstruktivistischen Charakter der Periodisierung haben schon Schmidt (1969), Sonderegger (1979) und Schildt (1990) hingewiesen. Besonders Wolf (1971) hebt dieses konstruktivistische Moment in der Hermeneutik der Periodisierung hervor: Jede Periodisierung ist ein künstliches Gebilde, das von der Wissenschaft als ein Akt ‚intellektueller Selbsterhaltung‘ geschaffen wird. Das gilt auch für die zeitliche Gliederung, die Aufteilung der Gesamtentwicklung in gewisse, in sich abgeschlossene Abschnitte lebender Sprachen […]. (Wolf 1971: 79)
Die Periodisierung als künstliches Gebilde wirft nun sowohl hermeneutische als auch wissenschaftssoziologische Fragen auf: Wessen Interpretation sprachhistorischer Ontik ist stringenter im Vergleich zu anderen und warum? Wessen Schlussfolgerungen für die Periodisierung sind konsistenter als die anderer? Wessen Interpretation der Sprachgeschichte wird wa-
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rum intensiv rezipiert und warum fallen die Periodisierungen anderer durch den Rost sprachwissenschaftlicher Rezeptionsgeschichte? Konkret bezogen auf die Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte stellt sich die Frage, warum das immerhin 120 Jahre alte Modell Scherers die sprachhistorische Rezeption bis heute prägt und warum alternative Periodisierungsmodelle, die in Details und Schwerpunktsetzungen auf bestimmte sprachliche Subsysteme ganz andere Ergebnisse hervorbringen, dennoch um Akkordanz mit dem Schererތschen Modell bemüht sind? Kommt es hier trotz der forschungsgeschichtlich jüngeren Ergebnisse in der Beschreibung der sprachhistorischen Ontik und deren Interpretation in der Periodisierung, die eine konsequente Induktion aus den Ergebnissen sein sollte, zu einer stillen Anpassung an das Scherer’sche Modell? Ist diese stille Anpassung nicht nur Folge der intensiven Rezeption Scherers, sondern darüber hinaus Emanat einer längst etablierten institutionellen Gliederung des Faches, die auf der Scherer’schen Periodisierung beruht? Die Dynamik wissenschaftssoziologischer Prozesse lässt sich hier daran erkennen, dass ein hermeneutisches Konstrukt bei – aus unterschiedlichen Gründen – erfolgreicher und intensiver Rezeption wissenschaftliche Institutionen generiert, die zur Bewahrung ihrer selbst tendieren, selbst wenn neuere Hermeneutiken ältere widerlegen. Der hermeneutischen Dynamik steht die institutionelle Statik gegenüber. Periodisierungen generieren in diesem Sinne nicht nur sprachgeschichtliche Epochen und ihre Grenzen, sie generieren auch sprachwissenschaftliche Teilbereiche selbst und die Institutionen, die diese verwalten. Schließlich sind es mitunter die Periodisierungen, die die Grundlage der Unterscheidung verschiedener funktionaler, wirtschaftlicher und rechtlicher Einheiten im Hochschulbetrieb bilden. Die zentrale Frage des vorliegenden Tagungsbandes, wohin die Historische Sprachwissenschaft steuert, sollte nicht nur als eine Frage nach neuen Forschungsmethoden und -bereichen verstanden werden, sondern ebenso als eine nach der institutionellen Verankerung bzw. Neuorientierung im Forschungs- und Lehrbereich. Der Status der Historischen Sprachwissenschaft innerhalb der nationalen Philologien mag sehr unterschiedlich sein. Die Historische Linguistik innerhalb der Germanistik ist hier freilich nur ein Beispiel; ein Beispiel allerdings, das in Bezug auf die institutionelle Verankerung im Lehrbetrieb im Rahmen des BolognaProzesses wenig optimistisch stimmt.7 7
So wurde im Rahmen der Umstellung des alten vierjährigen Magisterstudiums auf das neue dreijährige Bachelorstudium in vielen Studienplänen der Anteil von Lehrveranstaltungen mit sprachhistorischem Inhalt auf unterschiedliche Art verringert: an der Germanistik der Universität Wien z. B. dadurch, dass in der Studieneingangsphase keine parallelen Konversatorien mit überschaubaren Kursteilnehmerzahlen mehr abgehalten werden, sondern eine
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Paul Rössler
Die Germanistikinstitute an den deutschsprachigen Universitäten weisen derzeit meist eine institutionelle Dreigliederung in neuere Sprachwissenschaft, neuere Literaturwissenschaft sowie ältere Sprach- und Literaturwissenschaft (Mediävistik) auf. Ein akkurater Blick lässt hier terminologische und institutionelle Unschärfen erkennen: Die Adjektive neuere und ältere setzen verknappend und zugleich falsch das Forschungsobjekt mit dem Forschungsstand in eins. Eine neuere Sprachwissenschaft, die sich mit den älteren Perioden der deutschen Sprachgeschichte beschäftigte, gäbe es gemäß diesem terminologischen Zusammenfall gar nicht. Problematisch sind auch die Adjektive in ihrer komparativen Verwendung. Sie euphemisieren nicht wie etwa bei der Rede von „unseren älteren Mitbürgern“ und sie steigern nicht. Eine ‚neue‘ Sprachwissenschaft existiert weder terminologisch noch institutionell, genauso wenig wie eine ‚alte‘. Der Komparativ ermöglicht hier, die definitorische Abgrenzung zu umgehen. In der Literaturwissenschaft ist dies nicht so gravierend, weil man sich weitgehend einig ist, dass die ältere Literatur mit dem Mittelalter endet und die neuere unmittelbar danach beginnt. In der Sprachwissenschaft fehlt dieser Konsens. Unklar ist schon, ob sich jemand, der ‚neuere‘ Sprachwissenschaft treibt, ausschließlich mit der Sprache des 20. Jh. beschäftigt oder gar nur mit der Gegenwartssprache, bei der ebenfalls unklar bleibt, wann sie genau beginnt.8 Unklar bleibt aber auch, wie weit die ältere Sprachwissenschaft reicht. Zwar besteht Konsens darüber, dass das Althochdeutsche und das Mittelhochdeutsche zur älteren Sprachwissenschaft gehören, aber eine konsensuelle Zuordnung des Frühneuhochdeutschen fehlt. Hinter der Vagheit des adjektivischen Komparativs scheint sich eine institutionelle Absicht zu verbergen, die das Frühneuhochdeutsche in der universitären Lehre zum Appendix des Mittelhochdeutschen degradiert. Das Althochdeutsche ist von diesen Erosionen der universitären Lehrarchitektur ebenfalls hochgradig betroffen. Der institutionellen Vernachlässigung im Lehrangebot steht die Intensivierung in der Forschung besonders hinsichtlich des Frühneuhochdeutschen und des Neuhochdeutschen des 19. Jh. in den letzten Jahren gegenüber. Hier hat der pragmatic turn auch in der Historiolinguistik wenn nicht zu einem Paradigmenwechsel, so zu einer Paradigmenerweiterung der Frühneu-
8
einführende Massenvorlesung. Die Betreuungsqualität des/r einzelnen Studierenden verschlechtert sich dadurch zwangsläufig zugunsten geringeren Finanzierungsaufwands. Im bayerischen Bildungssystem gibt es Überlegungen, die Sprachgeschichte aus dem Prüfungskanon der Staatsexamen zu nehmen, was zur Folge hätte, dass angehende Gymnasial- und Realschullehrer für diesen Teilbereich der Sprachwissenschaft weniger Fachkompetenz hätten und à la longue Sprachgeschichte aus den Lehrplänen der Mittelschulen fiele. Vgl. Abschnitt 1 ‚Aktuelle Periodisierungsvorschläge‘.
Sprachperiodisierung zwischen Forschung und Lehre
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hochdeutschforschung und der Forschung zum Neuhochdeutschen des 19. Jh. geführt. Das Auseinanderdriften von Forschung und Lehre in der Historiolinguistik suspendiert auch das Humboldtތsche Hochschulparadigma der Verbindung von Forschung und Lehre. Zum Schluss sei eine pathetische Metapher erlaubt: Darüber, dass die Historische Sprachwissenschaft als Forschungsschiff in neue, teils noch unbekannte Meere steuert und dabei, wie schon zu Humboldts Zeit, mit neuen Erkenntnissen immer wieder heimkehren wird, besteht wohl kein Zweifel. Dass die Historische Sprachwissenschaft als Lehr- und Unterrichtsschiff angesichts der institutionellen Untiefen und Riffe des Bolognamodells auf Grund zu gehen droht, sollte jedoch zu denken geben.
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Paul Rössler
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Paul Rössler
Hiroyuki Takada
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Eine sprachbewusstseinsgeschichtliche Annäherung an einen Schlüsselbegriff zwischen historischer Nähe- und Distanzsprache1
1. Zielsetzung Die Sprachgeschichte konstituiert sich nach Gardt (1996) aus drei Größen, „der Geschichte des Sprachsystems, der Geschichte der Sprachverwendung [...] und der Geschichte der Reflexion über Sprache“ (Gardt 1996: 92). Indem man sprachreflexive Äußerungen unter dem Begriff Sprachbewusstsein als „Sammelbezeichnung für die Gesamtheit des metasprachlichen Wissens“ (Scharloth 2005: 19) zusammenfasst, lässt sich behaupten, dass jede sprachgeschichtliche Fragestellung eine sprachbewusstseinsgeschichtliche Perspektive einschließt. Das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit konzentriert sich auf die Korrelation von Sprachgeschichte und Sprachbewusstsein in Bezug auf die Herausbildung des Konzepts von „Umgangssprache“ in der zweiten Hälfte des 18. Jh. Der Begriff der Umgangssprache ist heute recht schillernd. Es fehlt „noch immer an einer hinreichend präzisen Gegenstandsbestimmung, ganz zu schweigen von Gesamtdarstellungen deutscher Umgangssprache(n) in system- und soziolinguistischer Hinsicht“ (Munske 1983: 1002). Wir haben „keinen einheitlichen Begriff ‚Umgangssprache‘“ (Bichel 1973: 55f., 378). Analog zum Begriff Satz, der „bis tief in die Wissenschaften hinein undefiniert“ bleibt (Bühler 1965: 356), ist Umgangssprache mit dem 2 Terminus von Karl Bühler ein „synchytisch“ angelegter Begriff (vgl. Bichel 1973: 377). Nach Paul (2002: 1051, vgl. auch Henne 1988) lassen 1 2
Für die Durchsicht meines Manuskripts sowie wertvolle Hinweise danke ich Herrn Prof. Dr. Helmut Henne, Herrn Prof. Dr. Stephan Elspaß, Herrn Prof. Dr. Jörg Kilian, Herrn Prof. Dr. Joachim Scharloth und Herrn Prof. Dr. Johannes Schwitalla herzlich. Eine Umschreibung des Terminus „synchytisch“ ist: „nach einer mehrfachen, d. h. nicht nur von einem einzigen Gesichtspunkt aus bestimmten Ähnlichkeit“ (Bühler 1965: 222).
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Hiroyuki Takada
sich folgende Bedeutungen von Umgangssprache anführen: „gesprochene Version der deutschen Gemeinsprache“, „sprachliche Existenzformen zwischen Hochsprache und Mundart mit regionaler Geltung“, „gemeinsprachlicher Wortschatz unterhalb der gehobenen und ‚normalen‘ und oberhalb der saloppen Stilschicht“, „landschaftliche oder regionale Kennzeichnung der Wörter, die keine überlandschaftliche Form (z. B. Rotkohl und Blaukraut) haben“ und „unterschiedliche Einzelsprachen und/oder Dialekte überbrückende Existenzform, die als öffentliches Kommunikationsmittel (z. B. dem Zweck einheitlicher Verwaltung) dient oder Mittel sozialer Distanz ist.“ Es gibt sogar recht widersprüchliche Begriffsfassungen: Umgangssprache als „Sprache der guten Gesellschaft oder der Gebildeten“ gegenüber Umgangssprache als „ungebildeter, nicht gesellschaftsfähiger Sprache“ (vgl. Bichel 1973: 378). Die vorliegende Arbeit formuliert die Hypothese, dass die Bezeichnung Umgangssprache schon in ihrer Entstehungszeit, also in der zweiten Hälfte des 18. Jh., auf aspektverschiedene bis gegenteilige Begriffe verweist, die mittels des Modells von medialer und konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit bzw. von Nähe- und Distanzsprache von Koch/Oesterreicher (1985, 1994, 2007) als eine Entwicklung von medialen und konzeptionellen Übergängen und Verschiebungen anschaulich darzustellen ist. „Die Frage der Gewichtung von Schreib- und Redesprachgeschichte“ (Polenz 1995: 45) wäre vor diesem Hintergrund neu zu diskutieren.
2. Das Nähe-Distanz-Modell von Koch/Oesterreicher Zuerst soll das Nähe-Distanz-Modell von Koch/Oesterreicher umrissen werden, das wir unserer Analyse zugrunde legen. Zur Klärung der Begrifflichkeit von ‚gesprochen‘ und ‚geschrieben‘ machen Koch/Oesterreicher (1985) eine doppelte Unterscheidung, indem sie einerseits in Bezug auf das Medium dichotomisch den phonischen und graphischen Kode und andererseits hinsichtlich der Konzeption sprachlicher Äußerungen „idealtypisch“ (Koch/Oesterreicher 1985: 17) die Polarität von gesprochen und geschrieben erkennen, die „für ein Kontinuum von Konzeptionsmöglichkeiten mit zahlreichen Abstufungen steht“ (ebd.). Medium und Konzeption stehen also voneinander unabhängig. Die beiden konzeptionellen Extrempole werden in Koch/Oesterericher (1985) als „Sprache der Nähe“ und „Spra-
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
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che der Distanz“ und in Koch/Oesterreicher (1994) als „konzeptionell 3 mündlich (Nähe)“ und „konzeptionell schriftlich (Distanz)“ bezeichnet:
graphisch
konzeptionell mündlich (Nähe)
c a
b
e d
h f
g
i
konzeptionell schriftlich (Distanz)
phonisch
(a = familiäres Gespräch, b = Telefongespräch, c = Privatbrief, d = Vorstellungsgespräch, e = Zeitungsinterview, f = Predigt, g = wissenschaftlicher Vortrag, h = Leitartikel, i = Gesetzestext) Abb. 1: Schematische Anordnung verschiedener Äußerungsformen im Feld medialer und konzeptioneller Mündlichkeit/Schriftlichkeit nach Koch/Oesterreicher (1994: 588)
Der Grad der Nähe- oder Distanzsprache von Äußerungen lässt sich durch die unterschiedlichen Werte der Parameter bestimmen. Die Autoren machen sich „die metaphorische Potenz der Wörter ‚Nähe‘ und ,Distanz‘ zunutze, um die Kombinationen von Parameterwerten als ganze zu erfassen“ (Koch/Oesterreicher 2007: 351). Die Parameterwerte ‚Dialogizität‘ (vs. ‚Monologizität‘), ‚Vertrautheit der Kommunikationspartner‘ (vs. ‚Fremdheit der Kommunikationspartner‘), ‚freie Themenentwicklung‘ (vs. ‚Themenfixierung‘), ‚Privatheit‘ (vs. Öffentlichkeit‘), ‚Spontaneität‘ (vs. ‚Reflektiertheit‘), ‚starke emotionale Beteiligung‘ (vs. ,geringe emotionale Beteiligung‘) usw. charakterisieren den Pol ‚Nähe‘. Koch/Oesterreicher (1994, 2007) versuchen, anhand des folgenden Schemas (vgl. Abb. 2) den konzeptionellen Gesichtspunkt in die Modellierung des Varietätenraums zu integrieren (Abb. 2, S. 172). Diatopisch stark markierte Elemente können „sekundär als diastratisch niedrig, tertiär auch als diaphasisch niedrig und schließlich sogar als nähesprachlich funktionieren“ (Koch/Oesterreicher 2007: 356). So ist die Verwendung diastratisch und diaphasisch als niedrig markierter Ausdrücke „im Bereich der auf Formalität, Prestige usw. angelegten konzeptionellen Schriftlichkeit nicht opportun. Zugeschnitten auf distanzsprachliche Kommunikation ist somit 3
Koch/Oesterreicher (2007: 351) nennen die Pole ,kommunikative Nähe‘ und ,kommunikative Distanz‘.
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Hiroyuki Takada
eine minimal diatopisch markierte und diastratisch/diaphasisch als hoch markierte Varietät: die ‚Schriftsprache‘.“ (Koch/Oesterreicher 1994: 595). Es gibt sprachliche Formen, die sich nicht auf diatopische, diastratische oder diaphasische Parameter beziehen, sondern direkt an das Nähe-Distanz-Kontinuum angeschlossen werden (1b)“ (Koch/Oesterreicher 2007: 356) müssen: z. B. der Verlust des ,passé simple‘ in der französischen, der unbestimmte Artikel ’n, ’ne in der deutschen und Formen wie I’m oder I’ve in der englischen Nähesprache. universal STATUS
Nähe
1a
‚Nähe‘ einzelsprachlichkontingent
1b
Distanz ‚Distanz‘
niedrig
2 Diaphasik
hoch
niedrig
3 Diastratik
hoch
stark
4 Diatopik
schwach
nichtmarkiert DIASYSTEMATISCHE MARKIERUNG markiert
Abb. 2: Varietätenraum oder Dimension der Sprachvariation (Koch/Oesterreicher 2007: 355)
In Anlehnung an die Bezeichnung „Nähe-“ und „Distanzbereich“ für die gesamte linke und rechte Hälfte des Nähe-Distanz-Kontinuums in Koch/Oesterreicher (2007: 356) soll in den folgenden Abschnitten bei der Analyse der historischen Nähe- und Distanzsprachlichkeit der Anschaulichkeit halber das folgende Schema benutzt werden: Tab. 1: Schema zur Darstellung von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Medium und Konzept
konzeptionell medial
I) Nähebereich
II) Distanzbereich
A) graphisch B) phonisch Zu beachten ist dabei, dass die doppelte Wellenlinie zwischen den beiden Bereichen die (eigentlich) nicht dichotomisch darzustellende Natur dieses Variationsspektrums darstellt. Zur Beschreibung der Übergänge zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit in Medium und Konzeption schlagen
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‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
Oesterreicher (1993) und Koch/Oesterreicher (1994) eine weitere begriff4 liche Differenzierung vor: Sie unterscheiden zwischen Verlautlichung und Verschriftung als mediale Umsetzungen „vom phonischen ins graphische Medium“ einerseits und Vermündlichung und Verschriftlichung als konzeptionelle Verschiebungen in Richtung Schriftlichkeit andererseits (vgl. Koch/ Oesterreicher 1994: 587). Die Ersteren werden als „mediale Transkodierungen“ und die Letzteren als „konzeptionelle Transpositionen“ bezeichnet (vgl. Oesterreicher 1993: 283). Diese Differenzierungen lassen sich in unserem Schema folgendermaßen abbilden: Tab. 2: Mediale und konzeptionelle Übergänge
konzeptionell medial
I) Nähebereich
iv)
A) graphisch B) phonisch
II) Distanzbereich
i)
㻌 i)
iii)
ii) iii)
iv) 㻌
ii)
mediale Transkodierungen: i) A Ⱥ B: Verlautlichung, ii) B Ⱥ A: Verschriftung konzeptionelle Transpositionen: iii) I Ⱥ II: Verschriftlichung, iv) IIȺ I: Vermündlichung
3. Umgangssprache und Sprache in der Komödie und im Brief 3.1 Von der „altages Rede“ zur „Sprache des Umganges“ Der deutsche Grammatiker des 17. Jh. Justus Georg Schottelius weist darauf hin, dass die Griechen und Römer zwischen der „altages Rede“ und der „Sprache selbst“ unterschieden: Es haben so wol die Griechen als Römer einen Unterscheid gemacht/ in sermonem vulgarem seu vernaculum, & inter linguam Latinaem & Atticam, unter der gemeinen altages Rede/ und unter der Sprache selbst. (Schottelius 1663: 144).
Schottelius setzt das Hochdeutsche mit der deutschen Sprache selbst gleich: „Die gemeine altages Rede“5 werde ihrerseits „nach jedes Landes 4 5
Diese Differenzierung ist zuerst von Peter Koch in seiner Habilitationsschrift im Jahre 1987 eingeführt worden (vgl. dazu Schlieben-Lange 1997). Neben der zitierten Stelle wird von der (Vorstufe der) Zusammensetzung altages Rede in Schottelius 1663 auf S. 168 zweimal Gebrauch gemacht. Sonst finden sich auch verwandte Formulierungen wie altages Geschwätze (S. 168), Altagesbrauch (S. 3), altages Gebrauch (S. 144, 168), altägliche Gewonheit (S. 5, 10, 148) und altäglicher Gebrauch (S. 17).
174
Hiroyuki Takada
Mundart verändert und verzogen“ (Schottelius 1663: 145). Der Grammatiker möchte die Verfälschungen in der „gemeinen altages Rede“ beseitigen, indem er dem Hochdeutschen die Grundrichtigkeit oder „vera fundamenta“ (Schottelius 1663: 174) vermittelt (vgl. dazu ausführlicher Takada 1998: 29ff.). Als „dreyerlei Haubtuhrsachen/ wordurch der Abgang/ und die Enderungen jeder Sprache zugeschehen pflegt“ (Schottelius 1663: 166), nennt Schottelius den „Ablauf und Hingang der Zeiten selbst“ (ebd.), „die Vermischung und Vermengung der Völker und Einwohner“ (ebd.) und die befreite unacht/ unbedacht und unbetrachtete Ungewisheit der gemeinen Rede/ die sich fast in jeder Stat und jedem Lande mit der Zeit verzeucht/ und nach aller Beliebung des Pöbels zu Enderungen kömt. (Schottelius 1663: 166)
Von diesen drei Hauptursachen der sprachlichen Veränderung habe die dritte, nämlich die Unachtsamkeit der Menschen, „der Teutschen Sprache wol den grössesten Schaden und Widerstand“ (Schottelius 1663: 167) getan. In der Zeit von 1550 bis 1700 entsteht „eine immer tiefere Entfremdung zwischen der Sprache der Schriftwerke und der gesprochenen Sprache“ (Admoni 1990: 176; vgl. auch Gessinger 1980: 104). Es herrscht im 17. Jh. der periodisch komplizierte „verschachtelte ‚Stil der Barock-Gelehrten‘“ (Betten 1987: 75).6 Im Verlauf des Normierungsprozesses im 17. Jh. fällt „der mündliche, umgangssprachliche und regional gefärbte Sprachgebrauch der sozialen Abwertung“ (Gessinger 1980: 100) anheim. Bis Mitte des 18. Jh. gilt die Rede des Alltags deshalb als eine sozial herabzusetzende sprachliche Erscheinungsform. Statt „affektierter Verschrobenheit“ (Betten 1987: 75) wird dann allerdings in der Aufklärungszeit das natürliche, verständliche Schreiben zum Stilideal (vgl. Takada 2007). Die beiden Literaturtheoretiker Johann Christoph Gottsched und Christian Fürchtegott Gellert, die 1751 von der Sprache des Umgang(e)s sprechen, huldigen dem „Stilideal der klaren Kürze“ (Betten 1987: 75). Das Interesse an der Sprache des Umgang(e)s bei den beiden Professoren stammt aus dem Bekenntnis zum natürlichen Sprachstil, der „ohne rhetorischen Schmuck und Künstlichkeit leicht fließend und in knappen, klaren Sätzen verlaufen soll“ (Eggers 1977: 65).7 6
7
Hinter dem Gebrauch der die Grenze der Verständlichkeit überschreitenden Einklammerung langer Nebensätze erkannte Johann Bödiker (1690) ein soziolinguistisches Motiv: Je komplizierter der Satzbau sei, desto höher im Rang befindet sich der Schreiber. „Solche Schreib-Art verstellt nur unsere Sprache/ und kömmet von Leuten her/ die auß Hoheit ihrer Sinnen es also düster machen/ und meynen/ darinn bestehe die Zier der Deutschen Sprachen“ (Bödiker 1690: 245); vgl. dazu Takada (1998: 228ff.) und Takada (2007: 25ff.). Lessing bemerkt in seiner Hamburgischen Dramaturgie (1769), 24. November: „Bey einer gesuchten, kostbaren, schwülstigen Sprache kann niemals Empfindung seyn. Sie zeigt von keiner Empfindung, und kann keine hervorbringen. Aber wohl verträgt sie sich mit den
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‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
3.2 Sprache in der Komödie: Gottsched Wenn Gottsched in seiner Schrift Versuch einer Critischen Dichtkunst (1751) die „tägliche Sprache des Umganges“ erwähnt, meint er „lauter lächerliche und lustige Sachen“ in der Komödie, „wovon man in der gemeinen Sprache zu reden gewohnt ist.“ Bei Gottsched heißt es nämlich: Es muß also eine Komödie eine ganz natürliche Schreibart haben. [...] Diejenigen machen es also nicht gut, die sich in ihren Komödien, nach dem bösen Muster der heutigen Franzosen, einer gekünstelten, und durchgehends sinnreichen Schreibart bedienen. Ein so gedrechselter Ausdruck ist der täglichen Sprache des Umganges gar nicht ähnlich, und stellet also ein Stück aus einer andern Welt vor. (Gottsched 1751: 652)
Die Sprache des Umganges, die Gottsched mit der „gemeinen Sprache“ identifiziert, wird von ihm als Stilisierungsmittel in der Komödie aufgefasst; nur als solche interessiert die Größe Sprache des Umganges den Literaturtheoretiker hier. Dieser Sachverhalt lässt sich in der Anwendung des NäheDistanz-Modells folgendermaßen beschreiben: Die Sprache des Umganges, die im phonischen Medium im Nähebereich liegt, will Gottsched wegen der „natürlichen Schreibart“ durch Verschriftung medial transkodieren: Tab. 3: Sprache des Umganges bei Gottsched (1751)
konzeptionell medial
I) Nähebereich
A) graphisch B) phonisch
*)
II) Distanzbereich
(Sprache in der Komödie)
—
Sprache des Umganges
— *)
Verschriftung
Dies entspricht der allgemeinen Bemerkung von Koch/Oesterreicher (2007), dass wegen der „Erwartungshaltung der Rezipienten“ nähesprachliche Varietäten „allenfalls in Komödien, jedoch nie in Tragödien vorkommen“ (Koch/Oesterreicher 2007: 359), in dem Sinne, dass es „im Bereich der ästhetisch-literarischen Schriftlichkeit auch Gattungen gibt, in denen aus parodistischen, humoristischen oder naturalistisch-mimetischen Zielsetzungen konzeptionelle Mündlichkeit qua Nähesprache zitatartig angeführt oder imitiert“ (Oesterreicher 1993: 277) wird. In diesem Fall kann simpelsten, gemeinsten, plattesten Worten und Redensarten“ (Lessing 1769: 51f.). Im Folgenden stammen die Unterstreichungen in Zitaten vom Verfasser.
