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German Pages 325 [328] Year 2011
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Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Niklaus Largier Mireille Schnyder Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Ute Störmer-Caysa
Volume 23
De Gruyter
Susanne Knaeble
Höfisches Erzählen von Gott Funktion und narrative Entfaltung des Religiösen in Wolframs ›Parzival‹
De Gruyter
ISBN 978-3-11-023473-2 e-ISBN 978-3-11-023474-9 ISSN 1612-443X
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Gesamtherstellung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
∞ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
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Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Universität Bayreuth im April 2009 als Dissertation angenommen und für die Drucklegung geringfügig überarbeitet. Von der Stadt Bayreuth wurde sie mit dem Preis für die beste geisteswissenschaftliche Dissertation ausgezeichnet. Für Kritik und Förderung gilt mein besonderer Dank meinen beiden Betreuern Gerhard Wolf und Ralf Schlechtweg-Jahn, die auf ihre je eigene produktive Art und Weise an der Entstehung dieses Buches beteiligt waren. Ihre Beratung und ihr Vertrauen waren für mich von großem Wert. Gedankt sei der Bayerischen Eliteförderung für finanzielle Unterstützung in der Form eines Promotionsstipendiums. Der Johanna und Fritz Buch GedächtnisStiftung (Hamburg) und der Oskar-Karl-Forster-Stiftung gebührt mein Dank für Druckkostenzuschüsse, welche mir großzügig zur Publikation dieser Arbeit gewährt wurden. Darüber hinaus danke ich den Herausgebern für die Aufnahme dieses Buches in die Reihe Trends in Medieval Philology. Dem Bayreuther Oberseminar danke ich herzlich für anregende Kommentare und spannende Diskussionen, welche mich auf zahlreiche ‚blinde Flecken‘ in der Beschäftigung mit diesem Thema aufmerksam gemacht haben. Hierbei sind insbesondere meine Kollegen Silvan Wagner und Viola Wittmann hervorzuheben, denen ich sowohl für methodische Diskussionen als auch für die gemeinschaftliche Auseinandersetzung mit einem bereits mehr als liebgewonnenen Text zu tiefstem Dank verpflichtet bin. Ganz herzlich danke ich zudem Sonja Feldmann und Nadine Hufnagel für ihr unermüdliches Engagement, ihre Dialogbereitschaft und die Korrektur dieser Arbeit. Ohne die Unterstützung meiner Freunde und meines Lebensgefährten Ralf Uhrich wäre diese Arbeit so nicht zustande gekommen. Deshalb danke ich ihnen von ganzem Herzen dafür, dass es ihnen stets und vor allem auch in schwierigen Situationen gelungen ist, mich zu inspirieren und in meiner Freude an der Wissenschaft zu bestärken. Ihnen widme ich dieses Buch.
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Inhaltsverzeichnis I.
Einleitung und Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Einführung ins Thema und epistemologische Prämissen . . . . . 2. Einordnung des Erkenntnisinteresses in die Parzival-Forschung . 3. Resümee der Forschungslage, Zielsetzung und Vorgehensweise der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Methodik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Luhmanns funktionaler Religionsbegriff . . . . . . . . . . . . . . 2. Anwendbarkeit des funktionalen Religionsbegriffs nach Luhmann auf höfische Texte des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Luhmanns funktionaler Kunstbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Narrative Funktionen Gottes: der Versuch einer systemtheoretisch orientierten Theorie des Erzählens . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Poetologische Selbstreflexion und Religion . . . . . . . . . . . . . . 1. Koinzidenz und Dynamik im Prolog – Erzählen von wundern . . 2. ich sage die senewen âne bogen – Selbstreflexivität höfischen Erzählens im Bogengleichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kyot als narratives Prinzip – der intratextuelle Selbstentwurf des Parzival . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Erzählen vom Gral und seinen wundern . . . . . . . . . . . . . . . . 1. daz was ein dinc, daz hiez der Grâl: märchenhaft göttliche Magie oder die Funktionen des Grals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Semantisierungen und erzählerische Darstellung der wunder des Grals . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Die Worte des einsidel – Trevrizent als Körper der Erzählung vom Gral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Die Utopie des Grals – oder seine Funktion in einer feudal-adligen Herrschaftsideologie . . . . . . . . . . . . . 1.4. Visualisierung der höfisch laientheologischen Heilskonzeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Die Heiligung des Sippenkörpers – oder: der Gral als Symbol einer laientheologischen Herrschaftsideologie . . . 2. Die Hüter des Grals und ihre Geschichten . . . . . . . . . . . . . 2.1. Geschichte und Funktion der ‚neutralen Engel‘ . . . . . . . 2.2. Geschichte und Funktion der Gralshüter von Munsalvaesche 2.3. Erzählen von Artushof und Gralshof – ein hierarchisches Verhältnis? . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Dekonstruktion der Utopie . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis
3.1. Dysfunktionalität und Scheitern von Normen – Paradoxien des Höfischen und die Absenz Gottes am Beispiel der Figur des Gurnemanz . . . . . . . . . . . . . 3.2. Exkurs: wunder am Artushof oder der Konflikt mit Ither – Erzählen von Paradoxien artushöfischer Normsetzung, der Funktion göttlichen Wirkens und der sünde . . . . . . 3.3. Spiegelungen – Erzählen von Erlösung . . . . . . . . . . . V. Überlegungen zum höfischen Erzählen von Gott und Heil, zur Funktion und narrativen Entfaltung des Religiösen – Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Primärliteratur und Übersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Forschungsliteratur und Hilfsmittel . . . . . . . . . . . . . . . .
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Einführung ins Thema und epistemologische Prämissen
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I. Einleitung und Stand der Forschung 1. Einführung ins Thema und epistemologische Prämissen Die thematische Relevanz von Religion in Wolframs Parzival ist unumstritten. Die Akzentuierung der exzeptionellen Bedeutung der Gottesbezüge und entsprechende Fragestellungen nach dem ‚religiösen Gehalt‘ des Textes gehören zur longue durée in den Interpretationen der Parzival-Forschung. Was allerdings zum einen eine fortwährende thematische Kontinuität erlaubt, muss zum anderen notwendig durch entscheidende Paradigmenwechsel in den Betrachtungsperspektiven gekennzeichnet sein. Das Thema Religion im Parzival stellt hierbei keine Ausnahme dar. Es fällt überdies auf, dass die Fokussierung religiöser Bedeutungszusammenhänge wie kein anderes Thema auch die Auseinandersetzung mit der eigenen Perspektive und möglichen Beobachterhaltungen zu provozieren scheint, und damit auch ausdrücklich zu wissenschaftlicher Transparenz, im Sinne einer Offenlegung des eigenen Beobachterstandpunktes, auffordert. Beispielsweise hat bereits Mohr 1951 in einem Vortrag vor der Studentenschaft der Universität Basel zum Verständnis des Religiösen die Verortung seiner eigenen Lektüre offenlegende und persönliche Worte gewählt, indem er sich als Interpret der Nachkriegsgeneration zu erkennen gab.1 Und auch Wapnewski leitet seine 1955 erschienenen Studien zur Religiosität und Form mit der Formulierung der Einsicht in den eigenen notwendigerweise beschränkten Wahrnehmungshorizont ein.2 In der Religion fokussierenden Parzival-Forschung scheinen solche, den eigenen Beobachterstandpunkt und die eigene Begrenztheit einsehbar machende, Bekundungen nahezu topisch geworden zu sein. Diese Herausforderung von Transparenz der Beobachterperspektiven, welche die Thematisierung des Religiösen offenkundig gerade dem modernen Rezipienten stellt, liegt dabei aber auch in ihrem Gegenstand selbst begründet: Die Auseinandersetzung mit der 1
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„Ich gestehe, daß mein Bild von Wolframs Dichtung und von dem Menschen Wolfram, aus dem hier ein paar Züge gezeigt wurden, in der Arbeit mit der Kriegsgeneration der Studenten während der ersten Jahre nach dem Zusammenbruch entstanden ist. In einer Zeit des Sichversinnens also. Dies Persönliche muß gesagt werden, denn es ist recht und billig, daß eine Interpretation von Dichtung es nicht verschweigt, in was für einem Spiegel ihr Bild erscheint. […] Was wäre denn auch Dichtung, wieso lohnte es, sich mit solch vergangenen Dingen abzugeben, wenn sie uns nicht helfen könnten in unserer eigenen Not?“ (Mohr 1952. S. 160). Wapnewski schreibt, dass „er sich immer bewußt gewesen [sei], daß jeder Versuch einer Interpretation zur Bescheidung, zur Bescheidenheit verpflichtet: weil doch der deutende Betrachter nie das Ganze wird sehen, weil er immer nur ein Teil der Wahrheit wird packen oder tasten können“ (Wapnewski 1955. S. 9).
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Einleitung und Stand der Forschung
Religionsthematik bedeutet stets zugleich auch die Auseinandersetzung mit Sinnstiftungsprozessen und Letztbegründungen. Und gerade daraus resultierende Fragestellungen nach Sinnpotential und -produktion zwingen den Interpreten im Besonderen dazu, über die Axiome seines Deutungsansatzes zu reflektieren und über die entsprechenden Analysekriterien Rechenschaft abzulegen. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Erkenntnis der Bedingtheit der eigenen Lektüre nicht auch den allgemeinen Anspruch der interpretierenden Literaturwissenschaft betrifft, sondern es soll lediglich betont werden, dass es epistemologische Gründe gibt, welche dem Thema Religion offenbar selbst inhärent sind, die eine Offenlegung des eigenen Frage- und Erkenntnisinteresses unabdingbar machen. Jede Interpretation ist bekanntlich Kind ihrer Zeit. Die Arbeiten der älteren Forschung haben in ihrer Konfrontation mit dem Religiösen daher mit einer eigenen Form der Sinnsuche reagiert, mit einer Art Entwicklung von eigenen Anthropologien, was sich in der Regel auch in Versuchen von Gesamtinterpretationen niedergeschlagen hat.3 Eine andere Umgangsweise hierfür bietet die Konzentration auf das Detail, die aber umgekehrt, insbesondere im Fall der Thematisierung von Sinnstiftungsprozessen, stets Gefahr läuft, durch Zerfaserung der Ergebnisse wichtige Zusammenhänge zu übersehen und schließlich den roten Faden zu verlieren. Vor diesem Hintergrund ist es der vorliegenden Arbeit ein Anliegen, mit ihrer Frage nach dem Religiösen im Text an einem epistemologischen Paradigmenwandel zu partizipieren, der erst in jüngerer Zeit in Form der erzähltheoretisch orientierten Parzival-Forschung in Erscheinung getreten ist.4 Und zwar handelt es sich dabei um eine wegweisende Richtung der gegenwärtigen Forschung, die auf der Basis von Narrativität Möglichkeiten des Erzählens und Kontingenzen des Erzählten zum Gegenstand macht. Sinnkonstitutionen und Bedeutungszusammenhänge werden nicht länger als ‚Gehalt‘ verstanden, sondern sie werden selbst als Produkte des Erzählens begriffen. Der grundlegende theoretische Zugriff auf den Text kann aufgrund seiner Frage danach, wie etwas narrativ produziert wird, im Wesentlichen als konstruktivistische Herangehensweise verstanden werden, wenngleich die Fokussierung von Konstruktionen und Erzählverfahren nicht immer explizit als solche benannt ist. Nun liegt es auf der Hand, auch ein geistesgeschichtlich schwer aufgeladenes Thema wie Religion nicht länger nur unter anthropologischen Gesichtspunkten und letztlich ontologischen Setzungen zu diskutieren, sondern es scheint an der Zeit, auch hiervon die Bedingungen und Möglichkeiten des Erzählens vom Religiösen näher in den Blick zu nehmen. Genau dieser Schritt, den Zusammenhang von Religion, Narration und den im Text 3
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Darauf wird bei der Einordnung des Erkenntnisinteresses der vorliegenden Arbeit in die Parzival-Forschung zurückgekommen werden. Auch hierauf wird im Forschungsüberblick näher eingegangen werden. An dieser Stelle soll es zunächst einmal darum gehen, die grundsätzlichen Prämissen der gegebenen Fragestellung nach dem ‚religiösen Gehalt‘ zu klären.
Einführung ins Thema und epistemologische Prämissen
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eingeschriebenen Beobachtungsmöglichkeiten zu beleuchten, stellt an sich ein Desiderat der Parzival-Forschung dar. Diesen Aspekt der Verknüpfung zentral zu setzen, bedeutet für die Paradigmen einer Analyse von Religionsbezügen zum einen nicht weiter nach ‚dem Sinn‘ im Parzival zu fragen, zum anderen heißt dies auch, die viel bezeugte Multiperspektivität und Polyvalenz des Textes ernst zu nehmen, um schließlich die entscheidenden Sinnstiftungsverfahren des Religiösen ermitteln zu können. Es gilt somit, die Eigenheit literarischer Verhandlungen von Gottesbezügen und dem Religiösen im Allgemeinen zu erschließen. Konstruktivistische Prämisse dieser Untersuchung ist dementsprechend die Grundannahme, dass es sich beim Beziehungsverhältnis von höfischem Erzählen und Religion nicht einfach um ein repräsentatives handelt, bei dem der ‚religiöse Gehalt‘ lediglich auf eine dahinterstehende Ordnung des Religiösen verweist. Dieser Repräsentationsgedanke scheint nämlich so überkommen wie die Meinung, Literatur habe selbst nicht Teil an soziokulturellen Denkschemata und sei nicht mehr als eine dichterische (zumeist im Sinne einer phantasiehaften) Überformung historischer Realität.5 Das Beziehungsverhältnis von höfischem Erzählen und Religion im Parzival in diesem Sinne als konstruktivistisches zu begreifen, heißt auch die Eigenleistung von Literatur einzuklagen. Es bedeutet den Versuch zu unternehmen, den erzählenden Text jenseits einseitiger Repräsentationsvorstellungen zu denken, seinen produktiven Umgang mit dem Religiösen wahrzunehmen, und zwar mit dem klaren Ziel, ein Textgewebe aus sich gegenseitig infiltrierenden religiösen und höfischen Erzählmustern zu durchleuchten. Man mag im Hinblick auf die konstruktive Eigenleistung von mittelalterlicher Literatur nun den Einwand einer anachronistischen Sichtweise erheben. Die Eigengesetzlichkeit will hier aber viel grundlegender verstanden sein. Freilich kann der höfisch erzählende Text nicht völlig unabhängig von bestehenden religiösen Vorstellungen gedacht werden. Aber nicht das bloße Umkehrprinzip zum Repräsentationsgedanken, Literatur produziere religiöse Vorstellung aus sich selbst heraus und für sich und ihre Kunstwelt allein, verspricht den entscheidenden Erkenntnisgewinn – was im Sinne von vollständiger Autonomie zu Recht ein ahistorischer Zugriff auf einen mittelalterlichen Text zu nennen wäre –; sondern es gilt zwar die mediale Form des Erzählens und seine Tradition und Konstitution als selbständig schöpfende Kraft zu denken, sie muss zugleich aber immer im Hinblick auf ein Zusammenspiel mit dem Religiösen vorgestellt werden. Fragen nach Funktionalität und Perspektivität erscheinen hinsichtlich solcher dezidiert erzählerischen Sinnstiftungsprozesse hieran nicht nur prinzipiell anschlussfähig, son5
Die Trennung rein ästhetischer und faktologischer Qualitäten von Literatur lässt sich wohl grundsätzlich nicht (und in Bezug auf die mittelalterliche Literatur schon gar nicht) aufrechterhalten. Als anschlussfähig und weiterführend erscheinen hierfür insbesondere mentalitätsgeschichtliche Ansätze. Versuche der Verknüpfung von Fiktionalität und Mentalitätshistorie finden sich beispielsweise bei: Schaefer 1996; oder auch bei: Dinzelbacher 1986.
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Einleitung und Stand der Forschung
dern dürfen auch als weiterführende Öffnung des Wahrnehmungshorizonts gelten. Funktionalität und Eigengesetzlichkeit von Literatur treten dabei nur in einen scheinbaren Widerspruch. Was auf den ersten Blick als antagonistisch erscheint, erweist sich sogar als eigentliche Bedingung: Einerseits hat Literatur natürlich die Aufgabe gesellschaftlich relevante Themen zu diskutieren, andererseits bedarf es dazu gleichzeitig aber eines gewissen Abstands, damit die Möglichkeit solcher Verhandlungen überhaupt geboten ist. Um ihre gesellschaftliche Funktion erfüllen zu können, muss Literatur ihren eigenen Raum schaffen, und diesen (Frei-)Raum schafft sie durch die Setzung eigener Bedingungen, unter denen sie formuliert. Der Reiz dieser Untersuchung liegt daher in der Verhandlung von höfisch erzählenden und religiösen Strukturen, ihrer gegenseitigen Durchdringung, der Partizipation am jeweils anderen, die gerade auch den Parzival mit keinem Text des Mittelalters oder der Gegenwart vergleichbar macht. Insoweit möchte sich diese Arbeit nach der Formulierung ihrer tendenziellen Exklusion aus einer hermeneutischen Forschungstradition auch als in selbige wieder inkludiert verstanden wissen. Eine konstruktivistische Methodik und der grundsätzlich hermeneutische Verstehensprozess schließen in der Literaturbetrachtung einander nicht grundsätzlich aus. Denn auch mit neuen theoretischen Ansätzen besteht noch immer die Notwendigkeit, sich aus der historischen Distanz und den grundlegend differenten epistemologischen Bedingungen heraus auf das gerade in religiöser Hinsicht Andere einzulassen, und „es“, mit den Worten Wapnewskis gesagt, „immer wieder zu versuchen“6.
2. Einordnung des Erkenntnisinteresses in die Parzival-Forschung Wolframs Parzival gehört zweifelsohne zu den meist interpretierten Texten der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters, ein Gros der Deutungen erkennt in der Religionsthematik das Kernstück seiner Dichtung. In der jüngeren Forschung ist es daher längst topisch geworden, auf die schiere Menge an Interpretationen und die daraus resultierende Unmöglichkeit hinzuweisen, einen ‚klassischen Forschungsüberblick‘ leisten zu können. Solche Überblicksdarstellungen der Beiträge zum Parzival haben sich in der Gegenwart zu einer eigenständigen Forschungsleistung entwickelt, die mit der Deutungsaufgabe der interpretierenden Literaturwissenschaft kaum mehr zu vereinen ist.7 Gerade im Versuch neue Perspektiven auf alte Themen zu gewinnen, muss daher in der Zusammenschau 6 7
Wapnewski 1955. S. 9. Diese Aufgabenteilung hat im Gegenzug dafür sehr gute Überblicksdarstellungen und eine laufende Bibliographie hervorgebracht, so dass der Zugriff auf die entsprechenden Themen extrem vereinfacht wurde. Zu nennen ist hierbei zunächst die fortlaufende Bibliographie Renate DeckeCornills, die seit 1984 in den Wolfram-Studien, seit dem Band X dieser Reihe, Neuerscheinungen zusammenstellt. Die ältere Forschung zu Wolfram findet sich verzeichnet in: Pretzel u. Bachofer 1968. Auch in dem mittlerweile in achter Auflage erschienenen Band Bumkes Wolfram findet sich zu den thematischen Punkten ein guter Forschungsüberblick (Bumke 2004).
Einordnung des Erkenntnisinteresses in die Parzival-Forschung
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dessen, was an Erkenntnissen in diesem Bereich bereits alles vorliegt, eine notwendige Beschneidung erfolgen. Im Folgenden wird im Hinblick auf das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit, das sich vorläufig grob in der Frage danach zusammenfassen lässt, wie das höfische Erzählen am Religiösen partizipiert, die Parzival-Forschung zur Religionsthematik des Textes exemplarisch dargestellt und problematisiert werden. Es ist Ziel der Forschungsdarstellung, in entsprechend angemessener Kürze zu verfahren und repräsentative Beispiele auszuwählen, anhand welcher methodologische Probleme der Analysen herausgearbeitet und diskutiert werden können. Es wird daher auch nicht grundsätzlich chronologisch vorgegangen, sondern wichtiger scheint im Interesse dieser Arbeit eine prinzipiell themenzentrierte und problemorientierte Darstellung bisheriger Forschungsleistungen. Zur Frage nach dem Religiösen lassen sich einschlägige Tendenzen der Forschung sehr anschaulich anhand der folgenden Formulierung Wapnewskis illustrieren: „Seitdem es eine Parzival-, eine Wolfram-Forschung gibt, war d i e exegetische Frage an den Dichter immer die Gretchen-Frage: Wie er es mit der Religion halte. Jedes Wolframbild wurde bestimmt von den religiösen Zügen, die man dem Dichter malte, und sei es nur ex opposito […]. Wolfram war der germanisch-heidnische Ritter, war der christliche Ketzer, war der scholastische Katholik, der vorreformatorische Protestant. […] Die Frage nach der Religiosität Wolframs ist die Frage nach seinem Werk schlechthin, ist die Frage nach Wolfram. Auf den Parzival übertragen, muß diese Frage lauten: Wie ist Parzivals Stellung zu Gott …?“.8 Hieran werden zwei Dinge ersichtlich, die auch im Besonderen das Bemühen um eine Gesamtinterpretation in der vornehmlich älteren Forschung evoziert haben: Das eine betrifft das Autorbild der Interpreten und das andere das Verhältnis von Theologie und literarischem Text. Zunächst zum Autorbild: Diese Fragestellung ist einerseits der Versuch einer Verortung der religiösen Position Wolframs als Autor, andererseits scheint hinter dieser Fragestellung immer noch eine andere, eine Frage von anthropologischer Natur, verborgen. Der Schlüssel des Textes wird hierbei in der Vorstellung gesehen, man könne, wenn nur der Verfasser einer bestimmten theologischen Ansicht zugeordnet worden sei, sein dichterisches Werk über diese Kategorisierung erschließen. Den Zugang zum theologischen Vorstellungshorizont des Autors meinte man vor allem im Schuld- und Bußverständnis des Parzival finden zu können. Gemein ist diesen Deutungsansätzen, dass sie diesen Zusammenhang in der Erklärung von Parzivals Sündhaftigkeit sehen, weil sie die ethische Verfehlung beschreibe, die das paradoxe Verhältnis des Schuldvorwurfs und der unterlassenen Frageleistung Parzivals verbinde: „Die Hartnäckigkeit der Forschung, mit der sie sich an diesem Punkt festbeißt, ist nur verständlich aus den Konsequenzen, die man glaubt daraus ableiten zu können. Es geht um nichts Geringeres als um die Bestimmung der religiösen Position Wolframs, wie er nämlich die dar8
Wapnewski 1955. S. 74.
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Einleitung und Stand der Forschung
gestellte Laienbeichte beurteile und ob oder wie weit er hier gegen die kirchliche Institution des Bußsakramentes Stellung beziehe“.9 Es geht in der Diskussion dieser Position somit auch gar nicht mehr um den Text, sondern gerade die Frage nach Schuld und nach dem Umgang mit ihr, hat hier viel eher zum Ziel, über die Betrachtung des Menschen Parzival zum dahinter stehenden Menschen Wolfram zu gelangen und diesen zu verstehen.10 Die Thematisierung von Schuld bedeutet hier in den Worten Mohrs „nicht nur ein eindringliches Nachdenken über mittelalterliche Dichtung und mittelalterliches Menschentum, sondern es zeigt auch, daß der ‚Parzival‘ uns heute etwas Besonderes zu sagen hat“.11 Man ist auf dieser Suche jedoch nie zu einer Einigung gekommen, die Antworten sind so zahlreich und die Meinungen so konträr wie nur denkbar.12 Als wichtige Vertreter der älteren Forschung gelten in der Debatte um Wolframs religiöse Position, mit welcher zugleich die Frage nach dem Sündenverständnis und ihrer Gewichtung untrennbar verbunden war, u. a. folgende Namen:13 Weber versuchte Wolfram als Reformator einer seiner Meinung nach veralteten Gottesvorstellung einzusetzen.14 Er kreidet Parzival später außerdem das Versagen auf der Gralsburg und seine anderen Fehltritte als Egozentrismus, als „unbezähmbares Ehreverlangen – Ich-Wille – Geltungsdrang“15 an, womit er gegen das Unterwerfungsgebot des Menschen gegenüber Gott verstoße.16 Hierbei ist an9 10
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Blank 1971. S. 143f. Philosophischer Hintergrund dieser Vorstellung ist natürlich die Idee des hermeneutischen Verstehens, sowohl in ihrer vornehmlichen philologischen Tradition Schleiermachers und Diltheys als auch in ihrer historischen Überformung Gadamers, der auch mit einer spezifischen „Horizontverschmelzung“ argumentiert. Mohr 1952. S. 149. Zu den theologisch orientierten Deutungen der Schuldproblematik vgl. die Forschungsüberblicke bei Wapnewski 1955. S. 75–84; Blank 1971 und Kordt 1997. S. 230–233; sowie die Forschungsangaben bei Bumke 2004 unter dem Gesichtspunkt „Parzivals Sünden und der Gral“. S. 125–134. Es sei hier nochmals darauf hingewiesen, dass hier kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird, da auch die schiere Masse der Interpretationen zu diesem Thema einige Meter Forschungsliteratur hervorgebracht hat. Es wird jedoch der Versuch angestrebt, um der wissenschaftlichen Verpflichtung dennoch gerecht werden zu können, repräsentativ zu verfahren. Weber schreibt über Wolfram: „Ihm gebührt vielmehr die Kennzeichnung als urtümlicher religiöser Genius“ (Weber 1935. S. 46). Die geistesgeschichtlich schwer vorbelastete Arbeit versucht anhand von Wolframs Text ein germanisches Christentum zu etablieren. Weber formuliert: „ … die vielfältige augustinische Unterwertung des Diesseitig-Natürlichen war der germanischen Menschheitsform ein stetes Hemmnis für eine vollgültige innere Einigung mit den christlichen Zentralideen, die dann die Gotik eben in Albert [gemeint ist Albertus Magnus; Anm. d. Verf.] und Wolfram vollzieht“ (ebd. S. 51). Weber 1948. S. 46. Er ist der Meinung, dass für den Menschen gilt: „Gott also ist gehorsame Unterwerfung zu leisten“ (ebd. S. 48). Der Autor, seine Position zur thomistischen Haltung, ist auch für Weber der Schlüssel zu einem allgemeinen Menschenbild, welches das mittelalterliche Rittertum mit dem Menschen seiner Gegenwart verbinde (ebd. z. B. S. 154: „Worum anders ging es denn als um die bange
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zumerken, dass diese Perspektive auf ‚das allgemein Menschliche‘ und das Scheitern an ethischen Werten und Tugenden dabei nicht allein für Weber kennzeichnend ist, sondern sie scheint der Debatte um das ‚Verstehen Wolframs‘ gewissermaßen bis zum bitteren Ende erhalten zu bleiben. Mockenhaupt gab mit seiner Lesart, Parzival verfüge aufgrund seines ausschließlich weltlichen Strebens über ein Defizit an menschlichem Mitempfinden, schließlich den entscheidenden Anstoß zu der noch immer fortwährenden Schuld- und Sünden-Diskussion,17 wenngleich diese Meinung beispielsweise zuvor bereits schon von Ehrismann18 und (allerdings in deutlich nationalistisch-faschistischer Einfärbung) von Keferstein 19 vertreten worden ist. An diese Position zu Parzivals mangelndem Mitleid schließt sich daraufhin auch Schwietering an, der Parzivals schwerstes Vergehen in der „versäumten Mitleidsfrage“20 sieht, vor der Schuld am Tod der Mutter, der Tötung Ithers und der Gottesabsage, da er durch dieses Versäumnis gegen die „religiöse-ethische Grundtugend der triuwe“21 verstoße. Schwietering deutet Parzivals größte Sünde als einen Verstoß gegen den „Wert“ seiner eigenen „Person“, weil sie das Verhältnis zu Gott betreffe, denn „triuwe geht bei Wolfram nicht zuerst auf die Beziehung von Mensch zu Mensch, die seine Dichtung in so mannigfaltiger Fülle ausbreitet, und dort übertragen auf das Verhältnis des Menschen zu Gott. triuwe ist für Wolfram primär die Liebe Gottes, die menschliche Liebe und Frömmigkeit entzündet; sie ist nicht Eigenschaft Gottes sondern Gott selbst“.22 Anders beurteilt Maurer dagegen die
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Frage, wie kann die menschliche Eigengesetzlichkeit, des Menschen Eigensein, mit der Allwirksamkeit Gottes, mit dem in Gott-Sein-Wollen und -Sollen, in Harmonie gesetzt werden?“). Mockenhaupt 1942. Auch bei Mockenhaupt steht das Verstehen des Menschlichen und des Menschen Wolframs im Zentrum. Vgl. hierzu beispielsweise S. 248: „Wolfram schrieb als Laie für Laien, als bewusster und verantwortlicher Erzieher des weltlichen Ritterstandes, in wohl märchenhaft unwirklicher Einkleidung, aber von Dingen, die das Leben eines Laien sehr tief angingen. Er schrieb nicht über den Gottesbegriff, sondern über das Verhältnis und das Verhalten des Menschen zu Gott; nicht über die Unzulänglichkeit und Neuersetzung einer veralteten Gottesvorstellung, sondern darüber, wie ein Mensch, der das Vertrauen zu Gott verloren hat, es später zu vertieftem und unverlierbarem Besitz wiedergewinnt“. Ehrismann 1908. S. 447–449. Für Ehrismann liegt eine Teillast dieses Verschuldens dabei allerdings auch auf der Erziehung Gurnemanz’. Keferstein 1937. S. 52. Keferstein schreibt der Christlichkeit im Parzival überdies ebenso laikalen Charakter zu wie Mockenhaupt, wenn er den „Akt der Nächstenliebe“ in der „ritterlich-höfischen Welt“ aufgehoben sieht: „Die Mitleidsfrage wäre vielmehr die in Parzivals Situation einzig richtige und notwendige Aktualisierung der höfisch-ritterlich-christlichen Lebensordnung …“ (ebd.). Dementsprechend beurteilt er Parzivals Verhalten auch durchaus schärfer und unterstellt ihm die volle Verantwortung für seine Sünden (ebd. S. 13f.). Seine Untersuchung versteht sich, der Entstehungszeit entsprechend, als Studie „abendländischer, christlicher, deutschgermanischer Menschlichkeit“ (ebd. S. 105). Schwietering 1944. S. 59. Ebd. S. 60. Ebd.
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Schuld Parzivals, für ihn wiegt der Hass wider Gott am schwersten.23 Sein Bild des Dichters ist in erster Linie durch die Annahme bestimmt, Wolfram wolle die schicksalhaft tragische Situation des Menschen in der Welt zeigen. Das Leid trete einem in nahezu allen Figuren und Situationen entgegen: „das Leid im menschlichen Dasein; das Ausgesetztsein des Menschen, seine zwangsweise Verstrickung in das Leid bei der Begegnung mit anderen Menschen und in der Auseinandersetzung mit der Umwelt, sei es, daß er Leid bringen oder Leid erdulden muß“.24 Maurer formuliert als Grundgedanken des Werks ein grundsätzlich tragisches Leiden an der Welt; es würde immer wieder gezeigt werden, „wie der Mensch, auch ganz ohne es zu wollen und ohne es zu wissen, in Leid verstrickt wird, sich und andere durch sein Dasein oder seine Art in Leid bringt“.25 Demgegenüber versteht Mohr den Text von einer Gnadenideologie her. Die schlimmste Sünde Parzivals sieht er in der Tötung Ithers, im Verwandtenmord, wofür der Mensch nicht büßen, sondern nur mehr auf die Gnade des Gottes der Liebe hoffen könne. Denn „[n]ur wenn der Mensch nicht dem Richtergott, sondern dem Gott der Liebe begegnet, darf er auf Gnade hoffen“.26 Für Mohr vermittelt Wolfram durch Einsicht in die Sündhaftigkeit das Vertrauen auf Gottes Hilfe: „Nicht auf die Hilfe eines höfischen Gottes, der dazu da ist, einen tüchtigen Ritter vor Schaden zu bewahren, um sich seiner als brauchbaren Dieners zu versichern; sondern angewiesen auf die Gnade des Gottes, der aus Liebe zum Gesippen der Menschen geworden ist, um sie von ihren Sünden zu erlösen“.27 Wieder anders gewichtet Wapnewski die Schwere der Sünden Parzivals. Er sucht in seiner Darstellung nach einer Grundlage, woraus Sündhaftigkeit überhaupt erwächst. Diese findet er als Auslöser einer Sündenkette in Parzivals chronologisch erstem Vergehen, dem Ausritt von der Mutter, er schreibt hierzu: „Es liegt auf der Hand – und es steht im Text –, daß er ausreitend aktiv Sünde ‚tat‘ – während er auf der Gralsburg leidend die Sündhaftigkeit seiner Person manifestiert – und mehrt“.28 Wapnewski meint aus der Aktivität, mit der die Sünde begangen wird, eine Kausalität von Sünde und Leid als Strafe Gottes ableiten zu können, die er jedoch explizit nicht als mechanische Verkettung denkt, sondern als Teil des menschlichen Unvermögens, Gottes Wege zu durchschauen. Auch seine Darstellung nimmt Wolfram als Vermittler von allgemein Menschlichem, insbesondere von menschlicher Beschränktheit im Angesicht Gottes wahr.29 Die Setzungen oder Analysekriterien, durch welche Wapnewski zu dieser Erkenntnis gelangt, bleiben dabei allerdings ebenso im Dunkeln wie die Motive von Gottes Handeln in seiner Darstellung. Die Logik der methodologischen Herange23 24 25 26 27 28 29
Maurer 1950. Maurer 1951. S. 116. Ebd. Mohr 1952. S. 155. Ebd. S. 156. Wapnewski 1955. S. 93. Vgl. ebd. S. 85–100.
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hensweise scheint außerdem in Gefahr, wenn zur Erklärung für einen bestimmten Punkt, im Falle Wapnewskis der Ausritt von der Mutter, ein sich dem Text entziehender Gesamtzusammenhang, hier: die Kausalität von Sünde und göttlicher Strafe, herangezogen wird. Es wird also vorausgesetzt, was es erst zu beweisen gilt.30 Wie in den bereits zuvor genannten Untersuchungen fehlt es auch dieser Analyse im Versuch, den ‚Gesamtsinn‘ des Textes erfassen zu wollen, entscheidend an interpretatorischer Textnähe. Diese Kritik an Methodik und mangelnder literaturwissenschaftlicher Beweisführung gilt aber freilich nicht allein Wapnewski, sondern sie ist, wie in der Forschungsdarstellung einleitend formuliert, exemplarisch für die gesamte Forschung, die vorgibt, sich um die Religiosität Wolframs zu bemühen. Das eigentlich Problematische dieser Verfahrensweise steckt hierbei aber nicht einmal im Autorbild selbst, konkret: im unreflektierten Umgang mit den Größen Autorschaft, Werk und literarischem Text – wenngleich hier ebenso notwendig einzuhaken wäre –, das Prekäre daran ist, wie bereits angedeutet, in ihrem anthropologischen Charakter angelegt.31 Die Konstanten des ‚ewig Menschlichen‘ verleiten häufig dazu, den Produktions- und Konstruktionscharakter von Gesellschaften, insbesondere auch in ihrer historischen Dimension, zu ignorieren und stattdessen nach überzeitlich gültigen Identifikationsmerkmalen vergangener und gegenwärtiger Kulturen zu suchen. Prekär ist dies im Hinblick auf den literarischen Umgang mit kulturellen Aspekten auch insbesondere deshalb, weil der anthropologische Zugriff auf den literarischen Text einen direkten Zugriff auf Kultur suggeriert, anstatt das literarische Spiel, die Brechungen und Perspektivierungen erzählender Texte mit in den Blick zu nehmen. Konkret sind es also zwei Argumente, die gegen einen anthropologischen Zugang sprechen: Erstens pflegt das ‚ewig Menschliche‘ im Allgemeinen eine unreflektierte Projektion der eigenen gesellschaftlichen Verhältnisse zu sein; und zweitens stellen literarische Texte be30
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Vgl. hierzu auch die Kritik Blanks, der Wapnewski und mit ihm der gesamten Forschung der 1950er und 60er Jahre vorwirft, dass willkürlich eine Passage herausgepickt und „der Stellenwert der Textaussage im Gesamtaufbau vergewaltigt“ worden sei (Blank 1971. S. 138). Zur grundsätzlichen Kritik an der methodologischen Anwendung von Anthropologie in den Literaturwissenschaften vgl. Bachorski 1998. S. 265: „‚Anthropologie‘, und sei es die Historische, enthält in der Literaturwissenschaft […] immer zwei Gefahren, die sich paradoxerweise vortrefflich ergänzen. Zum einen verleitet das zunächst ja durchaus dialektisch angelegte Konzept von ‚transkulturellen Konstanten und kulturellen Varianten‘ unter der Hand dazu, von der Existenz verschiedenster Konstanten der menschlichen Natur auszugehen […], statt sie kritisch zu prüfen, auch hinsichtlich ihrer hermeneutischen Selbsttäuschung. Zum anderen ist mit dem ‚Menschenstudium‘ […] ein ausschließlich inhaltlich bestimmtes Raster vorgegeben, während die literarischen Aspekte des Materials – der modus dicendi der jeweiligen Gattung und die Metaphorik, Perspektivierung und Erzählhaltung etc. – eher in den Hintergrund treten“. Die Anforderung an eine solche Methodenwahl wäre daher zumindest die Reflexion der Prämissen bzw. müsste auch dringend überdacht werden, wie Erkenntnisse aus den literarischen Texten gewonnen werden können, ohne dass die anthropologischen Grundannahmen lediglich bestätigt und selbst zum Ergebnis der Untersuchung gemacht werden.
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reits eine Form der Reflexion von Kultur dar und erlauben insofern keinen naiven Zugriff darauf, ‚wie es wirklich ist oder war‘. Es ist wohl kaum Zufall zu nennen, dass auf der Basis dieser Fragerichtung nicht einmal ein Ansatz von Einigung entstanden ist. Bereits in den 1950er Jahren ist aufgrund der Pluralität an Ansichten ein Forschungsbericht mit dem Titel „Wolframforschung in der Krise“32 erschienen. Zu Beginn der 1960er Jahre formuliert Schröder schließlich für die Wolframforschung die Notwendigkeit, „aus der Sackgasse, in der sie sich befinde, herauszukommen“.33 Doch auch dieser Versuch muss aufgrund seiner zweifelhaften Methodik, in Wolframs Text immer wieder ein Menschenstudium sehen zu wollen, als gescheitert gelten.34 Dieses Scheitern erklärt sich anhand der zitierten Beispiele aus dem rein hermeneutischen Versuch heraus, Wolfram als Vermittler des allgemein Menschlichen zu verstehen. Was dabei nämlich passiert, ist nicht mehr allein die Anwendung von anthropologischen Prämissen, ist nicht einmal mehr ein Versuch einer anthropologischen Deutung zu nennen, sondern stattdessen wird der Rezipient dieser Darstellungen direkt in die Anthropologie des jeweiligen Forschers (nicht Wolframs!) hineingezogen. Es findet hier keine Anwendung von Anthropologie oder Theologie statt, sondern sie werden in den konfessionsartigen Formulierungen der Forscher selbst aktiv betrieben.35 Die Mehrdeutigkeit und Vielfalt der Sinnproduktionen des Textes, welche gerade durch die Religionsthematik besonders nachhaltig markiert sind, werden also vorwiegend dazu genutzt, dem eigenen Verstehenshorizont Identität zu verleihen. Fraglich wird damit natürlich, was auf diese Weise eigentlich über den Text ausgesagt wird: Wolfram wird dann vom Vermittler des allgemein Menschlichen zum Vermittler des eigenen Bekenntnis32
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Eggers 1953. Er moniert in diesem Beitrag an der ihm vorliegenden Forschung zu Wolframs religiöser Position bereits die Tendenz einer fragwürdigen Herangehensweise an den literarischen Text und nimmt sie als Krisenzeichen wahr. Er formuliert: „ … vollends aber gewinnt man den Eindruck einer Krisensituation angesichts der jüngsten deutschen Buchveröffentlichungen über Wolfram, die ausnahmslos das Problem der Religiosität, und dieses immer nur vom Parzival und dem Gralsymbol aus, behandeln, ohne jedoch in eine echte Diskussion einzutreten. Sie wenden sich vielmehr in monologischem Verkünderton an eine fiktive Gemeinde. Es ist, als suche in solchen Büchern unsere eigene, von schwerer Krise erschütterte Zeit Halt an der ungebrochenen, männlich festen Gestalt Wolframs, und seine Propheten ‚wissen‘ bereits, bevor sie die Feder nur ansetzen, was er uns zu künden hat“ (ebd. S. 275). Schröder 1963. S. 5. Schröders Ergebnisse verkommen mit dieser Perspektive ebenso zu Allgemeinplätzen wie die der früheren Forschung. Vgl. hierzu ebd. S. 102: „Es kommt wenig darauf an, worin im Einzelnen die ‚Sünden‘ des individuellen Menschen bestehen; der eine hat hier, der andere dort seine besonderen Schwäche. In der persönlichen Beichte wird immer von diesen Schwächen die Rede sein, das versteht sich von selbst. Voraussetzung jeder Beichte ist der bußfertige Wille, der auf wahrer Einsicht in Gottes Gedanken beruht. In diesem Willen und dieser Einsicht müssen pesönliche Schuld und Erbschuld notwendigerweise zusammenfallen“. Gegen diese Art der Rezeptionstheorie argumentiert in ähnlicher Weise auch Wolf, der in der Anwendung der Feldtheorie Bourdieuscher Provenienz für ein Widersprüche aufdeckendes Interpretieren plädiert. Vgl. Wolf 2001.
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ses, der interpretatorische Akt ist zur zelotischen Rechtfertigung geronnen. Hinter dieser Fragestellung und dem häufig damit verbundenen Versuch, Wolfram eine entweder bestimmte theologische oder aber häretische Haltung zuzuschreiben, verbirgt sich nicht selten das Bedürfnis, in ihm den geistigen Dichterfreund zu sehen, den Menschen Wolfram, der über die Zeiten hinweg als intellektueller Trostspender oder Rebell Vorbildfunktion hat. Der Wunsch nach der Einordnung Wolframs religiöser Position ist allerdings keineswegs nur auf die ältere Forschung beschränkt, sondern er scheint noch heute insbesondere im Hinblick auf die Häresiefrage von Relevanz.36 Die Unmöglichkeit, sich auf eine ‚richtige Interpretation‘ zu verständigen, entsteht dann nicht zuletzt aus einer über die Maßen gewichteten Subjektivität und der daraus resultierenden Intransparenz der Deutungsansätze. Interpretationsunterschiede werden so zu unlösbaren Meinungs- und Glaubensdifferenzen;37 eine Diskussion wird ausgeschlossen. An dieser Stelle gilt es jedoch auch zuzugestehen, dass solche literaturtheoretischen Schwächen, insbesondere der älteren Forschung, essentiell mit ihren zeitbedingten Fragehorizonten verwoben sind. Fragen nach der Funktionalität von Religion für den erzählenden Text waren und konnten in den Arbeiten der 50er und 60er Jahre dementsprechend nicht als erkenntnisleitend erachtet werden. Diese Art der Fragestellung, die Frage nach dem ‚wie?‘ statt dem ‚was?‘, hat in der Tat erst in jüngerer Zeit erheblich an Relevanz gewonnen. Der zweite kritische Punkt in der Forschungsdiskussion, für den ebenfalls die anfangs zitierten Worte Wapnewskis Pate stehen können und den es im Folgenden entsprechend zu überdenken gilt, ist das damit angesprochene Verhältnis von Theologie und Literatur. In diesem Zusammenhang hat sich Blank zu Beginn
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Von dem Versuch Wolfram eine häretische Position zuzuschreiben ist auch die jüngere Forschung keineswegs ausgenommen. Ernst ist beispielsweise noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts darum bemüht, Wolfram Kontakt mit den häretischen Strömungen des 13. Jahrhunderts nachzuweisen, auch wenn einzuräumen ist, dass er sehr viel vorsichtiger, sowohl methodologisch als auch mit dem Verhältnis von Theologie und Dichtung, verfährt und dem literarischen Text auch seine künstlerische Eigenheit zugesteht. Dennoch unterstellt er dem Dichter Wolfram sogar die gezielte Verbreitung häretischen Gedankenguts. Er schreibt: „Auffällig ist bereits, daß Wolframs angeblicher Gewährsmann Kyot ein Provenzale ist, d. h. Südfrankreich entstammt, wo Katharer zur Entstehungszeit der Dichtung konzentriert sind […]. Ebenso läßt sich die Laienbeichte, die Parzival bei Trevrizent ablegt, mit häretischen Formen religiöser Praxis in Verbindung bringen. […] Gerade die Gralsgemeinschaft, die als Geheimorganisation beschrieben wird, hat partiell einen ‚sektiererischen‘ Charakter mit sekreten Riten; ihr Name ‚templeisen‘ verweist auf die Templer, deren Orden zu Beginn des 14. Jahrhunderts in einem spektakulären Ketzerprozeß zerschlagen wird. Insgesamt wird man als vorläufiges Fazit ziehen dürfen, daß Wolfram trotz deutlicher Distanzhaltung gegenüber Kirchlichem zwar kein veritabler Ketzer gewesen ist, gleichwohl aber Ideen seiner Zeit, auch solche, die einen häretischen Anstrich besessen haben mögen, aufgegriffen und poetisch eigenständig verbreitet hat“ (Ernst 2000. S. 390f.). Es soll hier nicht der Eindruck entstehen, dass Harmonie ein Ziel der Forschung sein sollte, sondern lediglich auf die Auffälligkeit der Differenzen und die Hartnäckigkeit, mit der sie ausgefochten wurden, hingewiesen werden.
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der 1970er Jahre mit einem Beitrag zu „Mittelalterliche Dichtung oder Theologie? Zur Schuld Parzivals“38 kritisch, insbesondere gegenüber der früheren Forschung, zu Wort gemeldet. Er moniert dabei vor allem die fehlende Methodenreflexion und klagt die Berücksichtigung der historischen Kontexte ein, die in den bisherigen Forschungsdarstellungen zu wenig Beachtung gefunden haben. Er stellt hierbei das ‚Betreiben von Theologie‘ ebenso an den Pranger und fordert gleichfalls die Beachtung der Eigengesetzlichkeit literarischer Texte ein, indem er formuliert: „Zu leicht jedoch läßt sich der Philologe dazu verleiten, scheinbare Parallelen aus der Theologie in seinen Text hineinzutragen, ohne ihren Stellenwert im theologischen Begriffssystem oder ihre volle Konsequenz zu überblicken. Dadurch wird er meist weder dem dichterischen Text, noch der Theologie gerecht“.39 Dem ist zunächst vorbehaltlos zuzustimmen. Doch wie sieht es tatsächlich mit dem Umgang mit der Eigengesetzlichkeit von Literatur aus? Es lässt sich nämlich beobachten, dass in der Umsetzung des Vergleichs von theologischen und literarisch fiktionalen Texten ein weiteres Problem zutage tritt, das nicht allein die Forschung zur Religiosität mit anthropologischem Charakter betrifft. Es handelt sich dabei um eine spezifische Form der Einbindung in die Geistesgeschichte, in welcher der Versuch unternommen wird, theologische Aussagen, meist prominenter Theoretiker wie Augustinus oder Bernhard von Clairvaux, in den fiktionalen Schriften zu identifizieren. An einschlägigen Textstellen soll auf diese Weise der Einfluss bestimmter theologischer Lehren auf Wolfram, seltener auf den literarischen Text, nachgewiesen werden. Prekär erscheint an dieser einflussbestimmten Vorstellung insbesondere, dass sich theologische Aussagen in den literarischen Texten mehr oder wenig ungebrochen niederschlagen würden, wodurch die literarische Überformung eigentlich zum nur schmückenden Beiwerk degradiert wird. Man kann es eine ideologische Schieflage nennen, wenn das Verhältnis von Theologie und weltlicher Literatur als ein grundsätzlich hierarchisches gedacht wird. Für Forschungsdarstellungen, die mit solchen identifikatorischen Paradigmen operieren, wird im Folgenden der Begriff der Einflussforschung verwendet werden. Der Großteil der literaturwissenschaftlichen Forschung zum Religiösen (nicht nur) im Parzival wird von diesem Einflussparadigma beherrscht.40 Die Diskussion der Arbeiten, die unter Einflussforschung zu subsumieren sind, kann hier lediglich exemplarisch erfolgen. Es ist an dieser Stelle außerdem darauf hinzuweisen, dass Interpretationen, welche theologische Einflüsse zum Gegenstand haben, sich dabei vornehmlich entweder den Gesamtinterpretationen der deutlich älteren Forschung, der Parzival-Forschung von den 1930ern bis in die 60er Jahre hinein, zuordnen lassen, oder aber, in deutlich ge38 39 40
Blank 1971. Ebd. S. 148. Beispielhaft hierfür ist u. a. der Symposionsband anlässlich der Emeritierung Friedrich Ohlys, dem die germanistische Mediaevistik die Erschließung der Typologie für die literaturwissenschaftliche Forschung zu verdanken hat (Grubmüller 1984).
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ringerer Anzahl, sehr jungen Entstehungsdatums sind. Es handelt sich nämlich um Untersuchungen, die nach dem Jahr 2000 erschienen sind. Als Grund für diesen Einbruch in der Forschungsgeschichte muss ein allgemeines methodologisches Unbehagen gegenüber dem Rechtfertigungsdruck, den dieses Thema offenbar lange Zeit ausgeübt hat, angenommen werden, weshalb man sich bei der Frage nach dem Religiösen zunächst vor allem auf detailliertere Beobachtungen am Text, jenseits eines Religionsbegriffs, oder aber auf figurenzentrierte Entwicklungskonzepte gestürzt hat. Erst in den letzten Jahren wurde also das Experiment erneut gewagt, religiöse Repräsentanzen, Konzepte und Verhandlungen des Textes wieder in den Blick zu nehmen. Seitdem das „Primat des Religiösen“, von Schwietering eingeführtes und von da an geflügeltes Wort in der Parzival-Forschung, Gegenstand des Untersuchungsinteresses geworden ist, liegt eine Fülle an Ideen vor, mit welchen theologischen Größen der Text in Verbindung gebracht werden könnte. Zeichnet man jedoch die groben Linien der Analysen nach, so ergibt das Bild eine hohe Konzentration auf dem Gedankengut des Augustinus, des Thomas von Aquin und schließlich des Bernhard von Clairvaux. So sieht beispielsweise Maurer in Wolframs Leidauffassung die Sündenlehre Augustinus’ gespiegelt, „weil die Gedanken Augustins in der gesamten Theologie der Zeit der von uns untersuchten Dichtung wirksam gewesen sind; weil er die Grundgedanken ausgesprochen und in einer Weise formuliert hat, die für die ganze Folgezeit maßgeblich geblieben ist und als Grundlage für ihre Deutung und Erörterung gedient hat“.41 In seiner Argumentation unterscheidet er zwischen einer bewusst begangenen Sünde (peccatum) und der poena peccati, jener Sünde, welche nach Augustinus als Sündenstrafe aus dem peccatum hervorgeht und damit als erneute Sünde als Folge des ersten peccatum anzusehen ist.42 Jene Sünden, die Parzival angelastet werden, seien aufgrund ihrer erbsündlichen Belastung als poenae peccati zu beurteilen, also nur als Folgesünden, denn die Erbsünde schwäche den Menschen durch Ignorantia und Begierde schon zuvor. Maurer sieht vor diesem Hintergrund der Verstrickung in die Sünde „das Leid des Menschen in der Welt“43 als Hauptthema des Parzival. Die logische Schlussfolgerung daraus, die Maurer jedoch nicht erörtert, wäre allerdings, dass theologisch alle Tatsünden letztendlich nur poenae peccati, also Folgesünden wären 41
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Maurer 1951. S. 85. Gleichzeitig räumt er jedoch ein, dass die Wahl, Augustinus’ Lehre als Folie für seine Untersuchung heranzuziehen, nicht eben methodologisch begründet ist und daher seine Selektion auch nicht wissenschaftlich rechtfertigt, wenn er formuliert: „Es wäre erwünscht gewesen, die Ideen des Augustinismus im 11. bis 13. Jahrhundert im einzelnen überschauen und die Gedanken der bedeutenden Theologen dieser Zeit ebenfalls beiziehen zu können. Doch fehlen hier leider alle Unterlagen und Vorarbeiten“ (ebd.). Dem Leidbegriff nach Augustinus widmet Maurer das Kapitel „Das malum bei Augustinus“ (ebd. S. 85–97). Später verknüpft er den Augustinischen Sündenbegriff mit Wolframs katholischer Frömmigkeit, die sich nach Maurers Meinung im Parzival niederschlage (ebd. S. 146–151). Ebd. S. 115.
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und dem Menschen die Möglichkeit bewusster Sünde eigentlich vollständig abgesprochen wird.44 Doch das ist es wahrscheinlich sogar, was er mit ‚dem tragischen Leid in der Welt‘ meint. Wapnewski sieht in Maurers Argumentation daher spezifische Schwierigkeiten und wirft ihm mangelnde Konsequenz in der Übertragung des augustinischen Theoriekomplexes vor, auch wenn er die prinzipielle Herangehensweise über die Theologie des Augustinus durchaus teilt: „Es verstärkt sich damit die Gewißheit, daß das Problem von Wolframs Religiösität, von Parzivals Schuld und Sünde und Begnadung vor dem Hintergrund der Lehre Augustins […] gesehen werden muß. […] Die Dichtung erweist, daß Augustinischer Geist in ihr ist. Unsere Untersuchung erweist, daß nur die Kenntnis der Augustinischen Sündenlehre und Bußpraxis den dunklen, tiefen, so rätselhaft anmutenden Parzivalweg erhellen kann“.45 Er bemüht sich darum, besser als Maurer die Kausalität augustinischen Denkens auf den Text zu übertragen. Leider schießt er dabei, wie bereits erwähnt, deutlich über das Ziel hinaus und unterwirft den literarischen Text der theologischen Deutung. Einflussforschung ist, auch wenn bis hier teilweise der Eindruck entstanden sein mag, wie gesagt, keinesfalls nur ein Phänomen der älteren Forschung. Noch in der jüngsten Forschung besteht offenkundig das Anliegen, den geistesgeschichtlichen Horizont Wolframs zu erschließen. Ein wichtiger Unterschied zu früheren Arbeiten liegt im häufig praktizierten Versuch, nicht einen ganz bestimmten geistigen Vater für Wolframs Text auszumachen, sondern stattdessen trachtet man nun danach, die Traditionslinien und ihre Knotenpunkte in einem spezifischen Diskurs zu eruieren. Bemerkenswert scheint dabei, dass die Öffnung hin zu einer Pluralität an theologischen Einflüssen der Präsenz des zuvor genannten Triumvirats geistlicher Denker keinen eigentlichen Abbruch getan hat. Beispielhaft hierfür ist die Darstellung Cessaris, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, „den philosophischen Hintergrund der Wolframschen Lichtmetaphorik in ausführlicher Form zu rekonstruieren“.46 Als theologische Paradigmen ihrer Untersuchung zieht Cessari sowohl Vorstellungen antiker Lichtmetaphorik als auch die Theoreme augustinischer Illuminations-, Erbsünden- und Gnadenlehre heran.47 Davon separiert sie die Darstellung der ästhetischen Paradigmen, für welche sie die „aus Augustinus und Dionysius Areopagita in der Frühscholastik entwickelte Theorie des Schönen“ etabliert.48 Innerhalb der Textanalyse spielt auch für Cessari insbesondere Augustinus’ Gnadenlehre immer wieder eine prominente Rolle, wenngleich sie das Spektrum der Einflüsse, unter besonderer Berücksichtigung der mittelalterlichen Philosophen Bernardus Silvestris und Thierry von Chartres bzw. der für ihre eklektizistische Arbeitsweise bekannten Schule von 44 45 46 47 48
Zur Kritik an Maurer vgl. auch Blank 1971. S. 137. Wapnewski 1955. S. 111f. Cessari 2000. S. VIII. Cessari widmet der Darstellung dieser Paradigmen das Kapitel 2.2. Vgl. ebd. S. 39–59. Vgl. hierzu das gleichnamige Kapitel 2.3. (ebd. S. 59–74).
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Chartres, deutlich geweitet sieht.49 Mit dieser Ausdehnung des theologischen und philosophischen Einflussstroms gewinnt Cessari die Möglichkeit des Ausbruchs aus der Eindimensionalität der älteren Forschung. Sie muss sich nicht mehr dazu verpflichtet sehen, eine theologische Theorie als Grundlage für die gesamte Dichtung zu identifizieren. Damit wird ihre Analyse zugleich frei vom apologetischen Zwang spezifischer Glaubensaussagen, der die ältere Forschung noch umgetrieben hat. Erhalten geblieben ist jedoch die signifikante Vorstellung, der literarische Text sei bloßer Repräsentant theologischer und philosophischer Ideologien. Bei der Lektüre ihrer Arbeit erhält man den Eindruck, der erzählende Text Wolframs sei in den Augen Cessaris eine philosophische Problemstudie.50 Indem sie die literarischen Qualitäten und Eigenheiten des Parzival außer Acht lässt, reduziert sie den Text auf die Wiedergabe eines philosophischen Streitgesprächs. Einschlägig sind hierfür Formulierungen wie: „Wenn Augustinus Dichter gewesen wäre, wäre ihm wahrscheinlich genau dieses Gleichnis noch zusätzlich in die Feder geflossen …“51 sowie das Schlusswort ihrer Studie zum „elsternfarbenen Licht“, worin sie schreibt: „Der ‚heidnische‘ Humanist Bernardus Silvestris widerspricht dem Kirchenfürsten Augustinus“; und Bernardus wie auch Wolfram hätten entgegen der orthodoxen Position Augustinus’ eine „exzentrische“ Präferenz für den „Gott der Philosophen“, der das „elsternfarbene Licht“ sei, denn die Schönheit dieses Lichts transportiere zugleich auch dessen Tragik.52 Folglich nimmt auch diese jüngere Arbeit die Eigengesetzlichkeit des fiktionalen Textes nicht ernst. Sie ignoriert die mediale Brechung des philosophischen Diskurses und macht aus einer bestenfalls mittelbaren Verhandlung einer philosophischen Diskussion eine direkt unmittelbare. Vermutlich ist es bereits der Fragestellung anzulasten, dass die Literatur auch hier wie bereits in der älteren Forschung mit einem theologischen Gewebe überzogen wird, so dass man gezwungenermaßen fragen muss, auf welche Maschen man da eigentlich blickt. Die augustinische Lehre als Grundlage für seine Interpretation ebenfalls für nicht ausreichend gehalten, bzw. in seiner Darstellung sogar abgelehnt, hat bereits schon Weber, wenn auch aus völlig anderen, seiner Schaffenszeit entspre-
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Diese Auseinandersetzung bestimmt das 4. und letzte Kapitel Cessaris Arbeit (ebd. S. 167–248). Beispielsweise ordnet Cessari den Figuren ein strikt schematisches Wahrnehmungsschema ihrer Begrifflichkeiten zu, wodurch die Differenzierung zwischen den Beobachterpositionen der textimmanenten Figuren und der externen Interpretin verschwindet. Sie formuliert z. B.: „Cundrie stellt Parzivals Schönheit als ‚trügerischen Schein‘ an den Pranger; das Versäumnis der Frage auf der Gralburg entpuppt in ihren Augen die visibilis pulchritudo des Helden als seelische deformitas. […] Cundrie repräsentiert auf sehr plastische Weise die oben beschriebene christliche Umwertung des Häßlichen, das nunmehr mit dem Anspruch der moralischen Tugend als Gegensatz zum ‚schönen Schein‘ auftritt. Sie personifiziert die metaphysische Dichotomie von ‚Wesen‘ und ‚Erscheinung‘, von forma und essentia, in deren Rahmen die Erscheinung des ‚reinen Toren‘ ein ungeheures Skandalon darstellt“ (ebd. S. 120). Ebd. S. 122. Ebd. S. 247f.
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chenden Gründen. Er spricht sich gegen Augustinus als Vorlage aus, weil dessen Vorstellungen „germanische[n] Uranlagen“ nicht gerecht würden und „charakteristischerweise von der augustinischen Weltansicht immer nur gewisse Elemente und Ausschnitte, sehr selten aber das antithetisch-dualistische Gesamtsystem die germanische Seele sympathetisch erregt haben“.53 Weber versteht das theologische Gedankengut des Parzival als Vorausgriff auf die Lehre des Thomas von Aquin, da die entscheidenden thomistischen Ideen in Wolframs Werk bereits angelegt seien: „die thomistische Grundhaltung ist die Jahrhundertsehnsucht, schon im staufischen Rittertum“.54 Nach seiner Meinung entwerfe Wolfram gegenüber dem anthropozentrischen Weltbild ein theozentrisches. Klares Ziel der Analyse Webers ist es, Wolfram als bedeutenden deutschen Dichter im nationalistischen Sinn darzustellen, wozu er ihm uneingeschränkte Weitsicht, unvergleichliche Genialität und reformatorische Bestrebungen unterstellt. Ein Vordenker seiner Zeit sei er insbesondere aufgrund besagter Vorwegnahme essentieller Gedanken der thomistischen Theologie gewesen.55 Wolfram und Thomas vereine der Gedanke der Ausgeglichenheit, der sie gleichermaßen zu ‚Befreiern‘ der tragischen Seele mache: „So Thomas für seine Zeit und insbesondere auch für den Laien seines Jahrhunderts – so auch Wolfram, so Wolfram kraft seiner erlebnismäßig-dichterischen Vorausnahme thomistischer Haltung und Seinsweise“.56 Es ist hierbei nicht zu übersehen, dass Webers Ausführungen einem bestimmten und fragwürdigen Zweck dienen, sein geistesgeschichtlicher Entwurf germanisch-deutscher Christlichkeit ist schlicht zurückzuweisen. Aber dennoch lässt sich an seinem Deutungsansatz etwas durchaus nicht Irrelevantes zeigen: Weber hat nämlich die Begrenztheit der schematischen Anwendung augustinischer Lehre erkannt, weil er Wolfram in erster Linie als theologischen Laien wahrnimmt. Seine Aussagen über Wolframs Laientum verdienen vor allem deshalb Beachtung, weil sie auf den Aussagen des Parzival beruhen und damit eigentlich mehr über das für diese Arbeit relevante Selbstverständnis des erzählenden Textes aussagen als über eine dahinterstehende ominöse Autorfigur, auch wenn diese noch, insbesondere hinsichtlich ihres Stellenwertes, erzähltheoretisch zu perspektivieren wären:57 Er schreibt zwar über den Autor, meint aber als positive Aussage wohl den
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Weber 1935. S. 50. Weber 1948. S. 155. „Damit ist nun freilich die Behauptung aufgestellt, daß eben der thomistischen Grundhaltung, d. h. der vollgültig ausgewogenen Zweiseitigkeit des In-Gott-Seins und des Eigenseins, eine außerordentliche existenzielle Bedeutung, und zwar noch dazu von höchstem geistesgeschichtlichen Gewicht, überdies konkret: geschichtlicher Originalität zukomme“ (ebd.). Ebd. S. 158. Vgl. ebenso S. 159: „So ist die tatsächliche Verwandtschaft der Wolframschen und der thomistischen Grundposition im entscheidenden Problem des Gott-Mensch-Verhältnisses überaus deutlich“. Gemeint ist damit, worauf später zurückgekommen werden wird, dass auch die Aussagen der Erzählinstanz des Parzival nicht als Aussagen Wolframs oder als Aussagen über den gesamten Text
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Text, wenn er Wolframs Wissen anzweifelnd formuliert: „Zudem ist Wolfram Laie, zwar voll echter Ehrfurcht gegenüber wahrhaftem Priestertum, aber doch sogar betonter Laie, mit dem ganzen Stolz seines nicht-theologischen, nicht gelehrten Standes, von Hartmanns gelehrtem Rittertum grundsätzlich und sehr bewußt verschieden. Wie stand es da wohl mit den theologischen und religionsphilosophischen Kenntnissen, wie mit den Bildungsvoraussetzungen dazu? Wir wissen heute längst, daß er ein weitschichtig gebildeter und bewanderter Mann war. Und dennoch: als geklärtes und gesichertes Wissen (gemeint natürlich im Sinne der Zeit) besaß er gewiß sehr wenig […]. Und wieviel wußte er wohl von den christlichen Theologen und Philosophen, von Augustin, Bernhard, Hugo von St. Viktor, Joachim und was würde er von Thomas gewußt haben? Unmittelbar vermutlich nichts. Fast bei jedem anderen hätte es immerhin mehr Sinn, nach Beeinflussungen und Abhängigkeiten von dem einen oder dem anderen, der einen oder der anderen Strömung zu fragen“.58 Sieht man nun über Webers fraglichen Autorbegriff hinweg, so lassen sich aus seinen Überlegungen einige lohnende Schlussfolgerungen ziehen: Unter dem Fokus einer Laienkultur kann legitimerweise kaum mehr danach gefragt werden, welche theologischen Texte der Autor des Parzival gelesen haben könnte, er ist kein bloßer Übermittler von Theologie, sondern er wird als mit religiösem Gedankengut arbeitender Dichter verstanden. Religiöse Vorstellungen in der laikalen Literatur können dementsprechend, oder müssen sogar, jenseits eindeutig direkter Einflussnahme gedacht werden. Der künstlerische Schaffensprozess wird hier auch in religiöser Hinsicht als tendenziell eigengesetzliche Operation begriffen. Grundsätzlich ist es auch nicht undenkbar und sogar wahrscheinlich, dass in der Kunst allgemein und speziell auch in der Literatur, innerhalb ihrer spezifischen Formen philosophische Gedanken entwickelt werden, die sich relativ unabhängig zum entsprechenden Spezialdiskurs, genauer seiner schriftlichen Fixierung, verhalten. Warum sollten sich in der prinzipiell christlichen, aber laikalen Literatur des Hochmittelalters dann nicht auch Ideen finden lassen, die sich in der Theologie erst später schriftlich niederschlagen? Webers Interpretation von Wolframs Vorausgriff auf Thomas von Aquin muss daher nicht deshalb als zweifelhaft angesehen werden, weil die historische Chronologie eine solche Einflussnahme prinzipiell ausschließt, zweifelhaft wird sie, wie bereits zuvor erwähnt, aufgrund mangelnder methodologischer Reflexion im Dienste einer Gesamtinterpretation und ihrer Verzweckung innerhalb einer germanisch-deutschen Nationalideologie. Webers Ansatz zu einer Laienkultur erweist sich trotzdem als anschlussfähig, wenngleich seine offenkundige Instrumentalisierung innerhalb eines entsprechend geistesgeschichtlichen Horizonts ebenso wie andere einflussorientierte Deutungen zu Eindimensionalität und einer gewaltsamen Anpassung des Textes führt.
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zu verstehen sind, sondern stets vor einem spezifischen Bezugshorizont formuliert und damit perspektiviert und teilweise auch relativiert werden. Weber 1948. S. 99f.
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Weitere Exempel der Einflussforschung haben noch einen anderen berühmten mittelalterlichen Theologen als Folie ihrer Interpretationen gewählt: Für Schwietering ist die im Parzival dargestellte mittelalterliche Frömmigkeit beispielsweise deutlich durch die Leidensmystik des Bernhard von Clairvaux bestimmt. Das zeremonielle Klagen und Trauern der Gesellschaft am Gralshof, ihre compassio im Angesicht der blutenden Lanze, ist für Schwietering wichtiger Schlüssel des Textes:59 „Und eben darum geht es in der Wolframschen Dichtung. […] Ihr Jammer und Klagen ist compassio, Leidensversenkung, nach der die Gralritter verlangen. […] Leiden der Gralritter und Gralfamilie im Wolframschen Parzival ist Leidensfrömmigkeit …“.60 Die Teilhabe am Leiden, das Leiden im Mitleiden, wird in Schwieterings Deutung nicht nur Zentrum der Prozessionsszene auf der Gralsburg, sondern er sieht den gesamten Text davon durchzogen. In jedem triuwe-Verhältnis, gleich ob es Parzival, Herzeloyde, Trevrizent oder auch Sigune betrifft, findet er es repräsentiert. Er definiert dieses durch triuwe bestimmte Leiden als eine Art Lebenshaltung. Dabei scheint für ihn das Prozessuale, der rituelle Vollzug, das eigentlich Entscheidende zu sein, da so der Gotteskontakt erwirkt wird. Durch die Leidensstimmung der Beteiligten wird „eine mystische Ursituation“ geschaffen, die diese Gotteserfahrung ermöglicht: „Leiden ist Läuterung, Sühne und Opfer, die die Erlöserliebe des Gekreuzigten in sich schließt und daraus ihre Kraft schöpft. Leiden ist triuwe und trifft ins Herz. Tränen und Klagen, die von Herzen kommen, sind sichtbares Zeichen dieser Leidenstriuwe und -frömmigkeit, die mit und in der Näherung von Mensch zu Mensch Näherung an Gott bedeutet, der durch das Leiden ruft und zu sich zieht“.61 In der poetischen Umsetzung der mystischen Leidensfrömmigkeit der „Bernhardischen Epoche“ offenbart sich für Schwietering Wolframs „dichterischer Genius und religiöser zugleich“.62 Worauf Schwietering in seiner Darstellung aufmerksam macht und was sich jenseits der gesamtinterpretatorischen Bestrebungen als weiterführendes Ergebnis verstehen lässt, ist die Bedeutung von religiösen Effekten und die Bedeutung von Prozessen, in welchen praktizierte Religiosität zum Tragen kommt. Er ist an der grundsätzlich anschlussfähigen Idee einer „Durchdringung von Höfischem und Religiösem“63 interessiert. Doch wie seine Lobpreisung von Wolframs dichterischer und religiöser Genialität zugleich einsichtig macht, trennt er nicht zwischen religiöser Erfahrung und ihrer medialen Inszenierung. Die Frage nach der dezidiert erzählerischen Inszeniertheit des Textes spielt, wenngleich sie sich doch offenkundig aufdrängt, hier überhaupt keine Rolle.64 Religion wird für Schwietering dementsprechend zum 59 60 61 62 63 64
Schwietering 1969. Schwietering 1944. S. 62. Ebd. S. 63. Ebd. Schwietering 1969. S. 314. Zu berücksichtigen ist hierbei natürlich, dass es sich um Aufsätze der 1940er Jahre handelt und solche Fragestellungen erst Teil der jüngsten Forschung sind.
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unmittelbar Erlebbaren. Das Problem des In-Eines-Setzens von Dichtung und Religion, von Mittelbarem und Unmittelbarem, von Erzähltem und dem Akt des Erzählens, scheint auch der Grund dafür zu sein, weshalb seine Ausführungen auf den Forschungsrezipienten teilweise so kryptisch wirken. Diese Indifferenzen der Erzähl- und Rezeptionsebenen verdecken letztlich auch das eigentlich entscheidende Argument, weshalb gerade die Passionsmystik Bernhards im Parzival zu identifizieren sei, weshalb sich gerade dessen Vorstellungen von compassio darin wiederfinden lassen würden. Die Kategorien hierfür bleiben schlicht opak. Entsprechend vage sind auch Schwieterings begründende Formulierungen, wie beispielsweise die Erklärung der Leidensversenkung, die „am ehesten aus der Mystik der Bernhardischen Epoche verständlich wird“.65 Auch hier scheint also die einflussorientierte Auffassung von Theologie und Literatur eine Engführung und Vereindeutigung auf genau einen Ideengeber zu bedingen, obgleich nicht einmal die Auswahl dieser wichtigen Instanz reflektiert und argumentativ erläutert wird. In ähnlicher Weise undurchsichtig bleiben auch die Entscheidung und der Argumentationsgang Schröders, der den Gegenstand des Parzival nicht als ein „Problem der Religion“, sondern als primäres „Problem der Religiosität“ begreift, als antagonistisches Problem der „Überwindung des ritterlichen Tugendstolzes durch eine Haltung, die primär religiös bestimmt ist“.66 Diese Religiosität sieht er durch den Erkenntnisweg christlicher Passionsmystik bestimmt: „Der Weg führt vom Wissen zum Schauen, die ethische Reinigung ist Stufe zum bräutlichen Erkennen des Bräutigams. Diese Darstellung der christlichen Seelengeschichte im Sinne bernhardischer Leidensmystik ist erwachsen aus dem Geiste des Reformzeitalters, das den Gedanken der inneren Kirche zu allgemeinem Bewußtsein brachte und in den Orden zu verwirklichen strebte. Die innerkirchliche, liturgische und paulinische gebundene Mystik der Victoriner schuf eine von der kirchlichen Religionspraxis weitgehend unabhängige, in manchen Zügen reformatorisch anmutende, aber dennoch ganz mittelalterliche Religiosität, deren Innerlichkeit dem religiösen Leben einen mächtigen Aufschwung gab“.67 Schröder sieht also die Frömmigkeit im Parzival ebenfalls auf der theologischen Lehre des Bernhard von Clairvaux begründet, ihre besondere Innerlichkeit schreibt er der viktorinischen Mystik zu. Er nimmt den grundsätzlichen Widerspruch von ritterlicher Lebensart und christlicher Religion, von dem er als kulturellem Gegensatz ausgeht, durch ihre „Synthese“ gelöst wahr; die spezifisch mystische Frömmigkeit werde in Wolframs ritterliches Weltbild inkludiert: Es findet nach Schröder also eine „Vermönchung des Ritterlichen“ statt.68 Prekär erscheint an dieser Lesart insbesondere die Setzung eines fundamentalen Anta65 66 67 68
Schwietering 1944. S. 63. Schröder 1952. S. 127f. Ebd. S. 127. Ebd. S. 147.
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gonismus von Rittertum und christlicher Religion. Das Problem des Ansatzes entsteht durch die logischen Konsequenzen dieser Prämisse, denn ritterliche und christliche Lebensentwürfe, in einem solchen Widerspruch gedacht, implizieren ihre antithetische Definition, die daraufhin in einer ganz bestimmten Synthese mündet. Die Formen dieser Lebensentwürfe müssen in dieser logischen Operation also ebenso genau bestimmt sein wie die eine, zu der sie synthetisiert werden. In dieser Form von Synthese sind keine pluralen Ausformungen ritterlicher Religiosität möglich, sondern eben nur eine spezielle, die sich nach Schröder wiederum auf einen bestimmten Einfluss, nämlich den Einfluss Bernhards und der Viktoriner, zurückführen lässt. Das ist wiederum der Punkt, an dem das Einflussparadigma wirkt und es eine unreflektierte Anwendung erfährt. Einerseits ist trotz ihrer problematischen Prämissen an Schröders Interpretation durchaus positiv zu nennen, dass auch der ritterliche, oder heute vielleicht besser: höfische, Bestandteil besondere Beachtung findet, was in der Forschung zum Religiösen im Parzival zu häufig außer Acht gelassen wird. Er hat erkannt, dass auch die Gottesbezüge im Text nicht allein theologisch, sondern stets in der Einbindung von diesseitig-profanen Konzepten von Gesellschaft zu diskutieren sind. Hierin liegt ein entscheidender Mehrwert, der auch Anschlussmöglichkeiten für weitere Überlegungen zu literarischen Verhandlungen vom Verhältnis zwischen Gott und der höfischen Welt bietet. Andererseits bleibt die Umsetzung seines Interpretationsansatzes weitestgehend der problematischen Vorstellung einflussorientierter Forschung verhaftet, die mittelalterlicher Religiosität und ihren kulturellen Ausformungen eine Einheitlichkeit unterstellt, die so kaum angenommen werden kann. Sehr viel plausibler erscheint es deshalb, gerade weil Religion auch und gerade als Wissens- und Denkform in mittelalterlichen Kulturen omnipräsent war, mittelalterliche Formen von Christlichkeit plural und variantenreich zu denken. Ohne Gott ist Erkenntnis im Mittelalter unvorstellbar. Zur Entfaltung der Vielzahl an Gottesbildern mag wohl auch die höfische Literatur als Verhandlungsraum keinen unbedeutenden Beitrag geleistet haben. In jüngster Zeit hat Mertens Fleury erneut auf den Zusammenhang bernhardischer und viktorinischer Mystik hingewiesen. Die Arbeit versucht mit einer inhaltlichen Anknüpfung an Schwietering einen Neuansatz zur compassio im Parzival. Ihr Ziel ist dabei auch methodologischer Art, da ihrem Ansatz die literarische Eigengesetzlichkeit gegenüber der älteren Forschung als Erkenntnisinteresse impliziert ist. Sie formuliert: „So wird detaillierter danach zu fragen sein, was der Begriff der compassio genau bedeutet und inwiefern er sich zur Beschreibung literarischer Phänomene eignet. Zu untersuchen ist ferner, in welchen Aspekten der Roman tatsächlich Parallelen zur Mystik aufweist, ob und wie der ‚Parzival‘ compassio integriert und welche Bedeutung ihr innerhalb dieses Romans zukommt. Ziel ist also eine differenzierte Analyse des Mit-Leidens im ‚Parzival‘“.69 Die Fragestellung rückt insofern von einer typisch einflussorien69
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tierten Herangehensweise ab, weil aus diesem Blickwinkel der literarische Umgang mit dem theologischen Gegenstand ins Zentrum der Überlegungen gestellt wird. Damit gewinnt die Analyse im Vergleich zum ansonsten hierarchisch gedachten Verhältnis von Theologie und Dichtung wichtigen Raum für genuin literaturwissenschaftliche Erkenntnisinteressen wie insbesondere Fragen nach den literarischen Konzepten. Als gewinnbringend erscheinen vor diesem Hintergrund Mertens Fleurys Beobachtungen zu den (mit-) leidenden Figuren im Parzival (beispielsweise zu Sigune und Trevrizent), worin stets der Chrétiensche Text als Vergleichsfolie herangezogen wird. Dies lässt die Besonderheiten von Wolframs Figurenkonzeption besonders anschaulich zutage treten.70 Neu und aufschlussreich ist an der Deutung Mertens Fleurys vor allem der Versuch, einen rezeptionsästhetischen Aspekt in die mediale Vermittlung von Leid und insbesondere von Leidensprozessen mit einzubeziehen. Nach ihrer eigenen Aussage wird jedoch umsichtigerweise nicht der Anspruch erhoben, „mit dieser Untersuchung zu historischen Praktiken vorzudringen“, sondern „‚Leiden lesen‘ heißt hier deshalb vor allem, Konzepte von compassio innerhalb von bedeutungskonstituierenden Kontexten aufzufinden und zu beschreiben“.71 Zur Erschließung dieser Kontexte einer affektiven Form von compassio wählt Mertens Fleury Beispiele von geistlichen Texten aus klerikalem Umfeld, die dem Zeitraum von 1100 und 1220 entstammen, sowie zur Exemplifizierung der Einbindung geistlicher Zeugnisse im höfischen und konkret deutschsprachigen Umfeld den umfangreich illustrierten Elisabethpsalter und den Landgrafenpsalter, welche zu Beginn des 13. Jahrhunderts für den Hof Hermanns I. von Thüringen (1190–1217) angefertigt wurden. Die der Romananalyse vorangestellte Darstellung der Beispiele umfasst dabei nicht weniger als die Hälfte der Arbeit. Wenn auch die eigentliche Textuntersuchung daher einigermaßen knapp ausfällt, so sind als Ergebnisse doch einige überzeugende Beobachtungen beschrieben. Insbesondere die Textuntersuchungen zum Rezeptionsakt des impliziten Publikums bringen das Verhältnis von Theologie und Literatur auf neue Weise in die Diskussion ein. Zentral ist in dem von ihr erörterten Konzept der compassio ein Verlangen des Textes „nach einer erfahrungsbezogenen und affektiven Angleichung und Partizipation des impliziten Publikums […]. Erst in solchem Nachvollzug lassen sich dann die präsentierten Konzepte von Leiden und Mitleiden aktualisieren und lohnend erschließen“.72 Leider bleiben diese Erkenntnisgewinn versprechenden Beobachtungen als solche bestehen. Die Bedeutung spezifisch literarischer Umgangsweisen mit dem Religiösen wird von Mertens Fleury zwar als Forschungsdesiderat beschrieben, es scheint jedoch nicht wirklich konzeptionell behandelt, so dass die beiden 70
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Die figurenorientierte Vorgehensweise hat für die vorliegende Arbeit zudem Komplimentaritätscharakter, da hier, aufgrund des funktionsorientierten Ansatzes, der Blick auf die Figuren lediglich als Ausblick vorgestellt werden soll. Mertens Fleury 2006. S. 5. Ebd. S. 198.
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Teile der Arbeit, deren Verbindung dieses Konzeptionelle eigentlich leisten sollte, relativ unabhängig nebeneinander stehen bleiben und zwar gerade dann, wenn man sie beim Wort nimmt, dass es ihr eben nicht um die tatsächliche historische Rezeption ginge. Insofern bleibt das Verhältnis des literarischen Entwurfs und der theologischen Diskussion auch hier weitestgehend unbeleuchtet. Mertens Fleurys methodologischer Zugriff auf die Verbindung von Religion und Dichtung, die Untersuchung der Parallelen von Roman und Mystik, beschränkt sich in erster Linie auf Analogieschlüsse, die allerdings nicht diskursiv als Richtlinien von Verhandlungen im Text gedacht werden, sondern Analogien werden von Mertens Fleury lediglich zwischen konkreten Texten gesehen und analysiert. Kontexte werden demzufolge zu Ko-Texten, die Idee der affektiven Angleichung und Partizipation bleibt in der Luft hängen. Dem Interpretationsansatz, der innerhalb der auf das Religiöse konzentrierten Parzival-Forschung durchaus innovativ zu nennen ist, fehlt in der Methodik schließlich noch ein entscheidender Schritt: die konzeptionelle Verknüpfung von Religion und erzählender Literatur. Der Weg hierzu kann letztlich nur in der funktionsorientierten Betrachtung von Literatur selbst liegen, der entsprechende Fragenkomplex muss die kommunikative Aufgabe von Literatur, ihre gesellschaftliche Leistung, umschließen. Eine sich anbietende Möglichkeit hierbei ist, die Möglichkeiten des Beobachtens innerhalb des Erzählten und des Erzählens und damit auch die kontingente Funktion von Literatur, die in ihr formulierten Bedingungen, selbst zum Gegenstand der Untersuchung machen. Bevor jedoch auf die methodologischen Überlegungen der vorliegenden Arbeit, die genau an dieser Problemstellung anzuschließen suchen, eingegangen wird, soll im Folgenden noch eine weitere Tendenz in der Parzival-Forschung diskutiert werden, deren Interpretationsangebote sich als schematisch angewandtes Paradigma verstehen lassen. Es handelt sich dabei um die Lektüre des Parzival als ‚Entwicklungsroman‘. Das Spannungsverhältnis, das der Text in der literarischen Verhandlung religiöser Vorstellungen produziert, wurde gerade von denjenigen Interpreten, die eine eindeutige Identifikation theologischen Einflusses ablehnen und sich stattdessen der Erörterung einer laikalen Kultur verschrieben haben, hinsichtlich eines Entwicklungsgedankens gedeutet. Dieses Interpretationsmuster ist bereits in der hierzu einschlägigen älteren Forschung angelegt, kommt aber nicht gerade selten auch noch in Darstellungen jüngeren Datums zur Anwendung. Als problematische Konstante in der Argumentation sind insbesondere, zumeist literaturgeschichtlich vorausgreifende, Begriffe und Vorstellungen von ‚Innerlichkeit‘ und ‚Individualität‘ anzusehen, welche gesellschaftliche und literarische Bilder von modernen Individuen unreflektiert auf die Figuren hochmittelalterlicher Romane übertragen. Der Wunsch, Wolfram als genialen, seiner Zeit vorauseilenden Dichter zu zeichnen, scheint dabei nicht selten der Vater des Gedankens zu sein. Beispielhaft für die älteren Interpretationen, die mit einem solchen Entwicklungsgedanken arbeiten, sind die bereits angeführten Parzival-Lektüren von
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Weber 73, Mockenhaupt74 und Mohr75. Der Zusammenhang von Religion und Entwicklungsgedanke wird hierin ausdrücklich in der religiösen Entwicklung der Parzival-Figur gesehen. Es kommt schließlich immer dieselbe Formel zu Anwendung: Das Innere des Individuums käme als die eigentliche und wahre Religiosität zum Vorschein. Als prekär erweist sich hierbei vor allem die bereits angedeutete Individualitätsvorstellung der Figuren des hochmittelalterlichen Romans, deren Handlungen nämlich nicht durch die Enthüllung ihres ‚Innersten‘, sondern allein über die Deutung performativer Konzepte, deren Träger sie sind, interpretierbar werden.76 Alles andere sind unhaltbare Projektionen, die sich an vormodernen Texten nicht belegen lassen. Später wurde in solchen entwicklungsfixierten Ansätzen zwar die gattungsbezogene Definition, beim Parzival handle es sich um den ersten (bürgerlichen) ‚Entwicklungsroman‘, dezidiert zurückgewiesen,77 die Grundaussage aber blieb. 73
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Weber bezeichnet den Parzival dezidiert als durch ideelle Originalität bestimmten Vorausgriff auf den Entwicklungsroman: „Der Charakter des Werks als Entwicklungsdichtung – auch für seine geistesgeschichtliche Haltung und Bedeutung eines der aufschlußreichsten Kriterien – hat vielmehr eine ganz bestimmte weltanschauliche Grundhaltung zur Voraussetzung; es ist kein Zufall, sondern ideengeschichtlich bedingt, wenn gerade die Hochgotik den ersten vollgültigen Entwicklungsroman hervorbringt – ein Wortkunstwerk also, das […] Bewegtheit in sich birgt und zwar – absichtlich sei es so allgemein gesagt – innere, seelische Vorwärtsbewegung des Helden“ (Weber 1935. S. 46f.). Mockenhaupt, der wie bereits Weber das Laikale in Wolframs Dichtung betont, sieht im Parzival der systematisierenden und ordnungsfixierten Theologie, damit meint er: der Scholastik, ein lebendiges und organisches Religiositätsmodell entgegengesetzt: „Wolfram hingegen ist in der echt schöpferischen Haltung des Dichters dem Ablauf und der Gestaltung des Lebens zugewandt; der aufs feinste gegliederten und untergliederten, rein dialektisch geordneten, alle geschichtlichen Bezüge außer Betracht lassenden theologischen Bestandsaufnahme hat er einen echten, organischen, im Kleinen oft die Gesetze der Logik zurückdrängenden, in die abrollende Zeit hineinkomponierten Entwicklungsroman gegenüberzustellen“ (Mockenhaupt 1942. S. 230). Mohr setzt diesen Zusammenhang von Religion und Entwicklung sogar als Prämisse voraus: „Menschliche Schuld ist ein Hauptthema der großen Entwicklungsdichtung Wolframs von Eschenbach …“ (Mohr 1952. S. 148). Der kritische Generalangriff auf die Vorstellungen von ‚Individualität‘ und ‚Innerlichkeit‘ in der mittelalterlichen Literatur ist insbesondere von Czerwinski formuliert, seitdem vielfach diskutiert und in performativen Deutungsansätzen weiterentwickelt worden. Vgl. hierzu Czerwinski 1989. Auf eine ausführliche Methodendiskussion über mittelalterliche Figurenkonzeption muss an dieser Stelle leider verzichtet werden, weil dies sonst zu weit von der Fragestellung nach dem Erzählen vom Religiösen wegführen würde. In den 1960er Jahren sprachen sich beispielsweise Schröder und Haas gegen die Gattungsbezeichnung ‚Entwicklungsroman‘ aus. Sie schlugen stattdessen den Begriff des ‚Erbauungsroman‘ vor, der eine stärkere Hinwendung der Forschung dieser Zeit zu didaktischen Ansätzen unterstreicht. Der Grundgedanke blieb jedoch derselbe, verändert war nur die Perspektive darauf: An Wolframs Menschendarstellung und ihrer laikalen Verwirklichung zwischen Welt und Gott könne man auch ‚Erbauung‘ finden und als Rezipient lernen. Vgl. hierzu Schröder 1963. S. 91 und Haas 1965. S. 122–124. Darüber hinaus lässt sich jedoch beobachten, dass genau jene höchst problematischen Setzungen und anachronistischen Vorstellungen der älteren Forschung,
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Blank artikuliert beispielsweise in seiner Kritik an der einflussorientierten Parzival-Forschung der 40er und 50er Jahre, obwohl er die gattungstypologische Zuschreibung von Entwicklung an den Text ablehnt,78 dass Wolframs Darstellung laikaler Religiosität eine Kritik an der formalistischen Religionspraxis der Kirche und dem zeitgenössischen Rittertum sei, und dass sich eben diese Kritik in einem religiösen Gegenkonzept von innerlicher Moral und Verantwortung äußere.79 Das Denkmuster der Innerlichkeit bleibt aber auch hier den individualitätszentrierten Vorstellungen moderner Gesellschaften verhaftet. Über 20 Jahre später versucht Blank den erkenntnisstiftenden ‚Blick ins Innere‘ in weiteren Überlegungen nochmals zu konkretisieren, worin er, gewissermaßen in die methodologische Trickkiste greifend, die Kluft zwischen Individuumsgedanke und göttlicher Bestimmung schließlich durch die In-Eins-Setzung von göttlichem Ordo und Innerem zu überbrücken sucht. Er schreibt hierzu: „Der Ordo, den der Held am Ende realisiert, ist ein Ordo aus seinem Inneren. In ihm erweisen sich seine Anlagen als konstitutiv, verbunden mit seinem ungebrochenen Bemühen, der Situation im
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selbst hinsichtlich der Gattungsdiskussion, in allerjüngsten Beiträgen wieder auftauchen. Es scheint in der Gegenwart sogar möglich geworden zu sein, den Parzival ganz offensiv als ‚Entwicklungsroman‘, wie er seit dem 18. Jahrhundert vorliegt, zu begreifen. Sassenhausen versteht ihn beispielsweise als „Lebensalterroman“ und wendet Kategorien der Entwicklungspyschologie völlig unmodifiziert auf den literarischen Text an. In dieser Perspektive wird dann die Erlösungsfrage zum „therapeutischen Akt“, in dem der Protagonist erweist, dass er „erwachsen geworden“ ist: „ … er ist im Lebensalter der iuventus angekommen, er blickt auf einen großen Lebenserfahrungsschatz zurück, begreift sich im Kontext gesellschaftlicher Determination und eigenverantwortlichen Handelns und er hat die Fähigkeit zu Intimität und Hingabe, ohne der Angst zu erliegen, sich dabei selbst zu verlieren. Als letzten symbolischen Akt, als letztes Ritual, das den Übergang von einer Lebensphase in die andere signifiziert, übernimmt er die Regentschaft von seinem Onkel. Die Erlösungsfrage ist aber nicht nur verbaler Vollzug der Herrschaftsübergabe vom Onkel zum Neffen, sondern sie bezeugt gleichermaßen religiöse Reifung“ (Sassenhausen 2007. S. 435). Nach dieser Lektüre kann sich der Forschungsrezipient zwar Vorstellungen darüber machen, mit welcher Psyche die Parzival-Figur im modernen Entwicklungsroman ausgestattet wäre, was den Erkenntnisgewinn am Text angeht, bleibt allerdings schleierhaft, worin hier eigentlich der Mehrwert besteht. Zum Großteil besteht die sehr umfangreiche Arbeit aus einer Nacherzählung, die eben jene psychologischen Kategorien enthält, die am mittelalterlichen Text untersucht werden sollen. „Der Ablauf der Erzählung von Buch III–IX zeigt keine kontinuierliche Entwicklung im Sinne des neuzeitlichen Bildungsromans, sondern ein stufenweises Weiterschreiten“ (Blank 1971. S. 139). Besonders deutlich sieht Blank dies in Wolframs Darstellung der Laienbeichte verwirklicht: „Das Gewicht der Darstellung liegt daher ganz auf der Notwendigkeit der rechten Erkenntnis, auf Grund derer er [Parzival] in voller Übernahme der Verantwortung für seine Sünden nun Buße tut. Die adäquate Beichtdarstellung vermeidet daher jede mißverständliche Betonung einer äußeren Formerfüllung und akzentuiert statt dessen die innere Haltung der Verantwortlichkeit. Die Struktur dieser Moral ist durch eine äußerliche normative Setzung von Geboten nicht zu erfassen, sondern sie läuft als Verwirklichung der Heilsgeschichte gleichsam von innen nach außen. An diesem Punkt liegt die kritische Stellungnahme Wolframs zum zeitgenössischen Rittertum, hier setzt auch sein Vorbehalt gegenüber der kirchlichen Praxis an“ (ebd. S. 147).
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weiteren Sinn gerecht zu werden. Hierin liegt die Exemplarität dieser Figur wie des ganzen Romans. Genau dies meint der Begriff ganerbe (333,30) mit seiner genealogisch aufgezeigten Synthese zwischen Welt und Gott“.80 Diese Verknüpfung stellt sich als ein Versuch heraus, das Unbehagen einzudämmen, neuzeitliche Sozialisationsgrößen, welche hier in Form von Subjektivität, Bewusstsein, Individualität und Moral vorliegen, auf einen Text des 13. Jahrhunderts zu übertragen. Doch dieses Unbehagen bleibt auch noch in Blanks abschließender Formulierung seiner Ergebnisse spürbar, deren Zwang zur Harmonisierung von gesellschaftlichen Vorstellungen und Denkmustern der Entwicklung eines individuellen Inneren und der Prädestination Gottes nicht zu übersehen ist: „Der Schlüssel der Überlegung ist der, dass die scheinbar individualistisch-subjektive Wende Parzivals nach innen kein antigesellschaftlicher Vorgang ist, sondern ein zutiefst religiös begründeter Blick in jenen Innenbereich, in dem die menschlichen Reaktionsmuster sich als echte Werte herausstellen, welche letztlich in harmonischer Übereinstimmung mit Gottes Zuwendung zum Menschen stehen. […] Dieser innere Weg ist vielmehr Ausdruck eines durch und durch religiös angelegten Denkens, das die Überbrückung des Dualismus von Gott und Welt intendiert. Der Wert des Menschen wird hier idealtypisch bestimmt: durch die saelde (827,18), die im subjektiven Bewußtsein der inneren Richtigkeit auch die objektive Bestätigung der ewigen Glückseligkeit erfährt“.81 Der Preis dieser Harmonisierung ist eine radikale Undifferenziertheit, durch welche dem Forschungsrezipienten jegliche Kategorien abhandenkommen, mit welchen Konzepten nun eigentlich das Individuum, das Innere, das Subjekt, aber auch der Ordo oder Gott und Welt gefüllt sind. Die Intransparenz dieses Analyseverfahrens kann daher auch kaum die (nur etwas modernere) zelotische Apologetik verschleiern, die Blank zuvor doch selbst noch kritisiert hat: Es eröffnet sich der Blick auf eine romantische Vorstellung, dass im Mittelalter Welt und Gott noch eine – heute verlorengegangene und vermisste – Einheit waren.82 Es lässt sich gerade in der Forschung zu Parzivals Weg zum Heilsbringer beobachten, dass die Idee des Individuums und seiner Entwicklung sich wie ein grauer Schleier auch über neuartige und innovative Interpretationsansätze legt. Der Effekt ist leider so, dass vielversprechendes Potential in den ausformulierten Ergebnissen schließlich verpufft. Solche Beispiele finden sich u. a. in der Darstellung Bralls aus den 1980er Jahren und insbesondere in den noch jüngeren Überlegungen Theisens aus dem Jahr 2000, auf welche hier zum Schluss des exemplarischen Forschungsüberblicks noch eingegangen werden soll. Brall hat in seinen Studien zu Gralsuche und Adelsheil die Relevanz der Fragestellung nach der Heilsperspektive des Parzival herausgearbeitet, er fordert, 80 81 82
Blank 1999. S. 231. Ebd. S. 232. Dementsprechend sieht er auch in der Dichtung Wolframs „eine letzte Aufgipfelung der geschlossenen Einheitsperspektive […], die unmittelbar danach abbricht“ (ebd.).
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entgegen der älteren Forschung die isolierte Betrachtung der Parzival-Handlung aufzubrechen und auch die Gahmuret- und Gawan-Partien mit einzubeziehen.83 Für ihn steht auch nicht der Einfluss theologischer Lehren, sondern die Erörterung von Ritterlichkeits- und Verwandtschaftskonzepten im Zentrum des Interesses. Trotz Bralls aufschlussreicher Perspektive auf adlige Gesellschaftsmodelle und ihre genealogische Organisation und Machtsicherung bleibt sein Blick auf Parzivals Weg zum Heilsbringer nicht frei von Individualitätsvorstellungen.84 Er sieht diese vielmehr angereichert und zunehmend überformt durch die von ihm beschriebenen adligen Konzepte: „Das Handlungsmuster individueller Suche und Bewährung wird indessen zunehmend abgelöst durch das Entdecken von Bindungen und Verpflichtungen, das Erkennen von Verwandtschaft und die Vergewisserung der Ziele und Grundlagen des Handelns“.85 Auch sein Sprachduktus lässt solch anachronistische Denkstrukturen erkennen, wenn er beispielsweise nach seinen eigenen Prämissen zwar eigentlich von der Sippe als handelndem Subjekt sprechen müsste, gleichzeitig aber nur Parzival und dessen individuelle Erkenntnis meint: „Gralsuche wird in der Logik von Wolframs Parzivalerzählung zur Suche nach einem gefährdeten Erbe und dies meint die Wiederentdeckung des gesellschaftlichen Auftrags einer in die Krise geratenen Adelselite, Wiedergewinnung des Bewußtseins vom Heil und vom Glanz adliger Gemeinschaft, Familie und Herrschaft“.86 Gerade der Terminus des Bewusstseins ist hier ganz offensichtlich mit Parzivals Erkenntnisleistung gleichgesetzt und damit im Sinne einer spezifischen Bewusstwerdung verwendet, wodurch die Brücke zum Entwicklungsgedanken geschlagen ist, dementsprechend er auch von einem „Lernprozess“87 spricht. Zusammenfassend erscheint Bralls Deutungsansatz hinsichtlich einer Öffnung des Deutungshorizonts von Heil und Erlösung, vor allem durch den Einbezug der Gawanbücher und dem artushöfischen Handlungsspiel-
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Brall schreibt zum Verhältnis der Gawanbücher und der Parzivalerzählung, dass sie „weit mehr als bloße Episode oder weltliches Gegenstück zur religiösen Parzivalhandlung [sind]. Wolframs beziehungsreiches Spiel mit den epischen Hintergründen unterstreicht die Parallelität und die gemeinsame Zielrichtung von bewußter Suche und unbeabsichtigtem Entdecken der gleichen Werte und Lebensformen“ (Brall 1983b. S. 306). In jüngster Zeit wurde die Frage nach der ‚Individualität‘ erneut von Gerok-Reiter aufgegriffen. Sie operiert mit diesem Begriff aber auf einer völlig anderen Ebene als Brall. Für sie gilt es nämlich das zu erfassen, was der Text mit der ‚gemischten‘ und ‚zwiespältigen‘ Figur zwar anvisiert, auf Darstellungsebene letztlich aber nicht erzählen kann (Vgl. Gerok-Reiter 2006; insb. S. 146), wohingegen Brall Parzivals Individualität und Bewusstsein als unhinterfragte und nicht historisierte Prämissen postuliert. Gerok-Reiters Ansatz scheint mir vielmehr auf die Konzeptlogik höfischen Erzählens abzuzielen, als dies bei älteren Darstellungen, die mit dem Begriff arbeiten, der Fall ist. Dort erscheint ‚Individualität‘, eben aufgrund der Nicht-Beachtung narrativer Logik, zumeist als anachronistischer Terminus. Brall 1983b. S. 263. Ebd. Ebd. S. 265.
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raum, trotzdem äußerst luzide.88 Damit lässt sich insbesondere der überkommenen Forschungsmeinung, die Artuswelt sei der religiösen Gralswelt in ihrer Werthaftigkeit untergeordnet,89 begegnen. Der Ansatz öffnet die Tür für Fragen nach der Religiosität des Höfischen als übergreifendem Konzept, die These der vornehmlich älteren Forschung zur alleinigen Religiosität des Gralshofs ist somit widerlegt worden. Gleichzeitig lässt seine Darstellung stellenweise mangelnde Historisierung erkennen, wenngleich sein grundsätzlicher Interpretationsansatz zu genealogischen Denkschemata adliger Gesellschaften diese doch eigentlich recht nahe legen würde. Ein weiteres Problem ist in der Ausblendung des Erzählens als einem vermittelnden Prinzip zu sehen. Religion und religiöse Strukturen werden von Brall ausschließlich hierarchisch, das bedeutet hier nur unter dem Gesichtspunkt ihres Nutzens für die adligen Konzepte, vorgestellt.90 Obwohl die Frage nach der Funktionalität selbstverständlich als lohnenswert erachtet wird, so gerät doch in der reinen Umkehr der hierarchischen Vorstellungen der Einflussforschung die literarische Verschränkung im Erzählen von Religion und höfischen Konzepten, wie eben Genealogie, Ritterlichkeit und Verwandtschaft, aus dem Blickfeld. Die Beobachtungen bleiben bei der Beschreibung eines ‚höfischen Gottes‘ bestehen.91
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Vgl. hierzu auch: „An beiden Heldentypen und den Situationen, in die sie gestellt werden, zeigen sich symptomatische Schuldverstrickungen und Verblendungszusammenhänge, deren Sühne und Auflösung als Lernprozeß und als Struktur der Erlösung und Befreiung der adligen Sippengemeinschaft, als Rehabilitierung eines dynastischen Gesellschaftsverständnisses dargestellt wird“ (Brall 1983b. S. 269). Die artushöfische Welt wurde in der älteren Forschung häufig nur als Durchgangsstation des Helden Parzival interpretiert. Teilweise wird dies auch noch in der jüngeren Forschung angenommen. So z. B. von Blank 1999. S. 225: „Denn genau wegen dieses Defizits ist ja die gesamte Artusgesellschaft unfähig, den Gral zu erlösen. Sie ist eine Oberflächen-Gesellschaft ohne Tiefgang. […] Das gesellschaftlich-arthurische Kommunikationssystem ist oberflächlich und reicht bis zur Irreführung. Es muß daher in seiner Gültigkeit relativiert werden mit der Konsequenz, dass der ideale Ritter sich vom verbal Gesagten innerlich distanzieren muß, um durch eine tiefe, ganzheitliche Wahrnehmung eine ‚richtige‘ Erkenntnis zu gewinnen“. Vgl. insbesondere das Kapitel: VI. Buße, riuwe, wandel. Der Eremit als Familienheiliger. Brall 1983b. S. 273–287. In ähnlicher Weise ist dies auch das Problem des Gottesbegriffs der späteren Arbeit Der Glanz der Abstraktion von Czerwinski 1989, die hier deshalb nicht gesondert angeführt ist, weil Religion nicht ihr eigentlicher Gegenstand ist. Trotzdem kann man sie nach Brall als den Prototyp der Vorstellung eines funktional gedachten ‚höfischen Gottes‘ begreifen. Problematisch an Czerwinskis Arbeit ist vor allem, dass er eine real-historische Rückbindung des literarischen Textes zu leisten versucht. Er schreibt oft nicht über den Text allein, sondern seine Aussagen formulieren einen Gültigkeitsanspruch für die gesamte mittelalterliche Feudalgesellschaft um 1200. Dabei bleibt die spezifische Literarizität der Texte leider oft im Dunkeln. Mit Sicherheit werden im diskurstheoretischen Sinn durch diese Literatur den realen Höfen auch Verhandlungsmöglichkeiten über Probleme, die sie direkt betreffen, angeboten. Aber daraus ist noch lange kein didaktisches Verhältnis ableitbar, was Czerwinski aber offenbar annimmt. Dementsprechend scheinen in seiner Analyse literarische und historische Kategorien häufig vermischt.
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Der erzähltheoretischen Perspektive tragen entgegen allen bisher vorgestellten Forschungsbeiträgen die Überlegungen Theisens zur Rolle Gottes im höfischen Roman Rechnung. Hierin entwirft er die innovative, weil Erzählen und Religion zum ersten Mal tatsächlich verknüpfende, Fragestellung: „Wie kann Gott zu einem Handlungspartner in einer Erzählung gemacht werden?“.92 Mit einer solchen Frage wird Theisen quasi zum Pionier, denn er dringt in ein noch nicht erschlossenes Forschungsfeld der Gottesbilder in der höfischen Literatur vor,93 was er auch durch den bewussten Verzicht auf jegliche Forschungsliteratur markiert.94 Um ihr nachzugehen, unterscheidet er in erzähltheoretischer Hinsicht folgerichtig die Perspektiven von Figuren und Erzählinstanz: „Es muß deutlich unterschieden werden: die Personen, von denen erzählt wird, können sich alles Mögliche unter Gott und dem Wirken Gottes und den Regeln des Wirken Gottes vorstellen – all das sagt nur etwas über die Personen aus, aber noch nichts über den Erzähler, der eine eigene Position zu beziehen hat …“.95 Infolge dieser Differenzierung wird deutlich, dass das Problem, das sich aus dem erzählten Gottesbezug ergibt, nicht eigentlich auf der Ebene der Figuren angesiedelt sein kann, ihre Aussagen sind ihnen zurechenbar und beanspruchen keinen Gültigkeitsanspruch für den gesamten Text.96 Anders ist dies aber bei der Position der Erzählinstanz, die in ihrer Darstellung über den Text und deshalb auch über Gott verfügen kann.97 Die Bedeutung und vor allem die Gewichtung von Aussagen auf der Figurenebene oder der Ebene der Erzählinstanz sind im Hinblick auf die Position Gottes daher völlig anders zu werten: Die Erzählinstanz kann zum einen, gewissermaßen als Schöpfer, über ihre Welt walten (woran die Komplikation sich bereits zu erkennen gibt), und zum anderen formuliert sie aber auch Gottes Wirken im Text. Damit entsteht für das mittelalterliche Erzählen also eine Schwierigkeit, welche als Beobachtung in Theisens Überlegungen angelegt ist, die er selbst jedoch gar nicht so scharf umreißt: Es handelt sich um ein zwischen Literatur und Religion angesiedeltes Problem des Verfügungsanspruchs über die erzählte Welt, kurz: um ein umfassendes Autoritätsproblem von Gott und der Erzählinstanz. Theisen konzentriert sich schließlich auf einen entscheidenden Teil dieses Autoritätsproblems, denn
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Theisen 2000. S. 153. Beispielhafte Ausnahme hiervon ist die später erschienene Dissertation Wagners, die hier aber deshalb nicht behandelt wird, weil er sich nicht mit dem Erzählen des höfischen Romans, sondern mit höfischen Mären befasst. Vgl. Wagner 2009. Theisen 2000. S. 153. Die einzigen Angaben sind diejenigen zu den verwendeten Textausgaben und die Erklärung, dass in einigen Gedankengängen Überlegungen von Walter Haug aufgegriffen worden seien (ebd. FN 1). Ebd. S. 155. „Was s i e [die auftretenden Personen] alles auf Gottes Hilfe zurückführen, das ist aber ihre Sache, und noch längst kein Beleg dafür, dass Gott tatsächlich gehandelt hat“ (ebd. S. 153). „Denn die Folge ist, dass Gott in der Literatur – egal wie ich von ihm spreche, sobald ich von ihm spreche – völlig hilflos ist, es kann aller mögliche Schindluder mit ihm getrieben werden …“ (ebd. S. 155).
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für ihn besteht das eigentliche Erkenntnisinteresse darin, nach dem Raum zu fragen, welchen „die Erzähler Gott einräumen, welche Ereignisse und Vorfälle sie ihm zuschreiben“.98 Zugespitzt bedeutet dies sogar, dass sobald die Erzählinstanz über Gottes Handeln berichtet, Gott sich tendenziell mit der Figurenebene affiziert, wobei das tatsächliche Figur-Werden Gottes in einem mittelalterlichen Text, für den Religion nur Bestandteil und nicht Gegenentwurf sein kann, undenkbar ist.99 Theisen kommt bei seiner Leitfrage nach dem Auftreten Gottes als Handlungspartner im erzählenden Text zu folgendem vorläufigen Ergebnis: „Im abendländischen nachantiken Kontext kann er das nicht. Gott ist nur da, wo Zufall, Glück oder Schicksal – aus welchem Grund auch immer – versagen. Er füllt eine Leerstelle aus, er ist ein Interpretament. Aber ein solches Interpretament bedeutet selbstverständlich immer auch eine Wertung und läßt selbstverständlich Rückschlüsse zu auf den Erzähler“.100 Mit seiner Deutung von Gott als Interpretament formuliert Theisen eine Beobachtung zum Erzählen des höfischen Romans, die auf den ausgelagerten Raum des Religiösen und damit auch auf seine Funktion der Auslagerungsmöglichkeit zielt. Mit dieser Beobachtung – inklusive der Erkenntnis der autoritativen Problemsituation des Erzählens – ist der erste Schritt auf dem Weg zur Diskussion des Umgangs höfischer Literatur mit Religion geleistet. Das ist auch der entscheidende Mehrwert seiner Überlegungen, sein weiterer Gedankengang ist dagegen deutlich weniger überzeugend, weil er ein bestimmtes Literaturverständnis voraussetzt, das man über weite Strecken als modernes und durchaus auch als bürgerliches begreifen muss. Die These, die Theisen aufstellt, lautet, dass sich die höfische Literatur zunehmend darüber bewusst werden würde, „daß sie erzählend grundsätzlich nicht über Gott verfügen kann“,101 woran er auch die Vorstellung eines Selbstbewusstwerdungsprozesses des fiktionalen Erzählens knüpft, dessen Entwicklungslinie er anhand der Beispiele Hartmanns Erec, Wolframs Parzival und Gottfrieds Tristan (in dieser Reihenfolge) nachzuzeichnen sucht. Zur Zwischenstellung des Parzival schreibt er: „Parzival löst sich von Gott und wird frei, sich frei zu bewegen, aber nicht nur er, auch die Erzählung wird frei, sie ist nicht mehr an ein Muster gebunden. […] Auch Gott wird frei. […] Parzival wird frei und Gott auch – aber das fiktionale Erzählen ist sich seiner selbst noch nicht voll bewusst geworden“.102 Die so entworfene Entwicklung des höfischen Romans wird von Theisen jedoch nicht hinreichend begründet, sie scheint eher dem Zweck zu dienen, aufkommende Widersprüche seiner These zu glätten. Denn zum einen greift Gott im Bruderkampf des Parzival nämlich sehr wohl noch direkt ein, was Theisen wenig überzeugend dadurch zu rechtfertigen sucht, dass nun keiner mehr mit ihm rechnen würde und 98 99 100 101 102
Theisen 2000. S. 156. Darauf werde ich im Methodenkapitel unter dem Punkt II. 4. ausführlicher zu sprechen kommen. Theisen 2000. S. 156. Ebd. S. 161. Ebd. S. 162.
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Einleitung und Stand der Forschung
er gerade deshalb „frei“ sei.103 Zum anderen lässt sich feststellen, wie Theisen selbst auch anmerkt, dass die Beobachtung der Taten des Helden auf seinem Weg zum Heilsbringer und Erlöser trotz seiner Absage an Gott auch dem Zugriff des Erzählers entzogen ist.104 Daran zeigt sich aber nicht, wie er argumentiert, eine noch nicht vollständig abgeschlossene Entwicklung des Erzählens und Freiwerdung des Helden, sondern erkennbar wird, dass die Reduktion der Perspektive auf das Erzählen von Gott und dem Helden offensichtlich zu kurz greift. Religion ist gerade im Parzival als ein sehr viel polyvalenteres Phänomen gezeichnet, als Theisen sie behandelt.105 Hinsichtlich dieser Entwicklungsvorstellung beruht sein Anachronismus schließlich auf dem bekannten Individualitätsgedanken, den er als Ziel des Helden realisiert sieht: „Parzivals Überzeugung, seine Identität im Allgemeinen zu finden, und sich nicht als historisches, einmaliges Individuum zu sich selbst bekennen zu müssen, wird als radikaler Irrtum entlarvt. Parzival ist der, der er ist, und er kann diese Identität nicht dadurch verleugnen, daß er im Artushof aufgeht, er entkommt seiner Individualität nicht, indem er sich ins Allgemeine flüchtet, das die Wahrheit auf seiner Seite zu haben scheint“.106 Das erinnert jedoch zu stark an die Entwicklungsvorstellung eines modernen bürgerlichen Individuums, welches seine Identität außerhalb sozialer Bezugsräume, durch sein ‚Inneres‘, zu verwirklichen sucht.107 Eine solche Form von Individualität ist im vormodernen höfischen Text allerdings undenkbar – im Parzival schon allein deshalb, weil der Protagonist seine Identität maßgeblich aus den Verwandtschaftsstrukturen und dem Kollektiv der sippe ableiten muss, was einem bürgerlichen Individualitätsgedanken ganz deutlich widerspricht. Um diesem Anachronismus zu entgehen und nicht in ähnlicher Weise einem solchen ‚Kurzschluss‘ aufzusitzen, bedarf es der konzeptionellen Einbindung dieser Beobachtungen. Erst mit der Hilfe eines fundierten methodologischen Konzepts wird es möglich sein, das Feld abzustecken, in dem das Erzählen des höfischen Romans zwischen religiöser und literarischer Eigengesetzlichkeit angesiedelt ist, und die entsprechenden Beobachterpositionen auszumachen, mit welchen das Verhältnis der Verfügungsgewalt Gottes und der Erzählinstanz beschreibbar wird. Obwohl Theisen das autoritative Problem als gewinnversprechende Beobachtung herausgearbeitet hat, ist seine Antwort darauf wenig zufrie103 104 105
106 107
Theisen 2000. S. 163f. Ebd. S. 162. Das lässt sich insbesondere an Theisens Lesart von Feirefiz’ Taufe veranschaulichen, die er als völlig areligiös begreift und als „ein[en] glatte[n] Witz“ bezeichnet (ebd. S. 164). Er arbeitet hier mit einem sehr engen, an kirchlichen Vorgaben orientierten Religionsbegriff, der gerade das höfisch Laikale radikal ausschließt. Ebd. S. 162f. Vgl. hierzu auch: „… beide – Gott und der Held – haben ein und dasselbe Problem: beide müssen sich der Vereinnahmung des Erzählers entziehen. Gott, um seine Allmacht nicht an ihn zu v e r l i e r e n und um der zu b l e i b e n , der er ist; der Held, um seine Individualität zu finden, um der zu w e r d e n , der er ist“ (ebd. S. 169).
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denstellend, denn sie ist sicher nicht in einem auf dem Entwicklungsgedanken aufbauenden modernen Literaturverständnis zu suchen, sondern in der Pluralität der Erzähl- und Deutungsmöglichkeiten, die der Parzival zur Anschauung bringt. Die Rollen von Religion und der Eigengesetzlichkeit von Literatur im höfischen Erzählen sind auch nicht grundsätzlich im Sinne Theisens in einem Gegeneinander-Streiten aufgehoben, an dessen Ende die ‚Freiheit‘ steht, stattdessen lässt sich ihre Beziehung besser als ein produktives Aneinander-Abarbeiten und Durchdringen verstehen, aus dem eine explosionsartige Fülle an narrativen Vermittlungsstrategien und im Text eingeschriebenen Perspektiven entsteht. In Frage steht vor diesem Hintergrund außerdem, ob überhaupt von nur einem Gottesbild des Textes gesprochen werden kann, was Theisens Überlegungen sehr stark impliziert ist.108 Lässt nicht vielmehr die parzivalspezifische Öffnung der Bezugsräume und Deutungshorizonte, die teilweise gezielte Opazität des Textes und der Entwurf von nebeneinander existierenden, aber nicht untereinander hierarchisch strukturierten Erzählwelten nicht auch eine Vielzahl an Gottesvorstellungen erwarten? Außerdem wäre in diesem Zusammenhang auch insbesondere die Erzählinstanz des Textes systematisch auf ihre Kohärenz hin zu befragen: Gibt es ‚den Erzähler‘ im Parzival überhaupt?109 Abschließend lässt sich noch ergänzen, dass in einer konzeptionellen Fassung der von Theisen vorgestellten Beobachtung die Funktion des Religiösen im höfischen Erzählen auch einen Ansatz zur Laienkultur umfassen sollte.
3. Resümee der Forschungslage, Zielsetzung und Vorgehensweise der Arbeit Der Blick in die Forschung ergibt im Fokus auf das Erzählen von Religiösem ein durchaus disparates Bild der Gottesvorstellungen im Parzival. Sowohl im Hinblick auf die Präzisierung des Erkenntnisinteresses als auch für die methodologische Herangehensweise ist eigentlich noch kein gangbarer Weg gefunden worden, was sich selbstredend sui generis bedingt. Die Fragestellung der zumeist älteren Arbeiten ist entweder durch das Einflussparadigma dominiert und hat damit zum Ziel, den hierarchisch gedachten Niederschlag bestimmter theologischer Lehren im literarischen Text zu identifizieren, oder aber man hat versucht, auf der Basis von Wolframs Laientum das Verhältnis von Mensch und Gott unter anthropologischen Gesichtspunkten näher zu bestimmen. Beide Fragerichtungen haben aber nicht die eigentliche Problematik erkannt, auf welche das höfische Erzählen 108
109
Vgl.: „Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen Gott und Mensch im ‚Parzival‘ ausgesprochen problematisch. Es ist ein ziemlich schwieriger Gott, von dem hier die Rede ist, er macht es den Leuten nicht leicht, besonders den Frommen nicht, was ja auch nicht verwundert, da natürlich nur sie es sind, die Gott für alles verantwortlich machen“ (Theisen 2000. S. 161). Anhand des Insistierens in der Formulierung auf die ‚Erzählinstanz‘ lässt sich bereits die verneinende Antwort antizipieren.
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stößt, wenn es Religion oder speziell Gott zu seinem Gegenstand macht. Die bisherigen Fragestellungen nach ‚mittelalterlicher Dichtung oder/und Theologie?‘ wären somit also umzuschreiben in eine die mediale Inszenierung von erzählender Literatur konstruktiv aufnehmende Frage danach, wie sich das Phänomen Religion im höfischen Text, konkret: im Parzival konfiguriert. Wie ist im Kontext des Parzival Religion eigentlich zu verstehen? Die Bedingungen des Erzählens müssen zur Klärung dieser Frage selbst zum Thema gemacht werden und diese entsprechend erweitern: Wie kann überhaupt von Gott gesprochen werden und wie partizipiert das höfische Erzählen an Religion? Die jüngere Forschung beschreibt den Umgang der Literatur mit religiösen Vorstellungen zwar als Desiderat, hat aber noch keine methodologisch fundierte Möglichkeit einer konzeptionellen Verknüpfung von Religion und Literatur gefunden. Zur Beantwortung der hier aufbrechenden Fragen und im Hinblick auf das Ziel dieser Arbeit kann daher zusammenfassend formuliert werden, dass es der Entwicklung eines funktionalen Religionsbegriffs bedarf, mit dessen Hilfe anhand des Parzival ein Zugang zum komplexen Verhältnis mittelalterlicher erzählender Literatur und religiöser Strukturen im laikalen Bezugsraum höfischer Gesellschaft geschaffen werden kann.110 Ferner lassen sich hierfür aus den Ergebnissen bisheriger Forschung wichtige Kriterien ableiten, die es in der Diskussion des Phänomens Religion und seiner Beziehung zum undurchsichtig erscheinenden Erzählkonzept des Parzival zu beachten gilt: Anknüpfend und aufbauend behandeln lassen sich erstens der Komplex der Laientheologie, zweitens der Bezugsrahmen höfischer Kultur und Literatur, in welchem die religiösen Vorstellungen des Parzival angesiedelt sind, sowie drittens eine erzähltheoretisch orientierte Perspektive auf die konzeptionelle Verknüpfung von Literatur und Religion im höfischen Erzählen, für welche eine spezifisch auf den erzählenden Text ausgerichtete Vermittlung der Funktionalität des Religiösen noch zu leisten sein wird. Der Begriff der Laientheologie, der in der Forschung häufig auch in Form des Laientums oder der (Laien- oder Volks-)Frömmigkeit auftritt, bezeichnet zunächst einmal religiöse Vorstellungen, die zwar in ihrer systematischen Ordnung
110
Erkenntnisinteresse dieser Arbeit sind explizit religiös konnotierte und strukturierte Erzählmuster im Parzival. Deshalb wurde in der Darstellung der Forschungslage auch darauf verzichtet, auf die Arbeit von Retzer einzugehen (Retzer 2007). Grundsätzlich versucht diese Interpretation jüngsten Datums zwar ebenfalls eine gesellschaftstheoretische Annäherung an die Sinnstrukturen des Textes, allerdings ist ihre Grundlage die psychoanalytische Mythostheorie Girards zu Zuständen kollektiver Entdifferenzierung. Aufgrund der prinzipiell von dieser Arbeit verschiedenen methodologischen Basis und ebenso, weil der Mythosbegriff als zu umfassend und als zu unspezifisch erscheint, wird eine Rezension auch im Folgenden unterlassen bleiben. Ein funktionaler Religionsbegriff scheint dem Text deshalb angemessener als der Mythosbegriff, weil er zwischen einer immanenten und transzendenten Dimension zu unterscheiden vermag. Das ist vor allem deshalb wichtig, weil man es im Falle des christlichen Gottes immer auch mit Transzendenz zu tun hat, dies unterscheidet diesen Religionsbegriff von anderen kultischen, auf den Mythos ausgerichteten und auch rein immanent denkbaren religiösen Vorstellungen.
Resümee der Forschungslage, Zielsetzung und Vorgehensweise der Arbeit
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beschreibbar sind, sich darin aber nicht einem bestimmten theologischen Entwurf, einer kirchlich bestimmten Doktrin oder aber auch bestimmten häretischen Positionen zuordnen lassen. ‚Häresie‘ und ‚Ketzertum‘ sind vor allem deshalb aus dem Versuch der Begriffsbestimmung auszuschließen, weil sie lediglich Auskunft über die kirchliche Haltung zu diesen religiösen Auffassungen geben und wenig zu einer breiter aufgestellten Kontextualisierung beitragen. Die Beschreibung einer laikalen Kultur bedarf des Ausbruchs aus der eindimensionalen Identifikation spezifischer Lehren, die überdies zumeist mit den Namen prominenter theologischer Denker besetzt sind, gleich, ob sie nun im Singular oder Plural als Einfluss gedacht sind. Was schließlich für eine Definition von Laientheologie deshalb vielleicht sogar als noch wichtiger erscheint, ist ein grundsätzlicher Perspektivenwechsel: Als Laientheologie werden hier religiöse Vorstellungen verstanden, die jenseits der Machtansprüche der Kirche (und ebenso wenig in der konkreten Auseinandersetzung mit diesen) entworfen werden und sich daher ihrem Wirkungskreis entziehen. Diese wichtige Unterscheidung scheint nur auf den ersten Blick nicht wirklich trennscharf. Es ist ja einzugestehen, dass zugleich auch nicht sinnvoll von ‚der‘ Kirche im Mittelalter gesprochen werden kann. Diese Differenz markiert hier jedoch viel eher die Notwendigkeit der Kontextualisierung von laikalen Vorstellungen. Sie führt nämlich zu der Frage: Was genau ist denn der Raum, in dem die entsprechenden Gottesbilder gezeichnet sind und Religion verhandelt wird? Im Falle des Parzival ist dies die höfische Kultur, spezieller sogar: die höfische Literatur. Dem Gedanken der Durchdringung von Höfischem und Religiösem gemäß wird Laientheologie im Folgenden als dezidiert höfische Laientheologie verstanden. Mit der Einsicht in die Kontextgebundenheit von Laientheologie und ihren Gottesbildern ist deshalb auch bereits der zweite Punkt angesprochen, der sich aus den Ergebnissen bisheriger Forschung für das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit fruchtbar machen lässt: der Bezugsrahmen höfischer Literatur. Daran anknüpfend gilt es ganz klar, höfisch-adlige Konzepte wie u. a. Ritterlichkeit und Verwandtschaft in die Untersuchung religiöser Vorstellungen mit einzubeziehen. Der Blick ist also auf die Konstruktivität und Abhängigkeiten des Erzählens vom Religiösen zu richten. Darauf aufbauend gilt es auch den Nutzen von Religion für diese Konzepte, ihren funktionalen Einsatz im höfischen Herrschaftsverband usw., herauszuarbeiten. Höfische Laientheologie im Parzival zum Gegenstand zu machen, bedeutet aber ebenso die Selbstaussagen des Textes als jenseits der Theologie angesiedelte Religionsentwürfe ernst zu nehmen und damit auch die Eigengesetzlichkeit von Literatur, in deren Rahmen diese Gottesbilder formuliert sind, anzuerkennen. Daraus erwächst schließlich eine spezifische Analyseanforderung, zum einen an die Fragestellung der Arbeit, da sie die Eigengesetzlichkeit höfischen Erzählens umfassen muss, und zum anderen an die methodologische Herangehensweise, weil sie zwischen der Funktionalität von Religion im höfischen Kontext und den Bedingungen und Möglichkeiten höfischen Erzählens von Religion zu vermitteln hat.
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Einleitung und Stand der Forschung
Es bedarf also, womit schließlich der letzte Punkt angesprochen ist, um die dem Parzival eingeschriebene Laientheologie überhaupt sichtbar machen und sie auch in ihrer Rolle als konstitutiver Teil seines Erzählkonzepts vorstellen zu können, einer konzeptionellen Verknüpfung des funktionalen Religionsbegriffs mit einer erzähltheoretisch orientierten Perspektive. Grundsätzlich anschlussfähig erscheint hierfür zunächst einmal die Differenzierung von Erzähl- und Figurenebene, denn nur so tritt das autoritative Problem bzw. die Problematik, von Gott zu erzählen, überhaupt zutage. Diesen Ansatz gilt es aber weiter zu modifizieren, weil die Aussagen der Erzählinstanz im Parzival nicht ohne den situativen Bezug deutbar sind, sie sind perspektivisch und relativ. Die Erzählebene wird gerade in Gegenwart von Religion nicht von einem modernen auktorialen Erzähler bestimmt, die spezifischen Positionen und Haltungen der Erzählinstanz werden im Hinblick auf die Funktion des Religiösen stattdessen erst noch in der Analyse zu ermitteln sein. Eine prominente Rolle spielt hierbei der Deutungsansatz zur ‚Leerstelle Gott‘ bzw. zu ‚Gott als Interpretament‘, da er den Raum für weitere Überlegungen zur Auslagerungsfunktion von Religion öffnet. Relevant werden an dieser Stelle überdies auch Fragen nach den Erzählstrategien, durch welche religiöse Strukturen zum Tragen kommen: Welche Formen lassen sich für das Erzählen vom Religiösen identifizieren? Wie verhält es sich mit religiösen Verweisen auf Erzähl- und Figurenebene und welche Rolle spielen perspektivenabhängige Wahrnehmungsmuster dabei? Lässt sich etwas über die Bildhaftigkeit religiöser Muster und spezifische Visualisierungsstrategien des Textes aussagen? An diesen Fragen wird außerdem deutlich, dass insbesondere die Fragen nach Wahrnehmung, Wahrnehmungsmustern und -möglichkeiten von Belang sind, womit implizit auch ein rezeptionsästhetischer Aspekt der Interpretation angesprochen ist. Gemeint ist damit, dass die für das Erzählen vom Religiösen bisher als notwendig anerkannte Trennung von Figuren- und Erzählebene noch um die der Rezeption zu erweitern ist. Gerade hinsichtlich seiner heilsgeschichtlichen Perspektive macht der Text zahlreiche Angebote an den Rezipienten, die es in der Untersuchung entsprechend zu berücksichtigen gilt. Freilich sollen damit keine Aussagen über den realhistorischen Rezipienten getroffen werden, sondern Ziel ist es explizit formulierte oder strukturell ableitbare Offerten im Parzival, die sich an die Rezipienten richten, einsehbar und als ein elementarer Bestandteil seiner Textualität erkennbar zu machen. Um eine Vermittlung von erzähltheoretischen Überlegungen und der Definition eines funktionalen Religionsbegriffs aber überhaupt leisten zu können, bedarf es über die weiterführenden Ergebnisse bisheriger Forschungsarbeiten zum Parzival hinaus eines soliden methodologischen Fundaments. Ein solcher funktionaler Religionsbegriff muss ohnehin erst einmal theoretisch entworfen werden. Zu diesem Zweck bietet sich Luhmanns systemtheoretische Konzeption der Funktionalität von Religion an. Zwar sind seine Überlegungen grundsätzlich soziologischer Natur, ihr konstruktivistischer Ansatz der Gesellschaftstheorie erlaubt es jedoch, in ihrer modifizierten Form auch Zusammenhänge über die Dis-
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ziplinengrenze hinaus herzustellen. Überdies haben systemtheoretisch orientierte Deutungsansätze schon seit geraumer Zeit Einzug in die Literaturwissenschaften gehalten und sollten dahin gehend niemanden mehr sonderlich befremden. Gerade an der Art des Erzählens interessierte Interpretationen haben es ja ständig mit der Frage nach der Gemachtheit, mit der Frage nach dem ‚wie?‘ und dem Blick auf die Konstruiertheit von Texten zu tun. Insofern lässt sich an der prinzipiellen Anschlussfähigkeit kaum Zweifel erheben. Allerdings, und soviel sei an dieser Stelle zur Begründung der methodologischen Wahl bereits gesagt, ist das theoretische Potential der systemtheoretischen Analyse, speziell von Luhmanns komplexem und umfassendem Entwurf, bei Weitem noch nicht ausgeschöpft.111 Diskutiert im engeren Sinne werden systemtheoretische Überlegungen in der Literaturwissenschaft zwar schon seit den 70er Jahren, allerdings sind sie in der Germanistik und insbesondere in der mediaevistischen Forschung bislang nur vereinzelt und in wenigen Ansätzen tatsächlich angewandt worden.112 Gerade aber für eine Wissenschaft, die Literatur im Hinblick auf ihre historische Dimension im Spannungsfeld von Soziokulturellem und Zeichenhaftigkeit zu erörtern sucht, birgt diese Theorie noch entscheidendes Potential: „Eine systemtheoretische Literaturwissenschaft bietet die Möglichkeit einer Einbeziehung der historischen bzw. soziokulturellen Voraussetzungen von Literatur bei gleichzeitiger differenzierter Berücksichtigung des Literaturspezifischen in Abgrenzung von anderen gesellschaftlichen Bereichen. Beide Aspekte werden in ein einheitliches begriffliches Konzept integriert, das sich zudem zeitgemäß im Rahmen einer konstruktivistischen Erkenntnistheorie bewegt“.113 Der wesentliche Vorteil eines systemtheoretischen Ansatzes, in diesem Fall Luhmannscher Provenienz, besteht also darin, dass damit eine Grundlage geschaffen ist, auf welcher Literatur sowohl als Sozial- als auch als Symbolsystem begriffen werden kann.114 Das ist für die Untersuchung des Zusammenhangs und der Interaktion von Religion und höfischem Erzählen nicht nur förderlich, sondern geradezu unabdingbar. Hierdurch scheint mir überdies auch ein entscheidender Vorteil gegenüber diskursanalytischer Methodik begründet. An der Diskursanalyse orientierte Arbeiten neigen gerne dazu, nur auf der symbolischen Ebene, lediglich innerhalb der sprachlich geregelten Eigengesetzlichkeit von Literatur zu operieren. Der kulturelle Aspekt und die kulturelle Verortung von Literatur werden somit sekundär. Dies widerspricht jedoch dem eigentlichen Anspruch germanistisch mediaevistischer Forschung, insbesondere wenn sie das Kulturphänomen Religion zu durchleuchten sucht.115 111 112
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Vgl. Reinfandt 2004. S. 648. Auf entsprechende Beispiele aus der germanistischen Mediaevistik werde ich bei der Diskussion über die Anwendtbarkeit Luhmanns Religionsbegriffs in II. 2. näher eingehen. Reinfandt 2004. S. 648. Vgl. hierzu Jahraus/Schmidt 1998; insb. S. 96–101. Zur Rolle von Luhmanns Theorie innerhalb des Prozesses einer kulturwissenschaftlichen Ausrichtung der Literaturwissenschaften vgl. auch Reinfandt 2001; hier S. 113: „Luhmanns sozio-
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Selbstverständlich kann das Ziel keine schematische Anwendung von Luhmanns Religionstheorie sein, sondern auch hier gilt es, besagte Eigengesetzlichkeit der Literatur ernst zu nehmen.116 Für die theoretische Vermittlung ist deshalb zunächst auch an die allgemeine kommunikative Funktion von Literatur zu denken.117 Den Anschluss ermöglichen Luhmanns Überlegungen zu einem funktionalen Kunstbegriff, in dessen Zentrum gesellschaftliche Wahrnehmungsmöglichkeiten stehen. In Bezug auf die literarische Brechung der kommunikativen Funktion von Religion bedeutet dies, dass höfisches Erzählen erlaubt, den Umgang höfischer Literatur mit Religion wahrnehm- und in der Offenbarung seiner Konstruktivität auch beobachtbar zu machen. Mit einer dergestalt an die Systemtheorie angelehnten Methodik dürfte es zum einen möglich werden, sowohl die immanente als auch die transzendente Funktion Gottes für das höfische Erzählen in den Blick zu bekommen. Und zum anderen sollten konkrete soziokulturelle Füllungen dieser Funktionen ausfindig gemacht, ihre höfischen und religiösen Semantisierungen identifiziert und beschrieben werden können. Dabei werden insbesondere ihre spezifischen Verknüpfungen, gewissermaßen ihre Interimsprache, von Interesse sein: Mit Begriffsanleihen aus Luhmanns funktionaler Religions- und Kunsttheorie soll über die Vermittlung erzähltheoretisch orientierter Fragestellungen versucht werden, die sprachliche Gestaltung des Zusammenspiels von Religion und Höfischem im Prozess des Erzählens zu durchleuchten. Bevor der Begriff des Erzählens in den Formulierungen hier nun allerdings droht, arbiträr zu werden, ist an dieser Stelle einer vorausgreifenden und -eilenden Methodendiskussion Einhalt zu gebieten. Besser ist, das theoretische Fundament dieser Arbeit, damit es vollständig einseh- und nachvollziehbar wird, schrittweise zu entwickeln. Im Folgenden werden daher zunächst Luhmanns Überlegungen zur Religion vorgestellt,118 um daraufhin ihre grundsätzliche An-
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logische Systemtheorie ist in dieser Hinsicht sicher nicht der Weisheit letzter Schluß, bietet aber […] ein erstaunliches Potential für die kulturwissenschaftliche (Re-)Kombination der unterschiedlichsten Fragestellungen, ohne dabei hinter das Reflexionsniveau der jüngeren Theoriebildung zurückzufallen“. Diese Arbeit versteht sich explizit nicht als Luhmann-Exegese. Seine Theorie wird dezidiert als Werkzeug, nicht als primärer Untersuchungsgegenstand verstanden. Dies scheint überdies die richtige Stelle, um ein literaturwissenschaftliches Dogma anzubringen: Der Text hat immer recht; auch und gerade weil das Thema Religion in der Vergangenheit zu einem anderen MethodikText-Verhältnis gereizt hat. Methodologisch gilt es hier ein, zumindest in der mediaevistischen Germanistik, noch fast unbearbeitetes Feld zu erschließen. Zur allgemeinen Umsetzung von Luhmanns kommunikationstheoretischen Überlegungen in der Literaturwissenschaft vgl. überdies Ort 2008; hier S. 30: „Das kulturwissenschaftliche und mediengeschichtliche Potential von Luhmanns Theorie der ‚symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien‘ harrt darüber hinaus noch kulturwissenschaftlicher Anwendung …“. Dies erfordert auch eine Einbettung in seine allgemeine Systemtheorie, da die Überlegungen zur Religion und Kunst erstens davon nicht losgelöst gedacht und zweitens ohne sie auch nicht verständlich und nachvollziehbar dargestellt werden können.
