Einführung in die historische Sprachwissenschaft des Deutschen 353424947X, 9783534249473

Als erste Einführung in die historische Sprachwissenschaft des Deutschen erläutert dieser Band die Grundbegriffe der his

121 78 9MB

German Pages [156] Year 2013

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Table of contents :
Front Cover
Titel
Impressum
Inhalt
1. Grundbegriffe der historischen Sprachwissenschaft
1.1. Begriff der sprachlichen Variation
1.2. Ursachen der Variation, Begriff des Sprachwandels
1.3. Ursachen des Sprachwandels
1.4. Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte
Übungsfragen
2. Grundbegriffe der historischen Grammatik: phonologischer Wandel (Lautwandel), morphologischer Wandel, syntaktischer Wandel
2.1. Der phonologische Wandel (Lautwandel)
2.2. Der morphologische Wandel: interparadigmatische Analogie und innerparadigmatischer Ausgleich
2.3. Von der Syntax zur Morphologie: die Grammatikalisierung
Übungsfragen
3. Deutsch als eine germanische Sprache
3.1. Begriff der Sprachverwandtschaft
3.2. Ermittlung der Sprachverwandtschaft, Sprachgruppen, linguistische Karte Europas
3.3. Die altgermanischen Sprachen
3.4. Stellung des Althochdeutschen im Kreis der altgermanischen Sprachen
3.4.1. Isoglossen und Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der germanischen Gruppe
3.4.2. Das Urnordwestgermanische
3.4.3. Das Urwestgermanische
3.4.4. Gliederung des westgermanischen Sprachgebiets und die Stellung des Althochdeutschen
Übungsfragen
4. Das älteste Deutsch: Althochdeutsch
4.1. Beginn der deutschen Sprachüberlieferung, Quellen des Althochdeutschen
4.2. Das Lautsystem des Althochdeutschen, die Schreibung der althochdeutschen Laute
4.3. Die Flexionsmorphologie des Althochdeutschen
4.3.1. Allgemeines zur althochdeutschen Flexionsmorphologie
4.3.2. Das althochdeutsche Verb
4.3.3. Das althochdeutsche Nomen
4.4. Dialekte des Althochdeutschen und ihre Merkmale
Übungsfragen
5. Deutsch im Hochmittelalter: Mittelhochdeutsch
5.1. Zur Sprachverwendung in mittelhochdeutscher Zeit, Quellen des Mittelhochdeutschen
5.2. Lautwandel der spätalthochdeutschen Zeit und das Lautsystem des Mittelhochdeutschen
5.2.1. Entwicklung der Vokale
5.2.2. Entwicklung der Konsonanten
5.3. Neuerungen in der Morphologie des Mittelhochdeutschen
5.3.1. Lautwandelbedingte Änderungen in der Flexionsmorphologie des Mittelhochdeutschen
5.3.2. Morphologische Neuerungen ohne lautlichen Hintergrund
5.4. Neuerungen in der mittelhochdeutschen Syntax
5.4.1. Entstehung der periphrastischen Verbformen: werden-Passiv, haben-Perfekt, sein-Perfekt
5.4.2. Entstehung des bestimmten und des unbestimmten Artikels
Übungsfragen
6. Deutsch in der Neuzeit: Neuhochdeutsch
6.1. Zur Sprachverwendung in der frühneuhochdeutschen Zeit, Quellen des Frühneuhochdeutschen
6.2. Lautwandel der mittelhochdeutschen Zeit und das Lautsystem des Neuhochdeutschen
6.2.1. Entwicklung der Vokale
6.2.2. Entwicklung der Konsonanten
6.3. Neuerungen in der Morphologie des Neuhochdeutschen
6.3.1. Das neuhochdeutsche Verb
6.3.2. Das neuhochdeutsche Nomen
6.4. Neuerungen in der neuhochdeutschen Syntax
6.4.1. Die Nominalphrase
6.4.2. Entstehung neuer Periphrasen: das werden-Futur und der würde-Konjunktiv
Übungsfragen
Lösungen
Weiterführende Literatur
Register
Back Cover
Recommend Papers

Einführung in die historische Sprachwissenschaft des Deutschen
 353424947X, 9783534249473

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

Eugen Hili

Einführung in die historische Sprachwissenschaft des Deutschen

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2013 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt

Die Herausgabe dieses Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Einbandgestaltung: schreiberVIS, Bickenbach Printed in Germany

Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-24947-3

Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-72760-5 eBook (epub): 978-3-534-72761-2

Inhalt 1. Grundbegriffe der historischen Sprachwissenschaft . 1.1. Begriff der sprachlichen Variation . . . . . . . .

7 7

1.2. Ursachen der Variation, Begriff des Sprachwandels . .

10

1.3. Ursachen des Sprachwandels . . . . . . . . . . . .

10

1.4. Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte .

12

Übungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

2. Grundbegriffe der historischen Grammatik: phonologischer Wandel (Lautwandel), morphologischer Wandel, syntaktischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

14

2.1. Der phonologische Wandel (Lautwandel) . . . . . . . . . . . . .

14

2.2. Der morphologische Wandel: interparadigmatische Analogie und innerparadigmatischer Ausgleich . . . . . . . . . . . . . . .

19

2.3. Von der Syntax zur Morphologie: die Grammatikalisierung . .

24

Übungsfragen . . . . . . . . . . . . . . .

26

3. Deutsch als eine germanische Sprache 3.1. Begriff der Sprachverwandtschaft .

27 27

3.2. Ermittlung der Sprachverwandtschaft, Sprachgruppen, linguistische Karte Europas. . . . . . . . . . .

30

3.3. Die altgermanischen Sprachen . . . . . . . .

32

3.4. Stellung des Althochdeutschen im Kreis der altgermanischen Sprachen . . . . . . . . . . .

35

3.4.1. Isoglossen und Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der germanischen Gruppe

35

3.4.2. Das Urnordwestgermanische . . . . . . . . . . .

36

3.4.3. Das Urwestgermanische. . . . . . . . . . . . . .

39

3.4.4. Gliederung des westgermanischen Sprachgebiets und die Stellung des Althochdeutschen .

41

Übungsfragen . . . . . . . . . . . . . . .

44

4. Das älteste Deutsch: Althochdeutsch .

45

4.1. Beginn der deutschen Sprachüberlieferung, Quellen des Althochdeutschen . . . . . . . .

45

4.2. Das Lautsystem des Althochdeutschen, die Schreibung der althochdeutschen Laute . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Die Flexionsmorphologie des Althochdeutschen

51 53

4.3.1. Allgemeines zur althochdeutschen Flexionsmorphologie. . . . . .

53

4.3.2. Das althochdeutsche Verb. . . . . . . .

54

4.3.3. Das althochdeutsche Nomen . . . . . .

69

4.4. Dialekte des Althochdeutschen und ihre Merkmale . .

85

Übungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

89

6 Inhalt 5. Deutsch im Hochmittelalter: Mittelhochdeutsch . . . . . .

90

5.1. Zur Sprachverwendung in mittelhochdeutscher Zeit, Quellen des Mittelhochdeutschen. . . . . . . . . . .

90

5.2. Lautwandel der spätalthochdeutschen Zeit und das Lautsystem des Mittelhochdeutschen

94

5.2.1. Entwicklung der Vokale. . . . . . . . . . .

94

5.2.2. Entwicklung der Konsonanten . . . . . . . 5.3. Neuerungen in der Morphologie des Mittelhochdeutschen . .

99 102

5.3.1. LautwandelbedingteÄnderungen in der Flexionsmorphologie des Mittelhochdeutschen . .

102

5.3.2. Morphologische Neuerungen ohne lautlichen Hintergrund. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

105

5.4. Neuerungen in der mittelhochdeutschen Syntax . . .

107

5.4.1. Entstehung der periphrastischen Verbformen: werden-Passiv, haben-Perfekt, sein-Perfekt . .

107

5.4.2. Entstehung des bestimmten und des unbestimmten Artikels.

111

Übungsfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113

6. Deutsch in der Neuzeit: Neuhochdeutsch . . .

114

6.1. Zur Sprachverwendung in der frühneuhochdeutschen Zeit, Quellen des Frühneuhochdeutschen . . . . . .

114

6.2. Lautwandel der mittelhochdeutschen Zeit und das Lautsystem des Neuhochdeutschen .

116

6.2.1. Entwicklung der Vokale. . . . . . . . . .

116

6.2.2. Entwicklung der Konsonanten . . . . . . 6.3. Neuerungen in der Morphologie des Neuhochdeutschen . . . 6.3.1. Das neuhochdeutsche Verb . . . . . . . 6.3.2. Das neuhochdeutsche Nomen. . . . . . 6.4. Neuerungen in der neuhochdeutschen Syntax 6.4.1. Die Nominalphrase . . . . . . . . . . . .

127 132 133 139 144 144

6.4.2. Entstehung neuer Periphrasen: das werden-Futur und der würde-Konjunktiv . .

149

Übungsfragen . .

151

Lösungen . . . . . .

153

Weiterführende Literatur . . . .

155

Register . . . . . . . . . . . . . .

157

1. Grundbegriffe der historischen

Sprachwissenschaft Historische Sprachwissenschaft ist eine Teildisziplin der Linguistik, die Spra­ chen in ihrer historischen Entwicklung erforscht. Die historische Sprachwis­ senschaft des Deutschen erforscht die Entwicklung der deutschen Sprache vom Beginn ihrer schriftlichen Überlieferung bis zur Gegenwart. Wie jede andere Teildisziplin der germanistischen Linguistik stützt sich auch die histo­ rische Sprachwissenschaft des Deutschen auf eine Reihe von Generalisie­ rungen, die aus typologischen Beobachtungen an natürlichen Sprachen ab­ geleitet werden. Das vorliegende Kapitel informiert über die so gewonnenen Grundbegriffe der historischen Sprachwissenschaft. Eine zentrale Rolle spielt dabei der Begriff der sprachlichen Variation in Raum und Zeit. Der letzte Ab­ schnitt des Kapitels ist der konventionellen Einteilung der überlieferten Sprachgeschichte des Deutschen in chronologische Schichten oder Sprach­ perioden gewidmet.

1.1. Begriff der sprachlichen Variation Es ist eine bekannte Eigenschaft von natürlichen Sprachen, dass sie nicht von

diatopische Variation

allen ihren Sprechern gleich gesprochen werden oder wurden. Im Unter­

Dialekt

schied zu künstlich entwickelten Sprachsystemen findet man in der Spre­ chergemeinschaft einer natürlichen Sprache gewöhnlich mehrere Varianten, die sich voneinander teilweise deutlich unterscheiden. Diese Variation hängt zu einem beträchtlichen Teil mit der räumlichen Ausdehnung von Sprechergemeinschaften natürlicher Sprachen zusammen.

Die meisten

Sprachen der Welt werden an mehr als nur einem Ort gesprochen. Sehr oft sind zwischen dem Sprachgebrauch verschiedener Orte, in denen dieselbe Sprache gesprochen wird, klare Unterschiede festzustellen. Solche lokalen Varianten einer Sprache nennt man in der Sprachwissenschaft "Dialekte". Die Unterschiede zwischen den Dialekten verschiedener Orte innerhalb des Verbreitungsgebiets einer Sprache fasst man unter dem Oberbegriff "diatopi­ sche Variation" zusammen (von griech. topos ,Ort'). Die diatopische Variation lässt sich auch im heute gesprochenen Deutsch leicht beobachten. Es ist wohl jedem Sprecher des Deutschen bewusst, dass die meisten Einwohner von beispielsweise Hannover ein etwas anderes Deutsch sprechen als die Mehrheit der Menschen in, um nur zwei Orte zu nennen, Regensburg oder Stuttgart. Die Unterschiede lassen sich zum Bei­ spiel mit dem folgenden kurzen Text belegen, der in drei lokalen Varianten des Deutschen vorliegt. Die erste Variante des Textes richtet sich nach dem Sprachgebrauch von Orten wie Hannover. Dieser Dialekt des Deutschen wird landläufig "hochdeutsch" genannt.

8 1. Grundbegriffe der historischen Sprachwissenschaft Die meisten in Deutschland heimischen Säugetiere leben in den gemä­ ßigten Laubwäldern. Im Wald leben unter vielen anderen Arten verschie­ dene Marderarten, Dam- und Rothirsche, Rehe,

Wildschweine und

Füchse. Biber und Otter sind seltener gewordene Bewohner der Fluss­ auen, mit teilweise wieder steigenden Beständen. Andere ehemals in Mitteleuropa

lebende

Großsäuger

wurden

ausgerottet:

Auerochse,

Braunbär; Elch, Wildpferd, Wisent, Wolf In neuerer Zeit wandern gele­ gentlich einige Elche und Wölfe ein. (Wikipedia) Die zweite Variante des Textes reflektiert den Sprachgebrauch von Orten wie zum Beispiel Regensburg. Den betreffenden Dialekt des Deutschen, der im Osten des Freistaats Bayern, in Österreich mit Ausnahme Vorarlbergs und im italienischen Südtirol gesprochen wird, nennt man traditionell "bairisch". Oe maisddn in Daidschland dahoamign Saigeddiere lem in de gmäßigdn Laubadweyda. Im Woyd lem newa vey andere Oaddn voschine Mo­ daoaddn, Dam- und Roudhiasch, Rä, Weydsai und Fux. Biba und Odda san seyddna worn oys Bewona vo de Flussauan, mid ddailwais wida schdaigade Bschdändd. Andre, ehemoys in Middlairopa lebade Grouß­ saiga han ausgrodd worn: Aueroux, BraObär; Elch, Weydpfeadl, Wi­ sendd, Woyf In naiara Zaid wandan ofddamoi a boa Elche und Woyf aT. Die dritte Variante des Textes richtet sich nach dem Sprachgebrauch von Or­ ten wie beispielsweise Freiburg im Breisgau. Den in Freiburg gesprochenen deutschen Dialekt nennt man traditionell "alemannisch". Das Verbreitungs­ gebiet des alemannischen Dialekts umfasst Baden-Württemberg, den Süd­ osten Bayerns, Vorarlberg in Österreich, die Schweiz und einen Teil der Re­ gion Elsass in Frankreich. Di maischde Seigedierer; wu z Dydschland haimisch sin, läbe in dr gmääsigde Laubwäld. Im Wald gid s under anderem Mader; Dam-Root­ hiirsch, Ree, Wildsei un Figs. Dr Biber un dr Oder sin sälde woreni Be­ wooner vu dr Flusaue, vor alem Bschdänd vum Biber schdyyge in dr ledschde joor aber wider aa. Anderi groosi Seiger; wu s in friejere Zyd z Midleuropa gee hed, sin uusgroded woore: Uurogs, Bruunbäär; Elch, Wildros, Wisent, Wolf In dr jingschde Zyd sin ab un zue wider Elch, Bääre un Welf yygwandered. Die angeführten Texte gehören zweifellos ein und derselben Sprache an, weisen aber deutliche Unterschiede zueinander auf. Diese Unterschiede fin­ det man auf allen Ebenen der Sprachstruktur. Man findet klare Unterschiede in der Aussprache vieler Wörter, vgl. zum Beispiel hd. Wölfe

-

alem. Welf

Die gleichen Lexeme werden teilweise unterschiedlich flektiert, vgl. die Plu­ ralbildung bei hd. Säugetiere

-

alem. Seigedierer. Unterschiede in der Syn­

tax zeigen Sätze wie hd. Biber und Otter sind seltener gewordene Bewohner der Flussauen

-

bair. Biba und Odda san seyddna worn oys Bewona vo de

Flussauan oder hd. Andere ehemals in Mitteleuropa lebende Großsäuger

-

alem. Anderi groosi Seiger; wu s in friejere Zyd z Midleuropa gee hed. Be­ deutend sind schließlich die Unterschiede im lexikalischen Bereich. Für hd. Wildschweine stehen bair. Weydsai und alem. Wildsei. Das gewonnene

1.1. Begriff der sprachlichen Variation

Bild der diatopischen Variation im Deutschen ist für natürliche Sprachen durchaus repräsentativ.

Die diatopische Variation ist allerdings nicht die einzige bekannte Art der sprachlichen Variation. Varianten, die verschiedenen Dialekten einer Spra­ che nicht unähnlich sind, existieren manchmal innerhalb ein und desselben

diastratische Variation Soziolekt

Ortes nebeneinander. Solche Varianten einer Sprache in ein und demselben Ort werden gewöhnlich von verschiedenen Einwohnergruppen gesprochen. Dabei hängt die Zugehörigkeit zu einer Gruppe häufig mit sozialen Faktoren wie zum Beispiel dem Bildungsstand, dem Beruf oder der Herkunft aus einem bestimmten sozialen Milieu zusammen. Varianten einer Sprache, die mit der sozialen Stellung oder der Herkunft der Sprecher korrelieren, nennt man traditionell "Soziolekte". Manchmal lassen sich innerhalb eines Ortes gleich mehrere Soziolekte ausmachen, die jeweils einer bestimmten Schicht der Bevölkerung zugeordnet sind. Die Art der sprachlichen Variation, die sich in Form von Soziolekten unterschiedlicher Bevölkerungsschichten ma­ nifestiert, nennt man traditionell "diastratisch" (von lat. stratum ,Schicht'). Ein Beispiel für die diastratische Variation innerhalb eines Ortes ist beispiels­ weise die sprachliche Situation in Salzburg zu Beginn des 21. Jh. Hier kom­ men die Unterschiede zwischen dem Soziolekt derjenigen Berufsgruppen, für die ein Universitätsstudium typisch ist, und dem Sprachgebrauch der Handwerker, Arbeitnehmer im Einzelhandel etc. den Unterschieden zwi­ schen verschiedenen Dialekten des Deutschen sehr nahe. Die dritte und letzte Art der sprachlichen Variation betrifft die Unterschie­ de zwischen verschiedenen zeitlichen Schichten einer Sprache. Bei solchen zeitbezogenen Unterschieden spricht man traditionell von einer "diachro­ nen Variation" (von griech. chr6nos ,Zeit'). Ein gutes Beispiel für das Vorlie­ gen der diachronen Variation im Deutschen liefert der folgende Text von 1372, der dem Dialekt entnommen ist, auf den das gegenwärtige Hoch­

deutsch zurückgeht: Wir Karl von gots gnadin Romischer keiser; tzu allen tzeiten merer des reichs und kunig tzu Beheim bekennen und tun künt offeniich mit disem briefe allen den, die in sehen odir horent lezen, das wir durch nuetze und gemeynes gute der burgere gemeynlich der stat Auspurk, unserr und des reichs lieben getruwen, yn und der stat tzu Auspurk mit wolbedach­ tem mute und mit rechtir wissen tzu eynem schirmer; helfer und houbt­ man geben haben und geben mit crafft ditz briefs und keyserlicher mech­ te den edlen Fridrichen, hertzogen tzu Dekke, unsern und des reichs lie­ ben getruwen, also daz er sie und die stat tzu Auspurk, alle ire lüte und guter gen allermeniglich, die sie wider recht beschedigen wolten, von unsern und des reichs wegen schutzen, schirmen und hanthaben sulle und moge bis an unser widerrufen, alz wir ouch ym das mit unsern sun­ derlichen worten müntlich geboten und empfohlen haben.

Man stellt fest, dass von der diachronen Variation, ähnlich wie im Falle der diatopischen und diastratischen Variation, alle Bereiche der sprachlichen Struktur betroffen sein können. So hat sich die Aussprache des Diphthongs in solchen Wörtern wie houbtman ,Hauptmann' und ouch ,auch' seit 1372 offensichtlich verändert. Die Formen des Akkusativ Singular Fridrichen und hertzogen wären heute ungrammatisch. Die Anknüpfung des Nebensatzes

diachrone Variation

9

10

1. Grundbegriffe der historischen Sprachwissenschaft

also daz er sie und die stat tzu Auspurk ... schutzen, schirmen und hantha­ ben sullewäre heute in der gegebenen Form ebenfalls nicht mehr möglich.

1.2. Ursachen der Variation, Begriff des Sprachwandels Wie kommt es zur sprachlichen Variation? Sprache dient der Kommunika­ tion zwischen Menschen. Sie funktioniert umso erfolgreicher, je einheitli­ cher sie ist. Deshalb ist die Existenz von Varianten ein und derselben Spra­ che eine erklärungsbedürftige Tatsache. Geht man der Frage nach den Ursachen der sprachlichen Variation nach, stellt man als erstes fest, dass die diastratische Variation gewöhnlich aus der diatopischen Variation entsteht. Oder, mit anderen Worten, den Soziolekten innerhalb ein und desselben Ortes liegen Dialekte zugrunde, die ursprüng­ lich an verschiedenen Orten gesprochen wurden. So kommt der Sprachge­ brauch der Salzburger Akademiker dem Hochdeutschen solch weit entfern­ ter

Orte wie beispielsweise

Hannover sehr nahe.

Das

Deutsch der

Salzburger Handwerker weist demgegenüber klare Affinitäten zu Dialekten der unmittelbaren Umgebung von Salzburg auf. Ähnliche Beobachtungen legen es nahe, die diatopische Variation auf die diachrone zurückzuführen. Es ist bekannt, dass sich die Sprache auch an Or­ ten ohne nennenswerte Dialektmischung mit jeder neuen Generation etwas verändert. Auf den ersten Blick unbedeutende Veränderungen - wie bei­ spielsweise die Aufgabe der phonologischen Unterscheidung zwischen Bä­

ren, Ähren und Beeren, ehren oder die Ersetzung von gewesen durch gewest - können sich über mehrere Generationen zu beträchtlichen Unterschieden akkumulieren. Beobachtungen an deutschen Dialekten zeigen, dass neue Dialektvarianten, sogenannte "Mundarten", und neue Dialekte, die sich aus diesen Mundarten entwickeln können, gewöhnlich dadurch entstehen, dass Gruppen von Sprechern ein und derselben Mundart sich an verschiedenen Orten niederlassen. In vielen Fällen führt das über kurz oder lang zum An­ wachsen der zunächst kaum wahrnehmbaren Unterschiede und somit zur Herausbildung neuer Mundarten sowie, auf dieser Grundlage, neuer Dialek­ te. Sprachwandel

Den unablässigen Wandel, dem alle natürlichen Sprachen der Welt unterliegen und der für die Entstehung der Dialekte und, in einem weiteren Schritt, auch der Soziolekte verantwortlich ist, nennt man in der Sprachwis­ senschaft den "Sprachwandel". Kenntnisse der Gesetzmäßigkeiten, denen der Sprachwandel unterliegt, sind unerlässlich für jede Beschäftigung mit na­ türlichen Sprachen, wenn man diese unter ihren realen Existenzbedingun­ gen in Raum und Zeit erforschen möchte.