176
Hiroyuki Takada
man von „hergestellte[r] Mündlichkeit“ (Oesterreicher 1993: 278) sprechen. Die Bestimmung der „Sprache des Umganges“ als Sprache in der Komödie findet sich auch in der Folgezeit. In der anonymen deutschen Übersetzung des kunsttheoretischen Werkes von Jean-Baptiste Dubos Réflections critìque sur la poésie et sur la peinture (1719) heißt es 1761: „Quintilian sagt, die komischen Schauspieler ahmten die gewöhnliche Sprache des Umganges zwar in etwas nach; sie wichen aber doch auch bis auf einen gewissen Grad davon ab“ (Dubos 1761: 119). Christian Felix Weiße schreibt 1765 ebenfalls: Deutschland hat noch keinen so großen Ueberfluß an guten Trauerspielen [...]; man kennt weder die große, noch die kleine Welt, weder den Hof noch das gemeine Leben, weder die Sprache des Umgangs, noch die Sprache der Leidenschaften genug. (Weiße 1765: Bl. )( 2rf.)
Verhältnismäßig bald wird der Ausdruck Sprache des Umganges zu Umgangssprache univerbiert: Der Professor für Dichtkunst in Königsberg Johann Gotthelf Lindner erwähnt nämlich 1768 in seinem Lehrbuch der schönen Wissenschaften, insonderheit der Prose und Poesie die Umgangssprache im Kontext der Sprache in der Komödie: Um rein und richtig zu schreiben, meide man I. Barbarismen oder fremde ausländische Wörter und Bettlerlumpen aus fremden Sprachen. [...] Unsere Muttersprache ist nicht arm, und verdient nicht jenen Schimpf. Zur reinen Sprache hilft mit das Lesen guter Uebersetzungen, Komödien und unanstößiger Romanen die beiden letzteren besonders zur Umgangssprache. (Lindner 1768: 65f.)
Johann Georg Sulzer macht 1771 in seinem Hauptwerk Allgemeine Theorie der Schönen Künste, das als erste Enzyklopädie in deutscher Sprache gilt, vom Ausdruck Sprache des Umgangs einmal Gebrauch, und zwar in Bezug auf die Dramaturgie. Unter dem Artikel „Idiotismen (Redende Kunst)“ wird erklärt: Man wird in den gelobtesten französischen Trauerspielen die Helden des Alterthums ofte die Sprache eines französischen Hoffmannes reden hören, und auf unsrer deutschen Schaubühne höret man nur gar zu ofte vornehmere und gemeinere Personen eine Sprache reden, die von der Sprache des Umganges der geringern, oder vornehmern Welt, völlig verschieden, und die eigentlich die Sprache der Schriftsteller ist. (Sulzer 1771: 557)
In den oben genannten Fällen geht es um die Sprache im gewöhnlichen Leben, deren stilistische Nachahmung der Darstellung lustiger Sachen in Komödien dienen sollte. Allerdings: Es handelte sich um die Sprache im
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gewöhnlichen Leben von Bürgern, mithin Gebildeten, nicht aber um die Sprache des „Pöbels“. 3.3 Sprache im Brief: Gellert Die Briefkultur des 18. Jh. gilt als „Folge eines gesellschaftlichen Individualisierungs- und Subjektivierungsprozesses, der von den ‚neuen bürgerlichen Schichten‘ getragen wird und die ständische Gesellschaftsordnung auflöst“ (Vellusig 2000: 153). In demselben Jahr, 1751, in dem Gottsched von der Sprache des Umganges spricht, macht Gellert in seiner Schrift Briefe, nebst einer praktischen Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen auch von dieser Bezeichnung Gebrauch. Dieses Buch ist „von geradezu epochemachender Bedeutung“ (Merkel 1961: 411) für die Entwicklung einer guten, verständlichen Gebrauchsprosa, indem es sich gegen das umständliche kanzlistische (also distanzsprachliche) Briefmuster „wie gegen die sinnreichen Scherze des galanten Stils“ (Vellusig 2000: 83) richtet. Der Autor verlangt vom Brief eine Annäherung an das Gespräch bzw. die „Sprache des Umgangs“, wobei er bemerkt, ein Brief sei „kein ordentliches Gespräch; es wird also in einem Briefe nicht alles erlaubt seyn, was im Umgange erlaubt ist“ (Gellert 1751: 111). Es handelt sich hier um die „gebildete Natürlichkeit und Als-Ob-Natürlichkeit“ (Nickisch 1969: 175f.). Der Brief solle „eine freye Nachahmung des guten Gesprächs“ (Gellert 1751: 111) sein. Das Stilideal von Gellert zielt auf „die ‚dialogische Vergegenwärtigung‘ der Interaktion im einsamen Monolog des Schreibens“ (Vellusig 2000: 88). Der Autor fährt fort: Allein wer sieht nicht, daß wir im Briefschreiben in viele Fehler verfallen würden, wenn wir ohne Unterscheid die Sprache des Umgangs nachahmen wollten? Unsre Schreibart würde oft sehr unverständlich und schmutzig, oder gezwungen, platt, weitläuftig und gemein werden, wenn wir ohne Ausnahme von bürgerlichen und häuslichen Angelegenheiten in Briefen so reden wollten, wie die Niedrigen, oder die Vornehmen, im gemeinen Leben davon zu sprechen pflegen. Hier geht also der Brief von dem Gespräche ab. (Gellert 1751: 112)
Wenn Gellert in diesem Zitat von der Gefahr der Unverständlichkeit, Plattheit und Weitläufigkeit spricht, kann es sich – nach unserer Interpretation – um den der Nähesprache zuzuordnenden kommunikativen Parameter „Spontaneität“8 handeln. Zu bemerken ist auch, dass der Gel8
Gellert lehnt bereits in seinen Gedanken von einem guten deutschen Briefe (1742) „alle bisherigen Anweisungs- und Regelbücher ab, weil sie mit aller Gewalt gekünstelt schreiben lehren wollen“ (Nikisch 1969: 158). In Gellert (1742) heißt es: Wenn das Briefschreiben „nichts anders ist, als was ich ihm [einem anderen] mündlich sagen würde“ (Gellert 1742: 99), so
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lert’sche Begriff der Sprache des Umgangs prinzipiell von sozialer Abwertung befreit zu sein scheint, weil „Fehler“ nicht nur in der mündlichen Sprache der „Niedrigen“, sondern auch der „Vornehmen“ vorausgesetzt sind. Insofern ein Brief „die Stelle einer mündlichen Rede“ (Gellert 1751: 111) vertrete, „muß er sich der Art zu denken und zu reden, die in Gesprächen herrscht, mehr nähern, als einer sorgfältigen und geputzten Schreibart“ (ebd.). Der Ausdruck „der Art, die in Gesprächen herrscht, mehr nähern“ weist implizit auf das Kontinuum zwischen den Extrempolen Mündlichkeit und Schriftlichkeit hin. Die Formulierung „eine sorgfältige Schreibart“ deutet die „Reflektiertheit“ (im Gegensatz zur „Spontaneität“) als einen der kommunikativen Parameter der Distanzsprache an. In einem freundschaftlichen Brief sei nach Gellert z. B. die Formulierung „‚Sie können versichert seyn, daß ich Ihnen eben diesen Gefallen bey andern Gelegenheiten erzeigen werde.‘ […] nicht die vertrauliche Sprache eines Freundes“ (Gellert 1751: 131) und deshalb „zu matt“ (ebd.), also – in unserer Terminologie – nicht nähesprachlich; der Autor rät den Lesern: „Sagen Sie ihm mehr. Sprechen Sie lieber in der Sprache des Umgangs: ‚Ich will Ihnen alles wieder zu gefallen thun, wenn Sie mir diese Freude machen.‘“ (ebd.). Wenn wir Gellerts Formulierungen auf der Folie des Nähe-DistanzModells nun so auslegen, dass die Sprache des Briefs trotz ihrer medialen Schriftlichkeit dem Pol „konzeptioneller Mündlichkeit“ näher stehen solle als einer „sorgfältigen“ Schreibart, dann geht es um die zweckmäßige Transkodierung vom phonischen zum schriftlichen Medium, also die mediale Verschriftung innerhalb des Nähebereichs, mit dem Vorbehalt, dass man „das Natürliche nicht bis zum Ekelhaften treiben“ (Gellert 1751: 113) dürfe: Tab. 4: Sprache des Umganges bei Gellert (1751)
konzeptionell medial
I) Nähebereich
A) graphisch B) phonisch
*)
II) Distanzbereich
(Sprache im Brief)
—
Sprache des Umganges
— *)
Verschriftung
„würden wir freylich sehr nachlässig, sehr unordentlich, überflüssig und unzierlich schreiben müssen“ (ebd.); „Viele vermengen freylich eine nachlässige Schreibart mit einer leichten, und reden in ihren Briefen so schmutzig, so gemein, als ob ein Brief die Freyheit hätte, einem unordentlichen Caffeegespräche völlig ähnlich zu seyn“ (Gellert 1742: 103).
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4. Umgangssprache und Büchersprache 4.1 Umgangssprache als Gegenstück zu Büchersprache: Garve, Adelung und Gedike Der Philosoph Christian Garve spricht 1773 in seiner Vorlesung von der Sprache des Umgangs und der Sprache der Bücher: Diese Unart [= Verwendung von Fremdwörtern] hat indessen an den meisten Orten schon ziemlich nachgelassen; man bedienet sich schon weit mehr, als vordem, der Ausdrücke der Muttersprache: und wo diese noch nicht gewöhnlich sind, da hat der Schriftsteller das Recht, sie gewöhnlich zu machen. Er bildet, wenn er nur sonst vortrefflich ist, die Sprache des Umgangs, wie die Sprache der Bücher; und schreibt der Nation vor, wie sie reden soll, wenn er ihr nicht nachschreiben kann, wie sie wirklich reden. (Garve 1773: 17f.)
Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass hier „die Sprache des Umgangs“ dem Begriff der „Sprache der Bücher“ entgegengesetzt ist. Indem der Distanzbereich (im graphischen Kode) eine bündige Benennung bekommt, wird die Sprache der Umgangssprache als Nähesprache (im phonischen Kode) profiliert. Bei Johann Christoph Adelung können wir dieses Begriffspaar von Nähe- und Distanzsprache seiner Unterscheidung von der „Sprechart des (gemeinen Lebens und) vertraulichen Umganges“ einerseits und „Büchersprache“ andererseits zuordnen, wie sie sich im Vorwort zu seinem Versuch eines vollständigen grammatisch-kritischen Wörterbuches Der Hochdeutschen Mundart (1774) als „Sprechart des (gemeinen Lebens und) vertraulichen Umganges“ findet: Allein, da sich diese [= meine Vorgänger] nur auf die Büchersprache ihrer Zeit eingeschränket, und auch diese nicht einmal erschöpfet haben, [...] so sahe ich mich in die sehr unangenehme und abschreckende Nothwendigkeit versetzet, die Wörter aus tausend Schriften allerley Art, aus den verschiedenen Lebensarten und in dem täglichen Umgange selbst aufzusuchen, um den Reichthum unserer Sprache auf eine vollständigere Art darzustellen, als bisher geschehen ist. (Adelung 1774: Bl. Vf.) Eines der vornehmsten Bedürfnisse schien mir die Bemerkung der Würde. [...] Ich habe zu dem Ende fünf Classen angenommen; 1. die höhere oder erhabene Schreibart; 2. die edle; 3. die Sprechart des gemeinen Lebens und vertraulichen Umganges; 4. die niedrige, und 5. die ganz pöbelhafte. [...] (Adelung 1774: Bl. XIV)
In diesem Rahmen stellt die dritte Kategorie, die Sprechart des gemeinen Lebens und vertraulichen Umganges, die (phonische) Sprache des Umganges dar.
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Adelung beschreibt seine Lemmata grundsätzlich mit diesen Kategorien: „Bursch [...] ein Wort, welches nur in der gemeinen und vertraulichen Sprechart üblich ist“ (Adelung 1774: 1144); „bezechen [...] im vertraulichen Umgange für betrinken“ (Adelung 1774: 896) und „Ende [...] Mit solchen Leuten ist des Redens immer kein Ende. [...] Doch gehören die letzten Redensarten mit den Zeitwörtern seyn und werden nur in die vertrauliche Sprache des Umganges“ (Adelung 1774: 1163).9 Der Pädagoge Friedrich Gedike benutzt 1777 in seiner Übersetzung Pindars Olympische Siegshymnen die Komposition Umgangssprache, gepaart mit der Bezeichnung Büchersprache. In der Vorrede bemerkt der Übersetzer: Allein zum Uebersetzen gehört auch Kenntnis der Sprache, in die er übersetzt; Kenntnis ihrer Härte und Biegsamkeit, ihrer Kraft und Mattheit; er muß wißen, was verträgt meine Sprache, was nicht? was ist erhaben darin, was niedrig? was geht allenfalls in der Umgangssprache an, aber nicht in der Büchersprache? und in dieser weiter, welche Ausdrükke und Wortstellungen sind dem Prosaisten, welche dem Poeten eigen? (Gedike 1777: Bl. C3r)
1779 erwähnt Gedike dann in einem Aufsatz die Umgangssprache im sprachpuristischen Kontext: „Durch sie [die Sprachmischung] sind eine Menge französischer Wörter vornehmlich in unsre Umgangssprache gekommen“ (Gedike 1779: 397). Auch an einer anderen Stelle spricht Gedike von der Umgangssprache: „Ueberall, vornehmlich in der Umgangssprache, sich mit alten Wörtern behängen, ist Narrheit, oder wenigstens Ziererei“ (Gedike 1779: 413). Die bisher geschilderte Version des Begriffs von Sprache des Umgang(e)s bzw. Umgangssprache – eines Begriffs, der den phonischen Nähebereich besetzt und eventuell als sein Gegenstück die Büchersprache im graphischen Distanzbereich hat – sei insgesamt als UMGANGSSPRACHE 1 bezeichnet. Dieser Prototyp UMGANGSSPRACHE 1 kann dann folgendermaßen veranschaulicht werden: Tab. 5: UMGANGSSPRACHE 1: Nähebereich, phonisch (IB)
konzeptionell medial A) graphisch B) phonisch
9
I) Nähebereich
II) Distanzbereich
— Umgangssprache
Zur „vertraulichen Sprechart“ bei Adelung vgl. näher Takada (2004).
(Büchersprache)
—
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Gottsched (1751): Sprache des Umganges; Gellert (1751): Sprache des Umganges Garve (1773): Sprache des Umgangs vs. Sprache der Bücher Adelung (1774): Sprechart des vertraulichen Umganges vs. Büchersprache Gedike (1777), Anonym (1778): Umgangssprache vs. Büchersprache
Wenn das Kompositum Umgangssprache 1792 in der Ausschreibung der Preisschrift zum Thema ‚Sprachreinheit‘ unter dem Namen der KöniglichPreußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin erscheint und dadurch sozusagen öffentliche Anerkennung findet, geht es um den Prototyp UMGANGSSPRACHE 1: Die Akademie wünscht, daß vornämlich die in Werken des Geschmacks und in der Umgangssprache am häufigsten vorkommenden ausländischen Wörter, ferner diejenigen, welche psychologische und moralische Begriffe und gesellschaftliche Verhältnisse bezeichnen, zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werde. (Akademie 1792: 617)
Hier ist die Formulierung „in Werken des Geschmacks“ als „in der Bücher- bzw. Literatursprache“ zu verstehen.
Exkurs: Umgangssprache als fremdsprachendidaktischer Gegenstand Gedike beginnt 1781, Lesebücher für den Elementarunterricht der neueren Sprachen Italienisch, Französisch und English herauszugeben. Damit erfährt der Begriff von Umgangssprache eine fremdsprachdidaktische Interessenerweiterung: Es gibt mehrere Umgangssprachen je nach der Nationalsprache: „englische“, „französische“, „deutsche“ Umgangssprache. Ein Rezensent zum Englischen Lesebuch für Anfänger, nebst Wörterbuch und Sprachlehre (1795) von Gedike fasst den Gegenstand des Lesebuchs als „englische Umgangssprache“ auf: Fabeln, Erzählungen, Anekdoten und Briefe wechseln hier mit einander ab; auch empfängt der Anfänger eine Probe der englischen Umgangssprache, und wird folglich durch dieses wohl gewählte Lesebuch vorbereitet, jedes andere prosaische Werk mit leichterer Mühe verstehen zu können. [...] Unstreitig wird dieses Product eben den Beyfall erhalten, welchen die zum Elementarunterricht für die lateinische, griechische und französische Sprache von eben diesem Vf. herausgegebenen Lesebücher gefunden haben. (Mylius 1795: 426f.)
Auch in einer anderen anonymen Rezension zum Englischen Formelbuch, oder praktische Anleitung auf eine leichte Art englisch sprechen und schreiben zu lernen
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Hiroyuki Takada
(1800) von Johann Heinrich Ernst Nachersberg geht es terminologisch um die Umgangssprache: Das englische Formelbuch liefert eine beträchtliche Anzahl Redensarten, die in der Umgangssprache vorkommen, mit deren Erklärung in der deutschen Umgangssprache, doch mit Bemerkung ihres buchstäblichen Sinnes, z. B. hold your tongue, schweigt. (Haltet eure Zunge!) mind your own business, bekümmert euch um eure Sachen (beobachtet euer eignes Geschäfft)! Never mind it, laßt es gut seyn (nie bemerkt es)! There is a appearance of war, es läßt sich zum Kriege an (dort ist (es ist da) ein Anschein zum Kriege). (Anonym 1800: 472)
Es gibt einen pädagogisch-kommunikativen Paradigmenwechsel zugunsten der neueren Sprachen, in dem die internationale weiträumige Kommunikation im 19. Jh. als eine der neuen sozio-kommunikativen Bedingungen einer sich modernisierenden Gesellschaft notwendig geworden ist (vgl. Mattheier 2000: 1962). Anfang des 19. Jh. erscheint denn auch eine Reihe von Gesprächsbüchern, deren Ziel die Vermittlung von umgangssprachlicher Kompetenz in einer Fremdsprache ist. Dabei handelt es sich um die „gewöhnliche“ Nähesprache, also den Typ UMGANGSSPRACHE 1, was z. B. einem Ausschnitt aus dem Vorwort eines anonymen Gesprächsbuchs Dialogues English and German for the use of both nations von 1802 zu ersehen ist: Es gibt zwar eine Menge Bücher, welche uns die Erlernung dieser Sprache erleichtern, aber wenige lehren uns die gesellschaftliche Sprache; und man weiß doch, daß die einfachste, so wie die sicherste Art, eine lebende Sprache zu erlernen, diese ist, zuerst die Umgangssprache zu studieren.[...] In diesen Gesprächen hat man den Ton der feinen Gesellschaft, so wie die gewöhnliche Umgangssprache, auf allerley Gegenstände angewandt, die der tägliche Stoff der Unterhaltung sind. (Anonym 1802: iii–iv)
4.2 Umgangssprache als Mischung von Büchersprache und Dialekt: Moritz Die hochdeutsche Schriftsprache ist Ende des 18. Jh. in der gebildeten Sozialschicht so sehr verbreitet, dass man hier auch in der mündlichen Kommunikation schriftnahe – distanzsprachliche – Performanz anstrebt. Das obersächsische sprachliche Vorbild wird „durch das Vorbild der schriftnahen Aussprache des Niederdeutschen abgelöst“ (Faulstich 2008: 53). Es zeichnet sich (bereits um 1760) eine Verschiebung des kulturellen Zentrums vom Gebiet um Leipzig und Dresden in den Raum Berlin ab. Der Hannoveraner Karl Philipp Moritz merkt 1781 als Gymnasiallehrer in Berlin in seiner Schrift Ueber den märkischen Dialekt an, dass die Sprache „in der gesellschaftlichen Unterredung“ (Moritz 1781: 5) der Gebildeten in
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Berlin (noch) nicht frei von mundartlichen Elementen ist. Moritz meint, ganz Deutschland habe mit Stillschweigen eingewilligt, „beinahe einerlei Sprache zu schreiben, und läßt sich doch, im Reden, die ausgelassenen Freiheiten“ (Moritz 1781: 4). Moritz behauptet deshalb, es sei „höchstnothwendig“, „daß wenigstens der verfeinerte Theil der Nation den mündlichen Ausdruck, seiner Schreibart so nahe, wie möglich“ (Moritz 1781: 5) bringe. Bei gebildeten Sprechern, die im Alltag in der Regel ihre Mundart nicht aufgeben, wird damals „die durch die Verbreitung der hochsprachlichen Norm eingeführte Zweisprachigkeit“ (Gessinger 1980: 100) beobachtet.10 In der zweiten Hälfte des 18. Jh. kommt es bei den mittleren und höheren Schichten des städtischen Bürgertums, die sich des Gegensatzes zwischen den Dialekten und der Schriftsprache bewusst werden, zur „Ausbildung einer vermittelnden Umgangssprache“ (Wiesinger 2000: 1933). In der (Berliner) Umgangssprache etwa meint Moritz als Nicht-Berliner („ein gebohrner Niedersachse“: Moritz 1781: 14) sehr deutlich den Mischcharakter zwischen Hochdeutsch und Mundart herausfinden zu können. In seiner Erörterung entwickelt Moritz ein „Dreischichtenmodell“ (Schmidt 1995: 70) von Büchersprache, Umgangssprache und Dialekt: Jemehr der Dialekt, oder die gemeine Volkssprache, in einer Provinz, von der verfeinerten oder Büchersprache, verschieden ist, desto besser ist es für die letztere, desto reiner und richtiger wird dieselbe gesprochen, weil dasienige, was sich, aus dem Dialekt, in dieselbe einmischen könnte, viel zu auffallend seyn würde, als daß man es nicht sogleich, als fehlerhaft, aus derselben wieder verwerfen sollte. [...] In Niedersachsen betrachtet man das Hochdeutsche und Plattdeutsche als zweierlei Sprachen. [...]; hier [= in Berlin] hingegen fließt beides beständig ineinander, weil der hiesige Dialekt mit der verfeinerten Sprache eine größere Aehnlichkeit hat [...]. Wie sich das gemeine Volk verschiedener halb hochdeutscher Wörter bedienet, so gebraucht der verfeinerte Theil wiederum manche halbplattdeutsche Wörter in seiner Umgangssprache, als z. B. ohch, lohffen, u.s.w., welches aus dem plattdeutschen ohk und lohpen, in die hiesige Mundart übergeformt ist. (Moritz 1781: 15ff.)