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wendbarkeit für die Analyse höfischer Texte zu diskutieren und schließlich ihre durch die Verknüpfung mit seinem funktionalen Kunstbegriff modifizierte Gestalt für die Interpretation des Parzival darstellen und anschlussfähig machen zu können.
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Einleitung und Stand der Forschung
Luhmanns funktionaler Religionsbegriff
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II. Methodik 1. Luhmanns funktionaler Religionsbegriff Luhmann entwickelt seinen funktionalen Religionsbegriff auf der Folie seiner allgemeinen Systemtheorie und setzt damit an gesellschaftlichen Tiefenstrukturen an.1 Der systemtheoretische Ansatz lässt sich grundsätzlich als konstruktivistisch und differenztheoretisch verstehen.2 Als konstruktivistisch wird seine Systemtheorie aus philosophischer Sicht deshalb bezeichnet, weil sie davon ausgeht, dass Erkenntnis nicht mit einer externen Wirklichkeit korrespondiert, sondern grundsätzlich auf die Konstruktionen eines Beobachters zurückzuführen ist: „Erkenntnis ist Entdeckung der Wirklichkeit – nicht im Sinne einer progressiven Enthüllung vorab existierender Objekte, sondern im Sinne der ‚Erfindung‘ externer Daten“.3 Das bedeutet mithin, dass unter systemtheoretischen Prämissen kein Gegenstand oder Begriff als gegeben vorausgesetzt werden kann.4 Da Luhmanns Ansatz auf den Ausgangspunkt von Unterscheidungen rekurriert, sind seine Analysen zudem als differenztheoretische Theorie beschreibbar. In diesem Sinne werden an die erste Unterscheidung von System und Umwelt weitere angeschlossen wie z. B. die Unterscheidung von Identität und Differenz, Operation und Beobachtung oder auch von aktuell und möglich. Hierfür wird nun der Begriff der Form im Luhmannschen Sinne eingeführt: „Die so verstandene Unterscheidung wird auch mit dem Ausdruck Zwei-Seiten-Form bezeichnet: eine Form ist die Form einer Unterscheidung, also einer Trennung, einer Differenz“.5 Die Systemtheorie begreift sich selbst als „Supertheorie“ und erhebt damit einen universalistischen Anspruch.6 Indem sie es sich allerdings zur Aufgabe macht, 1
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Luhmann 2002. Es muss davon abgesehen werden, Luhmanns hochkomplexe Systemtheorie ausführlich erläutern zu wollen. Stattdessen kann lediglich auf diejenigen Komponenten eingegangen werden, welche für das Verständnis der Entwicklung eines literaturwissenschaftlich anschlussfähigen funktionalen Religionsbegriffs von Nöten scheinen. Baraldi 1997. S. 72. Ebd. S. 100. Was in der Luhmannschen Theorie allerdings vorausgesetzt wird, ist die grundsätzliche Annahme der Existenz von Systemen. Mit dieser Setzung leitet Luhmann sein erstes Kapitel der Sozialen Systeme ein: „Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, daß es Systeme gibt. Sie beginnen also nicht mit einem erkenntnistheoretischen Zweifel. […] Der Systembegriff bezeichnet also etwas, was wirklich ein System ist, und läßt sich damit auf eine Verantwortung für Bewährung seiner Aussagen an der Wirklichkeit ein“ (Luhmann 1987. S. 30). Baraldi 1997. S. 72. „Supertheorien sind Theorien mit universalistischen (und das heißt auch: sich selbst und ihre Gegner einbeziehenden) Ansprüchen. […] Systemtheorie ist eine besonders eindrucksvolle Su-
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Methodik
mit Hilfe ihrer Theoreme die gesamte Gesellschaft zu analysieren, verweist sie dadurch auch deutlich auf ihre soziologische Natur, worüber sie explizit auch nicht hinausreichen will.7 Vor deren erkenntnistheoretischem Hintergrund entwickelt Luhmann seinen funktionalen Religionsbegriff, den er in eine grundlegende Religionstheorie einbettet und welchen er daraufhin in einer Untersuchung konkreter Formen von Religion heuristisch anwendet. Luhmann stellt sich in der Religion der Gesellschaft folgendem Problem: „Woran erkennen wir, diese Frage muß zuerst gestellt und beantwortet werden, daß es sich bei bestimmten sozialen Erscheinungen um Religion handelt?“.8 Den Axiomen seiner soziologischen Systemtheorie folgend zeichnet er ein Bild dessen, was die Existenzform Religion in der menschlichen Gesellschaft ausmacht. Luhmann gelingt es in seiner Darstellung mit der Tradition der Anthropologisierung religiöser Phänomene (bzw. dem anthropologischen Verhältnis Gott-Mensch) zu brechen, indem er an die Stelle von spezifisch ontologischen Wesens-Annahmen Gottes und des Menschen stattdessen Kommunikationsstrukturen treten lässt: „In dieser Zentrierung auf den Menschen liegt wohl der Grund dafür, daß die klassische Religionssoziologie nicht (oder allenfalls in einem ganz äußerlichen Sinne) von Kommunikation handelt. Dieses Defizit (wenn es denn eines ist) nehmen wir als Ausgangspunkt für eine Neubeschreibung der Aufgabe einer soziologischen Religionstheorie. Wir wollen, anders gesagt, den Begriff Mensch durch den Begriff Kommunikation und damit die anthropologische Religionstheorie der Tradition durch eine Gesellschaftstheorie ersetzen. […] In den bisher[igen …] Versuchen, auf die Frage nach dem Wesen der Religion eine Antwort zu finden, zeigen sich Tendenzen, ihren eigenen Rahmen zu sprengen. Sie erweisen sich, wie man mit Jacques Derrida oder mit Paul de Man sagen könnte, als ‚dekonstruierbar‘“.9 Nach Luhmann ist Religion eines der sozialen Systeme, welche die menschliche Gesellschaft konstituieren. Grundsätzlich bildet sich ein soziales System
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pertheorie. So umstritten sie ist: einen gewissen Reifungsprozeß kann man ihr nicht absprechen …“ (Luhmann 1987. S. 19). Freilich handelt sich eine Theorie mit solchem Selbstverständnis den kaum abzustreitenden Vorwurf der hermetischen Schließung ein, denn auf dieser Basis ist sie nicht wirklich diskutierbar und gerade deshalb angreifbar. „Die allgemeine Systemtheorie soll an der Begegnung mit soziologischen Materialien bewährt werden, und ineins damit sollen die Abstraktionsgewinne und Begriffsbildungsverfahren, die interdisziplinär bereits vorliegen oder sich abzeichnen, für soziologische Forschung nutzbar gemacht werden“ (Luhmann 1987. S. 28). Auf die Problematik der Anwendbarkeit der soziologischen Theorie Luhmanns auf den literarischen Text wird in der methodologischen Grundlegung dieser Arbeit noch ausführlich eingegangen werden. Festzuhalten wäre hier zunächst, wie auch bereits angesprochen, dass sich differenztheoretische, konstruktivistische Prämissen und literaturwissenschaftliches Arbeiten nicht per se ausschließen, sondern dass diese grundlegenden Überlegungen für die Analyse literarischer Texte durchaus fruchtbringend erscheinen. Insbesondere wenn man bedenkt, dass Derridas literaturtheoretischer Dekonstruktivismus mit sehr ähnlichen Kategorien operiert. Luhmann 2002. S. 7. Ebd. S. 13.
Luhmanns funktionaler Religionsbegriff
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nach Luhmann durch aktualisierende Kommunikationen, welche im Allgemeinen auf Unterscheidungen und im Speziellen auf Selektionen im Sinne systemeigener Auswahl beruhen. Ein System beobachtet gewissermaßen die an es gerichtete Mitteilung unter dem Gesichtspunkt von struktureller Relevanz für seine eigenen Operationen und grundsätzlicher Systemkompatibilität. Auf diese Weise generiert sich das System selbst. Luhmann schreibt hierzu: „Durch Selektionszwang und durch Konditionierung von Selektionen läßt sich erklären, daß aus einer Unterschicht von sehr ähnlichen Einheiten (z. B. wenigen Arten von Atomen, sehr ähnlichen menschlichen Organismen) sehr verschiedene Systeme gebildet werden können. Die Komplexität der Welt, ihre Arten und Gattungen, ihrer Systembildung entsteht also erst durch Reduktion von Komplexität und durch selektive Konditionierung dieser Reduktion“.10 Gesellschaft lässt sich hierbei als die Gesamtheit aller Kommunikationen verstehen. Denn aus dieser soziologischen Perspektive gibt es „… außerhalb des Kommunikationssystems Gesellschaft überhaupt keine Kommunikation. Das System ist das einzige, das diesen Operationstypus verwendet, und ist insofern real-notwendig geschlossen“.11 Und insofern ist auch Gesellschaft selbst als ein riesiges soziales System zu verstehen, das alle anderen sozialen Operationen einschließt. Kommunikation (bestehend aus den Selektionsleistungen Mitteilung, Information und Verstehen der Differenz zwischen Information und Mitteilung)12 ist die bestimmende Operationsform sozialer sinnhafter Systeme, durch welche sie sich von psychischen sinnhaften und biologischen Systemen unterscheiden.13 Entscheidend ist schließlich die Reduktion von Möglichkeiten: „Von Kommunikation kann man, wie immer die technische Ausstattung des Prozesses aussehen mag, nur sprechen, wenn die Änderung des Zustandes von Komplex A mit einer Änderung des Zustandes von Komplex B korrespondiert, obwohl beide Komplexe andere Möglichkeiten der Zustandsbestimmung hätten. Insofern heißt Kommunizieren Beschränken (sich selbst und den anderen unter Beschränkung setzen)“.14 In den sozialen Systemen heißt kommunizieren also Unterscheidungen treffen, abzugrenzen, was außerhalb der Kommunikation und damit außerhalb des Gesellschaftssystems liegt. Auf der Ebene der eigenen Operationen ist das Sozialsystem Gesellschaft hierdurch operativ geschlossen. Das bedeutet, dass es eigene Operationen ausschließlich im Netzwerk und durch das Netzwerk eigener Operationen reproduziert und sich dadurch von einer nicht dazugehörigen Umwelt abgrenzt. Nur so kann das Gesellschaftssystem sich selbst erhalten, indem es sich von der weitaus komplexeren Umwelt unterscheidet und eigene Selektionsstrategien ausbildet. Dies gilt, 10 11 12 13
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Luhmann 1987. S. 47. Ebd. S. 60f. Ebd. S. 201ff. Aufgrund der sich hier herauskristallisierenden sozialen Umwelt von Literatur, die eben als Teil gesellschaftlicher Kommunikation zu begreifen ist, ist es auch wenig sinnvoll, mit psychischen Strukturen literarische Texte erklären zu wollen oder auch das Phänomen Religion. Luhmann 1987. S. 66.
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so lässt sich formulieren, dabei sowohl für das Gesamtsystem Gesellschaft, gewissermaßen die Summe aller sozialen Kommunikationen, als auch für jedes einzelne in ihm enthaltene soziale System und dessen spezifische Abgrenzung zur jeweiligen Umwelt. Luhmann erklärt dies folgendermaßen: „Die Einrichtung und Erhaltung einer Differenz von System und Umwelt wird deshalb zum Problem, weil die Umwelt für jedes System komplexer ist als das System selbst. […] Es gibt, mit anderen Worten, keine Punkt-für-Punkt-Übereinstimmung zwischen System und Umwelt […]. Eben deshalb wird es zum Problem, diese Differenz trotz eines Komplexitätsgefälles einzurichten und zu erhalten. Die Komplexitätsunterlegenheit muß durch Selektionsstrategien ausgeglichen werden. Daß das System zur Selektion gezwungen ist, ergibt sich schon aus der eigenen Komplexität. Welche Ordnung in der Relationierung seiner Elemente gewählt wird, ergibt sich aus der Komplexitätsdifferenz zur Umwelt“.15 Für das Verständnis des Luhmannschen Kommunikationsbegriffes gilt es ferner unbedingt zu beachten, dass üblicherweise formuliert wird, Kommunikation setze solche Beschränkungen bereits voraus.16 Luhmann lehnt dabei solche Annahmen, wie beispielsweise die Voraussetzung einer Sprache oder bestimmter Normen für Kommunikation, welche die Selektion von Mitteilungen zu regulieren suchen, nicht grundsätzlich ab. Allerdings insistiert er darauf, dass solche Beschränkungen ihrerseits nur im Verlauf von Kommunikation entstehen, so dass man genauer formulieren müsste: „Kommunikation ermöglicht durch Sich-Beschränken sich selbst“.17 Oder anders: Kommunikationen sind Operationen, die das Sozialsystem Gesellschaft (aus seinen eigenen Produkten) reproduziert. Für dieses Phänomen, dass soziale Systeme sich selbst reproduzieren, indem ihre Operationen stets auf das rekurrieren, was dem jeweiligen System selbst als Kommunikationsstruktur zu eigen ist, verwendet Luhmann den Begriff der Selbstreferenz. Als selbstreferentielle soziale Systeme sind daher Systeme zu verstehen, die sich mit jeder Operation, im Fall von sozialen Systemen mit jeder kommunikativen Operation,18 auf sich selbst beziehen und dadurch das System auch gewissermaßen erst erschaffen. Die Operationen aller Systeme sind durch die Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz bestimmt. Sie oszillieren zwischen diesen beiden Referenzrichtungen, wobei sie jeweils nur eine der beiden fokussieren können, jedoch stets vor dem Hintergrund der Möglichkeit zur anderen überzugehen. Selbstreferentialität führt nach Luhmann dahin gehend zur Spezifikation der allgemeinen Systemtheorie: „Unsere These, daß es Systeme gibt, kann jetzt enger gefaßt werden: Es gibt selbstreferentielle Systeme. 15 16 17 18
Luhmann 1987. S. 47f. Vgl. hierzu ebd. S. 66. FN 77. Ebd. Selbstreferentielle Systeme können neben sozialen Systemen auch organische oder psychische Systeme sein, welche die Welt gleichfalls nur aufgrund ihres Selbstkontakts beobachten können. All diesen Systemen ist zu eigen, dass sie auf der Folie der Grundunterscheidung System/Umwelt zu operieren beginnen.
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Das heißt zunächst nur in einem ganz allgemeinen Sinne: Es gibt Systeme mit der Fähigkeit, Beziehungen zu sich selbst herzustellen und diese Beziehungen zu differenzieren gegen Beziehungen zu ihrer Umwelt“.19 Für den Kommunikationsbegriff hat diese funktionale Definition den Vorteil, dass alle Möglichkeiten von Kommunikation impliziert werden; es ist folglich nicht erforderlich auf dieser medialen Ebene eine (aus literaturwissenschaftlicher Perspektive häufig hierarchisch gedachte) Unterscheidung von rein sprachlicher und gestischer, performativer usw. Kommunikation vorzunehmen, sondern sie sind hier gleichberechtigt auf einer Ebene zu behandeln.20 Mit gesellschaftlicher Kommunikation sind prinzipiell zunächst einmal Abgrenzungsprozesse gemeint. Die tragende Idee ist, dass die Welt als Ganzes nicht kommuniziert werden kann. Systeme selektieren diejenigen Informationen aus ihrer Umwelt, die sich für ihre eigenen Strukturen als anschlussfähig erweisen. Nur so ist es für sie überhaupt möglich, einen Zugriff auf die Welt zu tätigen. Die Abgrenzung von Systemen zu ihrer Umwelt ist durch ihre Selbstreferentialität gewährleistet. Durch die operative Grenzziehung generiert das System schließlich seine Einheit; oder im Hinblick auf die Selbstsicht des Systems ließe sich dies auch folgendermaßen beschreiben: Das System verleiht sich durch den operativen Abgrenzungsprozess Identität, da es sich mit jedem operativen Akt die Reproduktion seiner eigenen Strukturen ermöglicht,21 wie im Folgenden erläutert wird. Luhmann verwendet für die (re-)produktive Grenzziehung den Begriff der Autopoiesis, was er folgendermaßen expliziert: „Die Elemente [von Kommunikation bspw.] ermöglichen eine über andere Elemente laufende Rückbeziehung auf sich selbst […]. Selbstreferentielle Systeme sind auf der Ebene dieser selbstreferentiellen Organisation geschlossene Systeme, denn sie lassen in ihrer Selbstbestimmung keine anderen Formen des Prozessierens zu“.22 Die Art und Weise der Aneignung von Neuem erfolgt also nicht trivial-mechanisch. Mit dem Kon19 20
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Luhmann 1987. S. 31. Der Luhmannsche Kommunikationsbegriff erweist sich durch seine Historisierbarkeit für die mittelalterliche Literatur als methodisch geeignetes Analyseinstrument, gerade weil die Unterscheidung zwischen Sprache und nonverbaler Kommunikation auf der Ebene der kommunikativen Mittel, nicht ihrer Medien erfolgt. Damit ist nicht gemeint, dass diese Unterscheidung im Allgemeinen nichts austrägt, sondern damit kann dem Umstand Rechnung getragen werden, dass Performanz und Visualität als gleichberechtigte Bestandteile im Text ebenso wie Sprechakte behandelt werden können, was dem dezidiert bildhaften und über körpergebundene Wahrnehmungsmodi organisierten Erzählen mittelalterlicher Literatur auch als wesentlich angemessener erscheint. Einheit und Identität unterscheiden sich durch den Beobachterstandpunkt. Vgl. hierzu Baraldi 1997. S. 75: „Die Einheit eines Systems kann als Einheit nur von einem externen Beobachter beobachtet werden. Wenn dagegen der Beobachter das System selbst ist, spricht man von Identität. Die Identität eines Systems entsteht also nur in der Reflexion des Systems auf die eigene Einheit“. Luhmann 1987. S. 60.
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zept der operativen Schließung autopoietischer Systeme wird der Umstand bezeichnet, dass jede Operation, die zur Produktion von neuen Elementen führt, einerseits an frühere Operationen gekoppelt und andererseits zugleich selbst Voraussetzung für zukünftige Operationen desselben Systems ist: Ein autopoietisches System „ermöglicht die elementaren Einheiten, aus denen es basal ‚besteht‘ […]. Ein autopoietisches System erzeugt oder ermöglicht sich selbst; in diesem Sinne werden z. B. im wirtschaftlichen System Zahlungen durch Zahlungen ermöglicht, ermöglichen sich Zahlungen durch sich selbst“.23 Determinierende Umwelteinflüsse werden gekappt und es entsteht aus der Kombination von Selbstreferenz und operativer Schließung systemintern ein immenser Überschuss an Operationsmöglichkeiten, welcher für das System selbst unkalkulierbar bleibt. Systeme entwickeln somit, könnte man formulieren, eine eigene Sicht auf die Welt und konstituieren sich durch diese systemeigene Perspektive auch selbst. Sie sind daher jedoch für sich selbst intransparent, sie operieren in einem Raum selbsterzeugter Ungewissheit.24 Daraus ist Folgendes abzuleiten: Soziale Systeme sind, wie bereits dargestellt, durch die Operationsform Kommunikation bestimmt, ihre Kommunikationen reproduzieren sich aufgrund anderer Kommunikationen und stellen damit die Einheit bzw. die Identität des Systems her. Diese spezifische Art der Selbstreferenz ist nun, weil sie die operative Grenzziehung des Systems zur Umwelt bedingt, nach Luhmann wesentliche Grundlage der Autonomie von Systemen. Er formuliert hierzu aber auch: „Natürlich bleibt alle Kommunikation qua Energiebedarf und Information von Umwelt abhängig, und ebensowenig ist zu bestreiten, daß jede Kommunikation über Sinnbezüge direkt oder indirekt auf die Systemumwelt verweist. […] Ein Kommunikationssystem ist deshalb nie autark, es kann aber durch eigene Konditionierung kommunikativer Synthesen Autonomie gewinnen“.25 Mit dem Begriff Autonomie wird in seiner Systemtheorie also nicht der Zustand völliger Umweltunabhängigkeit bezeichnet, vielmehr ist diese Unabhängigkeit stets relativ zu denken. Autonomie rekurriert viel eher auf die operative Geschlossenheit von Systemen und meint die Selbstregulierung eigener Unabhängigkeit und Abhängigkeit zugleich.26 Man könnte daher formulieren, dass autonomes Handeln den eigenen Blick eines Systems auf die Welt meint, die Verwandlung der Mitteilungen seiner Umwelt gemäß den eigenen Regeln. Insofern sind der Anschluss an und die Auseinandersetzung mit der Umwelt zwingende Voraussetzungen für systemische Autonomie. Eine Steigerung an autonomem Handeln erfordert daher immer beide Referenzrichtungen, einerseits die Referenz auf die eigenen Gesetzmäßigkeiten und andererseits fremdreferentielles Operieren in Richtung der in der Umwelt angesiedelten Systeme. Autonomie be23 24 25 26
Krause 2001. „System, autopoietisches“, S. 208. Luhmann 1987. S. 157f. Ebd. S. 200. Vgl. Krause 2001. „Autonomie“, S. 109.
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zeichnet im Luhmannschen Denkschema die systemeigene Perspektive auf die Welt und nicht das völlige Losgelöstsein und Unabhängigkeit von ihr.27 Den systemtheoretischen Prämissen Luhmanns folgend ist allen sozialen Systemen gemein, dass die basale Selbstreferenz durch das Medium Sinn gewährleistet wird. Sinn ist in der Terminologie seiner Systemtheorie das allgemeinste, Kommunikation selektiv erzeugende Medium für jede Formbildung, das von sozialen Systemen verwendet wird. Er definiert Sinn folgendermaßen: „Sinn ermöglicht bei allen internen Operationen ein laufendes Mitführen von Verweisungen auf das System selbst und auf eine mehr oder weniger elaborierte Umwelt; die Wahl des Orientierungsschwerpunktes kann dabei offen gehalten und den anschließenden Operationen überlassen werden, die zugleich Sinn mit Verweisungen nach außen und nach innen reproduzieren“.28 Für soziale Kommunikation bedeutet dies folglich, dass Sinn die Anschlussfähigkeit der Elemente bestimmt, welche diesen Systemen die Möglichkeit zu weiterer Kommunikation garantiert – kurz gesagt: Durch Sinn ermöglicht Kommunikation sich selbst. Einerseits kann Welt nur im Medium Sinn beobachtet werden, andererseits realisiert sich Sinn nur in sozialen (und psychischen) Systemen.29 Damit sind Sinn und System nur zusammen möglich, sie setzen einander gegenseitig voraus. Das Sozialsystem Gesellschaft und alle seine Subsysteme30 repräsentieren sich die selbsterzeugte Ungewissheit in der Form des Mediums Sinn. Sinn ist jeweils nur in bestimmten Formen greifbar, welche ihrerseits mit einem Übermaß an Verweisungsmöglichkeiten auf andere potentielle Sinnformen ausgestattet und auch nur darüber zu identifizieren sind.31 Ein ständiger Wechsel der entsprechend aktualisierten Sinnformen (re)produziert das Medium Sinn zugleich in der Art, dass weitere Operationen allein als Formbildung in diesem Medium möglich sind. Auf das Übermaß an sinnvollen Operationen reagieren soziale Systeme dann mit Selbstorganisation auf operativer und semantischer Ebene.32 Die Ausdifferenzierung sozialer Systeme erfolgt schließlich durch die Verwendung unterschiedlicher (symbolisch generalisierter) Kommunikationsmedien. Soziale Kommunikation realisiert sich also durch Medien, „die Generalisierung verwenden, um den Zusammenhang von Selektion und Motivation zu symbolisieren, das heißt: als Einheit darzustellen. Wichtige Beispiele sind: Wahrheit, Liebe, Eigentum/Geld, Macht/Recht; […] auch religiöser Glaube, Kunst …“.33 Ihre Leistung besteht darin, in verschiedenartigen Interaktionen die Selektion der jeweiligen Kommunikation in der Weise zu konditionieren, dass sie zugleich als 27
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Dies wird insbesondere im Zusammenhang mit der Frage nach dem Verhältnis von Religion und Literatur noch eine wichtige Rolle spielen. Luhmann 1987. S. 64. Baraldi 1997. S. 171. Der Begriff der Subsysteme ist dabei nicht hierarchisch, sondern funktional zu denken. Luhmann 1987. S. 114. Ebd. S. 268f. Ebd. S. 222.
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Motivationsmittel wirken und dadurch die Befolgung einer vorgeschlagenen Selektion hinreichend sichern können: „Auf diese Weise produziert und reproduziert sich Gesellschaft als soziales System“.34 Kommunikationsmedien sind daher als ein Spezifikum beschreibbar, in denen sich die Kommunikation des Systems realisiert.35 Sie sind u. a. für die permanente Abgrenzungsarbeit sozialer Kommunikation verantwortlich. Mit ihrer Hilfe generieren Systeme ihre Einheit, verleihen sie sich selbst Identität, von welcher aus sie notwendige Unterscheidungen vornehmen können. Mit der Einschränkung der Realisierung von Kommunikation durch das spezifische Medium versetzen sich Systeme in den Modus des Operierens. Somit kann hier nun genauer formuliert werden: Die Identität eines Systems entsteht durch aktualisierende Kommunikation, welche durch die Differenzierungsoperationen des jeweiligen Systems ermöglicht wird. Für Luhmann ist dabei das Entscheidende, die Potentialität mit einzubeziehen: „Das Mögliche [in der Kommunikation] wird als Differenz verschiedener Möglichkeiten […] aufgefaßt, und die zu aktualisierende Möglichkeit wird dann in ihrer Identität als dies-und-nichts-anderes bezeichnet“.36 Und damit steht am Anfang „also nicht Identität, sondern Differenz. Nur das macht es möglich, Zufällen Informationswert zu geben und damit Ordnung aufzubauen …“.37 An der Stelle der Produktion von Systemidentität setzt Luhmann nun mit seinem funktionalen Religionsbegriff an. Wichtig hierfür ist nochmals, dass die Identitätszuschreibung für das System – für sich selbst und seine Bezugspunkte in sich – zwingend notwendig ist, weil ein soziales System sich nur mit Hilfe seiner eigenen Wahrnehmungsmaschinerie der Welt zuwenden kann. Zugleich kann diese gesellschaftlich geforderte Identität aber nie fest sein,38 nie kann sie zu einer Entität werden. Aufgrund ihres kommunikativen Charakters muss sie auch dem Wandel von Kommunikation unterliegen. Luhmann schreibt über die Kon34 35
36 37 38
Luhmann 1987. S. 223. Neben ihrem Medium sind noch ihr Code und ihre soziale Funktion als die Spezifika eines sozialen Systems zu nennen. Darauf wird später zurückzukommen sein. Für das religiöse System setzt Luhmann in seiner allgemeinen Darstellung sozialer Systeme als symbolisch generalisiertes Medium den Glauben ein. Problematisch ist hierbei aber, dass dem Glauben die typische Unterscheidung zwischen Erleben und Handeln als Motivation erfordernde Selektionen fehlt. Man könnte daher formulieren, dass Religion durch den Ansatz an Identitätskonstruktionen dem Menschen zu nahe ist, um in dieser Weise unterscheiden zu können. In der Religion der Gesellschaft spielt Glaube an sich eine untergeordnete Rolle bzw. scheint auch die Pauschaldefinition als generalisiertes Kommunikationsmedium tendenziell revidiert. Luhmann 1987. S. 100f. Ebd. S. 112. In der Terminologie der Systemtheorie formuliert hieße dies, dass Selbstreferenz nie ohne Fremdreferenz zu haben ist. Auf die Beobachtungsmöglichkeiten bezogen gibt es, wie bereits angesprochen, eine Unterscheidung der Größen Einheit (in Bezug auf Fremdreferenz) und Identität (in Bezug auf Selbstreferenz). Der Beobachter erster Ordnung nimmt diese jedoch nicht wahr, nur der Beobachter zweiter Ordnung ist in der Lage, hier zu differenzieren, aber ohne beides radikal zu trennen.
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stitution von Identität: „Langfristige (evolutionäre) Stabilität ist dann nur durch Modifizierbarkeit zu gewinnen: […] Identität konstituiert sich durch Wiederholung, aber Wiederholung ereignet sich in anderen Situationen, aktiviert andere Kontexte, oft sogar andere Unterscheidungen, die Dasselbe an anderen Gegenbegriffen profilieren. In der Wiederholung wird das, was sich darin als identisch erweist, zugleich kondensiert und konfirmiert, zugleich auf einen Sinnkern (Wesen, essentia) reduziert und durch Erweiterung seiner ‚Bedeutung für …‘ konfirmiert“.39 Für die religiöse Kommunikation steht ebenfalls der Produktcharakter dessen im Zentrum, was im System kommuniziert wird, nämlich die Aktualisierung der niemals absoluten Identitäten. Dementsprechend heißt es: „Das Entstehen, aber auch die laufende Erhaltung und Reproduktion einer sozialen Ordnung ist nur auf Grund einer genau dies bewirkenden Operation zu erklären – eben auf Grund von tatsächlich stattfindender, sich selbst reproduzierender Kommunikation“.40 Damit geht es auch in Luhmanns Religionstheorie „ausschließlich um religiöse Kommunikation, um religiösen Sinn, der in der Kommunikation als Sinn der Kommunikation aktualisiert wird. Im Unterschied zu den Aussagen, die die Religion über sich selber macht, haben wir es demnach nicht mit religiösen Entitäten (Gottheiten zum Beispiel) zu tun, von denen gesagt wird, daß sie existieren. Uns interessiert nur, daß dies gesagt wird“.41 Von Interesse ist damit also nur die in der Kommunikation erzeugte Identität und Identifizierbarkeit von Religion und nicht die inhaltliche Essenz ihrer Glaubensaussagen (dass es einen Gott gibt z. B.). Religion ist für Luhmann eines von mehreren sinnkonstituierenden Systemen, die durch ihre Ordnungen Gesellschaft begründen und organisieren. Die Grenzen aller sozialen Systeme werden im Medium Sinn gezogen, die Sinngrenzen generieren somit zugleich den Rahmen der Möglichkeiten innerhalb eines Systems und überdies erlauben sie es, dass das System als Selektionskontext beobachtbar wird; sie verweisen auf die selbstreferentiellen Operationen des Systems.42 Die Funktion der Religion wird nun in genau diesem basalen Verfahren von Grenzziehung, Identitätsbildung und Unterscheidung relevant. Luhmann formuliert: „Wie immer die Grenze zwischen marked und unmarked gezogen wird: als Religion kann uns nur eine Sinngebung gelten, die genau darin ihr Problem sieht. Das heißt vor allem: daß jeder Formgebrauch Religion involviert, da jeder Formgebrauch einen unmarked state erzeugt. […] Aber dennoch hat Religion bei universaler Sinnzuständigkeit eine spezifische Unterscheidung im Auge, eben die von marked/unmarked (beobachtbar/unbeobachtbar)“.43 Dass Kommu-
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Luhmann 2002. S. 56. Ebd. S. 40. Ebd. Vgl. Baraldi 1997. S. 172. Luhmann 2002. S. 53. Die Terminologien marked/unmarked state und marked/unmarked space werden von Luhmann weitgehend synonym gebraucht.
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nikation einerseits Identität erfordert und dass es andererseits aber zugleich nie eindeutig bestimmbare Identitäten geben kann, lässt sich von einem externen Beobachter zwar als dialektischer Prozess begreifen, für die interne Perspektive des Systems liegt jedoch zwangsläufig ein Paradoxon vor, weil letztlich jedes Sinnsystem Teil der Dialektik ist und die darin agierenden Subjekte diesen Prozess mit ihrer eigenen Identität am eigenen Leib auszutragen haben. Religion ist zuständig für den Umgang mit dieser Paradoxie, die sich aus der (erforderlichen) Identitätsbildung bzw. Sinnzuschreibung ergibt.44 Die Unterscheidung ‚marked‘/‚unmarked space‘ bezeichnet dabei die identitätsstiftende Differenz dessen, was im System kommuniziert werden kann und was nicht. Der ‚unmarked space‘ schließt alles ein, was außerhalb der aktuellen Aufmerksamkeit des Systems liegt und wofür es im System keine Form gibt – wohlgemerkt des aktualisierenden Sinnzuschreibungsverfahrens des Systems. Denn das System ist selbstverständlich auf den ‚unmarked space‘ angewiesen, und zwar, weil es sich von ihm abgrenzen muss: seine Identität, wie bereits angesprochen, durch Wandel stabilisieren muss. Der ‚unmarked space‘ ist der Raum der Zukunft, des Unzugänglichen und des Verdrängten, ohne welchen die existentielle Grenzziehung nicht möglich wäre. Über seinen ‚unmarked space‘ kann ein System per definitionem nicht kommunizieren oder Konkretes aussagen, denn sollte dies geschehen, würde ja bereits eine Markierung vorliegen. Auch für Literatur ist es nach systemtheoretischer Logik unmöglich, einen ‚unmarked space‘ zu beschreiben, allerdings scheint gerade bei der Beschreibung von religiösen Phänomen die Beobachtung wichtig zu werden, dass sich literarische Texte ebenfalls permanent und spezifisch beobachtend am ‚unmarked space‘ abarbeiten.45 Die universale Zuständigkeit von Religion, wie sie Luhmann in einer elementaren Definition beschreibt, ergibt sich durch ihre prinzipielle Anschlussfähigkeit an alle sozialen Systeme, denn jedes dieser Sinnsysteme muss sich zwangsläufig am ‚unmarked space‘ abarbeiten. Das Religionssystem schließt sich als ein hierfür spezialisiertes System an all diese Systeme an, indem es einen spezifischen Code entwickelt, der den Umgang mit dem dialektischen Prozess bzw. der Paradoxie von Identität erlaubt. Damit ein System überhaupt auf die Welt im Sinne von Wahrnehmen zugreifen kann, ist es notwendig, eine Realitätsverdopplung
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Vgl. hierzu Luhmann 2002. S. 31: „Wir vermuten in diesem Bereich der Unbeobachtbarkeit, in dem Beobachten und Welt als Voraussetzung des Beobachtens nicht unterschieden werden können (im unmarked state also), den Ausgangspunkt der Probleme, die dann als Sinnform der Religion behandelt und der Evolution ausgesetzt werden. [… Diese Vermutung] ist durch unsere Analyse des Mediums Sinn gedeckt. Denn dieses Medium bietet genau jene Überschußkapazität an, nach der hier gefragt ist. Auch Unbeobachtbares – wie anders könnten wir hier davon handeln – kann als Sinn in Operationen eingebaut werden, denn Sinn hat keine Exklusionsmöglichkeiten. Man mag dem, was unzugänglich bleibt, die Form der Negation geben oder, bei logisch höheren Ansprüchen, die Form des Paradoxes“. Darauf wird bei der Darstellung der Funktionalität von Kunst zurückgekommen werden.
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vorzunehmen. Von Realitätsverdopplung zu sprechen, meint nicht, auf eine reale Außenwelt zu rekurrieren. In der Epistemologie des Konstruktivismus ist Realität stets ein Konstrukt beobachtender Systeme, welches sich in Systemen „an Widerständen des Systems gegen die Operationen des Systems“ zeigt; schließlich „verbleibt nichts, was nicht real wäre. Realität ist wie Sinn und Welt ein differenzloser Begriff“.46 Die eigene Realität ist dementsprechend das Konstrukt, das sich ein System schafft, damit es ihm möglich wird, auf die unzugreifbare Welt zuzugreifen. Dies verweist wiederum direkt auf die zentrale Funktion seines Codes: Es muss dazu nämlich einen binären Code entwickeln, der durch seine Unterscheidung die Wahrnehmung des Systems lenkt, da der Eingriff des Systems in die Welt an sich schlicht unmöglich ist. Luhmann bestimmt diese Codierung folgendermaßen: „Der Begriff des Codes soll eine Form bezeichnen, mit der dieses Problem der Realitätsverdopplung und Neustiftung der realen Realität in Operationen umgesetzt werden kann. Codierung ist keineswegs ein bloßes Erkennen, ein bloßes Bezeichnen der Realitätsverdopplung. Der Code projektiert eine andere Art von Unterscheidung, aber eine solche, die erst auf Grund der Realitätsverdopplung möglich wird und sie in die Einheit einer gespaltenen Weltsicht zurückführt. Ein Code ist eine Leitunterscheidung, mit der ein System sich selbst und sein eigenes Weltverhältnis identifiziert“.47 Damit ist die Codierung eine ganz besondere Unterscheidung: Codierungen sind binäre Schemata, die nicht einfach etwas durch Bestimmung aus dem ‚unmarked space‘ absondern, aber sie sind auch keine qualitativen Duale wie beispielsweise Mann und Frau, die auf beiden Seiten der Unterscheidung Anschlussmöglichkeiten bieten.48 Vielmehr sind sie, auch weil sie das System auf eine Asymmetrie festlegen, durch den Ausschluss von etwas Drittem gekennzeichnet. Üblicherweise gestaltet sich dieser Ausschluss als Positiv- und Negativwert, wovon der erste Wert Anschlussfähigkeit für die Operationen des Systems garantiert und der zweite sie ausschließt.49 Nur der positive Wert des Codes hat nach Luhmann für das System Sinn: „Das System kann nur auf dieser Seite operieren. Der negative Wert ist dann wiederum frei, um den Sinn solcher Operationen als Information beobachtbar zu machen mit der Maßgabe, daß auch die Beobachtung nur in der Form einer systeminternen Operation erfolgen kann“.50 Während das Kommunikationsmedium für die operative Schließung sorgt, indem nur Kommunikation im Medium des Systems selektiert und damit Selbstreferenz generiert wird, dient der Code dem internen Ausgleich der Folgen operativer Schließung. Durch die Codierung ist das System schließlich in der Lage auf Einflüsse zu reagieren, „Überraschungen als Irrita-
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Krause 2001. „Realität“, S. 189f. Luhmann 2002. S. 64f. Vgl. hierzu ebd. S. 66. Beispiele hierfür wären z. B.: gut und schlecht, wahr und unwahr, Recht und Unrecht, und wie für das höfische System angenommen werden kann: höfisch und unhöfisch. Luhmann 2002. S. 66.
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tionen zu behandeln, sie zu digitalisieren, sie als Problem der Zuordnung zu den Codewerten aufzufassen und entsprechende Programme für wiederholten Gebrauch zu entwickeln – kurz: zu lernen“.51 Die Codierung erklärt folglich, wie es dem System trotz seiner Autopoiesis gelingt, auf Fremdreferenz zu reagieren – oder anders: Identität wird beim Fremdkontakt erst virulent. Dazu bedarf es allerdings der Reflexionsmöglichkeit: „Die Forcierung eines Codes hat […] immer positive und negative Resultate. Aber das gilt nur für die Beobachtungen zweiter Ordnung, also für den Fall, daß das System seine eigenen Beobachtungen beobachtet. In den unmittelbaren Operationen der Systeme erscheint der Hinweis auf Codewerte als entbehrlich. Kein Gericht verwendet die Unterscheidung von Recht und Unrecht zur Begründung seiner Urteile, es setzt sie voraus“.52 Da die Codierung, indem sie den Rahmen vorgibt, was in der Kommunikation überhaupt möglich ist, in besonderem Maße an die basale Identitätsbildung geknüpft ist, kann ein System seinen eigenen Code nur unter entscheidenden Vorbehalten in den Blick nehmen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass es in eine Identitätskrise gerät und damit handlungsunfähig wird. Luhmann bezeichnet dieses Faktum mit dem Begriff ‚blinder Fleck‘ des Systems.53 Der Code ist dabei insofern als eine Art Tiefenstruktur zu verstehen, als er es nicht vermag, im Konkreten Handlungsfähigkeit zu gewähren – dies ist der jeweiligen Form von Semantisierungen dieses systemspezifischen positiv-negativ Codes vorbehalten. Unter Semantik versteht Luhmann ganz allgemein den Begriffsvorrat einer Gesellschaft. In Bezug auf Texte lassen sich Semantisierungen daher auch als Symbole oder textuelle Zeichensysteme verstehen. Semantisierungen lassen sich als die akkumulative Ansammlung von Formen definieren, die für die Selektion von Sinninhalten in sozialen Kommunikationen benutzt werden. Zum andern lässt sich Semantik aber auch als Themenvorrat verstehen, der für die Einführung in die soziale Kommunikation verfügbar gehalten wird.54 Semantisierungen ermöglichen daher einerseits erst das Festschreiben von Sinn, da sie ihm spezifische Gestalt verleihen, andererseits sind sie, anders als der durch Statik bestimmte Code, grundsätzlich dynamisch. Ihr Verhältnis zur Struktur wird von Luhmann wie folgt beschrieben: „Die Beziehung von Struktur und Semantik ist demnach zirkulär: die Veränderung der Semantik hängt von der Strukturveränderung ab, aber bestimmt zugleich den Erfolg der neuen Kommunikationsthemen und der Typisierungen des Sinnes“.55 Strukturell betrachtet sind es die Semantisierungen, die auf der Textoberfläche als Formen konkret fassbar sind und somit soziokulturell und historisch beschrieben werden kön-
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Luhmann 2002. S. 67. Ebd. S. 68. Vgl. hierzu ebd. S. 30: „ … die Unbeobachtbarkeit der Beobachtung ist die Bedingung der Möglichkeit von Beobachtung, die Bedingung des möglichen Zugriffs auf Gegenstände“. Baraldi 1997. S. 168. Ebd. S. 170.
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nen.56 Es ist den veränderbaren Semantisierungen überdies auch grundsätzlich möglich, die starre Codierung zu diskutieren oder sie auch in Frage zu stellen. Auf dieser Ebene bedeutet der Verweis auf Fremdreferenz dann – entgegen der Ebene des Basiscodes – keine Bedrohung der Systemidentität. Die Codierung des Religionssystems beruht nach Luhmann auf Immanenz und Transzendenz. Sie macht religiöse Kommunikation für andere Systeme allgemein anschlussfähig, da sie sich genau mit jener Differenz des ‚marked‘ und ‚unmarked space‘ befasst, welche für jedes soziale System ein Problem darstellt. Näher bestimmt werden Immanenz und Transzendenz folgendermaßen: „Zur Bezeichnung der beiden Werte des religionsspezifischen Codes eignet sich am ehesten die Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz. […] Dabei steht Immanenz für den positiven Wert, für den Wert, der Anschlußfähigkeit für psychische und kommunikative Operationen bereitstellt, und Transzendenz für den negativen Wert, von dem aus das, was geschieht, als kontingent gesehen werden kann. […] Immanenz ist der Designationswert und Transzendenz ist der Reflexionswert des Codes“.57 Immanenz als der positive Wert des Codes gewährt operative Anschlussfähigkeit, wohingegen Transzendenz als negativer Wert jenseits der Ebene von Handlungsmöglichkeiten situiert ist. Auch dieser Codierung liegt eine Realitätsdopplung zugrunde, denn erst durch sie entsteht auf der einen Seite die immanente, reale Wirklichkeit und andererseits die transzendente, imaginäre.58 Religiöse Kommunikation stellt damit die Unterscheidung, dass etwas beobachtbar oder unbeobachtbar sein kann, in der Weise als Einheit dar, dass ein (von Luhmann so bezeichnetes) re-entry vollzogen wird. Unter re-entry ist die „Wiederverwendung/-holung einer Unterscheidung innerhalb einer Unterscheidung oder Wiedereintritt einer Unterscheidung in sich selbst oder Selbstermöglichung einer Unterscheidung als Unterscheidung oder Wiedereintritt einer Form in eine Form: Auf jeden Fall eine Form der Paradoxieentfaltung [zu verstehen …]. Das System setzt seine Unterscheidung als System voraus, um sich als System unterscheiden zu können“.59 Durch den re-entry-Vollzug religiöser Kommunikation wird die Unterscheidung beobachtbar/unbeobachtbar selbst beobachtbar, indem sie auf der beobachtbaren Seite wieder eintritt. Sinnformen können folglich dann als 56
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Vgl. hierzu auch Luhmann 1987. S. 224f.: „Ernsthafte, bewahrenswerte Semantik ist mithin ein Teil der Kultur, nämlich das, was uns die Begriffs- und Ideengeschichte überliefert. Kultur ist kein notwendig normativer Sinngehalt, wohl aber eine Sinnfestlegung (Reduktion), die es ermöglicht, in themenbezogener Kommunikation passende und nichtpassende Beiträge oder auch korrekten bzw. inkorrekten Themengebrauch zu unterscheiden“. Luhmann 2002. S. 77. Streng genommen wäre die systemische Unterscheidung realer und imaginärer Realität nur von einer Beobachterposition dritter Ordnung einsehbar, die es nach Luhmanns Logik notwendigerweise aber nicht geben kann. Diese Aussage ist dabei auf jeden Fall nur als eine Form von Fremdreferenz möglich, als Beobachtung des religiösen Systems, die sich von der (Selbst-)Beobachtung eines Gläubigen zwangsläufig unterscheiden muss. Krause 2001. „Re-entry“, S. 191.
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religiöse wahrgenommen werden, wenn sie als Einheit der Differenz auch als Paradoxon gekennzeichnet sind. Formen sozialer Kommunikation sind dann religiös, wenn ihr Sinn auf die Einheit dieser Unterscheidung verweist. Die Funktion von Religion, ließe sich hiernach formulieren, besteht also in einer kommunikativen Verhandlung der Differenz beobachtbar/unbeobachtbar, wobei diese Funktion nur in der Form einer Paradoxie erfüllt werden kann. Luhmann schreibt: „Religion hat es nach all dem mit Sinnproblemen als Paradoxieentfaltungsproblemen zu tun. Wenn es zu einer funktionalen Ausdifferenzierung eines Religionssystems in der Gesellschaft kommt, ist dies das Bezugsproblem“.60 Grundsätzlich ist der Ansatz von Religion damit als universalistischer zu verstehen, denn in jeder Kommunikation findet der Verweis auf etwas nicht zu Beobachtendes statt. So gesehen implizieren alle Kommunikationen auch Religion, weil religiöse Kommunikationen für die Arbeit an der Paradoxie von Identität eine handhabbare Form finden. Religion kann daher als ein spezialisiertes System verstanden werden, dessen Aufgabe es ist, alle anderen Systeme (vor allem im Fall von Fremdreferenz, aber auch) generell von der Identitätsproblematik zu entlasten. Indem Religion diese Problematik bearbeitet, erhalten andere Systeme, bzw. auch die in den Systemen agierenden Subjekte, Handlungsfähigkeit zurück, die sie angesichts eines Paradoxons tendenziell verlieren. Die prinzipielle Universalität von Religion wird jedoch dadurch relativiert, dass religiöse Kommunikation die Realität ebenfalls nur aufgrund ihrer eigenen, spezifischen Kategorien beobachten kann. Luhmann formuliert daher, dass alle binären Codes sich reparadoxieren lassen, indem man nämlich nach ihrer Einheit fragt: „Wir können also nicht erwarten, daß das gesamte auf Paradoxien beziehbare semantische Material sich religiös zuordnen oder gar systematisieren ließe“.61 Für das Aufspüren religiöser Kommunikation in der konkreten Analyse bedeutet dies, dass nicht bei jeder Paradoxieentfaltung das Phänomen Religion vorliegen muss. Stattdessen muss sich für eine hinreichende Beweisführung (im Text), die das Vorliegen religiöser Kommunikation zu verifizieren vermag, die direkte Anbindung an Gott als (genannter) Bezugspunkt oder zumindest eine spezifisch identifizierbare Semantisierung (wie Heilskonnotation o. ä.) finden lassen.62 Religion ist nach Luhmann nicht einfach die Lösung eines logischen Problems, das von der Logik selbst nicht behandelt werden kann. Vielmehr ist sie als ein praktisches Verfahren zu verstehen, für welches das Medium Sinn Operationsmöglichkeiten schafft. Außerdem heißt es: „Paradoxien existieren nicht vor aller beobachtenden Aktivität. Sie werden bei Gelegenheit erzeugt – und wieder aufgelöst“.63 60 61 62
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Luhmann 2002. S. 136. Ebd. S. 137. Sicherlich wird religiöse Kommunikation potentiell noch sehr viel öfter identifizierbar. An dieser Stelle geht es aber auch um eine pragmatische Einschränkung der eigenen Analyse, ohne die wahrscheinlich der gesamte Parzival mit religiösen Strukturen in Zusammenhang gebracht werden könnte. Luhmann 2002. S. 137.
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Des Weiteren spielen für das Verständnis des Phänomens Religion als soziales Funktionssystem Luhmanns Überlegungen zur Unterscheidung der Beobachter erster und zweiter Ordnung eine prominente Rolle. Der Terminus der Beobachtung ist hiernach sehr weit gefasst, denn mit Beobachten ist nicht allein die reine Betrachtung eines Gegenstandes oder einer Person gemeint, sondern auch Handeln und Kommunizieren sind diesem Begriff nach Luhmann impliziert.64 Systemtheoretisch formuliert geht es bei der Verwendung dieses Begriffs um den Gebrauch einer Unterscheidung zum Zweck der Bezeichnung einer – und nicht der anderen – Seite:65 „Alles Beobachten ist das Einsetzen einer Unterscheidung in einen unmarkiert bleibenden Raum, aus dem heraus der Beobachter das Unterscheiden vollzieht. Der Beobachter muß also eine Unterscheidung verwenden, um diesen Unterschied zwischen unmarkiertem und markiertem Raum und zwischen sich selbst und dem, was er bezeichnet, zu erzeugen. Die Unterscheidung dient nur dazu (das ist ihre Intention), etwas im Unterschied zu anderem zu bezeichnen. Aber zugleich macht ein Beobachter durch Einsetzen einer Unterscheidung seine Gegenwart für andere ersichtlich“.66 Beobachten ist prinzipiell als Operation (innerhalb) eines Systems zu verstehen. Der Unterschied zum einfachen Operieren besteht jedoch darin, dass Unterscheiden und Bezeichnen zugleich und nicht nacheinander – im Sinne der Wahl einer Unterscheidung und daraufhin der Akt des Bezeichnens – vollzogen wird.67 Die Systemzugehörigkeit von Beobachtungen ist an den gewählten Formen des Unterscheidens zu erkennen. Da es unendlich viele Formen an Unterscheidungsmöglichkeiten gibt, gilt für den Fall, in dem mehrere Beobachter eine spezifische Unterscheidung wählen, dass diese gleichsinnig handeln, wobei durch die Gemeinsamkeit des Beobachtens zugleich das entsprechende System außerhalb der Form generiert wird.68 Der Beobachter erster Ordnung ist jemand, der sich innerhalb der Unterscheidungen bewegt, die sein Bezugssystem verwendet. Er handelt und kommuniziert innerhalb der Ordnung des Systems: Die Unterscheidung von Bezeichnung und Unterscheidung wird nicht zum Thema und der Blick bleibt an der Sache haften. Mit der Beobachtung zweiter Ordnung wird bezeichnet, dass eine Beobachtung als Beobachtung stattfindet und dass sie eine Unterscheidung benutzt, welche angegeben werden kann. Als Beobachten zweiter Ordnung wird folglich die Beobachtung von Beobachtung verstanden. Luhmann erläutert diese Beobachtung der Beobachtung mit den Worten: „Damit stößt der Beobachter zweiter Ordnung auch auf die Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung. Er behandelt das Beobachtungsinstrument jetzt als Form der Beobachtung mit der Implikation, 64
65 66 67 68
Vgl. hierzu Luhmann 1997. S. 99: „Auch umfaßt der Begriff, im Unterschied zum üblichen Sprachgebrauch, Erleben und Handeln, denn beides ist (im Unterschied zu bloßem Verhalten) auf Unterscheiden und Bezeichnen angewiesen“. Ebd. S. 99. Ebd. S. 92. Vgl. ebd. S. 100. Ebd. S. 92.
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daß es andere Formen (so wie: andere Beobachter) geben könnte. Und darin liegt auch (wenngleich dies nicht ausgearbeitet werden muß), daß die Form des Beobachtens schon ein re-entry der Form in die Form impliziert, weil die benutzte Unterscheidung die Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung voraussetzt“.69 Indem also ein Beobachter zweiter Ordnung aus einem System heraus einen Beobachter erster Ordnung bei seinen unterscheidenden und bezeichnenden Operationen beobachten kann, versetzt er sich selbst in eine reflektierte Position, in der er jedoch selbst von Handlungsmöglichkeit innerhalb des beobachteten Systems enthoben ist. Beobachterhaltungen sind dabei keineswegs an Subjekte gebunden, sondern die Beobachterpositionen können ständig gewechselt werden. Entscheidend ist hierbei aber, dass nie beide Positionen zum gleichen Zeitpunkt eingenommen werden können. Das liegt daran, dass das Beobachten zweiter Ordnung als Operation gleichfalls eine Beobachtung erster Ordnung ist, und zwar in dem Sinne, dass damit eine Beobachtung von etwas stattfindet, das man als Beobachtung unterscheiden kann.70 Hieraus erklärt sich zugleich, dass eine Beobachtung dritter Ordnung als obsolet erachtet werden muss.71 Dass ein Subjekt in der Lage ist, mal diese und mal jene Haltung einzunehmen, wird schließlich durch eine sogenannte strukturelle Kopplung gewährleistet. Strukturelle Kopplung behandelt die Problematik, die sich aus autopoietischer Schließung ergibt, nach welcher Systeme in dem Maße als strukturdeterminiert gelten, als nur systemeigene Strukturen die Operationen des Systems bestimmen können.72 Beispielsweise ist das Kunstsystem in seinen Operationen nach Luhmann zwar autonom, trotzdem bedarf es aber Künstler und Rezipienten, welche im Sinne von Wahrnehmung hier (auch!) als psychische Systeme zu bezeichnen sind.73 Strukturelle Kopplung garantiert demnach, vereinfacht gesagt, dass es eine Verbindung zwischen der autopoietischen Kunstkommunikation und den wahrnehmenden Subjekten (psychischen Systemen) gibt. In dieser Form ist jedes System an seine Umwelt angepasst, denn wäre dem nicht so, könnte es dependenztheoretisch gesehen gar nicht existieren. Luhmann erklärt diesen Zusammenhang folgendermaßen: „Innerhalb des so verfügbaren Möglichkeitsraumes vollzieht es seine Operationen autonom. Strukturelle Kopplung und Selbstdetermination des Systems stehen in einer ‚orthogonalen Beziehung‘ zueinander: 69 70 71
72 73
Luhmann 1997. S. 102. Ebd. S. 94. Vgl. hierzu auch: „Die Aussage, ein Beobachter zweiter Ordnung sei immer auch ein Beobachter erster Ordnung, ist nur eine andere Formulierung für die geläufige These, daß die Welt nicht von außen beobachtet werden kann. Es gibt kein ‚extramundanes Subjekt‘“ (ebd. S. 95). Dies gehört zum Bereich der Theologie und hat in der Analyse sozialer Funktionen keinen Platz. Vgl. Baraldi 1997. S. 186. Diese systemtheoretischen Überlegungen scheinen darüber hinaus auch anschlussfähig und fruchtbar für die literaturwissenschaftliche Debatte über das Autor-Text-Verhältnis zu sein, deren Darstellung hier allerdings den Rahmen sprengen würde.
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Auch wenn sie sich voraussetzen, können sie sich gegenseitig nicht bestimmen. Die Umwelt kann auf das System nur dadurch einwirken, daß sie Irritationen (Störungen, Perturbationen) produziert, die intern verarbeitet werden …“.74 Trotzdem wird durch dieses Konzept die prinzipielle autopoietische Geschlossenheit der Systeme aber nicht unterlaufen, denn Irritationen sind systemtheoretisch letztlich auch nur als Konstrukte denkbar, die aus der Konfrontation der Strukturen des Systems mit Ereignissen entstehen und insofern konsequenterweise nur als Selbstirritationen gegeben sein können.75 Strukturelle Kopplung gewährleistet nach Luhmann darüber hinaus, dass im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung überhaupt etwas beobachtet wird, „… und wie immer hat der Begriff der strukturellen Kopplung zwei Seiten: Der Beobachter zweiter Ordnung ist durch sein Beobachten erster Ordnung (etwa Eigenarten eines Textes oder Eigenarten der Beobachtungen eines anderen Beobachters) stärker irritierbar, zugleich aber auch mit höherer Indifferenz gegen alle anderen denkbaren Einflüsse ausgestattet. Als Beobachter erster Ordnung bleibt der Beobachter zweiter Ordnung in der Welt (und bleibt folglich selbst beobachtbar)“.76 Die Tatsache, dass ein Beobachter zweiter Ordnung sich als deutlich stärker irritierbar erweist, ist mithin Bedingung für Reflexivität, die ihm seine Position ermöglicht. Festzuhalten wäre hier außerdem, dass die strukturelle Kopplung zweier Systeme (von einem psychischen und einem sozialen oder einem sozialen und einem anderen sozialen) nie zu einer Fusion oder einer grundsätzlich stabilen Koordination ihrer jeweiligen Operationen führt.77 Strukturelle Kopplung besitzt daher Ereignischarakter: Nachdem sich die Systeme getroffen haben, trennen sie sich sofort wieder, denn die Anschlussfähigkeit eines Ereignisses wird intern vom System bestimmt und durch die entsprechende Selektion wiederum zur Bestätigung der Selbstreferentialität des Systems benutzt. Nur im Falle von Interpenetration kann von einer relativ stabilen strukturellen Kopplung gesprochen werden, da sie hierbei in einem Verhältnis wechselseitiger Abhängigkeit zwischen Systemen erfolgt und jedes der Systeme nur unter der Bedingung von Existenz der anderen Systeme selbst existieren kann.78 Die Genese dieser Systeme lässt sich dahin gehend als ko-evolutiv beschreiben. Insbesondere bei der Betrachtung von System-zu-System-Beziehungen, wie z. B. des religiösen und des Kunstsystems, dürften strukturelle Kopplungen und Interpenetration sicherlich relevant werden. Allerdings ist strukturelle Kopplung keine Patentlösung, um analoge Formen (in eigentlich 74 75
76 77 78
Baraldi 1997. S. 186. Ereignisse müssen, um vom System überhaupt als solche wahrgenommen werden zu können, systemintern erzeugt werden. Man kann dies auch mit einer doppelten Schließung erklären: Ein Ereignis tritt auf und erzeugt eine Irritation, diese ist in Bezug auf das System aber nur als Selbstirritation möglich. Gelingt diese, liegt ein selbsterzeugtes Ereignis vor, mit dem das System in der einen oder anderen Weise umgeht. Luhmann 1997. S. 94. Baraldi 1997. S. 188. Vgl. hierzu ebd. S. 85.
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verschiedenen operativ geschlossenen Systemen) zu erklären. Vielmehr steht hierbei die strukturelle Beschaffenheit des Phänomens im Vordergrund, was bedeutet, dass bei seiner Beschreibung dann besonders auf die konkrete, inhaltliche Füllung dieser Struktur zu achten sein wird. Von einer Beobachtung zweiter Ordnung ist in diesem Sinne wirklich nur dann zu sprechen, wenn zwei Beobachtungen sich in der Weise aneinander koppeln, dass beide gleichsam die Merkmale des Beobachtens erster Ordnung voll erfüllen und sich der Beobachter zweiter Ordnung dabei bei der Bezeichnung seines Gegenstandes auf einen Beobachter erster Ordnung bezieht.79 Anders formuliert: Strukturelle Kopplung ermöglicht hier zu beobachten, wie beobachtet wird. Allerdings konstituiert alles Beobachten auch die Unvollständigkeit von Beobachtungen, „indem es sich selbst und die für es konstitutive Differenz der Beobachtungen entzieht; muß Beobachten sich also auf einen blinden Fleck einlassen, dank dessen es etwas (aber nicht alles) sehen kann“.80 Luhmann bezeichnet die Unbeobachtbarkeit der Operation des Beobachtens daher als die transzendentale Bedingung seiner Möglichkeit.81 Die Ausnahme hiervon stellt nur ein privilegierter Beobachter dar: Gott. Gott ist nach Luhmann als ein Verfahren zu verstehen, welches Paradoxien der Immanenz mit Transzendenz in Verbindung bringen kann. Gott ist eine Kontingenzformel, die Paradoxien integriert und dafür selbst paradox wird. Hierfür bezeichnend ist seine exponierte Stellung im System als ganz besonderer Beobachter zweiter Ordnung: „Vor allem aber gibt es einen Sonderstatus dieses Beobachters Gott, der mit dem Transzendenzwert des Religionscodes korreliert. Gott braucht keinen ‚blinden Fleck‘. Er kann jedes Unterscheidungsschema als Differenz und als Einheit des Unterschiedenen zugleich realisieren. Das schließt die Unterscheidung von Unterschiedenheit und Nichtunterschiedenheit ein. Und da dies für jede seiner Beobachtungen gilt und für alle zugleich, ist seine Beobachtungsweise, wollte man versuchen, sie ihrerseits zu beobachten, nur als paradox zu erfassen“.82 Gott als privilegierter Beobachter ermöglicht daher einen harmonisierenden Zusammenhang zwischen ihm und der Welt – im Gegenzug muss er wie gesagt selbst paradox werden. Es handelt sich schließlich um eine Möglichkeit, die Welt als Ganzes sehen zu können. Luhmann formuliert hierzu: „Wenn man über einen Gottesbegriff verfügt, der sich von der ‚Welt‘ unterscheiden läßt (weil dies unverzichtbar ist, wenn man sagen will, daß Gott die Welt beobachtet), gewinnt man umgekehrt die Möglichkeit, die Welt von Gott zu unterscheiden und sie durch diesen Unterschied zu bestimmen. Wenn man aber zugleich diesem Beobachtergott eine vollständige Kenntnis der Welt unterstellt, kann er deren Ordnung nicht stören, denn etwaige Störungen, Wunder zum Bei79 80 81 82
Luhmann 1997. S. 101. Ebd. S. 96. Ebd. Luhmann 2002. S. 158f.
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spiel, sind in der Beobachtungsweise Gottes immer schon vorgesehen. Gott und die Welt befinden sich im Verhältnis der Harmonie …“.83 In Luhmanns Überlegungen geht es fast ausschließlich darum, wie diese Kontingenzformel funktioniert, wobei er darauf insistiert, dass „Funktionieren“ nicht im Sinne einer Trivialmaschine zu verstehen ist, sondern viel eher im Sinne einer Lösung des Bezugsproblems von religiöser Kommunikation, nämlich der Transformation des Unbestimmbaren ins Bestimmbare.84 Für die Unterscheidung Gottes von der Welt ist daher vorausgesetzt, dass religiöse Kommunikation über Gott stattfindet, anstatt mit Gott.85 Aus differenztheoretischer Sicht ist Gott somit das eingeschlossene ausgeschlossene Dritte und meint die Selbstbezeichnung der Unterscheidung von Immanenz und Transzendenz, denn Gott ist nicht beobachtbar, seine Transparenz besteht allein für ihn selbst. Indem Transzendenz als Person auftritt, ist sie als Beobachtungsperspektive auf die (immanente) Welt bezogen. Gott ist deshalb ein privilegierter Beobachter, weil er nicht zu unterscheiden braucht, da er es vermag, jede Form der Unterscheidung als Differenz und als Einheit des Differenzierten zugleich zu realisieren. Geht man dementsprechend davon aus, dass Gott die Welt beobachtet und sich dadurch von der Welt unterscheidet, ist er notwendigerweise selbst in der Welt nicht beobachtbar.86 Logisch bedeutet dies: „Sobald man aber annimmt, daß Gott alles beobachtet (ihm entgeht nichts) und er sich deshalb von allem unterscheiden muß, kann er in oder auch an der Welt nicht beobachtet werden; an Weltlichem kann man nicht unterscheiden, ob Gott existiert oder nicht. Die Gottesbeweise geraten in Widerspruch zu dem, was sie beweisen wollen“.87 Wenn Gott als Beobachter beobachtet wird, kann dies nur mit dem Bezug auf den unfehlbaren Konstrukteur der Welt, die er geschaffen hat, geschehen; die Erkenntnis daraus kann allein sein, dass Gott an seiner Konstruktion nichts ändern wird, obwohl er die Möglichkeit dazu besäße – Gott hat seine Schöpfung für gut befunden, wie es in der Überlieferung heißt.88 Die Differenz zwischen Mensch und Gott liegt nach Luhmann also in der Frage, „ob die Einheit der Operation Beobachtung in der Operation sich selbst beobachten kann (Transzendenz) oder nicht (Immanenz)“.89 Es geht also konkret um das spezifische Verfahren von Religion, mit welchem es ihr gelingt, Kontin83 84 85 86
87 88 89
Luhmann 2002. S. 159. Ebd. S. 154. Vgl. Krause 2001. „Gott“, S. 137. Der Versuch Gott zu beobachten konstituiert nach Luhmann den Teufel: In den Mythen gibt es „die bewahrte Lösung des bestraften Hochmuts, des Besserwissens dessen, der zu wissen glaubt, was Gott eigentlich will. Das ist das Schicksal des Engels, der dafür mit dem Fall bestraft wird und nicht bereuen kann, weil schließlich sein einziges Ziel gewesen war, Gott zu beobachten“ (Luhmann 2002. S. 163). Ebd. S. 163. Ebd. S. 162f. Ebd. S. 159.
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genz zu reflektieren. Die Kontingenzformel Gott, die es ermöglicht, Paradoxien, die jedes Sinnsystem zwangsläufig produziert, handhabbar zu machen, ist als Kern der Luhmannschen Religionstheorie zu betrachten und garantiert hier den Mehrwert gegenüber den bisheriger Analysen implizierten Religionsbegriffen. Den Zusammenhang mit der Beobachtung erster und zweiter Ordnung bringt er wie folgt auf den Punkt: „[D]ie komplizierte Struktur des Beobachters zweiter Ordnung dient zur Ausarbeitung der Kontingenzformel Gott. Sie ist einerseits eine Einheitsformel des Codes Immanenz/Transzendenz und absorbiert in dieser Eigenschaft Kontingenz. Sie ist andererseits ein Selektionskriterium, ja fast schon eine Gesamtformel für die religiöse Programmatik, die angibt, was im Verhältnis von Immanenz und Transzendenz richtig und was falsch ist. All das wäre über Objektaussagen, über Angaben der Merkmale des Dinges ‚Gott‘ nicht zu erreichen“.90 Und der auf diese Weise gewonnene Mehrwert eines funktionalen Religionsbegriffs lässt sich nicht allein für soziologische Überlegungen fruchtbar machen, sondern in modifizierter Art und Weise ebenso, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, für die Analyse von höfischen Texten der mittelalterlichen Literatur.
2. Anwendbarkeit des funktionalen Religionsbegriffs nach Luhmann auf höfische Texte des Mittelalters Luhmann entwirft seinen Religionsbegriff für eine moderne Gesellschaft, in der soziale Funktionssysteme vollständig ausdifferenziert sind. Den Zeitpunkt für den Beginn dieser Ausdifferenzierung setzt er in den meisten seiner Überlegungen im 18. Jahrhundert an. Auch seine funktionalen Analysen von Religion und Kunst bilden hierbei keine generellen Ausnahmen. Das Mittelalter begreift Luhmann im Gegensatz zu funktional differenzierten Sozialräumen als segmentäre, stratifikatorische Gesellschaft, welche der komplexeren, ausdifferenzierten Gesellschaft der Moderne evolutionär zugrunde liegt. Aus diesem Grund scheint eine Rechtfertigung in der Diskussion über die Anwendbarkeit Luhmanns funktionalen Religionsbegriffs auf den Parzival als einem höfischen Text des Hochmittelalters unvermeidbar zu sein. Das Interesse an Luhmanns Theorie begründet sich erstens darin, dass er einen Religionsbegriff entwirft, an welchen sich literaturwissenschaftliche Überlegungen für einen fiktionalen Text prinzipiell anschließen lassen. Grundsätzlich gewährt die Luhmannsche Systemtheorie die Möglichkeit – gerade aufgrund ihres begriffsorientierten Verfahrens – der Historisierbarkeit ihrer Elemente. Deshalb ermöglicht die kulturwissenschaftliche Annäherung zweitens – was hier ein zentraler Grund für die methodologische Wahl ist – einen der historischen Situation adäquaten Zugang zur Funktion von Religion im „Fremdmedium“ Literatur,
90
Luhmann 2002. S. 167f.
Anwendbarkeit des funktionalen Religionsbegriffs auf höfische Texte des Mittelalters
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welcher bislang auch noch nicht genutzt wurde. Es muss dabei stets präsent gehalten werden, dass die Anwendung der Luhmannschen Theoreme lediglich in pragmatischer Hinsicht erfolgt, da das Anliegen der vorliegenden Arbeit dezidiert nicht darin besteht, Luhmanns soziologische Erkenntnisse widerzuspiegeln. Stattdessen soll geprüft werden, was die Anwendung seines theoretischen Konzepts in der Analyse konkret an Erkenntnisgewinn über den Text austrägt, wobei entsprechende Mängel, wie beispielsweise eine mögliche Unschärfe im Beschreibungsverfahren, durch die Verknüpfung mit höfischen Konzepten des Erzählens auszugleichen versucht werden. Luhmanns begriffsorientierte Theorie bietet sich auch deshalb als geeignetes Instrumentarium für eine veränderte Perspektive auf religiöse Phänomene in der höfischen Literatur an, weil insbesondere im Hinblick auf die narrative Konstruktivität religiöser Phänomene mit dieser im Forschungskontext innovativen Methodik ein Mehrwert gegenüber den Ansätzen bisheriger Arbeiten zur Religion im Parzival ersichtlich wird. Dies gilt es im Folgenden nun ausführlicher zu erläutern. Mit der literaturwissenschaftlichen Anwendung von Luhmanns funktionalem Religionsbegriff ist eine Methodik gewählt, die eine Analyse der Verhandlung des Textes von dem höfischen System selbst immanenten Paradoxien ermöglicht. Von besonderem Mehrwert für eine literaturwissenschaftliche Analyse erscheint hierbei vor allem, dass Luhmann eben von generellen Wesens-Annahmen absieht und an deren Stelle die für Literatur sehr viel anschlussfähigere selbst- und fremdreferentielle Kommunikation sozialer Systeme treten lässt. Durch diese Überlegungen wird es nämlich möglich, Gott und auch Kunst jenseits von ontologischen Setzungen zu beobachten und zu diskutieren, oder anders formuliert: Sie werden durch ihre strukturelle und formale Fassung in der Textanalyse beschreib- und damit auch literaturwissenschaftlich handhabbar. Da eine systemtheoretische Methodik das Instrumentarium der Arbeit zur Verfügung stellt, werden außerdem ganz grundsätzlich problematische Ansätze bisheriger Forschung in diesem Bereich umgangen, welche zumeist, wie im Forschungskapitel dargestellt, bei Fragen nach den religiösen Momenten des Textes entweder dem ganz allgemein problematischen Paradigma der Einflussforschung folgen oder sich beispielsweise auch speziell auf die Frage nach dem häretischen Gedankengut Wolframs beschränken.91 Vermittels Luhmanns systemtheoretischer Prämissen wird es dagegen möglich werden, religiöse Momente in der Analyse des Parzival gerade als nicht-hierarchische Konzepte (gegenüber dem Höfischen z. B.) in den Blick zu bekommen. Die Leistungsfähigkeit eines solchen Ansatzes, der auf Beobachtungen erster und zweiter Ordnung rekurriert, wurde in der germanistischen Mediaevistik zwar
91
Wie zuvor beschrieben, treten bei dieser Verfahrensweise zugleich mehrere, sich überlagernde Problematiken neben dem Einflussparadigma auf wie beispielsweise der auf den Autor zentrierte Zugang usw.
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schon gesehen, ist bislang aber noch nicht hinreichend überprüft worden und gilt dementsprechend auch nicht als allgemein anerkannt.92 Grundsätzlich lässt sich anmerken, dass die Anwendung systemtheoretischer Erkenntnisprämissen gerne innerhalb einer bloßen Reformulierung bekannter Ergebnisse in systemtheoretischer Sprache erfolgt, was schließlich keinen eigentlichen Mehrwert gegenüber herkömmlichen Verfahren bietet.93 Entscheidender Gewinn der Thematisierung von Beobachterverhältnissen liegt jedoch in der Möglichkeit, die Frage nach der konstruktivistischen Begrenzung menschlicher Erkenntnisfähigkeiten auf den Text selbst anzuwenden. Auf diese Weise können nämlich die vielen Welten, welche selbst durch Beobachtungen konstruiert und zugleich bereits als Denkfiguren innerhalb des Textes angelegt sind, zum Untersuchungsgegenstand werden. Gerade die Frage nach der Beobachterpositionierung und der Funktion erscheint als geeigneter Schlüssel zu neuen Fragestellungen an einen im Hinblick auf das Re92
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Bezeichnendes Beispiel hierfür ist der jüngst erschienene Band „Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit“ des DFG-Symposions 2006, hg. v. Strohschneider 2009. Die Untersuchungen beschreiben das kommunikative Spannungsfeld von Literarischem und Religiösem, sind jedoch – wie könnte es aufgrund der unterschiedlichsten Zugangsweisen aber auch anders sein – keinem einheitlichen methodologischen Konzept zuzuordnen. Wenngleich aus dieser Zusammenschau literarischer und religiöser Kommunikation mannigfaltige Beobachtungen und neue Erkenntnisse gewonnen werden konnten, so steht eine einschlägige Untersuchung des Religiösen in Wolframs Parzival mit den systemtheoretischen Prämissen Luhmanns bislang noch aus. Erwähnenswert sind an dieser Stelle noch Soeffners soziologisch kommunikationstheoretische Überlegungen zum Parzival in diesem Band. Darin bestimmt er Religiosität in erster Linie auf der Basis Plessnerscher Anthropologie „als die spezifische Disposition, die aus der Vereinzelung, dem strukturellen Solitärsein des Einzelnen erwächst. Religiosität in einem so verstandenen Sinne hat ihren Standort anthropologisch in der Sphäre des Individuellen“ (Soeffner 2009. S. 165). Problematisch erscheint dabei nicht nur, dass Soeffner die soziologischen Theoreme ganz ungebrochen auf den Text anwendet. Diese überzeitliche Definition von Religiosität nach modernen Kategorien des Individuellen führt in Soeffners Analyse des mittelalterlichen Textes dann auch dazu, dass er die „Innenwelten“ (S. 178), die in „innerer Rede kommunizierte Religiosität“ (S. 179) der Figuren zu beschreiben sucht, was ihm aus literaturwissenschaftlich mediaevistischer Perspektive nicht gelingt. Ergebnis ist dann auch wieder das, was er bereits anachronistisch, auf eine teleologisch verstandene Entwicklung ausgerichtet, in seiner Untersuchung zugrunde gelegt hat, nämlich die altbekannte Postulation Wolframs als modernem Autor: Den Helden Parzival nennt Soeffner dementsprechend „einen noch mittelalterlichen Typus der Individualität, der zugleich schon an der Schwelle zu einem modernen Typus persönlicher Identität steht“ (S. 182). Vgl. Jäger 1994; hier insb. S. 96: „Durch die wissenssoziologische Beschäftigung mit der Ideengeschichte, die Reformulierung der Verstehensproblematik, nicht zuletzt durch seine Beiträge zur Zeichentheorie sowie zum Literatur- und Kunstsystem, erleichtert Luhmann eine produktive Rezeption seiner Systemtheorie. Allerdings ist dabei die Gefahr groß, daß überkommene Problemformulierungen lediglich in systemtheoretischer Begrifflichkeit ‚überschrieben‘ werden“. Ziel dieser Arbeit ist eben nicht eine solche Reformulierung in systemtheoretischer Sprache, sondern der systemtheoretische Zugriff wird hier als eine Möglichkeit verstanden, neue Fragehorizonte für das Religiöse zu erschließen, die mit den bisherigen Ansätzen so noch gar nicht gesehen werden konnten.
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ligiöse vielfach bearbeiteten Text wie dem Parzival, die zudem auch das bisher Selbstverständliche in Frage stellen können.94 Stellt man nun die Frage, ob Luhmanns systemtheoretischer Ansatz überhaupt mit mittelalterlicher Literatur vermittelbar ist, lässt sich dem darüber hinaus auch mit Ergebnissen bereits vorliegender mediaevistischer Forschung, die mit diesem Ansatz operiert, folgendermaßen begegnen: Die Untersuchungen Luhmanns sind zwar prinzipiell soziologischer Art, haben sich aber in der Mediaevistik bereits als überaus fruchtbar erwiesen, insbesondere in der literaturwissenschaftlichen Anwendung seiner Machttheorie auf den mittelalterlichen Alexanderroman (Schlechtweg-Jahn 2006). In seiner Darstellung greift SchlechtwegJahn pragmatisch auf die Machttheorie Luhmanns zu, daher ist es auch nicht sein Ziel „Theorien gegeneinander auszuspielen“, sondern sein eigentliches Anliegen besteht darin, „eine allgemeine Vorstellung vom Funktionieren von Machtverhältnissen zu gewinnen“.95 Der Vorteil der Überlegungen Luhmanns liegt auch hier im Wesentlichen in der Historisierbarkeit der durch soziale Kommunikation strukturierten Mechanismen von Macht, die es erlauben „Machtperformanzen jenseits des ‚juridisch-diskursiven‘ Modells überhaupt identifizieren zu können“.96 Zum Zweck einer konkret literaturwissenschaftlichen Anwendung Luhmanns soziologischer Machttheorie und um schließlich die Frage nach der Macht in den mittelalterlichen Alexanderromanen überhaupt diskutieren zu können, greift Schlechtweg-Jahn auf Bachtins Modell zur Dialogizität zurück, in deren Zentrum die Stimmenvielfalt im gesprochenen Wort steht.97 Im Blick zu behalten sind für die eigene Arbeit insbesondere Schlechtweg-Jahns konstruktivistische Überlegungen zur Funktion der Götter als Machtsubstitut: „Dabei geht es um Machtkämpfe zwischen Menschen, bei denen die Götterwelt ein vielfach verwendbarer Bezugspunkt sein kann“.98 Für die eigene Analyse des Parzi94
95 96 97
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Den Vorteil des funktionsorientierten Zugriffs Luhmannscher Provenienz betont u. a. auch: Müller 2005; hier S. 210: „Die funktionale Zugriffsweise, die stets Vergleichbarkeiten herstellen soll, ist vielmehr mit der Verfremdung herkömmlicher Selbstverständlichkeiten und Normalitäten, ihren Virtualisierungen und mit der Frage nach den jeweiligen Äquivalenten eng verknüpft“. Schlechtweg-Jahn 2006. S. 3. Ebd. S. 9. Er schreibt zur literaturwissenschaftlichen Theorienvermittlung mit Bachtin: „Mit Hilfe Bachtins ist es nun möglich, den spezifisch literarischen Umgang mit Macht zu beschreiben. Bachtin bezeichnet mit ‚Dialogizität‘ die Fähigkeit der Literatur, die soziale Redevielfalt im Roman dialogisch in Beziehung zu bringen und dadurch monologisierende Tendenzen in der sozialen Sprache zu unterlaufen bzw. sichtbar zu machen. […] Macht wird in Literatur nicht didaktisierend propagiert, sondern narrativ problematisiert“ (ebd. S. 24). Ebd. S. 26. Vgl. auch ebd. S. 27: „In der Berufung auf Gott wird man deshalb vor allem nach Formen eines Machtkompromisses zu suchen haben. In dieser Perspektive ist der aktuelle Wille der Götter letztlich nichts anderes als der je aktuelle Stand konkreter Machtauseinandersetzungen und der in ihnen erzielten Kompromisse“. Schlechtweg-Jahn nimmt für die machtkommunikative Verhandlung mit dem Bezugspunkt der Götter eine tragfähige Operationalisierung vor, bei
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val ist hieran also zum einen die vorgestellte Möglichkeit der Vermittlung der genuin soziologischen Theorie Luhmanns mit erzähltheoretisch orientierten Überlegungen, die spezifisch narrative Problematisierung des erzählenden Textes, und zum anderen auch bestimmte Zusammenhänge von Macht und der entworfenen Gottesbilder von Interesse. Ebenfalls ertragreich waren auch ganz grundsätzliche differenztheoretische Begriffsanleihen bei Luhmanns allgemeiner Systemtheorie, beispielsweise aus der Gesellschaft der Gesellschaft, für die methodologische Grundlegung einer exemplarischen Untersuchung von Hartmanns Gregorius (Strohschneider 2000), einem Text, der gleichfalls der höfischen Literatur zugehörig ist. Strohschneider bearbeitet in diesem Aufsatz den Zusammenhang zwischen dem immanenten Inzest und der Heiligkeit als Distanzkategorie. Anstatt der Fragerichtung der älteren Forschung zu folgen, die sich, ähnlich wie in der Parzival-Forschung, stets auf Schuld oder Nicht-Schuld des Protagonisten konzentrierte, unternimmt es Strohschneider, stattdessen den Mechanismus der Transzendenz des Religiösen im narrativen Prozess zu fokussieren. Zentral ist für ihn hierbei das Heilige: „Die Rede vom Heiligen ist stets ein Einschließen des unvertrauten Ausgeschlossenen als Ausgeschlossenes ins Vertraute. Speziell in der narrativen Rede von einem Heiligen kommt diese Paradoxie in jenem Problem zum Vorschein, daß der kategoriale Bruch, daß der unüberbrückbare Hiatus zwischen Welt und Anderwelt, Immanenz und Transzendenz, daß der radikale Unterschied von Profanem und Heiligen hier im Vitenschema als Prozeßzusammenhang epische Gestalt gewinnen muß“.99 Der Mehrwert des systemtheoretischen Ansatzes zeigt sich insbesondere in Strohschneiders Überlegungen zur erzählten göttlichen hulde, welche die poetische Rede von Schuld und Sünde, Buße und Erlösung nicht einfach zu reproduzieren suchen, sondern mit Hilfe dieser Beschreibungssprache das Erzählte stattdessen analytisch weiter aufzuschlüsseln vermögen. Die Art und Weise wie in diesem Aufsatz auf die Verbindung höfischer Literatur mit religiöser Kommunikation (in der konkreten Form des Heiligen) eingegangen
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der er die Legitimation von Herrschaft, bei welcher der Machthaber das Instrument des göttlichen Willens ist, von der Legitimation zum Widerstand unterscheidet. In deren Mittelpunkt steht schließlich, dass auch die Machtunterworfenen sich auf die Götter als Anrufungsinstanz gegen den Herrscher beziehen können. Schließlich entwirft er noch eine Kategorie der Kompromissbildung, die beinhaltet, dass sowohl Machtunterworfene als auch Machthaber gemeinsame Untergebene der göttlichen Sphäre sind, und sie daher ihre Machtkämpfe in Bezug auf die jenseitige Welt austragen. Zwar spielen im Falle des Parzival Widerstand und Kompromisse im Vergleich zum Alexanderroman wohl eher eine untergeordnete Rolle, Legitimation von Herrschaft hingegen ist prominentes Thema der Erzählung. Hieran lässt sich vielleicht auch noch ein weiterer Unterschied festmachen, nämlich: Die über Gott funktionierenden Herrschaftskonzepte im Parzival sind eigentlich keine, die sich an den Subjekten bzw. einzelnen handelnden Figuren festmachen lassen, sondern dort scheinen sie vielmehr aus genealogischer Perspektive auf die sippe bezogene Formen auszubilden (man denke beispielsweise an die von Gott auserwählte sippe der Gralsherrscher). Dies wird entsprechend weiter zu verfolgen sein. Strohschneider 2000. S. 105.
Anwendbarkeit des funktionalen Religionsbegriffs auf höfische Texte des Mittelalters
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wird, ist gerade wegen ihrer Perspektivierung von Fragen nach der Textualität auch für die Arbeit an Wolframs Parzival anschlussfähig und für die eigene Analyse narrativer Formen weiterhin im Auge zu behalten.100 Allerdings scheint es für das wirklich sehr weit gespannte Thema von Religion im Parzival notwendig, etwas kleinschrittiger als Strohschneider vorzugehen. Die grundlegende Funktion von Religion, welche nach Luhmann zusammengefasst darin besteht, die Identität des Systems bedrohende Paradoxien unter InDienstnahme der Kontingenzformel Gott an das religiöse System auslagern zu können, scheint für die höfische Literatur als erzählerische Möglichkeit enorme Attraktivität zu besitzen. In dieser Hinsicht lässt sich beobachten, wie höfische Texte Gottesbilder entwerfen, die den spezifischen Paradoxien und Erfordernissen eines Systems funktional zugeordnet werden können. Innerhalb dieser Arbeit wird dementsprechend das literarisch konstituierte System Hof in Blick genommen werden, welches – soweit sei an dieser Stelle vorgegriffen – die basale Funktion der Religion zur Auslagerung systemeigener Paradoxien in einiger Regelmäßigkeit in Anspruch nimmt.101 Dies ist zunächst einmal eine notwendige Setzung: Der Hof wird hier als tendenziell eigenständig Sinn konstituierendes, autopoietisches System verstanden, das sich durch relative Autonomie auszeichnet. Wie bereits angesprochen, veranschlagt diese Arbeitsthese einen anderen als den von Luhmann veranschlagten Zeitpunkt der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen – eingeschränkt allerdings auf die höfische Kultur als zu beobachtendes System und nicht als funktionale Ausdifferenzierung einer Gesamtgesellschaft.102 Dieser Problematik kann schließlich auf unterschiedlichen Ebenen begegnet werden: Zunächst einmal ist nochmals ausdrücklich zu betonen, dass das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit keineswegs auf eine Exegese der Theorie Luhmanns ausgerichtet ist. Die Anwendung seiner Theoreme erfolgt in pragmatischer Hinsicht, was eine literaturwissenschaftliche Untersuchung ihrem Gegenstand letztlich auch stets schuldig ist. Luhmanns Überlegungen fungieren auf keiner Ebene der folgenden Analysen als Generalsschlüssel zu der vielgestaltigen Verhandlung von Gottesbezüglichkeiten in literarischen Texten des Mittelalters. 100
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Es sind gerade die Untersuchungen zur Beziehung der Erzählmöglichkeiten und der Transzendenz, die sich für die eigenen Überlegungen als anschlussfähig erweisen. Strohschneider formuliert hierzu beispielsweise etwas, das, wahrscheinlich weil es allgemein auf das höfische Erzählen übertragbar ist, in ähnlicher Art und Weise auch auf den Parzival zutrifft: „Gottes hulde operiert hier nicht in Verpflichtungs- oder Äquivalenzverhältnissen, sie ist prinzipiell unverfügbar. Auch für den Text: Er kann die göttliche Gnade konstatieren, er kann von ihren Effekten erzählen. Von ihr selbst erzählen kann er nicht. Also erzählt er von dem, was ihr vorausliegt, von Sünde schwer überbietbaren Ausmaßes, so daß gewissermaßen das Gnadenhafte und die Erfüllung der göttlichen Gnade um so glänzender hervortrete“ (Strohschneider 2000. S. 106). Auf Strohschneiders Aufsatz, der systemtheoretische Überlegungen zum Parzival beinhaltet (Strohschneider 2006), wird im Zuge der eigenen Analyse an entsprechender Stelle näher eingegangen werden. Auf die spezifische Funktion der Kunst wird im Folgenden noch ausführlich eingegangen. Insofern ist die mittelalterliche Gesellschaft mit Luhmann durchaus als stratifikatorische zu verstehen.
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Ihre Anwendung zielt, wie bereits artikuliert, allein darauf ab, das Phänomen Religion anders als bisher in der Forschung in den Blick zu nehmen und damit mehr über die literarische Verhandlung dieses Phänomens in Erfahrung zu bringen. Neben dieser ganz basalen Argumentation ist es, wie bereits erwähnt, auch Fakt, dass Luhmann selbst für die Funktion von Religion einen Universalitätsanspruch erhebt. Begründet wird dieser Universalismus dadurch, dass in jeder Kommunikation ein Verweis auf Unbeobachtbares stattfindet und in dieser Hinsicht eigentlich jede soziale Kommunikation das Phänomen Religion impliziert. Mit der Systemreferenz auf Gesellschaft, der damit gegebenen Unterscheidbarkeit der Religion als Teilsystem der Gesellschaft, wird die Universalität und Spezifität des Systems behauptet. Er formuliert: „Universalität – das heißt, daß religiöse Probleme in jeder Kommunikation auftreten können, auch aus Anlaß von spezifisch organisatorischen Operationen oder solchen, die dem Funktionssystem der Wirtschaft, der Wissenschaft, des Rechts, der Politik usw. zugeordnet sind …“.103 Luhmann relativiert diesen generellen Universalismus an anderen Stellen wieder. Jedoch scheint es für einen funktionalisierten Zugriff auf seine Theoreme als durchaus gerechtfertigt, dass man diesen von ihm selbst erhobenen Anspruch zunächst einmal beim Wort nimmt, und zwar auch dann, wenn er sich in der reinen Theorie zuletzt wohl kaum aufrecht erhalten lässt. Des Weiteren macht Luhmann Andeutungen über eine erste Ausdifferenzierung der höfischen Kultur als eine Art vorläufiger Formation der Ausdifferenzierung, die man als eine Art vorläufige Systemevolution verstehen könnte.104 Er sagt über den Hof, dass sich dieser in Gestalt eines Leitobjektes als ein eigenes „Quasi-Objekt“ konstituiert, das man „intensiv und am Objekt beobachten“ muss; damit ist gemeint, dass „nur so – und im Steigerungsfall durch Beobachtung anderer Beobachter mit Hilfe desselben Objekts – […] sich das soziale Regulativ [erschließt]. Der Objektbezug dient mithin der Ausdifferenzierung von rekursiven Beobachtungszusammenhängen …“.105 Der Hof ist in Bezug auf seinen Status als Quasi-Objekt etwas aus der Beobachtung hergestelltes, er findet statt, wenn die entsprechenden Beobachtungsverhältnisse installiert sind. Gleich dem Ball als Objekt des Fußballs, der letztendlich das Spiel installiert, ist beispiels103 104
105
Luhmann 2002. S. 142. Es ist mir dabei natürlich bewusst, dass der Kulturbegriff, der hier entworfen wird, gerade weil er in diesen Überlegungen zentral mit Kunst verknüpft wird, Gefahr läuft, als elaborierter verstanden zu werden, womit Kultur auf das Verständnis von Hochkultur reduziert würde. Dies ist jedoch nicht mein Anliegen und entspricht zudem auch nicht meinem Kunstverständnis. Man darf sagen, dass dies in erster Linie dem Umstand geschuldet ist, dass hier der Versuch unternommen wird, mit Luhmanns Denksystem gegen seine schriftfixierten Ausführungen zu argumentieren. Überdies wäre es meiner Einschätzung nach möglich, dieser Gefahr zu entgehen, allerdings, und dies muss an dieser Stelle nochmals betont werden, ist nicht die Luhmann-Exegese mein Anliegen und insofern auch nicht die grundsätzliche und vor allem umfassende Reformulierung seiner Theorie. Luhmann 1997. S. 82.
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weise auch der König des Hofes nur von dieser Funktion her greifbar, die sich „aus der rekursiven Anwendung von Kommunikation auf Kommunikationen“ ergibt und damit „mehr als irgendeine Art von Normen und Sanktionen dazu beitr[ägt], soziale Systeme mit den nötigen Redundanzen zu versorgen“.106 Unter dem Einbezug von Beobachterpositionen lässt sich nach Luhmann im Hinblick auf die funktionale Gesellschaftsorganisation der höfischen Kultur folglich von einer gewissen, wenngleich relativen Autonomie sprechen. Relative Autonomie scheint terminologisch deshalb zu greifen, weil „in den stratifizierten Gesellschaften der alten Welt“ an „eine vollständige Ausdifferenzierung […] nicht zu denken“ war.107 Eine „vollständige“ Ausdifferenzierung liegt natürlich allein schon deshalb nicht vor, weil die Inklusion der höfischen Gesellschaft nur einen ganz kleinen Teil der Gesamtgesellschaft umfasst. Die Artikulation des Hofes als Ansatz eines Systems, das sich durch intensive Beobachtung sein eigenes Quasi-Objekt herstellt, das wiederum in der Lage ist, einen Raum erster Ausdifferenzierung zu schaffen, erscheint dahin gehend als angemessen. Zwar siedelt Luhmann diese erste Ausdifferenzierung höfischer Kultur in der Kunst der Gesellschaft nicht um 1200, sondern erst im 14. Jahrhundert an.108 Allerdings mag dies auch daran liegen, dass er bei mittelalterlicher Kunst nahezu ausschließlich kirchliche Kunst perspektiviert, auch wenn er sie ‚religiöse‘ nennt.109 Wenn Luhmann von mittelalterlicher Kunst schreibt, namentlich vor allem von „religiöser Symbolisierung“110, scheint es, dass in den konkreten Ausführungen und Beispielen seiner Theorie seine eigene Prämisse der Funktionalität nicht konsequent genug zur Anwendung kommt und er in diesen allgemeinen Beschreibungen damit populären Bildern des Mittelalters aufsitzt, die unsere moderne Gesellschaft für ihren eigenen Selbstentwurf funktionalisiert hat.111 Die Vermutung liegt nahe, dass er den theologischen Quellen allein aufgrund ihrer Quantität in seinen Schlussfolgerungen zu viel Gewicht verleiht. Beispielsweise argumentiert er, der 106 107 108
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110 111
Luhmann 1997. S. 81. Ebd. S. 133. „Erst seit dem späten Mittelalter kann man davon sprechen, daß Kunstwerke Kriterien zu genügen suchen, die in der Kunst selbst liegen. […] In der mittelalterlichen Ausgangslage waren für künstlerische Arbeiten der verschiedensten Art entweder die entsprechenden Zünfte oder auch die einzelnen Mönche zuständig gewesen. Von diesen Beschränkungen beginnt die höfische Kultur sich bereits im 14. Jahrhundert zu lösen“ (Luhmann 1997. S. 257). „Im Mittelalter waren die Themen der Kunst weitgehend religiöse Themen gewesen – seien es biblische Themen, seien es Heiligenlegenden. Diese konnten als bekannt vorausgesetzt werden. Die Bildkunst diente daher einerseits der Unterrichtung, vor allem aber wohl der Erhaltung und Auffrischung des Gedächtnisses“ (ebd. S. 295f.). Vgl. hierzu z. B. ebd. S. 226. Hierbei ist natürlich an die Einflussthese zu denken, die in Hinsicht auf Religion ein Bild des Mittelalters konstruiert, das der Welt des Papsttums im 19. Jahrhundert weit mehr gleicht als der Zeit um 1200. Die These, dass die adlig-höfische Welt in solchem Maße unter dem Einfluss der Kirche stand (der hierbei zudem stark verkürzt immer wieder mit Religion gleichgesetzt wird), lässt sich kaum aufrecht erhalten und wird in dieser Arbeit auch zu widerlegen sein.
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hohe Prozentsatz an Klerikern, die des Lesens und Schreibens mächtig waren, sei der Grund dafür, dass „Themendiskussionen und Streifragen der Rhetorik und Poetik fast zwangsläufig innerreligiöse Diskussionen gewesen“112 seien. Diese Feststellung ist als solche nicht falsch, allerdings bleibt hierbei der Bereich adliger Kultur, wie sie an den Höfen des Hochmittelalters praktiziert und gelebt wird, völlig unterbelichtet und kennzeichnet sie vor allem, sobald sie mit Religion in Berührung gerät, als kirchlich dominiert. Man ist sich in der mediaevistischen Forschung überdies mittlerweile einig, dass die mittelalterliche Textkunst sehr wohl über poetologische Programme verfügt, nur dass diese eben nicht in Traktaten festgehalten wurden, sondern dass diese poetologischen Entwürfe in den Texten selbst vorliegen, dass sie ihnen impliziert sind.113 Als Voraussetzung für relative Autonomie von Kunst verwendet Luhmann das Kriterium der Entwicklung eines Mediums durch Doppelrahmung; diese ist „durch eine Täuschung, die zugleich auf Grund besonderer Anhaltspunkte als solche durchschaut wird“ gegeben.114 Mit dem Vorhandensein poetologischer Programme liegt dieses Kriterium in den höfischen Texten des Hochmittelalters bereits vor. Zudem räumt Luhmann ein, dass es durch wichtige Veränderungen der Möglichkeiten sprachlicher Kommunikation evolutionäre Schübe gegeben habe, welche er in seiner Darstellung jedoch nicht weiter hätte verfolgen können.115 Auch in dieser Hinsicht könnte mit den Überlegungen Luhmanns von einer vorläufigen Ausdifferenzierung der höfischen Kultur gesprochen werden, welche er dieser in Form der Selbstbeschreibung einer adligen Gesellschaftsorganisation auch selbst zugesteht: „Selbstbeschreibungen haben es typisch und in allen Teilsystemen der Gesellschaft damit zu tun, daß die Ausdifferenzierung eines Systems in diesem System einen Überschuß an Möglichkeiten erzeugt. So erzeugt die Bildung einer adligen Oberschicht dank einer Konzentration von Ressourcen Möglichkeiten der Kooperation und des Konflikts und der Beherrschung einer Unterschicht, die ohne eine solche Differenzierung nicht bestehen würden. Und deshalb entsteht ein Bedarf für die einschränkende Bestimmung des Zulässigen, etwa in der Form eines besonderen Ethos der adeligen Lebensführung“.116 Nach Luhmann entspricht folglich das, was die höfische Kultur schließlich ausmacht, genau der evolutionären Bedingung für die Bildung von Funktionssystemen.117 Die höfische Kultur lässt sich also innerhalb der Luhmannschen Systemtheorie als relativ autonomes autopoietisches System denken. Die notwendigen Voraussetzungen hierfür liegen – insbesondere aufgrund von rekursiven Beobachtungszusammenhängen, eigenen Poetologien und der Generierung eines eignen Mediums 112 113
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Luhmann 1997. S. 296. Evident wird das Vorhandensein eines poetologischen Programms besonders, wenn man an den Prolog des Parzival denkt. Vgl. hierzu beispielsweise Bumke 2004. S. 203ff. Luhmann 1997. S. 178. Ebd. S. 32. Ebd. S. 400. Ebd.
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durch Doppelrahmung sowie ausreichender Vorlage adliger Selbstbeschreibungen – in der hochhöfischen Textkunst um 1200 bereits vor, auch wenn an eine „vollständige Ausdifferenzierung eines Kunstsystems“ in der stratifikatorischen Gesellschaft des Mittelalters noch „nicht zu denken“ war.118 Der Hof wäre hiernach ein Ort, oder genauer: eine Nische in der stratifikatorischen Gesellschaft um 1200, in welcher der Umschlag zur Autonomie vorbereitet wird. Das tragende Argument hierfür ist, dass die höfischen Texte nicht in ihrer Dienstfunktion der Repräsentation aufgehen, sondern Verweise darauf enthalten, sich selbst genug zu sein. Gerade Wolframs Parzival offenbart in dieser Hinsicht ein enormes Selbstbewusstsein.119 Literatur ist als Teil von Kunst im Mittelalter also nicht prinzipiell autonom zu denken, sondern sie ist vielmehr als spezifisch höfische Literatur in der höfischen Kultur aufgehoben. Da sie aber trotzdem als ein gesellschaftlich genutzter Raum zu begreifen ist, der einen solchen Autonomisierungsprozess durch den Ausbau von Eigengesetzlichkeiten einleitet, wird diesem Zusammenhang im Folgenden dadurch Rechnung getragen, dass hierfür der Begriff des ‚höfischen (Text-)Systems‘ symptomatisch verwendet wird. Ein letzter Punkt, welcher für eine pragmatische Übertragbarkeit der Theorie spricht, aber nicht allein in den theoretischen Vorüberlegungen zur folgenden Analyse des Parzival, sondern nur durch die konkrete Arbeit am Text verifiziert werden kann, wäre eine argumentativ zunächst paradox erscheinende Wendung gegen Luhmann. Diese Argumentationslinie steht in engem Zusammenhang mit dem ‚Veto des literarischen Textes‘, welches besagt, dass die Literatur gegenüber der auf sie angewendeten Theorie letztlich immer recht behält: Für die mittelalterliche Gesellschaft macht es – gerade aufgrund ihrer stratifikatorischen Organisationsform – kaum Sinn, nur ein einziges geschlossenes Religionssystem anzunehmen. Viel plausibler erscheint die Vermutung, dass die in einer Vorform ausdifferenzierten Teilsysteme dieser Gesellschaft (insbesondere eben die höfische Kultur) selbständige Gottesbilder entworfen haben, die durch ihre je eigenen Funktionen spezifiziert sind. Genau diese Gottesbilder lassen sich wiederum anhand von literaturwissenschaftlichen Analysen in Vermittlung mit Luhmanns grundsätzlichen Überlegungen zur religiösen Kommunikation und der In-Dienstnahme Gottes als Kontingenzformel als funktionale herausarbeiten und darstellen. Die systemtheoretische Vorgehensweise erlaubt darüber hinaus den Anschluss an die Ergebnisse der jüngeren erzähltheoretisch orientierten Parzival-Forschung, welche Artushof und Gralshof gleichfalls als eigenständig Sinn konstituierende Bezugssysteme annehmen. Hinsichtlich der in der jüngeren Forschung attestierten Multiplikation der Sinnzentren im Parzival sind zunächst die Monographien Draesners und Groos’ zu nennen, die methodologisch beide auf dem Bach118 119
Luhmann 1997. S. 133. (Hervorhebung S.K.). An anderer Stelle wird in diesem Zusammenhang auf ‚Kyot‘, Wolframs fiktive Quelle, eingegangen werden.
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tinschen Konzept der Dialogizität gründen. Draesners Arbeit verfolgt mit ihrer „Frage nach der Rolle der intertextuellen Referenzen für den Bedeutungsaufbau des literarischen Werkes“120 zwar ein anderes Erkenntnisinteresse als das der vorliegenden Untersuchung, allerdings erscheinen ihre Ergebnisse für die Überlegungen zur Poetologie des Textes als anschlussfähig. Ihr geht es darum, eine Perspektive zu entwickeln, die jenseits von „Einflußforschung und Motivgeschichte“121 eine vermittelnde Lesart anbietet, die den „Spuren“ zwischen den der Erzählung eingeschriebenen Verstehensbahnen und dem Erkenntnisprozess des Rezipienten nachgeht. So erscheint ihre folgende Schlussfolgerung für die Frage nach den im Erzählprozess angelegten Möglichkeiten des Beobachtens von Religiösem, die ebenso elementar mit der Frage nach prozessualer Erkenntnis verwoben ist, als nützlicher Ausgangspunkt weiterer Überlegungen: „Wertungen und Vergleiche, Parallelen und Unterschiede, Handlungs- und Literaturmodelle werden hier nicht direkt ausgesprochen, sondern vielmehr in narrativer Form in den Eigentext aufgenommen. […] Der Erzähler legt mit den Referenzen Spuren, denen der Rezipient nachgehen muß: Sein Weg wird ihn zwischen den Texten hin und her führen und ihn zwischen ihnen auf Erkundungsreisen schicken“.122 Um eben diesen vermittelnden Raum zwischen den traditionell als Text und Kontext verstandenen Ebenen, um ein ‚Dazwischen‘ und die Verbindung der religiösen Vorstellungen des Parzival und der narratologischen Dimension soll es auch in dieser Untersuchung gehen. Hierfür wird der Blick auf die Beobachtungsverhältnisse des Textes als das adäquate analytische Mittel angesehen. In erzähltheoretischer Hinsicht strukturell ähnlich verfährt Groos, der den Parzival gleichfalls auf der Folie Bachtinscher Theorie als grundsätzlich ‚dialogische Erzählung‘ liest. Der Großteil seiner Beobachtungen und Interpretationen in Romancing the Grail sind bereits zuvor in Aufsatzform publiziert worden, allerdings ohne die systematische Subsumption unter einem einheitlichen (Bachtinschen) Theoriekonzept.123 Diesem Zusammenhang mag es vielleicht geschuldet sein, dass die angelegten Erzählkategorien „heteroglossia, the chronotope, and carnival“124 in dieser Arbeit weniger als methodologische Grundlage denn als theoretischer Überbau und Zusammenhalt vieler Einzelbeobachtungen fungieren. Der Gewinn liegt dementsprechend eher in spezifischen ‚Tiefbohrun120
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Draesner 1993. S. 24. Anzumerken ist dabei aber auch, dass man bei der Lektüre bisweilen den Eindruck gewinnt, dass, entgegen der postulierten Öffnung der Bezugssysteme, diese an anderer Stelle wieder geschlossen werden, insbesondere dann, wenn die intertextuellen Verweise im Text einer ‚bestimmten‘ Funktion und einer ‚spezifischen‘ Lesart und Bedeutung für den Parzival zugeordnet werden. Somit entsteht eine Art ‚normative‘ Intertextualität, welche dem eigentlichen Anliegen der Arbeit widersprechen müsste (vgl. hierzu die von Wolf formulierte Kritik: Wolf 1996. S. 195). Draesner 1993. S. 24. Ebd. S. 432. Groos 1995. S. xiif. Ebd. S. 17.
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gen‘ (wie beispielsweise Groos’ Ausführungen zur Trevrizent-Figur)125 als in einer allgemeinen Öffnung der Bezugshorizonte, welche die diagnostizierte ‚Dialogizität‘ auch in deutlichen Bezug zu den Gawan-Partien der Erzählung setzen müsste, die hier jedoch als vernachlässigt erscheinen. Als besonders anschlussfähig erscheinen die Überlegungen Schus zur Romanhaftigkeit des Parzival. Ein bedeutendes Ergebnis ihrer Arbeit ist, dass die beiden Höfe (auch in religiöser Hinsicht) nicht hierarchisch zu denken sind, sondern dass sich die beiden Gesellschaftsformen im Parzival stattdessen gegenseitig „bespiegeln und kommentieren“.126 In der Referenz auf Lukács’ und ebenso Bachtins Romantheorie gelingt es der Darstellung zu zeigen, dass Wertungen und Unterscheidungen, die im Text getroffen werden, ihren jeweils spezifischen gesellschaftlichen Bezugsrahmen besitzen. Schu formuliert hierzu: „Diese Wertungen sind zwar innerhalb des jeweiligen Kontextes begründbar, aber die Tatsache, dass ein Sachverhalt in verschiedenen Kontexten unterschiedlich bewertet werden kann, verweist darauf, dass keine Wertung notwendig so ist, wie sie ist, sondern perspektivengebunden und damit kontingent“.127 Ihre Arbeit nimmt die
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Groos 1995. S. 220–241. Auch Groos’ Ausführungen werden hier als komplementär zu den weiteren Überlegungen dieser Arbeit angesehen, da sie die figurenorientierte Perspektive zentral setzen. Schu 2002. S. 37. Ebd. S. 359. In Bachtins Romantheorie, auf welche sie in der Bestimmung ihrer Analysekriterien zentralen Bezug nimmt, steht die Überlegung im Mittelpunkt, dass ein Roman die Kontingenz der Welt reflektiert, indem er verschiedene Perspektiven auf die Welt integriert, die sich aber schließlich zu keiner einheitlich konstituierten Wahrnehmung von Welt mehr zusammenfügen lassen. Nach Bachtin ist es entgegen älterer literaturhistorischer Ansätze durchaus möglich, dass Epos und Roman bereits zur gleichen Zeit existieren bzw. sieht er den Typus des frühen in Versen gedichteten „Ritterromans“ genau auf der Grenze zwischen Epos und Roman, wobei er den Parzival in dieser „Entwicklung“ bereits als sehr fortschrittlich erachtet (vgl. Bachtin 1986. „Der Ritterroman“, S. 339–347). Romanhaftes und episches Erzählen unterscheidet Bachtin nur bedingt durch historisch verortete entwicklungstheoretische Aspekte. Für ihn ist die Frage nach der Funktionalität bestimmend, nämlich ob sie in ihrer soziokulturellen Situierung auf Erinnerung (im Sinne eines Kollektivgedächtnisses einer vornehmlich oralen Erzähltradition) ausgerichtet ist, oder wie im Falle des Parzival durch Öffnung der Sinnhorizonte auf Erkenntnis. Diese funktionalistische Definition romanhaften Erzählens bietet den zentralen Ansatzpunkt für Schus Bestimmung ihrer Analysekriterien: „Während das Epos als auf Vergangenheit gerichtete Gattung eine vollendete Zeit überblickt, deren Wert als Teil kollektiver Erinnerung von vornherein feststeht, bezieht der Roman seine spezifische Form der Unabgeschlossenheit aus der Tatsache, daß er sich auf die Gegenwart und die Zukunft richtet, deren Sinn und Wert noch nicht festgelegt sind“ (Schu 2002. S. 36). Diese poetologische Konzeption von Romanhaftigkeit bewirkt schließlich, dass gesellschaftliche Normen und Werte grundsätzlich relativ werden, was im Parzival auch ganz speziell aufgrund seiner spezifisch erzählerischen Form der Doppelung erfolgt. Schu schreibt: „Die Verdopplung sowohl der Handlungsträger (Parzival und Gawan) als auch der gesellschaftlichen Bezugsräume (Artus- und Gralswelt) kann als Signal dafür gelesen werden, daß im Parzival verschiedene Normhorizonte und verschiedene Lebenswege einander gegenübergestellt werden sollen. Die Konsequenz dieser Verdopplung ist eine Relativierung und
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narrative Form des Parzival von einer gattungspoetologischen Interessenlage her kommend systematisch in den Blick, indem sie die auf die „Bedingtheit von Weltwahrnehmung“ ausgerichtete Mehrdeutigkeit des Textes herausarbeitet, auf welche aufmerksam zu machen, als die besondere Leistung von Kunst anzusehen ist.128 Das Ergebnis der Arbeit, nach welchem der Parzival in seiner romanhaften Gestalt zahlreiche divergierende und widersprüchliche Perspektiven integriert, wodurch es ihm wiederum gelingt „eine Totalität zu suggerieren, die gleichzeitig als Illusion erkennbar wird, da selbst die Fülle von Beobachterstandorten dem Phänomen ‚Welt‘ nicht gerecht werden kann, welches erst im ‚Ertragen‘ der im Text eingenommenen divergenten Positionen, in der Akzeptanz ihrer Unvereinbarkeit aufblitzt“129, bietet einen geeigneten Ansatzpunkt für die Untersuchung kontextgebundener Gottesbilder des Textes und erweist sich vor allem für die Vermittlung Luhmanns Überlegungen zur Beobachterhaltung als besonders anschlussfähig. Dass der Parzival, so Schu, seine Identität aus seiner spezifischen (Re-)Präsentation bedingter Wahrnehmung und Wertung gewinnt,130 ist überdies als richtige und notwendige Beobachtung der Analyse religiöser Kommunikationen im Text vorauszusetzen. Der Grund, warum im Parzival von mehreren erzählten Welten in einem Kosmos und damit auch von verschiedenartiger Kontingenzbewältigung und Gottesbildern gesprochen werden kann, ist nur durch die dem Parzival eigene, perspektivierende Kontextualisierung verständlich. Diese Ergebnisse der erzähltheoretisch orientierten Parzival-Forschung besitzen in jeder weiteren, auch über diese Arbeit hinausgehenden Untersuchung der Bezugssysteme Artushof, Gralshof und ebenso der heidnischen Welt wesentliche Relevanz. Vor diesem Hintergrund eröffnen sich beständig neue Sichtweisen auf den Text und damit zugleich auf die unvermeidbaren Paradoxien der identifizierbaren Sinnsys-
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Entidealisierung sowohl der Protagonisten als auch der Gesellschaftssysteme, deren Normhorizonte sich gegenseitig bespiegeln und kommentieren“ (ebd. S. 36f.). Schu 2002. S. 433. Ebd. Ebd. Vgl. auch ebd. S. 39: „Es wird zu zeigen sein, daß das ‚Eigene‘ des Parzival darin besteht, daß er die der Gattung Roman inhärente Tendenz zur Welthaftigkeit als solche reflektiert und diese Reflexion dazu nutzt, die Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmung und Deutung zum Thema des Romans zu machen“. Schus Arbeit ist in Hinsicht auf die erzählerische Konstitution von Welthaftigkeit besondere Aufmerksamkeit zu schenken, umso mehr, da es sich um eine verhältnismäßig junge Monographie handelt. Dem Schluss, den sie aus ihren daraus gewonnenen Ergebnissen zieht, mangelt es in der Argumentation jedoch an Kohärenz. Schu geht nämlich davon aus, dass das Ausstellen von Kontingenz, „die der Text-Welt belassene Ambiguität zur Einsicht in die Notwendigkeit von Humanität und Toleranz“ führt (ebd. S. 433). Dies scheint jedoch eine nicht nachvollziehbare Projektion auf den Rezipienten zu sein, für welche ausreichende Beweise schlichtweg nicht vorliegen. Es ist dahin gehend einigermaßen schade zu nennen, dass eine solch stringent aufgebaute und dazu nah am Text arbeitende Analyse in ihren Schlussfolgerungen zuletzt dermaßen ins Lapidare (insbesondere in Bezug auf die „Toleranz“ und „Humanität“ des Parzival) abdriftet und damit sehr viel ältere Forschungsergebnisse wieder aufwärmt, die ihrem ambitionierten Ansatz nun wirklich nicht gerecht werden.
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teme, welche der bislang vornehmlich figurenorientierten Forschung verborgen bleiben mussten. Das Verständnis des Parzival als multiperspektivischer Text scheint für die Analyse kontextgebundener Gottesbilder insbesondere hinsichtlich der Wertung der beiden großen Bezugssysteme Artus- und Gralshof von großem Nutzen. In enger Verbindung zur Entwicklungsthese und der prinzipiell großzügigen Ausblendung der Gawan-Partien in der vornehmlich älteren Parzival-Forschung steht nämlich auch die dominierende Meinung, dass dem Gralshof eine grundsätzliche Höherwertigkeit gegenüber dem Artushof zuzusprechen sei, was mit der Zuschreibung eines ‚Mehr an Religiosität‘ begründet wird.131 Der jüngeren Forschung, deren zentraler Ansatzpunkt häufig die Erzählgestalt des Textes ist, gelang es nämlich diese eigenartige Religiosität und Höherwertigkeit radikal in Frage zu stellen. Zunächst wurde die kategoriale Trennung von Artus- und Gralswelt, von einer höheren göttlichen Ordnung der Gralswelt und dem ‚bloß weltlichen Streben‘ der Artusritterschaft, von Pratelidis als zu vereinfachte Darstellung abgelehnt: „Wolfram entwirft mit der Gralswelt nicht die Utopie einer geistlich-asketischen Gesellschaft, die sich grundsätzlich vom höfisch-ritterlichen Lebensstil der arturischen Gesellschaft abhebt“.132 Er räumte allerdings ein, dass dem Phänomen Religion in den beiden Gesellschaften nicht die gleiche Bedeutung und damit Wertung zukommt und zwar insofern, als „in der Gralssphäre die Religion einen höheren Stellenwert besitzt als in der Artuswelt, wie auch die Religiosität der Templeisen offener zutage tritt als bei den arturischen Rittern“.133 Die Begründung hierfür sieht er in der Berufung nach Munsalvaesche, welche mit der Verpflichtung verbunden sei, „sich mit Hingabe in den Dienst des Grals zu stellen und ein in jeder Hinsicht gottgefälliges Leben zu führen“.134 Der Ansatz Schus stellte zudem mit einer auf die Struktur des Textes ausgerichteten Perspektive auch dasjenige Argument in Frage, auf der die so verstandene ‚größere Religiosität der Templeisen‘ beruht. Sie hinterfragt nämlich die Aussagen Trevrizents, welcher bislang zumeist als unangefochten höchste Autorität in religiösen Fragen galt und formuliert dementsprechend: „… die Relativierung seiner Deutungskompetenz in der Schlußpartie des Parzival fordert dazu auf, die Semiose nicht den Figuren zu überlassen, sondern eigene Schlußfolgerungen zu ziehen. […] Diese verschiedenen Perspektiven auf die Figuren sind nicht hierarchisierbar im Akt der Lektüre, so daß der Text nicht nur die Reduktion der Figuren zu bloßen Exempla verweigert, sondern auch eine Reduktion seiner Sinnpotentiale“.135 Aufgrund ihrer In-Blicknahme des programmatischen Erzählens von 131
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Einzelne Titel hierfür anzuführen, erscheint an dieser Stelle sinnlos, da sich dieses Verständnis wie ein roter Faden durch die gesamte ältere Forschung zieht und diese unangefochten beherrscht. Wichtig ist nun vor allem der Perspektivenwechsel der jüngeren Forschung. Pratelidis 1994. S. 104. Ebd. S. 179. Ebd. Schu 2002. S. 436.
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mehreren Perspektiven her macht Schu hinsichtlich der Wertigkeit der beiden Höfe folgerichtig die Beobachtung eines Nebeneinanders der beiden Höfe, welche es auch in dieser Arbeit wieder aufzugreifen gilt.136 Daraus wäre unter konstruktivistischen Prämissen u. a. zu schlussfolgern, dass das Nebeneinander der Welten und die Bereitstellung von Welthaftigkeit durch innertextuelle Kontingenz divergierende Funktionen Gottes und damit divergente Gottesbilder produziert. Dass die Trennung der beiden großen Bezugssysteme nach dem Muster religiös/ nicht-religiös sich nicht als tragfähig erweist, soll in dieser Arbeit aber nicht lediglich als Beobachtung bestehen bleiben, sondern diese Beobachtung wird unter der funktionalen Perspektive methodologisch begründet in den Blick genommen werden.137 Dazu sollen die Kontexte höfischer Paradoxien im Text erörtert werden, welche das Auftreten eines religiösen Phänomens erzählerisch notwendig machen, und wodurch diese Beobachtungen daraufhin gezielt weiter geführt werden können. Der Terminus der Paradoxie fungiert demnach als theoretischer Leitbegriff der Untersuchung religiöser Phänomene im erzählenden Text. Theoretische Zielsetzung der Arbeit ist die Konzeption einer methodologischen Grundlage für die Analyse des Parzival, worin Luhmanns Theorie zu Beobachterordnungen über seinen funktionalen Kunstbegriff mit einer erzähltheoretischen Perspektive vermittelt werden soll. Grundlage hierfür muss eine Methodik sein, welche die erforderliche Auseinandersetzung mit Literaturtheorie in Bezug auf deren eigene Autonomie und operative Geschlossenheit beinhaltet. Deshalb soll im Folgenden zunächst auf Luhmanns funktionalen Kunstbegriff näher eingegangen werden, um daraufhin die erzählerische Funktion Gottes für die höfische Literatur in theoretischer Hinsicht zu erörtern, insofern dies im Rahmen von grundlegenden methodologischen Vorbemerkungen möglich ist. Diese theoretischen Ausführungen besitzen in diesem Sinne experimentellen Charakter, ihr Korrektiv ist in der konkreten Analyse abermals der literarische Text: Wolframs Parzival.
3. Luhmanns funktionaler Kunstbegriff Fragt man nach dem höfischen Erzählen vom Religiösen, bietet es sich an, auch auf der Ebene der Theorie das Verhältnis und Zusammenspiel von Religion und Literatur näher zu betrachten. Möglich wird dies unter systemtheoretischen Prämissen durch die spezifische Rolle des Beobachtens, durch welche religiöse Kommunikation und Kunstkommunikation im Luhmannschen Sinne mit-
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Denn dieses nicht-hierarchisch gedachte Verhältnis der beiden Höfe fordert, wie Schu richtig formuliert, zu einem dezidierten „Vergleich der beiden Gesellschaftssysteme“ auf, „der Gemeinsamkeiten und Unterschiede erkennen läßt; positive Züge der einen Norm werden vor der Folie der jeweils anderen profiliert, aber es wird auch auf Konflikte aufmerksam gemacht, so daß jeglicher Idealisierung ebenso wie jeglicher Verurteilung die Grundlage entzogen wird“ (Schu 2000. S. 437). Ganz explizit geschieht dies im Kapitel IV: 2.3.
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einander verbunden werden können. Dies soll im Folgenden genauer erläutert werden. In der Kunst der Gesellschaft entwirft Luhmann einen funktionalen Kunstbegriff, der sich auf Beobachtungen von Welt bezieht, „die es darauf anlegen, als Beobachtungen von Welt als Beobachtungen von Welt beobachtbar zu werden“.138 Kunst ist im Zuge einer funktionalen Ausdifferenzierung zu den symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien zu zählen. Damit wendet sich Luhmann gegen traditionelle Theorien der Kunst, in denen die Beziehungen zwischen Künstler und Betrachter, Autor und Leser nicht als Beobachtungsverhältnisse beschrieben sind und denen zumeist ein prinzipielles Kausalverständnis (im Sinne eines Bewirkens von entsprechenden Wirkungen) zugrunde liegt.139 Er artikuliert: „Vielmehr sind die Kunstwerke selbst Medium der Kommunikation insofern, als sie Beobachtungsdirektiven enthalten, die von verschiedenen Beobachtern adäquat oder inadäquat aufgegriffen werden können und dazu bestimmt sind“.140 Wie bereits erwähnt, formuliert Luhmann seine Kunsttheorie nicht für die stratifikatorische Gesellschaft des Mittelalters, sondern für vollständig funktional ausdifferenzierte Gesellschaften der Neuzeit. Dementsprechend schreibt er: „Erst in der modernen Welt, man kann den Beginn in die Zeit der Renaissance legen, beginnt das Kunstsystem, die Kriterien, nach denen es Beobachter rekrutiert, selbst zu bestimmen, und gerade die Blütezeit der Kunst im Spätmittelalter und in der Frühmoderne wird den Sprung ermöglicht haben“.141 Aber erst in der Moderne hat sich das Kunstsystem nach Luhmann als autonomes gesellschaftliches Funktionssystem schließlich vollständig ausdifferenziert.142 Die Konsequenz dieser Autonomie ist, dass die Kunst ihren Nutzen nur in sich selbst trägt und nicht auf etwas direkt Zugängliches verweist. Kunstwerke haben nach Luhmann grundsätzlich keinen externen Nutzen: Sie sind insofern Selbstzwecke, als sie keine Dienstleistung für außerkünstlerische Zwecke erbringen.143 Kunst lässt sich nach Luhmann in erster Linie als ein Verfahren verstehen, das Wahrnehmbares für Kommunikation verfügbar machen kann. Es reagiert damit auf das problematische Verhältnis der operativen Geschlossenheit psychischer Systeme als wahrnehmender Subjekte und Kommunikation als intersubjektivem Prozess. Es ist ausgeschlossen, dass Kommunikationssysteme, also soziale Systeme an sich, wahrnehmen können. Grund dafür ist ihre autopoieti138 139 140 141 142 143
Krause 2001. „System der Kunst“, S. 210. Luhmann 1997. S. 126. Ebd. S. 129. Ebd. S. 133. Vgl. hierzu Baraldi 1997. S. 105. Vgl. hierzu Luhmann 1997. S. 89: Das Kunstwerk hat nur einen künstlerischen Zweck, es „fixiert die Formen, an denen ein Doppeltes beobachtbar wird: daß (1) Unterscheidungen Bezeichnungen ermöglichen, die zu anderen Unterscheidungen und Bezeichnungen in ein Spiel nichtbeliebiger Kombination treten; und daß (2), wenn dies evident wird, zugleich evident wird, daß diese Ordnung Information enthält, die mitgeteilt werden soll, also zu verstehen ist“.
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sche Schließung.144 Kunstwerke arrangieren jedoch Selektionen, die sich als Bedingungen dafür begreifen lassen, dass Wahrnehmbares für Kommunikation verfügbar gemacht werden kann. Wo Wahrnehmung im Alltag allerdings schnell entscheidet, besitzt Kunst offenbar eine Aufgabe der Verzögerung und Reflexivierung in dem Sinne, wie beispielsweise Lyrik als Verzögerung des Lesens verstanden werden kann. Kunstwerke benutzen Wahrnehmung „um Beobachter an der Kommunikation von Formfindung teilnehmen zu lassen“.145 Bedingung dafür, dass Kommunikation wahrgenommen werden kann, ist eine hohe Auffälligkeit im Wahrnehmungsfeld, was bedeutet, dass Kunst faszinieren können muss.146 Von den bisherigen Kunsttheorien auf die Unterscheidung von Wahrnehmung und Kommunikation umzustellen, heißt mithin davon auszugehen, dass in beiden Fällen Systemoperationen vorliegen, welche jeweils eigene Informationsverarbeitungsstrukturen ausbilden.147 Das Gemeinsame der Operationen oder auch das, was sie durch Unterscheidungen trennt, ist mit dem Begriff des Beobachtens zu bezeichnen. Luhmann beschreibt dies folgendermaßen: „Das Kunstwerk selbst engagiert die Beobachter mit Wahrnehmungsleistungen, und diese sind diffus genug, um die Bifurkation des ‚ja oder nein‘ zu vermeiden. Man sieht, was man sieht, hört, was man hört, und wenn andere einen wahrnehmend beobachten, kann man das Wahrnehmen selbst nicht gut bestreiten. Auf diese Weise wird eine unnegierbare Sozialität erreicht. Kunst erreicht, unter Vermeidung, ja Umgehung von Sprache, gleichwohl eine strukturelle Kopplung von Bewußtseinssystemen und Kommunikationssystemen“.148 Insofern versetzt Kunst das Verhältnis von Wahrnehmung und Kommunikation in ein nicht normales, sondern irritierendes Verhältnis, was ihr auch die notwendige Aufmerksamkeit einbringt und damit zur Beobachtung auffordert. Das Kunstwerk selbst ist nach Luhmann ausschließlich als Mittel der Kommunikation hergestellt und das „geschieht durch einen zweckentfremdenden Gebrauch von Wahrnehmungen“.149 Auch die Textkunst bildet davon keine Ausnahme. Auch wenn sich die Dichtung sprachlicher Mittel bedient, unterscheidet sie sich doch von alltäglicher sprachlicher Kommunikation. So lässt sich beispielsweise die ‚Aussage‘ eines Gedichts oder Romans nicht einfach paraphrasieren und in einem Satz zusammenfassen, den man dann als wahr oder falsch beurteilen kann.150 Stattdessen spielt die Verzögerung und Reflexivierung auch für die Dichtung eine prominente Rolle: „Textkunst gestaltet sich von nor144
145 146 147 148 149 150
„Diese Auffassung schließt, bis zum Ende durchdacht, auch die in der gesamten Tradition unbestrittene Annahme aus, Kommunikation könne Wahrnehmung ausdrücken, also die Wahrnehmung anderer zugänglich machen. Sie kann zwar Wahrnehmung bezeichnen, aber das, was sie bezeichnet, bleibt für die Kommunikation operativ unzugänglich …“ (Luhmann 1997. S. 21). Ebd. S. 27. Ebd. S. 28f. Ebd. S. 30. Ebd. S. 36. Ebd. S. 41. Vgl. ebd. S. 45.