1.3. Ursachen des Sprachwandels Doch warum verändern sich natürliche Sprachen? Das konnte in der Sprach­ wissenschaft bisher nicht restlos aufgeklärt werden. Es liegen allerdings theo­ retische Ansätze vor, die mögliche oder wahrscheinliche Ursachen des Sprachwandels zu identifizieren versuchen. Diese Erklärungsansätze lassen

1.3.

Ursachen des Sprachwandels 11

sich in zwei Gruppen einteilen. Hypothesen der ersten Gruppe vermuten die Ursache des Sprachwandels in angeborenen psychologischen Eigen­ schaften des Menschen. Hypothesen der zweiten Gruppe suchen die Ursa­ che hingegen im sozialen Leben der Sprechergemeinschaften. Einer der theoretischen Ansätze der ersten Gruppe geht von der Prämisse

Ökonomie

aus, dass Menschen in allem, was sie tun, also auch beim Kommunizieren, unbewusst bestrebt sind, den Aufwand möglichst gering zu halten. Dies kann erklären, warum grammatische Formen von Wörtern in vielen Sprachen mit der Zeit kürzer werden. Vgl. ich mach', Schul', Gäst'für ich mache,

Schule, Gäste in vielen Dialekten aus dem süddeutschen Raum. Allerdings nehmen an einem Kommunikationsakt in der Regel mindestens zwei Menschen teil. Dabei führt die maximale Ökonomie auf der Seite des Sprechenden oft zu Schwierigkeiten, das Gesagte richtig zu interpretieren. Aus der Sicht des Hörenden ist eher die maximale Transparenz der sprachlichen Äußerungen ökonomisch, weil sie den geringsten Aufwand bei ihrem Interpretieren verursacht. Das führt oft dazu, dass kürzere Strukturen mit der Zeit durch längere ersetzt werden. Vgl. zum Beispiel die vollständige Verdrängung der kurzen, dafür aber mehrdeutigen Präteritumformen er macht', sie

sucht' durch längere, dafür aber transparentere er hat gemacht, sie hat gesucht in deutschen Dialekten mit e-Schwund im Auslaut. Nachdem jeder Mensch fast in jedem Kommunikationsakt abwechselnd sowohl die Rolle des Sprechenden als auch die des Hörenden übernimmt und dabei nicht nur sich kurz fassen, sondern auch verstanden werden möchte, halten sich die beiden gegenläufigen Tendenzen in etwa die Waage. Sie verursachen zwar Änderungen im bestehenden Sprachsystem, dieses erreicht aber weder den theoretisch denkbaren Zustand der maximalen Kürze, noch einen Grad an Transparenz, der zum Beispiel über den des Deutschen weit hinausgehen würde. Eine einflussreiche Theorie der zweiten Gruppe erklärt den Sprachwandel aus dem sozialen Austausch von Sprechergemeinschaften verschiedener Sprachen, wobei Erscheinungen wie Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel eine zentrale Rolle spielen. Natürliche Sprachen werden gewöhnlich neben anderen Sprachen gesprochen. So leben zum Beispiel viele Sprecher des Deutschen seit Jahrhunderten in Nachbarschaft mit Sprechern anderer Sprachen, zum Beispiel des Französischen, Italienischen, Dänischen, Niederländischen, Polnischen, Tschechischen und Ungarischen. Wirtschaftliche und kulturelle Kontakte zwischen Sprechern verschiedener Sprachen führen oft dazu, dass sich die betreffenden Sprachen oder ihre Dialekte beeinflussen. Der sprachliche Einfluss, den benachbarte Sprachgemeinschaften aufeinander ausüben, variiert dabei in Abhängigkeit von den Lebensbedingungen der Sprecher (vor allem den wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen) von unbedeutend bis sehr intensiv. Bei intensivem Sprachkontakt kann es dazu kommen, dass ein hoher Prozentsatz der Bevölkerung einer Region gleich zwei oder mehr verschiedene Sprachen beherrscht und auch regelmäßig spricht. Eine solche Mehrsprachigkeit entwickelt sich in einigen Fällen so weit, dass die Sprache einer Sprechergemeinschaft von einem Teil ihrer Sprecher, seltener von allen ihren Sprechern, auch vollständig zugunsten der Nachbarsprache aufgegeben wird. So werden die slavischen Sprachen Ober- und Niedersorbisch in Sachsen und Brandenburg gegenwärtig nicht

Sprachkontakt

12

1. Grundbegriffe der historischen Sprachwissenschaft

von allen Sorben gesprochen. Vielerorts sind besonders die jungen Sorben vollständig zum Deutschen übergegangen. Viele Elsässer sprechen heute nur Französisch, während sich ihre Eltern und Großeltern im Alltag noch des Deutschen bedienen. Dabei ist bei Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel oft zu beobachten, dass phonetische und strukturelle Eigenschaften der eigenen Muttersprache in dem als zweite oder auch einzige Sprache angenommenen Sprachsystem teilweise erhalten bleiben. So können Varianten von Sprachen entstehen, deren charakteristische Eigenschaften letztendlich aus anderen Sprachen stammen. Es ist wichtig festzuhalten, dass die Erklärungsansätze der zweiten Gruppe und die Hypothesen der ersten sich nicht notwendigerweise ausschließen. Beide Gruppen von Hypothesen lassen es durchaus zu, dass der Sprachwan­ del sowohl durch soziale als auch durch psychologische Faktoren hervorge­ rufen und gesteuert werden kann. Es ist allerdings so, dass die Rolle der so­ zialen Faktoren wie des Sprachkontakts nach zahlreichen Untersuchungen konkreter Sprachwandelsituationen in natürlichen Sprachen heute nicht mehr bestritten werden kann. Die Rolle der psychologischen Faktoren gilt dagegen bei vielen Forschern als nicht zweifelsfrei erwiesen.

1.4. Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte Die Erforschung des Deutschen in seiner historischen Entwicklung wird na­ türlich erst mit dem Beginn der deutschen Textüberlieferung möglich. Deutsch gehört dabei zu denjenigen europäischen Sprachen, derer Textüber­ lieferung aus historischen Gründen verhältnismäßig spät, erst im Mittelalter einsetzt. Die ersten aufgeschriebenen Wörter, die mit Sicherheit dem Deut­ schen zugeordnet werden können, stammen aus der Mitte des 8. Jh. nach ehr. Die ersten zusammenhängenden deutschen Texte entstanden kurz vor 800. Die in Texten dokumentierte Geschichte des Deutschen umfasst somit

mehr als 1200 Jahre. Wie bei einer so großen Zeitspanne nicht anders zu er­ warten, weisen deutsche Texte aus weit auseinanderliegenden Jahrhunder­ ten beträchtliche Unterschiede zueinander auf. Um die Erforschung dieser Texte zu erleichtern, hat man sich in der Sprachwissenschaft auf die Eintei­ lung der überlieferten Sprachgeschichte des Deutschen in die folgenden drei Perioden oder chronologischen Schichten geeinigt. Althochdeutsch

Die erste Periode oder die älteste chronologische Schicht in der Entwick­ lung des Deutschen bildet die Sprache der Quellen aus dem Frühmittelalter, genauer aus dem Zeitraum zwischen ca. 750 und ca. 1050. Diese Periode in der Entwicklung des Deutschen nennt man traditionell "althochdeutsch". Man spricht vom Althochdeutschen als dem ältesten überlieferten Deutsch.

Mittelhochdeutsch

Auf das Althochdeutsche folgt die zweitälteste chronologische Schicht, die Sprache der sogenannten "mittelhochdeutschen" Sprachperiode. Diese dauerte von ca. 1050 bis ca. 1350. Sie umfasste somit das west- und mittel­ europäische Hochmittelalter und den Beginn des Spätmittelalters.

Neuhochdeutsch

Die dritte und letzte Periode in der Entwicklung des Deutschen ist die

Frühneuhoch­

"neuhochdeutsche" Zeit. Sie beginnt mit dem Ende der mittelhochdeutschen

deutsch

Sprachperiode um ca. 1350 und dauert bis heute an. Für viele Fragestellun­ gen ist es sinnvoll, innerhalb der neuhochdeutschen Zeitspanne noch eine

1.4. Periodisierung der deutschen Sprachgeschichte

besondere "frühneuhochdeutsche" Phase zu unterscheiden, bei der es sich um das Deutsche des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit von ca. 1350 bis ca. 1650 handelt. Das Althochdeutsche, das Mittelhochdeutsche und das Frühneuhochdeut­ sche sind historische Vorstufen des Standarddeutschen unserer Zeit. Der Zusatz "hoch-" dient in diesen Sprachbezeichnungen dazu, diese Sprachfor­ men vom sogenannten "Niederdeutsch" zu unterscheiden, das im Mittelalter und in der frühen Neuzeit in Norddeutschland gesprochen wurde und auch heute noch gesprochen wird. Mit den Zusätzen "hoch-" und "nieder-" bezog man sich dabei zum Zeitpunkt der terminologischen Festlegung im frühen 19. Jh. darauf, dass das ursprüngliche Verbreitungsgebiet der hochdeutschen

Dialekte im Süden Deutschlands geomorphologisch höher liegt als das nord­ deutsche Tiefland, in dem niederdeutsch gesprochen wurde. Das Nieder­ deutsche, dessen Sprachgeschichte ihren Anfang in zwei eigenständigen ger­ manischen Idiomen nimmt, verdient eine eigene Darstellung. Es wird in der vorliegenden Einführung nicht behandelt.

tl:n

Übungsfragen

1. Was versteht man unter sprachlicher Variation? 2. Welche Arten von Variation unterscheidet man in natürlichen Sprachen?

3.ln welchem Verhältnis stehen diese Arten von sprachlicher Variation zueinander? 4.ln welche Perioden wird die überlieferte Geschichte des Deutschen einge­ teilt?

13

2. Grundbegriffe der historischen Grammatik:

phonologischer Wandel (Lautwandel), morphologischer Wandel, syntaktischer Wandel Dieses Kapitel beschäftigt sich mit den wichtigsten Begriffen der historischen Grammatik. Er behandelt den Sprachwandel in den Lautsystemen natürli­ cher Sprachen sowie die wichtigsten Wandelphänomene, die in der Fle­ xionsmorphologie und der Syntax von natürlichen Sprachen beobachtet werden.

2.1. Der phonologische Wandel (Lautwandel) Wir wissen bereits, dass die Lautung von Lexemen und Morphemen einer Sprache sich mit der Zeit ändern kann. Eine Untersuchung mehrerer hundert Sprachen, die auf der Welt gesprochen werden, zeigt, dass alle diese Spra­ chen einer ständigen Veränderung ihrer Phonologie unterworfen sind. Die Aufgabe des jetzt folgenden Abschnitts besteht darin zu ermitteln, ob die Än­ derungen, die man in der Phonologie natürlicher Sprachen wie zum Beispiel des Deutschen beobachtet, bestimmten Regeln folgen und worin diese Re­ geln bestehen. Lautwandel im

Bei Änderungen in der Lautung von Lexemen und Morphemen einer Spra-

segmentalen Bereich

che muss man zwischen folgenden zwei Möglichkeiten unterscheiden: In einem Teil der Fälle bestehen solche Änderungen darin, dass sich die Aus­ sprache der Segmente ändert, aus denen sich die betreffenden Lexeme und Morpheme zusammensetzen. Es kommt also zu einer Veränderung in der Aussprache einzelner Phoneme, der Vokale oder Konsonanten, wie zum Beispiel bei mhd.

hos und

muot, die sich zu nhd.

Haus und

Mut entwi­

ckelten. In anderen Fällen ändern sich die phonetischen Eigenschaften von Einheiten aus mehreren Phonemen, ihre sogenannten "suprasegmentalen" Charakteristika wie beispielsweise der Wortakzent. Ein Beispiel dafür wäre der Verlust des eigenständigen Wortakzents durch den deutschen bestimm­ ten Artikel

der, die, das bei seiner Verwendung nach Präpositionen. Es

kommt schließlich auch vor, dass eine Änderung im suprasegmentalen Be­ reich in der betreffenden Sprache mit Veränderung im Bereich der einzelnen

ans und ins neben den an das und in das. In solchen Fällen liegt es oft nahe, mit einem

Phoneme korreliert. Man vgl. Kontraktionen wie nhd. Vollformen

kausalen Zusammenhang zwischen der Änderung im suprasegmentalen und dem Lautwandel im phonemischen Bereich zu rechnen. Im Folgenden kon­ zentrieren wir uns zuerst auf den einfachsten Fall, den Lautwandel im Be­ reich einzelner Phoneme.

2.1.

Der phonologische Wandel (Lautwandel) 15

Änderungen in der Aussprache einzelner Phoneme können vielfältig sein. Man vgl. die folgenden mittelhochdeutschen Lexeme neben ihren Fortset­ zern im gegenwärtigen neuhochdeutschen Standard: mhd.

nhd.

mhd.

nhd.

hoch

hoch

sügen

saugen

büe3en

büßen

tiuvel

Teufel

mTn

mein

grüene

grün

liute

Leute

vuo3

Fuß

buoch

Buch

hüs

Haus

bT3en

beißen

stö3en

stoßen

Betrachtet man die Vokale der angeführten Lexeme, so stellt man fest, dass im angeführten Material klare Fälle von Diphthongierung der Langvokale vorliegen. So entsprechen den langen Monophthongen mhd. T(Lautwertli:/) in mTn, ü(Lautwert/u:/) in sügen und iu(Lautwert/y:/) in liute im Neuhoch­ deutschen Diphthonge, die , und geschrieben werden. Das angeführte Material enthält aber auch klare Fälle von Monophthongierung von mittelhochdeutschen Diphthongen. So entsprechen den Diphthongen mhd. üe in büe3en und uo in buoch im Neuhochdeutschen Monophtonge, die man (oder mhd. ce in seinem Geltungsbereich, vor i oder I der Folgesilbe, genauso re­ gelmäßig gewirkt haben muss wie die oben vorgestellten Lautwandel mhd. I > nhd. ei oder mhd. Q> nhd. au. Lautwandel, die nur in einer besonderen Lautkonstellation wirken, nennt man traditionell "kombinatorische" Lautwandel. Die Existenz von kombina­ torischen Lautwandeln widerlegt die angenommene prinzipielle Ausnahms­ losigkeit der Lautwandel nicht. Das zweite Beispiel für einen unvollständig durchgeführten Lautwandel betrifft die Entwicklung von mhd. iu (Lautwert /y:/). Oben wurde bereits fest­ gestellt, dass mhd. iu in einer großen Anzahl von Lexemen der Diphthong nhd. eu entspricht, der auch geschrieben werden kann. Vgl. so klare Fälle wie zum Beispiel mhd. liute oder mhd. liuchten

-

-

nhd. Leute, mhd. miuse

-

nhd. Mäuse

nhd. leuchten. Die Lautentsprechung mhd. iu

-

nhd.

eu wird allerdings in einer bestimmten morphologischen Position systema­

tisch aufgehoben, und zwar in der Präsensflexion von Verben des Typs mhd. gie3en, vliegen, kriechen, denen nhd. gießen, fliegen, kriechen entsprechen.

Die 1., 2. und 3. Sg. Präsens dieser Verben haben im Mittelhochdeutschen den Diphthong iu in der Wurzel. Im Neuhochdeutschen entspricht aber nicht das erwartete eu oder äu, sondern ie, das man eigentlich nur im Plural des Präsens und im Infinitiv erwarten sollte. mhd.

nhd.

Inf.

gie3en, vliegen, kriechen

gießen, fliegen, kriechen

l.5g.Prs.

giu3e, vliuge, kriuche

2.5g.Prs.

giu3est, vliugest, kriuchest

3.5g.Prs.

giu3et, vliuget, kriuchet

gießt, fliegt, kriecht

1.PI.Prs.

gie3en, vliegen, kriechen

gießen, fliegen, kriechen

gieße, fliege, krieche --+

gießt, fliegst, kriechst

Dabei ist allerdings bekannt, dass die erwarteten Flexionsformen des Singu­ lar Präsens mit nhd. eu in der Wurzel bei den Verben der gegebenen Fle­ xionsklasse einmal existierten. Man findet sie noch in der Dichtung des 19. Jh. Einige Formen dieser Art haben in festen Redewendungen bis heute über­ dauert. Man vergleiche zum Beispiel den Ausdruck was kreucht und fleucht, in dem die Verbformen den heute üblichen kriecht und fliegt entsprechen.

kombinatorischer Lautwandel

18 2. Grundbegriffe der historischen Grammatik Flexionsformen mit eu aus mhd. iu waren also bei nhd. gießen, fliegen, kriechen einmal da, sie wurden erst in rezenter Zeit durch Formen ersetzt, die den gleichen Vokal in der Wurzel haben wie der Plural des Präsens und der Infinitiv. Warum ist das geschehen? Ein Blick auf das System der deut­ schen Konjugation zeigt, dass sehr viele teils hochfrequente Verben im Neu­ hochdeutschen - wie bereits im Alt- oder Mittelhochdeutschen - im Singular des Präsens denselben Vokal haben wie im entsprechenden Plural und dem Infinitiv. mhd.

nhd.

Inf.

grrfen, bringen, heiJen

greifen, bringen, heißen

1.Sg.Prs.

grrfe, bringe, hei3e

greife, bringe, heiße

2.Sg.Prs.

grrfest, bringest, hei3est

greifst, bringst, heißt

3.Sg.Prs.

grrfet, bringet, heiJet

greift, bringt, heißt

1.PI.Prs.

grrfen, bringen, heiJen

greifen, bringen, heißen

morphologische

Formen wie nhd. gießt, fliegt, kriecht entstanden also dadurch, dass die be­

Analogie

treffenden Verben gießen, fliegen, kriechen sich sekundär dem Muster von Verben des Typs greifen, bringen, heißen anschlossen. Vorgänge dieser Art nennt man in der Sprachwissenschaft traditionell "morphologische Analo­ gie". Sie wirken sich auf die Lautung von Wortformen aus, gehören aber nicht dem Bereich der historischen Phonologie, sondern dem der histori­ schen Morphologie an (s. ausführlich im Abschnitt 2.2). Die Abweichungen von der Entsprechungsregel mhd. iu

-

nhd. eu, äu sind also morphologisch

bedingt. Es ist klar, dass Befunde dieser Art das angenommene ausnahmslose Wirken der Lautwandel nicht widerlegen. Wir haben gesehen, dass Lautwandel in einer natürlichen Sprache, wie zum Beispiel dem Deutschen, im Prinzip ausnahmslos wirken, indem sie den betreffenden Laut in allen Wörtern und Wortformen dieser Sprache gleichzeitig und auf dieselbe Art und Weise verändern. Die scheinbaren Ausnahmen, die man gelegentlich beobachtet, erklären sich entweder da­ durch, dass es sich um einen kombinatorischen Lautwandel handelt, der nur in einer bestimmten Lautkonstellation möglich ist, oder durch das Wirken der morphologischen Analogie. Lautwandel im

Wiederkehrend und im Prinzip ausnahmslos ist auch der phonologische

suprasegmentalen

Wandel im suprasegmentalen Bereich. Für den Akzentwandel wird das

Bereich

zweifelsfrei erwiesen durch Vorgänge wie zum Beispiel die neuhochdeut­ sche Tonverschiebung in dreisilbigen Wörtern. Es ist bekannt, dass sich in neuhochdeutschen Wörtern aus drei Silben der Wortakzent von der ersten auf die zweite Silbe verschob, wenn diese auf einen Resonanten ausging, vgl. mhd. h6lunder, wecholter> nhd. Holunder, Wach6lder. Bei Wortfor­ men, die von diesem Akzentwandel nicht betroffen sind, handelt es sich um Neuschöpfungen, die durch morphologische Analogie zustande gekommen sein müssen. So erklärt sich die einzige systematische Ausnahme, nämlich die Kasusformen von Präsenspartizipien wie beispielsweise nhd. lebende (Zellen), k6mmende (Woche) oder zahlende (Kunden). Der Grund für das Nichteintreten der Tonverschiebung in solchen Wortformen liegt in der Tat­ sache, dass die betreffenden Partizipien Kurzformen besitzen, die im Satz als

2.2. Der morphologische Wandel

Adverbien fungieren, so zum Beispiel

lebend fassen. Solche Kurzformen lebend, kommend, zahlend.

sind im Neuhochdeutschen nur zweisilbig, also

In zweisilbigen Wörtern aber waren die Bedingungen für die Tonverschie­ bung nicht erfüllt. Auf der Grundlage von zweisilbigen und somit erwar­ tungsgemäß anfangsbetonten Partizipien wie

lebend, k6mmend, zahlend lebende, k6mmende,

konnten anfangsbetonte dreisilbige Kasusformen wie

zahlende entstehen und ihre ererbten, regulär auf der zweiten Silbe betonten Entsprechungen verdrängen. Als Muster für die Neuschöpfung von anfangs­ betonten Kasusformen der Partizipien dienten dabei Adjektive, deren Kasus­

gut - gute, sauber­ saubere, zahlreich - zahlreiche und viele andere Adjektive, bei denen die

formen immer an der gleichen Stelle betont waren. Vgl.

Bedingungen für die Tonverschiebung nirgends im Flexionsparadigma vorla­ gen. Es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es sich bei den Auswirkungen, die der suprasegmentale phonologische Wandel manchmal auf die Entwick­ lung der Einzelphoneme ausübt, anders verhält. Solche Auswirkungen sind zwar weniger gut erforscht als der Lautwandel ohne suprasegmentalen Hin­ tergrund, die Evidenz spricht aber auch hier für wiederkehrende und regel­ mäßige Lautentwicklung. So führt beispielsweise die Zusammenziehung der lautlich ähnlichen Präpositionen nhd.

an und in mit dem vor Substantiv ak­ an, in + das

zentlos gewordenen Artikel zu sehr ähnlichen Ergebnissen, vgl.