Moritz bemerkt etwa zu dem Ausdruck es duht mich lehd (statt es tut mir leid ): Dieser einzige Ausdruck ist, an sich, schon ein Bild der ganzen märkischen Mundart, welche aus korruptem Plattdeutsch und Hochdeutsch zusammengeschmolzen, und mit Sprachfehlern durchwebt ist. Und einer solchen Mundart bedienet sich selbst der verfeinerte Theil, der Nation, noch so häufig, in seiner 10
Dieser Begriff entspricht der Definition von Umgangssprache als Erscheinung „sprachlichen Kontakts in einer Diglossie-Situation zwischen einer Standardsprache als H-Varietät [= High-Varietät] und damit verwandten Dialekten als L-Varietäten [= Low-Varietäten]“ (Munske 1983: 1005).
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Umgangssprache, da man sie doch aus allen öffentlichen Vorträgen, mit Recht, schon verbannet hat.“ (Moritz 1781: 17)
Er identifiziert darüber hinaus – gewissermaßen auf ‚horizontaler‘ Ebene – Dialektmischungs- bzw. -konvergenzerscheinungen zwischen obersächsischen und niedersächsischen Dialekten, wenn er „eine sonderbare Mischung von beiden“ (Moritz 1781: 14) feststellt. Der Begriff von Umgangssprache als Mischform zwischen Büchersprache und Dialekt bzw. als Verschriftlichung vom Dialekt und Verlautlichung/ Vermündlichung der Büchersprache sei UMGANGSSPRACHE 2 genannt. Während die UMGANGSSPRACHE 1 sich relativ zur Schriftsprache definieren lässt, kommt es bei der UMGANGSSPRACHE 2 auf deren Abgrenzung von Büchersprache und Dialekt an. Der Typ UMGANGSSPRACHE 2 lässt sich somit wie folgt illustrieren: Tab. 6: UMGANGSSPRACHE 2: Nähebereich, phonisch (IB), Umgangssprache als Mischung von Büchersprache und Dialekt
konzeptionell medial
I) Nähebereich
A) graphisch
II) Distanzbereich
—
B) phonisch
Dialekt
Umgangssprache bei Moritz (1781)
*)
**)
Büchersprache
Umgangssprache
—
*) Verschriftlichung **) Verlautlichung + Vermündlichung
Die konzeptionelle Verschriftlichung im Nähebereich in Tab. 6 kann als die Folge der „Vertikalisierung des Varietätenspektrums“ (Reichmann 1988: 176) seit dem 17. Jh. bezeichnet werden, die „gleichzeitig zu stärkerer Distanzsprachlichkeit“ (Hennig 2007: 3) führt.
5. Verschriftung der Umgangssprache 5.1 Schriftsprache als verschriftete Gesellschaftssprache: Adelung In seinem Magazin für die Deutsche Sprache (1782/1783/1784) thematisiert Adelung die Frage „Was ist Hochdeutsch?“.11 Nach seinen Erörterungen ist jede Schriftsprache „allemahl die Mundart der blühendsten und ausgebildetsten Provinz oder Stadt, wo der gute Geschmack am meisten und 11
Zu diesem Themenkreis vgl. Henne (2006a) und Scharloth (2005: 222ff.).
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allgemeinsten verbreitet ist“ (Adelung 1782, 1. Band, 1. Stück: 25f.). Adelung erklärt somit die Entstehung der deutschen Schriftsprache aus der „Mundart“ (im Sinne von mündlicher Sprache) bzw. der mündlichen „gesellschaftlichen Sprache“ der oberen Klassen im südlichen Sachsen:12 Wenn die Provinz der deutschen Schriftsprache nicht Obersachsen sei, so muß eine andere Provinz angegeben und von derselben bewiesen werden, daß die gesellschaftliche Sprache ihrer obern Classen bey allen Eigenheiten einzeler [sic!] Personen, und bey allen Nachlässigkeiten des mündlichen Ausdruckes doch im Ganzen eben dieselben Analogien befolget, welche in der Schriftsprache herrschen.“ (Adelung 1783, 1. Band, 4. Stück: 87).
Die Komposition Gesellschaftssprache begegnet uns in diesem Magazin häufig: Die in Obersachsen ausgebildete Sprache sei „die Schrift- und feinere Gesellschaftssprache für ganz Niederdeutschland“ (Adelung 1782, 1. Teil, 1. Stück: 23) geworden, so dass „vernünftige Niedersachsen ihre höhere Gesellschaftssprache für keine andere als die Meißnische halten“ (Adelung 1783, 2. Band, 1. Stück: 21). Wie die Zwillingsformel „Schrift- und Gesellschaftssprache“ in obigem Zitat bestätigt, steht die Schriftsprache für den schriftlichen Wert im Distanzbereich und die Gesellschaftssprache für den phonischen Wert im Distanzbereich. Zu beachten ist dabei, dass nach der Adelung’schen Auffassung vom Hochdeutschen die Gesellschaftssprache weniger für die mündliche Form der Schriftsprache zu halten ist, als vielmehr die Schriftsprache für die schriftliche bzw. „verschriftete“ Form der Gesellschaftssprache; die Schriftsprache sei aus der Gesellschaftssprache der oberen Klassen in Obersachsen entstanden.13 Die Sprache, „deren sich ein Volk in Schriften bedienet, ist weder ihrem Ursprunge, noch ihrer Ausbildung nach, ein Werk der Schriftsteller, sondern sie ist allemahl die gesellschaftliche Sprache der obern Classen der ausgebildetsten Provinz“ (Adelung 1784, 2. Band, 4. Stück: 139). Dieser Begriff von Umgangssprache im Distanzbereich gegenüber der Schriftsprache als verschrifteter Umgangssprache soll als UMGANGSSPRACHE 3 bezeichnet werden: 12
13
Diese Position von Adelung ist „zu seiner Zeit schon anachronistisch“ (Orgeldinger 1999: 165); in mancher Hinsicht weicht das Obersächsische bereits „von der hochdeutschen Norm ab“ (Orgeldinger 1999: 165). Mit den Worten von Henne (2001: 167): „Mit seiner eigenwilligen Theorie der hochdeutschen Mundart rief Adelung in der Mehrzahl solche Kritiker auf den Plan, die sein unter ‚hochdeutschen‘ Prämissen entstandenes Werk ablehnten; in der Minderzahl waren die, die ihm begeistert zustimmten.“ Adelung stellt sich die Sprache „ausschließlich als real existierend und aktual praktiziert“ (Orgeldinger 1999: 210) bzw. „nur in der Kommunikation entstehend und sich entwickelnd“ (ebd.) vor. Adelung, der dabei „nicht zwischen Entstehung, Entwicklung und Ausbildung differenziert und Kommunikation sehr eng auffaßt“ (ebd.), lässt nur die gesprochene Sprache „als im sozialen Konnex verankerte, in intensivem Kontakt gepflegte Sprache gelten“ (ebd.).
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Hiroyuki Takada Tab. 7: UMGANGSSPRACHE 3: Distanzbereich, phonisch (IIB), Schriftsprache als verschriftete Umgangssprache
konzeptionell medial
I) Nähebereich
A) graphisch
—
B) phonisch
(Sprechart des vertraulichen Umgangs)
II) Distanzbereich Schriftsprache Gesellschaftssprache *) (als Umgangssprache) *)
Gesellschaftssprache bei Adelung (1782/1783/1784)
Verschriftung
Hier taucht aber eine terminologische Frage auf: Können wir die Bezeichnung Gesellschaftssprache bei Adelung (1782/1783/1784) als identisch mit der – in der vorliegenden Arbeit bis jetzt erörterten – Benennung Umgangssprache betrachten? In einer Rezension zur Schrift Adelungs Ueber den deutschen Styl (1785) versucht Gedike 1787, die Adelung’sche These zum Hochdeutschen zu widerlegen, wobei er seinerseits die Bezeichnung Gesellschaftssprache bei Adelung mit dem Wort Umgangssprache umschreibt: Daß diese [= lauter niederdeutsche und oberdeutsche Ausdrücke] nicht durch die Schriftsteller autorisirt, und in die Schriftsprache mit aufgenommen sind, scheint ein Beweis mehr zu seyn, daß die deutsche Schriftsprache durch Schriftsteller, und nicht durch die hochdeutsche Umgangssprache ausgesondert und gebildet sey. (Gedike 1787: 9)
Dies verweist darauf, dass der Terminus Gesellschaftssprache bei Adelung der Umgangssprache gleichkommt. Adelung will aber anscheinend ungern von der Bezeichnung Umgangssprache Gebrauch machen. In seiner späteren Entwicklung benutzt Adelung nur einmal den Terminus Umgangssprache (vgl. Henne 1988: 815), und zwar im Vorwort zu seinem Auszug aus dem grammatisch=kritischen Wörterbuche der Hochdeutschen Mundart (1793): Ich habe aus dem großen Reichthume von Wörtern nur die nothwendigsten und gangbarsten ausgehoben, d. i. solche, welche in der gewöhnlichen Schrift= und Umgangssprache der Hochdeutschen vorkommen. (Adelung 1793: Bl. )( 4r)
Wenn wir daran denken, dass das Substantiv Gesellschaftssprache bei Adelung fast immer das Adjektiv höher oder feiner vor sich hat (die höhere Gesellschaftssprache, die feinere Gesellschaftssprache),14 ist der Gebrauch des Adjektivs 14
Im Magazin (1782/1783/1784) kommt das Kompositum Gesellschaftssprache zwölfmal vor, wovon es in neun Fällen von den Adjektiven höher und feiner modifiziert ist: die feinere Gesellschaftssprache (1. Bd., 1. St.: 10); die höhere Gesellschaftssprache (1. Bd., 2. St.: 82; 2. Bd., 1. St.: 15; 2. Bd., 2. St.: 47); ihre höhere Gesellschaftssprache (2. Bd., 1. St.: 21); die höhere Chur=Sächsische
‚Umgangssprache‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
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gewöhnlich vor dem Wort Umgangssprache in obigem Beleg auffällig.15 Der Gegensatz von höherer Gesellschaftssprache vs. gewöhnlicher Umgangssprache lässt sich dann als der von „Umgangssprache (phonische Größe) im Distanzbereich“ vs. „Umgangssprache (phonische Größe) im Nähebereich“ verstehen. Adelung will nämlich das Wort Umgang für den Nähebereich vorbehalten wissen. Während er in seiner Diskussion um das Hochdeutsche, in der es sich um den Distanzbereich handelt, ausschließlich von Gesellschaftssprache (als dem phonischen Distanzbereich) spricht, verwendet er in seinem grammatisch-kritischen Wörterbuch (1. Auflage: 1774–1786; 2. Auflage: 1793–1801) den Ausdruck Sprechart des vertraulichen Umgangs, wenn der phonische Nähebereich benannt werden soll:16 Im ersten Fall handelt es sich um den Typ UMGANGSSPRACHE 3 und im letzteren um den Typ UMGANGSSPRACHE 1 (s. oben 4.1.). In diesem Zusammenhang muss darauf hingewiesen werden, dass es durchaus die Auffassung gibt, nach der man zwar mit der Bezeichnung Umgangssprache den phonischen Distanzbereich benennt, die Schriftsprache aber nicht als verschriftete Umgangssprache versteht. Das ist z. B. der Fall, wenn Gedicke 1794 in seinem Vortrag Ueber Deutsche Dialekte auf den Reichtum der Mundart zu sprechen kommt und dabei die „hochdeutsche Umgangssprache“ erwähnt: Unsere hochdeutsche Umgangssprache ist in der That noch zu wenig geschmeidig. Sie hat etwas Schwerfälliges, Steifes, und, so zu sagen, Periodisches. Aber das Periodische fehlt gerade dem Plattdeutschen, das aber eben dadurch für die Umgangssprache desto geschmeidiger ist. (Gedike 1794: 319f.)
15
16
Gesellschaftssprache (2. Bd., 1. St.: 16); die Schrift= und höhere Gesellschaftssprache (1. Bd., 1. St.: 12); unsere höhere Schrift= und Gesellschaftssprache (1. Bd., 1. St.: 25); die Schrift= und feinere Gesellschaftssprache (1. Bd., 1. St.: 23). Sonst haben die Belege in der Deutschen Sprachlehre für Schulen (1801) das Adjektiv höher: die bisherige Schrift= und höhere Gesellschaftssprache (Adelung 1801: 529) und zur Schrift= und höhern Gesellschaftssprache (Adelung 1801: 538). Vgl. auch die Belege in Ueber den deutschen Styl (1785) in Anmerkung 16. Einen Gegenbeleg finden wir im Magazin (2. Bd., 1. St.: 143), wo es heißt: „Ich habe [...] das Pronomen Identatis der nehmliche für eines der niedrigsten und verwerflichsten Wörter in der Sprache erklärt, so sehr es auch selbst guten Schriftstellern aus der Gesellschaftssprache des gemeinen Lebens anklebt“ (ebd.). Hier will Adelung mit diesem Ausdruck anscheinend die weniger höhere Gesellschaftssprache, also die Sprechart des gemeinen Lebens bezeichnen. In der Abhandlung Ueber den deutschen Styl (1785) kommt das Wort Gesellschaftssprache viermal vor: „daß die Römische Sprache noch so viele Jahrhunderte nicht allein die Schriftsprache, sondern selbst die höhere Gesellschaftssprache blieb“ (Adelung 1785, Teil 1: 46); „so, daß sie nicht allein Deutschlands Schriftsprache, sondern auch nach und nach die höhere Gesellschaftssprache für ganz Nieder=Sachsen ward“ (Adelung 1785, Teil 1: 51); „so daß sie in dieser ihrer innern Vorzüge wegen Deutschlands Schrift= und höhere Gesellschaftssprache werden können“ (Adelung 1785, Teil 1: 72); „Zwar fing man in den Chursächsischen Landen sehr frühe an, die verbesserte Schrift= und Gesellschafts=Sprache auch in die Kanzelleyen einzuführen“ (Adelung 1785, 2. Teil: 83).
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Dieses Verständnis soll als UMGANGSSPRACHE 3a bezeichnet werden: Tab. 8: UMGANGSSPRACHE 3a: Distanzbereich, phonisch (IIB)
konzeptionell medial
I) Nähebereich
II) Distanzbereich
A) graphisch
—
Schriftsprache
B) phonisch
—
hochdeutsche Umgangssprache
5.2 Schriftliche Umgangssprache: Gedike Gedike erörtert 1796 in einer öffentlichen Versammlung der Berlinischen Akademie der Wissenschaften das Thema der Anredeformen im Deutschen. Beim Begriff von Umgangssprache in dieser Vorlesung handelt es sich um den Nähebereich, der vom Titulieren verschont bleiben solle: Vernünftiger Weise sollten die Amtstitel nur bei Ausübung der Amtsverrichtungen gebraucht werden: aber unsre Umgangssprache wird eben dadurch unendlich steif, daß diese Amtstitel unaufhörlich statt des einfachen Sie bald im männlichen, bald im weiblichen Geschlecht uns die Ohren betäuben. (Gedike 1796: 307)
Bemerkenswert beim Gebrauch des Terminus Umgangssprache in diesem Vortrag ist, dass Gedike damit auch an den graphischen Bereich denkt, wenn er sagt: Glücklich würde ich mich übrigens schätzen, wenn dieser Versuch [= meine Untersuchung] etwas dazu beitrüge, unsrer mündlichen und schriftlichen Umgangssprache allmälig mehr Einfachheit, Würde und Natürlichkeit zu verschaffen. (Gedike 1796: 279f.)
Die Formulierung zeugt davon, dass es mediale Doppelseitigkeit ist, die dem Pädagogen vorschwebt. An einer anderen Stelle, an der es auf die Mündlichkeit und Schriftlichkeit ankommt, umschreibt Gedike die mündliche und „schriftliche“ Umgangssprache mit der „mündlichen Konversationssprache“17 und „schriftlichen Unterhaltungs- und Geschäftsprache“: 17
Vgl. die Bedeutung ‚Umgang‘, die das französische Wort conversation hat. Nach Linke (1996: 135) gab es spätestens am Ende des 18. Jh. zwei Lesarten des Wortes Konversation: einerseits ‚Umgang‘ und andererseits ‚Gespräch‘. Campe (1811) benutzt das Wort Conversationssprache als Umschreibung von Umgangssprache: „die Sprache des gemeinen Lebens, deren man sich im gesellschaftlichen Umgang bedienet (Conversationssprache)“ (Campe 1811, Bd. 5: 75, dazu vgl. unten Abschnitt 6).
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Ist indessen gleich jene schleppende Form [= das Pronomen dieselben] auf der mündlichen Konversationssprache verdrängt, so verunstaltet und lähmt sie doch desto häufiger unsere schriftliche Unterhaltungs- und Geschäftssprache. (Gedike 1796: 309)
Mit der Bezeichnung mündliche und schriftliche Umgangssprache meint Gedike – nach unserer Interpretation – die Unterscheidung von „Konversation“ und „Korrespondenz“ (vgl. die Unterteilung von Dialog in medial phonisches „Gespräch“ und medial graphische „Korrespondenz“ in Kilian 2005: 5, 56). Das Modell der Umgangssprache als die Größe im graphischen und phonischen Distanzbereich nennen wir UMGANGSSPRACHE 4. Sie ist folgendermaßen zu veranschaulichen: Tab. 9: UMGANGSSPRACHE 4: Distanzbereich, graphisch UND phonisch (IIA und IIB)
konzeptionell medial
I) Nähebereich
II) Distanzbereich
A) graphisch
—
schriftliche Umgangssprache
B) phonisch
—
mündliche Umgangssprache
mündliche und schriftliche Umgangssprache bei Gedike (1796)
6. Nebeneinander der Modelle von Umgangssprache bei Campe Im Wörterbuch der Deutschen Sprache (1807/1808/1809/1810/1811/1813) von Joachim Heinrich Campe wird das Wort Umgangssprache zum ersten Mal lemmatisiert:18 Die Umgangssprache (Umgangsprache), o. Mz. die Sprache des gemeinen Lebens, deren man sich im gesellschaftlichen Umgange bedienet (Conversationssprache). ‚Da sie nebenbei beweiset, wie sehr in der Umgangssprache der Römer griechische Wörter und Phrasen (Redarten) gewurzelt hatten.‘ Kolbe. (Campe 1811, Band 5: 75) 18
Von der Durchsetzung des Wortes Umgangssprache um diese Zeit zeugt z. B. die Tatsache, dass der Überarbeiter des Buches Ueber den Umgang mit Menschen von Knigge an einer von ihm vermehrten Stelle diese Bezeichnung benutzt, die eigentlich im Original (1788) überhaupt nicht vorkommt: „Dabei darf die gesellschaftliche Bildung nicht vernachlässigt werden. Bringt man junge Leute zu spät in die Gesellschaft der Erwachsenen, so leiden sie an unheilbarer Blödigkeit und Ungelenkigkeit, und werden der Umgangssprache nie mächtig“ (Knigge 1818: 262f.).
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Trotz dieser Definition ist das Verständnis von Umgangssprache, das Campe in seinem Wörterbuch dokumentiert, aber in der Tat nicht eindeutig. Wenn wir die Belege dieses Terminus in seinem Wörterbuch genau analysieren, erkennen wir, dass der Lexikograph die Umgangssprache am umfassendsten auffasst. Nach unserer Zählung kommt der Terminus Umgangssprache im Wörterbuch 67-mal vor: 16-mal im 1. Band (im „Vorbericht“ 7-mal und unter Stichwörtern 9-mal), 2-mal im 2. Band, je 1-mal im 3. und 4. Band, 2-mal im 5. Band und 45-mal im Ergänzungsband (14-mal in „Grundsätze, Regeln und Grenzen der Verdeutschung“ und 31-mal unter Stichwörtern). In den Belegen, in denen Campe von der „allgemeinen (Deutschen) Schriftund Umgangssprache“ spricht, wird mit Umgangssprache der phonische Distanzbereich (im Gegensatz zum graphischen Distanzbereich Schriftsprache) benannt: In allen [Landschaften], ohne Ausnahme, wird in allgemeinen nur landschaftliches Deutsch geredet, aus welchem die gebildeten Menschen und die Schriftsteller aller Gegenden das Beste, Edelste und Sprachrichtigste für die allgemeine Deutsche Umgangs= und Schriftsprache ausgehoben haben und noch immer auszuheben rechtmäßig fortfahren. (Campe 1807, Band 1: Bl. VIII) [...] entscheidet sich die von einigen streitig gemachte Frage: ob und in wiefern auch die Mundarten und die verwandten Sprachen zu den echten Sprachquellen für unsere sogenannte Hochdeutsche, d. i. allgemeindeutsche Sprache, gerechnet zu werden verdienen, schon von selbst. Die Antwort nämlich ist: allerdings! aber nur in sofern, als die Mundarten etwas enthalten, welches der allgemeinen Deutschen Sprachähnlichkeit gemäß und deßwegen werth ist, in die allgemeine Schrift= und Umgangssprache der Deutschen, die man unpaßlich genug die Hochdeutsche genannt hat, aufgenommen zu werden. (Campe 1813, Ergänzungsband: 37)
Bei diesem Verständnis von Umgangssprache gilt das Modell UMGANGSSPRACHE 3a (Tab. 10, S. 191; vgl. auch Tab. 8). Der Gebrauch der komparativischen Adjektive feiner, besser und höher als Modifikationen zum Substantiv Umgangssprache in folgenden Zitaten legt aber die Möglichkeit nahe, dass Campe in der Tat den Begriff von Umgangssprache im Gegensatz zum Distanzbereich auch dem Nähebereich zuspricht: Unsere Quellen also sind: die feinere Umgangssprache in allen Deutschen Ländern, und alle in der Gemeinsprache geschriebene Deutsche Werke, von den ältesten Denkmählern unserer Schriftsprache an, bis auf die neuesten Schriften, welche die letzte Büchermesse geliefert hat. (Campe 1807, Band 1: Bl. VIII) Niedrige Wörter, die ans Pöbelhafte grenzen, und deren man sich daher, sowol in der Schriftsprache, selbst in der untern, als auch ja in der bessern Umgangsspra-
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che, enthalten sollte; die aber dennoch in Bühnenstücken, wie im gemeinen Leben, wiewol nur in dem Munde ungebildeter Personen, vorkommen; z. B. Freßsack, Lausekerl, Rotznase u.s.w. (Campe 1807, Band 1: Bl. X) [...] und man wird künftig erröthen, eine eingebildete Unthulichkeit vorzuschützen, wenn von der Reinigung unserer höhern Bücher= und Umgangssprache die Rede ist. (Campe 1813, Ergänzungsband: 31) Tab. 10: UMGANGSSPRACHE 3a bei Campe: Distanzbereich, phonisch (IIB)
konzeptionell medial
I) Nähebereich
II) Distanzbereich
A) graphisch
—
Schriftsprache
B) phonisch
—
feinere/bessere/höhere Umgangssprache
Es gibt zudem „vertraute[n]“ (Campe 1813, Ergänzungsband: 127), „leichte und scherzende“ (Campe 1813, Ergänzungsband: 149) und „verderbte[n]“ (Campe 1807, Band 1: 46) Umgangssprache: Belvedere [...] Daß dieses Wort [= Belvedere] nicht für die höhere Schreibart passe, versteht sich wol ganz von selbst; aber warum es in der Umgangssprache, so wie auch in der leichten, besonders scherzenden Umgangssprache, nicht eben so gut, als Vergiß=mein=nicht, Spring=ins=Feld [...] und ähnliche scherzhafte Zusammensetzungen, Platz finden sollte, sehe ich auch heute nicht ein. (Campe 1813, Ergänzungsband: 148) Réndez-vous [...] Mit diesen Ausdrücken werden wir in der ernsteren und höhern Schreibart überall ausreichen. Für die scherzende Schreibart und für die leichte Umgangssprache (aber auch nur für diese) habe ich den nachahmenden Ausdruck, Stell=dich=ein, wie Vergiß=mein=nicht, Spring=ins=Feld u. dgl. gebildet, vorzuschlagen gewagt. (Campe 1813, Ergänzungsband: 527)
Sonst steht der Terminus Umgangssprache häufig neben dem Begriff „leichte, niedrige Schreibart“ und wird diesem praktisch (fast) gleichgesetzt: Der Gedankenblitz [...] Für die Umgangssprache und die leichte Schreibart hat eben dieser Sprachforscher das Wort Stegereifer (s. d.) empfohlen. (Campe 1808, Band 2: 247f.) Niedrige, aber deswegen noch nicht verwerfliche Wörter, weil sie in der geringern (scherzenden, spottenden, launigen) Schreibart, und in der Umgangssprache brauchbar sind; z. B. Schnickschnack, von Lessing; beschlabbern, von Göthe gebraucht. (Campe 1807, Band 1: Bl. XXI)
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Deshalb können wir annehmen, dass Campe mit Umgangssprache auch den phonischen Nähebereich angibt, wobei das Modell UMGANGSSPRACHE 1 (vgl. auch Tab. 5) gültig ist. Tab. 11: UMGANGSSPRACHE 1 bei Campe: Nähebereich, phonisch (IB)
konzeptionell medial A) graphisch B) phonisch
I) Nähebereich — Umgangssprache
II) Distanzbereich (Schriftsprache)
—
Es begegnet uns außerdem eine interessante Stelle, an der Campe die Umgangssprache als einen der „Theile der menschlichen Kenntnisse und Geistesbeschäftigungen“ (Campe 1813, Ergänzungsband: 34) bezeichnet, die „offenbar zu derjenigen Aufhellung und Bildung des menschlichen Verstandes“ (ebd.) gehören, „welche allen Menschen in allen Ständen zu wünschen wäre“ (ebd.): Die Umgangs= und Geschäftssprache, nicht bloß sofern sie in mündlichen Unterredungen, sondern auch in Briefen, schriftlichen Verhandlungen und Volksschriften aller Art, z. B. in Schauspielen, Geschichtsbüchern, Geschichtsdichtungen (Romanen), Zeitungen u. s. w. gebraucht wird. Wie mancherlei Unbequemlichkeiten und Nachtheile durch die Reinigung dieses Theils unsers Sprachschatzes vermieden werden könnten, und wie sehr die ganze Volksausbildung dadurch befördert und beschleunigt werden würde, springt jedem darüber Nachdenkenden sogleich von selbst ins Auge. (Campe 1813, Ergänzungsband: 34)
Analog zu der Erwähnung von „mündlicher und schriftlicher Umgangssprache“ in Gedike (1796; vgl. oben 5.2.) erkennt Campe hier die mündliche und schriftliche Umgangssprache (und Geschäftssprache) an. Dieses Verständnis haben wir als UMGANGSSPRACHE 4 (vgl. Tab. 9) modelliert (Tab. 12, S. 193). Blackshire-Belay (1992) meint, „daß sich Campe auch nicht ganz darüber im Klaren war, was er unter ‚Umgangssprache‘ verstehen sollte“ (Blackshire-Belay 1992: 85). Dieses begriffliche Durcheinander bei Campe können wir nunmehr als das Nebeneinander von drei verschiedenen Umgangssprach-Modellen, d. h. UMGANGSSPRACHE 1, 3a und 4 verstehen, die von seinen Vorgängern – sei es explizit oder implizit – geprägt worden waren. In diesem Sinne kann Campe als Kompilator des Verständnisses vom Umgangssprache seit Gottsched und Gellert bewertet werden.