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maler Textgestaltung, die, wie man im postmodernen Jargon sagt, einen ‚readerly text‘ anstrebt und dem Leser damit die passive Rolle des Verstehens zuweist; sie unterscheidet sich dadurch, daß sie dem Leser ein ‚rewriting‘, eine Neukonstruktion des Textes zumutet. Oder mit anderen Worten: sie strebt nicht nach möglichst automatischer Wiederholung eines bekannten Zeichensinnes, sondern sucht, obwohl darauf hingewiesen, Automatismen zu unterbrechen und das Verstehen eines Textes als Kunstwerk zu verzögern“.151 Worte und grammatikalische Strukturen werden in der Sprachkunst als mediale Formen gebraucht und nicht um einen eindeutigen, denotativen Sinn zu erzeugen. Kunstkommunikation unterscheidet sich dahin gehend von Sprache, als sie nur durch sie selbst präparierte Wahrnehmung in Anspruch nimmt. Gerade das Zur-Verfügung-Stellen von Wahrnehmung für Kommunikation außerhalb standardisierter Formen von Sprache ist als spezifisch funktionale Eigenart von Kunst zu verstehen. Kunst hebt aber die Trennung der wahrnehmenden Subjekte und der sozialen Systeme aufgrund deren autopoietischer Geschlossenheit trotzdem nicht auf: „Und gerade das gibt der Kunst ihre Bedeutung. Sie kann Wahrnehmung und Kommunikation integrieren, ohne zu einer Verschmelzung oder Konfusion der Operationen zu führen“.152 Das Kommunikationsmedium Kunst bildet vielmehr eine strukturelle Kopplung aus, die den Beobachter in der Kommunikation direkt mit seiner Wahrnehmungsleistung engagiert. In der Kommunikation durch das Kunstwerk wird Wahrnehmung „auf neue und reizvolle Weise“ für die Selektion arrangiert, denn würde man das wahrgenommene Objekt in gewohnter Weise auf die gewohnte Ordnung beziehen, würden nur „Farbflecken oder Klangsequenzen wahrgenommen, aber nicht das Kunstwerk als solches“.153 Das Kunstsystem operiert nach Luhmann daher mit an Kunstwerken orientierten Beobachtungen.154 Beobachtungen sind gewissermaßen die Münze, mit der das System der Kunst zu handeln versteht. Deshalb bedarf die besondere Kommunikation der Kunst eigens für sie hergestellter Objekte. Durch deren Form wird garantiert, dass am selben Objekt Beobachtungen zu beobachten sind. Diese Art des Beobachtens lässt sich mit Luhmann als das Spezifische der Kunst beschreiben: „Als Besonderheit, die das Kunstsystem von anderen Funktionssystemen unterscheidet, können wir festhalten, daß die Beobachtung zweiter Ordnung im Bereich des Wahrnehmbaren hergestellt wird. Es geht immer um Dinge oder um Quasi-Dinge, um reale oder um imaginierte Dinge, um statische Objekte oder um Ereignissequenzen. Wir wollen, diese Unterscheidung übergreifend, von dinglicher Fixierung von Formen sprechen. Die in die Dinge eingelassenen Formentscheidungen garantieren die Möglichkeit, am selben Objekt Beobachtungen zu beobachten“.155 151 152 153 154 155
Luhmann 1997. S. 46. Ebd. S. 82f. Baraldi 1997. S. 106. Ebd. S. 107. Luhmann 1997. S. 124. (Hervorhebung S.K.).
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Methodik
Formen werden von der differenztheoretischen Systemtheorie als reine Selbstreferenz behandelt und ihre Bildung nur dadurch ermöglicht, dass jede Form selbst durch Grenzziehung markiert ist.156 Insofern bietet die Form aber auch die Möglichkeit der Grenzüberschreitung: Grundsätzlich partizipieren Unterscheidungen an der Welt, indem sie diese teilen und das, was von ihnen bezeichnet wird, der Beobachtung preisgeben.157 Der Begriff der Form setzt deshalb die Welt als ‚unmarked space‘ voraus. Die Einheit der Welt ist bekannterweise für jedes System unzugänglich. Ein System kann, um auf die Welt zuzugreifen, deshalb nur operativ unterscheidend tätig werden, wobei es die erste Unterscheidung im Sinne eines logischen blinden Flecks selbst nicht in den Blick nehmen kann.158 Für die Kunst bedeutet diese erste Operation, dass ein Pinselstrich gezogen wird, ein Klang produziert oder etwa erste Worte eines Romans niedergeschrieben werden, und dass diese identitätsstiftende Differenzierung von der Welt für das Kunstsystem selbst nicht beobachtbar ist. Als Besonderheit einer Formfestlegung, welche beansprucht ein Kunstwerk zu produzieren, gehört nach Luhmann daher, dass „von Anfang an eine ‚doppelte Schließung‘ angestrebt wird“.159 Nach außen unterscheidet sich ein Kunstwerk von Ereignissen bzw. anderen Dingen und nach innen dadurch, „daß jede Formsetzung einschränkt, was an weiteren Möglichkeiten übrig bleibt. Im Effekt ist dann die innere Schließung die äußere Schließung, sie hält sich an den Rahmen, der als unüberschreitbar mitproduziert wird“.160 Insofern dient Kunst dazu, dass Unwahrscheinliches wahrscheinlich gemacht wird, Grenzen überschritten werden, indem bestimmte Objekte unter Zuhilfenahme von ausschließlich im Kunstwerk selbst gesetzten Differenzierungen beobachtbar werden. Kunstkommunikation zielt darauf ab, dass Ausgeschlossenes als Möglichkeit reaktiviert wird. Das bedeutet: „Die durch (irgendeine) Festlegung erzeugte Unterscheidung bietet auf ihrer anderen Seite eine doppelte Möglichkeit. Man kann die andere Seite in ihrem Unbestimmtsein als ‚unmarked space‘ belassen“.161 Wenn man nun auf der anderen, der nicht bestimmten Seite der Form eine weitere Form sucht und bezeichnet, „kann man von dort aus zurückkehren und findet den Ausgangspunkt verändert vor. Er ist jetzt die andere Seite der anderen Seite. Es kommt zu einer Sinnanreicherung, aber auch zu einer Wahrnehmung von Kontingenz, die man im operativen Vollzug der ersten Fest156 157
158
159 160 161
Vgl. Luhmann 1997. S. 50. Vgl. ebd. Hierdurch setzt sich Luhmann von der Ontologie und auch gewissermaßen von der Semiotik ab. Vgl. hierzu ebd. S. 51f.: „Wenn eine neue Operationsreihe mit einer Differenz beginnt, die sie selber macht, beginnt sie mit einem blinden Fleck. Sie steigt aus dem ‚unmarked state‘, in dem nichts zu sehen ist und nicht einmal von ‚Raum‘ gesprochen werden könnte, in den ‚marked state‘ ein, und zieht, indem sie sie überschreitet, eine Grenze. Die Markierung erzeugt den Raum der Unterscheidung, die Differenz von ‚marked space‘ und ‚unmarked space‘“. Ebd. S. 53. Ebd. Ebd.
Luhmanns funktionaler Kunstbegriff
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legung nicht gesehen hatte. Es kommt zu einer Wiederbeschreibung, die kritisch ausfallen und Änderungen anregen mag“.162 Dies wird im Bereich von Literatur häufig als ‚redescription‘ bezeichnet, der Beobachter rückt wieder ins Zentrum: Nach Luhmann kann nämlich nur ein Beobachter Objekt und Prozess unterscheiden, denn Fragen nach einem Objekt werden nicht vom System gestellt; das System fängt einfach an zu operieren.163 Und nur ein Beobachter kann die Paradoxie des Anfangens erkennen, also jenen blinden Fleck, der alles Unterscheiden und damit Beobachten erst ermöglicht.164 Systemtheoretisch lässt sich dementsprechend formulieren, dass die Sequenz der Operationen sich in sich selbst einund dadurch anderes ausschließt oder, „daß sie eine Grenze zieht mit der Folge, daß nur interne Operationen möglich sind, die aber die Grenze selbst beobachten, das heißt: System und Umwelt unterscheiden und selbstreferentiell bzw. fremdreferentiell bezeichnen können. Der Unerreichbarkeit der Welt entspricht die Schließung des Kunstwerks – schließlich des Kunstsystems“.165 Ein Objekt wird folglich dadurch zum Kunstwerk, dass die interne Verwendung der Formen die Möglichkeiten der jeweils anderen Seite erheblich einschränkt. Indem es sich als Kunstwerk behauptet, schließt es alles nicht Eigene aus und teilt die Welt durch eine Realitätsverdopplung ein in sich selbst und den übrig bleibenden ‚unmarked space‘. Genau innerhalb dieses Verfahrens ist nach der basalen Funktion von Kunst zu fragen. Luhmann beschreibt dies so: „Mit dem Begriffsrepertoire Unterscheidung/Form/Beobachter thematisieren wir eine Voraussetzung jeder Einführung von Bezeichnungen in eine unbestimmte und unbestimmt bleibende Welt. Und eine Theorie der Kunst muß hier ansetzen, wenn sie dem Anspruch der Kunst genügen will, etwas mit ‚Welt‘ zu tun zu haben“.166 Die basale Funktion der Kunst besteht nach Luhmann also darin, dass sie der Welt eine Möglichkeit bietet, sich selbst von ausgeschlossenen Möglichkeiten her beobachtbar zu machen.167 Durch eine Realitätsverdopplung stellt das Kunstwerk eine eigene Realität fest. Man könnte auch formulieren, dass es eine Teilung der Welt in eine (konstruiert gedacht) reale Realität und eine imaginäre, für Kunst anschlussfähige Realität realisiert. Luhmann formuliert hierzu: „Immer geht es, wenn man ‚marked space‘/Grenze/‚unmarked space‘ zusammendenkt, um die Konstitution eines imaginären Raums. Aber da jedes Kunstwerk einen eigenen imaginären Raum konstituiert, führt das nur auf die Frage, wie dies von Fall zu Fall unterschiedlich geschieht“.168 Durch den Vollzug eines re-entry, dem Wiedereintritt der Form in die Form, vollzieht das Kunstwerk eine Trennung zwischen der realen und der fiktiven Wirklichkeit, jenem Bereich von Möglich162 163 164 165 166 167 168
Luhmann 1997. S. 53f. Ebd. S. 57. Ebd. Ebd. S. 59. Ebd. S. 65. Vgl. Baraldi 1997. S. 107. Luhmann 1997. S. 78f.
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Methodik
keiten, die sich nicht verwirklicht haben und in dem das Kunstwerk eine nichtarbiträre Ordnung aufzuweisen vermag. Durch den arbiträren Anfang, die erste operativ vollzogene Unterscheidung, produziert die einfache Sequenz der sich gegenseitig einschränkenden Operationen daraufhin eine Ordnung, die sich auf keine externe Ordnung zurückführen lässt und daher als notwendig erscheint; Willkür und Zufall sind gebannt. Die inneren Beschränkungen, welche die Ordnung des Kunstwerks generieren, ermöglichen nach Luhmann schließlich das für die Kunst spezifische Spiel mit den Formen. Das Kunstsystem eignet sich Unterscheidungen auf seine eigene operative Weise an, indem es sie in seinem Inneren als selbst hergestellte, notwendige Formen und dem Kunstwerk Struktur verleihend erscheinen lässt. Das Kunstwerk verleiht sich durch diese „eigentümliche Entfaltung von Notwendigkeit und Kontingenz“ Freiheiten, die dann für die eigenen Selbstbeschränkungen benutzt werden können.169 Jede im Kunstwerk getroffene Unterscheidung schränkt weitere Möglichkeiten ein. Durch diese Selbstbeschränkungen macht es sich Schritt für Schritt von seiner Umwelt unabhängiger. Das führt schließlich dazu, dass sich das Kunstsystem gegenüber der Welt verhalten kann. Mit Luhmann lässt sich dies folgendermaßen formulieren: „Innerhalb ihres spezifischen (fiktionalen) Realitätsbereichs kann die Kunst mit unterschiedlichen Formen experimentieren; sie kann die Realität mit Bezug auf ein Perfektionsideal imitieren, das sich als solches nie realisiert hat; sie kann die Realität kritisieren; sie kann sich an den Betrachter als Individuum wenden und ihn dazu führen, auf andere Weise als in seinem alltäglichen Kontext zu beobachten (wie es im Roman der Fall ist). Mit anderen Worten: die Funktion der Kunst ist es, der Welt eine Möglichkeit anzubieten, sich selbst zu beobachten – die Welt in der Welt erscheinen zu lassen“.170 Insofern ermöglicht Fiktionalität, systemtheoretisch formuliert, Kontingenz. Kunst hat es gleich dem Religionssystem also mit ganz besonderen Beobachtungen zu tun. Die Beobachtung zweiter Ordnung, die beobachtet, wie beobach169
170
Vgl. hierzu auch Luhmanns Überlegungen zum Umgang bzw. zur Verwendung von Raum-Zeitstrukturen: „Mithin gilt für Raum und Zeit gemeinsam die Notwendigkeit einer Stelle als Ausgangspunkt für den Zugang zu anderen. Die Welt selbst bleibt unzugänglich, weil Zugang nur von Stelle zu Stelle möglich ist. Als wahrnehmbare Objekte müssen Kunstwerke diese Medien, Raum und Zeit benutzen, um jeweils von ihrer Stelle aus alle anderen Räumen und Zeiten auszuschließen. Als Kunstwerke erzeugen diese Objekte aber zugleich imaginäre Räume und Zeiten. Imagination konstituiert sich durch ein Einschließen des Ausschließens der immer hier und jetzt realräumlich und realzeitlich gegebenen Welt. […] In dieser imaginären Welt wiederholt sich die Medium/FormStruktur von Raum und Zeit, also auch deren eigentümliche Entfaltung von Kontingenz und Notwendigkeit, aber mit größeren Freiheitsgraden, die dann für eine Selbstbeschränkung durch die Kunstwerke genutzt werden können. […] Der vielleicht wichtigste Beitrag der Medien Raum und Zeit zur Evolution von Kunst liegt in der Möglichkeit, Redundanz zu straffen und dadurch ein höheres Maß an Varietät zu garantieren. […] Dies kann mit optischen, akustischen und mit erzählerischen Mitteln erreicht werden, die sicherstellen, daß alles malbar, alles erzählbar wird, sofern nur Zeit und Raum den Übergängen den notwendigen Halt geben“ (Luhmann 1997. S. 183f.). Baraldi 1997. S. 107f.
Luhmanns funktionaler Kunstbegriff
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tet wird, sieht und erkennt an sich selbst, dass es nicht gelingen kann, die Gesamtinformationslast der Welt auf einen Punkt zu konzentrieren, es sei denn, man nähme eben Gott an.171 Kunst engagiert Beobachtung zweiter Ordnung im Bereich des Wahrnehmbaren. Beide Systeme vollziehen ein re-entry, durch das die Welt prinzipiell beobachtbar wird. Allerdings sind Religion und Kunst in ihren Funktionen keinesfalls äquivalent, gemeinsam ist den beiden Systemen lediglich der Umgang mit dem Umstand, dass die Welt an sich eigentlich nicht beobachtbar ist. Während religiöse Kommunikation die Problematik der Unbeobachtbarkeit der Welt über Auslagerung durch ihre Kontingenzformel Gott löst, arrangiert das Kunstsystem spezifische Selektionen, die zur Beobachtung zweiter Ordnung anregen. Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten der Beobachtung zweiter Ordnung: Selbstbeobachtung und Fremdbeobachtung. Kunst thematisiert hierfür Beobachtungsverhältnisse. Es ist die Aufgabe der Beobachtung zweiter Ordnung innerhalb des Kunstsystems, die Unwahrscheinlichkeit der Beobachtung erster Ordnung zu thematisieren. Sie fragt z. B. nach Bereichen getroffener Auswahl und kann auch Kontingenzen an Stellen festmachen, an denen ein Beobachter erster Ordnung glaubt, Notwendigkeiten zu folgen oder „ganz natürlich zu handeln“.172 Der Beobachter erster Ordnung muss, um zu handeln, schließlich Komplexität reduzieren. Oder mit Luhmanns Worten gesagt: „[D]ie Welt des Möglichen ist eine Erfindung des Beobachters zweiter Ordnung, die für den Beobachter erster Ordnung notwendig latent bleibt“.173 Die Perspektive eines Bildes ermöglicht es zum Beispiel, Beobachterpositionen in die Einheit des Bildraumes einzuarbeiten.174 Es kann gezeigt werden, was abgebildete Personen aus ihrer Position sehen können und was nicht. Personen werden im Bild als Beobachter erst durch die Perspektive garantierter Einheit des Raumes beobachtbar. Insofern garantieren die abgebildeten Beobachtungsverhältnisse die Einheit des Bildes, wobei der Rahmen zwar nicht seine Funktion als Grenze verliert, aber die Perspektivierung und die Beobachtungsverhältnisse im Bild machen deutlich, dass die Welt über das gerahmte Bild hinausreicht, und dass eigentlich nur die beobachtbare, bzw. beobachtbar gemachte Welt, dargestellt ist. Das Unbeobachtbare wird damit ins Bild hinein genommen und durch das Bild beobachtbar gemacht. Bei der erzählenden Textkunst verhält es sich nach Luhmann nicht anders: „Die komplexe Erzählstruktur des Romans bereitet die Generalisierung des Topos latenter Motive vor. Das ermöglicht eine Internalisierung von Zeichen, bezogen auf den Roman selbst. Man kann das Erzählte lesen als Hinweis auf etwas, was in der Erzählung ungesagt bleibt, aber zu ihr gehört“.175 Folglich bezeichnet die Bezeichnung in dem Fall, in dem etwas als Kunstform angelegt ist, nicht nur sich 171 172 173 174 175
Luhmann 1997. S. 104. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu ebd. S. 141. Ebd. S. 144f.
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Methodik
selbst als das-und-nichts-anderes, sondern sie verweist darüber hinaus auf das Kreuzen der Grenze, welche die Form in ihre zwei Seiten teilt. Sie gibt sich als eine Anweisung zur Suche und Fixierung dessen zu erkennen, „was noch nicht entschieden ist – und dies für den Künstler ebenso wie für den Betrachter des Kunstwerks, also für ein notwendigerweise temporales Beobachten jeder Art. Die Bezeichnung wird, können wir sagen, als Sinn genutzt. Das Kreuzen der Grenze führt nie in den unmarked space, gibt nie die Welt selbst wieder, sondern muß immer selbst eine Bezeichnung, eine neue Bezeichnung vollziehen. Bezeichnungen können aber, wie wir wissen, nur als Unterscheidungen vollzogen werden“.176 Luhmann geht davon aus, dass Kunst wie jedes soziale System über einen spezifischen Code auf die Welt zugreift. In den Worten der traditionellen Ästhetik bezeichnet die Unterscheidung schön/hässlich diesen Code. Dass diese Begrifflichkeiten jedoch mit gewaltigen Semantiken aufgeladen und deshalb nur schwer systemtheoretisch fruchtbar zu machen sind, diskutiert Luhmann sogar selbst. Er versucht deshalb schön/hässlich sehr stark von ihrem Inhalt zu abstrahieren, indem er fordert, darauf zu verzichten, „Schönheit inhaltlich (und sei es nur: als unerreichbarer Richtwert für unendliches Streben) zu bestimmen. Das heißt auch, daß Schönheit weder die Eigenschaft eines Objektes ist (und wieder: so wenig wie Wahrheit die Eigenschaft eines Satzes ist) noch ein ‚intrinsic persuader‘“.177 Den Prämissen seiner Theorie folgend geht es ihm bei der Codierung eigentlich nur um die Bezeichnung des Positivwerts des Kunstsystems, welcher die Anschlussfähigkeit von Kunstkommunikation garantiert. Er artikuliert dementsprechend: „Ob es dann sinnvoll ist, überhaupt noch von Schönheit zu sprechen, wenn man damit nur mehr den Positivwert der Codierung des Kunstsystems bezeichnen will, mag man diskutieren. Aber das bleibt, wenn man den Paradigmenwechsel vor Augen hat, eine rein terminologische Frage zweiten Ranges“.178 Luhmann reformuliert den binären Code zumindest für die gegenwärtige Kunst als eine Orientierung an der Unterscheidung passen/nicht-passen: „Das Medium der Kunst ist demnach für alle Kunstarten die Gesamtheit der Möglichkeiten, die Formgrenzen (Unterscheidungen) von innen nach außen zu kreuzen und auf der anderen Seite Bezeichnungen zu finden, die passen, aber durch eigene Formgrenzen ein weiteres Kreuzen anregen“.179 Das bedeutet zugleich, dass für jede Form innerhalb des Kunstwerkes diagnostiziert werden muss, ob sie Anschlussfähigkeit produziert oder nicht.180 Das Gelingen hiervon verleiht dem Kunstwerk seine eigene Ordnung, die so als notwendig erscheint, wie sie ist. Auf diese Weise generiert das Kunstwerk Kommunikation. Seine eigens erstellte Ordnung enthält Informationen, die mitgeteilt und verstanden werden wollen. Da es bei der Be176 177 178 179 180
Luhmann 1997. S. 189f. Ebd. S. 314. Ebd. S. 159. Ebd. S. 191. Vgl. hierzu Baraldi 1997. S. 106.
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zeichnung der Code-Seiten vornehmlich um Bezeichnungen geht, die der historischen oder gegenwärtigen Selbstbeschreibung von Kunst angemessen sein sollen, liegt es für die höfische Kunst sehr nahe, zwar nicht den Kunstcode höfischer Kunst bzw. des höfischen (Text-)Systems an sich eigenmächtig mit der Terminologie höfisch/nicht-höfisch zu bestimmen, sie aber als eine sehr nahe daran geknüpfte Semantisierung: quasi als den ersten Niederschlag der Codierung, die mit nahezu der identischen Grundunterscheidung operiert, solchermaßen zu definieren. Die Differenzierung höfisch/nicht-höfisch selbst als Code zu begreifen, scheint vor allem deshalb problematisch, weil dieser nach Luhmann auch über die historischen Ausformungen hinweg gültig bleiben muss.181 Vielleicht lässt sich aber auch gegen Luhmann formulieren, dass Kunst nicht nur mit einem einzigen Code arbeitet, sondern dass es für die Möglichkeit der Beobachtung zweiter Ordnung auf der Ebene von Wahrnehmung grundsätzlich mehr als nur eines funktionalen Codes bedarf, gerade wenn die Funktion von Kunst über die historische Entwicklung von Gesellschaften hinweg Gültigkeit beanspruchen will.182 Das Kunstsystem muss sich überdies prinzipiell vom Religionssystem unterscheiden, weil die religiöse Kommunikation es mit etwas zu tun hat, das man seinem Wesen nach nicht wahrnehmen kann, und sich auch gerade dadurch auszeichnet. Die Funktion der Kunst liegt in der Art, „wie sie ihre eigene Realität in der Welt ausdifferenziert und zugleich in sie einschließt. Genau dies scheint die Kunst erreichen zu können, indem sie die Welt schlechthin (und nicht nur einzelne Auffälligkeiten) unter der Perspektive überraschender Redundanzen beschreibt“.183 Wie bereits erwähnt, bietet Beobachtung prinzipiell zweierlei Blickrichtungen an, nämlich Selbst- und Fremdbeobachtung. Das Zweite bewirkt im Bereich der Kunst eine ähnliche universale Zuständigkeit, wie sie Religion beanspruchen 181
182
183
An dieser Stelle wird sehr deutlich, dass Luhmann als soziologischer Konstruktivist formuliert, denn der Code muss hier grundsätzliche Gültigkeit haben und er ist den spezifischen Kulturen auch dann impliziert, wenn sie ihn selbst nicht so formulieren. Außerdem bringt dieses spezifisch soziologische Verständnis auch die kritische Frage auf, welcher Beobachter hier eigentlich den Code konstruiert (dieser Punkt kann in Luhmanns Theorie ohnehin als ‚blinder Fleck‘ gelten). Nach meiner Einschätzung ist ein solcher Code auch nicht sinnvoll bestimmbar, denn auch Luhmanns Versuche mit ‚schön/hässlich‘ oder ‚passend/nicht-passend‘ erscheinen als Hilfskonstruktionen, weil die Idee, dass auch Kunst mit nur einem Code operiert, nicht wirklich tragfähig scheint. Es ist mir hier aber nicht daran gelegen, das der Systemtheorie Luhmanns inhärente Problem zu lösen. Sondern mir geht es hier um einen Begriff höfischer Kunst, der zwar einem ‚höfischen System‘ tendenziell untergeordnet ist, gleichzeitig aber aufgrund der nicht vollständigen Ausdifferenzierung eben auch noch an anderen Funktionen höfischer Kultur direkt partizipierend gedacht werden kann, womit die Hierarchie tendenziell wieder verschwindet. Demnach würde sich Kunst als höfische Kunst dann desselben Codes wie das ‚höfische System‘ bedienen, nur eben mit anderen Mitteln. Diese hier zu erörtern, würde jedoch schlicht den Rahmen sprengen. Als pragmatischen Umgang mit dem Problem schlage ich, wie bereits angesprochen, den Begriff ‚höfisches (Text-)System‘ vor. Luhmann 1997. S. 229.
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Methodik
kann. Kunst bietet durch ihre (fiktionale) Brechung einen Reflexionswert für alle Sinnsysteme, indem sie nämlich das Zusammenspiel mehrerer Funktionssysteme inszeniert. Luhmann schreibt: „Alle anderen Realitätsverdopplungen können in die imaginäre Realität der Kunstwelt wieder hineincopiert werden […]. Anders als Sprache und Religion wird Kunst hergestellt und impliziert dadurch Freiheiten und Beschränkungen der Formenwahl, die der Sprache und der Religion fremd sind“.184 In dieser Hinsicht scheint es luzide, im Folgenden zu beobachten, wie Kunst mit in ihre imaginäre Realität hineinkopierter religiöser Kommunikation umgeht und wie sie sich gegen die Letztkompetenz für die Auflösung von Sinnparadoxien der Religion auszudifferenzieren beginnt. Unter Zuhilfenahme Luhmannscher Begrifflichkeiten ließe sich das Verhältnis von Religion und höfischer Kunst um 1200 vielleicht auch als besondere System-zu-System-Beziehung beschreiben.185 Mit dieser Konstruktion von System-Beziehungen, die im speziellen Fall durch Interpenetration charakterisiert sind, trägt er dem Umstand Rechnung, dass ‚unmarked space‘ nicht zwangsläufig gleich ‚unmarked space‘ sein muss, sondern dass der Begriff Umwelt zugleich impliziert, dass bestimmte Systeme eine engere Beziehung führen als andere. Es geht um die Frage, mit welchen Systemen ein System in seiner Umwelt sonst noch zu rechnen hat.186 Vergleicht man die Beziehung von Religion und Literatur im Hochmittelalter mit der Gegenwart, so kann man mit Sicherheit behaupten, dass sie heute weiter voneinander entfernt scheinen als in der Zeit um 1200, wenngleich sich ihre Formen auch dort nicht einem einzigen umfassenden System zuordnen lassen, weil sie mit entsprechenden Eigenarten auftreten und damit als tendenziell ausdifferenziert zu erachten sind. Es stellt sich also für den konkret vorliegenden Fall die Frage, wie sich das re-entry in der höfischen Literatur gestaltet, wenn sie an Strukturen und Formen des Religiösen partizipiert: Wie verwandelt sie Gott und Religion zu Bausteinen ihrer erzählenden Texte?
184 185 186
Luhmann 1997. S. 230. Vgl. ebd. S. 219. Dies entspricht überdies auch der Anforderung an eine Arbeit, die mit einem systemtheoretischen Ansatz operieren möchte, welcher nicht eine bloße ‚Überschreibung‘ in systemtheoretische Begrifflichkeiten leisten soll, sondern zugleich auch eine kulturhistorische Perspektive eröffnen möchte. Der Gefahr der hermetischen Geschlossenheit systemtheoretischer Sprache lässt sich u. a. auch dadurch begegnen, ein System immer auch in Bezug auf seine Umwelt zu betrachten. Im Falle des Erzählens vom Religiösen bedeutet das, dass konkret die Ausdifferenzierung des Religions- und Kunstsystems in den Blick genommen werden muss, da ein solcher Prozess, als welcher Erzählen hier begriffen wird, „immer nur als Mischungsverhältnis aus System und Umwelt, also aus systeminterner und -externer Fremdsteuerung, aus Autopoiesis und Allopoiesis gedacht werden kann“ (Ort 1995. S. 173).
Narrative Funktionen Gottes
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4. Narrative Funktionen Gottes: der Versuch einer systemtheoretisch orientierten Theorie des Erzählens Die folgenden methodologischen Überlegungen sind als ein der konkreten Textanalyse vorgeschalteter Versuch zu verstehen, dessen Ziel es ist, für die Verbindung des funktionalen Religionsbegriffs nach Luhmann mit einem erzählperspektivischen Erkenntnisinteresse die notwendige theoretische Dimension zu erschließen. Es erscheint dabei als wichtig, ihren vorläufigen Charakter zu betonen, denn sie können selbstverständlich keinesfalls selbst Ergebnis sein, weil tragfähige Interpretationen sich erst über entsprechende Beobachtungen am Text und in der Auseinandersetzung mit ihm entwickeln lassen.187 Vielmehr dienen diese Überlegungen der konkretisierenden Formulierung identifizierter Problemhorizonte, deren Aufgabe außerdem darin besteht, mögliche Anknüpfungspunkte an bekannte und etablierte Theoreme der Erzähltheorie zu beleuchten. Da es dezidiert um Anknüpfungspunkte geht, mit denen der Gefahr einer hermetischen Schließung, welcher ein systemtheoretischer Analyseansatz stets ausgesetzt ist, begegnet werden soll, kann es im Folgenden auch nicht Ziel sein, die grundsätzliche Forschungslage zur Erzähltheorie in der Literaturwissenschaft vorzustellen und zu diskutieren. Um eine der Systemtheorie selbst inhärente Hermetik aufzubrechen, steht hier nun der methodologische Versuch einer Verbindung des systemtheoretischen Ansatzes mit Theorien des Erzählens, die an einen funktionalen Kunstbegriff anschlussfähig sind, an. Es sind dabei vielzitierte und in der Gegenwart auch sehr kritisch diskutierte Modelle, die von mir hierzu angeführt werden. Zweck ist also die Öffnung des eigenen Deutungshorizontes und die spezifische In-Blicknahme der Problematik von Religion und erzählender Literatur, die theoretische Betrachtung einer grenzüberschreitenden Partizipation des höfischen Textes an religiösen Mustern und schließlich die Freilegung des produktiven Charakters, der aus der Abarbeitung an dieser Problematik zu entstehen scheint – was bisher so auch noch nicht gesehen worden ist.188 Damit soll zum einen der notwendige Blick über den Tellerrand der systemtheoretischen Basis hinaus ermöglicht und zum anderen zugleich der Versuch unternommen werden, einen Fokus auf das Erzählen von Religion zu setzen, der besondere Einsichten in die Eigenheiten von höfischer Literatur verspricht, die ihre narrative Dynamik aus der spezifischen Zuspitzung des Problems, von Gott zu erzählen, und der selbstgeschaffenen Inklusion religiöser Strukturen gewinnt. Im Anschluss an diese 187
188
Diese Einschränkung ist auch deshalb wichtig, weil sich diese Arbeit eben nicht als rein theoretische versteht, sondern der Kontakt mit der herkömmlichen literaturwissenschaftlichen Hermeneutik zu bewahren versucht wird. Andernfalls, so zumindest nach der Meinung der Verfasserin, besteht die Gefahr, wichtige Textphänomene zu übersehen und hart formuliert, den erzählenden Text mit der Theorie zu vergewaltigen. Ausnahmen, wie insbesondere die Darstellung Theisens, sind im Forschungskapitel thematisiert.
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Methodik
theoretischen Vorüberlegungen werden entsprechende Textanalysen erfolgen, die darum bemüht sind, die Logiken hierfür signifikanter Erzählmuster aufzuschlüsseln.189 Es konnte zuvor dargestellt werden, dass das Operieren-mit und Installierenvon Beobachterordnungen wesentlicher Bestandteil von Kunst im Allgemeinen und im Speziellen von Literatur ist. Beobachtungsmöglichkeiten von Figuren und Erzählinstanz190 stehen in der Literatur prinzipiell im Mittelpunkt der Betrachtung und werden zur Beobachtung ausgestellt, wobei ihre Beobachterpositionen mit Beobachterpositionen außerhalb der Textgrenze, denen der Rezipienten und der Herstellenden des Textes,191 interferieren können. Strukturell betrachtet kann dies zu hoch komplexen Verknüpfungen und Überlagerungen führen, durch die beispielsweise Erwartungshaltungen produziert und gebrochen oder aber Wissensdifferenzen kunstvoll inszeniert werden können. Fiktionale Texte sind mithin in der Lage, diese Beobachterpositionierungen selbst zum Thema zu machen und sie in ein literarisches Spiel zu überführen. Luhmanns Verständnis von Kunst, das literarischen Texten schließlich die Funktion der Herstellung von Weltkontingenz zuschreibt, erlaubt den konkreten Anschluss an grundsätzliche erzähltheoretische Überlegungen zum perspektivischen Erzählen, insbesondere wenn er formuliert, dass sich die festsitzende Alltagsversion von Realität im Kunstsystem als auflösbar erweist, sie zu einer mehreren Kontexten unterstellten und anders deutbaren Wirklichkeit wird.192 Schu verweist in diesem Zusammenhang auf die signifikant ähnliche Gestaltung der erzähltheoretischen Überlegungen Blumenbergs, der über den Roman sagt, dass er „seine eigene Möglichkeit nicht als Fiktion von Realitäten, sondern als Fiktion der Realität von Realitäten zum Thema“193 macht. Insofern ist Literatur, systemtheoretisch formuliert, imstande, 189
190
191
192 193
Auch hierbei gilt selbstverständlich, dass die Theorie nicht am Text nachgewiesen wird, sondern als eine Brille für die Möglichkeit von Beobachtung zu gebrauchen ist. Der Begriff der ‚Erzählinstanz‘ wird hier dem Begriff des ‚Erzählers‘ deshalb vorgezogen, weil diese Position von keinem einheitlichen oder kohärenten Gefüge im Parzival bekleidet wird. Die Erzählinstanz entsteht vielmehr in den jeweiligen Situationen und Handlungsspielräumen. Der Begriff des ‚Erzählers‘ suggeriert jedoch eine solche Einheit, von der in diesem Text aber nicht ausgegangen werden kann. Lediglich im Falle von eindeutigen Bezeichnungen als Funktionsrolle (wie z. B. auktorialer Erzähler oder Erzählerfigur) kann der ‚Erzähler‘ als Spezifikation der Erzählinstanz fungieren. Klassischer Weise würden an dieser Stelle die Begriffe Leser und Autor fallen. An sich ist dagegen auch nichts einzuwenden, solange sie unter systemtheoretischen oder auch diskursanalytischen (Foucaultschen), historisierbaren Prämissen gedacht werden. Allerdings ist es nicht das Anliegen der Verfasserin eine grundlegende Autorschaftsdebatte zu führen, obwohl die spezifisch systemtheoretische Perspektive mit Sicherheit einiges Luzides für die historische Dimension von Autorschaft beitragen könnte. Auch in den folgenden klassischen erzähltheoretischen Modellen wird dieser Bereich zu Gunsten einer systemtheoretischen Reformulierung konsequenterweise ausgeblendet werden. Luhmann 1986. S. 625. Blumenberg 1964. S. 27.
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die Differenz von Beobachtung erster und zweiter Ordnung selbst in der Form eines re-entry des Textes beobachtbar zu machen, indem sie genau diese Differenz zu thematisieren vermag. Dementsprechend findet sich in Schus erzähltheoretisch orientierter Arbeit folgende Formulierung: „Durch diese Technik des perspektivischen Erzählens erhält das Publikum verschiedene Sichtweisen und Wertungsangebote“,194 was nach Schu überdies als ein Spezifikum der romanhaften Gestaltung eines Erzähltextes gilt, das sie in ihrer Untersuchung auch am Parzival nachzuweisen vermag. Dass der Roman die Konstitution von Welt nicht durch einfache Abbildung unternimmt, sondern, dass er sich ganz im Sinne Luhmanns die Welt auf seine eigene spezifische Weise durch sprachliche Formung und Gestaltung der Erzählung erschafft, hat auch bereits schon Stanzel in seiner vielzitierten Untersuchung typischer Formen des Romans dargestellt:195 Der Roman ist nach Stanzel Fiktion und damit gedichtete Welt. Er schreibt über die Herstellung dieser Welt: „Denn eine Erkenntnis hat die neue Romantheorie ein für allemal und unwiderlegbar gesichert, daß die Möglichkeiten des Romans, auf seine ihm ganz eigene und einzigartige Weise Dichtung zu sein, nicht in der Darstellung eines besonderen Weltbezirks, eines besonderen Stoffes, sondern in der sprachlichen Formung und erzählerischen Gestaltung eines Stoffes liegen“.196 Stanzel geht sogar soweit, dass er solcherart dargestellte Wirklichkeit aufgrund ihres bedeutungsvollen Sinngefüges als der alltäglichen, historischen oder empirischen Wirklichkeit überlegene behauptet.197 Mit der Anlehnung an Luhmann lässt sich diese Wertung nun funktional zur Eigengesetzlichkeit umformulieren und daher vielleicht adäquater ausdrücken: Literatur hat keine direkte Auswirkung auf die Welt, sie operiert in einem Bereich von autonomer Kunstkommunikation.198 Ihre Funktion der Installation einer Beobachtungsebene zweiter Ordnung, die Möglichkeit der Welt sich selbst zu beobachten, ist als die besondere Leistung von Kunst und literarischen Texten anzusehen. Kunst ist ein System (nicht das einzige: Wissenschaft wäre beispielsweise ein anderes), dessen dezidierte Aufgabe in der Reflexion liegt. Durch das geleistete re-entry bietet Kunst die Mög-
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Schu 2002. S. 132. Stanzel 1979 (1. Aufl. 1964). Ebd. S. 5. Ebd. Damit soll keine universale und transhistorische Geltung beanspruchende Aussage über Kunst und Literatur getroffen werden. Diese These ist ebenso auf der Folie konstruktivistischer Theorie formuliert, die stets mit den Konstruktionen des Beobachters operiert. Innerhalb dieser systemtheoretischen Logik kann kein System direkt auf die Welt zugreifen, sondern der Zugriff erlaubt sich nur durch die Nutzung eines spezifisch generalisierten Kommunikationsmediums. Wichtig erscheint mir an dieser Stelle nun aber die Paradoxie – hier nun nicht in Luhmannscher Begrifflichkeit verstanden – dieses Zusammenhangs herauszustellen: Die Eigengesetzlichkeit der literarischen Kommunikation (und ebenso anderer Systeme) ist zugleich auch fundamentale Bedingung für den Zugriff des Systems auf die Welt.
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lichkeit, über die Welt nachzudenken sowie, dass sich überhaupt bewusst oder kritisch zu ihr verhalten werden kann. Der literarische Text trifft auf konzeptueller Ebene zunächst eine stoffliche Entscheidung: Was wird in der Welt beobachtet? Der Akt der Unterscheidung ist jedoch selbst nicht beobachtbar, er ist der ‚blinde Fleck‘, der den Anfang eines jeden Kunstwerks markiert. Kunst beginnt von diesem Ausgangspunkt her zu operieren, sich zu arrangieren. Was jedoch beobachtbar ist und was das Kunstwerk durch seine Selektionsleistung auch für Beobachtung komponiert, ist das Gestaltungsspiel, die Art und Weise, wie das Kunstwerk die Elemente verknüpft und in Beziehung setzt. Literatur operiert dabei, könnte man hier nun wieder mit Stanzel formulieren, auf verschiedenen Ebenen: Zum einen spricht dieser von der „Verwandlung der Erfahrungswirklichkeit“ in die narrative Gestalt des Textes, seine „Geschichte“ oder sein Thema, was die zweite Ebene darstellt und bereits mit Sinn verknüpft ist.199 Die dritte Ebene ist die Ausdrucksform des Textes, „Stil und Erzählform“ der Geschichte, die dem „fast unausschöpfbare[n] Arsenal von Darstellungsmitteln, Erzählweisen, Bauformen usw.“ entnommen ist.200 Diese Ebenen sind nach Stanzel aber nicht grundsätzlich hierarchisch zu denken, sondern vielmehr in einem Verhältnis erzählerischer Bedingt- und Abhängigkeit: „Die Verwandlung der Erfahrungswirklichkeit […] determiniert auch bereits die sprachliche Form, die erzählerische Gestaltung der Geschichte. Gleichzeitig wirken Stil und Erzählform auf die Geschichte zurück, indem sie ihren Sinnbereich abgrenzen oder ausweiten, Bezüge zwischen den Teilen stiften, eine Perspektive einrichten, von der aus sich die außergewöhnlichen und zugleich auch bedeutungsvollen Aspekte der Geschichte eindringlich darbieten“.201 Stanzel geht es bei all den mittelbaren und unmittelbaren Bezügen der Ebenen vor allem um die Etablierung der Erzählweise und Aufbauform des Romans in ihrer Sinn-gebenden und Sinn-deutenden Funktion: „Kurzum, Erzählstil und Erzählform in einem Roman sind nicht nur Mittel des Ausdrucks, sondern entscheidende Elemente im Gestaltungsvorgang selbst …“.202 Dieses Modell taucht später auch in den einschlägigen erzähltheoretischen Analysen Stierles wieder auf, dessen Darstellung sich gerade aufgrund ihrer Systematik ebenfalls als anschlussfähig erweist:203 Während Stanzels Konzept eng an den Autor geknüpft ist, dessen Imagination und Stil die unterschiedlichen Ebenen bedingen, rekurriert Stierles theoretischer Entwurf auf den russischen Formalismus, dem in erster Linie daran gelegen ist, jenseits des Autorsubjekts Strukturen der Textkonstitution zu ermitteln. Stierle schlägt hierfür vor, die bekannte zweigliedrige Textkonstitutionsrelation von ‚histoire‘ und ‚discours‘ 199 200 201 202 203
Stanzel 1979 (1. Aufl. 1964). S. 6. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. daher Stierle 1975. „Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte“, S. 49–55.
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durch eine dreigliedrige in Form von „Geschehen, Geschichte, Text der Geschichte“ zu ersetzen:204 Das Geschehen ist der Geschichte zwar impliziert, es ist aber auch der Raum der Möglichkeiten, in dem „in unabsehbarer Vielfalt Verknüpfungsmöglichkeiten“ bereitgestellt sind.205 Auch bei Stierle ist erst die zweite Ebene, die Geschichte, mit Sinn verknüpft.206 Signifikant ähnlich wie Luhmann sieht er diesen Sinn durch Reduktion geschaffen. Die Reduktion der Möglichkeiten ist mit dem Anlegen einer „ideellen Linie“ vergleichbar, worüber er schreibt: „Die ‚ideelle Linie‘ konstituiert die narrativen Basisrelationen der Geschichte, im Hinblick auf welche die Momente des Geschehens integriert werden“.207 Der Text der Geschichte ist schließlich als die Materialisierung der Geschichte in der Sprache zu denken, die durch den gegebenen Wortschatz und die gegebene Syntax bestimmt ist.208 Stierle denkt nun wie Stanzel diese Ebenen nicht eindimensional hierarchisch, sondern ihr Verhältnis sieht er inhaltlich in dreierlei Hinsicht bestimmt: „1. Als Fundierungsrelation: das Geschehen fundiert die Geschichte, die Geschichte fundiert den Text der Geschichte; 2. Als ‚hermeneutische Relation‘: die Geschichte interpretiert das Geschehen, der Text der Geschichte interpretiert die Geschichte; 3. Als Dekodierungsrelation: der Text der Geschichte macht die Geschichte sichtbar, die Geschichte macht das Geschehen sichtbar“.209 Besser als bei Stanzel wird hier also die Bedeutung der Beobachterperspektive ersichtlich, welche grundsätzliche Abhängigkeitsverhältnisse unter bestimmten Gesichtspunkten konstruiert. Um dies nochmals in Zusammenhang mit Literatur und Religion im Parzival und Luhmanns modifizierten Überlegungen zu bringen, lässt sich Folgendes festhalten: Erstens spielt Wolframs Religiosität in den Ausformulierungen des angeführten Modells von Stierle, anders wie dies in der konsequenten Weiterführung Stanzels autorfixierter Darstellung der Fall wäre, für die Textkonstitution (wenn überhaupt, dann nur) eine völlig untergeordnete Rolle. Geschehen ist auch ohne biographische Bezüge, der Text der Geschichte ohne die konkreten dichterischen Fähigkeiten des Autors als Diskurs beschreibbar. Zweitens wird durch die radikale Abhängigkeit vom Beobachterstandpunkt die Gleichzeitigkeit von Autonomie der jeweiligen Ebene und ihrem notwendigen Bezug zu den anderen Ebenen ersichtlich. Gerade in der Behandlung der Frage nach Erzählmustern ist dementsprechend mit solchen Überlagerungen zu rechnen: Religion als Gegenstand ist etwas, das von der höfischen Literatur gleichzeitig dargestellt werden und dabei aber auch Eingang in ihre Erzählstrukturen finden kann. Semantisierungen an der Textoberfläche sind zwar Teil des höfischen Textes, können aber auch als Verweisstrukturen
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Stierle 1975. S. 50. Ebd. S. 50f. Ebd. S. 51. Ebd. Ebd. S. 54. Ebd. S. 50.
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und sogar als Repräsentanzen des religiösen Systems gelesen werden. Als entscheidende Schlussfolgerung dieser verknüpfenden Überlegungen kann hier vorläufig formuliert werden, dass die Beobachtung von Religion und höfischer Literatur im Text sowohl den Raum der Möglichkeiten des Erzählens als auch seine Formen näher bestimmt. In der konkreten Textanalyse wird es dementsprechend notwendig sein, dialektisch zu verfahren: Die Erzählmuster, die es zu erschließen gilt, können nur in wechselseitiger Betrachtung der Semantisierungen in den Formulierungen des Textes und der Tiefenstrukturen von Systemzusammenhängen (Religion und Literatur hinsichtlich ihrer autopoietischen Geschlossenheit) als ein Spiel von Selbst- und Fremdbeobachtung befriedigend herausgearbeitet werden. An dieser Stelle lässt sich nach der Modifizierung Stanzels Überlegungen mit Stierles Ausführungen zum erzähltheoretischen Modell nun zur Romantheorie zurückkehren. Ausgehend von den Möglichkeiten des Romans Welt zu gestalten, „ihr Sinngefüge anschaubar zu machen“210, entwirft Stanzel eine Romantypologie, die aufgrund ihrer funktionalen Perspektive geeignete Anschlussmöglichkeiten bietet. Stanzels Modell will sich als überzeitliches verstanden wissen, seine Romantypen als eine gedankliche Konstruktion, die sich dahin gehend von den konkreten historischen Formen des Romans (wie Ritterroman und Schauerroman als Teil der Gattungslehre) abzugrenzen sucht.211 Insofern handelt es sich um eine schematische Darstellung, deren Konstruktionen nie allumfassend und ganzheitlich realisiert werden, sondern das Schema liegt stets nur in Formen und Varianten vor. Man könnte auch formulieren, dass die konkreten Varianten die Typen des Romans erst konstituieren, wie Stanzel es in seiner Darstellung auch anklingen lässt: „Indem sich ein Roman einem der möglichen Typen der Gattung zuordnen läßt, wird die für den Typus charakteristische Struktur auch für diesen Roman sichtbar oder aber gibt sich die Abweichung der besonderen Romanstruktur von jener des Typus zu erkennen“.212 Schema und Variante (oder Struktur und Form nach Luhmann) stehen daher in einem dialektischen Verhältnis, welches abermals auf die möglichen Positionierungen von Beobachtern verweist. Die korrelative Beziehung von Beobachtungen verweist innerhalb des Kunstwerks auf die Positionierung der Erzählinstanz und der agierenden Figuren, zugleich aber auch textextern durch Schema und Variation – und darauf geht Stanzel im Folgenden näher ein – auf die Beobachtungshaltungen von Rezipienten. Einem Rezipienten, der über Kenntnisse des Schemas verfügt und dementsprechend bei der Lektüre213 mehrere Typologien parat hält, ist es durch den Umgang mit der Sinn210 211 212 213
Stanzel 1979. S. 8. Ebd. Ebd. Der Begriff ist hier dekonstruktivistisch gebraucht. Es geht folglich nicht um die Trennung oraler und schriftlicher Präsentation eines Textes, sondern allein um die Beobachtungsmöglichkeit, die durch die wie auch immer gestaltete Aufnahme des Textes installiert wird. Die Materialität der Texte gehört hiernach immer zur Umwelt. Vgl. hierzu den Begriff des „Lesens“ nach Luh-
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gestalt des Textes möglich, reflektiert zu verfahren. Er formuliert hierzu: „Auch kann eine typologische Klassifikation dazu beitragen, das zu interpretierende Werk besser überschaubar zu machen, indem die Typenzuordnung einen Gestaltungszug des Romans hervorhebt, auf den sich die Fülle der anderen Erscheinungen hinordnen läßt“.214 Mit Luhmann könnte man dementsprechend formulieren, dass ein Beobachter erster Ordnung über kein Reflexionspotential verfügt. Ein Beobachter zweiter Ordnung hingegen, der das Spiel mit der Beobachtungspositionierung – nach Stanzel Erzählform und Stil als sinnkonstitutive Elemente, nach Stierle dann Text des Geschehens und vor allem aber Einsicht in die möglichen Relationen der Ebenen – beobachtet, ist in Besitz dieses Potentials. Diese Beobachtungsverhältnisse spielen überdies auch bei Eco in seinen Überlegungen zum ‚model reader‘ und zum einfachen Leser (‚empirical reader‘)215 eine signifikant ähnliche Rolle.216 Der Text entwirft in dieser Theorie einen Leser, den ‚model reader‘, der reflektiert ist und daher Interpretationen in ihrer Pluralität, wie sie angelegt sind, auf die Spur kommt, er erkennt durch diese Reflexion die Strukturen und das Spiel mit dem Material und beobachtet daher vor dem Hintergrund anderer Möglichkeiten.217 Der einfache Leser verbleibt hingegen auf der Geschichtsebene des Textes, seine Lektüre ist naiv zu nennen. Er folgt gewissermaßen der inneren Logik der Geschichte und hat sich daher auf der gleichen Ebene wie die im Text agierenden Figuren positioniert. Er setzt sich der Kontingenz der imaginären Realität vollständig aus und verweilt mit seinen Beobachtungen in deren hergestellter Welt. Der Beobachter zweiter Ordnung ist in diesem Modell dagegen ein reflektierter Leser, der die Konstruktionen, die möglichen Perspektiven des Textes beobachtet und mithin Kontingenzformeln der erzählten Welten zu erkennen vermag – nach Eco also der ‚ideelle Leser‘. Dergestalt dekonstruiert er die kunstvoll zusammengefügten Elemente des Textes und bewegt sich im Raum von Reflexion. Der Beobachter zweiter Ordnung beobachtet das „Wie“ des Textes, seine Gemachtheit. Wie am Modell Stanzels und Stierles bereits ersichtlich, muss dieser Beobachter über ein spezifisches Wissen verfügen, das es ihm ermöglicht, der Sinngestalt des Textes nachzuspüren. Bei Eco erscheint die Einnahme dieser Haltung eindeutig als die intellektuelle und damit einzig anzustrebende (weil auch von der Intention des Autors her ge-
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mann, bei dem er sich an linguistischen Arbeiten Derridas orientiert (Luhmann 1997. S. 161f.). In diesem Sinne lassen sich gleichfalls Bilder und Filme „lesen“, auch ihnen liegt „Text“ zugrunde. Stanzel 1979. S. 10. Vgl. hierzu die obige Anmerkung zum Begriff der „Lektüre“. Bei Eco ist diese Anmerkung besonders wichtig, da er seiner Theorie eine Autor-Leser-Beziehung zugrunde legt. Eco 1979. Vgl. hierzu Herman 2005. „Eco’s model reader and beyond“, S. 249: „According to Eco, the aim of narratives is to produce the ‚model reader‘ – that is, the reader who interprets a text as it was designed to be read (and this includes the possibility of the text being read with multiple interpretations)“.
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dachte Haltung). Mit Luhmann müsste jedoch artikuliert werden, dass die Beobachtung erster Ordnung grundlegende Bedingung dafür ist, dass man sich überhaupt in Beobachtung zweiter Ordnung positionieren kann, denn die Geschichte des Textes ist zunächst einmal als solche wahrzunehmen.218 Beobachtung von Kunst heißt in diesen Terminologien, erst einmal der Logik der Geschichte zu folgen und das im Kunstwerk arrangierte Beobachterverhältnis wahrzunehmen. Erst der zweite Schritt, die Beobachtung wie diese Beobachtungsperspektive hergestellt ist, die Beobachtung dessen, was an Techniken oder erzählerischen Mitteln angewandt wird, oder die Beobachtung der Schnitte eines Films und des Funktionierens seiner Überblendungen, lässt den Beobachter vom Wahrnehmenden zum Beobachter zweiter Ordnung des Kunstsystems werden. Beobachtungen erster und zweiter Ordnung befinden sich nach Luhmann wie gesagt in einem Verhältnis struktureller Kopplung. Zugleich ist es auch möglich (und darin mag der besondere Reiz von Lektüre liegen) zwischen den Positionen zu wechseln. Dass die theoretische Basis eine solche Verbindung zum Rezipienten bereitstellt, ist für die Analyse schon allein deshalb wichtig, weil sich am Parzival beobachten lässt, dass beide Positionen eingefordert werden, sowohl das Mitgehen mit der Geschichte als auch die Reflexion auf die Erzählmuster des Textes. Die Ebene der Rezeption ist hier, denkt man insbesondere an seine poetologischen Passagen, für die Textkonstitution von großer Relevanz. Auffällig (und daher in der Textanalyse zur Bearbeitung wieder aufzugreifen) ist dabei der Umstand, dass die Frage nach dem Textgefüge sowie das Angebot der Beobachterpositionen an den Rezipienten – es lässt sich wohl sagen: inner- und außerhalb der Textgrenze – ganz zentral mit dem Gegenstand Religion und der Frage nach damit identifizierbaren Erzählmustern verknüpft ist. Für diese Zentralsetzung der Rezipientenperspektive im erzählerischen Kontakt mit Religion erscheint nun ein weiteres erzähltheoretisches Modell systemtheoretisch als anschlussfähig, das noch deutlicher als Eco auf die Perspektive des Lesers und den Akt des Lesens als eine für das Textgefüge entscheidende Konstruktion ausgerichtet ist; gemeint ist Isers wirkungsästhetisches Modell.219 Luhmanns Kunsttheorie entspricht hieran vor allem sein Konstruktionscharakter durch den Leseakt (eben durch Beobachtung), 218
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An anderer Stelle relativiert Eco sein Modell jedoch auch wieder, und zwar sogar in der Richtung eines systemtheoretischen Ansatzes. Er formuliert in einem Interview: „The Model Reader of a story is not the Empirical Reader. The empirical reader is you, me, anyone, when we read a text. Empirical readers can read in many ways, and there is no law which tells them how to read, because they often use the text as a container for their own passions, which may come from outside the text, or which the text may arouse by chance“ (http://www.themodernword.com/eco/ eco_author.html [Stand 09. 07. 2010]). Das bedeutet also, dass die Grundlage jeder Lektüre der einfache Leser ist, erst dann kann versucht werden, Teile des ‚model readers‘, der ja vom Text konzipiert ist, aufzuspüren. Diese Theorie ist, gerade weil sie in der Konsequenz nicht an tatsächlichen Subjekten orientiert ist, für systemtheoretische Überlegungen, in welchen solche Positionen eben genauso interferieren können, anschlussfähig. Iser 1990 (1. Aufl. 1976).
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und auch Luhmanns These zur Aufmerksamkeit, die Kunst erregen muss, um auf ihr Selektionsarrangement hinzuweisen, lässt sich mit Isers Modell sehr gut zusammen denken. Dementsprechend lässt sich formulieren, dass diese Beobachterpositionen des Rezipienten, die den Text nach Iser auch überhaupt erst erzeugen,220 sich nicht grundsätzlich an Positionen innerhalb und außerhalb des Textes, als Positionen erster oder zweiter Ordnung festmachen lassen, sondern diese Positionen interferieren (wie auch nach Luhmann) notwendigerweise. Kommunikationen des Kunstsystems enden nach Luhmann nicht an der Textgrenze und Iser schreibt darüber ausdrücklich: „Wirkung ist daher weder ausschließlich im Text noch ausschließlich im Leserverhalten zu fassen; der Text ist ein Wirkungspotential, das im Lesevorgang aktualisiert wird. […] Der literarische Text wird folglich unter der Vorentscheidung betrachtet, Kommunikation zu sein“.221 Iser ist mit seinem Kommunikationsbegriff in erster Linie daran gelegen, „das Lesen als Prozeß einer dynamischen Wechselwirkung von Text und Leser beschreibbar zu machen“.222 Der Text gewinnt in diesem Modell seine Relevanz, man könnte in der Luhmannschen Terminologie sogar formulieren: seine Realität, erst aus der interaktiven Kommunikation mit dem Rezipienten.223 Iser definiert dementsprechend: „Das Lesen als eine vom Text gelenkte Aktivität koppelt den Verarbeitungsprozeß des Textes als Wirkung auf den Leser zurück. Dieses wechselseitige Einwirken aufeinander soll als Interaktion bezeichnet werden“.224 Die Berücksichtigung der Beobachterperspektive des Rezipienten als (interaktivem) Part des Textes, wofür die methodologische Basis nun den theoretischen Zugang vorformuliert hat, gehört zum einen zu denjenigen Kriterien, die eine aus den Ergebnissen bisheriger Forschungsdiskussion über Religion und das Erzählkonzept des Textes abgeleitete Notwendigkeit darstellt, und welche zum anderen für die einschlägigen Textanalysen darüber hinaus auch verspricht, die Heilsperspektive des Textes gewinnbringend erschließen zu können. Es soll aber die Vergleichbarkeit der vorgestellten Theorien nicht überstrapaziert werden. Worum es jedoch geht – dies sei hier nochmals betont – ist die Vermittlung Luhmanns soziologischer Theoreme mit erzähltheoretischen Model-
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Damit löst sich Iser, was ebenso Anschlussfähigkeit zu Luhmanns Kunsttheorie erzeugt, von einfachen Repräsentationskonzepten und Subjekt-Objekt-Beziehungen, in welchen Kunst oft gedacht wird. Iser schreibt beispielsweise: „Statt einer Subjekt-Objekt-Relation bewegt sich der Leser als perspektivischer Punkt durch seinen Gegenstandsbereich hindurch. Als wandernder Blickpunkt innerhalb dessen zu sein, was es aufzufassen gilt, bedingt die Eigenart der Erfassung ästhetischer Gegenständlichkeit fiktionaler Texte“ (Iser 1990. S. 178). Ebd. S. 7. Ebd. S. 176. An dieser Stelle sei auch auf die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Luhmanns Kunsttheorie und Isers Überlegungen in Das Fiktive und das Imaginäre hingewiesen (Iser 1991). Deutlich wird diese vor allem an Isers differenztheoretischen Ausführungen zu den „grenzüberschreitenden Akten des Fingierens“ (ebd. S. 392). Iser 1990. S. 257.
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len, die als methodologische Basis den Blick in die Literatur erlauben. Was jedoch nicht geleistet und auch gar nicht erst angestrebt wird, ist der Versuch, diese Modelle auf einen Nenner zu bringen. Dies würde nämlich eine Einebnung anstatt der gewünschten Öffnung des theoretischen Horizonts bedeuten. Es lässt sich sogar formulieren, dass auf dieser Ebene aufbrechende Widersprüche als hilfreich erscheinen, weil sie dem problematischen Universalismus der Systemtheorie, ihrem Anspruch, alles erklären zu können, dezidiert entgegensteuern und daher nach dem ersten auch noch zu einem zweiten Blick zwingen können. Beispielsweise steht aufgrund der prinzipiellen Anschlussfähigkeit dermaßen unterschiedlicher erzähltheoretischer Modelle funktionstheoretisch auch jetzt schon an Luhmanns Konzeption in Frage, ob Literatur tatsächlich nur mit genau einem Code operiert. Solche Widerstände gilt es herauszustellen, da eine ungebrochene Anwendung der Systemtheorie eine hermetische Schließung bedeuten würde, sie würde bedeuten, den Text ‚glatt zu lesen‘. Es geht aber, und dies sei nochmals nachhaltig betont, nicht um ihre systematische Anwendung, sondern die kritische Erprobung dieser Theorie am mittelalterlichen Text. Ebenso sind auch die hier vorgestellten erzähltheoretischen Modelle allesamt keine explizit auf die höfische Literatur des Mittelalters ausgerichteten Entwürfe. Auch sie erlauben keine ungebrochene Anwendung auf den Parzival und werden aus diesem Grund, weil es die entsprechenden Zusammenhänge in der eigenen Analyse eben erst noch zu ergründen gilt, auch nicht als explizit angewandte Methoden, sondern lediglich als theoretische Anhaltspunkte verstanden. Um zudem auch keine Indifferenz produzierende Theorienvermischung zu betreiben und um vielmehr eine solide Methodik zu formulieren, gilt es dementsprechend, diese Modelle nicht alle gemeinsam deduktiv über den Text zu stülpen, sondern sie werden zunächst im Hinterkopf behalten, so dass an den entscheidenden Stellen der Anschluss an literaturwissenschaftliche Diskussionen gewährleistet werden kann. Vor diesem Hintergrund lässt sich noch ein weiterer Punkt aus dem Einleitungskapitel ausmachen, der in diese methodologischen Vorüberlegungen noch zwingend Eingang finden muss. Es handelt sich hierbei um die in der Forschungsdarstellung angesprochene autoritative Problematik von Gott und der Erzählinstanz, die es nun im Hinblick auf die bereits formulierte Theorienvermittlung zu reformulieren gilt. Schlüssige Anknüpfungspunkte des religiösen Systems an einen funktionalen Literaturbegriff finden sich nämlich vor allem in der Beobachtung, dass auf Struktur- und Funktionsebene die Beobachtungsperspektive eines auktorialen Erzählers225 größtenteils mit der Beobachterposition Gottes im religiösen System zusammenfällt. Freilich kann im höfischen Roman nicht von einem ‚auk225
Fragwürdig ist natürlich, ob der ‚auktoriale Erzähler‘ nicht eigentlich auch erst eine Größe der modernen Literatur ist und in mittelalterlichen Texten überhaupt identifiziert werden kann. Diese Debatte würde aber zu weit von der hier zu behandelnden Problematik wegführen, da es um ganz spezifische Funktionsrollen im Text und die Frage nach der Verfügungsgewalt geht. Der Begriff wird dementsprechend als Hilfskonstruktion gebraucht, da eben kein besserer zur Verfügung steht.
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torialen‘ Erzähler gesprochen werden. Trotz allem Anachronismus, der diesem Begriff anhaftet, soll er an dieser Stelle jedoch für die folgende Überlegung herangezogen werden (später wird wieder der Terminus Erzählinstanz gebraucht werden), um auf eine strukturelle Ähnlichkeit aufmerksam zu machen, für die es in der Forschung bislang noch keine adäquaten Beschreibungsmodi gibt. Es geht dabei um diejenige Erzählinstanz des Textes, die über Geschichte und Figuren verfügen kann. Hierdurch scheint mir der Gebrauch des Terminus ‚auktorial‘ gerechtfertigt zu sein, da er diesen gegenüber einem modernen Verständnis konkret einengt, nämlich auf die strukturelle Position, die bei der Frage nach der Verfügungsgewalt von Belang ist, und somit den Anschluss an Stanzels erzähltheoretische Überlegungen erlaubt.226 Stanzel sieht in seiner typologischen Untersuchung des Romans das Wesentliche des auktorialen Erzählers darin, dass „er als Mittelsmann der Geschichte einen Platz sozusagen an der Schwelle zwischen der fiktiven Welt des Romans und der Wirklichkeit des Autors und des Lesers einnimmt“.227 Er bestimmt für die auktoriale Erzählsituation weiterhin: „Die szenische Darstellung, von der auch in einem Roman mit vorherrschend auktorialer Erzählsituation ausgiebiger Gebrauch gemacht werden kann, ordnet sich in Hinblick auf die in einem auktorialen Roman gegebene Orientierungslage des Lesers der berichtenden Erzählweise unter“.228 Der auktoriale Erzähler ist für den Text daher nicht greifbar. Dementsprechend verfügt er in der Literatur wie Gott im religiösen System über alle gesetzten Unterscheidungen, kann zugleich auf beiden Seiten der Unterscheidung operieren und damit sämtliche Grenzen mehrfach kreuzen – und letztlich garantiert auch er den Fortgang der Geschichte. Entscheidend ist hierbei, dass diese Position niemals in Frage gestellt wird: Sie bedarf keiner Begründung. Dieses Verhältnis findet sich ex negativo auf der anderen Seite der Operationen des Codes wieder, denn Figuren können nicht auf der Ebene der Erzählinstanz des Textes handeln und Menschen nicht an der Stelle Gottes agieren. Die Operationen und Unterscheidungen des auktorialen Erzählers sind aus der Beobachterperspektive des Textes ebenso wenig verständlich, wie es die Operationen Gottes im religiösen System sind. Die auktoriale Erzählsituation ist daher durch eine grundsätzliche Paradoxie gekennzeichnet, da die vom auktorialen Erzähler getroffenen Unterscheidungen nicht einsehbar sind; er selbst wird damit kommunikativ paradox. Nun stellt aber Gott in einigen höfischen Texten – und gerade im Parzival – einen, wenn nicht den zentralen Bezugspunkt dar. Für ein operativ geschlossenes 226
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An dieser Stelle sei nochmals nachhaltig darauf hingewiesen, dass der Zweck, erzähltheoretische Modelle der Moderne heranzuziehen, darin besteht, die hermetische Geschlossenheit systemtheoretischen Denkens aufzubrechen, sowie die prinzipielle Anschlussfähigkeit an literaturtheoretische Konzepte nachzuweisen. Für das höfische Erzählen steht diese Arbeit noch aus, sie ist aber zugleich ein Erkenntnisziel der vorliegenden Untersuchung höfischen Erzählens anhand des Parzival. Stanzel 1979. S. 16. Ebd.
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System kann es aber nur einen Beobachter geben, in dem Paradoxien aufgehoben werden können, und das ist in einem literarischen (Text-)System eigentlich der auktoriale Erzähler. Damit entsteht ein Problem, wie die Beobachterpositionen zu besetzen sind, denn die Folge daraus ist, dass Gott lediglich eine Figur sein kann und seine Operationen auf der Beobachtungsebene erster Ordnung erfolgen. Im religiösen System aber, welches das höfische (Text-)System durch die In-Blicknahme Gottes zwangsläufig beobachtet, ist Gott der eine paradoxe Beobachter. Der Parzival arbeitet sich häufig an diesem Kernproblem des Verhältnisses von religiösem und höfischem (Text-)System ab. Für die Problematik, dass es letztlich nur einen paradoxen Beobachter geben kann, in dem die Paradoxien aller Systeme zusammenfallen, bieten der Text und auch die Systemtheorie keine eigentliche Lösung. Steht aber die Frage nach der Beobachtung, nach der Textualität, nach dem Funktionieren des Textes im Zentrum des Interesses, ist dies im Wesentlichen auch zu vernachlässigen. Stattdessen ist der Blick auf das Sichabarbeiten an dieser Problematik zu richten, denn ihre radikale Zuspitzung scheint auch gerade die spezifisch narrative Dynamik des Textes hervorzubringen. Grundsätzlich existieren aus einer heuristischen Betrachtung wohl zwei Umgangsweisen, nämlich einmal, dass die Erzählinstanz selbst personalisiert wird. Nach Stanzel kann hierzu formuliert werden, dass durch die personale Erzählsituation die Illusion von Unmittelbarkeit hergestellt wird, da die Erzählinstanz das Geschehen wie mit den Augen einer Romanfigur betrachtet.229 Als problematisch erweist sich hier die Frage danach, von wem dann diese Erzählinstanz erzählt wird, da der Parzival trotz oder gerade auch wegen seiner poetologischen Reflexionen nicht als moderner personaler Roman lesbar ist. Für die moderne personale Erzählsituation des Romans, deren gefestigte Konstitution vermutlich erst im 19. Jahrhundert zu verorten ist,230 wäre nämlich kennzeichnend, dass die Erzählinstanz so weit hinter den Charakteren des Romans zurücktritt, dass seine Anwesenheit dem Leser prinzipiell gar nicht mehr bewusst ist.231 Für den Parzival gilt jedoch, dass diese personale Erzählsituation nur sehr selten und an spezifischen Stellen zum Einsatz kommt. Allerdings ist zu vermuten, dass Wolfram mit der Autorfiktion der Kyotquelle auf dieses spezielle Problem reagiert und damit das System als solches vorführt. Dies wäre in den folgenden Analysen jedoch genauer zu prüfen. Zum anderen besteht überdies die Möglichkeit, dass Gott in das Höfische hereingeholt und sein Handeln damit in der Immanenz deutbar wird. Auch dieses, die Schaffung eines höveschen gotes, muss aus der Perspektive eines mittelalterlichen Rezipienten jedoch ein Problem gewesen sein, da Gott an diesen Stellen dann quasi als Textfigur lesbar wird. Gott affiziert sich gewissermaßen mit der Figurenebene, obwohl er nie mit einer Figur dieser Ebene identisch werden darf. 229 230 231
Stanzel 1979. S. 17. Ebd. S. 39. Ebd. S. 17.
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Es stellt sich letztlich also bei allem die Frage des Funktionierens, die Frage danach, wie das System handlungsfähig bleibt, und nicht zuletzt auch, wie sich diese Dynamik in der Art und Weise des Erzählens niederschlägt. Ein wesentlicher Teil der Arbeit wird deshalb darin bestehen, die Verfahren zu ermitteln, die der Parzival entwickelt, um mit dem Problem der Beobachterpositionierung umzugehen. Es soll benannt werden, wie der Text durch Abarbeitung an dieser Kernproblematik operationsfähig bleibt und welche Strategien er verwendet, um seine Funktionen am Laufen zu halten. In Anlehnung an Luhmann ließe sich jenseits eines teleologischen Geschichtsmodells wohl auch formulieren, dass die Verhandlung von Selbst- und Fremdreferenz des höfischen (Text-)Systems in Bezug auf Religion im Parzival ein re-entry des Autonomisierungsprozesses darstellt, der in der Literatur um 1200 in Gang gebracht wird, sich im enormen Zuwachs erzählerischer Techniken widerspiegelt und in dieser besonderen Gestalt gerade im Parzival seinen speziellen Höhepunkt findet.232 Ein sinnvoller Ansatzpunkt ist daher durch die am Parzival häufig gemachte Beobachtung gegeben, dass Wolfram mannigfaltige Erzählmittel zum Einsatz bringt, welche dem Parzival seine eigene multiperspektivische Gestalt verleihen, wie z. B. Kommentare,233 Einbezug der Rezipienten usw. sowie im Besonderen die Autorfiktion in den Kyot-Passagen und nicht zuletzt die ständig wechselnden Bezugssysteme. An dieser Stelle scheint es mir auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass die visuelle Ebene und Metaphorik des Textes für die Erörterung religiöser Kommunikationen im Parzival von besonderer Relevanz sind. Die Begründung hierfür sehe ich in der zentralen Fokussierung von Beobachterordnungen, welche natürlicherweise die Bildhaftigkeit des Erzählens, durch welche eben gerade der Parzival so besonders brilliert, miteinschließt.
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In jüngerer Zeit wurde eine Exploration von Erzähltechniken in der Zeit um 1200 auch von Hübner festgestellt und teilweise anhand seiner Untersuchungen des Eneas, Iwein und Tristan beschrieben. Hübner kommt zu dem Schluss, dass die „epochale Bedeutung“ der Fokalisierungstechnik im höfischen Roman „für die höfische Adelskultur der Zeit um 1200“ durch zweierlei bestimmt ist: „Sie ist zum einen diejenige Erzählform, die am zuverlässigsten die Rezeptionshaltung sympathetischer Identifikation modelliert […]. Zum anderen ist sie diejenige Erzählform, die, indem sie das Welterleben der Figuren zum Gegenstand macht, in der Relation zwischen Erzählerstimme, dargestelltem Figurenbewußtsein und erzählter Welt Subjektivität ästhetisch erfahrbar macht“ (Hübner 2003. S. 407). Hübner operationalisiert in seiner Darstellung die Beschreibungskategorie der „Erzählperspektive“ und führt den von ihm als trennschärfer angesehenen Begriff der „Fokalisierung“ ein. Den eigentlichen Motor der erzähltechnischen Ausdifferenzierung im höfischen Roman sucht er in der „Bewußtseinsdarstellung“ der Figuren (ebd. S. 45f.). Wenngleich er hinsichtlich der Exploration von Erzähltechniken zu einem ähnlichen Ergebnis kommt, so ist das Erkenntnisinteresse seiner Arbeit völlig anders gelagert als in den vorliegenden Überlegungen. Zur auktorialen Erzählform und dem Ausbau der Erzählerrolle vgl. auch Ernst 1999 (hier: S. 187), wenngleich seine auf einem modernen Fortschrittsdenken begründete Interpretation des Parzival als „Entwicklungsroman“ aus den benannten Gründen abzulehnen ist.
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Der Vorteil eines auf diese Weise perspektivierten systemtheoretischen Deutungsansatzes liegt in der Möglichkeit, Religion und Literatur im Erzählen einerseits funktional zusammenzudenken und dabei andererseits zugleich auch ihre Eigenarten mit in den Blick zu bekommen. Ein wichtiger Gegenstand der Analyse werden natürlich Paradoxien und ihre Kontexte sein, die es dem Fokus von Funktionen entsprechend auf den unterschiedlichsten Ebenen zu suchen gilt. Ziel der Arbeit ist nicht der schematische Entwurf eines eigenen Religion-LiteraturSystems, sondern diese Untersuchung versteht sich dezidiert als eine Suche nach solch spezifischen Erzählmustern, welche sogar überaus wahrscheinlich als ungleich im Text gelagert erscheinen. Man mag zwar monieren, dass der Paradoxiebegriff, dem in dieser Untersuchung eine zentrale Bedeutung zukommt, hierbei auch auf recht unterschiedliche Phänomene im Text (gewissermaßen als Strukturerhellende Brille) angewendet wird und dadurch Gefahr läuft, dass er als arbiträr wahrgenommen werden kann. Dieses Risiko muss jedoch zugunsten des Versuches eines ‚close readings‘ eingegangen werden, denn den Prämissen dieser Arbeit entspricht es, dass das Primat der Interpretation dem Text und nicht der Methodik zugesprochen wird. Es gilt daher entgegen bisheriger (Einfluss-)Forschung in der Textanalyse zu einem entscheidenden Anteil auch induktiv zu verfahren, um die Durchdringung von höfischen und religiösen Strukturen im Erzählen zum einen vor dem Hintergrund darzustellen, wie das Religiöse funktionalisiert, auch im Sinne von instrumentalisiert, wird, und zum anderen aber auch ermitteln zu können, wie sich religiöse Strukturen im höfischen Erzählen einschreiben und damit selbst Teil des Textes werden. Da das Funktionale im Zentrum des Interesses steht, lässt sich über das Vorgehen der Textanalyse bereits aussagen, dass das übliche Verfahren eines „WerWas-Wie?“ tendenziell umgedreht wird: Begonnen wird mit der Form des Erzählens, um daraufhin die darin verhandelten Gegenstände zu behandeln und um schließlich einen (begrenzten) Ausblick auf die Figurenkonzeption (insbesondere auf Parzival als Heilsbringer) formulieren zu können.234 Um der umfassenden Fragestellung nach der Konfiguration von Religion im Parzival nachgehen zu können, erscheint es zunächst einmal notwendig, den Zusammenhang und das Zusammenspiel von Religion und höfischem Erzählen in der Textanalyse anschaulich zu machen. Hierfür werden diejenigen poetologischen Passagen des Parzival herangezogen, in denen sich die Literarisierung des Religiösen beobachten lässt und die Beobachtung des Religiösen im Erzählen thematisiert wird. Konkret sind dies der Prolog, das Bogengleichnis und die Kyot-Passage. In der Analyse der poetologischen Reflexionen des Textes wird der theoretische Ansatz erprobt. Ziel ist hierbei außerdem, die Rahmenbedingungen für die weitere Untersuchung abzustecken. Im zweiten Schritt gilt es dann die Grundlagen der Got234
Völlig strikt, ist hier einschränkend zu formulieren, wird dies im Dienste der zur Anschauung zu bringenden Zusammenhänge jedoch nicht eingehalten werden können, da es sich ja um eine interpretatorische und keine mathematische Arbeit handelt.
Narrative Funktionen Gottes
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tesentwürfe zu beschreiben, an welchen der Text sich mit seinen Selbsterklärungsstrategien orientiert. Der Frage nach den Darstellungsmöglichkeiten und der Funktion des Religiösen werde ich innerhalb des Konnexes „Erzählen vom Gral und seinen wundern“ nachgehen. Von Interesse ist dabei auch, eine höfische Laientheologie zu rekonstruieren, die der Text mit seinen spezifischen Erzählstrategien thematisiert und gestaltet. Für die Frage nach der Konzeptualisierung des Religiösen wird darüber hinaus auch das Verhältnis von Artushof und Gralshof sowie ihr Eingebundensein in eine höfische Welt eine prominente Rolle spielen müssen. In einem letzten Schritt sollen die Ergebnisse noch auf der entworfenen Folie ‚Höfisches Erzählen von Gott‘ anhand der Interaktionen spezifischer Figuren des Parzival, die ein Zusammenspiel von Artushof und Gralshof einsichtig machen können, überprüft werden. Speziell werden vor diesem Hintergrund Parzival, Gurnemanz und Gawan sowie innerhalb eines Exkurses die Ither-Figur untersucht werden. Da die Dynamik des Erzählprozesses im Vordergrund steht, bleibt die Figurenperspektive ansonsten weitgehend ausgeblendet. Wenngleich aus einer figurenorientierten Perspektive beispielsweise auch die Figuren Herzeloyde und insbesondere Sigune bedeutsam scheinen, so wird im Rahmen dieser Arbeit auf sie verzichtet werden. Grundsätzlich bieten aber die Gottes- und Heilsentwürfe der Figuren des Textes Erkenntnisgewinn versprechende Anschlussmöglichkeiten für Folgearbeiten.235
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Zur Figur der Sigune arbeite ich in einem Tagungsbeitrag zum Thema „Gott und Tod. Tod und Sterben in der höfischen Kultur des Mittelalters“ (Bayreuth, 16.–18. Oktober 2009). Der Aufsatz „Die geheiligte Geliebte eines Toten. Überlegungen zur Sigune-Figur in Wolframs Parzival“ wird innerhalb des Tagungsbandes (voraussichtlich 2011) veröffentlicht werden.
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Methodik
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III. Poetologische Selbstreflexion und Religion 1. Koinzidenz und Dynamik im Prolog – Erzählen von wundern den ich hie zuo hân erkorn, er ist maereshalp noch ungeborn, dem man dirre âventiure giht, und wunders vil des dran geschiht. (4,23–26)1
Die Forschung hat immer wieder betont, dass der Prolog zu den am schwierigsten zu interpretierenden Textpassagen des Parzival gehört.2 Grund dafür ist zum einen der besondere Umstand, dass sich die einzelnen Aussagen nicht ohne weiteres auf die gesamte Erzählung beziehen lassen, und zum anderen lässt sich auch nicht eindeutig identifizieren, welche Paraphrase des Prologs nun genau mit welchem Aspekt des Textes verknüpft ist. Sicher scheint allein, dass der Prolog eine Art mehr oder weniger unzusammenhängendes poetologisches Programm entwickelt.3 Dieses lässt sich am besten dadurch beschreiben, dass der Prolog ein Zusammenspiel von möglichen Beobachtungsperspektiven auf die Geschichte und ihre Erzählung inszeniert und auf diese Weise die Eigenart des Geschichtenerzählens im Parzival selbst thematisiert. Das Besondere des Spiels ist dabei die Dynamik der Narration: jene Beweglichkeit, die der Text als Handlungsmuster exemplarisch durch seine Protagonisten ausstellt und zugleich auch vom Rezipienten in der Reflexion über das Gelesene oder Gehörte einfordert.4 So hat in der jüngeren Forschung beispielsweise Schu zu Recht auf die „hohe Aufmerksamkeit“ hingewiesen, „die das Erzählverfahren dem Rezipienten abverlangt“.5 Gemeint ist vor allem die Schwierigkeit, dem Text als jenem vliegende[n] bîspel (1,15) folgen zu können, das den tumben liuten gar ze snel (1,16) ist. Die mannigfaltigen Zitationen von Motiven und Gattungsmerkmalen, der Aufbau von Er-
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Der Text wird hier und im Folgenden zitiert nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann (= Wolfram von Eschenbach 2003). Ligaturen sind aufgelöst. So z. B.: Bumke 2004. S. 40, und auch: Haug 2003. S. 145. Vgl. Bumke 2004. S. 204. Das Sprechen über diese Beweglichkeit schlägt sich zumeist in sehr metaphorischen Ausdrücken nieder, die wenig Einsicht in die Erzählkonzeption vermitteln. Genau genommen sind zwei Ebenen der Beweglichkeit zu formulieren: nämlich die der beiden Beobachterstandpunkte. In diesem Sinne soll in der folgenden Analyse versucht werden, das metaphorische Sprechen mit einer bestimmten Füllung des Begriffs von Beweglichkeit transparent zu machen. Schu 2002. S. 62. Mit Schu teile ich überdies die Ansicht, dass „ungewöhnlich viel Erzählzeit auf die Herstellung der adäquaten Kommunikationssituation verwendet wird“ (ebd.). Dem wird in einer textadäquaten Analyse dementsprechend auch Rechnung getragen werden müssen.
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Poetologische Selbstreflexion und Religion
wartungshaltungen sowie das beständige Spielen und Brechen mit diesen und vielerlei literarischen Konventionen sind charakteristische Merkmale des Parzival-Prologs. Dementsprechend bemerkt u. a. Bumke in seinem jüngsten Band Wolfram von Eschenbach, hier stellvertretend für die dominierende Meinung der Forschung zitiert: „Fast jede Aussage ist umstritten, und über den Argumentationsgang und die Intention des Ganzen gehen die Ansichten auseinander. Auffällig ist, daß wichtige Informationen ausgespart sind, die man sonst in einem Prolog findet: der Name des Dichters, das Gönner- und Auftragsverhältnis, Angaben über Vorlagen und Quellen“.6 Dem Text scheint also in vielerlei Hinsicht daran gelegen, mit bekannten Darstellungskonventionen zu spielen und zu brechen. Inhaltlich lässt sich zunächst einmal feststellen, dass der Gegenstand des Prologs auf der einen Seite im Spektrum von Religion entworfen wird und auf der anderen, dass dieser zugleich auf einer literarisch selbstreflexiven Ebene operiert. Beispielhaft wird in der obenzitierten Stelle eine spezifische Selbstformulierung der Erzählinstanz, die Geschichte des Protagonisten und der thematische Gegenstand des religiös konnotierten wunders7 in eine strukturelle Beziehung gesetzt. Genauer gesagt müsste man eigentlich formulieren, dass es eben die Semantik
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Bumke 2004. S. 40f. Vgl. hierzu auch Schu 2002. S. 41: „Da eine Quelle für die ersten beiden Bücher nicht eindeutig erwiesen werden konnte, ist anzunehmen, daß gerade hier Charakteristika des Wolframschen Erzählens deutlich werden“. Zur religiösen Konnotation des wunder-Begriffs als Kulturspezifikum und seine Verwendung im Kontext biblischen Denkens vgl. Kollmann 1996. S. 53: „Das neuzeitliche Axiom, daß es sich bei einem Wunder um ein der kritischen Vernunft zuwiderlaufendes, die wissenschaftlich erfaßbare Naturkausalität durchbrechendes Ereignis handelt, das nur supranaturalistisch erklärbar oder für fiktiv zu halten ist, ist dem NT wie seiner Umwelt weitgehend fremd. Jenseits gezielter Reflexion über eine bestimmte naturgesetzliche Ordnung und deren Durchbrechung stellt ein Wunder im biblischen Denken ein außerhalb des Gewohnten liegendes Geschehen dar. In diesem Sinne rufen die außerordentlichen Taten Jesu als noch nie Dagewesenes in christologischen Chorschlüssen Erstaunen oder sogar Entsetzen hervor (Mk 1,27; 2,12; 4,41) und gelten Mt 21,15 expressis verbis als Wunder“. Wunder sind dabei zudem vor allem durch das Moment des personalen Machterweises sowie ihrer Zeichenhaftigkeit für das göttliche Wirken in deutlicher Bezugnahme auf das Exodusgeschehen und die göttliche Urheberschaft solch außergewöhnlicher, Verwunderung erregender Ereignisse bestimmt (ebd. S. 53f.). Die Prominenz der Gottesbezüglichkeit des wunders im Mittelalter und sein Verständnis als Ausdruck göttlicher Macht betont auch: Imbach 2002. S. 34f.: „Dabei wußte schon die mittelalterliche Theologie (unter Bezugnahme auf den heiligen Augustinus), daß nur jene unerklärlichen Ereignisse als Wunder im eigentlichen Sinne gelten können, welche unmittelbar auf Gott zurückzuführen sind. Diese Präzisierung war deshalb notwendig, weil man in früheren Jahrhunderten fraglos damit rechnete, daß auch Dämonen und Geister eine große Macht über die Menschen ausübten und daß manche geheimnisvolle Dinge auf diese dunklen Mächte zurückzuführen seien. Von solchen dämonischen Pseudowundern glaubte man Gottes Eingreifen in den Weltenlauf vorzugsweise wegen seiner glaubensfördernden Wirkung unterscheiden zu können. Der religiöse Zweck – beispielsweise die Manifestation von Gottes Herrlichkeit – spielt also eine wesentliche Rolle. Daß der Glaube Gott die Möglichkeit eines solchen Eingreifens zugesteht, versteht sich von selbst, denn ‚für Gott ist nichts unmöglich‘ (Lk 1,37; vgl. Gen. 18,14; Jer. 32,27)“.
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des wunders vermag, die Vermittlung zwischen Immanenz und Transzendenz zu leisten.8 Gerade aufgrund ihres Potentials der Auslagerungsfähigkeit einer bestimmten Problematik des Profanen an die Transzendenz ist sie strukturell betrachtet als religiös konnotiert und religiös nutzbar zu bezeichnen. Für die (höfische) Immanenz ist das wunder dasjenige, von dem Geschichten erzählen,9 und welches für diese Erzählungen gerade deshalb soviel Attraktivität zu besitzen scheint, weil es für das höfische (Text-)System unverfügbar ist. Von wundern zu erzählen bedeutet mithin, mit der eigenen systemischen Logik von Nicht-Fassbarem und Unverfügbarem zu erzählen. Speziell dieser funktionale Zusammenhang macht die Analyse des Prologs für diese Arbeit so attraktiv; und deshalb wird im Folgenden dafür plädiert, das Verhältnis des höfischen (Text-)Systems zum religiösen System im Prolog als Ausgangspunkt einer Erzählung zu begreifen, die sich genau an diesem Zusammenspiel abarbeitet. Der Prolog fordert bereits in vielerlei Hinsicht dazu auf, die Dynamik in der Gestaltung der Geschichte des Protagonisten, der sozio-literarischen Räume und nicht zuletzt die Dynamik der Erzählgestalt selbst ins Zentrum der Beobachtung zu stellen. Darüber hinaus soll als vorläufige These formuliert werden, dass die Schwierigkeit der Interpretation für die Rezipienten aufgrund der ‚uneindeutigen Sinngebung‘ in der Erzählung, die den Prolog des Parzival so spezifisch kennzeichnet, nicht nur zufällig damit etwas zu tun hat, dass eine religiöse Thematik wesentlicher Gegenstand des Erzählten ist.10 In der folgenden Untersuchung des Prologs soll zunächst der Rahmen für das Verhältnis von höfischem Erzählen und religiöser Kommunikation (im Sinne einer Transzendenzreligion) abgesteckt werden. Zu diesem Zweck erscheint es als angebracht, den interpretativen Ansatz über eine schrittweise verfahrende Analyse vorzustellen.
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Bezeichnend hierfür ist die wunder-Semantisierung des Grals (Vgl. hierzu dann das Kapitel IV): Als Parzival den Gral im V. Buch zum ersten Mal erblickt, werden die wunder des Grals aus einer immanent höfischen Perspektive dargestellt. Mit der Lehre Trevrizents im 9. Buch tritt das Religiöse des Grals dergestalt in den Vordergrund, dass er durch die Erzählung regelrecht transzendiert wird. Nach der Gralserhebung im 16. Buch werden beide Perspektiven sowie Aspekte des Immanenten und des Transzendenten bezeichnenderweise im epischen Prozess wiederum zusammengeführt. So wird auch z. B. am Anfang des Nibelungenliedes formuliert: Uns ist in alten maeren wunders vil geseit … (NL 1,1). wunder sind somit auch als Angelpunkt eines religiösen Erzählmusters greifbar, das über Gattungsgrenzen hinaus in zahlreichen Texten des Mittelalters identifiziert werden kann. Vgl. hierzu auch Angenendt 1998. Sp. 352: „Wunder sind in allen Literargenera bezeugt, weswegen eine Scheidung in Sakral- und Profangeschichte, in Historiographie und Hagiographie nur bedingt möglich ist“. Mit dieser Perspektive ließe sich freilich auch die Klassifizierung literarischer Texte des Mittelalters neu überdenken. Systemtheoretisch ließe sich daher vorausgreifend die thesenhafte Vermutung formulieren, dass der Prolog strukturelle Kopplungen zwischen dem höfischen und dem religiösen System vorführt, indem er gezielt ihre Interaktionen in Szene setzt. Aus diachroner Perspektive ließe sich womöglich gar von einer Interpenetration dieser beiden Systeme sprechen.
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Poetologische Selbstreflexion und Religion
Es stellt sich in der Konfrontation mit der Forschung jedoch zunächst die Frage nach dem Status des Prologs, bzw. die Frage danach, ob es überhaupt legitim ist, den Prolog auf der Folie des gesamten Textes zu interpretieren. Von der erzähltheoretisch orientierten Parzival-Forschung wurde diese Frage äußerst kontrovers diskutiert. Die vornehmlich ältere Forschung tendiert dazu, die Aussagen des Parzival-Prologs vom Gesamttext zu entbinden. Ziel hiervon scheint eine Art freie Interpretation zu sein, die in erster Linie versucht, die entsprechende Wirkung auf das Publikum zu analysieren.11 In der jüngsten Forschung liegt das Erkenntnisinteresse weniger in speziellen rezeptionsästhetischen Vorstellungen als vielmehr in Konzepten zur allgemeinen Poetik des Textes.12 Dies macht wiederum eine strukturelle Verfahrensweise erforderlich, die auch die Beziehung des Prologs zu Thematik und Narration zentral im Auge behält und sich somit von engen rezeptionsästhetischen Ansätzen löst. Für eine Arbeit, die das Operieren des höfischen (Text-)Systems mit religiösen Gegenständen – oder anders formuliert: das Partizipieren-an und Zu-Nutze-machen-von religiöser Kommunikation – zu analysieren sucht, muss die Orientierung an diesem weiten Rezeptionsbegriff gleichermaßen gelten. Die Zentralsetzung systemischer Funktionen und selbstbzw. fremdreferentiellen Operationen des höfischen (Text-)Systems verlangt danach, mögliche Beobachterpositionen und deren mögliche Interferenzen zu beschreiben, was die Positionen außerhalb oder innerhalb des Textes gleichermaßen betrifft.13 Ein Ziel der hiermit skizzierten Analyse des Prologs sollte daher sein, zu zeigen, dass gewisse Positionen in möglichen Beobachterhaltungen zusammenfallen. In dem Sinn, dass Religion und Kunst gleichermaßen ganz besondere Beobachtung selbst zum bestimmenden Thema haben, lässt sich dementsprechend auch sichtbar machen, welche Effekte aus der Koinzidenz von Beobachterpositionen resultieren können. Der Prolog leitet den Roman mit der Sentenz vom zwîvel ein, der die Seele sûr werden lässt, wenn er dem Herzen nahe ist: Ist zwîvel herzen nâchgebûr, daz muoz der sêle werden sûr. (1,01f.)
In der Forschung ist viel darüber spekuliert worden, ob es sich bei der Eingangssentenz um eine allgemeine Lebensweisheit handelt, die einen Konsens mit dem Publikum zu erzielen sucht und daher für sich alleine steht,14 oder ob es sich um einen Schlüssel zum Verständnis des gesamten Textes handelt, indem der das Seelenheil gefährdende zwîvel auf Parzivals Abwendung von Gott zu beziehen 11
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Vgl. hierzu z. B. Brinkmann 1966. Seiner Deutung der Prologstruktur folgend ebenso: Nellmann 1973. Vgl. insb. S. 11: „Wir brauchen den Prolog nicht von einem Vorverständnis der ganzen Dichtung her zu interpretieren (was auch wirkungsästhetisch bedenklich wäre: Der Prolog soll ins Werk einführen, nicht das Werk in den Prolog)“. So z. B. Schu 2002. S. 42. Vgl. hierzu Kapitel II: 4. So z. B. Schu 2002. S. 43. Schu referiert an dieser Stelle auf den Brinkmannschen Ansatz.
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ist.15 Ein Konsens darüber, „was das Wort zwîvel an dieser Stelle bedeutet und wovon im ersten Satz der Dichtung überhaupt die Rede ist: vom Verlust des Seelenheils oder nur von einer korrigierbaren Gefährdung“16, konnte bisher nicht hergestellt werden. Da das Anliegen dieser Arbeit nun nicht darin besteht, aus einflusstheoretischer Perspektive nach der geistesphilosophischen Einbettung der Eingangssentenz zu fragen,17 soll vielmehr der Aufmerksamkeit erregende Umstand, dass dem breiten Bedeutungsspektrum des Begriffs zwîvel18 eine religiös konnotierte Einengung widerfährt – da in dieser Sentenz ja konkret die Seele bzw. das Seelenheil fokussiert wird – im Lichte des Erzählens von religiöser Kommunikation und der Selbstreflexivität höfischen Erzählens betrachtet werden. Dazu scheint zunächst formulierbar, dass der zwîvel weniger inhaltlich von Interesse ist, da er keinem Bereich oder System eindeutig zuordenbar ist, sondern hier scheint offenkundig die Struktur des Wankens und Hin-und Hergerissenseins in jeglichem (systemischen) Zusammenhang im Vordergrund zu stehen, an welchem Religion – hier repräsentiert durch den Terminus der sêle – anzusetzen vermag. Dieser strukturelle Interpretationsansatz macht deutlich, dass der Effekt des zwîvels, seine Auswirkung, erst aus einer das Handeln mit Transzendenzbezug fokussierenden Perspektive wirklich zutage tritt. In theologischer Hinsicht wurde der Begriff des zwîvels vornehmlich als Anspielung auf den Prolog des Gregorius Hartmanns gedeutet; so versteht beispielsweise eine jüngere Arbeit den ersten Satz als „eine ‚à première vue‘ harmlose Anspielung auf den ‚Gregorius‘-Prolog des Hartmann von Aue, in dem das Wort zwîvel die theologische Bedeutung der dubitatio hat, des religiösen Zweifels an Gottes Gnade, eines Zustands, der für die Seele insofern verhängnisvoll ist, als er zur desperatio, zur Verzweiflung und endgültigen ‚Entzweiung‘ mit Gott, dementsprechend zur Hölle führt“.19 Thematisch beinhaltet das Zitat hiernach die Verzweiflung an der bloßen Möglichkeit göttlicher Vergebung von Schuld. Die desperatio setzt dabei das Schuldhaft-Werden zugleich voraus, umfasst die Erkenntnis von Schuld und impliziert den Zweifel an der göttlichen Gnade.20 Der Prolog des Gregorius warnt tatsächlich vor dieser Haltung des zwîvels, denn für 15
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So z. B. Bumke 2004. S. 41. Allerdings räumt Bumke auch umsichtig ein: „Der Satz vom zwîvel als ‚Nachbarn‘ des Herzens, dessen Nähe bewirkt, daß es der Seele ‚sauer‘ wird, ist vielleicht eher ein Bilderrätsel als eine Lebensweisheit; jedenfalls beginnt die Dichtung mit einer Probe des ‚dunklen‘ Stils, der für den ‚Parzival‘ charakteristisch ist“ (ebd.). Ebd. Beispielhaft hierfür ist Cessari, welche die Eingangssentenz zusammen mit dem Elsterngleichnis als Eingang zu einem Labyrinth versteht, dessen Mitte die „Exzentrizität“ des Wolframschen Helden bildet, der ihrer Meinung nach „Schritt um Schritt die Grundpfeiler der augustinischen Gnadenlehre“ widerlegt, „um sich am Ende doch noch als der Auserwählte zu erweisen …“ (Cessari 2000. S. 18f.). Vgl. zum breiten Bedeutungsspektrum des zwîvels Haug 1985. S. 155: „zwîvel besitzt einen weiten Bedeutungsspielraum von religiöser desperatio bis zu bloßer Unsicherheit“. Cessari 2000. S. 4. Signifikant ähnlich auch: Schirok 1990; sowie: Brall 1983a. Vgl. Schu 2002. S. 44.
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denjenigen, der die Hoffnung auf Gnade aufgibt, kann auch die Reue keine Frucht mehr tragen: der sîn niht enruoche, ob er genâde suoche, und entriuwet niemer wider komen: sô hât der zwîvel im benomen den wuocher der riuwe. (Gregorius 71–75)21
Folgt man dem Hinweis auf den Prolog des Gregorius in religiöser Hinsicht dergestalt, so fällt auf, dass der Parzival die Lehre aus den Versen Hartmanns anzitiert, die den Sünder dazu auffordert, nach dem Erkennen der Schuld, um auf Gnade hoffen zu dürfen, zu beichten und Buße zu tun.22 Die Eingangssentenz und deren Anspielung auf Hartmanns religiöses Programm leistet nun allerdings keine monoperspektivische Verbindung zum Gegenstand der Erzählung oder dem Protagonisten, wie sie z. B. der Prolog des Gregorius zu liefern scheint. Der Prolog des Parzival wirft anstatt eines punktuellen doch ein sehr facettenreiches Licht auf die thematischen Erzählzusammenhänge. Statt einer klärenden Rede der Erzählinstanz folgt das sogenannte ‚Elsterngleichnis‘. Dieses wurde von der Forschung vornehmlich als religiöser Entwurf Wolframs (gegen Hartmanns Konzept)23 gelesen; so formuliert Bumke hierzu beispielsweise: „Mit der Unterscheidung der drei Menschen-Typen (des ganz Weißen, des ganz Schwarzen und des schwarz-weiß Gemischten) begibt sich der Prolog-Sprecher auf das Gebiet der religiösen Anthropologie, wo ähnliche Unterscheidungen getroffen wurden“24. Der Zusammenhang der zwîvel-Sentenz mit dem ‚Elsterngleichnis‘ ist aufgrund der unterschiedlichen religiösen Programmatik – möchte man es als eine solche lesen – und, weil dieser Zusammenhang im Text nicht eindeutig und wörtlich formuliert ist, umstritten.25 Im Parzival heißt es: 21 22
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Hartmann von Aue: Gregorius der gute Sünder. Dort heißt es: daz ist diu wâre triuwe die er ze gote solde hân: buoze nâch bîhte bestân. (Gregorius 75–78) Vgl. z. B. Haug 1985. S. 156: „Die Spitze gegen den ‚Gregorius‘ ist unverkennbar; Wolfram will sagen: Es gibt die These – Hartmann hat sie bekanntlich vertreten – daß der, der verzweifelt, zur Hölle fährt. Dem ist entgegenzuhalten, daß man es nicht nur mit ganz Guten und ganz Bösen zu tun hat, sondern auch mit solchen, bei denen Gutes neben Bösem steht“. Bumke 2004. S. 41. Vgl. hierzu Schu 2002. S. 45f.: „Man hat versucht, einen Zusammenhang zwischen der Farbsymbolik, den Eigenschaften der staete bzw. unstaete und dem zwîvel herzustellen, indem man Aussagen aus dem Brief des Jacobus oder die Aussagen des Physiologus zur fulica an den Text herantrug. […] Dabei mußte jedoch auffallen, dass eine einfache Identifikation des desperatus mit dem elsternfarbenen Menschen in Anlehnung an diese Texte unmöglich ist …“. Brunner versucht demgegenüber eine „Ehrenrettung“ der Elster (S. 205), den Zusammenhang mit dem zwîfel lehnt er ab (Brunner 2004. S. 206f.).
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gesmaehet unde gezieret ist, swâ sich parrieret unverzaget mannes muot, als agelstern varwe tuot. der mac dennoch wesen geil: wand an im sint beidiu teil, des himels und der helle. der unstaete geselle hât die swarzen varwe gar, und wirt och nâch der vinster var: sô habet sich an die blanken der mit staeten gedanken. (1,03–14)
Das eigentliche Interesse der Erzählung liegt offensichtlich weder auf jenem Gesellen von völlig schwarzer Farbe, dem unstaeten gesellen, noch auf dem rein weißen, sondern auf jenem, der an beidem teilhat: an Himmel und Hölle (an im sint beidiu teil, des himels und der helle). Es ergibt sich folgendes Bild jenes ‚Elsternfarbenen‘: Er ist von agelstern varwe, wohl weil seine Zuversicht von gemischtem Wesen ist (bei ihm parrieret [sich] unverzaget mannes muot), wohl auch, weil er sowohl von Schande als auch von Ehre gezeichnet ist (gesmaehet unde gezieret). Dass jener Elsternfarbene dennoch glücklich (geil) sein kann, liegt daran – so lässt sich hier nun interpretieren –, dass sein zweifarbiges Gemüt dennoch die Möglichkeit birgt, nicht in die Hölle zu fahren (nâch der vinster var) und sich an die blanken zu halten, und zwar dann, wenn er es vermag, staete gedanken zu fassen. Die staete ist also das entscheidende Gut, das die Verdammnis zu verhindern vermag. Die Semantik dieses Begriffs umfasst zugleich eine profan höfische als auch eine religiöse Dimension. Bumke hat in diesem Zusammenhang von Höfischem und Religiösem bereits darauf aufmerksam gemacht, dass der Terminus des parrieren sich einerseits aus der höfischen Kleidersprache ableitet, wo er das Zusammengesetztsein verschiedenartiger Stoffe und Materialen bezeichnet, und bei Wolfram dann zu einem poetologischen Begriff wird: „Es steht für eine Technik, die sich in der Szenengestaltung ebenso nachweisen läßt wie die Figurenzeichnung. Immer wieder begegnen bei Wolfram Konstellationen, in denen Gegensätzliches und scheinbar Unvereinbares sich miteinander verbinden …“.26 Andererseits ist das „Zusammenbinden von Nicht-Zusammenpassendem zu einer Einheit“ auch eine klassisch religiöse „Denkfigur, die auch in der frühscholastischen Anthropologie begegnet und dort als ‚Zusammenhang nicht zusammenhängender Dinge‘ (cohaerentia rerum discoharentium) bezeichnet wird“;27 bzw. lässt sich dieses Zusammenbinden von Widersprüchlichem nicht allein als scholastisches Prinzip formulieren, wie Bumke dies hier unternimmt. Sondern diese Gegensätzlichkeit verweist zudem zwingend auf das christliche Grundparadoxon des paradoxen Gottes, nach dem 26 27
Bumke 2004. S. 210. Ebd.
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Christus wahrer Mensch und wahrer Gott zugleich ist, wie es das fundamentale Dogma des christlichen Glaubens von Nicäa (325) belegt. Es lässt sich danach formulieren, dass das Zusammenfügen des Gegensätzlichen – systemtheoretisch muss man hier von einer Paradoxie sprechen – zum einen etwas ist, das von Gott in der Funktion einer Kontingenzformel geleistet werden kann. Denn es wird eine Kraft vorausgesetzt, „die die Fähigkeit besitzt, Nicht-Zusammengehörendes zusammenzufügen: eine vis unionis“28. Zum anderen vereinigt aber auch der literarische Text diese widersprüchlichen Dinge in seiner künstlerischen Gestalt. Was jedoch auf den ersten strukturorientierten Blick als kongruenter Mechanismus erscheint, ist aufgrund des unterschiedlichen Umgangs mit diesen Paradoxien zu korrigieren: Wo Religion eine Auslagerung vermag, ist der Text darauf angewiesen, Widersprüche im epischen Prozess zu verhandeln – er löst sie nicht auf,29 sondern er perspektiviert sie. In der Forschung wurden sich viele Gedanken darüber gemacht, wie sich der zwîvel mit dem Elsternfarbenen in Verbindung bringen lässt. Ein besonders originelles Beispiel hierfür ist die Lesart des zwîvels nicht in der Bedeutung von ‚Zweifel‘, sondern als zwî vel, die semantisch wiederum auf das gemischte Gefieder der Elster verweisen soll: „Bei völlig gleich bleibender Buchstabenund Silbenzahl ist im zweiten Fall nun nicht mehr von irgendeinem Zweifel, sondern von ‚Zwei Fellen‘ die Rede“.30 Für eine strukturorientierte Interpretation ist dieser Ansatz jedoch wenig ertragreich, da weiterhin aussteht, das Verhältnis der Verse zum Gesamtwerk zu deuten. Von besonderem Frageinteresse ist hierbei natürlich auch immer, auf wen dieses Bild des vom Zweifel Heimgesuchten oder auch des Elsternfarbenen im Roman eigentlich passt; Favoriten waren in erster Linie Parzival und Feirefiz, sein schwarz-weiß gefleckter Halbbruder.31 Proble28
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Bumke 2004. Anders als Bumke gehe ich jedoch nicht von allgemein geistesgeschichtlichen einflusstheoretischen Paradigmen aus, nach denen die Theologie die grundlegende Basis für die höfische Literatur darstellt (Vgl. ebd. in Bezug auf die vis unionis: „Für die Theologen besitzt Gott diese Kraft, wenn er zum Beispiel Körper und Seele im Menschen zusammenbindet. Auf der Ebene des künstlerischen Gestaltens ist es der Dichter, der das Gegensätzliche zusammenfügt“). Stattdessen liegt mir viel eher daran, die Dialektik des religiösen und des höfischen Systems zu betonen, die den narrativen Prozess beherrscht. Dieser Literatur scheint mir gerade die Inszenierung dieses Zusammenspiels zu obliegen. Gott tut das im strengen Sinne zwar auch nicht, aber er nimmt sie in sich auf und löst sie damit zunächst für die Welt. Hüning 2000. S. 106. Ebenso zuvor schon: Brall 1983a. S. 16–18, der die Elster anhand provenzalischer Liebeslyrik als Symbol des unbeständig Liebenden interpretiert. Vgl. hierzu Bumke 2004. S. 42: „Tatsächlich tritt ein elsternfarbener Mensch in der Dichtung auf: Parzivals Halbbruder Feirefiz. Vielleicht ist das Elsterngleichnis aber auch auf Parzival zu beziehen, den innerlich gescheckten, der alles falsch macht und trotzdem Gralkönig wird“. Einen guten Überblick über die Forschungspositionen hierzu bietet: Schu 2002. S. 48f. Die jüngste Untersuchung zur Figur des Feirefiz wendet sich demgegenüber klugerweise gegen diese Spekulationen, auf wen diese Beschreibung des Elsternfarbenen denn nun letztgültig passen mögen: Müller 2008. S. 58.
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matisch erscheint dabei immer die Eindeutigkeit zu sein, mit der diese Interpretationen operieren, welche aus einer einflusstheoretischen Perspektive eine mögliche Deutung gerne zu einer Art Schlüssel des Gesamtwerks machen.32 Ein anschauliches Exempel dafür ist u. a. die Darstellung Haugs: „Wolfram unterstellt Hartmann also, daß er in einer simplen Schwarz-Weiß-Manier nur zwischen guten und schlechten Menschen unterscheide. Es gebe aber nicht nur Menschen, die aufgrund ihres absoluten zwîvels der Hölle verfallen sind, und andere, die durch ihre unwandelbare staete gerettet werden, sondern man habe mit einem dritten Typus zu rechnen, mit dem Menschen, der zugleich gut und böse ist. Und Wolfram will selbstverständlich sagen, daß gerade dies für den Menschen im allgemeinen charakteristisch sei“.33 Es ist vor allem der anthropologische Charakter in Haugs These, der hier störend wirkt.34 Seine Positionierung des Menschen im Allgemeinen verstellt letztlich den Blick für den literarischen Mechanismus des Textes, der an dieser Stelle weit davon entfernt ist, solch eindeutigen Sinn zu produzieren. Viel eher scheint das Anliegen des Textes doch darin zu bestehen, verschiedene Perspektiven anzulegen und auszustellen, um jene Einsinnigkeiten auch und gerade im Umgang mit dem religiösen Gegenstand zu vermeiden. Begründen lässt sich diese These durch den Umstand, dass sowohl die mögliche Anspielung auf die religiöse Programmatik des Gregorius als auch Wolframs narrative Konstruktion des Elsterngleichnisses ohne Frage Religion zum Thema macht. Die verschiedenen Perspektiven auf das Erzählte lassen sich hierbei stets als Teil des höfischen (Text-)Systems begreifen, das Religion gerade durch seine Pluralität in der Darstellung zum beobachtbaren Gegenstand macht. Im Übrigen lässt sich auch die Anzahl möglicher Perspektiven als ein Differenzkriterium eines theologischen und eines fiktionalen Textes definieren: Während ein theologischer Text seiner Natur gemäß darauf angelegt ist, Eindeutigkeit zu produzieren,35 ist es dagegen Kennzeichen des literarischen Textes seine inhärenten Perspektiven zu multiplizieren. Auch eine spielerisch literarische Trennung von Autor und Erzählinstanz scheint im Theologischen gleichfalls undenkbar. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass die analytische Blickrichtung geändert werden muss: Im Parzival (und auch im Gregorius!) hat man es mit literarischen Konstruktionen zu tun, die zwar ohne Frage am Religiösen partizipieren, aber welche zunächst einmal in einem höfischen Kontext und nicht vornehmlich in
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In der jüngeren Forschung so z. B. Cessari 2000. S. 1: „Die schwarz-weiße Elster ist das Emblem der vorliegenden Arbeit. Diese stellt den Versuch dar, das Elsterngleichnis als eine tiefgründig verschlüsselte, auf einer bestimmten, historisch ableitbaren philosophischen Konzeption beruhende Metapher zu verstehen …“. Haug 1985. S. 156f. Vgl. hierzu die grundsätzliche Problematisierung von anthropologischen Ansätzen im Forschungsüberblick in Kapitel I: 2. Vgl. zu dieser Unterscheidung fiktionaler und theologischer Texte die Ausführungen bei: Wagner 2009. S. 21–24.
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einem theologisch-kirchlichen angesiedelt sind.36 Darüber hinaus ist es auch keine neue Erkenntnis, dass das Elsterngleichnis und die mögliche Anspielung auf Hartmanns Text nicht allein in einem theologischen Sinne zu lesen sind, sondern dass man von einem Wolframschen Text zu erwarten hat, dass Verweise literarischer Natur sind und in erster Linie im poetologischen Sinne aufschlussreich. Dementsprechend hat auch Bumke den literaturtheoretischen Interpretationsansatz als vorherrschende Meinung in der jüngeren Forschung dargestellt: „Heute überwiegt die Auffassung, daß die Unterscheidung der drei Menschentypen eine poetologische Bedeutung hat, daß es um literarische Anthropologie geht, um die Menschendarstellung in der Dichtung; und daß der dritte Typ, der elsternfarbene Mensch, ein literarisches Programm darstellt, daß damit die besondere Art der Menschendarstellung im ‚Parzival‘ gemeint ist …“.37 Allerdings tragen auch diese poetologischen Annäherungen an die Deutung des Prologs jene anthropologischen Züge, die meistens dazu zwingen, eine vereindeutigende Identifikation vorzunehmen. Zumeist liegt diese dann in Form einer semantisch eindeutigen Bestimmung des zwîvels vor oder aber es wird versucht, das Gleichnis ganz klar auf den Protagonisten und seinen Weg zu beziehen.38 Nicht ohne Grund nennt Bumke die poetologische Bedeutung des Elsterngleichnisses eine „literarische Anthropologie“. Fraglich bleibt bei diesem „allgemein Menschlichen“ jedoch, welche Aussage damit über den Text getroffen werden kann. Der Prolog scheint nämlich genau diese Unmöglichkeit der eindeutigen Sinngebung als solche vorzuführen und in gewisser Weise auch zu verspotten. Die Erzählinstanz kommentiert das Elsterngleichnis hierbei folgendermaßen: diz vliegende bîspel ist tumben liuten gar ze snel, sine mugens niht erdenken: wand ez kan vor in wenken rehte alsam ein schellec hase. (1,15–19)
Das Bild des vliegenden bîspels enthält das Spiel mit der Erwartungshaltung des Rezipienten und den Verweis auf die Formgebung des maere: Das bîspel als eine
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37 38
Entgegen Cessari bin ich nicht der Meinung, dass die Orientierung an poetologischen Konzepten „die Elsternmetapher im Kontext des nicht minder rätselhaften Prologs […] als ‚dichterische Lizenz‘ zu verharmlosen versucht“ (Cessari 2000. S. 1f.). Vielmehr gewinnt der Parzival aus seiner poetologischen Konzeption im Wesentlichen seine Charakteristik. Bumke 2004. S. 42. Exemplarisch hierfür: Haug 1985. S. 157: „Nur sehr indirekt bereitet er [Wolfram] damit [der Darstellung des elsternfarbenen Menschtypus] den Hörer darauf vor, daß der Held seines Romans nicht jene klare Entscheidung treffen wird, zu der Gregorius sich in der kritischen Situation durchringt, sondern einen Weg zu gehen hat, auf dem er sich lange Zeit im Ungewissen zwischen Gut und Böse bewegt“.
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„zur Belehrung erdichtete Geschichte“39 verspricht gerade durch die Anspielung auf seinen religiösen Konnex Eindeutigkeit in der Sinngebung. Das Scheiden in Richtiges und Falsches, Gutes und Böses könnte beispielsweise im Sinne einer Lebenslehre erleichtert werden. Die Kombination mit dem Attribut vliegend zerstört jedoch jede Eindeutigkeit einer Aussage sofort wieder: Erst der Nachvollzug der Erzählung, der durch Beweglichkeit charakterisiert ist, führt zur versprochenen Lehre. In dieser Hinsicht ist die Uneindeutigkeit und Unmöglichkeit einschlägiger Kategorisierung, die der Text an dieser, aber auch vielen anderen Stellen produziert, Teil seiner narrativen ‚Verschleierungstechnik‘. Die tumben können den Sinn des fliegenden Gleichnisses daher nicht erfassen, weil es gar ze snel ist und vor ihnen ausweicht (wenken) wie ein aufgescheuchter Hase (schellec hase). Es stellt sich die Frage: Wer ist nun aber mit den tumben Leuten gemeint? Worin besteht ihre tumpheit? Und warum können Sie den Sinn des bîspels nicht fassen? Häufig wurden die tumben als „dumme Menschen“40 gelesen oder als „törichte“41. Doch es bleibt fraglich, worin denn ihre Dummheit besteht. Der Text legt durch den Verweis auf seine eigene literarische Konstruktivität nahe, ihre Dummheit auf ihre Rezeptionshaltung zu beziehen: sine mugens nicht erdenken. Das Problem dieser tumben besteht also vielleicht weniger darin, dass sie nicht das intellektuelle Potential haben, den Sinn der Geschichte zu erfassen, sondern viel eher darin, dass sie nicht versuchen, Sinn auf die Weise zu erfassen, wie es ihnen die Erzählung nahe legt, nämlich mit dem Blick auf ihre Form. Die Geschichten, disiu maere, haben bis jetzt jeden auch noch so klugen Menschen (wîsen man) dazu verführt, nach ihrem tieferen Sinn zu fragen, um zu erfahren, was ihre guote lêre auszutragen vermag: ouch erkante ich nie sô wîsen man, ern möhte gerne künde hân, welher stiure disiu maere gernt und waz si guoter lêre wernt. (2,05–08)
Die Lehre, welche die Geschichte enthält, wird wie gesagt als eindeutige Aussage jedoch verweigert. Stattdessen wird immer wieder auf die Art der Darstellung und das Dynamische des Erzählens hingewiesen. Die stiure (Beitrag), welche die Erzählung vom Leser oder Hörer gernt (fordert), würde dann darin bestehen, sich darauf einzulassen, keine explizite Lehre erhalten zu wollen. Stattdessen fordert der Text den Rezipienten dazu auf, mit den entgegengesetzten Bewegungen der Geschichten mitzugehen.42 Was zuvor als metaphorisches Sprechen über Beweg39
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Vgl. Lexer 1976. „bîspel“, S. 22. Vgl. hierzu auch Strasser 1989. S. 163: „Ist das Bispel aus der Tradition der geistlich-moralischen Bibelexegese erwachsen, so scheint es auch in enger Verbindung mit dem narrativen, mit expliziten Lehranweisungen versehenen Exempel zu stehen“. So formuliert es die Übersetzung von Knecht 2003. So wurde es von Spiewok 2000 übersetzt. Vgl. hierzu Bumke 2004. S. 204: „Die vom Zuhörer erwartete Beisteuer besteht offenbar in der Bereitschaft (und Fähigkeit), die Sprünge der Erzählung als Gedankensprünge mitzuvollziehen“.
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lichkeit bezeichnet wurde, lässt sich nun mit einer bestimmten perspektivenbezogenen Füllung des Begriffs versehen: Nur wer dem Haken schlagenden Erzählen folgt und sich auf die Ausstellung von Perspektiven zu konzentrieren vermag, dem spricht die Erzählinstanz die richtige Haltung zu, eine Haltung, die sich als Beobachterposition zweiter Ordnung des höfischen (Text-)Systems beschreiben lässt. Sie lobt einen solchen Rezipienten für eine solche Beobachtung und sie erkennt seine Klugheit (witze) an: dar an si nimmer des verzagent, beidiu si vliehent unde jagent, si entwîchent unde kêrent, si lasternt unde êrent. swer mit disen schanzen allen kan, an dem hât witze wol getân, der sich niht versitzet noch vergêt und sich anders wol verstêt. (2,09–16)
Und mehr noch: Wer diesem vliegenden bîspel zu folgen vermag (mit disen schanzen allen kann), seine guote lêre also versteht, dem wird es auch nicht passieren, dass er sich versitzet oder vergêt.43 Rezipient und Protagonist sind im Angesicht von Religion gewissermaßen gleich. Und beide müssen sie den epischen Prozess vollziehen, müssen den Weg, den die Geschichte beschreibt, erst begehen, um zu seinem vorgeschriebenen und paradoxerweise von Anfang an eingeschriebenen Ende überhaupt gelangen zu können. Der dynamische Nachvollzug der Erzählung bringt also doch noch eine Lebenslehre hervor. Allerdings ist ihr Sinn nicht einfach greifbar wie der einer beispielhaften Legende (so legt es die Anspielung auf den Prolog des Gregorius nahe), sondern diese Lehre wird nur jenem zuteil, der mit ihren Angriffen, ihrem Jagen und Weichen, mit Schmähung und Ehrung, umzugehen versteht. Das Besondere ist, dass die Lehre für den Rezipienten im Erzählverfahren selbst zu suchen ist und der Text damit eindringlich zur genauen Beobachtung seiner eigenen Konstruiertheit auffordert.44 Entscheidender Anhaltspunkt hierfür ist die Metapher vom Zickzack springenden Hasen: Die literarische Darstellung entspricht dem Springen des aufgescheuchten Hasen, der seinen Jägern zu entkommen sucht, was u. a. darauf verweist, „daß eine Perspektive eingenommen wird, um sie gleich darauf wieder zu verlassen und die 43
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Der Terminus des versitzens ist wohl eine Anspielung auf die Struktur der Hartmann-Texte Erec und Iwein: Iwein versitzt sich und Erec verligt sich. Wer also mit dieser Geschichte umzugehen versteht, ließe sich interpretieren, dem wird ein solches versitzen oder verligen, wie es Hartmanns Helden widerfährt, nichts anhaben. Mit Schu lässt sich hierzu auch formulieren, dass trotz keiner eindeutigen Bestimmbarkeit der Absicht, die sich hinter der Anspielung verbirgt, auf jeden Fall festzuhalten gilt, „daß mit der Anspielung und dem Wortgebrauch im Umfeld auch arthurische Romane als Gattungsfolie aufgerufen und in den intertextuellen Dialog einbezogen werden“ (Schu 2002. S. 58). Dementsprechend gilt es also, die den Text organisierenden Konzepte ausfindig zu machen und in ihrer vorgeführten Konstruktivität zu dechiffrieren.
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Gegenposition zu beziehen. […] Charakteristisch ist zudem, so kann man folgern, daß der Text literarisch bekannte Positionen aufruft, um sie dann zu hinterfragen …“.45 Tump ist in diesem Bild folglich, wer dem Hasen, um ihn zu fassen, wie ein unerfahrener Jäger hinterherzulaufen sucht, anstatt wie ein Mensch mit Verstand seine typischen Bewegungen zu studieren – und dann zu ‚wissen, wie der Hase läuft‘. Um zu verstehen, muss also das eigene Handeln reflektiert werden. Das bedeutet auch, dass man als Beobachter zweiter Ordnung die Regeln des Systems in den Blick nehmen muss und nicht allein seinen Gegenstand. Ob dieser Mensch mit Verstand es jedoch vermag, ihn (den Hasen/den Sinn) schließlich zu fassen, wird damit nicht gesagt, allerdings: Er geht nicht fehl (er vergêt sich nicht und versitzet sich nicht). Die Zuschreibung, dass der mit witze, der mit disen schanzen allen kan, nicht fehl geht und sich anders wol verstêt, formuliert damit sowohl eine weltliche Komponente (insbesondere als Anspielung auf Hartmann) als auch einen Verweis auf das Handeln mit Transzendenzbezug: Das Bild des Haken schlagenden Hasen kann als Erzähl- bzw. auch als Rezeptionskonzept für die strukturelle Verflechtung der religiösen Thematik mit ihrer literarischen Darstellung verstanden werden.46 Denn durch das Hin- und Herspringen des Hasen wird einerseits auf das Erzählverfahren selbst verwiesen, das einen Zickzack-Kurs an den Tag legt, andererseits dürfte dem gewitzt reflektierten zeitgenössischen Hörer oder Leser aber auch die heilsgeschichtliche Anspielung auf den Physiologus nicht entgangen sein. Dort wird der bergauf flüchtende Hase nämlich als Sinnbild des Christen gedeutet, der sich vor dem Teufel zu Jesus rettet: „Des Hasen hat David gedacht: Der Felsen ist den Hasen eine Zuflucht. Der Physiologus sagt von ihm: Er ist ein guter Läufer. Wenn er gejagt wird, flieht er in felsiges und ansteigendes Gelände, und dann werden die Hunde samt dem Jäger müde und haben nicht Kraft ihn zu erjagen, und so kommt er heil davon“.47 Wenn nun das Zickzack-Springen des aufgescheuchten Hasen im Prolog mit der Erzählweise gleichgesetzt wird, ist in diesem Bild der Konnex von Narration und transzendentem Wirken bzw. der göttlichen Rettung, auch für den Rezipienten, hochgradig verdichtet: Der Christ, der sich vor dem Teufel durch die hakenschlagende Bewegung zu seinem Herrn rettet und Erlösung findet, wird als Rezipient in direkte Beziehung mit dem Verfahren des Erzählprozesses gesetzt, dessen Weg (wohl allein) zu Erkenntnis führt. Mit Bezug auf das vliegende bîspel lässt sich dieses Erzählkonzept sogar grundsätzlich bis auf die Rezeptionsebene ausdehnen. Hierbei scheint der Inhalt des vliegenden bîspels, das Bild des ambivalenten Elsternfarbenen selbst als Verbindung der absoluten Gegensätze von Schwarz und Weiß, in genau zwei Richtungen Dynamiken auszulösen; zunächst einmal in 45 46
47
Schu 2002. S. 51. Im Rückbezug auf das Methodenkapitel lässt sich daher auch formulieren: Systemtheoretisch bezeichnet dieses Bild eine strukturelle Kopplung vom religiösen und dem höfischen (Text-)System. Der Physiologus 2005. S. 75.
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heilsgeschichtlicher Perspektive, denn allein die staeten gedanken können (hierzu ist die entsprechende höfisch-immanente Haltung, der unverzaget mannes muot erforderlich!)48 letztendlich die Verdammnis verhindern. Und zum anderen arbeitet sich der Text in der Form seiner Erzählweise und mit seiner Erzählweise an diesem paradoxen Gebilde ab – die Erzählung wird zum durch Bewegung gekennzeichneten Gleichnis: einem vliegenden bîspel. Besonders hervorzuheben ist hier die extreme Engführung der Bedeutungsträger des religiösen Systems und des höfischen (Text-)Systems;49 – das auch just an dieser Stelle selbstreflexiv zu werden beginnt. Die konstitutive Verknüpfung von narrativem Prozess und dem religiösen Thema der Heilsaussicht, wie sie durch den Prologanfang eingeleitet wird, beruht auf der gnadenhaften Erwählung des Protagonisten und der Art und Weise darüber zu sprechen. Das fast unmittelbare Wirken Gottes als transzendenter Macht im Bereich des Höfischen, hier: des immanent Profanen, scheint der Dreh- und Angelpunkt für das selbstreflexiv werdende Erzählen im Parzival zu sein: Die Erwählung Parzivals und Erlösung der Gralsgesellschaft durch göttliche Gnade kann der Text nicht kommunizieren, das heißt, er kann über das göttliche Heil nicht verfügen, sondern als höfischer Text kann er lediglich von den Effekten der Gnade Gottes erzählen. Durch das Erzählen vom Mechanismus göttlicher Gnade bzw. dem Einbrechen von Transzendenz zeugt er von den Möglichkeiten des Beobachtens einer laikal-höfischen Kultur, wie sie ihre Gottesbeziehungen bestimmt und in den Blick nimmt.50 Die zentralen Begriffe, mit denen der Text Got48
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50
An dieser Stelle sei auch auf den ausdrücklichen Zusammenhang mit höfischem Kampf auf der semantischen Ebene hingewiesen, welche der Terminus des unverzaget mannes muot aufmacht. Allerdings führt die weitere Perspektivierung dieser interessanten Bedeutungskonnotation an dieser Stelle doch zu weit vom gegeben Erkenntnisinteresse weg, so dass hier auf eine ausführliche Darstellung verzichtet werden muss. Vgl. hierzu Stein 1993. Sie begreift das, was ich hier mit Zusammenführung von Systemen formuliere, in ähnlicher Weise als einen Ebenenwechsel. S. 174f.: „Die Dichotomie von schwarz und weiß, die auf die Schmähung und die Lobpreisung des unverzagten muotes abzielte, ist hier zwar beibehalten, hat aber durch den Ebenenwechsel eine völlig andere Qualität gewonnen: Das was den unverzagten mannes muot für die werlde smaehet und zieret, ist das eine. Das, woran der muot in seiner unverzagtheit Anteil hat, nämlich die staete selbst, das ist das andere. Mit anderen Worten: was der ritterlich-höfischen Welt als ‚schwarz-weiß‘ erscheint (der muot), kann sich vor dem Hintergrund heilsgeschichtlicher Beurteilungskriterien durchaus als blank erweisen, insofern es Ausdruck der staete (der unverzagtheit des muotes) ist“. Einen strukturell ähnlichen Ansatz verfolgt Strohschneider in seinen systemtheoretischen Überlegungen zum Gregorius, wenn er schreibt: „Ich wähle einen Ansatz, der des Gregorius Weg ins Heil zunächst nicht in seinem Bezug auf Gott, nicht also in der Perspektive religiöser Erfahrung in den Blick bringt, sondern im Bezug auf die Welt, als Ausschluß aus und Unterscheidung von ihr; deswegen wurde Heiligkeit als Distanzkategorie eingeführt. Am Beispiel eines exemplarischen Textes handelt es sich insofern zugleich um Beobachtungen zu der Frage, wie im letzten Viertel des 12. Jahrhunderts in der laikalen volkssprachlichen Adelskultur die Relation von Heiligem und Welt konstituiert und beobachtet werden konnte“ (Strohschneider 2000. S. 107). Auch Strohschneider operiert zentral mit der Unverfügbarkeit göttlicher Gnade, wenn er über
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tesbeziehungen verhandelt, scheinen triuwe und staete sowie auch kiusche zu sein, welche zudem auch bereits im Prolog mehrmalige Anwendung finden.51 Der Semantik dieser Begriffe obliegt es, die Transzendenz mit der Immanenz zu verbinden und das Wurzeln der Transzendenz in der Immanenz einsehbar zu machen.52 Um adäquat über diese Größen sprechen zu können, nimmt das Erzählkonzept zwangsläufig selbst eine paradoxe Gestalt an; bereits im Prolog wird diese Inkonsistenz anhand des Versuchs, von triuwe reden zu wollen, in einer chiastischen Erzählfigur veranschaulicht: wil ich triwe vinden aldâ si kan verswinden, als viur in dem brunnen unt daz tou von der sunnen? (2,01–04)
Das Element des Feuers ist im Element des Wassers zu suchen und umgekehrt. Die Möglichkeit triuwe zu finden, liegt also (nur) als Paradoxie vor.53 Aber selbst darin – oder gerade auch deshalb – ist ihr Wesen ein flüchtiges: aldâ si kan verswinden. Sie im Immanenten eindeutig festmachen zu wollen, ist aufgrund ihrer Flüchtigkeit ein schwieriges, nahezu unmögliches Unterfangen. Und dies gilt für die Figuren des Textes und Positionen außerhalb, wie die der Rezipienten, gleichermaßen, denn angesichts der Transzendenz werden sie allesamt auch zu Beobachtern erster Ordnung, die gar nicht umhin kommen, der triuwe in Widersprüchen nachzujagen.54 Wie das vliegende bîspel lehrt, führt nur der Nachvollzug dieser Bewegung, der Nachvollzug der Dynamik des Textes zum Heil und damit zur Erlösung. Der triuwe ist der valsch geselleclîcher muot entgegengestellt, der direkt in die Hölle führt; es heißt:
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die hulde Gottes im Gregorius schreibt (ebd. S. 106). Zu sagen bleibt aber, dass eine spezifische Partizipation des Textes am Religiösen sehr wohl denkbar ist. Um die immanente und zugleich transzendente Dimension dieser Begriffe in den Blick zu bekommen, sind weitere Analysen und die Zusammenführung der Einzelbeobachtungen erforderlich. Deshalb muss hier auf einen späteren Zeitpunkt der Untersuchung verwiesen werden. Vgl. zum Gedanken der Bindegliedssemantik Schu 2002. S. 63f.: „Im Prolog werden sowohl ein arthurisch-ritterlicher Werthorizont als auch ein religiöser Wertekanon bereits angedeutet und verbunden durch die Begriffe staete und triuwe, die für die Anerkennung in der Welt und das Seelenheil von hervorragender Bedeutung sind. Es wird – so kann man schließen – nicht um eine Geschichte gehen, die nur den Wert des Menschen vor Gott thematisiert und eine ausschließliche Ausrichtung auf das Seelenheil proklamiert. Aber es wird auch nicht um rein immanente Fragen von Ehre und Schmach gehen, da ein Bezug zur Heilserwartung des Sünders geleistet wird“. In einer Modifizierung des Schuschen Ansatzes ließe sich wohl davon sprechen, dass nicht das Entweder-Oder von Immanenz und Transzendenz das Entscheidende ist, sondern gerade ihr Zusammenhang, der über solche Bindegliedssemantiken im Text verhandelt wird. Systemtheoretisch reformuliert bedeutet dies, dass das Transzendente der triuwe in der Immanenz für den Beobachter erster Ordnung nur in dieser paradoxen Struktur zu fassen ist. An dieser Stelle perspektiviert der Text den Begriff der tumpheit erneut und stellt eine Verbindung zur tumpheit Parzivals her, der letztlich den Gral auch bejagt und mit dem Erringen des Grals trotzdem als Erlöser auftritt.