>ans, ins und an, in + dem >am, im. Genauso entwickeln sich die neuhoch­ hin und her unter Nichtakzent vor anderen Adverbien auch jeweils gleich. Nhd. hinaus, hinauf, hinein ändern sich im Standarddeutschen nicht, heraus, herauf, herein entwickeln sich aber zu raus, rauf, rein. Auch hier folgt die Lautentwicklung also einer klaren Regel,

deutschen Richtungsadverbien

die offenbar keine unerklärlichen Ausnahmen zulässt.

2.2. Der morphologische Wandel:

interparadigmatische Analogie und innerparadigmatischer Ausgleich Lautwandel führen manchmal zu Änderungen in der Struktur von Flexions­

m im Wortauslaut zu n entwickelte. Das lässt sich an den folgenden eindeutigen Fällen zei­

mustern. Es ist zum Beispiel bekannt, dass sich ahd. mhd. gen:

Dat.PI. Dat.PI. Dat.PI. 1.Sg.Prs. l.5g.Prs. l.5g.Prs.

ahd.

mhd.

tagum gestim zungom

tagen gesten zungen

bim tuom gem

bin tuon gen

Die Unterscheidung zwischen mund

,Tag' ,Gast' ,Zunge' ,sein' ,tun' ,gehen'.

n hatte in althochdeutscher Zeit aller­

dings eine morphologische Funktion. Sie diente zur Unterscheidung der

19

20 2. Grundbegriffe der historischen Grammatik 1. Plural und der 3. Plural Präteritum in der Flexion althochdeutscher Ver­ ben. Die Lautentwicklung ahd. m> mhd. n führte dazu, dass diese Flexions­ formen im Mittelhochdeutschen sekundär ununterscheidbar wurden. Vgl. bei ahd. neman ,nehmen', hören ,hören' und folgen ,folgen': mhd.

ahd.

nämum, hörtum, folgetum 3.PI. nämun, hörtun, folgetun

Ind.Prt. 1.PI.

Konj.Prt. 1.PI. 3.PI.

nämfm, hört/m, folget/m nämfn, hört/n, folget/n

nämen, hörten, volgeten nämen, hörten, volgeten ncemen, hörten, volgeten ncemen, hörten, volgeten.

Mit anderen Worten, der Lautwandel ahd. m> mhd. n (im Wortauslaut) ver­ änderte die Struktur des Konjugationsparadigmas dahingehend, dass die 1. und die 3. Plural Präteritum im Indikativ wie Konjunktiv im Mittelhochdeut­ schen oft identisch wurden. Oft haben Änderungen in den Flexionsmustern einer Sprache allerdings keinen erkennbaren phonologischen Hintergrund. Man vgl. zum Beispiel die Aufgabe der ererbten Unterscheidung zwischen der 2. und der 3. Plural Präsens im südwestlichen (alemannischen) Dialekt des Althochdeutschen: ahd. alem. (9. jh.) 2.PI.Prs. 3.PI.Prs.

nemet, höret, folget nemant, hörent, folgent

ahd. alem. (11. jh.) -+

nement, hörent, folgent nement, hörent, folgent.

Man sieht, dass die 2. und 3. Plural des Präsens, im 9. jh. durch tund ntnoch überall voneinander geschieden, im 11. jh. bereits bei allen drei Verben die­ selbe Lautung hatten. Dass dieser Veränderung im Konjugationsparadigma kein Lautwandel ahd. alem. (9. jh.) t> (11. jh.) nt zugrunde lag, folgt dabei aus der Tatsache, dass sich auslautendes t in anderen morphologischen Posi­ tionen nicht in nt verwandelte. Man vgl. die 3. Singular Präsens derselben Verben:

3.5g.Prs.

ahd. alem. (9. jh.)

ahd. alem. (11. jh.)

nimit, hörit, folget

nimet, höret, folget.

Die Aufgabe der Unterscheidung zwischen der 2. und der 3. Plural Präsens war somit ein morphologischer Wandel, der nicht durch einen Lautwandel verursacht wurde. Die meisten Veränderungen in Flexionsparadigmen einer Sprache werden nicht durch Lautwandel verursacht. In vielen Fällen liegt es im Gegenteil nahe, von einem rein morphologischen Hintergrund auszugehen, weil die Entwicklung letztendlich zu einer Vereinfachung oder Vereinheitlichung der morphologischen Markierung im betreffenden Teil der Grammatik führt. In diesem Bereich werden traditionell zwei Arten des morphologischen Wan­ dels unterschieden. Erstens die "interparadigmatische Analogie", die oft in Form von Proportionen dargestellt und deswegen auch "proportionale Ana­ logie" genannt wird. Zweitens der "innerparadigmatische Ausgleich", der

2.2. Der morphologische Wandel

oft einfach "paradigmatischer Ausgleich" oder "analogischer Ausgleich" heißt. Die interparadigmatische Analogie besteht im strukturellen Angleichen eines Flexionsmusters an ein anderes. Das Angleichen erfolgt dabei durch Übertragung der lautlichen Unterschiede, mit denen die betreffenden gram­ matischen Unterschiede markiert werden, von einem Paradigma auf ein an­ deres. Das Wirken der interparadigmatischen Analogie lässt sich am folgen­ den Fall veranschaulichen. Im Althochdeutschen bildete das Verb bringan ,bringen' seine Flexionsformen im Präteritum folgendermaßen: ahd. bringan:

l.5g.Prt. brähta - 1.PI.Prt. brähtum - Part.Prt. gi-bräht.

In Dialekten des Mittelhochdeutschen findet man aber neben den herkömm­ lichen Formen des Präteritums 1.Sg.Prt. brächte - 1.PI.Prt. brächten Part.Prt. ge-brächt, die aus dem Althochdeutschen ererbt wurden, auch ge­ neuerte. Diese geneuerten Formen lauteten 1.Sg.Prt. brank - 1.PI.Prt. brun­

gen - Part.Prt. ge-brungen. Ein Blick in die mittelhochdeutsche Grammatik zeigt, dass die geneuerten Formen einem in der Sprache verbreiteten Muster folgten. Vgl. mhd.

singen springen vinden binden

1.Sg.Prt.

1.PI.Prt.

Part.Prt.

sank sprank vant bant

sungen sprungen vunden bunden

ge-sungen ge-sprungen ge-vunden ge-bunden

,singen' ,springen' ,finden' ,binden'.

Mhd. bringen hat sich also in einem Teil der Dialekte sekundär der Flexion von Verben wie singen, springen oder vinden angeschlossen. Die Übertra­ gung des Markierungsmusters von singen, springen, vinden auf bringen lässt sich dabei am besten in Form einer Proportion darstellen. So zum Beispiel für die 1. Singular Präteritum:

bringen

singen, springen, vinden sank, sprank, vant

x.

In Worten: Die Infinitive singen, springen, vinden verhalten sich zur 1. Sg. Präteritum sank, sprank, vant wie der Infinitiv bringen zur 1. Sg. Präteritum x, wobei x gleich branksein muss. Das Wirken der interparadigmatischen Analogie im Bereich der Nomina lässt sich gut veranschaulichen am Beispiel der Pluralbildung bei althoch­ deutschen und mittelhochdeutschen Substantiven neutralen Genus. Im Alt­ hochdeutschen gab es zwei prominente Muster der Pluralbildung bei den Neutra, nämlich den Typ lamb - lembir und den Typ lant - lant: ahd.

Nom.-Akk.Sg. Nom.-Akk.PI.

lamb lembir

kalb kelbir

lant lant

tal tal

,Lamm'

,Kalb'

,Land'

,Tal'.

Im Mittelhochdeutschen haben sich die Substantive wie lant ,Land' oder tal ,Tal' dem anderen Typ der Pluralbildung angeschlossen:

interparadigmatische Analogie

21

22 2. Grundbegriffe der historischen Grammatik mhd.

Nom.-Akk.Sg. Nom.-Akk.PI.

lamp lember

kalp kelber

lant lender

tal teler

,Lamm'

,Kalb'

,Land'

Jal'.

Auch hier lässt sich die Übertragung der Pluralmarkierung von Wörtern wie mhd. lamp auf Lexeme wie mhd. tal in Form einer Proportion darstellen:

lamp, kalp lember, kelber

tal x.

x lässt sich dabei natürlich nur als teler auflösen. Es ist wichtig festzuhalten, dass die interparadigmatische Analogie die überkommenen Flexionsformen wie ahd. 1.Sg.Prt. brähta oder Nom.-Akk.PI.

tal nicht modifiziert, sondern durch neugebildete Formen wie mhd. 1.Sg.Prt. brank oder Nom.-Akk.PI. teler ersetzt. Betrachtet man den Ausgangspunkt und den Endpunkt der Entwicklung, kann leicht der Eindruck entstehen, dass zum Beispiel im Falle von ahd. tal - mhd. teler einfach die alte Form des Nom.-Akk. Plural tal mit dem Ausgang -er erweitert wurde, dem sich auch der Vokal in der Wurzel der Wortform sekundär anglich. Dieser Eindruck trügt. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die ererbte Form des Nom.­ Akk. Plural ahd. tal im Mittelhochdeutschen aufgegeben wurde. An ihre SteI­ le trat die Neuschöpfung teler, die neben der Form des Nom.-Akk. Singular mhd. tal nach Muster der Verhältnisse bei lamp - lember, kalp - kelber etc. aber ohne Rückgriff auf die alte Pluralform neu entstand. Dass es sich bei der interparadigmatischen Analogie nicht um eine Anpassung der Lautung be­ stehender Formen, sondern um ihre restlose Ersetzung durch neue Formen handelt, ist immer dann gut zu erkennen, wenn zwischen der alten Flexions­ form und der Neubildung keine phonologische Ähnlichkeit besteht. Man vgl. zum Beispiel die folgende Analogie aus dem Bereich der Adjektive:

mhd. nhd.

Positiv

Komparativ

Superlativ

übel übel

wirser übler

der wirseste der übelste.

Als Muster für die Neuerung, die für die neuen Steigerungsformen nhd. übler und der übelste verantwortlich ist, dienten offensichtlich die Verhältnisse bei Adjektiven wie beispielsweise nhd. schön - schöner - der schönste, ge­

wöhnlich - gewöhnlicher - der gewöhnlichste etc. Dass die alten Steige­ rungsformen mhd. wirser und der wirseste dabei nicht ersetzt, sondern nur lautlich modifiziert wurden, kommt wegen des großen Unterschieds zu üb­

ler und der übelste überhaupt nicht in Betracht. Wenn die alten Formen in diesem Fall von interparadigmatischer Analogie nicht irgendwie aufge­ frischt, sondern restlos ersetzt wurden, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass es sich in anderen Fällen, zum Beispiel bei der Entstehung der Plural­ form mhd. teler, anders verhält. inner­

Der innerparadigmatische Ausgleich besteht im Vereinheitlichen eines

paradigmatischer

Flexionsmusters durch Beseitigung einer Allomorphie, wenn diese für die

Ausgleich

Unterscheidung der Flexionsformen nicht unbedingt erforderlich ist. Ein kla­ rer Fall einer solchen Entwicklung liegt zum Beispiel in der Flexion der alt-

2.2. Der morphologische Wandel

hochdeutschen maskulinen Substantive mit Nominativ Singular auf

-0

und

n-haltigen Ausgängen der obliquen Kasus vor. Vgl. die Flexion von ahd.

namo ,Name' und skatho ,Schaden' am Ende des 8. und zu Beginn des 9. )h.: ahd. (8. )h.) Nom.Sg. Gen.Sg. Dat.Sg. Akk.Sg.

namo nemin nemin namun

skatho skethin skethin skathun

ahd. (9. )h.)

namo namin namin namun

skatho skathin skathin skathun.

Im 8. )h. setzte sich die Flexion von ahd. namo und skatho aus Kasusformen zusammen, denen zwei verschiedene Allomorphe des Wurzelmorphems zugrunde lagen, einmal nam- und skath- (im Nominativ und Akkusativ Sg.) und einmal nem- und sketh- (im Genitiv und Dativ Sg.). Am Anfang des 9. )h. wurde diese Allomorphie offensichtlich beseitigt, indem die Allomorphe

nam- und skath- im ganzen Flexionsparadigma verallgemeinert wurden. So funktionieren die interparadigmatische Analogie und der innerparadig­ matische Ausgleich, die zusammen für die meisten Fälle von morphologi­ schem Wandel verantwortlich sind. Es ist allerdings sehr wahrscheinlich, dass die interparadigmatische Analogie und der innerparadigmatische Aus­ gleich nicht denselben ontologischen Status besitzen. Das verfügbare empi­ rische Material spricht dafür, dass der innerparadigmatische Ausgleich in einem Paradigma genauso einem Muster außerhalb dieses Paradigmas folgt, wie die Entwicklungen, die man gewöhnlich dem Wirken von interparadig­ matischer Analogie zuschreibt. So erfolgte der Allomorphieabbau in der Fle­ xion von ahd. namo, skatho offensichtlich durch die Anlehnung an diejeni­ gen Lexeme derselben Flexionsklasse, die von Haus aus keine Allomorphie kannten, zum Beispiel wewo ,Schmerz', nabulo ,Nabel' oder erbo ,Erbe' (Genitiv und Dativ Sg. wewin, nabulin, erbin). Fälle von innerparadigmati­ schem Ausgleich, bei denen der Einfluss eines anderen Paradigmas ausge­ schlossen werden könnte, sind bisher nicht bekannt geworden. Das spricht dafür, dass es sich beim innerparadigmatischen Ausgleich nur um einen Son­ derfall der interparadigmatischen Analogie handelt. Die interparadigmatische Analogie und ihr Sonderfall, der innerparadig­ matische Ausgleich, zielen prinzipiell darauf ab, die Uniformität und Regel­ haftigkeit der Flexion einer Sprache zu vergrößern. Dem steht allerdings die Tatsache gegenüber, dass die morphologischen Neuerungen, die nicht durch Lautwandel verursacht wurden, im Unterschied zum phonologischen Wan­ del nicht unbedingt alle potentiell einschlägigen Fälle erfassen müssen. Es kommt zwar vor, dass von einer morphologischen Neuerung eine ganze morphologische Klasse von Wörtern betroffen ist. So haben zum Beispiel an der Ersetzung von nhd. 3.Sg.Prs. kreucht, fleucht etc. durch kriecht, fliegt etc. (vgl. Abschnitt 2.1.) ausnahmslos alle neuhochdeutschen Verben vom Typ kriechen, fliegen teilgenommen. Doch werden durch das Wirken des analogischen Wandels oft nur einige wenige Lexeme einer Sprache betrof­ fen, manchmal ist es sogar nur ein Lexem. So wurden beispielsweise die ererbten suppletiven Steigerungsformen nur bei nhd. übel durch regelmäßig gebildete Neuschöpfungen übler, übelst ersetzt. Bei gut oder viel blieben die alten suppletiven Formen des Komparativs und Superlativs besser, best und

23

24

2. Grundbegriffe der historischen Grammatik

mehr, meist unverändert erhalten. Es sind schließlich auch Fälle bekannt, bei denen ein und dieselbe morphologische Analogie bei zwei Vertretern dersel­ ben morphologischen Klasse in entgegengesetzte Richtungen ausglich. So schlossen sich beispielsweise die mittelhochdeutschen Adjektive kaI, kalwer ,kahl' und gel, gelwer ,gelb' beide der zahlenmäßig weit überlegenen Klasse der Adjektive vom Typ gro3, gro3er ,groß' an, bei denen die Lautung der Wurzel in der Kurzform (gro3) und Langform (gro3er) dieselbe war. Dabei wurde allerdings bei mhd. kaI das Wurzelallomorph der Kurzform verallge­ meinert, woraus nhd. kahl, kahler (Kop� entstand, bei mhd. gel dagegen das der Langform, was zu nhd. gelb, gelber (Apfeh führte. Diese lexikalische Selektivität des morphologischen Wandels hat zur Folge, dass man seine Auswirkungen auf ein konkretes Lexem oder eine Gruppe von Lexemen trotz fast mathematischer Präzision, mit der sich diese Auswirkungen im Nach­ hinein beschreiben lassen, nicht voraussagen kann.

2.3. Von der Syntax zur Morphologie:

die Grammatikalisierung Dem Sprachwandel unterliegt auch die Syntax einer Sprache, also die Re­ geln, nach denen sich die Wortformen zu längeren Einheiten wie Syntagma oder Satz zusammenschließen. Vgl. zum Beispiel die folgende neuhoch­

19. Jh. im Vergleich mit ihrer Entspre­ 1950 lautete und wohl auch heute lautet:

deutsche Äußerung aus der Mitte des chung, wie sie um nhd.

(um (um

1850) 1950)

Er erinnerte sich des Vorfalls nicht mehr. Er erinnerte sich nicht mehr an den Vorfall.

1850 und 1950 liegen, verändert hat. Erstens stand das Objekt des Verbs erinnerte sich um 1850 im Genitiv (des Vorfalls). Um 1950 übernahm die Rolle des Ob­ Man sieht, dass sich der Satz in den hundert Jahren, die zwischen

jekts eine Präpositionalphrase mit an, das den Akkusativ erfordert. Zweitens änderte sich auch die Wortstellung. Stand die Zeitangabe nicht mehr um

1850 noch nach dem Objekt, findet man sie in dem um 1950 gesprochenen Satz vor der Präpositionalphrase, die als Objekt des Verbs fungiert. Grammatikalisierung

Eine besondere Bedeutung für die Entwicklung des grammatischen Systems einer natürlichen Sprache hat die sogenannte "Grammatikalisierung". Mit diesem Terminus wird in der historischen Sprachwissenschaft eine Klas­ se von Innovationen bezeichnet, bei denen Lexeme in einer besonderen syn­ taktischen Umgebung ihre Semantik verlieren und sich zu grammatischen Markern entwickeln. Wie das geschieht, lässt sich zum Beispiel an der Ent­ wicklung der neuhochdeutschen Passivperiphrase mit dem Hilfsverb werden gut nachvollziehen. Die folgenden Sätze aus dem gegenwärtig gesproche­ nen Deutsch zeigen, dass das Verb werden im Deutschen von heute unter­ schiedlich verwendet werden kann: Es wird Sommer. Klaus wird bald Vater. Klaus wird erwartet.

2.3. Von der Syntax zur Morphologie: die Grammatikalisierung

Im ersten Satz erscheint werden als Vollverb, das etwa ,entstehen' oder ,kommen' bedeutet. Im zweitens Satz fungiert nhd. werden als Teil eines zu­ sammengesetztes nominalen Prädikats, das den Eintritt in einen neuen Zu­ stand bezeichnet (

=

Es ist davon auszugehen, dass Klaus bald Vater ist). Die

semantische Nähe von werden im zweiten Satz zu seiner Verwendung im ersten ist offensichtlich. Im dritten Satz hat wird diese Semantik (Entstehung von etwas Neuem oder Eintreten in einen neuen Zustand) nicht. Das zusam­ mengesetzte Prädikat wird erwartet ist eine besondere Form des Verbs erwar­ ten, die dazu dient, das Objekt dieses Verbs in den Vordergrund zu rücken

( Jemand erwartet Klaus). =

Wie kommt es zu diesem Unterschied in der Verwendung von nhd. wer­ den? Ein Blick in die deutschen Texte aus dem Frühmittelalter zeigt, dass werden vor allem als Vollverb mit der Bedeutung ,entstehen, eintreten, kom­ men' gebraucht wurde. Seine Verwendung als Hilfsverb bei prädikativ ge­ brauchten Substantiven und Adjektiven war auch gut entwickelt. Der Ge­ brauch von werden als Hilfsverb in der Passivperiphrase entstand dagegen erst später aus der Verwendung als Teil von nominalen P rädikaten. Wie ist das geschehen? Am Ausgangspunkt dieser Entwicklung standen Sätze, in denen werden als Teil eines zusammengesetzten nominalen Prädikats mit Adjektiven ver­ wendet wurde, so beispielsweise Hans wird dick. Bei einem Teil der deut­ schen Adjektive handelt es sich aber um Bildungen, die von Verben abgelei­ tet sind. Zu solchen Adjektiven, die man traditionell Partizipien nennt, gehört auch das Partizip P räteritum, das bei deutschen transitiven Verben meistens eine passivische Semantik hat (vgl. nhd. durchgelesen (Buch), auf­ gegessen (Frühstück), erzählt (Geschichte) etc.). Das Verb werden konnte na­ türlich auch mit solchen Partizipien verwendet werden. Allerdings bestand zwischen den Sätzen wie Hans wird dick und solchen wie zum Beispiel Hans wird gut ausgebildet ein deutlicher Unterschied. Der klare Bezug von ausgebildet zum Präteritum des Verbs ausbilden und die passivische Seman­ tik des Partizips hatten zur Folge, dass sich der Satz nicht nur auf den erwar­ teten Eintritt seines Subjekts Hans in den Zustand eines ausgebildeten (Fach­ manns) bezog. Der Satz implizierte zugleich, das jemand sein Subjekt zum Zeitpunkt der Aussage ausbildet. Genauso bedeutete beispielsweise der Satz Das Haus wird verlassen nicht nur Das Haus ist bald verlassen, sondern im­ plizierte zugleich Jemand verlässt das Haus. Diese Möglichkeit, Sätze mit werden

+

Partizip P räteritum als Aussagen

über die Verhältnisse in der Gegenwart zu verstehen, führte dazu, dass die Konstruktion bald auch dann verwendet werden konnte, wenn der mit dem Partizip P räteritum bezeichnete Zustand, von werden in die erwartete Zu­ kunft verlegt, für den Sprechenden uninteressant oder gar schwer vorstellbar war. So steht im Mittelpunkt der Aussage wie zum Beispiel Klaus wird unter­ sucht nicht die Erwartung, dass Klaus bald ein untersuchter (Patient) ist, son­ dern die Feststellung, dass die Ärzte Klaus zum gegenwärtigen Zeitpunkt un­ tersuchen. Schließlich wurde die Konstruktion auch dann möglich, wenn der Bezug zur Zukunft vollständig fehlte. So zum Beispiel im Satz Klaus wird gemocht, in dem die lexikalische Semantik von wird restlos verblasst ist. So verlief die Grammatikalisierung von nhd. werden + Partizip Präteritum zu einer neuen grammatischen Konstruktion, dem Passiv. Diese Konstruktion

2S

26 2. Grundbegriffe der historischen Grammatik gehört im gegenwärtigen Deutsch nicht mehr zu den möglichen Verwen­ dungen des Verbs werden. Sie ist vielmehr Bestandteil der Flexionsmorpho­ logie aller Verben, die ein Partizip Präteritum bilden können. Durch Grammatikalisierung entwickeln sich nicht nur Verben zu gramma­ tischen Markern. Grammatikalisiert werden auch Pronomina (die sich zum Marker der determinierten Lesart bei Substantiven entwickeln können wie zum Beispiel nhd. der, die, das, vgl. Abschnitt 5.4.2), Substantive (die bei­ spielsweise zum Marker der unpersönlichen Lesart bei Verben werden kön­ nen wie bei nhd. man aus mhd. man ,Mensch') oder auch Präpositionalphra­ sen (die neue Präpositionen ergeben wie nhd. am Rande oder im Vorfeld (der Tagung) etc.).

tl:n

Übungsfragen

1. Was versteht man unter Lautwandel? 2. Welche Arten von Lautwandeln sind zu unterscheiden? 3. Warum nimmt man an, dass Lautwandel in natürlichen Sprachen im Prin­

zip ausnahmslos wirken? 4. Welche Arten von morphologischem Wandel sind zu unterscheiden?