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Tab. 12: UMGANGSSPRACHE 4 bei Campe: Distanzbereich, graphisch UND phonisch (IIA und IIB)
konzeptionell medial A) graphisch B) phonisch
I) Nähebereich — —
II) Distanzbereich Umgangssprache Umgangssprache
7. Schluss Warum kommen Wort und Begriff Umgangssprache in der zweiten Hälfte des 18. Jh. auf? Im großen Rahmen der Aufklärungszeit stellt die Sprache für das aufklärerische Denken einerseits ein Instrument, andererseits ein Objekt der Untersuchung dar. Als veränderter sprachgeschichtlicher Kontext lässt sich bestimmen, dass erst in der zweiten Hälfte des 18. Jh. die hochdeutsche Schriftsprache ostmitteldeutsch-norddeutscher Prägung auch im Süden verbreitet19 und deshalb die Schriftsprache als Gegenpol zur Mundart im allgemeinen Sprachbewusstsein fixiert war. Zur Genese des sprachreflexiv-metasprachlichen Wissens über Umgangssprache gibt es zwei Aspekte. Zum einen die ‚Sprachwirklichkeit‘, in dem Sinne, dass die Erscheinung Umgangssprache, und zwar regionale Umgangssprachen, keine Illusion, sondern durchaus eine allgemeine Sprachwirklichkeit darstellt. Zum anderen soll die ‚Mehrdimensionalität‘ der Umgangssprache genannt werden. Elspaß (2000) weist in seiner Arbeit zum Ripuarischen vom 17. bis 19. Jh. auf die Existenz der Umgangssprache als einer der „Spielarten der gesprochenen Sprache [...] spätestens für das 19. Jh.“ (Elspaß 2000: 265) hin und betont den Mischcharakter der Umgangssprache. Das Spektrum dieser Zwischenform reicht „von einem durch standardsprachliche Einflüsse ‚aufgeweichten‘ Dialekt bis zu einer standardnahen Sprechsprache mit regionalen Indikatoren“ (ebd.). Es entwickelt sich insgesamt die „innere Mehrsprachigkeit des Deutschen“ (Henne 2006b: 351) bzw. „das Neben-, Über- und Miteinander unterschiedlicher Existenzformen innerhalb einer Nationalsprache“ (ebd.). Die Flexibilität, die der „häufige Wechsel zwischen öffentlichen, halböffentlichen und privaten Situationen dem einzelnen abverlangt, dürfte die Ausformung einer Umgangssprache im Sinn 19
In den Jahren von 1725 bis 1760 kommt es „zur Ausbildung und allgemeinen Durchsetzung einer literatursprachlichen Norm, indem der Süden, zunächst um 1730 die Schweiz, dann 1750 Österreich und zuletzt 1760 Bayern“ (Wiesinger 2000: 1933) die ostmitteldeutsch-norddeutsche Form der Schriftsprache aufgreift.
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einer sozialen Ausgleichssprache“ (Linke 1996: 52) erforderlich gemacht haben. Die Genese der metasprachlichen Erkenntnis über die Umgangssprache könnte dann gerade dieses allzu weite mediale und konzeptionelle Spektrum im Nähe- und Distanzbereich bzw. seine schwere Erfassbarkeit sein, die die Neugierde der Gelehrten erweckte. Gerade deswegen wurde das Wort Umgang, das seinerseits schillernd ist, mit Recht und mit Erfolg zur Bezeichnung dieser Erscheinung gewählt. Die Umschreibungen der einen Teilbedeutung („der Umgang mit Leuten“) vom Substantiv Umgang im zeitgenössischen New and complete dictionary of the German Language for Englishmen according to the German Dictionary of Mr. J. C. Adelung von Küttner/Nicholson (1805/1809/1813) bringt dieses Schillernde auf sehr anschauliche Weise zum Ausdruck; dort wird es umschrieben mit den englischen Wörtern converse, conversation, commerce, intercourse, connexion, intelligence, friendship, acquaintance, familiarity with others (Küttner/Nicholson 1813, 3. Band: 392). Das ist zugleich der Grund dafür, dass der Terminus Umgangssprache noch heute lebendig ist, und zwar in der langen Tradition des „diffusen“ (Henne 1988: 824) bzw. „aspekt-synchytischen“ (Bühler 1965: 361) Begriffs ‚Umgangssprache‘ seit deren Geburt im Sprachbewusstsein in der zweiten Hälfte des 18. Jh.
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Stephan Elspaß
Wohin steuern Korpora die Historische Sprachwissenschaft? Überlegungen am Beispiel des ,Neuhochdeutschen‘
1. Einleitung Die Leitfrage der Debrecener Tagung, „Wohin steuert die Historische Sprachwissenschaft?“, dessen Beiträge dieser Band versammelt, verstehe ich so, dass wir nicht nur konstatieren, wohin die Historische Sprachwissenschaft steuert, sondern dass wir darüber hinaus zu ermitteln versuchen, warum sie in durchaus verschiedene Richtungen steuert, und vielleicht auch sagen, wohin sie unserer Meinung nach steuern sollte – oder vielleicht auch nicht (oder nicht mehr) steuern sollte. Zu Beginn sei ein kleiner Exkurs gestattet. In einem Gastbeitrag für die Süddeutsche Zeitung beschäftigte sich der Volkswirtschaftler Thomas Lux (2009) mit der Frage, warum Ökonomen die Wirtschaftskrise der vergangenen Jahre nicht vorhergesehen hatten. Seine Kurzantwort lautete: „Weil ihre Theorien auf Annahmen fußen, die fern der Realität sind“. Weiter führte er aus: Die [bestehenden ökonomischen] Modelle sahen drohende Fehlentwicklungen nicht, weil sie sie auf Grund ihrer Konstruktion nicht sehen konnten. Hierfür gibt es zwei Gründe: zum einen die fest verankerte, aber nicht wirklich wissenschaftlich fundierte Ansicht, dass Stabilität und Effizienz in die Finanzmärkte quasi eingebaut seien. Und zum anderen die sehr weitgehende Vernachlässigung von Wechselwirkungen zwischen wirtschaftlichen Akteuren. (Lux 2009)
Die erste Fehlkonstruktion der Ökonomielehren gehe „zurück auf idealisierte Modelle einfacher Wirtschaftskreisläufe“. Nach diesen Modellen hätten auch Praktiker wie der ehemalige amerikanische Zentralbankchef Alan Greenspan Entscheidungen getroffen, die jede Form der Regulierung von Finanzmärkten ablehnten. (Bekanntlich hat sich Greenspan inzwischen für seine Geldpolitik und deren Folgen sogar entschuldigt.)
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Stephan Elspaß
Die zweite Fehlkonstruktion in der herkömmlichen Wirtschaftstheorie bestehe darin, dass sie „[i]m Bestreben, möglichst genau das Handeln einzelner Haushalte oder Unternehmen abzubilden, […] zunehmend alle Arten von Wechselwirkungen zwischen Akteuren ausgeblendet“ habe; sie reduziere das Wirtschaftsgeschehen auf die Betrachtung sogenannter „repräsentativer Akteure“: Ein Unternehmen steht dann für die gesamte Volkswirtschaft, ein typischer Investor für den gesamten Kapitalmarkt. […] So wird es grundsätzlich unmöglich, ungewollte Konsequenzen der Entscheidungen vieler Einzelner zu untersuchen. (ebd.; Hervorhebung im Original)
Diese offenen Worte eines Wissenschaftlers über seine eigene Disziplin sind recht erstaunlich, insbesondere wenn man bedenkt, dass diese regelmäßig hochdotierte Preise für Leistungen vergibt, die der Menschheit großen Nutzen erwiesen haben, darunter den „Nobelpreis“ für Wirtschaftswissenschaften. Die Reihe möglicher Parallelbezüge zur Historischen Sprachwissenschaft soll nun nicht mit der Frage beginnen, warum die Historische Sprachwissenschaft nicht den ,gegenwärtigen Sprachverfall‘ vorhergesehen hat. Ich denke, wir sind uns einig, dass wir diese Diskussion in anderen Foren zu führen haben (was wir aber auch nicht versäumen dürfen!). Aber man kann sich ja durchaus die Frage stellen, warum es etwa der internationalen sprachhistorischen Forschung in zwei Jahrhunderten – mit insgesamt durchaus erheblichem personellen und materiellen Aufwand – nicht gelungen ist, eine weithin anerkannte Sprachwandeltheorie vorzulegen, die nicht nur die Sprachwandelprozesse der Vergangenheit zu beschreiben und zu erklären imstande ist, sondern auch zukünftige Entwicklungen voraussagen kann. Einen Teil der Antwort wird man in der Geschichte und der wissenschaftssoziologischen Struktur unseres Fachs finden können. Sicher gibt es auch in unserer Disziplin Denkkollektive, die von bestimmten Vordenkern geprägt sind und die jeweils über eine oder gar mehrere Generationen hinweg bestimmte Teilaspekte der Sprachgeschichte mit einer festgelegten Methodik untersuchen. Damit binden sie natürlich auch Kräfte bzw. behindern sogar innovative Ideen und Verfahren, wenn diese z. B. für nicht en vogue erklärt werden, weil sie manchen Vordenkern nicht in den Kram passen und es deshalb keine personelle, finanzielle und persönliche Unterstützung gibt etc.
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Nun soll man die Erfolge und Fortschritte der Forschung auch nicht kleinreden. Aber gewisse kritische Fragen wird man stellen dürfen. Dies will ich mir heute erlauben (eine habe ich schon gestellt) und gleich hinzufügen, dass ich nicht auf alle Fragen eine Antwort zu geben weiß. Ich gehe im Folgenden von zwei Thesen aus, die durch den SZ-Beitrag inspiriert sind: 1. Die Sprachgeschichtsforschung geht immer noch zu sehr von idealisierten Modellen einfacher Sprachveränderungsprozesse in geschlossenen Systemen aus. 2. Die Sprachgeschichtsforschung vernachlässigt immer noch weitgehend die Wechselwirkungen zwischen den Sprachakteuren und bestimmten gesellschaftlichen Faktoren. (Für die neuhochdeutschen Sprachperioden muss man noch hinzufügen: Die Forschung hat sich zu sehr auf das vermeintliche Wirken einiger herausgehobener Persönlichkeiten konzentriert – und viel zu wenig überprüft, was diese denn nun tatsächlich bewirkt haben. Man kann deshalb hinsichtlich der oben gestellten Frage nach einer Sprachwandeltheorie, die Voraussagen zu machen imstande ist, auch durchaus die Meinung vertreten, dass ein solches Vorhaben von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil Sprache eben ein soziales System ist, vgl. Knoop 1995: 24f.) Dies sind nun recht allgemeine Thesen, die ich am Beispiel der Forschung zum Neuhochdeutschen auf Fragen konzentrieren möchte, die die bisher zugrunde gelegten Korpora betreffen: Welche Korpora standen der Forschung bisher zur Verfügung? Inwieweit ist die Entstehung und Zusammensetzung dieser Korpora in der Forschung reflektiert worden – gerade in Bezug auf die Fragen, welche Sprachakteure unter welchen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und zu welchen Zwecken berücksichtigt wurden und welchen Zugang sie überhaupt zur Schrift hatten? Ich nehme vorweg, dass in Bezug auf den Großteil der Forschung zum Neuhochdeutschen eine Korpusmisere zu konstatieren ist. Und aus diesem Befund ergibt sich konsequenterweise die Forderung nach einer Entwicklung von mehr und von differenzierteren Korpora für diese Sprachstufen.1 An drei Fallbeispielen aus der Syntax, der Morphologie und der Phonologie des Neuhochdeutschen will ich dann zu zeigen versuchen, in welch gravierender Weise die Korpusauswahl die Ergebnisse der Forschung – beabsichtigt oder unbeabsichtigt – zu steuern vermögen.2 1 2
Unter ,Neuhochdeutsch‘ verstehe ich das Früh-, das Mittel- und das Spätneuhochdeutsche/Gegenwartsdeutsche (vgl. Elspaß 2008). Die ersten beiden Fallbeispiele sind ausführlicher in Elspaß (2005a: 254–275, 348–354) behandelt.
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2. Problemfälle des Neuhochdeutschen 2.1 Altes tun und neue am-Fügungen Zur Illustration des ersten Problemfalls lade ich zu einem kleinen Gedankenspiel ein. Stellen wir uns eine Sprachforscherin3 des 17. Jh. vor, die mit dem Wissen der heutigen Sprachwandelforschung ausgestattet wäre. Sie würde dann annehmen, dass das Deutsche auf dem Weg von einer synthetischen zu einer analytischen Sprache sei. Nun kennt die Forscherin aus dem Sprachgebrauch seiner Zeit etwa die analytischen tun-Fügungen, mit denen sich neben progressiven auch habituelle Sachverhalte u. a. vortrefflich ausdrücken lassen:4 progressiv: ja wir tun jetzt äh äh dran Arbeiten tut ihr grad essen? habituell:
ihr werdets euch wohl nicht gedacht haben daß ich Waschen thu aber in Amerika darf man sich nicht schämen wenn mann arbeitet (Brief Anna-Maria Schano aus KorbSteinreinach b. Waiblingen von 1850) doch sie brauchten den Doctor der that mehrere Tage 2 mal den Tag ihn besuchen (Brief Bernd Farwick aus Neerlage bei Bad Bentheim vom März 1867) „Der eine häkelt, der andere strickt: Ich tu gern basteln“, verrät Ida Pois. (Niederösterreichische Nachrichten, 03.04.2007, S. 66)
Durch ihre analytische Struktur ermöglichen die tun-Konstruktionen auch Verbalklammern. Deren Entstehung und zunehmende Regularisierung hat unsere Forscherin im 17. Jh. schon seit einiger Zeit, vor allem in gedruckten Texten, beobachtet. Offenbar passt sich diese Fügung syntaktisch wie auch funktional ganz wunderbar in das System des Deutschen bzw. der Varietäten des Deutschen der Zeit ein. Ob sich irgendwann aus dem tun ein Flexions3
4
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden auf die generischen Doppelformen verzichtet und stattdessen – um beide Geschlechter zu beteiligen – auf Abwechslung gesetzt. Für die Belege aus dem Korpus hingegen wurde stets differenziert, um diese Metadaten nicht verloren gehen zu lassen. Die zwei ersten Beispielsätze nach den Belegen in Schwitalla (2006: 133ff.); die drei schriftsprachlichen Belege aus Elspaß (2005a: 264) und Brinckmann/Bubenhofer (2011).
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morphem bildet, ähnlich wie im Fall des Präterital-Suffixes (wie der Forscher aus der Geschichte des Voralthochdeutschen zu wissen meint), sei dahingestellt. Wie aber sollte die Forscherin des 17. Jh. mit ihrem Wissen um die reine Lehre der systematischen Veränderungen des Deutschen ahnen können, dass das Deutsche drei Jahrhunderte später eine standardisierte Kultursprache ist, in deren Standardvarietät solche tun-Fügungen so verpönt sind, dass sie dort im Geschriebenen praktisch nicht mehr auftauchen (von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, etwa bei Spitzenstellung des Vollverbs, z. B. Lesen tu ich schon lang nicht mehr.)? Erst recht stellt sich die Frage, wie sie die verschiedenen Stadien der späteren Stigmatisierungsgeschichte der tun-Fügung, wie sie von Nils Langer (2001) ausführlich beschrieben wurde, hätte voraussehen können.5 Denn, wie gesagt, die tun-Fügung passt sich sowohl syntaktisch als auch funktional gut in das System des Deutschen ein – und zwar so gut, dass sie in allen Dialekten und vielerorts auch bis in die standardnahen Varietäten hinein bis heute gebraucht wird.6 Es gibt eine andere verbale Konstruktion im Deutschen, mit der im Grunde genau das Gegenteil passiert ist, nämlich die am-Konstruktion: Sie ist inzwischen im Standard akzeptiert (zumindest nach dem Standard der Duden-Grammatik 2009: Rd.nr. 594).7 Woher aber kommt sie? Im ,Sys5
6
7
Hier nur die wichtigsten Stationen nach metasprachlichen Quellen (Darstellung nach Langer 2011: 176ff., dort auch Zitatnachweise): Vor der Mitte des 17. Jh. war die tunFügung selten negativ konnotiert. In Kommentaren bis ca. 1680 wird sie aus stilistischen Gründen zunächst für den Gebrauch in der Literatursprache (Zesen u. a.), dann auch für die Kanzleisprache (Stieler u. a.) abgelehnt. Auch eine angebliche semantische Redundanz des Auxiliars tun wurde in diesen Zusammenhängen betont. Von norddeutschen Grammatikern wird die Fügung am Ende des 17. Jh. / Beginn des 18. Jh. als ,süddeutsch‘ markiert. Nach 1740 kamen soziolinguistische Bewertungen von (zumindest sprachhistoriographisch) wichtigen Sprachakteuren hinzu: Für Aichinger gehörte die tun-Fügung zum Sprachgebrauch der „gemeinen Leute“; für Gottsched war sie so „lächerlich“, dass sie „kaum [noch] unter Handwerksburschen und in altväterlichen Reichstädten“ gelte; Adelung rechnete sie zu den „niedrigen Hoch- und Oberdeutschen Mundarten“, die im Hochdeutschen „überaus niedrig und widerwärtig“ klinge. Campe siedelte ihren Gebrauch „im gemeinen Leben“ an, wo sie „aber in den meisten Fällen überflüssig und schleppend, folglich verwerfend“ sei, es sei denn, es solle „dem Vortrage absichtlich ein niedrig alterthümliches Ansehen gegeben werden“. Adelung und Campe folgend, bezeichnete Heyse die tunFügung als „landsch[aftlich] gem[ein]“ und als „ein überflüssiges Hülfswort“. Ab den Schulgrammatiken des 19. Jh. gilt sie endgültig als schlechtes oder falsches Deutsch in der Schrift- und später in der Standardsprache. Insbesondere in den md. Gebieten und den obd. Gebieten Deutschlands und Österreichs (s. auch Schwitalla 2006: 147f.). Die geographische Verbreitung zeigen die entsprechenden Karten des „Atlas zur deutschen Alltagssprache“ (vgl. http://www.atlas-alltagssprache/ runde_3/f08b-c/) und eine neue Karte aus dem Projekt ‚Deutsch heute‘ des IDS in Brinckmann/Bubenhofer (2011). Hoffmann (2011) schreibt: „Sie sollte allgemein akzeptiert sein.“
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tem‘ des Neuhochdeutschen vor dem 19. Jahrhundert taucht sie gar nicht auf. Sie ist aber auch nicht vom Himmel gefallen, sondern tatsächlich ,von unten‘ bzw. ,vom Rand‘, nämlich aus regional begrenzten Dialektgebieten im Westen des deutschsprachigen Raums, an die schriftsprachliche Oberfläche gekommen. Die am-Konstruktion ist auch ein gutes Beispiel für ,Sprachwandel von unten‘ im Sinne William Labovs (1975: 328). Demzufolge geht der Sprachwandel zunächst durch die weitgehend unbewusste Übernahme einer dialektalen Form durch Sprachakteure in ihre Schriftund Standardsprache vonstatten, dann – im Sprachkontakt – durch die weitgehend unbewusste Übernahme durch Sprachakteure aus Regionen, zu deren Dialekten die Form nicht gehört. Die erstaunliche areale Ausbreitung der am-Konstruktion innerhalb eines Jahrhunderts lässt sich daher in der Alltagssprache besonders gut verfolgen: In alltagssprachlichen Texten (und wenigen literarischen Texten) des 19. Jh. ist sie nur im Westen und Südwesten des deutschsprachigen Gebiets nachzuweisen; in der heutigen Alltagssprache ist sie – bis auf einige Gebiete im Osten Deutschlands und Österreichs – fast im gesamten deutschsprachigen Raum üblich (s. Abb. 1). Wenn man nun grammatischen Formen so etwas wie Karrieren zuschreiben wollte, dann müsste man die am-Konstruktion an vorderer Stelle nennen.8 Wie kam es dazu? Meine – inzwischen nicht mehr ganz taufrische (Elspaß 2005a: 274f., 2005b: 83) – Hypothese ist, dass zumindest zwischen der Stigmatisierungsgeschichte der tun-Fügung und dem InGebrauch-Kommen der am-Konstruktion ein Zusammenhang besteht. Denn die am-Konstruktion leistet Ähnliches wie die tun-Fügung – zumindest, was den grammatischen Ausdruck der Progressivität, aber auch der Habitualität betrifft: progressiv: er war im einen neügegrabenen Bierkeller am Arbeiten und einen alter Steinere Wand fiel um und traf ihm zu Tode (Brief Bernd Farwick aus Neelage bei Bentheim vom 12. Juli 1868) habituell:
8
wir sind hir im Steinbruch am Arbeiten ich und Goltschmid (Brief Matthias Dorgathen aus Mühlheim/Ruhr vom 15. Mai 1881)
Die Karriere der am-Konstruktion ist aber sicher kein Einzelfall, s. etwa die Verbreitung des (deutschen) Modalverbs müssen in den slawischen Sprachen (vgl. Hansen 2000).
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Abb. 1: Ausbreitung des am-Progressivs in der Gegenwartssprache (Quelle: AdA, Rd. 2)
Was machen nun Sprachakteure, die Habitualität und Progressivität einer Handlung gern zum Ausdruck bringen möchten, denen aber entweder rein lexikalische Mittel zu umständlich sind (Er war gerade im Begriff, in einem neugegrabenen Bierkeller zu arbeiten, als …; Wir arbeiten hier jetzt dauerhaft im Steinbruch, … o. ä.) oder denen man eingebläut hat, auf keinen Fall die tunFügung zu benutzen, da sie sich ,dumm‘ oder ,wie Kinderdeutsch‘ anhöre? Ich denke, sie würden durchaus zu einer (noch) nicht stigmatisierten grammatischen Form greifen, die Ähnliches ausdrücken kann, also z. B. zur am-Konstruktion. Für diese Hypothese spricht nicht zuletzt die annähernd komplementäre regionale Verteilung: Die tun-Fügung wird heute sprechsprachlich noch vor allem in den Gebieten verwendet, in denen die am-Konstruktion noch nicht üblich ist.9 Fassen wir zusammen: Eine grammatikalisierte Form A (die tunFügung) wird in einer bestimmten Varietät weniger verwendet. An ihre Stelle tritt eine Form B (die am-Konstruktion), die allmählich grammatikalisiert wird (vgl. Diewald 1997: 105). Diese Veränderung in Bewegung gebracht haben nicht ‚sprachinterne‘ Verwerfungen, Asymmetrien etc. Verantwortlich dafür war vielmehr ein klarer Einfluss von ‚außen‘, nämlich die Stigmatisierung der tun-Fügung durch Grammatiker und Stillehrer in mittelneuhochdeutscher Zeit. 9
Vgl. die in Anm. 6 genannten Karten.