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valsch geselleclîcher muot ist zem hellefiure guot, und ist hôher werdekeit ein hagel. sîn triwe hât sô kurzen zagel, daz si den dritten biz niht galt, fuor si mit bremen in den walt. (2,17–22)
Die Opposition von triuwe, der valsch geselleclîche muot, bedingt also den Verlust des Heils vor Gott und der Welt, sie führt ins Höllenfeuer und zu Schande und Ehrverlust gleichermaßen. Wer mit dieser verräterischen Gesinnung auftritt, der besitzt keine triuwe, worauf mit einer – wahrscheinlich bekannten – Fabel angespielt wird.55 Auch hier interferieren im Bild der Heilserwartung die Positionen außer- und innerhalb des Textes, denn „ähnlich wie in den Versen zuvor (2,15f.) werden die Rezipienten in eine Situation versetzt, die der vergleichbar ist, die traditionell die Protagonisten der Romane zu bestehen haben“56. Der Text erhebt damit, so lässt sich mit den Worten Haugs formulieren, einen „dichtungstheoretischen Anspruch, der schwerlich überboten werden kann“57. Abermals wird der Weg als schwierig, aber dennoch lohnenswert geschildert und damit „erneut auf den Wert der Geschichte verwiesen“ – die Geschichte wird somit auch zum „Prüfstein der Rezipienten“ erhoben.58 Offenbar koinzidieren hier also das höfische (Text-) und das religiöse System. Mit dem Blick auf diese spezifische Koinzidenz zeigt sich überdies, dass die kiusche der Frauen auf derselben Ebene angesiedelt ist wie die triuwe, und zwar, als die Erzählinstanz in der Frauenpassage (2,25–3,24) dazu rät, dass eine Frau darauf achten solle, an wen sie ihren prîs und ihre êre vergebe, damit sie ihre kiusche und ihre triuwe nicht zu bereuen brauche: für diu wîp stôze ich disiu zil. swelhiu mîn râten merken wil, diu sol wizzen war si kêre ir prîs und ir êre, und wem si dâ nâch sî bereit minne und ir werdekeit, sô daz si niht geriuwe ir kiusche und ir triuwe. (2,25–3,02)
triuwe und kiusche scheinen sich somit als diejenigen Qualitäten zu erweisen, die auf dem Spiel stehen, wenn die Frau ihre minne und ihre werdekeit herzugeben 55
56 57 58
„Die Anspielung auf den Schwanz, der den dritten Biß der Bremsen nicht abwehren kann, bezieht sich wohl auf eine Fabel von Nigellus von Canterbury, in der zwei Kühe im Winter einfrieren; während die eine abwartet, bis es taut, reißt sich die andere Kuh Bicornis los und verliert dabei ihren Schwanz, wodurch sie im Sommer die Fliegen nicht mehr abwehren kann“ (Schu 2002. S. 59. FN 63). Ebd. S. 59. Haug 1985. S. 161. Schu 2002. S. 59.
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bereit ist, und damit all das, was sie ins Zentrum höfischer Gesellschaft stellt. Die Erzählinstanz formuliert hier also aus einer dezidiert höfischen Beobachterposition, der immanente Part von triuwe und kiusche wird deutlich. Im Falle der triuwe ist die Verbindung zum religiösen Heil bereits genannt worden, nun wird diese auch für den Part der kiusche offenkundig. Denn gleich nach der Nennung dieses Begriffspaares erfolgt eine Anrufung Gottes durch die Erzählinstanz, in welcher diese aussagt, dass sie für die guten Frauen nicht um mehr Heil zu bitten braucht, wenn sie es verstehen, angemessen mit diesen Qualitäten der triuwe und kiusche umzugehen, wie es sowohl die Terminologie der rehtiu mâze als auch der scham zum Ausdruck bringt: vor gote ich guoten wîben bite, daz in rehtiu mâze volge mite. scham ist ein slôz ob allen siten: ich endarf in niht mêr heiles biten. (3,03–06)
Es ist der rehte wîbes muot, der solch ‚heilsbringendes Frausein‘ bezeichnet und der sich zugleich als Opposition zum valsch geselleclîchen muot geriert, welcher wie gesagt direkt ins Höllenfeuer führt (2,17f.). Das Bild, das den rehten wîbes muot zur Anschauung bringt, ist deshalb ein religiöses, weil es in der Immanenz in einer paradoxen Form vorliegt, welche durch den Heilsbezug zugleich auf die Transzendenz und daher auf Gott verweist. Den rehten wîbes muot eines guoten wîbes vergleicht die Erzählinstanz hier mit einem Edelstein, der in wertloses Messing gefasst ist: ich enhân daz niht für lîhtiu dinc, swer in den kranken messinc verwurket edeln rubîn und al die âventiure sîn (dem glîche ich rehten wîbes muot.) (3,15–19)
Das Paradoxe dieses Bildes liegt also in der Werthaftigkeit bzw. dem, was sie repräsentiert. Der Rubin strahlt in der Herrscherfarbe Rot,59 während die Messingfassung seinen Glanz kaum zu reflektieren vermag. Außerdem ist der Rubin als Edelstein etwas Besonderes und extrem Seltenes, eine dem Adel angemessene Kostbarkeit, wohingegen Messing im Mittelalter als Massenprodukt gehandelt wurde60 und damit für einen Herrschaftskörper wenig kleidsam war. Eine weitere Paradoxie findet sich im Material selbst: Der Rubin gilt nach dem Diamanten als der zweithärteste Edelstein, das Messing ist durch seine Weichheit charakterisiert. Das Attribut des kranken, mit dem das Messing hier im Text näher bestimmt
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Rot bedeutet in der mittelalterlichen Farbensymbolik „die Liebe Gottes, das Blut des Opfertodes“ und gilt als die Gottesfarbe (vgl. Lipffert 1976. S. 87); sowie: „Purpurrot ist die Farbe des Schöpfers, der Gottheit, des Mantels Gottes. Zugleich ist es die kaiserliche Farbe; denn die Herrscher haben die Macht von Gott“ (ebd. S. 90). Zum Umfang des Messinghandels vgl. Stahlschmidt 1970. Hier insb. S. 127–131.
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wird, scheint darüber hinaus im höfischen Kontext als Antonym zum mit Stärke behafteten Terminus der âventiure lesbar, wobei das Bild auch diese Gegensätze in einem Paradoxon zusammenbindet. Die âventiure besitzt die Qualität des ritterlichen Treibens und Bewährens im Kampf, der Terminus des kranken umfasst in seinem Bedeutungsspektrum dagegen das Schwache und insbesondere auch den Umstand, von schwachen Streitkräften zu sein.61 Insofern erscheint der Frauenkörper im Text gleich in mehrerlei Hinsicht in paradoxer Gestalt, der im rechten Umgang mit den Qualitäten der triuwe und kiusche – ausgedrückt durch rehten wîbes muot – selbst auch zum Heilsbringer werden kann. Das vornehmliche Interesse innerhalb der einleitenden Worte liegt neben der triuwe und kiusche noch auf dem Prinzip der staete. Das Sprechen über die staete ist auf der Wortebene auffallend ähnlich konzipiert und beruht strukturell auf denselben Axiomen, wie das zuvor zitierte Beispiel zur triuwe. Sie ist gleichfalls dem Paradoxen ausgesetzt, was sie ebenfalls zu einem Bindeglied zwischen Immanenz und Transzendenz werden lässt: wie staete ist ein dünnez îs, daz ougestheize sunnen hât? (3,08f.)
Im Elsterngleichnis wird zunächst dem Gemischtfarbenen Rettung vor der Verdammnis in Aussicht gestellt, wenn er staete gedanken hegt. Der mit der swarzen varwe ist der unstaete geselle, der mit Sicherheit in die Hölle fährt. Daraufhin erfolgt das Selbstreflexivwerden der Dichtung in den Worten zum vliegenden bîspel, wodurch zugleich im metaphorisch dichten Bild des springenden Hasen die poetologische Dimension mit der religiösen zusammengefügt und verwoben wird. Das darauf folgende Spiegelgleichnis nimmt dann das Thema der Schwierigkeit, Sinn zu erfassen, erneut auf, indem es Beobachten und Wahrnehmen aus epistemologischer Perspektive behandelt: zin anderhalp ame glase gelîchet62 und des blinden troum, die gebent antlützes roum, 61 62
Lexer 1976. „âventiure“, S. 8. „kranc“, S. 114. Wie auch Nellmann lese ich hier entgegen der Konjektur Lachmanns (geleichet) entsprechend der Handschriften gelichet (ausgenommen D: gelichent) und übersetze zin anderhalp ame glase gelîchet als Beschreibung eines Spiegels: „Zinn, auf der Rückseite des Glases glattgestrichen“ (Nellmann 1994. S. 448). Die Aufhebung der Konjektur erfordert dementsprechend auch eine Veränderung der Zeichensetzung. Die Umschreibung eines Spiegels in der Interpretation eines Sinnbilds von Dichtung scheint mir besser zu den vorhergehenden selbstreflexiven Aussagen des Prologs zu passen als Lachmanns Interpretation der Täuschung (geleichet). Vgl. hierzu auch Rausch 2000. S. 50. FN 25: „Im Pz.-Prolog liegt m. E. das tertium comparationis zwischen dem Hasen- und Spiegelbild in der Problematisierung der Abbildfunktion der Sprache. Aus dieser Perspektive wird die Frage nach der Konjektur bzw. Interpretation von ‚gelîchet‘ entschärft, denn unabhängig davon, ob man das Wort mit ‚gleichen‘, ‚glatt verstreichen‘ oder ‚gefallen‘ übersetzt, oder mit Lachmann ‚geleichet‘ als ‚täuschen‘ interpretiert, bleibt in allen vier Varianten das Abbildproblem im Kern ungerührt“.
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doch mac mit staete niht gesîn dirre trüebe lîhte schîn: er machet kurze fröude alwâr. (1,20–25)
Was im Hasengleichnis als Erkenntnisproblem koinzidiert, scheint in dieser Sentenz nun in eine weitere Relation gesetzt zu werden: Ein Spiegel oder der Traum eines Blinden kann nur Abbild der Wirklichkeit sein. Ihr Anblick bereitet zwar Freude, doch ihr trübes Licht währt nur für kurze Zeit, denn diese Abbilder vermögen es nicht, staete zu vermitteln, sondern sind nur scheinhafte Darstellungen. Der Traum des Blinden63 lässt sich als Metapher für die Gebilde der Imaginationskraft verstehen, die allein aus der Vorstellungskraft entspringen und der empirisch prüfenden Anschauung entzogen sind, und daher auch als Selbstreferentialität begriffen werden können.64 Ebenso metaphorisiert der Spiegel den Abglanz der Erscheinungen: den reinen Schein der Dinge.65 Beide schaffen zwar einen Raum für Anschauung (die gebent antlützes roum), doch sind die darin enthaltenen Bilder nur flüchtige (dirre trüebe lîhte schîn:/ er machet kurze fröude alwâr), weil der Halbschatten (trüebe lîhte schîn) nicht von Beständigkeit ist: Er entbehrt der staete. Es scheint, dass zu diesem gemischten Bild von gleichzeitiger Helligkeit und Dunkelheit im Oxymoron von trüebe und lîhte ebenso wie im bîspel des ambivalenten Elsternfarbenen staete hinzukommen muss, um von Erkenntnis sprechen zu können – Erkenntnis ist folglich nur mit staete möglich.66 Die epistemologische Schlussfolgerung daraus lautet daher, dass das Wesen der Dinge nicht direkt vermittelbar ist und dass Repräsentation stets eine Brechung impliziert. Dieses Repräsentationsverhältnis darf somit besondere Aufmerksamkeit beanspruchen, denn von diesem Transfer hängt ab, ob Erkenntnis möglich ist. Zur Selbstreflexion muss darüber hinaus die Qualität der staete kommen, weil 63
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Zu bemerken ist an dieser Stelle auch, dass des blinden troum keine einfache Vorstellung (ein einfacher Traum) ist, sondern eine Phantasie, die völlig ohne visuellen Wirklichkeitsbezug auskommt (es träumt hier ein Blinder). Selbstreferentialität beschreibt hier damit die Systemimmanenz, der reine Verweis auf das Eigene, der hier für Erkenntnis als nicht ausreichend geschildert wird. Der Spiegel ist zunächst einmal neutral in seiner Bedeutung: „Der Spiegel, der ein getreues Abbild wiedergibt, ist Sinnbild der klugen Erkenntnis und der Wahrheit“ (Seibert 2002. „Spiegel“, S. 293). Ich plädiere in der Deutung des hier dargestellten Spiegels jedoch dafür, dass er nicht neutral zu deuten ist, da ihm allein eine entscheidende Qualität zur Erkenntnisvermittlung fehlt, nämlich die staete. Vgl. hierzu Stein, die sich vor allem auch dem Aspekt der Zeit der staete und dem narrativen Prozess widmet: „Erzähltes und Erzählen des Erzählten sind in diesen Versen [1,10–1,14] somit kongruent, denn eine Sentenz kann etwas ‚festschreiben‘, nicht aber die Kategorie der Zeit, in der sich staete entfaltet, abbilden. Dies kann erst der narrative Prozeß, der hier konsequenterweise das, was in der Sentenz als für immer und ewig gültig behauptet wird, als eben gerade nicht für immer und ewig gültig entlarvt [vgl. 1,1–1,14]. Erkenntnisvermittlung erfolgt bei Wolfram daher nicht allein durch das, was erzählt wird, sondern durch das, was wann, wo und wie erzählt wird, da nur die Art des Erzählens und das Erzählte Zusammen dem zu Erzählenden gerecht zu werden vermögen“ (Stein 1993. S. 176f.).
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sie es vermag, über die reine Immanenz hinaus zu verweisen. Von Erkenntnis zu sprechen bedeutet hier das erzählte Bild, das in seiner medialen Repräsentation allein in paradoxer Gestalt aufzutreten vermag, mit Transzendenz in Verbindung zu bringen, um mehr als nur die kurze fröude der Anschauung zu erhalten. In diesem strukturellen Sinne behauptet der Prolog, Erkenntnis sei stets eine religiöse.67 Und so liegt es nahe, dass der Text auch hier auf seine eigenen darstellerischen Möglichkeiten verweist: Das Repräsentationsmedium des Parzival ist der narrative Prozess. Daraus lässt sich schließen, dass insbesondere auf die Art der erzählten Darstellung zu achten ist. Rausch hat in diesem Zusammenhang zu Recht darauf hingewiesen, dass auch das Parzivalbuch wie ein Spiegel begriffen werden kann, und dass diese Vorstellung, Bücher oder Dichtung als ‚Spiegel‘ aufzufassen, eine der höfischen Welt durchaus geläufige ist, denkt man nur etwa an die Fürsten- oder Narrenspiegel (wie beispielsweise der Sachsenspiegel oder der Speculum stultorum des Nigellus).68 Für diese Lesart spricht auch der Umstand, dass bereits in den vorigen Versen das Abbildungspotential der Erzählung in Form ihrer Darstellungsweise thematisiert wurde.69 Es lässt sich also festhalten, dass in diesem Zusammenhang das verbindende Verhältnis von literarischem Text und staete, als durch die Heilserwartung dezidiert religiös konnotiertem Begriff, in den Vordergrund tritt. Interessanterweise wird auch, gleich nachdem über die darstellerischen Möglichkeiten von Literatur, mit staete umzugehen, gesprochen und dargestellt wurde, dass staete zur Darstellung noch hinzukommen muss, um Erkenntnis zu produzieren, auf der Ebene der Erzählinstanz eine Ich-Stimme eingeführt, die dieses Verhältnis entsprechend perspektiviert: wer roufet mich dâ nie kein hâr gewuohs, inne an mîner hant? der hât vil nâhe griffe erkant. sprich ich gein den vorhten och, daz glîchet mîner witze doch. (1,26–30)
Üblicherweise wird diese Passage des Prologs als Polemik des Autors gegenüber ungerechten Kritikern,70 unverständigen Rezipienten71 oder eben den tumben72 interpretiert, was jedoch vor allem in dieser Eindeutigkeit nicht als zwingende Lesart erscheint. Ebenso wenig einleuchtend ist die Interpretation, dass es sich bei diesem Rupfen an der Innenseite der Hand um eine Spiegelfechterei des Au67
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In einem religiösen Sinn greift hier auch wieder die Semantik von Blindheit. Vgl. hierzu Feldbusch 1991. Sp. 307: „Mit Blindheit geschlagen ist der Sünder. Blindheit wird besonders von Stolz und Bosheit verursacht und bedeutet, vom Wirken der göttlichen Gnade und der Anschauung Gottes ausgeschlossen zu sein, im Dunkel der Unwissenheit zu bleiben“. Rausch 2000. S. 53. Das vliegende bîspel scheint mir hierfür ein ausreichendes Argument. Nellmann 1973. S. 9; Peschel-Rentsch 1990. S. 29; Schu 2002. S. 57. Stein 1993. S. 180. Brinkmann 1966. S. 91; Haug 1985. S. 163; Schirok 1990. S. 126.
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tors Wolfram mit seinem Erzähler-Ich handelt.73 Zu bezweifeln ist außerdem, dass mit der hant, an der das Ich [ge]roufet wird, unbedingt die Schreiberhand des Autors gemeint sein muss.74 Diese Interpretationen neigen deutlich dazu, unreflektierte Paradigmen von Literaturproduktion zu transportieren. Ganz abgesehen von unserem mangelnden Wissen über den historischen Autor Wolfram, trennt der mittelalterlich-höfische Autorschaftsdiskurs – mag man von einem solchen sprechen – ja gerade Auftraggeber, Schreiber und Vortragenden und interessiert sich darüber hinaus eigentlich nicht weiter für den Aufschreibenden der Geschichte.75 Ich plädiere stattdessen dafür, diese Passage auf einer poetologischen Ebene zu deuten, auf welcher der Text sein Darstellungspotential erneut reflektiert. Die Erzählinstanz fragt hier zunächst danach, wer sie denn an der Innenseite ihrer Hand rupfe, wo doch noch nie ein Haar gewachsen sei – oder noch überhaupt nichts, wenn man kein hâr als einen bildlichen Ausdruck für ‚nichts‘ liest. Daraufhin lobt sie denjenigen, denn der hât vil nâhe griffe erkant, was soviel bedeuten mag, dass er es versteht, einzugreifen; doch wohin führt dieses sehr nahe Greifen? Die Antwort hierauf scheint die Erzählsituation zu geben: Mit der Frage (1,26f.) wird eine Ich-Instanz eingeführt, die durch die erfolgte Personalisierung das Gesagte gleichfalls auch zu perspektivieren und damit zu relativieren beginnt. Das Erzähler-Ich ist weder auf der Geschichtsebene des Textes vom Personal der Erzählung fassbar, noch lässt sich die Erzählerrolle einfach mit dem Vortragenden außerhalb des Textes identifizieren. Die Aussage, dass aus seiner Hand noch nie etwas entstanden sei, formuliert damit zweierlei Grenzziehungen: zum einen gegenüber den Figuren der Handlung und zum anderen auch gegenüber den Re73
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Rausch 2000. S. 53. Denn weder ist ja der außerliterarische historische Autor des Textes eindeutig zu identifizieren, noch muss dieser unbedingt mit dem Ich-Erzähler korrespondieren. Vgl. hierzu Bumke 2004. S. 1: „Wolfram hat in seinen Epen sehr häufig von sich selbst gesprochen, von seinen Familienverhältnissen, seinen Liebeserfahrungen, Lebensbedingungen und seinen Beziehungen zu Gönnern und zu anderen Dichtern. Früher hat man diese Selbstaussagen als autobiographische Zeugnisse gelesen und daraus die Lebensgeschichte des Dichters rekonstruiert. Heute wird alles, was der Erzähler über sich selbst sagt, als Ausgestaltung der Erzählerrolle angesehen“. Peschel-Rentsch 1990. S. 29: „Wir haben hier eine von den bei Wolfram nicht seltenen Aggressionsphantasien, die der Autor gegen sich selbst gerichtet sein läßt, und der auf den Angriff folgende Vers sprich ich gein den vorhten och (1,29) heißt zuerst einmal wörtlich, daß dem Autor der Angriff Angst macht …“; sowie: Rausch 2000. S. 53. Wobei Rausch zumindest noch einräumt, dass es sich beim Ich-Erzähler des Parzival um ein „‚verzerrtes Abbild‘ des historischen Autors“ handele (ebd. S. 54. FN 36). Wenn in dieser Arbeit von ‚Wolfram‘ gesprochen wird, ist damit immer ‚Wolfram‘ als Konzept des Textes gemeint und keine außerliterarische Person, von der es ohnehin keine historischen Zeugnisse gibt. Vgl. Bumke 2004. S. 1: „Über Wolfram von Eschenbach gibt es keine historischen Zeugnisse“; sowie: Müller 1999. S. 158: „Der mittelalterliche Autorbegriff ist unterdeterminiert. Der Verfasser kann sein Produkt nur eine kurze Wegstrecke lang kontrollieren, dann ist er auf andere angewiesen (wie Schreiber, Illustratoren, Bearbeiter, Vortragende), deren Arbeit seinem Zugriff entzogen ist“.
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zipienten. Relativiert wird diese Äußerung jedoch zugleich durch eine weitere mögliche Lesart: an der Innenseite der Hand wachsen für gewöhnlich keine Haare; woran sollte man denn also rupfen, auch wenn es einem gelingt, sehr nahe greifen zu können? – die Ähnlichkeit zum Haken schlagenden Erzählen ist signifikant. Wichtig für eine adäquate Deutung scheint mir deshalb die Präsenthaltung beider Möglichkeiten zu sein, womit der eigentliche Widerspruch des Nahe-Greifens von etwas nicht Vorhandenem in der Darstellung liegt, bzw. der dynamische Umgang mit dem Paradoxen dementsprechend zum Verweis auf die Erzählweise lesbar wird. Es ist die Demonstration von Fiktionalität durch die Erzählinstanz, die hierdurch zum eigentlichen Gegenstand der Darstellung wird.76 Nur auf diese Weise scheint es dem Text möglich zu sein, angemessen über das Thema der gnadenhaften Erwählung seines Helden und von Erlösung sprechen zu können. Oder anders formuliert: Der Parzival unternimmt es, in derartiger Gestalt von wundern, dem Unfasslichen und Unverfügbaren, zu erzählen. Über den Horizont der Erzählinstanz – ihre witze – erfährt man außerdem Folgendes: Es gleiche ihrem Verstand jedoch (daz glîchet mîner witze doch, 1,30), dass sie im Angesicht von Nöten aufschreie (sprich ich gein den vorhten och, 1,29).77 Es liegt interpretatorisch nahe, dass die Erzählinstanz sich trotz ihrer offensichtlich exponierten Stellung vom Geschehen der Erzählung involviert sieht, wenngleich ihr die darin enthaltenen Gefahren eigentlich nichts anhaben können. Und tatsächlich handelt es sich dabei um eine Vorankündigung dessen, was im Falle größter Bedrängnis auch passieren wird, nämlich, dass sich die Erzählinstanz als außen stehender Beobachter paradoxerweise zum Handeln gezwungen sieht, wofür der Bruderkampf zwischen Parzival und Feirefiz exemplarisch ist. Die einzig mögliche Handlungsoption, die der Erzählinstanz in Anbetracht ihrer diskrepanten Stellung angesichts größter Not bleibt (ich sorge des den ich hân brâht,/ wan daz ich trôstes hân gedâht, 737,25f.), die in jener höfischen Paradoxie besteht, dass grôz triwe aldâ mit triwen streit (741,22), scheint die Anrufung Gottes zu sein.78 In dieser größten Bedrängnis liegt das Schicksal des Helden allein in Gottes Händen, welche, nebenbei bemerkt, Gegenstand der zentralen Darstellung Gottes als Gottvater und Schöpfer sind:79
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Ähnlich zur Ausstellung von Fiktionalität auch: Rausch 2000. S. 53. FN 35. Allerdings formuliert Rausch (wie dargestellt) von einer Spiegelfechterei des Autors her, was wenig überzeugt. Zahlreiche Übersetzungsversuche, die allerdings allesamt Ironie implizieren, finden sich bei: Peschel-Rentsch 1990. S. 28f. Ich sehe allerdings keinen Grund, dieser ironischen Lesart zu folgen. Und zwar die Anrufung Gottes als der eine privilegierte Beobachter. Am Ende dieses Unterkapitels werde ich darauf nochmals zurückkommen. Vgl. Kirschbaum 1991. Sp. 212: „Die Hand Gottes (manus od. dextera Dei) ist das wichtigste symbolische Bild für Gottvater v. 4.–13. Jahrhundert. Sie veranschaulicht die ‚Stimme Gottes‘ und das Eingreifen Gottvaters in das irdische Leben, seltener auch Christus und den Heiligen Geist“.
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ez ist noch ungescheiden, zurteile stêtz in beiden vor der hôhsten hende: daz diu ir sterben wende! (744,21–24)
Besonders auffällig im Hinblick auf die Positionierung der Erzählinstanz und ihrem Verhältnis zu Gott ist die Analogie der Hände: Die Rolle der Erzählinstanz als auktorialer Erzähler verzichtet gemäß dieser Aussage in diesem Moment auf die exponierte Stellung und wird stattdessen unmittelbarer Teil des höfischen (Text-)Systems, d. h. die Erzählinstanz wird personalisiert.80 In dem Augenblick, in dem der Text die Möglichkeit offeriert, dass Gott ins Immanente eingreift, findet gleichzeitig auch eine Kreuzung der Grenze der Positionen durch die Erzählinstanz statt. Die Erzählinstanz wechselt aus einer auktorialen Erzählhaltung in eine personale, die sich sogleich als eine dezidiert höfische Beobachterposition erster Ordnung zu erkennen gibt.81 Die Erzählinstanz verfügt also angesichts der vehementen Bedrohung, die das höfische System durch diesen Kampf erfährt, nicht mehr über den Fortgang der Geschichte, denn sie liegt nun nicht mehr in ihren Händen, sondern in den hôhsten henden, also den Händen Gottes. Nur diese vermögen es, und das bedeutet: nur Gottes Eingreifen vermag es, den Tod der Kämpfenden noch zu verhindern. Die Könige, die gegeneinander kämpfen und beide dem Höfischen zugehörig sind, können in diesem Streit letztlich nur verlieren: Sie sind Brüder und in der Verwandtschaftskonzeption des Parzival ein Leib. In einem Kommentar vergleicht die Erzählinstanz diesen Komplex dementsprechend mit der Untrennbarkeit von Mann und Frau, wie sie dem höfischen System zum einen als Herrschaftskonzept zugrunde liegt und welche zum anderen über die Semantik des Leibes zugleich auch einen religiösen Bezug offeriert:82
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Vgl. hierzu Knapp 2002. S. 20: „Die völlig konsequente Einhaltung der personalen Erzählsituation ist freilich erst eine neuzeitliche Errungenschaft, ebenso wie die völlige Verselbstständigung der subjektiv hervortretenden Erzählerfigur. Aber auch die Ansätze müssen auf das zeitgenössische Publikum […] Wolframs verblüffend gewirkt haben“. Vgl. hierzu: „Daß ein Erzähler eine fiktive Welt aus solcher [personalisierter] Sicht, wenn auch nur teilweise, darstellen konnte, war wohl schon unerhört genug. Die von Gott geschaffene Wirklichkeit in lauter subjektiv erfahrbare Teilwirklichkeiten aufzulösen wäre dem mittelalterlichen Menschen dagegen gewiß absurd erschienen“ (ebd. S. 24). Einschlägig für die religiöse Konnotation ist in der Bibel 1. Kor. 7, 3 u. 4: „Der Mann leiste der Frau, was er ihr schuldig ist, desgleichen die Frau dem Mann. Die Frau verfügt nicht über ihren Leib, sondern der Mann. Ebenso verfügt der Mann nicht über seinen Leib, sondern die Frau“. Im Höfischen ist die Einheit zweier Verschiedener (von Mann und Frau) ein Herrschaftstopos. Grundsätzlich findet sich das Konzept, dass zwei Figuren gemeinsam nur eine repräsentieren häufig in der höfischen Literatur. Im Parzival ist der Bruderkampf hierfür eine einschlägige Stelle. Vgl. hierzu Wittmann 2007. Kapitel VIII, Fünfzehntes Buch: Bruderkampf mit Feirefiz. S. 174–195.
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man mac wol jehn, sus striten sie, der se bêde nennen wil ze zwein. si wârn doch bêde niht wan ein. mîn bruodr und ich daz ist ein lîp, als ist guot man unt des guot wîp. (740,26–30)
Die Erzählinstanz macht durch diesen Kommentar kenntlich, dass ihre Beobachterposition sich an dieser Stelle im höfischen (Text-)System befindet. Dieser Kampf scheint ein solch prekärer Moment zu sein, in dem es ihre witze gebietet, aufzuschreien und Gott um Hilfe anzuflehen, obwohl sie doch aufgrund ihrer besonderen Beobachterposition gar nicht involviert sein kann: keinem – und insbesondere auch nicht dem Personal des Textes – ist es eigentlich möglich sie zu greifen, sie an ihrer Hand zu rupfen. Daraus lässt sich schließen, dass zwischen den besonderen Beobachterpositionen Gottes und der Erzählinstanz eine entscheidende Differenz besteht: Der Erzählinstanz ist es hier nicht möglich, direkt in den Text einzugreifen und den drohenden Tod ihres Helden zu verhindern. Die Nähe der Erzählerfigur zum Höfischen drückt sich zudem in eben jenem och aus, zu dem sie angesichts der vorhten, welche sie aufgrund des Kampfes triuwe wider triuwe befällt, allein fähig scheint. Über genau diese Handlungsoption, in das Geschehen einzugreifen, verfügt hier nur Gott – er lässt Parzivals Schwert zerspringen, was im Text zudem ausdrücklich als Entscheidung Gottes dargestellt ist: got des niht langer ruochte, daz Parzivâl daz rê nemen in sîner hende solde zemen (744,14–16)
Ähnlich scheint sich auch die Situierung der Erzählinstanz später im Prolog zu gerieren, als sie ihren Helden erwählt, von dem die âventiure erzählt. Spannenderweise belegt die syntaktische Struktur der Erwählungsverse (den ich hie zuo hân erkorn,/ er ist maereshalp noch ungeborn,/ dem man dirre âventiure giht,/ und wunders vil des dran geschiht, 4,23–4,26) nämlich, dass die Erzählerfigur zwar über den Helden der Geschichte verfügt, aber eben nicht über die wunder, die mit seiner Geschichte zusammenhängen. Die Syntax dieser Verse fördert dadurch folgende Struktur an Verfügungsgewalten zutage: Zunächst einmal wird offenkundig, dass die Einführung des Helden in den Händen der Erzählinstanz liegt. Denn, wie Schu richtig formuliert, mit „diesen Worten [4,23–4,26] beschließt der Erzähler den Prolog und macht eindringlich seine Verfügungsgewalt über die Erzählung geltend, wenn er betont, daß er den Helden ausgewählt habe und es zudem in seiner Macht stehe, wann dieser das Licht der Erzählung erblickt“.83 Diese Macht der Erwählung reflektiert der Text im Besonderen dadurch, dass zu diesem Zeitpunkt der Geschichte von niemandem außer der Erzählinstanz zu identifizieren ist, von wem man dirre âventiure eigentlich giht. Denn Parzivals Name wird
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Schu 2002. S. 62.
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erst zu einem chronologisch betrachtet deutlich späteren Zeitpunkt in der Gahmuret-Handlung genannt und selbst dort kommt als Protagonist ebenso gut noch Lots Sohn Bêâcurs in Frage.84 Auch wird an dieser Stelle noch nicht benannt, dass die Geschichte eigentlich zwei Helden hat, von denen ausführlich berichtet wird, und auch, dass auf beide das zutrifft, was der Text hier wohl mit wunders vil des dran geschiht beschreibt.85 Die Erwählung des Helden der Geschichte durch die Erzählinstanz befindet sich für die literarische Welt des Parzival ebenso jenseits einer Grenze, wie auch Parzivals gnadenhafte, wundersame Erwählung zum Gralskönig durch Gott in der Transzendenz liegt.86 Es kommt aber noch eine weitere Größe ins Spiel, denn im Hinblick auf die Struktur der zitierten Stelle scheint auch die âventiure über das Geschehen – die histoire – verfügen zu können. Mit âventiure ist gemeint: „Hier bedeutet âventiure das dem Helden Zukommende, aber auch von ihm zu Erlebende und Erleidende“.87 Sie, die personifizierte âventiure, ist es nämlich, die das Thema diktiert, und hinter welche die Erzählinstanz im Moment der Benennung der Themen von Gunst und Leid, Freude und Furcht, welche die âventiure zu zeigen vermag, ebenso wie hinter Gott zurücktritt: nu hoert dirre âventiure site. diu lât iuch wizzen beide von liebe und von leide: fröud und angest vert tâ bî. (3,28–4,01)
Es ist also die âventiure und nicht die Erzählinstanz, die das Gegensätzliche zusammenzubinden vermag. Es lässt sich hieran ein offensichtlich wichtiger Unterschied identifizieren: zwischen dem Potential, Widersprüchliches zusammenzufügen, und der Fähigkeit, davon zu berichten.88 Erst wenn es nun darum geht, 84
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Parzivals Name fällt zum ersten Mal in Vers 39,26: Bêâcurs Lôtes kint und Parzivâl, die dâ niht sint: die wâren dennoch ungeborn, und wurden sît für schoene erkorn. (39,25–28) Gawans Schlüsselâventiure im Parzival findet kaum zufällig auf dem Lit marveile in Clinschors Schastel marveile statt. Systemtheoretisch reformuliert (und wie im Methodenkapitel angesprochen), besetzen in diesem Fall Gott und die Erzählinstanz eigentlich die gleiche besondere Beobachterposition im höfischen (Text-)System. Aufgrund der (auch systemtheoretischen) Unmöglichkeit der gleichzeitigen Präsenz zweier solch privilegierter Beobachter muss der Text also reagieren, und das tut er, wie gezeigt werden konnte, beispielsweise über die Personalisierung der Erzählinstanz. Man kann daher auch formulieren, dass es sich bei der in der Erzählform des Textes vorliegenden Differenzierung um ein re-entry, also den Wiedereintritt einer Unterscheidung handelt, das als dezidiert höfisch-textuelles im Umgang mit dem Religiösen zu begreifen ist. Knapp 2002. S. 28. Die gleiche zwischen ‚Verfügen-über‘ und ‚Erzählen-von‘ trennende Struktur findet sich im Übrigen auch im paradox gestalteten Erzählen der darauf folgenden Verse zum Gegensatzpaar von Männlichem und Weiblichem wieder:
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dieses parrierte maere zu vermitteln, kommt die Erzählerfigur wieder ins Spiel, oder genauer ihre Kunst und die vielen Kniffe, für die es wilder Phantasie bedarf, um das verkünden zu können, was die âventiure von ihrem Vermittler verlangt: nu lât mîn eines wesen drî, der ieslîcher sunder phlege daz mîner künste widerwege: dar zuo gehôrte wilder funt, op si iu gerne taeten kunt daz ich iu eine künden wil. si heten arbeite vil. (4,02–08)
Diese Künste der Erzählerfigur sind aber nur dort von Belang, wo es dezidiert um Vermittlung geht (und bei der Konzeption des Helden). Durch die Einführung der personifizierten Instanz der âventiure scheint abermals ein Verweis auf den Heilscharakter des als stets getrieben erscheinenden narrativen Prozesses vorzuliegen, wie ihn auch bereits das Bild des schellec hasen gezeigt hat. Spannenderweise setzt eben in jenem Moment die Selbstreflexivität des Erzählens ein, in dem gesagt wird, dass der Gegenstand der Erzählung ein disparater, man möchte eben geneigt sein zu sagen: ein paradoxer ist. Denn narrativer Gegenstand ist liebe und leide, fröud und angest zugleich. Anstelle üblicher Bescheidenheitstopoi steht im Prolog des Parzival nicht nur „der selbstbewusste Verweis des Erzählers auf drei andere, die seine Kunst kaum aufwiegen könnten“,89 sondern die Aufforderung aus dem einen Wesen der Erzählerfigur, der einen Figur, drei werden zu lassen (nu lât mîn eines wesen drî), transportiert implizit auch den christlichen Trinitätsgedanken, womit der narrative Diskurs abermals an den religiösen anknüpft. Die Erzählinstanz wird nach dieser Selbstaussage zum dreieinigen Verkünder der wunder (daz ich iu eine künden wil). Der Text macht deutlich, dass die Erzählerfigur eine mediale Position zwischen der Herrin der Geschichte, der âventiure, der Rezeptionsebene und einer weiteren Instanz einnimmt: worüber nämlich weder die Erzählinstanz noch die âventiure verfügen, sind die wunder. Diese wunder sind das Unfassliche, das worüber nicht verfügt werden kann. Das wunder verweist in diesem Sinne also auf einen Gottesbegriff, welcher es ermöglicht, Gott von der Welt zu unterscheiden und damit auf das Bild eines privilegierten Beobachtergottes. Gott ist die vollständige Kenntnis der Welt unterstellt und deshalb kann er deren Ordnung auch nicht stören.90 Das
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ein maere wil i’u wil niuwen, daz seit von grôzen triuwen, wîplîchez wîbes reht, und mannes manheit alsô sleht, diu sich gein herte nie gebouc. (4,09–4,13) Schu 2002. S. 63. Vgl. im Methodenkapitel auch das entsprechende Zitat: Luhmann 2002. S. 159. Diese Strukturbetrachtung des Wunders ist aber nicht nur aus einer systemtheoretischen Perspektive gegeben;
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wunder ist demnach auch der Ausdruck dessen, was in der göttlichen Ordnung bestimmt ist. Daraus lässt sich eine These formulieren, die im Folgenden anhand der Einzelbeobachtungen in den weiteren Kapiteln genauer in den Blick zu nehmen ist: Diese Analogie, nach welcher nämlich die Erzählinstanz für die erzählte Welt dieselbe Position bezieht wie Gott in Formen von religiöser Kommunikation, kann im Parzival als einem mittelalterlichen Text also nur dann funktionieren, wenn diese beiden Instanzen nicht zur gleichen Zeit präsent sind. Eine mögliche gleichzeitige Präsenz erfordert die Kreuzung einer Grenze, was entweder dazu zu führen scheint, dass die Erzählinstanz personalisiert wird oder Gott in die Immanenz eintritt, womit er aber selbst zu einer beobachtbaren Figur würde. Der Text findet für dieses Dilemma keine eigentliche Lösung, sehr wohl aber Umgangsweisen, die, und das lässt sich nun genauer fassen: in seiner speziellen Art des multiperspektivischen Erzählens, in Koinzidenz und Dynamik, zu suchen sind. Die bereits angesprochene Personalisierung der Erzählinstanz sowie die Einführung der âventiure als einer weiteren Instanz, die über die Geschichte verfügt, sind hierfür signifikante Beispiele. Zentral im Auge zu behalten sind daher die sich daraus ergebenden folgenden Fragen: An welchen Stellen und in welchen Erzählsituationen liegt die Konstruktion eines immanent-höfischen oder die eines transzendenten Beobachtergottes vor? An welchen die einer systemimmanenten höfischen Erzählinstanz? Oder: Wann, das heißt in welcher Situation, tendiert der Text dazu, die Erzählinstanz zum Gott der Erzählung zu machen, welcher sich dann als Schöpfer und Herr der Figurenwelt inszeniert; und zudem: Wann wird die Allmacht Gottes mit ihren Möglichkeiten über die Welt zu verfügen beschworen und wann beginnt die Erzählung angesichts der entsprechenden Konstellationen selbstreflexiv zu werden?
2. ich sage die senewen âne bogen – Selbstreflexivität höfischen Erzählens im Bogengleichnis Um ein weiteres wichtiges Beispiel, in dem das Erzählen selbst reflektiert wird, und das ebenfalls zu den am meisten diskutierten Stellen des Parzival gehört, handelt es sich beim sogenannten „Bogengleichnis“. Und auch hier ist es die Dynamik des narrativen Prozesses, die signifikant in den Vordergrund tritt. Diese poetologische Reflexion ist im V. Buch situiert, nachdem Parzival auf der Gralsburg eingekehrt ist, die Pracht und die Klage der Gralsgesellschaft sowie die blutende Lanze, die Jungfrauen und das Speisewunder des Grals – man ist durch die Erzählperspektive geneigt zu formulieren: mit großen Augen – bestaunt hat, und vgl. daher zum Begriff des Wunders als Machterweis Gottes auch: Angenendt 1998. Sp. 351: „Für die biblische Religionswelt ist Gott allmächtig. Seiner Macht sind keine Grenzen gesetzt; er hat alles geschaffen, erhält es weiter im Dasein und verfügt darüber; überall ist seine Hand am Werk und offenbart seine Größe; insofern ist das Wunder ‚normal‘“.
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schließlich die von ihm erhoffte Frage nicht gestellt wurde. Der Held ist bereits mit Herrschaftsschwert und Mantel ausgestattet, als die Gralsträgerin und ihre Frauen sich vor ihm verneigen und den Saal wieder verlassen. Als Parzival ihnen nachblickt, sieht er im Moment ihres Entschwindens durch den sich schließenden Türspalt auf einem Spannbett einen sehr alten, grauhaarigen Greis, der wider die Erwartung von außerordentlicher Schönheit ist. Er erspäht in der Kemenate den aller schoensten alten man des er künde ie gewan. (240,27f.)
Aus einer höfischen Perspektive geriert sich das Zusammenfallen von Schönheit und Alter als etwas, das nur als Paradoxie wahrgenommen werden kann. Dieser staunenswerte Anblick fügt sich somit ohne weiteres in die Reihe der von Parzival erlebten Gralswunder ein. Das Besondere dieser Widersprüchlichkeit geht einmal aus der Textstelle selbst hervor91 und zum anderen wird auch genau diese Gegensätzlichkeit als solche im späteren Gespräch mit Trevrizent wieder aufgenommen. In diesem Gespräch erst werden Parzival und die Rezipienten Auskunft über den Gral, seine wunder und das Herrschaftsgeschlecht von Munsalvaesche erhalten. Parzival formuliert in seiner Fragestellung innerhalb dieses Gesprächs genau dasselbe Oxymoron von Alter und Schönheit, wie es die Erzählinstanz zuvor in ihrer szenischen Beschreibung verwendet hat. Er beschreibt den wundersamen Widerspruch von Alter und Schönheit dort mit den Termini grâ und liehte: ‚wer was ein man lac vorme grâl? der was al grâ bî liehtem vel.‘ (501,20f.)
Diese Paradoxie scheint, wie sich im Folgenden zeigen lässt, auf der notwendigen Repräsentationsfähigkeit höfischer Herrschaftskörper zu beruhen: Der schöne Adlige trägt seine Herrschaftsfähigkeit gewissermaßen direkt am Körper.92 Der Glanz, der an seinem Körper erstrahlt, ist direktes Zeichen seiner (ge)rechten, gottgewollten Herrschaft. Die Semantisierungen schoenheit und liehtes vel scheinen hier deutlich auf diese soziokulturelle Herrschaftslogik des strahlenden Körpers, jenes auf Gott verweisende Zeichen und seine repräsentative Funktion, bezogen zu sein. Es ist das Bild des splendor imperii, das diesen Konnex überaus anschaulich zusammenfasst. Wenzel schreibt hierüber: „Das ist bereits in der Antike eine verbreitete Vorstellung, die zunächst die Epiphanie eines Charismas meint, das auf göttlichen Sippen und Geschlechtern ruhend gedacht wurde; in christlicher Überformung ist es die genealogische Disposition dafür, den Glanz (die Gnade) Gottes und seiner Kraft bevorzugt aufnehmen zu können und durch 91 92
So auch: Schu 2002. S. 172. FN 142. Diese These wird insbesondere in der Untersuchung der Funktionalität des Herrschaftsgeschlechts auf der Gralsburg eine prominente Rolle spielen. Eine vervollständigende Argumentation hinsichtlich der Funktion der Herrscher von Munsalvaesche wird daher dann an dieser Stelle der Analyse erfolgen. Zum Zusammenhang von Adel und Schönheit vgl. auch Bumke 2002. S. 419–425.
Selbstreflexivität höfischen Erzählens im Bogengleichnis
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die Ausstrahlung des herrscherlichen Wirkens zur Erscheinung zu bringen“.93 Dieser Vorstellung des strahlenden und kraftvollen Leibes ist das Attribut der Jugend bereits impliziert,94 so dass der Aspekt des jungen Körpers für Andauer und Kontinuität der Herrschaft bürgt, die in diesem Bild immer notwendig mitzudenken sind. Dieses wundersame Bild des schönen und zugleich alten Leibes veranlasst die Erzählinstanz darüber hinaus, nochmals ausdrücklich auf den Aspekt des merkwürdig Paradoxen hinzuweisen, indem sie nämlich anmerkt, dass sie in ihrer Rede keineswegs übertreibe, wenn sie diesen schoenen alten man als „grauer als der Nebel“95 bezeichne: ich magez wol sprechen âne guft, er was noch grâwer dan der tuft. (240,29f.)
Auf diesem Körper werden folglich (durch die vom Text derart inszenierte Teilhabe an der Wahrnehmung des Protagonisten von Schönheit und Alter) zwei sich grundsätzlich entgegenstehende Herrschaftsattribute visualisiert. Für die Perspektive Parzivals, der hier als Beobachter erster Ordnung des höfischen Systems fungiert, muss diese Visualisierung zwangsläufig in einer Paradoxie münden, für welche religiöse Kommunikation mit ihrer Möglichkeit der Auslagerung an die Transzendenz natürlich potentiell anschlussfähig ist. Im Fokus von Religion liegt an dieser Stelle eine solch szenische Konstellation vor, die nach den bisherigen Ergebnissen entweder das Auftreten Gottes, die Aktualisierung Gottes als Kontingenzformel, erwarten lässt oder aber es ist davon auszugehen, dass die Erzählinstanz als personalisierte Figur das Erzählen selbst zu reflektieren beginnt. Ich werde im Folgenden erstens versuchen zu zeigen, dass beide Möglichkeiten des Operierens auf die auffällige Irritation des zugrundeliegenden Paradoxons im Parzival aktiviert werden, sowie zweitens, dass beide Wege, nämlich sowohl der tendenziell an Selbstreferentialität als auch der an tendenzieller Fremdreferentialität (im Sinne einer Auslagerung) orientierte Weg, gleichermaßen narrative Dynamiken auszulösen vermögen. Es ist der paradox gestaltete Körper Titurels, des Ahnherrn des Gralsgeschlechts, den der Protagonist und der Rezipient als Beobachter erster Ordnung gleichermaßen als wunder bestaunen können. Was in diesem Bild an Widersprüchlichem zusammengebunden ist, nimmt die Erzählinstanz zugleich im Bogengleichnis als Ausgangspunkt, um die eigene Erzählung und ihre Konsistenz zu reflektieren. Dabei enthält sie jedoch die wesentliche Information, dass dieser paradox 93 94
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Wenzel 1990. S. 179. In der höfischen Literatur zeigt sich dies z. B. an den Protagonisten der Artusromane, die in jungen Jahren ihren ersten Bewährungsweg zur Herrschaft absolvieren, oder beispielsweise auch an Alexander, der als jugendlicher und zugleich idealer Herrscher dargestellt wird. In D wird anstatt der grauen Farbe Titurels „wizer als der Nebel“ eingesetzt, was auf einer farbsymbolischen Ebene auf die Analogie des Ahnherrn des Gralsgeschlechts zum Gottvatertum und dem göttlichen Licht verweist und damit den religiösen Bezug bereits auf der Wortebene unübersehbar macht.
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gestaltete Körper auf ein auf Gott verweisendes Gralswunder rekurriert, der Beobachtungsperspektive erster Ordnung des höfischen (Text-)Systems vor. Diese Perspektive verlangt eigentlich aufgrund des Staunens nach einer sofortigen Klärung des Wundersamen. Doch die derzeit reflektierende Erzählinstanz erklärt hier ganz unvermittelt, dass das maere erst später davon berichten wird: Wer der selbe waere, des freischet her nâch maere. (241,01f.)
Die Beantwortung dieser Frage nach dem Wundersamen und damit die religiöse Erklärung des wunders, das dem Körper des Ahnen des Geschlechts der Gralsherrscher eingeschrieben ist, erfährt Parzival (und mit ihm der Rezipient) erst in Fontâne la salvâtsche, Trevrizents Klause.96 Die Wiederaufnahme dessen im Gespräch mit Trevrizent wird durch die Wiederholung der Terminologie der maere verdeutlicht, welche die Geheimnisse des Grals beinhalten.97 Diese maere werden von der Figur des Trevrizent offenbart, was bedeutet, dass der Text die Deutung des wunders und damit die Verhandlung des religiösen Momentes gezielt auf der Figurenebene stattfinden lässt, denn die Erzählinstanz erklärt sich in der offenbarenden Figurenrede Trevrizents ausdrücklich als absent, wenn sie formuliert: an dem ervert nû Parzivâl diu verholnen maere umben grâl. (452,29f.)
Der Text bestätigt diese Ankündigung bloßer Figurenrede durch eine stringente Dialogstruktur, die an keiner Stelle von der ansonsten mitunter recht kommentierungsfreudigen Erzählinstanz unterbrochen wird. Die Partizipation am Religiö96
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Dass das Erzählen von den wundern dort wieder aufgenommen wird, kündigt der Text allerdings auch schon zu Beginn des IX. Buches an, denn dort dringt (in höfischer Art und Weise) Frau âventiure in das Herz der Erzählinstanz, um von den Gegebenheiten um den Gral zu berichten: ‚Tuot ûf.‘ wem? wer sît ir? ‚ich wil inz herze dîn zuo dir.‘ sô gert ir zengem rûme. ‚waz denne, belîbe ich kûme? mîn dringen soltu selten klagn: ich wil dir nu von wunder sagn.‘ (433,01–06) Der Terminus des herze verdeutlicht bereits hier, dass es bei dieser âventiure, der maere umben grâl, um mehr geht als um eine bloße Lehre: Der Verstand und alle Sinne müssen an ihr beteiligt sein. Ihre Anforderung ist es, ins herze zu dringen. Erst dann ist sie bereit, der Erzählinstanz gleichermaßen wie den Rezipienten Kunde zu tun über den Verbleib Parzivals: nu tuot uns de âventiure bekant … (434,11) Vgl. zur Verfügungsgewalt der Erzählinstanz auch Schmid 2002. S. 96: „Wenn hier die personifizierte âventiure beim Erzähler anklopft, kommt sie gerade nicht als eine gegebene materia daher, die von einem artifex neu traktiert werden möchte“. Darüber, dass die Erklärung des paradox strukturierten Bildes im IX. Buch in Trevrizents Klause erfolgt und damit die Verbindung zum Bogengleichnis hergestellt ist, ist sich auch die Forschung im Allgemeinen einig. So z. B.: Kern 2002. S. 47f.; und auch: Schu 2002. S. 172.
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sen bedeutet für das an Fremdreferenz orientierte Beobachten des höfischen (Text-)Systems, welchem hier konkret die Form des Dialogs als erzählerisches Mittel zugewiesen ist, die notwendige Auslagerung selbstreferentieller Beobachtung, die sich genau an dieser Stelle in der völligen Abwesenheit der Erzählinstanz niederschlägt; d. h. sie kann gar nicht hier, sondern muss an einer anderen Stelle stattfinden. Über das Paradoxe an der beobachteten Kemenaten-Szene weiß Trevrizent in seinem Gespräch mit Parzival schließlich Folgendes zu berichten: der wirt sprach ‚daz was Titurel. der selbe ist dîner muoter an. dem wart alrêrst des grâles van bevolhen durch schermens rât. ein siechtuom heizet pôgrât treit er, die leme helfelôs. sîne varwe er iedoch nie verlôs, wand er den grâl sô dicke siht: dâ von mager ersterben niht …‘. (501,22–30)
Trevrizent gibt schließlich die Gegenwart des Grals als Begründung für das wunder an. Der Verweis auf Gott wird damit durch eine Textfigur geleistet. Von Trevrizent erfährt man, dass es die Kraft des Grals ist, sein wunder-Wirken, das Immanenz mit Transzendenz in Verbindung zu bringen vermag, die den Ahnherrn des Herrschaftsgeschlechts von Munsalvaesche trotz seines Siechtums nicht sterben lässt. Diese Deutung ist mithin als dezidiert christliche zu fassen, spielt doch das paradoxe Zusammenbinden des sterblichen Leibes mit der Unsterblichkeit und dem ewigen Leben vor Gott auf ein grundsätzlich christliches Paradigma an, nämlich das Axiom des christlichen Glaubens, nach dem Christus durch den Tod des Leibes zum ewigen leiblichen Leben gelangt, und mit ihm alle Gläubigen.98 Symbolisch für dieses christliche Paradoxon wird Titurel bereits zuvor durch die Erzählinstanz als grâwer dan der tuft (240,30) beschrieben. Diese Coloration seines Leibes lässt sich mit Folgendem interpretieren: „Die Mischung von Weiß und Schwarz bedeutet in der christlichen Symbolsprache die Auferste98
Einschlägig für diese religiöse Vorstellung sind die Ausführungen Paulus über den Auferstehungsleib. Vgl. 1. Kor. 15, 35–38. Vgl. außerdem dazu Walker Bynum 1996. S. 239: „Ein Großteil der Debatte um die Auferstehung des Leibes und die Beziehung zwischen Leib und Seele dreht sich nicht um einen Gegensatz zwischen Leib und Seele (obwohl Leib und Seele damals natürlich als unterschiedene Entitäten aufgefaßt wurden im Gegensatz zu den meisten Philosophen der Gegenwart), sondern um die Kontinuität des Leibes“; sowie S. 240: „Die Kontinuität des Körpers (wie also durch Zerfall und Wiederzusammenfügung hindurch Identität bestehen bleibt) manifestierte sich als Thema nicht nur in den bizarren Grenzfällen, die von den scholastischen Theologen erörtert wurden, sondern auch in der Glaubenspraxis – im Kult um Heilige und Reliquien, im Wandel von rechtlichen, medizinischen und Begräbnisprozeduren in dieser Zeit, in den Geschichten über Wunder, die damals bei Priestern und Gemeinde beliebt waren. Es bestand also m. E. eine Verbindung zwischen der damaligen kirchlichen Praxis und den gelehrten Debatten im Elfenbeinturm“.
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hung der Toten. Die Trauer ist erst schwarz, dann grau und zuletzt weiß, so symbolisieren die Farben die Erhebung der Seele aus dem Grab zur Unsterblichkeit“.99 Gleichzeitig wird an diesem Körper ablesbar, dass diese Christusanalogie noch nicht letztgültig positiv eingelöst ist. Die religiöse Wirksamkeit bedarf noch der Erlösung, deren Notwendigkeit sich analog hierzu am gesamten Körper des Gralsgeschlechts abgebildet findet: So wie Titurel noch nicht gestorben ist, hat auch Parzival seinen Platz als Gralskönig noch nicht eingenommen.100 Trevrizents Aussagen zu diesem paradox erscheinenden Körper des Ahnherrn von Munsalvaesche lassen erkennen, dass sie aus der Perspektive des religiösen Systems erfolgen. Ihr Kern ist die Bezugnahme auf Gott als Kontingenzformel, mit Hilfe derer die grundlegenden Unterscheidungen von Alter und Schönheit, Leben und Tod als Einheit behandelt werden können. Ihr wesentlicher Inhalt zielt, wie das Bild besagt, auf den christlichen Erlösungsgedanken. Trevrizent als Figur des Textes obliegt es also, religiöse Deutungen vorzunehmen. Auffällig ist, dass die Partizipation an religiöser Kommunikation hier folglich gezielt auf die Figurenebene gelagert zu sein scheint. Es ergibt sich folgendes Bild: Als Beobachterhaltung bleibt auf diese Weise die Beobachtung zweiter Ordnung des höfischen (Text-)Systems für den Rezipienten erhalten, indem ihm weiterhin offen steht, eine Position zu beziehen, von der aus er die Formen der Einschreibungen des Textes hinsichtlich dieser Auslagerung an das religiöse System wahrnehmen kann. Für den Rezipienten als höfischer Beobachter zweiter Ordnung, nach Eco: für den reflektierten Leser, der auf die Strukturen des Textes achtet, wird der Umgang des höfischen (Text-)Systems mit religiöser Kommunikation einsehbar, auch und gerade weil der Parzival den ihm inhärenten Verweis auf seine Konstruiertheit derart markiert. Die auf Eindeutigkeit zielende Lehre ist als Teil der Figurenwelt formuliert, womit der Text auf diese Weise hier das Dilemma, über Gott zu sprechen, löst. Innerhalb der vermittelten religiösen Logik sind die Erzählinstanz und der Protagonist zusammen mit dem Rezipienten Beobachter erster Ordnung: Sie können der Auslegung Trevrizents Glauben schenken oder nicht. Die Reflexion der Strukturen religiöser Kommunikation, also eine Beobachtung zweiter Ordnung, wie Trevrizent sie vollzieht, steht ihnen im Religiösen nicht zur Verfügung. Ihre Möglichkeiten zur Beobachtung zweiter Ordnung bleiben Beobachtungen aus der höfischen Perspektive. Dass Trevrizent hier nun eine Lehrerrolle einnimmt, hat dabei auch zur Folge, dass allein sein Heil gefährdet ist. Diese Gefahr besteht aus religiöser Sicht in der Beobachtung Gottes, denn diese ist eine klassisch theologische Aufgabe, die jeden Unwissenden in die
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Lipffert 1976. „Grau“, S. 88. So wie der Leib Christi ist auch der Titurels als symbolischer Leib hier als ein umfassender zu begreifen. Er fungiert hier in erster Linie als Bild des Sippenkörpers des Herrschaftsgeschlechts von Munsalvaesche und inkorporiert in dieser Hinsicht auch den unvollständigen Leib Parzivals. Auf das wunder-Wirken des Grals und den Sippenkörper des an Gott gebundenen Herrschaftsgeschlechts werde ich in Kapitel IV: 1.3. und 1.4. ausführlich eingehen.
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Verdammnis stürzen lassen kann.101 Trevrizent verfügt über ein spezifisches religiöses Wissen, mit dem er umgeht und deutet. Er erfüllt also mit der theologischen Deutung eine Position als Beobachter zweiter Ordnung des religiösen Systems,102 womit (auch nur) sein Heil ganz essentiell auf dem Spiel zu stehen braucht. Diese fremdreferentielle Operation des höfischen (Text-)Systems, deren Funktion eine Auslagerung innerhalb des Textes beschreibt und welche als eine Konzeption des höfischen Systems, mit Religion umzugehen, verstanden werden kann, lässt sich als eine dem Parzival eingeschriebene Laientheologie begreifen. Höfische Laientheologie bezeichnet demnach die Art und Weise, wie der höfische Text an der Funktion des Religiösen partizipiert und diese gewissermaßen inkorporiert.103 Sie ist im Parzival durch den innovativen Umgang mit dem Religiösen charakterisiert, denn mit diesem innovativen Umgang höfischen Erzählens gelingt es ihm in seiner multiperspektivischen Form, der der Rechtgläubigkeit verpflichteten kirchlichen Theologie einen eigenen religiösen Entwurf entgegenzustellen. Man kann aus der Installation von vereindeutigender religiöser Lehre auf der Figurenebene an dieser Stelle bereits einen vorläufigen Schluss ziehen: Religiöse Kommunikation erweist sich als wichtiger Bestandteil des Textes, allerdings – und das kann nicht deutlich genug betont werden – weist er ihr einen sehr bestimmten Raum der Auslegung und Deutung zu, welchen er wiederum selbst zum Gegenstand der Beobachtung macht.104 Damit findet sich religiöse Kommunikation zwar im Text wieder, allerdings entwirft der Text hierfür eben einen spezifischen Raum, in dem er Religion beobachten kann. Durch seine Multiperspektivität wird er aber selbst nicht religiös – nicht im Sinne eines heiligen Textes, der ja darauf ausgelegt ist, Heil durch Eindeutigkeit zu vermitteln. Die Erzählung von den wundern liegen stattdessen als maere vor, als maere umben grâl, die multiperspektivisch angelegt sind und von der Erzählinstanz in ihrer 101
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Zur Beobachtung Gottes vgl. im vorhergehenden Methodenkapitel Kapitel II: 1.; sowie: Luhmann 2002. S. 163. Theologie begreife ich als die Reflexion des religiösen Systems aus dem religiösen System, also als eine Beobachtung zweiter Ordnung. Dieses Verständnis deckt sich nicht zwangsläufig mit den konkreten Überlegungen Luhmanns, wenngleich seine Idee der Konstitution des Teufels aus der Beobachtung Gottes in meinen Augen im Sinne eines Negativwertes dafür anschlussfähig scheint. Entsprechend dem Forschungsstand ist ‚Laientheologie‘ bisher nicht wirklich aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive, also mit der Frage nach den Textstrategien im Umgang mit dem Religiösen, erörtert worden, sondern neben dezidiert einflussphilologischen Untersuchungen finden sich lediglich noch Überlegungen zur Verbindung des Textes mit der zeitgenössischen ‚Laienbewegung‘ oder ‚Laienfrömmigkeit‘. Vgl. hierzu z. B. Bumke 2004. S. 131; und Haas 1965; hier insb. S. 118. Deshalb ist es auch möglich, Trevrizent aus der Perspektive des höfischen Systems später als ‚Irrenden‘ zu bezeichnen. Die Bezeichnung als „Lügner“ (so z. B. Bumke 2004. S. 119) lehne ich ab, weil es der Art der Narration offensichtlich auf eine plurale Perspektivierung ankommt und nicht auf eine Vereindeutigung des Sinnhorizonts, wie sie dieser Begriff nahe legt.
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Referenz darauf im Bogengleichnis schließlich auch einen selbstreflexiven Umgang mit dem Erzählten abverlangen.105 Besondere Aufmerksamkeit erregt die sprachlich-visuelle Regie des Textes bei Parzivals Blick in Titurels Kemenate auch deshalb, weil hierauf eine Personalisierung der Erzählinstanz erfolgt. Nachdem die Beschreibung zuvor das nachgezeichnet hat, was mit den Augen Parzivals als wunder zu bestaunen war, wechselt nun plötzlich die Perspektive: Die Erzählinstanz tritt durch eine kommentierende Anmerkung in einen anderen Erzählraum ein (241,29f.) und leitet damit einen poetologisch selbstreflexiven Part der Erzählung ein. Es handelt sich neben der Verlagerung der religiösen Deutung auf die Figurenebene nun um die zweite Möglichkeit des narrativen Umgangs mit dem Unverfügbaren, dem zu bestaunenden wunder: Die Erzählung fokussiert ab diesem Punkt nun nicht weiter die paradoxe Beobachtung aus der ersten Ordnung des höfischen Systems – diese wird wie gezeigt erst im IX. Buch in Trevrizents Klause wieder aufgenommen werden – sondern die Beobachtungen des höfischen Erzählens werden selbst zum Gegenstand von höfischer Beobachtung gemacht.106 Nach der Aussage der hervorgetretenen Erzählinstanz ist es das maere, das im weiteren Verlauf erklären wird, wer dieser schoene alte man auf dem Spannbett in der Kemenate neben dem Festsaal der Gralsburg nun sei (241,01f.). Auf dieser Ebene wird nun nicht das Wirken Gottes als Kontingenzformel vorgeführt, sondern stattdessen nimmt die Erzählinstanz eine privilegierte Beobachterposition ein, die sie mit der Verfügungsgewalt über die Welt der Figuren ausstattet. Nur so kann sie die Aussage treffen, Herrscher, Burg und Land würden von ihr genau zur rechten Zeit genannt werden: dar zuo der wirt, sîn burc, sîn lant, diu werdent iu von mir genant, her nâch sô des wirdet zît, bescheidenlîchen, âne strît unde ân allez für zogen. (241,03–07)
Herrscher, Burg und Land werden wenig später tatsächlich zum ersten Mal genant werden, allerdings nicht von der Erzählinstanz, sondern von Parzivals Cousine Sigune, also wieder von einer Figur. Sigune berichtet Parzival schließlich vom Königreich Terre de Salvaesche, Munsalvaesche, Anfortas und dem Gralsgeschlecht. Über den im Bogengleichnis verwandten Terminus des genant-Seins wird in der Forschung durchaus kontrovers diskutiert. Umstritten ist, ob Sigune bereits einen ersten Teil der versprochenen Angaben einlöst,107 wofür die Wiederaufnahme des 105
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Die Multiperspektivität des Textes ist zuvor schon deutlich geworden. Hier wird sie allein schon durch die Verwendung des Plurals von maere besonders betont. Das heißt, dass es hier für den Text nun notwendig ist, eine Beobachterebene zweiter Ordnung zu installieren. So z. B. Nellmann 1973. Nellmann geht aufgrund von Sigunes Angaben davon aus, dass Wolfram sein geradliniges Erzählen einlöst (S. 90f.).
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Terminus genant (251,02) sprechen mag. Dagegen gehalten wird mit dem Argument, dass es sich in Sigunes Rede um ein reines Namensnennen ohne weitere Sinnstiftung handelt.108 Diese zweite Interpretation zielt maßgeblich darauf ab, dass Parzival mit den erhaltenen Informationen zu diesem Zeitpunkt nichts anzufangen weiß, da ihm schlicht der größere Bedeutungszusammenhang fehlt. Es ist mir nun nicht daran gelegen, einen der Standpunkte eindeutig zu favorisieren. Stattdessen soll hier der Versuch unternommen werden, einen Interpretationsansatz zu entwerfen, der beide zweifellos nachvollziehbaren Positionen im Hinblick auf den Ausgangspunkt dieser Untersuchung, dem Erzählen und Beobachten von wundern als dem Unverfügbaren, in eigener Weise perspektiviert. Der wesentlichen Diskrepanz zwischen der Aussage der Erzählinstanz, wirt, burc und lant würden von ihr genant werden, und dem Faktum, dass diese Nennung aus dem Mund von Figuren zu vernehmen ist, namentlich durch Sigune und Trevrizent erfolgt, ist in den bestehenden Untersuchungen nur sehr geringe bis gar keine Beachtung geschenkt worden. Aussagen mit solch religiösem Konnex werden hier aber offenkundig von Figuren getroffen, nicht von der Erzählinstanz. Will man die Erzählinstanz nun nicht einfach bezichtigen, ihr Versprechen gebrochen zu haben, muss dieser Diskrepanz auf andere Weise Rechnung getragen werden. Ausgangspunkt hierfür bleibt das paradoxe Bild des Ahnen der Gralsdynastie, das, wie gezeigt, die Personalisierung der Erzählinstanz zur Folge hat. An der Stelle, an der sie davon spricht, die Geschichte der Herrscher von Munsalvaesche zu erzählen – denn nichts anderes verbirgt sich hinter dem Terminus des genant-Seins – inszeniert sie sich als Herr über die Figurenwelt. Sie nimmt dabei die besondere Position des einen paradoxen Beobachters ein,109 die ihr zu formulieren erlaubt, sie verfüge über den Gang der Geschichte: Sie wird dann davon berichten, wenn die rechte Zeit dazu gekommen ist (her nâch sô des wirdet zît), und zwar auf verständige, angemessene Weise (bescheidenlîchen), widerstandslos (âne strît), aber auch ohne mit dem Erzählen davonzueilen und Vorauszugreifen (unde ân allez für zogen).110 Die Erzählinstanz führt mit der selbstbezogenen Aussage des genau richtigen Erzählens, des Erzählens ohne unnötige Verzögerung und ohne überstürztes Vorauseilen, des Erzählens, an dem alles zur rechten Zeit und am rechten Ort genant wird, demonstrativ ihre Verfügungsgewalt über die 108 109 110
So z. B. Green 1982. S. 28f. Hierbei sei auch auf das Kapitel II: 4. zurückverwiesen. Vgl. zu dieser Übersetzung auch die Argumentation Schus 2002. S. 173f.: vür bei Verben der Bewegung meint zumeist ‚vor etwas hin‘ und diese Bedeutung verleiht „der erzählerischen Bestimmung mehr Profil […]; schließlich verweigert der Erzähler gerade die sofortige Aufklärung, da ist es wahrscheinlicher, daß er einen Vorgriff ablehnt, als mehrfach zu betonen, daß er ohne jede Verzögerung erzählen werde. […] Die Bestimmung erfolgt positiv, wenn mit dem Begriff bescheidenlîchen das Erzählen zum rechten Zeitpunkt bezeichnet wird, und negativ, indem die beiden Alternativen benannt werden, nämlich ungebührliches Hinauszögern (âne strît) und ebenfalls unangemessenes Vorgreifen (ân allez zogen). Der Erzähler betont dadurch seinen Überblick über die Handlung und seine Souveränität zu entscheiden, wann welche Information am rechten Platz ist“.
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Geschichte vor.111 Der Text stattet sie mit jener privilegierten Beobachterposition aus, die Paradoxien handhabbar zu machen vermag, und die strukturell der privilegierten Beobachterposition Gottes gleichkommt. Wie Gott im Religiösen verleiht hier die omnisziente Erzählinstanz im höfischen (Text-)System Handlungsfähigkeit und garantiert den Fortgang der Geschichte. Nur diese Beobachterposition erlaubt es, diese ursprünglich widersprüchliche Aussage über das richtige Nennen als sinnstiftendes Element des Textes zu erfassen. Wenn sich die Erzählinstanz aufgrund ihrer Verfügungsgewalt nun also als Gott der Geschichte geriert, ist es unter der veranschlagten Prämisse eines einzigen paradoxen Beobachters des Systems nur folgerichtig, dass Gott in der geschilderten Selbstreflexion der Erzählform absent bleiben muss. Und im Gegenzug obliegt es einer so gestalteten Erzählinstanz nicht, religiöse Deutungen vorzunehmen. Konkret bedeutet dies hier: Da im System nur immer ein solch paradoxer Beobachter in der Kommunikation vorhanden sein kann, muss folglich Gott im Bogengleichnis selbst abwesend sein. Dementsprechend wird im Folgenden diese Positionierung der Erzählinstanz auch intensiv bestärkt, wenn nun das Ich der Erzählinstanz ganz deutlich in den Vordergrund tritt112 und sie selbstbewusst formuliert: ich sage die senewen âne bogen. (241,08)113
In der poetologischen Selbstreflexion wird die Erzählform mit einer Bogensehne metaphorisiert. Diese Aussage scheint dabei der Aussage des Prologs, das Erzählverfahren sei ein vliegendes bîspel, das in erster Linie über seine Dynamik charakterisiert sei, zunächst einmal zu widersprechen. Es fällt auf, dass die Aussage, die dieses Bild enthält, wiederum mit der Metapher der Jagd vermittelt wird. Im Prolog war es das Bild des bergauf flüchtenden Hasen, mit dem die Sinnsuche im Text nachgezeichnet wurde, und hier ist es nun die Sehne eines 111
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Hier tritt die Erzählinstanz also in einer Rolle auf, die sich von der Ebene der Figuren und der der Rezipienten distanziert bzw. sich sogar über sie erhebt. Das geschieht natürlich nicht zweckfrei: Denn Rezipient, Protagonist und Erzählinstanz befinden sich ja auf derselben ‚Queste‘, der Jagd nach Sinn/Heil. Natürlich ist dieser Terminus nicht im Sinne von Bewusstsein oder irgendwie psychisch zu verstehen. Diese Zuschreibung soll lediglich den auffälligen und wirksamen Inszenierungscharakter unterstreichen. Die Übersetzung dieser Zeile ist in der Forschung äußerst umstritten. Ich favorisiere in diesem Fall den Vorschlag von: Kern 2002. S. 53: „Ich erzähle die Sehne âne bogen [was heißen kann: ohne Krumm-Sein und ohne Krumm-Machen, d. h. ohne Krümmung und ohne Beugen; der Sinn von 241,8 ist also: Meine Erzählung ist wie die Sehne, die weder krumm ist noch gebeugt wird]“. Darüber hinaus findet sich in Gg die Variante ich sage die senwê ungelogen. Vgl. hierzu Schu 2002. S. 174. FN 153: „ … d. h. in Gg findet eine ausdrückliche Verknüpfung von Erzählverfahren und Wahrheitsdiskurs schon an dieser Stelle statt; in der Version von D ist diese erst aus den Versen 241,15f. abzuleiten, wenn dem krumben Erzählen ein umbe leiten (bzw. umbe fuoren in G) zugesprochen wird. […] Die Konjektur von W.J. Schröder (1956), der für âne bogen ame bogen einsetzen will (S. 456), ist aufgrund dieser Variante jedoch nicht zu rechtfertigen. Zudem widerspricht dem die Aussage an späterer Stelle: ez ist niht krump alsô der boge,/ diz maere ist wâr unde sleht (805,14f.). Aus dem selben Grund lehnt auch Bumke (1970), S. 296, die Konjektur ab“.
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Jagdbogens, mit welcher das Erzählverfahren verglichen wird. Es scheint daher auch in dieser Jagdmetapher abermals um die adäquate Vermittlung von Sinn zu gehen. Die Sehne des Bogens wäre dann ein bîspel im Umgang mit der Sinnvermittlung. Und so heißt es auch: diu senewe ist ein bîspel. (241,09)
Die Frage, die der Text hier mit dem Bild der Bogensehne, seinem weiteren bîspel, diskutiert, ist also die Frage nach der Möglichkeit des Umgangs mit der irritierenden Erzählsituation, die in genau jenem Moment entsteht, wenn ein derartig paradox strukturiertes Moment wie beim Blick in Titurels Kemenate vorliegt. Das Besondere des Bogenbildes ist dabei, dass es die Paradoxie selbst wieder aufnimmt, indem die Sehne ohne Bogen durch die Doppeldeutigkeit des Wortes Bogen zugleich als vom Bogen losgelöste und damit als chaotisch dargestellte Schnur beschrieben wird. Die Antwort auf die gestellte Frage ergibt sich aus den entsprechenden Textbezügen: Folgt man der Parallelität des Versaufbaus, so ergibt sich, dass die senewe sich auf das Positivum der Aussage über die Erzählform bezieht, nämlich auf das zuvor genannte bescheidenlîche( ) Erzählen sô des wirdet zît, wohingegen âne bogen offensichtlich mit der ex negativo Bestimmung des Erzählens ohne Vorgriff (ân allez für zogen) verknüpft ist. Das zweite Negativum, von dem sich die Erzählinstanz abgrenzt, nämlich des Erzählens mit strît im Sinne von grundsätzlich hinauszögernden Verhandlungen, stellt die zweite Möglichkeit neben dem Vorausgriff eines nicht angemessenen Erzählens zum rechten Zeitpunkt dar.114 Die folgenden Verse konzentrieren sich daraufhin aber nicht in gleichem Maße auf beide als negativ bestimmten Erzählformen, sondern das Vorauseilen in der Erzählung ist als das deutlich prominentere Abgrenzungsobjekt gezeichnet. Das Bild des Bogens und der Bogensehne wird im Folgenden entsprechend erweitert. Der Bogen und damit das krumme Erzählen über Vorausgriffe in der Geschichte mögen zwar als schnell erscheinen,115 aber dem Gejagten gelingt es doch noch immer zu entfliehen: 114
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Insoweit teile ich hier den Wortfelder untersuchenden Ansatz von Spitz, der für das Erzählen zum rechten Zeitpunkt folgenden religiösen Kontext aufmacht: „Die Adverbien bescheidenlîchen âne strît und âne allez für zogen lassen sich als Angaben zur Erzähltechnik auffassen, doch geht die Modalität des Erzählens in die Modalität des Erzählten über, so daß das darzustellende Geschehen in seiner Qualität bezeichnet wird. Dies gilt im besonderen für bescheidenlîchen. Die Verwendung des Verbums bescheiden im ‚Parzival‘ zeigt, daß das ‚Bescheidgeben aufgrund von Unterscheidungsvermögen und Bescheidwissen aufgrund von Belehrung‘ in einer Reihe von Belegen eine Affinität zum Erkennen der von Gott gesetzten Ordnung besitzt, die vom Erzähler vornehmlich, aber nicht ausschließlich, in der auf Gott bezogenen Verbundenheit der Gralssippe gesehen wird“ (Spitz 1975. S. 250). In der Forschung ist viel darüber diskutiert worden, weshalb gerade der Terminus snel vorliegt. Es scheint aber deutlich, dass damit in erster Linie Geschwindigkeit gemeint ist, was in Bezug auf die Bestimmung des Erzählverfahrens nur den Vorausgriff im Erzählen bezeichnen kann, da die Rezipienten damit ‚schnell‘ aufgeklärt werden.
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nu dunket iuch der boge snel: doch ist sneller daz diu senewe jaget. (241,10f.)
Die Wiederaufnahme sowohl des Jagdbildes als auch des spezifischen Terminus bîspel aus dem Prolog macht nun letztendlich deutlich, dass es sich bei demjenigen, das von der Sehne gejagt wird und das zu schnell für den Bogen ist, abermals um Sinn handeln muss. Bereits in der beobachtbar gemachten Verhandlung von Sinnvermittlung im Prolog war das vliegende bîspel […] gar ze snel. Wenn hier nun die Sehne als das rechte Instrument und damit die rechte Art und Weise des Erzählens vorgestellt wird, um den Sinn der Geschichte zu bejagen, liegt es sehr nahe, die Lehre des vliegenden bîspels nochmals als Deutungsfolie heranzuziehen. Darin wurde ja explizit dazu aufgefordert, die Beweglichkeit von Sinnvermittlung zu studieren, um insbesondere auch in heilsgeschichtlicher Perspektive, die der Text im Prolog eröffnet hat, nicht fehlzugehen. Mit den Worten des Prologs könnte man daher für das Bogengleichnis formulieren, dass es die tumben sind, denen die bogenhafte Erzählung als adäquate Sinnvermittlung erscheint. Das snelle Vorgreifen erscheint zwar als attraktive Möglichkeit, Informationen zu erhalten, und in gewisser Weise auch die Neugier des Beobachtenden der paradox strukturierten Situation zu befriedigen, aber der rechte Weg, das richtige Erzählen, das Erzählen âne bogen zur rechten Zeit und in angemessener Art und Weise, vermag es allein, die Beobachter (Zuhörer und Leser) vor der Verdammnis zu bewahren. Anzumerken ist außerdem, dass mit dem Rückbezug auf das Bild des Bogenschießens, in dem etwas zu bejagen versucht wird, der Bogen aber als nicht schnell genug erkannt wird, nicht zwangsläufig behauptet wird, dass es der Sehne gelingt.116 Ob der Sinn, bzw. das Heil, überhaupt zu bejagen ist, wird hier völlig 116
Vgl. hierzu Schu 2002. S. 184f.: „Es ist bereits mehrfach in der Forschung bemerkt worden, daß die Schnelligkeit von Bogen und Sehne nicht direkt miteinander verglichen werden, sondern dem schnell erscheinenden Bogen die größere Schnelligkeit dessen entgegengesetzt wird, daz diu senewe jaget. Seit Martin in seinem Kommentar die Auffassung vertreten hat, dies sei der Pfeil, haben sich die meisten Interpreten dieser Meinung angeschlossen. Lediglich Walter Schröder stößt sich an der Formulierung und schlägt vor, ‚wörtlich‘ zu übersetzen und unter dem gemeinten Objekt das Wild zu verstehen. Alle Interpreten sind aber einhellig der Meinung, daß das Umschriebene auf der Sinnebene die Geschichte meine“. Aus den aus der Analyse gewonnenen Einsichten scheint mir die Ablehnung der herrschenden Forschungsmeinung zwingend. Stattdessen ist die folgende Beobachtung Schus zu unterstreichen, die hierzu ebenfalls den Prolog mit in den Blick nimmt. Schu leitet daraus aber keine weiteren Konsequenzen für religiöse Textbezüge ab, denn sie bleibt in ihren Überlegungen streng auf den literarischen Diskurs beschränkt (auf eine Trennung also, die von mir nach den festgestellten Koinzidenzen unmöglich aufrecht erhalten werden kann). Sie schreibt: „Daß eine Parallele zum Bogengleichnis besteht, macht zum einen die Wortwahl deutlich und zum anderen der Kontext, da es sich in beiden Fällen um Textstellen handelt, die der poetologischen Selbstreflexion dienen. Wenn aber im Prolog die schwer faßbare Bedeutung im Bild des aufgescheuchten Hasen symbolisiert wird, so ist zu erwägen, ob nicht auch im Bogengleichnis das Wild mit dem gemeint ist, was schneller ist. Setzt man jedoch für Wild ‚Geschichte‘ ein, so zielt man gerade an der besonderen Pointe der Aussage vorbei, da die Tatsache,
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offen gelassen. Diese Uneindeutigkeit in der Form der Sinnstiftung wird dadurch untermauert, dass der Bogen – als das zusammengesetzte Jagdinstrument mit Bogenstab und Sehne gemeinsam – für das erfolgreiche Jagen in Frage gestellt wird, da sich in diesen Versen der Terminus boge nicht nur in einer Abgrenzung zur senewe verstehen lässt, sondern eben auch als das gesamte Jagdwerkzeug selbst. In dieser Lesart bleibt das, was diu senewe jaget, als prinzipiell Unverfügbares bestehen. Es handelt sich in dieser Auslegung um etwas Grundsätzlicheres beim Vorgang des Jagens: Die Frage, die in dieser poetologischen Reflexion verhandelt wird, ist also, was die maere umben grâl an narrativer Form und kreativem Umgang für die Beobachtung des religiösen Gegenstands erforderlich machen, um u. a. auch das Seelenheil seiner Beobachter nicht zu gefährden. Die Antwort der Erzählinstanz darauf ist ein bîspel, das eine senewe ist und von folgender Beschaffenheit zu sein hat: ob ich iu rehte hân gesaget, diu senewe gelîchet maeren sleht: diu dunkent ouch die liute reht. swer iu saget von der krümbe, er wil iuch leiten ümbe. (241,12–16)
Die Erzählinstanz greift das zuvor Gesagte nochmals auf (ob ich iu rehte hân gesaget) und erweitert das bîspel folgendermaßen: Den richtigen Zeitpunkt und die Angemessenheit des Erzählens, also das Erzählen gemäß einer senewe, meint die Form des Erzählens nach dem Prinzip der slehte im Sinne der einer geradlinigen und aufrichtigen117 Darstellung der maere verpflichteten Erzählkunst. Es ist die Verpflichtung der Erzählinstanz gegenüber diesem Prinzip, die auch durch den Konditionalsatz (214,12) ins Zentrum gerückt wird. Daraufhin wird interessanterweise erläutert, dass das slehte maere von den Leuten ouch [!] als angemessen empfunden wird. Mit dem Terminus rehte wird auf eine durch Ordnung und Gesetzmäßigkeit bestimmte Kategorie verwiesen, die durch die Reimbindung dem Prinzip der slehte als bereits impliziert dargestellt ist.118 Der Begriff korrespondiert dabei offensichtlich mit den bereits eingeführten Positivbestimmungen des Erzählens nach der senewe, dem bescheidenlichen Erzählen sô des wirdet zît. Das Erzählen nach diesem Grundsatz ist damit ein ordnungsgemäßes. Welcher Ord-
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daß eine Geschichte erzählt wird, keine besondere Qualität darstellt“ (S. 186). Sehr viel wahrscheinlicher ist es aufgrund von Vers 241,21 wohl, dass das maere der Pfeil ist, mit dem Sinn und Heil bejagt wird. Ich komme darauf noch zurück. Vgl. hierzu Kordt 1997. S. 159: sleht umfasst ein Bedeutungsspektrum von „‚eben‘, ‚gerade‘, auch ‚klar‘, ‚schlicht‘, ‚ungekünstelt‘: ‚nicht übertrieben‘“. Vgl. ebd.; ebenso Spitz 1975. S. 259: „Das Adverb rehte auf Seiten des Erzählers und das prädikativ gebrauchte Adjektiv reht auf Seiten des Publikums stützen den für sleht ermittelten Sinngehalt. Gegen die rehte sage der Erzählinhalte, durch die die maere sleht werden, verstößt, wer künftig an der krümbe festhält, also nicht den Wechsel vom Bogenstab zur Sehne vollzieht. Bei einer solchen Gestaltung des Inhalts gerät das Publikum in Gefahr, an der Wahrheit vorbeigeführt zu werden“.
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nung nun aber? Das ouch signalisiert in diesem Zusammenhang nämlich, dass es sich nicht allein um die Ordnung der liute, d. h. die Ordnung der höfischen Gesellschaft, handelt. Dieser ist es ouch reht. Man könnte daher übersetzen: Der Ordnung des Höfischen entspricht dieses Prinzip gleichermaßen. Diese Interpretation geht in ihrer Konsequenz über das herkömmliche Verständnis, dass mit diu dunkent ouch die liute reht lediglich auf das Wohlwollen der Zuhörer Bezug genommen wird, insoweit deutlich hinaus, da es interpretatorisch nicht zwingend ist, den Terminus der liute allein auf Wolframs Publikum beschränkt zu sehen.119 Da es sich bei diesem maere, das in der poetologischen Selbstreflexion des Bogengleichnisses in Beziehung zum IX. Buch gesetzt wird und es nun erforderlich macht, nach dem Prinzip der slehte zu erzählen, eben um die maere umben grâl mit all ihren wundern handelt, lässt sich anhand der bisherigen Ergebnisse mit Sicherheit folgern, dass das zweite Ordnungsprinzip ein religiöses ist. Dieser religiösen und ouch der höfischen Ordnung muss durch Angemessenheit und der rechten Wahl des Zeitpunkts in Form des senewen-artigen Erzählens Genüge getan werden. Jene Engführung des Höfischen und des Religiösen wird daraufhin auch in den beiden folgenden Versen (241,12f.), in denen davon gesprochen wird, dass die krümbe auf Abwege führt, weiter beibehalten und vertieft. Die Verknüpfung der Verse macht deutlich, dass die krümbe in Opposition zur slehte und damit als der bogen im Gegensatz zur senewe zu verstehen ist. Der gekrümmten Erzählung, dem gekrümmten Weg, zu folgen, bedeutet daher vom rehten Weg abzukommen. Religiös heißt dies Verdammnis. Das Bild des Weges nimmt wiederum Bezug auf die Hasen-Metapher des vliegenden bîspels im Prolog, in welcher der Weg die Zuflucht des Christen vor dem Teufel zu Christus meint.120 Semantisch gefüllt ist dieses Bild mit dem Hakenschlagen, das im religiösen Sinn den Verfolger abhält und im höfischen Konnex durch das dynamische Erzählen Erkenntnis überhaupt erst möglich macht. Dieser semantischen Verbindung gerecht zu werden, heißt für den Text das Erzählen nach dem Prinzip der geradlinigen slehte, das damit nicht, wie auf den ersten Blick angenommen, in der Diskrepanz zu den PrologAussagen steht. Die Geradlinigkeit bezieht sich auf den spezifischen Weg, denn slehte bedeutet hiermit in zeitlicher und wohl auch sonstiger Hinsicht der höfischen und der religiösen Ordnung angemessen zu erzählen. Erkenntnisgewinn zu ermöglichen und das Heil nicht zu gefährden, erfordert daher den Weg des Protagonisten mit dem des Rezipienten gleichzuschalten, also die Beobachtungsmöglichkeiten des Rezipienten mit denjenigen Parzivals zu synchronisieren. Der direkte Weg des Hasen würde aus ihm erlegte Beute machen, sowie der Vorausgriff in der Geschichte ein sagen von der krümbe wäre und innerhalb dieser Ana119
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Stellvertretend hierfür zitiert sei Kordt: „Erzählen ohne Umschweife erscheint hier als Konsens des Publikumgeschmacks über gutes Erzählen“ (Kordt 1997. S. 159). Vgl. zum „Weg“ als Bild der Zuflucht zu Christus auch Joh. 14,06: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“.
Selbstreflexivität höfischen Erzählens im Bogengleichnis
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logie als heilsgefährdend gelten muss. Das Prinzip der slehte verweist durch die fremdreferentielle Bezugnahme des höfischen (Text-)Systems auf das religiöse System somit auf eine dem Text eingeschriebene Laientheologie, welche die religiöse Deutung im IX. Buch dann wie gezeigt gezielt an die Figurenebene auslagert. Deshalb ist es dort dann auch an der Erzählinstanz zu formulieren, dass mit einem solch krummen Erzählen, einem direkten Zugriff auf den Sinn der maere umben grâl nichts erreicht wäre, nichts bejagt werden könne:121 Swer mich dervon ê frâgte unt drumbe mit mir bâgte, ob ichs im niht sagte, umprîs der dran bejagte. (453,01–04)
Es ist das Heil des Rezipienten, das hier im erneut aufgenommenen Bild des Jagens perspektiviert wird. Der Erzählinstanz ist es nicht gegeben, eine auf Eindeutigkeit angelegte theologische Deutung und religiöse Beobachtung Gottes vorzunehmen. Derjenige, der die Erzählinstanz zuvor vom Prinzip der slehte abzubringen versucht hatte, erreicht keine Erkenntnis und kein Heil in seiner Jagd, sondern er handelt sich nur Schande und Tadel (umprîs) ein, was konsequenterweise auf beide Ordnungen, die religiöse und die höfische – und insofern auch auf eine laientheologische Positionierung des Textes – zu beziehen ist. Auch in den folgenden Versen des Bogengleichnisses ist es eine die Erzählweise reflektierende Beobachtung, die der Text fokussiert, wenn es nun darum geht, den Konnex der Formen der Narration und der angemessenen Vermittlung von Sinn erneut im Bild des Bogens aufzugreifen, wobei das Bild abermals in spezifischer Weise ausgebaut wird: swer den bogen gespannen siht, der senewen er der slehte giht, man welle si zer biuge erdenen sô si den schuz muoz menen. (241,17–20)
Der Fokus liegt hier nicht mehr allein auf der grundsätzlich abgrenzenden Unterscheidung eines Erzählens nach der slehte oder krümbe, sondern jetzt geht es zudem auch darum, wie mit dem Bogen als Jagdinstrument gejagt wird, und das bedeutet, dass thematisiert wird, wie die Beute in Form der Koinzidenz von Erkenntnis und Heil mit dem Pfeil des maere überhaupt zu bejagen ist. Die Stimmigkeit im Bild des Bogenjagens erhält daher gewissermaßen einen Bruch. Zur
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Vgl. hierzu Kern 2002. S. 57, der sich in seiner Darstellung jedoch ebenfalls auf Überlegungen zum romanhaften Erzählen und die literarische Rezeptionserfahrung beschränkt: „Wolfram läßt uns erst die Erfahrung mit seiner Erzählweise machen, bevor er – im neunten Buch –, als endlich die Rätsel der verholnen maere umben grâl gelöst werden sollen, den Gedanken des richtigen Zeitpunktes wieder aufgreift und präzisiert“. Auf die Wolfram-Kyot-Flegetanis-Tradition, die in diesem Zusammenhang wichtig zu werden beginnt, werde ich im folgenden Unterkapitel gesondert eingehen.
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nachhaltigen Beschäftigung der Forschung mit dieser Problematik122 sei hier stellvertretenderweise Bumke zitiert: „Plötzlich ist die erzählte Geschichte nicht mehr die Sehne, sondern der Pfeil, den der Erzähler den Zuhörern zuschießt. Das Bogengleichnis hat offenbar einen logischen Knick, gleicht darin dem springenden Erzählen. Das bezeugen auch die vielfachen interpretatorischen Bemühungen, dem Textstück mit den Mitteln der herkömmlichen Logik gerecht zu werden“.123 Das größte Problem, das diese Verse einer stringenten Interpretation bereiten, ist somit, dass im Bild des Jagdinstruments Bogen sowohl senewe als auch bogen miteinander verknüpft werden, weil beides benötigt wird, um den Pfeil abzuschießen, der den Sinn bejagt.124 Dieser Zusammenhang wurde als eine mögliche Lesart in Bezug auf die rezipierende Beobachtung bereits zuvor in den Versen 241,10f. hergestellt, deren Kernaussage ist, dass das, was diu senewe jaget, stets schneller als der bogen ist. Der bogen erscheint an dieser Stelle genauso zweideutig wie in den Versen 241,17–20, denn als Bild kann er einerseits für die krümbe in Abgrenzung zur slehte stehen und andererseits als Jagdinstrument, das der senewe und des bogens bedarf, zugleich auch das gesamte Erzählverfahren symbolisieren.125 Bereits die syntaktische Konstruktion bereitet interpretatorische Schwierigkeiten, denn die übliche exzeptive Übersetzung von man welle si zer biuge erdenen als „es sei denn, der Bogen wird gespannt“126 vernachlässigt die normalerweise
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Zu den divergierenden Lesarten der Verse 241,19f.: Kordt 1997. S. 162f.; sowie Kern 2002, der die Forschungslage recht ausführlich darstellt (insb. FN 5–11 u. 28–44). Bumke 2004. S. 205. Vielfach hierzu zitiert auch: Bumke 1970. S. 297: „Wenn so viel Scharfsinn nicht – oder nur mit gewaltsamen Eingriffen – zu einem angemessenen Verständnis führt, sieht man sich zu dem Schluß gedrängt, daß entweder der überlieferte Text tatsächlich fehlerhaft ist oder – und dies scheint mir wahrscheinlicher – daß die angewandte Methode dem Gegenstand nicht gerecht wird“. Wie viele andere möchte ich diesen Fehdehandschuh aufnehmen und ein interpretatorisches Angebot machen, das sich zwar nicht auf die Fahne zu schreiben herausnimmt, dem Text vollständig gerecht zu werden, aber das es dennoch unternimmt, die zahlreichen Versuche um eine mögliche Perspektive zu erweitern. Vgl. hierzu auch Schu 2002. S. 178: „Die Schwierigkeit besteht vor allem darin, daß nun plötzlich die bisher getrennten Bereiche von Sehne und Bogen im Bild des Jagdinstruments Bogen zusammengeführt werden und man diese scheinbare Beschreibung des eigenen Erzählverfahrens nur unter großen Schwierigkeiten mit der Aussage ‚ich sage die senewen âne bogen‘ zur Deckung bringen konnte“. Vgl. hierzu Schirok 1986. S. 29, der diesen Satz als die „eigentliche crux interpretatoris“ des gesamten Bogengleichnisses bezeichnet: „Von seiner Auffassung hängt die Gesamtdeutung des Bogengleichnisses ab. – Der Erzähler untermauert einleitend seine Aussage mit dem Hinweis auf den Augenschein. Bis 241,18 läuft der Argumentationsgang in der erwarteten Richtung, indem – sachlich eigentlich überflüssig und mit fast unverhältnismäßig hohem Aufwand – die slehte der senewe bewiesen wird. Mit 241,19f. scheint dann jedoch der Sehnenvergleich eine Eigendynamik zu entwickeln, die den Beweis gefährdet. Denn der slehte der Sehne im Ruhestand wird nun die biuge der Sehne in Aktion gegenübergestellt“. Spiewok 1981. S. 411.
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zugehörige Verneinung.127 Andererseits erscheint die Frage nach der Syntax als eine nachgeordnete, wenn man gleichzeitig zu entscheiden hat, ob die biuge mit der krümbe identisch ist und ob damit das höfische Erzählen – also vor allem das des Parzival – gemeint ist, oder ob das Erzählen âne bogen als komplette Absage an das Jagdinstrument fungiert und mit der Biegung somit die bereits abgelehnte krümbe weiterhin thematisiert wird.128 Von dieser Entscheidung kann abhängen, ob der Bogenschuss in diesem Bild als grundsätzlich üblicher Umgang mit dem Jagdinstrument verstanden wird und damit auf notwendige Paradoxien des Erzählverfahrens verweist, durch die die senewe nicht mehr slehte ist, sondern vielmehr einen Knick erhält,129 oder ob es sich um einen Ausschluss der biuge im Sinne von minderwertigem Erzählen handelt, womit auch das Abschießen des Pfeils und damit auch das ‚bogenhafte Erzählen‘ prinzipiell abgelehnt wird.130 Geht man nun von einer basalen Kohärenz des Textes aus, ist das, was zunächst wahrgenommen wird und Aufmerksamkeit erregt, der Umstand, dass an dieser 127
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Nellmanns Kommentar (Nellmann 1994. S. 588) hat auf die fehlende Verneinung aufmerksam gemacht. Allerdings findet sich in Ggg: sine welle sich. Doch angesichts der geringen Verbindlichkeit mittelhochdeutscher Grammatik möchte ich hierfür keine Entscheidung treffen und schließe ich mich der Meinung Kerns an, der formuliert: „Man wird gut daran tun, in Pz. 214,19 f einstweilen nicht konjizierend einzugreifen, statt dessen genauere Untersuchungen zur exzipierenden Konstruktion an handschriftlichem Material abzuwarten“ (Kern 2002. S. 55. FN 39). Ein detaillierter Forschungsüberblick zu diesem Problem findet sich bei: Stein 1993. S. 205–211. Die biuge zugunsten des Pfeilabschießens verstehen bzw. als paradoxe Darstellung des Erzählverfahrens interpretieren: Green 1982. S. 33f. und Haug 1985. S. 163f. Die Abschusssituation ins Zentrum der Betrachtung rücken: Schröder 1956. S. 455; Hirschberg 1976. S. 313f.; und Schirok 1986. S. 33; wobei Schirok zunächst einfordert, auf den Terminus der biuge zu achten, der sich nicht mit der krümbe deckt, um die slehte dann auf die Flugbahn bzw. den Pfeil zu übertragen; sowie Stein 1993; Rausch 2000. S. 71; Groos 1972. S. 398; Spitz 1975. S. 260; der den Knick der senewe als „quantité négligeable“ interpretiert, die beim Abschießen nicht zu umgehen, aber auch nicht weiter zu beachten sei. Vgl. hierzu auch Rausch 2000. S. 71: „Die Forderung der liute nach slehte unter der Vermeidung der krümbe ist im realistischen Bild des Bogengleichnisses überhaupt nicht zu erfüllen. […] Der zweite Teil wechselt die Argumentationsweise und stellt die Kongruenz von Sache und Sprache durch den expliziten Bezug auf die empirische Anschauung wieder her, so daß auf exemplarische Weise gezeigt wird, daß ein Gleichnis nicht eine Sehne allein sein kann, sondern der Funktionszusammenhang von Sehne, Bogenstab und Pfeil“. Diesen Zusammenhang haben Groos und Spitz bereits in der Bogenmetapher des frühen 13. Jahrhunderts gesehen, der aus der bibelexegetischen Tradition stammt. Der Bogenstab symbolisiert dort den Literalsinn des Alten Testaments, der durch das Aufspannen der Sehne, dem Sinn des Neuen Testaments, gebogen wird. Die Apostel sind dann der Pfeil, der auf die göttliche Verkündigung rekurriert. Der Ansatz von Groos und Spitz ist im Hinblick auf die religiöse Verknüpfung durchaus reizvoll, allerdings kann sie hier in der Weise nicht weiterverfolgt werden, da diese Arbeit kein Interesse daran hat, konkrete Einflüsse (benannt werden z. B. Augustinus und Gregor, der Große) dieser Tradition auf den Autor Wolfram zu ermitteln. Trotzdem sei hier die Anschlussmöglichkeit an die Forschung benannt. In dieser Weise argumentieren: Klein 1954. S. 150; Curschmann 1971. S. 640; Nellmann 1973. S. 92.; Kern 2002. S. 57; Schu 2002. S. 179.
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komplexen Stelle gezielte Uneindeutigkeit produziert wird. Fraglich scheint daher, ob eine Entscheidung für die eine oder andere Lesart die offenkundig wichtige, geradezu systematische Produktion von Multiperspektivität des Textes nicht ausblendet. Um nochmals auf den Ausgangspunkt dieser Problematik Bezug zu nehmen, ist die Virulenz des Zusammenfallens von Sinn und Heil der Geschichte im Bild des jagens erneut zu vergegenwärtigen. Nimmt man diese laikal-höfische Partizipation am Religiösen ernst, so ergibt sich, dass in dieser Textkonstellation gar keine einsinnige Lektüre denkbar scheint, denn die Erzählinstanz ist hier keine, die frei über Gnade verfügen kann, sondern sie ist ebenso Teil der Darstellung ihres Mechanismus’. Hier ist auch sie ein Bogenschütze, deren Beobachterposition im IX. Buch bei den maere umben grâl, bei der Darstellung der wunder, mit der Beobachterposition Parzivals und der der Rezipienten gleichgesetzt ist. Deshalb rückt sie ja auch während der religiösen Unterweisung und Deutung Trevrizents völlig in den Hintergrund. Dieses nicht eindeutige Offenlegen-Können der inszenierten religiösen Kommunikation, das Vergegenwärtigen paradoxer Doppelungen, scheint mir daher wesentlicher Bestandteil des höfischen Erzählkonzepts des Parzival zu sein, in welchem höfisch-literarische und religiöse Kommunikation stellenweise koinzidieren müssen.131 Was mit der Uneindeutigkeit in der Erzählkonzeption des Bogenjagens nämlich ebenso gezielt offengehalten werden soll wie im Prolog, ist die Aussicht auf den Erfolg des jagens. Denn darin ging es ja ebenso in erster Linie darum, nicht der Verdammnis zu verfallen, und, um mit den Worten des Bogengleichnisses zu sprechen, auf dem rehten Weg zu bleiben, der die Verdammnis vielleicht zu verhindern vermag. Das Wesen des Sinns bzw. des Heils ist nicht einsehbar und steht außerhalb der Beobachtungsmöglichkeiten des höfischen (Text-)Systems. Wie kann der Text also damit umgehen? Was die Erzählinstanz dem Rezipienten mit dem Bogengleichnis vorschlägt, ist, dass der Nachvollzug des epischen Prozesses ihn gegebenenfalls ebenso vor umprîs und Verdammnis zu bewahren vermag. Und daher muss sich die Erzählinstanz selbst, d. h. sich und ihre Beobachterposition erklären, und zwar erklären als jemand, der ebenso bereit ist, sich diesem Prozess auszuliefern.132 Deshalb muss sie mit der biuge die Möglichkeit der Assoziation von krümbe ausstellen und darf zugleich keine eindeutige Position dazu beziehen, ob es sich nun um das eigene Erzählverfahren oder um ein anderes von ihr angeklagtes handelt.133 Auf diese Entscheidung ist der Rezipient
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Eine anachronistische Perspektive zu vermeiden und eben keine einsinnige Entscheidung in dieser Sache zu treffen, mag diesem Text daher auch noch am meisten ‚angemessen‘ sein. Auffällig ist an dieser Passage vor allem auch, dass die Erzählinstanz zum einen als Herr über die Geschichte auftritt, auf der anderen Seite aber ihre Unterlegenheit mitkommunizieren muss. Vgl. diese Beobachtung, jedoch ohne den Blick auf religiöse Zusammenhänge, auch bei Stein 1993. S. 218f.: „Erst hier [am Ende des Erzählprozesses] erweist sich definitiv, ob es sich um ein geradliniges oder ein Umwege beschreitendes Erzählen handelte, denn biuge der Sehne und krümbe des Bogenstabs sind während des Erzählprozesses selbst kaum zu unterscheiden“.
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auf seiner Jagd nach Sinn und Heil wiederum selbst zurückgeworfen.134 Während das höfische (Text-)System am Religiösen partizipiert, befindet sich der Rezipient also, solange er den Prozess nicht vollzogen hat, in der gleichen tumben, nämlich unwissenden Beobachterposition wie Parzival. Und dem wird von Trevrizent ja gesagt, dass der Gral nicht zu bejagen sei. Aber nicht allein der Protagonist und der Rezipient sind Jäger, die versuchen das Heil/den Sinn zu bejagen, sondern auch die Erzählinstanz selbst verfolgt mit ihrer narrativen Strategie, mit dem Mittel der Rechtfertigung, diese Koinzidenz von Sinn und Heil. Daher hat sie aufgrund der für sie ebenfalls unverfügbaren Gnade einiges an arbeit (231,26), die maere umben grâl tatsächlich bescheidenlîche darzustellen. Zu diesem Zweck zeichnet sie in den folgenden Versen ein Erzählverfahren, das nicht auf diesen rehten Weg zu führen vermag, als ein Erzählen, das dem Rezipienten gar keine Möglichkeit bietet, Sinn und Heil (als Jäger) in den Blick zu bekommen. Von solch einem Verfahren distanziert sie sich entsprechend mit den folgenden Worten: swer aber dem sîn maere schiuzet, des in durch nôt verdriuzet: wan daz hât dâ ninder stat, und vil gerûmeclîchen pfat, zeinem ôren în, zem andern für. (241,21–25)
Wer eine solche Strategie aufgrund von zu großer Drangsal verfolgt, der bejagt mit seinem Pfeil des maere, seiner Art zu erzählen – also anders als die Erzählinstanz des Parzival mit dem (vliegenden) bîspel – nämlich nicht Sinn und Heil, sondern den Rezipienten, was bei ihm letztlich gar keinen Effekt hat:135 Das maere geht, weil es dort keine Bleibe finden kann, auf einem breiten, fruchtlosen und erkenntnislosen Weg zum einen Ohr hinein und zum anderen wieder hinaus. Deutlich wird, dass die dynamische Erzählung des maere ein anstrengender und schwieriger Weg ist. Er stellt an den Rezipienten und die Erzählinstanz hohe Anforderungen: Nur wer, mit den Worten des Prologs gesagt, mit disen schanzen allen kann und sich nach der Aussage des Bogengleichnisses nicht durch nôt verdriuzen lässt, der sich vielmehr darauf versteht, mit den maere umzugehen, erhält das kommunikative Angebot, an Sinn und Heil partizipieren zu können. Der Weg, der dieses nicht bietet, sondern bereits nach der Aussage des Prologs in die Verdammnis führt, ist ein vil gerûmeclîchen pfat, welcher zugleich ein topisches Bild für den direkten (krümben) Weg in die Hölle ist.136 Eine eindeutige, einsin-
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Was m. E. auch die vielseitigen und perfide argumentierenden Interpretationen der Parzival-Forschung zu belegen scheinen. Zu den Schwierigkeiten der Forschung mit diesen Versen, insbesondere den drei Personalpronomina swer, dem, in siehe: Schröder 1956. S. 457; Curschmann 1971. S. 639; Spitz 1975. S. 248; Stein 1993. S. 203 und Schu 2002. S. 180f. Nach Matthäus 7,13f. führt der breite Weg in die Verdammnis und nur der schmale durch die enge Pforte zum ewigen Leben (Heil). Vgl. hierzu auch Harms 1970, der eben diese Zwei-
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nige Lehre (hier symbolisiert durch den Terminus des Schießens des maere: swer aber dem sîn maere schiuzet) wird man in einem Text mit solch hohen Ansprüchen nicht finden. Das Angebot des maere ist zugleich auch seine Forderung: Der Prozess muss auf allen Ebenen der Erzählung vollzogen werden, um Erfolg überhaupt erst möglich zu machen. Man kann das Angebot, explizit theoretisch betrachtet, daher auch mit der Forderung des Textes nach Handeln mit Transzendenzbezug auf allen Ebenen der Erzählung beschreiben, denn um nichts anderes handelt es sich, wenn in der Immanenz des höfischen (Text-)Systems mit dem Einbrechen von Transzendenz kalkuliert wird, bzw. seine Grundlagen darauf ausgerichtet werden. Ob das bejagen von Sinn und Heil überhaupt aussichtsreich ist, bleibt für den handelnden Beobachter uneinsehbar.137 Dieses Handeln mit Transzendenzbezug bereitet lediglich dort, wo das maere eine stat findet, den nahrhaften Boden, für den die Möglichkeit besteht, dass auf ihm die Früchte von Gottes Gnade wachsen werden. Da die Erzählinstanz sich offenkundig als Teil dieses größeren Konzeptes versteht, bemüht sie sich darum klarzustellen, dass ihre Mühen ohnehin nicht auf einen solcherlei fruchtbar bereiteten Boden treffen können, wenn die Rezipienten sich nicht dazu bereit erklären. Und so ermahnt sie diese mit Nachdruck. In den folgenden Versen geht sie geradezu in eine Beschimpfung über: mîn arbeit ich gar verlür, op den mîn maere drunge: ich sagte oder sunge, daz ez noch paz vernaeme ein boc odr ein ulmiger stoc. (241,26–30)
Alle Mühen, die gesamte Kunst des Erzählens, sei also vergeblich, wenn das durch die Erzählinstanz vermittelte maere sich solch einem Rezipienten nach höfischer Sitte „andringen“ würde. Mit der Terminologie des dringens wird dabei betont, dass die Art und Weise des Erzählens in einem höfischen Raum angesiedelt ist, denn das dringen lässt sich hier als eine gewünschte Form der höfischen Zusammenkunft lesen.138 Das dringen am Hofe ist jedoch häufig auch mit einer tendentiell negativen Konnotation versehen, da die Semantik von dringen neben
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Wege-Metapher untersucht, die in der höfischen Literatur außerdem z. B. auch im Gregorius (79–96) und im Erec (7816f.) auftaucht. Dieses Problem haben auch nicht nur der Rezipient und die Erzählinstanz, sondern daran arbeitet sich schließlich auch Parzival in seinem Verhältnis zu Gott ab. Für den Begriff dringen findet sich im Lexer: „sich drängen, andringen (höfische Sitte beim Empfang von Gästen)“ (Lexer 1976. „dringen“, S. 33), was auch nochmals deutlich auf den höfischen Ausgangspunkt verweist. Dieses Koinzidieren der Erzählung von wundern im Terminus des dringens mit höfischer Performanz, welche hier die höfische Körperlichkeit zentral mit herein trägt, lässt zudem an die Personifikation der âventiure im IX. Buch denken, worin sich Frau Aventuire in das Herz der Erzählinstanz zu dringen versucht. Vgl. zu dieser Analogie auch Spitz 1975. S. 260f.
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dem relativ neutralen Empfang von Gästen auch die Bedeutung eines dezidiert unhöfischen Verhaltens transportiert, indem es die Forderung nach friedlichem Umgang durch die Unterschreitung von angemessener Körperdistanz konterkariert.139 Damit gerät der Aspekt der Nötigung in den Blick, welche ein höfischer Körper – und eben auch der einer höfischen Erzählung – unbedingt zu vermeiden hat. Hier ist das höfische dringen des maere (sowie das dringen der âventiure im IX. Buch) aber durchaus positiv lesbar, geht es doch noch immer um die angemessene Erzählkunst, die damit offenkundig aus einer höfischen Perspektive erfolgen muss. Problematisch ist also nicht das dringen an sich, sondern: bei wem das maere dringt. Und so formuliert die Erzählinstanz, dass die höfisch angemessene Kunst von sagen und singen bei einem boc oder einem ulmigen stoc mehr Aufmerksamkeit erregen würde als bei solch einem (tumben) Rezipienten, bei dem das maere einfach keine Bleibe findet. Für die Erzählinstanz ist jener, der die notwendige Aufmerksamkeit140 für die vom Text angebotene koinzidierende Kommunikation des Höfischen und Religiösen nicht aufzubringen vermag, weniger wert als ein durch Sturheit und Dummheit charakterisiertes Tier, wie es der Bock ist,141 oder sie sieht ihn gar als einen verfaulten Baumstamm, mit dem auch „Seelenlosigkeit und mangelnde Wahrnehmungsfähigkeit assoziiert“142 werden. Wenn der Rezipient sich nicht entsprechend an der Kommunikation beteiligt, wenn er nicht genügend Beweglichkeit aufzubringen vermag, verfehlt das maere sein Ziel. Denn die Funktion von Kunst, ihr Ziel, ist es ja gerade, auf der Ebene von Wahrnehmung Möglichkeiten zur Beobachtung zweiter Ordnung zu installieren. Ein Rezipient oder auch eine Erzählinstanz, die dazu nicht bereit ist, ist nach der Aussage des Bogengleichnisses der Dynamik des maere, ist dem Parzival nicht gewachsen.143 Und die Konsequenz hieraus ist schwerwiegend: Wer zu
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Vgl. hierzu beispielsweise Wenzel 1995. S. 131: „Wenn man die eigene Gegenwart mit anderen Personen teilt, fungieren Blicke und Gesten und die relative Distanz und Richtung zwischen Individuen als erste Strukturierung des Raumes. […] Breite, Höhe und Tiefe definieren die einfachsten Koordinaten personaler Zuordnung im Raum höfischen Handelns. Die wichtigste Verbindung zwischen Status und Raumverhalten besteht nach Argyle darin, ‚daß gegenüber Leuten mit hohem Status Respekt gezeigt wird, indem man einen Abstand von ihnen hält‘“. Im Sinne von „‚wahrnehmen‘, ‚bemerken‘, bezogen auf die Sinneswahrnehmung (nicht nur des Ohres […]). Die geistige Bedeutung, ‚verstehen‘ kommt erst später hinzu […]. Der Vergleich bezieht sich also auf die Aufmerksamkeit des Publikums“ (Kordt 1997. S. 166). „Der Bock steht traditionell auch für Sturheit, Steifheit, störrisches Wesen und Dummheit“ (ebd.). Ebd. S. 167. Die Erzählinstanz hat bereits in der sogenannten „Selbstverteidigung“ dementsprechend Stellung bezogen, indem sie erklärt, dass diese âventiure mehr abverlange als bloßes Bücherwissen. Diese Aussage lässt sich aus der Perspektive auf den religiösen Gegenstand als eine Abgrenzung gegenüber dem theologischen Wissen aus Büchern begreifen. Ihr Gegenstand erfordert, wie sie behauptet, mehr an Beweglichkeit und Aufmerksamkeit, als es eine vereindeutigende theologische Lehre tut. Die Erzählinstanz formuliert:
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dieser Dynamik nicht bereit ist oder wem sie nicht gelingt, der hat unter der Prämisse von Handeln mit Transzendenzbezug im höfischen (Text-)System seine Heilsmöglichkeit verspielt. An dieser Stelle wird nun also ganz konkret benannt welher stiure disiu maere gernt (2,07); – denn was der Prolog in seinen Aussagen über die Anforderung an Beweglichkeit auf allen Ebenen der Erzählung bereits anklingen lässt, wird im Bogengleichnis noch wesentlich radikalisiert. Im Anschluss hieran stellt sich nun die Frage, wie eigentlich das Selbstbild des Textes in diesem Konzept von Koinzidenzien und Beweglichkeit entworfen wird. Dieses Selbstbild scheint mir zwangsläufig zu einem, dem Text eigenen genealogisch strukturierten Entwurf zu führen, nämlich zu der Wolfram-Kyot-FlegetanisTradierung,144 mit welcher der Text offenkundig seinen mystifizierenden Transzendenzbezug verhandelt. Dementsprechend werden im Folgenden der Epilog und die Quellenfiktion des IX. Buches, welche beide gleichermaßen als weitere poetologische Selbstreflexionen beschreibbar sind, zentraler Gegenstand der Untersuchung sein.
3. Kyot als narratives Prinzip – der intratextuelle Selbstentwurf des Parzival von Provenz in tiuschiu lant diu rehten maere uns sint gesant, und dirre âventiur endes zil. (827,09–11)
In den ausklingenden Worten des Parzival tritt die Erzählinstanz noch einmal mit einer reflexiven Selbstaussage hervor, in der es im Wesentlichen darum geht, das eigene Erzählen vor dem Hintergrund einer Tradition höfischer Texte zu profilieren, welche fordert, dass literarische Vorlagen benannt werden.145 Von der Forschung unangezweifelte Hauptquelle ist hierbei Chrétien, der als Autor des französischsprachigen Perceval bekannt ist, den der Parzival Wolframs jedoch als
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swer des von mir geruoche, dern zels ze keinem buoche. ine kan decheinen buochstap. dâ nement genuoge ir urhap: disiu âventiure vert âne der buoche stiure. (115,25–30). Der Parzival fordert hier also dazu auf, aufmerksam wahrnehmend selbst (was auch im Sinne von Eigenverantwortlichkeit lesbar scheint) durch die Geschichte hindurchzugehen. Der Begriff der Tradierung (oder später auch der der Tradition und des Tradenten) wird hier und im Folgenden in Anlehnung an Strohschneider 2006 und in Ermangelung eines aussagekräftigeren neuhochdeutschen Wortes gebraucht, das die spezifische Form der Textweitergabe und Formen seiner Verkörperung im höfisch-religiösen Sinn bezeichnet. Es ist bekannt, dass sich mittelalterliche Texte, literarischer oder philosophischer Natur, stets auf die Autorität einer Quelle berufen. Dies fällt unter das Dogma des mittelalterlichen Literaturbetriebs non novum sub sole.
Kyot als narratives Prinzip – der intratextuelle Selbstentwurf des Parzival
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Troys meister Cristjân (827,01) nur ein einziges Mal im Epilog erwähnt, und von dem es zudem heißt, dass er der Geschichte Unrecht getan habe:146 Ob von Troys meister Cristjân disem maere hât unreht getân, daz mac wol zürnen Kyôt, der uns diu rehten maere enbôt. (827,01–04)
Die Erzählinstanz des Parzival folgt dieser literarischen Tradition der Quellenberufung allgemein nur sehr bedingt. Ihre Angaben sind weitgehend unpräzise und teilweise so phantastisch, dass die angeblichen Vorlagen nahezu einhellig als Fiktionen angesehen werden.147 Die Erzählinstanz entzieht sich mit ihren Aussagen der Einordnung in bekannte Kategorien der Quellenberufungspraxis148 und an die Stelle einer historisch schriftlichen Vorlage wie dem Perceval tritt im Parzival eine auf Genealogie ausgerichtete Genese der Erzählung, die weniger treffend mit dem „Kyotproblem“149 als vielmehr mit der „Flegetanis-Kyot-Wolfram-Tradition“150 zu bezeichnen ist. In Anlehnung an Müller lässt sich diese als ein genealogisch organisiertes Erzählmuster verstehen, der in seinen Ausführungen insbesondere den Zusammenhang von universalem Denk- und Ordnungsmuster151 und dessen narrativen Niederschlag thematisiert: „Genealogie ist ein Muster der Ordnung der Welt ebenso wie ein Muster narrativer Organisation. […] ‚Genealogisch‘ muß nicht im konkreten Sinn eines Abstammungsverhältnisses verstanden werden, sondern schließt alle Arten von Herleitungen und hierarchisierbaren Abhängigkeiten ein: den Zusammenhang von Sprachen, von Begriffen, von Etymologien usw.“.152 Die Tradierung des Textes von Flegetanis über Kyot zu Wolfram gewinnt im Fokus von Religion in erster Linie deshalb Aufmerksamkeit, weil die Wahrnehmung von Schriftsinn und Vermittlung von Texten im Parzival ungeheuer eng mit der Geschichte des Grals als religiösem Gegenstand verbunden ist. Hinzu kommt, dass diese genealogisch gedachte Geschichte des Grals ihren Anfang im Heidnischen nimmt, beim Astronomen Flegetanis, und sie daraufhin bei Kyot (durch dessen Taufe) einer uneinsehbar transzendentalen Wandlung unterliegt, um sich schließlich in der Erzählung der Figur Wolframs von Eschenbach, wie sich die Erzählinstanz im Parzival an dieser Stelle selbst nennt (827,13), unter den Prämissen komplexer Verhandlung des Religiösen zu entfalten.
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Zum Überblick über die Forschungslage von Wolframs Quellen: Vgl. Bumke 2004. S. 237–244. Vgl. ebd. S. 209. Man denke etwa an den Tristan (149–166), den Iwein (21–30) oder den Armen Heinrich (1–5). Bumke 2004. S. 244. Strohschneider 2006. S. 47. Ähnlich wie es auch von Kellner 2004 herausgearbeitet wurde. Auf ihr Verständnis von Genealogie in den Studien zum genealogischen Wissen im Mittelalter werde ich später noch zurückkommen. Müller 2007. S. 46–106, hier: S. 46f.
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Von der Erzählinstanz des Parzival wird an mehreren Stellen versichert, dass diu maere getreu dem provenzalischen meister Kyôt folgen, der uns diu rehten maere enbôt. Das erste Mal begegnet man der Quellenberufung auf Kyot im VIII. Buch an einer betont beiläufigen Stelle, nämlich bei der Namensnennung des Liddamus, für den es im Perceval zudem auch gar keine Entsprechung gibt:153 Kyôt in selbe nennet sus. Kyôt la schantiure hiez, den sîn kunst des niht erliez, er ensunge und spraeche sô dês noch genuoge werdent frô. Kyôt ist ein Provenzâl, der dise âventiur von Parzivâl heidensch geschriben sach. swaz er en franzoys dâ von gesprach, bin ich niht der witze laz, daz sage ich tiuschen fürbaz. (416,20–30)
Der Provenzale Kyot wird hier als jemand vorgestellt, dessen kunst als bemerkenswert gilt und der en franzoys die âventiur von Parzivâl erzählt hat.154 Kyot mac wol zürnen, weil Chrétien mit dem maere willkürlich verfahren ist, er hât ihm unreht getân. Weil die Erzählinstanz des Parzival es nun unternimmt, wenn ihr nach eigener Aussage die witze dazu genügt, dieses maere als das richtige, das von Kyot zu ihr gelangt ist, in deutscher Sprache weiterzuerzählen, ist sie das nächste Glied in der Tradierungskette. Chrétien hat sich offensichtlich durch mangelnde kunst selbst disqualifiziert (827,02): Im Hinblick auf die Forderung des Parzival nach Beweglichkeit, hinsichtlich seiner stiure, hat dieser Mangel an kunst zur Folge, dass Chrétien es nicht versteht, mit dem Erzählen mit Transzendenzbezug umzugehen, weshalb sein Erzählen keine Heilsaussicht bereitzustellen vermag. Er kommt als Tradent des sinnreichen maere, dessen dynamischer Nachvollzug Erlösung in Aussicht stellt, nicht in Frage. Die Erzählinstanz des deutschsprachigen Parzivals hingegen versichert, dass ihre kunst des Erzählens der Tradierung dieser âventiur sehr wohl angemessen ist, und so kann sie die Ge-
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Perceval 6041ff. Vgl. Strohschneider 2006. S. 48. Vgl. hierzu Schu 2002. S. 135. FN 41: „Daß ein Provenzale auf Französisch erzählt, ist ungewöhnlich, aber nicht unmöglich“; sowie: Strohschneider 2006. S. 49: „Geht die von Lachmann als la schantiure rekonstruierte Formulierung auf einen ‚Zauberer‘ (l’ enchantëor) oder auf einen ‚Sänger‘ (le chantëor)? Warum spricht oder schreibt der Provenzale französisch? – Die germanistischen Problemtopoi dieser Stelle aus dem VIII. Buch sind geläufig. Ihre Dramatisierung läßt leicht übersehen, daß der propositionale Gehalt der Verse ziemlich unzweideutig ist (und sich übrigens auch mit den Formulierungen des Epilogs sachlich deckt): Sie geben ein positives Werturteil über den provenzalischen Sänger und Erzähler (416,23), und dieses hängt offenkundig mit seiner Stellung in jener Tradentenkette zusammen, welche sich von der gegenwärtigen Erzählung zurückverfolgen läßt“. Vor dem Hintergrund bisheriger Ergebnisse lese ich diese Auffälligkeit als ein weiteres Zeichen des Textes, gezielt Aufmerksamkeit erregen zu wollen.
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schichte fürbaz erzählen155 – mit den Worten des Bogengleichnisses könnte man sagen, dass die Erzählerfigur bestimmt, zugleich aber in rechter Art und Weise (bescheidenlîchen) in einer personalisierten Form hervor tritt, wenn sie formuliert: niht mêr dâ von nu sprechen wil ich Wolfram von Eschenbach, wan als dort der meister sprach. (827,12–14)
Die Erzählinstanz, die sich hier selbst als Wolfram von Eschenbach bezeichnet, ist durch ihre der Geschichte angemessenen kunst der legitime Nachfolger Kyots, ihr ist es gestattet, über diu rehten maere zu verfügen. Bereits bei der ersten Erwähnung des meister Kyot (416,20) wird auch dessen eigene Quelle für die Erzählung der âventiur von Parzivâl benannt. Seine Vorlage fand er heidensch geschriben. Im Fokus der religiösen Konnotation der Tradierung, welche mit der Bezeichnung heidensch vorliegt, geht eine weitere auffällige Transformation einher, die von sprachlich medialer Art ist: An der Schaltstelle Kyot findet zum einen ein Transfer aus der arabischen Sprache ins Französische statt, deren Produkt die Erzählinstanz des Parzival wiederum ins Deutsche überträgt. Zum anderen besitzt Kyots Prätext vom Sternkundler Flegetanis eine eindeutig schriftliche Form, welche daraufhin (zumindest in eine fingiert) mündliche umgewandelt wird.156 Es scheint daher bereits an dieser Stelle eine bedeutsame Grenzüberschreitung einsichtig zu werden: Der Selbstentwurf der Erzählung greift mit der Konzeption der Kyot-Figur auf die Funktion des religiösen Codes zurück, welche es erlaubt, auffällig markierte Gegensätzlichkeiten zugleich zusammenzubinden und erzählend zu entfalten. Die Erzählerfigur Kyot habe außerdem eine (ebenso: schriftliche) lateinische Landeschronik aus Anjou herangezogen, in der die Geschichte der beiden großen Dynastien des Parzival, die Geschlechter der Mazadan- und der Titurel-Sippe, die ebenfalls mit der Ge-
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Die semantische Bedeutung von fürbaz kann hier sowohl im Sinne von Weitertradieren verstanden werden (so: Strohschneider 2006. S. 49f.) als auch als ein die Vorlage überbietendes Bessererzählen (so: Draesner 1993. S. 392ff.). Auch wenn die Steigerung an Qualität nicht notwendigerweise zu diesem Terminus gehört, scheint mir die Offenhaltung im Sinne einer gezielten Uneindeutigkeit durch die doppelte Semantisierung sehr viel besser zu der paradoxen Grundstruktur zu passen als eine einsinnige Bedeutung. Vgl. diese Beobachtung auch bei Strohschneider 2006. S. 49: „Dies ist also zunächst die Geschichte einer Räume und Zeiten, Sprach- und Schriftsystemgrenzen – heidensch/franzoys/tiuschen – überwindenden Erzähltradition, wie sie im höfischen Roman verschiedentlich, wenn auch öfters weniger differenziert, vorkommt. Auffällig kann dabei allenfalls werden, daß die Hervorhebung der Differenzen der Sprachen (und Schriftsysteme) die Gleichartigkeit der verschiedenen Glieder dieses Traditionskontinuums gerade nicht gefährdet, sondern vielmehr – unter offenkundig fremden epistemologischen Bedingungen – sichert“. Diese grundsätzlich fremden epistemologischen Bedingungen scheinen mir – vorweg greifend angemerkt – im Hinblick auf die Kommunikationswege als Semantisierungen der Funktion des Religiösen Gestalt anzunehmen.
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schichte des Grals in Verbindung stehen, aufgezeichnet gewesen sei. Doch wie aus der arabischen Sternkunde und den lateinischen Chroniken schließlich eine Geschichte von Parzival werden konnte, erzählt das letzte Glied der Tradentenkette nicht.157 Der Schlüssel zu dieser Frage scheint auch hier eine der kommunikativen Vermittlung zugrunde gelegte Partizipation des höfischen (Text-)Systems an der Funktion des Religiösen zu sein, denn im Wesentlichen geht es schließlich darum, wie auf dem erzählerischen Wege diu rehten maere158 ihr endes zil finden können (827,10f.). Kyot ist, lässt sich dementsprechend interpretieren, als ein auf Genealogie ausgerichtetes Erzählprinzip zu verstehen, das als funktionale Schaltstelle für das Erzählen unter religiös-christlichen Paradigmen fungiert. In diesem Zusammenhang ist also nicht die Frage nach der historischen Faktizität der Kyot-Quelle von Interesse,159 sondern bedeutsam ist vielmehr, wie der Text seinen eigenen Ursprung mit dem Göttlich-Transzendenten, genauer mit dem Ursprung des grâles selbst, verwebt. Diese Untersuchung reiht sich somit in die Fragestellungen neuerer Forschung ein, die sich nicht weiter mit der Ob-Frage der Fiktion beschäftigt, sondern stattdessen den Versuch unternimmt, aus der Immanenz des Textes heraus die mystifizierenden, geradezu transzendierenden Strukturen der Gralsgeschichte näher zu beleuchten.160 Denn meistens „wird heute anerkannt, daß die Angaben über Kyot, unabhängig von ihrem historischen Wahrheitsgehalt, Teil der fiktionalen Erzählung sind. Durch die Rückführung auf die französische Dichtung Kyots und auf deren Quellen, die arabische Sternkunde des Flegetanis und die lateinischen Anjou-Chroniken, gewinnt das eigene Werk eine historische Dimension, die in auffälliger Weise der Geschichte des Grals entspricht“.161 Ebenso als Argument für die Betrachtung der Quellenfiktion 157 158
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Vgl. Bumke 2004. S. 209. Zum Terminus der rehten maere sei an dieser Stelle auch nochmals an das Bogengleichnis erinnert (241,14), indem das maere ebenfalls mit Religion konnotiert ist. Vgl. hierzu den Forschungsüberblick bei Bumke 2004. S. 244–247. Zu überlegen ist hierbei auch, ob durch die Zusammenführung eines nicht-fiktionalen Gegenstandes göttlicher Herkunft (denn als solcher dürfte der Gral wohl wahrgenommen worden sein) mit einer fiktionalen Geschichte nicht bereits schon ein erzählerisches Problem entsteht. Der Text scheint dabei zumindest tendenziell abschüssig zu werden, denn wenn Kyot als Fiktion verstanden werden kann und zudem auch Flegetanis, weshalb dann nicht auch der Gral oder gar Gott selbst? Zur Beantwortung dieser Frage scheint mir eine Grundannahme wichtig zu sein und die ist: Fiktionalität in diesem Sinne ist Teil einer modernen Wahrnehmung. Das wird in der Forschung jedoch in aller Regel übersehen, doch eine solche Sichtweise erscheint mir als anachronistische, was aber nicht heißt, dass die Beziehung von der Erzählung oder dem Erzählen zu Gott, der darin eine Rolle spielt, nicht zum Problem werden kann. Die Antwort scheint mir jedoch eher im narrativen Umgang mit dem Selbstentwurf adliger Identität zu suchen zu sein, weil diese ja selbst auch das Verhältnis göttlicher Bestimmtheit und Handlungsspielräume in der Immanenz zentral zum Thema hat. Dort, und nicht grundsätzlich in einer (modern anmutenden) Fiktionalitätsdebatte, scheint mir die Verhandlung dieses Problems situiert zu sein, weshalb auch im Folgenden der Fokus der Analyse auf solche Selbstbeschreibungen und Wahrnehmungsmodi höfischer Identitäten gerichtet sein wird. Bumke 2004. S. 247.