5.ln welchem Verhältnis stehen die bekannten Arten des morphologischen Wandels zueinander? 6. Was versteht man unter Grammatikalisierung?

3. Deutsch als eine germanische Sprache Dieses Kapitel informiert darüber, was die Sprachwissenschaft unter den Be­ griffen "Sprachverwandtschaft" und "verwandte" Sprachen versteht und was es bedeutet, wenn Deutsch als eine "germanische" Sprachen bezeichnet wird.

3.1 . Begriff der Sprachverwandtschaft Die Begriffe "verwandt" und "Verwandtschaft" haben sich in der Sprachwis­ senschaft fest etabliert, man hört oft, dass zwei oder mehrere Sprachen mit­ einander verwandt sind. Dabei können Sprachen auf den ersten Blick zu­ mindest im landläufigen Sinne des Wortes gar nicht mit anderen Sprachen verwandt sein, weil es sich nicht um Lebewesen handelt. Was versteht die Sprachwissenschaft unter Sprachverwandtschaft? Um das präzise herauszu­ arbeiten, muss man sich zuerst kurz damit beschäftigen, was Sprachen ei­ gentlich sind und aus welchem Grund zwei oder mehrere Sprachen manch­ mal Ähnlichkeiten miteinander aufweisen. Alle Menschen können sprechen. Man versteht sich dabei meistens gut. Es kommt allerdings auch vor, dass ein Mensch den anderen nicht versteht. Wie ist das möglich? Sprechen besteht im Verschlüsseln von Informationen nach einem bestimmten Code. Verstehen ist entsprechend das Entschlüsseln von Informationen, die mithilfe eines Codes verschlüsselt wurden. Information kann aber grundsätzlich auf mehr als eine Art verschlüsselt werden. Man vgl. zum Beispiel die folgenden zwei Möglichkeiten, mathematische Informationen zu verschlüsseln: römisch

II

111

IV

arabisch

2

3

4

,zwei'

,drei'

Begriff

,eins'

,vier'

V 5

,fünf'

Man sieht, dass der römische und der arabische Code zur Verschlüsselung der gleichen Begriffe Zeichen verwenden, die meist keinerlei Ähnlichkeit zueinander aufweisen, so zum Beispiel röm. 111 vs. arab. 3 für ,drei'. Die Un­ terschiede zwischen den beiden Codes erschöpfen sich allerdings nicht in der Verwendung unterschiedlicher Zeichen, sondern betreffen auch deren Kombinierbarkeit, sozusagen deren Syntax. So setzt sich zum Beispiel das römische Zeichen für ,vier' IV aus den Zeichen für ,eins' I und ,fünf' V zu­ sammen, was im arabischen Code nicht der Fall ist. Ähnlich verhält es sich auch mit den Codes zum Verschlüsseln von Infor­ mation, die wir im Alltag "Sprachen" nennen. Man vgl. zum Beispiel die Fra­ ge nach der Uhrzeit, also die gleiche Information unterschiedlich verschlüs­ selt, im Deutschen und Englischen:

Sprache als Code

28

3.

Deutsch als eine germanische Sprache deutsch

Wie spät ist es?

englisch

What time is it?

Auch hier, wie im mathematischen Beispiel, werden für die gleichen Begriffe unterschiedliche Zeichen verwendet, zum Beispiel deutsch es, dem englisch it entspricht. Die Unterschiede betreffen aber wieder auch die Kombinier­

barkeit der Zeichen bzw. ihre Verwendung zum Verschlüsseln bestimmter Informationen. So enthält die deutsche Frage nach der Uhrzeit die Begriffe ,wie' und ,spät', die im entsprechenden englischen Satz nicht enthalten sind.

Ähnlichkeiten zwischen Sprachen und ihre Quellen

Sprachen, die eigentlich Codes sind, unterscheiden sich also voneinander, weil dieselbe Information unterschiedlich verschlüsselt werden kann. Das führt dazu, dass Sprecher verschiedener Sprachen, die mit dem Code des je­ weils anderen nicht vertraut sind, sich auch nicht verständigen können. Sieht man sich allerdings unter verschiedenen Sprachen um, stellt man bald fest, dass Sprachen nicht unbedingt in allem unterschiedlich beschaffen sind, sondern auch Gemeinsamkeiten aufweisen können. So klingen zum Beispiel die deutschen Wörter Team und Hand ihren englischen Entsprechungen team und hand sehr ähnlich. Dass die betreffenden Begriffe auch ganz an­

ders verschlüsselt werden können, zeigt dabei zum Beispiel das Russische, wo man an der entsprechenden Stelle im Lexikon Lautfolgen komanda für ,Team' und rukafür ,Hand' findet. Ein anderes Beispiel wäre die Markierung des Plurals mit der Lautfolge -en in nhd. Strahl- Strahlen und englisch ox­ oxen, während man zum Beispiel im Russischen eine andere Markierung

findet, vgl. luc - IUCl,Strahl' oder byk - bykf,Ochse'. Schließlich sind zwi­ schen verschiedenen Sprachen auch rein strukturelle Ähnlichkeiten zu be­ obachten. Deutsch und Englisch besitzen beide eine besondere Tempus­ form, die der Codierung von Vorzeitigkeit in der Vergangenheit dient, wie zum Beispiel nhd. war gegangen oder englisch had siept. Russisch besitzt nichts Vergleichbares. Es hat nur eine Form des Präteritums, für die relative Abfolge der Ereignisse in der Vergangenheit sind andere sprachliche Mittel zuständig. Wie kommt es nun zu den Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Spra­ chen? Hierfür gibt es die folgenden Quellen. Erstens, einige Übereinstim­ mungen entstehen durch bloßen Zufall. Sprachen sind komplexe Codes, die mehrere Tausend Zeichen (Wörter, grammatische Marker, syntaktische Re­ geln) enthalten. Bei einer so großen Menge an Zeichen muss man erwarten, dass in den Systemen von zwei beliebigen Sprachen sich auch Zeichen fin­ den, die für den gleichen Begriff oder ähnliche Begriffe verwendet werden und dabei zufällig auch ähnlich beschaffen sind. Man vgl. zum Beispiel die auffällige Ähnlichkeit zwischen nhd. Kohle und der Bezeichnung von glü­ henden Kohlen im Ketischen, einer Sprache, die in Sibirien gesprochen wird. Das ketische Wort lautet ku:I, es kommt dem deutschen Lexem seman­ tisch wie lautlich sehr nahe. Die Aufzeichnungen aus dem 18. jh. zeigen al­ lerdings, dass das ketische Wort für glühende Kohlen vor nicht allzu langer Zeit anders ausgesprochen wurde, nämlich k6hil. Es war also zweisilbig und enthielt einen Frikativ h, dessen Schwund im 19. jh. eine rezente Kontraktion der beiden Silben zu einer ermöglichte. Vgl. ganz ähnlich ket. (18. jh.) ehel ,Preiselbeere', öhaf) ,Laub'

>

ket. (20. jh.) e:I, a:f). Die Heranziehung des

3.1. Begriff der Sprachverwandtschaft

lautlich besonders konservativen Sym-Dialekts des Ketischen (in der For­ schung auch "jugisch" genannt) zeigt außerdem, dass der Frikativ h in diesen und anderen ketischen Lexemen auf noch älteres f zurückgehen muss, vgl. jug. kufyr ,glühende Kohlen', efyr ,Preiselbeere', afYrJ ,Laub'. Es zeigt sich also, dass die auffällige lautliche Ähnlichkeit von nhd. Kohle und ket. ku:1 ,glühende Kohlen' « k6hil < *kufy� ein Zufallsprodukt von Lautentwicklun­ gen im Ketischen sein muss. Zweitens, Ähnlichkeiten zwischen zwei verschiedenen Sprachen entste­ hen oft durch Sprachkontakt, also dadurch, dass Zeichen aus dem System einer Sprache ins System einer anderen Sprache übernommen werden. So zeigt zum Beispiel schon die Schreibung, dass nhd. Team eine rezente Über­ nahme aus dem Englischen sein muss. Aus der historischen Überlieferung weiß man auch, dass englisch kindergarten aus dem Neuhochdeutschen ent­ lehnt wurde. Drittens, Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Sprachen gehen oft da­ rauf zurück, dass die betreffenden Sprachen miteinander genetisch verwandt sind. Das bedeutet, diese Sprachen waren einmal Dialekte ein und derselben Sprache, die sich über jahrhunderte zu unterschiedlichen Sprachen entwi­ ckelten. So erklären sich zum Beispiel die unübersehbaren Ähnlichkeiten zwischen Isländisch und Norwegisch dadurch, dass Island im Mittelalter von Norwegen aus besiedelt wurde. In beiden Ländern wurde noch im 14. jh. die­ selbe Sprache gesprochen, die man gewöhnlich "Altwestnordisch" nennt. In späterer Zeit entfernten sich das Altwestnordische auf Island und das Altwest­ nordische auf dem Festland so weit voneinander, dass man von zwei eigen­ ständigen Sprachen sprechen muss. Doch haben diese Sprachen auch vieles als gemeinsames Erbe aus der Zeit bewahrt, als sie noch Dialekte derselben Sprache waren. Norwegisch

Isländisch

Altwestnordisch Ähnlichkeiten zwischen zwei oder mehreren Sprachen können also im Prin­ zip auf Zufall, Sprachkontakt oder Sprachverwandtschaft beruhen. Aller­ dings kommen nicht bei allen Ähnlichkeiten alle drei Quellen gleicherma­ ßen in Betracht. Die Wahrscheinlichkeit von Zufall nimmt mit der Anzahl der festgestellten Übereinstimmungen rapide ab. Wenn man bei einigen we­ nigen ähnlichen Wörtern und grammatischen Markern durchaus noch mit Zufall rechnen kann, ist der Zufall bei Hunderten ähnlichen Wörter und gan­ zen Paradigmen mit ähnlicher Flexionsendungen praktisch ausgeschlossen. Bei Sprachkontakt werden meist Bezeichnungen von Erfindungen oder neuen gesellschaftlichen Institutionen entlehnt, die Sprechern der aufneh­ menden Sprache ursprünglich nicht bekannt waren (so zum Beispiel deutsch Pizza, Computer oder Parlament). Lexeme aus dem sogenannten "Grund­ wortschatz" von Sprachen, wie zum Beispiel Körperteilnamen wie ,Auge'

Sprach­ verwandtschaft

29

30

3. Deutsch als eine germanische Sprache

oder ,Fuß' bzw. Bezeichnungen von Naturphänomenen wie ,Feuer', ,Sonne' oder ,Nacht' werden dagegen praktisch nie entlehnt, weil hier kein Bedarf nach einem neuen Wort besteht. Aus dem gleichen Grund, wegen fehlenden Bedarfs, werden auch grammatische Marker wie zum Beispiel der Ausgang des Präteritums deutsch

-te in sage - sagte so gut wie nie in eine andere Spra­

che übernommen. Grundsprache

Diese Feststellungen legen den folgenden Schluss nahe. Weisen zwei Sprachen zahlreiche Ähnlichkeiten in ihrem Grundwortschatz und ihren grammatischen Markern auf, besteht die einzig mögliche Erklärung dafür in der Annahme, dass diese Sprachen miteinander genetisch verwandt sind im gleichen Sinne wie zum Beispiel Isländisch und Norwegisch. Die betreffen­ den Sprachen stammen also von ein und derselben Sprache, der sogenann­ ten "Grundsprache" dieser Sprachen, ab. Dies gilt auch dann, wenn diese gemeinsame Grundsprache, anders als bei Isländisch und Norwegisch, nicht durch erhaltene Texte direkt überliefert ist.

3.2. Erm ittlung der Sprachverwandtschaft,

Sprachgruppen, linguistische Karte Europas Zahlreiche Ähnlichkeiten im Grundwortschatz und den grammatischen Markern sind also nur durch Sprachverwandtschaft erklärbar. Diese Erkennt­ nis macht es möglich, auch diejenigen Sprachen auf potentielle genetische Verwandtschaft miteinander zu untersuchen, über deren Vorgeschichte wir nicht direkt informiert sind. Wir wissen bereits, dass zum Beispiel Isländisch und Norwegisch von einer gemeinsamen Grundsprache abstammen, die Altwestnordisch heißt. Die ältesten altwestnordischen Texte stammen aus dem frühen 12. )h. Ist es möglich, zu ermitteln, ob das Altwestnordische un­ ter den anderen Sprachen, die im mittelalterlichen Europa gesprochen wur­ den, Verwandte hatte? Um das herauszufinden, muss man den Grundwort­ schatz des Altwestnordischen und seine grammatischen Marker (vor allem die Flexionsausgänge bei Verben und Nomina) mit den entsprechenden Le­ xemen und grammatischen Markern der anderen europäischen Sprachen vergleichen. Dabei ist es wohl sinnvoll, mit denjenigen Sprachen zu begin­ nen, die in unmittelbarer Nachbarschaft des Altwestnordischen (Island und Norwegen)

gesprochen

wurden,

zum

Beispiel

dem

Altostnordischen

(Schweden und Dänemark), dem Altenglischen (auf der Insel Großbritan­ nien) und dem Altirischen in Irland. Man erhält den folgenden Befund (die Liste der Lexeme und grammatischen Formen lässt sich um mehrere Hundert Einträge fortsetzen): Altwest-

Altost-

Alt-

Alt-

nordisch

nordisch

englisch

irisch

,Auge'

auga

egha

eage

suil

,Oberarm'

b6gr

b6gher

bog

brac

,Hand'

hQnd

hand

hand

him

3.2. Ermittlung der Sprachverwandtschaft, Sprachgruppen, linguistische Karte Europas

Altwest-

Altost-

Alt-

Alt-

nordisch

nordisch

englisch

irisch

,weiß'

hvftr

hwfter

hwTt

Mn glan

,rein'

hreinn

ren

hrän

,beißen'

bfta

bfta

bTtan

,stoßen'

stauta

steta

steatan

con-boing

,trinken'

drekka

drikka

drincan

ibid

,ich' G.Sg.

mfn

mfn

mTn

,du' G.Sg.

pfn

pfn

BTn

,Tag' G.Sg.

dags

daghs

dceges

laithi

,Tag' D.PI.

dQgum

doghom

dagum

laithib

,bedürfen' 1.Sg.Prs.

parf

parf

Bearf

isecendom

,bedürfen' 1.Sg.Prt.

purfta

porfte

Borfte

baecendom

Dieser Befund legt den folgenden Schluss nahe. Altwestnordisch war ge­ netisch verwandt mit dem Altostnordischen und dem Altenglischen. Eine genetische Verwandtschaft des Altwestnordischen mit dem Altirischen lässt sich dagegen nicht unmittelbar erweisen. Wendet man diese Methode konsequent an, ergeben sich für das mittelal­ terliche Europa mehrere Gruppen genetisch verwandter Sprachen. Die wichtigsten davon werden im Folgenden aufgezählt, wobei allerdings wie­ der nur die wichtigsten Vertreter der betreffenden Gruppen erwähnt werden. Das in Irland gesprochene Altirisch war genetisch verwandt mit dem Alt­ kymrischen (in Wales), dem Altkornischen (auf der Halbinsel Cornwell), dem Altbretonischen (Bretaigne in Nordwestfrankreich), dem Gallischen (bis zur Spätantike in Frankreich, Belgien und Norditalien) und dem bereits in der Antike ausgestorbenen Keltiberisch (im Nordosten von Spanien). Die­ se Gruppe verwandter Sprachen nennt man traditionell "keltisch". Die kelti­ schen Sprachen stammen von einer Grundsprache ab, die nicht direkt über­ liefert ist. Diese Grundsprache nennt man "Urkeltisch". Das in Polen gesprochene Altpolnisch war genetisch verwandt mit dem Alttschechischen (in T schechien), Altrussischen (Russland um Moskau und Novgorod, Ukraine, Weißrussland), Altbulgarischen (Bulgarien, Makedo­ nien) und Altslovenischen (Slovenien). Diese Gruppe verwandter Sprachen nennt man traditionell "slavisch". Die slavischen Sprachen stammen von einer Grundsprache ab, die nicht direkt überliefert ist. Diese Grundsprache nennt man "Urslavisch". Das an der südöstlichen Ostseeküste einmal gesprochene Altpreußisch war genetisch verwandt mit dem Altlitauischen (im heutigen Litauen, teil­ weise auch in Polen und Weißrussland) und Altlettischen (in Lettland). Diese Gruppe verwandter Sprachen nennt man traditionell "baltisch". Die balti­ schen Sprachen stammen von einer Grundsprache ab, die nicht direkt über­ liefert ist. Diese Grundsprache nennt man "Urbaltisch". Schließlich waren die auf dem Territorium des heutigen Frankreichs ge­ sprochenen Sprachen Altfranzösisch (im Norden) und Altokzitanisch (im SÜ-

31

32

3. Deutsch als eine germanische Sprache

den) genetisch verwandt mit dem Altfriaulischen und Altitalienischen (in Ita­ lien) sowie mit dem Altkastilischen, Altkatalanischen und dem Galicisch­ Portugiesischen (auf der Iberischen Halbinsel). Diese Gruppe verwandter Sprachen nennt man traditionell "romanisch". Die romanischen Sprachen stammen von dem gut überlieferten Lateinischen ab, das in der Antike in Ita­ lien gesprochen wurde.

3.3. Die altgermanischen Sprachen Die von uns untersuchten Sprachen Altwestnordisch, Altostnordisch und Alt­ englisch gehörten keiner der gerade genannten Gruppen von verwandten Sprachen an, sondern bildeten eine eigene. Diese Gruppe, die traditionell "germanisch" heißt und auf ein nicht direkt bezeugtes Urgermanisch zu­ rückgehen muss, umfasste allerdings noch eine ganze Reihe von Sprachen, die in der Spätantike und im Mittelalter auf dem mitteleuropäischen Festland gesprochen wurden. Dazu gehörte nach Ausweis seines Grundwortschatzes und seiner grammatischen Marker auch das Althochdeutsche, die älteste ausreichend dokumentierte Entwicklungsstufe des Deutschen. Altwest-

Altost-

Alt-

Althoch-

nordisch

nordisch

englisch

deutsch

,Auge'

auga

f>gha

eage

ouga

,Oberarm'

b6gr

b6gher

bog

buog

,Hand'

hQnd

hand

hond

hant

,weiß'

hvftr

hwfter

hwn

hwT3

,rein'

hreinn

ren

hrän

hrein

,beißen'

bfta

bfta

bnan

bT33an

,stoßen'

stauta

sWta

steatan

stö33an

,trinken'

drekka

drikka

drincan

trinkan

Gen.Sg. ,ich'

mfn

mfn

mTn

mTn

Gen.Sg. ,du'

pfn

pfn

BTn

thTn

,Tag' Gen.Sg.

dags

daghs

dceges

tages

,Tag' Dat.PI.

dQgum

doghom

dagum

tagum

,bedürfen' 1.Sg.Prs.

parf

parf

Bearf

tharf

,bedürfen' 1.Sg.Prt.

purfta

porfte

Borfte

thorfta

Außer dem Althochdeutschen umfasste die germanische Sprachgruppe noch die folgenden Sprachen. Gotisch

Gotisch, das zu Beginn seiner schriftlichen Überlieferung in der zweiten Hälfte des 4. Jh. am Unterlauf der Donau gesprochen wurde. Sprecher des Gotischen besiedelten im 5. Jh. Italien und Spanien, wo sie nach und nach zu den romanischen Sprachen der einheimischen Bevölkerung wechselten.

3.3. Die altgermanischen Sprachen

Die gotische Textüberlieferung besteht in erster Linie aus relativ umfangrei­ chen Übersetzungen des Neuen Testaments, die auf die T ätigkeit des ersten gotischen Bischofs Ulfila und seiner Schüler zurückgehen. Außerdem findet man noch einen theologischen Traktat, der ebenfalls aus dem Griechischen übersetzt wurde, sowie einige wenige Kurztexte, zum Beispiel Unterschrif­ ten auf lateinisch geschriebenen Urkunden aus Italien. Zum Schreiben auf gotisch wurde ein besonderes Alphabet auf griechischer Grundlage ver­ wendet, das wohl ebenfalls von Bischof Ulfila entwickelt worden war. Die Zugehörigkeit des Gotischen zu den germanischen Sprachen erhellt aus den folgenden Lexemen und grammatischen Formen: augä ,Auge', handus ,Hand', hrains ,rein', beitan ,beißen', Gen.Sg. dagis, Dat.PI. dagam ,Tag', Gen.Sg. meina ,ich', Gen.Sg. peina ,du', l.5g.Prs. parf, l.5g.Prt. paurfta ,bedürfen'.