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Zählt dies bereits zur ,externen Sprachgeschichte‘, mit der sich Sprachwissenschaftler besser nicht abgeben sollten, wenn sie in Teilen ihres Fachs ernst genommen werden wollen? Vielleicht haben so viele Sprachhistoriker eine nähere Beschäftigung mit den neuhochdeutschen Sprachperioden schon deshalb gescheut, weil sich dort neben den natürlichen und/oder ökonomischen Sprachentwicklungen immer wieder solche Querschläger finden. Wie dem auch sei: Diese sind Teil unserer Sprachgeschichte und – im Sinne meiner ersten These – in idealisierten Modellen einfacher Sprachveränderungsprozesse in geschlossenen Systemen nicht viabel beschreib- und erklärbar (nach dem Viabilitätsprinzip von Ágel 2001: 319f.). Im Sinne der zweiten These kommen wir in diesem Fall nicht weiter, wenn wir die Sprachakteure und die Wechselwirkungen zwischen den verschiedenen Akteuren unberücksichtigt lassen. Wenn wir hier gegenstandsadäquat etwas erklären wollen, dann müssen wir Sprachgeschichte eben auch als Sprachgebrauchsgeschichte, als Sprachkontaktgeschichte, als Sprachmentalitätsgeschichte, als Historische Soziolinguistik usw. behandeln, und vor allem müssen wir uns – so wie es Rudi Keller getan hat – öfter einmal fragen, was denn die Akteure des Sprachmarkts so alles umtreibt, wenn sie sprachliche Handlungen vollziehen und welche „ungewollte[n] Konsequenzen der Entscheidungen vieler Einzelner“ (Lux 2009, s. o. Abschn. 1) daraus entstehen können. Was bedeutet dies nun mit Blick auf die Forderung nach einer stärkeren Entwicklung und Arbeit mit Korpora des Neuhochdeutschen? Sichtet man die Sprachgeschichten und -grammatiken, so findet man, was die beiden erwähnten Konstruktionen betrifft, eine große Lücke. Nach den Angaben in den Handbüchern dürfte es sie etwa in Texten des 19. Jh. eigentlich gar nicht geben. Selbst in der für das Neuhochdeutsche noch zuverlässigsten Sprachgeschichte, der von Peter von Polenz, ist die tunFügung im 3. Band (19. und 20. Jh.) kein Thema mehr. Im 2. Band wird sie noch für das 18. Jh. gebucht, aber nach dieser Darstellung käme sie „fast nur in volkstümlichen Textsorten im Oberdt.“ vor (von Polenz 1994: 263). Und die am-Konstruktion? Sie taucht überhaupt nur im letzten Band der von Polenz’schen Sprachgeschichte auf, und dort auch nur mit dem Verweis auf verschiedene Verlaufsformen und mit dem knappen Befund, die am-Konstruktionen würden „in letzter Zeit immer üblicher“ (von Polenz 1999: 352). Dies ist nun nicht von Polenz anzulasten, der mit seiner dreibändigen Sprachgeschichte des Deutschen vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart (von Polenz 1994–2000) und seinem Fokus auf einer soziopragmatischen Sprachgeschichte etwas Herausragendes geleistet hat – was freilich im Wesentlichen nur möglich war, indem er sich auf bereits vorhandene Forschungsergebnisse stützte. Umso wichtiger ist daher die Erarbeitung von
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weiteren Textkorpora der neuhochdeutschen Sprachperioden, denn was diese Perioden angeht, muss man – wie schon oben vorausgeschickt – geradezu von einer Korpusmisere sprechen. Dass dies auch schon für das Frühneuhochdeutsche gilt, ist aus den gegenwärtigen Plänen für ein neues frühneuhochdeutsches Korpus zu erschließen.10 Noch mehr gilt die Feststellung einer Korpusmisere aber, wie ich meine, für die Zeit, die ich das Mittelneuhochdeutsche nenne, also für die Zeit von ca. 1650 bis ca. 1950. Es ist mir unverständlich, dass es noch keine Pläne für ein nach verschiedenen Textsorten und Regionen differenziertes Korpus des Mittelneuhochdeutschen gibt – so, wie es für die älteren Sprachstufen offenbar selbstverständlich war. Angesichts der enormen Erweiterung des Textsortenspektrums in der Neuzeit ist es schon sehr verwunderlich, dass sich bisher weder die Historische Sprachwissenschaft noch die Forschung zum Gegenwartsdeutschen, die ja u. a. auch aktuelle Entwicklungstendenzen in der Gegenwartssprache erklären will, um den Aufbau eines entsprechend differenzierten Korpus für die mittelneuhochdeutsche Sprachperiode gekümmert hat. Ich bin davon überzeugt, dass es sehr wohl lohnt, weiterhin Textkorpora areal zu differenzieren11 – selbst noch in der Gegenwart, wo es bis in die Standardsprache hinein nationale und regionale Variation auch in der Grammatik gibt (vgl. Dürscheid/Elspaß/Ziegler 2011; zur Forderung einer stärkeren Berücksichtigung der Regionen in der Sprachgeschichte etwa Berthele et al. 2003). Von daher ist das als Nähegrammatik konzipierte Kasseler Projekt zur neuhochdeutschen Grammatik (Ágel/Hennig 2006) ein wohlbegründetes Vorhaben. Dass gerade für die neue Zeit bis zur Gegenwart eine stärkere Konzentration auf nähesprachliche Texte Not tut und dass wir noch stärker die Unterschiede zwischen Nähe- und Schriftsprachlichkeit von Korpora zu beachten haben, wird am dritten Fallbeispiel näher zu erläutern sein (2.3). Mit dem Fall des Dativ-e (2.2) bleiben wir jedoch zunächst noch im 19. Jh., und hier geht es um ein besonderes korpuslinguistisches Problem, nämlich die Rolle von distanzsprachlichen Versatzstücken in nähesprachlichen Texten.
10 11
Vgl. http://www.germanistik.uni-halle.de/forschung/altgermanistik/referenzkorpus_ fruehneuhochdeutsc/. Dies ist auch noch im „GerManC project: A representative historical corpus of German 1650-1800“ geschehen, vgl. http://www.llc.manchester.ac.uk/research/projects/germanc/ papers/.
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2.2 Der Fall des Dativ-e Die Entwicklung des Dativ-e vom Mittelhochdeutschen bis zur Gegenwart verlief nicht gleichmäßig und ist gewiss nicht nur mit ,innersprachlichen‘ Faktoren zu erklären (vgl. Habermann 1997). Während im Mittelhochdeutschen noch weitgehend eine Markierung des Dativ Singular von starken Maskulina und Neutra durch das Flexiv -e erfolgte, wurde es im Frühneuhochdeutschen in Regionen wie dem Oberdeutschen und dem Westmitteldeutschen fast vollständig apokopiert; die grammatische Information verlagerte sich auf Artikelformen und Pronominal- oder Adjektivendungen. In der Folgezeit wurde das Dativ-e – vom Ostmitteldeutschen ausgehend – in geschriebenen Texten allerdings restituiert, was zu morphosyntaktischer Redundanz führte (von Polenz 1994: 254). Dass das Dativ-e an der Wende zum 19. Jh. als schriftsprachlicher Default-Fall galt und die Schulgrammatiken des 19. Jh. auf der Setzung des Dativ-e beharrten, geht – soweit wir heute wissen – im Wesentlichen auf den normativen Einfluss Gottscheds und Adelungs zurück; für die restitutive Entwicklung in der im Frühneuhochdeutschen entstehenden neuhochdeutschen Schriftsprache läge somit ein Fall des ,Sprachwandels von oben‘ vor. Nun zeigten Erhebungen in Werken von Schriftstellern des 19. Jh. ein äußerst uneinheitliches Bild (vgl. Schieb 1981: 160f.). Schon Otto Behaghels Zählungen (1900: 273) förderten das Ergebnis zutage, dass „die neuhochdeutsche Schriftsprache in keinem Augenblick ihres Daseins eine feste Regel für die Bildung des Dativs der Einzahl besessen hat, und daß auch noch heute sich keine Einheit herausgebildet hat“. Diese „geradezu verwirrende Mannigfaltigkeit“ (ebd.) schrieb Behaghel insbesondere den Schriftstellern zu, die sich in ihren Werken an der Schriftsprache orientierten und nicht an der Alltagssprache. Offenbar sah Behaghel für die Alltagssprache des 19. Jh. die e-Apokopierung als weitgehend durchgesetzt, und dies würde man auch für das geschriebene Alltagsdeutsch des 19. Jh. erwarten. In ihrer Untersuchung zur „Privaten Schriftlichkeit kleiner Leute“ kam Isa Schikorsky (1990) jedoch zu einem anderen Befund: Durchschnittlich 64% der von ihr ausgezählten Dativ-Singular-Formen von Maskulina und Neutra in ihrem Korpus waren durch -e markiert. Aus diesem zunächst doch recht überraschenden Ergebnis folgerte Schikorsky, dass die Autoren bei der Verwendung des Dativs ganz wesentlich den schriftsprachlichen Konventionen folgten und nicht, wie aufgrund der situativen Textmerkmale durchaus möglich gewesen wäre, dem mündlichen Gebrauch entsprechend auf das Dativ-e verzichteten. (ebd.: 264f.)
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War das Dativ-e im geschriebenen Deutsch des 19. Jh. nun dominant oder nicht? Diese Frage hängt freilich eng damit zusammen, a) welche Korpora man heranzieht und b) welche Fälle von Dativ-e man eigentlich zählt. Im Fall des Dativ-e lohnt – im Sinne von a) – zum einen wieder die Unterscheidung von nähe- und distanzsprachlichen Texten. Darüber hinaus habe ich dafür plädiert (vgl. Elspaß 2005: 152ff.), bei der Untersuchung historischer Textkorpora so weit wie möglich ,formelhafte‘ und ,kreative‘ Sprache zu differenzieren. ,Formelhafte Sprache‘ zielt – in der Terminologie von Helmuth Feilke (1996: 313) – auf die idiomatische Prägung von Sprache, die auch, aber eben nicht zentral Idiome umfasst und wesentlich für Sprache ist. Idiomatisch geprägte bzw. formelhafte Sprache besteht gewissermaßen aus lexikalischen bzw. äußerungswertigen Versatzstücken, die Sprachakteure mitsamt alten oder neuen grammatischen Formen reproduzieren. Bekanntlich führen schon idiomatische Phraseologismen verschiedenes sprachhistorisches ,Geröll‘ mit sich (vgl. Graser 2008: 189ff.), z. B. erstarrte Genitivkonstruktionen (guten Mutes sein, des Kaisers Bart, wes Geistes Kind jmd. ist etc.), unflektierte Adjektivattribute (eitel Freude, auf gut Glück, sich bei jmd. lieb Kind machen etc.), apokopierte Formen (in Reih und Glied, seit eh und je etc.), aber eben auch alte Dativ-e-Formen, wie nach Hause gehen, zu Buche schlagen oder in aller Munde sein.12 In Privatbriefen des 19. Jh. fallen neben solchen ,semantischen Prägungen‘ auch ganze Passagen auf, die formelhaft geprägt sind, stilistisch gehoben wirken (und auch so intendiert sind) und gerade in ihrer Dativ-e-Verwendung (vgl. auf dem Bildnisse, im Grabe im folgenden Auszug) stark mit Passagen kontrastieren, in denen alltägliche Begebenheiten geschildert werden und die (regional übliche) Apokopierungen enthalten (vgl. Woch, Wasch): [...] ach ich weinte heiße Thränen ist es den wahr liebste Eltern daß dieser holde Engel dieses liebe Kind nicht mehr unter Euch ist ach wie oft habe ich ihm auf dem Bildnisse angesehen. [...] wenn ich den Anton noch einmal sehen würde aber jetzt sein Leib er modert schon im Grabe aber seine Seele ist aufgefahren in den Himmel wo er als schöner Engel sitzt und für uns bittet. [...] wir waschen alle Woch einmal und zwar am Montag bis Mittag sind wir fertig die Mutter soll außer Sorgen sein meine Wasch ist sehr reinlich gewaschen und gebückelt und genäht und geflickt ich habe wenig zerrissenes. [...] (Brief Barbara Rueß aus Beuren bei Pfaffenhofen a. d. Roth vom August 1868)
12
Für die Gegenwartssprache stellt Konopka (2011) fest: „Das Dativ-e ist im Bereich von bestimmten (mehr oder weniger festen) Wortverbindungen zu Hause.“
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Darüber hinaus erscheinen Dativ-e-Verwendungen gehäuft in formelhaften Wendungen an Briefanfängen oder überleitenden Passagen: Liebe Geschwister! Am 17. d. erhielten wir die trauriche Nachricht. daß unser lieber, guter Vater von seinen langen, schweren Leiden dennoch durch den Tod erlöst wurde. Wie freuten, wir uns, als wir in dem Briefe vorher ersahen, daß er wieder, nach so langer Zeit, aufstehen konnte (Brief Otto Schwabe aus Bürgel, Thüringen vom 27. April 1890) Wie ich in dem Briefe vernommen habe ist der Grünwald nach [euch] da ich denk er wird sich recht Gelde ersparen und dann schreiben ein Gruß an seine Frau. (Brief Barbara Rueß aus Beuren bei Pfaffenhofen a. d. Roth vom August 1868) Im Sinne von Frage b) oben habe ich in einer Stichprobe 90 Briefe meines Korpus auf ihre Dativ-e-Verwendungen hin untersucht und zwei Zählungen durchgeführt: Die erste berücksichtigt alle Dativ-Fälle starker Substantive im Maskulinum und Neutrum, in der zweiten wurden die phraseologisch gebundenen Dative ausgenommen. Tab. 1: Endungen im Dat. Sg. ,starker‘ Substantive (mask./neutr.) (nach Elspaß 2005, S. 351, Tab. 30, u. S. 353, Tab. 31)
-e im Dat. Sg. m/n
-∅ im Dat. Sg. m/n
gesamt
129
54,4%
108
45,6%
ohne phraseologisch gebundene Fälle
61
36,1%
108
63,9%
Im Ergebnis (vgl. Tab. 1) erweist sich zum einen, dass alle phraseologisch gebundenen Dative eine e-Markierung aufwiesen. Zum anderen zeigt sich eine klare Diskrepanz zwischen dem Anteil von e-Markierungen an der Gesamtzahl der Dat.-Sg.-Verwendungen starker Maskulina/Neutra auf der einen Seite und deren Anteil an der Gesamtzahl abzüglich der phraseologisch gebundenen Fälle auf der anderen Seite. Rechnet man also die Dativ-e-Vorkommen in formelhafter Sprache heraus, kommt man zu einem dem Befund von Schikorsky völlig entgegenstehenden Ergebnis: Zwei Drittel der in Rede stehenden Dative sind flexivisch nicht markiert,
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ein Drittel ist markiert.13 Selbst da, wo rhythmische Gründe eigentlich für das Setzen eines Dativ-e sprechen, wird es oft nicht gesetzt: Hir will ich Euch die Welltgeschichte von Amerika beschreiben in dem Jahr 1860 (Brief Ludwig Wilhelm Müller aus Massenheim bei Bad Vilbel vom 8. Januar 1865) im Fall du nach Ulm kommen solltest so sey so gut u gehe auch zu meiner Schwägerin (Brief Johann Jakob Schwarz aus Blaubeuren bei Ulm vom 13. Juli 1856) Wenn man also Dativ-e-Fälle ausklammert, die in Versatzstücken formelhafter Sprache gewissermaßen ,nur reproduziert‘ wurden, dann lautet der flexionsmorphologische Befund für das Briefkorpus eindeutig, dass das Dativ-e in dieser nähesprachlichen Textsorte des 19. Jh. nicht mehr dominant und nicht mehr produktiv war. Und da sich progressive Formen eher in nähe- als in distanzsprachlichen Texten zeigen, kann für das geschriebene Deutsch im 19. Jh. festgehalten werden, dass sich auch hier die längerfristige Entwicklungstendenz des Dativ-e-Abbaus fortsetzte. Wenn es nicht so wäre, hätte man in der Tat Schwierigkeiten, den weiteren Schwund des Dativ-e im 20. Jh. bis zu seinem fast völligen Fehlen in der Gegenwartssprache zu erklären. 2.3 Von der ,althochdeutschen Silbensprache‘ zur ,neuhochdeutschen Wortsprache‘ Mit dem dritten Beispiel komme ich zu einem Fall (möglichen) phonologischen Wandels. Seit einigen Jahren liegt ein Arbeitsbuch zur „Historischen Sprachwissenschaft des Deutschen“ (Nübling et al. 2006) vor, das – anders als etwa die meisten einbändigen Sprachgeschichten des Deutschen – eine „Einführung in die Prinzipien des Sprachwandels“ gibt. Die Kernhypothese des Kapitels zum phonologischen Wandel des Deutschen ist, dass sich das Deutsche von einer Silben- zu einer Wort13
Ein Anteil von einem Drittel e-Markierungen ist für ,geschriebene Alltagssprache‘ immer noch hoch. Er lässt sich so begründen, dass die dem Korpus zugrunde liegenden Briefe relativ nähesprachlich sind, aber eben nicht die prototypischen Nähesprachen des 19. Jh., nämlich die Dialekte, repräsentieren. Die Menschen des 19. Jh. verschrifteten nicht Dialekte, sondern schrieben in einer Schriftsprache, die sie in der Schule gelernt hatten.
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sprache entwickelt habe. Das Kapitel stützt sich dabei im Wesentlichen auf die Dissertation „Der phonologisch-typologische Wandel des Deutschen von einer Silben- zu einer Wortsprache“ von Renata Szczepaniak (2007). Ich möchte im Folgenden einige kritische Fragen aufwerfen, die zentral auf das Problem der Korpora zielen, die hier den Vergleichen von phonologischen Systemen wie dem ,des Althochdeutschen‘ und ,des Neuhochdeutschen‘ zugrunde liegen. Die Bedenken will ich zu illustrieren versuchen an einer Teilhypothese, nämlich der (angeblichen) „Verschlechterung der Silbenstruktur“ durch Konsonantencluster. Ich bin zunächst über folgende Stelle gestolpert: 4) Nicht zu übersehen ist auch die sehr einfache Silbenstruktur im Ahd: Höchstens zwei Konsonanten treten nebeneinander auf. Ein Blick auf nhd. Wörter verrät hingegen schnell, dass mehrgliedrige Konsonantenfolgen hier keine Seltenheit sind. Sowohl in Simplizia wie Hengst, Kämpfe, Sprache, schimpfst als auch in Komposita wie Sandstrand, Farbstift finden sich umfangreiche Konsonantencluster. 5) Ein geübtes Auge findet im angeführten ahd. Text auch einen epenthetischen Vokal (Sprossvokal), nämlich in ‘Berg’. Dieser eingeschobene Vokal erleichtert die Aussprache, weil er die Silbenstruktur noch weiter optimiert […]. (Szczepaniak in Nübling et al. 2006: 23; ähnlich in Szczepaniak 2007: 2f.)
Nun hat das neuhochdeutsche Wort Sprache im Onset sicher genauso viele Konsonanten wie das althochdeutsche sprĆhha, und man könnte fragen, ob der ,eingeschobene‘ Vokal in pereg also darauf hindeuten soll, dass die Silbenstruktur vor dem Althochdeutschen schlechter war (was übrigens das sichere Wissen voraussetzt, dass er erst im Althochdeutschen eingeschoben wurde).14 Wie steht es aber mit der Aussage, dass „mehrgliedrige Konsonantenfolgen“ im Neuhochdeutschen „keine Seltenheit“ seien? Schon intuitiv möchte man meinen, dass etwa Cluster wie in schimpfst die absolute Ausnahme sind (auch wenn sie zu den Standard-Lehrbuchbeispielen für maximale Konsonantencluster in der Silbenkoda des Standarddeutschen gehören). Darüber hinaus hatte ich gerade an meinen alltagssprachlichen Briefen des 19. Jh. die punktuelle Beobachtung gemacht, dass – im Gegensatz zu distanzsprachlichen Texten der Zeit – eine Vereinfachung von Konsonantenclustern in der Koda auch verschriftet wurde. So kommt es zu Schreibungen wie hälst, außerordenlich, hoffenlich, öffenlich, vollens, Lanßleute, nirgens, allenhalben15 14 15
Vgl. schon die Kritik von Wolf (2008: 441f.). Diese Beispiele in Elspaß (2005: 443f.). Die folgenden sind weitere Belege aus dem dort zugrunde gelegten Korpus.
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Mathes wen Du Dier die Nase abschneitest verschimpfs Du Dier Dein Gesicht (Brief Matthias Leclerc aus Vallendar vom 2. Oktober 1864) es ist hir schon so heiß wie es zu Hause selbs im August nicht wird mehr wird es mich freuen wenn ich von euch selbs einen Brief bekommen werde (Briefe Matthias Dorgathen aus Mühlheim/Ruhr vom 15. und 26. Mai 1881) Doch was machs Du und die lieben Kinder seid Ihr Alle noch gut zufrieden (Brief Karl Ludwig Lehmann aus Havelberg vom 7. September 1863) Du schreibs es gefällt dir nicht ganz gut in Amerika (Brief Peter Kirst aus Züsch bei Trier vom 4. September 1981) Eine „Tendenz zur Vereinfachung von Konsonantenclustern“ sah auch Schmidt (2002: 339) in Beispielen von Superlativbildungen wie erregenst, berüchtigst16, meistbegünstigst. Am folgenreichsten für die Reduzierung von Konsonantenclustern in der Koda ist die seit dem Mittelhochdeutschen auftretende Apokopierung finaler Dentale. Für das Frühneuhochdeutsche wird etwa die d/t-Apokope interessanterweise z. T. für genau dieselben Lautumgebungen beschrieben, in denen auch t-Epenthese stattfand, z. B. nach ch wie in nich, rech (vs. dicht, frecht, nachtbar, sprichtwort), nach n wie in tausen, mon (vs. mond, nebent, öffentlich u. a.) oder nach g wie in klag, sag (vs. predigt, willigt), und auch schon zur Vermeidung von Mehrfachkonsonanz in Wortbildungen, z. B. lichmesse, leichfertig, gedächnis, wilbret, langraf, fasnacht (vgl. Reichmann/Wegera 1993: § L 47, 4). Dabei muss die t-Epenthese im Frühneuhochdeutschen übrigens nicht immer als Stärkung der morphologischen Struktur oder als ,wortoptimierend‘ gesehen werden; sie wird ja – im Gegenteil – auch gerade im Sinne einer „Ausspracheerleichterung“ interpretiert (vgl. ebd.). Schriftsprachlich wird auslautendes t im Neuhochdeutschen (wie im Neuniederländischen) beibehalten; „diese allgemeine Resistenz bedeutet jedoch nicht, dass keine umgangssprachliche t-Tilgung im Deutschen möglich wäre“ (Maitz/Tronka 2009: 191).17 So zeigen etwa Daten aus dem aktuel16 17
Wenn man übrigens das Wort berüchtigtste in eine beliebige Internetsuchmaschine eingibt, wird man mindestens genauso viele Treffer für die orthographisch falsche wie für die orthographisch richtige Schreibung finden. Das gilt auch für andere Positionen von t in Konsonantenclustern, vgl. schon eine entsprechende Feststellung von Paul (1916: 326): „Verstummt, aber in der Schreibung beibehalten ist t vor st in du hältst, fichtst, flichtst“.