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im Lichte des auf göttliche Transzendenz verweisenden Gegenstandes Gral spricht darüber hinaus auch die Aussage des Parzival-Prologs: Die dreieinige Flegetanis-Kyot-Wolfram-Tradition scheint im Hinblick auf die Möglichkeiten des Erzählens von wundern, die Möglichkeiten des Erzählens der maere umben grâl, bereits angesprochen, als die Erzählinstanz im Sinne des christlichen Trinitäts-Gedankens die Rezipienten dazu auffordert: nu lât mîn eines wesen drî (4,01). Die einzige Möglichkeit, dieser âventiure und das bedeutet, dem Erzählen unter religiösen Paradigmen, eine angemessene Form zu verleihen, scheint hier also eine Personalisierung der Erzählinstanz zu sein, die auch selbst nicht ohne den symbolischen Konnex zum Religiösen (und hier wohl auch dezidiert zum Christlichen) auskommt. Ausgangspunkt für die Untersuchung der Tradierungskette im Fokus des Religiösen soll hier der Epilog des Parzival (827,01–30) sein, weil sich die Geschichte dort selbst als ein Paradoxon präsentiert. Die rehten maere, die durch den Provenzalen Kyot überliefert sind, kommen selbst nur in einer spezifisch paradoxen Form zu einem Ende. Im Text finden sich die Worte: endehaft giht der Provenzâl, wie Herzeloyden kint den grâl erwarp, als im daz gordent was, dô in verworhte Anfortas. (827,05–08)
In der Retrospektive lässt der Text also erkennen, dass Parzival das Gralskönigtum, nachdem es Anfortas verwirkt hatte, zugleich vorherbestimmt war und er es erwerben musste. diu rehten maere eröffnen dadurch eine chronologische Paradoxie, auf deren einer Seite Parzival als Teil des Sippenkörpers die Fehlleistung seines Onkels abzuarbeiten hat – was durchaus zu misslingen droht – und auf der anderen Seite scheinbar eine Garantie dafür gegeben ist, dass Parzival der auserwählte Erlöser ist und eben nicht erst werden muss: Der grâl ist dem Herzeloyden kint bereits gordent. Es zeigt sich somit, dass der Blick Parzivals in Titurels Kemenate als diejenige Form der höfischen Darstellung des Textes fungiert, die sowohl den entscheidenden Einblick in die Funktionalität des Gralswunders als göttliche Gewährung der Kontinuität von Herrschaft gewährt als auch den Bezug zur Erlöserfunktion des Protagonisten für diesen Sippenkörper herzustellen vermag. Diese Perspektive auf höfisch-religiöse Erzählmuster verrät außerdem, dass es sich bei der Entfaltung dieser Paradoxie um jene Erzählform für Unverfügbares handelt, die für das Erzählen vom Numinosen der wunder greift, welche der Prolog bereits zu Anfang eingeführt hat und nur aus der ganz besonderen Beobachterposition Gottes als gordent begreiflich sind. Der inszenierte Blick auf die transzendente Ordnung gewährt hier also Einsicht in die Auslagerungsmöglichkeit von Widersprüchlichkeiten immanenter Beobachterperspektiven auf die Geschichte des Gralserwerbs, aber auch in ganz grundsätzliche Paradoxien von Sinnstiftung. Es wird anhand der paradoxen Formulierung der Erzählinstanz signifikant deutlich, dass der Weg dieser Geschichte an keiner Stelle und von keiner
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Instanz, außer von einem besonderen (weil selbst paradox strukturierten) Beobachter, als ganzer und einheitlicher Weg wahrnehmbar ist. Und dieser eine paradoxe Beobachter, für den sich das Gegensätzliche als einheitlicher Heilsweg darstellt, ist Gott. Die Erzählinstanz tritt im Erzählakt selbst zurück. Ihre Beobachterposition ist als erzählende Instanz hier deutlich als Teil des höfischen (Text-)Systems markiert, die (im Sinne einer Beobachtung zweiter Ordnung) zwar in der Lage ist, auf diese Struktur der Auslagerung zu reflektieren, welche aber notwendigerweise als Teil des Systems mit dem Blick auf das Paradoxe verhaftet bleibt. Hierin lässt sich folglich eine weitere entscheidende Form identifizieren, welche der Parzival findet, um vom Göttlichen erzählen zu können, und die man wohl auch als Strukturprinzip bezeichnen darf.162 Mit dem Blick auf die Ganzheit der Geschichte ist der Sinnproblematik nicht beizukommen. Diese âventiur von Parzivâl überhaupt angemessen wahrnehmen zu können, bedeutet nach ihren eigenen Forderungen, wie gezeigt werden konnte, dem multiperspektivischen Erzählen und der daraus resultierenden Dynamik der Erzählform bis zum Schluss höchste Aufmerksamkeit zu zollen. Und dies bedeutet dabei vor allem auch – wie es explizit im Prolog und im Bogengleichnis formuliert ist –, als Rezipient selbst auch beweglich zu bleiben. Die letzten Verse des Parzival, in denen dirre âventiur tatsächlich dann ihr endes zil findet, bedienen diese Forderung schließlich obligatorisch, indem die konstitutive Verknüpfung der drei Ebenen von Figuren, Erzählinstanz und Rezipienten im Umgang mit der erlangten saelde ein weiteres Mal aktualisiert und markiert wird: sîniu kint, sîn hôch geslehte hân ich iu benennet rehte, Parzivâls, den ich hân brâht dar sîn doch saelde het erdâht. swes lebn sich sô verendet, daz got niht wirt gepfendet der sêle durch des lîbes schulde, und der doch der werlde hulde behalten kan mit werdekeit, daz ist ein nütziu arbeit. (827,15–24)
Die Erzählinstanz repräsentiert sich hier in den ersten vier Versen (827,15–18) selbst in jenem ambivalenten Spannungsgefüge, das vom Text in der Verhandlung
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Dies scheint mir darüber hinaus ein generalisierbares Kennzeichen vormoderner Textualität zu sein, aus deren Perspektive eine Auslagerung an ein paradox konstituiertes Individuum nicht denkbar scheint. Die Erzählfigur kann unter den Prämissen vormoderner Denkschemata direkt auf Gott ausgerichtete Paradoxien zunächst einmal nicht in sich, d. h. in einer Individualität aufnehmen. Stattdessen wird an dieser Stelle ihre Beobachterposition im höfischen (Text-)System sehr deutlich präsent gehalten und die Inklusion des Erzählenden dabei in der Weise markiert, dass eine Verhandlung solcher Widersprüchlichkeiten im funktionalen Sinn gar nicht anders als eine religiöse denkbar ist, und zwar gerade weil die Erzählinstanz eben als inkludierter Teil der höfischen Bezugsgesellschaft und nicht als exkludiertes Individuum erscheint.
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von wundern schon mehrmals vorgeführt wurde. Zum einen erfüllt sie ihre Dienstpflicht gegenüber dem Protagonisten samt den Erfordernissen aufgrund dessen genealogischer Zugehörigkeit (sîniu kint, sîn hôch geslehte), wobei mit dem Terminus rehte erneut auf die bereits zuvor eingeführte Inszenierungskategorie der âventiure als Herrin der Geschichte Bezug genommen wird. Zum anderen zeigt sich die Erzählinstanz hier zugleich in einer Position, die sie mit eindeutiger Verfügungsgewalt über die Figurenwelt ausstattet (Parzivâls, den ich hân brâht). Damit werden am Ende des Textes nochmals die beiden grundlegenden Möglichkeiten an Positionierungen der Erzählinstanz in Gegenwart des religiösen Gegenstands, dessen Vermittler sie ist und über den sie auch erzählend verfügt, als Fremd- und Selbstreferentialität aktualisiert und vereint. Bezeichnenderweise ist für beide dann sowohl der syntaktische als vor allem auch der semantische Ausgangspunkt, dass Parzival ein Erwählter der göttlichen saelde ist (dar sîn doch saelde het erdâht). Daraus lässt sich überdies schließen, dass im Text auch eine fundamentale Abhängigkeit artikuliert ist, und zwar in beide Richtungen: Die Erzählinstanz kann lediglich davon berichten und darüber verfügen, was die saelde erdacht hat, umgekehrt benötigt die saelde aber auch eine Erzählinstanz, die imstande ist, davon angemessen erzählen zu können. Die vom Protagonisten erlangte saelde ist nach dem Heilsversprechen des Textes aber auch ein möglicher Ausgang der Geschichte für Erzählinstanz und Rezipienten. Die semantische Tragfähigkeit von saelde leistet eine Verbindung von Transzendenz und Immanenz auf allen Ebenen der Erzählung sowie hinsichtlich des Einbezugs des Rezipienten auch außerhalb der Erzählung. Sie beinhaltet Anknüpfungspunkte für die rechtmäßige Rückkehr der sêle zu Gott zum einen (daz got niht wirt gepfendet/ der sêle), trotz begangener Sünden (des lîbes schulde), und des Erhalts von Ansehen in der Welt (der werlde hulde) durch würdiges Verhalten (mit werdekeit) zum anderen. Der Versuch saelde zu erlangen, bedeutet also, sein Leben und Wirken diesem Spannungsgefüge von Immanenz und Transzendenz auszusetzen, was der vielen Mühen und Not wert ist: daz ist ein nütziu arbeit. Das heißt, saelde, so lässt sich formulieren, definiert hier den Raum für die Anknüpfungsmöglichkeit göttlicher gnâde in der Welt. Das Leben in Bezug auf die saelde beschreibt damit das Äquivalent des Mechanismus’, der aus der Transzendenz wirkenden gnâde, weil ihr dieselbe Funktion der Grenzüberschreitung, nur jedoch von Seiten der Immanenz aus, zugrunde liegt. Sie ist der Effekt, das immanente Pendant, der göttlichen Gnade. Am Ende der Geschichte, nachdem ihr Weg vom Protagonisten, der Erzählinstanz und den Rezipienten im dynamischen Nachvollzug vollständig beschritten ist, formuliert der Parzival doch noch eine Art sentenzhafter Lehre, welche ihren Anspruch auf Gültigkeit für alle drei Ebenen der Erzählung, bezeichnenderweise durch die verallgemeinernde Wortwahl swes lebn sich sô verendet, einleitet.163 Ihren rechten (sozusagen: be163
Die Forschung sieht diesen Zusammenhang von einem gleichermaßen auf Gott und die Welt ausgerichteten Leben in erster Linie auf Parzival bezogen, wenngleich auch die Verallgemeinerung
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scheidenlîchen) Ort hat diese Lehre gerade aufgrund ihres wesentlichen Inhalts, dem Aushalten der Spannung im Handlungsbezug von Immanenz und Transzendenz, eben nicht im Prolog, sondern am Schluss der Erzählung: im Epilog. Nimmt man dieses Heilsversprechen, die Inaussichtstellung von saelde und göttlicher gnâde, nicht allein als eine Kategorie fiktionaler Literatur ernst, sondern bezieht darüber hinaus den Kontext sozialer Kommunikation von höfischer Literatur mit ein, so lassen sich an dieser Stelle auch einige wenige spekulative Aussagen über eine historische Rezeptionspraxis treffen. Die beharrliche Verwendung des Terminus des „höfischen (Text-)Systems“ als Bezugspunkt verweist bereits auf eine grundsätzliche Schwierigkeit, mit der man sich im Umgang mit der Frage nach der Funktion des Religiösen in einer mittelalterlichen Erzählung konfrontiert sieht. Sie besteht in der nahezu unmöglichen, da auch anachronistischen Trennung der literarisch ästhetischen von den gesellschaftlich funktionalen Qualitäten eines höfischen Textes. Sicherlich gibt es keinen gesicherten Grund zu der Annahme, die innertextuell belegbare Koinzidenz im Handeln mit Transzendenzbezug aller drei Ebenen (des Protagonisten, der Erzählinstanz und des impliziten Publikums) wäre eins zu eins auf eine historische Rezeptionspraxis übertragbar. Gleichzeitig erscheint es jedoch nicht undenkbar, dass gerade das Heilsversprechen eine gewisse Attraktivität auch auf ein konkret historisches Publikum (und auf eine konkret historische Person als Vortragendem) ausgeübt haben mag. Ich neige daher zumindest zu der Annahme, dass gerade für eine in der Blüte stehende Adelskultur im Hochmittelalter die Möglichkeit der Formulierung einer eigenen Alternative zur theologisch-kirchlichen Verhandlung von Religion in der eigenen (weltlichen) Literatur besondere Reize hatte. (Höfische) Literatur wäre demnach ganz konkret ein vom höfischen Adel okkupierter Raum einer solchen Verhandlung von Religion jenseits kirchlicher Einflüsse. Die Konsequenz dieser Annahme wäre nichts weniger, als den Vortrag eines unter funktionalen Prämissen Religion verhandelnden Textes selbst als eine religiöse Praxis höfischer Gesellschaft zu betrachten; was für diese Zeit, in der eigentlich alle Denkschemata auf Gott gründen, auch nicht weiter überraschend wäre. Im Folgenden möchte ich diese Überlegungen jedoch nicht dezidiert weiter ausführen, sondern erkannt wird. Vgl. hierzu Bumke 2004. S. 123: „Der Gedanke, daß es das höchste Ziel des Menschen sein soll, zugleich Gott und der Welt zu gefallen, zieht sich wie ein roter Faden durch die höfische Literatur. Für den ‚Parzival‘ hat dieser Gedanke eine besondere Bedeutung, denn der Gral steht geradezu als Sinnbild für die Verbindung von höfischem Glanz und christlicher Frömmigkeit, und an Parzival wird gezeigt, daß ‚die Mühe sich gelohnt hat‘, da er zuletzt ein hochgeachtetes Mitglied der Tafelrunde und zugleich ein Erwählter Gottes ist“. Der gesamte Epilog und insbesondere die Verse 827,19–24 scheinen mir jedoch hingegen zu belegen, dass mit dem Verhältnis des Lebens zu Immanenz und Transzendenz neben dem Weg des Protagonisten auch der der Erzählinstanz und der der Rezipienten angesprochen ist, und zwar so, dass damit auf ein strukturelles Merkmal höfischen Erzählens von Unverfügbarem, auf das Erzählen vom Göttlichen, verwiesen wird. Dies ist, wie ich denke, der Grund dafür, warum sich dieser Gedanke mit den Worten Bumkes „wie ein roter Faden durch die höfische Literatur“ zieht.
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lediglich im Hinterkopf behalten, um schließlich zu meiner Frage nach dem intratextuellen Selbstentwurf des Parzival zurückkehren und den im Text entworfenen Verhandlungsspielraum für die Funktionen von Religion und ihre Semantisierungen näher beleuchten zu können. Die allerletzten Verse des Parzival erweisen sich auf der Folie von Handeln mit Transzendenzbezug als ein adäquates Beispiel für diese Art von Handlungspraxis eines höfischen (Text-)Systems. Indem die Erzählinstanz schließlich ein letztes Mal hervortritt und aus der Retrospektive den gesamten Text als Minnedienst deklariert, wird dem Rezipienten ein prominentes höfisches Modell zum Verständnis angeboten, das dem Umgang mit dem religiös konnotierten Unverfügbaren nach eigener implizierter Aussage durchaus entspricht: guotiu wîp, hânt die sin, deste werder ich in bin, op mir decheiniu guotes gan, sît ich diz maer volsprochen hân. ist daz durh ein wîp geschehn, diu muoz mir süezer worte jehn. (827,25–30)
Die Dienstlogik des Minnedienstes, welche stete Unterwerfungshandlungen gegenüber der Minneherrin erforderlich macht, bietet wie das Handeln mit Gottesbezug ebenfalls keine Garantie für den Lohn der arbeit (827,24). Die Rolle der Erzählinstanz ist es hier also, exemplarisch einsehbar zu machen, dass sie die Geschichte auf die angemessene, rehte Art und Weise zu einem Ende gebracht und aus einer immanenten Perspektive das jehen süezer worte verdient hat. Ob dieser Lohn nach getanen Mühen jedoch erfolgt, muss nach den Regeln des höfischen Dienstes jedoch für sie unverfügbar bleiben. Mit der Zuwendung der Dame als willkürliches Moment in der Minnehandlung (op mir decheiniu guotes gan) erhält der Rezipient einen anschaulichen Vergleich, wie höfisches Handeln mit Transzendenzbezug aussehen kann. Analog ist hierbei: In beiden Dienst-Praxen ist die Hoffnung das bestimmende Moment für die Kontingenzbewältigung, denn sie ist in beiden Fällen der Motor für systemgenerierendes Handeln; sowohl der Lohn der Dame als auch die gnâde Gottes wirken dementsprechend von außen auf das Geschehen, weil sie jeweils nur als Angebot möglichen Wirkens transzendenter Mächte wahrgenommen und erhofft werden können.164 Jedes 164
Es geht in diesen letzten Versen also nicht um eine Entscheidung, ob der religiöse Diskurs oder der weltliche Bezug in Form von Minnehandlung stärker gewichtet ist. So z. B.: Schu 2002. S. 141. FN 62: „Diese Rahmung der gesamten Handlung [die Deklarierung des Gesamttextes als Frauendienst, mit dem der Erzähler einen Bogen bis zum Prolog schlägt] bildet im übrigen auch ein nicht wesentliches Gegengewicht zum religiösen Duktus der Eingangsverse und auch der religiösen Thematik der Parzival-Handlung; die beiden letzten Verse artikulieren gar nur die Hoffnung auf Minne-Lohn …“. Viel eher ist hier zu betonen, dass die Strukturen der beiden Dienstpraxen als Handeln mit Transzendenzbezug offensichtlich solchermaßen ähnlich und daher systemkonstituierend sind, dass sie auf Funktionsebene durchaus als austauschbar erscheinen. Dies spricht dabei eben nicht für eine Minderung der Relevanz von Religion im Text, sondern für
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Operieren muss also mit der Fiktion des Lohnerhalts arbeiten. Eine immanente do-ut-des-Mentalität führt hier demnach nicht zum erwünschten Ziel, sondern zerstört jede Hoffnung. Das hat am Ende auch die âventiur von Parzivâl gezeigt, weil sie die Sinnstiftung der Erzählung mit dem bejagen des Grals (insbesondere als Hoffnung der Rettung vor der Verdammnis) gleichsetzt. Der Erfolg des bejagens bleibt dabei stets unverfügbar – selbst für die Erzählung, die âventiure und die Erzählinstanz, denn Parzival entschwindet aus der Geschichte, während er sich auf jener jagd befindet. Die selbstbewusste Inszenierung der Erzählinstanz führt an dieser Stelle wieder auf die grundlegenden Möglichkeiten höfischen Erzählens vom Unverfügbaren zurück und damit auch im Zusammenhang der eigenen genealogischen Verortung des Textes und seinem transzendenten Ursprung auf die Quellenberufung. Im Zentrum der Untersuchung steht dabei nun die (Wolfram)-Kyot-FlegetanisEpisode des IX. Buchs (453,01–455,22). Das Spiel mit der Fiktionalität erscheint hier erneut als Teil der prinzipiellen Erzeugung von Multiperspektivität des Textes im Umgang mit transzendenten Wahrheiten. Der Inszenierungscharakter dieses Spiels ist von Schu treffend mit den Worten beschrieben worden: „Die Quelle wird einerseits als Wahrheitsgarant bemüht, andererseits in Zweifel gezogen; zudem besteht eine große Spannung zwischen der Legitimation des Erzählten über die Autorität der Quelle und der immer wieder artikulierten freien Verfügungsgewalt des Erzählers über die Geschichte. Damit wird aber auch der Status der Geschichte auf ambivalente Weise als zwischen Wahrheit (garantiert durch die Sternen-Schrift), Wirklichkeit (als Historizität verbürgt durch die Chronik) und Fiktionalität (hier als Souveränität des Erzählers gegenüber den Quellen und ihrer Autorität) changierend inszeniert“.165 Bemerkenswert ist an der genealogisch gedachten Tradierung der Geschichte vor allem, dass die Artikulation von Pflichten demgegenüber, was die âventiure verlangt, wie beispielsweise zur rechten Zeit und am rechten Ort zu erzählen, gewissermaßen ‚ordnungsgemäß zu erzählen‘, anscheinend unbedingt mitüberliefert werden muss. Die Erzählinstanz des Parzival formuliert dementsprechend: mich batez helen Kyôt, wand im diu âventiure gebôt daz es immer man gedaehte, ê ez d’âventiure braehte mit worten an der maere gruoz daz man dervon doch sprechen muoz. (453,05–10)
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die selbstverständliche Partizipation des höfischen (Text-)Systems am Religiösen. Nebenbei noch angemerkt sei auch, dass die höfische Minne ein Regelsystem ist, das gerne mit der Jagdmetapher beschrieben wird, welche im Prolog und Bogengleichnis deutlich auf den religiösen Gegenstand der Erzählung bezogen waren. Dies spricht auch hier für Koinzidenzien innerhalb der Möglichkeiten des Erzählens. Schu 2002. S. 141.
Kyot als narratives Prinzip – der intratextuelle Selbstentwurf des Parzival
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Das Erzählen von Unverfügbarem nimmt dabei (wie gezeigt in einigen Versen des Parzival) auch selbst wiederum die operative Form des Handelns mit Transzendenzbezug an. Denn die Anforderungen der âventiure an das Erzählen sind nämlich nach der Formel des bescheidenlîchen aus Prolog, Bogengleichnis und Epilog mit den Semantisierungen des Minnedienstes versehen, was sich besonders an der Verwendung des Terminus gruoz zeigt.166 Die Minneherrin âventiure verpflichtet ihren Vermittler darauf (wand im diu âventiure gebôt), sie angemessen zu erzählen, und zwar erst zu dem Zeitpunkt, an dem der gruoz der maere erfolgt ist – erst dann kann und muss sie eine sprachliche Gestalt annehmen (daz man dervon doch sprechen muoz). Daraus lässt sich ableiten, dass auch dieser Passage der Quellenfiktion eine dem Minnedienst strukturell ähnliche Form verliehen wird, mit welcher der Text seinen Transzendenzbezug zu verhandeln vermag.167 Darüber hinaus ist die erste Form der Geschichte, gewissermaßen die Urform der âventiure, durch Schriftlichkeit gekennzeichnet, wohingegen die medialen Formen des Textes bei den beiden Gliedern der Tradentenkette Wolfram und Kyot dezidiert als mündliche beschrieben sind (hier entsprechend durch den Terminus sprechen markiert). Der Raum, in welchem diese Grenzüberschreitungen situiert sind, ist – nach den vorliegenden Ergebnissen wenig überraschend – gleichfalls ein religiös konnotierter Raum: Toledo. Die Aufmerksamkeit des Rezipienten wird in den folgenden Versen des Textes dementsprechend dadurch erregt, dass seine Wahrnehmung zentral auf die Unterscheidung von heidnesch und gefrumn gelenkt wird – auf jene wohl wichtigste (weil umfassendste) Grenzüberschreitung, die der Tradierung der Geschichte Parzivals inhärent ist: Kyôt der meister wol bekant ze Dôlet verworfen ligen vant in heidenischer schrifte dirre âventiure gestifte. der karakter â b c muoser hân gelernet ê, ân den list von nigrômanzî. ez half daz im der touf was bî: anders waer diz maer noch unvernumn. kein heidensch list möht uns gefrumn 166
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Dem Erzählen von Unverfügbarem entsprechend bejagt auch derjenige umprîs (453,05), welcher dem folgenden Gespräch mit Trevrizent (im Bogengleichnis) vorgegriffen hätte, bzw. Swer mich dervon ê frâgte/ unt drumbe mit mir bâgte,/ ob ichs im niht sagte (453,01–03). Vgl. hier Schu 2002. S. 137: „Der selbstbewussten Rechtfertigung des Erzählverfahrens im Bogengleichnis wird nun eine Kette von Verantwortungsverschiebungen entgegen gestellt: Kyot bat den Erzähler, so zu verfahren; dieser war seinerseits bereits von der ‚âventiure‘ instruiert worden, nicht vorschnell aufzuklären“. Der Grund für die beständigen Verschiebungen und unterschiedlichen Legitimierungsstrategien ist der Versuch des Textes, Handeln mit Transzendenzbezug wahrnehm- und beobachtbar zu machen. Deshalb bietet er auch ein Beispiel aus dem Höfischen wie die Minne-Analogie an und führt seinen Entwurf der Tradierung zugleich an den Rand des bekannten Wissens: den durch Hybridität gekennzeichneten Raum Toledo.
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Poetologische Selbstreflexion und Religion
ze künden umbes grâles art, wie man sîner tougen innen wart. (453,11–22)
Gerade das Zusammenbinden und Koinzidieren verschiedener systemischer Grenzen wie von Sprache und Schrift erscheint hier als Kennzeichen religiöser Kommunikation – und im Bezug auf die Translatio der Geschichte auch als Kennzeichen für die höfische Kunst. Die erste Vorlage des tradierten Textes (dirre âventiur gestifte) wird vom Meister Kyot in Toldeo aufgefunden, einem ganz besonderen Transferraum, zu dem Strohschneider in einem Beitrag zur Medialität in der Flegetanis-Kyot-Wolfram-Tradition anmerkt, dass er ein „hochmittelalterlicher Knotenpunkt, so können wir wissen, herausragender Kulturkontakte und zugleich, so wußte man damals, ein Zentrum okkulten Wissens“168 war. An einem Ort, dessen okkultes Wissen von den hochmittelalterlichen Rezipienten mit großer Wahrscheinlichkeit in erster Linie mit dem kulturellen Neben- und Miteinander muslimischer, jüdischer und christlicher Bevölkerung in Verbindung gebracht wurde und insbesondere auch in der philosophischen Auseinandersetzung einen hohen Stellenwert einnahm, findet Kyot dieses Schriftstück. Nur dort in einem durch solche Hybridität gekennzeichneten Raum kann der Text offensichtlich jener Transformation unterliegen, wie sie die Struktur der Geschichte geradezu zu verlangen scheint. Man kann daher formulieren, dass das in der Erzählung entworfene Raumkonzept hier als vollständig auf den Transzendenzbezug des Textes und die Installation von über die Immanenz hinausragendem Wissen ausgerichtet erscheint. Dieser Raum wird zugleich als äußerst ambivalent beschrieben, denn entweder die list von nigrômanzî (möglicherweise) oder aber die touf (wie im Falle Kyots, dem die Translatio ja ân den list von nigrômanzî gelingt) helfen allein, die heidnischen Zeichen (der karakter â b c) zu dechiffrieren. Allerdings, an dieser Stelle wird der Text recht eindeutig, kann kein heidnisches Wissen helfen, wenn es um das Verstehen und Wahrnehmen (wie man sîner tougen innen wart) des in religiös-christlicher Bedeutung aufgehobenen Grals geht; nur die Taufe ermöglicht es von der grâles art zu künden. Seine wunder sind, das beweist seine Verbundenheit mit der Tradierung des Textes, nur von jenen christlichen Glaubens (gefrumn) erfahrbar. Das Erfahrbare daran scheint zudem die Begründung für die Gleichschaltung mit der Handlungsebene zu sein: Durch diese Simultaneität ist ja mit Parzivals Erlösungstat auch den Rezipienten des Textes Rettung vor der Verdammnis durch den dynamischen Nachvollzug angeboten worden.169 Diese 168 169
Strohschneider 2006. S. 51. Mit Schnyder lässt sich diese besondere Erzählkonzeption, die der Parzival hier entfaltet, auch als eine spezielle „Poetik der Kontingenz“ begreifen. Schnyder weist diese anhand der Würfelspielmetaphorik des Textes nach. Vgl. Schnyder 2002; insb. S. 323f.: „Doch geht es nicht nur darum, die Verwirrung nachzuzeichnen, sondern in dieser Nachzeichnung auch einen Weg der Bewältigung der Kontingenz zu gehen. Denn indem im Prolog prominent und nachdrücklich dem Zuhörer Treue abverlangt wird, muß er im Verlauf der Erzählung genau die Eigenschaft ent-
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Erzählung von des grâles art aufnehmen zu können (was hier wohl auch ganz leiblich gedacht ist), heißt hier, sich in Räumen religiöser Kommunikation zu bewegen, an welchen der Text in seiner Tiefenstruktur partizipiert. Die Taufe wird daher zum (auch körperlich) lesbaren Zeichen des Vermögens, mit der Kontingenzformel Gott operieren zu können.170 Denn in Bezug auf das, was zuvor allein unter Zuhilfenahme teuflischer Magie (der list von nigrômanzî) als möglich erachtet wurde, wird die christliche Taufe als ein markantes Gegenstück proklamiert – sie besitzt das Potential, dass der Text aus der Transzendenz (dem unmarkierten Bereich der Sterne) in die Welt gebracht werden kann. Sie vermag es allein, ihn der Flüchtigkeit zu entheben und sein Sinnpotential zu vergegenwärtigen, denn es heißt: ez half daz im der touf was bî:/ anders waer diz maer noch unvernumn (453,18f.). Für das religiöse System lässt sich die Taufe, wenn sie die Fähigkeit zur Aneignung des Wissens um Erlösung erwirkt, somit als eine Art Vorschuss an göttlicher Gnade beschreiben. Freilich lässt sich an dieser Stelle anmerken, dass diese religiöse Logik nicht auf den ersten Blick als völlig schlüssig erscheint; so formuliert z. B. Strohschneider: „Darin bleibt dem von Kyot in Toledo entdeckten Schrift-Text allerdings ein Moment auratischer Kryptographie. Für die Ungetauften ist wie der Gral selbst (453,21) oder die Geschichte seiner Entdeckung (453,22) auch die Rede über ihn (453,19) gänzlich unverfügbar …“.171 Es handelt sich bei diesem Moment auratischer Kryptographie, wie Strohschneider es hier ausdrückt, ganz offensichtlich um einen selbstreferentiellen Akt religiöser Kommunikation, bei dem die göttliche Gnade zugleich Voraussetzung dafür ist, dass sie erlangt werden kann.172 Dieses Paradoxon scheint auch deshalb tief im christlichen Glauben verwurzelt, weil dort auch trotz dem Dogma von Erlösung durch den Tod Jesu Christi die Gnade Gottes von jedem Christenmenschen durch eigenes Streben nach Erlösung selbst möglich gemacht werden muss. Kyot wird vor diesem Hintergrund zu einer Erzählinstanz, die das latente Sinnpotential durch seine Inkorporation in seinen christlich bestimmten Körper für die (höfische) Welt freisetzt.173 Die Verleiblichung des Schriftsinns in jenem Erzählkörper des Kyot ermöglicht daraufhin erst die Anschlussfähigkeit für die Wirkmächtigkeit des religiösen Systems, wie im Folgenden erläutert werden wird.
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wickeln und beweisen, die letztlich Parzival in der Weltverfallenheit und Verzweiflung an der Wechselhaftigkeit der Welt stützt. Das Problem der Kontingenz der Welt gegenüber einer providentiellen Ordnung ist nicht gelöst, nur im Wunder aufgehoben“. Zur Bedeutung von inszenierter Körperlichkeit in der höfischen Literatur vgl. Brüggen 1998. Strohschneider 2006. S. 52. Zum medialen Aspekt der Textkonzeption vgl. Strohschneider (ebd.), der hier aber nicht explizit mit religiöser Kommunikation argumentiert. Der Gedanke der Verkörperung ist dabei etwas, das sowohl dem Höfischen als auch dem Christlichen sehr nahe ist. Daher scheint es kein Zufall, dass gerade diese Vorstellung greift, um die beiden Systeme derart eng zusammenzuführen bzw. um sie im Erzählkörper Kyots koinzidieren zu lassen.
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Der heidnische Urheber des von Kyot in Toledo aufgefundenen Schriftstücks ist Flegetanis, der aus einer religiös-christlichen Perspektive mit allen Attributen vorchristlicher Wissenschaftlichkeit ausgestattete Nachfahre Salomons: ein heiden Flegetânîs bejagte an künste hôhen prîs. der selbe fisîôn was geborn von Salmôn, ûz israhêlscher sippe erzilt von alter her, unz unser schilt der touf wart fürz hellefiur. der schreip vons grâles âventiur. (453,23–30)
Zwei Aspekte treten in dieser einleitenden Beschreibung des ersten Vermittlers der grâles âventiur in den Vordergrund. Zum einen fällt auf, dass der metaphorisch gebrauchte Terminus des jagens erneut in Verbindung mit Sinn- bzw. Wahrheitssuche gebracht wird, und zum anderen, dass seine Wissenschaftlichkeit aus einer chronologischen Perspektive im Sinne von Vorläufigkeit betrachtet wird. Auch hier verweist die Jagdmetapher zunächst auf zweierlei Bezugsräume, die mit dem Blick auf Handeln mit Transzendenzbezug kaum mehr auseinanderzudividieren sind. Denn einerseits ist das jagen nach dem hôhen prîs jenem minnemetaphorischen Rededuktus zuordenbar, welcher das genuin Höfische des Handelns mit Transzendenzbezug markiert, und andererseits sind Flegetanis künste, um Sinn und Wahrheit zu erkunden, dezidiert auf einen Gegenstand des Religiösen ausgerichtet, auch wenn die heidensch list es nicht vermag ze künden umbes grâles art. Dies führt neben der ersten Auffälligkeit in der Beschreibung hinsichtlich höfischer (Minne-)Sprache bereits zum zweiten Aspekt, der Art und Weise von Wissenschaftlichkeit, auf die hier das Augenmerk gelenkt wird: Flegetanis wird als fisîôn bezeichnet. fisîôn meint nämlich nicht allein den sternkundigen „Kenner der Natur“,174 sondern dieser Bezeichnung liegt semantisch zugleich auch das lateinische visio zugrunde (in Gd heißt es auch: vision),175 was Flegetanis zu einem Visionär in einer Zeit macht, in der die Menschwerdung Christi noch nicht verkündet ist und die Taufe daher noch keine Erlösung und Schutz vor dem Höllenfeuer bieten kann (von alter her, unz unser schilt/ der touf wart fürz hellefiur). Noch unterstrichen wird diese Vorstellung von der Vorläufigkeit heidnischen Wissens durch die Abstammung Flegetanis, denn er gehört zum alten israelitischen Geschlecht Salomons (was geborn von Salmôn,/ ûz israhêlscher sippe erzilt). Salomon gilt im Alten Testament als das Ideal des weisen und wissenden Herrschers, das als dominierende Gestalt der jüdisch-biblischen Überlieferung entscheidende Bedeutung für die jüdische, christliche und islamische Tradition des Mittelalters gewann, „die das überlieferte Salomonbild mit zum Teil
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Lexer 1976. „fisîôn“, S. 290. Ebd. „visiôn“: Traumgesicht, Vision (lat. visio).
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phantastisch-okkulten Zügen ausschmückte“.176 Es wird ihm darüber hinaus die Urheberschaft zahlreicher naturwissenschaftlicher, aber auch magischer und okkulter Schriften zugerechnet. Das Bild Salomons entwickelt sich aus einer Fülle der ihm in den jüdischen Überlieferungen zugeschriebenen Eigenschaften, die insbesondere seine Weisheit und Einsicht betonen. In der mittelalterlichen Adaptation zeigt es sich als das „eines Empfängers und Tradenten der Adam von Gott gegebenen Geheimnisse der Großen Künste bzw. der Alchemie (so habe Salomon die Fähigkeit besessen, künstliches Silber innerhalb von 40 Tagen herzustellen). […] Die Einbindung Salomons in die Reihe auserwählter Tradenten der geheimen Kenntnisse bewirkte im 16. Jh., daß Alchemisten sich nicht nur als Erben okkulter Wissenschaften biblischen und göttlichen Ursprungs verstanden, sondern sich auch auf eine lückenlose bis zu Adam reichende Genealogie berufen konnten“.177 Auch in der westlichen und östlichen bildenden Kunst spielt Salomon als wichtiger Tradent von Wissen eine bedeutende Rolle, denn er wird als Vorfahre Christi (vor allem in Bildern der Wurzel Jesse) dargestellt.178 So scheint es nicht weiter wunderlich, dass auch die höfische Literatur sich dieses Verständnis von Vorläufigkeit heidnischen Wissens zunutze macht, um über die Semantisierungen der Figur Salomons (bzw. seiner sippe, im Parzival dann konkret über die Figur des Flegetanis), das Problem der Genealogie von an religiöser Kommunikation partizipierenden Texten zu thematisieren und zu verhandeln.179 In der 176 177 178
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Mattejiet 1995. Schmitz 1995. Engemann 1995. Sp. 1313. Vgl. zum genealogisch gedachten Konzept der Tradierung außerdem Kellner 2004. S. 55: Es „konnte die eigentliche Genealogia Christi um eine Reihe von alttestamentarischen Figuren (wie Propheten und Könige) oder um Allegorien (etwa von Kirche und Synagoge) erweitert werden, ohne daß jene einen geschlossenen Zusammenhang der Konsanguinität ausbildeten. Über die Genealogie Christi im engeren Sinne hinaus drängt sich, so könnte man folgern, in diesen Fällen die Konzeption einer umfassenderen Repräsentation der Geschichte und Heilsgeschichte in den Vordergrund“. Genealogie verstehe ich mit Kellner als eine für den Adel konstitutive Denkstruktur oder „Grammatik“ (ebd. S. 103), welche in erster Linie für das Problem der Kontinuität adliger (personal organisierter) Macht zuständig ist, indem Entwürfe von Ursprung und Tradition zur Legitimierung dieser Macht genutzt werden. Dieser genealogischen Ordnung ist ihrerseits eine spezifische Paradoxie inhärent, die Kellner folgendermaßen definiert: „Die große, die universale Geschichte vom Ursprung der Welt und der Menschheit konfligiert mit den partikularen Erzählungen vom Ursprung einzelner Gruppen. – Ursprung und Kontinuität ergeben sich so, dies die Folgerung, als die beiden zentralen Problemkonstellationen jeder genealogischen Ordnung“ (ebd. S. 108). Gerade diese paradoxe Konstellation im Entwurf dieses Denkmusters bietet sich, unter systemtheoretischen Prämissen betrachtet, natürlich hervorragend als Anschlusspunkt für die Funktion von Religion an, welche es schließlich durch die Kontingenzformel Gott erlaubt, diesen Widerspruch an das Transzendente auszulagern. Für ein Denkmuster wie Genealogie, das in dieser Weise in hohem Maße mit religiösen Strukturen arbeitet, scheint es mir dahingehend wenig erstaunlich, dass eine eindimensionale Logik nicht zu greifen scheint. Vielmehr erlaubt gerade der religiöse Code von Immanenz und Transzendenz, einen solchen Widerspruch als Einheit zu betrachten.
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Beachtung dieser Semantisierung ergibt sich eine Logik der Vorläufigkeit für die Tradierung, welche schließlich erklärt, warum Flegetanis zwar schreip vons grâles âventiur, aber als Heide den Sinn nicht zu erfassen vermag, dass er den hôhen prîs zwar bejagen kann, ihm aber zugleich die Erlösung durch das Erkennen der grâles art verwehrt bleiben muss.180 Um überhaupt die Möglichkeit zu haben, von Erlösung ze künden – und diese Formulierung gewinnt aus dieser Perspektive massiv an Gewicht –, das bedeutet, angemessen Erzählen zu können, ist die Taufe als Symbol des christlichen Paradoxons, des wahren Mensch- und Gottseins Christi, unbedingte Voraussetzung. Flegetanis’ Herkunft bietet diese Voraussetzung, so kommentiert die Erzählinstanz des Parzival, nun also absolut nicht: Er was ein heiden vaterhalp, Flegetânîs, der an ein kalp bette als ob ez waer sîn got. wie mac der tievel selhen spot gefüegen an sô wîser diet, daz si niht scheidet ode schiet dâ von der treit die hôhsten hant unt dem elliu wunder sint bekant? (454,01–08)
Auch Flegetanis Status als Tradent stellt sich dahin gehend als durchaus ambivalenter dar. Er entstammt zwar mütterlicherseits der auch für das Christentum bedeutsamen sippe des Salomon, aber durch seine väterliche Herkunft hat er an einer Religionspraxis teil, die Götzendienst an einem Kalb als ob ez waere sîn got leistet, was aus einer jüdisch-christlicher Perspektive als offenkundiges Kennzeichen für eine nicht auf Transzendenz ausgerichtete Religion fungiert.181 Die Erzählinstanz macht deutlich, dass das Judentum als (genealogisch eingebundenes) vorläufiges Konzept für die christliche Erlösung relativ unproblematisch eingebunden wird, aber dass im Gegenzug eine Religion, bei der das Handeln rein auf Immanentes ausgerichtet ist, hierfür als absolut prekär scheint (daz si niht schei180
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Vgl. hierzu auch den Medialität thematisierenden Ansatz von Strohschneider 2006. S. 53: „Hier wie da wird die Skriptographie nicht in ihrer Medialität, sondern allein in der sozusagen ‚reinen‘ Materialität der Grapheme behandelt, in beiden Fällen bleibt sie im ‚Diesseits der Hermeneutik‘. Das Sinnverstehen wird an der Phänomenalität der Schriftoberflächen gerade blockiert, das Diskursive bleibt unter ihnen eingeschlossen. Die einzige Ausnahme von diesem Regelfall ist Kyots Erschließung und Transposition des Toledoer Buches en franzoys. Die aber setzt neben besonderer ‚Meisterschaft‘ vor allem auch das Wunder der ihm in der Taufe zuteil gewordenen göttlichen Gnade voraus“. Auch in der Bibel ist die Geschichte der Anbetung des Kalbs als Abgrenzung zu immanent gedachten Gottesvorstellungen verstehbar. Im Hinblick auf das sich im Parzival hier andeutende Konzept eines Primats von Oralität könnte man hierin auch eine Parallele zu Aaron sehen, und zwar nach einem Umkehrprinzip der biblischen Geschichte: Denn Aaron ist es ja, der im Gegensatz zu Moses der mündlich Begabte ist. Moses als Schriftbringer ist aber erfolgreich, während Aaron religiös versagt, obwohl er der Sprecher ist. Insofern wäre das an Oralität orientierte Erzählkonzept des Parzival als selbstbewusster Gegenentwurf einer adlig-höfischen Kultur lesbar.
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det ode schiet/ dâ von). Denn, wie es im Text heißt, treibt der Teufel auf diese Weise seinen Spott mit den Leuten (wie mac der tievel selhen spot/ gefüegen an sô wîser diet). Alle Weisheit (sô wîser diet) nützt hier nichts, allein Gott (auch hier: die hôhste hant) macht das wunder der Rettung vor der Verdammnis möglich,182 in ihm vereinigen sich alle Unterschiede, weil ihm elliu wunder sint bekannt. Das Teuflische ist aus der christlichen Perspektive daher die Bezeichnung Gottes in der Immanenz (Flegetanis betet ein Kalb an), und deshalb gelingt es dem Forscher zwar die wunder Gottes zu sehen, zu beschreiben und ein Schriftstück über sie anzufertigen, aber sie verstehen und ihren Sinn erfassen kann er nicht. Mit dieser Unmöglichkeit von Wahrnehmen füllt der Text hier den Begriff des heiden im Gegensatz zu jenem Getauften, dem der sinnhafte Zugang zu den wundern Gottes eben nicht verwehrt bleibt. Als Gegenbild zum heiden ist an dieser Stelle auch das Bild des Rezipienten aus Prolog und Bogengleichnis präsent, denn dem steht es ja offen, religiösen Sinn zu inkorporieren und so zum Heil zu gelangen. Die nach dem zuletzt zitierten Textabschnitt folgende zweimalige Formulierung Flegetânis der heiden (454,09 und 454,17), welche stets als formelhafte Einleitung zur Beschreibung seiner wissenschaftlichen künste fungiert, markiert erneut und in aller Deutlichkeit den engen Zusammenhang von Sinnverstehen und religiösem Handeln mit Transzendenzbezug. Es werden zunächst die Genauigkeit Flegetanis’ Arbeit und seine enormen Kenntnisse betont, um gleich darauf auf das zu sprechen zu kommen, was an Bedeutsamen mit diesen künsten zwar verbunden ist, worüber er dennoch nichts auszusagen vermag: Flegetânîs der heiden kunde uns wol bescheiden ieslîches sternen hinganc unt sîner künfte widerwanc; wie lange ieslîcher umbe gêt, ê er wider an sîn zil gestêt. mit der sternen umbereise vart ist gepüfel aller menschlîch art. (454,09–16)
Der Umlauf der Sterne (der sternen umbereise vart) zeichnet einen Raum der Transzendenz. In ihm ist die göttlich providentielle Ordnung angesiedelt, denn allein von dort ist aller menschlîch art einsehbar und das heißt im Hinblick auf Funktionszusammenhänge der Unterscheidung Gottes von der Welt: von einem privilegierten Standpunkt aus paradox beobachtbar. Oder wie Strohschneider es formuliert: „In den Sternen läßt sich beobachten, wovon der Astronom, zurückschreckend vor dem Tremendum des Numinosen, allenfalls mit Scheu spricht und was auch der Erzähltext zunächst bloß tautologisch faßt: geheime Geheim-
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Systemtheoretisch formuliert, macht Gott die Selektion des Unwahrscheinlichen und damit für die Immanenz Kontingenz möglich.
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nisse“.183 Flegetanis erblickt am Firmament nämlich das, für das sein Heidentum keine Handlungsmöglichkeiten bereithält, weshalb er auch nur mit Scheu davon zu sprechen bereit ist. In den Sternen liest er den Namen des Grals: Flegetânîs der heiden sach, dâ von er blûweclîche sprach, im gestirn mit sînen ougen verholenbaeriu tougen. er jach, ez hiez ein dinc der grâl: des namen las er sunder twâl inme gestirne, wie der hiez. (454,17–23)
Dass Flegetanis den Namen des Grals allein mit seinen Augen liest, weist eine deutliche Differenz zu den Forderungen des höfischen (Text-)Systems an seine Rezipienten auf. Im Prolog und Bogengleichnis waren für Erkenntnis nämlich alle Sinne gefordert. Allerdings ist dieses Wahrnehmen auf rein schriftlicher Basis natürlich auch logische Konsequenz aus seinem Heidentum, denn der Zugang zum Sinn des Textes bleibt ihm wie gesagt ohne die Taufe ja verwehrt: Sein Blick bleibt am Immanenten haften. Den Namen des Grals zu lesen gelingt ihm ganz leicht, wohingegen das Sprechen von ihm äußerst schwierig (nur blûweclîche möglich) ist, denn – das macht der Ausdruck des Transzendentreligiösen im Text klar – wie sollte er, ohne dass er es vermag, an der religiösen Kommunikation teilzuhaben, ohne sie wahrzunehmen, dafür Worte finden. Aus der Sicht des christlich-höfischen (Text-)Systems184 wirkt hier Gott durch den Heiden Flegetanis. Was dieser schließlich produziert, ist eine reine Abschrift dessen, was er in den Sternen liest, also den graphemischen Namen des Grals und eine Schrift, in deren Materialität dessen Geschichte, der eigentliche Sinn des Textes, verborgen liegt: ‚ein schar in ûf der erden liez: diu fuor ûf über die sterne hôch. op die ir unschult wider zôch, sît muoz sîn pflegn getouftiu fruht mit alsô kiuschlîcher zuht: diu menscheit ist immer wert, der zuo dem grâle wirt gegert.‘ Sus schreip dervon Flegetânîs. (454,24–455,01)
Noch vor dem Gespräch Parzivals mit Trevrizent, der ihn schließlich über seine genealogischen Wurzeln aufklärt und ihm überdies von den unentschiedenen Engeln erzählt, gestattet die Erzählung bereits an dieser Stelle einen Einblick in die Hintergründe der Gralsgeschichte, die gleich dem Gegenstand grâl eine transzendente Herkunft aufweist. In der Fokussierung auf die Materialisierung der Ster183 184
Strohschneider 2006. S. 53. Aufgrund der symptomatischen Koinzidenz des höfischen (Text-) und des religiösen Systems lässt sich an dieser Stelle auch von einer gemeinsamen Perspektive der Beobachtung sprechen.
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nenschrift lässt sich mit Strohschneider formulieren: „Im Regreß der Traditionsgeschichte der âventiure, die von Wolfram über Kyot und Flegetanis bis zu ihr hin führt, bildet diese Sternenschrift den primordialen Prätext. […] Aus der Schrift am Firmament geht der innerweltliche Schrift-Text hervor, indem Flegetanis sie abschreibt, und dies bildet den ersten Akt eines Retextualisierungsgeschehens, dessen letzter der aktuelle Erzähltext Wolframs wäre“.185 In diesem letzten Erzähltext Wolframs treten drei Semantisierungen in der Beschreibung der Gralshüter und ihrer Geschichte deutlich in den Vordergrund: Zum einen ist dies zum wiederholten Male das Symbol der Taufe (sît muoz sîn pflegn getouftiu fruht), welche als Vorschuss an göttlicher Gnade den Zugang zur Sinnstiftung reguliert, und zum anderen verlangt die Gralsberufung einen bestimmten, offenbar zeichenhaft auf Gott ausgerichteten Habitus (kiuschlîcher zuht).186 Darüber hinaus fällt auf, dass die Semantisierung wert187 hier als deutlich markiertes Bindeglied höfischer und religiöser Wertschätzung fungiert, insbesondere wenn formuliert wird, dass der menscheit derjenige immer wert sei, wer zuo dem grâle wirt gegert. Dies sind augenscheinlich diejenigen Semantisierungen, mit denen der Text Anschlussfähigkeiten an das höfische (Text-) und das religiöse System in Form des Koinzidierens in Szene setzt und mit welchen er zugleich, da es hier um seinen eigenen genealogischen Entwurf geht, seine Herkunft aus dem Transzendenten perspektiviert. Erst nachdem der Textsinn die Grenze zum Christlichen passiert hat, erhält er in Kyot einen (mündlich erzählenden) Körper, der ihn einerseits der Flüchtigkeit von Schrift enthebt – gleich der Schrift auf dem Gral ist bezeichnenderweise auch die Sternenformation durch Latenz gekennzeichnet. Zudem findet Kyot die Abschrift des Flegetanis in Toledo verworfen (453,12) vor, was das Aufdecken von Bedeutung des Verlorengegangenen verbildlicht und damit die Bergung von Sinn durch Kyot markiert. Andererseits ist auch erst diese erzählte Erzählerfigur Kyot in der Lage, die Geheimnisse aus der Transzendenz mit verfügbarem historiographischem Wissen aus der Immanenz zu verknüpfen. Denn Kyot beginnt die Chroniken vieler Länder nach den Sippen zu erforschen, die mit dem Gral verbunden sind und deren gemeinsamer Nachfahre der Held dieses maeres ist. Fündig wird er schließlich in Anschouwe,188 und zwar „[…] indem sein Umgang mit der 185 186
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Strohschneider 2006. S. 54. Auf die Semantisierung der kiuschen Körper als auf Transzendenz ausgerichtetes lesbares Zeichen wird in der Analyse der Gralsgesellschaft in Kapitel: IV. 2.2. näher eingegangen werden. Man könnte dies auch als Ehrzuweisung interpretieren. Kyôt der meister wîs diz maere begunde suochen in latînschen buochen, wâ gewesen waere ein volc dâ zuo gebaere daz ez des grâles pflaege unt der kiusche sich bewaege.
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Schrift gerade nicht auf deren Oberfläche haften bleibt. Erst in dieser hermeneutischen, man möchte sagen: philologischen Praxis wird das Schrift-Stück zum Kommunikationsmedium“.189 Von dem Schrift-Stück als Kommunikationsmedium kann deshalb gesprochen werden, weil der enthaltene Sinn auf diese Weise zum ersten Mal eine Form gewinnt. Von einem religiösen Kommunikationsmedium muss deshalb gesprochen werden, weil diese Art Sinn das Transzendente des Grals mit der Immanenz seiner Hüter in Verbindung zu bringen vermag. Die von Kyot aufgespürte Verbindung des Grals mit dem Sippenverband gibt dazu erste Einblicke in dieses Geflecht aus göttlichem Wirken in Form der flüchtigen Sternenschrift und dem irdischem Herrschaftsverband in Gestalt der Sippenkörper des Mazadan- und des Titurel-Geschlechts. Im Hinblick auf den intratextuellen Selbstentwurf des Textes lässt sich hier somit schlussfolgernd formulieren, dass die Kyot-Figur als ein narratives Prinzip fungiert, das parallel zur religiösen Kommunikation an den Stellen zum Einsatz kommt, an denen entsprechende Widersprüchlichkeiten, bzw. auch jeweils zwei große Bereiche, zusammengebunden werden. Religion hat es hier mit der Problematik eines Ursprungs im Heidnischen und der Tradierung ins Christliche hinein zu tun, die narrative Erzählung thematisiert ihre eigene Genese entsprechend als Abschrift einer Sternenformation und ihrer medialen Tradierung im (zumindest fingiert) mündlichen Erzählen. Als Ort der Begegnung fungiert der transformative Raum Toledo.190 Die Parallelität in der Verhandlung beider Systeme liegt in der Selbstreflexivität, welche beide Systeme im Angesicht der Thematik von Ursprung und Gewährung von Kontinuität zutage treten lassen. Diese Selbstreflexivität findet sich einerseits im religiösen System, da die Taufe als paradoxer Ursprung und gleichzeitiger Garant für Heil benannt wird, und andererseits auch im höfischen (Text-)System, da die Erzählung ihre Legitimation und Bedeutsamkeit auf einem eigenen fiktionalen
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er las der lande chrônicâ ze Britâne und anderswâ, ze Francrîche unt in Yrlant: ze Anschouwe er diu maere vant. er las von Mazadâne mit wârheit sunder wâne: umb allez sîn geslehte stuont dâ geschriben rehte, unt anderhalp wie Tyturel unt des sun Frimutel den grâl braeht ûf Amfortas, des swester Herzeloyde was, bî der Gahmuret ein kint gewan, des disiu maere sint. (455,02–22) Strohschneider 2006. S. 55. Das Transformative Toledos ist dadurch bestimmt, dass hier ein Raum entworfen wird, in dem die Funktion von Religion wirksam werden kann, die das Unbestimmte ins Bestimmbare herüberholt und auf diese Weise einen Prozess der Sinnproduktion auslöst.
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Entwurf (der Erzählerfigur des Kyot) gründet.191 Der vorrangige Berührungspunkt von Religion und höfischer Narration ist aber Parzival selbst, der sich als Figur als ein Kind der maere zeigt192 und dessen Weg und Erlöserfunktion zugleich – bei entsprechender Rezeptionshaltung – das Heilsversprechen für den Rezipienten birgt. Das führt für das Folgende zweifelsohne zu der Frage, worin denn der Verhandlungsgegenstand der narrativ-religiösen Kommunikation besteht, die das Transzendente so nah an das Immanente heranrücken lässt. Und: Auf welche Parameter von Gottesentwürfen ist der sich auf diese Weise sakralisierende Selbstentwurf des Textes zurückzuführen? Um diesen Fragen weiter nachspüren zu können, wird es daher zwingend notwendig, den mystifizierten Gegenstand Gral und seine wunder selbst unter die Lupe zu nehmen und sie auf ihre Funktionalität hin zu befragen.
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Systemtheoretisch entspricht dies auch einer spezifischen Form des Koinzidierens, nämlich der strukturellen Kopplung: Zwei Systeme treffen sich und gleich danach gehen sie wieder auseinander, d. h. Selbstreferentialität ist wieder aktiviert. Einschlägig hierfür ist auch die Bezeichnung der Erzählinstanz für Parzival bei dessen erster Begegnung mit Sigune: Er ist der knappe maere (139,09).
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Märchenhaft göttliche Magie oder die Funktionen des Grals
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IV. Erzählen vom Gral und seinen wundern 1. daz was ein dinc, daz hiez der Grâl: märchenhaft göttliche Magie oder die Funktionen des Grals Im vorausgehenden Kapitel über die Selbstreflexivität höfischen Erzählens im Bogengleichnis konnte dargestellt werden, wie das höfische Erzählen angesichts des wunders mit Selbstreferentialität zu operieren beginnt.1 Während dort die paradoxe Form des höfischen Erzählens vom Religiösen und die narrative Dynamik im Vordergrund gestanden sind, soll hier nun der Fokus der Analyse auf den religiösen Gegenstand selbst und insbesondere seine Funktionalität gerichtet sein. Um im dichten Textgewebe aber nicht den roten Faden der Frage nach den Funktionen zu verlieren und auch, um der hohen Komplexität dieses Gewebes interpretatorisch überhaupt beikommen zu können, muss das Frageinteresse dieser Arbeit zur Darstellung der Gralswunder von prinzipiellen Fragen nach dem Wesen des Grals oder aber auch nach möglichen historischen Vorbildern von Wolfram absehen.2 Ziel der Analyse soll hier vielmehr die Erkundung narrativer Strategien sein, mit denen der Text über den Gral und dessen Geschichte am Religiösen partizipiert und sich religiös codierte Kommunikation narrativ zunutze macht. Die Frage ‚Was ist der Gral?‘ wird dementsprechend umzuformulieren sein in Fragen wie: Welche Formen des höfischen (Text-)Systems erlauben es, vom Gral und seinen wundern im Sinne einer symbolischen Verknüpfung von Immanenz und Transzendenz zu erzählen? Und vor allem auch: Welche Funktio1 2
Vgl. hierzu Kapitel: III. 2. Stellvertretend hierfür sei die Arbeit Burdachs genannt: In seiner Untersuchung über den „Ursprung“ des Grals und den „Zusammenhang mit der Longinuslegende“ repräsentiert er die typisch ältere (hierarchische Einfluss-)Forschung, welche stets darum bemüht war zu erklären, woher der Autor Wolfram die Inspiration für seine literarische Darstellung des Grals hatte. Burdach versucht anhand von Chrétiens ‚graal‘ (das Kapitel über Wolframs Roman verfasste sein Bearbeiter Bork, der ihm in seinen Ergebnissen jedoch auch für den deutschen Roman zustimmt) nachzuweisen, dass die Gralsprozession eine Parallele zur byzantinischen Messliturgie Johannes Chrysostomos aufweist: „Die szenisch-dramatischen Elemente der Gralsage, die Gralprozession, hat ihr Urbild nun aber, wie ich glaube, in der byzantinischen Messe“(Burdach 1974. S. 129). Der Gral stellt für Burdach ein „eucharistisches Gefäß“ dar und der silberne Teller die Patene, die aufgrund der Tatsache, dass der Gral als „vollständig unbedeckt“ beschrieben wird, „nicht wie sonst in der Messe und in der Krankenkommunion auf den Kelch gelegt war“ (S. 433f.). Er geht daher davon aus, dass in der Gralssage die Messliturgie nach Chrysostomos in literarische Bilder umgesetzt worden ist (S. 187f.). Aufgrund des Frageinteresses dieser Arbeit nach kommunikativen Funktionen scheinen mir derart gestaltete Ansätze jedoch genau in die entgegengesetzte Richtung zu führen.
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Erzählen vom Gral und seinen wundern
nen kommen dem mit einem Gottesbezug versehenen Gral für die erzählten Welten des Parzival zu? Was bewirken seine wunder in der Immanenz des höfischen (Text-)Systems bzw. wie funktionieren sie? Es soll dazu im Folgenden ein relativ breiter Fokus angelegt werden, der es erlaubt, durch einen strukturorientierten Blick das grundlegende narrative Konzept ‚Erzählen vom Gral‘ im Text zu extrahieren. Hauptgegenstand sind die Darstellung, Wahrnehmung und Funktionen der Gralswunder, anhand derer ein solches narratives Konzept zu untersuchen sein wird. Festzuhalten gilt hierfür zunächst einmal, dass das gesamte Geschehen auf Munsalvaesche allein aus den Augen Parzivals geschildert ist. Eine religiöse Interpretation der Ereignisse erfolgt wie bereits angesprochen erst im IX. Buch bei der Einkehr Parzivals bei Trevrizent. Nach den bisherigen Ergebnissen bedeutet das, dass der im Text genutzte Raum für die religiöse Deutung die Figurenebene ist. Es sei darüber hinaus daran erinnert, dass über diesen Auslagerungsmechanismus jene fremdreferentielle Dimension des höfischen (Text-)Systems aktiviert wird, welche es dem höfischen Erzählen im Parzival erlaubt, im Angesicht der Formulierung und Deutungsnotwendigkeit religiöser Wahrheiten Handlungsfähigkeit zu erhalten. Als narrativer Grund für die Synchronisation der Rezeptionsebene mit der Perspektive des Protagonisten lässt sich das Heilsversprechen an die Rezipienten proklamieren, die sich ansonsten mit einer falschen – im Sinne von in die Verdammnis führenden – religiösen Deutung der Erzählinstanz affizieren könnten: Der Erzählinstanz ist es im Dienste der âventiure während des gesamten Geschehens auf der Gralsburg schlichtweg unmöglich von den verholnbaeriu tougen zu berichten; die Artikulation verborgener Geheimnisse liegt, wie bereits erläutert, nur als Figurenaussage vor.3 Das V. Buch, in dem Parzival nach Munsalvaesche gelangt und dort dem Helden zum ersten Mal die wunder des Grals gewahr werden, ist dementsprechend durch eine Ansprache der Erzählinstanz an die Rezipienten eingeleitet: Swer ruochet hoeren war nu kumt den âventiur hât ûz gefrumt, der mac grôziu wunder merken al besunder. lât rîten Gahmuretes kint. swâ nu getriwe liute sint, die wünschn im heils: wan ez muoz sîn daz er nu lîdet hôhen pîn, etswenne ouch freude und êre. (224,01–09)
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In Bezug auf das religiöse Moment der Gralswunder tritt die Erzählinstanz mehr als deutlich in den Hintergrund. Der gesamte Gralsaufzug wird aus der Perspektive Parzivals beschrieben. Aussehen und Hintergründe des Grals erfahren die Rezipienten erst zusammen mit Parzival im IX. Buch. Eine Erklärung der Erzählinstanz in der Form eines bîspel, die Erklärung ihrer narrativen Verfahrensweise, findet sich wie dargestellt in der (an die Darstellung der wunder anschließenden) poetologisch selbstreflexiven Passage des Bogengleichnisses.
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Diese ersten Worte künden bereits von der religiösen Bedeutsamkeit der kommenden Geschehnisse, und zwar auf allen Ebenen der Erzählung: Überall wo sich getriuwe liute finden lassen, mögen diese dem Helden heil wünschen. Im Angesicht der wunder wird folglich dasselbe Erzählkonzept aktiviert, das auch in den bereits untersuchten poetologisch selbstreflexiven Passagen des Textes vorliegt: Die âventiure hat den Protagonisten ausgesandt und grôziu wunder geben der Erzählinstanz und den Rezipienten als getriuwe Begleiter die Möglichkeit, mit ihm daran teilzuhaben, d. h. sie zu merken al besunder. Die auffordernde Formulierung lât rîten Gahmuretes kint unterstreicht, dass die Fäden der Geschichte nun in der Hand der Herrin âventiure liegen und dass die Ereignisse jeglichem Einfluss, sei es dem Einfluss der Rezipienten oder auch der Verfügungsgewalt der Erzählinstanz, entzogen sind.4 Weil nur Gott Gewalt über wunder hat (der aller wunder hat gewalt 43,08), geriert sich die Erzählinstanz also erneut als Vermittler, der im Dienst der personifizierten âventiure steht. Übrig bleibt nur der Heilswunsch für Parzival und dazu für diejenigen, die bereit sind, ihn mit der Hoffnung auf freude und êre auf seinem Weg durch großes Leid zu begleiten. Nur diesen getriuwen liuten wird es aber auch möglich sein, mit ihm an den wundern des Grals teilzuhaben und die von der Transzendenz offenbarten verholnbaeriu tougen (454,20), wie es in der Flegetanis-Episode heißt, bestaunen zu können. Die einführenden Worte des V. Buches künden folglich von den fortan nun ganz offensichtlich die Parzivalhandlung bestimmenden Koinzidenzien von religiösem und höfischem (Text-)System: Gottes wunder werden selbst zum Gegenstand der Beobachtung, der höfische Text reflektiert seinen Umgang mit dem Religiösen und macht somit seine basalen Verschränkungen höfischer und religiöser Erzählmuster einsehbar. Die einleitenden Worte betonen hier, dass alles, was im Folgenden von Munsalvaesche und Parzivals Kampf für den Gral berichtet werden kann, in direktem Zusammenhang mit dem göttlichen Heilsgeschehen, und das heißt auch mit Parzivals Heil und dem seiner getriuwen Begleiter, steht.
1.1. Semantisierungen und erzählerische Darstellung der wunder des Grals Vom Gral erfährt man in der Erzählung von Parzivals Einkehr auf Munsalvaesche, als der Gral von Repanse de Schoye in den Saal getragen wird, lediglich, dass er ein dinc sei, das der erden wunsches überwal (235,23f.) ist. Er symbolisiert neben dem absoluten irdischen Glück zugleich aber auch das himmlische: 4
Der betonte Mangel an Verfügungsgewalt über die Figuren zeigt sich auch sehr schön an dem kommentierenden Einschub der Erzählinstanz, nachdem Parzival auf keines der Zeichen, die ihn zum Fragen bewegen sollen, reagiert hat und schließlich zu Bett gegangen ist: nu solt ich schrîen wâfen umb ir scheiden daz si tuont: ez wirt grôz schade in beiden kuont. (242,16–18)
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Er ist der wunsch von paradîs, bêde wurzeln unde rîs (235,21f.). Doch ganz grundsätzlich ist der Gral wie das Numinose nicht zu benennen und nicht zu beschreiben, er ist schlicht ein dinc.5 Der verwendete Begriff verrät hier bereits, dass sich der Gegenstand jeglicher Darstellungsmöglichkeit entzieht. Versucht man trotzdem das Essentielle zu fassen, kommt man auf folgende Darstellungsstruktur: Der Gral ist das Bindeglied zwischen Himmel und Erde. Er hat zugleich am Immanenten und am Transzendenten teil. Sein Mysterium ist das Zentrum, um das sich die Erzählung bei der Darstellung des Nicht-Fassbaren, des Unbeschreiblichen, zu arrangieren scheint und sie findet dafür eine paradoxe Form von höchster terminologischer Dichte: Denn mit dem Begriff des wunsches wird die Einheit des Paradoxen, die Einheit des Gegensätzlichen von Erde und Paradies, durch die Bedeutung von ‚Wunsch‘ als einer alles implizierenden Möglichkeit noch deutlich intensiviert. Man kann auch sagen: Hier ist die Terminologie wunsch von „zur Bezeichnung eines über den Superlativ hinausgehenden Ideals gebraucht“.6 Auch die Gleichzeitigkeit von wurzeln und rîs fasst die paradoxe Semantisierung des Grals bildhaft zusammen, denn die Vorstellung einer organischen Einheit von Wurzeln und Zweigen metaphorisiert nicht allein die allumfassende Vollkommenheit,7 sondern das Visuelle dieser Darstellung offenbart darüber hinaus auch ihren religiösen Kontext. Im Bild der Wurzel Jesse findet sich nämlich eine entsprechende mittelalterliche Darstellungskonvention, die diesen semantischen Verweis auf Religiöses zu transportieren vermag. Ihr semantischer Gehalt, in dem Wurzel und Spross zur gleichen Zeit zusammenkommen, beruht auf der Prophezeiung Jesajas über die Ankunft des gerechten Königs, des Messias.8 Was all ihren verschiedenen ikonographischen Darstellungen gemein ist, ist der Verweis auf den göttlichen Heilsplan, der in Christus gipfelt und zugleich den gesamten Kosmos umfasst.9 Da die bildhafte Beschreibung des Grals an dieser Stelle eine Form annimmt, die dezidiert auf die Ankunft des Erlösung bringenden Herrschers verweist, kann die Annahme einer analogen Inszenierung des Textes von Christus und Parzival kaum ausbleiben. Als bezeichnend für den Parzival erscheint hier, dass diese Möglichkeit der Deutung in der Darstellung des Bildes im 5
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Auch Flegetanis spricht bei dem, was er in den Sternen gelesen hat, von einem dinc, das der grâl genannt würde (454,21). Bezeichnend ist auch, dass der Wolframsche Text das Wort graal (afrz. Gefäßbezeichnung im Sinne von ‚Platte‘, ‚Schüssel‘ oder ‚Schale‘) zwar aus der Chrétienschen Vorlage übernimmt, dieses dann aber in einen Eigennamen verwandelt, der im Parzival nichts als sich selbst bezeichnet (vgl. Kordt 1997. S. 111–114). Ebd. S. 109. Vgl. hierzu ebd. S. 110. „Es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen. Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Frucht des HERRN“ (Jes 11,1–2). Vgl. Seibert 2002. S. 341.
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Text bereits mitschwingt, eine vereindeutigende Auslegung (wie beispielsweise durch einen Kommentar der Erzählinstanz) jedoch unterbleibt. Es ist hier die spezifische Art des Erzählens von der Verknüpfung göttlicher Vorsehung eines Erlösers und dem Weg seines Helden, die dezidiert auf der Bildebene des Textes gelagert ist und den Blick bei den Geschehnissen auf der Gralsburg in dieser Weise auf entsprechende Koinzidenzien zu lenken vermag. Zudem scheint es aus kunsthistorischer Sicht auch kaum ein Zufall, dass die Darstellung gerade im Verweis auf die christliche Heilsgeschichte eine Form annimmt, welche den Rezipienten als Betrachter des literarischen Bildes zentral miteinbezieht. Hierin findet sich eine Parallele zu ikonographischen Darstellungskonventionen mittelalterlicher Malerei, welche auf Bildern, die Stationen und Bezüge von Heilsgeschichte zum Thema haben, häufig eine frontalsymmetrische Ausrichtung aufweisen.10 Durch diese Frontalsymmetrie (und auch durch deren relative Starrheit in der Wirkungskonzeption) ist der Betrachter des Bildes direkt in den überzeitlichen Zusammenhang der Heilsgeschichte und somit in die christliche Vorstellung von Erlösung miteinbezogen. Der Betrachter wird zu einem Teil des Bildes – und analog dazu besteht auch im Parzival das Angebot an den Rezipienten, über die Beachtung der Bildebene des Textes und die Reflexion des religiösen Zusammenhangs an der Heilsgewinnung des Helden zu partizipieren. Die Erzählinstanz verpflichtet die Rezipienten dementsprechend auf ihren Eid, die Darstellung des Grals nur aus der gebotenen Perspektive, welche die Wahrnehmung der wunder mit der Beobachterperspektive Parzivals teilt,11 zu betrachten. Sie fordert: man sagte mir, diz sag ouch ich ûf iwer ieslîches eit, daz vorem grâle waere bereit (sol ich des iemen triegen, sô müezt ir mit mir liegen), swâ nâch jener bôt die hant, daz er al bereite vant spîse warm, spîse kalt, spîse niwe unt dar zuo alt, daz zam unt daz wilde. esn wurde nie kein bilde, beginnet maneger sprechen. der wil sich übel rechen: 10
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Wie bedeutsam der Rezipientenbezug als Deutungsfolie auch in den mittelalterlichen Illustrationen der Texte ist und die Art und Weise des Einbezugs des Betrachters sogar ein eigenes Bildprogramm der Erzählung formulieren kann, belegen vor allem die Arbeiten Norbert Otts. Vgl. hierzu beispielsweise Ott 2002; hier insb. S. 176f. Die Rezipienten teilen sich hier Parzivals Augen, wenn es heißt: wol gemarcte Parzivâl die rîcheit unt daz wunder grôz: …(239,08f.)
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wan der grâl was der saelden fruht, der werlde süeze ein sölh genuht, er wac vil nâch gelîche als man saget von himelrîche. […] Môraz, wîn, sinopel rôt, swâ nâch den napf ieslîcher bôt, swaz er trinkens kunde nennen, daz mohter drinne erkennen allez von des grâles kraft. (238,08–239,05)
Ähnlich wie im Bogengleichnis ist auch die Ansprache der Erzählinstanz an die Rezipienten an dieser Stelle als laientheologische Konzeption des Textes lesbar. Mit der erneuten Bewusstmachung des Erzählprozesses wird der Heilsbezug reaktiviert, an dem Erzählinstanz und Rezipienten gleichermaßen partizipieren. Die Formulierung man sagte mir, diz sag ouch ich/ ûf iwer ieslîches eit nimmt auf die genealogische Erzähltradition Bezug, nach welcher die Erzählinstanz des Parzival der rechtmäßige Tradent der rehten maere Kyots ist. Daher lässt sich postulieren, dass die vereidigte Teilhabe der Rezipienten am Erzählprozess auch weit mehr impliziert als lediglich eine „ironische Umkehrung der erwarteten Beglaubigung ‚bei meinem Eid‘“12. Der oben zitierte appellative Einschub der Erzählinstanz erklärt sich in einem heilsperspektivischen Zusammenhang dergestalt auch als Wahrheitsverpflichtung (sol ich des iemen triegen,/ sô müezt ir mit mir liegen), denn Erzähl- und Rezipientenhaltung werden so im Angesicht des Mysteriums von rîcheit und dem wunder grôz mit dem Erleben des Helden parallelisiert.13 Was aus einer falsch eingenommenen Perspektive auf die Darstellung aufgrund ihres heilsgeschichtlichen Gehalts jedoch resultieren kann, ist, dass demjenigen, der es wagt, der bildhaften Darstellung der wunder zu widersprechen (esn wurde nie kein bilde, beginnet maneger sprechen), beziehungsweise welcher der Erzählung keinen Glauben zu schenken vermag, droht, zum Ungläubigen zu werden. Ein solcher Rezipient reagiert auf die Erzählung in falscher Weise (der wil sich übel rechen), und das bedeutet, ein solcher Rezipient disqualifiziert sich nicht nur als höfischer Zuhörer, sondern er trifft vor allem in religiöser Hinsicht eine falsche Entscheidung, die ihm – zumindest potentiell – die Verdammnis in Aussicht stellt.14 Die Beobachtung des Rezipienten wird auf diese 12 13
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So: Kordt 1997. S. 128. Die eigentlich religiöse Auslegung und Deutung der wunder erfolgt wie bereits erwähnt ja nicht aus deren Beobachtungsperspektive, sondern die auf Eindeutigkeit zielende religiöse Auslegung ist ebenfalls auf der Figurenebene gelagert: Erst Trevrizent wird Parzival und den Rezipienten von der Oblate erzählen, die dem Gral die Kraft des Speisewunders verschafft (469,29–470, 20). Vgl. hierzu Kordt 1997. S. 129: der will sich übel rechen ist zu übersetzen mit: der „fängt es verkehrt an“, „irrt sich gewaltig“, „trifft es nicht richtig“ im Sinne von „Mit einer vorschnellen Verurteilung verhält man sich dem Gral gegenüber nicht angemessen“. Diese Angemessenheit gegenüber dem Gral hat allerdings nicht per se, sondern eigentlich erst unter der religiösen Prämisse von Heilsaussicht Sinn. Eine solche Rezipientenhaltung (jener, die sich übel rechen)
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Weise in direkten Zusammenhang mit seinen eigenen Heilsaussichten gesetzt. Die Darstellung ermöglicht es ihm, über die spezifische Perspektivierung am Erleben des Helden zu partizipieren und fordert ihn zugleich in religiöser Hinsicht zur (begrenzt) kritischen Reflexion auf.15 Der Text expliziert diesen Zusammenhang durch den Terminus des erkennen(s): Es wird über das Visuelle im Text eine Wahrnehmungsmöglichkeit angeboten (die Möglichkeit ist hier über mugen ausgedrückt), die zur Einsicht in die Verbindung der wunder mit der grâles kraft führt. Literaturrezeption ist im Parzival folglich nicht allein ein wünschenswerter höfischer Zeitvertreib oder rein ästhetische Spielerei, sondern aufgrund der konzeptionellen Koinzidenzien von höfischem (Text-) und religiösem System in Form von narrativer Partizipation am Religiösen stellt sie mit ihrem engen Bezug zum Heilskonzept des Textes die Verdammnis oder die Gnade Gottes in Aussicht. Die Verpflichtung der Rezipienten durch die Erzählinstanz lässt sich aus einer narratologischen Perspektive mit Ridder auch als „Fiktion als Resultat literarischer Kommunikation“ verstehen. Gemeint ist damit, dass das wunder als Ausgangspunkt dient, um Prozesse der Textherstellung und der Rezeption als simultanen Akt zu inszenieren: „Wahrheitsbeteuerungen und Unfähigkeitstopoi, Höreranreden und Hörerauftritte sowie Reflexionen über das richtige Erzählen und über die richtige Aufnahme des Textes sind Teil eines inszenierten Diskurses zwischen der fiktiven Erzählinstanz und den imaginierten Zuhörern“.16 Das Besondere dieser Inszenierung ist nun aber, dass der mit Ironie behaftete Appell an die Wahrheitspflicht gerade zur Verifizierung etwas offenkundig Nicht-Überprüfbaren (wie eben die Verifizierung der Gralswunder) auffordert, womit eine Reflexion über den Wahrheitsgehalt und über den Sinn der Erzählung ausgelöst wird. Ridder schreibt hierzu: „Die Inszenierung des textinternen Diskurses ist nun aber so angelegt, dass sie ständig in Widersprüche zur realen Rezeptionssituation führt. […] Fiktion wird so in besonderer Weise als Funktion von literarischer Kommunikation bewusst (also des Zusammenspiels von literarischer Tradition, Besonderheit eines Einzeltextes und literarischer Konvention)“.17 Die Erzählung fordert durch das Kenntlichmachen von textinternen Fiktionalitätsdiskursen dazu auf, so lässt sich daraus schlussfolgernd formulieren, im Besonderen ihre spezifischen Formen zu reflektieren, gerade weil diese elementar mit dem religiösen Wahrheitsanspruch des Textes verwoben sind. Über Ridder hinaus lässt sich auch festhalten, dass der Installation des Fiktionalitätsdiskurses auf der Ebene von Wahrnehmung hier eine Möglichkeit impliziert ist, die religiöse Dimension des Textes im Bildhaften zu lesen und in die Reflexion mit einzubeziehen.
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gleicht der Beobachterperspektive Parzivals, der die religiöse Konnotation eben auch nicht zu lesen versteht. Wer diese Sinndimension nicht wahrnehmen kann, und das heißt: wer nicht an religiöser Erkenntnis teilhaben kann, fällt aus diesem System heraus wie Parzival, der im weiteren Verlauf mit dieser Perspektive gewissermaßen zum Heiden wird. Ähnlich auch: Schu 2002. S. 269. Ridder 2003. S. 42. Ebd.
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Bei der konkreten Beschreibung der Wunderkraft des Grals im V. Buch fällt zunächst einmal auf, dass darin die irdischen Güter im Vordergrund stehen: Das Tischlein-deck-dich-Wunder erfüllt jeden erdenklichen Wunsch nach Speise und Trank. Die märchenhafte Funktion des Grals erfüllt damit zugleich die Utopie einer herrschaftlich-höfischen Verschwendungslogik, nach deren Formel die schiere Menge an Speisen und Wein auf einem Fest die Bedeutsamkeit und Macht des Gastgebers zu repräsentieren vermag. Während Parzival von Gurnemanz für die höfische Welt mit einer Art ökonomischer Fürstenlehre ausgestattet wurde, nach welcher der Herrscher rehte mâze in seinen Ausgaben und Einnahmen halten solle, begegnet das Speisewunder auf Munsalvaesche diesem feudalhöfischen Problem, dass Repräsentation auch auf Einkünften beruht, mit der direkten Versorgung durch den Gral:18 die pfrüende in gît des grâles kraft (470,20). Er wird daher als Summe der werlde süeze bezeichnet. Auf den ersten Blick scheint somit das märchenhafte Speisewunder des Grals im Wesentlichen allein durch höfische Prachtentfaltung und Festlichkeit bestimmt. Allerdings, und das hat die Forschung auch schon lange erkannt, lassen die „aus dem religiösen Bereich stammenden Umschreibungen für die Wunderkraft des Grals (‚Paradies‘ [235,21], ‚Himmelreich‘ [238,24]) […] schon ahnen, daß der Gral auch eine religiöse Bedeutung hat“.19 Diese Bedeutung findet sich einerseits in Semantisierungen, die auf das Überirdische verweisen. Andererseits offenbaren jedoch nicht allein Semantisierungen des Grals als der saelden fruht20 und seine Ähnlichkeiten zu dem, was man saget von himelrîche, die religiöse Dimension des Speisewunders.21 Was sich hier in den Formen höfischen Erzählens finden lässt, ist die wiederholte Partizipation aller Erzählebenen am Religiösen. Die Möglichkeiten, die wunder des Grals wahrzunehmen, sind so als Partizipationsmöglichkeiten gestaltet, dass sie prinzipiell eine paradoxe Form aufweisen und somit konstitutiv für den Anschluss religiöser Sinngebung sind. Die Darstellung des Wunders von des grâles kraft erfolgt grundsätzlich in Gegensätzlichkeiten: Es finden sich neben warmen Speisen auch kalte Speisen, neben neuen Speisen finden sich alte und neben dem Wild findet sich das Fleisch von Stalltieren. Insbesondere das Gegensatzpaar von neuer und alter Speise erscheint in der Wortwahl als einigermaßen merkwürdig 18
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Dass der höfische Rahmen auch angesichts des wunders die entscheidende Rolle spielt und überhaupt als Ausgangspunkt der Textinszenierung anzusehen ist, zeigt sich an entsprechenden Formulierungen, die insbesondere die hövescheit des Essens unterstreichen, wie z. B. mit grôzer zuht manz für si truoc (238,30) usw. Bumke 2004. S. 67. saelde bezieht sich zwar auf das irdische Leben, schließt aber die Segnung Gottes durchaus mit ein. Vgl. Kapitel III: 3; sowie: Kordt 1997. S. 129. Vgl. Schu 2002. S. 269: „Daß der Gral hier [235, 23–26] syntaktisches Subjekt ist, verweist auf die ‚übernatürliche‘ Bedeutung des Gegenstandes, der später als saelden fruht mit dem Himmelreich verglichen und dessen religiöse Bedeutung dadurch für den Rezipienten bezeichnet wird (239,21–24)“.
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und daher auffällig. Und so hat die Vorstellung, dass der Gral alte Speisen serviert, in der Forschung dazu geführt, dass zahlreiche Übersetzungsvorschläge formuliert wurden, die es anstreben, eben diese Widersprüchlichkeit zu harmonisieren und sie dadurch einzuebnen.22 Gleiches gilt in signifikant ähnlicher Weise auch für die spîse kalt und das zam. Nach einer höfischen Repräsentationslogik stellen die neue Speise, die warme und das Wildbret die eigentlich Herrschaft demonstrierenden Gerichte dar. Die neue Speise repräsentiert, dass es dem Gastgeber möglich ist, sehr frische oder auch bisher unbekannte Zutaten zu beschaffen. Die warme Speise steht für eine aufwendige Zubereitung und das Wildbret verweist auf das Jagdprivileg des Adels. Der Gral als Gastgeber bringt dazu aber auch das genaue Gegenteil auf den Tisch: Alte und kalte Speisen sowie das Fleisch von Stalltieren erscheinen nach dieser Logik nun als weniger repräsentativ. Damit wird einerseits jedoch natürlich auf die ungeheure Vielfalt der Speisen verwiesen, andererseits wäre die Darstellung mit dem Bestreben, die Buntheit der Gerichte darzustellen, noch nicht in diese genau gegensätzliche, paradoxe Form gezwungen. Eine erklärende Interpretation findet sich daher im Religionsbezug: Mit der paradoxen Struktur wird im Text bereits eine Verbindung zum göttlich Transzendenten hergestellt. Es ist daher weniger die konkrete Bedeutung der Gerichte, ihre hohe oder geringere höfische Repräsentativität, die für die Partizipation an diesem wunder des Grals als relevant erscheint, sondern das paradoxe Arrangement in der Struktur der erzählerischen Darstellung produziert Anschlussfähigkeit für religiösen Sinn, durch welchen das märchenhafte Speisewunder an Gott gebunden wird. Die Narration vollzieht somit eine doppelte Bewegung: Zum einen lässt sich eine Rücknahme der Lesbarkeit feudal-höfischer Repräsentationslogik feststellen und zum anderen tritt an diese Stelle eine paradoxe Struktur. Das Ergebnis davon ist, dass von der Erzählung nun ein Raum geschaffen ist, der sich im Anschluss an die Codierung des Religionssystems mit Sinn füllen lässt. Dieser letzte Schritt ist an dieser Stelle jedoch aufgrund der Synchronisation im Text nicht durch die Erzählinstanz vorformuliert, sondern er bleibt dem Vollzug des Rezipienten überlassen.23
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Vgl. hierzu den Forschungsüberblick bei Kordt 1997. S. 128; sowie auch ihre eigene Position: „Zwar ist vom Gral durchaus zu erwarten, daß er neue, im Sinne von ‚nie gekannte‘ Speisen liefert, dennoch liegt hier der Gegensatz ‚frisch/konserviert‘ näher. Die Abstufung im Reifegrad paßt besser zu organischen Produkten wie Lebensmitteln. Vor allem aber können bei dieser Gegenüberstellung verschiedene, die Vielfalt der Speisen bereichernde Geschmacksqualitäten angesprochen werden, die gerade dadurch erreicht werden, daß eine Speise ‚alt‘, d. h. längere Zeit gelagert wird (z. B. bei Käse)“ (ebd. S. 129). Man könnte sagen, dass dies zu seiner stiure gehört. Der Text schafft demnach nur die Möglichkeiten, die Arbeit ist Teil gelingender Rezeption.
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1.2. Die Worte des einsidel – Trevrizent als Körper der Erzählung vom Gral Der Verweis auf den religiösen Code in der Erzählform wird durch Trevrizents religiöse Erklärung des wunders letztendlich auch bestätigt werden. Die Forschung hat schon seit längerem erkannt, dass Trevrizent und seine Deutung vor dem Hintergrund laikaler Vorstellungen und der zeitgenössischen Laienfrömmigkeit zu betrachten sind.24 Seine spezifische Funktion als theologischer Laie für das Erzählkonzept des Textes ist in diesem Zusammenhang jedoch noch nicht befragt und analysiert worden. Im IX. Buch weiß der Einsiedler die märchenhafte Kraft des Grals, Speisen und Getränke auf Wunsch herbeizuzaubern, folgendermaßen im religiösen Sinne zu explizieren: dar ûf kumt hiute ein botschaft, dar an doch lît sîn hôhste kraft. Ez ist hiute der karfrîtac, daz man für wâr dâ warten mac, ein tûb von himel swinget: ûf den stein diu bringet ein kleine wîze oblât, ûf dem steine si die lât: diu tûbe ist durchliuhtec blanc, ze himel tuot si widerwanc. immer alle karfrîtage bringet se ûf den, als i’u sage, dâ von der stein enpfaehet swaz guots ûf erden draehet von trinken unt von spîse, als den wunsch von pardîse: ich mein swaz d’erde mac gebern. der stein si fürbaz mêr sol wern swaz wildes underm lufte lebt, ez fliege od louffe, unt daz swebt. (469,29–470,18)
Es lässt sich hier nun von einer spezifischen Funktion Trevrizents für das Erzählen vom Gral sprechen, denn es ist die Erzählung des Einsiedlers, die dem Stein, der aus einer allein höfischen Beobachterperspektive im Text zuvor lediglich mit der konturlosen Bezeichnung ein dinc zu beschreiben war, einen Namen gibt und somit das Erzählen vom Gral in Bezug auf eindeutige religiöse Konnotationen erweitert. Er nennt ihn lapsit exillîs (469,07). In der Forschung hat man viel Energie darauf verwandt, den rätselhaften Namen zu entschlüsseln. Es ist dabei zumeist angenommen worden, dass der ursprünglich sinnvolle Text von Wolfram entstellt oder verschlüsselt worden sei und die Dechiffrierung des Namens ein Schlüssel-
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Vgl. hierzu Bumke 2004. S. 131.
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wort zum Verständnis der Geheimnisse um den Gral darstelle.25 Diese Ansätze haben jedoch zu keinem wirklich überzeugenden Ergebnis geführt. Sowohl die zahlreichen, stark divergierenden Übersetzungsversuche als auch der Umstand, dass keine der Lesarten aus der Zeit vor dem Parzival als Steinname nachzuweisen ist, legen die Vermutung nahe, dass es sich bei der Form lapsit exillîs um eine bewusste Verrätselung handelt:26 Es handelt sich hier dementsprechend um eine Form, die sich bewusst jeder klaren Deutung entzieht. Diese Uneindeutigkeit produzierende Namensgebung fungiert somit als markantes Beispiel im Text, um von den wundern, dem ausgelagert Religiösen, zu erzählen. Es erscheint als die einzige Möglichkeit, das Numinose wirklich zu benennen. Die laientheologische Struktur höfischen Erzählens erlaubt, wie bereits zuvor dargestellt werden konnte, die Auslagerung ans Religiöse mittels der Figur des Trevrizent. Während sich die Erzählinstanz völlig zurückzieht, wird er zum Körper der Erzählung, die über ihn am Religiösen partizipiert:27 Ihm obliegt mit der Namensnennung die religiöse Auslegung des Grals und seiner wunder.28 Trevrizent bezeichnet den Ursprung des Speisewunders als des Grals hôhste kraft. Diese rührt von einer kleinen weißen Oblate, die eine leuchtend weiße Taube jährlich am Karfreitag auf den Stein legt. Der Gral wird hier zum ersten Mal in seiner religiösen Funktion als direkte Verbindung von Himmel und Erde beschrieben. Der Karfreitag als Gedenktag der Sündenaufnahme Jesu durch den Kreuzestod und die herabschwebende Taube als Symbol für den heiligen Geist29 belegen diese Funktion, Transzendenz und Immanenz in Beziehung zu setzen, in der Ausdeutung Trevrizents mit eindeutig christlichen Semantisierungen. Die 25
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Vgl. hierzu Bumke 2004. S. 139f. Bei dem ursprünglichen Text ist fast immer an den lateinischen Wortlaut gedacht worden, und als nahe liegender Anknüpfungspunkt dient der Interpretation lapsit als Form des lateinischen Wortes für Stein (lapis). Auf dieser Basis sind zahlreiche kreative Interpretationen entstanden, vgl. beispielsweise die Spekulationen bei Haferland 1994. S. 48f. Eine Auflistung der Übersetzungsversuche (angefangen beim „Stein des Herrn“, über den „Stein der Weisen“ bis zum „Stein des Exils“ und einige weitere phantasievolle Deutungen) findet sich bei Bumke (ebd.). So auch: Ebd. S. 140. Zur Funktion der Figur Trevrizent für die laientheologische Konzeption des Parzival vgl. auch Kapitel III. 2. Vgl. hierzu Ridder 2003. S. 33: „Das Wunderbare zeigt sich bei Parzivals erstem Besuch auf Munsalvaesche zunächst in der außergewöhnlichen höfischen Prachtentfaltung. Die zeremonielle Bewirtung und die Gralsprozession evozieren eine Aura des Feierlich-Erhabenen. Die religiöse Dimension des Grals wird aber nicht hier, sondern erst im IX. Buch aufgedeckt. Der Gral selbst ist nicht beschrieben, jedoch mit den ‚höchsten Attributen sakraler Dignität‘ (Schwann) charakterisiert (‚wunsch von paradîse‘, 470,14)“. Gleichzeitig ist aber zu betonen, dass die Paradoxie entfaltende Darstellung des Grals im V. Buch die Anschlussfähigkeit von Religion bereits einsichtig macht. Insofern ließe sich davon sprechen, dass die Einsicht in die religiöse Dimension des Gralswunders im Hinblick auf das Heilsgeschichtliche eine kritische Reflexion auf die synchrone Perspektive des Helden, der Erzählinstanz und des Rezipienten evoziert. Vgl. hierzu Johannes 1.32: „Und Johannes bezeugte und sprach: Ich sah, daß der Geist herabfuhr wie eine Taube vom Himmel und blieb auf ihm“.
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Oblate lässt außerdem an das christliche Symbol der Eucharistiefeier denken, wenngleich der Parzival den Gralsaufzug eben nicht wie später Richard Wagners Parsifal mit Priestern, Gebet und Lobgesängen inszeniert. Dem Text scheint bei der Darstellung des wunders selbst in der Figurenrede Trevrizents nicht daran gelegen, institutionalisierte kirchentheologische Vorstellungen zu evozieren. Zwar werden durch christliche Kollektivsymboliken religiöse Verweise präsent gehalten, aber der Blick ist nicht allein auf die theologische Enträtselung des Transzendenten gerichtet, sondern es ist die Verbindung von Himmel und Erde, stets die Verbindung von Immanenz und Transzendenz, die von Bedeutung ist und auch in Trevrizents Erklärung zentral gesetzt wird. Dass es um eine religiöse Form geht, die beides verbindet, lässt sich auch durch die Wortwahl belegen, denn es ist ja auch immer das Irdische des Speisewunders (swaz guots ûf erden draehet/ […] ich mein swaz d’erde mac gebern, 470,12–15) neben dem Göttlichen (der Gral als der wunsch von paradîse) betont. Das höfisch Irdische bleibt in der laientheologischen Deutung Trevrizents sogar der entscheidende Ansatzpunkt seiner religiösen Auslegung, denn dort heißt es ganz explizit, der Stein versorge die Gralsgesellschaft fürbaz mêr mit allem, was sich an fliegendem, laufendem oder schwimmendem Getier unter dem Himmel finde.30 Innerhalb der Fragestellung nach dem narrativen Konzept des Erzählens vom Gral wird unter dem laientheologischen Aspekt der Auslagerung mittels der Figur des Trevrizent auch die entsprechende Ausformung interessant: Die Gralserzählung erhält im IX. Buch den Körper eines einsidel, der in einer Klause lebt. Raum- und Körperkonzeption sowie der Lebenswandel Trevrizents entsprechen nämlich, so lässt sich interpretieren, genau dieser Funktion der Auslagerung aus der höfischen Ordnung und ihren Beobachtungsmöglichkeiten, die der Figur aufgrund der spezifisch höfisch-religiösen Erzähllogik des Parzival zukommt. Raum und Körper von Trevrizent, der die Rolle des religiösen Deuters und Verkünders der verholnen maere umben grâl einnimmt, sind zum einen als unverkennbar durch das Christliche bestimmt inszeniert, zum anderen ist der Regie des Textes aber offenkundig viel daran gelegen, ihn als dezidierten Laien auszuwei30
Auch Ridder sieht die Engführung von Immanentem und Transzendentem als das im Wesentlichen den Gral Bestimmende an, wobei er die komischen Züge der Darstellung des Speisewunders im V. Buch betont, wohingegen er im IX. Buch ebenfalls eine heilsgeschichtliche Ableitung des Grals zentral gesetzt sieht (Ridder 2002. S. 147f.). Vgl. auch S. 148: „Komik vermittelt hier [beim Speisewunder] zwischen zeremoniell-sakraler Dignität und märchenhaft-körperorientierter Wunschprojektion. Es entsteht aber auch der Eindruck einer Konsonanz des vermeintlich Unvereinbaren. Der Fluchtpunkt beider Bereiche liegt offensichtlich in der transzendenten Beschaffenheit des Grals als Zentrum einer theologisierten Märchenwelt des Artusromans“. Ein recht umfassender Forschungsüberblick findet sich hierzu bereits bei Delabar 1990. S. 187f., worin er auch die heute noch gültige Tendenz der Forschung beschreibt: „[…] in der neueren Literatur rückt man immer mehr davon ab, im Gralstein ein eindeutig fixierbares Symbol zu sehen. Daß er Zentrum des Gral-Hofes ist, ist offensichtlich, daß er zudem Medium zwischen Gral-Hof und Gott ist, darüber hinaus noch sein Gefolge nährt und am Leben erhält, widerspricht nicht seiner Einschätzung als wesentlich Abstraktes“ (ebd. S. 188. FN 15).
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sen und eben nicht als Kirchentheologen oder Priester. Jede Form von (kirchlicher) Institutionalisierung scheint für die Darstellung des Religiösen gegenüber der Chrétienschen Vorlage im deutschen Text zurückgewiesen, so ist Trevrizent bei Wolfram kein saint hermite (Perceval 6500), der den Helden in einer Kapelle empfängt, noch dazu in Begleitung eines Priesters und eines Ministranten, die gemeinsam die Liturgie der heiligen Kirche feiern (Perceval 6342–6347). Sondern hier unterstreicht Trevrizent in seiner Aussage selbst, dass seine Worte als die Worte eines theologischen Laien aufzufassen sind: doch ich ein leie waere (462,11). Er lebt zwar außerhalb des Hofes, aber dennoch nicht in einem Kloster, und er trägt auch keine Weihen. Die Klause Trevrizents ist der Ort, der zwar die Abgeschiedenheit vom Hof und damit die Auslagerung des Religiösen markiert, der zugleich aber dennoch für die höfisch-ritterliche Welt erreichbar bleibt und dort auch bekannt ist. Die Figur des Trevrizent lässt sich somit als Sinnbild der im Parzival entfalteten höfisch-adligen Laientheologie lesen, welche kirchentheologische Aspekte weitgehend ausblendet und an deren Stelle einen eigenständigen Gottesentwurf setzt, bei dem es in erster Linie darum geht, die höfische Immanenz und die göttliche Transzendenz miteinander in Verbindung zu setzen. Dies zeigt sich insbesondere daran, dass Trevrizent selbst auch höfisch-ritterlicher Herkunft ist und erst sein Lebenswandel, seine Haltung und sein Dienst an Gott ihn zu derjenigen Figur werden lassen, deren Handlungen im Parzival als innerhalb einer religiösen Ordnung erfolgend verstehbar sind. Aufgrund seines auf Gott ausgerichteten Handelns, das ihn durch Entbehrung und Leid von der höfischen Gesellschaft ausschließt, wird die Lebensführung des Einsiedlers von der Erzählinstanz als eine heilige bezeichnet und exemplifiziert: der kiusche Trevrizent dâ saz, der manegen mântac übel gaz: als tet er gar die wochen. er hete gar versprochen môraz, wîn und ouch dez prôt. sîn kiusche im dennoch mêr gebôt, der spîse het er keinen muot, vische noch fleisch, swaz trüege bluot. sus stuont sîn heileclîchez lebn. got het im den muot gegebn: der hêrre sich bereite gar gein der himelischen schar. mit vaste er grôzen kumber leit: sîn kiusche gein dem tievel streit. (452,15–28)
Trevrizent verzichtet gerade auf höfisch repräsentative Güter; Môraz, Wein und mannigfaltige Fleischspeisen sind zwar auch auf der Festtafel des Grals zu finden, doch sie sind Zeichen seiner werlde süeze, deren Ablehnung das Leben des Einsiedlers aus der höfischen Beobachterperspektive der Erzählinstanz als ein heileclîchez erscheinen lässt. Heilig ist dieser Lebenswandel deshalb, weil Trevri-
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zents Handeln als Handeln mit Transzendenzbezug lesbar ist (die Formulierung im Text lautet hierfür: der hêrre sich bereite gar/ gein der himelischen schar), das ihn nicht nur aus der höfischen Ordnung exponiert, sondern seinen lîp auch in einen durch ein Paradoxon gekennzeichneten Zustand versetzt: Denn Trevrizent ist von Geburt und Stand eigentlich von höchst vornehmer adliger Herkunft, er ist der Bruder des Gralskönigs Anfortas, und bevor dieser die schlimme Wunde im Kampf mit dem Heiden empfing, war auch Trevrizent Mitglied der Gralsgesellschaft und als um Frauenminne streitender Ritter aktiv. Parzival und den Rezipienten gewährt er mit den folgenden Worten Einblick in seine Vergangenheit: Het irz niht für einen ruom, sô trüege ich fluht noch magetuom. mîn herze empfienc noch nie den kranc daz ich von wer getaete wanc. bî mîner werlîchen zît, ich was ein rîter als ir sît, der ouch nâch hôher minne ranc. etswenne ich sündebaern gedanc gein der kiusche parrierte. mîn lebn ich dar ûf zierte, daz mir genâde taete ein wîp. des hât vergezzen nû mîn lîp. (458,01–12)
An Trevrizents Aussage lässt sich zweierlei festmachen: zum einen, dass sich sein Leben und Wirken während seiner werlîchen zît als Kämpfer des Grals zuvor in keinerlei Hinsicht von den Handlungsmustern und Normen der höfischen Ritterschaft unterschied, wie sie eben beispielsweise auch für Parzival nach der Unterweisung durch Gurnemanz Gültigkeit haben. Er war tapfer und ein furchtloser Kämpfer im Dienste hôher minne. Zum anderen wird anhand seiner reflektierenden Rückschau auch einsehbar, dass er aus seiner gegenwärtigen Sichtweise damals sündebaern gedanc/ gein der kiusche parrierte. Religiöse Kategorien von Sünde und Schuld scheinen für ihn erst jetzt in seiner derzeit gegebenen exponierten Position außerhalb der höfischen Ordnung von Belang. Trevrizent definiert erst in seiner Klause die wilde verre rîterschaft, zu der ihn die minne zu einem werden wîp hinausgetrieben hat, und seine Kampfeswut im strît – gleich ob gegen Heiden oder Christen –, als Verstöße gegen das Gesetz des Grals. Dies dürfte ihm als solches zwar damals schon bewusst gewesen sein (sowie auch Anfortas, der ihn für diese Art von Ritterschaft sogar ausgestattet hat), trotz allem unterlag aber seine Verfehlung zu diesem Zeitpunkt offenbar keiner religiösen Wahrnehmung, wie eben der Kategorie sündhaften Handelns.31 Dass religiöse 31
Vgl. hierzu die Textstelle, die deutlich macht, dass erst Trevrizent der Klausner dies als Sünde wahrnimmt: über daz gebot ich mich bewac daz ich nâch minnen dienstes phlac. mir geriet mîn flaeteclîchiu jugent
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Wertungen nun erst in der Reflexion außerhalb der höfischen Ordnung für Trevrizent relevant werden, scheint hier (zumindest in dieser Generation) eine Dominanz höfisch-ritterlicher Maßstäbe am Gralshof zu belegen.32 Doch obwohl er sich an die Handlungsmaximen dieser höfischen Ordnung sehr wohl noch zu erinnern vermag (denn er erzählt schließlich davon), hat sein lîp sie vergezzen, was nur soviel bedeuten kann, dass er sie nun vom Standpunkt einer anderen Ordnung, die sich schließlich durch die Ausrichtung auf Gott als religiöse erweist, betrachtet. Das heißt, seine Handlungen sind, trotzdem diese höfischen Maximen seinem lîp entsprechen, nicht mehr auf sie ausgerichtet, wofür sie wiederum aber selbst beobachtbar werden. Mit der Zuwendung zum Religiösen und seiner Exponierung vollzieht Trevrizent gewissermaßen auch einen Wechsel von der höfischen Beobachterperspektive erster Ordnung zur zweiten. Das Paradoxe seines Zustandes ergibt sich dementsprechend aus der (aus dem Höfischen zu beobachtenden) Widersprüchlichkeit seines lîbes, der das ihm Eingeschriebene vergezzen hat, denn dieser bestimmt Trevrizent aufgrund von Geburt und Stand einen Platz innerhalb der höfischen Ritterschaft, zugleich bewirkt sein extremer Lebenswandel als einsidel aber, dass er in seiner Klause den Kern höfisch-adliger Ritterschaft entbehren muss: ich schiet von dem swerte mîn (480,21). Aus einer höfischen Beobachterposition erster Ordnung führt der durch ein Paradoxon gezeichnete Zustand seines lîbes, den Trevrizent durch seine Abkehr von der ihm angestammten höfisch-ritterlichen Lebensführung selbst schafft, zu einem Identitätsbruch: Identität ist dem höfischen Personal bekanntlich auf den Leib geschrieben. Wenn diesen Figuren normalerweise nicht mehr erlaubt ist, ihrem lîp entsprechend zu handeln, dann führt das zwangsläufig in eine Katastrophe – oder eben zu Gott. Iwein wird in so einem Moment, in dem ihn sein Handeln von der ihm zustehenden und zugeordneten sozialen Stellung
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unde eins werden wîbes tugent, daz ich in ir dienste reit, da ich dicke herteclîchen streit. die wilden âventiure mich dûhten sô gehiure, daz ich selten turnierte. ir minne condwierte mir freude in daz herze mîn: durch si tet ich vil strîtes schîn. des twanc mich ir minnen kraft gein der wilden verren rîterschaft. ir minne ich alsus koufte: der heidn unt der getoufte wârn mir strîtes al gelîch. si dûhte mich lônes rîch. (495,13–30) In der Generation Parzivals und vor allem dann auch Loherangrins scheint dies wiederum zurückgedrängt zu werden. Auf die grundsätzliche Bedeutung religiöser Wertungen für die Gralsgesellschaft werde ich überdies im Kapitel IV: 2.2. näher eingehen.
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trennt, wahnsinnig und rennt als Zeichen von Nicht-Existenz nackt in den Wald. Für Trevrizent bedeutet der Identitätsverlust aber keinesfalls Wahnsinn, sondern den Wechsel in eine andere Ordnung (got het im den muot gegebn für sein heileclîchez lebn). Mit dem Ablegen jeglicher höfischer Identität überantwortet er sich Gott und unterwirft sich vollkommen dessen Willen. Dass er seine Existenz und Identität in die Hände Gottes legt, ist jedoch keinesfalls als ein freiwilliger Verzicht auf die irdischen Güter an sich, im Sinne einer spirituellen Ideologie, zu verstehen, sondern Trevrizents Entledigung seiner höfisch-ritterlichen Identität ist vielmehr als letzter verzweifelter Versuch zu interpretieren, Gott als Helfer für die nicht-heilbare Wunde seines Bruders Anfortas zu bemühen. Trevrizent artikuliert dies mit den Worten: mîne venje viel ich nider: dâ lobet ich der gotes kraft, daz ich deheine rîterschaft getaete nimmer mêre, daz got durch sîn êre mînem bruoder hulfe von der nôt. ich verswuor ouch fleisch, wîn unde brôt, unt dar nâch al daz trüege bluot, daz ichs nimmer mêr gewünne muot. (480,10–18)
Trevrizent handelt hier als Beobachter zweiter Ordnung des Höfischen, die auch die Reflexion des Umgangs des Höfischem mit dem Religiösen erlaubt, denn er nimmt eine Bußhaltung ein, die ihn in einen paradoxen Zustand versetzt, worin seine zerbrochene Identität nur mehr an Gott, der über allen Identitäten steht, geknüpft ist und nur mehr von diesem zusammengehalten werden kann. Durch diese Haltung wird der Anschluss an religiöse Kommunikation ermöglicht: Die Buße soll die Chance auf den rettenden Eingriff aus der Transzendenz erhöhen, so dass Gott gegenüber der Sippe der Gralsherrscher letztlich Gnade walten lassen kann. Oder anders formuliert: Trevrizent bereitet auf diese Weise das Erlösungswerk vor, er macht die Erlösung durch Parzival erst möglich. Trevrizents Handeln, sein Verzicht, steht damit ganz im Dienst der Sippe und der höfischen Ritterschaft, auch wenn er von deren Identitätsstiftung nun nicht weiter Gebrauch machen kann. Seine Askese ist als direkte Zuwendung, ohne den Umweg über kirchliche Institutionen, zu Gott und damit als höfisch laikale Bußpraxis lesbar. Das Fasten als Ausformung dieser Bußpraxis ist zwar bereits seit der Karolinger-Zeit als ein allgemein übliches Verfahren anzusehen, doch das iro-fränkische Bußsystem, das bis zu seiner Änderung im Spätmittelalter (hin zu einer internalisierten Bußpraxis) grundsätzliche Gültigkeit besaß, fordert vom Sünder vor der auszuübenden Buße unbedingt die Beichte bei einem Priester.33 33
Vgl. hierzu Angenendt 2004. S. 43: „Jedes Vergehen (auch ein nichtkapitales) war vor einem Priester zu bekennen (beichten) und erhielt eine Buße, die meist in einer bestimmten Anzahl von Fasttagen bestand, wofür Berechnungsfristen erstellt wurden, die in Bußbüchern aufgelistet waren“.
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Gerade diese institutionelle Zwischenschaltung der Kirche entfällt aber bei Trevrizents eigenmächtiger Entscheidung zum Fasten. Entscheidende Unterschiede zu einer kirchlich-dominierten Bußpraxis bestehen gerade in dieser Selbstbestimmtheit bzw. besser gesagt: in einer direkten Verbindung zwischen der sündigen Sippe und Gott, denn für Trevrizent ist es ja durchaus möglich, die Sünden Anfortas’ (später im Übrigen auch diejenigen Parzivals) stellvertretend auf sich zu nehmen und die entsprechenden Bußhandlungen einzuleiten. Es geht hier also um ein Sippenhandeln, auch die obenzitierte Textstelle macht mehr als deutlich, dass es bei Trevrizents Buße dezidiert um die Sünden Anfortas’ und nicht um seinen eigenen Verstoß gegen die Gesetze des Grals geht.34 Seine selbstgewählte Isolation von der höfischen Gemeinschaft lässt sich dahin gehend auch als selbstbestimmtes laikales Äquivalent zur kirchlichen Exkommunikation interpretieren, welche gleichfalls Teil des christlichen Bußkataloges ist und insbesondere bei gravierenden Vergehen wie Kapitalverbrechen an der christlichen Gemeinschaft angewandt wurde.35 Anfortas’ Zuwiderhandeln gegenüber den ausdrücklichen Instruktionen Gottes ist in der Gesetzeswelt des Grals unschwer als ein solches Kapitalverbrechen erkennbar. Trevrizents autonom selbstbestimmte Zuwendung zu Gott, der direkte Bezug seiner Handlung zum Transzendent-Göttlichen, findet zudem auch in seiner Fastenpraxis ihren Niederschlag: der wirt sînr orden niht vergaz: swie vil er gruop, decheine er az der würze vor der nône: an die stûden schône hienc ers und suochte mêre. durch die gotes êre manegen tac ungâz er gienc, so er vermiste dâ sîn spîse hienc. (485,23–30)
Der Begriff des orden weckt zunächst die Assoziation des Kirchlich-Institutionellen, wobei jedoch zugleich erkennbar ist, dass Trevrizent sich gerade nicht in einem Kloster oder einer ähnlichen Institution befindet. Es scheint sich dabei viel eher um eine gottgegebene Ordnung zu handeln,36 welche sich auch durch den Aspekt der Zeitlichkeit (vor der nône) ausgedrückt findet. Auch hier steht der Verzicht auf Speise für das konträre Gegenteil zum Höfischen, für welches Übermaß und verschwenderische Vielfalt als charakteristische Merkmale der Nahrungsaufnahme gelten können. Der orden ist hier demzufolge als substantieller Part der von Trevrizent ausgeübten Bußpraxis zu verstehen, deren Kern die Negation höfischen Handelns ist. Die direkte Verknüpfung seines Handelns mit der Schaffung
34
35 36
Wenn Trevrizents eigener Verstoß ebenso von Belang sein sollte, tritt er jedoch dem Anfortas’ gegenüber drastisch in den Hintergrund. Angenendt 2004. S. 43. Die Assoziation von ‚Ordo‘ als in der göttlichen Ordnung aufgehendes, aufgehobenes Verhalten ist hier natürlich auch nicht fern.
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einer Möglichkeit für Gottes Eingriff in die Welt lässt den Aufmerksamkeit erregenden Umstand, Trevrizent bleibe dann mit leerem Magen zur Ehre Gottes, wenn er seine Speise nicht wiederfinden könne, somit auch nur mehr bedingt als komisch erscheinen. Denn die Erzählinstanz formuliert diese als Witz anmutende Widersprüchlichkeit aus einer dezidiert höfischen Beobachterperspektive. Nach der Logik von Trevrizents Handeln mit Transzendenzbezug ist dieses Paradoxon (dann etwas als bewussten Verzicht zu erklären, wenn man es ohnehin nicht haben kann) dagegen nicht mehr allein als Komik produzierender Gegensatz, sondern eben auch als Konstituens des religiösen Codes und damit als Konstituens für die Anschlussmöglichkeit göttlichen Wirkens in der Welt zu sehen. Aus diesem Kontext heraus ist nun auch die Frage zu klären, welche Funktion Trevrizent für das Erzählen vom Gral zukommt und warum gerade diese Figur dafür prädestiniert ist, Parzival und den Rezipienten die wunder des Grals zu schildern. Was diese Figur nämlich fundamental von der Erzählinstanz des Parzival unterscheidet, ist die Distanz zur Geltung höfischer Normen und Werte, sie ist wie gesagt in einem Raum angesiedelt, der durch die Auslagerung aus der höfischen Gemeinschaft die Zuwendung zu Gott erlaubt. Es lässt sich daher auch formulieren, dass der Text mit diesem Raum gezielt eine ausgelagerte Beobachterposition schafft, über welche es möglich wird, den Umgang des Höfischen mit dem Religiösen zu reflektieren, und das bedeutet in diesem Konnex, aus einer Beobachterposition zweiter Ordnung: theologisch zu deuten. Nichts, was direkt mit seiner Person zusammenhängt (ein Amt oder Ähnliches), sondern die christliche Rahmung der Begegnung Parzivals mit Trevrizent verschafft dem einsidel für diese religiöse Ausdeutung entsprechende Autorität: Es ist Karfreitag, er lebt in einer Klause und der Dialog der beiden ist als Beichtsituation inszeniert. Darin liegt das Laientheologische der Figur begründet, dass sie nicht aufgrund priesterlicher Weihen oder sonstiger Verbindungen zum Kirchlichen zu Aussagen über Gott und den Gral, insbesondere seiner wunder berechtigt ist, sondern weil dieser Rahmen wirksam werden kann. Ihr selbstbestimmtes Handeln hat sie dorthin exponiert, wo ihr Dienst an der Sippe den fruchtbaren Boden für den Eingriff Gottes aus der Transzendenz zu schaffen vermag. Trevrizents Leistung für das Erzählen vom Gral ist damit zentral in Bezug auf die Sippe der Herrscher von Munsalvaesche und deren gesellschaftlicher Funktion für die höfische Welt zu deuten: Sein Handeln mit Transzendenzbezug kann nicht selbst das Heil und die Erlösung herbeiführen, aber es schafft die Möglichkeit für Gottes Gnade, weil er mit seiner Buße nicht nur für Anfortas, sondern für die ganze Sippe und insbesondere auch für Parzival die Bindung zu Gott wiederherstellt: Trevrizent sich des bewac, er sprach ‚gip mir dîn sünde her: vor gote ich bin dîn wandels wer …‘ (502,24–26)
Der einsidel in seiner Klause fungiert hier als das priesteräquivalente Bindeglied zwischen Immanenz und Transzendenz, wenn er nun auch noch Parzivals sünde
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auf sich nimmt und als Bürge für ihn vor Gott einsteht.37 Zum einen ist diese Auslagerungsfunktion als Trevrizents zentrale Aufgabe für den Sippenverband der Gralsherrscher zu verstehen, zum anderen erscheint sie hinsichtlich der Figurenkonstruktion sogar noch von allgemeinerer Natur zu sein: Trevrizent als Figur ist gerade durch diese Funktion als spezifisches Bindeglied der höfischen Welt und Gott bestimmt, weshalb die eigentliche Sündenabnahme auch wenig kirchlichen Charakter besitzt, sondern dezidiert darauf ausgerichtet ist, diese beiden Ordnungen zusammenzubringen. Er selbst zeigt in seiner Handlung an Parzival nämlich, dass er Teil beider Ordnungen ist, sowohl der höfisch-ritterlichen als auch einer auf Gott ausgerichteten: Parzivâl die swaere truoc durch süeziu maere, wand in der wirt von sünden schiet unt im doch rîterlîchen riet. (501,15–18)
Sein Handeln und seine höfisch laientheologische Lehre ermöglichen schließlich, dass sich Parzivals Haltung gegenüber Gott ändert (nach seiner Einkehr bei Trevrizent ist von Parzivals haz auf Gott [332,08], den er seit seiner Verfluchung durch Cundrie hegt, nicht mehr die Rede und er tritt mit seinem strît in den Dienst des Grals) und die Erlösung der Sippe eingeleitet werden kann. Trevrizents Hauptaussage seiner Gottlehre ist dementsprechend auch die dezidierte Verbindung des Höfischen mit dem Religiösen, er formuliert: sît got selbe ein triuwe ist (462,19);38 und diese Lehre zeigt schließlich auch den richtigen Effekt. Trevrizents religiöse Position, die damit zugleich nie unabhängig von ihrer Funktion für die Sippe und die höfische Welt gesehen werden kann, ermöglicht es dem einsidel, sowohl Parzival eine entscheidende Hilfestellung für seinen Weg zum Gral zu geben als auch – und das ist hinsichtlich der Frage nach dem Erzählkonzept von besonderer Bedeutung – vom Gral als Bindeglied zwischen der höfischen Immanenz und der göttlichen Transzendenz berichten zu können. Trevrizent hat aufgrund seiner Gott zugewandten Haltung die Möglichkeit zur Reflexion der wunder des Grals, er kann sie schildern und laientheologisch deuten. Zugleich verdammt ihn diese dem höfischen Operieren enthobene Beobachterposition jedoch dazu, selbst handlungsunfähig zu sein. Das Einzige, was ihm dort bleibt, ist dem Helden der maere umben grâl beratend zur Seite zu stehen. Dass ihm dies gelingt, beweist dabei nicht allein der Fortgang der Geschichte, sondern die Erzählinstanz formuliert bereits im IX. Buch mit für eine höfische Perspektive bezeichnend vasallitischem Vokabular: von der hôhsten hende enpfiengens umb ir kumber solt: got was und wart in bêden holt. (487,20–22) 37
38
Wenn Trevrizent formuliert, er sei Parzivals wandels wer, dann ist hierdurch zudem sein auffällig hof- und ritterschaftsaffiner Sprachgebrauch markiert. Der Terminus triuwe wird damit genau als eine solche Bindegliedsemantisierung vom höfischen (Text-) und religiösen System lesbar.
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1.3. Die Utopie des Grals – oder seine Funktion in einer feudal-adligen Herrschaftsideologie Im Fokus der höfisch laientheologischen Konzeptionen des Parzival rückt immer wieder die feudal-adlige höfische Bezugsgesellschaft ins Zentrum der Darstellung, durch welche textimmanente Vorstellungen des Göttlichen überdies auch mit dem Wahrnehmungshorizont der Rezipienten in einen gemeinsamen Erkenntniszusammenhang gebracht sind. Die Darstellung des Speisewunders lässt sich vor diesem Hintergrund nun als utopischer Entwurf des höfischen Textes interpretieren, der durch die Nutzung des religiösen Codes, oder anders: die Partizipation an religiöser Kommunikation, auch die Wunschvorstellungen einer feudal-adligen höfischen Gesellschaft zur Anschauung bringt. Das Märchenmotiv des Tischlein-Deck-Dich befriedigt nämlich nicht allein das Repräsentationsbedürfnis des höfischen Adels, sondern das utopische Konstrukt lässt sich auch als Allmachtsphantasie einer gesellschaftlichen Elite lesen, in welcher ihre Herrschaft auch die gesamte Natur umfasst. Auch hier sind es im Übrigen die paradoxen Formen der Darstellung im Text, die es vermögen, diese alles umfassende Vorstellung zur Anschauung zu bringen: Das Land beackernde Bauern entfallen und alles, was die Welt zu bieten hat, landet direkt auf dem Tisch der auserwählten Herrscher auf Erden. Des grâles kraft bietet solche pfrüende und zwar, ohne dass die geringsten Anstrengungen zur Aneignung des Ertrags erbracht werden müssten. Das allgemeine Märchenmotiv vom luxuriösen Leben im Schlaraffenland ist somit zugespitzt auf eine dezidiert feudal-adlige Utopie,39 nämlich auf den Traum von einer allumfassenden Herrschaft über die Natur, deren Früchte (im weitesten Sinne) nicht unter Mühen oder Zwang, sondern völlig freiwillig auf dem Tisch der feudal-höfischen Gesellschaft landen. Ebenso lässt sich die laientheologische Gralskonstruktion intratextuell als utopische Reaktion auf ein weiteres recht praktisches Problem verstehen: Herr39
Mit dem Begriff der Utopie ist hier nicht eine prinzipielle Höherwertigkeit des Gralshofs gegenüber dem Artushof gemeint, sondern die grundsätzliche Fiktionalität des Entwurfs, mit dem der Text Problemen feudal-adliger Herrschaftsorganisation begegnet. Vgl. hierzu auch Schu 2002. S. 395: „Die unmittelbare Lenkung durch Gott führt nicht in eine sündenfreie utopische Harmonie, sondern impliziert eher rigorose Strafe und Leid“; sowie: Pratelidis 1994. S. 104: „Wolfram entwirft mit der Gralswelt nicht die Utopie einer geistlich-asketischen Gesellschaft, die sich grundsätzlich vom höfisch-ritterlichen Lebensstil der arturischen Gesellschaft abhebt“. Mit Bumke lässt sich vom Gralshof Munsalvaesche auch aufgrund seiner Raum-Zeit-Enthobenheit von einer literarischen Utopie sprechen: „Literarische Utopien werden häufig in ‚Wunschräume‘ und ‚Wunschzeiten‘ (A. Doren) verlegt. So ist auch der Herrschaftsbereich des Grals der fiktiven Welt, in der die Romanhandlung spielt, merkwürdig entrückt: […] Eine Grenze des Geheimnisvollen, die nur von den dazu Berufenen überschritten werden kann, trennt das Land des Grals (Terre des Salvaesche) von der übrigen Welt“ (Bumke1982. S. 72). Als literarische Utopie ist die Gralsburg jedoch vor allem deshalb zu verstehen, weil die Gesellschaft des Grals eine soziokulturelle Funktion für den Rest der höfischen Welt des Parzival erfüllt, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird.
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schaftsaneignung funktioniert im Parzival weitgehend nach dem Strukturprinzip der Belagerung und Aneignung von lîp und lant einer Königin.40 Der Angreifer versucht hierbei nicht selten, die fremde Herrschaft durch Belagerung und Aushungern der Verteidiger zu erobern. Solch ein Abschneiden der Nahrungszufuhr ist besonders plastisch in der Pelrapeire-Episode im IV. Buch des Parzival dargestellt, worin sich Clamide der Herrschaft Condwiramurs’ zu bemächtigen sucht. Die Hungersnot überstehen die geschwächten Kämpfer Condwiramurs’ nur, weil die schützende Hand Gottes dem künftigen Gralsherrscherpaar Parzival und Condwiramurs in der eigentlich auswegslosen Situation Schiffe mit Nahrung sendet (daz fuogte got der wîse 200,16). Dieser spezifische Schutz Gottes ist auf Munsalvaesche durch den Gral permanent gegeben. Eine aushungernde Belagerung der Kämpfer der Gralsburg ist unmöglich und die Herrschaft ist vom System der Herrschaftsaneignung durch Eroberung von lîp und lant ausgenommen. Die Kontinuität in der Herrschaft des Gralsgeschlechts wird direkt von Gott gewährt, wie sich zudem auch an zwei weiteren wundern des Grals zeigen lässt. Angesprochen sind damit natürlich der Ruf zur Gesellschaft des Grals durch die Schrift auf dem Stein, die damit verbundene Aussendung der gottgesegneten Ritter und Damen sowie die lebensspendende Kraft des Grals, die er bei seinem bloßen Anblick gewährt. Um Munsalvaesche in ihrer Funktion als besondere Ausnahme oder auch: als besonderes, utopisches Konstrukt für die übrige höfische Welt des Parzival vorstellen zu können, sind auch die beiden anderen märchenhaft magischen Kräfte des Grals zunächst einmal näher zu beschreiben, um daraufhin auch ihre Funktionen einsehbar machen zu können. Denn mit den Worten Bumkes lässt sich hierzu formulieren: „In seiner Funktion als Lenkinstrument des göttlichen Willens liegt sicherlich die weitestreichende Bedeutung des Grals in Wolframs Dichtung“.41 Dem Gral wohnt eine weitere Wunderkraft inne, die, wie es die Erklärung Trevrizents zeigt, ebenfalls explizit auf die Verbindung des Himmlischen mit dem Irdischen ausgerichtet ist. Es handelt sich dabei um eine Schrift, die auf dem Stein erscheint und Mädchen oder Jungen zum Dienst auf die Gralsburg ruft. Diese Inschrift auf dem Gral verschwindet sogleich wieder, nachdem man sie gelesen hat: die aber zem grâle sint benant, hoert wie die werdent bekant. zende an des steines drum von karacten ein epitafum sagt sînen namen und sînen art, swer dar tuon sol die saelden vart. ez sî von meiden ode von knaben, die schrift darf niemen danne schaben: sô man den namen gelesen hât, vor ir ougen si zergât. (470,21–30) 40 41
Vgl. hierzu meine Überlegungen in: Knaeble 2009. Bumke 2004. S. 142.
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Das Prinzip der Flüchtigkeit religiös konnotierter Schrift begegnet hier nach der Schrift der Sterne, die Flegetanis abgeschrieben und Kyot als Text aus der Taufe gehoben hat, erneut. Gerade das Verschwindende, sich verflüchtigende Liminale, gleich der triuwe und dem Gegenständlichen aus dem Traum des Blinden im Prolog, fungiert im Parzival als Kennzeichen des Religiösen. Für den Ruf zur Gralsgesellschaft bedeutet dies mithin, dass sich der in Schriftform offenbarende Wille Gottes, ganz im Gegenteil zum eigentlichen Charakteristikum des Mediums Schrift, nicht schriftlich fixieren und festlegen lässt: Der göttliche Wille ist nicht in der Immanenz durch Schrift zu bannen, sondern das schriftgewordene Wort Gottes ist selbst nur Vermittler zwischen Immanenz und Transzendenz. Hinter der Vorstellung, dass das Wort Gottes als gesprochenes Wort erhalten bleibt, verbirgt sich letztlich ein schöpferischer Gedanke, der zugleich auch auf das dezidiert auf Oralität rekurrierende Erzählkonzept des Parzival übertragbar ist: Schriftliches ist nur ein Zwischenspeicher, durch das gesprochene Wort entsteht hingegen eine Welt. Bumke hat in diesem Zusammenhang auf die Ähnlichkeit der in geistlicher und weltlicher Literatur des Mittelalters verbreiteten Vorstellung von „Himmelsbriefen“ hingewiesen, die als schriftliche Botschaften stets Offenbarungen von Gesetzen und Strafandrohungen Gottes beinhalten.42 Dementsprechend scheint es evident, dass auf Munsalvaesche das Gesetz gilt: die schrift darf niemen danne schaben. Der Schwerpunkt beim Erkenntnisprozess des göttlichen Wortes liegt in spezifisch ähnlicher Weise wie beim narrativen Prinzip Kyot auf der Inkorporation religiösen Sinns: Dem göttlichen Wort wird ein Körper verliehen. Inkorporation ist hierbei also sehr wörtlich zu begreifen. Denn zunächst spricht ein epitafum, es sagt den namen und den art des Berufenen, dieses Gesagte liegt daraufhin in Schriftform vor, in welcher es zu entfernen verboten ist; und erst wenn man den namen gelesen hat, das Wort Gottes also in einem Körper angekommen ist, dann zergât die schrift, denn sie hat ihren Zweck als Vermittler erfüllt. Auch hier ist es das inkorporierende Lesen, das den Sinn der Latenz, dem liminalen Zwischen, enthebt. Es ist das Wort Gottes, das erst durch die körperliche Aufnahme sinnstiftend wirkt. Die Schrift allein, sowohl die Schrift in den Sternen als auch die auf dem Stein, wäre hier ohne einen den Sinn empfangenden Körper nicht als heiliger Text im Sinne von Heilsvermittlung denkbar. Insofern kann hierbei von einem höfisch eigenständigen Entwurf der Willensoffenbarung Gottes gesprochen werden, denn durch die Zentralsetzung von Oralität und Körperlichkeit im Erkenntnisprozess weicht dieser Entwurf im Parzival von einer vornehmlich kirchentheologischen Vorstellung des Christentums als Buchreligion, nach welcher der religiöse Sinn sich im Medium der Schriftlichkeit entfaltet, deutlich ab.43 Dieser Befund entspricht auch den bisherigen Ergebnissen aus der 42 43
Bumke 2004. S. 141. Vgl. hierzu auch Schmolinsky 1991. Zum Christentum als Buchreligion vgl. Angenendt 2004. S. 34: „Das Christentum wurde zur Buchreligion, indem es die heiligen Schriften der Juden übernahm, diese zum Alten Testament
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Analyse der poetologisch selbstreflexiven Passagen des Textes, worin sich eben diese Art und Weise von Heilsvermittlung thematisiert findet. Das bedeutet daher auch für die Rezeption als Teil eines höfisch laientheologischen Textentwurfs, dass ‚Hören‘ von erzählenden Texten als Weg zum Heil dem ‚Lesen‘ eindeutig vorzuziehen ist:44 ‚Hören‘ fungiert, so ließe sich hieran anschließend interpretieren, als höfisch laientheologisches Äquivalent zum Gottesdienst, nur dass das Gewicht des Sakralen klar auf dem gesprochenen Wort und nicht auf der geschriebenen Seite gelagert ist. Die höfisch laientheologische Abgrenzung in Form des Verständnisses von Schrift als bloßer Vermittlungsinstanz gegenüber kirchentheologischer Buchreligiosität ist im Parzival heilskonzeptionelles Programm, denn wie die Erzählinstanz in der sogenannten ‚Selbstverteidigung‘ betont, ist es in diesem Text vielmehr so, dass disiu âventiure/ vert âne der buoche stiure (115,29f.). Damit findet auch eine Verschiebung von der Heiligkeit der Schrift zur Sakralisierung der Körper statt, die es hier vermögen den göttlichen Willen, das göttliche Wort, in sich aufzunehmen. Denn ein traditionell kirchentheologisches Verständnis von Schriftlichkeit versteht die sacra pagina als diejenige Möglichkeit, das Göttliche in der Immanenz zu bewahren, d. h. mit Kontinuität zu versehen. Demgegenüber findet sich in dieser Konzeption des Textes Kontinuität eben nicht durch das Medium der Schrift gewährt, sondern Kontinuität entsteht allein durch eine unmittelbare Bindung des Gralshofs an Gott, dessen auserwählter Gesellschaft das göttliche Wort einverleibt ist.45 Der Ausdruck und
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erklärte und weitere, die neutestamentlichen, hinzufügte. Das Buch der Bibel zog, zumal in gottesdienstlicher Verwendung, Verehrung auf sich […]. Die zunächst religiös motivierte Buchkultur erzielte im Mittelalter bahnbrechende Wirkung. Lange noch hatte die Bibel die Bezeichnung sacra pagina (heilige Seite) und schied die mittelalterliche Welt in eine literarische und orale Religionskultur“. Um eben solch eine Diskussion aus der Perspektive einer oral organisierten Kultur, die darüber hinaus sehr viel Wert auf visuelle Zeichen der Sinnvermittlung legt, d. h., dass sie wie im Parzival religiösen Sinn in erster Linie über Bildhaftigkeit zur Anschauung bringt, handelt es sich offenkundig in dieser Textpassage. Damit tritt natürlich auch die Funktion von Religion als Produkt ihrer Bezugsgesellschaft, des feudal-höfischen Adels, nochmals deutlich in den Vordergrund. Vgl. hierzu auch bei Wenzel die basale Funktion der höfischen Gemeinschaftsstiftung im Akt des Hörens: „Gegenüber der lebendigen Anschauung einer face-to-face-Situation, dem Hören von Sprache, dem Sehen von Bildern, dem Schmecken, Riechen und Fühlen, ist die Komplexität der sensorischen Wahrnehmung im Medium der Schrift weitgehend reduziert […]. Die Literatur entwirft komplexe Imaginationen und fügt sie zusammen zu einem neuen Sinn- und Bedeutungszusammenhang, der immer schon einen Deutungszusammenhang von Welt darstellt – eine Welt, die den Sinnen nicht unmittelbar gegenwärtig ist, aber von den Sinnen doch vergegenwärtigt werden kann. Derart ist die Rezeption, zumal die kollektive Rezeption von höfischer Literatur, immer auch ein Vorgang der Gemeinschaftsstiftung“ (Wenzel 1995. S. 338). Vgl. hierzu Müller 2008, die über die Analyse der Figur des Feirefiz zu einem ähnlichen Ergebnis kommt: „Der Begriff des Einschreibens kann vor dem Hintergrund der Analyse nicht mehr nur als Metapher verstanden werden, sondern kann mit Rekurs auf den christlich-höfischen Gott und der Diskussion um die Bedeutung der heiligen Schrift innerhalb des Textes als adäquate Bezeichnung eines Erkenntnisvorgangs gesehen werden und verweist damit implizit auf eine Logik,
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somit die Funktionalität des göttlichen Willens liegen im Parzival in den lesbaren und Herrschaft Kontinuität verleihenden Leibern, denen das göttliche Wort bzw. der göttliche Auftrag, inkorporiert ist.46 Über die Funktion der ‚Verleiblichung‘ göttlichen Willens generiert der Gral seine exzeptionelle Bedeutung für die Welt des Textes (und bezüglich der Offerten des Textes an die Rezipienten wohl auch darüber hinaus). Der göttliche Auftrag der Gralsgesellschaft besteht im Prinzip darin, Kontinuität in der Nachfolge personal organisierter höfischer Herrschaften zu sichern. Denn verwaist in der höfischen Welt irgendwo ein Land, so sendet Gott ein Mitglied dieser Gemeinschaft, um die entsprechende Herrschaft zu bewahren: wirt iender hêrrenlôs ein lant, erkennt si dâ die gotes hant, sô daz diu diet eins hêrren gert vons grâles schar, die sint gewert. des müezn och si mit zühten pflegn: sîn hüet aldâ der gotes segn. got schaft verholne dan die man, offenlîch gît man meide dan (494,07–14)
Die gotes hant greift also bei drohender Vakanz oder gar Verwaisung eines Landes unmittelbar ein.47 Die Gewährung von Kontinuität in der Herrschaftsfolge
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die letztlich auf spezifische Vermittlungsstrategien eines Textes verweisen, der einer Kultur der Sichtbarkeit zugehörig ist“ (S. 321f.). Der personenbezogenen, leibesorientierten Gottesvorstellung entsprechend nimmt es auch nicht weiter wunder, dass mit einem solcherlei gestalteten Religionsbegriff im Parzival auch ganz entscheidend Machtfragen feudal-adliger Gesellschaft verhandelt werden. Das zeigt sich natürlich besonders gut an Parzival und seinem Hadern mit Gott. Eine ausführliche Untersuchung von Machtfragen und auch die weiterführende Thematisierung der basalen gesellschaftsstiftenden Funktion dieser Gottesvorstellung würden hier jedoch den Rahmen sprengen und zu weit vom eigentlichen Erkenntnisinteresse wegführen. Die Hand Gottes ist im Alten wie im Neuen Testament einschlägiges Symbol für das Wirken und Eingreifen Gottes in die Welt (vgl. Seibert 2002. „Hand Gottes“, S. 136); sowie: Ernst 2002. S. 185: „Greifbarer tritt Körperlichkeit im Gottesbild Wolframs hervor, wenn von der Hand Gottes die Rede ist, die im AT den allmächtig wirkenden, am auserwählten Volk handelnden Gott symbolisiert. In der christlichen Ikonographie ist vom 4.–13. Jahrhundert die ‚manus Dei‘ bzw. ‚dextra Dei‘ das dominierende symbolische Bild für Gottvater, oft konnotiert mit der Vorstellung vom Eingreifen Gottes in den irdischen Bereich. So bezeichnet Wolfram im ‚Parzival‘ Gott auch als diu hôhste hant (185,18), […] die der biblischen Formel ‚manus excelsi‘ korreliert“. Zur Forschungslage und Verknüpfung des Symbols mit dem Herrschaftsdiskurs vgl. Müller 2008; insb. S. 70: „Die Wendung von der hoehsten(!) hant operiert auf der Textebene mit der ihr inhärenten Dopplung, welche die weltlich-höfische und die christlich-sakrale Dimension innerhalb der christlich-höfischen Herrschaftslogik miteinander verknüpft. Sowohl der christliche Gott als auch sein weltlicher Stellvertreter können mit der Formel der hoehsten hant beschrieben werden, aber die Macht des weltlichen Herrschers bleibt stets an den christlichen Gott rückgebunden und hat somit ihren Bezugspunkt außerhalb des Systems und damit außerhalb des eigenen Körpers“. Außerdem findet sich hierzu auch ein interpretierendes Kapitel in: Schmitt 1992. S. 89–127.