Altwestnordisch, das zu Beginn seiner schriftlichen Überlieferung mit

Altwestnordisch

den Mitteln des lateinischen Alphabets in der Mitte des 12. jh. in Norwegen und Island gesprochen wurde. Überliefert sind zahlreiche Originaltexte, darunter eine umfangreiche Dichtung mythologischen und weltlichen Inhalts, die prosaische Sagaliteratur (Vorläufer späterer Romane) und Gesetzestexte. Man findet selbst eine Reihe grammatischer Traktate, die das Sprachsystem des Altwestnordischen beleuchten. Zum Schreiben auf Altwestnordisch wurde das lateinische Alphabet mit zusätzlichen Buchstaben verwendet, zum Beispiel

und zur Bezeichnung der interdentalen Frikative 161 und 151 oder und zur Schreibung besonderer Vokale, die im Lateinischen fehlten. Den germanischen Charakter des Altwestnordischen demonstrieren die oben angeführten Tabellen. Die Nachkommen des Altwestnordischen sind die heute gesprochenen Sprachen Norwegisch, Isländisch und Färöisch (auf den Färöer-Inseln).

Altostnordisch, das zu Beginn der Überlieferung in lateinischer Schrift im

Altostnordisch

13. jh. vor allem auf dem Territorium der heutigen Staaten Schweden und

Dänemark gesprochen wurde. Überliefert sind umfangreiche Gesetzestexte, Urkunden und Testamente der Könige sowie weitere juristische, geographische und historische Aufzeichnungen. Den germanischen Charakter des Altostnordischen demonstrieren die oben angeführten Tabellen. Die Nachkommen des Altostnordischen sind die heute gesprochenen Sprachen Schwedisch (in Schweden und einem Teil Finnlands) und Dänisch (in Dänemark und Schleswig-Holstein).

Altenglisch, die Sprache der germanischen Einwanderer im Südosten der

Altenglisch

Insel Großbritannien, ist in lateinischer Schrift seit dem 7. jh. überliefert. Die sehr reichhaltige altenglische Überlieferung umfasst Übersetzungen lateinischer Texte religiösen und weltlichen Inhalts, teils umfangreiche poetische wie prosaische Originaltexte sowie Urkunden und andere juristische Auf­ zeichnungen. Ferner liegen auch Fragmente der germanischen Heldendichtung aus der Zeit vor der Christianisierung Englands vor. Den germanischen Charakter des Altenglischen demonstrieren die oben angeführten Tabellen. Aus dem Altenglischen hat sich über das im Hochmittelalter gesprochene Mittelenglisch das heutige Englisch in seinen zahlreichen Varianten (zum Beispiel in Schottland, Irland oder Australien) entwickelt.

Altsächsisch (weniger genau "Altniederdeutsch"), dessen Überlieferung mit lateinischen Schriftzeichen im frühen 9. jh. begann, war die Sprache der

Altsächsisch

33

34 3. Deutsch als eine germanische Sprache germanischen Stämme auf dem Territorium der heutigen Bundesländer Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Überliefert sind vor allem zwei umfangreiche epische Werke, in denen das Neue und ein Teil des Alten Testaments nachgedichtet sind. Die Zugehörigkeit des Alt­ sächsischen zu den germanischen Sprachen erhellt aus den folgenden Lexe­ men und grammatischen Formen: aga ,Auge', hand ,Hand', hreni ,rein',

bTtan ,beißen', Gen.5g. dages ,Tag', Gen.Sg. mTn ,ich', Gen.5g. thTn ,du', 1.Sg.Prs. tharf, 1.Sg.Prt. thorfta ,bedürfen'. Das Altsächsische hat sich über das im Hochmittelalter gesprochene Mittelniederdeutsche zum heutigen Niederdeutsch entwickelt, wie es zum Beispiel in Teilen von Nordrhein­ Westfalen,

Niedersachsen

und

Mecklenburg-Vorpommern

gesprochen

wird. Altniederländisch

Altniederländisch (auch "Altostniederfränkisch" genannt) wurde zu Beginn seiner Überlieferung im 1 O. Jh. auf dem Territorium der heutigen Nie­ derlande und der nördlichen Provinzen Belgiens gesprochen. Die altnieder­ ländische Textüberlieferung besteht größtenteils aus Überarbeitungen von althochdeutschen Übersetzungen lateinischer Texte christlichen Inhalts. Die Zugehörigkeit des Altniederländischen zu den germanischen Sprachen er­ hellt aus den folgenden Lexemen und grammatischen Formen: ouga ,Auge',

hant ,Hand', Gen.5g. dages, Dat.PI. dagon ,Tag', Gen.Sg. mTn ,ich', G.Sg. thTn ,du'. Das Altniederländische hat sich über das im Hochmittelalter ge­ sprochene Mittelniederländisch zum Niederländischen entwickelt, das heu­ te die Staatssprache in den Niederlanden und (neben dem Französischen) auch in Belgien ist. Dialekte der niederländischen Siedler in Südafrika bilde­ ten ferner die Grundlage für eine weitere eigenständige germanische Spra­ che, das Afrikaans. Altfriesisch

Altfriesisch, die Sprache germanischer Stämme in der Region Westfriesland, die in der niederländischen Provinz Nordholland liegt, sowie in der heutigen Region Ostfriesland in Niedersachsen, ist mit lateinischen Schrift­ zeichen seit dem 13. Jh. überliefert. Zum altfriesischen Textkorpus gehören umfangreiche Gesetzestexte und andere juristische Dokumente aus ver­ schiedenen Teilen West- und Ostfrieslands. Die Zugehörigkeit des Altfriesi­ sehen zu den germanischen Sprachen erhellt aus den folgenden Lexemen und grammatischen Gen.Sg. deis,

Formen:

age ,Auge', hond ,Hand', hrene ,rein',

Dat.PI. degum ,Tag', Gen.Sg. thTn ,du', 1.Sg.Prs. thorf,

l.5g.Prt. porste ,bedürfen'. Die Nachkommen des mittelalterlichen Altfrie­ sisch sind das heutige Westfriesisch in Westfriesland, das Ostfriesische oder Saterfriesische in der Gemeinde Saterland im nordwestlichen Nieder­ sachsen und das Nordfriesische, das im Kreis Nordfriesland (auf den Inseln Amrum und Föhr) und auf Helgoland in Schleswig-Holstein gesprochen wird. Urgermanisch

Alle diese Sprachen waren Nachkommen einer gemeinsamen Grundsprache, des Urgermanischen, im gleichen Sinne, in dem zum Beispiel Islän­ disch und Norwegisch Nachkommen des Altwestnordischen sind. Der Unterschied besteht hier lediglich darin, dass die Sprecher des Urgermani­ schen im Gegensatz zu denen des Altwestnordischen keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen haben. Dies hängt damit zusammen, dass Urgerma­ nisch in einer Zeit gesprochen wurde, als die Kunst zu schreiben zu den Wohnsitzen seiner Sprecher noch nicht vorgedrungen war.

3.4. Stellung des Althochdeutschen im Kreis der altgermanischen Sprachen

3.4. Stellung des Althochdeutschen im Kreis der

altgermanischen Sprachen Isoglossen und Verwandtschaftsbeziehungen innerhalb der germanischen Gruppe

3.4.1.

Das Urgermanische, die nicht direkt überlieferte Grundsprache der altger­ manischen Sprachen, zerfiel wahrscheinlich nicht auf einen Schlag in ver­ schiedene Einzelsprachen. Es ist eher davon auszugehen, dass sich aus dem Urgermanischen zunächst einige wenige Sprachen lösten, die ihrerseits als Grundsprachen jüngeren Datums für Gruppen historischer altgermanischer Sprachen anzusehen sind. Der Grund für diese Annahme liegt darin, dass zwischen verschiedenen altgermanischen Sprachen Ähnlichkeiten beste­ hen, die von anderen altgermanischen Sprachen nicht getei It werden. Solche Ähnlichkeiten nennt man traditionell "Isoglossen". Ein Teil der Isoglossen, die einige altgermanische Sprachen miteinander verbinden, lässt sich am einfachsten durch die Annahme gemeinsamer phonologischer und morpho­ logischer Neuerungen in der Vorgeschichte dieser Sprachen erklären. Dies impliziert, dass die betreffenden Sprachen sich nach dem Zerfall des Urger­ manischen noch für einige Zeit gemeinsam entwickelt haben müssen, also Dialekte einer Grundsprache blieben, die jünger als das Urgermanische war aber genauso wie dieses irgendwann zerfiel. Ein instruktives Beispiel für Isoglossen dieser Art ist der Schwund alter Nasale vor stimmlosen Frikativen in den altgermanischen Sprachen, die an den Küsten der Nordsee gesprochen wurden, dem Altenglischen, Altfriesi­ schen und Altsächsischen. Die Lexeme in der Tabelle zeigen, dass den Na­ salen

n oder m des Gotischen oder Althochdeutschen in den Sprachen an

der Nordsee in der Stellung vor stimmlosen Frikativen kein Phonem mehr entspricht. Dafür erscheinen allerdings die Vokale, die den geschwundenen Nasalen ursprünglich unmittelbar vorausgingen, als gedehnt.

got.

anpar

ahd.

aso

ae.

afr.

anthar

äthar

ä{5er

äther

gans

gäs

gäs

,Gans'

äsle

,Amsel'

amsala

,anderer'

munps

munth

müth

mü{5

müth

,Mund'

fimf

fimf

fTf

fTf

fTf

,fünf'

Diese Isoglosse und ähnliche Übereinstimmungen zeigen, dass Altenglisch, Altfriesisch und Altsächsisch sich nach der Trennung vom Gotischen und Althochdeutschen noch für einige Zeit gemeinsam entwickelt haben müs­ sen. Vgl. nun die Entsprechungen der gleichen und einiger anderer goti­ schen und althochdeutschen Lexeme im Altwestnordischen und Altost­ nordischen.

35

36 3. Deutsch als eine germanische Sprache got.

ahd.

awn.

aon.

anpar

anthar

annarr

annar

,anderer'

finpan

finthan

finna

finna

,finden'

sinth

sinn

sinne

,Weg'

Der Befund zeigt, dass im Altwest- und Altostnordischen im Gegenteil der got. p, ahd. th entsprechende stimmlose Frikativ an den Nasal assimiliert wurde, wodurch die Geminate nn entstand. Diese Isoglosse spricht dafür, dass Altwestnordisch und Altostnordisch nach der Trennung vom Gotischen, Althochdeutschen und den germanischen Sprachen an der Nordsee für eini­ ge Zeit eine Einheit bildeten. Als Beispiel für morphologische Isoglossen lässt sich die Aufgabe der Un­ terscheidung zwischen den drei Personen im Plural des Präsens anführen, die man in den germanischen Sprachen an der Nordsee beobachtet. Diese Isoglosse lässt sich an der Flexion des Verbs für ,helfen' im Gotischen, Alt­ hochdeutschen, Altwestnordischen und den drei nordseegermanischen Sprachen aufzeigen. got.

ahd.

awn.

aso

ae.

afr.

Infinitiv

hi/pan

he/pfan

hja/pa

he/pan

he/pan

he/pa

1.PI.Prs.

hi/pam

he/pfum

hjQ/pum

he/path

he/paa

he/path

2.PI.Prs.

hi/pip

he/pfat

hja/pip

he/path

he/paa

he/path

3.PI.Prs.

hi/pand

he/pfant

hja/pa

he/path

he/paa

he/path

Phonologische und morphologische Isoglossen werden in der Forschung be­ nutzt, um innerhalb der germanischen Sprachgruppe genetische Untergrup­ pen von Sprachen herauszuarbeiten, die auf Grundsprachen zurückgehen, welche nach der Auflösung des Urgermanischen eine Zeit lang bestanden. Im jetzt folgenden Abschnitt werden die wichtigsten Isoglossen vorgestellt, die für die germanische Gruppe eine Gliederung zunächst in zwei, später in drei Zweige implizieren. Mithilfe derselben Isoglossen wird auch die genaue SteI­ lung des Althochdeutschen im Kreis der germanischen Sprachen ermittelt.

3.4.2. Das Urnordwestgermanische Palatalumlaut

Eine der wichtigsten phonologischen Isoglossen ist der sogenannte "Palatal­ umlaut", für den alternativ auch der Terminus "i-Umlaut" verwendet werden kann. Der von dieser Isoglosse implizierte Lautwandel besteht in einer Spal­ tung des Vokals a in zwei unterschiedliche Vokale. In allen germanischen Sprachen mit Ausnahme des Gotischen entwickelte sich das a in einer be­ sonderen Lautkonstellation in einen Vorderzungenvokal, eine Art e. Diese besondere Lautkonstellation war die Stellung vor einem kurzen oder einem langen silbischen i oder auch einem unsilbischen j in der Folgesilbe dersel­ ben Wortform. Der Lautwandel lässt sich besonders gut anhand der Präsens­ flexion von Verben mit a in der Wurzel beobachten. Man vgl. zum Beispiel

3.4. Stellung des Althochdeutschen im Kreis der altgermanischen Sprachen

den Infinitiv mit der 2. und 3. Sg. Präsens und der 3. PI. Präsens des Verbs für ,ziehen, schleppen' im Gotischen, Althochdeutschen und Altsächsischen, das hier die nordseegermanische Gruppe der altgermanischen Sprachen ver­ tritt. got.

ahd.

aso

Infinitiv

dragan

tragan

dragan

2.5g.Prs.

dragis

tregis

dregis

3.Sg.Prs.

dragifJ

tregit

dregith

3.PI.Prs.

dragand

tragant

dragath

In den entsprechenden Flexionsformen der nordischen Sprachen sieht man den auslösenden Faktor des Lautwandels, den Vokal i in der zweiten Silbe, nicht mehr. Die Verteilung der Formen mit a und e oder

CE

im Paradigma ent­

spricht aber der des Althochdeutschen und Altsächsischen, sie ist mit Sicher­ heit auch genauso zu erklären. Das erweist den Palatalumlaut auch für das Altwest- und das Altostnordische. got.

awn.

aon.

Infinitiv

dragan

draga

dragha

2.5g.Prs.

dragis

dregr

drcegher

3.5g.Prs.

dragifJ

dregr

drcegher

3.PI.Prs.

dragand

draga

dragha

Der Palatalumlaut und ähnliche Isoglossen, die für alle altgermanischen

Urnordwest­

Sprachen mit Ausnahme des Gotischen gemeinsame lautliche Neuerungen

germanisch

erweisen, sprechen dafür, dass diese altgermanischen Sprachen eine genetische Untergruppe innerhalb des Germanischen bilden. Sie müssen demnach nach der Abspaltung des Gotischen von der gemeinsamen Grundsprache aller germanischen Sprachen, dem Urgermanischen, eine Zeit lang eine Einheit gebildet haben, die erst später ihrerseits in Dialekte zerfiel. Diese hypothetische nachurgermanische Grundsprache der altgermanischen Sprachen außer dem Gotischen nennt man traditionell "Urnordwestgermanisch", weil Sprecher ihrer historischen Nachkommen im Westen und im Norden des germanischen Sprachareals siedelten. Bei der Vorstufe des Gotischen (und einiger weiterer germanischen Stammessprachen, die kaum überliefert sind) spricht man demgegenüber vom Urostgermanischen. Urostgermanisch

Urnordwestgermanisch

Urgermanisch

37

38 3. Deutsch als eine germanische Sprache Es gibt auch morphologische Isoglossen, die für die Annahme einer urnord­ westgermanischen Grundsprache sprechen. Eine solche Isoglosse ist zum Bei­ spiel die Ersetzung von reduplizierten Formen des Präteritums einiger Verben durch morphologisch einfachere Bildungen ohne Reduplikation. Diese Er­ scheinung ist charakteristisch für alle altgermanischen Sprachen mit Ausnah­ me des Gotischen. Sie lässt sich bequem aufzeigen anhand der Verben für ,hal­ ten' und ,lassen' im Gotischen, dem Althochdeutschen, dem Altenglischen als Vertreter der nordseegermanischen Gruppe und dem Altwestnordischen, das für die beiden altgermanischen Sprachen in Skandinavien steht.

germanische Runen

got.

ahd.

ae.

awn.

Infinitiv

ha/dan letan

haltan lä33an

hea/dan Iä'!tan

ha/da lata

l.5g.Prt.

haiha/d lailot

hialt lia3

heo/d let

held let

1.PI.Prt.

haiha/dum lailotum

hialtum lia33um

Mo/don leton

he/dum letum

Im Gegensatz zum Urgermanischen lässt sich das chronologisch jüngere Ur­ nordwestgermanisch in (leider sehr kurzen) Texten unmittelbar erleben. Die Sprecher der germanischen Sprachen besaßen bereits seit dem späten 2. Jh. nach Chr. ein eigenes Alphabet. Mit diesem Alphabet, dessen Schriftzeichen in der Forschung traditionell "Runen" heißen, wurden in urnordwestgerma­ nischer und späterer Zeit besonders wertvolle Gebrauchsgegenstände wie zum Beispiel Waffen beschriftet sowie Inschriften auf Grabsteinen ange­ bracht. Das germanische Runenalphabet



t\

P

f

u

p

a

[

r

t.,

p

z

s

I

R

i


-em, -er. Bei ahd. ubil, mhd. übel ,schlecht' musste nach der formulierten Regel eigentlich auch die erste Silbe der Endungen ihr everlieren. Der Befund sieht folgendermaßen aus: mhd. (um 1100)

ahd. (um900 ) Nom.Sg.m.,n. Dat.Sg.m.,n.

gro3, ubel

Dat.Sg.f.

gro3ero, ubelera

gro3emo, ubelemo

mhd. (um 1200) gro3, übel

gro3, übel -+

gro3eme, übeleme

-+

gro3em, übelem oderübelme

gro3ere, übelere

gro3er, übeler

oder übelre.

In neuhochdeutscher Zeit erfasste der Schwund des unbetonten e auch die Stellung vor t und st, im Prinzip unabhängig davon, welche Laute dem e vor­ ausgingen. Im ungedeckten Auslaut, in der Stellung vor einem einfachen s oder vor Resonanten wie r oder n blieb das unbetonte e dagegen erhalten. Diese Regel zum neuhochdeutschen Schwund des unbetonten e folgt zum einen aus der Flexion der starken Verben, zum anderen aus der Lautung der Steigerungsformen zu neuhochdeutschen Adjektiven. Vgl. die Flexion von mhd. tragen, nhd. tragen und mhd. sIMen, nhd. schlafen im Präsens und Prä­ teritum:

117

118 6. Deutsch in der Neuzeit: Neuhochdeutsch mhd.

nhd.

l.5g.Prs.

trage, slafe

trage, schlafe

2.5g.Prs.

tregest, slcefest

trägst, schläfst

3.5g.Prs.

treget, slcefet

trägt, schläft

1.PI.Prs.

tragen, slafen

2.PI.Prs.

traget, slafet

3.PI.Prs.

tragent, släfent

tragen, schlafen

tragen, schlafen tragt, schlaft



1.PI.Prt.

truogen, sliefen

trugen, schliefen

2.PI.Prt.

truoget, siiefet

trugt, schlieft

3.PI.Prt.

truogen, sliefen

trugen, schliefen.

Die Erhaltung des unbetonten e vor r und seinen Schwund vor st sieht man gut an Steigerungsformen von Adjektiven wie zum Beispiel mhd. grö3 und trcege, denen nhd. groß und träge entsprechen. Vgl. im Dativ Sg.m und n. mhd. Positiv

grö3em, trcegem

Komparativ

grce3erm, trcegerm

Superlaltiv

grce3estem, trcegestem

nhd. großem, trägem �

größerem, trägerem größtem, trägstem.

Der Schwund des unbetonten e trat auch dann ein, wenn die Lautkonstella­ tion -est erst im Laufe der neuhochdeutschen Zeit aus älterem -es entstand. Vgl. die folgenden drei eindeutigen Fälle: mhd.

nhd.

akkes

Axt

obe3

Obst

bäbes

Papst.

Die Regel zum Schwund oder Erhaltung des mittelhochdeutschen unbeton­ ten e im Neuhochdeutschen hat allerdings zwei systematische Ausnahmen. Die erste davon bildet die Stellung nach Dentalplosiven d und t. In dieser Stellung blieb das unbetonte e auch vor t oder st erhalten. Dies sieht man besonders deutlich, wenn man Verben wie mhd. slafen oder Adjektive wie mhd. grö3 anderen Verben und Adjektiven mit d oder t im Ausgang der Wur­ zel gegenüberstellt, zum Beispiel mhd. vinden ,finden', bitten ,bitten' und spcete ,spät'. Vgl. für die Verben mhd. l.5g.Prs.

slafe, vinde, bitte

2.5g.Prs.

slcefest, vindest, bitest

3.5g.Prs.

slcefet, vindet, bitet

nhd. schlafe, finde, bitte �

schläfst, findest, bittest schläft, findet, bittet.

Für die Adjektive vgl. wiederum den Dativ Sg.m. und n.

6.2. Lautwandel der mittelhochdeutschen Zeit und das Lautsystem des Neuhochdeutschen

mhd. Positiv

grö3em, spcPtem

Superlaltiv

grce3estem, spcPtestem

nhd. großem, spätem



größtem, spätestem.

Die zweite systematische Ausnahme betrifft eine besondere Lautkonstella­ tion, in der das mittelhochdeutsche unbetonte e gleich zweimal vorkam. In Lautfolgen vom Typ -ene- und -eme- mit zwei unbetonten e schwand immer nur das erste und zwar unabhängig davon, ob und welche Phoneme im Wort folgten. Das zweite unbetonte e solcher Lautfolgen blieb dagegen immer er­ halten, auch dann, wenn ein toder die Lautgruppe stfolgte. Vgl. die Flexions­ formen der folgenden mittelhochdeutschen schwachen Verben: mhd.

nhd.

2.5g.Prs.

öffenest, ätemest, widemest

3.5g.Prs.

öffenet, ätemet, widemet

3.5g.Prt.

öffenete, ätemete, widemete



öffnest, ätmest, widmest öffnet, ätmet, widmet öffnete, ätmete, widmete.