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len Projekt „Sprachvariation in Norddeutschland (SiN)“, dass in nähesprachlichen Redesorten (Familiengesprächen) in 58,3% aller Fälle (N=20.232), in denen schriftsprachlich -t steht, apokopiert wird; bei frequenten Wörtern wie nicht, ist, selbst oder sonst sowie in Verbformen der 2. Pers. Sg. ist t-lose Aussprache dort die Normalaussprache.18 Diese Vereinfachungen – vor allem durch Dentalausfall – führen meist zu nur noch zwei- bis dreigliedrigen Konsonantenclustern. Selbst ein Wort mit komplex erscheinender Koda wie schimpfst reduziert sich dadurch auf nur noch drei Konsonanten im Endrand. (Dies wäre etwa auch bei mir die ganz normale Aussprache: [ǴǛǢfs].) Eine andere Form der Vermeidung von Konsonantenclustern ist die Einfügung von Sprossvokalen, die es heute nicht nur in Dialekten, sondern regional auch in der standardnahen gesprochenen Sprache ganz regulär gibt. In Regionalsprachen des Westens etwa ist die Aussprache von Einsilblern mit Sonorant und folgendem Frikativ wie Milch, fünf, Senf, Ralf mit Hilfe eines epenthetischen (oder alten?) Vokals erleichtert: Milich, fünef, Senef, Ralef usw. (Auer 1997). Hier stellen sich die nächsten Fragen: Warum werden hier offensichtlich nicht die Wörter, sondern die Silben gestärkt? Wenn die Drift des Deutschen von einer Silben- zu einer Wortsprache anhalten würde (was hat sie eigentlich ausgelöst, und gibt es da ein Ende?), dann wären solche – durchaus nicht marginalen – silbenfreundlichen Gegenbeispiele zur Stärkung der ,Wortgrenzen‘ zumindest erklärungsbedürftig. Deuten diese Belege aus nähesprachlichen Texten und Registern auf eine Gegentendenz zur Konsonantenverclusterung, oder können sie gar als Indikatoren für eine clustervermeidende Kontinuität in der gesprochenen (Nähe-) Sprache interpretiert werden? Von diesen Beobachtungen zu den Verhältnissen in nähesprachlichen Text- und Redesorten ausgehend muss schließlich die grundsätzliche Frage gestellt werden, welche Korpora miteinander verglichen werden, wenn von ,der althochdeutschen Silbensprache‘ und ,der neuhochdeutschen Wortsprache‘ die Rede ist. Als Beispieltexte dienen in der erwähnten Einführung der erste Teil des Wessobrunner Gebets und dessen neuhochdeutsche Übersetzung. Sind diese beiden Texte – die ja offensichtlich exemplarisch für Ausschnitte des althochdeutschen und des neuhochdeutschen Korpus stehen sollen – in Bezug auf die Silbenstruktur des gesprochenen Deutsch überhaupt miteinander vergleichbar? Hier sind aufgrund eines grundsätzlichen Unterschieds der Texte, denen die verglichenen phonologischen Systeme zugrunde liegen, starke Zweifel anzumelden: Im 18
Dazu sowie zu den Steuerungsfaktoren für die t-Apokope s. Elmentaler (2011: 66ff.); vgl. auch schon Meinhold (1973: 109f.).
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Fall ,des Althochdeutschen‘ liegt nämlich medial Geschriebenes vor, das nach dem gesprochenen Wort geformt wurde, gewissermaßen eine Transliteration, eine Verschriftung gesprochener althochdeutscher Dialekte. Im Fall ,des Neuhochdeutschen‘ haben wir es dagegen mit einer idealisierten, homogenisierten Standardaussprache nach der Schrift zu tun, und zwar einer verschriftlichten Varietät, auf der die phonologische Beschreibung beruht. (Stellen wir unserer Sprachforscherin des 17. Jh. kurz einen Sprachforscher des 16. Jh. an die Seite: Wie hätte dieser ahnen sollen, dass sich ein Jahrhundert später die hochdeutschen gegen die niederdeutschen Schreibsprachen durchsetzen würden und sich die Norddeutschen in den darauffolgenden Jahrhunderten für den Verlust ihrer Schreibsprachen dadurch ,revanchieren‘ sollten, dass sie eine Orthoepie nach einer möglichst graphemgetreuen Aussprache des Schriftdeutschen festlegen würden, das auch für sie ganz klar eine Distanzsprache war?) Wie weit Nähe- und Distanzsprache im Althochdeutschen auseinanderlagen, ist heute schwer zu sagen. Man kann aber sehr gut dafür argumentieren, dass die uns überlieferten althochdeutschen Texte prinzipiell nähesprachlich sind, weil der Distanzbereich durch eine ganz andere Sprache, nämlich Latein, ausgefüllt war (vgl. Koch 2010: 162ff., Ernst/Elspaß 2011: 254ff.). Dagegen dient unsere heutige Standardvarietät wohl nur einem kleinen Teil der Sprachteilnehmer und -teilnehmerinnen als Sprache der Nähe. Wie sehen denn die Silbenstrukturen aus, wenn man auch für das Neuhochdeutsche (genauer: die Gegenwartssprache) tatsächlich Verschriftungen gesprochener Sprache zugrunde legte? Die Grundüberlegung ist dabei, dass man, um die phonologische Struktur des Althochdeutschen mit der phonologischen Struktur des Neuhochdeutschen vergleichen zu können, für das Neuhochdeutsche ein Korpus heranziehen müsste, das sich nicht an der Schreibung oder den Aussprachenormen der Aussprachewörterbücher orientiert, sondern an der Transliteration bzw. Transkription gesprochener Sprache des Deutschen. Dies sei nur einmal am Beispiel der schon erwähnten Komplexität der Silbenendränder beleuchtet. Wir haben – wieder stichprobenartig – die Struktur der Silbenendränder von 1.750 Silben aus gesprochenen und transkribierten Texten von vier Sprechern des Deutschen ausgezählt (vgl. Tab. 2). Die Transkripte stammen aus den „Proben deutscher Umgangssprache“ von Margret Sperlbaum (1975). Alle vier Sprachproben stammen von Sprechern aus dem norddt. Raum, für den man ja davon ausgeht, dass dort besonders schriftnah ausgesprochen wird.
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Stephan Elspaß Tab. 2: Komplexität von Silbenendrändern in Sprachproben aus Sperlbaum (1975)
Silbenendrand:
offen
1-fach besetzt
mit silb. Konson. 1-fach bes.
2-fach besetzt
3-fach besetzt
Silben insgesamt
Sprecher S. 72 (Braunschweig)
121 27,31%
244 55,08%
55 12,42%
22 4,97%
1 0,23%
443
Sprecherin S. 76 (Braunschweig)
65 26,75%
140 57,61%
9 0,04%
29 0,09%
0 0,00%
243
Sprecherin S. 80 (Hannover)
164 35,04%
262 55,98%
9 1,92%
32 6,84%
1 0,21%
468
Sprecherin S. 84 (Göttingen)
165 27,68%
306 51,34%
42 0,07%
74 12,42%
9 0,02%
596
Es handelt sich hier, wie gesagt, nur um vier Stichproben. Und es ist klar, dass man noch weiter nach Types und Tokens differenzieren könnte, dass man noch mehr Sprecher – auch aus anderen Gebieten – hinzuziehen müsste etc. Aber eines wird doch mit einem Blick auf diese wenigen Ergebnisse bereits schnell deutlich: Wenn eine Silbe im gesprochenen Gegenwartsdeutschen geschlossen ist, dann mehrheitlich mit einfach besetzter Koda; wie im Althochdeutschen können auch zweigliedrig besetzte Silbenendränder vorkommen, und dreigliedrig besetzte Endränder sind im Neuhochdeutschen eben nicht „keine Seltenheit“ (Szczepaniak in Nübling et al. 2006: 23), sondern sehr wohl eine Seltenheit. Vier- oder gar fünfgliedrige Koda schließlich gibt es wohl nur in der Explizitlautung von Ausspracheschulen oder Lehrbuchbeispielen. Wenn die Komplexität der Silbenendränder im Althochdeutschen und im Neuhochdeutschen ein Argument für den Wandel von der Silben- zur Wortsprache sein soll, dann ist dies wohl nicht das beste Argument. Alles in allem stellt sich der Eindruck ein, dass die Teilhypothese von der Verschlechterung der Silbenränder nur dann trägt, wenn idealisierte und homogenisierte phonologische Systeme eines eher nähesprachlichen Althochdeutschen und einer eher distanzsprachlichen Standardvarietät des
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Neuhochdeutschen miteinander verglichen werden. Gerade die Wechselwirkungen zwischen phonologischem und graphematischem Wandel seit dem Frühneuhochdeutschen scheinen bei diesem Vergleich wenig Berücksichtigung zu finden: „Das Zeitalter des morphologischen Prinzips […] korreliert […] mit dem wortsprachlichen Ausbau des Deutschen.“ heißt es in Nübling et al. (2006: 182). Müsste es nicht eher folgendermaßen heißen? Das Morphemkonstanzprinzip konsolidierte die strukturelle Stabilität des Worts auf graphischer Ebene und optimierte so die Sinnerfassung beim Lesen. Denn das Wort hat in der Schriftsprache eine ganz andere Prominenz als im Gesprochenen. Und wenn im Standarddeutschen die Aussprache der Schrift folgt und die Explizitlautung Maßstab für die phonologische Beschreibung des Neuhochdeutschen ist, kommt am Ende auch auf phonologischer Ebene eine ,Wortsprache‘ heraus.
Die Bedenken, die hier vorgetragen werden, zielen also im Kern auf die dem Vergleich zugrunde liegenden Korpusdaten – genauer: auf die mangelnde Vergleichbarkeit der Korpora. Zunächst einmal stammen die Daten, auf die sich die Hypothese stützt, aus Grammatiken; sie sind also allenfalls vermittelte empirische Daten. Man müsste im Grunde genommen zunächst deren Datenbasis, deren Quellenauswahl, die Auffassung der Grammatikschreiber von ,dem Althochdeutschen‘, ihre Kriterien für die Aussonderung von ,Schreibfehlern‘19 etc. einer Prüfung unterziehen. Somit haben wir auf der einen Seite eine althochdeutsche Grammatik, der Angaben über die Silbenstrukturen des Althochdeutschen entnommen werden, wobei das Althochdeutsche, das dort beschrieben wird, eben auf der Grundlage von Transliterationen gesprochener Dialekte konstruiert ist, die in keiner Weise standardisiert waren. Auf der anderen Seite werden als Vergleichsstück Silbenstrukturen herangezogen, die auf der Grundlage einer idealisierten Aussprachenorm nach der Schrift einer Standardsprache beschrieben werden. Ich meine, beides ist nicht vergleichbar. Und wenn es doch verglichen wird, so ist das Ergebnis wenig erstaunlich. Tatsächlich müsste man zumindest für diesen Wandel – oder besser: Unterschied – keine typologische Drift bemühen, sondern die Entstehung der neuhochdeutschen Standardsprache in Rechnung stellen, die ja vor allem mit sogenannten ,sprachexternen‘ Faktoren zu tun hat (wie auch die anderen beiden Fallbeispiele zeigten). Nicht sehr überraschend ist dann übrigens auch die Feststellung, dass das Schweizerdeutsche und das Luxemburgische (also eben keine bzw. noch nicht standardisierten Sprachen!) im Gegensatz zum standardisierten Neuhochdeutschen Silbensprachen seien und das Schweizerdeutsche so19
Vgl. kritisch dazu etwa Ernst/Glaser (2009: 1002).
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gar eine typologische Kontinuität zum Althochdeutschen aufweise (Szczepaniak 2007: 317ff. und in diesem Band). Sicherlich ließe sich dann auch für andere Dialekte schnell nachweisen, dass sie im Vergleich zur Explizitlautung des Standarddeutschen eine eher silbensprachliche Struktur haben. Interessanter erscheint mir da allerdings die Frage, warum einige Dialekte des Deutschen ,silbensprachlichere Züge‘ aufweisen als andere (vgl. Nübling/Schrambke 2004). Soweit ich sehe, werden dafür bisher im Wesentlichen Einflüsse des Kontakts mit Sprachen geltend gemacht, die noch silbensprachlicher (weil, wie im Beispiel des Italienischen, nicht akzentzählend) sind.
3. Fazit Ich will zum Schluss auf die von mir leicht modifizierte Ausgangsfrage dieses Bands zurückkommen und meine Plädoyers noch einmal bündeln: Mein Beitrag versteht sich zunächst als Plädoyer für mehr korpusgeleitete als ,korpusgestützte‘ Ansätze in der Historischen Sprachwissenschaft. Dies sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein – wenn sich Theorien nicht ihre eigenen Wirklichkeiten schaffen wollen (vgl. König 2000). Voraussetzung für korpusgeleitete Studien sind freilich gute Korpora. Man könnte nun meinen, dass es für die älteren Sprachstufen, gerade für das Althochdeutsche, nicht mehr allzu viel Neues zu entdecken gäbe. Doch gerade Arbeiten zu althochdeutschen Glossen (besonders Griffelglossen) haben in letzter Zeit noch einmal – buchstäblich – vor Augen geführt, dass dort durchaus noch nicht alles zutage gefördert ist (vgl. z. B. Ernst/Glaser 2009). Für die neuhochdeutschen Sprachperioden stelle ich die Forderung nach besseren und differenzierteren Korpora besonders entschieden und nachdrücklich. Es ist im Grunde skandalös zu nennen, dass die wahre ,Explosion‘ der Schriftproduktion und die Entstehung eines vielfältigen Textsortenspektrums in der Neuzeit, die beide nicht zuletzt mit der Tatsache zusammenhängen, dass die Zahl der Schreiber sowie Leser massiv zugenommen hat – dass also all dies außer Acht gelassen wird, weil man etwa vorempirische Auffassungen, dass zu ,dem Neuhochdeutschen‘ das Wichtigste schon geschrieben sei, ungeprüft übernimmt und tradiert. (Ein Blick in einige der in letzter Zeit erschienenen kurzen Sprachgeschichten des Deutschen, denen man z. T. auch vorwerfen kann, dass sie nur noch das kunstvolle Übernehmen und AndersFormulieren kultivieren, bestätigt diesen Eindruck.) Ich habe in meinem Beitrag an drei Fallbeispielen aufzuzeigen versucht, dass eine Vernachlässigung der Korpusfrage zu lückenhaften oder auch inadäquaten Beschreibungen bzw. Erklärungen für die Entwicklung sprachlicher Phänomene
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führen kann. Anders gesagt: Korpora können auch in eine bestimmte Richtung steuern. Stärker differenziert werden sollte daher in Korpora historischer Sprache sowohl nach Regionen als auch nach Textsorten (konzeptioneller) mündlicher und schriftlicher Sprache. (Dazu gehört auch die Differenzierung zwischen handgeschriebenen und gedruckten Texten.) Vilmos Ágel (2003: 11ff.) hat m. E. in überzeugender Weise dargestellt, dass in der Neuzeit ein „oral-konnektionistisch geprägte[s] kontextgrammatisches Denken“ allmählich von einem literalisiert-kognitiviert geprägten „symbolgrammatischen“ Denken überlagert wurde; bisherige sprachhistorische Beschreibungen sind nun – vor allem für die Neuzeit – im Wesentlichen von einem „skriptizistischen“ und teleologischen Blick geleitet. Dieser wiederum gründet auf verschiedenen Sprachideologien (Standardsprachenideologie, Homogenismus u. a.), die seit dem 19. Jh. die Historische Sprachwissenschaft dominieren. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass handgeschriebene nähesprachliche Texte, die den statuierten Normen von Schriftsprachen weniger unterliegen als distanzsprachliche Drucktexte, i. d. R. progressivere Formen zeigen. Gerade das macht Texte wie Privatbriefe, Tagebücher und andere ,Ego-Dokumente‘ nicht nur für die Historische Soziolinguistik, sondern auch für die Sprachwandelforschung so wertvoll (vgl. Elspaß i. Dr.). Schließlich plädiere ich auch für eine stärkere Berücksichtigung der Sprachakteure und der Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Akteuren und Gruppen von Akteuren in sprachhistorischen Analysen. Dabei hilft uns die moderne pragma-, sozio- und variationslinguistische Forschung, indem sie uns recht genau zeigt, welche Prozesse in sprachlicher Interaktion ablaufen und welche insbesondere zu Sprachwandel führen. Wir sollten darüber hinaus alles tun – und dies ist für die jüngeren Zeiten sehr viel eher möglich als für die älteren –, um so viel wie möglich über die historischen Akteure, die Schreiber bestimmter Texte, ihre Adressaten und Adressatinnen, ihre Herkunft, über die sozialen und pragmatischen Umstände der Entstehung dieser Texte (inklusive der schriftsprachlichen Vorbilder und Muster) herauszufinden. So wenig, wie es ,das Althochdeutsche‘ oder ,das Neuhochdeutsche‘ gibt, gibt es auch nicht ,die Historische Sprachwissenschaft‘. Sie ist eine sehr heterogene Teildisziplin der Linguistik, die sich weder auf einen bestimmten Kurs bringen lässt noch jemals auf einen solchen bringen lassen darf. Man wird als Forscher aufgrund eigener Interessenlagen, Überzeugungen, vorhandener Kapazitäten oder auch in Anbetracht vorherrschender oder als ,modern‘ apostrophierter Paradigmen nicht umhin können, sich auf Ansätze zu konzentrieren, die etwa eher sprachinterne oder eher sprachexterne Faktoren des Sprachwandels in den Vordergrund rücken
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(vgl. dazu etwa Reiffenstein 1990 oder Milroy 1997). Für das Neuhochdeutsche ist eine Ausklammerung der ,äußeren‘ Sprachgeschichte jedoch aufgrund der Standardisierungsgeschichte schlichtweg undenkbar, wenn man ein realistischeres Bild dieser Sprachstufe(n) zeichnen will. Und gute Korpora werden allemal benötigt, um – korpusgeleitet – Hypothesen zum Sprachwandel in tauglicher Weise testen zu können.
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Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte: Korpusgeleitete Zugänge zur Sprache der 68er-Bewegung
1. Soziale kommunikative Stile und soziopragmatische Sprachgeschichte 1.1 ‚Stil‘ als Desiderat der soziopragmatischen Sprachgeschichte Während die soziopragmatische Sprachgeschichte für gewöhnlich analytische Begriffe aus anderen (Teil-)Disziplinen schnell in ihr konzeptuelles Repertoire integriert – und dies häufig sogar schneller als die synchron interessierte Soziolinguistik –, ist sie dem Begriff des kommunikativen sozialen Stils gegenüber erstaunlich resistent geblieben. Und dies, obwohl der Begriff in der Ethnographie der Kommunikation, der Gesprächslinguistik und Konversationsanalyse in den vergangenen 30 Jahren eine rasante Karriere gemacht und sich zu einem ihrer Schlüsselbegriffe entwickelt hat. Über die pragmatische (Sandig 1986) und konversationelle Stilistik (Tannen 1995), die interaktionale Soziolinguistik (Gumperz 1982; Selting und Hinnenkamp 1989) und die Soziostilistik (Kallmeyer 1994) ist das Stilkonzept als speech style, Gesprächsstil oder kommunikativer sozialer Stil zur zentralen Kategorie der ethnografisch-interaktionsanalytischen Linguistik avanciert. In der Sprachgeschichte hingegen findet bestenfalls der Stilbegriff der Textlinguistik Verwendung. Es liegt nahe, das geringe Interesse am Stilkonzept auf die Quellenlage zurückzuführen. Die Sprachgeschichte, so könnte man mutmaßen, verfügt nicht über die erforderlichen Daten, um eine ethnographisch gesättigte interaktionsanalytische Forschung zu betreiben. Die Entwicklung der Historischen Pragmatik zu einer veritablen Teildisziplin der soziopragmatischen Sprachgeschichte mit umfangreicher Forschungstätigkeit widerspricht jedoch dieser Vermutung. Gemessen an ihren fundierenden programmatischen Schriften (Fritz 1994, Fritz 1995, Jacobs/Jucker 1995,
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Rehbock 2001 und Jucker/Fritz/Lebsanft 1999) hat die Historische Pragmatik den Anspruch, weite Bereiche der Geschichte gesprochener Sprache zu rekonstruieren: die Historizität von Sprechakten, den Wandel von Konversationsmaximen, den Wandel von Dialog- bzw. Kommunikationsformen und die Geschichte verbaler und nonverbaler Ausdruckselemente der verbalen Interaktion. Insbesondere der Wandel von Mustern der verbalen Interaktion, der gedeutet wird als Wandel soziokommunikativer Ausdrucksbedürfnisse, wird dabei ins Zentrum des Interesses gerückt (vgl. Fritz/Jucker 2000, Rehbock 2001 sowie Kilian 2002 und Kilian 2005). Es ist evident, dass Teile historisch-pragmatischer Forschung das Potenzial haben, mit dem Begriff des Stils als Analysekategorie zu arbeiten, als da wären die Geschichte kommunikativer Praktiken, der das Hauptinteresse der Historischen Pragmatik zu gelten scheint, oder auch die Forschung zum Wandel verbaler und nonverbaler Ausdruckselemente. Die Betrachtung der Sprachgeschichte durch die konzeptuelle Brille des Stilbegriffs ist insofern interessant, als das Stilkonzept – wie die folgenden Ausführungen zeigen – soziokulturelle, kontextuelle und im engeren Sinne sprachliche Phänomene in einen gemeinsamen Deutungshorizont einordnet, der für ein reicheres Verständnis der Sprach- und Kulturgeschichte hilfreich ist. 1.2 Zum Begriff des ‚Stils‘ ‚Stil‘ ist ein Begriff im Schnittpunkt zahlreicher Wissenschaften: in Kunstwissenschaft, Literaturwissenschaft, Soziologie, Psychologie und weiteren Disziplinen, darunter auch der Linguistik, ist der Stilbegriff ein analytisches Konzept, mit dem die spezifische Art und Weise der Durchführung von Handlungen oder der Ergebnisse von Handlungen in den Blick genommen werden. Viele Definitionen stimmen grundsätzlich darin überein, dass sie Stil als eine (Aus-)Wahl bestimmter Elemente aus einer Menge quasi-synonymer Ausdrucksmöglichkeiten aus dem gesamtgesellschaftlichen Zeichenrepertoire bestimmen. Diese (Aus-)Wahl hat soziale Signifikanz insofern, als sie die Identitäten der Träger von Stilen mitkonstituiert, Interpretationsrahmen transportiert und handlungsleitende Kontexte generiert.1 Stil ist ein holistisches Konzept, weil es den Gebrauch von Zeichen unterschiedlicher Materialität, Medialität und Komplexität als Ausdruck eines allen einzelnen Wahlen zugrunde liegenden gemeinsamen ästhetischen Schemas deutet und so 1
Vgl. die unterschiedlichen Definitionen bei Heinemann (2009: 1612).
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gewissermaßen eine tiefensemantische Homologie zwischen den unterschiedlichen Zeichen behauptet. Für einen Stilbegriff, der fruchtbar für eine soziopragmatische Sprachgeschichte ist, scheint uns der Anschluss an das soziologische Lebensstilkonzept einerseits und das Stilkonzept der interaktionalen Linguistik und Textlinguistik andererseits sinnvoll. 1.2.1 Das Lebensstilkonzept Das Lebensstilkonzept ist seit den 1980er Jahren zum zentralen Konzept nicht nur der deutschsprachigen Ungleichheitsforschung in der Soziologie avanciert und hat Konzepte wie das der Klasse oder Schicht weitgehend verdrängt (vgl. Nassehi 1998: 56f.). Diese Entwicklung korrespondiert mit einem Wandel in der Selbstdefinition der in modernen Gesellschaften lebenden Menschen. Sie bestimmen ihre eigene soziale Lage verstärkt über ihre Lebensweise und immer weniger über die Selbst- oder Fremdzuschreibung zu einer sozialen Schicht (vgl. Hradil 2001: 46). Entscheidende Anregungen für diesen Paradigmenwechsel erhielt die Ungleichheitsforschung dabei aus der französischen Kultursoziologie Pierre Bourdieus. Ihm zufolge erwerben die Mitglieder einer Gesellschaft im Laufe ihrer Sozialisation ein System dauerhafter Dispositionen, die als „Erzeugungsund Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen“ (Bourdieu 1993: 98) fungieren. Sie steuern, welche Verhaltensweisen einem Menschen als angemessen, welche Meinungen als akzeptabel, welche symbolischen Formen als geschmackvoll und welche Wissensbestände als erstrebenswert gelten. Dieses evaluative System nennt Bourdieu den Habitus. Geleitet von diesem wähle der Mensch aus der Reihe ihm in seiner Kultur zur Verfügung stehender Handlungsmöglichkeiten aus und ‚entscheidet‘ sich so für einen bestimmten Lebensstil. Dabei sind in Bourdieus Theorie die objektiven ökonomischen Möglichkeiten der entscheidende Faktor, der die dispositive Prägung während der Sozialisation beeinflusst: Die charakteristischen Strukturen einer bestimmten Klasse von Daseinsbedingungen sind es nämlich, die über die ökonomische und soziale Notwendigkeit […] die Strukturen des Habitus erzeugen, welche wiederum zur Grundlage der Wahrnehmung und Beurteilung aller späteren Erfahrung werden. (Bourdieu 1993: 101)
Auch wenn in der deutschsprachigen Lebensstilforschung die objektiven ökonomischen Bedingungen eine weitaus geringere Rolle spielen, sind
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Bourdieus Überlegungen dennoch auch hier grundlegend für eine kultursoziologische Analyse sozialer Milieus. 1.2.2 Stilkonzepte in Textlinguistik und interaktionaler Linguistik Auch in der Linguistik wird Stil als ein Set miteinander auftretender Phänomene aufgefasst, die insgesamt als Indikator für soziale oder kulturelle Bedeutung fungieren. Etwa definiert Auer (1989: 29) Stil als „Menge interpretierter, kookkurrierender sprachlicher und/oder nichtsprachlicher Merkmale, die (Gruppen/Rollen von) Personen, Textsorten, Medien etc. zugeschrieben werden“. Den Stilkonzepten der Linguistik ist zudem gemeinsam, dass sie Stil als eine Dimension von Äußerungen ansehen, die die Interpretation seitens des Rezipienten steuert, ohne zur (sprachlichen) Primärstruktur der Äußerung zu gehören. Stil ist damit eine Art pragmatische Zusatzinformation.2 Diese Bestimmung trifft auf die Textlinguistik gleichermaßen zu wie auf die interaktionale Linguistik. In Letzterer wurde der Terminus der Sozialstilistik der Kommunikation geprägt. Im Gegensatz zum Konzept des Lebensstils, dem eine dauerhafte Disposition zur Wahl bestimmter expressiver Formen zugrunde liegt, und der auch mittels nicht-transitorischer Zeichen konstituiert wird, werden kommunikative soziale Stile aus dem kommunikativen Handeln heraus konstruiert. Der Terminus Stil bezeichnet hier die interaktive und daher sozial bedeutsame Art und Weise der Handlungsdurchführung. Stile sind Zeichenensembles mit indexikalischem Wert, denn sie signalisieren, wie das Handeln zu interpretieren ist. Sie verweisen auf Interpretationsrahmen, die bei der Kategorisierung und Typisierung von Handlung, Kontext und Interaktionspartner zur Anwendung kommen (vgl. Selting 1997: 12). Sprecher verfügen über ein mehr oder weniger großes Repertoire kommunikativer sozialer Stile, aus dem sie je nach Situation oder kommunikativem Bedürfnis wählen können. In Sprechstilen sind Phänomene aus so unterschiedlichen linguistischen Subsystemen wie Rhetorik, LexikoSemantik, Syntax, Phonetik-Phonologie und Prosodie gebündelt. Dennoch werden sie von Rezipienten holistisch, d. h. ganzheitlich wahrgenommen und funktional interpretiert. D. h. das sprachliche Merkmalsbündel wird intuitiv als Index für einen Interpretationsrahmen aufgefasst (vgl. Selting 1997: 14).