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steht somit an erster Stelle und ist daher mit einem sehr konkreten Gottesbild im Text verwoben, was grundsätzlich auch bedeutet, dass ihr ein besonders großer Stellenwert eingeräumt wird. Auch bei der Frage nach der Kontinuität ist der Gral bzw. sind die Instruktionen Gottes als Bearbeitung eines Problems von personal organisierter adliger Herrschaftskonstruktion zu verstehen. Neudeck hat den Parzival in diesem Sinne nachvollziehbarerweise als „Sippenroman“ bezeichnet, bei welchem der interpretatorische Blick anstatt auf den einzelnen Protagonisten auf die adlige Sippe und ihren Status gerichtet werden soll; er schreibt: „Wert und Stellung eines Geschlechts definieren sich durch die Macht und die Mittel, die zur Verfügung stehen und mit denen Herrschaft ausgeübt werden kann. Für das kollektive Subjekt einer Sippe oder Dynastie ist aber – neben dem Umfang der Herrschaft – im gleichen Maße deren Kontinuität wichtig: die Adelsherrschaft muß durch legitime Nachfolger gesichert werden“.48 Die Funktion des Gralshofs besteht also darin, gefährdete Herrschaften zu erhalten, sie gewissermaßen wieder zu reparieren. Zugleich gilt dabei aber festzuhalten, dass die funktionale Instrumentalisierung der gotes hant im Rahmen einer dynastischen Herrschaftsideologie (daz diu diet eins hêrren gert) zudem auch eine Sakralisierung der Sippe bewirkt, die sich von der kirchentheologischen Lehre als eigenständiger laientheologischer Entwurf einer feudal-adlig höfischen Gesellschaft deutlich abgrenzt.49 Die von Gott 48
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Neudeck 1994. S. 54. Insgesamt folgt Neudeck in seinem Aufsatz den Prämissen Peter Czerwinskis, wobei er die aufgegriffenen Aspekte aber noch deutlich erweitert. Allerdings ist seiner Untersuchung auch dieselbe Problematik wie Czerwinskis gemein: Auch Neudeck arbeitet mit einer realhistorischen Einbindung des Textes, die mir in Reinform letztlich den Blick für die literarischen Mechanismen des Textes zu verstellen scheint. Andererseits teile ich aber sehr wohl Neudecks Einschätzung, dass mit dieser Verschiebung des epischen Subjekts konsequenterweise auch ein Perspektivenwechsel in der wissenschaftlichen Fragestellung verbunden sein muss. Und die Frage nach der Kontinuität gehört hier sicherlich dazu. Vgl. hier auch: „Der Parzival, der lange Zeit vor allem auf die individuelle Schuld des Protagonisten hin interpretiert wurde, sollte im Sinne der weiter gefassten Perspektive seines deutschen Verfassers betrachtet werden. […] Zwar gibt es daneben viele Beispiele, die – ganz in Entsprechung zur adligen Praxis der Entstehungszeit des Parzival – den Erbgang vom Vater auf den Sohn darstellen; dieses Prinzip gewährleistet normalerweise die Kontinuität innerhalb der beiden großen Adelsdynastien in Wolframs Sippenepos. Doch die vielen Ausnahmen von dieser Regel, die […] den Sippenkörper beeinträchtigen, wenn nicht gar bedrohen, sollten den Blick dafür schärfen, daß Kontinuität nicht selbstverständlich ist“ (ebd.). Czerwinski hat das Gottesbild des Parzival dementsprechend als ‚Realabstraktion‘ bezeichnet, weil sich in der paradoxen Funktionalisierung Gottes jener Widerspruch personaler Herrschaftskonzeption und der Gewährung von Kontinuität niederschlägt. Vgl. hierzu: „Gott ist einerseits als höchster Lehnsherr bezeichnet, erscheint also nicht als umfassend vermittelnde, abstrakte Allgemeinheit, sondern als unvermittelte Spitze gegeneinander isolierter, partikulärer Ebenen personaler Abhängigkeit; andererseits wird an der Stelle zum ersten Male den Haupt-Elementen – triuwe und helfe – der ganzen Heterogenität einer lediglich partiell und in ihrer sinnlichen Präsenz gültigen Herrschaftsform ein möglicher Grad von Dauer und institutioneller Gültigkeit zugesprochen, der ihnen zunächst gar nicht zukommen kann: Gottes Treue sei unwandelbar. D.h., die
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gesegneten Herrscher sind hier besonders würdevoll zu behandeln, denn ihre Legitimation leitet sich von der höchsten Instanz ab, die die Zeitgenossen sich denken können: des müezn och si mit zühten pflegn:/ sîn hüet aldâ der gotes segn. Mit Delabar kann man das Egalität mit Elitärem verbindende Gotteskonzept „als Versuch verstehen, den christlichen Weltentwurf, der dem Verwandtschaftsverband keine Funktion zugestehen will, mit dem dynastischen zu verbinden, dessen zentraler Orientierungspunkt gerade die von der Kirche verdammte und abgelehnte Sippe ist“.50 Auch dieser laientheologische Gottesentwurf entpuppt sich schließlich als Reaktion auf ein konkretes Problem mittelalterlicher Landesherrschaft, denn das Aussterben einer Linie hat in einer dynastisch organisierten Herrschaft notwendigerweise kriegerische Erbstreitigkeiten hervorgerufen, die nur selten unblutig verliefen. Insofern ist die Aussendung eines geeigneten Mitglieds des Gralshofs durch die gotes hant als eine diplomatische Lösung dieses Dilemmas zu verstehen. Denn durch dieses utopische Konstrukt wird schließlich eine Möglichkeit geschaffen, drohenden Konflikten und Verteilungskämpfen ohne exzessiv gewalttätige Auseinandersetzungen zu begegnen. Oder was vielleicht noch viel wichtiger ist als das höfische Paradigma der Gewalteindämmung: Die gegebene und gottgewollte Ordnung bleibt in der Form erhalten, in der sie auch ihre Legitimation von Gott erhalten hat.51 Dass die Herrschaftsübernahmen durch den oder die Gesandte(n) Gottes dabei ausdrücklich friedlich von stattengehen, bzw. dass die höfisch konnotierte Vermeidung von Kämpfen in gottbestimmten Herrschaften gewährleistet sein soll, zeigt sich darüber hinaus auch an der geschlechtlichen Differenzierung bei der Aussendung: Die man werden von Gott auf wundersame Weise verholne in dem verwaisten Land inthronisiert, die meide dagegen werden offenlîch gegeben. Dass Frauen in aller Öffentlichkeit die Herrschaft übernehmen, folgt dabei einer höfischen Logik, nach welcher Frauen zum einen per se als nicht gewaltfähig gelten und daher eine kriegerische Auseinandersetzung ohnehin undenkbar scheint, und zum anderen steht das öffentliche Vorzeigen des weiblichen Herrschaftskörpers natürlich auch für die Demonstration von gewährleisteter und legitimer Nachkommenschaft. Obwohl die ausgesandten Ritter eigentlich keine Schwierigkeiten haben dürften, die für sie ausersehene Herrschaft zu erobern – denn beim Gral befinden sich ja nur hervorragende und äußerst strît-fähige Kämpfer – ist es bei den Männern dagegen notwendig, die Übernahme der Herrschaft im Geheimen abzuwickeln. Die Wunderkraft des Grals, sie verholne an ihren bestimmten Platz zu schaffen, lässt sich
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punktuelle Lehnstreue, ‚das Allerungetreueste‘ (Hegel: Werke XII, 459), bleibt im – epischen – Spiel, um etwas auszudrücken, das sie gerade nicht mehr vorstellen soll. Gott ist und ist doch nicht der einzelne Lehnsherr als Person, er ist die Person, die abstrakte Eigenschaften hat, Züge von institutioneller Allgemeinheit trägt, ist – wieder – eine Realabstraktion“ (Czerwinski 1989. S. 162). Delabar 1990. S. 307. Systemtheoretisch lässt sich dies als notwendige Selbstreferentialität beschreiben, ohne welche das Fortleben des Systems in Frage stehen würde.
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eigentlich allein durch das höfische Ziel der Gewaltvermeidung erklären. Das wunder-Wirken Gottes kann es also manchmal sogar verhindern, dass seine Kämpfer sich unter Beweis stellen müssen. Oder umgekehrt formuliert: Wenn ausgerechnet die strît-fähigsten Kämpfer verholne inthronisiert werden, dann nimmt die göttliche Sendung aus einer höfischen Perspektive notwendig eine paradoxe Form an – eine Paradoxie (gerade den besten Kämpfern obliegt es, aufgrund des göttlichen Willens nicht zu kämpfen), die auch hier für den Bezug zum Transzendenten als konstitutiv erscheint, denn ‚Sinn‘ ergibt diese Handlungsmaxime nur im funktionalen Einbezug Gottes. Es lässt sich an dieser Stelle nun formulieren, dass die utopische Konstruktion des Grals im Parzival nicht allein auf die Probleme dynastisch organisierter Herrschaftsformen reagiert, sondern dass sie gerade aufgrund der Vorführung ihrer literarischen Konstruktivität auch prinzipielle Unzulänglichkeiten feudal-höfischer Gesellschaft einsehbar macht. Dass der Text die Problematik personal organisierter Herrschaft dabei nicht nur einsinnig ‚didaktisch‘ formuliert, sondern sie stets multiperspektivisch beleuchtet, gehört zu seinen vielen literarisch großartigen Kunstgriffen. Auf der Basis der grundsätzlichen Funktionalität von Literatur und Kunst bedeutet dies, dass Reflexionen auf gesellschaftliche Bedeutungszusammenhänge ermöglicht werden, indem der Text seine Konstruktionsvorgänge als Beobachtungen zweiter Ordnung auf der Ebene von Wahrnehmung installiert.52 Zentrum dieser literarischen Reflexion ist der adlige Herrschaftsdiskurs. Denn gerade durch die Utopisierung und literarische Brechung werden Einsichten in Konsistenz und Paradoxien dynastischer Herrschaftsideologien gewährt. Literarische und religiöse Kommunikation bearbeiten mit der auf Kontinuität ausgerichteten herrschaftlichen Utopie somit ein gemeinsames Feld: Religion nimmt mit der direkten Anbindung an Gott eine Auslagerung vor, der literarische Text stellt diese dann, gerade in Formen der Bewusstmachung seines fiktionalen Charakters, als zu beobachtendes Konstrukt dar. Das Höfisches und Religiöses verschränkende Erzählkonzept des Parzival ermöglicht oder verlangt daher letztlich sogar die kritische Reflexion der jeweiligen Darstellung: Grenzen des Höfischen wie auch des Religiösen werden einsehbar und somit (insbesondere auch für die Ebene der Rezeption) gesellschaftlich verhandelbar gemacht.
1.4. Visualisierung der höfisch laientheologischen Heilskonzeption Eine weitere bedeutende Funktion des Grals findet in der Beschreibung des alten und zugleich wunderschönen Mannes von Munsalvaesche ihren bildlichen Niederschlag:53 Als religiös konnotierter Ausgangspunkt fungiert hier der paradox 52
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Vgl. hierzu im Methodenkapitel die Ausführungen zu Luhmanns funktionalem Kunstbegriff: Kapitel II: 3. Vgl. hierzu auch Kapitel III. 2. An dieser Stelle soll nun jedoch nicht weiter auf die Selbstreflexivität der durch dieses Paradoxon ausgelösten Erzählmodi eingegangen werden, sondern hier
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dargestellte strahlende Leib des greisen Ahnherrn des Gralsgeschlechts – Titurel.54 Das wunder des Grals bewirkt an ihm den Erhalt von Jugendfrische und die Überwindung des Todes. Parzival erspähte den aller schoensten alten man/ des er künde ie gewan (240,27f.) im angrenzenden Raum des Festsaals von Munsalvaesche. Zusammen mit den anderen wundern des Grals wird dem Protagonisten auch der Körper Titurels durch Trevrizent religiös gedeutet. Der Grund für Titurels Erscheinung ist also folgendes wunder des Grals: ouch wart nie menschen sô wê, swelhes tages ez den stein gesiht, die wochen mac ez sterben niht, diu aller schierst dar nâch gestêt. sîn varwe im nimmer ouch zergêt: man muoz im sölher varwe jehn, dâ mit ez hât den stein gesehn, ez sî maget ode man, als dô sîn bestiu zît huop an, saeh ez den stein zwei hundert jâr, im enwurde denne grâ sîn hâr. selhe kraft dem menschen gît der stein, daz im fleisch unde bein jugent enpfaeht al sunder twâl. (469,14–27)
Wer den Gral erblickt, dem wird also sogleich das Aussehen der jugent verliehen, er verliert seine varwe nicht und eine ganze Woche lang wird der Mensch durch die lebenspendende Kraft des Steines daran gehindert zu sterben. Dieses wunder des Grals erinnert zum einen an das Bild des Jungbrunnens,55 zum anderen erscheint es in seiner christlichen Überformung der Überwindung des Todes auch mit dem Symbol des Lebenswassers verknüpft. Mit Rapp lassen sich das Motiv des Jungbrunnens und seine Abgrenzung folgendermaßen definieren: „Der Jungbrunnen besitzt die Kraft, gebrechlichen, alten Menschen, die in ihm untertauchen oder von seinem Wasser trinken, ihre Jugend zurückzugeben. […] Der Jungbrunnen unterscheidet sich vom Lebensbrunnen, der ewiges Leben schenkt, oder vom Brunnen, der wiederbelebt, darin, dass er nicht den Tod, sondern lediglich das Alter der Menschen überwinden kann. […] Am Lebensbrunnen erfährt der Mensch eine geistige, auf das ewige Leben vorbereitende Wandlung. Der
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sind es die konkreten Funktionen des religiös konnotierten wunders und die damit verbundene laientheologische Heilskonzeption, die im Zentrum der Untersuchung stehen. Einige Redundanzen werden sich im Dienste der Verständlichkeit jedoch kaum vermeiden lassen. So auch: Ridder 2003. S. 34: „Die unerklärliche Schönheit eines alten Mannes ist das letzte Wunder, das Parzival auf der Gralsburg sieht. Parzivals Titurel-Wahrnehmung ist dann Anlass für das Bogengleichnis. Das Titurel-Wunder besteht in der offensichtlichen Diskrepanz zwischen der vollkommenen Schönheit und dem hohen Alter eines Menschen“. Was Ridder hier beschreibt, scheint mir allerdings die Form des wunders zu sein, in der es in Erscheinung tritt, das wunder selbst ist konnotiert mit der göttlichen Kraft, die diese Erscheinung in der Immanenz veranlasst. So auch: Bumke 2004. S. 141.
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Jungbrunnen dagegen bewirkt eine körperliche Veränderung des Menschen“.56 Der Gral kombiniert also diese beiden Kräfte, was ebenfalls auf seine besondere Qualität als Bindeglied zwischen Immanenz und Transzendenz verweist.57 Auch bei diesem wunder ist das göttliche Wirken also äußerst dicht mit den irdischen Wünschen verwoben: Zur grundsätzlich christlichen Überwindung des Todes kommt noch das von der höfischen Gesellschaft nicht minder geschätzte jugendliche Aussehen. Und beides findet sich eindrücklich an den Leibern des Gralsgeschlechts visualisiert: Die Kraft, die den Körper in jugendlichem Erscheinen erstrahlen lässt, kommt insbesondere am Leibe Titurels zur Anschauung, ebenso lässt sich angesichts seiner übernatürlich langen Lebenszeit die Überwindung des Todes an ihm ablesen.58 Allerdings noch deutlicher wird dies beim mit Leiden verknüpften Wunderwirken am Leib des Gralskönigs Anfortas, der – eigentlich durch den vergifteten Speer des heidnischen Kämpfers tödlich verwundet – allein durch die Kraft des Steines (und dazu noch gegen seinen Willen) am Leben erhalten wird. Trevrizent erzählt: dô der künec den grâl gesach, daz was sîn ander ungemach, daz er niht sterben mohte, wand im sterben dô niht tohte (480,27–30)
Auf welche Funktion ist die Erscheinung dieser spezifischen Kombination aus Jugend- und Lebens-wunder, die das Transzendente an das Immanente so eng heranzurücken scheint, nun aber zurückzuführen? Um dieser Frage nachgehen zu können, ist zunächst einmal auf die auffällige Differenz zur üblichen Darstellung dieses wunders, die stets mit dem Bild des Wassers verknüpft ist, einzugehen. In einer aus der karolingischen Zeit stammenden kirchentheologischen Tradition wird das Motiv des Brunnens oder Wassers durch die Identifikation der Paradiesflüsse mit Christus, der Heiligen Schrift oder auch mit Maria abgeleitet. Rapp schreibt hierzu: „Mit dem christlichen Symbol des Lebenswassers wird versucht, das Göttliche zu umschreiben, indem man auf die lebenswichtige Funktion des Wassers zurückgreift. […] Lebensbrunnen und Jungbrunnen motivieren sich aus der lebenswichtigen Bedeutung des Wassers. Im einen Fall gilt das Wasser als Symbol für die Heilslehre des Christentums, im anderen Fall wird ihm auf irdischer Ebene die Kraft der Verjüngung zugeschrie56 57
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Rapp 1976. S. 9f. Rapp macht hierbei auch deutlich, dass das Jungbrunnenmotiv im Vergleich zum christlichen Motiv des Lebenswassers stets in der Sphäre des Märchens angesiedelt ist und dass „zwar gelegentlich Verbindungen zur christlichen Taufe hergestellt werden, die Schilderung selbst verhaftet aber immer im Profanen und stellt keinen Anspruch auf Wahrhaftigkeit“ (ebd. S. 10). Titurel ist ja der uralte Ahnherr des Geschlechts der Gralskönige: dem wart alrêrst des grâles van/ bevolhen durch schermens rât (501,24f.). Dass die Gralssippe ihren Gründer auch ständig wieder vor Augen geführt bekommt, lässt sich in diesem Zusammenhang dann als inkorporierende und immer wieder neu aktualisierende Gültigkeit von Geblütsheiligkeit deuten, worauf ich noch zu sprechen kommen werde.
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ben“.59 Diese Vorstellung ist darüber hinaus auch eindeutig mit der christlichen Taufe assoziiert, bei welcher die Heilsvermittlung eben durch den reinigenden Kontakt mit dem Wasser als Sinnbild Christi erfolgt: Der Gläubige affiziert sich mit dem christlichen Heil beim Tauchbad oder beim Übergießen.60 Nun ist der Gral im Parzival jedoch kein Gefäß und auch keine Schale, die unmittelbar an die rituelle Praxis der Taufe erinnern würde.61 Der Gral ist in Wolframs Text stattdessen ein Stein, dessen Anblick das wunder der Jugendfrische und der Lebensspende bewirkt.62 Der entscheidende Zugang zum Göttlichen gestaltet sich über das Medium des Sehens, der Anschauung, des Visuellen, das sich auf dem Körper abbildet und einschreibt. Die Anschauung scheint im Parzival der Königsweg der Heilsvermittlung: Ähnlich wie beim wunder der flüchtigen Schrift, erfolgt die Aufnahme des göttlichen Wortes durch Anschauung, die den Weg in den Körper beschreibt. Der Reinigung der Seele durch die Taufe scheint die Inkorporierung des Göttlichen beim visuellen Akt im Parzival daher auf den ersten Blick konzeptionell übergeordnet. Bei genauerem Hinsehen erweist sich jedoch, dass die Taufe eine grundsätzliche Basis darstellt, auf der das wunder der Anschauung überhaupt Wirkung zeigen kann. Das wunder-Wirken des Grals auf Munsalvaesche erfolgt nämlich nach demselben Strukturprinzip religiöser Sinnvermittlung, wie sie auch in der Flegetanis-Kyot-Konstellation vorliegt, jedoch in umgekehrter Reihenfolge. Dort gelingt es dem Heiden ja dank seiner künste, eine Abschrift der Gralsgeschichte aus den Sternen zu erstellen, aber erst dem getauften Kyot gelingt es, den Sinn seiner latenten Form zu entheben. Die Taufe ist dabei die Grundlage, der fruchtbare Boden, auf die der religiöse Sinn trifft: Erst Kyot verleiht ihm den Körper, in dem er sich entfalten kann; Flegetanis ist dagegen, wie auch bereits gezeigt werden konnte, ein wichtiger Zwischenspeicher der Anschauung, dem jedoch die entscheidende Grundlage zur Erkenntnis fehlt. Der Gedanke liegt daher nahe, dass auch das Gralswunder, das Jugend und Leben verleiht, in dieser Hinsicht als höfisch laientheologische Konstruktion zu verstehen ist, die sich von einer traditionell kirchentheologischen Vorstellung abzugrenzen sucht. Entscheidend ist hierbei, dass die Funktionalität Gottes an den Leibern ein59 60
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Rapp 1976. S. 10f. Vgl. hierzu Angenendt 2004. S. 41: „Die Taufe ist ein Tauchbad oder – so meist in der Praxis – eine Übergießung, welche Reinigung und Neuwerdung symbolisiert. Mit der Aussage: ‚Wer glaubt und sich taufen lässt‘ (Mk 16,16) betonte das Neue Testament den vorrangigen Glauben“. Vgl. auch Bumke 2004. S. 138: „Der Gral ist bei Wolfram kein Gefäß, sondern ein Stein. Woher diese Vorstellung stammt, ist unklar. Früher hat man vermutet, daß Wolfram einem Mißverständnis erlegen sei, indem er die ‚kostbaren Steine‘ (Pierres prescieuses 3234), mit denen der Gral bei Chrétien geschmückt ist, für den Gral selbst gehalten habe. Wolfram hat dem Stein jedoch Kräfte und Eigenschaften zugeschrieben, die sich nicht von Chrétien her erklären lassen“. Mir geht es im Folgenden nun nicht darum, zu klären, woher Wolfram diese Vorstellung hat (also worin der Autor sein Vorbild sieht), sondern es ist mir vielmehr daran gelegen, die Konsequenzen der Veränderung des Grals vom Gefäß zum Stein zu beleuchten. Auf die Verwendung des Grals bei der Taufe werde ich im Folgenden gleich mit einigen Überlegungen zu Feirefiz’ Taufe eingehen.
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sichtig und lesbar gemacht wird.63 Der konkrete (Figuren-)Leib fungiert dementsprechend als Abbildungs- und Einschreibefläche für eine dahinter stehende Körperlogik, nach welcher die mittelalterliche Herrschaftsideologie mit christlich metaphysischen Formen verwoben ist.64 In den vorigen Ausführungen zur Titurel-Szene, die auch das ‚Bogengleichnis‘ einleitet, ist bereits dargestellt worden, dass der Erkenntnisprozess religiöser Einsichten hier offenkundig auf der Bildebene erfolgt und insbesondere durch die Anschauung des Körpers ermöglicht wird. Die Form, in der das Religiöse hier einsehbar wird, ist das Visuelle: Am grauen Leib des Ahnherrn des Gralsgeschlechts wird in seiner paradoxen Gestalt der Bezug zum Auferstehungsleib Christi deutlich. Die Kontinuität in der Materialität des Körpers ist in der höfischen Adelskultur, die derart über das Performative und die Lesbarkeit des Leibes organisiert ist, dann zugleich auch als ein konstitutives Moment ihrer Glaubensvorstellung zu begreifen.65 Interessant ist daran im Hinblick auf eine höfische Laientheologie insbesondere die Akzentverschiebung, denn wenn die Flüchtigkeit der Schrift stets betont wird und der göttliche Ursprung zugleich als dergestalt markiert erscheint, dann ist die Lesbarkeit des Körpers – der ja von Gott gegeben ist – ‚das‘ Medium für den repräsentationsfixierten höfischen Adel. Diese Bestimmung der Heilskonzeption führt darüber hinaus auch zu einer von den meisten Forschungsdarstellungen divergierenden Ansicht über die Taufe des Feirefiz. Bumke beispielsweise vertritt die Auffassung, dass in der Darstellung das Religiöse zugunsten Feirefiz’ „komischer Liebesraserei“ in den Hintergrund tritt, und vielmehr sein „unbändiges Liebesverlangen […] den weiteren Verlauf der Handlung [bestimmt]. Dabei wird das religiöse Motiv – Feirefiz soll sich taufen lassen – dem Liebeswunsch des Heiden so auffällig untergeordnet, daß die Taufe selbst wie eine Burleske wirkt“.66 Unbeachtet bleibt hierbei aber, dass das, was Feirefiz als Heiden am Gralshof kennzeichnet, der Umstand ist, dass er nicht 63
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Denn hier liegt offenkundig eine deutliche Verschiebung der Heilskonzeption vom verwandelnden Akt durch das Wasser der Taufe, das die Seele reinigt, zum Zugang zum Göttlichen durch das Visuelle vor, das auf die dezidiert sinnlich-körperliche Wahrnehmung bezogen ist. Zum Taufakt und der Wassersymbolik des Jungbrunnens vgl. Rapp 1976. S. 11: „Die Vorstellung der Verwandlung des Menschen durch Untertauchen in eine Quelle, einen Bach oder einen Brunnen, die dem Thema des Jungbrunnens zugrunde liegt, klingt im Ritus der christlichen Taufe an. Hier hat das Wasser symbolische Bedeutung. Mit dem Eintauchen ins Taufbecken wird die seelische Reinigung des Täuflings nachvollzogen. Erst nach der Taufe nimmt dieser an der Heilslehre teil“. Ganz grundsätzlich verstehe ich hier den physischen (Figuren-)Leib als Abbildungs- und Einschreibungsfläche für jegliche Körperlogik. Mit den Figuren Titurel und Anfortas steht, wie sich im Folgenden zeigen lässt, die Vorstellung des herrschaftlichen Sippenkörpers im Zentrum der narrativen Verhandlung. In diesem Zusammenhang sei hier erneut verwiesen auf: Walker Bynum 1996; hier S. 243: Die Vorstellung eines substantiellen Körpers war für höfische Adelskulturen nämlich überaus attraktiv; „diese Anziehungskraft spiegelte sich in der Auferstehungstheorie, die Identität vor allem als materielle Kontinuität definierte“. Bumke 2004. S. 121.
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in der Lage ist, die wunder des Grals zu sehen. Und so wünscht er sich, ihrer ansichtig zu werden: der heiden vrâgte maere, wâ von diu goltvaz laere vor der tafeln wurden vol. daz wundr im tet ze sehen wol. (810,03–06)
Als der Ahnherr Titurel davon erfährt, dass Feirefiz an den wundern nicht teilhaben kann erklärt er umgehend: … ‚ist ez ein heidensch man, sô darf er des niht willen hân daz sîn ougn âns toufes kraft bejagen die geselleschaft daz si den grâl beschouwen: dâ ist hâmît vür gehouwen.‘ (813,17–22)
Die Taufe ist auch in Titurels Aussage zwar eigentliche Voraussetzung der Glaubenskonzeption, der Zugang zur Heilslehre ist jedoch gleichfalls der visuelle Akt, die Möglichkeit den grâl beschouwen zu können und seine wunder zu sehen: Durch die Taufe erhalten die ougn schließlich die kraft, um im Prozess der Anschauung an der geselleschaft teilhaben zu können und das heißt, am göttlichen Wirken des Grals beteiligt zu werden. Da dieses wunder-Wirken, wie gezeigt werden konnte, als basales Konstrukt einer feudal-höfischen Laientheologie begreifbar ist, wird das traditionell kirchliche Heilskonzept der Teilnahme an der Heilslehre durch die Taufe zwar nicht suspendiert (erst wenn der Taufakt durch einen Priester vollzogen ist, ist es ja möglich den Gral zu sehen), aber sehr wohl im Sinne einer adligen Herrschaftsideologie instrumentalisiert, indem es nämlich in die Peripherie einer auf höfisch-adliger Herrschaft zentrierten Glaubensvorstellung gerückt ist.67 Entscheidend ist demnach nämlich nicht das traditionell 67
In diesem Zusammenhang ist auch darauf hinzuweisen, dass die Diskussion über die Kompatibilität von genealogischem Adelsdenken und kirchentheologischen Konzepten des Christentums für die Gesellschaft des Hochmittelalters durchaus noch nicht abgeschlossen war. Diese Auseinandersetzung weist zum Beginn der Christianisierung in Deutschland einen Präzedenzfall auf, der noch lange nachwirkt: Es handelt sich hierbei um die Taufe des Frankenkönigs Chlodwig (vermutlich 498), die „in mehrfacher Hinsicht ein welthistorisches Datum [ist …]. Anlass soll – wie bei so vielen frühmittelalterlichen Fürstenbekehrungen – die göttliche Siegeshilfe gewesen sein […]. Hierbei nach persönlicher Bekehrung und innerlicher Glaubensüberzeugung zu fragen, verkennt den Kollektivcharakter …“ (Angenendt 2004. S. 7f.). Allerdings war diese Taufe für Chlodwig auch nicht ganz unproblematisch, denn er riskierte damit „die eigene Legitimität, die sich aus dem besseren Blut seiner halbgöttlichen Herkunft ableitete; da aber das Christentum keine quasi-göttliche Adelsgenealogie kannte, hätte der getaufte König – wie ihm auch gesagt wurde – auf diese Herkunft verzichten müssen. Doch hat Chlodwig diese Abkehr vom Königsblut nicht vollzogen […].Chlodwig ist – so muss man feststellen – auf nichtchristliche Weise Christ geworden, ebenso seine kollektiv mitgetaufte Gefolgschaft“ (ebd. S. 8). Wichtig ist nun nicht, ob der Parzival Wolframs speziell auf diesen Fall Bezug nimmt, sondern vielmehr erscheint mir hier nun wichtig festzuhalten, dass der Text (wie an so vielen anderen Stellen) einen
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kirchentheologische Verständnis, nach dem der Täufling durch den von kirchlichen Stellvertretern ausgeführten Akt der Taufe an der Heilslehre teilnimmt,68 vielmehr konfiguriert sich der Inhalt dieser Heilslehre aus den Vorstellungen adlig-höfischer Herrschaft; das bedeutet konkret: Die Taufe ist zwar Grundvoraussetzung, aber von einem Zugang zum Heil lässt sich erst bei der visuellen Anschauung des Grals sprechen.69 Will man hierin eine hierarchische Staffelung sehen, dann ist, den wundern ansichtig zu werden, der Gotteserfahrung am nächsten und damit der unmittelbarste Zugang zu Gott. Aufgrund dieser offenkundigen Unterordnung der Taufe im Heilskonzept ist Feirefiz’ Aussage, er wolle die Taufe mit strîte um Repanses willen erlangen,70 auch nicht als „burleske“ Darstellung der Taufe zu verstehen, die die Taufe an sich verlacht. Sondern wenn man bedenkt, worüber hier gelacht wird (es wird ja gelacht, und sich nicht darüber empört!),71 so ist das Lachen Parzivals und Anfortas’ doch viel eher ein identifikatorisches Lachen. Ihr Lachen gibt zu erkennen, dass diese Möglichkeit des Heilszugangs – durch strît mit Lanze und Schwert im dienest einer vrouwe – einer adlig-höfischen Gesellschaft und ihrem laientheologischen Vorstellungs-
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literarischen Reflexionsraum für einen gesellschaftlichen Diskurs schafft, der für die adligen Zeitgenossen hinsichtlich einer genealogischen Denkstruktur, trotz als abgeschlossen geltender Christianisierung, noch immer als Reibefläche präsent war. Feirefiz wird auch kristenlîche pflegn (818,13), d. h. im traditionell kirchlichen Akt mit dem Zweck der Seelenreinigung durch einen Priester getauft: der toufnapf wart geneiget ein wênec geinme grâle. vol wazzers an dem mâle wart er, ze warm noch ze kalt. dâ stuont ein grâwer priester alt, der ûz heidenschaft manc kindelîn och gestôzen hête drîn. (817,04–10) Aber Ziel ist es jedoch, den Gral erblicken zu können: an den grâl was er ze sehen blint, ê der touf het in bedecket: sît wart im vor enblecket der grâl mit gesihte. (818,20–23) Dieselbe Konstellation liegt ja übrigens auch bei Kyot vor, dessen Grundvoraussetzung den Schriftsinn zu entnehmen die Taufe ist, wobei eben die Inkorporierung des göttlichen Wortes jedoch der zentrale Zugang zum Heil bleibt. ‚bruoder, umb die muomen dîn. holt man den touf mit strîte, dar schaffe mich bezîte und lâz mich dienen umb ir lôn. ich hôrte ie gerne solhen dôn, dâ von tjoste sprîzen sprungen unt dâ swert ûf helmen klungen.‘ (814,24–30) Der wirt des lachte sêre, und Anfortas noch mêre. (815,01f.)
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horizont doch recht nahe ist.72 Ohne hier auf grundsätzliche Komiktheorien eingehen zu wollen, lässt sich in diesem Sinne jedoch interpretieren, dass das Lachen offenkundig eine Möglichkeit bietet, mit einem Konflikt umzugehen, der sich aus der Differenz des adligen Weltbildes und kirchentheologischer Christlichkeit speist. Grundsätzlich geht es dem Text nämlich nicht darum, Religiosität der Lächerlichkeit preiszugeben,73 sondern der Einsatz von Lachen wird als ein sozialer Bearbeitungsmechanismus lesbar, über den ein laientheologischer Handlungsspielraum geschaffen wird, ohne den feudal-adlige Konzepte (wie z. B. Zentralsetzung der Sippe) und eine christliche Vorstellung der Weltordnung als nahezu unvereinbar erscheinen müssten.74 Am überzeugendsten scheint in dieser Hinsicht deshalb der Ansatz Ridders, der mit einem Theorem Mircea Eliades die komische Wirkung als gezielte Konfrontation des Heiligen mit dem Profanen zu beschreiben sucht: „Der religiöse Mensch versteht das Heilige als das ‚GanzAndere‘. Das ‚Ganz-Andere‘ kann sich aber nur in Personen und Gegenständen der profanen Welt manifestieren. Auch die elementarste Manifestation des Heiligen stellt daher ein Paradox dar. Der Gegensatz zwischen dem Heiligen und dem Profanen kann lachend bewusst oder überspielt werden. Das Lachen ist Antwort auf Ambivalenz und Paradoxie, ist aber ebenso Ausdruck der Ratlosigkeit und Reaktion auf etwas, das nicht zu bewältigen ist“.75 Für die literarische Repräsentation und Verhandlung dieser Diskussion bietet sich das Lachen über den (noch) Heiden dann natürlich dementsprechend an, ein solches Konfliktpotential zur Anschauung zu bringen.76 Insofern kann Lachen hier als ein höfisch laientheolo72
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Dem entspricht auch, dass es ja gerade die minne ist, die bei Feirefiz das Bedürfnis erweckt, den Gral zu sehen. Dies geht mit der in der jüngeren Forschung häufig vertretenen Einschätzung einher, dass der Gralshof hinsichtlich seiner Ordnungsstruktur dem Artushof nachzuordnen sei. Vgl. hierzu stellvertretend Bumke 2001. S. 164. Dementsprechend stimme ich Müller in ihrer Einschätzung zu, dass die Zuschreibung von Komik in dieser Szene allein noch nichts bewirkt: „Mir ist nicht immer so ganz klar, was das Argument des Komischen an Feirefiz eigentlich erklärt; vielmehr hatte ich den Eindruck, dass damit Widersprüchliches eingeebnet wird, da sonst kein geschlossenes Bild der Figur zu zeichnen ist. Wie bereits erwähnt, erscheint mir das Argument des Komischen als eine Verlegenheitslösung im Umgang mit einer derart komplexen Figur, welcher mit einem unterkomplexen Komikbegriff gepaart, wohl eher sinnverstellend wirkt und die Interpretation erheblich erschwert“ (Müller 2008. S. 259). Dem hinzufügen möchte ich, dass aus der Perspektive auf die Konstruktivität des Textes der Einsatz von Komik an dieser Stelle weniger als Verlegenheitslösung denn als ein lesbares Zeichen einer zu bearbeitenden Diskrepanz religiöser Glaubensvorstellung zu fungieren scheint. Ridder 2002. S. 137. Vgl. hierzu ebenso Ridder 2002; hier S. 150: „Das Komische vermittelt die Verzichtleistungen der Heiligkeit mit dem materiell-leiblichen Prinzip, sakramentalen und zeremoniellen Ernst mit burlesk-triebhaftem Handeln, die märchenhaft-phantastische mit der heilsgeschichtlich-legendarischen Dimension des Grals. Vor allem für Wolframs Gralkonzeption hat dies Konsequenzen. Die asketische Lebensform schließt das aus, was die religiös akzentuierte Gralwelt durchaus zuläßt. In dieser Perspektive erscheint das Heilige des Grals und der Gemeinschaft in seiner Nähe
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gischer Umgangsmodus mit einer auf das Göttliche verweisenden Paradoxie in der Immanenz verstanden werden: Lachen offeriert als rituelle Handlung jenseits des dezidiert kirchlichen Ritus die Möglichkeit für den Anschluss des Transzendenten. Das auf einer Paradoxie basierende Lachen ist somit als Handeln mit Transzendenzbezug zu verstehen, es besitzt eine gemeinschaftsstiftende Funktion, die im Anschluss an religiöse Kommunikation zur Herstellung einer Glaubensgemeinschaft verwandt werden kann. Durch diese soziale Rahmung des Lachens werden dann auch grundsätzliche Konflikte profaner und sakraler Vorstellungen (wie sie beispielsweise im Falle von Feirefiz’ Taufe aus der Konfrontation feudal-höfischer und kirchentheologisch tradierter Weltbilder entstehen können) unter Einbezug von Religion verhandelbar.77 Verfolgt man nun die Spur der höfischen Glaubensvorstellung als Teil einer ‚Kultur der Sichtbarkeit‘ im Text weiter, so zeigt sich auch, dass die bildhafte Darstellung von Titurels Leib als eine Visualisierungsstrategie zu begreifen ist, die mit der Bezugnahme auf Parzival durch den Konnex christlicher Überwindung des Todes die Gewährung von Kontinuität an Herrschaft zur Anschauung bringt.78 Das liehte vel (501,21) verrät, wie bereits in Kapitel III: 2. angesprochen, als Semantisierung der Vorstellung vom splendor imperii, jener genealogischen Disposition einer Herrschersippe, den Glanz im Sinne der Gnade Gottes und die göttliche Kraft bevorzugt aufnehmen zu können,79 auch, dass Titurel Glied eines Herrschaftsgeschlechts ist, dessen Sippenkörper unmittelbar mit Gott in Verbindung steht. Insofern ist der Blick Parzivals auf Titurels Leib auch als dynastischer Verweis lesbar, denn es ist ja nicht irgendwer, der das wunder des Grals an diesem Leib vor Augen geführt bekommt, sondern es ist Parzival, der das jüngste Glied dieses Geschlechts und zukünftiger Gralskönig ist. Die dynastische Dimension
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profaniert und zugleich das Höfisch-Weltliche der Gralwelt geheiligt. Um das Unvereinbare zu verbinden, bedurfte es der vermittelnden Komik. Komik ist hier nicht nur Ausdruck eines subjektiven Erzählstils, sondern Medium eines die Gegensätze überwindenden Trotzdems“. Hierzu ist jedoch anzumerken, dass die Wertungsperspektiven, wie sie Ridder mit den Oppositionen Heiliges und Profanes (insb. „burlesk-triebhaftes Handeln“ auf dieser Seite) entwirft, im Text nicht gegeben sind. Die Oppositionen als solche sind vorhanden und werden durchaus auch über ‚Lachen‘ verhandelt, allerdings wird dazu eben keine wertende Stellung bezogen. Vgl. zur sozialen Funktion des Lachens auch Althoff 2005. Systemtheoretisch lässt sich hier von einem re-entry der Unterscheidung profan/religiös in eine laientheologisch religiöse Kommunikation sprechen, denn durch das Lachen findet eine gemeinschaftsstiftende (! und damit systemgenerierende) Auseinandersetzung darüber statt, dass die Umwelt (im Sinne von kirchentheologischer religiöser Kommunikation) eine solche Unterscheidung vorgenommen hat. Lachen wird so zum konstitutiven Element von funktionaler Ausdifferenzierung innerhalb einer höfischen Laientheologie. Vgl. hierzu Wenzel 2005. S. 229: „Eine Durchdringung des politischen und des religiösen Diskurses wird von der Literatur- und der Geschichtswissenschaft aus vielen Perspektiven beschrieben: Die mittelalterliche Idee von Herrschaft ist theologisch begründet, die christliche Dimension der verbalen und nonverbalen Herrschaftsrepräsentation unübersehbar“. Zum splendor imperii: Wenzel 1990. S. 179.
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des Zeichens macht zudem folgende Analogie am Sippenkörper einsichtig:80 Denn wie auch Parzivals Herrschaft am Gralshof noch nicht eingesetzt hat, da er die erlösende Frage noch nicht gestellt hat, so ist auch der Glanz an Titurels Leib nicht ungebrochen, denn er ist ja neben der repräsentativen Schönheit auch vor allem durch Krankheit gezeichnet (506,26f.). Unter der Prämisse, dass Titurels Leib auch hinsichtlich seines siechtuoms als Abbildungs- und Einschreibefläche für den Sippenkörper fungiert, so ist neben dem engen Bezug zum Göttlichen aber auch das offenkundig gegenwärtig Defizitäre des Gralsgeschlechts an ihm visualisiert. Noch um einiges deutlicher wird dies am Leibe Anfortas’, an dem, wie bereits gezeigt, ja auch das lebenspendende wunder des Grals am eindrücklichsten dargestellt ist. Denn Bezugspunkt für das Defizitäre des Sippenkörpers ist ohne Zweifel Anfortas’ Verfehlung und das daraus resultierende Leid. Grund dieses Leides ist Anfortas’ ganz grundsätzlicher Verstoß gegen den göttlichen Willen, der sich in der Schrift offenbart hat: swelch grâles hêrre ab minne gert anders dan diu schrift in wert, der muoz ez komen ze arbeit und in siufzebaeriu herzeleit. (478,13–16)
Anfortas’ Leib wird so zum Abbild der Störung in der Funktionalität des Sippenkörpers der Gralskönige. Er hat sich nämlich nicht an die Spielregeln für den von Gott bevorzugten und auserwählten Sippenkörper gehalten, weshalb das grundsätzlich Dysfunktionale seiner Verfehlung sich auch als siechtuom (Leiden im Gegensatz zum Glanz der Gottesbevorzugten) auf seinem Leib niederschlagen muss. Bezeichnenderweise ist Anfortas ja auch an seinem Zeugungsorgan verletzt (an der heidruose 479,12). Sein Fehlverhalten und damit zugleich eine letztendliche Verweigerung von Inkorporation des göttlichen Willens schreiben sich gleichfalls als lesbares Zeichen auf seinem Leib ein. Besteht die funktionale Aufgabe des Gralshofs in der höfischen Welt aber darin, für Kontinuität in der Herrschaftsfolge zu sorgen, so wird die Wunde des Gralskönigs zur offenkundigen Repräsentation einer Funktionsstörung.81 Und so weiß Trevrizent dem potentiellen Heilsbringer des Sippenkörpers zu berichten, Anfortas sei: 80
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Die Bedeutsamkeit der Sippe für den Parzival ist insbesondere von Delabar in seiner Untersuchung der Verwandtschaftsstrukturen herausgearbeitet worden. Vgl. Delabar 1990; hier S. 279: „Die Sippe hatte für den mittelalterlichen Adel als Ordnungskategorie enorme Bedeutung; im Parzival ist sie gar darüber hinaus nicht nur ein System unter anderen, neben dem Hof und neben dem Lehnssystem, sondern diesen übergeordnet und sie bestimmend. Das erlaubt, sie als ‚kosmologisches‘ System zu bezeichnen“. Vgl. Neudeck 1994. S. 56 „Gegen das göttliche Gesetz des Grals verstoßend, hat der König einer Frau, die nicht für ihn bestimmt war, den Minnedienst angeboten. Die Wunde ist deshalb ganz mittelalterlich-konkret als Strafe für einen Tabubruch zu sehen: ein Vergehen gegen die kiusche wird am entsprechenden Körperteil geahndet“; sowie Delabar 1990. S. 202: „Der Verlust der Erektions- wie der Zeugungsfähigkeit ist signifikant für den Verlust der leiblichen Macht und
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von art des grâles hêrre. dem ist leider freude verre: wan daz er hât gedingen, in sül sîn kumber bringen zem endelôsme gemache. mit wunderlîcher sache ist ez im komen an riwen zil, als ich dir, neve, künden wil. pfligstu denne triuwe, so erbarmet dich sîn riuwe. (477,21–30)
Was Parzival mit dem lebenspendenden wunder des Grals an Anfortas’ Leib als Repräsentant des Sippenkörpers vor Augen geführt bekommt, ist damit nicht allein die österliche Hoffnung auf Erlösung, sondern auch das ungemein große Leid, das für den christlichen Glauben in Form der Passionsgeschichte konstitutiv ist. Anfortas ist die freude verre, er hat kumber und ist in siufzebaeriu herzeleit. Der Anblick des Grals bereitet ihm ungemach, gerade weil es ihm nicht erlaubt ist, zu sterben (wand im sterben dô niht tohte). Dass das wunder hier gegen den Willen Anfortas’ an ihm wirkt, beweist noch einmal nachhaltig, dass es nicht das Individuum ist, um das es hier geht, sondern die an Gott gebundene Sippe und ihre spezifische Funktion zentral gesetzt sind. So bleibt Anfortas’ alleinige Hoffnung nämlich, dass er durch sein Leid schließlich zem endelôsme gemache gelangt. Das ist, wie Trevrizent erklärt, jedoch nur durch Parzivals triuwe möglich. Damit formuliert er eine Christusanalogie des Sippenkörpers, denn Parzival soll den Status der riuwe des Sippenkörpers anerkennen, er soll das Leid als solches sehen und lesen können, damit durch ihn die Erlösung herbeigeführt werden kann. Auch hier ist der Zugang zum Heil also ganz deutlich ein visueller Weg, der über die Lesbarkeit des Körpers führt. Daraus ergibt sich eine mögliche Antwort auf die Frage, warum gerade Parzivals Blicke derart nachdrücklich in Szene gesetzt sind;82 weil es nämlich um einen möglichen Erkenntnisprozess im Sinne des heilsperspektivischen Kontextes geht. Indem der Text eine Szenerie eröffnet, die den Blick (Parzivals und der Rezipienten) auf den Sippenkörper der Titurel-Dynastie in Form der Leiber Titurels und Anfortas’ erlaubt, wird auf der Bildebene auch der Status des jüngsten Gliedes im Sippenverband als ein paradoxer Zustand eines ‚noch nicht‘ seines eigenen Herrschaftsleibes einsehbar.83
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deshalb aller Herrscherkompetenzen. Wo der Herrscher zur Aggression wie zur Fortpflanzung nicht mehr fähig ist, muß er auch seines Amtes verlustig gehen“; und Brall 1983b. S. 286f.: „Anfortas’ Verletzung an den Schamteilen, die ihm im Zweikampf durch eine vergiftete Lanze zugefügt worden ist, spiegelt in deutlicher Analogie zum mittelalterlichen Strafrechtsdenken den Charakter seiner Verfehlung. […] Anfortas’ Leid ist Strafe für seinen leichtfertigen Verstoß gegen die Ordnung der auserwählten Sippe der Gralshüter“. Parzivals Blick haftet ja geradezu an Titurels Leib, als er in die Kemenate blickt. Doch gerade mit der Lesbarkeit von Körpern und ihrer dynastischer Einbindung scheint ja gerade Parzival besondere Probleme zu haben. In ähnlicher Weise findet sich dieser Gedanke von der Erkenntnis durch die Lesbarkeit des Körpers bereits bei Czerwinskis Darstellung der Bruder-
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Als paradox ist dieser Zustand auch in seiner Analogie beschreibbar, denn es findet sich hierin eine Parallele zum Erlösungsgedanken der Höllenfahrt Christi wieder. Nach dieser vielfach bildlich bearbeiteten Überlieferung weilt Christus in der Zeit nach seinem Tod und vor der Auferstehung in der Vorhölle, einem durch das Paradoxon Hölle/und-doch-nicht-Hölle gekennzeichneten Ort, worin sich zudem auch die Heiligen befinden.84 Das paradoxe ‚noch nicht‘ ihres Zustands ergibt sich daraus, dass sie erst durch den Tod Christi erlöst werden und sie als Heilige aber trotzdem bis zu diesem Zeitpunkt in der Hölle sein müssen. Der Blick auf den Sippenkörper macht daher ebenso einsichtig, dass die Christusanalogie, welche mit dem religiösen Verweis entworfen wird, an dieser Stelle der Geschichte noch nicht zu ihrem rehten Ende gekommen ist. Die göttliche Vorhersehung, die am Leib Titurels mit herrschaftlicher Kontinuität verwoben ist, und der lange Weg des Einzelnen als einem Repräsentanten des Sippenkörpers, dessen Fehltritt und der Aspekt des Leides als siechtuom am Leib des Ahnherrn und insbesondere am Leib Anfortas’ ebenfalls lesbar werden, lässt sich eben auch auf Parzivals eigenen Weg zum Gralskönigtum beziehen. Auch Parzival hat wie Christus das erlösende Wort noch zu sprechen, d. h. die erlösende Frage noch zu stellen, – und hinsichtlich des Erzählkonzepts bedeutet dies, dass es abermals das gesprochene Wort ist, das Heil durch Inkorporation erst konstituiert.
1.5. Die Heiligung des Sippenkörpers – oder: der Gral als Symbol einer laientheologischen Herrschaftsideologie Die Sakralisierung des Sippenkörpers als semantische Verknüpfung des Herrschaftskörpers und der christlichen Überwindung des Todes durch die Kraft des Grals findet sich zudem durch eine aussagekräftige Beschreibung des wunders visualisiert, die dem sich hier abzeichnenden Gottesbild noch einigen illustrativen Nachdruck verleiht. Es handelt sich dabei um den das Jugend- und Lebens-
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kämpfe im Parzival formuliert. Vgl. hierzu also Czerwinski 1989. S. 86: „Parzival vermag einmal, was seinen Zusammenhang mit der väterlichen, der Mazadan-Dynastie, angeht, Kämpfe mit deren Gliedern nicht zu vermeiden, der ritterlichen Hauptsünde des Brudermordes nicht oder nur mit Gottes Hilfe zu entgehen; zum anderen weiß er auch auf dem Stammsitz der Titurel-Dynastie, seines mütterlichen Geschlechts, erst ganz am Ende das Richtige zu tun: in beiden Fällen schädigt er Verwandte, d. h., da Wolfram die Sippe als einen Körper auffasst, sich selbst. In dieser Bewegung, dieser Denkfigur drücken sich alle Widersprüche des Epos aus: im realabstraktiven Verhalten des Heroen zu den Elementen seiner dynastischen Identität“. Hinzuzufügen und auszubauen ist diese Beobachtung jedoch im Hinblick auf die Art und Weise, wie der Text diese Erkenntnis inszeniert, und damit geht es um Fragen nach Heilskonzeptionen, die speziell auf der Bildebene des Textes gelagert sind. Vgl. Seibert 2002. „Höllenfahrt Christi“, S. 147. In der Bibel ist die Höllenfahrt am deutlichsten im Matthäus-Evangelium bekundet. Vgl. hierzu Matthäus 27,52: „Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf“.
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wunder einleitenden Verweis auf den Vogel Phönix, also jenen mythischen Vogel, der sich selbst verbrennt, um sodann aus der eigenen Asche wiederaufzuerstehen. Von Trevrizent erfährt Parzival Folgendes über den Zusammenhang von Phönix und Gral: von des steines kraft der fênîs verbrinnet, daz er zaschen wirt: diu asche im aber leben birt. sus rêrt der fênîs mûze sîn unt gît dar nâch vil liehten schîn, daz er schoene wirt als ê. (469,08–13)
Es finden sich sowohl in der christlichen als auch in der heidnischen Kunst zahlreiche Darstellungen des Phönix’, worin der Wundervogel stets als Bedeutungsträger von Unsterblichkeit fungiert.85 Die Sage vom Vogel Phönix wird bereits seit Herodot von antiken Schriftstellern tradiert, auch im Physiologus, für den im Mittelalter bekanntlich eine intensive Rezeption nachzuweisen ist, findet sich über ihn ein interpretierendes Kapitel:86 Der Physiologus berichtet davon, dass sich der aus Indien stammende Vogel alle fünfhundert Jahre zu den Zedern des Libanon aufmacht, wo er seine Flügel mit Wohlgerüchen anfüllt.87 Er fliegt daraufhin „zur Sonnenstadt, vollbeladen mit Wohlgerüchen, und stellt sich oben auf den Altar, und das Feuer erfaßt ihn, und er verbrennt sich selbst“.88 Am folgenden Tag befindet sich in der Asche dann ein Wurm, dem am zweiten Tag Flügel wachsen, und der am dritten Tag wieder dieselbe Gestalt angenommen hat wie zuvor, „und fliegt hoch, und zieht von dannen nach seiner alten Stätte“.89 Der Physiologus deutet die Geschichte des Phönix dann mit den verkündenden Worten Christi über die Auferstehung aus dem Johannes-Evangelium: „Darum liebt mich mein Vater, weil ich mein Leben lasse, daß ich’s wiedernehme. Niemand nimmt es von mir, sondern ich selber lasse es. Ich habe Macht, es zu lassen, und habe Macht, es wiederzunehmen“ (Johannes 10,17f.). Der Phönix symbolisiert in der christlichen Deutung demnach also den Tod und die Auferstehung Christi sowie das ewige Leben des christlichen Glaubens im Allgemeinen. Auffällig erscheint nun jedoch, dass sich die Christusanalogie des Gralswunders, Leben und Jugendfrische zu verleihen, durch eben dieses Bild des Vogels
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Vgl. Kantorowicz 1990. S. 386. Vgl. dazu auch Seibert 2002. „Phönix“, S. 257f.; außerdem: Lipffert 1976. S. 40: „Der sagenhafte, herrliche Vogel bedeutet Leben, Auferstehung, Keuschheit. Er ist eines der ältesten Christussymbole und findet sich seit dem 2. Jahrhundert in der Katakombenmalerei“. Da sich die religiösen Bezüge des Textes ohnehin vornehmlich auf der bildlichen Ebene visualisiert finden, scheint mir der Griff zum Physiologus grundsätzlich tragfähiges Interpretationsmaterial zutage fördern zu können. Der Physiologus 2005. „Vom Vogel Phönix“, S. 14f. Ebd. S. 15. Ebd.
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Phönix visualisiert findet.90 Denn wie auch die reinigende Taufe bei der Aufnahme des Heils dem visuellen Akt tendenziell nachgeordnet ist, so wird auch, anstatt der üblichen Verknüpfung von der Vorstellung vom Jungbrunnen mit der Erzählung vom Adler aus dem Physiologus, hier in Zusammenhang mit dem Gralswunder die Geschichte vom Vogel Phönix dargestellt. Rapp formuliert die übliche Darstellungskonvention so: „Als Sinnbild für die christliche Taufe steht die Adlerlegende im Physiologus. Der alte Adler verbrennt seine Federn an der Sonne, taucht danach dreimal in reines Wasser, um wieder jung zu werden. Durch diese Legende mag der Gedanke an den Jungbrunnen theologisch gutgeheissen sein“.91 Die Aussagen des Physiologus über den Adler sind hinsichtlich ihrer Bedeutung christlicher Auferstehung zwar kongruent, doch unterscheiden sie sich auch in ganz wesentlichen Punkten von denen des Vogels Phönix. Bezeichnenderweise findet die Erneuerung und Jungwerdung, der Zugang zum Heil, in der Adlergeschichte durch das Untertauchen in der Quelle statt und der Gläubige hat dazu gerade „die Düsternis seiner Augen“ abzuwerfen.92 Die Auferstehung durch die reinigende Taufe, die in dieser Geschichte symbolisiert wird, zielt damit auf die Reinigung der Seele und eben nicht auf die Kontinuität des materiellen Körpers. Die Anschauung wird durch die Trübheit der Augen geradezu degradiert. Beim Vogel Phönix wird dagegen erneut der visuelle Aspekt als Heilszugang artikuliert, es heißt: „Denn der Phönix nimmt das Antlitz unseres Heilandes an“.93 Diese konzeptionelle Verknüpfung lässt sich natürlich auch wesentlich besser mit dem Gralswunder in Einklang bringen, denn dessen göttliche Magie tritt ja erst durch den Blick auf den Stein vollständig zutage. Ein weiterer bedeutsamer Unterschied liegt aber auch darin, dass der Phönix in seiner äußerlichen Erscheinung als König dargestellt ist,94 und deshalb als Sinnbild Christi selbst als Heilsbringer gelesen wird,95 wohingegen der Adler Symbol eines jeden gläubigen 90
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Die Forschung hat sich mit der Phönix-Geschichte und dem wunder-Wirken des Grals auffällig wenig bis gar nicht beschäftigt. Für die ältere Forschung gilt, dass sie den Zusammenhang zwischen Phönix-Geschichte und Gralskonzeption gerne im Hinblick auf eine Gesamtinterpretation des Textes betrachtet hat, die in erster Linie nach den Quellen des Autors Wolfram fragt. Vgl. stellvertretend hierzu Wolf 1950. Rapp 1976. S. 11. Der Physiologus 2005. „Vom Adler“, S. 13: „Wenn er alt wird, werden seine Schwingen schwer und seine Augen werden trübe. Was also tut er? Er suchet eine Quelle reinen Wassers, und fliegt empor in den Strahlenkranz der Sonne und verbrennt seine alten Fittiche und wirft ab die Düsternis seiner Augen, und läßt sich hernieder zur Quelle und taucht hinein dreimal, und so erneuert er sich und wird wieder jung“. Der Physiologus 2005. „Vom Vogel Phönix“, S. 15. Ebd. S. 14f.: „Ist aber der Phönix ein noch lieblicherer Vogel als der Pfau; denn des Pfauen Flügel schimmern von Grün und Gold, die des Phönix aber von Hyazinth und Smaragd und kostbarem Edelgestein, und ein Krönlein trägt er auf dem Haupte und eine Kugel hat er zu seinen Füßen gleich einem König“. Ebd. S. 15: „Hat er doch vom Himmel herab gebracht die beiden Schwingen voll Wohlgeruchs, das ist: voll heilsamer himmlischer Worte …“.
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Menschen ist, der durch Christus erlöst wird.96 Damit ist ein weiterer und der wohl wichtigste Unterscheidungsaspekt des Bildes vom Vogel Phönix als König, der durch das Gralswunder hier mit dem Sippenkörper der Gralsherrscher gleichgesetzt ist, angesprochen: nämlich das Verhältnis des Einzelnen und seiner Art. Kantorowicz hat in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam gemacht, dass der mythische Vogel auch deshalb ein ungewöhnliches Geschöpf sei, weil es zu einer Zeit auch immer nur einen einzigen Phönix geben würde.97 Er sei eben deshalb etwas ganz Besonderes im Reich der Tiere, weil das Einzelwesen immer auch die gesamte Art repräsentiere, so dass der Einzelne mit der Art in korporativer Weise zusammenfalle: „Nun war die Art selbstredend unsterblich, das Individuum dagegen sterblich. Der Phantasievogel enthüllte somit einen Dualismus: er war zugleich Phönix und die Phönix-Art, sterblich als Einzelwesen, aber auch unsterblich, weil er die ganze Art war. Er war zugleich individuell und kollektiv, da die ganze Art immer nur ein einziges Exemplar hervorbrachte“.98 Dasselbe Zusammenfallen von Einzelnem und Kollektiv scheint im Parzival nun auch in Bezug auf den an Gott gebundenen Sippenkörper der Gralsherrscher durch den Phönixvergleich visualisiert und bedeutungsstiftend:99 Der durch den Gral mit Kontinuität ausgestattete Herrschaftskörper lässt sich dementsprechend mit jenem Gedanken eines kollektiven Sippenkörpers deuten, in welchem sich der Herrschaftskörper durch den je einzelnen Königsleib stets selbst erneuert. Da der Gebrauch der Terminologie der schoene und des vil liehten schîn in der Phönixbeschreibung zudem mit den Semantisierungen des Sippenkörpers der Gralsherrscher (liehtes vel, vgl. 501,21) übereinstimmt, scheint eine solch strukturell-analoge und funktional eingebundene Verknüpfung mit der im Parzival artikulierten Herrschaftsideologie auch ganz offensichtlich. Ebenso wird der direkte Verweis auf Parzival in dieser Verbindung mit dem herrschaftsideologischen Gedanken und einer sippenbezogenen Körperlogik deutbar: Das Bild vom wunderschönen alten Mann gewährt in der Kombination mit der allegorischen Deutung des Vogels Phönix die Einsicht, dass dem grundsätzlich unsterblichen Sippenkörper des Gralskönigs durch Parzivals Leib, als seinem dynastisch jüngsten Glied, eine Wiedergeburt im Sinne einer Erlösung widerfahren muss. Das ist auch der Grund, warum Anfortas, solange Parzival 96
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Der Physiologus 2005. „Vom Adler“, S. 13f.: „Auch du also, Bürger der Gemeinde und Jünger Christi, wenn du noch das Gewand des alten Menschen trägst, und die Augen deines Herzens sind stumpf: suche die geistliche Quelle, das Wort Gottes […], und ziehe aus den alten Menschen und zieh an den neuen, den nach dem Ebenbilde Gottes Geschaffenen“. Kantorowicz 1990. S. 386. Ebd. S. 387f. Dabei möchte ich an dieser Stelle eine grundsätzliche Diskussion über die Möglichkeiten, von Individualität im Mittelalter überhaupt sprechen zu können, jedoch ausblenden. Wichtig ist für die Interpretation hier das Verhältnis des Einzelnen, des Individuums (in seiner ursprünglichen Bedeutung von Unteilbarem), und dem Kollektiv und damit der grundsätzlich funktionale Sinnträger in dieser dualen Struktur.
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nicht Gralskönig ist, gar nicht sterben darf (der Text formuliert explizit: wand im sterben dô niht tohte). Parzival, und nur ihm als dem Erwählten göttlicher Gnade, obliegt es, die Erneuerung des Herrschaftskörpers durch seine eigenen Taten schließlich zu vollziehen: Er muss sich die Identität des Gralsherrschers mit dem eigenen Leib aneignen, das Wort Gottes also selbst inkorporieren. Und das heißt mit den Worten Trevrizents, sich zunächst einmal seiner triuwe gewahr zu werden, indem er die riuwe des Sippenkörpers vor Augen geführt bekommt, so dass er erkennen kann, dass die Sippe bereit ist zur mûze, um in schönerem göttlichem liehten schîn zu erstrahlen als ê. Die Wiedergeburt würde somit eine Erkenntnis voraussetzen, die allein über die visuelle Wahrnehmung des Sippenkörpers erfolgen kann. Erkenntnis unter den Prämissen der höfisch-adligen Glaubensvorstellung ist aber offenkundig nicht als rein geistige Reflexion zu verstehen, sondern sie erfolgt über die Inkorporation der göttlichen Prädestination. Parzival muss nach dieser paradox erscheinenden Logik schon der Erlöser sein100 – weshalb er die vrâge aber auch ein zweites Mal stellen kann, die ihn schließlich zu dem das wunder Ermöglichenden macht;101 Parzival kann letztlich die heilsbringende 100
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Dieses paradoxe Verhältnis der Gralsgewinnung spiegelt sich dementsprechend auch in Parzivals Weg zum Gralskönigtum wieder: Denn ganz grundsätzlich ist es ja nicht möglich, den Gral zu bejagen, aber Parzivals ruhmreicher Dienst macht ihn schließlich doch im Himmel bekannt und bewirkt seine Erhebung zum Gralskönig: wan der ze himel ist sô bekant/ daz er zem grâle sî benant (468,13f.). So bereits auch: Czerwinski 1989. S. 129: „Wenn er [Parzival] den leidenden Herrscher nach dem Grunde seiner Verletzung fragen soll, dann nicht aus ‚Mitleid‘, sondern weil das Anfortas dazu gebracht hätte, seine Geschichte zu erzählen. Das aber wäre die Geschichte der Gralsdynastie und damit Parzivals eigene Geschichte als Nachfolger des Gralskönigs und als designiertes Haupt dieser Dynastie gewesen […]. Die ‚Mitleidsfrage‘ ist also die ‚magische‘ Frage nach der verstellten Identität des Heroen, ist Insignie, ein Ding, das ihn sichtbar und gültig als Gralsherrscher installiert, Szepter gleichsam oder Krone; Parzival ist per se Gralskönig, doch erst, wenn er dieser Identität gewiß wird, sie mit der Frage auf ‚magische‘ Weise im rechten Augenblick zu benennen, abzufordern vermag, tritt sie in ihre Rechte“. Czerwinski wendet sich hier zu Recht gegen diejenige Forschung, die sich sehr auf Parzivals Fähigkeit konzentriert hat, Mitleid zeigen zu können (vgl. stellvertretend Schweikle 1986). Czerwinski bezeichnet aufgrund seiner Orientierung an körperlich lesbarer Identität die Frage als eine „magische“. Dem ist auch soweit zuzustimmen, allerdings erscheint es notwendig, diesen recht unspezifischen, am Archaischen orientierten Begriff zu perspektivieren und darüber hinaus darauf zu insistieren, dass es sich hierbei nicht um irgendein „magisches“ wunder handelt, sondern, dass dieses wunder mit der deutlich weniger unspezifischen Logik des christlichen Glaubens gefüllt ist. Diese Logik ist, wie bereits mehrmals gezeigt werden konnte, zwar sicher nicht mit einer kirchentheologischen Heilskonzeption identisch, doch allein die Verhandlung über das Körperliche beweist noch lange nicht, dass das „Magische“ hier als Teil eines Überrests kulturell vorläufigen archaischen Glaubens identifiziert werden kann. Vielmehr ist doch anzunehmen, dass der Leib als Repräsentant von Körperlogiken verschiedene Konnotationen einsehbar macht und dementsprechend als Verhandlungsort dieser verschiedenartigen Wahrnehmungen fungiert. Deutlich wird dies vor allem durch einen Wechsel des Blickwinkels, nämlich dann, wenn man nicht mehr danach fragt, weshalb Parzival nicht gefragt hat, sondern auf die Inszenierung der religiös konnotierten Bilder des Textes achtet, die als lesbare Zeichen des Sippenkörpers der Gralsherrscher deutbar sind (so z. B.
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vrâge immer noch stellen und wird auf diese Weise zum Erlöser. Es ist zwar nicht er selbst, der das wunder vollbringt, denn das ist Christus, aber er macht das wunder-Wirken des Göttlichen dadurch möglich, dass er zwischen Sippe und Gott wieder eine direkte Beziehung herstellt, wenn er fragt: ‚oeheim, waz wirret dier?‘ der durch sant Silvestern einen stier Von tôde lebendec dan hiez gên, unt der Lazarum bat ûf stên, der selbe half daz Anfortas wart gesunt unt wol genas. (795,29–796,04)
Bezeichnend für die Sakralisierung der Sippe, wie sie insbesondere im Bild des Phönix’ gezeichnet ist, erscheint hier nun auch die Zitation von zwei der prominentesten christlichen Erweckungswunder, nämlich die Silvesterlegende, nach welcher der heilige Papst Silvester in einem Glaubenswettstreit den von seinem jüdischen Kontrahenten getöteten Stier wieder lebendig zu machen vermag,102 sowie die berühmte Auferweckung des Lazarus durch Jesus. Beide Legenden haben die christliche Überwindung des Todes zum Gegenstand, die Silvesterlegende führt jedoch zudem noch den Sieg des christlichen Glaubens mit seinem Triumph über den Tod und damit gegenüber anderen Glaubensvorstellungen vor Augen. Hier wird diese religiöse Ideologie nun mit dem genealogischen Denken höfischen Feudaladels in Verbindung gebracht,103 und Anfortas’ Leib wird durch das von Parzival bewirkte wunder zum lesbaren Zeichen dafür, dass sich die Christusanalogie letztendlich positiv eingelöst findet und der Sippenkörper mit der Gnade Gottes versehen wird; er erstrahlt in glänzender Schönheit, dem Zeichen der Gnade Gottes: swaz der Franzoys heizt flôrî, der glast kom sînem velle bî.
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der Blick in Titurels Kemenate). Die visuelle Ebene des Textes macht nämlich kenntlich, dass Einsicht zwar nicht durch ‚rein geistige Reflexion‘, also stilles ‚Nachdenken‘, erreicht wird, sehr wohl aber über Wahrnehmungsprozesse und Körperlogiken. Dementsprechend ist Parzivals entscheidender Fehltritt auch nicht das nicht-vorhandene Mitleid, sondern er scheitert deshalb, weil er mit der Wahrnehmung bildhaft semantisierter Körperlogiken enorme Schwierigkeiten hat. Die Gründe hierfür sind vielfältig und können in diesem Rahmen leider nicht weiter verfolgt werden. Seibert 2002. S. 288. An dieser Stelle sei auf die Studien Kellners zum genealogischen Wissen im Mittelalter verwiesen (Kellner 2004), in welchen sie Genealogie „als dominante mentale Struktur“ (S. 15) bestimmt, wobei überzeitlich begriffene biologische Konstanten eben nicht entscheidend gewesen seien, „sondern vielmehr die kulturell variablen Vorstellungen des Verwandtseins“ (S. 20). Zentral ist in ihrer Darstellung die Funktion der Genealogie als Herrschaftslegitimation, in welcher sich religiöse Aspekte (die in den Evangelien überlieferte exzeptionelle Abstammung Jesu, Mariens und Josefs) mit adligen Interessen verbinden. Kellner interessiert sich nicht für die ontologische Dimension von Genealogie im Mittelalter, sondern für ihre diskursive Entfaltung (z. B. S. 99). Eine solche diskursive Verknüpfung scheint mir auch bei der Sakralisierung der TiturelSippe im Parzival vorzuliegen.
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Parzivâls schoen was nu ein wint, und Absalôn Dâvîdes kint, von Ascalûn Vergulaht, und al den schoene was geslaht, unt des man Gahmurete jach dô mann în zogen sach ze Kanvoleiz sô wünneclîch, ir decheins schoen was der gelîch, die Anfortas ûz siechheit truoc. got noch künste kan genuoc. (796,05–16)
Nach der Heilung erstrahlt der Sippenkörper, visualisiert am Leibe Anfortas’, gleich dem Phönix dann tatsächlich in schönerem glast als ê, was in der höfischen Kultur laut Parzival als flôrî, also als ‚blütengleich‘ bekannt sei (swaz der Franzoys heizt flôrî).104 Durch die künste Gottes ist die Schönheit al den schoene was geslaht, sei es Vergulaht, Absalon oder gar Gahmuret, nicht mit der Schönheit Anfortas’ nach seiner Heilung zu vergleichen. Sogar Parzivals schoene erscheint daneben als ein wint. Das erstaunt deshalb, weil nun nicht mehr Anfortas Gralskönig ist, sondern sein Platz jetzt von Parzival eingenommen wird. Zugleich wird mit der schoene als kollektivem Merkmal jedoch deutlich, dass nach der erlösenden Tat Parzivals, (weil einer auf den anderen verweist) keine Hierarchisierung, Abstufung oder Differenzierung innerhalb des Sippenkörpers mehr auszumachen ist. Es geht also nicht um das einzelne, mit Fehlern behaftete Glied, sondern um die Beziehung der gesamten höfischen Sippe zu Gott. Die Schrift des Grals, die Parzival zum Herrscher bestimmt, ist zu diesem Zeitpunkt auch bereits schon gelesen, denn bereits im XV. Buch verkündet Cundrie Parzival seine Berufung zum Gral und benennt ihn als Erlöser und Heilsbringer: ‚… wol dich des hôhen teiles, du krône menschen heiles! daz epitafjum ist gelesen: du solt des grâles hêrre wesen …‘. (781,13–16)
Das heißt unter den Prämissen des ermittelten Erkenntnisprozesses, dass das göttliche Wort der Gralsgesellschaft eigentlich auch bereits schon inkorporiert ist.105 104
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Mit dem kulturellen Verweis auf die französische Sprache wird hier auch das Höfische als expliziter Bezugsrahmen eines vom Text entworfenen Gottesbildes formuliert. In den direkt an die Heilung des Anfortas anschließenden Versen berichtet der Text dann auch sogleich von Parzivals Königswahl und seiner Inthronisierung, welche gegenüber der Bestimmung durch den Gral jedoch als deutlich nachgeordnet erscheinen: da ergienc dô dehein ander wal, wan die diu schrift ame grâl hete ze hêrren in benant: Parzivâl wart schiere bekant ze künige unt ze hêrren dâ. (796,17–21) Wichtig bleibt jedoch aus höfischer Perspektive, dass Parzival bekant wird, und das bedeutet, dass ein Akt öffentlicher, gemeinschaftlich vollzogener Anerkennung erfolgt. Das Faktum des benant-seins wird durch das Hören, die sinnliche Wahrnehmung des Wortes schließlich wirksam.
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Erklärbar ist die außerordentliche Schönheit Anfortas’ nach seiner Heilung allein mit der Wahrnehmung der Sippe als einem geeinten Körper. Nach dieser Logik erfolgt die Heilung dann nämlich direkt am erkrankten Glied, also direkt an Anfortas’ Leib; es handelt sich ja um die schoen, die Anfortas ûz siecheit truoc: Dort wo der Herrschaftskörper geschädigt wurde, wird das defizitäre Glied erneuert und es erstrahlt in glänzender Schönheit des splendor imperii. Zum Zeichen des göttlichen Wohlwollens erstrahlt an ihm darum gerade das velle, das als Deckmantel oder Haut des Sippenkörpers fungiert. Anfortas ist wie zuvor Titurel ein lesbarer Leib, der die Gottesnähe des Sippenkörpers einsehbar macht. Darüber hinaus erklärt sich dadurch, warum eigentlich trotz der bereits gelesenen Schrift die vrâge zur Heilung noch immer gestellt werden muss: Das Wort Gottes ist im Sippenkörper angekommen, was ihm schließlich die Möglichkeit bietet, durch die ausführende Handlung seine herrschaftliche Identität zu rehabilitieren. Die grundsätzlich christliche Vorstellung der Überwindung des Todes durch Gott wird im Parzival also in spezifischer Weise auf die Funktion Gottes für die herrschaftliche Identität des Sippenkörpers zugespitzt. Womit auch hier von einem höfisch laientheologischen Gottesentwurf zu sprechen ist, worin Gott in seiner Funktion als Kontingenzformel direkt auf die Bedürfnisse und Vorstellungen der genealogischen Herrschaftsorganisation einer feudal-höfischen Adelsgesellschaft zugeschnitten scheint. Dass anstatt der ‚Sippe Menschheit‘ allein die Titurel-Sippe eine Vorrechtsstellung auf die Bindung an Gott und somit auf die Gewährung von Kontinuität besitzt, scheint zudem auch einen Verweis auf die große Bedeutsamkeit des dynastisch organisierten Herrschaftsverbandes im Parzival (ebenso als Verhandlungsgegenstand für die Rezeption) zu leisten.106 Aus der Beschreibung der wunder des Grals und der Untersuchung ihrer Funktionen ist nun auch ersichtlich geworden, dass der Gral als Konstrukt der Vermitt106
Die besondere Bedeutung der Verwandtschaft ist in der Forschungsliteratur bereits ausführlich behandelt worden. Sie wurde oft als ein Schlüssel zu Wolframs Text gesehen. Hierbei sei insbesondere auf Delabar 1990 verwiesen. Daraus direkte Rückschlüsse auf die Heilskonzeptionen tatsächlich historischer Rezipienten zu ziehen, würde nach meiner Einschätzung den Bogen der Interpretation jedoch überspannen. Vgl. außerdem Busse, der in seiner Analyse der Verwandtschaftsstrukturen im Parzival zu dem Ergebnis kommt, dass der Text mit seinem matrilinearen und endogamen Eheentwurf ein literarisch-fiktionales Gegenkonzept zur realhistorisch angenommenen patrilinear-exogamen Gesellschaft darstelle: „Die allgemeinste Formulierung der Struktur, die diese Mentalität bildet, wäre wohl die, daß unter dem exogamen Druck einer sich verschärfenden Patrilinearität endogame Phantasmen entstehen, die sich in den matrilinearen Spekulationen der Epik niederschlagen“ (Busse 1979. S. 131). Auch wenn der Bezug zur Realhistorie nicht eigentliches Anliegen der vorliegenden Untersuchung ist, so sei an dieser Stelle doch angemerkt, dass die jüngere geschichtswissenschaftliche Forschung diese von der älteren Forschung prinzipiell angenommene patrilineare Herrschaftsorganisation des Adels im Mittelalter in Frage stellt (vgl. hierzu Jussen 2009). Vor diesem Hintergrund überprüfenswert erscheinen auch die Ergebnisse Bertaus Untersuchungen, in welchen er ein umfassendes Tableau der Verhaltenssemantik von Verwandten im Parzival entwirft und dabei ebenso wie Busse mit der „strukturalen Anthropologie“ von Lévi-Strauss arbeitet (Bertau 1983).
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lung zwischen Immanenz und Transzendenz prinzipiell nie unabhängig von seiner Bezugsgesellschaft gesehen werden kann. Für die weitere Analyse der Bedeutung des Grals ergibt sich deshalb die Aufgabe, den Gralshof, seine Hüter sowie die Geschichte, die die Gralshüter ebenfalls entsprechend mit dem Transzendent-Göttlichen in Verbindung bringt, hinsichtlich ihrer sozialen Ordnungskriterien und Funktionalität näher zu beschreiben.
2. Die Hüter des Grals und ihre Geschichten In Wolframs Text haben der Gral und seine Hüter selbst eine Geschichte, oder besser gesagt: mehrere Geschichten. Anhand dieser Geschichten wird es im Folgenden möglich, die narrative Heilskonzeption des Parzival näher zu bestimmen. Überdies stellt es eine Neuerung gegenüber dem Conte du Graal dar, dass diese Geschichten des Grals und seiner Hüter für das Erzählen im Parzival bedeutungskonstituierend sind.107 Anhand der Flegetanis-Kyot-Wolfram-Tradition wurde zuvor der intratextuelle Selbstentwurf des Parzival untersucht und es konnte dargestellt werden, wie sich die Erzählung in der Verschränkung von (auf den Körper und Genealogie als zentrale Wahrnehmungsmodi bezogenen) höfischen und religiösen Denkmustern selbst mit der Transzendenz, d. h. dem göttlichen Moment des Grals, in Verbindung bringt. Komplementär dazu soll hier nun Ziel sein, die Geschichten der Hüter der verholnbaeriu tougen des Grals näher zu beleuchten, um sie vor dem Hintergrund ihrer Funktionen für das höfische Erzählen des Parzival analysieren zu können. Hierfür spielen aber nicht nur die Erzählungen von den ‚neutralen Engeln‘ und der Gesellschaft auf Munsalvaesche eine wichtige Rolle, sondern im Kontext religiöser Funktionen wird auch das Verhältnis von Artushof und Gralshof neu, gemeint ist, jenseits der aufgrund seiner Religiosität in der Forschung üblicherweise angenommenen Höherwertigkeit des Gralshofs, perspektiviert und diskutiert werden müssen.
2.1. Geschichte und Funktion der ›neutralen Engel‹ Noch bevor Flegetanis die Abschrift aus den Sternen anfertigt, ist die Geschichte des Grals bereits schon mit der Transzendenz, mit dem Beginn der Heilsgeschichte, verwoben. Von Trevrizent erfährt der Protagonist – und mit ihm die Rezipienten – nämlich, dass sich beim Gral zuerst die sogenannten ‚neutralen Engel‘ befanden, die im Kampf zwischen der göttlichen Trinität und Luzifer keine Partei ergriffen hatten:
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Vgl. hierzu Bumke 2004. S. 140; sowie: Mertens 2004. S. 258: „Geschichte und Geschichten um den Gral sind bei Wolfram in eindeutiger Weise zur Historisierung des Erzählkomplexes funktionalisiert“.
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‚… die newederhalp gestuonden, dô strîten beguonden Lucifer unt Trinitas, swaz der selben engel was, die edelen unt die werden muosen ûf die erden zuo dem selben steine. der stein ist immer reine. ich enweiz op got ûf si verkôs, ode ob ers fürbaz verlôs. was daz sîn reht, er nam se wider. des steines pfligt iemer sider die got derzuo benande unt in sîn engel sande. hêr, sus stêt ez umben grâl‘. (471,15–29)
Dem informativen Gehalt Trevrizents Aussage entsprechend ist davon auszugehen, dass die ‚neutralen Engel‘ die ersten Hüter des Grals auf Erden waren. Nun heißt es bei Trevrizent aber, dass der Gral, seit dem Gott den ‚neutralen Engeln‘ verziehen hat (er nam se wider), von jenen gehütet wird, die got derzuo benande und der in sîn engel sande. Das bedeutet wiederum, dass die pflege des Grals ab diesem Zeitpunkt nun von den Menschen betreut wird und nicht mehr von den Engeln. Die entsprechenden Menschen seien von Gott dazu berufen. Der Terminus, sie seien derzuo benande, bezeichnet dabei wohl die Benennung durch die Schrift auf dem Stein, also den Ruf zur Gesellschaft von Munsalvaesche. Davon, dass die Botschaft der Berufung durch einen engel Gottes überbracht werden würde, ist in der wunder-Beschreibung der Schrift auf dem Stein und dem Ruf zur Gesellschaft des Grals jedoch nirgends im Text sonst die Rede. Wenn mit diesen Überbringern des Gralsrufs (engel) nun dieselben ‚neutralen Engel‘ gemeint sind, über die Trevrizent seine laientheologischen Aussagen trifft, ließe sich dies jedoch vor folgendem Hintergrund entsprechend interpretieren: Trevrizent wird seine Aussage, er wisse nicht, ob Gott den unentschiedenen Engeln vergeben habe, im XVI. Buch nach Parzivals Erhebung zum Gralskönig nämlich noch revidieren, dort formuliert er: daz die vertriben geiste mit der gotes volleiste bî dem grâle waeren, kom iu von mir ze maeren, unz daz si hulde dâ gebiten. got ist staet mit sölhen siten, er strîtet iemmer wider sie, die ich iu ze hulden nante hie. swer sîns lônes iht wil tragn, der muoz den selben widersagn. êweclîch sint si verlorn: die vlust si selbe hânt erkorn. (798,11–22)
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An dieser Stelle der Untersuchung sollen nun jedoch nicht die ‚Lüge‘ des Einsiedlers und ebenso wenig die Frage nach ihrem möglichen Zweck (für Parzival z. B.) thematisiert werden.108 Sondern um die Funktionen der Gralshüter darstellen zu können, erscheint es in Bezug auf Trevrizents Revision seiner Aussage über die Engel als opportun darauf hinzuweisen, dass die zuerst von ihm erzählten Geschichten des Grals und seiner Hüter genau an der Stelle der Verbindung von himmlisch Transzendentem und Irdischem eine Lücke aufweist, bzw. dass die konkrete Übergabe der pflege des Grals von Gott an die menschlichen Hüter offenbar gezielt im Unbestimmten verharrt.109 Es ist zwar wahrscheinlich, dass, „da der Gral eindeutig göttlicher Provenienz ist und anzunehmen ist, daß er auch vor der Installation der Titurel-Sippe von in irgendeiner Weise durch Gott ‚autorisierten‘ Wesen gehütet worden ist“,110 eben jene Engel gemeint sind. Trotzdem bleibt auch mit dem Mehrwissen, das der Rezipient durch den Heiden Flegetanis erhält, nämlich, dass ein schar in ûf der erden liez (454,24), weiterhin unklar, wie sich die Übergabe der pflege des Grals eigentlich gestaltet, bzw. konkret: wie die Hüterschaft des Grals mit der Herkunft aus der Transzendenz schließlich in die Immanenz gelangt. Eine theologische Erklärung, wie man sie eben in kirchlichen Schriften findet, wie beispielsweise darüber, weshalb das Menschengeschlecht die Engel zu ersetzen hat, wird in Wolframs Text nicht gegeben.111 Die ‚neutralen Engel‘ sind dementsprechend genauso wenig zu verorten – waren sie nun beim 108
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Die Figurenperspektive (‚Ist Trevrizent als Lügner zu bezeichnen oder nicht?‘) ist von der Forschung bereits ausführlich bearbeitete worden, weshalb sie hier auch nicht tragendes Thema sein braucht. Mir geht es im Folgenden stattdessen um die Erzählstrukturen und die Frage nach religiöser Sinnstiftung als Teil des höfischen Erzählens. Zur Figurenperspektive vgl. beispielsweise die Arbeiten von Groos 1981; Schirok 1987; sowie Schu 2002; welche aber letztlich im Hinblick auf das Erzählkonzept deshalb auch nur unbefriedigende Antworten liefern. So bereits auch: Kolb 1963. S. 159. Allerdings behandelt Kolb, wie es in der älteren Forschung häufig der Fall ist, den Parzival wie einen theologisch-dogmatischen (Kirchen-)Text, der zur jüdischen und christlichen Angelologie Stellung nimmt, ohne die dem Text eigene Perspektivierung zu berücksichtigen. Deshalb argumentiert er auch mit einer wenig nachvollziehbaren Vermischung von Autoren-, Erzähler- und Figurenperspektive und deutet von diesem Standpunkt aus Trevrizents divergierende Aussagen als Selbstverbesserung des Autors: „Wie man gesehen hat, ist Wolfram mit dieser kühnen These [es handle sich in Munsalvaesche um ‚neutrale Engel‘] nicht bis zum Ende gegangen; auf ihre Unvertretbarkeit aufmerksam geworden oder aufmerksam gemacht, hob er sie gegen die innere Folgerichtigkeit seines Werkes wieder auf“ (ebd.). Schu 2002. S. 317. Eine solche theologische Erklärung findet sich beispielsweise in Anselm von Canterburys Cur Deus Homo, in welchem er den Ersatz gefallener Engel mit der vernünftigen Natur Gottes und der Notwendigkeit ihrer Zahl begründet: Necesse est ergo eos de humana, quioniam non est alia de qua possint, natura restaurati (Anselm von Canterbury 1970. Capitulum XVI: Ratio quod numerus qui ceciderunt restituendus sit de hominibus, S. 50–53, hier: S. 52). Der grundsätzliche Gedanke, dass Menschen die Nachfolger der gefallenen Engel auf Erden sind, findet sich zwar auch in Trevrizents höfischer Laientheologie, aber eine eigentliche Begründung dafür gibt er trotzdem nicht an: dô Lucifer fuor die hellevart,/ mit schâr ein mensche nâch im wart (463,15f.).
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Gral und sind nun wieder bei Gott, oder waren sie gar nie Hüter des Steins? – wie der Gral selbst, von dem im Parzival allein seine göttliche Herkunft und sein Dasein auf Munsalvaesche benannt sind.112 Wie denn der Gral schließlich in die Obhut des Titurel-Geschlechts gelangt ist, wird schlicht nicht erzählt. Diese Übergabe scheint hier dementsprechend bewusst ausgeblendet. Von Trevrizent erfährt man allein, dass Kyot in der Chronik aus Anschouwe las, dass die pflege des Grals über Titurel und Frimutel an Anfortas gegangen ist (455,02–22). Die erzählerische Darstellung, in welcher die Geschichte des Grals, beginnend mit ihrer mystischen Vorgeschichte über die ‚neutralen Engel‘, erst mit der Geschichte der menschlichen Sippe der Gralsherrscher wieder greifbare Form gewinnt, ähnelt deutlich derjenigen narrativen Struktur religiöser Sinnstiftung, wie sie auch in der Flegetanis-Kyot-Tradition vorliegt.113 Dieser narrativen Konzeption äquivalent ist es hier nun der Sippenkörper des Titurel-Geschlechts, der mit jenem Volk identifiziert werden kann, das dazu befähigt ist, den Gral zu pflegen. Erst mit diesem Sippenkörper, erst mit der Inkorporation, erhält der religiöse Sinn seine Form in der Immanenz. Somit erscheinen sowohl der Heide Flegetanis als auch die ‚neutralen Engel‘ als ambivalente Textkonstruktionen, die es erlauben, dass über sie – als die Instrumente Gottes – die Geschichte des Grals in der Immanenz manifest werden und in einem (christlichen) Körper Form gewinnen kann.114 Die Geschichte wird auf diese Weise tradierbar und ‚offenbarend‘ (in einem sehr religiösen Sinn). Die ‚neutralen Engel‘ lassen sich, gerade weil sie nicht weiter mit einer eindeutig identifizierbaren kirchentheologischen Deutung in Verbindung zu bringen sind, dementsprechend auch als das laientheologisch heilsgeschichtliche Äquivalent zur Instrumentalisierung Flegetanis für die Textgeschichte des Grals begreifen.115 In Bezug auf die höfisch laientheologische Konzeption des Textes lässt sich feststellen, dass es sich bezüglich der im Parzival geschilderten Engelsauffas112
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Insofern erscheint es auch als wenig hilfreich, mögliche Vorbilder Wolframs für den Gral zu erörtern. Einen Forschungsüberblick hierzu bietet: Bumke 2004. S. 138f. Zur Erinnerung: Dort geht es darum, wie die Geschichte des Grals aus den Sternen über den heidnischen Astronomen in den Körper des Getauften gelangt, der diese Geschichte letztendlich zu einer tradierbaren Erzählung macht. Bevor die Geschichte aus den Sternen inkorporiert ist, bleibt diese im Unbestimmten, Nicht-Verortbaren. Erst Kyot enthebt den religiösen Textsinn im transformativen Raum Toledo seiner Latenz. Dass die Heiden als Werkzeug Gottes fungieren, zählt zu den Topoi höfischer Literatur. Man denke beispielsweise an Alexander, Rennewart im Willehalm oder auch an den Heiden im Parzival, der Anfortas durch Gottes Willen verletzt, weil er gegen die Regeln des Grals verstoßen hat. Aus systemtheoretischer Sicht lassen sich auch beide dementsprechend als paradoxe Konstrukte darstellen: Zum einen ist da nämlich der Heide, der eine Abschrift schafft, ohne sie eigentlich lesen zu können, und zum anderen die ‚neutralen Engel‘, über die Trevrizent die widersprüchliche Aussage trifft, Gott habe ihnen verziehen oder auch nicht. Mit der Selbstreferentialität des Systems lässt sich erklären, dass solang der religiöse Sinn nicht seine (hier christlich gefüllte) Form angenommen hat, seine Erscheinungsform ebenso notwendig paradox und unbestimmt bleiben muss.
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sung – wenig erstaunlich – trotz der Abweichung von einer kirchlichen durchaus um eine prinzipiell christliche Vorstellung handelt.116 Dieser Befund117 passt außerdem auch ganz hervorragend zur konkreten historischen Laienfrömmigkeit im Hochmittelalter, denn gerade im deutschsprachigen Raum ist in der Laienwelt das Schicksal derjenigen Engel, die beim Höllensturz Lucifers unentschieden geblieben waren, offenbar auf großes Interesse gestoßen und wurde viel diskutiert.118 Grundsätzlich kommt der Engellehre in der christlichen Lehre aber deutlich weniger Bedeutung zu, als es beispielsweise im Jüdischen der Fall ist; Engel sind im Christentum prinzipiell weniger genau definiert, verlieren zudem an Personalität und stehen in erster Linie für die Vermittlung zwischen Gott und den Menschen.119 Dementsprechend nennt Dinzelbacher die „mit den Engeln verbundenen Vorstellungen […] ein besonders gutes Beispiel, um das Auseinanderklaffen von Theologie und Religiosität zu illustrieren“.120 Engelsvorstellungen spielen nämlich vor allem in der Frömmigkeit eine wichtige Rolle, insbesondere in der mönchischen Kultur, ohne jedoch im Einzelnen genauer definiert zu sein. Angenendt formuliert hierzu folgende aufschlussreiche Beobachtung: „Aus dem Gedanken, daß die Menschen, wie schon vor dem Sündenfall so auch nach ihrer Vollendung, wie Engel sein würden, wollten die Mönche auf Erden bereits ein ‚engelsgleiches‘ Leben führen“.121 Diese Vorstellung eines „engelsgleichen Lebens“, also die Vorstellung einer Lebensführung, die auf einer Verbindung zwischen Transzendenz und Immanenz mittels einer spezifischen Identität aufbaut, ist dahin gehend auch recht gut auf die menschlichen Hüter des Gralsgeschlechts von Munsalvaesche übertragbar, auch wenn diese keine mönchische Gemeinschaft im eigentlichen Sinne darstellt. Denn um Mitglied dieser Gesellschaft des Grals sein zu können, bedarf es ebenso einer Lebensweise, einer Lebensführung oder auch Eigenschaft, welche denoder diejenige als Gralshüter qualifiziert: Hierfür verwendet der Text die Terminologie der kiusche. Das führt zu der Frage: Was also ist kiusche, was bezeichnet sie im Parzival?122
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Dagegen liest Kolb den Gral in Verbindung mit jüdischer Philosophie und Religion analog zur Schechinah jüdischer Tradition: Kolb 1963. S. 178. Seine Auffassung, Munsalvaesche sei eine Vorform jenes Jerusalems, worin sich der Tempel des Herrn befindet, hat jedoch auch keine allgemeine Zustimmung gefunden (vgl. Bumke 2004. S. 182). Dieser Befund wirkt sich überdies als höfische Laientheologie auch auf die Organisation der Erzählzusammenhänge entsprechend aus. Dinzelbacher 2000. S. 156. Vgl. hierzu Angenendt 1997. S. 149. Dinzelbacher 2000. S. 153. Angenendt 1997. S. 150. Die versuchte Antwort auf diese Frage wird sich über die nächsten beiden Unterkapitel (Kapitel IV: 2.2 und 2.3) erstrecken.
Die Hüter des Grals und ihre Geschichten
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2.2. Geschichte und Funktion der Gralshüter von Munsalvaesche Der schillernde Begriff der kiusche findet sich im Text als Bindegliedsemantisierung zwischen göttlicher und irdischer Sphäre und er stellt zugleich auch die entscheidende Qualität jenes Volkes dar, das für die pflege des Grals als auserwählt gilt. Kyot ist bei seinen Recherchen in den lateinischen Chroniken darauf gestoßen, dass: ein volc dâ zuo gebaere daz ez des grâles pflaege unt der kiusche sich bewaege. (455,06–08)
Und Flegetanis hat in einer Abschrift der Sterne festgehalten, dass, nachdem die schar (wohl: der Engel) den Gral auf der Erde gelassenen hat, die pflege des Grals sich folgendermaßen gestaltet: sît muoz sîn phlegn getouftiu fruht mit alsô kiuschlîcher zuht (454,27f.)
Auch hier fungiert die Taufe als allgemeine Grundvoraussetzung, wozu jedoch als Qualität derjenigen, die mit der pflege des Grals von Gott betraut werden sollen, noch notwendig die kiuschlîche zuht hinzukommen muss. Das sind die Bedingungen für den Dienst am Gralshof. Doch wie ist diese kiusche der Gralshüter überhaupt zu deuten?123 Was wird im Kontext des Erzählkonzepts des Parzival mit der Semantisierung kiusche bezeichnet? Um diese Fragen beantworten und insbesondere um die Funktion der kiusche der Gralshüter aus ihrem weitgespannten Bedeutungshorizont herausarbeiten zu können, sollen im Folgenden vor allem diejenigen Beschreibungen der Gralshüter für die Untersuchung Relevanz erhalten, welche diese von der restlichen höfischen Welt im Parzival grundsätzlich unterscheidbar machen, und was sie so besonders nahe an Gott heranrücken lässt. Da kiusche hier als entscheidender Aspekt, als ein von der Erzählung festgeschriebenes Konzept, begriffen wird, das 123
kiusche ist in der Forschung ebenfalls als Zentralbegriff des Parzival behandelt worden (einen Überblick hierzu bietet: Kordt 1997. S. 115). Sie umfasst eine große Palette an Bedeutungen wie „Selbstbeherrschung und Mäßigung durch Vernunft (auch, aber nicht nur im sexuellen Bereich) ebenso wie Lauterkeit und Einfachheit des Herzens und des Gemüts, das demütige Zurückstellen des eigenen Willens gegenüber dem Willen Gottes und dem Gesetz des Grals …“ (ebd.). kiusche wird daher bei Wolfram als „ein wichtiges ethisches Konzept“ verstanden, „das in enger Verbindung zu staete, diemuot und triuwe steht und die ‚zentrale Graltugend‘ bezeichnet …“ (ebd.). Auch diese Arbeit begreift kiusche als einen Schlüsselbegriff des Textes. Allerdings ist dieser Untersuchung nicht daran gelegen, ein ethisch-moralisches Programm zu eruieren, das daraufhin mit theologischen Entwürfen verglichen wird (so in erster Linie das Vorgehen der hierarchischen Einflussforschung; stellvertretend hierfür sei Herbert Kolb 1975 genannt, der den Einfluss von Predigten auf Wolfram zu erörtern sucht). Sondern auch hier soll wiederum die Funktionalität im Zentrum der Analyse stehen, denn gerade die große Bandbreite an Bedeutungen und Unvereinbarkeit der Interpretationen von kiusche scheinen die Frage nach ihrer Funktion geradezu aufzudrängen.
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die Gesellschaft der Gralsburg von der übrigen höfischen Gesellschaft abzugrenzen vermag und sie als andersgeartet erscheinen lässt, soll kiusche daher nicht über die Erörterung ihres Wesens, sondern über ihre Funktion und darüber, welche Abgrenzungsmechanismen sie widerspiegelt, beschrieben und interpretiert werden. kiusche soll also nicht in ihrer umfassenden semantischen Bedeutung um 1200 erörtert werden, sondern im Kontext ihrer spezifischen Funktion für das Erzählen des Parzival. Die Leitfrage lautet somit: Was bedeutet kiusche für das Erzählen von den Gralshütern? Dementsprechend scheint es für diese Studien auch wenig erfolgsversprechend, auf eine allgemein religiöse Bedeutung in der historischen Kultur zurückzugreifen, sondern die höfisch laientheologischen Vorstellungen, die dabei erzählerisch wirksam werden, müssen hierzu zunächst aus dem Text extrahiert werden. Die Funktion von kiusche ist als Ergebnis der Untersuchung der (menschlichen) Gralshüter zu verstehen und muss daher aufgrund ihres verschiedene Unterscheidungsaspekte zusammenfassenden Charakters ganz am Schluss der Betrachtung der Gralshüter stehen und im Vergleich zur übrigen höfischen Welt gesehen werden. Zum Beginn der Untersuchung dessen, was die Gralsgesellschaft ganz grundsätzlich von der übrigen höfischen Welt unterscheidet, und ihrer beobachtbaren Abgrenzungsmechanismen soll zunächst einmal die auffällige und wundersame Nicht-Verortbarkeit der Gralsburg Munsalvaesche stehen, eine Analyse des verborgenen Lebensraums der Gralshüter. Munsalvaesche erscheint im Parzival als eine Art Schwellenraum, in ihrer Raumkonzeption merkwürdig entrückt. Pratelidis hat bezüglich der geographischen und topographischen Angaben über die Gralsburg im Parzival bereits Entsprechendes beobachtet und beschrieben: „Jeder Versuch einer exakten Lokalisierung Munsalvaesches muß zwangsläufig scheitern. Wolfram vermeidet es peinlich, genaue geographische Angaben zur Lage der Gralsburg innerhalb des epischen Weltgefüges des ‚Parzival‘ zu machen. Seine Wegangaben werden immer dann unbestimmt, wenn der Protagonist oder eine andere Figur des Romans sich Terre de Salvaesche und der Gralsburg nähert (224,19–30; 792,10–15; 796,28–30; 821,29f.)“.124 Das Unbestimmte und märchenhaft Entrückte in der Raumkonzeption der Burg scheint sich gleichfalls aus dem wunder-Wirken des Grals zu speisen bzw. äquivalent dazu zu funktionieren, denn so wie die Schrift auf dem Stein in göttlichem Auftrag die Gralshüter als Jungen und Mädchen zu sich in den Dienst ruft, so ist auch der Weg zur Gralsburg nur jenen möglich, denen es bestimmt ist, dorthin zu gelangen. Dementsprechend schildert beispielsweise auch Sigune bei ihrer zweiten Begegnung mit Parzival die Burg als einen märchenhaften Ort, zu dem man nur unwizzende gelangen kann. Sie wählt hierfür folgende Worte: wan ein burc diu stêt al ein. diu ist erden wunsches rîche. swer die suochet flîzeclîche, 124
Pratelidis 1994. S. 93.
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leider der envint ir niht. vil liute manz doch werben siht. ez muoz unwizzende geschehen, swer immer sol die burc gesehen. (250,24–30)
In ihrer Beschreibung der Burg wiederholt sich die spezifische Terminologie des wunsches, die auch in der Gralsdarstellung mehrmals gebraucht wird und dort ebenso die Steigerung des vollkommenen Ideals in Form der alles implizierenden Möglichkeit ausdrückt.125 Der Ort seiner Aufbewahrung entspricht in seiner Raumkonzeption insoweit also auch dem Gral. Und ebenso gleicht dem Erzählen vom Gral selbst, dass das Auffinden von Munsalvaesche nur ohne Absicht (unwizzende) und eben nicht durch flîzeclîche Suche oder werben (Bemühen) möglich ist. Darin liegt die Parallele zur göttlichen Magie des Grals, die sich im Immanenten als Paradoxie entfaltet.126 Das Paradoxe in der Immanenz findet sich hierbei darin wieder, dass man den Weg nur finden kann, wenn man ihn nicht sucht. Nur derjenige, der von Gott dazu bestimmt ist, gelangt nach Munsalvaesche. Er darf davon nichts wissen, aber er muss zugleich dazu bestimmt sein. Und solch eine Bestimmung ist im Irdischen nicht einsehbar, dort bleibt sie als Paradoxon wahrnehmbar: Solch eine religiöse Prädestination kann nur aus der Transzendenz gegeben sein. Denn wenn Ziellosigkeit zur Voraussetzung eines Zielpunktes wird, der von außen, von Gott, gesetzt ist, lässt sich hierin ein Paradoxon erkennen, das nicht auf der bloßen Handlungsebene angesiedelt ist (wie man eben ständig Dinge findet, die man nicht sucht), sondern diese Paradoxie betrifft die Ebene der Bestimmung (Gottes und der Geschichte Parzivals): Nur derjenige sol die burc gesehen, der die uneinsehbare Einheit des Paradoxons Finden-abernicht-Suchen unwizzende erfüllt. Die Unauffindbarkeit und Abgeschlossenheit der Gralsburg ist zudem spezifisches Unterscheidungskriterium gegenüber dem Artushof, für den allgegenwärtige Präsenz durch Beweglichkeit und insbesondere das integrative Moment konstitutiv sind. Wo sich für den Artushof die Aufnahme und Integration von tapferen Rittern und schönen Frauen zum Zweck der Ehranreicherung als gesellschaftskonstituierend erweist, da ist der Hof von Munsalvaesche durch seine abgeschlossene Exklusivität gekennzeichnet, welche darüber hinaus noch durch 125
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Vgl. hierzu im Kommentar Backes 1999. S. 16: „erden wunsches rîche] Wörtl.: ‚reich in Bezug auf das Höchste auf Erden‘; wunsch ‚Inbegriff des Schönsten, Vollkommensten, Ideal‘ […]. Der Begriff ist mehrmals auf den Gral bezogen …“. Insofern unterstreicht die Terminologie als Inbegriff der Vollkommenheit auch die Utopisierung der Gralskonstruktion durch das Raumkonzept. Somit lässt sich formulieren, dass eben auch das narrative Raumkonzept gemäß der Immanenz mit Transzendenz verbindenden Funktion des Grals gestaltet ist. Der Parzival betont gegenüber dem Perceval auch insbesondere das Geheimnisvolle, denn während im französischen Text das Verborgene der Gralsburg durch ihre versteckte Lage im Tal rational begründet ist (Perceval 3040–3051), erscheint der Zugang in Wolframs Text als magischer, was hier natürlich die religiöse Dimension, die göttliche Magie, im Text noch deutlich unterstreicht.
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den Kampf bis auf den Tod von seinen Rittern abgesichert wird. Für die Artusritterschaft gilt als Handlungsmaxime, unterlegene Ritter nicht zu töten, so wie es auch Parzival von seinem artushöfischen Mentor Gurnemanz gelehrt bekommt: lât derbärme bî der vrävel sîn. sus tuot mir râtes volge schîn. an swem ir strîtes sicherheit bezalt, ern hab iu sölhiu leit getân diu herzen kumber wesn, die nemt, und lâzet in genesn. (171,25–30)
Die Schonung des unterlegenen Kämpfers, dem sicherheit gewährt wird, sowie seine darauf folgende Integration ist nicht allein für den Artushof des Parzival konstitutiv,127 sondern es handelt sich dabei um ein Handlungsmuster, das sich als entscheidende Norm der artushöfischen Gesellschaft auch in den übrigen Artusromanen wiederfindet. Man kann daher von einer Handlungsmaxime sprechen, die aus ihren intertextuellen Referenzen noch zusätzlich normgenerierenden Charakter gewinnt, wenngleich sie auch nicht immer verwirklicht wird. Schu hat hierbei zu Recht angemerkt: „Auch wenn diese Sitte von den arthurischen Rittern durchweg praktiziert wird, kann dadurch die Tötungsgefahr nicht ausgeschlossen werden, da das Ethos nicht allgemein anerkannt ist. Leid durch im Kampf getötete Ritter ist denn auch omnipräsent in der Textwelt des Parzival; die mehrfache Erwähnung von aus Trauer gestorbenen Frauen verweist stets auf prinzipielle Gefahr ritterlichen Lebens“.128 Trauernde Frauen fungieren also als ein dementsprechend deutbares Zeichen der Nicht-Erfüllung dieser Handlungsmaxime und damit auch als Zeichen des in seiner Identität geschädigten Hofes.129 Grundsätzlich kann diese Norm doch auch nur deshalb verletzt werden, weil sie eine gewisse Gültigkeit beansprucht, und das Sichtbarwerden einer solchen Verletzung verweist ja immer auch auf den normativen Charakter einer Handlungsmaxime, auch in ihrer Absenz.130 Ganz anders gestaltet sich der Umgang mit der sicherheit Unterlegener dagegen bei den Rittern des Grals.131 Die Gefahr, die von den schonungslosen Kämpfern Munsalvaesches ausgeht, ist auch Artus bekannt, weshalb er seine Ritter vor 127
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Parzival steigert beispielsweise die Ehre des Artushofs enorm, wenn er die ihm unterlegenen Ritter an den Artushof schickt. Schu 2002. S. 377. Dies wird im Erec beispielsweise an den 80 trauernden Witwen am Hofe Brandigans ersichtlich, im Parzival bei der Tötung Ithers durch Parzival an Ginover und ihren vrouwen und natürlich an der vom Hof abgewandten Trauer Sigunes. Das wird im Parzival beispielsweise an Orilus sichtbar, der sich zwar rühmt, über acht Artusritter gesiegt zu haben (135,07–12), dessen Handlungen im Text aber zugleich auch keine positiven Wertungen widerfahren. Vgl. hierzu ebenso Bumke 2004. S. 185: „Was den ritterlichen Kampf so problematisch macht, ist vor allem die Tötungsgefahr. […] Vor diesem Hintergrund müssen die Kampfbestimmungen im Gralbereich gesehen werden“.
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ihnen warnt.132 Von Trevrizent erfährt Parzival über die religiöse Dimension des Kampfes der Gralsritter: ‚… si nement niemens sicherheit, si wâgnt ir lebn gein jenes lebn: daz ist für sünde in dâ gegebn.‘ (492,08–10)
Diese für die Gralsritter gültige Norm wird somit als Negativfolie der artushöfischen lesbar. Dass übermäßig viele Ritter aufgrund dieser spezifisch gralshöfischen Handlungsmaxime bereits ihr Leben gelassen haben, wird Parzival von der kundigen Augenzeugin Sigune berichtet: ich hânz gehôrt und gesehn daz hie vil liute ir lîp verlurn, die werlîche’n tôt erkurn. (250,08–10)
Als Grund für das Töten im Kampf nennt Trevrizent nun aber nicht die Abgeschlossenheit der Gralsburg oder die Verteidigung ihrer exklusiven Gesellschaft. Er benennt als Grund für diese enorme Abweichung zu den Kampfkonventionen nach artushöfischer Norm die sünde. Damit ist das Verhalten der Gralsritter eindeutig mit einer religiösen Konnotation versehen. Auch die Terminologie daz ist […] in dâ gegebn verweist auf eine gottgegebene Ordnung, deren Regeln an dem von seiner Lenkung bestimmten Hof entsprechend Geltung haben. In der Forschung hat diese göttliche Legitimierung der Tötung von Rittern im Kampf vor allem zu der Frage geführt, ob sich darin eine im Text formulierte Kritik am Kreuzzugsgedanken wieder finden lässt.133 Davon ist im Text explizit 132
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‚… wir nâhen Anfortases her, daz von Munsalvaesche vert untz fôrest mit strîte wert: sît wir niht wizzen wâ diu stêt, ze arbeit ez uns lîhte ergêt.‘ (286,10–14) Artus verbietet Segramors deshalb, weil er nicht genau weiß, ob sie sich bereits im Herrschaftsgebiet Munsalvaesches befinden, zur Tjost auszureiten. Er argumentiert damit, dass ihm weitere Ritter folgen könnten, was sein Heer schwächen würde: ‚… wirt hie ein tjost von dir getân, dar nâch wil manc ander man daz ich in lâze rîten und ouch nâch prîse strîten: dâ mite krenket sich mîn wer …‘ (286,05–09) Das impliziert, dass Artus darüber Bescheid wissen muss, dass die Ritter Munsalvaesches erstens keine sicherheit gewähren und dass sie zweitens auch unglaublich gefährliche Kämpfer sind, da Artus ja davon ausgeht, dass seine Ritter auch nicht zurückkommen würden. Dieser Ruf der Gralsritter scheint eigentlich in der gesamten höfischen Welt verbreitet, denn auch Vergulaht überträgt seinen Auftrag der Gralssuche an Gawan, und zwar gerade weil er davon überzeugt ist, dass diesen darin der Tod erwartet (426,01–06). In der jüngeren Forschung vgl. hierzu Schu 2002. S. 389: „Da im Text die Figuren, die ihre Gegner töten, generell als Antagonisten fungieren, in die Opposition zum Artus- und Gralsreich treten, liegt der Schluß nahe, daß auch die Idee vom ‚Tod für das Himmelreich‘, welche die Kreuz-
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jedoch nirgends die Rede und so drängt sich zwangsläufig die Vermutung auf, ob der Zugang zu diesem Problem nicht eine prinzipiell andere Fragestellung erforderlich macht. Dem Ansatz dieser Arbeit gemäß soll nun auch hier der interpretatorische Weg über die Frage nach den Funktionen beschritten werden. Die Frage nach der sünde führt so zu der Frage nach einer Grundproblematik höfischen Rittertums, die hier wie gesagt einer religiösen Wertung unterliegt. Vor diesem Hintergrund zeigt sich, dass die Abgeschlossenheit der Gesellschaft auf der Gralsburg das Resultat ihrer Funktion für die höfische Welt ist: Der Gralshof gestaltet sich als ein der ritterlichen Welt entzogener Raum, in dem nach höfischen Maßstäben hervorragende Herrschaftskörper von Gott ‚in Reserve‘ gehalten werden, um Länder der höfischen Welt, deren Herrschaften zu verwaisen drohen, wieder restaurieren zu können. Besonderer Wert wird bei der Aussendung der Ritter außerdem auf die gewaltlose Herrschaftsübernahme gelegt; Männer werden, wie im vorigen Kapitel dargestellt, deshalb verholne inthronisiert. Das ist wiederum jedoch nur möglich, wenn die am Gralshof lebenden Ritter bis zum Zeitpunkt ihrer Entsendung nicht in das höfische Gesellschaftssystem zirkulierenden Ehrerwerbs und Integration eingebunden sind. Und das scheint am besten dadurch garantiert zu werden, indem im Falle der Konfrontation so oder so keine öffentlich wirksame Ehre erworben werden kann, weil der unterlegene Ritter im Zweifelsfall nämlich tot ist und niemals mehr an einen Hof gelangen wird.134
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zugszeit prägte, beleuchtet werden soll“. Schu beruft sich dabei insbesondere auf die siebte Auflage Bumkes Wolfram von Eschenbach, in der er das Töten im Kampf noch als einen „Mangel an Menschlichkeit“ ansieht und anmerkt, dass es ihm schwer falle, „hinter der Regelung, die im Gralbereich gilt, die Weisheit Gottes zu erblicken“ (Bumke 1997. S. 123). Diese Einschätzung erscheint jedoch auf einem Anachronismus zu beruhen, der in der Forschung immer wieder gerne hinsichtlich einer verbreiteten Perspektive auf Wolfram als einem Gesellschaftskritiker und dem Vorreiter des modernen Romanautors evoziert wird. In der neusten Ausgabe nimmt Bumke diese Wertung in seiner Stellungnahme zur Gralsgesellschaft bezeichnenderweise auch wieder zurück, er relativiert seine Aussagen deutlich, wenn er formuliert „Ob hier Motive der Kreuzzugsideologie hereinspielen, ist unsicher. Bestehen bleibt, daß Gott eine Gesellschaft gestiftet hat, die die Tötung von Menschen im Kampf vorsieht, während in der Artusgesellschaft die Tötung eines ritterlichen Gegners als eine Störung der gesellschaftlichen Ordnung gesehen wird“ (Bumke 2004. S. 186). Vgl. hierzu auch Wittmann 2007, die diesen Aspekt gesellschaftlicher Hierarchien anhand Parzivals Kampf mit dem Gralsritter diskutiert: „Höfische Vergesellschaftung basiert, wie schon im beständigen Expandieren des Artusbereiches durch die Hereinnahme vormals Ausgeschlossener wie Orilus und Gramoflanz gezeigt wird, auf der grundsätzlichen Annahme ständischer Gemeinsamkeit und damit Ebenbürtigkeit. Hierarchien ergeben sich hier, so will es das Ideal, aus den eher abstrakten Kategorien von êre und prîs – niemals jedoch aus lehensrechtlichen Zusammenhängen heraus. Die absolute Konzeption des Gralsrittertums stellt insofern einen Angriff auf das Artusrittertum dar, und dessen zentrale Setzungen werden ausdrücklich zurückgewiesen …“ (S. 128).
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Die aus höfischer Perspektive markierte ‚Identitätslosigkeit‘ der auf Munsalvaesche lebenden Gesellschaft135 ist zugleich logische Konsequenz als auch unbedingte Voraussetzung: Sie schlägt sich zum einen im Verlust des Namens der zum Gral Berufenen nieder – was im Lichte des höfischen Wahrnehmungshorizonts immer gleich auch den Verlust von Familienbindung bedeutet –, und zum anderen werden die Hüter bereits als meide und knaben zum Dienst beim Gral berufen: Si kômen alle dar vür kint, die nu dâ grôze liute sint. wol die muoter diu daz kint gebar daz sol ze dienste hoeren dar! der arme unt der rîche fröunt sich al gelîche, ob man ir kint eischet dar, daz siz suln senden an die schar: man holt se in manegen landen. vor sündebaeren schanden sint si immer mêr behuot, und wirt ir lôn ze himel guot. swenne in erstirbet hie daz lebn, sô wirt in dort der wunsch gegebn. (471,01–14)
Trevrizent macht hier sehr deutlich, dass es nicht nur am Gralshof, sondern in der gesamten höfischen Welt als eine besondere Auszeichnung gilt, wenn ein Kind für den Gralsdienst bestimmt ist. Es ist zwar möglich, dass der Ruf an Kinder von bereits entsandten Gralshütern ergeht (495,04f.), aber dennoch keinesfalls zwingend.136 Es handelt sich also nicht um ein von der Forschung oftmals angenommenes selektives Prinzip der Blutsverwandtschaft.137 Vielmehr ist die Gemein135
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Der Begriff der ‚Identitätslosigkeit‘ ist hier konkret auf eine höfische Beobachterperspektive bezogen, denn natürlich ist die Gralsgesellschaft nicht völlig ‚identitätslos‘, doch weil ihre Identität bei Gott gelagert ist, kann sie aus dem Höfischen nur paradox wahrgenommen werden bzw. in Bezug auf die Selbstreferentialität des höfischen Systems als eine nicht selektierbare und damit als für das System nicht existente Identität. Ich werde auf den Begriff noch zurückkommen. Dagegen: Pratelidis, der davon ausgeht, dass der Nachwuchs der Gralsgesellschaft sich grundsätzlich aus den Nachkommen der vom Gral Entsandten rekurriert (Pratelidis 1994. S. 97). Er belegt dies mit der Textstelle: … ob ir kint des grâles schar mit dienste suln mêren: daz kann si got wol lêren. (495,04–06) Im Text steht jedoch die Konjunktion ob, die im Regelfall konditional gebraucht wird. Schmid diskutiert die Frage, warum Männer verholne entsandt werden, vor dem Hintergrund der Erbfolge (Schmid 1986). Sie geht davon aus, dass das Prinzip der Blutsverwandtschaft (vgl. hierzu auch Schmid 1980) und der damit verbundene Zwang zur Exogamie durch das Gesetz des Grals umgangen werden – was diesen aber eine grundsätzliche Wirkmächtigkeit zuschreibt. Vgl. hierzu Schmid 1986. S. 204: „Indem die gesetzgebende Instanz die männlichen Abkömmlinge als Fremde definiert, kann sie deren Nachkommen immer wieder berufen, ohne daß diesen daraus ein Rechtsanspruch entstünde. Der Gral hat ein für alle Mal ein Mittel gefunden, das es ihm erlaubt, die Gralgesellschaft kontinuierlich durch Gralabkömmlinge zu besetzen, ohne daß
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schaft der Gralshüter gerade durch ihre Hybridität gekennzeichnet, denn sie setzt sich aus Leuten von unterschiedlichster Herkunft (der arme unt der rîche/ fröunt sich al gelîche) aus aller Herren Länder (man holt se in manegen landen) zusammen. Sobald die Mitglieder des Gralshofs den Dienst am Gral angetreten haben, spielt dieses Herkommen sowie ihre familiären Bindungen jedoch keine Rolle mehr. Denn sowie ihr Name auf dem Stein und damit ihre Bekanntheit im Diesseits der höfischen Welt erlischt, so sind sie auch jeglichen sozialen Zusammenhängen, welche es überhaupt erlauben würden, höfische Identität zu generieren, entzogen: allen voran dem System höfischer Ehrzuweisung. Auf Munsalvaesche herrscht absolute Gleichheit, was besonders auf den Verlust sozialer Hierarchien verweist:138 Gegensätze wie Armut und Reichtum sind am gottesnahen Gralshof aufgehoben, was zudem auch seine Religiosität im christlichen Sinne gegenüber der üblichen feudal-höfischen Gesellschaftsorganisation ausdrücklich markiert, denn diese hat ihren Motor ja gerade im ständigen Ringen nach Auszeichnung und Überbietung. Zur Namenlosigkeit und der Gleichheit kommt außerdem auch noch die erwähnte Isolation auf der Burg Munsalvaesche im Wald139 – und diese drei Faktoren zusammengenommen bedeuten schließlich den vollständigen Verlust adlig-höfischer Identität. Von einer ‚Identitätslosigkeit‘ lässt sich natürlich nur aus der Außenperspektive der übrigen höfischen Welt sprechen, denn in der Selbstdefinition der Gralsgesellschaft ist ihre höfische Identität bei Gott gelagert. Doch auch gerade das zeichnet den religiösen Charakter aus: In der höfischen Wahrnehmung müsste man von Identitätslosigkeit sprechen, doch da Gott über allen Identitäten steht (auch wenn er der höfischen im Text besonders zugeneigt ist), kann er hier auch Garant für den Erhalt der höfischen Identität sein.140 Trevrizents Worte über den Tod der Gralskämpfer (swenne in erstirbet hie daz lebn,/ sô wirt in dort der wunsch gegebn) scheinen daher auch nicht allein auf den physischen Tod der Gralshüter als Grenzüberschreitung in der christlichen Vorstellung zum Leben nach dem Tod bezogen zu sein, weil es heißt, ihr Kampf im Dienst des Grals bringt ihnen auch Lohn im Himmel ein (und wirt ir lôn ze himel
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es dabei je zu einer Ausbildung von Linien käme. Daß die zur Fortpflanzung ausersehenen Männer ihre Herkunft aufgeben müssen, ist der heimliche Springpunkt in einem System, das seinen Zweck fortwährend neu zu generieren vermag: die endogame Reproduktion von ingesindes“. Diese Interpretation scheint mir jedoch das spezifisch Höfische, wie den Zusammenhang mit den Prinzipien der êre und des Kampfes, zugunsten einer Erbfolgediskussion zu vernachlässigen. Lévi-Strauss’ anthropologisches Prinzip bleibt in der Verwandtschaftsdiskussion hier dominant. Davon unterschieden bleibt natürlich der Sippenkörper der Gralsherrscher, weil diese nicht entsandt werden. Mit dem Begriff Wald meine ich hier eine dem Höfischen ferne Gegend. Bezüglich der religiösen Dimension der Raumkonzeption ist Munsalvaesche in ihrer paradoxen Erscheinungsform mit ihrer höfischen Pracht und ihrer unhöfischen Lage im Wald auch als ein Zwischenraum zu bezeichnen, ein Ort, an dem transzendentes Wirken in der Immanenz erfahrbar wird. Gott hat dementsprechend nicht nur Macht über die höfische Welt, sondern auch darüber hinaus, was es ihm aus der Beobachtung der (hier: höfischen) Immanenz ja schließlich auch erst möglich macht, über Kontingenz zu verfügen.
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guot). Sondern dieser Tod ist aus einer höfisch immanenten Perspektive auch hinsichtlich des höfischen Identitätsverlusts der Gralshüter, als sozialer Tod in der Außenwelt, lesbar, welcher die Gralsdiener dem höfischen Leben (hie daz lebn) beraubt. Bestätigt findet sich diese Lesart zudem durch die signifikante Bezeichnung für den anderen Ort: dort ist, wo ihnen der wunsch gegebn wird, und gerade bei diesem Terminus handelt es sich wie gesagt um eine Bezeichnung, die vornehmlich in Bezug auf die wunder des Grals auftaucht. Der andere Ort (dort) ist demnach also die Gralsburg, das hie beschreibt die restliche höfische Welt. Dieselbe Konnotation des Todes als sozialem Tod in der höfischen Welt findet sich darüber hinaus zuvor in den Worten des Gralsritters, dem Parzival im IX. Buch vor seiner Einkehr bei Trevrizent im Kampf begegnet: ‚… Munsalvaesche ist niht gewent daz iemen ir sô nâhe rite, ezn waer der angestlîche strite, ode der alsolhen wandel bôt als man vor dem walde heizet tôt.‘ (443,16–20)
Der Gralsritter rekurriert hier auf die exklusive Abgeschlossenheit Munsalvaesches, die eigentlich nur zwei Möglichkeiten bietet: Entweder muss derjenige, der sich mit der Gralsburg und ihren Rittern konfrontiert sieht, einen gefährlichen Kampf austragen (ezn waer der angestlîche strite), bei dem keine sicherheit genommen wird und auch keine Ehre erworben werden kann, oder aber er vollzieht einen solchen wandel, dass er außerhalb der isolierten Lage Munsalvaesches im Wald als tot gilt (als man vor dem walde heizet tôt); der Wald fungiert als Kennzeichnung sozialer Nicht-Existenz. Wer dort lebt, der ist für die hier dezidiert höfisch gefasste Welt, deren identitätsstiftende Ordnung ausschließlich über Öffentlichkeit organisiert ist, schlicht nicht am Leben, weil er nicht an dieser Öffentlichkeit teilhaben kann: Er ist aus der (höfischen) Welt. Beschrieben ist dies mit dem wandel, der den Wechsel aus einer Ordnung in eine andere meint. Der wandel der Gralsritter bedeutet hier also das Leben jenseits höfischer Öffentlichkeit. Das Entweder-oder, das der Gralsritter gegenüber Parzival formuliert, besagt daher auch zugleich, dass derjenige, der sô nâhe rite an Munsalvaesche entweder eben ein Gegner ist, was den Kampf mit ihm auf Leben und Tod erforderlich macht, oder aber er ist berufener Hüter des Grals und damit ebenfalls durch diese spezifische höfische ‚Identitätslosigkeit‘ gezeichnet. Ein Dazwischen ist in diesem strengen, auf Eindeutigkeit ausgerichteten Konzept offenbar nicht denkbar – es sei denn natürlich, der religiöse Code der Auslagerung an Gott bestimmt das kommunikative Geschehen, so wie es der spezifische Fall von Parzival beweist.141 Der Verlust höfischer Identität und Teilhabe an der Ordnung der
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Insofern bedeutet Parzivals Sieg in diesem Kampf und das Faktum, dass auch der Gralsritter darin nicht umgekommen ist, einen über die Performativität der Szene einsichtigen Vorausgriff auf Parzivals von Gott bestimmte Position, berufen zu sein und eben nicht erst zu werden.
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gralshöfischen Welt bringt den Hütern zwar keine eigentliche Ehre, dafür aber als Äquivalent den sicheren Lohn im Himmel ein.142 Die Einhaltung des auf solche Eindeutigkeit ausgerichteten Regelwerks dieser Gesellschaft soll diese überdies auch im Diesseits davor bewahren, Taten zu begehen, die aus religiöser Perspektive als sünde gewertet werden (vor sündebaeren schanden/ sint si immer mêr behuot). Das bedeutet aber zugleich, dass, wie es Trevrizent formuliert, Gralsritter töten, weil ihnen das für sünde als von Gott bestimmtes Gesetz als Auftrag gegeben ist. Es kann sich bei dieser sünde nicht allein um eine tatenhafte Verfehlung der Gralsritter handeln – sünde scheint viel eher generell in der Welt, Gott und sünde sind in diesem Denkschema untrennbar verknüpft. sünde fungiert hier als ein weiteres Bindeglied, als Ansatzpunkt für den göttlichen Eingriff in die Welt.143 Damit dieser jedoch überhaupt möglich wird, ist es zwingend notwendig, die Isolation Munsalvaesches und auch die damit verbundene ‚Identitätslosigkeit‘ seiner Mitglieder – oder zutreffender, weil es ja nicht um ‚keine‘, sondern eine ‚andere‘, bei Gott gelagerte Identität geht –, ihre Identitätsdifferenz, unbedingt aufrecht zu erhalten.144 Der Eingriff aus der Transzendenz in die Immanenz des Höfischen wäre sonst wohl gar nicht denkbar, oder andersherum formuliert: Gott als Kontingenzformel wäre ohne den ausgelagerten Handlungsraum seiner grundlegenden Funktion beraubt. Diese Funktion zu erhalten ist der Zweck des aus höfischer Beobachterperspektive absolut rigiden Regelwerks des Gralshofs. Nur wenn seine Ordnung in dieser Eindeutigkeit ausgelegt ist, kann die Funktio142
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Dagegen meint Schu 2002. S. 390: „Beide Gemeinschaften unterscheiden sich aber nicht darin, daß mit ritterlichen Kämpfen Ehre zu erwerben ist, auch die Gralsmitglieder kämpfen um prîs“. Schu unterscheidet hier aber nicht zwischen dem ritterlichen Kampf im Allgemeinen, der auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet ist, und dezidierter Ehrkommunikation, nach deren Prinzip Ehre nur durch die Auszeichnung in einer höfischen Öffentlichkeit zugewiesen wird. Das Ziel der Kämpfe der Gralsritter ist nämlich eben nicht auf den sozialen Akt der Bekanntgabe des Sieges und Integration des Gegners ausgerichtet, sondern auf den verteidigenden Schutz für die von der höfischen Gesellschaft isolierten Ritter und Damen auf Munsalvaesche. Hierauf wird in Bezug auf die kiusche zurückgekommen werden. Der notwendige Erhalt zur Möglichkeit des Eingriffes ‚von außen‘ findet sich dann auch am Ende des Parzival in der Loherangrin-Geschichte bestätigt, wenn der Sohn Parzivals nach seiner Entsendung vom Gral in eine verwaiste Herrschaft gegenüber der Landesherrin formuliert, er dürfe nicht nach seinem Namen und damit dem Kontext seiner Herkunft gefragt werden, was im öffentlich höfischen Sinn bedeutet, nicht nach seiner Identität gefragt zu werden: … ‚frouwe herzogîn, sol ich hie landes hêrre sîn, dar umbe lâz ich als vil. nu hoeret wes i’uch biten wil. gevrâget nimmer wer ich sî: sô mag ich iu belîben bî. bin ich ziwerr vrâge erkorn, sô habt ir minne an mir verlorn. ob ir niht sît gewarnet des, sô warnt mich got, er weiz wol wes.‘ (825,15–24)
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nalität des Gralshofs und damit auch das Wirken Gottes in der Immanenz gewährt werden. Doch für die höfisch-adlige Welt bleibt die Ordnung des Grals gleichwohl, auch wenn sie funktionaler Bestandteil des Höfischen ist, eine absolute Zumutung (insbesondere im Hinblick auf ihre ‚Identitätslosigkeit‘). Mit der Rigidität der gralshöfischen Regeln scheinen auch insbesondere die Gralsherren ihre Schwierigkeiten zu haben. Denn für die Sippe der Gralsherrscher muss, damit die Aufgabe des Gralshofs erfüllt werden kann, das gralshöfische Gesellschaftsmodell unbedingt einzige Handlungsmaxime sein. Genau das hat Anfortas aber in dem Moment suspendiert, als er strît um êre und minne nach den Wertmaßstäben der höfischen Außenwelt ausgefochten hat – wie überdies auch sein Bruder Trevrizent vor seiner Zeit als Eremit, in seinem Vorleben als Turnierritter. Die von den Gralsherren permanente Übertretung und Verwischung der Grenze scheint es daher zu sein, die sie anfällig macht für die sünde: Sie tragen die Konsequenzen der eigenmächtigen Regelüberschreitungen. Trevrizent wechselt dazu zur Buße komplett den Handlungsrahmen und wird auf diese Weise zum Beobachter (zweiter Ordnung) und Ratgeber, hat dafür aber nicht Teil an der exklusiven Gesellschaft auf Munsalvaesche.