Dem Schwund des mittelhochdeutschen unbetonten e haftet der Eindruck einer großen Unregelmäßigkeit an. Man stößt immer wieder auf grammati­ sche Formen, in denen das unbetonte e gegen die formulierten Regeln ge­ schwunden ist. Man vgl. zum Beispiel die Kurzform des Nominativ Sg. m. und n. der Adjektive auf mhd. -e wie enge, veste, viuhte> nhd. eng, fest, feucht, wo das unbetonte e eigentlich nicht schwinden sollte. Ein weiterer Fall dieser Art sind die Flexionsformen von mhd. treten, laden, nämlich mhd. 2.Sg.Prs. tritest, ledest und 3.Sg.Prs. tritet, ledet> nhd. trittst, lädst und tritt, lädt, wo der Schwund, weil nach einem Dentalplosiv toder d, ebenfalls unberechtigt ist. Der Eindruck von Unregelmäßigkeit beim Schwund des unbetonten e ist allerdings trügerisch. Eine Untersuchung der betreffenden morphologischen Positionen zeigt, dass hier kein unregelmäßiger Schwund des unbetonten e eingetreten ist, sondern die morphologische Analogie gewirkt hat. Bei zwei­ siIbigen Adjektiven auf mhd. -efällt dieser Gruppe im Neuhochdeutschen ohne e im Auslaut erscheinen. Vgl. mhd. müede, bcese, Irse> nhd. müde, böse, leise. Die e-Iosen Typs nhd. eng, fest, feucht entstanden am ehesten durch die analogische An­ lehnung dieser Adjektive an die sehr zahlreichen mittelhochdeutschen Ad­ jektive vom Typ grö3, guot, scharpf, die in der Kurzform des Nominativ Sg.m. und n. nie einen vokalischen Ausgang hatten. Die Grundlage für die sekundäre Anlehnung von mhd. enge, veste, viuhte an grö3, guot, scharpf lieferten die entsprechenden Langformen, bei denen die Unterscheidung nicht bestand. Vgl. mhd. Kurzform

grö3, guot, scharpf

Langfom m.

grö3er, guoter, scharpfer

Langform n.

grö3e3, guote3, scharpfe3

mhd. enge, veste, viuhte -

enger, vester, viuhter enge3, veste3, viuhte3.

Nach dem Muster von grö3er, grö3e3 - grö3> nhd. groß konnte auch zu ve­ ster, veste3 eine neue Kurzform mhd. vest> nhd. fest gebildet werden, die

119

120 6. Deutsch in der Neuzeit: Neuhochdeutsch nach und nach die ererbte zweisilbige Kurzform mhd. veste verdrängte. Da die morphologische Analogie im Gegensatz zu Lautwandeln grundsätzlich nicht alle einschlägigen Fälle zu erfassen braucht, erklärt ihr Wirken bei den mittelhochdeutschen zweisilbigen Adjektiven sowohl nhd. eng, fest, feucht als auch nhd. müde, böse, leise, aber auch das Schwanken zwischen nhd. blöd und blöde.

Genauso hat sich auch die Flexion der Verben nhd. 1.Sg.Prs. trete, lade2.Sg.Prs. trittst, lädst - 3.Sg.Prs. tritt, lädt sekundär nach Verben des Typs 1.Sg.Prs. nehme, trage- 2.Sg.Prs. nimmst, trägst - 3.Sg.Prs. nimmt, trägt ge­ richtet. Die ererbten Flexionsformen mit regulär erhaltenem e sind noch in der 2.PI.Prs. tretet, ladet und 2.PI.Prt. tratet, ludet bewahrt.

6.2.1.2. Kürzung der Langvokale In mittelhochdeutscher Zeit fanden zwei Lautwandel statt, die alte Langvo­ kale in bestimmten Lautkonstellationen sekundär kurz werden ließen. Es handelt sich erstens um die Kürzung alter Langvokale vor bestimmten Kon­ sonantengruppen, zweitens um die Kürzung alter Langvokale unter Neben­ akzent. Diese Entwicklungen führten dazu, dass die althochdeutschen Lang­ vokale, die im Mittelhochdeutschen noch weitgehend unverändert erhalten waren, in dem uns vertrauten Neuhochdeutsch bald als Langvokale, bald als Kurzvokale fortgesetzt sind. Mittelhochdeutsche Langvokale wurden vor bestimmten Konsonanten­ gruppen gekürzt. Gesichert ist diese Kürzung für die Stellung vor mhd. cht. Vgl. die Formen des schwachen Präteritums zu mhd. denken und bringen: ahd.

mhd.

l.5g.Prt.

thähta, brähta �

dächte, brächte � dachte, brachte

1.PI.Prt.

thähtum, brähtum dächten, brächten dachten, brachten.

nhd.

Eine Kürzung der mittelhochdeutschen Langvokale lösten ferner Konsonan­ tengruppen aus Plosiven oder Frikativen und Resonanten aus. Vgl. die fol­ gende Evidenz für die Kürzung vor mhd. tr. ahd.

mhd.

Nom.Sg.

nätra, blätra

nätre, blätre

Dat.Sg.

nätru, blätru

Dat.PI.

nätr6m, blätr6m



nhd.

nätre, blätre

Natter, Blatter �

nätren, blätren

Natter, Blatter Nattern, Blattern.

Für die Stellung vor mhd. ffn wird diese Entwicklung durch das Neutrum mhd. wäfen erwiesen, das sich zum neuhochdeutschen Femininum Waffe entwickelte: ahd. Nom.Sg.

wäffan

Dat.Sg.

wäffne

Dat.PI.

wäffnum

mhd.

mhd.

(um 1100)

(um 1200)

nhd.

wäfen �

wäffne wäffnen

Waffe �



Waffen

Waffe Waffen.

6.2. Lautwandel der mittelhochdeutschen Zeit und das Lautsystem des Neuhochdeutschen

Mittelhochdeutsche Langvokale wurden ferner auch dann gekürzt, wenn sie nicht den Hauptakzent des betreffenden Wortes, sondern nur einen Neben­ akzent im Hinterglied eines Kompositums trugen. Von dieser Kürzung waren in erster Linie Adjektive auf mhd. -/fch betroffen, die auf Possessivkomposita mit mhd. Ifch ,Gestalt, Körper' im Hinterglied zurückgehen. Vgl. die folgen­ den Fälle: mhd.

vürste/fch zu vürste ,Fürst' heim/fch zu heim ,Heim' ende/fch zu ende ,Ende'

nhd. --+

fürstlich heimlich endlich.

6.2.1.3. Dehnung der Kurzvokale In mittelhochdeutscher Zeit fanden zwei Lautwandel statt, die betonte Kurz­ vokale in bestimmten Lautkonstellationen sekundär lang werden ließen. Es handelt sich erstens um die Dehnung alter Kurzvokale in betonten offenen Silben. Zweitens um die Dehnung alter Kurzvokale in einsilbigen Wortfor­ men vor Resonanten. Diese Entwicklungen sind dafür verantwortlich, dass die althochdeutschen betonten Kurzvokale, im Mittelhochdeutschen noch weitgehend unverändert erhalten, in dem uns vertrauten Neuhochdeutsch bald als Kurzvokale, bald als Langvokale fortgesetzt sind. Mittelhochdeutsche Kurzvokale erfuhren in einer betonten offenen Silbe­ meistens in mehrsilbigen Wortformen vor einem einfachen Konsonanten eine Dehnung zu entsprechenden Langvokalen. Vor Konsonantengruppen (einschließlich mhd. sch< ahd. sk) , vor langen Resonanten wie nn, 11, langen Plosiven wie tt, pp, ck «

hh) sowie vor Affrikaten

ahd. kk) und langen Frikativen wie ff, 33, ch « z

ahd.

und pf blieb die Dehnung mittelhochdeutscher

Kurzvokale aus. Diese Entwicklung lässt sich besonders gut anhand der Fle­ xion von starken Verben nachvollziehen. Vgl. zum Beispiel die folgenden starken Verben der Klasse V im Präsens: mhd. Inf. 2.5g.Prs. 3.5g.Prs.

geben gibest gibet

flehten flihtest flihtet

brechen brichest brichet

treffen triffest triffet

me33en mi33est mi33et

treffen triffst trifft

messen misst misst.

nhd. Inf. 2.Sg.Prs. 3.Sg.Prs.

geben gibst gibt

flechten flichtst flicht

brechen brichst bricht

Die neuhochdeutschen Entsprechungen der angeführten mittelhochdeut­ schen Wortformen zeigen, dass die Dehnung nur bei geben stattgefunden hat, wo die Wurzel auf ein einfaches b ausging. Bei den anderen Verben, die im Ausgang der Wurzel eine Konsonantengruppe (ht) oder lange Konsonan­ ten (ch, ff, 33) hatten, sind die Vokale e und i in der Wurzel des Verbs kurz geblieben. Das angeführte Material zeigt ferner, dass die Dehnung mittel­ hochdeutscher Kurzvokale in offenen Silben dem im Abschnitt 6.2.1.1 be-

121

122 6. Deutsch in der Neuzeit: Neuhochdeutsch sprochenen Schwund des unbetonten e vor t und st chronologisch vorausge­ gangen sein muss. Die Dehnung mittelhochdeutscher Kurzvokale in offenen Silben blieb bei einem Vokal, mhd. i, und vor einem bestimmten Konsonantenphonem, mhd. t, systematisch aus. Das belegt zum Beispiel die Flexion der starken Verben der Klasse I im Präteritum. Vgl. die folgenden mittelhochdeutschen Verben mit ihren neuhochdeutschen Entsprechungen: mhd. Inf.

rfben

stTgen

schfnen

riten

snfden

1.PI.Prt.

riben

stigen

schinen

riten

sniten

Part.Prt.

geriben

gestigen

geschinen

geriten

gesniten

nhd. Inf.

reiben

steigen

scheinen

reiten

schneiden

1.PI.Prt.

rieben

stiegen

schienen

ritten

schnitten

Part.Prt.

gerieben

gestiegen

geschienen

geritten

geschnitten.

Die neuhochdeutschen Entsprechungen der angeführten mittelhochdeut­ schen Wortformen zeigen, dass die Dehnung im Präteritum Plural und Parti­ zip Präteritum vor Konsonanten wie b in rieben, gerieben, dem g in stiegen, gestiegen oder dem n in schienen, geschienen regelmäßig eintrat (daher die

neuhochdeutsche Schreibung der betreffenden Wortformen mit nhd. beten, treten, waten.

Die Dehnung mittelhochdeutscher Kurzvokale in offener Silbe (außer bei mhd. i vor t) ist ein Lautwandel, bei dem man traditionell mit vielen Ausnah­ men rechnet. So findet man neben mhd. vogel, zuber> nhd. Vogel, Zuber mit gedehntem Vokal in der Wurzel auch Fälle wie mhd. himel, doner> nhd. Himmel, Donner ohne Dehnung. Bei den Verben steht mhd. gibest, gi­ bet> nhd. gibst, gibt mit gedehntem Vokal in der Wurzel mhd. nimest, nimet

> nhd. nimmst, nimmt gegenüber, wo die Dehnung zu erwarten wäre, aber ebenfalls ausgeblieben ist. Die scheinbaren Ausnahmen lassen sich aller­ dings erklären, wenn man in jedem konkreten Fall auch die anderen Laut­ wandel der mittelhochdeutschen Zeit genau berücksichtigt. Beim Vergleich von mhd. vogel, zuber, die an der Dehnung teilnahmen, mit mhd. himel, doner, die es nicht taten, fällt auf, dass zwischen diesen Gruppen von zweisilbigen Nomina auf -er und -ei ein systematischer Unter­ schied im Anlaut der zweiten Silbe bestand. Bei mhd. vogel, zuber begann die zweite Silbe mit einem Plosiv, bei mhd. himel, doner dagegen mit einem Resonanten. Wir wissen aus dem Abschnitt 6.2.1.1, dass dieser Unterschied für die Aussprache des folgenden unbetonten e im Mittelhochdeutschen be­ deutsam war. Das unbetonte mhd. e blieb nach Plosiven immer erhalten, während es in der Stellung nach einem Resonanten wie moder n, dem ein Kurzvokal vorausging, regelmäßig schwinden musste. Dabei schwand in

6.2. Lautwandel der mittelhochdeutschen Zeit und das Lautsystem des Neuhochdeutschen 123 zwei aufeinanderfolgenden Silben mit unbetontem e nach Resonant entwe­ der das erste oder das zweite e. Daraus ergibt sich für mhd. vogel, zuber ne­ ben himel, donerdas folgende Bild: mhd.

mhd.

(um 1100)

(um 1200)

Nom.Sg.

vogel, zuber

Gen.Sg.

vogeles, zuberes

Dat.Sg.

vogele, zubere

vogel, zuber vogels, zubers



vogel, zuber.

Bei diesen Nomina blieb die erste Silbe auch nach dem Schwund des unbe­ tonten e nach Resonant im ganzen Paradigma offen. Daher konnte die Deh­ nung des mittelhochdeutschen Kurzvokals in der Wurzel ungehindert eintre­ ten. Vgl. dagegen mhd.

mhd.

(um 1100)

(um 1200) himl, donr

Nom.Sg.

himel, doner

Gen.Sg.

himeles, doneres

himels, doners oder donres

Dat.Sg.

himele, donere

himel, doneroder donre

Akk.Sg.

himel, doner

himl, donr.

Die theoretisch erwarteten, aber ungewohnt wirkenden einsilbigen Formen des Nom. und Akk.Sg. himl, donr werden für das Mittelhochdeutsche durch Schreibungen wie beispielsweise , oder , auch direkt erwiesen. Solche Schreibungen wären bei gesprochenem himel, doner wohl nie aufgekommen. Die gewöhnlicheren Varianten und im Mittelhochdeutschen nach 1200 sind demgegenüber zum Teil als historische Schreibungen zu betrachten. In frühneuhochdeutscher Zeit, aber wohl bereits nach der Dehnung alter Kurzvokale in offenen Silben, wur­ den himl und donr zweisilbig ausgesprochen, bis die silbischen Resonanten

-I und -r im Auslaut sich wieder zu -ei und -er entwickelten. Vgl. ganz ähn­ lich den Wandel von -r zu -er nach der neuhochdeutschen Diphthongierung in Lexemen wie mhd. viur, grr, schür> nhd. Feuer, Geier, Schauer. Man be­ achte ferner auch die angeführten Formen der obliquen Kasus, in denen bei mhd. hime/, doner ebenfalls Varianten mit geschlossener ersten Silbe belegt sind. Es ist klar, dass in den einsilbigen Formen des Nom. und Akk.Sg. mhd. himl, donr oder im Gen.Sg. donres, Dat.Sg. donre die Bedingungen für die Dehnung der Kurzvokale nicht vorlagen. Ähnlich einschlägig ist die Unterscheidung P losiv vs. Resonant im Falle von mhd. gibest, gibet(> nhd. gibst, gibt) aber mhd. nimest, nimet(> nhd. nimmst, nimmt). Auch hier wurden die betreffenden Flexionsformen bei resonantisch ausgehender Wurzel bereits in mittelhochdeutscher Zeit einsilbig. Vgl. die mittelhochdeutschen Fortsetzer von ahd. geban ,geben', tragan ,tragen' ne­ ben denen von ahd. stelan ,stehlen', faran ,gehen' und neman ,nehmen':

mhd. (um 1100) 2.Sg.Prs. gibest, tregest, stilest, verest, nimest 3.Sg.Prs. gibet, treget, stilet, veret, nimet

mhd. (um 1200) ---+

gibest, tregest, stilst, verst, nimst gibet, treget, stift, vert, nimt.

124 6. Deutsch in der Neuzeit: Neuhochdeutsch Der reguläre Schwund des unbetonten e nach Resonanten führte dazu, dass von den angeführten Flexionsformen nach 1200 nur gibest, tregest und gibet,

treget eine offene erste Silbe hatten und somit auch der Kurzvokal in der Wurzel gedehnt werden konnte. Bei allen Verben mit Wurzeln auf Resonan­ ten blieben die Vokale in der Wurzel zunächst kurz. Allerdings trat um 1250 die nächste Dehnung mittelhochdeutscher Kurz­ vokale ein. Diese erfasste alle Kurzvokale vor den Resonanten I, rund n in einsilbigen Wortformen (mit Ausnahme der Stellung vor ",

mhd. (um 1100) Nom.Sg. Gen.Sg. Dat.Sg.

Saaf, Heer, Zahn

saf, her, zan

safes, heres, zanes

---+

safs, hers, zans

---+

Saafs, Heers, Zahns Saaf, Heer, Zahn.

saf, her, zan

safe, here, zane

nn). Vgl.

nhd.

mhd. (um 1200)

saf, here, zan

rr und

Infolge dieses Lautwandels erhielten auch die einsilbigen Flexionsformen von Verben mit Wurzeln auf Resonanten einen Langvokal:

2.5g.Prs. 3.5g.Prs.

mhd.

nhd.

stilst, verst stilt, vert

stiehlst, fährst stiehlt, fährt.

Die Dehnung alter Kurzvokale in einsilbigen Wortformen vor Resonant be­ traf auch die Stellung vor m. Vgl. die folgenden Flexionsformen von Pronomina: mhd.

mhd.

(um 1100)

(um 1200)

ime deme weme



nhd.

im dem wem



ihm dem wem.

Im Unterschied zur Stellung vor I oder r gibt es im Falle von m aber keine Evidenz dafür, dass die Dehnung auch dann eintrat, wenn auf den Resonan­ ten noch ein weiterer Konsonant folgte. Es ist deshalb möglich, dass diese Dehnung die einsilbigen Flexionsformen von Verben nicht erfasste, wenn die Wurzel des Verbs auf m ausging. Das Ausbleiben der Dehnung wäre also im Falle von Verben wie nhd. nehmen oder kommen regulär:

mhd.

mhd.

(um 1100)

(um 1200)

2.Sg.Prs. nimest, komest 3.Sg.Prs. nimet, komet

nhd.

nimst, komst

nimmst, kommst

nimt, komt

nimmt, kommt.

So erklären sich die scheinbaren Ausnahmen zur neuhochdeutschen Deh­ nung alter Kurzvokale in offener Silbe.

6.2. Lautwandel der mittelhochdeutschen Zeit und das Lautsystem des Neuhochdeutschen

6.2.1.4. Die neuhochdeutsche Diphthongierung

Die neuhochdeutsche Diphthongierung betrifft die Langvokale mhd. Ci, iu und /. Diese Langvokale entwickelten sich bereits im 12. Jh. in Dialekten des Mittelhochdeutschen zu Diphthongen, die im Neuhochdeutschen als au, eu (in der Schrift auch nhd. be­ fehlen, befiehlt, befehlt. Für die Stellung vor rwird diese Entwicklung durch

Nomina erwiesen wie zum Beispiel mhd. vorhe, morhe> nhd. Föhre, Möh­ re. Dass der h-Schwund auch hier nur vor Vokal eintrat, zeigt die Erhaltung

des Frikativs zum Beispiel in nhd. Elch, Storch «

mhd. elch, storch, ahd. elh,

storh).

6.2.2.2. Entwicklung von mittelhochdeutsch s Auf mhd. s muss gesondert eingegangen werden, weil dieser Frikativ durch Lautwandel in zwei verschiedene neuhochdeutsche Phoneme gespalten wurde. Das althochdeutsche und mittelhochdeutsche s wurde palatal, also sch­ ähnlich, ausgesprochen. Das folgt zum Beispiel aus der Tatsache, dass in den sogenannten Freisinger Denkmälern - Gebeten, die in der zweiten Hälfte des 10. Jh. von deutschen Missionaren ins Altslovenische übersetzt wurden - das Graphem zur Widergabe von slov.

5 verwendet wird (für slov. s steht

aber veder, nadel neben Vertretern der Hauptgruppe innerhalb der betreffenden Flexionsklasse wie zum Beispiel sorge ,Sorge' oder varwe ,Far­ be': mhd. Sg.

PI.

Nom

veder, nadel sorge, varwe

veder,

Gen.

veder, nadel sorge, varwe

vedern, nadeln sorgen, varwen

Dat.

veder, nadel sorge, varwe

vedern, nadeln sorgen, varwen

Akk.

veder, nadel sorge, varwe

veder,

nadel sorge,

nadel sorge,

varwe

varwe.

Auch hier kam es zu einer sekundären Allomorphie der Kasusendungen -e­ -0 und -en - -n, die im Neuhochdeutschen fortbesteht. Allerdings waren die

141

142 6. Deutsch in der Neuzeit: Neuhochdeutsch femininen Substantive mit einsilbiger, kurzvokalischer und resonantisch aus­ gehender Wurzel, die eine neuhochdeutsche Dehnung hätten erfahren kön­ nen, im Mittelhochdeutschen selten (vgl. zum Beispiel mhd. gir, zal> nhd. Gier, Zahh. Deshalb blieben die Allomorphe bei den Feminina, im Unter­

schied zu den Maskulina und Neutra, ähnlich verteilt wie bereits im Mittel­ hochdeutschen. Dem Typ Feder, Nadel folgen auch in der Sprache der Ge­ genwart mehrheitlich Substantive mit synchron zweisilbiger Wurzel auf Resonant. Der Flexion von Sorge, Farbe folgen dagegen Substantive mit ein­ silbiger Wurzel und beliebigen Konsonanten in ihrem Auslaut. Die Korrelation zwischen der Lautung der Wurzel (ein- oder zweisilbig) und der Flexionsart wurden bei den starken Feminina, die im Nominativ Sg. einst auf mhd. -e ausgingen, durch einen Lautwandel weiter verstärkt. Mhd. -re entwickelte sich im Wortauslaut nach Konsonanten zu einem silbischen -r, das im Neuhochdeutschen als -erfortgesetzt wurde. Vgl. bei mhd. natre

oder blatre: mhd.

nhd.

Nom.Sg.

natre, blatre

Natter, Blatter

Gen.Sg.

natre, blatre

Natter, Blatter

Dat.Sg.

natre, blatre

Natter, Blatter.

Diese Entwicklung trat auch in der Stellung nach mittelhochdeutschen Lang­ vokalen ein, die in neuhochdeutscher Zeit diphthongiert wurden. Vgl. bei mhd. v/re, müre und stiure: mhd.

nhd.

Nom.Sg.

v/re, müre, stiure

Gen.Sg.

v/re, müre, stiure

Dat.Sg.

v/re, müre, stiure

Feier, Mauer, Steuer �

Feier, Mauer, Steuer Feier, Mauer, Steuer.

Der Übergang von mhd. -re in nhd. -er hatte zur Folge, dass eine große Gruppe starker Feminina mit zweisilbiger Wurzel auf r das Flexionsmuster nhd. Sorge, Farbe verließ und sich dem Typ nhd. Feder, Nadel anschloss.