2
Vgl. hierzu Fix (1987: 133). Fix (1996: 310) deÀniert, dabei Sandig (1995: 28) zuspitzend: „Funktion von Stil wäre also, kurzgefaßt, ein ‚Was‘ durch ein ‚Wie‘ im Hinblick auf ein ‚Wozu‘ auszudrücken“. Vgl. zudem Heinemann (2009: 1616).
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1.3 ‚Stil‘ in der soziopragmatischen Sprachgeschichte Angesichts der Quellenlage und der Erkenntnisinteressen der soziopragmatischen Sprachgeschichte ist es problematisch, Stil radikalpragmatisch als ausschließlich situationsgebundenen Kontextualisierungshinweis aufzufassen, der als Interpretationsressource bei der Analyse von Einzelgesprächen dienen kann. Weil die soziopragmatische Sprachgeschichte nur insofern an der sozialen und kulturellen Signifikanz sprachlichen Handelns interessiert ist, als dieser eine Typik zugeschrieben werden kann, scheint uns ein Stilkonzept sinnvoll, das zwar das einzelne Gesprächs- bzw. Textexemplar als Grundeinheit der Stilrekonstruktion auffasst, das unter Stil aber die Menge in mehreren Exemplaren der gleichen Produzentengruppe/des gleichen Mediums/der gleichen Textsorte gemeinsam auftretender Muster versteht. Wir schlagen daher vor, ‚Stil‘ als rekurrente soziokulturell signifikante Form der Handlungsdurchführung zu verstehen. Wir halten es zudem im Sinne der soziopragmatischen Sprachgeschichte für sinnvoll, sprachlich-kommunikative Stile mit Lebensstilen zu korrelieren statt mit traditionell soziolinguistischen Kategorien. Im vorliegenden Aufsatz wollen wir dies anhand einer Analyse von Lebens- und Kommunikationsstilen innerhalb der deutschen 68er-Bewegung illustrieren. Um rekurrente sprachliche Muster, die sich als soziokulturell signifikante Formen der Handlungsdurchführung deuten lassen, zu identifizieren, scheint uns ein Anschluss der (historischen) Stilanalyse an Methoden der Korpuspragmatik sinnvoll. Im Folgenden wollen wir zeigen, inwiefern die datengeleitete vergleichende Korpusanalyse eine geeignete Methode zur Rekonstruktion von Stilen sein kann.
2. Korpuslinguistik und Stilanalyse 2.1 Korpuspragmatik Die Korpuslinguistik ist eine zentrale Methode der Linguistik. Sie wird dazu benutzt, für fast alle Bereiche sprachwissenschaftlicher Forschung Daten zu konservieren, zu strukturieren und gezielt zu analysieren. War die Korpuslinguistik zunächst vor allem eine zentrale Methode der Lexiko- und Grammatikographie, ist sie inzwischen auch aus dem Methodenrepertoire von Sozio- und Gesprächslinguistik, von Pragma- und Diskurslinguistik nicht mehr wegzudenken. Während die Korpuslinguistik in der systemorientierten Linguistik die Funktion hat, wiederkehrende Muster des Sprachgebrauchs zu identifizieren, die dann als Regularitäten oder Gebrauchsnormen gedeutet werden, werden in den kultur- und sozialwis-
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senschaftlich interessierten Zweigen der Linguistik rekurrente sprachliche Muster mit kulturellen oder sozialen Phänomenen in Zusammenhang gebracht, je nach sprachtheoretischer Haltung werden sie entweder als deren Symptom oder als diese (mit-)konstituierend gedeutet. Wir wollen im Folgenden solche Ansätze als korpuspragmatisch bezeichnen. Die Korpuspragmatik deutet signifikant häufig auftretende sprachliche Muster in Korpora als Ausdruck von rekurrenten Sprachhandlungen der Autorinnen und Autoren der im Korpus enthaltenen Texte bzw. der sie autorisierenden Institutionen und Gruppen. Auf den ersten Blick erscheint es widersinnig, ausgerechnet mit dem Mittel der Korpuslinguistik pragmalinguistische Forschung betreiben zu wollen. Schließlich wird in der Linguistik die Pragmatik gerade als jene Disziplin beschrieben, die über das an der sprachlichen Oberfläche Zugängliche hinausgreift und in die Rekonstruktion von kommunikativem Sinn mit einbezieht. So bezeichnen zentrale Kategorien der traditionellen Pragmatik wie Illokution, Implikatur oder Präsupposition gerade solche linguistischen Konstrukte, die nicht an der sprachlichen Oberfläche identifizierbar sind – oder zumindest nicht vollständig. An diesem Punkt wird klar, dass die Korpuspragmatik etwas anderes ist als die Fortsetzung der traditionellen Pragmatik mit korpuslinguistischen Methoden. Sie bedient sich anderer Kategorien und anderer Strategien der (Re-)Konstruktion pragmatischer Bedeutungen. Sie ist neueren Einsichten der Pragmatik verpflichtet, nach denen sich pragmatische Informationen nicht nur auf der Ebene von Sprechakten oder aktualen Texten manifestieren, sondern zeichenhaft manifest sind „im pragmatischen Mehrwert oder Gebrauchswert von Einheiten aller sprachlicher Strukturbereiche“ (Feilke 2000: 78). Sie sucht nach pragmatischen Spuren an der (inzwischen rehabilitierten3) sprachlichen Oberfläche, nach Mustern, in die sich ein Gebrauchswert eingeschrieben hat. 2.2 Stil als Kookkurrenz: datengeleitete Korpusanalyse Zwar gilt die Korpuslinguistik als keine Subdisziplin der Linguistik sondern als eine Methode, aber korpuslinguistisches Arbeiten folgt einer eigenen Logik und generiert einen Denkstil, der viele Bereiche der Sprachwissenschaft nachhaltig verändert. Am ehesten der Vorstellung von Korpuslinguistik als einer Methode entspricht das corpus-based-Paradigma. Digitale Korpora dienen demnach der Überprüfung von Forschungshypothesen. Die Hypothesen, die unabhängig von der Analyse des Korpus entwickelt 3
Vgl. den Sammelband Feilke/Linke (2009).
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wurden, formulieren Annahmen über interpretative Konstrukte, die mittels bereits bewährter interpretativer linguistischer Analysekategorien an einem Korpus überprüft werden sollen. Diesem deduktiven Vorgehen steht die Möglichkeit eines induktiven Vorgehens zur Seite, das die Grundlage des corpus-driven-Paradigma bildet. Digitale Korpora sind hier nicht nur „Belegsammlungen oder Zettelkästen in elektronischer Form“, sondern ermöglichen eine eigene „korpuslinguistische Perspektive“ (Perkuhn/Belica 2006: 2). Statt eine Hypothese mit vorher festgelegten Analysekategorien zu überprüfen, werden in einem Korpus sämtliche Muster berechnet, die sich bei der Anwendung vorher festgelegter Algorithmen ergeben. Diese Muster werden im Anschluss kategorisiert. Damit geraten häufig Evidenzen in den Fokus, die entweder quer zu den vorher existierenden Erwartungen stehen und die Grundlage für neue Hypothesen sind, oder im besten Fall sogar solche Evidenzen, die die Bildung neuer interpretativer linguistischer Analysekategorien nahe legen.4 Es ist dieses Potenzial datengeleiteter Analysen, das es erlaubt, der Korpuslinguistik über eine empirische Methode hinaus den Status eines Denkstils zuzuschreiben. Denn das Ernstnehmen empirischer Widerständigkeiten, die sich mit traditionellen linguistischen Kategorien nicht beschreiben lassen, birgt die Möglichkeit eines neuen Zugangs zu Sprache und den Kategorien ihrer Beschreibung. Für die Stilanalyse ist die datengeleitete Korpusanalyse insofern eine interessante Methode, als sie einen objektiveren Zugang zu den sprachlichen Daten ermöglicht. Kommunikative Stile sind aufgrund der Tatsache, dass sie für gewöhnlich aus Elementen unterschiedlicher Sprachränge bestehen, nämlich einerseits sehr komplex. Andererseits ist die Konstatierung der Kookkurrenz der betreffenden Elemente und ihrer Rekurrenz nur schwer transparent zu machen und ist oft auf den Verweis auf intuitive Einsichten bei der Lektüre angewiesen. Dagegen ermöglicht es die datengeleitete Korpusanalyse, sämtliche Muster zu berechnen, die sich in einem Korpus finden. Bestandteil eines Musters können dabei theoretisch alle Wortformen und annotierten Einheiten des Korpus werden. Aus der Verteilung dieser Muster im Korpus lassen sich dann Rückschlüsse darauf ziehen, welche Muster stilrelevant im Sinne eines signifikant häufigen gemeinsamen Auftretens sind. 4
Vgl. für eine ausführliche Diskussion von corpus-based und corpus-driven-Ansätzen Bubenhofer (2009: 99ff.). Das corpus-driven-Paradigma war bereits bei Sinclair (1991) angedacht und wird bei Tognini-Bonelli (2001: 65ff.) explizit gemacht. Im deutschsprachigen Raum verfolgen z. B. Arbeiten von Kathrin Steyer (Steyer 2004, Steyer/Lauer 2007, Steyer/Brunner 2009) dieses Paradigma, die auf Konzepten und Methoden von Cyril Belica, Rainer Perkuhn, Holger Keibel und Marc Kupietz fußen (vgl. Belica 1996, Belica 2001, Perkuhn/Belica 2006).
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Zwar verzichtet das datengeleitete Paradigma auf das Formulieren von Hypothesen und auf eine Festlegung auf bestimmte Analysekategorien, es ist jedoch offensichtlich, dass auch beim datengeleiteten Verfahren vorgängiges Wissen in den Forschungsprozess einfließt, und zwar: 1. durch die Wahl der Korpora, 2. hinsichtlich der Gestaltung der Algorithmen zur Musterberechnung, 3. bei der Festlegung dessen, was als linguistische Untersuchungseinheit (token) gelten soll, und 4. bei der Festlegung dessen, welche Einheitentypen eigentlich als potenzieller Bestandteil eines Musters aufgefasst werden sollen. Schließlich ist 5. auch das Kategorisieren der Daten im Anschluss an die Musterberechnung ein interpretativer Prozess, der zwar durch statistische Verfahren teilweise objektiviert werden kann; dennoch ist die Menge der Daten meist so umfangreich, dass eine weitere Reduzierung und Gewichtung im Sinne des Forschungsinteresses vorgenommen werden muss (vgl. McEnery/Xiao/Tono 2006: 8-11). Es ist für die Qualität einer datengeleiteten Analyse entscheidend, sich über das eingebrachte Vorwissen im Sinne der Forschungsfrage Rechenschaft abzulegen und nach möglichst objektiven Kriterien für jede der getroffenen Entscheidungen zu suchen. 2.3 Stil als Musterdifferenz: Korpusvergleich Schon aus theoretischen Erwägungen heraus ist der Text die grundlegende Analyseeinheit der Stilanalyse. Fix (2009: 1312) erklärt die Wechselbeziehung von Stil und Text wie folgt: Die Betrachtung von Musterhaftigkeit im Stil ist von der Musterhaftigkeit der Texte nicht zu trennen. Dies bedeutet einerseits, dass es Stil nur im Textzusammenhang gibt und sprachliche Mittel außerhalb des Textes stilistisch nicht eingeordnet werden können, und andererseits, dass die reale Existenz eines Textexemplars auch vom Vorhandensein eines einheitlichen Stils abhängt. Ohne diesen sind Textmusterbezogenheit und Textualität eines Textes nicht zu erkennen. (Fix 2009: 1312, vgl. auch Fix 2005)
Wenn sich Stil in der Selektion einer Variante von paradigmatischen Alternativen ausdrückt,5 dann können diese Alternativen durch Stilvergleiche 5
Hockett (1958: 556) formuliert diesen Gedanken anschaulich wie folgt: „Roughly speaking, two utterances in the same language which convey approximately the same information,
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sichtbar gemacht werden. So schlägt Fix (1991) auch das Verfahren des Vergleichs vor, um Elemente eines Stils in Texten zu erfassen. Denn die Kombination von „Wie“ und „Wozu“ zeige sich im Unikalen des Textes erst im Vergleich mit dem Überindividuellen. Jeder Text ist unikal, verfügt jedoch über einen Stil, der sich an überindividuellen Erfahrungen orientiert. Durch den Vergleich des Textes mit einem „individuellen Konstrukt“ (Fix 1991: 142), das sich aus der Lektüreerfahrung ergibt, kann das Überindividuelle des Textes erfasst werden (vgl. auch Fix 1991: 145). In automatisierten Verfahren wird das individuelle Konstrukt, das sich bei Fix aus der Lektüreerfahrung ergibt und das als Maß für die Abweichung bzw. Kohärenz eines Textes mit seinen Co-Texten dient, durch die Berechnung der Verteilung aller in einem Korpus enthaltenen Muster ersetzt. Die Lektüreerfahrung wird damit also durch ein statistisches Maß objektiviert. Unsere operationale Definition von Stil lautet daher: Stil ist in korpuslinguistischer Perspektive eine Menge sprachlicher Muster, durch die sich eine Menge an Texten durch eine andere Menge von Texten signifikant unterscheidet. Das von Fix beschriebene Verfahren der intuitiven Bestimmung von Stil ist in datengeleiteter Perspektive einer sehr komplexen Clusteranalyse vergleichbar, in der alle in einem Korpus vorkommenden Muster Variablen sind, die potentiell zur Gruppierung der Texte des Korpus in mehr oder weniger diskrete Gruppen beitragen. Unsere Methode zur Identifizierung sprachlicher Muster mit stilistischer Ladung ist im Hinblick auf die benötigte Rechenleistung zwar geringer, aber dennoch anspruchsvoll. Zur Identifizierung stilistisch relevanter Muster schlagen wir die Methode des datengeleiteten Korpusvergleichs vor: Für in pragmatischer Hinsicht je kohärente Korpora werden jeweils datengeleitet Sprachgebrauchsmuster berechnet; im Anschluss wird anhand von Signifikanztests geprüft, welche der errechneten Muster typisch für die jeweiligen Korpora sind. Da die Korpora sich im Hinblick auf bestimmte außersprachliche Merkmale unterscheiden, können jene Muster, die für ein Korpus signifikant sind, als Ausdruck jener außersprachlichen Merkmale gedeutet werden, durch die sich das betreffende Korpus von den Vergleichskorpora unterscheidet. Anders als bei einer Clusteranalyse geben wir also die Gruppierung der Texte vor, beziehen aber ebenso wie in der Clusteranalyse sämtliche Muster beider Korpora als Variablen in die Analyse ein. Es ist offensichtlich, dass der Wahl der Korpora bei unserer Methode zentrale Bedeutung zukommt. Die Korpora sollten stets so gewählt sein, dass ausschließlich die durch die Forschungsfrage vorgegebene Variable but which are different in their linguistic structure, can be said to differ in style: ,He came soon‘ and ,He arrived prematurely‘.“
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variiert. So haben wir beispielsweise linguistische Indikatoren politisch extremistischer Schreibstile anhand von Korpora berechnet, die im Hinblick auf außersprachliche Merkmale wie die Entstehungszeit der Texte (eine Legislaturperiode), die Textsorte (Pressemitteilung der Bundespartei), die intendierten Adressaten (Medienöffentlichkeit) und die Textintention (Stellungnahmen zu aktuellen politischen Fragen, Hinweis auf Veranstaltungen) übereinstimmten. Das einzige unterscheidende Merkmal war die Zugehörigkeit einer Partei zu einer Gliederungseinheit des politischen Spektrums.6 2.4 Komplexe n-Gramm-Analyse als Methode der Stilanalyse Es gibt eine Tradition quantitativer Verfahren der Stilanalyse, bei der formale Aspekte wie Silbenzahl pro Wort, Wort- und Satzlängen, Wortfolgen, Satzgliedtypen, Wortklassen und generell lexikalisches Material berücksichtigt werden (vgl. Spillner 2009: 1758f.). Auch auf morphologischer Ebene, z. B. was die Wortbildung betrifft, finden sich messbare formale Aspekte (vgl. Handler 2009). Grundlage sind Korpusvergleiche zwischen dem stilistisch zu untersuchenden Text und einem repräsentativen Vergleichskorpus, um Frequenzen der genannten formalen Phänomene miteinander vergleichen zu können.7 Solche quantitative Analysen formaler Besonderheiten eines Textes haben den Nachteil, viele stilbestimmende Ebenen zu ignorieren und vor allem das Zusammenspiel mehrerer Faktoren zu wenig zu berücksichtigen. Dennoch knüpfen wir an die Idee an, messbare linguistische Elemente als grundlegende Analyseeinheiten zu wählen und mit statistischen Verfahren zu eruieren, welche Kombinationen von Einheiten für einen Text oder ein Korpus in Kontrast zu Vergleichskorpora typisch sind. Wir halten es dabei nicht für sinnvoll, einen Purismus der Oberfläche zu praktizieren. Die von unserer Forschergruppe semtracks entwickelte Stilanalyse bezieht Oberflächenphänomene auf der Ebene der Wortformen und Satzzeichen ebenso mit ein, wie weitergehend interpretative linguistische Kategorien. Zudem erscheint uns eine Beschränkung auf Unigramme, d. h. auf Muster, die nur aus einem Element bestehen, nicht sinnvoll, da bei Unigrammanalysen die Kontextspezifik der Verwendung von Lexemen nicht berücksichtigt wird. Die Gefahr, dass der pragmatische Wert eines Wortgebrauchs nicht erfasst wird, ist bei diesem Verfah6 7
Zu den Ergebnissen vgl. Ebling et al. (2011). Vgl. dazu auch Arbeiten im Rahmen der ‚Corpus Stylistics‘, z. B. von Semino/Short (2004), Hoover (2007).
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ren besonders groß. Unser Vorgehen lässt sich vielmehr als komplexe nGramm-Analyse beschreiben. n-Gramme sind Einheiten, die aus n Elementen bestehen. Normalerweise werden n-Gramme als Folge von Wortformen verstanden. Im Rahmen einer n-Gramm-Analyse werden alle im Korpus vorkommenden nGramme berechnet, wobei bestimmte Parameter wie Länge der Mehrworteinheit (aus zwei, drei oder mehr Wörtern bestehend) oder Spannweite (sind Lücken zwischen den Wörtern erlaubt?) festgelegt werden (vgl. Bubenhofer 2009: 149ff.). Die von unserer Forschergruppe entwickelte nGramm-Analyse betrachtet jedoch nicht nur Wortformen als Einheiten, sondern auch weitere interpretative linguistische Kategorien. Dies können zum einen Elemente sein, die sich auf die Tokenebene beziehen und die Wortform funktional oder semantisch deuten (als Repräsentant einer Wortart oder als Teil einer semantischen Klasse); zum anderen aber auch Elemente, die über die Tokenebene hinausgreifen, etwa das Tempus oder die Modalität einer Äußerung (direkte vs. indirekte Rede). Welche Elemente in die Analyse miteinbezogen werden, hängt einerseits von der jeweiligen Forschungsfrage ab, andererseits forschungspraktisch auch davon, welche Ressourcen für die Annotation des Korpus zur Verfügung stehen. Bei standardsprachlichen Korpora können Lemmaund Wortarteninformationen durch Tagger wie den TreeTagger leicht und effizient annotiert werden. Eine Wortformenfolge wie Ich glaube, dass hat dann in einem XML-annotierten Korpus etwa folgende Form: Ich glaube , dass Berechnet man nun beispielsweise Tetragramme, die nicht nur die Wortformen, sondern auch Lemmata und Wortarteninformationen als weitere Elemente mit einbeziehen, dann ergeben sich bei drei Dimensionen 34=81 Vier-Einheiten-Kombinationsmöglichkeiten: Ich glaube , dass ICH GLAUBEN , DASS PPER glaube , dass PPER GLAUBEN, dass Ich VVFIN , dass Ich glaube , KOUS PPER VVFIN , dass …
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Jedes der Tetragramme, das sich in einem der beiden Korpora findet, kann nun als eine Variable aufgefasst werden, durch die sich die beiden Korpora potenziell stilistisch unterscheiden. Es ist dann eine stilistisch relevante Variable, wenn sie in einem der beiden Korpora signifikant häufiger vorkommt als im Vergleichskorpus. Zur Berechnung der Signifikanz des Frequenzunterschieds benutzen wir den Log-Likelihood-Test (Manning/Schütze 2002, 174). Durch die freie Verfügbarkeit von Taggern hat die eben skizzierte Berechnungsmethode das Potenzial, als eine Art Standardmethode der Stilanalyse zu gelten. Reichere Ergebnisse sind freilich zu erwarten, wenn zusätzliche Elemente in die n-Gramm-Analyse einbezogen werden. Diese können einerseits wissensbasiert generiert werden, z. B. die Valenz von Verben anhand von Valenzlexika oder die Zugehörigkeit eines Lexems zu einem Wortfeld anhand der Bestimmungen von Dornseiff (2004), andererseits können aber auch anhand datengeleiteter Analysen selbstständig relevante Kategorien aufgespürt und definiert werden. Insbesondere auf der Tokenebene ist dieses Verfahren in effizienter Weise durchführbar. Der einfachste Zugang zu linguistischen Spezifika der Teilkorpora auf der Tokenebene ist die Berechnung von typischen Lexemen. Es werden dabei für zwei Teilkorpora jeweils Frequenzlisten aller vorkommenden Lexeme berechnet. In vielen Fällen ist es sinnvoll, Listen gesondert nach den Wortarteninformationen zu berechnen. Anschließend wird pro Lexem die Vorkommenshäufigkeit in den beiden Teilkorpora verglichen und die Signifikanz des Frequenzunterschieds berechnet. Das Resultat sind nach Signifikanzwert geordnete Listen von Lexemen, die jeweils für das eine Teilkorpus im Vergleich zum anderen Teilkorpus typisch sind. In einem weiteren Schritt können die typischsten Lexeme in sog. Wortwolken visualisiert werden, wobei die Typik des Lexems durch die Größe des abgebildeten Lexems dargestellt wird. Dies erlaubt einen raschen Überblick über die lexikalische Spezifik der Teilkorpora. Dieses Hilfsmittel kann dazu eingesetzt werden, weitere semantische oder funktionale Wortklassen zu identifizieren, die im Anschluss im Korpus annotiert werden.8 Auf diese Weise kann die Klassenzugehörigkeit eines Tokens bzw. die jeweilige Dimension der Klasse, die das Token repräsentiert, zum Element von n-Grammen und somit zu einem Bestandteil des Stils werden. Diese recht abstrakte Darstellung unserer Methode der Stilanalyse soll im Folgenden anhand einer exemplarischen Analyse zu unterschiedlichen
8
Vgl. für Beispiele Bubenhofer et al. (2009), Bubenhofer/Klimke/Scharloth (2009) und Bubenhofer/Scharloth (im Druck).