2.3. Erzählen von Artushof und Gralshof – ein hierarchisches Verhältnis? Mit der Feststellung, dass religiöse Wertungen vornehmlich Teil des Gralshofs sind, steht damit eine Frage im Raum, mit welcher sich auch die Forschung bereits intensiv auseinandergesetzt hat, nämlich die Frage danach, ob es zwischen Artus- und Gralshof einen hierarchischen Unterschied gibt. Doch lässt sich im Erzählen von Artus- und Gralshof tatsächlich eine Hierarchie festmachen? Während in der vornehmlich älteren Forschung die These vertreten wird, die Gralsgesellschaft sei aufgrund ihrer unmittelbaren Lenkung durch Gott als grundsätzlich höherwertig und der Artushof daher lediglich als eine Durchgangsstufe zu begreifen,145 so formuliert die jüngere, insbesondere erzähltheoretisch orientierte Parzival-Forschung, die Gleichwertigkeit beider Systeme,146 was sich auch für den vorliegenden, an funktionalen Zusammenhängen interessierten Ansatz dieser
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Stellvertretend hierzu z. B. Burdach 1974. S. 559: „Das Nebeneinander von Gralburg und Artushof, das für alle Gralerzählungen typisch ist, spielt auch für den deutschen Dichter die erste Rolle, wie die Gegenüberstellung des bonus miles Parzival mit dem nur nach irdischer êre und minne strebenden Gawan, dem b e s t e n w e l t l i c h e n Ritter […]. Daß dessen Gralsuche erfolglos bleiben mußte, versteht sich bei Wolframs Auffassung von selbst …“. Stellvertretend hierzu z. B. Schu 2002. S. 391: „Die Tatsache, daß die Gralsgesellschaft unmittelbar von Gott gelenkt wird, hat traditionell die These von der Höherwertigkeit der Gralsgesellschaft begründet. Die Gralswelt wird als Utopie einer spirituell ausgerichteten Gesellschaft interpretiert, der Artuswelt weitgehend Religiosität abgesprochen. Diese These erweist sich jedoch bei genauerer Betrachtung des Textes als nicht haltbar“.
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Arbeit als deutlich anschlussfähiger erweist.147 Anhand der bisherigen Ergebnisse der Arbeit lässt sich diese Frage nach der Hierarchie von Grals- und Artushof folgendermaßen beantworten: Sicher ist, dass religiöse Wertmaßstäbe (sünde), wunder als Gotteswirken in der Immanenz (wunder des Grals) sowie christlich analogisierende Bedeutungszusammenhänge (Parzival als Erlöser des Sippenkörpers) in der gralshöfischen Gesellschaft einen deutlich höheren Stellenwert als in der artushöfischen besitzen.148 Das ist aber als Effekt der grundsätzlichen Funktion des Gralshofs zu verstehen, Probleme der höfischen Welt zu bearbeiten, wie insbesondere durch die Entsendung von besonders höfischen Frauen und Männern in verwaiste Herrschaften. Von einer Hierarchie lässt sich aus einer funktionsorientierten Sichtweise daher kaum sprechen: Der Gralshof steht gerade durch seine spezifische Funktion eigentlich sogar im Dienst der restlichen (christlich-)höfischen Welt;149 weswegen es aus dieser Perspektive auch sinnvoller scheint, von einer Ausdifferenzierung des Höfischen zu sprechen als von zwei grundsätzlich unterschiedlichen Systemen – der Gralshof erscheint aus dieser Perspektive nicht als etwas völlig anderes, sondern als eine spezifische Ausformung des Höfischen, als ein spezielles Subsystem,150 das durch seine Anbindung an Gott ein bestimmtes Problem der höfischen Welt zu lösen vermag. Dass mit dem Gralshof eine religiöse Dimension höfischen Rittertums entworfen ist, bedeutet für sich genommen auch noch keine Höherstellung gegenüber dem Artushof.151 Die auf Eindeutigkeit ausgelegten Handlungsanweisungen Gottes für die 147
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Vgl. hierzu auch die Stellungnahme meinerseits im Methodenkapitel. Dieser Umschlag in der Wertungsperspektive hat natürlich auch zentral mit einem Fokuswechsel zu tun, der durch eine spezifische Bewegung (weg von einer auf Ontologie ausgerichteten Fragestellung hin zu einem Interesse an Konstruktivität und Funktionalität) gezeichnet ist. Vor diesem Hintergrund ist natürlich auch diese Arbeit ein Kind ihrer Zeit zu nennen. Vgl. auch Pratelidis 1994. S. 179. Das ist letztlich auch der Mehrwert der christlich-höfischen Gesellschaft gegenüber der heidnisch-höfischen, die einer solchen Bearbeitungsmöglichkeit von Problemen der Kontinuität durch die Kontingenzformel Gott entbehrt. Vgl. hierzu auch Müller 2008. S. 83: „Die beiden heidnisch-höfischen Herrschaftsmodelle werden spätestens dann als problematisch offenbar, wenn es um die zeitliche Dimension der Begriffe wie Herrschaft bzw. Herrschaftskörper und Sippe bzw. Sippenkörper geht. Nur die Anbindung an den christlichen Gott beansprucht zeitliche Kontinuität bzw. die Ewigkeit für sich. Der Herrscher und das Sippenoberhaupt Gott sind ewig – er ist der Garant für das Fortbestehen der Herrschaft (innerhalb eines Sippenverständnisses), da der christliche, weltliche Herrscher wiederum an beiden Körperkonzepten des christlich-höfischen Gottes partizipiert“. Der Begriff Subsystem scheint dabei eine Unterordnung zu implizieren, wie sie im systemtheoretischen Sinn aber nicht gemeint ist. Es geht dabei um eine Spezialisierung, eine ganz besondere Funktion, die für eine bestimmte Gesellschaft erfüllt wird. Auf der Ebene von Systemen formuliert ist der Gralshof somit eine Ausformung von Religion, dessen Funktion im Dienst des Höfischen steht. So auch: Schu 2002. S. 390f.: „ … eine positive Utopie zeichnet sich nicht ab, dafür aber in Ansätzen ein positives Potential zur Konfliktvermeidung, durch Beschränkung ritterlicher Kämpfe auf den Verteidigungsfall (eigener Länder oder zu Unrecht Bedrängter) zum einen, durch die
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Gralsgesellschaft, wie sie im Tötungsgebot und im Minneverbot artikuliert sind, formulieren keinen religiösen Tugendkanon, der den Gralshof zu einem irgendwie idealen Gegenentwurf zum Artushof stilisiert,152 sondern sie stellen sich bei genauer Betrachtung als Effekte einer funktional bedingten Isolation heraus, ohne die ein Eingreifen von Außen bzw. ein Eingreifen aus der göttlichen Transzendenz in die Immanenz nicht möglich wäre. Die Gralsgesellschaft ist nicht etwa aufgrund besonderer ethischer Werte als religiös beschreibbar, sondern deshalb, weil sie im Schutz eines Raumes existiert, in dem göttliche Transzendenz und höfische Immanenz äußerst eng geführt werden.153 Hinsichtlich ihres funktionalen Zusammenhangs lässt sich das Verhältnis der beiden Höfe daher also nicht hierarchisch denken, sondern eher als eine gegenseitige Ergänzung. Die Basis beider ist die höfische Gesellschaft. Trevrizent beschreibt den Austausch dementsprechend auch als ein Spiel von Nehmen und Geben: ein tschanze dicke stêt vor in,/ si gebent unde nement gewin (494,03f.). Damit wird aber zugleich auch deutlich, dass die Gralswelt nicht dergestalt konzipiert ist, dass sie die Artuswelt abzulösen oder gar zu ersetzen vermag.154 Schließlich könnte auch die Gralswelt ohne die Artuswelt, aus der sie ihren höfischen Nachwuchs schöpft, gar nicht existieren. Grund dafür ist das am Gralshof geltende Minneverbot: ‚… swer sich diens geim grâle hât bewegn, gein wîben minne er muoz verpflegn …‘ (495,7f.)
Damit die Mitglieder des Gralshofs also bis zu ihrer Entsendung überhaupt in ihrer Wartestellung verharren können, verbietet das Gesetz des Grals jegliche Minnebeziehung zwischen den Geschlechtern. Das strikte Minneverbot ist jedoch mehr als nur eine reine Schutzmaßnahme Munsalvaesches, mehr als eine „Präventivmaßnahme […], die eine Schwächung der Verteidigungskraft unter
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Durchsetzung des Schonungsgebots zum anderen. Eine Überlegenheit eines Systems ist dabei m. E. nicht festzustellen; beide sind je unterschiedlich vorbildlich oder defizitär, so daß auch die Normen, die die Gesellschaften anlegen, durch die Verdopplung der Perspektiven in Frage gestellt werden“. So beispielsweise Blank, der in Wolframs Gralskonzeption ein grundsätzlich höherwertiges „idealtypisches abstraktes Modell“ sieht und die Gesellschaftsform beim Gral als eine „societas perfecta spiritualis“ begreift (Blank 1989b. S. 339). Gemeint ist damit vor allem, dass am Gralshof nicht eine völlig andere Ordnung herrscht, was zum Beispiel bei einer klerikal organisierten asketisch lebenden Gemeinschaft, die entsprechend ethische Werte verfolgt, der Fall wäre. Sondern die Ordnung des Gralshofs ist sehr wohl eine höfische oder aber ihr genaues Gegenteil, das aber als Negativbild noch immer auf das Höfische bezogen ist. Dies sind keine unterschiedlichen Gesellschaftsmodelle, sondern Teile der gleichen Bezugsgesellschaft, wenngleich eben eine partielle Verkehrung vorliegt. Die Begriffe Artuswelt und Gralswelt verwende ich hier synonym zu Artushof und Gralshof. Der Begriff ‚Welt‘ transportiert nur eben noch offensichtlich die Differenz Welt-Gott mit, was es im Falle von ‚Hof‘ stets noch zu markieren gilt.
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allen Umständen verhindern soll“155. Dieses Verbot, das sich hier eher als ein religiös motivierter Mechanismus erweist, gewährleistet schließlich, dass der Gralshof seine Funktion der Wiederinstandsetzung höfischer Herrschaften, das transzendente Wirken der gotes hant in der Immanenz, für die gesamte höfische Welt überhaupt erst erfüllen kann.156 Der Weg zur Erlangung von Herrschaft ist im Höfischen üblicherweise in der Form der Aventiure durch den Kampfesdienst für eine vrouwe gestaltet, bei dem der Sieg auch zu weiterem Kampfeserfolg durch die Minnebeziehung führt – Ergebnis ist in der Regel die Aneignung von lîp und lant der vrouwe. Für die Gralsgesellschaft kommt dieses eigentlich höfisch konstitutive Konzept allein schon deshalb nicht in Frage, weil ansonsten ihre gesamte Ordnungsfunktion und soziale Konstruktion sinnlos werden würde: Für das Gralsrittertum bedeutet Handeln mit Gottesbezug, in Reserve für den göttlichen Entsendungsauftrag verweilen zu müssen, sich dem höfisch-ritterlichen Handeln, d. h. dem Minnedienst zu entziehen und den Kampf stattdessen auf verteidigende Maßnahmen Munsalvaesches zu beschränken. Der Begriff, den der Text für diesen Zustand verwendet, ist die kiusche, seine Opposition, der Verstoß gegen die gottgegebene Ordnung, ist damit die sünde. Diese (funktional) religiöse Dimension des Gralsrittertums erfährt Parzival auch dementsprechend von einer Figur des Textes, der aufgrund ihrer räumlichen und habituellen Verhältnisse die Möglichkeiten gegeben sind, auf die höfische Ordnung und ihren Umgang mit dem Religiösen zu reflektieren, und auf welche eine solch höfisch laientheologische Auslegung auch zumeist ausgelagert ist: Es ist wieder Trevrizent, der ihm, als er von seiner ritterlichen Herkunft spricht, von seinen eigenen sünden berichtet (über daz gebot ich mich bewac/ daz ich nâch minnen dienstes pflac 495,13f.), womit er zugleich aber auch sehr spezifische Aussagen über die religiösen Wertekriterien am Gralshof trifft. Seine sünde, die er, wie ihm außerhalb des Hofes reflektierend bewusst geworden ist,157 als Gralsritter begangen hat, besteht nämlich darin, dass er aus der Isolation Munsalvaesches herausgetreten ist und seine Kampfeskraft in den höfischen Minnedienst investiert hat (etswenne ich sündebaern gedanc/ gein der kiusche parrierte 458,08f.). Der ritterlich-höfische Minnedienst, der in der höfischen Welt und insbesondere am Artushof als hervorragende Kampfesmotivation gilt, wird in der Ausübung durch 155 156
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Pratelidis 1994. S. 170. Mit der Perspektivierung der Funktionalität der Gralsgesellschaft wird daher für eine Umkehrung derjenigen Blickrichtung plädiert, wie sie in der Forschung üblich ist. Vgl. hierzu stellvertretend Bumke 2004. S. 183: „Da das Liebesverbot eine Fortpflanzung der Gesellschaft unmöglich macht, ist ein kompliziertes Berufungssystem erfunden worden, um die Gesellschaft am Leben zu erhalten“. Mit dem Begriff ‚Bewusstsein‘ ist hier keine psychische Dimension gemeint, sondern eine handlungstheoretische: Die Kategorie sünde war zuvor nicht Teil seiner Wahrnehmung, egal ob er sie nicht sehen konnte oder einfach missachtet hat. Trevrizent sind zunächst auch keine eigentlichen Konsequenzen widerfahren, denn auch seine Buße zielt in erster Linie nicht auf sein eigenes Vergehen, sondern die Kasteiung erfolgt stellvertretend für Anfortas, den Kopf der Sippe.
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Gralsritter zur wilden verren rîterschaft (495,26), die sie von ihrem wandel, der Kampfeshaltung in höfischer ‚Identitätslosigkeit‘, dem strît für den Lohn im Himmel und der Ausübung ihrer Funktion abbringt und daher als sünde, also als Handlung wider die göttliche Ordnung, gewertet wird.158 Wie sich anhand seiner Reflexion erkennen lässt, liegt Trevrizents sünde als Gralsritter genau in dieser Verfehlung, also darin, dass er für eine frouwe anstatt für den Gral gekämpft (495,27–30) und daher keinen Handlungsbezug zur religiösen Funktion der Gralsritterschaft mehr erkennen lassen hat. Dieselben Wertekriterien von kiusche und sünde gelten überdies auch für den Gralskönig, wenngleich er als Einziger am Hofe heiraten und Nachkommen zeugen darf. Ansonsten ist dies dort nur denjenigen gestattet, die bereits als Herrscher von der gotes hant in höfischer Mission ausgesandt wurden: wan der künec sol haben eine ze rehte eine konen reine, unt ander die got hât gesant ze hêrrn in hêrrenlôsiu lant. (495,09–12)
Diese Differenz im Umgang mit der Minne zwischen dem Gralskönig und den übrigen Hofmitgliedern erklärt sich aus seiner Position als Herrscher sowie aus seiner spezifischen Funktion am Hof. Grundlage des Gralshofs ist gleich wie beim Artushof eine personal organisierte Herrschaftsform. In beiden Fällen herrscht eine hohe Fluktuation an den Höfen, am Artushof, weil Ritter zur Aventiurefahrt ausziehen, am Gralshof, weil seine Mitglieder sich dort nur für die begrenzte Zeit zwischen Berufung und Aussendung aufhalten. Die ruhende Konstante ist in beiden Fällen der König, ohne ihn als Fixpunkt der Agitation ist der Handlungsspielraum Hof letztendlich gar nicht denkbar.159 Wie Artus durch seine Person dem System Kampf im Dienst von Minne Zukunft verleiht, weil allgemein bekannt ist, dass sich bei ihm die höchst geachteten Mitglieder der höfischen Welt aufhalten und durch die Taten seiner Ritter die enorme Maschinerie der Ehrzirkulation angetrieben wird, so bürgt auch der Gralskönig mit seiner Person für Kontinuität in der Herrschaft, für die Zukunft des Systems. Aus der Perspektive auf funktionale Zusammenhänge zeigt sich hier nun erneut, dass es der eine von Gott bestimmte Sippenkörper ist, der mit seinem repräsentativen Herrscherleib als Zentrum die Funktion des Fortbestands des Gralshofs innehat, damit von diesem ruhenden Pol aus die Aktivität der Gralsgesellschaft im Auftrag Got-
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Die Wortbedeutung stützt diese Lesart noch zusätzlich, denn bei wandel geht es nicht nur um den neuhochdeutschen Begriff des Wandels im Sinne von Veränderung, sondern im mittelhochdeutschen Sprachgebrauch kommt auch eine rechtliche Konnotation im Sinne eines Ausgleichs, einer Wiedergutmachung, hinzu (vgl. Lexer 1976. „wandel“, S. 307). Man kann das somit als eine Art Vertragsbedingung zwischen dem Gral und seinen Hütern auffassen, die ja der ‚normalen‘ Wertschöpfungskette feudal-höfischen Rittertums enthoben sind. Vgl. hierzu auch die Überlegungen Luhmanns zur Ausdifferenzierung an einem Quasi-Objekt, die im Methodenkapitel dargestellt sind (Kapitel II: 2.).
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tes erfolgen kann. kiusche und sünde sind in Bezug auf den Gralskönig daher völlig anders definiert: Sie bedeuten zwar auch hier ‚Leben gemäß der göttlichen Regeln‘ oder ‚Verstoß gegen die Ordnung Gottes‘, allerdings ist diese Definition inhaltlich notwendig anders gefüllt. Der Gralskönig muss gerade aufgrund seiner Funktion heiraten und Nachkommen zeugen, aber es ist ihm als Repräsentanten eines durch höfische ‚Identitätslosigkeit‘ charakterisierten Hofes offenbar ebenso wenig wie der übrigen Gralsgesellschaft möglich, an dem die höfische Welt organisierenden Kampf durch Minnedienst teilzunehmen. Aus diesem Grund scheint ihm die vrouwe durch die göttliche Schrift auf dem Stein zugeteilt (478,13–16). Handeln, das als sünde gewertet wird, bedeutet in Bezug auf den Gralskönig wie seinen Hof damit: Ausübung konventioneller höfischer Minnepraxis. Daher ist auch der entscheidende Verstoß Anfortas’ gegen das göttliche Gebot, daz er gerte minne/ ûzerhalp der kiusche sinne (472,29f.),160 obwohl doch auch die Gralswelt grundsätzlich auf den Prämissen höfischer Gesellschaft beruht,161 in welcher gerade Minne als Wertschöpfungsprinzip besondere Bedeutung zukommt. Die Nicht-Erfüllung des göttlichen Auftrags wird am Gralshof dann religiös als Strafe Gottes lesbar, und so deutet Anfortas selbst, dass aufgrund seines Vergehens Gott ihn mit einem sichtbaren Zeichen für seinen Verstoß am Leib gebrandmarkt hat (Anfortas äußert Parzival gegenüber: daz mich got/ ame lîbe hât geletzet 239,26f.). Es zeigt sich überdies, dass der religiöse Aspekt der Gralsritterschaft (die kiusche) hier – wie es an vielen Stellen der Fall ist – auch auf der visuellen Ebene des Textes zum Ausdruck kommt: Das sichtbare Zeichen, das die kiusche der Gralshüter bildlich zur Anschauung bringt, ihre Isolation im Einsatz göttlicher Mission, die Bindung an Gott und das spezifische Minnekonzept des Gralshofs, nach welchem der Partner nur der eine bestimmte, von Gott zugeteilte sein kann, ist das Wappen der Herren von Munsalvaesche – die Turteltaube. Trevrizent erkennt diese an Parzivals Pferd und erzählt: sô stêt in dem stalle mîn den orsn ein ors gelîch gevar, diu dâ hoernt ans grâles schar. ame satel ein turteltûbe stêt: daz ors von Munsalvaesche gêt. diu wâpen gap in Anfortas, dô er der freuden hêrre was. ir schilte sint von alter sô: Tyturel si brâhte dô an sînen sun rois Frimutel: dar unde vlôs der degen snel
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Vgl. hierzu Kapitel IV: 1. So auch Bumke 2004. S. 182: „Die Gralsgesellschaft ist ebenso eine höfische Gesellschaft wie die Artusgesellschaft; beide stimmen in der materiellen Prachtentfaltung und im Kodex der Umgangsformen überein. Hier wie dort ist die nichtadelige Gesellschaft fast völlig ausgeblendet“.
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von einer tjoste ouch sînen lîp. der minnet sîn selbes wîp, daz nie von manne mêre wîp geminnet wart sô sêre; ich mein mit rehten triuwen. (474,02–17)
Das Wappentier der Herren von Munsalvaesche, die Taube, ist allgemeines Symbol des Heiligen Geistes, zahlreiche ikonographische Darstellungen zeigen ihn in dieser Gestalt.162 Als sein Zeichen ist sie zentraler Bezugspunkt aller Aussagen im Neuen Testament.163 In diesem Kontext ist der Verweis auf den Heiligen Geist als eindeutiger Verweis auf die Verbindung von Immanenz und Transzendenz zu verstehen, denn wie die Taube vom christlichen Gott gesandt auf die Erde niederkommt, so ist auch das Gralsvolk als Bindeglied zwischen dem Göttlichen und dem Irdischen dazu erkoren, Gottes Willen auf Erden zu erfüllen.164 Selbst ein genealogisches Prinzip lässt sich in der Wahl dieses Wappentieres identifizieren, denn der erste menschliche Hüter des Grals, Titurel, von dem das Wappen seitdem an die Linie der Gralskönige vererbt worden ist, hat mit der Taube ein Zeichen ausersehen, das sogar auf die vorigen Hüter des Grals verweist: Engel erscheinen in Legenden nämlich des Öfteren in der Gestalt einer Taube.165 Durch diese symbolische Anknüpfung an die überirdischen Wesen scheint der Status des Gralsvolks zwischen Immanenz und Transzendenz entsprechend deutlich markiert. Die Spezifikation der Vogelgattung (Taube im Allgemeinen speziell zur Turteltaube) gibt im Kontext christlicher Tierdeutung weiterhin entscheidenden Aufschluss über das Bedeutungsspektrum des Wappens von Munsalvaesche. In der Bibel gilt die Taube, insbesondere die Turteltaube, beispielsweise als besonders reines Opfertier, sie steht nach Jesu Geburt für die Reinheit und Sanftmut der Jungfrau Maria (Luk. 2,24).166 Die Assoziation der gottgegebenen kiusche, welche das Gralsvolk auszeichnet und für beide Geschlechter, meide und rîter gilt,167 liegt dabei nicht sonderlich fern, wenngleich es sicherlich nicht eigentlich um ‚sexuelle Jungfräulichkeit‘ gehen kann, sondern vielmehr um die exklusiv 162
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Vgl. Seibert 2002. „Taube“, S. 302: „Bei der Taufe Christi schwebt der Heilige Geist Gottes ‚wie eine Taube‘ von Gottvater zu Christus herab. Deshalb wird der Heilige Geist auch meistens in Gestalt einer Taube dargestellt“. Vgl. Kittel 1957. S. 104. Beziehungsweise ist der Wille Gottes systemtheoretisch als dasjenige Konstrukt des Höfischen zu verstehen, das sich um seine immanent unlösbaren Probleme kümmert. Vgl. Lipffert 1976. „Taube“, S. 44. Ebd. Trevrizent berichtet Parzival über die pflege des Grals im Sinne der kiusche: … ‚es suln meide pflegn (des hât sich got gein im bewegn), des grâls, dem si dâ dienden für. der grâl ist mit hôher kür. sô suln sîn rîter hüeten mit kiuscheclîchen güeten.‘ (493,19–24)
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durch Gott geregelten Ehen, die sich als die entscheidenden Bedeutungsträger des Konzepts Gralshof gerieren. Der Physiologus berichtet über die Turteltaube zudem: „Der Physiologus hat von der Turteltaube gesagt, daß diese ein-ehig ist und ganz einsiedlerisch, und wohnt in der Wüste darum, daß sie nicht liebt mitten im Gewühl der Leute zu sein. […] Die Turteltaube liebt es, in die Einsamkeit zu gehen; und die edelsten Diener Christi sollen es lieben, in die Einsamkeit zu gehen“.168 Das Wappentier erzählt also von der religiös begründeten Isolation des Gralsvolks in direkter Verknüpfung mit einem spezifisch monogamen Ehekonzept, was zusammengenommen als Verweis auf die konkrete Funktion des Gralsvolks lesbar wird. Denn gerade die göttliche Zuweisung eines bestimmten Partners in Kombination mit der durch die ‚Reservehaltung‘ bedingten Identitätslosigkeit der Gralsgesellschaft im Wald ist das eigentliche Kennzeichen ihres religiösen Dienstes an der höfischen Welt. Auch die folgende Beschreibung des Physiologus von der Turteltaube erweist sich hinsichtlich der Funktion des Gralshofs für das Höfische als ein bildlicher Ausdruck des höfisch laientheologischen Konzepts und der dementsprechend durch Gott geregelten Ehe als überaus aussagekräftig: „Der Physiologus sagt von der Turteltaube, sie sei gar geschwätzig. Wenn sie aber verwitwet, so stirbt sie im Gedanken an den Heimgegangenen mit und verbindet sich keinem anderen mehr. Dieser Vogel ist dem Herrn Christus zu vergleichen. Denn dieser ist für uns die geschwätzige geistliche Turteltaube, das wahrhaft liebliche Vögelein, das mit den Verkündigungen seiner frohen Botschaft alles, was unter dem Himmel liegt, zum Klingen gebracht hat. So wie auch die Braut selbst, das ist die Kirche alle Völker, ihr zuruft: Laß mich schauen dein Antlitz, laß deine Stimme mich hören, denn deine Stimme ist süß und dein Antlitz ist voll Anmut“.169 Der Terminus des „Geschwätzigen“ der Turteltaube wird im Kontext der sich am Gralshof befindlichen Gesellschaft als jenes Merkmal lesbar, das dieses Volk aufgrund der wunder des Grals auszeichnet: Ihm ist das Wort des Herrn inkorporiert, es ist analog zu Christus als fleischgewordenes Wort Gottes definiert. Indem die Mitglieder des Gralshofs seinen Willen erfüllen, bringen sie sein Wort in die Welt und verkünden seine frohe Botschaft (die darin besteht, höfischer Herrschaft Kontinuität und Zukunft zu verleihen). In diesem Zusammenhang bringt ein hermeneutisch deutender Blick in den Physiologus außerdem noch etwas anderes, überaus Bemerkenswertes zum Vorschein: Die Braut Christi, die Kirche aller Völker selbst, hört ebenso auf die Stimme der Turteltaube. Stimme und Antlitz der Turteltaube haben für sie, aufgrund der Analogie zu Christus, einen offenbarenden Charakter. Damit ist das Zeichen dann natürlich auch machtpolitisch unglaublich mit Bedeutung aufgeladen: Es heißt wohl den Bogen der Interpretation nicht überspannen, wenn die als Wappenzeichen getragene Turteltaube als eine offenkundige Unterordnung der Institution Kirche gelesen wird. In diesem feu168 169
Der Physiologus 2005. „Von der Turteltaube“, S. 41. Ebd. S. 42.
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dal-adlig höfischen Kontext ist das Gralsvolk sehr viel näher bei Gott als die Kirche, es ist Heilsbringer und Verkünder froher Botschaft, auf welche auch die Kirche zu hören hat. Ein Papst oder eine kirchentheologische Zwei-Welten-Lehre170 scheint in der religiösen Ideologie des Parzival deshalb keinen Platz zu haben, die Bewohner Munsalvaesches sind das Bindeglied zwischen Immanenz und Transzendenz, die Erfüllung des göttlichen Willens auf Erden, was die Kirche als Heilsvermittler außer Kraft setzt.171 Einige der gralsweltlichen Züge (ihre Mischung aus weltlicher und mönchischer Ordnung, wenn man so will) erinnern in Kombination mit den Namen, die im Text für diese Gesellschaft stehen, auch an die religiösen Ritterorden des Hochmittelalters. Die Kämpfer Munsalvaesches werden als rîterlichiu bruoderschaft (vgl. 470,19) und sehr häufig als templeisen (insbesondere im IX. und im XVI. Buch wie z. B. 444,23 und 792,21) bezeichnet, was die Zeitgenossen sicherlich auch an die Templer (oder auch: Pauperes commilitones Christi templique Salomonici Hierosalemitanis), die Partizipierenden des im Zuge der Kreuzzüge entstandenen und nach dem Tempel Salomons in Jerusalem benannten religiösen Ritterordens, denken ließ.172 Auch diese Organisation versuchte schließlich in gewisser Weise die Ideologie adliger Ritterschaft mit dem Religiösen zu ver-
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Der grundsätzliche Gedanke zweier zentraler Höfe erinnert natürlich trotzdem an die Zwei-Reiche-Lehre des Augustinus, insbesondere weil die Civitas Dei auch Engel als Mitglieder aufweist, was sich ebenso gut auf den Gralshof beziehen lässt (Vgl. zu Augustinus’ Lehre und ihrer Rezeption Angenendt 1997. S. 308–311). Durch die Ausklammerung der kirchlichen Institution grenzt sich weltliche Herrschaft jedoch nun nicht nur vom corpus diaboli ab, sondern das im Text entworfene Gottesbild fasst Höfisch-Weltliches und Göttlich-Transzendentes in einer Art zusammen, die beides äußerst eng miteinander verknüpft, so dass ein weiterer Mittler wie die Kirche auch gar keinen Platz finden würde. Und andererseits kann man kaum behaupten, dass Artushof und Gralshof, deren beider Basis das Höfisch-Ritterliche ist, sich in Civitas Dei und terrena civitas oder civitas diaboli klar trennen lassen. Vgl. hierzu im Anschluss auch Blank, der diesen Gedanken jedoch nicht textimmanent und funktional entwickelt, sondern in erster Linie über die Vorstellung einer Verknüpfung von Ost und West um 1200 in einer ganzheitlich höfisch-ritterlichen Kultur denkt: Blank 1989b. S. 340f.: „Diese monarchische Herrschaftsstruktur mit dem damit verbundenen Selbstbewußtsein und der absoluten Machtkompetenz des jeweiligen Amtsinhabers [gemeint ist hier: des Gralskönigs] aber war genau jener Punkt, der im 12. Jh. ständiger Anlaß zur Kollision der Ansprüche von Kaiser bzw. Papst war. Als Konsequenz dieser negativen Erfahrung entwickelt Wolfram nun eine Vorstellung, die beide Mächte in Einklang bringen sollte. Die einzige Kraft aber, die dies in der Situation der Wende zum 13. Jh. überhaupt noch leisten konnte, war der Glaube […]. Als Konsequenz präsentiert Wolfram mit seinem Gral ein hierokratisches, aber nicht kirchlich institutionalisiertes Herrschaftsmodell“. Vgl. Bumke 2004. S. 183; sowie Ernst 2000, dessen Interesse allerdings darin besteht, Wolfram im Kontext häretischer Strömungen der Zeit zu deuten: Hier S. 390f.: „Zunächst sei auf den ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach verwiesen, der Motive enthält, die manchen streng-kirchlichen Auffassungen der Zeit widerstreben. [… Der] Name ‚templeisen‘ verweist auf die Templer, deren Orden zu Beginn des 14. Jahrhunderts in einem spektakulären Ketzerprozeß zerschlagen wird“.
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einen.173 Trotzdem finden sich auch wesentliche Differenzen zwischen dem im Parzival gezeichneten Gralshof und den historischen Ritterorden. Frauen, die auf Munsalvaesche ebenso eine entscheidende Rolle wie die Männer spielen, waren bei den Templern beispielsweise gar nicht vorgesehen. Und auch die Raumkonzeption gestaltet sich völlig anders: Während für die Templer der heilige Ort Jerusalem und damit ein auch geographisch verortbarer Raum war, ist Munsalvaesche durch eine spezifische Nicht-Verortbarkeit gekennzeichnet. Ganz grundsätzlich ist auch der Gralshof im Wesentlichen als Teil der feudal-höfischen Gesellschaft beschreibbar; Wertmaßstäbe und Normen sind, insbesondere aus dem Blickwinkel der Funktionalität, eindeutig Bestandteil höfischer Kultur. Bumke schreibt hierzu: „Die Gralgesellschaft ist durchaus eine höfische Gesellschaft mit dem ganzen materiellen Luxus, mit dem zeremoniellen Stil der gesellschaftlichen Umgangsformen und mit denselben Leitvorstellungen höfisch-ritterlicher Vollkommenheit wie am Artushof. Von der Artusgesellschaft unterschieden ist die Gralgesellschaft durch den Umstand, daß es in Munsalvaesche kein Auseinanderklaffen zwischen Welt und Gott gibt, daß hier ritterliches Leben und höfische Form in unmittelbarer Übereinstimmung mit Gottes Willen möglich ist“.174 Während die Annahme einer höfischen Basis beider Gesellschaften überaus plausibel ist, scheint der zweite von Bumke hier formulierte Punkt fraglich. Das Problem liegt dabei in einer hierarchischen Wertungsperspektive, die den Gralshof, wenngleich auch nicht widerspruchsfrei, trotz allem aber als utopisch höherwertiges Ideal begreift.175 Der utopische Charakter der Gralsburg ist auch aus einer funktionalen Sichtweise nicht zu leugnen. Allerdings liegt er hierbei nicht allein in der direkten Bindung an Gott, er liegt vor allem nicht in seiner prinzipiellen Religiosität, sondern in der Möglichkeit Probleme und Paradoxien des Höfischen durch den Eingriff Gottes in die Welt lösbar zu machen. Das Religiöse, das im Parzival beschrieben wird, ist demzufolge zwar grundsätzlich christlich orientiert, aber die Erzählung klammert kirchentheologische Muster und Deutungen sehr bewusst aus (als Gegenbeispiel hierzu wäre wohl der etwa zeitgleich zu Chrétiens Perceval entstandene Roman Estoire dou Graal Robert Borons zu nennen) und setzt an deren Stelle, wie die Ergebnisse dieser Arbeit gezeigt haben, eine adlighöfische Laientheologie, deren Ausgangspunkt und Ziel zugleich immer die Gesellschaftsorganisation feudal-adlig höfischer Kultur bleibt. Der Artushof als prominente und dominierende Ausformung des Höfischen scheint auf den ersten Blick im Parzival an den Rand gerückt, bei näherer Betrachtung profitiert er je173
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Vgl. hierzu Bumke 1982. S. 73: „Wie die Ordensritter haben sich die Templeisen dem religiös motivierten Kampf geweiht und sind zu Keuschheit und Gehorsam verpflichtet. Auch in den Ritterorden hat es, ebenso wie in Munsalvaesche, keine hierarchische Stufungen unter den Brüdern gegeben“. Ebd. Vgl. hierzu auch Bumke 2004. S. 183: „Das Ganze liest sich wie eine Gesellschaftsutopie: der Entwurf einer neuen, besseren Gesellschaft, in der der Gegensatz zwischen Diesseits und Jenseits aufgehoben ist“.
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doch zum einen von der religiösen Ausformung des Gralshofs und zum anderen macht ihn die funktionale Zuständigkeit nicht prinzipiell areligiös, geschweige denn minderwertig und durch ein „bloß weltliches Streben“ bestimmt, wie es insbesondere auch an dem enormen Gottesvertrauen des wohl berühmtesten Ritters an Artus Tafelrunde offenbar wird: Gawan.176 Damit, dass Religiosität dem Artushof nicht grundsätzlich ab- und dem Gralshof nicht exklusiv zugesprochen werden kann, hängt letztlich auch das Problem zusammen, kiusche zu definieren. Nach der Erörterung der Funktionen des Gralshofs kann nun also zur Frage nach der Semantisierung des Unterschieds, der zur Gralshüterschaft und pflege befähigt und von der restlichen höfischen Welt trennt, zurückgekommen werden: Was bedeutet kiusche für das Erzählen von den Gralshütern im Parzival? kiusche ist notwendig, um die spezifische ‚Reservehaltung‘, die Ausklammerung von der höfischen Welt für die höfische Welt im Auftrag Gottes einnehmen zu können. Nach den bisherigen Ergebnissen ist deutlich geworden, dass schwerlich gesagt werden kann, kiusche sei dies oder sei das. Klar ist nur, dass sie weitgehend nicht mit mönchischer Keuschheit im Sinne sexueller Enthaltsamkeit zu Ehren Gottes konform geht, denn Ziel und Zweck ihres Daseins bleibt die Zeugung legitimer Nachkommenschaft im Dienste der höfischen Welt. Gleichzeitig hat die Analyse der Funktionen des Grals aber auch gezeigt, dass sich solche nicht eindeutig bestimmbaren, sich der Definition entziehenden Semantisierungen gerade an solchen Stellen finden, wo der Mechanismus des religiösen Codes greift, sprich eine Bindegliedsemantisierung vorliegt, die sowohl Teil der höfischen als auch einer auf Gott ausgerichteten religiösen Ordnung ist und welche daher die Auslagerung an die Transzendenz erlaubt. Vor diesem Hintergrund möchte ich daher vorschlagen, kiusche folgendermaßen zu interpretieren und gleichzeitig zu problematisieren: Das Dilemma einer eindeutigen Grenzziehung zwischen Immanenz und Transzendenz ist es, die Grenze zwischen dem einsehbaren Raum und dem unverfügbaren, dem unmarked space, zu benennen, sie festzuschreiben. Denn sobald diese Grenze bestimmt ist, bleibt ihre Funktion als solche nicht mehr richtig wirksam, weil dann kaum mehr von unverfügbar/unbekannt gesprochen werden kann; durch die Benennung rückt das ausgelagerte Andere sehr nah an das Eigene bzw. das Transzendente an das Immanente heran. Solange es sich wie beim Parzival um einen Text handelt, der nicht dogmatisch innerhalb einer religiösen Ordnung operiert, sondern von der Immanenz des Höfischen heraus beschreibend verfährt und auf diese Weise den höfischen Umgang mit der Religion zur Beobachtung ausstellt, darf die Grenze, damit sie im Sinne 176
Auf die Gottesbeziehungen von Figuren, genauer der Helden Gawan und Parzival, werde ich ansatzweise noch im folgenden Kapitel (3.3.) zu sprechen kommen. Diese ist in der Forschung bereits von Schu größtenteils überzeugend diskutiert und dargestellt worden (Schu 2002. S. 351–355). Die Figurenperspektive wird in dieser Arbeit vor allem deshalb ausgeblendet, weil zum einen hierzu bereits entsprechende Forschungen vorliegen und zum anderen möchte ich mich, um die Darstellung auch nicht allzu sehr ausufern zu lassen, mit der Fragestellung weitgehend auf die den Text organisierenden Erzählstrukturen beschränken.
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der Auslagerung des religiösen Codes überhaupt funktionieren kann, daher immer nur schemenhaft gezeichnet sein. Es bedarf nach dieser Logik offenkundig einer gewissen Ungewissheit, gleichsam jenes Raumes, in dem auch Glauben angesiedelt ist. Aus diesem Grund ist auch kiusche als diejenige Semantisierung, welche die Immanenz mit der Transzendenz in Verbindung setzt und ihre Grenze markiert, nicht eigentlich benennbar. Hinreichend beschreiben lässt sie sich daher nicht durch die Frage nach ihrem Wesen, mit der Frage ‚Was ist kiusche?‘, sondern erst durch die Untersuchung dessen, was ihre Funktion als Unterscheidungsmerkmal zu leisten vermag und wie sie als Bindegliedsemantisierung Erzählen organisiert, lässt sich annähernd darstellen, was kiusche im Parzival eigentlich meint und wie sie zu den Möglichkeiten des Erzählens vom Gral beiträgt. Somit scheint deutlich, dass kiusche einerseits in einer eindeutigen Semantik gar nicht fassbar sein darf und darüber hinaus, dass Aussagen über ihre Definition grundsätzlich relativ sind: In dieser Weise trägt die multiperspektivische Erzählform des Parzival nämlich dazu bei, dass der religiöse Code überhaupt wirksam werden kann177 – andernfalls würde schließlich auch die Gefahr bestehen, dass am Ende gar Gott selbst verhandelbar wird.178 Zusammenfassend lässt sich formulieren, dass eine prinzipielle Unterscheidung zwischen Artus- und Gralshof, wenn man sie als solche zu beschreiben sucht, (lediglich) durch eine funktionale Ausdifferenzierung des Höfischen bedingt ist und dass das, was die Gralsgesellschaft als andersgeartet (kiusche) erscheinen lässt, insbesondere in den Komplexen Minne, Kampf und Herrschaft augenfällig wird. Trotzdem ist auch wiederum die spezifische Unbestimmtheit der kiusche relativierbar: Denn es geht dabei ja um eine auf einen bestimmten Werthorizont bezogene und diesen stabilisierende Form von Verzicht bzw. besser, weil weniger wertend formuliert: um eine in diesem Verzicht und nur in ihm aufgehobene Handlungsoption, die es, wie sich gerade an der Verfehlung Anfortas’ zeigt, unbedingt zu berücksichtigen gilt.
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Die Relativierung von Aussagen und das Aufzeigen von Begrenztheiten gilt dabei nicht allein für die Figurenebene wie beispielsweise die Aussagen Trevrizents, sondern auch die Erzählinstanz fügt sich nahtlos in diese Reihe ein. Zur Multiperspektivität des Parzival und seinem erzählerischen Verfahren, Deutungen zur Beobachtung auszustellen, vgl. auch Schu 2002; hier S. 324: „Die dargestellten Welten lösen sich aus einer garantierten Verankerung in einen Werthorizont, treten miteinander in einen dialogischen Kontakt, dessen Resultat die Auflösung eindeutiger Wertungsmaßstäbe ist. Wenn aber Figuren, Handlungen und Situationen als verschieden wertbar wahrgenommen und reflektiert werden, so wird dadurch die Kontingenz der Deutung von Wirklichkeit ausgestellt: Keine Wertung kann die Hegemonie für sich reklamieren, unterschiedliche Perspektiven sind möglich und vertretbar, damit erweist sich aber die je einzelne Weltsicht als kontingent“. Und das scheint einem mittelalterlichen Text kaum angemessen.
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3. Die Dekonstruktion der Utopie Der Blick auf gesellschaftsorganisierende Funktionen in der höfischen Welt darf nicht darüber hinweg täuschen, dass sowohl Artus- als auch Gralshof von der Erzählung nicht in einem paradiesischen Idealzustand vorgestellt sind und vielmehr beide als erlösungsbedürftig gelten.179 In keiner der beiden Gesellschaften funktionieren soziale Ordnungskriterien reibungslos, die vreude ist als Ausdruck des höfischen Idealzustandes prinzipiell bedroht oder teilweise dem Hof gar ganz verloren gegangen, was sich insbesondere als Ergebnis der Diskrepanzen von Ideologie und Umsetzung zentraler artus- und gralshöfischer Normsetzungen begreifen lässt.180 In diesem Kontext lässt sich nun auch formulieren, dass Regelwidrigkeiten und Verstöße gegen Normen in beiden Gesellschaften dazu führen können, dass ihre gesamtgesellschaftliche Aufgabe nicht erfüllt wird und die Konzeption der Höfe somit an Funktionalität einbüßt. Es lässt sich darstellen, wie das Konstruktionen einsehbar machende Erzählen, anstatt Problemhorizonte einzudämmen und zu glätten, statt dessen immer wieder Brüche produziert, perspektivierende Spiegelungen vornimmt und dem Text auf diese Weise seine hohe Komplexität und die ihm eigene Welthaftigkeit des Erzählens verleiht – ein gewisser experimenteller Charakter ist dem Erzählen des Parzival hierbei kaum abzusprechen.181 Um diesen spezifischen Erzählcharakter und seine Verbindung mit dem Religiösen herauszuarbeiten sowie um zeigen zu können, dass diesem Text daran gelegen ist, Beobachtungsmöglichkeiten offenzulegen und wahrnehmbar zu machen, soll im Folgenden vor allem die religionsspezifische Verschränkung der Erzählhorizonte von Artushof und Gralshof als Wirken Gottes in der höfischen Welt fokussiert werden. Anhand der Beispiele Gurnemanz und Ither ist Gottes Wirken in der höfischen Welt nicht nur auf struktureller Ebene beschreibbar, sondern es scheint zudem auch kritisch reflektiert zu werden. Daraufhin wird eine konstruktionsorientierte Analyse des spiegelbildlichen Erzählens von Erlösung in Parzivals und Gawans Schlüssel-Aventiuren eine dementsprechende Relektüre des Erzählens von wundern erlauben. Aus der Perspektive religiöser Erzählmuster im Parzival führt diese vor Augen, dass der Text durch eine derart gestaltete Erzählweise, anstatt die eröffneten Sinndimensionen einzugrenzen, letztendlich sogar noch weitere aufzuschließen vermag. 179
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Damit ist in erster Linie die Deformation beider Gesellschaften gemeint, die durch Parzival und Gawan, die bedingt auch als die Repräsentanten der beiden Höfe fungieren, in deren jeweiligen ‚Schlüssel-Aventuiren‘ behoben wird. Es zeigt sich, dass ein Vergleich Stärken und Schwächen in beiden Modellen aufzeigt. Schu formuliert im Hinblick auf gesellschaftliche Wertekategorien hierzu, dass „bei beiden Gesellschaften eine Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit vorhanden [ist], wobei die Stärken der einen die Schwächen der anderen Gesellschaft offenbaren. Die Verdoppelung der gesellschaftlichen Bezugsräume dient also auch in diesem Fall der Relativierung und Entidealisierung; eine positive Utopie zeichnet sich nicht ab …“ (Schu 2002. S. 390). Auf die Art und Weise, wie der Text Welthaftigkeit erzeugt, werde ich später noch zu sprechen kommen.
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3.1. Dysfunktionalität und Scheitern von Normen – Paradoxien des Höfischen und die Absenz Gottes am Beispiel der Figur des Gurnemanz Der Blick auf die Topoi sozialer Norm- und Wertesetzung des Artushofs zeigt, dass Minne als hohes Gut des Artushofs fungiert, das auch nicht selten der Konfliktlösung und der gesellschaftlichen Expansion des Hofes durch Integration dient, wie es sich beispielsweise äußerst anschaulich in der Joflanze-Handlung demonstriert findet.182 Gleichwohl birgt die höfische Verknüpfung von Minne, Kampf und Herrschaft, die im artushöfischen Wertekanon einen besonders hohen Stellenwert innehat, nicht nur gesellschaftskonstituierendes Potential, sondern ihr ist zugleich auch durchaus Destruktives inhärent: Die höfische Welt kennt nicht nur die vreude, sie erfährt ebenso „das bedrohliche Potential des Eros; Frauen aus ihrer Mitte werden entführt oder vergewaltigt, Artusritter sterben im Kampf um Minne“.183 Prominenteste Beispiele des Parzival für den ritterlichen Minnetod sind Ilinot, Artus’ eigener Sohn, und die Söhne des Artusritters und Parzivals höfischem Lehrer Gurnemanz: Schenteflurs, Lascoyt und Gurzgri. Zusammen mit Parzival erfährt man von dessen artushöfischem Mentor, als dieser ihn in die Grundlagen feudal-adlig höfischen Rittertums einführt, auch von den Schattenseiten des ritterlichen Daseins. Expressis verbis formuliert Gurnemanz: sus lônt iedoch diu ritterschaft: ir zagel ist jâmerstricke haft. (177,25f.)
Übertragen liest sich dieses Bild folgendermaßen: Genau dort, wo die (männliche) Stärke der ritterschaft (ir zagel) ihren Sitz hat, ist auch der jâmer nie weit, er haftet der Stärke direkt an. Was Gurnemanz in diesem Bild darlegt, entfaltet somit eine Normparadoxie: Der positive Wert der höfischen Ritterschaft markiert zugleich auch ihre negative Seite. Für den hier Beobachtenden bedeutet dies Stagnation und Handlungsunfähigkeit, Gurnemanz formuliert es als Lähmung (177,27). Diese recht allgemein gehaltene Aussage spezifiziert er daraufhin noch in seiner Klagerede durch den Verlust seiner Söhne (177,28–178,23). Und nachdem Gurnemanz den unerfahrenen Parzival durch seine Ausbildung in das System höfischer Ritterschaft integriert hat und dieser schließlich zu erkennen gibt, dass er das Wesentliche der Selbstdefinition höfischer Gesellschaft, den Kampf im Minnedienst, zur eigenen Handlungsnorm erhoben hat,184 muss er nach eige182
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In dieser Episode wird das Integrationspotential des Artushofs überdeutlich: Gawan gelingt es, aufgrund von friedensstiftender minne den Konflikt von Gramoflanz und Orgeluse bzw. seiner Schwester Itonje zu lösen, überdies treiben die weiteren Eheschließungen von Lischoys und Cundrie sowie dem Turkoiten Florant und Sangive (730,01–10) die Integrationsmaschinerie Artushof zu Höchstleistungen an. Schu 2002. S. 371. Am Ende seiner Ausbildung bittet Parzival bezeichnenderweise darum (ganz wie er es gerade gelernt hat), im ritterlichen Kampf für Gurnemanz’ Tochter Liaze Minnedienst leisten zu dürfen:
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ner Aussage neben dem Tod seiner drei Söhne nun auch noch ein viertes Mal einen Verlust beklagen: des fürsten jâmers drîe was riwic an daz quater komn: die vierden flust het er genomn. (179,10–12)
Das Leid, das aus dieser Ritterschaft erwächst und das hier über die Figur des Gurnemanz einsehbar wird, ist die Kehrseite der Medaille von Kampf im Minnedienst und damit Teil des höfischen Systems, weshalb es dazu im Grunde auch keine Alternative gibt. Ausgerechnet Gurnemanz, der als bestqualifizierter Lehrer zur Einschulung in das höfische System gezeichnet ist, scheint ohnehin ein besonders gutes Beispiel dafür zu sein, Scheitern von Normen, Konsequenzen von Regelüberschreitungen im gesamtgesellschaftlich höfischen Zusammenhang, d. h. in der strukturellen Verschränkung von Artus- und Gralshof, zu thematisieren. Über eine entsprechend dekonstruktivistische Lektüre lässt sich schließlich auch die hier zu untersuchende Dysfunktionalität anhand textimmanenter höfischer Normen und Werte entsprechend veranschaulichen. Als dekonstruktivistische Lektüre verstehe ich hier, die spezifische Funktionalität für den gesamten Text ernst zu nehmen – und zwar auch entgegen dem Handlungsgang (also in Form eines ‚gegen den Strich Lesens‘), denn freilich spielt der Gralshof in der Gurnemanz-Episode eigentlich noch gar keine Rolle. Es soll hier aber dezidiert um strukturelle Analogien gehen, welche der Text in der Verschränkung des Erzählens von Artus- und Gralshof als Deutungshorizont auf der Handlungsebene erst sehr viel später aufmacht. Aber auch hier ist es wieder einmal die visuelle Ebene des Erzählens, die bereits spezifische Beobachtungen ermöglicht, die von der Handlung erst zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt wieder aufgenommen werden. Doch zunächst zurück zu Normen und Werten: Ein entscheidender Ordnungsfaktor des Höfischen ist der Erwerb von êre im ritterlichen Zweikampf. Er ist selbstreferentielles Element des höfischen Systems, denn êre mehrt sich in der höfischen Praxis durch den Auszug eines Ritters auf Aventiure, in der er üblicherweise siegreich aus einem Zweikampf hervorgeht. Um die êre des Hofes selbst als Bezugsgesellschaft zu mehren, ist der Besiegte wiederum dort zu integrieren. Das gilt im Parzival zwar vor allem für den Artushof, dieser ist zugleich aber als Deutungsfolie an allen erzählten Höfen des Textes präsent.185 Die prinzipielle Tötungsgefahr im Kampf kann dabei durch das Gebot von sicherheit zwar eingedämmt, aber dennoch nicht vollständig ausgeschlossen werden. Bumke beschreibt den höfischen Kampf im Parzival zu Recht als dementspre-
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bezal abr i’emer ritters prîs, sô daz ich wol mac minne gern, ir sult mich Lîâzen wern, iwerr tohter, der schoenen magt.(178,30–179,03) Einschlägig hierfür ist insbesondere das konzeptionelle Umkehrprinzip des Gralshofs.
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chend ambivalenten Komplex: „Wo der Kampf eine soziale Funktion hat, wo er dem Schutz oder der Befreiung unschuldig in Bedrängnis geratener Frauen dient, wird er nicht in Frage gestellt. […] Was den ritterlichen Kampf so problematisch macht, ist vor allem die Tötungsgefahr. Immer wieder wird im ‚Parzival‘ von Rittern erzählt, die im Kampf gefallen sind, was in vielen Fällen schlimme Folgen hat. Die ritterliche Gesellschaft versucht, der Tötungsgefahr durch ritualisierte Unterwerfungsformen (sicherheit nemen) entgegenzusteuern; die vielen Toten bezeugen jedoch, daß dieses Instrument nicht immer greift“.186 Dies lässt sich folgendermaßen abstrahieren und auf den Fall Gurnemanz übertragen: Wie eigentlich jede Setzung gesellschaftlicher Normen birgt auch der Erwerb von êre im Kampf als höfisches Konstitutiv notwendigerweise eine Paradoxie, welche sich bei der Umsetzung der Norm in Handlung gleichzeitig in höfischer vreude als auch in großem Leid und Klagen auszudrücken vermag. Üblicherweise ist das Auftreten einer Paradoxie auch durch das Folgen von Stagnation und gesellschaftlicher Handlungsunfähigkeit gekennzeichnet. Deshalb scheint der Ort, an dem dieses spezifisch höfische Paradoxon zur Anschauung gelangen kann, auch nicht ganz irrelevant: Gurnemanz, der ein solches Paradoxon eben am eigenen Leib auszutragen hat, befindet sich selbst nicht mehr am Artushof, sondern die Figur hat ihr Dasein außerhalb, jenseits der Tafelrunde in Graharz, zu fristen – denn eine im Kern aufbrechende Normparadoxie wie die gleichzeitige Aktualisierung von vreude und leit würde die Operationsfähigkeit des Systems hemmen und gesellschaftliches Leben damit zum Erliegen bringen. Religion, welche die Funktion erfüllt, in solchen Fällen Handlungsfähigkeit zu erhalten, ist an dieser Stelle nicht im Spiel. Ebenso ist zu beobachten, dass die Erzählung dieser vom Hof ausgelagerten Figur auch keinen weiteren Handlungsspielraum zur Verfügung stellt. Sie scheint hier auf die Hilfestellung für den Protagonisten reduziert – das Gegenbeispiel dazu wäre eben die Figur des Trevrizent, deren Bedeutung sich zwar gleichfalls aus dem Rat für Parzival generiert, der aber gerade aufgrund der Zugehörigkeit zum Sippenverband der Gralsherrscher auch noch ein zweiter wichtiger Auftritt gewährt wird und dadurch eine spezifische Eigenständigkeit in der Erzählung erkennen lässt; Gurnemanz dagegen ist für die Handlungsentwicklung allein in Bezug auf Parzivals Weg und seine Ausbildung von Belang.187 Aber gerade weil Gurnemanz sich nicht am Artushof befindet und der Ordnung des Systems nicht vollständig unterworfen ist (also alleiniger Beobachter erster Ordnung ist), wird ihm eine Beobachtungsmöglichkeit auf die Bedingungen des Höfischen (das bedeutet: eine Beobachtung zweiter Ordnung) zuteil, welche es erlaubt, über die Widersprüche höfisch-ritterlichen Lebens zu reflektieren: Obwohl 186 187
Bumke 2004. S. 185. Gurnemanz’ Alter erscheint nämlich nicht als hinreichendes Argument für seine Ferne vom Artushof, denn die Anzahl der Jahre, welche die ritterlichen Figuren höfischer Erzählungen schultern, spielen ansonsten für das Ritterdasein auch keine wesentliche Rolle (im Parzival wird lediglich erwähnt, dass Gawan noch zu jung sei für das Turnier von Herzeloyde).
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er ganz und gar als repräsentativer Vertreter des Artushofs und seiner Werte agiert, weiß er eben sehr wohl auch um das Negative und kann es in einer paradoxen Form benennen. Der Blick auf systemimmanente Paradoxien wird im Text, so lässt sich hieraus schlussfolgern, offenkundig vornehmlich in Randbereichen höfischer Gesellschaft erlaubt, der hierfür entworfene Raum ist stets in ihrer Peripherie angesiedelt.188 Der Herr von Graharz entpuppt sich in dieser Weise als das artushöfische Äquivalent des Einsiedlers in seiner Klause. Was Gurnemanz speziell (insbesondere anders als eben Trevrizent), auf der Folie des utopischen Ideals transzendenten Wirkens in der höfischen Welt betrachtet, in seinem jâmer aber offensichtlich verwehrt bleibt, ist die Kontingenzformel Gott: Durch den Verlust seiner drei Söhne und Parzivals als potentiellem Schwiegersohn befindet sich der Herr von Graharz mit seiner Herrschaft in einer Situation, in der er nicht erwarten kann, dass sein Land einen Nachkommen seiner Linie erhält. Genau genommen befindet sich Gurnemanz in einer Situation, die gerade jene Funktion Gottes für die höfische Welt belangen würde, welche den Eingriff in Herrschaftsprobleme aus der Transzendenz mittels der Gralsgesellschaft regelt. Wie sich auf einer strukturellen Ebene zeigt, ist dieser Kontinuität gewährende Gott in Graharz jedoch offenkundig absent. Mit Parzival und dessen Vermählung mit Lîâze wäre zwar eine Möglichkeit gegeben, die bedrohte Herrschaft mit Nachkommen zu versorgen, aber erstens sieht gerade die göttliche Providenz Parzival an einem anderen Platz und zweitens wird Parzival, obwohl er dem Vater quasi ein Eheversprechen gegeben hat,189 das Mädchen Lîâze stattdessen in Condwiramurs wiedererkennen und diese heiraten,190 was der Inschrift auf dem Gral entsprechend ebenfalls der Wille Gottes ist. Parzivals Fortgang, der sich
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Insofern erscheint auch die Untersuchung der Sigune-Figur als überaus gewinnbringend, allerdings findet sich in dieser Arbeit kein Raum mehr dafür. Parzival gibt seinem Gastgeber nämlich folgendes Versprechen: ‚… bezal abr i’emer ritters prîs, sô daz ich wol mac minne gern, ir sult mich Lîâzen wern, iwerr tohter, der schoenen magt. ir habt mir alze vil geklagt: mag ich iu jâmer denne entsagen, des lâz ich iuch sô vil niht tragen.‘ (178,30–179,06) Worauf hierbei noch zurückzukommen sein wird, ist, dass Parzival in diesem Versprechen, auch wenn er Lîâze nicht heiraten wird, trotzdem keinen Eidbruch begeht. Denn als Gralskönig steht es ja dann tatsächlich in seiner Macht, Herrschaften, die zu verwaisen drohen, mit hervorragenden höfischen Rittern auszuhelfen. Bei Parzivals Ankunft in Pelrapeire heißt es: der gast gedâht, ich sage iu wie. ‚Lîâze ist dort, Lîâze ist hie. mir wil got sorge mâzen: nu sihe ich Lîâzen, des werden Gurnemanzes kint.‘ (188,01–05)
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dementsprechend nahtlos in den Verlust seiner drei Söhne einreiht (Gurnemanz bezeichnet dies als die vierden flust), ist für seinen Mentor deshalb mehr als schmerzlich. Für seine Herrschaft scheint damit jede Hoffnung auf einen geeigneten Nachfolger verloren und so wünscht er sich im Angesicht solcher Trostlosigkeit nur mehr den Tod: ‚… nu sît ir alze fruo geriten von mir trôstelôsen man. ôwê daz ich niht sterben kan, sît Lîâz diu schoene magt und ouch mîn lant iu niht behagt …‘. (178,06–10)
Die Todessehnsucht, die aus seiner verlorenen Hoffnung, die er zuletzt in Parzival gesehen hatte, entsteht, ist zudem auch als ein Versuch Gurnemanz’ lesbar, das Eingreifen Gottes zu evozieren, der als Herr über Endlichkeit und Ewigkeit die einzige Instanz ist, die ihm noch als Hilfe bleibt. Er artikuliert hier zwar keine explizite Gottesanrufung, aber das Bild, das er für die Beschreibung seiner Lage entwirft, ist von einer religiösen Bedeutung geprägt. Er wünscht nämlich sein Herz in vier Teile zu zerteilen und an die verlorengegangenen Hoffnungsträger, seine Söhne (was Parzival aus seiner auf Genealogie ausgerichteten Sichtweise hier dezidiert miteinschließt), zu versenden: ‚ir sît mîn vierder sun verlorn. jâ wând ich ergetzet waere drîer jaemerlîchen maere. der wâren dennoch niht wan driu: der nu mîn herze envieriu mit sîner hende slüege und ieslîch stücke trüege, daz diuhte mich ein grôz gewin, einz für iuch (ir rîtet hin), diu driu vür mîniu werden kint diu ellenthaft erstorben sint …‘. (177,14–24)
Prinzipiell ist die Übergabe des Herzens, bekanntes Motiv aus Roman, Maerendichtung und insbesondere dem Minnesang,191 ein nicht unübliches Bild, bei dem das Organ vom Körper getrennt gedacht wird, „ohne dass damit irgendwelche Vorstellungen von Grausamkeit oder Brutalität verbunden wären. Im Gegenteil: Die Übereignung des Herzens erscheint als eine besonders kostbare Gabe, als Zeichen der Zuneigung“.192 Aber auch die Nähe des Liebestopos zur religiösen Metaphorik ist evident.193 Zwei Dinge erregen im Parzival gegenüber der sonstigen Darstellungskonvention allerdings besondere Aufmerksamkeit: Das eine ist, dass Gurnemanz’ Herz an seine toten Söhne (diu ellenthaft erstorben sint) geht, 191
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Hierbei ist beispielsweise an eines der Kreuzzugslieder Friedrich von Hausens, das Herzmaere oder Chrétiens Yvain zu denken. Vgl. Nellmann 2001. S. 423f. Ebd. S. 425. Angenendt 1997. S. 251.
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und das andere, dass es sich um ein geteiltes, in vier Stücke geschlagenes Herz (slüege: dies impliziert einen gewaltsamen Akt!) handelt. Beides scheint hier darauf hinzuweisen, dass das von Gurnemanz gezeichnete Bild in der Interpretation der Herzensübergabe als ein inniges Zeichen von Zuwendung nicht vollständig aufgeht.194 Auch in der laikalen Glaubenswelt des Mittelalters spielt das Herz, unter anderem auch als Sitz der Wohnstatt Gottes, eine prominente Rolle, seine Ausdeutungen sind zahlreich: „Dabei wiederholen sich die für den Leib geltenden Metaphern, als sei das Herz der Mensch selbst. So gibt es Glieder und Organe des Herzens, Augen und Ohren wie ebenso Hände und Füße“.195 Im Kontext dieses Pars-pro-Toto-Gedankens erstaunt nun aber die Zerteilung des Herzens, denn gerade die Ganzheit und Unversehrtheit ist in der Vorstellung von materieller Kontinuität für die mittelalterliche Glaubenspraxis eigentlich ganz besonders von Belang.196 Dass Gurnemanz sein Herz post mortem seinen nicht mehr lebenden Nachfolgern überlässt, kann dementsprechend im Zusammenhang eines Leib und Land verbindenden Kontinuitätsgedankens, mit dem zugleich das Fortleben des Herrschaftskörpers bezeichnet wird, innerhalb einer höfisch-laikalen Glaubenspraxis folgendermaßen gedeutet werden: Innerhalb dieses Bildes ist die Zerstückelung des Herzens als Zersplitterung seines Herrschaftsraumes lesbar, also als jene Situation, die von jedem sippenorganisierten Herrschaftsverband gefürchtet wird und in welcher im Grunde nur mehr Gott (im Parzival: mittels Gralshof) Abhilfe schaffen kann.197 Aber in Gurnemanz’ Fall findet eben kein rettendes Eingreifen Gottes statt. Bildlicher Ausdruck dafür ist sein in Stücke geschlagenes Herz, das mit jedem Teil, der einem seiner toten Söhne zugedacht ist, die Hoffnung auf den Fortbestand seines Herrschaftskörpers zu Grabe trägt. Sieht man das Herz hier auch als Wohnstatt Gottes, so wird der Raum, in dem Gott mit seiner Hilfe ansetzen könnte, fortwährend kleiner. Hier fungiert das religiös konnotierte Bild also nicht als Zeichen von Überwindung des Todes mittels genealogischer Herrschaftsideologie, sondern es zeigt die Zerstörung des Leibes in Verbindung mit dem zugehörigen Land an und das bedeutet: die Zerstörung der von 194
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So z. B. Nellmann, wenngleich er die Zerstückelung des Herzens und Übergabe an die Toten als Konkretisierung des Bildes, zumindest jedoch als „befremdende Kühnheit“ Wolframs ansieht (Nellmann 2001. S. 425). Angenendt 1997. S. 249. Dieser Aspekt wurde von Walker Bynum als bindendes Glied zwischen theologischen Debatten und der Volksfrömmigkeit im Mittelalter herausgearbeitet. Vgl. hierzu: „Die Annahme, daß materielle Kontinuität eine notwendige Voraussetzung der Identität sei, durchdringt die gesamte mittelalterliche Kultur; daher ist das Thema des Verhältnisses zwischen Teil und Ganzem so fundamental. Auch im Verhalten des gewöhnlichen Volks im Mittelalter ist die Beschäftigung mit der materiellen Kontinuität, mit Vergänglichkeit, Teilung und Wiederzusammenfügung der Körper zu entdecken. Die Vorstellung, daß der stoffliche Leib, den wir in diesem Leben haben, ein integraler Bestandteil der Person sei und das Ereignis, das wir Tod nennen, kein radikaler Bruch, spiegelt sich in Legenden, Volkssagen und selbst in der ‚Wissenschaft‘ wider“ (Walker Bynum 1996. S. 250). Hierfür sei auch auf Kapitel IV: 1.2. zurück verwiesen.
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Gott gegebenen Herrschaft. Zudem, ideologisch daran anknüpfend, ist die Zerteilung des Herzens sowie gerade seine Übergabe an die Toten auch als Symbol von Gurnemanz’ Identitätsverlust lesbar: Mit der Zerstörung der materiellen Basis zerspringt nämlich seine herrschaftliche Identität noch auf eine weitere Art: Sein Todeswunsch (ôwê daz ich niht sterben kan) kann auch als Ausdruck der leiblichen Repräsentationspflicht seiner Herrschaft verstanden werden, denn er selbst ist ja noch am Leben, während er den Verlust zu tragen hat, der ihn, weil ihm die Nachkommen fehlen, den Zerfall seiner Herrschaft unweigerlich kommen sehen lässt. Aus einer genealogischen Perspektive erscheint der Herrschaftskörper seiner Linie als paradox: zugleich schon tot und noch am Leben. Durch den Verlust jeglicher Nachkommenschaft wird er in dieser Logik ähnlich wie Titurel zum Repräsentanten einer ge- bzw. hier: zerstörten Herrschaft, zum Signifikanten ohne Signifikat. Doch die Kontingenzformel Gott bleibt Gurnemanz und Gurnemanz’ eigener Geschichte, anders als dem Gralsgeschlecht, als helfende Hand verwehrt. Der Verlust des vierten Herzensstücks, der ihn in Form von Parzival ereilt, ist dabei ein Verlust an Hoffnung und doch wieder keiner. Natürlich wird der Held nicht sein Schwiegersohn werden, dennoch gilt es aus der Retroperspektive festzuhalten, dass Parzival als Gralskönig Repräsentant jener im göttlichen Auftrag herrschaftsrestaurierenden Funktion Munsalvaesches ist. Auf dessen Erlöserrolle bezogen, verweist der Umstand, dass Gurnemanz hier auf der Strecke bleibt, der überdies fingerdeutend als ein überaus vorbildhafter Artusritter inszeniert wird, nicht allein auf den grundsätzlichen Problemhorizont von dynastisch organisierter Herrschaft, sondern das Nicht-Eingreifen Gottes in Gurnemanz’ Situation zeigt überdies auch die zu diesem Zeitpunkt gegenwärtige Dysfunktionalität des Gralshofs an. Denn der Kontext von dezidiert personal organisierter Herrschaft evoziert, dass aufgrund Anfortas’ Handeln wider Gottes Gesetz der Gralshof in seiner Funktion zum Erliegen gekommen ist – sichtbares Zeichen der Störung und einer allgemeinen gesellschaftlichen Stagnation ist die fehlende höfische vreude198 –; der Umstand, dass das höfische Leben auf Munsalvaesche komplett eingefroren ist,199 hat unter dem Gesichtspunkt von Funktionalität sehr viel weit198
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Diesen Zusammenhang von Störung und fehlender höfischer vreude sieht auch Bumke: „Das Leiden des Gralkönigs – eine von Gott verhängte Sündenstrafe – hat Auswirkungen auf die ganze Gesellschaft. Die höfische vreude ist verstummt; Trauer und die Sorge um den kranken König, verbunden mit Erlösungshoffnungen, bestimmen das Leben auf der Gralburg. Geschildert wird eine durch die Sünde des Königs deformierte Gesellschaft, die auf Erlösung wartet“ (Bumke 2004. S. 183). Der jâmer bringt auf der Gralsburg eigentlich alles Höfische zum erliegen, was besonders gut anhand der nicht-stattfindenden Turniere illustriert ist. Als Parzival in die Burg einreitet, sieht er, dass der Boden schon seit langem unangetastet sein muss: In die burc der küene reit, ûf einen hof wît unde breit. durch schimpf er niht zetretet was (dâ stuont al kurz grüene gras: dâ was bûhurdiern vermiten),
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reichendere Folgen, als man sie nur auf den Gralshof beschränkt sehen könnte. Als utopisches Ideal der Vermittlung zwischen Transzendenz und Immanenz ist der Gralshof an dieser Stelle dekonstruiert, sein helfender Eingriff ist außer Kraft gesetzt, denn Gottes Reglement lässt Scheitern zu und dies erfolgt auch dementsprechend (oft). Für das Erzählen vom Gral bedeutet der Fall Gurnemanz außerdem, dass mit dem vierten Stück seines Herzens die letzte Hoffnung auf den Protagonisten übertragen wird.200 Der Fokus scheint auf Erlösung kanalisiert: Denn im Sinne der Chronologie, der zeitlichen Abfolge der Erzählung, ist zu diesem Zeitpunkt der Geschichte von Parzival weder der Figur selbst noch dem Rezipienten bewusst, dass der Held am Ende Gralskönig sein und für die Lösung solcher Probleme, wie sie Gurnemanz betreffen, zuständig sein wird. Und so ist es erneut die bildliche Ebene der Erzählung, auf welcher der vierte Herzensteil an Parzival geht, die entgegen der chronologischen Abfolge der Geschichte einen überzeitlichen Bezug zum Religiösen herstellt, der das Eingreifen Gottes mittels der Figur des Helden kennzeichnet. Anhand des Beispiels Gurnemanz scheint im Text nachhaltig markiert, dass in der Beziehung des Höfischen zu Gott schwerlich von zwei grundsätzlich getrennten Welten, einer prinzipiellen Unabhängigkeit von Artushof und Gralshof, gesprochen werden kann, sondern es zeigt sich gerade auch am Scheitern von Funktionalität, dass der reflexive Blick auf transzendentes Wirken in der Immanenz im Parzival immer wieder dazu auffordert, die beiden Gesellschaften notwendigerweise miteinander in Beziehung zu setzen.
3.2. Exkurs: wunder am Artushof oder der Konflikt mit Ither – Erzählen von Paradoxien artushöfischer Normsetzung, der Funktion göttlichen Wirkens und der sünde Besonders anschaulich treten Paradoxien im höfischen Komplex von Minne, Kampf und Herrschaft auf der Ebene der Wertsetzungen und der damit verbundenen Möglichkeit/Notwendigkeit göttlichen Eingreifens in der Szene des Textes zutage, in welcher der Artushof in die Erzählung eingeführt wird: im Konflikt mit Ither. Für die Darstellung entsprechender Normen und Werte der beiden Höfe sowie hinsichtlich einer dekonstruktivistischen Lektüre ist diese Szene deshalb so gut geeignet, weil sie sowohl ein Zusammenspiel als auch Differenzen zeigt.
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mit baniern selten überriten, alsô der anger z’Abenberc. selten froelîchiu werc was dâ gefrümt ze langer stunt: in was wol herzen jâmer kunt. (227,07–16) D. h. Parzival, der seiner Abstammung nach bezeichnenderweise auch beiden Welten zugehörig ist. Trotzdem bleibt auch nach der Erlösung der Gralsgesellschaft ein Schatten auf dieser letztendlichen Wendung zum Positiven, weil Gurnemanz im Folgenden eben kein Teil der Erzählung mehr sein wird.
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Es geht dabei um eine gezielt strukturelle Gegenüberstellung der erzählten Höfe, denn folgt man dem Gang der Handlung, so existiert der Gralshof als Deutungsfolie zu diesem Zeitpunkt der Geschichte ja erst schemenhaft; dementsprechend erhält auch hier der funktionale Aspekt und der durch das Paradoxe gekennzeichnete Ansatzpunkt von Religion entscheidende Relevanz. Um diesen aufschlussversprechenden Konnex und seine Parameter angemessen erklären zu können, muss in der folgenden Darstellung etwas ausgeholt und exkursartig vorgegangen werden. Kennzeichnend für den Artushof des Parzival ist, dass er gegenüber anderen höfischen Romanen noch deutlich an Komplexität gewinnt. Wenngleich er auch hier wesentlicher Bezugspunkt von höfischer Gesellschaft und ritterlichen Handlungsmaximen bleibt, so lässt er sich jedoch kaum als Idealhof beschreiben, der durch Vorbildhaftigkeit besticht.201 Der Artushof wird bei seinem Eintritt in die Handlung viel eher in einem krisenhaften Zustand vorgestellt. Er scheint dabei von vornherein von solch grundsätzlich verschiedenen Interessen und Problemen überlagert, die alle nicht vom Ideal aufgefangen werden können, dass seine eigenen Handlungsmöglichkeiten erschöpft sind und sein gesellschaftliches Leben stagniert. Das Problem, das den Artushof hier in die lähmende Krise geführt hat, ist aus einem in der Ausführung missglückten Rechtsakt entstanden, bei dem Ither von Gaheviez, Verwandter Artus’ und Mitglied der Tafelrunde, der Königin Ginover Wein in den Schoß gegossen hat. Bevor Parzival zum ersten Mal beim Artushof einkehrt, trifft er auf Ither, den Roten Ritter, der kampfbereit außerhalb des Hofes auf Artus’ Ritter wartet. Der schildert ihm das Geschehene folgendermaßen: ‚… ich reit für tavelrunder, mîns landes ich mich underwant: disen koph mîn ungefüegiu hant ûf zucte, daz der wîn vergôz froun Ginovêrn in ir schôz. underwinden mich daz lêrte. ob ich schoube umbe kêrte, sô wurde ruozec mir mîn vel …‘ (146,20–27)
Seiner Ausführung verleiht er daraufhin noch Nachdruck mit den Worten: ‚… daz meit ich, […] ine hânz ouch niht durch roup getân: des hât mîn krône mich erlân. friunt, nu sage der künegîn, 201
Fraglich bleibt ja, ob diese Idealität des Artushofs sich überhaupt in irgendeinem höfischen Text vollständig eingelöst findet, oder ob nicht der Umstand, dass der Artushof beständig in die Krise geführt wird, mit der er dann entsprechend umgehen kann, oder eben auch nicht, zu seiner intertextuellen Konzeption gehört. Sicherlich lässt sich hierbei eher von unterschiedlichen Graden an Komplexität sprechen, mit welchen die jeweilige Krise zu beschreiben ist, als von mehr oder minder eingelöster Idealität.
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ich begüzzes ân den willen mîn, aldâ die werden sâzen, die rehter wer vergâzen. ez sîn künge od fürsten, wes lânt se ir wirt erdürsten? wan holent sim hie sîn goltvaz? ir sneller prîs wirt anders laz.‘ (146,28–147,08)
An der Pointierung in Ithers Beschreibung des Dilemmas zeigt sich, dass seine Forderung von erbeschaft ze Bertâne ûfez lant (145,14) nicht das eigentliche Problem darstellt, sondern zum Konflikt führt vielmehr, dass die im Kreise der Tafelrunde öffentliche Beschmutzung der Königin als eine Herausforderung von Artus lesbar wird, welche notwendigerweise eine kämpferische Auseinandersetzung zwischen Ither und Artus oder einem seiner Ritter als Stellvertreter erforderlich macht. Doch keiner der künge od fürsten an Artus’ Tafel hat sich bereit erklärt, gegen den Roten Ritter anzutreten. Es ist eine lähmende Situation am Hof eingetreten, da all die Edlen rehter wer vergâzen und die artushöfische Zirkulation von êre zum Erliegen gekommen ist: ir sneller prîs wirt anders laz. Dass Ither Ginover ohne Absicht beschmutzt hat (ân den willen mîn), spielt in einer durch ritualisiertes Handeln bestimmten Gesellschaft wie der artushöfischen dabei keine Rolle.202 202
So auch Wittmann 2007. S. 37: „Der Körper der Königin ist in seiner friedlichen Festlichkeit und Prachtentfaltung gestört, unabhängig von der Intention des Schädigers. Das feudale Bewußtsein abstrahiert hier nicht, Ither kann lediglich durch offenen Kampf für seine Handlungen einstehen“. In der Forschung ist das Gewicht der Erbschaftsansprüche Ithers in diesem Konflikt unterschiedlich gesehen worden. Die meisten Interpretationen stimmen mit den beiden einschlägigen Übersetzungen überein, welche die Forderung Ithers (erbeschaft ze Bertâne ûfez lant) als Erbschaftsansprüche auf das Herrschaftsgebiet von König Artus verstehen. Knecht übersetzt die Verse 145,13f. mit: „Und der Held hatte Anspruch erhoben auf die Herrschaft im Land Bertâne, er sei der rechte Erbe“ (Knecht 2003. S. 148). Ebenso legt Spiewok hier einen Erbschaftsstreit als Deutung nahe: „und der Held erhob Erbschaftsansprüche auf die Bretagne“ (Spiewok 1981. S. 249). Als Beispiel für einschlägige Interpretationen, die dieser Lesart folgen, sei hier stellvertretend genannt: Pratelidis 1994. S. 197. Eine andere Lesart wird dagegen von Wittmann vorgeschlagen, die ze Bertâne als „in der Bretagne“ deutet, was in der Konsequenz schließlich heißt, dass Ither eigentlich keine territorialen Ansprüche auf Artus’ topisches Herrschaftsgebiet, die Bretagne, stellt, sondern, dass es sich bei seiner Forderung lediglich um einen ritualisierten Rechtsakt handelt, der als solcher sogar den „affirmativen Status des Artushofes verdeutlicht“ (Wittmann 2007. S. 34. FN 11). Der Artushof zeigt sich in diesem Rechtsakt somit in der höchsten (Rechts-)Position auf Erden, denn er ist augenfällig dazu imstande, Land als Lehen an Vasallen vergeben zu können. Will man nun eine eindeutige Entscheidung für eine Lesart nun nicht allein von der Übersetzung zweier Verse abhängig machen, so bleibt nur der Blick auf den Kontext. Und dort zeigt sich, wie bereits auch anhand von Ithers Formulierung festgestellt werden konnte, dass der Artushof im Parzival zwar sehr wohl auch mit der zusätzlichen Dimension eines ‚typischen‘ landesherrschaftlichen Hofes und mit dessen ‚typischen‘ Problemen ausgestattet ist, dass zugleich aber Ithers erbrechtliche (im ersten Fall des Erbanspruchs auf Artus’ Land wohl enorme) Forderung an keiner Stelle des Textes weiter problematisiert wird. Selbst wenn seine Forderungen ausdrücklich gegenüber Artus als dem Territorialherrn formuliert sind, so zeigt sich doch, dass
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Das Entscheidende, woraus die lähmende Situation des Artushofs bezüglich der Herausforderung Ithers entsteht, ergibt sich aus der Überdetermination seiner Handlungsträger, die verschiedene Normen, Funktionen und Anforderung allesamt gleichzeitig erfüllen müssen, so dass höfisches Handeln letztendlich nur noch in Paradoxien erfolgen kann. Das lässt sich dabei sowohl auf die am Konflikt beteiligten Figuren des Hofes (Ither, Artus, Ginover, Keye, Parzival und die gesamte Ritterschaft des Hofes) als auch in gewisser Weise auf den Artushof selbst als höfischem Handlungsraum beziehen. Denn das Charakteristische dieses Raumes ist ja eigentlich die Friedlichkeit am Hof: Gewalt findet außerhalb, auf den Aventiurefahrten der Ritter, statt. Am Hof gibt es dagegen nur Ehre, was gerade durch die Anwesenheit von frouwen gewährleistet wird, deren Körper als Zeichen des friedfertigen Umgangs am Hof fungieren. Ithers ungestümer Griff nach dem Pokal, bei dem seine ungevüegiu hant/ ûf zucte, schädigt den die Friedlichkeit am Hof garantierenden Körper der Königin genau in seinem Zentrum, an Artus’ Tafelrunde.203 Gewalt bricht in seiner Mitte aus und es finden sich keine verfügbaren höfisch-ritualisierten Umgangsformen oder Möglichkeiten der Auslagerung mehr, um sie zu kanalisieren. Der Artushof als Raum, der normalerweise dazu ausersehen ist, Schädigungen zu reparieren, wird so selbst zum beschädigten Raum, dem letztlich nur noch durch das Eingreifen ‚von außen‘ geholfen werden kann.204 Der Artushof in seinem krisenhaft stagnativen Zustand
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diese Ansprüche nirgends auf ihre Legitimität hin befragt werden. Im Gegenteil, in Ginovers Klage über Ithers Tod, in der sie ihn allein mit Lobpreisungen bedenkt, wird deutlich, dass seine Erbansprüche vom Hof nicht wirklich als prekär wahrgenommen worden sind: ‚… sîns erbeteils er gerte, dâ man in sterbens werte. er was doch mässenîe alhie alsô daz dechein ôre nie dehein sîn untât vernam. …‘ (160,09–13) Der Artushof interessiert sich also offenkundig nur bedingt für solche Fragen. Aufgrund der Kontextualisierung ist im Falle einer Entscheidung für eine der beiden Interpretationsweisen von Ithers Erbschaftsansprüchen schließlich der Lesart Wittmanns zuzustimmen, nach welcher die Wegnahme des Pokals von König Artus’ Tafel als eine Geste der Lehensforderung zu verstehen ist. Sie schreibt: „ … Ither ergreift nicht zufällig einen Becher von der Tafel des Königs: Er nimmt damit einen Teil von dessen Besitz an sich, dessen Konnotation im Kontext eines Zeremoniells friedlicher Hierarchiebestätigung, des gemeinsamen Mahles, liegt …“ (Wittmann 2007. S. 35). Als Beispiel eines Angriffs ‚von außen‘ auf den Artushof lässt sich der Geiselschlag im Erec anführen, den das magedîn bzw. auch Erec stellvertretend für die Königin in Empfang nimmt. Erec und Ginover befinden sich zu diesem Zeitpunkt darüber hinaus auch selbst nicht am Hof, das topische Aventiureprogramm kann ungestört ablaufen. Ebenfalls als Beispiel aus dem Erec ist hier der geschädigte Hof von Brandigan zu nennen, dessen vreude allein durch das Eingreifen des Artushofs ‚von außen‘ wiederhergestellt werden kann. Im Parzival verfügt der Artushof zudem auch über die Möglichkeit, beschädigte Ritteridentitäten wie z. B. Clamides, der sich bei seiner Art des Minnedienstes gegen die frouwe vergangen hat, durch Integration zu rehabilitieren. Doch auch diese besondere Fähigkeit des Artushofs, ehemalige Aggressoren wieder hoffähig zu machen, kann im Falle Ithers ebenso wenig wirksam werden.
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hat seine Handlungsfähigkeit verloren: Er kann sich selbst nicht heilen. Ebenso wie die Raumstruktur durch die enorme Komplexitätssteigerung Handlungsmöglichkeiten des Artushofs und vor allem auch deren Grenzen vorführt, so lässt sich auch hinsichtlich der am Konflikt beteiligten Figuren von solch einer Überdetermination sprechen. Aus der Betrachtung der Figurenkonstellation am Artushof ergibt sich folgende ‚experimentelle Anordnung‘ des Textes: Ither erscheint in dieser Szenerie als vollkommen widersprüchliche Figur. Zum einen wird er als vorbildlicher Artus- und Minneritter dargestellt. Er ist sogar ein Verwandter des Königs Artus, der von Ginover in ihrer Klage über seinen Tod mit allen lobpreisenden Attributen höfischer Ritterlichkeit bedacht wird, wobei sie insbesondere seine großartigen Leistungen im Dienste der frouwen rühmt.205 Zum anderen ist er aber der Aggressor, der mit seinem die höfische zuht verletzenden Verhalten einen gewaltsamen Übergriff gerade auf den die Friedfertigkeit des Hofes repräsentierenden Körper der Königin kommuniziert: Um sich selbst nicht zu beschmutzen, wählt er anstatt der Sitte, einen nach unten gehaltenen Strohwisch anzuzünden (ob ich schoube umbe kêrte,/ sô wurde ruozec mir mîn vel), den symbolischen Griff nach dem Weinpokal auf der Tafel des Königs. Mit der Beschmutzung der Königin hat Ither damit aber zugleich eine symbolische Rechtshandlung vollzogen, die genau für diejenige gewaltsame Art der Aneignung von Herrschaft steht, die mit der Normsetzung höfischen Minnediensts am Artushof zu negieren gesucht wird.206 Diese ungestüme Aneignung beraubt in ihrer unhöfischen Umsetzung letztlich nicht durch den von Ither befürchteten Schmutz seinen Körper der Hoffähigkeit, dafür aber den der Königin, womit Ither, sinnbildlich gesprochen, dem Zentrum des Artushofs die hövescheit nimmt. Er ist damit zugleich der feindliche Herausforderer des Artushofs,207 was ansonsten in der Artusliteratur gewöhnlich auf
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Die Königin beschreibt ihn mit nahezu all den wesentlichen Merkmalen, die das höfische Rittertum kennzeichnen: ‚… er was vor wildem valsche zam: der was vil gar von im geschabn. nu muoz ich alze fruo begrabn ein slôz ob dem prîse. sîn herze an zühten wîse, obem slôze ein hantveste, riet im benamn daz beste, swâ man nâch wîbes minne mit ellenthaftem sinne solt erzeigen mannes triuwe. …‘ (160,14–23) Vgl. hierzu Lienert 2002. S. 224: „Liebe und Gewalt hängen – in Frauendienst und Werbung qua Turnier oder Liebeskrieg, in der pervertierten Form der Vergewaltigung und in der metaphorischen Verquickung von Kampf und Erotik – fundamental zusammen“. Und das gilt insbesondere für das spezifische Konzept der Herrschaftsaneignung im Parzival. Hier stellt das feindlich Fremde damit das Gegenkonzept zur Verwandtschaft mit dem König dar.
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zwei Rollen verteilt ist.208 Deshalb stehen dem Hof in diesem Fall auch keine Handlungsmöglichkeiten mehr zur Verfügung; es entsteht eine Normparadoxie: Artusritter kämpfen nicht gegen Artusritter, aber wenn sie es in diesem Falle nicht tun, bleibt der Hof in seinem Kern beschädigt. Im Text dementsprechend widersprüchlich formuliert, bringt Ithers Leben dem Artushof kumber und trûren ein (150,06–10) und ebenso sein Tod (160,24f.). Insofern lässt sich die Figur Ither auch als der Katalysator bezeichnen, der eine durch die artushöfische Normsetzung entstandene paradoxe Spannung lediglich zum Ausbruch bringt.209 Zugleich ist mit dieser durch die Überlagerung von widersprüchlichen Rollen bestimmten Figur das Paradoxe aber auch an den Artushof selbst zurückgespielt. Denn aufgrund dieses Figurenkonzepts, das mit Ither am Hof vorliegt, zerbricht auch Artus selbst als Figur, wie Ginover in ihrer Klagerede deutlich formuliert: ‚… Artûss werdekeit enzwei sol brechen noch diz wunder, der ob der tavelrunder den hoehsten prîs solde tragn, daz der vor Nantes lît erslagn. …‘ (160,04–08)
Ither wird hier als wunder bezeichnet, womit eine Semantisierung aufgerufen ist, die nach den bisherigen Ergebnissen bezeichnend ist für das Unverfügbare, für Religion prinzipiell anschlussfähige Bindegliedsemantisierungen und hier für einen paradox gekennzeichneten Körper genutzt wird. Der aus Ginovers höfischer Wahrnehmung (einer Beobachterperspektive erster Ordnung) notwendig paradoxe Widerspruch, dass ausgerechnet derjenige Artusritter, der ob der tavelrunder/ den hoehsten prîs solde tragn, nun vor Nantes lît erslagn und zwar im Auftrag des Artushofs, macht Ither zum für das Höfische Unverfügbaren schlechthin – macht ihn als Figur des Artushofs zum wunder, an dem Artûss werdekeit enzwei brechen muss. Tatsächlich lässt sich dahin gehend beobachten, dass die Figur des Artus als gelähmt erscheint, da in der Konfrontation mit Ither beide Handlungsmöglichkeiten, den Kampf gegen den Herausforderer aus den eigenen Reihen aufzunehmen oder nicht, Ehrverlust und Schaden an der identitätsstiftenden werdekeit bedeuten. Artus erscheint in diesem Konflikt gespalten, wobei die beiden Teile seiner Identität sich nicht etwa in einem Inneren der Figur befinden, vielmehr finden sie sich, gemäß dem Paradigma des Mittelalters als einer ‚Kultur der Sichtbarkeit‘, zwar als mit ihm verbundene Körper, aber dennoch außerhalb seiner selbst visualisiert: Das Paradoxon, das Artus in zwei Teile spaltet, entfaltet sich in den Figuren Ginover und Keye, die jeweils für eine Seite seiner geteilten werdekeit stehen. Die Königin Ginover vertritt Artus’ werdekeit in erster Linie hinsichtlich eines höfischen Minnekonzepts. Sie verkörpert das Ideale des Artushofs, sie ist das 208 209
Bezeichnendes Beispiel hierfür ist der Raub der Königin in Hartmanns Iwein. In der Forschung ist diese Bedrohung in erster Linie als Kritik am Artushof verstanden worden; so z. B. Brall 1983b. S. 215; und ebenso Schu 2002. S. 259.
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Zentrum der hövescheit. Ither ist auch darüber, dass er ihr Wein in den Schoß gegossen hat, sehr viel mehr bekümmert als über seine erbrechtlichen Ansprüche. Aus Ginovers Rede nach seinem Tod erfährt man, dass sie ihn bedingungslos als hervorragenden Minneritter verehrt, indem sie Ither im Namen der wîbes minne (160,21) mit uneingeschränktem Ruhm auszeichnet: ‚… ein berendiu fruht al niuwe ist trûrens ûf diu wîp gesaet. ûz dîner wunden jâmer waet. […] du swendest wîplich lachen.‘ (160,24–30)
Ginover sieht Ither hier als substantiellen Teil gesellschaftskonstituierender höfischer Minnepraxis, weshalb sein Tod für sie letztlich das Schlimmste bedeutet: Das höfische Gut von wîplich lachen ist mit dem Verlust Ithers dahin und übrig bleibt als Zeichen der beschädigten hövescheit allein beständiges trûren am Hof und der jâmer der wîp. Ginover steht für das höfische Handeln mit dem Ziel höfischer vreude, mit dem landesherrscherlichen Konzept des Artushofs hat sie nichts zu tun. Daher erscheint es auch geradezu als bezeichnend, dass die Königin vor der Unterhaltung von Artus und Keye über Parzival, durch welchen schließlich wieder ein Handlungsspielraum für den Artushof erschlossen scheint, den Palas verlässt.210 Dementsprechend ist Ginovers Gegenpart Keye, der als Truchsess für eben jenen landesherrschaftlichen Aspekt steht. Er verfolgt Artus’ werdekeit in Bezug auf die Machtorganisation am Hof und sorgt dafür, dass der Hof als Herrschaftsverband funktionieren kann. Alle hövescheit, insbesondere die zentrale Rolle der frouwen am Hof und das Minnekonzept, ist seiner Perspektive fremd. Er geht in seiner Einseitigkeit sogar so weit, dass er eine frouwe in der Öffentlichkeit des Hofes mit Schlägen traktiert (151,21–30). Keye markiert somit die andere Seite von höfischer Herrschaftsorganisation, denn er begreift den höfischen Kampf hier innerhalb der feudalen Logik von Verschwendung des Körpers im Kampf. Er sieht ihn als eine Art Spiel, bei dem es letztlich nur darauf ankommt, dass sein Ausgang von Zuschauern beobachtbar und vor allem bewertbar ist; Ritterleben 210
do besah in ouch diu künegîn, ê si schiede von dem palas, dâ si dâ vor begozzen was. (149,02–04) In der Konsequenz heißt das auch, dass der Hof per se (wie aber eigentlich alles, was mit Wertsetzungen operiert) paradox, in Gegensätzen, aufgebaut ist (und was natürlich immer auch Zeichen von funktionaler Ausdifferenzierung ist, denn die Anforderungen der Umwelt sind dergestalt bereits in das System integriert: Es hält entsprechende Handlungsoptionen in Form von Handlungsrollen bereit). Das ist für sich genommen insofern auch nicht weiter problematisch, solange die den Hof konstituierenden Parts beieinander sind. Erst wenn eine einseitige Handlungsbetonung erfolgt, wird dieses Konstrukt zum Problem, dann bricht das paradoxe Potential der Konstruktion auf und wird zur wahrnehmbaren (für den Beobachter erster Ordnung nämlich erfahrbaren) Paradoxie.
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zu verlieren, gilt für ihn nichts, weshalb er gegenüber Artus auch ganz unverblümt dafür plädiert, den unerfahrenen Parzival zu Ither auf den plân zu schicken: ‚… lât in zuo zim ûf den plân. sol iemen bringen uns den kopf, hie helt diu geisel, dort der topf: lâtz kint in umbe trîben: sô lobt manz vor den wîben. ez muoz noch dicke bâgen und sölhe schanze wâgen. Ine sorge umb ir deweders lebn: man sol hunde umb ebers houbet gebn.‘ (150,14–22)
Der ritterliche strît wird in Keyes Darstellung zum kindlichen Kreiselspiel: In Parzival sieht er diu geisel, mit welcher Ither, den er als topf sieht, in der Weise angetrieben werden soll, dass manz vor den wîben lobt. Was er damit aussagt, lässt sich so interpretieren, dass die Seite des Höfischen aus seiner Sicht nur etwas für Kinder (Parzival bezeichnet er ja auch konkret als kint) und Frauen ist, und dass es ihm als Truchsess allein auf den Machterhalt ankommt. Aus der landesherrschaftlichen Perspektive bedeutet das, dass irgendjemand (iemen) den kopf aus Ithers Händen holen und ihn zurück auf Artus’ Tisch bringen muss. Damit wäre zum einen der Rechtsakt der Lehensvergabe rückgängig gemacht, zum anderen wäre vor allem der Angreifer des Machtverbandes als Krisenfaktor aus der artushöfischen Welt geschafft. Dass Ginover dann jedoch noch immer durch den verschütteten Wein als höfisch repräsentativer Körper des Hofes beschädigt wäre, braucht Keye innerhalb seiner Rollenlogik nicht weiter zu interessieren. Aus demselben Grund der Ablehnung von jeglicher hövescheit und ihren Regeln ist für ihn ebenso wenig von Belang, ob der ‚Einsatz‘ verspielt wird: Ine sorge umb ir deweders leben. Keye fungiert hier als das genaue Gegenbild Ginovers, denn für ihn ist ein Ritterleben nicht mehr wert als das eines Hundes, den man für die Jagd nach dem Eigentlichen benötigt; des ebers houbet bezeichnet in diesem Bild dementsprechend die Herrschaft und deren Machterhalt, die allein es zu bejagen gilt.211 Überdies unterscheidet er noch nicht einmal zwischen den Streitern, von denen immerhin einer sogar dem Artushof selbst zugehörig ist, der andere dagegen eine völlig unhöfisch bäuerliche Erscheinung aufweist und obendrein noch nicht einmal Erfahrung im ritterlichen Kampf besitzt. Parzivals unhöfische Erscheinung scheint für Keye jedoch wohl allein schon deshalb akzeptabel, weil er dergestalt ohne Bedenken für den Kampf gegen den Herausforderer aus den eigenen Reihen zu instrumentalisieren ist. Wofür Keye aus seiner begrenzten Sichtweise heraus plädiert, ist daher als eine pragmatische Lösung zu 211
Vgl. zu dieser Interpretation des Bildes auch die Lesart Wittmanns: „Der Artushof als Machtverband ist der Kontext für Keies Handeln und Sprechen, sein Hofamt dafür der hierarchische Ort. Der Verweis auf ebers houbet erhält so eine zusätzliche Lesemöglichkeit: Artus’ Königtum, die Erhaltung und Stabilisierung seiner Herrschaft ist oberste Verpflichtung, das Haupt genießt Vorrang gegenüber seinen Gliedern“ (Wittmann 2007. S. 41).
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verstehen, nach der Artus denjenigen auf den plân zu Ither schicken soll, der ohnehin zu diesem Kampf entschlossen ist – egal wie unhöfisch diese Begegnung dann aussehen mag. Bemerkenswert ist an dieser Versuchsanordnung des Textes zudem die entsprechend konzeptionell lesbare Raumstruktur, welche in der Begegnung Ithers und Parzivals zugleich auch die Ambivalenzen der Figuren widerspiegelt. Der Raum, in dem die beiden aufeinandertreffen, ist nämlich nicht der Hof selbst, nicht direkt Artus’ Tafelrunde, sondern er ist in der Auslagerung vom und in der gleichzeitigen Nähe zum Hof situiert: Die Bedrohung durch den Herausforderer aus den eigenen Reihen ist hier also ebenso durch die Raumkonzeption ausgedrückt. Es ist nicht der Wald oder die Wildnis als grundsätzliches Gegenstück zum höfisch definierten Raum, wo Ither auf seinen Gegner im Kampf in Wartestellung verharrt. Sondern es ist eine angrenzende Wiese, worauf die Tjost schließlich ausgefochten werden soll, und welche so beschrieben ist, dass sie stark an das höfische Turnierfeld erinnert, dessen Raumkonzept bekanntlich so ausgerichtet ist, dass Gewalt grundsätzlich vom Hof ausgelagert ist und zugleich aber, gewissermaßen in der Peripherie angesiedelt, als notwendig konstitutives Element höfischer Gesellschaft vom palas (154,06) aus beobachtbar bleibt: Parzival reitet zu Ither ûf einen plân niht ze breit:/ der stuont von bluomen lieht gemâl (144,18f.). Gerade der Begriff des plân gemahnt im Parzival nachhaltig an eine solche Turniervorstellung.212 Dass dieser plân in seiner Breite als ‚genau richtig‘ beschrieben ist, verweist wiederum auf die typisch höfische Konvention der mâze, welche höfische Angemessenheit zum Ausdruck bringt. Man könnte sich auch vorstellen, dass, gerade wenn der Kampfplatz nicht ze breit gerät, die Tjost in höfischer Manier vom friedlichen Bereich aus noch gut zu beobachten ist. Die Blumen auf dem plân verdeutlichen ebenfalls die Nähe zum Hof, denn sie fungieren hier offenkundig nicht als Kennzeichen von Wildnis, sondern sie erscheinen lieht gemâl, was die Vorstellung von Kunst impliziert und sie damit als Teil von kultivierter Natur ausweist. In diesem Grenzraum zwischen artushöfischer Friedlichkeit und dem gewaltdefinierten Außenraum, der Welt des Kampfes und der Aventiure, treffen die beiden ebenso widersprüchlich gestalteten Figuren Ither und Parzival als Austräger und Verkörperung der Krise des Artushofs aufeinander. Das spezifische Auseinanderfallen von Wahrnehmungs- und Handlungsmustern des Artushofs, die durch seinen mit größtmöglicher hövescheit ausgestatteten Herausforderer aus den eigenen Reihen paradox erscheinende Konfliktsituation des Hofes und auch speziell die daraus resultierende Zweiteilung König Artus’ werdekeit spiegelt sich nämlich nicht nur in der Überdetermination Ithers wider, sondern auch in demjenigen ‚Instrument‘ des Hofes, das als außenstehend wahrgenommen zur Konfliktlösung genutzt werden kann: in Parzival. Überdies lässt sich postulieren, dass es nicht zuletzt mit Parzivals außergewöhnlichem Erschei212
Der Begriff wird sehr häufig für den Turnierplatz verwendet. Vgl. hierzu insbesondere die Kämpfe Gahmurets vor Patelamunt und Kanvoleiz sowie Parzivals Zweikämpfe vor Pelrapeire.
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nungsbild zusammenhängt, dass gerade er zum Einsatz gegen Ither erkoren wird. Es scheint ihn für den Handlungseinsatz in dieser Konfliktsituation mit seiner widersprüchlichen Zeichenhaftigkeit sogar erst zu befähigen. Die Figur des Helden ist hier, wie sich zeigen lässt, gleichfalls Teil der experimentellen Anordnung des Textes, durch welche die operativen Möglichkeiten des Artushofs im Hinblick auf seine Normsetzung und eben auch seine Grenzen beobachtbar werden. Parzival erscheint deshalb als ein potentieller Handlungspartner des Hofes, weil er in eben solchen Paradoxien gezeichnet ist, wie sie auch den gesamten Konflikt markieren. Auch diese Figur zerfällt in widersprüchliche Konstituenzien, was sie jedoch aufgrund der Zeichenhaftigkeit ihres Körpers und ihres Benehmens für die relevanten Aspekte artushöfischer werdekeit, die Ginover in zwei gebrochen sieht, stets partiell und auf je unterschiedliche Weise anschlussfähig macht. Einerseits ist Parzival mit besonderer Schönheit und weiteren Verweisen auf ein hochadeliges Dasein versehen, andererseits ist sein Verhalten durch die isolierte Situation Soltanes und der mangelnden Sozialisation fernab jeder hövescheit gekennzeichnet, so dass der Schlag zum Artusritter zunächst einmal gar nicht in Frage kommen dürfte. Bevor der Protagonist um der Ritterschaft willen auszieht und sich auf den Weg zu Artus macht, hat ihn seine Mutter in der Hoffnung, er würde auf diese Weise niemals vom Stand der Ritterschaft akzeptiert werden, mit der schäbigen Kleidung eines ärmlichen Narren ausgestattet.213 So gekleidet ähnelt Parzival nun mehr einem Bauern denn einem höfischen Ritter. Auch sein Reittier ist diesem Bild entsprechend angepasst, denn von seiner Mutter erhält er ein ganz besonders schlechtes Pferd (126,23);214 ebenso ist sein Kampfgerät ein 213
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‚der liute vil bî spotte sint. tôren kleider sol mîn kint ob sîme liehten lîbe tragn. wirt er geroufet und geslagn, sô kumt er mir her wider wol.‘ (126,25–29) Gerade das Pferd, das als soziales Zeichen des Ritterstandes fungiert, und seine mangelhafte kämpferische Ausstattung markieren Parzival aus einer höfischen Beobachterperspektive als Gegenteil von dem, was sein glänzender lîp verspricht, nämlich als Bauern: sîn zoum der was pästîn, und harte kranc sîn phärdelîn: daz tet von strûchen manegen val. ouch was sîn satel über al unbeslagen mit niwen ledern. samît, härmîner vedern man dâ vil lützel an im siht. ern bedorfte der mantelsnüere niht: für suknî und für surkôt, dâ für nam er sîn gabylôt. (144,23–145,02) Zur Lesbarkeit des sozialen Stellenwerts durch die Nähe oder Ferne von Pferden und den symbolischen Umgang mit ihnen in der mittelalterlichen Literatur vgl. insb. Bennewitz 2002, die diesen Zusammenhang anhand von Enites Pferden im Erec differenziert darstellt. Vgl. zur konkreten Semantisierung Parzivals Ausstattung auch: Wittmann 2007. S. 43: „Der bastene Zaum
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besonders bäuerliches: Anstelle von Schwert und Lanze trägt Parzival sein gabylôt (128,12) bei sich. Auch Sitte und Benehmen lassen überhaupt nichts von höfischer zuht erkennen, wie auch von der Erzählinstanz mit einem Verweis auf die Erzieherfigur im Tristan angemerkt wird, worin der Protagonist ja gerade durch höfisches Verhalten und feine Sitte seine vornehme Herkunft zu erkennen gibt. Die Erzählinstanz kommentiert hier: in zôch nehein Curvenâl: er kunde kurtôsîe niht, als ungevarnem man geschiht. (144,20–22)
Obwohl Parzival keinen Lehrer wie Tristan hatte, der ihn in die Kunst der kurtôsîe hätte einführen können, wird er aber trotz allem aufgrund seiner leiblichen Erscheinung als der vornehmen Adelsgesellschaft am Artushofs ebenbürtig wahrgenommen. Bereits Hahn hat über dieses widersprüchliche Konstituens seines Leibes, das die Wahrnehmung dieser spezifisch paradoxen Figur des Helden am Artushof bestimmt, geschrieben: „Parzivals Schönheit steht von Anfang an in Opposition zu der ihn nach außen vorstellenden Kleidung; Wolfram motiviert immer neue bezugreiche Aspekte aus der Spannung zwischen Leib und Kleid. […] Doch ist seine Verkleidung nie Maske, listenreiche Täuschung wie im Spielmannsepos, vielmehr deutet sie immer auch ein Stück seines Wesens, das jedoch nirgends mit ihr identisch ist. Parzival ist der tumbe im Torengewand, zugleich aber der zu Höchstem Berufene …“.215 Differenziert man hierbei nun die Perspektiven der Wahrnehmenden, so lässt sich des Weiteren darstellen, dass die jeweiligen Figuren die offenkundige Widersprüchlichkeit Parzivals am Leibe getragener Identität hinsichtlich verschiedener Aspekte wahrnehmen und dabei spannenderweise stets dazu gezwungen sind, dieses Paradoxon auch als solches zu artikulieren. Immer wieder wird er trotz seines unhöfischen Habitus an der exzeptionellen Schönheit seines Leibes erkannt: zum einen von Karnahkarnanz, der ihm die höfische Ritterschaft erklärt und somit den Ritterschaftsaspekt seiner Identität markiert (ir mugt wol sîn von ritters art 123,11/ owî wan waer dîn schoene mîn! 124,18), zum anderen aber auch von Jeschute, die dazu gezwungen scheint, trotz seines völlig ungebührlichen Verhaltens ihr gegenüber und der nicht-vorhandenen hövescheit Parzivals zu gestehen,
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deutet hin auf einen Zustand der Rohheit, der unbehandelten Natur. […] Eine Schindmäre ist hier das ständisch inadäquate, situativ aber angemessene Reittier für einen derart Hochgeborenen ohne Bewusstsein der eigenen Standesidentität; ihr Straucheln und Fallen deutet voraus auf dasjenige Parzivals. […] Jeglicher Schmuck, der den Besitzer des Pferdes als Adligen ausweisen könnte, fehlt […]: Nicht der Mangel, die völlige Abwesenheit adlig-feudaler Attribute wird benannt, ein normativer Soll-Zustand dem unerhörten Ist-Zustand gegenübergestellt. […] Der fehlende Mantel kann also gelesen werden als Hinweis auf Parzivals Defizite hinsichtlich sozial sanktionierter Verhaltensweisen, seine Unkenntnis jeglicher Gruppenzusammenhänge und deren Regeln“. Hahn 1975. S. 217. Zur Verknüpfung von Schönheit als Zeichen von Adel und Beglaubigung des Höfischen vgl. auch Czerwinski 1989. S. 92.
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dass sie noch nie zuvor solch einen schönen Leib erblickt hat (ine gesach nie lîp sô wol getân 133,18). Jeschute betont somit den Minneanteil seines Leibes. Mit einer dezidiert ständischen Nuancierung wird dieses Erkennen von Parzivals Leib dann bei seiner Einkehr im Haus des Fischers auf seinem Weg zu Artus versehen. Auch dieser nimmt ihn zunächst in seiner außerordentlichen Schönheit wahr, wobei seine Worte auch deshalb so formelhaft beschwörend wirken, weil sie exakt dieselben wie Jeschutes sind (ine gesach nie lîp sô wol getân 143,12). Das Ständische, das hier zugleich mit dem Höfischen verwoben ist, spielt insbesondere in dem Moment eine entscheidende Rolle, als sich der Hausherr weigert, Parzival nach Nantes an König Artus’ Tafelrunde zu führen und seinen Gast stattdessen allein dort hin schickt. Er begründet seine Ablehnung von Parzivals Bitte um Begleitung nämlich damit, dass ein bäuerlicher Leib (was den des Sprechers miteinschließt) der dortigen Gesellschaft nicht angemessen sei: ‚wie wol mîn lîp daz bewart! diu mässenîe ist sölher art, genaeht ir immer vilân, daz waer vil sêre missetân.‘ (144,13–16)
Parzivals Kleidung und Ausstattung mag zwar auch der eines vilân entsprechen, jedoch trägt sein lîp zugleich auch die signifikanten Zeichen des höfischen Adels, welche, wie gezeigt, offenkundig nicht zu übersehen sind und daher auch in jeglicher das Höfische fokussierenden Kommunikation, in welche Parzival mit seinem paradoxen Erscheinungsbild gerät, aktualisiert und formuliert werden müssen. Besonders deutlich zeigt sich dies nun auch in Parzivals erster Begegnung mit Ither, der wie bereits Jeschute und der Fischer wider Erwarten auf Parzivals bäuerliche Kleidung überhaupt nicht reagiert und stattdessen seinen lîp preist: ‚gêret sî dîn süezer lîp: dich brâht zer werlde ein reine wîp. wol der muoter diu dich bar! ine gesach nie lîp sô wol gevar. du bist der wâren minne blic, ir schumphentiure und ir sic. vil wîbes freude an dir gesigt. der nâch dir jâmer swaere wigt.‘ (146,05–12)
Ithers Wahrnehmung von Parzival ist durch den Blick auf die Minnefähigkeit bestimmt, die höfischen Topoi reihen sich in seiner Beschreibung. Die süeze, minne und wîbes freude ist genau das, worauf der Minneritter hier zunächst reagiert. Was an Ithers Worten über Parzival allerdings ins Auge sticht, ist die abermalige Wiederholung von ine gesach nie lîp sô wol getân. Hier liegt eine Variante der bisher angewandten Formel vor, indem an die Stelle des getân der Terminus gevar tritt. Diese Änderung bringt zwar noch immer Parzivals außergewöhnliche Schönheit zum Ausdruck, geht aber bei genauerem Hinsehen in ihrer Bedeutung
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noch weit darüber hinaus: Sie legt einen Fokus auf die Farbe des Körpers, den hellen und glänzenden lîp Parzivals, der auch als Kennzeichen von Gottesnähe des Herrschaftsgeschlechts der Gralsherren fungiert. Diese Lesart wird vor allem dann plausibel, wenn man auch den genealogischen Bezug, den Ither mit dem Verweis auf die Mutter als ein reine wîp formuliert, miteinbezieht. Damit findet sich hier in der Kombination von Genealogie und dem Glanz des Körpers – an einer auf den ersten Blick wenig Aufmerksamkeit erregenden Stelle – bereits ein Verweis auf Parzivals genealogische Disposition, die ihn als Teil des herrschaftlichen Sippenkörpers des Gralsgeschlechts ausweist. Und auch hier manifestiert sich dieser Verweis, wie in der Titurel-Szene auf Munsalvaesche, erneut auf einer visuell inszenierenden Ebene des Textes. Dieser Bezug, der nicht zuletzt auch eine Verbindung zur göttlichen Prädestination Parzivals als Gralsherrscher herstellt, bleibt den Figuren und auch den Rezipienten aus einer chronologischen Perspektive zu diesem Zeitpunkt und als eindeutiges Signal verschlossen, für sie entfaltet sich der lîp des Helden als Paradoxon. Damit wird im Fokus auf die Erzählkonstruktionen des Textes zugleich auch deutlich, dass die doppelte Lesbarkeit der Bilder, ihre (mindestens) doppelte Bezüglichkeit, ein Prinzip aller Bestandteile der höfischen Textwelt darstellt und ihre Verschränkungen untereinander eigentlich nur eine logische Konsequenz der Möglichkeiten erzählter Weltwahrnehmung sind. Wer sich als Rezipient dabei an Gahmurets Abschiedsbrief an Belakane zurückerinnert, der weiß zwar um Parzivals Zugehörigkeit zur Mazadan-Sippe, die genealogische Verbindung zum Titurel-Geschlecht gibt aber nur eine religiöse Auslegung der Bildebene preis, weil sie die Verknüpfung und Bedeutung des lihten vel hervorbringt. Die Lesbarkeit dieser spezifischen Konnotation von Parzivals Leib scheint dabei, beim Gang durch den Text, schrittweise zuzunehmen. Wem sich die Erkenntnis als bildlicher Weg punktuell verschließt, dem bleibt natürlich noch immer der epische Prozess, welcher dem Helden nach und nach seinen Platz in der göttlichen Ordnung enthüllen wird. Auch Hahn ist in ihren Studien zu Parzivals Schönheit bereits zum Ergebnis einer prozesshaften Form von Erkenntnis im Text gekommen, wobei sie jedoch auf eine Differenzierung der Beobachterperspektiven und der dabei entsprechend bedeutsamen Rolle der Religion als Kommunikationscode verzichtet, wenngleich sie ihre Wichtigkeit hierin jedoch zu erkennen scheint, wenn sie schreibt: „Wolfram erfährt Wahrheit nicht als fixiertes System, sondern als Prozeß, der Grenzen durchstößt. Insofern ist Wahrheit Offenbarung, die laufend geschieht. Parzival und mit ihm die Gestalten der Gralswelt sind – als Verkennende und Erkennende – in diesen Prozeß des Hervortretens von Wahrheit hineingenommen, der sie am Ende vor die alles Erwarten sprengende Wahrheit Gottes stellt“.216 Doch worüber geben die Möglichkeiten des (visuell angebotenen) Erkennens von göttlichem Wirken im Konflikt des Artushofs mit Ither nun eigentlich genauer Auskunft? 216
Hahn 1975. S. 232.
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Der nächste Schritt zur Erkenntnis von Parzivals Prädestination und wahrer Identität, die ihn schließlich auch als Werkzeug Gottes enthüllen wird,217 bietet der Text über eine Ausdifferenzierung von Beobachterpositionen, indem er den Umgang des Artushofs mit dem Religiösen in der Form eines wunder-Ereignisses zur Anschauung ausstellt. Als der Held seinen ersten Auftritt am Artushof hat, avanciert die Erscheinungsform seines lîbes vom bloßen Widerspruch zum Auslöser eines wunders, oder besser gesagt sogar zweier wunder. Als Parzival am Hof als Bote von Ithers wiederholter Herausforderung erscheint, löst sein Anblick erst einmal ganz unterschiedliches Verhalten aus: Nachdem er zuerst dafür ausgelacht wird, dass er nahezu jeden Ritter, den er erblickt, für Artus hält und von diesem unverzüglich fordert, den Ritterschlag zu erhalten (147,22–24), daraufhin hin- und her- gestoßen wird, nimmt die Artusgesellschaft zu guter Letzt seine Schönheit und den besonderen Glanz wahr – und jeder wünscht nun mit eigenen Augen einen Blick auf ihn erhaschen zu können:218 Der knappe unbetwungen wart harte vil gedrungen, gehurtet her unde dar. si nâmen sîner varwe war. diz was selpschouwet, gehêrret noch gefrouwet wart nie minneclîcher fruht. (148,19–25)
Wie zuvor auch Ither reagiert die Gesellschaft am Artushof auf Parzivals Leib hier in erster Linie in Bezug auf seine erkennbare Anlage exzeptioneller Minnefähigkeit, wenn sie in ihm den Inbegriff von Minne, die minneclîcher fruht, erblickt. Durch sein Verhalten gegenüber Jeschute hat er jedoch zuvor bewiesen, dass es ihm an der eigentlichen Handlungsfähigkeit hierfür mangelt. Auch Artus selbst sieht in ihm zuallererst lediglich einen schönen Schmuck für seinen Hof und versucht ihn nach einer höfisch-vasallitischen Gabe-Logik in den Hof einzubinden,219 womit Parzival aber ebenso wenig umzugehen versteht und stattdessen 217
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219
Denn nichts anderes ist es ja, König einer im göttlichen Auftrag für das Höfische funktionalisierten Gesellschaft zu sein. Ich sehe hier durchaus ein zeitliches Nacheinander, denn nachdem die Gesellschaft Parzivals Schönheit gewahr geworden ist, bleiben etwaige Handlungen zunächst einmal aus. Es lässt sich daher von Parzivals Anblick auch als solch einem Paradoxon sprechen, das in die Stagnation sozialer Handlungsfähigkeit führt. Der Text richtet seinen Fokus daraufhin auch sofort auf Artus selbst, denn sein Verhalten als Repräsentant artushöfischer Normen ist das Spannendste, was in dieser Situation zu beobachten ist. ‚ob werdekeit mich niht verbirt. Du bist wol sô gehiure, rîch an koste stiure wirt dir mîn gâbe undertân. dêswâr ich solz ungerne lân. dû solt unz morgen beiten: ich wil dich wol bereiten.‘ (149,18–24)
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Artus’ Geschenk ablehnt: Parzival tritt vor Artus nach eigener Aussage nicht als Bittsteller um Ausrüstung, sondern er will allein die Erlaubnis zum Kampf gegen den Roten Ritter, um sich dessen Rüstung selbst aneignen zu können.220 Hieran lässt sich überdies ablesen, dass ein wesentlicher Teil von Parzivals paradoxem Erscheinungsbild sich aus dem Umstand ergibt, dass eine feudal-adlig höfische Wahrnehmung erst einmal nicht zwischen einer zeichenhaften Anlage, die am Körper einsehbar ist, und ihrer Umsetzung differenziert. Es scheint im höfischen (Text-)System schlicht nicht gedacht werden zu können, dass das Sichtbare und der (Handlungs-)Transfer seiner Zeichen auseinanderfallen. Eine höfische Beobachterperspektive erster Ordnung abstrahiert hier nicht, weshalb an solchen Stellen stets Gott ins Spiel kommt oder strukturell äquivalent dazu: für die Ebene der Rezeption von der Erzählinstanz entsprechend Religiöses artikuliert werden muss. Was an der varwe von Parzivals lîp über das Immanente höfischer Werte hinausweist, wird hier dementsprechend auch nicht auf der Figurenebene benannt, sondern nur von der Erzählinstanz, die an dieser Stelle nun Allwissenheit und insbesondere auch ihre Verfügungsgewalt über die Geschichte des Helden demonstriert: got was an einer süezen zuht, do’r Parzivâlen worhte. der vreise wênec vorhte, sus wart er vür Artûsen brâht an dem got wunsches het erdâht. im kunde niemen vîent sîn. (148,26–149,01)
Während die Erzählinstanz sich also über die Formulierung eines Gottesverweises als besonderer Beobachter geriert (der Schöpfergott wird in diesem Erzählmodus sogar Teil ihrer Geschichte), welcher die Widersprüchlichkeit, die die Wahrnehmung vom lîp des Helden evoziert, auszublenden versteht, so sind auf der Figurenebene auch davon deutlich unterschiedene Beobachtungs- und Handlungsmodi vorgestellt. Die von der Erzählinstanz vorgetragene religiöse Lesart scheint eben nicht unbedingt zwingend: Der Körper als Zeichen bleibt derart, so lässt sich postulieren, durchaus arbiträr. Um die religiöse Lesart trotz allem starkzumachen und Parzivals Aufnahme im Kreise der werden schließlich zu rechtfertigen, ist der Text sehr darum bemüht, das Unwahrscheinliche wahrscheinlich zumachen. Gemeint ist damit die Inszenierung der wunder, die sich bei Parzivals erstmaligem Erscheinen am Artushof ereignen: Cunnewares Lachen und Antanors Reden. Wo Parzivals Erscheinen zuvor noch Anlass zur allgemeinen Erheiterung gegeben hat – der Knappe Iwanet ist stellvertretend für die Hofgesellschaft in La220
er sprach ‚in wil hie nihtes biten. mir kom ein ritter widerriten: mac mir des harnasch werden niht, ine ruoch wer küneges gâbe giht. …‘ (149,27–30)
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chen ausgebrochen (147,24), das schon als dezidiertes Auslachen des Helden begriffen werden darf –, dort löst sein Anblick vor den Augen der gesammelten Hofgesellschaft das prophetische Lachen Cunnewares aus. Cunneware hatte nämlich gelobt, niemals zu lachen, bis sie denjenigen erblickt, der höchsten Ruhm errungen hat oder noch erwerben wird. Im Text heißt es: dâ saz frou Cunnewâre, diu fiere und diu clâre. diu enlachte decheinen wîs, sine saehe in die den hôhsten prîs hete od solt erwerben: si wolt ê sus ersterben. allez lachen si vermeit, unz daz der knappe für si reit: do erlachte ir minneclîcher munt. (151,11–19)
Dieses Lachen fungiert dabei eben offensichtlich nicht als vulgäre Komik, als ein Auslachen des Helden, sondern es bringt eine Prophezeiung zum Ausdruck.221 Mit dieser märchenhaften Episode von Cunnewares offenbarendem Lachen wird durch die erzählerische Darstellung gewissermaßen darauf insistiert, dass Parzival bereits in seiner narrenhaften Ausstattung und seinem ganz und gar unhöfischen Verhalten als Träger höchsten Ruhmes und als Heilsbringer erkannt werden kann. Es fällt auch auf, dass hier ebenso wie in der Szene von Feirefiz’ Taufe Lachen als ritualisierter Handlungsmodus fungiert, der in der Immanenz den Umgang mit dem göttlichen Willen erlaubt; auch hier lässt sich somit von einem höfisch laientheologischen Konzept sprechen. Die in der Erzählung damit aufgebaute Atmosphäre mystischer Vorausdeutung wird aber unmittelbar wieder zerstört, denn der Seneschall Keye beginnt umgehend die Prophetin mit Schlägen zu traktieren (151,21–30). Da seine Aufgabe, wie bereits dargestellt, in der Organisation des Artushofs als Machtverband besteht, ist Keye darum bemüht, den prîs (152,02), den Cunneware aus seiner Sicht zu Unrecht vergeben hat, wieder einzuprügeln, gewissermaßen: ihr diesen prîs von Rechts wegen zurückzugeben. Er schilt sie in der Öffentlichkeit, Schande über den Hof des Königs und seine Leute gebracht zu haben, mit der Begründung:
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So auch: Fritsch-Rössler 1997. S. 88f.: „Cunnewares ‚schwergewichtiges‘ Lachen ist Ausdruck identifikatorischen Vermögens, nicht Ausdruck von Komik. Die in dem Lachen liegende Erkenntnisleistung steht sogar konträr zur Komik, weil komische Situationen in der Regel gerade aus Nicht-Erkennen, Verkennen, Verwechseln resultieren. Nicht nur findet niemand Cunnewares Lachen komisch, sondern die Reaktion auf dieses Lachen erzeugt auch keine Komik. Aber ist nicht trotzdem etwas, ist überhaupt irgendetwas in dieser Szene komisch? Die Antwort lautet: nein. Denn bereits vor Cunnewares Lachen wird alles Komikpotential aus der Szene verbannt“. Allerdings scheinen sich vor dem Hintergrund des höfisch laientheologischen Konzepts des Parzival Lachen bzw. Komik und (religiöse) Erkenntnis nicht zwingend auszuschließen.
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‚… ez ist dem künge Artûs ûf sînen hof unt in sîn hûs sô manec werder man geriten, durch den ir lachen hât vermiten, und lachet nu durch einen man der niht mit ritters fuore kan.‘ (152,07–12)
Was Keyes Handeln bestimmt, ist einzig und allein durch das Ziel der Wahrung hierarchischer Ordnung am Hof bestimmt. Als Funktionär dieser Ordnung sieht er die werdekeit Artus’ massiv bedroht, was für ihn bedeutet, dass der Machtanspruch des Hofes in Gefahr gerät, und so ist sein Handeln, trotz der höfischen Normverletzung, die er begeht, indem er eine Frau schlägt, als konsensfähiger Rechtsakt zu verstehen.222 Dass seine Einschätzung von Parzival, in welcher dominant gesetzt ist, dass der niht mit ritters fuore kann, dabei nicht aus dem sozialen Rahmen artushöfischer Wahrnehmungsmuster ausbricht, sondern mit ihm übereinstimmt, zeigt sich insbesondere daran, dass auch keiner der Anwesenden gewillt ist, den öffentlichen Gewaltakt zu unterbinden. Fast höhnisch klingt da der Kommentar der Erzählinstanz, die Anwesenheit ihrer Brüder hätte die schändlichen Schläge mit Sicherheit mindern können (152,20–22).223 Doch auch hier verkehrt sich die Dominanz einer einsinnigen Lesart sogleich wieder in ihr Gegenteil, als abermals ein wunder geschieht und Antanor die Stimme erhebt: Der verswigen Antanor, der durch swîgen dûht ein tôr, sîn rede unde ir lachen was gezilt mit einen sachen: ern wolde nimmer wort gesagn, sine lachte diu dâ wart geslagn. dô ir lachen wart getân, sîn munt sprach ze Keyen sân ‚got weiz, hêr scheneschlant, daz Cunnewâre de Lâlant durch den knappen ist zerbert, iwer freude es wirt verzert noch von sîner hende, ern sî nie sô ellende.‘ (152,23–153,06)
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Vgl. zu diesem rechtlichen Aspekt Wittmann 2007. S. 41: „Keies Reaktion ist, in all ihrer verletzenden Gewalttätigkeit, wiederum im Interesse des Hofes motiviert: Indem er Cunneware züchtigt, stellt er die Deutungshoheit des Hofes wieder her. Die rechtlichen Konnotationen, die die Schilderung der Schläge aufruft – ir rüke wart kein eit gestabt:/ doch wart ein stap sô dran gehabt (151,27f.) – machen deutlich, daß es sich hierbei nicht um die Überreaktion eines Geschmähten handelt, sondern um die für alle Beteiligten sinnfällige Vereindeutigung von Zeichen“. Bezeichnenderweise sind Cunnewares Brüder Orilus und Lähelin, die von der Orientierung an artushöfischen Rechtsnormen ohnehin nicht sonderlich viel halten.
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Dieses zweite wunder knüpft direkt an das erste an, gerade weil es an dieselbe Bedingung geknüpft ist. Die Wahrnehmung Parzivals als Inbegriff von werdekeit wird somit erneut aktiviert, was Keye auch dieses Mal dazu veranlasst, ein Mitglied der Artusgesellschaft in aller Öffentlichkeit zu prügeln (153,07–13). Diese zweite, wiederholt märchenhafte Prophezeiung ist dabei nicht nur als eine Dopplung der ersten zu verstehen, sondern auch als die Vereindeutigung des semantischen Potentials von Cunnewares Lachen. Hier tritt die narrative Struktur von Verknüpfung des göttlichen Wirkens in der Immanenz und der Geschichte von Parzival in den Vordergrund: Antanor beruft sich mit seinen vorausdeutenden Worten, welche die Zukunft des Helden zeichnen, dezidiert auf Gott. Er verleiht seiner Rede durch diese Anrufung unhinterfragbaren Wahrheitsgehalt. Wenngleich diese Doppelung des wunders und ihre Begründung recht seltsam ‚von hinten‘ motiviert scheinen, so wird jedoch spätestens an dieser Stelle deutlich, dass das Thema dieser Episode das Erzählen selbst ist – und zwar die Möglichkeiten des Erzählens mit Transzendenzbezug. Im Konnex des Erzählens vom Göttlichen, den Möglichkeiten höfischen Beobachtens des Numinosen, wird Parzival zum wunder Gottes, dessen paradoxe Erscheinung sich in einer spezifisch narrativen Dynamik niederschlägt: Dargestellt ist eine prozesshafte Form von Erkenntnis, welche zwischen den Polen des höfisch Wahrnehmbaren und Unsichtbaren – Erkennen/Nicht-Erkennen – oszilliert. Anhand dieser Form des Erzählens wird dem Rezipienten etwas angeboten, was den aktiv handelnden und zur Beobachtung ausgestellten Figuren verwehrt bleiben muss: eine auf der Ebene von Wahrnehmung installierte prozesshafte Reflexion des Umgangs des Höfischen mit dem Religiösen, die natürlich stark an die Bewegung des zickzack-springenden Hasen des Prologs denken lässt. Was hierbei sichtbar wird, zeigt auch, dass Parzival nicht nur aufgrund seiner Prädestination als Gralskönig zum göttlichen wunder avanciert, vor dem Hintergrund der konkreten Krisensituation des Artushofs ist er auch die ideale Figur zur Auslagerung des Problems. Der von Cunneware und Antanor angekündigte prîs, den Parzival erwerben soll, ist zugleich auch auf seinen Dienst für den Artushof zu beziehen, denn seine Tat befreit den Hof schließlich aus einer Lage, aus der er ohne Eingriff ‚von außen‘, ohne Handlungsfähigkeit stiftende Möglichkeit der Auslagerung, selbst nicht mehr herausgekommen wäre. Dieser Zusammenhang wird im Text mit der Danksagung Iwanets ausgedrückt, der auch hier als Stellvertreter der artushöfischen Gesellschaft auftritt und dem Helden expressis verbis den prîs für die Tötung Ithers zuspricht: dô sageter Parzivâle danc prîses des erwarp sîn hant an dem von Kukûmerlant. (156,12–14)
Zusammenfassend lässt sich für den funktionalen Zusammenhang also vorläufig formulieren, dass erstens die Krisensituation, die aus der Paradoxie einer Normsetzung (der Herausforderer des Artushofs ist ein Artusritter) entsteht, sich
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gleichfalls in den Figurenkonzeptionen festschreibt und lesbar wird, sowie, dass zweitens Parzival als wunder Gottes dem Hof geradezu wie gerufen kommt. Insofern vermag es der Artushof in der Summe seiner Beobachtungsmöglichkeiten sogar, gerade weil es eine Gesellschaft ist, die ebenso mit einem Gottesbezug zu operieren weiß, diese Figur in ihrer widersprüchlichen Erscheinung irgendwie richtig einzuschätzen. Wenn auch aus völlig unterschiedlichen Gründen lassen seine Mitglieder erkennen, dass Parzival das vermeintlich ideale Instrument ist, um ihr Problem durch einen Eingriff ‚von außen‘ zu lösen. Gerade die prophetischen Semantisierungen des wunders begreifen den Helden in der Funktion als Werkzeug Gottes, was er nach einer religiösen Logik als zukünftiger Gralskönig ja auch bereits schon ist. Dass die entsprechende Funktion, die dem Helden am Artushof hier zukommt, für ihn selbst aber letztlich keine (utopisch) ideale Handlungsoption bietet, offenbart sich im Zusammenhang eines weiteren Norm- und Werthorizontes, mit dem diese Figur erst im weiteren Verlauf ihrer Geschichte ausgestattet wird: mit den Normen und Werten des Gralshofs. Interessanterweise operiert Parzival in seiner Funktion am Artushof, indem er Ither tötet, mit dem Negativ der artushöfischen Handlungsnorm und damit der Handlungsnorm der Gralsritter, die ja im Kampf keinerlei sicherheit gewähren, und begeht zugleich eine seiner drei großen sünden, die ihm Trevrizent später darlegen wird (499,20f.), ohne jedoch von beidem die geringste Ahnung zu haben. Motive wie Parzivals ger nach Ithers roter Rüstung sind auf der Ebene sich verschränkender Werthorizonte somit nicht von Belang.224 Auf die Diskrepanz zwischen der begrenzten Sichtweise des Helden in dieser Situation und dem Wissen – dem Wissen um artushöfische Handlungsmaximen sowie dem Wissen um sünde und religiöse Zusammenhänge – verweist die Erzählinstanz an der Stelle über die Trauer um Ither vorausgreifend: sîn harnasch im verlôs den lîp: dar umbe was sîn endes wer des tumben Parzivâles ger. sît dô er sich paz versan, ungerne het erz dô getân. (161,04–08)
Ohne im Folgenden nun eine umfassende Diskussion des Begriffs führen, d. h. sein semantisches Spektrum erörtern zu wollen, lässt sich mit der hier vorgeschlagenen Perspektive festhalten, dass Parzivals Unwissenheit über die für ihn geltenden Normen und Werte im Text mit dem in der Forschung vielfach diskutierten Terminus der tumpheit semantisiert wird. An der Diskrepanz, die aus dem Nicht-Wissen um Handlungsmaximen entsteht, wovon die Beobachtung der Erzählinstanz an dieser Stelle enthoben ist, weil sie über Parzivals Geschichte verfügt und um seine göttliche Prädestination weiß, zeigt sich auch, dass dieser 224
Auf der Figurenebene interessiert dies natürlich schon. Hier soll es aber nun um die konzeptionellen Verschränkungen von Artus- und Gralshof in der Parzival-Figur gehen, dafür scheint mir diese Beobachtung wichtig.