6.3.2.2. Entwicklung der schwachen Maskulina

Die neue Allomorphie -es -

-5

im Genitiv Sg. und -e - -0 im Dativ Sg. der

starken Maskulina ermöglichte eine Umbildung in der Flexion vieler schwa­ cher Maskulina, so zum Beispiel bei mhd. garte, düme, kuoche, die sich zu nhd. Garten, Daumen und Kuchen entwickelten. Im Flexionsparadigma des Typs mhd. Nom.Sg.

garte, düme, kuoche

Gen.Sg.

garten, dümen, kuochen

Dat.Sg.

garten, dümen, kuochen

Akk.5g.

garten, dümen, kuochen

stimmten die konsonantisch ausgehenden Formen des Dativ und Akkusativ Sg. mit den entsprechenden Formen von teilweise ebenfalls zweisilbigen

6.3. Neuerungen in der Morphologie des Neuhochdeutschen

starken Maskulina wie zum Beispiel mhd. vogel, nagel oder hamer ,Ham­ mer' überein. Infolge dieser Übereinstimmung wurde in neuhochdeutscher Zeit auch der Genitiv Sg. angeglichen. Die mittelhochdeutschen Formen des Genitiv Sg. garten, dOmen, kuochen wurden durch Neubildungen des Typs nhd. Gartens, Daumens, Kuchens ersetzt, deren Morphologie sich nach nhd.

Vogels, Nagels, Hammers richtete. Die jetzt vollständige Übereinstimmung in allen obliquen Kasus des Singulars führte schließlich zur Angleichung auch des Nominativ Sg. Mhd. garte, dOme, kuoche entsprechen in der Spra­ che der Gegenwart Garten, Daumen, Kuchen. Die letzte Stufe in dieser Ent­ wicklung wurde allerdings nicht von allen schwachen Maskulina gleicher­ maßen erreicht. Vgl. nhd. Samen, das die ältere Form Same noch nicht vollständig verdrängt hat. Bei nhd. Name, Gedanke, Buchstabe ist die aus dem Mittelhochdeutschen ererbte Form des Nominativ Sg. auf -e gegenwär­ tig noch fest. Diese Entwicklung von einem schwachen zum starken Maskulinum wur­ de allerdings nicht von allen Nomina der betreffenden Flexionsklasse einge­ schlagen. Teilgenommen haben nur diejenigen schwachen Maskulina des Mittelhochdeutschen, die keine Lebewesen bezeichneten. Bei Bezeichnun­ gen von Lebewesen blieb die schwache Flexion bis heute vollständig erhal­ ten. Vgl. die Flexion von mhd. kuoche im Vergleich zu hase ,Hase': mhd. Nom.Sg. Gen.Sg. Dat.Sg Akk.Sg.

kuoche, hase kuochen, hasen kuochen, hasen kuochen, hasen

Kuchen, Hase Kuchens, Hasen Kuchen, Hasen Kuchen, Hasen.

6.3.2.3. Schwund der schwachen Feminina In der Flexion der femininen Substantive führte der weitreichende Kasussyn­ kretismus bei starken wie schwachen Feminina mit Nominativ Sg. auf -e im Neuhochdeutschen zu einem sekundären Zusammenfließen der beiden Fle­ xionsmuster. Der Zusammenfall der althochdeutschen unbetonten Vokale in mhd. e führte dazu, dass in der Flexion der alten ö-Stämme in mittelhoch­ deutscher Zeit alle Flexionsformen mit Ausnahme des Genitiv und Dativ PI. die gleiche Lautung erhielten. Die verbliebenen Kasus, der Genitiv und Da­ tiv PI., wurden dabei durch den mittelhochdeutschen Schwund des unbeton­ ten e nach Resonant (vgl. Abschnitt 6.2.1.1) und den Zusammenfall der aus­ lautenden Nasale mund nebenfalls ununterscheidbar. Vgl. zum Beispiel bei ahd. sworga ,Sorge' oder farwa ,Farbe': mhd.

ahd. Sg. Nom. Gen. Dat. Akk.

sworga, sworga, sworgu, sworga,

farwa farwa farwu farwa

PI.

Sg.

sworga, farwa sworgöno, farwöno sworgöm, farwöm sworga, farwa

sorge, sorge, sorge, sorge,

---+

PI. varwe varwe varwe varwe

sorge, varwe sorgen, varwen sorgen, varwen sorge, varwe.

143

144

6. Deutsch in der Neuzeit: Neuhochdeutsch

Ähnlich eintönig wurde durch das Wirken derselben Lautwandel auch die mittelhochdeutsche Flexion der ehemaligen on-Stämme. Vgl. die Entwick­ lung des Paradigmas zum Beispiel bei ahd. toba ,Taube' und mhd.

ahd.

Nom. Gen. Dat. Akk.

bluoma ,Blume':

Sg.

PI.

Sg.

PI.

tüba, bluoma tübün, bluomün tübün, bluomün tübün, bluomün

tübün, bluomün tübono, bluomono tübom, bluomom tübün, bluomün

tübe, bluome tüben, bluomen tüben, bluomen tüben, bluomen

tüben, tüben, tüben, tüben,



bluomen bluomen bluomen bluomen.

Der Synkretismus von Kasus, die im System sonst auseinandergehalten wur­

sorge, varwe und denen des Typs toba, bluoma so weit, dass selbst zwischen den Numerusformen ein und

den, ging bei den Feminina des Typs mhd.

desselben Kasus teilweise nicht unterschieden wurde. So lautete der Akkusa­

sorge, varwe und toben, bluo­ men. Bei mhd. tobe, bluome war die Lautung sämtlicher obliquen Kasus in

tiv im Singular wie im Plural gleichermaßen

den beiden Numeri identisch. Diese Besonderheit war bei Substantiven mit femininem Genus insofern besonders unbequem, als beispielsweise im Ak­ kusativ Sg. und PI. auch die abhängigen Partizipanten der Nominalphrase wie der Artikel und das Adjektiv keine Auskunft über den Numerus gaben. Vgl. mhd. Akk.Sg

die gro3en sorge, toben

-

Akk.PI.

die gro3en sorge, toben.

Bei den Maskulina und Neutra blieb die Unterscheidung der Numeri dage­ gen auch bei gleicher Lautung des Substantivs erhalten. Vgl. zum Beispiel

den grüenen garten, da3 trüebe auge ten, diu trüeben augen.

mhd. Akk.5g

-

Akk.PI.

die grüenen gar­

Diese Situation hatte zur Folge, dass die schwachen Feminina wie mhd.

tobe, bluome beim Übergang zum Neuhochdeutschen im Singular die Fle­ xion des Typs sorge, varwe übernahmen. Eine solche Analogie lag aufgrund der gemeinsamen Form des Nominativ Sg. mhd. sorge, varwe und tobe, bluome sehr nahe. Diese Entwicklung schuf das uns vertraute Flexions­ muster nhd. Sg. Taube, Blume PI. Tauben, Blumen, in dem die Numeri klar -

auseinandergehalten werden. Die gleiche Flexion im Singular und die be­ queme Art, auf die im neuen Paradigma der Singular von dem Plural unter­ schieden war, führten dazu, dass sich dem neuen Flexionsmuster nach und nach auch die Feminina des Typs

Sorge, Farbe anschlossen. Im Praktischen

bedeutete das allerdings lediglich eine Ersetzung der eigentlich problemati­ schen Formen des Nominativ und Akkusativ PI. mhd.

sorge, farwe, die von

den entsprechenden Kasus im Singular nicht zu unterscheiden waren, durch Neubildungen

Sorgen, Farben.

6.4. Neuerungen in der neuhochdeutschen Syntax In mittelhochdeutscher und frühneuhochdeutscher Zeit traten wichtige Än­ derungen in der Struktur der Nominalphrase ein. Beim Verb kam es zur Grammatikalsierung weiterer periphrastischer Konstruktionen, nämlich des

6.4. Neuerungen in der neuhochdeutschen Syntax 145

werden-Futurs und des auf seiner Grundlage entstandenen wü rde-Konjunk­ tivs. 6.4.1. Oie Nominalphrase

Die wichtigsten Veränderungen in der Syntax der Nominalphrase betreffen die Verwendung der Adjektive, die sich im Neuhochdeutschen deutlich von den Verwendungsmustern der alt- und mittelhochdeutschen Zeit unter­ scheidet. Im jetzt folgenden Abschnitt sollen zwei besonders tiefgreifende Innovationen besprochen werden. Die erste Neuerung betrifft die Verwen­ dung der starken und schwachen Flexionsformen der attributiven Adjektive in verschiedenen syntaktischen Kontexten. Die zweite Neuerung ist die Auf­ gabe der Kongruenz zwischen prädikativen Adjektiven und ihren Bezugs­ wörtern.

6.4.1.1. Das attributive Adjektiv

In alt- und mittelhochdeutscher Zeit flektierten die attributiven Adjektive als Teil einer determinierten Nominalphrase schwach, in einer indeterminier­ ten Nominalphrase dagegen stark. Determinierte Nominalphrasen wurden dabei häufig mit dem bestimmten Artikel mhd. der, da3, diu eingeleitet. In­ determinierte Nominalphrasen hatten im Plural keinen Artikel, im Singular konnten sie mit dem unbestimmten Artikel ein eingeleitet werden. Vgl. bei­ spielsweise die schwache Flexion von mhd. guot ,gut' mit Substantiven un­ terschiedlichen Genus, nämlich vriunt ,Freund', hus ,Haus' und vrage ,Fra­ ge': schwache Flexion Maskulinum

Neutrum

Femininum

Nom.5g.

(der) guote vriunt

(da3) guote hos

(diu) guote vräge

Gen.Sg.

(des) guoten vriundes

(des) guoten hoses

(dere) guoten vräge

Dat.Sg.

(deme) guoten vriunde

(deme) guoten hOse

(dere) guoten vräge

Akk.Sg.

(den) guoten vriunt

(da3) guote hos

(die) guoten vräge

starke Flexion

Nom.5g.

Maskulinum

Neutrum

Femininum

(ein) guoter vriunt (ein) guot vriunt

(ein) guote3 hOs (ein) guot hOs

(ein) guotiu vräge (ein) guot vräge

Gen.Sg.

(eines) guotes vriundes

(eines) guotes hOses

(einere) guotere vräge

Dat.Sg.

(eineme) guoteme vriunde

(eineme) guoten hOse

(einere) guotere vräge

Akk.Sg.

(einen) guoten vriunt

(ein) guote3 hos

(eine) guote vräge

Ein Vergleich dieses Befundes mit der Situation in heutiger Zeit macht offen-

146 6. Deutsch in der Neuzeit: Neuhochdeutsch sichtlich, dass auf dem Weg vom Mittelhochdeutschen zum Neuhochdeut­ schen eine bedeutende Veränderung eingetreten sein muss. Die schwache Flexion der attributiven Adjektive hat sich nicht verändert. Das Flexions­ paradigma der starken Adjektive ist dagegen in zwei unterschiedliche Flexionsmuster zerfallen. Eines davon setzt beinahe eins zu eins die mit­ telhochdeutsche starke Flexion fort. Diesem Muster folgen die neuhoch­ deutschen attributiven Adjektive dann, wenn ihnen kein Artikel vorausgeht. In dem anderen Flexionsmuster wurden die starken Flexionsformen im Gen­ itiv und Dativ Singular durch die entsprechenden schwachen ersetzt. Diese Mischflexion ist im Neuhochdeutschen dann einschlägig, wenn die Nomi­ nalphrase mit prädikativem Adjektiv vom unbestimmten Artikel eingeleitet wird. schwache Flexion Maskulinum

Neutrum

Femininum

Nom.Sg.

der gute Freund

das gute Haus

die gute Frage

Gen.Sg.

des guten Freundes

des guten Hauses

der guten Frage

Dat.Sg.

dem guten Freund

dem guten Haus

der guten Frage

Akk.5g.

den guten Freund

das gute Haus

die gute Frage

Maskulinum

Neutrum

Femininum

Nom.Sg.

guter Quark

gutes Eisen

gute Qualität

Gen.Sg.

guten Quarks

guten Eisens

guter Qualität

Dat.Sg.

gutem Quark

gutem Eisen

guter Qualität

Akk.5g.

guten Quark

gutes Eisen

gute Qualität

starke Flexion

gemischte Flexion Maskulinum

Neutrum

Femininum

Nom.Sg.

ein guter Freund

ein gutes Haus

eine gute Frage

Gen.Sg.

eines guten Freundes

eines guten Hauses

einer guten Frage

Dat.Sg.

einem guten Freund

einem guten Haus

einer guten Frage

Akk.5g.

einen guten Freund

ein gutes Haus

eine gute Frage

Im Plural, wo es keinen unbestimmten Artikel gibt, unterblieb entsprechend auch die Spaltung des starken Flexionsparadigmas. Diese Entwicklung in der Flexion der attributiven Adjektive lässt sich auch folgendermaßen beschreiben. In alt- und mittelhochdeutscher Zeit war die Wahl zwischen den schwachen und den starken Flexionsformen eines attri­ butiven Adjektivs semantisch gesteuert. In einer determinierten Nominal­ phrase flektierten die Adjektive schwach, in einer indeterminierten stark. Im Neuhochdeutschen trifft dies nur mehr im Nominativ und Akkusativ Singular

6.4. Neuerungen in der neuhochdeutschen Syntax 147

zu. In allen anderen Kasusformen erfolgt die Flexion schwach, wenn ein Ar­ tikel vorausgeht, und stark, wenn kein Artikel da ist. Die semantische Unter­ scheidung zwischen determinierten Nominalphrasen wie zum Beispiel dem guten Freund, der guten Frage und den indeterminierten wie einem guten Freund, einer guten Frage spielt bei der Zuweisung der passenden Adjektiv­ form außerhalb des Nominativ und Akkusativ Singular keine Rolle mehr. Weitere Neuerungen in der Syntax der attributiven Adjektive betreffen ihre Verwendung neben persönlichen oder possessiven Pronomina. In alt­ hochdeutscher Zeit flektierten die attributiven Adjektive grundsätzlich schwach, wenn ihr Bezugswort durch ein Personale wie thu ,du', ir,ihr' oder ein Possessivum wie mfn ,mein', thfn ,dein' oder unser ,unser' determiniert war. Dies blieb im Wesentlichen auch während der mittelhochdeutschen Pe­ riode erhalten. Im Neuhochdeutschen schlossen sich Fügungen dieser Art al­ lerdings der starken Flexion an. Vgl. ahd. thu toubo geist ,du tauber Geist' und min liobo sun ,mein lieber Sohn' (Tatian), die ins Neuhochdeutsche mit du, tauber Geist und mein lieber Sohn zu übersetzen sind. Die Flexion dieser Nominalphrasen in den obliquen Kasus erfolgt dabei allerdings unterschied­ lich. Nach persönlichen Pronomina flektieren die Adjektive stark, nach pos­ sessiven Pronomina folgen sie dagegen der Mischflexion, vgl. zum Beispiel im Dativ Sg. dit; taubem Geist (wie mit großem Respekt) aber meinem lieben Sohn (wie einem guten Freund). Der Übertritt in die starke bzw. gemischte Flexion blieb allerdings unvollständig. Im Plural flektieren Fügungen mit per­ sönlichen und possessiven Pronomina nach wie vor schwach, vgl. wit; tau­ ben Geister und meine lieben Söhne.

6.4.1.2. Das prädikative Adjektiv

Es ist eine Besonderheit des Neuhochdeutschen, dass prädikativ verwendete Substantive mit ihrem Bezugswort kongruieren, die prädikativen Adjektive dagegen nicht. Vgl. die folgenden neuhochdeutschen Sätze: Wölfe sind Raubtiere und Wölfe sind grau. Im ersten Satz stimmen das Subjekt (Wölfe) und der nominale Teil des Prädikats (Raubtiere) in ihrem Numerus miteinan­ der überein. Im zweiten Satz ist grau eine besondere Form des Adjektivs, die nur als nominaler Teil eines Prädikats vorkommt und sich von der einschlägi­ gen Form des Adjektivs bei attributiver Verwendung (graue) unterscheidet. Ein prädikatives Adjektiv hat im Neuhochdeutschen grundsätzlich immer dieselbe genus- und numerusneutrale Form. In althochdeutscher Zeit wurden nominale Prädikate mit Adjektiven noch anders konstruiert. In den ältesten Quellen war die Kongruenz des prädikati­ ven Adjektivs mit seinem Bezugswort im Numerus und Genus noch die Norm. Vgl. die folgenden Belege aus der im 9. Jh. verfassten Evangelienhar­ monie Otfrids:

beim maskulinen Bezugswort forasago ,Prophet': thie f6rasagon guate thie s(nt ouh alle d6te ,die guten Propheten, die sind auch alle tot';

148 6. Deutsch in der Neuzeit: Neuhochdeutsch beim femininen Bezugswort brust ,Brust': thaz duat uns ubil uuillo, thes sint thio brusti uns folio

,das tut uns der böse Wille, davon sind uns die Herzen voll'; bei siu beithiu ,sie beide' als Bezugswort, das aufgrund des unterschiedli­ chen Geschlechts der bezeichneten Menschen als Neutrum flektiert wurde: uuarun siu bethu g6te filu drudu

,sie waren beide Gott sehr ergeben'. Die prädikativen Adjektive tOt ,tot', foll ,voll' und trCit ,ergeben' sind in die­ sen Sätzen in derselben Form verwendet, die sie neben den betreffenden Substantiven auch beim attributiven Gebrauch angenommen hätten. Das heißt, die prädikativen Adjektive richteten sich in Numerus und Genus nach ihren Bezugswörtern. Die Kongruenz eines althochdeutschen prädikativen Adjektivs mit seinem Bezugswort war allerings nur in einem der beiden Numeri immer deutlich markiert, im Plural. Im Singular war die Sachlage anders. Hier hatten die alt­ hochdeutschen Adjektive im Nominativ, und das ist der Kasus der Prädikats­ nomina, zwei unterschiedliche Formen. Die sogenannte Langform der alt­ hochdeutschen Adjektive existierte in drei Varianten, die jeweils eindeutig einem Genus zugeordnet waren, so zum Beispiel junger, siohher ,junger, kranker (Mann)', junga3, siohha3 ,junges, krankes (Kind)', jungiu, siuhhiu ,junge, kranke (Frau)'. Die sogenannte Kurzform lautete dagegen in allen drei Genera immer gleich, so zum Beispiel jung, sioh (Mann, Kind, Frau). Bei attributivem Gebrauch konnten im Althochdeutschen sowohl die Lang­ form als auch die Kurzform eines Adjektivs verwendet werden. Vgl. zum Beispiel bei ahd. mihhil ,groß' in der Tatian-Übersetzung: miata mihhiliu ,große Belohnung' mit der Langform des Adjektivs neben arebeit mihhil ,gro­ ße Plage' und mihhil menigT ,große Menge' mit der Kurzform. Bei prädikati­ vem Gebrauch erschienen die althochdeutschen Adjektive dagegen fast aus­ schließlich in ihrer Kurzform. Vgl. die folgenden drei Sätze mit ahd. tOt ,tot', die wieder aus der althochdeutschen Tatian-Übersetzung stammen: uuanta theser thin bruoder t6t uuas ,weil dieser dein Bruder tot war', nist t6t thaz magatin ,das Mädchen ist nicht tot', uuanta t6t ist thin dohter ,weil deine Tochter tot ist'. Die praktisch ausschließliche Verwendung der genusindifferenten Kurz­ form althochdeutscher Adjektive bei prädikativem Gebrauch führte offen­ bar dazu, dass das Gefühl für die Kongruenz zwischen dem prädikativem Adjektiv und seinem Bezugsnomen bei den Sprechern allmählich nach­ ließ. Die Kurzform des Nominativ Sg. wurde dabei als eine besondere prä­ dikative Form der Adjektive empfunden. Das führte zur gelegentlichen Übertragung dieser Kurzform aus dem Singular in den Plural. Belege für diese Verwendung der Kurzform althochdeutscher Adjektive finden sich vereinzelt bereits in althochdeutschen Quellen des 9. Jh. Vgl. zum Beispiel aus Muspilli: khenfun sint 50 kreftic, die kosa ist 50 mihhil ,die Kämpfer sind so stark, die Streitsache ist so groß'. Hier ist die Verwendung der nichtkongruierenden Kurzform des Nominativ Sg. kreftig bei einem plurali-

6.4. Neuerungen in der neuhochdeutschen Syntax

schen Bezugswort im ersten Teil des Satzes offensichtlich durch die Kurz­ form mihhil in seinem zweiten Teil nahegelegt. Weitere Fälle dieser Art lassen sich bei Otfrid belegen, so zum Beispiel h6h sint,

50

ih thir zellu,

thiu sinu thing ellu ,erhaben sind, das sage ich dir, alle seine Werke'. Hier steht die Kurzform höh bereits neben einem pluralischen Bezugswort

thing, das von einem korrekt kongruierenden attributiven Adjektiv ellu be­ gleitet wird. Die somit bereits für das Althochdeutsche des 9. Jh. dokumentierte Ten­ denz zur Verwendung der Kurzform eines prädikativen Adjektivs auch bei pluralischem Bezugswort wurde im Mittelhochdeutschen durch eine phono­ logisch bedingte Entwicklung verstärkt. Der mittelhochdeutsche Zusammen­ fall der unbetonten Vokale führte dazu, dass im Maskulinum der zahlreichen und teilweise hochfrequenten Adjektive der ja/ö-Klasse die Kurzform des Nominativ Sg. und die flektierte Form des Nominativ PI. sekundär ununter­ scheidbar wurden. Vgl. ahd. sköni ,schön', kuoni ,kühn' und mari ,berühmt'; ahd.

mhd.

Nom.Sg.m.

Nom.Pl.m.

Nom.Sg.m.

Nom.Pl.m.

sköni

sköne

schä!ne

schä!ne

kuoni

kuone

küene

küene

mari

mare

meere

meere.