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kommunikativen sozialen Stilen während der 68er-Bewegung illustriert werden.
3. Das GerMov-Korpus Die Untersuchungen werden anhand des GerMov-Korpus, einem Korpus zur gesprochenen und geschriebenen Sprache der 68er-Bewegung durchgeführt. Das Korpus wurde im Rahmen einer umfangreichen Studie zum Einfluss von 68er-Bewegung und Alternativmilieu auf die Kommunikationsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland erstellt (vgl. Scharloth 2010). Bei der Erstellung des Korpus und seiner Subkorpora waren zunächst außersprachliche Gesichtspunkte, in einem zweiten Schritt textlinguistische Überlegungen leitend. 3.1 Kriterien bei der Korpuserstellung 3.1.1 Lebensstile innerhalb der 68er-Bewegung Im Rahmen unserer exemplarischen Studie interessiert uns die Frage nach dem Zusammenhang von milieuspezifischen Lebensstilen innerhalb der 68er-Bewegung und den Kommunikationsstilen in milieuspezifisch definierten Korpora. Das Korpus sollte es daher u. a. erlauben, unterschiedliche Stile der verbalen face-to-face-Interaktion innerhalb der 68er-Bewegung zu rekonstruieren. Dabei wurde ausgehend von der Forschung zum Kleidungsverhalten (vgl. Grob 1985) und zur medialen Vermittlung expressiver Formen des Protests (vgl. Fahlenbrach 2002) von einer lebensstilistischen Dualität innerhalb der Bewegung ausgegangen, die ihre Wurzeln auch in konkurrierenden Ideologien hatte.9 Auf der einen Seite standen die Träger eines intellektuell-avantgardistischen Stils. Bei ihnen handelte es sich um Angehörige unterschiedlicher sozialer Gruppen, die während der 68er-Bewegung aber intensiv kooperierten: zum einen die Studierenden, vornehmlich solche, die in linken Studentenverbänden organisiert waren, zum anderen Linksintellektuelle, die in Politik, Universität, Verwaltung oder im kulturellen Sektor bereits Karriere gemacht hatten und sich beispielsweise in Republikanischen Clubs zusammenfanden. Sie pflegten einen auf symbolische Distinktion zunächst weitgehend verzichtenden Lebensstil, trugen Anzug oder Frei9
Vgl. zu der folgenden groben Skizze ausführlicher Kapitel 3 in Scharloth (2011).
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zeitkleidung (Hemd und Pullovern, Jacket und Cordhose) und praktizierten Lebensformen wie andere Bürger ihrer Berufsgruppen. Nur in einem Bereich legten sie Wert auf Unterscheidung: Sie inszenierten sich als intellektuelle Informations- und Diskussionselite. Auf der anderen Seite standen die Träger eines hedonistischen Selbstverwirklichungsstils, der in Kommunen und Subkulturen geprägt wurde. Sie entdeckten den eigenen Körper als zentrales Medium des expressiven Protestes, griffen – ähnlich den amerikanischen Hippies – tief in den Fundus von Kostümverleihen und Second-Hand-Läden, spielten mit Nacktheit und Schmuck, ließen sich Bärte und Haare wachsen und praktizierten eine ostentativ informelle Körpersprache. Sie verschmolzen antibürgerliche symbolische Formen mit denen jugendlicher Populärkultur zu einem sich als individualistisch verstehenden, lustbetonten Lebensstil: Die Revolution sollte bei jedem Einzelnen beginnen und vor allem Spaß machen. Während die intellektuellen Avantgarden das Ziel der 68er-Bewegung in einer Umwälzung der Besitz- und Produktionsverhältnisse sahen, begriffen die hedonistischen Kommunarden also die Bewegung als Chance für die Entwicklung und Praktizierung neuer Lebensformen, die eine gesellschaftliche Veränderung zwangsläufig mit sich bringen würde. Die Träger dieser Lebensstile formierten im Verlaufe der 68er-Bewegung bis weit in die 70er Jahre hinein bestehende soziale Milieus. 3.1.2 Textauswahl Um zu überprüfen, ob mit den unterschiedlichen Lebensstilen der Angehörigen der 68er-Bewegung auch unterschiedliche Kommunikationsstile korrespondieren, war es also nötig, Texte nach dem Kriterium der Milieuzugehörigkeit ihrer Produzentinnen und Produzenten zu sammeln. Neben dem Kriterium der Milieuzugehörigkeit war das Kriterium der Medialität bzw. das davon abgeleitete Kriterium der Textsorte von zentraler Bedeutung. Da anhand des Korpus Stile der verbalen face-to-face-Interaktion rekonstruiert werden sollten, wurde gezielt nach solchen Texten gesucht, die als Repräsentationen gesprochener Sprache gelten können. Um ein möglichst hohes Maß an Homogenität zu erreichen, wurde zudem das Kriterium der Kommunikationssituation berücksichtigt. Da davon ausgegangen werden kann, dass es in stilistisch heterogenen Gruppen trotz Distinktionsbedürfnis zu stilistischen Akkommodationen in der Kommunikation kommt, sollten nur solche Kommunikationssituationen berücksichtigt werden, in denen Kommunikationspartner des gleichen Milieus miteinander kommunizieren.
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Die Kriterien der Milieuzugehörigkeit der Textproduzenten, der Medialität/Textsorte und der Kommunikationssituation setzten der Textauswahl sehr enge Grenzen. Die einzige Textsorte, für die hinsichtlich aller Kriterien eine hinreichende Menge an Texten gefunden werden konnte, waren Tonbandprotokolle. Insgesamt konnten 29 Tonbandprotokolle aus den Jahren 1967 bis 1969 in Archiven und zeitgenössischen Buch- und Zeitschriftenpublikationen gefunden werden, davon stammen 21 aus dem hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieu, 8 aus dem linksintellektuellen Milieu. Leider standen die Tonbandaufzeichnungen der in das Korpus aufgenommenen Gespräche nicht mehr zur Verfügung, sondern lediglich ihre Abschriften. Da die Transkriptionen von unterschiedlichen Händen stammen, kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass sie einheitlich und miteinander in jeder Hinsicht vergleichbar sind. So variiert beispielsweise der Umgang mit überlappenden Turns oder nichtstandardsprachlichen Ausdrucksmitteln stark. Bei einigen Protokollen wurden auch die Sprecherinnen und Sprecher der einzelnen Turns nicht identifiziert, was interaktionale Analysen erheblich erschwert. Aus diesen Gründen ist das GerMov-Tonbandprotokollekorpus nicht mit Korpora zur gesprochenen Sprache des gegenwärtigen Deutsch vergleichbar. Mit dem GerMov-Korpus sollten neben der Frage nach der kommunikationsstilistischen Vielfalt weitere offene Fragen zur Kommunikationsgeschichte beantwortet werden. Ein zentrales Anliegen war beispielsweise die Überprüfung der Hypothese, nach der die 68er-Bewegung gescheitert sei, weil ihre wichtigsten Gruppen sich eines zu komplizierten Kommunikationsstils bedient hätten. Sprachgebrauch sollte also in Relation zu dem außersprachlichen Kriterium des Verhältnisses von Äußerndem und Adressaten gesetzt werden. Zudem sollte untersucht werden, ob sich Kommunikationsstile im Verlauf der 68er-Bewegung veränderten. Für das zweite Subkorpus waren also die Gruppenspezifik der Texte, ihre Adressaten und ihre Entstehungszeit zentrale außersprachliche Kriterien bei der Korpuserstellung. Für die Beantwortung der genannten Forschungsfragen schien es zudem sinnvoll, ein im Hinblick auf die Textsorte möglichst homogenes Teilkorpus zu erstellen, um ein möglichst hohes Maß an Vergleichbarkeit zu gewährleisten. Denn die Unterschiede in autoren-, adressaten- oder zeitspezifischen Teilkorpora dieses Subkorpus können nur dann als Unterschiede im Sprachgebrauch unterschiedlicher Autoren gegenüber unterschiedlichen Adressatengruppen oder als typisch für eine bestimmte Phase der 68er-Bewegung gelten, wenn andere Variablen wie etwa die Textsorte als Ursache für die Differenzen im Sprachgebrauch ausscheiden. Eine Textsorte der Massenkommunikation, die eine zumeist eindeutige Adressatenzuordnung nach den für die 68er-Bewegung grundlegenden Adressatengruppen (Angehörige der Bewegung, Studierende
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allgemein, Bevölkerung, Medienöffentlichkeit) erlaubt, ist das Flugblatt. Die Beschränkung auf Flugblätter ließ sich zudem dadurch rechtfertigen, dass Flugblätter in der 68er-Bewegung ein zentrales Medium zur Herstellung von Gegenöffentlichkeit waren und daher davon ausgegangen werden kann, dass sich in ihnen auch die Besonderheiten des Sprachgebrauchs verdichtet haben. 3.2 Das GerMov-Korpus und seine Subkorpora Ausgehend von den skizzierten Fragestellungen und orientiert an den genannten Kriterien der Textauswahl gliedert sich das GerMov-Korpus in zwei Subkorpora: ein Subkorpus, das ausschließlich Tonbandprotokolle der 68er-Bewegung enthält, und ein Subkorpus mit Flugblättern. Das Tonbandprotokollekorpus enthält 29 Protokolle mit 59.879 laufenden Wortformen. Tab. 1 zeigt die milieuspezifische Verteilung von Texten und Frequenzen. Tab. 1: Übersicht über das GerMov-Tonbandprotokollekorpus
Milieu
Anzahl Texte
Anzahl Wortformen
Hedonistisches Selbstverwirklichungsmilieu
21
27.736
Linksintellektuelles Milieu
8
32.143
Das Flugblattkorpus enthält 508 Texte mit 213.010 laufenden Wortformen. Tab. 2 zeigt die Verteilung der Texte auf die verschiedenen Positionen des politischen Spektrums.
243
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte Tab. 2: Übersicht über das GerMov-Flugblattkorpus
Politisches Spektrum
Anzahl Wortformen
Anzahl Texte
272
128.537
Alte Linke
1
318
Spirituelle Linke
2
646
Gemäßigte Linke
157
56.543
Linksliberal
9
4.297
Liberal
16
7.411
Linkskritisch
25
7.604
Konservativ
15
4.983
Rechtskonservativ
4
1.240
Rechtsextrem
2
421
kann nicht zugeord. werden
4
1.010
Radikale Linke
Für die vorliegende Studie wird das Flugblattkorpus dazu herangezogen, um die Ergebnisse der Analyse des Tonbandprotokollekorpus zu validieren. Hierfür ist eine Filterung der Texte nötig: Da das Tonbandprotokollekorpus ausschließlich Gespräche der radikalen Linken enthält, muss das Flugblattkorpus entsprechend gefiltert werden. Um ein möglichst hohes Maß an Vergleichbarkeit zu gewährleisten, wurden in das Untersuchungskorpus nur Flugblätter jener Gruppierungen aufgenommen, die eindeutig einem der beiden im Tonbandprotokollekorpus repräsentierten Milieus zugeordnet werden können. Für den intellektuell-avantgardistischen Stil sind dies die Flugblätter des SDS, der spontaneistisch-antiautoritären Studentengruppen und des Republikanischen Clubs, insgesamt 109 Flugblätter mit 57.803 laufenden Wortformen. Das Teilkorpus von Flugblättern aus Kommunen und Subkultur ist dagegen mit 42 Texten und 13.703 Wortformen deutlich kleiner.
244
Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth Tab. 3: Übersicht über die Größe der Teilkorpora
Tonbandprotokolle
Flugblätter
Hedonistisches Selbstverwirklichungsmilieu
27.736 (21 Protokolle)
13.703 (42 Texte)
Linksintellektuelles Milieu
32.143 (8 Protokolle)
57.803 (109 Texte)
3.3 Annotation Das GerMov-Korpus wurde – wie oben beschrieben – mit Hilfe des TreeTaggers (Schmid 1994) tokenisiert, mit Wortarten-Informationen annotiert und lemmatisiert. Beim verwendeten Tagset handelt es sich um das Stuttgart-Tübingen-Tagset (STTS) (Schiller et al. 1995). Darüber hinaus wurden die folgenden Kategorien auf der Token-Ebene annotiert: a.
Kommunikationsverben: Da es sich beim Tonbandprotokollekorpus um ein Korpus der gesprochenen Sprache handelt, kann angenommen werden, dass Frequenz und Art des Gebrauchs von Kommunikationsverben stilrelevant sind. Kommunikationsverben wurden gemäß der von Harras et al. (2004) vorgeschlagenen Kategorisierung als KOMMVERB annotiert. b. Intensivierer/Gradpartikeln: Intensivierer kodieren Emotionen und den Grad von Überzeugungen, bzw. der Rigorosität, mit der sie vertreten werden. Sie können in unterschiedliche Klassen eingeteilt werden (vgl. Os 1989, Biedermann 1969, Bierwisch 1987). Als stilrelevant erscheinen uns einerseits die Intensivierer des absoluten (z. B. absolut, gänzlich, grundlegend, gründlich) und des extrem hohen Intensivierungsbereichs (z. B. höchst, äußerst, zutiefst), die wir als GRAD_HOCH im Korpus annotiert haben; andererseits die des gemäßigten (z. B. ziemlich, recht, einigermaßen), des abschwächenden (z.B. verhältnismäßig, relativ, eher) und des minimalen (z. B. wenig, kaum, schwerlich) Intensivierungsbereichs, die wir als GRAD_RELATIV annotiert haben. c. Schlagwörter der neuen Linken: Vergleicht man das Tonbandprotokollekorpus mit einem Gegenwartskorpus politischer Diskussionen aus einem Onlineforum10 im Hinblick auf das Vorkommen von No10
Es handelt sich um ein Korpus, das aus sämtlichen thematischen Strängen des Schweizer Online-Diskussionsforums polittalk.ch aus den Jahren 2005-2008 besteht und rund 630.000 laufende Wortformen umfasst.
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte
245
men, so zeigt sich (vgl. Abb. 1), dass im GerMov-Korpus vergleichsweise viele Nomen verwendet werden, die aus dem Bereich Marxismus/Neue Linke kommen. Es kann daher davon ausgegangen werden, dass Frequenz und Art und Weise des Gebrauchs von Schlagwörtern der Neuen Linken stilrelevant sind. Zur genaueren Bestimmung dessen, was als Schlagwörter der Neuen Linken gelten kann, wurden die Lemmata aus zeitgenössischen Wörterbüchern zur Sprache der Neuen Linken (vgl. Weigt 1968, Hofmeier 1968, Koplin 1968 und von Weiss 1974) ausgewertet und als SCHLAG annotiert. Innerhalb dieser Gruppe von Wörtern wurden solche, die sich als Kampfvokabular klassifizieren ließen, zusätzlich als KAMPF annotiert.
Abb. 1
246
Noah Bubenhofer/Joachim Scharloth
4. Kommunikationsstile in der 68er-Bewegung in korpuslinguistischer Perspektive 4.1 Berechnungsparameter Da uns aufgrund der Lemmaanalysen über die Annotation von ideologischen Schlagwörtern hinaus keine inhaltlichen Aspekte des Korpus stilrelevant erschienen, haben wir uns dafür entschieden, bei der folgenden komplexen n-Gramm-Analyse auf der Dimension Wortform nur Funktionswörter und Satzzeichen zu berücksichtigen und Lemmata als Dimension gänzlich wegzulassen. Auf der Ebene der Wortarteninformationen gab es hingegen keine Restriktionen. Berechnet wurden Pentagramme ohne Leerstellen, die auch satzübergreifend sein konnten. Die Mindestfrequenz für ein n-Gramm durfte in der Summe beider Korpora nicht kleiner als 4 sein. 4.2 Ergebnis der Analyse des Tonbandprotokollekorpus Für das Kommunekorpus (hedonistisches Selbstverwirklichungsmilieu) wurden 355.899 Pentagrammtoken berechnet, von denen 307 signifikant waren, für das Linksintellektuellenkorpus (linksintellektuelles Milieu) 286.290, von denen 1.459 signifikant waren. Es ist an dieser Stelle aus Platzgründen nicht möglich, die Analyse vollständig auszuführen. Wir beschränken uns daher auf eine Analyse der auffälligsten Muster und Mustertypen. Tab. 4 zeigt die 20 nicht-inklusiven Muster mit den höchsten Signifikanzwerten des Subkorpus Hedonistisches Selbstverwirklichungsmilieu des GerMov-Tonbandprotokollekorpus.
247
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte
Tab. 4: Typische sprachliche Muster im Teilkorpus Hedonistisches Selbstverwirklichungsmilieu des GerMov-Tonbandprotokollekorpus
Muster
Frequenz Kommunen
Linksintellektuelle
LLR
p
, PDS VVFIN PPER ADV , dann VVFIN PPER ADV
11 11
0 0
12.99 12.99
0.0001 0.0001
, PPER VAFIN ADV ADV $. ADV , KOUS PPER
14
1
10.79
0.0005
10
0
11.80
0.0003
ADV , PPER VAFIN ADV , ADV VMFIN PPER ADV , PPER VVFIN ADV ,
10
0
11.80
0.0003
10
0
11.80
0.0003
10
0
11.80
0.0003
, KOUS PPER PRF ADV
10
0
11.80
0.0003
ADV , PDS VAFIN ADV
9
0
10.62
0.0005
, ADV VVFIN PPER ADV $. PPER VVFIN ADV nicht , KON PDS VAFIN ADV
19
4
7.64
0.0031
8
0
9.44
0.0010
8
0
9.44
0.0010
ADV VMFIN PPER ADV ADV
8
0
9.44
0.0010
PDS VVFIN PPER ADV ADV
8
0
9.44
0.0010
, ich VVFIN ADV ,
8
0
9.44
0.0010
KON PPER VAFIN ADV ADV
8
0
9.44
0.0010
, PPER VVFIN ADV nicht
8
0
9.44
0.0010
, KON PDS VAFIN ADV
8
0
9.44
0.0010
, KON KOUS PPER ADV
13
2
6.80
0.0051
, PDS VAFIN ADV ADV
13
2
6.80
0.0051
Es finden sich auffällig viele Muster, die substituierende Demonstrativpronomen (PDS) enthalten, was auf eine hohe Dichte an anaphorischen Verweisen schließen lässt. Das substituierende Demonstrativpronomen kann gefolgt von einem Vollverb am Anfang eines Gliedsatzes...
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, PDS VVFIN PPER ADV LLR: 12.99, p: 0.0001
, das weiß ich auch , das weißt du auch , das finde ich so , das tun wir auch , den brauchen wir auf
... oder am Satzanfang stehen... $. PDS VVFIN PPER ADV LLR: 6.797, p: 0.0051
. Das finde ich ein . Die kennen wir doch . Das hat er schon . Das machen wir immer ? Das weiß ich nicht
... oder gefolgt von einem Hilfsverb am Anfang eines Gliedsatzes ... , PDS VAFIN ADV ADV LLR: 6.797, p: 0.0051
, das war gar nicht , das ist wie so , das ist ja wieder , das ist ja nicht , der ist doch schon
... bzw. nach einer Konjunktion am Anfang eines Satzes. $. KON PDS VAFIN ADV LLR: 9.44, p: 0.001
. Und das war sowieso . Und das war also . Aber die sind noch . Aber das war so . Und die war damals
Häufig finden sie sich auch nach vom Tagger als Adverbien klassifizierten Diskurspartikeln, offenbar häufig am Beginn eines Turns. $. ADV $, PDS VAFIN LLR: 7.72, p: 0.003
. Hier , das ist . Ja , das ist . Also , die ist . Nein , das ist ? Ja , das sind
Im Korpus mit Protokollen des hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieus sind also Muster mit anaphorischen Verweisen signifikant, die als ein Indikator für konzeptionell mündlichen Stil gedeutet werden können. Im Vergleich dazu findet sich in der Menge signifikanter Muster im Korpus mit Protokollen des linksintellektuellen Milieus lediglich ein Muster, das ein substituierendes Demonstrativpronomen enthält:
Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte
PDS $, was PPER ADV LLR: 6.463, p: 0.0062
249
das , was wir bisher das , was ich vor dessen , was Sie bis
Das Pronomen verweist hier nicht auf vorher Gesagtes, sondern wird durch einen anschließenden Relativsatz erläutert. Die kontextsensitive Analyse zeigt also, dass die Verwendung substituierender Demonstrativpronomen in diesem Subkorpus eine andere Funktion hat, als im Subkorpus mit Texten des hedonistischen Selbstverwirklichungsmilieus. Ebenfalls als Indikator für konzeptionelle Mündlichkeit kann die Realisierung einer konditionalen Relation mit der Konjunktion dann gelten, die ebenfalls ein signifikantes Mustern des Kommune-Subkorpus ist. In konzeptionell schriftlichen Texten wäre eher zu erwarten, dass die konditionale Relation durch Verberststellung im nachgestellten Hauptsatz realisiert würde. Die Konjunktion dann wird sowohl in Verbindung mit Voll- und Hilfsverben ... , dann VVFIN PPER ADV LLR: 12.99, p: 0.0001
, dann liegt es doch , dann hätten wir auch , dann gehen wir jetzt , dann würden wir quasi , dann wird sie vielleicht
... als auch mit Modalverben signifikant häufiger verwendet. , dann VMFIN PPER ADV LLR: 8.26, p: 0.0021
, dann wollte sie gar , dann können sie auch , dann können wir ja , dann kann ich nur , dann kannst du noch
Auffällig sind zudem zahlreiche Muster mit einer hohen ADV-Dichte. Unter ADV subsumiert der TreeTagger Adverbien im engeren Sinn, aber auch Partikeln, insbesondere Modal-, Abtönungs-, Grad- und Fokuspartikeln. Zur Illustration sei das folgende Muster mit einigen seiner Realisierungen im Korpus angeführt: , PPER VAFIN ADV ADV LLR: 10.79, p: 0.0005
, wir sind zwar nicht , es ist doch nur , es ist ja auch , es wäre doch schon , es ist also so
Während sich in den 1.459 signifikanten Mustern des LinksintellektuellenSubkorpus gerade einmal 20 finden, in denen zwei Adverbien nach einan-
250
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der auftreten, sind es beim Kommunen-Subkorpus rund dreimal so viele bei 307 signifikanten Mustern. Auch die häufige Verwendung von ADVClustern kann als Mündlichkeitsindikator gedeutet werden, die häufige Verwendung von Abtönungs- und Modalpartikeln darüber hinaus als Indikator eines auf Verständigung abzielenden Kommunikationsstils, in dem allzu klare Festlegungen auf einen Standpunkt vermieden werden. Diese Deutung kann auch mit der Tatsache fundiert werden, dass nur im Kommunekorpus Muster mit Kommunikationsverben wie das folgende signifikant häufig auftreten. ADV VVINF_KOMMVERB , KOUS PPER LLR: 7.08, p: 0.0043
auch sagen , damit ich noch sagen , daß es nur sagen , daß du nur sagen , daß sie nur sagen , daß ich
Ein weiterer Mündlichkeitsindikator in den Kommuneprotokollen sind Satzanschlüsse mit Konjunktionen, insbesondere mit der Konjunktion und. Zwar finden sich hierfür keine Belege in den 20 Mustern mit der höchsten Signifikanz, dennoch lassen sich insgesamt vier Muster wie das Folgende identifizieren: $. Und KOUS ich ADV LLR: 5.9, p: 0.0087
. Und als ich dann . Und wenn ich jetzt . Und da ich also . Und als ich hier . Und als ich dort
Dass Stilanalysen erst durch den Vergleich an Profil gewinnen, dafür ist Tab. 5, die die 20 nicht-inklusiven Muster mit den höchsten Signifikanzwerten des Subkorpus linksintellektuelles Milieu des GerMov-Tonbandprotokollekorpus enthält, ein eindrucksvoller Beleg.
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Stil als Kategorie der soziopragmatischen Sprachgeschichte
Tab. 5: Typische sprachliche Muster im Teilkorpus Linksintellektuelles Milieu des GerMovTonbandprotokollekorpus
Muster
Frequenz Kommunen
Linksintellektuelle
LLR
p
NN APPR ART ADJA NN ART NN ART ADJA NN APPR ART NN ART NN ART ADJA NN ART NN ADJA NN APPR ART NN
2 1 10 3 7
70 61 65 49 48
97.19 89.51 57.93 59.78 43.89