-+

Die numerusindifferente Form des maskulinen Nominativs mhd. schä!ne,

küene, meere diente als Muster für andere Adjektive, bei denen die Unter­ scheidung der Numeri ansonsten gewährleistet blieb. In Sätzen wie bei­ spielsweise der was chuone unde wis ,er war kühn und weise' und die waren

chuone unde uorchtsam ,sie waren kühn und furchterregend' (RolandsliedJ legte das numerusindifferente ja/ö-Adjektiv küene die Verwendung der Kurz­ form auch bei den ihm folgenden a/ä-Adjektiven w/s ,weise' (Nom.Pl.m.

w/se) und vorhtsam ,furchterregend' (Nom.Pl.m. vorhtsame) nahe. Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass die Verwendung der genus- und numerusindifferenten Kurzform bei prädikativen Adjektiven auch im Plural im Laufe der mittelhochdeutschen Sprachperiode allmählich zur Norm wur­ de. Vgl. die folgenden drei repräsentativen Textbelege aus Arzneibüchern des späten 12. oder frühen 13. Jh. (Bartholomäus); beim maskulinen Bezugswort zant ,Zahn';

unde rip die zende vast da mit,

50

werdent si wiz

,und reibe damit fest die Zähne, so werden sie weiß'; beim femininen Bezugswort schrunde ,Riss in der Haut';

unde salbe die schrunden da mit,

50

werdent sie heil

,und salbe damit die Risse in der Haut, so werden sie geheilt'; beim Neutrum ouge ,Auge' als Bezugswort:

... unde diu ougen da mit salben,

50

werdent si heiter und lieht

, ... und die Augen damit salben, so werden sie heiter und strahlend'.

149

150 6. Deutsch in der Neuzeit: Neuhochdeutsch Die Verwendung von flektierten Formen des Nominativ PI. blieb im Mittel­ hochdeutschen allerdings möglich. Das belegen solche Sätze wie zum Bei­ spiell!:. sult bescheidenliche sin, arm und riche ,ihr sollt vernünftig sein, der Arme und der Reiche' (Parzivan. In neuhochdeutscher Zeit trat in der Verwendung der flektierten Nomina­ tivformen der Adjektive und der unflektierten Kurzform eine Polarisierung ein. Die Kurzform konnte sich endgültig als eine besondere prädikative Form des Adjektivs etablieren. In attributiver Funktion wurde diese Form, von einigen wenigen festen Wendungen wie ein gut Teil oder ein gerüttelt

Maß abgesehen, vollständig von der flektierten und somit kongruierenden Langform verdrängt. Die grundsätzlich flektierte und kongruierende Form des Nominativ PI. spezialisierte sich dagegen auf den attributiven Gebrauch.

6.4.2. Entstehung neuer Periphrasen: das werden-Futur und

der würde-Konjunktiv Belege für die Verwendung von werden mit dem Infinitiv eines anderen Verbs und futurischem Zeitbezug findet man ganz vereinzelt bereits in alt­ hochdeutschen Texten aus dem 9. )h. Diese Konstruktion ist einmal in Mu­

spilli bezeugt: der uuarch ist kiuuafanit, denne uuirdit untar in uuic arhapan ,ist der Feind bewaffnet, dann wird zwischen ihnen ein Kampf beginnen'. Einmal kommt sie bei Otfrid vor: suntar daz giscrlb min wirdit bezira sin,

buazent slno guati mino mlssodati ,sondern meine Schrift wird besser sein, wenn seine (des Lesers) Güte meine Versehen ausgleicht'. Worin der seman­ tische Unterschied zwischen werden + Infinitiv und dem futurischen Präsens in althochdeutscher Zeit bestand, lässt sich angesichts der sehr dürftigen Be­ leglage nicht bestimmen. Etwas häufiger wurde der Gebrauch des werden-Futurs erst in mittelhoch­ deutschen Quellen. Vgl. die folgenden repräsentativen Sätze, in denen sich die Konstruktion eindeutig auf die Zukunft bezog:

50

wirt er sprechen ze­

hant, swenn er iuch erkunnet hat ,so wird er sogleich sprechen, wenn er euch erkannt hat' (Konrad Fleck),

50

unde sult die busunen blasen,

werdent die vinde alle fliehen ,so sollt ihr

50

sult ir die ampellen an einander slahen

die Gefäße aneinander schlagen und die Posaunen blasen, dann werden die Feinde alle fliehen' (Berthold von Regensburg). Der Unterschied zum futurischen Präsens, das nach wie vor die meisten Sätze mit futurischem Zeitbezug bediente, lässt sich auch hier nicht sicher ermitteln. Die Abgrenzung gegenüber weiteren Konstruktionen, die eben­ falls zur Beschreibung der Zukunft eingesetzt werden konnten, ist allerdings möglich. Das Fehlen einer modalen Semantik unterschied das werden-Futur von den Fügungen mit mhd. wellen ,wollen' und scholn, soln ,sollen', die ursprünglich immer auch einen Wunsch (des Satzsubjekts oder einer ande­ ren Person) ausdrückten. Vgl. den Satz gelicher wise als got erschain dem

herren Mayse do er in der aincede was ... also wil er dir och erschinen, swen­ ne du uz der werlte gast in die aincede ,gleicherweise wie Gott dem Herrn Mose erschien als er in der Einöde war ... genauso wird er auch dir erschei­ nen, wenn du aus der Welt in die Einöde gehst' (Predigten). Hier wird offen-

6.4. Neuerungen in der neuhochdeutschen Syntax 1 S1

sichtlich vorausgesetzt, dass Gott das Verlassen der Welt durch die Gläubi­ gen schätzt und diesen deshalb auch gern erscheint. Zu unterscheiden war das mittelhochdeutsche werden-Futur auch von den gut bezeugten Fügungen aus werden + Präsenspartizip, die ebenfalls zur Beschreibung künftiger Ereignisse verwendet wurden, zu Beginn der neu­ hochdeutschen Zeit aber außer Gebrauch kamen. So zum Beispiel da wer­

dent die heiligen rihtende über die diet ,dann werden die Heiligen über das Volk richten' (Berthold von Regensburg). Die Belege mit Präteritalformen von werden legen es nahe, dass diese letzte Konstruktion eine ingressive Se­ mantik hatte, indem sie den Beginn einer Verbalhandlung fokusierte. Vgl. zum Beispiel unde do sie quamun zu den wazzern, do wurden sie trinkende ,und als sie zu den Wassern kamen, begannen sie zu trinken' (Berthold von

Regensburg). In Texten aus früh neuhochdeutscher Zeit ist das werden-Futur verhältnis­ mäßig verbreitet. Vgl. das folgendende repräsentative Beispiel für seine Ver­ wendung in der Dichtung: hör und wandel nach seinem wort,

50

wird dir got

an allem ort geben sein segen und gedeyen (Hans Sachs). Seit dem 17. Jh. ist diese Konstruktion schließlich auch im Konjunktiv Präteritum belegt. Die Se­ mantik des neuen würde-Konjunktivs scheint im Wesentlichen der semanti­ schen Leistung des ererbten Konjunktiv Präteritum wie nhd. l.5g. gäbe, füh­

re,

liefe,

verstöße zu entsprechen.

Das

Bedürfnis nach einer neuen

Ausdrucksform für dieselbe Bedeutung kam wohl durch den Umstand auf, dass der neuhochdeutsche Konjunktiv Präteritum nur bei starken Verben von seinem Indikativ auch formal geschieden ist. Der würde-Konjunktiv diente ursprünglich wohl der Einführung dieser Unterscheidung auch bei den schwachen Präterita wie zum Beispiel nhd. l.5g. machte, folgte, liebte.

tl:n

Übungsfragen

1. Skizzieren Sie die Entwicklung der Vokale in unbetonten Silben vom Alt­

bis zum Neuhochdeutschen! 2. Nennen Sie die wichtigsten Entwicklungen im Vokalismus der betonten

Silben! Bringen Sie diese Entwicklungen in eine chronologische Reihen­ folge! 3. Skizzieren Sie die Entstehung und Entwicklung der langen Konsonanten

im Deutschen! 4. Benennen Sie die wichtigsten Neuerungen in der neuhochdeutschen Kon­

jugation! 5. Skizzieren Sie die wichtigsten Neuerungen in der Flexion der neuhoch­

deutschen Substantive! 6. Skizzieren Sie die wichtigsten Neuerungen in der Syntax der Nominal­

phrase vom Alt- bis zum Neuhochdeutschen!

Lösungen zur Seite 13

2. sieheAbschnitt 4.2.

1. siehe Abschnitt 1.1.

3. sieheAbschnitt 4.2.

2. siehe Abschnitt 1.1.

4. siehe Abschnitte 4.3.1. (zu den allgemei­

3. sieheAbschnitte 1.1. und 1.2. 4. sieheAbschnitt 1.4.

nen Charakteristiken des Systems), 4.3.2. (zum Verb) und 4.3.3. (zu den nominalen Wortarten)

zur Seite 26

5. sieheAbschnitt 4.4.

1. sieheAbschnitt 2.1. 2. sieheAbschnitt 2.1.

zur Seite 113

3. sieheAbschnitt 2.1.

1. sieheAbschnitt 5.1.

4. sieheAbschnitte 2.1. (zum Begriff der

2. sieheAbschnitt 5.2.1.

morphologischen Analogie) und 2.2. (zu

3. sieheAbschnitt 5.2.2.

den Arten des morphologischen Wandels)

4. sieheAbschnitt 5.4.1.

5. sieheAbschnitt 2.2.

5. sieheAbschnitt 5.4.2.

6. sieheAbschnitt 2.3. zur Seite 151 zur Seite 44

1. sieheAbschnitte 5.2.1.1. (zur Vokal­

1. sieheAbschnitt 3.1.

schwächung in ahd. unbetonten Silben)

2. sieheAbschnitte 3.2. (zum Begriff der

und 6.2.1.1. (zum Schwund des unbeton­

Sprachgruppe) und 3.3. (zu den germani­ schen Sprachen) 3. sieheAbschnitte 3.3. und 3.4. 4. sieheAbschnitte 3.4.1. (zum Begriff der Isoglosse) und 3.4.2. (zum Urnordwest­ germanischen) 5. sieheAbschnitte 3.4.1. (zum Begriff der Isoglosse), 3.4.3. (zum Urwestger­

ten e im Mhd. und Nhd.) 2. siehe Abschnitte 5.2.1. (zu den Lautwan­ deln der spätahd. Zeit) und 6.2.1. (zu den Lautwandeln der mhd. und frühnhd. Zeit) 3. sieheAbschnitte 3.4.3. (zur westgerma­ nischen Konsonantendehnung), 3.4.4. (zur hochdeutschen Lautverschiebung), 5.2.2.1. (zur Kürzung langer Frikative

manischen) und 3.4.4. (zu den Charakte­

nach Langvokalen und Diphthongen) und

ristiken des Althochdeutschen)

6.2.2.3. (zur Entwicklung der langen Kon­

6. sieheAbschnitt 3.4.4.

sonanten im Nhd.) 4. sieheAbschnitt 6.3.1.

zur Seite 89 1. sieheAbschnitt 4.1.

5. sieheAbschnitt 6.3.2. 6. sieheAbschnitt 6.4.1.

Weiterführende Literatur Bergmann, Rolf, Claudine Moulin & Nikolaus Ruge.

Penzl, Herbert. 1971. Lautsystem und Lautwandel in

2011. AIt- und Mittelhochdeutsch. Arbeitsbuch

den althochdeutschen Dialekten. München: Hue­

zur Grammatik der älteren deutschen Sprachstufen

ber.

und zur deutschen Sprachgeschichte. Unter Mitar­

Penzl, Herbert. 1986. Althochdeutsch. Eine Einfüh­

beit von Natalia Filatkina, Falko Klaes und Andrea

rung in Dialekte und Vorgeschichte. Bern: Peter

Rapp. 8., neu bearbeitete Auflage. Göttingen: Van­ denhoeck & Ruprecht.

Lang. Polenz, Peter von. 2000. Deutsche Sprachgeschichte

Braune, Wilhelm. 2004. Althochdeutsche Gramma­

vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. 2., überar­

tik I. Laut- und Formenlehre. 15. Auflage bearbeitet

beitete und ergänzte Auflage. Bd. 1-111. Berlin: de

von Ingo Reiffenstein. Tübingen: Niemeyer.

Gruyter.

Besch, Werner & Norbert Richard Wolf. 2009. Ge­

Polenz, Peter von. 2009. Geschichte der deutschen

schichte der deutschen Sprache. Längsschnitte -

Sprache. 10., völlig neu bearbeitete Auflage von

Zeitstufen - Linguistische Studien. Berlin: Erich Besch, Werner, Anne Betten, Oskar Reichmann & Stefan Sonderegger (Hsrg.). 1998 - 2004. Sprach­ geschichte.

Norbert Richard Wolf. Berlin: de Gruyter. Schmid, Hans Ulrich. 2009. Einführung in die deut­

Schmidt.

Ein Handbuch zur Geschichte der

deutschen Sprache und ihrer Erforschung. 2., voll­ ständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage. Teilbd. 1-4. Berlin: de Gruyter. Fleischer, JÜrg. 2011. Historische Syntax des Deut­

sche Sprachgeschichte. Mit 32 Abbildungen und

Grafiken. Stuttgart: Metzler. Schrodt, Richard. 2004. Althochdeutsche Grammatik 11. Syntax. Tübingen: Niemeyer.

Sonderegger, Stefan. 2003. Althochdeutsche Sprache und Literatur.

Eine

Einführung

in

das älteste

Deutsch. Darstellung und Grammatik. 3., durchge­

schen. Eine Einführung. In Zusammenarbeit mit

sehene und wesentlich erweiterte Auflage. Berlin:

Oliver Schallert. Tübingen: Narr.

de Gruyter.

Hennings, Thordis. 2012. Einführung in das Mittel­

Szczepaniak, Renata. 2011. Grammatikalisierung im

hochdeutsche. 3., durchgesehene und verbesserte

Deutschen. Eine Einführung. 2., überarbeitete und

Auflage. Berlin: de Gruyter.

erweiterte Auflage. Tübingen: Narr.

Klein, Thomas, Hans-Joachim Solms & Klaus-Peter

Szulc, Aleksander. 2002. Geschichte des standard­

Wegera. 2009. Mittelhochdeutsche Grammatik.

deutschen Lautsystems. Ein Studienbuch. Wien:

Teil 111. Wortbidung. Tübingen: Niemeyer. Meineke, Eckhard. 2001. Einführung in das Althoch­ deutsche. Unter Mitarbeit von Judith Schwerdt. Pa­

derborn: Schöningh.

Edition Praesens. Vogel, Petra Maria. 2012. Sprachgeschichte. Heidel­ berg: Winter. Wegera, Klaus-Peter & Sandra Waldenberger. 2012.

Nübling, Damaris. 2010. Historische Sprachwissen­

Deutsch diachron. Eine Einführung in den Sprach­

schaft des Deutschen. Eine Einführung in die Prin­

wandel des Deutschen. Unter Mitarbeit von IIka

zipien des Sprachwandels. In Zusammenarbeit mit Antje Dammei, Janet Duke und Renata Szczepa­ niak. 3., überarbeitete Auflage. Tübingen: Narr. Paul, Hermann. 2007. Mittelhochdeutsche Gramma­ tik. 25. Auflage, neu bearbeitet von Thomas Klein,

Hans-Joachim Solms und Klaus-Peter Wegera. Mit einer Syntax von Ingeborg Schöbler, neu bearbeitet

Lemke. Berlin: Erich Schmidt. Wegera, Klaus-Peter, Simone Schultz-Balluf & Nina Bartsch. 2011. Mittelhochdeutsch als fremde Spra­ che. Eine Einführung für das Studium der germanis­

tischen Mediävistik. Berlin: Erich Schmidt. Wolf,

Gerhart. 2009. Deutsche Sprachgeschichte

von den Anfängen bis zur Gegenwart. Ein Studien­

und erweitert von Heinz-Peter Prell. Tübingen:

buch. 6., überarbeitete und erweiterte Auflage. Tü­

Niemeyer.

bingen: Francke.

Register A

Entwicklung der Nominalphrase 144

Ablaut 54,56

epische Bibeldichtung 90

Ablautreihen (prät.-präs. Verben)

66

e-Schwund 116

Ablautreihen (st. Verben) 57 F

Adjektiv 81 Alemannisch 8,85

Fastnachtspiele 114

altgermanische Sprachen 32

Flexion (Adjektiv)

Altenglisch 33

Flexion (Dem.-Pronomen)

79

Altfriesisch 34

Flexion (Interr.-Pronomen)

79

Althochdeutsch 12

Flexion (Kardinalzahlen) 83

81, 145,147

althochdeutsch gehen 65

Flexion (pers. Pronomen)

althochdeutsch sein 69

Flexion (pers. Pronomen 3. Person) 79,88

althochdeutsch stehen 65

Flexion (Poss.-Pronomen)

althochdeutsch tun 68

Flexion (prät.-präs. Verben)

althochdeutsch wollen 68

Flexion (schw. Verben)

althochdeutsche Texte 45

Flexion (st. Verben)

55

althochdeutsche Brechung 59

Flexion (Substantiv)

72,106, 140

althochdeutsche Dialekte

Flexionskategorie 54

85

78 78 67

63

althochdeutsche Monophthongierung 58

Flexionskategorien (Verb)

Altniederländisch 34

Flexionskategorien (Nomen)

Altostnordisch 33

Fränkisches Taufgelöbnis 48

54 69

Altsächsisch 33

Frühneuhochdeutsch 12,114

Altwestnordisch 33

frühneuhochdeutsche Texte 114

Analogie 18,19 Artikel

G

111

attributives Adjektiv 145

Georgslied 50

Auslautverhärtung

germanische Runen 38

101

germanische Sprachen 27,30 B

Glossare 46

Bairisch 8,85

Glossen 46

Benediktinerregel 47

Gotisch 32

bestimmter Artikel 111

Grammatikalisierung 24

Bibeldichtung 90

Grammatiken 115

Bilingue 47

grammatischer Wechsel 60,138

Brechung 59

Grundsprache 30

D

H

Dehnung der Kurzvokale 121

haben-Perfekt 107, 109

Demonstrativpronomina 79,80

Hammelburger Markbeschreibung 46

diachrone Variation 9

Heldendichtung 49,90

Dialekt 7

Hildebrandslied 49

diastratische Variation 9

hochdeutsche Lautverschiebung 41

diatopische Variation 7

h-Schwund 127

Dietrichepik 90 Dual 70 innerparadigmatischer Ausgleich 22 E

Instrumental 70

Einblattdrucke 114

interparadigmatische Analogie 19

158 Register Interrogativpronomina 79

Nominalphrase 144

Isidor-Bilingue 47

Nordgermanisch 37

Isoglosse 35

Nordseegermanisch 35

i-Umlaut 36, 59

Notker 50 Numerale 83

K Kardinalzahlen 83

o

Klassen (Numeralia) 83

Oberdeutsch 85

Klassen (prät.-präs. Verben) Klassen (pronomina)

Ordinalzahlen 84

77

Klassen (schw. Verben) Klassen (st. Verben)

Oberrheinische Chronik 93

66

Ostfränkisch 85

63

Ostgermanisch 37

57

Otfrid von Weißenburg 50

kombinatorischer Lautwandel 17 Kudrun 90

P

Kürzung der Langvokale 120

Palatalumlaut 36, 59 L

Periodisierung 12

lange Konsonanten 131

periphrastische Verbformen 24, 107, 149

Langobardisch 85

persönliche Pronomina 78

Lautsystem (ahd.)

persönliches Pronomen 3. Person 79

52

Lautsystem (mhd.)

94

Lautsystem (nhd.)

116

phonologischer Wandel 14 Physiologus 51

Lautwandel 14

Possessivpronomina 78

Lorscher Beichte 48

prädikatives Adjektiv 147

Ludwigslied 50

präterito-präsentische Verben 54, 66

Luthers Bibel 115

Primärumlaut 96 Pronomen 77 proportionale Analogie 21

M Mainzer Landfrieden 94 Merseburger Zaubersprüche 49

R

Minnesang 91

Restumlaut 96

Mitteldeutsch 85

Rheinfränkisch 85

Mittelfränkisch 85

Rhotazismus 61

Mittelhochdeutsch 12, 90

Ritterroman 91

mittelhochdeutsche Chroniken 93

Runen 38

mittelhochdeutsche Frikative 101 mittelhochdeutsche Kanzleisprache

Rückumlaut 64 93

mittelhochdeutsche Predigten 92

S

mittelhochdeutsche Texte 90

schwache Verben 54, 63, 103, 105,

mittelhochdeutsches Nomen 106 mittelhochdeutsches Verb 105

133

schwaches Adjektiv 82, 111, 145

morphologische Analogie 18, 19

sein-Perfekt 107, 110

morphologischer Wandel 19

Sekundärumlaut 96

Muspilli 49

Soziolekt 9 Sprachgruppe 30

N

Sprachkontakt 11

Neuhochdeutsch 12, 114

Sprachökonomie 11

neuhochdeutsch s 129

Sprachverwandtschaft 27

neuhochdeutsch sch 130

Sprachwandel 10

neuhochdeutsche Dehnung der Kurzvokale 121

Stammklassen (Substantiv)

neuhochdeutsche Diphthongierung 125

starke Verben 54, 104, 134, 137, 138

70

neuhochdeutsche Kürzung der Langvokale 120

starkes Adjektiv 82, 145, 147

neuhochdeutsche Monophthongierung 125

Steigerungsformen des Adjektivs 82

Nibelungenlied 90

syntaktischer Wandel 24, 107, 144,

Niederdeutsch 13

149

Register

T

Volksbücher 115

Tatian-Bilingue 47 W U

werden-Futur 149

Umlaut 36, 59, 96

werden-Passiv 24, 107

unbestimmter Artikel 111

würde-Konjunktiv 149

unregelmäßige Verben 68

Westfränkisch 85

Urgermanisch 34

Westgermanisch 39

Urnordwestgermanisch 36

westgermanische Konsonantendehnung 39, 62

Urostgermanisch 37

westgermanische Konsonantengemination 39, 62

Ursachen des Sprachwandels 10

Wortarten 53

Urwestgermanisch 39 Z V

Zahlwort 83

Variation 7

zusammengesetztes Demonstrativum 80

Vokalschwächung 94

zweite Lautverschiebung 41

1 S9