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Erkenntnisprozess des Helden keine innerliche Entwicklung (von tumpheit zur wîsheit) darstellt.225 Was ihn nach und nach mit Wissen ausstattet, ist nicht ein Zugewinn an Reflexionsfähigkeit als solche, sondern Erkenntnis der geltenden Werthorizonte. Erkenntnis, und gerade diejenige, die vor einem religiösen Hintergrund gedeutet und formuliert ist, bedarf der Zuweisung, der Vermittlung und Unterweisung durch eine Figur, die wie Trevrizent (aber auch Gurnemanz) aus den unmittelbaren Handlungsspielräumen der betreffenden Höfe ausgelagert ist:226 Von seiner tumpheit in Bezug auf die artushöfischen Werte ist der Protagonist bereits nach seiner Einkehr bei Gurnemanz befreit, denn als er von dort aufbricht, heißt es: sît er tumpheit âne wart (179,23). Mit dem spezifisch religiösen Normhorizont des Gralshofs und dem Wissen um sünde muss er jedoch erst von einem, dem die Möglichkeit zu dieser besonderen reflexiven Beobachtung der Beziehung von Höfischem und Religiösem gewährt ist, ausgestattet werden. Dies gehört u. a. zur erzählerischen Besonderheit des laientheologischen Konzepts des Parzival. Eine ‚innere Umkehr‘ oder Entwicklung von Fähigkeiten des Helden lässt sich nicht feststellen.227 Somit kann festgehalten werden: Parzival ist, gerade weil seine Selektierbarkeit im Wahrnehmungsmuster des Artushofs sich als ambivalent erweist (als artushoffähig und nicht-artushoffähig zugleich), das ideale ‚Instrument‘, um dieser Gesellschaft aus der durch ein Paradoxon von Handlungsmaximen entstandenen Krise wieder herauszuhelfen. Erst nachdem er mit dem Normhorizont des Artushofs durch Gurnemanz vertraut gemacht worden ist und er seine tumpheit (die hier dezidiert vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Bezugsgesellschaft zu verstehen ist) abgelegt hat, ließe sich sein Handeln, der Totschlag Ithers, aufgrund des Gebots des sicherheit Nehmens überhaupt als ‚falsch‘ beurteilen. Da Parzival die Kenntnisse über diese gesellschaftlichen Normen zum Zeitpunkt der Tat aber fehlen (was seinem Leib auch in der Form seiner paradoxen Erscheinung sichtbar
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Dies ist eine in der Forschung sehr häufig vertretene Auffassung, exemplarisch sei hier auf Schweikle verwiesen, der den Erkenntnisprozess als inneren Weg zur Mitleidfähigkeit begreift: Schweikle 1986. Höfische Reflexion und Erkenntnis sind demnach offenkundig immer am Rande der Gesellschaften angesiedelt, denn sie führen zum Verlust von Handlungsfähigkeit. Dementsprechend ist hier der Forschungskritik Bumkes zuzustimmen: „Der Erzähler hat seinen Helden im Prolog mit den Worten eingeführt: er küene, traeclîche wîs (4,18). Das ist fast immer so verstanden worden, daß der Erzähler sagen wollte, Parzival sei von Anfang an küene gewesen und erst ‚allmählich‘ (traeclîche) wîse. Daraus wurde geschlossen, daß der Weg von der tumpheit zur wîsheit das eigentliche Programm der Parzival-Darstellung ausmache, daß es in Wolframs Dichtung um die ‚Entwicklung‘ des Helden von der Torheit seiner Jugend-Verfehlung zur Weisheit des Gralkönigs gehe. Der Text bietet allerdings wenig Anhaltspunkte für eine solche Deutung. Parzivals ‚innere Umkehr‘ – ein Hauptpunkt der Entwicklungs-These – ist eine unsichere Größe“ (Bumke 2004. S. 148). Dem ist zudem hinzuzufügen, dass ja gerade die Gralsherrensippe, zu der Parzival sich als zugehörig erweist, alles andere als wîsheit in ihrem Verhalten und den beständigen Regelüberschreitungen beweist.
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eingeschrieben ist),228 spielt der vermeintliche Regelübertritt für den Artusritter Parzival weiterhin keine Rolle mehr. Weder wird dies von Gurnemanz noch von Artus und seiner Runde zur Anklage gebracht. Artus selbst macht sich auf den Rat der Edlen seines Landes hin sogar auf die Suche nach ihm, um ihm dafür zu danken, dass er die Not seines Hofes behoben hat: diz maere giht, den ahten tac sô daz er suochens pflac den der sich der rîter rôt nante und im solh êre bôt daz er in schiet von kumber grôz, do er den künec Ithêren schôz und Clâmidên und Kingrûn ouch sande gein den Bertûn in sînen hof besunder. (280,07–15)
Parzival wird am Artushof als ‚Roter Ritter‘ bekannt und bekommt unter diesem Namen jede Menge êre zugewiesen. Demzufolge führt nicht einmal der Umstand, dass ihm als Träger von Ithers Rüstung die Zeichen seiner Bluttat am Leib eingeschrieben sind, zu einer Verurteilung seines Handelns.229 Was bei dieser Ehrung Parzivals auf den ersten Blick nun wie eine starke Abwertung des Artushofs aussehen mag, weil die sünde dort offenkundig nicht gesehen wird, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen aus einer funktionsorientierten Sichtweise als der Dank für die Wiederherstellung von Handlungsfähigkeit. Parzival hat den Hof aus der Stagnation, in der er sich befand, erlöst und ihn überdies durch die Sendung der von ihm besiegten Ritter Clamide und Kingrun als diejenige Instanz wieder eingesetzt, 228
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Höfisches Sein und Identität sind in diesem Zusammenhang als ganz und gar körperliche Entitäten zu verstehen. Parzival ist nicht durch einen Widerspruch von Innen und Außen gezeichnet, sondern dieser Widerspruch ist an seinem Leib ablesbar. Deswegen ist auch der Begriff der Entwicklung irreführend, denn er rekurriert auf die Vorstellung von etwas Innerlichem, das zu guter Letzt als Eigentliches zum Ausbruch kommt (er gründet zumeist auf dem aristotelischen Gedanken der Entelechie). Brüche und Widersprüche in Identitäten sind in diesem mittelalterlichen Text aber grundsätzlich bei Gott aufgehoben und nicht im Individuum, so ist es auch bei Parzivals Prädestination der Fall. Vgl. hierzu auch die Argumentation Ortmanns, wenngleich diese an (theologisch) ontologischen Kategorien orientiert bleibt: Ortmann 1972. S. 91–104, hier S. 92: „Die These vom ‚Parzival‘ als Entwicklungsroman oder auch nur als etwas dem Vergleichbares verkennt die ideologische Konformität des Werkes mit dem die mittelalterliche Weltsicht durch seine ontotheologische Analogien prägenden ordo-Gedanken, dem zufolge das Gesetz der Person kein Individualgesetz, etwa der goethesche Daimon, sein kann, auch kein naturhaftes telos, das in organischen Analogien darstellbar wäre; sondern dieses Gesetz ist identisch mit der lex aeterna, dem metaphysischen Grundriß der Welt, dem Bauplan der Schöpfung, der dem Schöpfungsakt, theologisch gesprochen, der Trinität als schöpferischer Aktionseinheit zugrunde liegt und der darum von Anfang an auch ein Heilsplan ist“. So auch Schu 2002. S. 265: „Gleichwohl wird Parzival anders als Perceval durch eben diesen Totschlag zum Ritter; die Ambivalenz von Auszeichnung und Verfehlung im selben Akt wird so dem Konzept Ritterschaft selbst eingeschrieben […] Indem Parzival der ‚Rote Ritter‘ wird, trägt er permanent die Insignien der Tat offenbar zur Schau, die ihn zum Ritter gemacht hat“.
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für die der Artushof steht: als Inbegriff von beständiger Ehr-Zirkulation und Integration. Dem widerspricht auch Ginovers Trauerrede nach dem Tode Ithers nicht, denn auch Trauer ist eine Handlungsoption in Form von öffentlichem und gemeinschaftlichem Handeln am Hof, die als solche, gerade als Aufgabe der Frauen des Hofes, als ein Bearbeitungsmechanismus der Ambivalenz höfischer Ritterschaft fungiert. Parzivals sünde ist als dezidierte Wahrnehmungskategorie ausschließlich vor dem Hintergrund einer religiösen Ordnung zu verstehen. Mit diesem Wissen und seiner religiösen schult wird er jedoch erst durch Trevrizent konfrontiert werden, als dieser ihm seine Verwandtschaft zum König von Kukumerland aufdeckt: du hâst dîn eigen verch erslagn. wiltu für got die schulde tragn, sît daz ir bêde wârt ein bluot, ob got dâ reht gerihte tuot, sô giltet im dîn eigen leben. (475,21–25)
Auf der Folie des Utopischen betrachtet unterstreicht diese Bespiegelung der artushöfischen Ehrzuweisung an Parzival durch die sünde, die er sich durch den Verwandtenmord aufgeladen hat, gerade sehr deutlich den Zusammenhang beider Höfe als einer höfischen Welt und nimmt ihnen zugleich die Idealität ihrer Konstruktion: Sie ist keinesfalls harmonisch, sondern schafft vielmehr beständig Probleme aus sich selbst heraus. Die Kainstat wirft dabei jedoch nicht allein ein kritisches Licht auf die für religiöse schult blinde Artusgesellschaft, sondern diese Bespiegelung gilt auch umgekehrt, wenn man bedenkt, dass Parzival als Retter gerade nicht die artushöfische Regel des sicherheit Nehmens befolgt, sondern, auch ohne darüber Kenntnis zu haben, wie ein Gralsritter handelt, der seine Gegner, eben weil sünde in der Welt ist, tötet. Insofern ist die Funktion der Gralsritter für die höfische Welt wiederum sogar erfüllt, die Kosten für diese Tat hat allerdings, wie auch Trevrizent mit dem dezidierten Verweis auf den Rechtsdiskurs (ob got dâ reht gerihte tuot) zum Ausdruck bringt, der Retter und Held zu tragen: Parzival kann sein Leben nur mehr Gott überantworten (sô giltet im dîn eigen leben). Insbesondere weil der sünde in der Welt nicht zu entkommen ist, lässt sich hierin, fragt man nach dem höfisch laientheologischen Konzept des Textes und nach seiner narrativ-religiösen Logik, eine Sakralisierungsstrategie des Textes identifizieren,230 welche dem (aufmerksamen und reflektierten) Rezipienten ein weiteres Puzzlestück von Parzivals Identität als dem von der Erzählung erschaffenen und von Gott ausersehenen Erlöser anbietet.231
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Hierin findet sich ein bekanntes Muster von Heiligenviten und -legenden wieder: Aus dem Sünder wird ein Werkzeug Gottes, was zu Heil und Erlösung führt. Im Falle Parzivals gleicht seine religiöse ‚Schuld‘ aufgrund seiner tumpheit gar der religiösen ‚Schuld‘ Gregorius’ aufgrund des Inzests, was auf Strukturebene ein Rückverweis auf den Prolog darstellt, welcher eben explizit dazu auffordert, solche Erzählstrategien aufmerksam zu rezipieren. In diesen Konnex, der Parzival als Bindeglied von artus- und gralshöfischer Welt und schließlich als die Erlöserfigur zu erkennen gibt, reiht sich auch die auf visueller Ebene Erkenntnis ermög-
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Dass schließlich nichts, auch der Eingriff Gottes in die Welt, zu einer ‚idealen Lösung‘ führt, in keine märchenhafte Utopie, sondern eine Lösung andernorts wieder Probleme erzeugt, gehört dabei auch zu dem, was sich am Erzählen des Parzival als ‚Welthaftigkeit‘ bezeichnen lässt: Probleme, die in der Welt und aufgrund ihrer spezifischen Norm- und Wertsetzungen entstehen, lassen sich zwar an die Kontingenzformel Gott auslagern, was aber nicht heißt, dass das Problem damit grundsätzlich aus der Welt ist. Es bricht an anderer Stelle wieder auf.232
3.3. Spiegelungen – Erzählen von Erlösung Der Blick auf die Dekonstruktion des scheinbar utopischen Ideals bestätigt letztlich auch eine ‚Erlösungsbedürftigkeit beider Gesellschaften‘ und damit die in der Forschung bereits gut dargestellte und analysierte Parallelität der Erlösungswerke Parzivals und Gawans.233 Bereits vorliegende Analysen haben gezeigt, dass Munsalvaesche und Schastel marveile beweisen, dass an beiden Höfen Regelüberschreitungen stattfinden und soziale Normhorizonte verletzt werden; stellvertretend für die jüngere Parzival-Forschung sei hier Schu zitiert: „Beide Systeme sind damit keineswegs ideale Systeme, in beiden ist eine Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit festzustellen. Göttliche Lenkung garantiert ebenso wenig Harmonie wie die Regelung zwischenmenschlichen Verhaltens durch einen Ehrenkodex, da die Harmonie beider Gesellschaften davon abhängt, dass sich ihre Mitglieder an die ‚Spielregeln‘ halten. Zudem müssen beide Störungen von außen verkraften …“.234 Auch in dieser Hinsicht lässt sich also von einer Dekonstruktion der Utopie sprechen. Auffällig ist dabei außerdem: Die Störungen der beiden Höfe haben spiegelbildlichen Charakter. Den Machthabern beider Höfe, Anfortas
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lichende Beschreibung des Helden seitens der Erzählinstanz bei dessen zweiter Einkehr am Artushof ein. Er wird dort nämlich mit dem in Bezug auf seine gralshöfische Herkunft aufmerken lassenden Bild eines Engels dargestellt: Dô truoc der junge Parzivâl âne flügel engels mâl, sus geblüet ûf der erden. (308,01–03) Dasselbe gilt auch für die Konstruktion des Gralshofs: Gott löst damit gewissermaßen ein Herrschaftsproblem der höfischen Welt. Da der Gralshof aber ebenso ein Teil dieser Welt ist (und auch sein muss), haben seine Mitglieder bzw. sogar der Kopf dieses von Gott gelenkten Hofes: die Glieder der Gralssippe (Anfortas, Trevrizent) unglaubliche Probleme mit dem rigiden Regelwerk der Gesellschaft auf Munsalvaesche. Für den Eingriff Gottes in die höfische Welt sind diese Regeln zwar notwendig, doch zugleich sind sie hierfür eine schlichte Zumutung (‚Minneverbot‘). Der Effekt ist beständiges Scheitern und gewissermaßen ein re-entry des Problems (siehe auch Gurnemanz). Bezeichnenderweise bildet auch nicht Parzivals Gralserhebung das Ende der Geschichte, sondern es folgt noch die Loherangrin-Geschichte, worin ebenfalls die gralshöfische Ordnung zum Problem wird. Hierbei sind insbesondere die Interpretationen von Schu 2002; insb. S. 355–362; und die Überblicksdarstellung von Bumke 2004. (S. 183f.) zu nennen. Schu 2002. S. 395f.
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und Clinschor, ist die Schädigung gleichermaßen als Kastration am Leib eingeschrieben: Wo der Leib Anfortas’ als Repräsentant des Körpers der Gralssippe unwahrscheinlich präsent ist, weil er als Symbol der Verhandlung von herrschaftlicher Kontinuität fungiert, ist im Gegenzug Clinschors Körper als Zeichen von Geschlechtertrennung und Zersetzung von genealogischer Herrschaft durch absolute Absenz markiert. Während Clinschor dem Artushof durch den Frauenraub von außen zusetzt, ist der Regelübertritt Anfortas’ gewissermaßen als gesellschaftszersetzendes Handeln von innen heraus zu verstehen. Wo es auf der einen Seite das höfische Gesellschaftskonstitutiv Minne wiederherzustellen gilt, führt auf der anderen Seite der Dienst in ihrem Namen zur Strafe Gottes und rigorosem Leid. Und so ist es ebenfalls nicht verwunderlich, dass auch die Erlösungstaten der Helden in ihrer Darstellung mit deutlichen Parallelen gezeichnet sind, die zudem im Wolframschen Text gegenüber dem Chrétienschen auch noch auffällig ausgebaut sind; Bumke schreibt hierzu: „Sowohl in Munsalvaesche als auch in Schastel marveile manifestiert sich das Leiden und die Erlösungsbedürftigkeit der Gesellschaft in einem Zustand der Verödung, in dem alles, was das höfische Gesellschaftsleben sonst auszeichnet, zum Erliegen gekommen ist. In beiden Fällen gelingt es den Helden, diesen Verödungszauber zu durchbrechen und die erlöste Gesellschaft in einen Zustand festlicher Freude zurückzuführen“.235 An diese Ergebnisse anknüpfend, scheint es auch für weitere Untersuchungen notwendig, die bisher relativ isolierte Betrachtung des Erzählens vom Gral aufzubrechen und den spiegelbildlichen Charakter der Schlüssel-Aventiuren in die Analyse der Narration ‚Erzählen vom Gral und seinen wundern‘ mit einzubeziehen. Im Zusammenhang dieser narrativen Spiegelungen und der Frage nach der höfisch laientheologischen Konzeption des Textes ist zunächst einmal daran zu denken, dass Schastel marveile als die zweite wunder-Burg im Parzival mit einem wunder-Bett, dem Lit marveile, und mit einer wunder-Säule ausgestattet ist, die wie der Gral aus Stein gefertigt ist und ebenso ‚Übernatürliches‘ zustande bringt.236 Das gesamte Arrangement ist überdies auch noch in einem Gebiet an235 236
Bumke 2004. S. 187. In der Forschung ist die Darstellung der wunder von Schastel marveile, insbesondere der Säule, vornehmlich unter dem Aspekt der Quellenfrage behandelt worden; so z. B. Blank 1989a, der das Motiv der Zaubersäule in der Tradition der Merlinerzählungen verortet sieht, wofür der Text m. E. jedoch keinerlei Anhaltspunkt bietet. Andere, mehr inhaltlich orientierte, Interpretationen fokussieren ihre Bedeutung als Repräsentantin der abwesenden Clinschor-Figur, wobei die Säule zumeist als Vorläufer moderner Technik gedeutet wird und dabei in ihrer Kommunikationsfunktion auf eine „Nachrichtenzentrale“ (so: Ruh 1980. S. 111) oder auf eine „Überwachungsapparatur“, welche die „frühneuzeitliche Formen des Strafvollzugs in der Phantasie vorwegnimmt“ (so: Tuchel 1994. S. 251), reduziert wird. Auch die wunder-Analyse von Ernst 2003 betont lediglich die „Überwachungsfunktion“ der wunder-Säule (S. 57). Die Auffälligkeiten und Beziehungen der Wunderdinge Säule und Gral ist von Bumke angesprochen, aber nicht weiter interpretierend verfolgt worden (Bumke 2004. S. 103). Ein Vergleich der Darstellungsweisen der wunder sowie die Frage nach den Auswirkungen auf das Religiöse einer solchen Bespiegelung des Grals waren bisher nicht Gegenstand der Forschung.
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gesiedelt, das Terre marveile genannt wird. Bezeichnenderweise hat Wolfram auch den Namen der Burg, den sie noch bei Chrétien hatte, La Roche de Chanpguin, zu Schastel marveile geändert, was die Parallelität zu den wundern des Grals noch unterstreicht. Das Erzählen von wundern ist also ganz offensichtlich ebenso Gegenstand dieser Episode – wenngleich sie nicht derselben Natur sind wie die der Gralsburg. Sie sind nämlich nicht wie auf Munsalvaesche auf das Wirken des Numinosen in der Welt zurückzuführen, sie sind im Gegensatz zur göttlichen Magie des Grals mit Schwarzmagischem konnotiert. Clinschor, der als phaffe der wol zouber las (66,04) bezeichnet wird, hat in Terre marveile ein zauberisches Werk vollbracht, dessen Wirkungen im Text als das Negativum zur ‚guten Magie‘ des Grals lesbar wird; sein Zauber rührt von Hass und wirkt in der höfischen Welt zerstörerisch. Seine Kunst (sîn listeclîchiu wîsheit 566,25) ist heidnischen Ursprungs und im Lande Persîa, wo das Zaubern erfunden wurde (657,27–30),237 hat er sie erlernt, so: daz er wol schaffet swaz er will,/ mit listen zouberlîchiu zil (658,01f.). Im Gegensatz zur göttlichen Magie des Grals, die über den Stein Regeln und Anweisungen an die Gralshüter delegiert (und damit auch einen gewissen Spielraum in der Machtausübung und dementsprechend die Freiheit zu Scheitern lässt), ist die Natur von Clinschors Zauber der Zwang, er unterwirft das Verzauberte seinem Willen. Und der Zweck seines schwarzmagischen Wirkens ist statt dem Dienst an der höfischen Gesellschaft ihre gezielte Zerstörung: Clinschore ist staeteclîchen bî der list von nigrômanzî, daz er mit zouber twingen kan beidiu wîb unde man. swaz er werder diet gesiht, dien laet er âne kumber niht. (617,11–16)
Clinschors wunder sind damit als ‚das Böse‘ charakterisiert, die Geschlechtertrennung auf Schastel marveile hat die Schädigung werder diet, die Zerstörung höfischer Gesellschaft, zum Ziel. Trotzdem scheinen dies doch bemerkenswerte Parallelen. Diese spiegelbildlichen Elemente fordern auf der Ebene der Rezeption deutlich dazu auf, Darstellungen und Funktionen der wunder miteinander in Beziehung zu setzen. Da der Begriff des wunders aufgrund der Spiegelungen als derart ambivalent (in den Grundkonstituenzien gut/böse) erscheint, führt dies letztlich wohl auch zu der Frage, ob und inwieweit der religiöse Aspekt des Erzählens von
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Ihre Herkunft ist im Gegensatz zum mit der göttlichen Transzendenz verbundenen Gral auch ganz genau zu benennen: Sie ist die Stadt Persidâ im Land Persîa (657,27f.). Auch wenn nun beide Geschichten, die Geschichte des Grals mit ihrem Erzählkörper Kyot und die Herkunft Clinschors Kunst (das Sprachspiel scheint dies hier durchaus zu betonen) einen gewissen Fiktionalitätscharakter erkennen lassen, so bleibt innerhalb des Erzählens doch ein entscheidender Unterschied; denn was benannt werden kann, über das lässt sich auch in irgendeiner Weise verfügen und ist in dieser Logik dem Numinosen unterzuordnen.
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wundern für eine reflexive Beobachtung eventuell relativiert – auch im Sinne von literarisiert – sein könnte; inwieweit ist er schon Teil des narrativen Spiels des Textes geworden? Im Kontext der Entutopisierung der erzählten Welt soll im Folgenden daher nun der Frage nachgegangen werden, wie sich das spiegelbildliche Erzählen von den ‚Erlösungstaten‘ jenseits hierarchisierender Wertungen als Teil einer den Konstruktionscharakter offenbarenden Form des Erzählens vom Religiösen deuten lässt. Die Leitfrage lautet hier also: Wie lassen sich die narrativen Effekte der Bespiegelung des Erzählens vom Gral und seinen wundern durch das Erzählen der Geschehnisse um Schastel marveile beschreiben und interpretieren? Doch bevor ein Vergleich der wunder und die konkrete Erlösung von Artusund Gralshof nun Thema sein wird, soll zunächst noch ein Blick auf die Geschehnisse, welche die ‚Erlösungstaten‘ einleiten, und die Auslöser für die jeweiligen Wege Parzivals und Gawans zum Erlöser geworfen werden. Auch ihre narrativen Formen versprechen Aufschluss über solch mögliche Reflexionen. Die Herausforderung, die Schastel marveile bietet, wird von Cundrie la surziere bei ihrem Auftritt vor der Tafelrunde im VI. Buch formuliert, bei dem sie auch Parzival seine Verfehlung gegenüber der Gralsgesellschaft eröffnet und ihn öffentlich der valsche bezichtigt (daz groezer valsch nie wart bereit/ necheinem alsô schoenem man 316,18f.), was die ‚Erlösungstaten‘ somit bereits bei ihrer Einführung in die Geschichte miteinander in Beziehung setzt. Sie richtet sich an den Artushof mit folgenden Worten: … ‚ist hie kein rîter wert, des ellen prîses hât gegert, unt dar zuo hôher minne? ich weiz vier küneginne unt vier hundert juncvrouwen, die man gerne möhte schouwen. ze Schastel marveil die sint: al âventiure ist ein wint, wan die man dâ bezalen mac, hôher minne wert bejac …‘. (318,13–22)
Während Parzivals Versagen auf Munsalvaesche zu seinem spezifischen Weg zum Gralskönig führt und die Erlösung der Titurel-Sippe einleitet, ist die ‚Erlösungstat‘, die dem Artushof die vier entführten Königinnen und die hundertfache Menge an Hofdamen wiedergeben soll, hier als Herausforderung des gesamten Hofes formuliert. Die Aventiure, wogegen jede andere ritterliche Bewährung laut Cundrie ein wint sei, und die das Herz der artushöfischen Gesellschaftsordnung betrifft, nämlich den Dienst um hôher minne wert, erscheint als ideale Aufgabe für einen Artusritter und wie auf den Schwestersohn des Königs, Gawan, zugeschnitten. Schastel marveile ist hier zunächst von Cundrie als eine Aventiure dargestellt, die keinen speziellen Ansprechpartner hat und daher gerade als Dienst an der Allgemeinheit zu höchstem Ruhm führt. Auf der Folie von Idealität würde
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sich ein solcher Handlungsverlauf, Gawans Übernahme der Aventiurefahrt im Dienste des Artushofs, auch durchaus anbieten – nicht so die Umsetzung im Parzival, der an allen Ecken und Enden an der Dekonstruktion solcher Erwartungshorizonte zu arbeiten scheint. Denn auch Gawan wird nicht als an seiner êre Unbefleckter zur Rettung des Hofes ausziehen können. Was ihn schließlich auf den Weg bringt, sind wie im Falle Parzivals keine altruistischen Beweggründe, auch er wird in der Öffentlichkeit mit Schande beladen und der Unehrenhaftigkeit bezichtigt: Kingrimursel klagt ihn im Auftrag des Königs Vergulaht mit eben jenem Terminus der valsche an (322,22 u. 323,06), wie Cundrie es ebenso zuvor bei Parzival getan hat. Signifikant, aber von der Forschung bisher nicht wahrgenommen, ist in diesem Zusammenhang der Aktivierung des Einzelnen in seiner Rolle als Erlöser im Dienste seiner Bezugsgesellschaft der Part des Religiösen. Sowohl Cundrie als auch Kingrimursel gebrauchen in ihren Anklagereden bildliche Vergleiche, welche die vermeintlichen Vergehen der Helden aufgrund ihrer religiös-christlichen Konnotation nicht nur als persönliches Versagen kennzeichnen, sondern in Bezug auf die Leidenserfahrung der Helden als assoziative Verknüpfung sogar die Dimension des Heilsgeschehens erschließen.238 Beide bildlichen Vergleiche zielen dabei auf eine Verstärkung des „treulosen Verrats“, der valsche, deren die Protagonisten angeklagt sind: Gawan, dem Kingrimursel vorwirft, er habe gegen die Regeln höfischen Kampfes verstoßen, weil er seinen Herrn aus Gier erschlagen habe, wird für diese Tat, für die sich erst im X. Buch herausstellen wird, dass er dieses Kapitalverbrechens zu Unrecht beschuldigt wurde (503,16–18), sogar mit dem im christlichen Verständnis Urbild des Verräters, mit Judas, verglichen: ein kus, den Jûdas teilte,/ im solhen willen veilte (321,11f.). Ein solcher Vergleich beweist, dass auch für die Gawan-Handlung eine religiöse Dimension Relevanz erhält, die hier in erster Linie durch die Vorstellung von Verrat evoziert wird. Komplementär dazu wird auch Parzival mit einem wenig schönen Bild, mit einigen Metaphern des Verrates, von Cundrie versehen: Sie nennt ihn vederangl und nâtern zan (316,20). Das tertium comparationis beider Bilder scheint hier der Haken oder Zahn zu sein, der sich, eben wie bei der vederangl, die vorgibt eine Libelle und daher Nahrung für die danach schnappenden Fische zu sein,239 von der Wahrnehmung der Umgebung verborgen im Inneren der künstlichen Hülle befindet. Dasselbe gilt auch für den nâtern zan, der hier wohl Symbol für die Vorstellung von sich aus dem Mutterbauch heraus fressenden Natternjungen ist.240 Verbindend ist in diesen Bildern, dass es einen zerstörerischen, Tod bringenden 238
239
240
In Parzivals Fall ist der göttliche Heilsplan (316,11) sogar dezidiert angesprochen (wenn auch Cundrie Parzival nach ihrer Aussage jenseits davon sieht). Vgl. hierzu Lexer 1976. „verderangel“, S. 265; sowie die Übersetzung Knechts: „Ihr seid ein Angelhaken, versteckt in einer künstlichen Libelle …“ (S. 320). Zu dieser Vorstellung der Natter findet sich ein Eintrag im Physiologus, der besagt: „Wenn nun die Jungen heranwachsen, fressen sie den Bauch der Mutter und kommen so heraus, und daher stirbt auch sie, und übrig bleiben nur die Jungen …“ (Der Physiologus 2005. „Von der Natter“, S. 18f.).
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Kern in einer anderen, positiv konnotierten Erscheinung gibt, der im Vergleich mit der Natter gar für die Zersetzung des eigenen Geblüts (übertragen: für die Vernichtung der eigenen Sippe) steht. Der heilsgeschichtliche Bezug wird hierbei in erster Linie über die assoziative Verknüpfung hergestellt, die auch der Physiologus verfolgt, indem er die Tat der Natternbrut mit dem Verrat der Pharisäer an den geistlichen Eltern, vor allem mit dem Verrat an Christus gleichsetzt.241 Was beiden Schmähungen der Helden und deren Bildern dabei gemein scheint, ist, dass Parzival und Gawan mit dem genauen Gegenteil dessen versehen werden, wofür sie eigentlich stehen und was die Geschichte an ihnen offenbaren wird.242 Semantisches Bindeglied ist in den Anklagen hier der genaue Gegensatz von triuwe: die valsche. Sowohl Gawan wird mit der Anklage der valsche eine Verletzung des höfischen triuwe-Gebots vorgeworfen (Kingrimursel erinnert ihn an werdiu triuwe, 321,29) als auch Parzival, der von Cundrie außer mit dem Ausdruck vil ungetriuwer gast (316,01) noch mit einer Flut an solch entehrenden Bezeichnungen bedacht wird. Sie nennt ihn eigentlich alles, was dem höfischen Werthorizont widerspricht, wie manlîcher êren schiech,/ und an der werdekeit sô siech (316,13f.), sie bezeichnet ihn als gunêret lîp (316,25) und macht ihn zum Inbegriff des Antihöfischen, indem sie Parzival mit den Worten beschimpft: ir freuden letze, ir trûrens wer! (316,28). Es kristallisiert sich heraus, dass diese Schmähungen vor allem strukturell betrachtet Religion ins Spiel bringen und die semantischen Füllungen ihrer paradoxen Struktur dabei dezidiert höfische sind. In Cundries Rede ist die Verbindung einer Verfehlung vor Gott und der höfischen Gesellschaft absolut zentral gesetzt, als sie Parzival prophezeit: gein der helle ir sît benant ze himele vor der hôhsten hant: als sît ir ûf der erden, versinnent sich die werden. ir heiles pan, ir saelden fluoch, des ganzen prîses reht unruoch! (316,07–12)
Was sich an Cundries Formulierungen sehr gut veranschaulichen lässt, ist aber nicht allein die semantische und strukturelle Verknüpfung von Höfischem und Religiösem, sondern vor allem auch ihre chiastische Verschränkung, so dass sich hier offenbar keine Unterscheidung von ‚innerweltlichem Artushof‘ und ‚religiösem Gralshof‘ treffen lässt: Vielmehr sind beide Höfe als höfische Immanenz gleichermaßen betroffen; in der Perspektive auf das Religiöse liegt hierin also zunächst einmal eine Entdifferenzierung des Artus- und Gralshofs innerhalb der einen höfischen Welt vor. 241 242
Der Physiologus 2005. S. 19. Die Schmähungen der Helden fungieren im Fokus von Religion also gewissermaßen auch als das höfisch öffentliche Kennzeichen eines Übergangs von einem rein innerweltlichen Handeln der Helden zu einem transzendenzbezogenen, das Erlösung erst ermöglichen kann. Ich werde dies in Bezug auf Erzählprinzipien des Höfischen im Folgenden noch weiter erläutern.
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Auf Cundries Anklage reagiert Cunneware als Erste am Artushof und fängt entsprechend an zu weinen. Viele höfische Damen stimmen daraufhin in ihre Trauer mit ein. Gawans Schmach veranlasst parallel dazu seinen Bruder Bêâcurs und auch Artus als seinem Verwandten für dessen êre, notfalls auch mit Kampf, einzustehen (322,15–30 sowie 323,01–12), was zugleich auch heißt, dass die Beschuldigungen in beiden Fällen ernst genommen werden; ernst genommen auch in dem Sinne, dass sie, solange die Vorwürfe nicht widerlegt sind, notwendige Konsequenzen haben: Solche Schuldzuschreibungen betreffen den ganzen Hof, und um dessen êre wieder herzustellen, obliegt es den Helden, auf Aventiurefahrt auszureiten, was aber immer auch ihre Separation von der höfischen Gemeinschaft und für diese im Gegenzug klage und trûren aufgrund ihrer Abwesenheit bedeutet. Vor diesem Hintergrund ist wohl auch die Formulierung im Text über das parrierte leben der helden am Artushof zu interpretieren, worin es heißt: Artûss her was an dem tage komen freude unde klage; ein solch geparriertez lebn was den helden dâ gegebn. si stuonden ûf über al: dâ was trûren âne zal. (326,05–10)
Es lässt sich hierin ein prinzipiell sakralisierendes Narrationsmuster identifizieren, signifikant ähnlich dem Erzählmuster des Heiligen, des von Gott Ausgezeichneten und damit als herausragend für seine Bezugsgesellschaft Wahrnehmbaren, welches hier jedoch spezifisch auf das Höfische als Ordnungssystem zugespitzt ist: Um letztlich zum Erlöser werden zu können, um die Wiederherstellung des wichtigsten höfischen Guts, höfische vreude, zu erlangen, werden die Protagonisten durch die vollkommene Degradierung ihrer höfischen Gesellschaftsfähigkeit als Einzelne aus dem Gruppenverband gelöst, erst dann wird es möglich durch die Tat ein höfisches Kollektiv aus seinem Leid zu befreien. Dieses religiös motivierte Muster der Vereinzelung und Reintegration als solches erscheint geradezu symptomatisch für das Erzählen des höfischen Romans.243 Doch was sich an dieser Stelle für den Parzival außerdem zeigt, ist zum einen, dass die Artusgesellschaft im Falle Parzivals zwar nicht religiös wertet, nicht mit der Ka243
Es handelt sich bei dieser Beziehung des Einzelnen und seiner zu erlösenden Bezugsgesellschaft um eine typische höfisch narrative Aventiure-Struktur, die bislang aber noch nicht in Bezug auf ihre religiöse Dimension beleuchtet bzw. als erzählerische Nutzung eines religiösen Musters in einem höfischen Text erkannt wurde. Stattdessen werden an deren Stelle immer wieder Individualitätskonzepte eingesetzt. Als Beispiel kann hierfür exemplarisch Haug 1999 angeführt werden (zum Parzival: S. 10f.). Fragwürdig erscheint an Haugs anthropologischem Ansatz in erster Linie, ob sich in mittelalterlichen Texten überhaupt sinnvoll von Kategorien der ‚individuellen Erfahrungen‘ und ‚Erfahrung von Einsamkeit‘ sprechen lässt. Es fehlt die Reflexion auf die kulturelle Codierung des Textes. Ebenso wenig teile ich sein Verständnis des Gralshofs, Parzivals Ziel, das er als „ein in der Schwebe bleibendes Fantasiegebilde“ und eine „irreale, utopisch verklärte Gesellschaft“ versteht (ebd. S. 11).
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tegorie von sünde operiert, aber dass sie sehr wohl eine Reaktion zeigt, denn aufgrund der Schmähungen bei beiden Helden heißt es, dass dâ was trûren âne zal, was die Separation der Helden erst bewirkt. Und zum anderen wird so erkenntlich, dass dieses Handlungsmuster der Vereinzelung als konstitutiv für Erlösung zu begreifen ist, womit auch die Funktion der Reaktion des Hofes über bloßes Mitleid mit den Geschmähten deutlich hinausreicht.244 Denn die Erlösung einer Gesellschaft kann nach der Logik dieses religiösen Erzählmusters grundsätzlich nur außerhalb ihrer selbst, in einem von ihr ausgelagerten Raum stattfinden bzw. mit der Hilfe Gottes herbeigeführt werden. Und dazu wird diese Separation (Parzivals und Gawans) von der höfischen Gesellschaft, die hier zunächst einmal ohne weitere Differenzierung von Artus- und Gralsgesellschaft und als Ganzes verstanden wird, unbedingt notwendig; beide Helden brechen auf, weil sie zum genauen Gegenteil dessen gemacht werden, was sie als Heilsbringer sein werden und was sie aus der Perspektive göttlicher Providenz eigentlich schon immer sind: nämlich in einem gesellschaftsstiftenden Sinn triuwe. Dieser Zustand, in den die Helden durch die Anschuldigungen versetzt und in dem sie wahrgenommen werden (als parrierte leben), lässt sich somit als paradoxe Erscheinungsform begreifen, die notwendig ist, dass Religion wirksam werden kann, d. h. dass die Helden überhaupt zu Heilsbringern ihrer Bezugsgesellschaft werden können. Das Konstitutive dieses Erzählmusters könnte eventuell auch erklären, weshalb gerade in Parzivals Fall zunächst einmal nicht grundsätzlich zwischen den Höfen als Bezugsgesellschaften unterschieden wird, denn zur Exklusion und Reintegration bedarf es eines gewissen Grades an Öffentlichkeit, welche aber am Gralshof als Parzivals eigentlicher Bezugsgesellschaft unterbunden ist. Um ihn auf seinen Weg zur Erlösung zu bringen, klagt ihn Cundrie öffentlich vor der Tafelrunde an und auch seine Reintegration in die Gesellschaft muss offenbar dort öffentlich erfolgen, wo auch die Separation stattgefunden hat:245 vor den Augen des Artushofs.246 244
245
246
Dieses trûren ist in der Forschung bislang nicht als ernst zunehmende Reaktion des Hofes betrachtet oder als weniger bedeutsames Mitleid verstanden worden (so z. B. Pratelidis 1994. S. 176; und Schu 2002. S. 392; die dabei auf Mohr rekurriert). Hierbei lässt sich überdies ergänzen, dass gerade die Figurenkonzeption Cundries, ihre spezifische Häßlichkeit von Wolfram dazu genutzt wird, um den Prozess der Ausgrenzung und Reintegration einsehbar zu machen. Vgl. hierzu Kasten 1991; insb. S. 272: „In gewisser Weise verdichtet sich so in Cundrie, der häßlichen Heidin aus dem Orient, die utopische Vision, die Wolfram im Gesamtplan seines Romans entfaltet, die Vision von einer Welt, in der es für den Sünder die Möglichkeit der Erlösung gibt und in der die unversöhnlich erscheinenden Gegensätze zwischen Okzident und Orient, zwischen Christen und Heiden, überwunden werden können. Die Strategie der Ausgrenzung wird so in ihr Gegenteil verkehrt und zu einem Verfahren der Integration“. Hierin sehe ich die Funktion der Figur begründet und nicht etwa in der entwicklungsgeschichtlich gedachten Freisetzung von „Individualität“ (so Dallapiazza 1985). Oder anders herum ließe sich auch formulieren, da Artus- und Gralshof in Bezug auf Heil und Erlösung Teil der gleichen Immanenz sind, also entdifferenziert erscheinen, der Artushof zur Öffentlichkeit des Gralshofs wird, dass der aufgrund seiner spezifischen Funktion über höfische Öffentlichkeit ja nicht verfügen kann. Ich komme darauf zurück.
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Diese Struktur erscheint somit als Teil der Erzählstrategie des Textes, den göttlichen Willen und die höfische Immanenz beständig als untrennbares Gefüge zu inszenieren. Cundrie tritt mit höfischer zuht vor Artus und die seinen, worauf sie folgende Worte an Parzival richtet: ‚ôwol dich, Gahmuretes suon! got wil genâde an dir nu tuon. […] nu wis kiusche unt dâ bî vrô. wol dich des hôhen teiles, du krône menschen heiles! daz epitafjum ist gelesen: du solt des grâles hêrre wesen …‘ (781,03–16)
Im Zentrum steht auch hier die Verbindung von Transzendentem und Immanentem, die Verbindung von kiusche als Zeichen von Handeln mit Transzendenzbezug und vrô sein, das die Immanenz höfischer vreude markiert: Eine Verbindung, welche sich auch besonders in den Formulierungen des hôhen teiles (ganz wörtlich also an der Teilhabe an etwas Größerem, dem Göttlichen) sowie der krône menschen heiles als manifestem Willen Gottes im menschlichen Diesseits, was ebenfalls beide Seiten betont (Jenseits und Diesseits), offenbart. Doch gerade weil diese Verbindung als solche für den Religionsbezug des Erzählkonzepts im Text so wichtig und konstitutiv ist, lässt sich daraus auch ableiten, dass die Verkündigung von Parzivals Erhebung zum Gralskönig nicht zufällig vor der artushöfischen Gesellschaft erfolgt. Die Verknüpfung mit der Öffentlichkeit des Artushofs signalisiert, dass diese religiöse Verheißung nicht alleinige Angelegenheit Munsalvaesches und ihres ernannten Erlösers Parzivals ist, sondern sie betrifft die gesamte höfische Welt; oder andersherum formuliert: Es bedarf sogar notwendigerweise der Öffentlichkeit, die der Artushof im Gegensatz zur Gralsburg bietet, es bedarf der öffentlichen Reintegration des Helden, damit der Akt der Erlösung, der selbst in der Form der Fragestellung an Anfortas zuletzt nicht mehr als der Vollzug eines Rituals bleibt, überhaupt herbeigeführt werden kann. Diese Lesart lässt sich überdies durch die Inszenierung von Cundries Auftritt am Artushof als Gralsbotin, die sowohl Parzivals Schande als auch seine höchste Auszeichnung verkündet, stützen:247 Sie ist derart aufgeputzt – mit einem Pfauenhut aus London und einem Mantel nach französischem Schnitt aus feinstem flandrischen Tuch (313,07–13) – als sie ihre Botschaft überbringt, dass dieser höfische Schmuck für niemand anderen Relevanz haben könnte als für die höfische Welt, die am Artushof ihren Versammlungsort hat. Insofern kann man sagen, dass sich die fehlende Differenzierung der Bezugsgesellschaften in eben jener funktionalen Ausdifferenzierung begründet findet, welche dem Gralshof überhaupt erlaubt, als Instrument für den Eingriff Gottes in die höfische Welt zu funktionieren. 247
Zur besonderen „Mobilität“ und Funktion der Cundrie-Figur vgl. hier Böhland 2001.
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Im Zusammenhang mit der Frage nach Entutopisierung und Dekonstruktion bedeutet das außerdem, dass es neben der göttlichen Gnade auch der Möglichkeiten von höfischer Immanenz, konkret: ihrer Möglichkeit Öffentlichkeit herzustellen, bedarf, um Erlösung am von Gott gelenkten Gralshof einzuleiten und zu vollziehen. Die Schrift auf dem epitafjum muss in die höfische Welt, aus dem abgeschlossenen Bereich des Grals hinaus getragen werden, damit dort Hilfe erlangt werden kann. Gottes Wille ist nur ein Schritt. In der Übertragung bedeutet dies, dass Gott, wenn es um Erlösung geht, auch die Menschen braucht. Es wäre wohl für einen mittelalterlichen Text zu viel gesagt, dass Gott damit in einer Krise zu sehen ist, aber trotzdem kann man wohl von einer Dekonstruktion der Utopie sprechen, weil die göttliche Lenkung des Gralshofs als soziales Ordnungssystem sich selbst eben nicht genug ist, sie allein führt nicht in dauerhaftes Glück oder Eintracht. Dafür ist der Gralshof eben bereits in seiner Anlage viel zu immanent gedacht. Der sich gegenseitig ergänzende Komplementaritätsgedanke kann als Fundament der gesamten Konstruktion des Erzählens von der Beziehung der höfischen Welt zu Gott im Parzival gelten. Anzumerken ist hierzu im Kontext laientheologischer Überlegungen darüber hinaus, dass diese heilsperspektivischen Textbeobachtungen im ersten Moment vielleicht zu der These verleiten mögen, es handle sich hierbei um ketzerisches Gedankengut, weil Gott als Bezugspunkt des (Text-)Geschehens entwertet scheint. Doch gilt es auch zu bedenken, dass zeitgleich im scholastischen Rahmen eine Diskussion über die Aufwertung der Bedeutung des Menschen geführt wurde, die sich (grob vereinfacht) in der Formel deus – causa prima sed non unica zusammenfassen lässt.248 Angemessener scheint daher, von einem großen Selbstbewusstsein höfischer Texte zu sprechen, das sich nicht eigentlich auf den Autor, sondern eine gesamte Adelskultur bezieht, die den Rahmen für derartige Formulierungen auch jenseits von kirchendominierten Positionierungen bietet.249 Diese Beobachtung, dass Gott in seinem Wirken sehr stark in die Immanenz eingebunden wird, lässt sich auch an der bereits angesprochenen Bespiegelung der Gralsburg und ihrer wunder durch die wunder von Schastel marveile entsprechend weiterverfolgen. Der Gral ist, wie bereits angesprochen, nämlich nicht das einzige Wunderding in der Erzählung. Auf Clinschors Burg befindet sich gleichfalls ein stein, der die visuellen Wahrnehmungsmöglichkeiten über den Rahmen des normal menschlichen Maßes hinaus expandieren lässt. Denkt man nun daran, welch prominente Rolle die Bildprogrammatik im Zusammenhang mit religiöser Erkenntnis spielt, lässt diese Parallele unvermittelt aufmerken. Außerdem findet sich auch dort eine märchenhafte Magie, deren Ursprung im Orient liegt (ûz Feirefîzes landen/ brâht ez der wîse Clinschor,/ werc daz hie 248 249
Vgl. zur scholastischen Debatte Angenendt 2004. S. 21. Ansonsten könnte der Parzival auch kaum ein derart von kirchlichen Vorstellungen emanzipiertes Heilsprogramm formulieren, wie er es insbesondere in seinen poetologischen Passagen unternimmt.
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stuont enbor 589,10–12), welcher bekanntermaßen auch für die Geschichte des Grals keine unwichtige Rolle spielt. Auf die Spitze wird diese Parallelisierung jedoch durch die Art der Darstellung getrieben, denn die Beobachtungsmöglichkeiten der wunder bleiben zunächst wie bei den Geschehnissen auf Munsalvaesche auf den Wahrnehmungshorizont des Helden, in diesem Falle Gawans Wahrnehmung, reduziert; die Erzählinstanz entzieht sich erneut der Beschreibung und wird zum Vermittler im Dienst der Herrin âventiure: uns tuot diu âventiure kuont Waz diu wunders mohte hân. durch schouwen gienc hêr Gâwân ûf daz warthûs eine zuo manegem tiwerem steine. dâ vander solch wunder grôz, des in ze sehen niht verdrôz. in dûhte daz im al diu lant in der grôzen siule waern bekant, unt daz diu lant umb giengen, unt daz mit hurte enpfiengen die grôzen berge ein ander. in der siule vander liute rîten unde gên, disen loufen, jenen stên. in ein venster er gesaz, er wolt daz wunder prüeven baz. (589,30–590,16)
Das wunder dieser Säule wird folglich als Bilderpanorama anschaulich, dessen Form insofern an das Erzählen vom Gral erinnert, als auch hier die Wahrnehmung des wunders durch Gegensätzlichkeit bestimmt ist: Gawan sieht mit diesem stein die Menschen reiten und gehen, laufen und stehen – was gesehen werden kann mit dieser gewöhnliche Wahrnehmung übersteigenden Möglichkeit des Sehens, entfaltet sich sprachlich symptomatisch in einem Oxymoron. Trotz der ganzen Parallelen ist dieses wunder von Schastel marveile aber eben nicht religiöser Art, was sich nicht allein über den Raum – Herr der Burg ist nicht eine von Gott auserwählte Sippe, sondern der mit schwarzer Magie arbeitende Zauberer Clinschor –, in dem es in Erscheinung tritt, festmachen lässt, sondern auch dezidiert an der Erzählform und den Beobachtungsmöglichkeiten, die sie eröffnet. Völlig anders als die Reaktion Parzivals, als er der Gralswunder gewahr wird, gestaltet sich nämlich die Reaktion Gawans und damit, weil auch hier die Wahrnehmungsebene der Rezeption mit der des Protagonisten gleichgeschaltet ist (uns tuot diu âventiure kuont), auch die Wahrnehmungsmöglichkeit der Rezipienten: Gawan ist nicht wie Parzival im Angesicht der wunder durch Staunen gebannt, sondern er wolt daz wunder prüeven baz. Auch wenn die Erzählform hierbei auf den ersten Blick dem Erzählen vom Numinosen zu gleichen scheint, so eröffnet das prüeven Gawans, an dem auch die Rezipienten partizipieren können, doch ganz andere Beobachtungsmöglichkeiten als sie in den Fällen gegeben sind, in denen
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tatsächlich das Göttliche Auslöser und Ursprung von wundern ist. In dieser Situation ist es durch die Beobachterhaltung Gawans gestattet bzw. wird geradezu dazu aufgefordert, darüber nachzugrübeln und auch konkret nach der Ursache des wunders zu fragen. Sein prüeven steht hier im absoluten Gegensatz zu der Haltung Parzivals, dessen bloßem Schauen, als er das erste Mal der Gralswunder gewahr wird.250 Gawans Verhaltensmodi scheinen hier nicht reglementiert, bei der ersten Gelegenheit wendet er sich nur kurze Zeit später an Arnive, um herauszufinden, was es mit der Säule auf sich hat.251 Dieses Nachfragen findet an Ort und Stelle und damit in einem alles anderen als mit Religion konnotierten, ausgelagerten Raum statt, auch die Antwort, die von Arnive unmittelbar folgt, entpuppt sich als eine technisch erklärende (was beim wunder-Wirken des Grals undenkbar wäre). Sie versucht ihm den Mechanismus der Säule, wie sie funktioniert, zu beschreiben: Dô sprach si ‚hêrre, dirre stein bî tage und alle nähte schein, sît er mir êrste wart erkant, alumbe sehs mîl in daz lant. swaz in dem zil geschiht, in dirre siule man daz siht, in wazzer und ûf velde: des ist er wâriu melde. ez sî vogel oder tier, der gast unt der forehtier, 250
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Da aber durchaus die Möglichkeit besteht, dass es sich um ein wunder göttlichen Ursprungs handeln könnte – denn auf dieser Ebene der Beschreibung ist zunächst kein signifikanter Unterschied festzumachen –, lässt sich Gawans Handlungsmotivation, seine Neugierde, auch vor dem Hintergrund einer das Seelenheil gefährdenden mittelalterlichen Vorstellung von curiositas deuten. Vgl. hierzu eine Definition nach Müller 1984. S. 252: „Curiositas bezeichnet seit der Spätantike ein Bündel von Einstellungen und Verhaltensweisen, angefangen von alltäglicher Neugierde auf das, was einen nichts angeht, bis hin zur Suche nach den Wundern der Welt […]. Curiositas bezeichnet damit zugleich Denkverbote mittelalterlicher Theologie und Wissenschaft, die […] auf einer Hierarchie des Wissenswerten beruhen, die den Menschen auf sein eigenes Selbst, und das heißt seinen göttlichen Ursprung und sein künftiges Heil, als den zentralen Punkt seines Sorgens und Fragens (memoria) verweist“. Mit seinem prüeven nimmt Gawan dementsprechend eine Haltung ein, die eigentlich von der Erzählung nur ‚von hinten motiviert‘ gerechtfertigt scheint, und zwar, indem sich herausstellt, dass es sich nicht um ein wunder Gottes, sondern um das Wirken eines Schwarzmagiers handelt. Eine solche dekonstruierende Lesart wirft darüber hinaus auch noch einmal ein ganz anderes Licht auf Parzivals Frageversäumnis auf der Gralsburg, denn nach dieser religiösen Logik hat Parzival sogar ganz ‚richtig‘ gehandelt. Dies lässt sich in diesem Rahmen aber nicht ausführlich weiter verfolgen, da diese Beobachtung als Teil der Figurenperspektive von der Frage nach der Bespiegelung erzählerischer Darstellungsweisen zu sehr ablenken würde. zuo sîner meisterinne er sprach umb die sûl die er dâ sach, daz si im sagete maere, von welher art diu waere. (591,27–30)
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die vremden unt die kunden, die hât man drinne funden. über sehs mîle gêt sîn glanz: er ist sô veste und ouch sô ganz daz in mit starken sinnen kunde nie gewinnen weder hamer noch der smit. er wart verstolen ze Thabronit der künegîn Secundillen, ich waen des, ân ir willen.‘ (592,01–20)
Was anhand von Arnives Erläuterung bezüglich der erzählerischen Darstellung zur Anschauung gebracht werden kann, ist zum einen die Parallelität der zum Wirken des Grals paradoxen Erscheinungsform, denn was es als wâriu melde auf der Säule zu sehen gibt, ist auch hier – wie es zudem auch in der Illustration von Gawans optischer Wahrnehmung im Text repräsentiert ist – als Ausdruck des wunders in Paradoxien gezeichnet: Auf der Wundersäule lassen sich zu Wasser und zu Land geflügeltes Getier und solches, das auf der Erde lebt, der Gast und der vor Ort im Wald Arbeitende sowie Fremde und Vertraute gleichermaßen erkennen. Zum anderen zeigt sich ebenso deutlich, dass dieses wunder, auch wenn es der Struktur nach viel mit einer auslagerungsfähigen paradoxen Erscheinungsform gemein hat, gerade keine religiösen Konnotationen aufweist. Dadurch scheint zugleich nachhaltig zur Anschauung gebracht, dass die mögliche Identifikation paradoxer Formen, welche die Erscheinung eines wunders begründet, für sich genommen eben nicht ausreicht, um auch von einer religiösen Kommunikationsform sprechen zu können. Die Geschichte der Säule steht zwar durch ihre orientalische Herkunft einerseits in einer entsprechend mythisch märchenhaften Tradition, andererseits wird sie aber auch entmystifiziert, weil sie nämlich weit mehr als die Geschichte des Grals an Bekanntes und Vertrautes anknüpft, was sie dergestalt nicht mit der Transzendenz affiziert, sondern vielmehr in der Immanenz verankert: Die Wundersäule hat nun einmal keine himmlischen Hüter und es finden sich auch keine sonstigen Verweise auf die Heilsgeschichte, sondern ihre Geschichte führt lediglich zu dem Zeitpunkt zurück, an dem sie aus dem Land Secundilles (das auch als Zeichen seiner Diesseitigkeit ganz konkret als Thabronit benannt werden kann) durch einen recht banalen Akt des Diebstahls entfernt wurde. Die eigentliche Herrin des Wunderdings, der man es gestohlen hat, ist bereits als Feirefiz’ Minneherrin und heidnische Königin über das Land bekannt, aus dem auch Cundrie und ihr Bruder Malcrêatiure stammen (519,01–30). Aufmerksamkeit erregt nun, dass auch die Hintergrundinformationen, die der Rezipient über Secundille erhält, eigens auf den Vergleich mit dem Gral und seinen wundern zugeschnitten scheinen: Die Heidenkönigin gilt als mit den wundern dieser Erde vertraut. Als sie vom Gral hört, schickt sie umgehend das wunderliche Geschwisterpaar (zwei mennesch wunderlîch gevar 519,22) zusammen mit äußerst wertvollen und seltenen Schätzen zu Anfortas, um Kunde über das ihr unbekannte wunder Gral und
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seinen Herrn zu erlangen. Schon allein ihr Frageansatz, der impliziert, man könne über den Gral herrschen (‚wie gewinne ich künde dises man,/ dem der grâl ist undertân?‘ 519,19f.), zeigt jedoch, dass der entscheidende Unterschied des Grals zu den ihr bekannten wundern in dessen Verbindung zur göttlichen Transzendenz liegt. Als Heidin ist ihr unverständlich, dass der Gral niemandem undertân ist, sondern als Medium des göttlichen Willens fungiert. Die von ihr ‚beherrschte‘ Säule repräsentiert dementsprechend auch die aus der religiöschristlichen Perspektive beschränkte Wahrnehmung einer Ungläubigen. Denn hier ist nicht wie bei der medialen Funktion des Grals der Offenbarungsaspekt von Erkenntnis zentraler Gegenstand der Vermittlung, sondern es ist, wie bereits angesprochen, ein technischer Aspekt, der fokussiert wird und zugleich auf eine spezifische Begrenztheit des wunders aufmerksam macht: Arnive betont zweimal, dass der Lichtschein des Steins, welcher das Bilderpanorama auf der Säule erzeugt, sechs Meilen ins Land reiche (592,04 und 592,13). Eine einmalige Erwähnung dieses ‚Fernglas-Radius‘ hätte Staunen erzeugen können, ihre Wiederholung markiert dagegen eher die Begrenztheit von Sehen- und ErkennenKönnen.252 Der Stein lässt sich überdies, anders als der sich der Darstellung entziehende und nicht-greifbare Gral, auch näher beschreiben: Im Text heißt es, er sei durch seine besondere Härte charakterisiert (er ist sô veste und ouch sô ganz), woraus sich eine Konnotation mit irdischer Materialität ableiten lässt. Es findet sich also, entgegen dem ersten Eindruck, auch in der spezifischen Form des Erzählens eine Unterscheidung des ans Irdische, an die Immanenz, gebundenen wunders und desjenigen wunders, das den Eingriff aus der göttlichen Transzendenz bezeichnet: Diese Differenz des Erzählens von der Säule und dem Gral schlägt sich zwar nicht eigentlich in der Struktur und wenig in den konkreten Semantisierungen auf Formulierungsebene nieder (ausgenommen: die Verbundenheit der Säule mit dem Irdischen, ihre Materialität und technische Erklärungsmöglichkeit), dafür aber in einer mangelnden Erzähltradition und der eindeutig benennbaren Herkunft der Wundersäule, in einem Machtaspekt (die Säule ist undertân, der Gral delegiert und ist als Medium des göttlichen Willens normschöpfend), im Umgang mit ihren wundern (Gawans prüeven steht Parzivals Staunen entgegen) sowie nicht zuletzt und entscheidend in den Erkenntnismöglichkeiten – die Säule bietet zwar wâriu melde, doch das ‚Sehen‘, das sie ermöglicht, verweist nur auf das, was durch den Radius bedingt gesehen werden kann: Ihr ‚Sehen‘ bleibt der Immanenz verhaftet. Insofern sind die Erkenntnismöglichkeiten der Säule auch mit denen des ‚Spiegels‘ im Prolog verknüpft, worin deutlich wird, dass bloße ‚Abbilder‘ eben nicht erkenntnisstiftend sind. 252
In der Forschung ist die Beziehung zwischen Gral und Säule dementsprechend auch von Bumke unter dem Vergleichspunkt „übernatürliche Einsichten“ und ihren Ursprüngen gesehen worden: „Während in den Gralaufschriften Gott seinen Willen offenbart, verdankt die Säule ihre Kräfte der Physik: nach dem Prinzip des konvexen Spiegels fängt sie Bilder ein, die dem menschlichen Auge nicht mehr sichtbar sind“ (Bumke 2004. S. 103).
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Im Fokus von wunder-Erzählungen summierend lässt sich festhalten, dass anhand der Form von Darstellung und Geschichte der Wundersäule zunächst eine scheinbare Entdifferenzierung des Erzählens von wundern eintritt (insbesondere aufgrund der Parallelen in der paradoxen Erscheinungsform, der prinzipiellen Indifferenz auf begrifflicher Ebene, dem Zurücktreten der Erzählinstanz und schließlich auch der Möglichkeit von ‚übernatürlichen Einsichten‘) und aber zugleich durch den Zwang zur reflektierenden Rezeption, der durch eben diese Parallelität entsteht, so dass Gral und Säule aufeinander bezogen werden müssen, genau diese Entdifferenzierung wiederum in Frage gestellt ist. Man könnte das auch folgendermaßen beschreiben: Durch die Entdifferenzierung in der Form tritt eine Differenzierung der Funktion in der epischen Welt ein, deren Semantisierung sich aber sehr wohl wieder mit der üblichen semantischen Unterscheidung von Christentum und Heidentum zu decken scheint – dieser Zirkel produziert eine gewisse Opazität.253 Aber ist das bereits alles? Geschieht mit dem Verhältnis von höfischem Erzählen und Religion nicht noch mehr, gerade wenn die Unterscheidung von mit Immanenz oder Transzendenz behafteten wundern eben nicht begrifflich benannt ist, sondern nur als reflexive Rekonstruktion des Erzählens angeboten wird und damit also auf der Ebene der Rezeption gelagert ist? Im Sinne der Dekonstruktion ist hieraus ebenso abzuleiten, dass auch entsprechende Effekte auf das bereits herausgearbeitete Heilsangebot des Textes, die Partizipation am Religiösen, zu erwarten sind. An dieser durch eine gezielte Undurchsichtigkeit bestimmten Stelle muss daher zu der Frage nach Relativierung bzw. Literarisierung und auch den narrativen Effekten dieser Bespiegelung im Allgemeinen zurückgekehrt werden. Für einen modernen Leser ließe sich in Bezug auf die Beobachtung der Literarisierung von wundern sicherlich formulieren, dass Gott als Fixpunkt des Textes durch diesen Zwang zur Dekonstruktion auf Rezeptionsebene hier sehr wohl relativiert wird, für einen Rezipienten des frühen 13. Jahrhunderts ist diese Lesart in dieser Radikalität jedoch kaum anzunehmen. Welche Interpretation dagegen nicht als anachronistisch erscheint, ist eine, die, durch die Thematisierung der Textgrenze des aus der epischen Welt ausgelagerten Raumes, der dem höfischen Text hier Kontingenz verleiht, auf die Exploration von Erzählmöglichkeiten und damit die Vielzahl an angebotenen Beobachtungsmöglichkeiten zielt: Denn bei der Suche nach dem, was die Bespiegelung der wunder schließlich zu leisten vermag, wird man nicht zuletzt bei den Möglichkeiten des Durchspielens verschiedener Varianten der Erzählweisen und -haltungen fündig; die erzählerische Verhandlung von immanenten und transzendenten wundern im Parzival bringt ein ungeheuer vielfältiges Angebot an Beobachterpositionen hervor, wodurch – hier: bezüglich 253
Vgl. zu diesem Gedanken der Entdifferenzierung auch die Überlegungen von Wolf 2007. S. 35f. Wolf perspektiviert allerdings nicht die Rolle von Religion und ihren Funktionen, sondern die des Mythos. Er stellt die Frage nach der Rationalisierung, was die „Opakheit des Textes“ als Ergebnis der Auflösung der „Grenze zwischen Mythos und Literatur“ erscheinen lässt (ebd. S. 36).
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seines Religionsbegriffs – die viel gelobte Multiperspektivität und Polysemantik des Textes überhaupt erst erzeugt wird, und zwar gerade weil Transzendenz auch von der Immanenz der erzählten höfischen Welt entworfen wird. Um es vielleicht weniger komplex auszudrücken: Der Text erhält, gerade weil er an keiner mit Religion in Verbindung zu bringenden Stelle wirklich eindeutig wird, die zentrale Funktion der Auslagerung des Religiösen, und zwar auch und gerade auf der Ebene der Rezeption. Gottes Gnade und Wirken sind im Fokus von Religion an den entscheidenden Stellen, wie die vorliegende Untersuchung zeigen konnte, als präsent gedacht. Der Text partizipiert an ihr und literarisiert sie insofern auch, überführt sie gewissermaßen in sein literarisches Spiel. Damit ist der Parzival aber noch kein areligiöser Text, Gott wird nicht suspendiert, Gott und göttliches Wirken können immer noch als entscheidender Fixpunkt des Erzählens angenommen werden. Entsprechende Erzählstrategien des Textes wie die FlegetanisKyot-Wolfram-Tradition, die erzählerische Verbindung des Grals mit der Transzendenz sowie spezifische Figurenperspektiven, wie vor allem diejenige Trevrizents, legen eine solche Deutung nicht nur nahe, vielmehr wird dabei auf die Wirkungsmacht Gottes sogar insistiert. Trotzdem ist der Weg zur Erkenntnis (in diesem Sinne gerade auch auf der Ebene von Rezeption) im Parzival gerade kein einfacher. Es gilt für den Rezipienten äußerst wachsam zu sein, scheinbare Indifferenzen aufzuschlüsseln und kritisch zu reflektieren (wunder sind eben doch nicht gleich, aber zugleich auch nicht nur in einer einfachen Differenz von gut/ böse, noch nicht einmal christlich/heidnisch aufgehoben); nur über eine reflektierte Beobachterhaltung kann der Rezipient sich vor der Verdammnis retten oder Sinn finden. Man könnte auch sagen: Dies ist seine stiure, um zum Heil/Sinn zu gelangen. Erzählen von Gott und Heil/Sinn ist nicht geradlinig, sondern es erscheint als Fragment. Das heißt aber auch, eben weil Erkenntnis somit als reflektierter Beobachtungsprozess zu verstehen ist, dass es das ‚eine Gottesbild‘ des Textes gar nicht geben kann, der Text weigert sich strikt ein eindeutiges Bild festzuschreiben. Es gibt allenfalls eine Vielfalt an Gottesbildern in Abhängigkeit vom entsprechenden konzeptuellen Entwurf der an spezifischen Stellen zugrunde gelegten höfisch laientheologischen Matrix. Diese narrativ konzeptuellen Beobachtungsmöglichkeiten konturieren die Gottesvorstellungen in verschiedener Art und Weise, sie versehen sie mit ihrer charakteristischen Couleur, entfalten oder fragmentieren sie auch in unterschiedliche Aspekte – und das bedeutet: Sie bringen die Gottesbilder des Textes in ihrer jeweiligen Eigenart erst hervor. Um dieses zu illustrieren und zu vertiefen bietet sich ein struktureller Vergleich der eigentlichen ‚Erlösungstaten‘ der beiden Helden an, wenn man denn überhaupt von solchen sprechen will oder kann. Offensichtlich ist: Beide gelangen erfolgreich an das Ziel gesellschaftlicher Restauration. Parzival zieht kämpfend durchs Land, stellt seinem Onkel diu vrâge, wodurch er seinen vorherbestimmten Platz im Sippenverband einnimmt und schließlich Gralskönig wird. Gawan bezwingt die Schrecknisse der Zauberburg, gibt dem Artushof seine entführten Frauen zurück und ermöglicht es diesem auf dem Fest von Joflanze letzt-
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endlich wieder den Platz einzunehmen, wofür der Artushof steht: Integration durch friedenstiftende Minne und Ein- und Ausgangspunkt von gesellschaftskonstituierender Ehrzirkulation. So deutlich die Bespiegelung der Ergebnisse scheint, so unklar lassen sich jedoch in beiden Fällen die Taten benennen, die am Ende zur Erlösung führen. Als Grundkonstituenzien sind auf jeden Fall der ritterliche Kampf innerhalb eines Dienstverhältnisses (wobei vrouwen- und Gralsdienst in strukturspezifischer Beziehung als Äquivalente erscheinen) sowie das Erkennen von und die Einsicht in verwandtschaftliche(n) Bindungen extrahierbar. Zu den Komponenten von Gawans Erlösungsaufgabe zählt zunächst einmal der Kampf mit dem märchenhaft-magischen wunder-Bett, dem aus Clinschors listeclîchiu wîsheit ersonnenen Lit marveile: Gawan wird, als er durch den Palas schlendert und dabei auf die Tür der Kammer stößt, in der ihn sein seltsamer Gegner erwarten wird, von der Erzählinstanz bereits als Heilsbringer der auf der Burg gefangen gehaltenen Damen betitelt, es heißt, er sei ir freuden kunft, ir saelden tac (565,25). Die Aventiure wird mit den klassischen Topoi des Bestimmungskampfes artushöfischer Art angekündigt: dâ inrehalp im solte ergên hôhes prîss erwerben ode nâch dem prîse ersterben. (566,08–10)
Die Inszenierung der darauffolgenden Kampfszene Gawans in dem schwarzmagisch konnotierten wunder-Bett hat jedoch mit den angekündigten höfischen Darstellungskonventionen ritterlicher Heldentaten nun überhaupt nichts gemein. Der einzige strît, den Gawan in dieser seltsamen Kammer zu führen hat, ist der gegen einen Löwen, d. h. gegen ein Tier und damit einen eigentlich höfisch nicht angemessenen Gegner. Die Ankündigung dieses Kampfes erfolgt obendrein durch einen gebûr (569,30), einen ordinären Bauern (vilân 570,25), was die Brechung höfischer Erzählkonventionen noch deutlicher unterstreicht. Der als Minne-Allegorie deutbare kühne Sprung Gawans mitten ins Bett hinein und sein Ausharren unter einem Schild, während er mit Steinen und Pfeilen beschossen wird, decken sich ebenso wenig mit den Vorstellungen aktiven ritterlichen Einsatzes von Leib und Leben – konzeptionell gelesen gilt es hier durchzuhalten, auszuharren bis man den prîs erhält. Dies erinnert aber an eine spezifische Anforderung des Minnedienstes, die gerade an der Gawan-Figur und ihrem Dienst an Orgeluse exemplarisch durchexerziert wird, nämlich Beständigkeit zu beweisen, indem man nicht einfach gewaltsam auf die Frau zugreift, sondern duldsam und in Demut auf ihren Lohn hofft.254 Gerade Gawans Dienst an Orgeluse ist auch mit entsprechenden Erniedrigungen verknüpft. Zudem assoziiert auch Gawan selbst die Aventiure des Lit marveile mit seiner Beziehung zu Orgeluse, deren genâde, nach eigener Aussage, ihn allein aus disiu bette ruowelôs erlösen kann (587,15–22). 254
Vgl. hierzu auch meine Überlegungen zur „Eroberung von Herrschaftsräumen in Wolframs Parzival“ (Knaeble 2009; hier S. 349–351).
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Auffällig ist dabei, dass diese Haltung Gawans, sein passionsmäßiges Erdulden und passives Ausharren im Leid auch seinem Gottesverhältnis, seinem ungebrochenen Gottesvertrauen, gleichkommt. Auch wenn die Figurenperspektive zwar hier nicht eigentlicher Gegenstand der Untersuchung sein soll, sei an dieser Stelle im Zusammenhang narrativer Spiegelungen trotzdem darauf hingewiesen, wie wichtig es dem Text offensichtlich ist, seine Konstruktivität und damit auch Kontextabhängigkeit von Gottesbildern auch anhand seiner Figuren vorzuführen. Gerade an Gawan als dem Vorbild aller Artusritter wird hier nämlich einsehbar, dass dessen Vorstellung von Gott, vor allem im Gegensatz zu derjenigen Trevrizents und Parzivals (worin Kontingenzbewältigung ein wichtiger Faktor ist), letztlich in der höfischen Immanenz verankert bleibt, was aber zugleich keinerlei negative Wertung im Text provoziert, sondern ebenso als eine mögliche und nicht abgewertete Form der Gottesbeziehung dargestellt ist. Gawan wird von seinem Gott daher auch nie enttäuscht, was die Erzählinstanz zudem auch ausdrücklich bestätigt, wenn es im Text heißt: Er lac, unde liez es walten den der helfe hât behalten, und den der helfe nie verdrôz, swer in sînem kumber grôz helfe an in versuochen kan. der wîse herzehafte man, swâ dem kumber wirt bekant, der rüefet an die hôhsten hant: wan diu treit helfe rîche und hilft im helfeclîche. daz selbe ouch Gâwân dâ geschach. dem er ie sîns prîses jach, sînen krefteclîchen güeten, den bat er sich behüeten. (568,01–14)
Gawans Gottesbild ist dementsprechend nicht eigentlich durch die Funktion von Kontingenzgewährung bestimmt,255 sondern viel eher durch eine Engführung von Möglichkeiten: Sein höfischer Gott sorgt dafür, dass grundlegende gesellschaftliche Prinzipien gewahrt werden – helfe wird erbeten, helfe wird gewährt. Gawans Gottvertrauen ist letztlich also als das Vertrauen ins höfische System selbst zu deuten. In ganz besonderem Maße erweist es sich beim Abenteuer von Schastel marveile, doch auch bereits zuvor wurde mehrfach erwähnt, dass Gottes Wille für den Ausgang seiner Abenteuer entscheidend sei.256 Das Dienstverhältnis scheint bei seiner Erlösertat als exzeptionelles vorgeführt. Schu weist dabei jedoch zu Recht auch auf die Komik dieser Inszenierung hin: „Tatsächlich besteht Gawan die Fahrt auf dem rasenden Bett unter anderem aufgrund seines 255
256
Das bedeutet systemtheoretisch: durch eine Form der Abarbeitung am ‚unmarked space‘ des höfischen Systems. Beispielsweise: Parzival 331,23–30.
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Gottvertrauens, wobei eine komische Diskrepanz zwischen der mehrfach betonten helfe Gottes und dem doch recht profanen Anlaß nicht zu verkennen ist“.257 Vergegenwärtigt man sich diesbezüglich jedoch, dass Komik und Lachen auch als Inszenierungsstrategie religiöser Momente im Parzival genutzt werden (insbesondere an Feirefiz’ Taufe und Cunnewares Lachen ist dies ersichtlich geworden), so erscheint diese „komische Diskrepanz“ nicht als Zufall, sondern als höfisch laientheologisches Konzept, mit welchem der Text diese als durchaus solide beschriebene Gottesbeziehung verhandelt. Auf der Ebene von Bestimmung und der Folie höfischer Aventiure-Logik betrachtet, wird sie sogar als Gottesverweis in der Form einer Paradoxieentfaltung lesbar: Dem höfischsten aller Artusritter wird es als Bestimmungsaventiure zuteil, einen völlig unhöfischen Kampf auszuführen bzw. eigentlich gar nicht zu kämpfen – als Gegner des Artusritters Gawan hätte man deutlich ehrbarere Kämpfer erwartet.258 Die ‚burleske Komik‘ dieser Situation mindert Gawans Gottesbild jedoch nicht in seinem Wert, sondern sie markiert viel eher etwas: Sie führt ganz klar die Regeln des höfischen (Text-)Systems vor Augen und genau das scheint auch ihre Aufgabe zu sein. Aus dieser Perspektive erklärt sich überdies auch die Exemplarität von Gawans Gottesbeziehung, wie sie in der Forschung immer wieder gesehen wurde; beispielsweise von Pratelidis, der formuliert: „Seine Gottergebenheit und sein Gottvertrauen sind beispielhaft, wie auch sein Glaube an die Allmacht Gottes letztlich unerschütterlich ist“.259 Als beispielhaft ist dieses Vertrauen Gawans und seine (Gott-)Ergebenheit insbesondere deshalb zu bezeichnen, weil Gawan ein Vorbild in Sachen Friedlichkeit und der spezifischen Form der höfischen Machtkommunikation ist:260 Er erfüllt seinen Teil des dienstes durch vorbildhaft höfisches Verhalten und kann daher vom ‚Machthaber‘ Gott auch seinen Beitrag erwarten, nämlich dass dieser den Rahmen der Möglichkeiten konstant hält, d. h. Gott hält sich hie257 258
259 260
Schu 2002. S. 352. Auf einer höfischen Beobachterebene erster Ordnung erscheint dies als Paradoxon, in der Reflexion der Darstellungskonventionen, also als strukturorientierte Beobachtung zweiter Ordnung, wird in dieser durch Widersprüchlichkeiten erzeugten Komik dementsprechend die Partizipation an religiöser Kommunikation ersichtlich. Vgl. hierzu auch die, jedoch nicht konzeptionell gefasste, Beobachtung Bumkes: „Komik scheint im ‚Parzival‘ noch einen weiteren Schwerpunkt zu haben […], und zwar in der Identitätsproblematik. […] Komik deckt Doppeldeutigkeiten auf und kann als Reaktion auf Rätselhaftes, rational nicht zu Bewältigendes verstanden werden: wenn der Verstand kapituliert, reagiert der Körper mit Lachen. So gesehen erzeugt Komik im ‚Parzival‘ einen Gegensinn und macht auf eine grundsätzliche Widersprüchlichkeit der erzählten Geschichte aufmerksam, die offenbar mit dem Prinzip des hakenschlagenden Erzählens korrespondiert“ (Bumke 2004. S. 228). Und solch ein Spiel mit der Identität des höfischen (Text-)Systems liegt auch in Gawans ‚Bestimmungsaventiure‘ vor. Pratelidis 1994. S. 175. Ich orientiere mich hier am Machtbegriff Luhmanns, der den kommunikativen Charakter von Macht herausgearbeitet hat und dabei die freie Wahl des ‚Machtunterworfenen‘, innerhalb eines vom ‚Machthaber‘ definierten Rahmens, zentral gestellt sieht. Vgl. Luhmann 2003; insb. S. 4–18.
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rin also auch selbst an die von ihm gesetzten Spielregeln – dass das nicht selbstverständlich ist, zeigt dagegen die Parzivalhandlung. Dies gilt natürlich auch im für die Figuren Positiven, da Parzivals Frage, die zur Erlösung führt, auch noch ein zweites Mal wirkt: Hierin beweist Gott seine Gnade, er lässt Gnade vor Recht walten, indem er das wunder erfolgen lässt und der an seinen Gesetzen gescheiterten Gralssippe zurück an den ihr angestammten Platz im herrschaftlichen Ordnungsgefüge verhilft.261 Eine Parallele zu Parzivals Handeln findet sich hierbei jedoch, nämlich im Ausharren Parzivals (nach der Einkehr bei Trevrizent) auf Gottes willkürliche Gnade wartenden dienest, der ihn jahrelang kämpfend durchs Land reiten lässt und so als Teil höfischer Minne-Logik lesbar wird. Allerdings übernimmt Parzival dabei keine erduldende Rolle, sondern die des aktiven Streiters, was ebenfalls als Teil der Voraussetzungen dafür erscheint, dass er später die Erhebung zum Gralskönig erlangen wird. Derart wie sich Höfisches und Religiöses im Parzival prinzipiell in einer chiastischen Verschränkung präsentieren, so gilt dies offenbar auch für die Handlungsoptionen seiner beiden Protagonisten. Signifikant hierfür ist, dass, gerade als Gawan sich zur Gralssuche aufmacht, es im Text heißt: wan swers grâles gerte, der muose mit dem swerte sich dem prîse nâhen. sus sol man prîses gâhen. (503,27–30)
Es wird an dieser die Protagonisten bespiegelnden Aussage der Erzählinstanz deutlich, dass, während sich Gawans Bestimmungskampf so unhöfisch gestaltet, indem er ausharren und erdulden muss, was alles auf ihn niederprasselt, Parzival sein ‚religiöses Ziel‘, die Erlangung göttlicher Gnade für die Sippe der Gralsherrscher, vornehmlich mit den Mitteln höfischer Ritterlichkeit erlangt, nämlich mit Kampf.262 Ein weiteres wichtiges Beispiel der Durchdringung von Höfischem 261
262
Mit dieser Lesart wende ich mich auch gegen Czerwinski, mit dem ich zwar die Ansicht teile, dass die Frage mit der ‚innerlichen Entwicklung‘ des Helden nichts zu tun hat, der aber prinzipiell keinen ‚Wandel der Gralsprämissen‘ in Wolframs Text sieht (Czerwinski 1989. S. 125). Die göttliche Gnade ist jedoch gerade in Bezug auf Parzivals Handeln mit Transzendenzbezug als kein zwingender Akt (im Sinne von herbei zu zwingender Akt) nach den höfischen Spielregeln lesbar, sie erfolgt eben gerade nicht nach dem do-ut-des-Prinzip. Dass göttliche Gnade vom Höfischen aus aber gedacht werden kann, dass sie nicht als das ‚völlig Andere‘ erscheint (also das, was Czerwinski offensichtlich unter Transzendenz versteht), liegt in der Natur der Sache von Funktionen des Religiösen für ihre höfischen Bezugsgesellschaft. Vgl. hierzu auch die Beobachtungen Schus: „Gawans Lösungsweg hat (partiell) erstaunliche Ähnlichkeit mit den Wegen von legendarischen Figuren, obgleich sein Problem keineswegs religiöser Natur ist“ (Schu 2002. S. 355), und komplementär zu Parzival: „Seine charakterliche Eignung für das religiöse Amt beweist er dabei durch triuwe und kiusche, aber er orientiert sich vorwiegend an einem arthurischen Wertekanon, nicht an einem eminent religiösen. Erst ganz am Schluß kann er als Gralskönig als Repräsentant der Gralswelt angesehen werden; sein Weg dorthin ist aber kein legendarischer, sondern ein Weg, in dem sich der Kampf gegen Ritter und die Auseinandersetzung mit Gott nicht ausschließen“ (ebd. S. 398).
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und Religiösem im Erzählen von Erlösung lässt sich zudem auch in denjenigen Handlungsparts identifizieren, welche den jeweiligen Frauen der ‚Erlöser‘ zukommen. Sowohl Condwiramurs als auch Orgeluse haben Anteil am Erlöserwerk der in ihrem Dienst stehenden Männer: Im Falle Gawans ist es die heilende Kraft der Minne, die im Beischlaf mit Orgeluse zelebriert und als gesellschaftskonstituierend erfahren wird, im Falle Parzivals die Gralsberufung Condwiramurs’ im Zusammenspiel ihres gemeinsamen Nachwuchses, durch welche Parzival erst als vollkommen funktionsfähiger Herrscher der Gralsdynastie auf Munsalvaesche inthronisiert werden kann. Fragt man nach den ‚Erlösungstaten‘ im Parzival, ihren Komponenten, die Erlösung überhaupt erst möglich machen, so darf natürlich auch das von der Forschung bereits breit beackerte Feld der Verwandtschaftsbeziehungen, insbesondere die unverkennbar bedeutsame Rolle des Erkennens von Verwandtschaft nicht außer Acht gelassen werden: Dies gilt für Parzival und das Erkennen seiner Position im Sippenverband und die Vermeidung von Verwandtenkämpfen wie beispielsweise mit Feirefiz ebenso wie für Gawans verzwickte Lage zwischen seiner Schwester und ihrem Geliebten Gramoflanz, der zugleich auch sein Herausforderer und Hassobjekt Orgeluses ist.263 Damit wären, auch wenn die Liste der Handlungsstränge und ihrer Verknüpfungen sicher noch längst nicht abgeschlossen ist, wohl die wichtigsten Komponenten benannt, aus welchen sich die ‚Erlösungstaten‘ im Parzival zusammensetzen – doch sie bleiben, fragt man nach der jeweils einen ‚Erlösungstat‘ Parzivals und Gawans, Fragmente. Und dieser fragmentarische Charakter des höfischen Erzählens von Erlösung lässt sich, wie im Folgenden gezeigt wird, wiederum als Partizipation an einem religiösen Denkmuster beschreiben. In der hier vorgeschlagenen Interpretation kann es deshalb nicht darum gehen, die entsprechenden Rollen, welche diese Konstituenzien einnehmen, zu gewichten und als festes Ordnungsgefüge vorzustellen. Dies geschieht im Regelfall in solchen Interpretationen, in welchen eine dieser Komponenten (Kampf, Verwandtschaft oder auch Minne) isoliert betrachtet und zentral gesetzt wird. Aus einer strukturorientierten Perspektive und im Fokus von Religion erscheint jedoch vielmehr die Beobachtung des Zusammenspiels, bzw. des fragmentarischen Charakters der ‚Erlösungstaten‘, der auch aus der spezifisch chiastisch verschränkenden Struktur, in welcher wider Erwarten gerade Parzival sein religiöses Problem tendenziell mit ritterlichen Mitteln und Gawan seine Aventiure auf legendarisch erduldende Weise löst, entsteht, an dieser Stelle weiterzuführen und luzide zu werden.264 Denn aus der Perspektive auf die Konstruktionen und die Dekonstruktion des Erzählens von Artus-und Gralshof scheint die Entdifferenzierung in der Form des religiösen Musters zu der einen höfischen Welt ebenso auf der Handlungsebene an ihre Helden zurückgespielt. Der Effekt dieser Bespiegelung ist in erster 263 264
Vgl. hierzu den Forschungsüberblick bei Bumke 2004. S. 169–176. In erzähltheoretischer Hinsicht, jedoch ohne den Einbezug von Religion, werden diese Beobachtungen auch von Schu 2002 (insb. S. 351–360) erläutert.
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Erzählen vom Gral und seinen wundern
Linie darin zu sehen, dass sich Höfisches und Religiöses und damit systemimmanentes und Handeln mit Transzendenzbezug grundsätzlich nicht ausschließen, sondern sogar essentiell aufeinander bezogen sind. Dies ist an sich keine eigentlich neue Beobachtung, aber die Konsequenz hieraus scheint bislang noch nicht wirklich durchdacht worden zu sein: Indem der Text die sich aus Gegensätzlichkeiten ergebenden Möglichkeiten als wesentlichen Erzählhorizont etabliert, hat er selbst eine religiöse Form der Kontingenzgewährung gefunden, welche die Funktion Gottes trotz allem nicht suspendiert, sondern eben den Transzendenzbezug in seine eigene Konstruktion mit aufnimmt. Man könnte daher auch sagen: Mit dieser Inkorporation des Religiösen als Erzählmuster wird der Text autonom, aber autonom in einem konstruktivistischen Sinn, das bedeutet wie gesagt eben nicht völlige Unabhängigkeit, sondern die Übernahme zentraler Funktionen der (höfischen) Bezugsgesellschaft, aus welcher Gott hier nicht wegzudenken ist.265 Da das Frageinteresse dieser Arbeit auch den Einbezug des Rezipienten umfasst, soll hier zudem noch das Augenmerk auf den hinsichtlich narrativer Heilsvermittlung auffälligen Umstand gelenkt werden, dass sich der Akt, die eigentliche ‚Tat‘, welche die Erlösung herbeiführt, der Beobachtung ausdrücklich entzieht: Dieser Akt ist der blinde Fleck, den das höfische Erzählen in seiner Partizipation am Religiösen (im Zuge eines re-entry) als Pluralität von Möglichkeiten, wie man zur Erlösung gelangen kann, entfaltet. Er bedingt die differenten Wege und Haltungen – womit wieder die Grundkonstituenzien angesprochen sind, die dabei alle eine Rolle spielen, jedoch ohne, dass man ihre Gewichtung, ihre Ordnung als Einheit erfassen könnte (der Kampf, das erjagen, Gewinn von lîp und lant, Erkennen von Verwandtschaft und Sippenbindungen sowie das Verhältnis und Vertrauen der Helden zu Gott). Was der Text an Heilsaussicht verspricht, liegt als eigentliche ‚Tat‘, ganz einem religiösen Denkmuster entsprechend, nicht in einer mit Eindeutigkeit versehenen Form vor, jegliche Eindeutigkeit und Möglichkeit von Identifikation einer bestimmten ‚Tat‘ sind bewusst ausgeblendet: Das Religiöse wird hier Teil der höfischen Erzählstruktur, es infiltriert gewissermaßen das höfische Erzählen. An dem Punkt, an dem die religiöse Struktur genutzt wird, um die Geschichte eines Erlösung bringenden Helden zu schöpfen, wird die Interpenetration des Religiösen und des höfischen Erzählens für den reflektierten Beobachter zweiter Ordnung des höfischen (Text-)Systems einsehbar. Denn hieran zeigt sich, dass eben nicht nur das religiöse Muster mit höfischen Semantisierungen gefüllt und dadurch verändert wird (dass Gott als höfisiert erscheint, ist auch in der Forschung kein neuer Gedanke)266, sondern, dass eben auch um-
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Dass damit Gott jedoch bedingt zu einem theoretischen Prinzip wird, ist ein altes Problem, das in ähnlicher Weise seit der Antike mit den Entwürfen eines ‚Gottes der Philosophen‘ diskutiert wird. Christliche Füllungen sind in den Gottesbildern des Parzival, wie gezeigt werden konnte, grundsätzlich präsent, doch an einigen Stellen nicht unbedingt widerspruchsfrei, wie beispielsweise der Fall der Geblütsheiligkeit beweist. So beispielsweise bereits: Czerwinski 1989. S. 160–177.
Die Dekonstruktion der Utopie
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gekehrt gilt, dass das höfische Erzählen zu einem wesentlichen Teil durch Formen religiöser Kommunikation bestimmt ist. Wenn sich die Identifikation der ‚Erlösungstaten‘ in der höfischen Textimmanenz nun dergestalt in plurale Deutungsmuster zerschlägt, dann eröffnen sich, weil man es aufgrund der Religionsthematik im Parzival stets mit zweierlei Systemen zu tun hat, auch zwei Räume der Auslagerung: Der eine ist mit der willkürlichen Gnade Gottes gefüllt, dessen Ordnung den Widersprüchlichkeiten menschlichen Beobachtens enthoben ist, und der andere eröffnet sich, auch mit dem Überschreiten der Textgrenze, beim Rezipienten. Man kann weder an der Geschichte Parzivals noch an der Gawans festmachen, welche genau ihrer ‚Taten‘ nun der Schlüssel zur Erlösung, zur Restauration der höfischen vreude ist. Dieser Befund, dass gerade die ‚Tat‘, der Punkt an dem Gnade erfolgt und sie Erlösung bewirkt, allem Beobachten entzogen ist, lässt sich auch als konsequente Fortführung des konzeptuellen Angebotes, das der Text gegenüber dem Rezipienten formuliert, deuten, nämlich im Sinne seines Angebotes der Partizipation am Heil durch den Nachvollzug des epischen Prozesses. Handeln mit Transzendenzbezug bleibt, wie es die poetologischen Passagen des Textes versprechen,267 trotz allem ein garantieloses Angebot: Die Lesart, dass Gottes Gnade zu einem guten Ende führt, bleibt somit auch für den Rezipienten nur eine mögliche, der Text verweigert sich auch bei der Frage nach Erlösung radikal jeglicher Reduktion von Sinnpotentialen. Gleichzeitig scheint mir gerade das, was an diesen Akt der Auslagerung geknüpft ist, dasjenige zu sein, was die Rezeption eines historischen von der eines modernen Rezipienten, dessen Bezugsgesellschaft in der Regel eine säkulare (hier: im Sinne von nicht mehr zwingend an religiösen Glauben gebundene) ist, einerseits unterscheidet, andererseits aber auch den spezifischen Reiz evoziert, den der Text unfraglich auch auf den modernen Rezipienten ausübt: Gerade aber weil das Aufeinandertreffen göttlicher Gnade und erlösungsbringender ‚Tat‘ im Unbestimmten verbleibt, wird die Aufforderung zur Auseinandersetzung mit diesem erzählerischen Spannungsgefüge, die der Parzival formuliert, zeitlos. Und vor diesem Hintergrund ließe sich die Interpretation dahin gehend weitertreiben, dass an eben die Stelle, an die der historische Rezipient epistemologisch den Fixpunkt Gott einsetzt und an dessen Gnade er zu partizipieren sucht, in der Moderne nun das Individuum getreten ist, das derselben Fragmentierung und Unbestimmtheit unterliegt und nach demselben religiösen Muster durch funktionsbedingte Intransparenz gekennzeichnet ist;268 – doch dies wäre schließlich eine andere Arbeit.
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Hierbei ist natürlich insbesondere an den Prolog und das Bogengleichnis zu denken. Insofern ist es jedoch kein Zufall, dass eine beträchtliche Anzahl der Parzival-Interpreten den Text als modernen Roman versteht, der sich durch einen Individualitätscharakter auszeichnet. Vgl. hierzu die Darstellung im Forschungsüberblick (Kapitel I: 2.).
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V. Überlegungen zum höfischen Erzählen von Gott und Heil, zur Funktion und narrativen Entfaltung des Religiösen – Zusammenfassung und Ausblick Am Ende der textanalytischen Darstellung angekommen, ist es mir nun ein Anliegen, die entscheidenden Linien der Untersuchung höfischen Erzählens von Gott und dem göttlichen Wirken im Parzival in einer Ergebnis-Skizze zusammenzufassen. Dieser Paraphrasierung und Zuspitzung der Analyseergebnisse bedarf es, damit sich die Resultate in entsprechend anschlussfähige und weiterführende Überlegungen, auch hinsichtlich dominierender Forschungsdiskussionen, überführen lassen. Die aus gewählter Perspektive gefundenen Antworten auf die weitläufige Frage, wie sich Religion im Parzival konfiguriert, lassen sich hierzu anhand der folgenden, sich selbstverständlich auch überlagernden und gegenseitig penetrierenden, Komplexe systematisch erfassen und beschreiben: Den ersten großen Komplex bezeichnen Darstellung und Funktion göttlichen Wirkens in der höfischen Welt des Textes, der zweite umfasst die im Erzählen beobachtbare Durchdringung von Höfischem und Religiösem sowie die Frage nach spezifischen Erzählmustern und -verfahren, die solche Verschränkungen zum Ausdruck bringen. Der dritte Komplex lässt sich als die höfisch laientheologische Konzeption des Parzival verstehen, der vierte als Formulierung seiner narrativen Visualisierungsstrategien und der fünfte behandelt den Rezipientenbezug und das Heilsangebot des Textes. Hieran knüpft dann der letzte Komplex zentral an, da er die Dekonstruktion und Fragmentierung des Erzählens von Heil und göttlicher Gnade zum Gegenstand hat, welche ohne die Verknüpfung mit der Rezeptionsebene im Parzival nicht als derart bedeutungskonstituierend begreif- und thematisierbar wären. Darstellung und Funktion göttlichen Wirkens werden in der höfischen Welt des Parzival in erster Linie an den wundern des Grals einsichtig. Hieran setzen die wesentlichen Funktionen Gottes für die erzählten höfischen Welten an: die Gewährung von Kontinuität in den dynastisch personal organisierten Herrschaften, die damit zusammenhängende Wahrung höfischer Vergesellschaftungsprinzipien durch Gewaltvermeidung bei der Entsendung von Männern und durch die Öffentlichkeit bei der Übergabe der Frauen. Das Speisewunder offenbart sich vor diesem Hintergrund sowohl als Ausdruck der Koinzidenz einer höfischen Repräsentationslogik und der alle weltlichen Wünsche übersteigenden himmlischen Fülle, des Zusammenfallens eines feudal-adligen Traums von absoluter Herrschaft über die Natur und der gleichzeitigen Kennzeichnung einer Verbindung von Immanenz und Transzendenz des Gralshofs, als auch als konkrete Funktion, mit der die Burg
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Munsalvaesche der in Gottes Dienst stehenden Gesellschaft vor Eroberungen durch die mittelalterliche Belagerungsstrategie des Aushungerns gesichert wird. Ebenfalls im Kontext der konzeptionellen Verknüpfung einer höfisch-adligen Repräsentationslogik mit einem religiösen Aspekt, der hier konkret durch die christliche Auferstehungsvorstellung und ihre mittelalterliche Spezifikation der Kontinuität von leiblicher Materialität bestimmt ist, ist das wunder des Grals zu sehen, das Jugend und Leben spendet. Seine Funktion besteht darin, die sippengebundene Position der Gralskönige, an denen dieses wunder in Erscheinung tritt (konkret: an Anfortas und dem Ahnherrn Titurel), nicht unbesetzt zu lassen. Die personal organisierte Gralsherrschaft darf nicht verwaisen, Anfortas muss solange auch gegen seinen Willen am Leben bleiben, bis die erwählte Sippe wieder bei Gott Gnade gefunden hat. In der Darstellung dieser wunder des Grals wird zwar die Repräsentationslogik höfischer Herrschaft zugunsten ihrer paradoxen Erscheinungsformen zurückgedrängt, dafür ist jedoch ein wirkungsvoller Transzendenzbezug geschaffen, denn die himmlische Seite des Grals hat ein Herrschaftskonzept anzubieten, das durch die Anbindung an Gott absolute Kontinuität garantiert. Die konkrete Funktion der Speise- und Lebenswunder ist dabei Teil der darstellerischen Konzeption Munsalvaesches, durch welche ein Raum in der Erzählwelt geschaffen ist, über den die Möglichkeit von Gottes Eingriff in die höfische Welt des Parzival überhaupt erst hergestellt werden kann. Hierzu gehören außerdem auch die rigiden und auf Eindeutigkeit ausgelegten Gralsgesetze wie das Töten im Kampf, um die Gralsgesellschaft gegenüber Eindringlingen abzuschotten, die Isolation der Burg von der höfischen Öffentlichkeit durch die paradoxe Regel, dass man sie nur unwizzende finden kann, sowie die radikale Geschlechtertrennung auf Munsalvaesche im Dienste der ‚Reservehaltung‘ von Männern und Frauen für höfische Herrschaften und schließlich auch der Verlust von Namen und Herkunft, was zu einer spezifisch höfischen ‚Identitätslosigkeit‘ führt. Alle diese Regeln des Grals sind so konzipiert, dass sie das genaue Gegenteil zu den Handlungsnormen und Werten der höfischen Gesellschaft darstellen; gemeint sind die höfischen Vergesellschaftungsprinzipien des sicherheit nemens und der Integration, die Beweglichkeit und Offenheit von Herrschaftsräumen, deren Vorbild der Artushof ist, das gesellschaftsorganisierende Prinzip der Minne und des Minnedienstes sowie die Wirkungskonstitution von Handeln durch höfische Öffentlichkeit. Diese Paradoxien erzeugende Handlungskonzeption einer eigentlich der höfischen Welt zugehörigen und auch in deren Dienst stehenden Gesellschaft, die sich aber nach dem Willen Gottes komplett antihöfisch verhalten muss, wurde in der Untersuchung zu dem Begriff des ‚Handelns mit Transzendenzbezug‘ abstrahiert. Semantisiert wird der höfische Immanenz und göttliche Transzendenz in Verbindung bringende Verhaltenskodex der Gralsgesellschaft im Text mit der grenzenverwischenden Terminologie der kiusche, sein symbolisch lesbares Zeichen ist die Turteltaube. Insgesamt dient diese narrative Konzeption des Gralshofs dazu, dem Dilemma zu entgehen, das beim Erzählen vom direkten Eingriff Gottes in die Welt
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entsteht, dass nämlich Gott als Figur verhandelbar gemacht würde. Gerade aber weil der Gral als indirektes Mittel von Gottes Wirken fungiert, kann er nur delegieren und Gesetze erlassen, womit zugleich aber auch die Möglichkeit des Scheiterns der Gralshüter gegeben ist – was die Herrscher von Munsalvaesche ja auch eindrücklich unter Beweis stellen. Hierfür bietet die Engführung eines religiösen und höfischen Herrschaftskonzepts aber das Moment der Gnade und die Suche nach der Gnade Gottes ist es ja gerade, wovon der Text erzählt. Signifikant scheint hierbei, dass Anfortas’ Verstoß gegen die kiusche, seine zentrale sünde, die er mit der Ausübung höfisch konventionellen Minnedienstes begangen hat, sich in der Logik der providentiellen Ordnung, in welcher Parzival Gralskönig ist und nicht erst werden muss, quasi von seinem Neffen wiederholt findet: Dieses Gralsgesetz, das dem Gralskönig verbietet seine Frau selbst zu wählen und die Auswahl über die Inschrift auf dem Stein regelt, scheint jedoch auch das einzige Gesetz, das nicht wirklich funktional eingebunden ist. Zwar ist der Gralsherrscher König eines höfisch ‚identitätslosen‘ Hofes, was wohl ebenso dazu verpflichtet, antihöfisch zu handeln, trotzdem fehlt hier der Funktionsbezug. Diese Regel erscheint in erster Linie im Gegensatz zu den anderen als willkürliche Setzung und verweist dadurch letztlich auf einen selbstherrlichen Handlungsakt des Machthabers Gott. In dieser Willkür scheint aber auch die Begründung dafür zu liegen, warum gerade diese Regel verhandelbar ist: Condwiramurs wird vom Stein, gewissermaßen ‚von hinten motiviert‘, berufen. Nicht Anfortas als sünder setzt diese Änderung durch, sondern Parzival hat einen Weg gefunden, diese Regel abzuschaffen (er hat ja bereits Minnedienst an Condwiramurs geleistet). Weil er eben noch nicht Gralsherrscher ist, kann die Berufung zum Schluss aber trotzdem als Part der göttlichen Bestimmung erscheinen, somit hat der Text in der Narrativierung der Geschichte von Parzival eine Möglichkeit gefunden, eine Änderung herbei zuführen und dabei trotz allem Gottes Machtposition nicht zu beschädigen. Diese Möglichkeit bietet also, was hier nun nicht mehr weiter zu verwundern scheint, das Erzählen selbst: die Formulierung einer Geschichte, die es mit ihrer spezifischen Verfahrensweise erlaubt, solche Brüche (oder auch: Paradoxien) in sich aufzunehmen und dynamisch umzusetzen. An die Frage nach der Funktion Gottes ließen sich überdies weitere Untersuchungen anschließen, die insbesondere im theologischen Rahmen angesiedelte Gottesbilder mit den hier ermittelten laikal höfischen in einem Vergleich systematisch erfassen könnten. Was in dieser Arbeit beispielsweise nicht zu leisten war, ist der Umriss eines klerikalen (Text-)Systems als Pendant des höfischen. Seine Mittel wie z. B. durch Schriftlichkeit, Oralität usw. bestimmte Konzepte mögen zwar mit denen des höfischen (Text-)Systems übereinstimmen, doch seine Funktionen sind mit größter Wahrscheinlichkeit anders bestimmt. Man könnte hier u. a. auch fragen, ob es in einem klerikalen (Text-)System ebenso Strategien gibt, mit welchen Gott einerseits als Machthaber thematisiert oder andererseits auch unantastbar gemacht werden kann.
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Das höfische Erzählkonzept des Parzival verlangt, da Gottes Wirken in der höfischen Erzählwelt nicht direkt vermittelbar, nicht unmittelbar beobachtbar, ist, dass der Gottesbezug über eine spezifisch (höfisch) Widersprüchliches zusammenbindende und damit paradoxe Erscheinungsform, die der wunder, hergestellt wird. Die Erzählformen nehmen dabei selbst paradoxe Gestalt an; Oxymora und Chiasmen sind die bestimmenden Erzählfiguren. Die Gralswunder sind zum Teil aber auch als Bindegliedsemantisierungen von Höfischem und Religiösem markiert, so dass durch eine gezielte Mehr- und damit Uneindeutigkeit eine Entdifferenzierung auf der Ebene der Semantisierungen gegeben ist, die wiederum den Anschluss von Religion, des religiösen Codes zum Zweck der Auslagerung an Gott, erlaubt. Die Semantisierungen des Grals umschreiben auf diese Weise das Wirken des Numinosen, Unbenennbaren und aus einer höfischen Beobachterperspektive erster Ordnung Nicht-Fassbaren. Die reflektierte Lektüre einer Beobachtung zweiter Ordnung des höfischen (Text-)Systems gibt schließlich den Blick auf die religiöse Struktur frei und legt damit den Gottesbezug der wunder offen. Eng mit den zuletzt genannten Beobachtungen, aber auch mit dem gesamten ersten Komplex der Darstellung und Funktion göttlichen Wirkens in der höfischen Welt, ist auch der zweite Komplex, Durchdringung von Höfischem und Religiösem und die Identifizierbarkeit von Erzählmustern und -verfahren, verknüpft, denn er behandelt die Frage nach den Erzählmodi, nach der Art und Weise, wie einerseits das höfische Erzählen an der Struktur des Religiösen partizipiert und sich andererseits religiöse Denkmuster aber auch in das Erzählen des höfischen (Text-)Systems einschreiben. Als Koinzidenzien des Höfischen und Religiösen sind diejenigen Momente im Text zu begreifen, in denen im höfischen Erzählen ein Paradoxon als Einheit behandelt wird. Damit ist zugleich auch die Frage nach der Besetzung der besonderen, paradoxen Beobachterposition aufgeworfen, welche in jedem System eigentlich nur singulär vorhanden sein kann, und danach, wie der Text mit dem Dilemma ‚Gott oder Erzählinstanz‘ umzugehen pflegt. Hierbei konnten zweierlei Bewegungsrichtungen des Erzählens ermittelt werden, die sich auch als tendenziell fremd- und selbstreferentielles Operieren des höfischen (Text-)Systems begreifen lassen. Dabei handelt es sich zum einen um die Nutzung der Möglichkeit zur Auslagerung an das religiöse System, bei welcher über religiöse Semantisierungen ein Verweis auf Gott als dem besonderen, selbst paradoxen Beobachter geleistet wird, der in seiner Funktion als Kontingenzformel den Umgang mit der Paradoxie erlaubt. Zum anderen geht das höfische (Text-)System aber auch einen genuin literarischen Weg, indem es Paradoxien an den epischen Prozess auslagert, was in der Regel in selbstreflexiven Erzählakten exponiert und thematisiert ist, in denen die Erzählinstanz das höfische Erzählen reflektiert. Im ersten Fall, wenn im Text ein Gottesbezug formuliert wird, lässt sich beobachten, dass die Erzählinstanz sich deutlich zurückzieht, sie geriert sich an diesen Stellen nirgends als Herr über die Geschichte oder die Figurenwelt, sondern sie erscheint vielmehr als personalisiert. Die Verfügungsgewalt liegt dann in Gottes Händen oder bei der Herrin âventuire, die Erzählerfigur agiert ausdrücklich
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nur als Vermittler. Eindeutig religiöse Aussagen über Gott oder seine wunder sind symptomatisch auf der Figurenebene gelagert, die Rolle des theologisch Deutenden wird insbesondere von dem leien Trevrizent übernommen.1 Im zweiten Fall werden in der Reflexion der Erzählinstanz Überlegungen zum richtigen und vor allem ‚angemessenen‘ Erzählen einsichtig. Weil es der höfischen und der göttlichen Ordnung zugleich ‚angemessen‘ sein muss, kann sein Weg kein geradliniger sein, er erscheint als hakenschlagend und âne bogen. Nur so wird es möglich, dass mit dem Erzählen die richtige Beute, nämlich der Sinn/das Heil und nicht der Rezipient bejagt wird (ein solch ‚falsches‘ Erzählen würde sich im bloßen Unterhaltungswert erschöpfen). Das Erzählverfahren, das der Text zum Zweck der Heilsvermittlung wählt, ist die Synchronisation von Wahrnehmung des Rezipienten und des Protagonisten, aber auch der Erzählinstanz, denn da sie es selbst nicht vermag, über göttliches Wirken und insbesondere göttliche Gnade zu verfügen, hat sie auch selbst Anteil an der Dynamik des Erzählprozesses, sie muss sich ebenso um das richtige Handlungskonzept bemühen wie der Held und der Rezipient. Kurz gesagt: Der Text fordert auf allen Ebenen den Umgang mit Paradoxien, das meint in einem religiösen Sinn, er fordert auf allen Ebenen Handeln mit Transzendenzbezug. Insofern ist der vom Text inszenierte gemeinsame Akt der Literaturrezeption in ein Abhängigkeitsgefüge dieser drei Ebenen eingebunden, das die Möglichkeit von Heilsvermittlung im Parzival bedingt. Prinzipiell lässt sich hierbei von dem Entwurf eines höfischen Äquivalents zum Gottesdienst einer Gemeinde sprechen: Es gibt den Text, in welchem göttliches Heil (zwischen-)gelagert ist, den Vermittler und die Zuhörenden, die am Heil zu partizipieren suchen. Zur Illustration seiner erzählerischen Verfahrensweise bietet der Text einen Vergleich zum Minnedienst an, dessen Struktur des steten dienest und Hoffens, aber nicht Zugreifendürfens auf den lôn, der Handlungskonzeption von Handeln mit Transzendenzbezug entspricht: Das im Kontext von Minnedienst zu interpretierende Bild des Jagens ist auf allen Ebenen präsent – der Rezipient bejagt, wenn er es richtig macht, das Heil wie ein schellec hase, denn nur so hat er die Chance, der Verdammnis zu entkommen, die wiederum ihn bejagt. Die Erzählinstanz bemüht sich darum, den bogen zur Jagd nach dem Heil/Sinn richtig zu gebrauchen, und auch dem Helden ist es aufgegeben, den Gral in der richtigen Art und Weise zu bejagen. Diese Analogisierung führt zu einer strukturellen Gleichsetzung, in welcher Minnedienst gleich Gottesdienst ist, welche auf Handlungsebene neben der Parallele von Parzivals und Gawans dienest außerdem auch noch durch die Lehre Trevrizents bestärkt wird, der Parzival von sünden schiet/ unt im doch rîterlîchen riet (501,17f.).2
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Deshalb werde ich hierauf gleich nochmals im Komplex der höfisch laientheologischen Konzeption des Textes zu sprechen kommen. Derartige Belege für die konzeptionelle Verknüpfung von Minne- und Gottesdienst finden sich im Text noch zahlreich; beispielsweise sehr anschaulich auch in Parzivals Karfreitagsbegegnung, welche allerdings nicht Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit ist, da das grundsätzliche Erzählprinzip schon ausreichend erläutert wurde.
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Eine weitere Erzählstrategie, welche die Durchdringung von Höfischem und Religiösem beobachtbar macht, ist der intratextuelle Selbstentwurf des Parzival, der die Geschichte, die er erzählt, selbst mit der göttlichen Transzendenz verwebt. Der Text bedient sich in der Form der Flegetanis-Kyot-Wolfram-Tradition hierfür des adlig-höfischen Denkmusters der Genealogie, so dass die maere umben grâl ebenso wie der Gral selbst ihre göttliche Provenienz erkennen lassen. Sowohl die Geschichte des Grals als auch die seiner Hüter passieren die entscheidende Grenze von der Transzendenz hinein in die Immanenz und beide weisen an der Stelle der Grenzüberschreitung Aufmerksamkeit erregende Erzählkonstruktionen auf: Die Erzählung von den Gralshütern platziert dort die Geschichte der ‚neutralen Engel‘, die den Gral vor ihrer angeblichen Wiederaufnahme bei Gott auf die Erde gebracht haben sollen. Da sich diese Erzählung als äußerst widersprüchlicher Bericht erweist, lässt sie sich als Textinszenierung einer bewussten Leerstelle interpretieren. Erst mit dem Titurel-Geschlecht gewinnt sie schließlich Form. Ähnlich konstruiert ist auch die Erzählung vom Gral selbst, worin der Heide Flegetanis eine Abschrift der Gralsgeschichte aus den Sternen anfertigt, der Getaufte Kyot aber erst ihren Sinn zu bergen versteht. Kyot als mündlich erzählender Erzählkörper fungiert dabei als zentrale Schaltstelle von höfischem (Text-) und religiösem System. Kyot als die ‚richtige und wahre Quelle‘ wird somit auch als ein re-entry des Paradoxons, dass die Schrift aus den Sternen mit Wolframs Text in einen konkreten Zusammenhang zu bringen ist, (also als re-entry des religiösen Codes) lesbar, wenn er sich letztlich als fiktionales Konstrukt des erzählenden Textes entpuppt. Gerade dieses Erzählkonstrukt der Geschichte des Grals und seiner Hüter, der intratextuelle Selbstentwurf des Parzival, macht es durch das offenkundige Insistieren auf kontext- und perspektivengebundene Wahrnehmungsmöglichkeiten unbedingt notwendig, Religion und Literatur zum einen funktional zusammen zu denken und zum anderen aber auch ihre Eigenarten im Blick zu behalten. Dementsprechend erlaubt es das gleichzeitig besondere Beobachten von Kunst und Religion, dem die multiperspektivische und polysemantisierende Erzählkonzeption des Parzival mit ihrer transzendenten und immanenten Ausrichtung entspricht, beispielsweise auch, die Aussagen Trevrizents neben Parzivals Erleben bestehen zu lassen, ohne einen eindeutigen Wertungshorizont einzubauen. Im Zuge der Behandlung von narrativen Verschränkungen ist nun auch noch die Frage aufgeworfen, inwieweit sich auch religiöse Denkmuster (außer den grundsätzlichen Strukturen, in welcher die Einheit von Unterscheidungen hinterfragbar wird) im höfischen Erzählen festschreiben. Als markantes Beispiel konnte hierbei die spezifische Isolation der Helden von der höfischen Gemeinschaft und ihre Reintegration herausgearbeitet werden: Sie bezeichnen die Schöpfung eines Helden und Heilsbringers. Denn der Text behandelt hiermit nicht wie in der Forschung bisher angenommen ein Problem von Individualität und Gesellschaft, vielmehr lässt sich dieses Muster im Hinblick auf die Kulturspezifika des mittelalterlichen Textes als ein religiöses Verfahren identifizieren: Auf der Ebene von Bestimmung wird den höfischen Rittern durch die Schmä-
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hungen eine paradoxe Identität verliehen, der jedoch einerseits in der providentiellen Ordnung Gottes und andererseits im epischen Prozess Kohärenz verliehen wird, so dass der Weg zum Heilsbringer ihrer Bezugsgesellschaften und die Gewährung göttlicher Gnade als Einheit behandelt werden können. Diesen Überlegungen zur Frage ‚Wie schafft der Text seinen Helden und Heilsbringer?‘ anhand weiterer höfisch erzählender Texte (beispielsweise dem Erec, dem Iwein oder auch dem Armen Heinrich) nachzuspüren, muss innerhalb dieser Arbeit unterlassen bleiben, wäre aber sicherlich gewinnversprechend. Dies würde zudem auch die Möglichkeit bieten, umfassend zu überprüfen, ob sich das ‚Helden/Erlöser-Konzept‘ prinzipiell als ein religiöses Muster, das sich im höfischen Erzählen als Strukturprinzip niedergeschlagen hat, identifizieren lässt oder ob diese Beobachtung nur an bestimmten Texten nachzuweisen ist, die z. B. wie der Parzival explizit Religion zum Gegenstand haben. Als weiterführend würde sich hinsichtlich der beobachtbaren Durchdringung von Höfischem und Religiösem überdies ein Blick ‚auf die andere Seite‘ erweisen: Von der These ausgehend, dass Religion auch Teil der adlig-höfischen Kultur ist, liegt es nahe, dass AdligHöfisches sich umgekehrt auch in der klerikalen (beispielsweise auch monastischen) Kultur wiederfinden lässt, gerade weil ja auch zahlreiche Adelige an dieser Kultur teilhaben. Der bereits vorgeschlagene Vergleich der Literaturen könnte ein entsprechendes re-entry der Unterscheidung höfisch/religiös in der Unterscheidung laikal/klerikal ebenso für ein klerikales (Text-)System hervorbringen, wie es im höfischen der Fall ist. Den dritten Komplex bezeichnet schließlich eine konzeptionelle Fassung der beiden vorigen in der höfischen Laientheologie des Parzival. Festgehalten wurde zunächst, dass der Bezugsrahmen, in welchem die religiösen Vorstellungen des Textes angesiedelt sind, durch die höfische Kultur und Literatur definiert ist. Die Konzeption der höfischen Laientheologie umfasst die abstraktive Ebene der Art und Weise, wie das höfische (Text-)System an der Funktion des Religiösen partizipiert und sie inkorporiert. Sie ist durch fremdreferentielles Operieren des höfischen (Text-)Systems bestimmt, indem sie einen Raum für religiöse Vorstellungen schafft, die jenseits des Klerikalen, jenseits des kirchlich-theologisch dominierten Einflussbereichs, in einer höfisch-adligen Gesellschaft entstehen. Die höfische Laientheologie des Parzival ist zugleich aber nicht als bloße Repräsentanz von historisch gegebenen laikalen Gottesvorstellungen zu verstehen, sondern die entsprechenden Gottesbilder werden im Erzählen mit Konturen versehen und coloriert, sie werden – zwar unter den aufgezeigten kennzeichnenden Prämissen – durch das Erzählen erst erzeugt: Religiöse Entwürfe des Parzival schaffen kein Abbild, sie schaffen ein Bild. Erkenntnis ist im Parzival deshalb stets auch eine religiöse oder Ergebnis von Selbstreflexionen höfischen Erzählens, was zugleich auch immer den Umgang des höfischen (Text-)Systems mit Religion inkludiert. Seine strategischen Mittel, um das Ziel Erkenntnis zu erreichen, bestehen in seiner bereits benannten gezielten Multiperspektivität und Polysemantik, aber auch in der Ausstellung von und somit beobachtbar gemachten
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Konstruktivität: Dem Parzival ist ein Erzählkonzept zu eigen, das Möglichkeiten und Sinnhorizonte öffnet und erschließt, es ist ein Erzählkonzept, das es vermag, sich selbst Kontingenz zu gewähren.3 Da das Erzählkonzept aber trotz aller Eigengesetzlichkeit nicht frei von Autoritätsfragen ist, sind auf Eindeutigkeit zielende religiöse, d. h. theologische Deutungen Gottes Wirken auf der Figurenebene gelagert. Trevrizent verleiht der Erzählung vom Gral und seinen wundern einen Körper. Seine Auslegungen sind hiernach zum einen an eine bestimmte Perspektive gebunden und somit zur Beobachtung ausgestellt, zum anderen übernimmt diese Figur dann jedoch auch die Gefahr der ‚falschen‘ Deutung Gottes, welche die Verdammnis in Aussicht stellt. Die Erzählinstanz und die Rezipienten sind durch ihre Teilhabe an Parzivals Wahrnehmung vor dieser Gefahr vorerst gefeit. Der Text erzeugt Trevrizents Autorität, die ihn zu solcherlei Aussagen befähigt, durch eine christliche Rahmung, entsprechend christlich konnotierte Semantisierungen werden genutzt: Bei Parzivals erster Begegnung mit ihm wirkt die Zeit mit, denn es ist Karfreitag, Trevrizent ist ein Einsiedler in einer Klause, am Rande oder sogar schon außerhalb der höfischen Gesellschaft lebt er in einer Büßerhaltung. Trevrizents Buße, sein Handeln mit Transzendenzbezug in der Isolation vom Hof erlaubt ihm eine reflektierte Beobachterposition, die ihn aber selbst innerhalb des höfischen Systems handlungsunfähig macht. Er ist als Glied der Phönix-Sippe in einer solcherlei exponierten Stellung, dass er Parzival mit Rat und Buße (nur) helfen kann, den Boden für Gottes Gnade zu bereiten und die erwählte Sippe an den ihr angestammten Platz zurückzubringen. Hieran hat sich überdies auch gezeigt, dass dieses höfisch laientheologische Heilskonzept ein speziell sippenbezogenes ist, in dem es nicht um das einzelne Subjekt, sondern stets um den gesamten dynastischen Verband geht. Aber nicht nur genealogische Denkschemata markieren diese Laientheologie als feudal-adlig höfische. Insbesondere das Tradierungsprinzip und die Art und Weise religiöser Erkenntnisstiftung setzen an die Stelle kirchlicher Heilsvermittlungsstrategien, wie sie sich beispielsweise anhand der Sakralisierung von Schrift zur Heiligen Schrift und dem Akt der Taufe festmachen lassen, den Kern von Wahrnehmungsmustern höfischer Kultur: Hören und Sehen.4 Ihr Primat schlägt sich in der Flüchtigkeit und Latenz von Schrift, auf dem Stein und in der Abschrift der Sternenschrift, einer ebenfalls bezeichnend flüchtigen Konstellation, nieder. Schrift ist nur ein Zwischenspeicher, das Wort Gottes muss inkorporiert werden, sowohl von Kyot als auch von der Titurel-Sippe, so dass es einen Körper erhält. Die Priorität von Oralität wird an Kyot ersichtlich, dessen Körper, der den Sinn der Schrift in sich aufgenommen hat, zur mündlichen Tradierung des rehten maeres befähigt. Das Schriftstück, das er in Toledo, einem durch Hybridität gekennzeich3
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Die aktuelle Diskussion über eine „historische Narratologie“ könnte sich hierbei ebenso als weiterführend erweisen. Vgl. insbesondere den Band von Haferland/Meyer 2010, der hier leider nicht mehr konzeptionell aufgenommen werden konnte. Die Bedeutung von ‚Hören und Sehen‘ wurde insbesondere von Wenzel 1995 herausgearbeitet.
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neten Raum, findet, gilt ohne die Aufnahme eines getauften Körpers als verworfen. Indem Kyot den Sinn inkorporiert, wird das Wort wieder zum heiligen Wort: Die schöpferische Magie des Wortes, die es vermag Welten zu schaffen, erhält erst in oraler Form wieder ihre Macht zurück. Die Priorität des Sehens offenbart sich in der Artikulation religiösen Erkenntnisgewinns: Man muss zwar getauft sein, aber erst das Sehen der wunder des Grals macht es möglich, ihren religiösen Sinn zu fassen. Dies gilt sowohl in Bezug auf die Lesbarkeit der Körper der Gralssippe, an denen Gott wunder wirkt, als auch im Zusammenhang mit Feirefiz’ Taufe. Grundsätzlich entspricht dem auch die unglaublich bildhafte Sprache des Erzählens, gerade wenn die wunder des Grals erzählerisch dargestellt werden. Der Text leitet dieses Erkenntnisprinzip dergestalt also an den Rezipienten weiter. Weniger erkenntnisstiftend als eine eigene Form der Kontingenzbewältigung innerhalb dieser höfisch laientheologischen Konzeption ist das Lachen. Komik und Lachen erzeugendes Erzählen ist prinzipiell an seinen Kontext gebunden. Im Parzival wird es in den meisten Fällen über das Paradoxieren höfischer Vergesellschaftungsprinzipien hergestellt. Bei Gawans Kämpfen geschieht dies beispielsweise durch seinen unhöfischen Bestimmungskampf, der auf der Rezipientenebene Lachen zu erzeugen vermag. Cunnewares Lachen offenbart ein wunder, das auf die göttliche Bestimmung verweist und in der höfischen Immanenz höfisches Beobachten paradoxiert. Im Falle Feirefiz’ Taufe, als dieser sich wünscht, die Taufe um Repanses willen zu erstreiten, hat Lachen auch zum Zweck, den aufbrechenden Konflikt zwischen profaner und sakraler Glaubensvorstellung zu bearbeiten. Komik ist somit auch als spezifisch literarische Form der Kontingenzbewältigung zu verstehen, welche in dieser Konzeption an den religiösen Bewältigungsmechanismus anknüpft. Erkenntnismöglichkeiten sind hierbei jedoch nur auf der Rezeptionsebene geboten: Beobachtbar wird, dass der Text eine Pluralität an Gottesbildern anbietet, die nicht als untereinander hierarchisch strukturiert erscheinen. Auch hierüber macht er für den geschulten ‚Leser‘ höfischer Texte seinen Konstruktionscharakter gezielt einsichtig. Da dieser Komplex höfischer Laientheologie in erster Linie als Konzeption der höfischen Literatur behandelt wird, wäre eine jedoch nicht mehr leistbare, intensivere Anbindung an Ergebnisse geschichtswissenschaftlicher Forschung zur Laientheologie und zur Volksfrömmigkeit wünschenswert. Leider sind diese Untersuchungen derzeit allerdings auch noch nicht so umfassend, dass man von einem gut bearbeiteten Forschungsfeld sprechen könnte.5 Innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung erschiene es außerdem als lukrativ, mit dem Gedanken der Kontingenzbewältigung durch Lachen an aktuelle Diskussionen über Komik anzuknüpfen. In der vorliegenden Arbeit muss auch dies ein Desiderat bleiben. 5
Werke der beiden gegenwärtig prominentesten Vertreter im Forschungsfeld der ‚Laientheologie‘, Angenendt und Dinzelbacher, wurden in dieser Arbeit als historisch arbeitende Hilfsmittel herangezogen.
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Im vierten Komplex, den narrativen Visualisierungsstrategien des Textes, werden Beobachtungen zur Bildhaftigkeit des Erzählens thematisiert, die auch bereits in den zuvor behandelten Komplexen mehrmals angeklungen sind. Es lässt sich nämlich im Parzival beobachten, dass religiöse Verweise sehr häufig auf der Bildebene des Textes gelagert sind, oder andersherum formuliert, die sprachlichvisuelle Regie des Textes, seine Inszenierungsstrategien und die Bildhaftigkeit des Erzählens fördern solch religiöse Verweise zutage und machen sie dementsprechend einsehbar. In der Forschung konnte zur Bildlichkeit Wolframs Erzählstil zudem noch kein wirklich befriedigende Antworten produzierender Interpretationsansatz gefunden werden, die Funktion von sprachlichen Bildern ist stets auf ästhetische Qualitäten beschränkt gesehen worden.6 Fragen nach den Visualisierungsstrategien des Textes haben in der Analyse dieser Arbeit jedoch ergeben, dass im Fokus religiöser Bezüge der Bildhaftigkeit in der erzählerischen Darstellung des Parzival sehr wohl eine bestimmte Funktion zukommt:7 Visualität scheint hier nämlich symptomatisch mit dem Erkenntnisangebot des Textes verwoben. Der Bildhaftigkeit des Erzählens obliegt es, Reflexionen des Konnexes von Höfischem und Religiösem auf der Ebene von Wahrnehmung zu installieren und somit Beobachtungen zweiter Ordnung des höfischen (Text-)Systems zugänglich zu machen. Diese religiös konnotierten Bilder können dabei gelesen werden oder eben auch nicht: Parzival erkennt in der visuellen Inszenierung der Gralswunder die Gottesbezüge nämlich nicht, er nimmt sie wohl wahr, versteht sie aber nicht. Dem Rezipienten steht es aber trotzdem offen, diese Bilder (wie Titurels Leib beispielsweise) entsprechend reflektiert zu lesen. Hierzu dient der Wechsel der darstellerischen Mittel im Text: heraus aus dem Erzählmodus des Berichtens hinein in seine exzeptionelle Sprachbildlichkeit. Denn dieser Wechsel, der überdies auch den Kunstcharakter des Erzählens im Parzival auszeichnet, setzt eine Markierung und erregt dadurch Aufmerksamkeit. Mit dem Signifizieren der Bildebene geht häufig ein Verweis auf die göttliche Ordnung, teilweise speziell auch auf den göttlichen Heilsplan einher. Das bedeutet, es gilt das Religiöse des Bildhaften mitzureflektieren, denn das Lesbare der literarischen Bilder berichtet hier über das, was in der providentiellen Ordnung Gottes verfügt ist. Wenn der Rezipient nicht ohnehin von der Erzählinstanz als Teil des Bildes beschrieben wird, wie dies im vliegenden bîspel oder im Bogengleichnis der Fall ist, ist Wahrnehmung in den religiös konnotierten Bildern derart arrangiert, dass der Betrachter des Bildes (auch außerhalb der Textgrenze) direkt in das Bild mit hineingezogen zu sein scheint. Die Technik, die das möglich macht, ist durch eine bestimmt ge6 7
Vgl. hierzu Bumke 2004. S. 223. Es konnte im Rahmen dieser Arbeit natürlich keine umfassende Untersuchung aller bildhaften Wendungen und sprachlichen Bilder unternommen werden. Es ist mir lediglich ein Anliegen, meine Beobachtungen aus der speziellen Perspektive religiöser Zusammenhänge heraus zu artikulieren und nachvollziehbar zu machen.
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setzte Perspektive ausgezeichnet und erinnert an die Frontalsymmetrie bildender Kunst, die in der mittelalterlichen Malerei häufig zur Darstellung der Heilsgeschichte genutzt wurde. Zweck der sprachlichen Bilder des Parzival ist ebenso wie in der malerischen Bildkunst die Partizipation des Betrachters am Heilsgeschehen: Es zieht ihn nach einer religiösen Logik mit hinein ins Bild, weil es ihn ebenso betrifft, es geht auch um sein Heil. In erkenntnistheoretischer Hinsicht und aus der Perspektive von Beobachterpositionen lässt sich hierzu auch formulieren, dass das spezifische Arrangement von Beobachtungen dem Rezipienten ermöglicht, über das Betrachten des Bildraumes auch an der Bildzeit teilzuhaben. Im Rückbezug auf die narrative Verfahrensweise des Parzival besagt dies, dass sich ‚angemessenes‘ Erzählen durch zwei Stoßrichtungen auszeichnet, dass es zweierlei Ordnungen gerecht werden muss, wobei offenkundig der handlungsnarrative Aspekt, der Weg durch die Welt, der irdisch höfischen Ordnung und die Bildlichkeit des Erzählens der religiös providentiellen Ordnung Gottes entspricht. Die Heilsofferte des Textes gegenüber dem Rezipienten gehört eigentlich bereits schon zum fünften Komplex, ergibt sich aber aus dem bereits Gesagten, dem Zusammenhang von Rezipientenbezug und Heilsangebot als besonderem Part der Erzähltextur. Grundsätzlich wurde hierzu festgehalten, dass es eines relativ weiten Rezeptionsbegriffes bedarf, um das Zusammenspiel von Rezeption, Thematik und Narrationsweise überhaupt zentral fokussieren zu können. Ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung ist, dass Literaturrezeption, wie sie vom Parzival entworfen wird, nicht nur höfisches Spiel und Zeitvertreib ist, sondern zum Heil oder auch in die Verdammnis führen kann. Zwar wird der Rezipient vor der Gefahr einer ‚falschen‘ Deutung Gottes, wie sie sich Trevrizent aussetzt, erst einmal durch die Auslagerung laientheologischer Aussagen auf die Figurenebene bewahrt. Das bedeutet aber nicht, dass er nicht ebenso gefordert ist: Die maere fordern eine stiure, die darin besteht, sowohl auf eindeutige Lehren zu verzichten als auch sich dem dynamischen Nachvollzug des Erzählens auszusetzen, sie verlangen, mit der Geschichte mitzugehen und zugleich reflektierend an ihr Teil zu haben. Dafür ist das Heilsversprechen beim bejagen von Sinn formuliert. Sinnstiftend ist die Reflexion des Rezipienten in doppelter Weise, zum einen bezüglich der gerade beschriebenen religiösen Erkenntnis, dem Heil, das darin geborgen liegt, und zum anderen als Lektüre eines Beobachters zweiter Ordnung des höfischen (Text-)Systems, dem über das Erzählen von wundern, dem Ausstellen der eigenen Konstruktivität des Textes, Erzähltes als Fiktion dargeboten wird, so dass ihm Einsichten in Unzulänglichkeiten und Mängel der Konstitution höfischer Gesellschaft möglich werden. Es ist ihm aber nicht allein gegeben, das Höfische zu reflektieren, ebenso hat er die Möglichkeit zur kritischen Beobachtung von Koinzidenzien des Höfischen und des Religiösen. In diesem Kontext ist es nämlich denkbar, sowohl die Gralssippe als auch den Gral selbst als ebenso fiktionale Momente zu lesen wie Kyot. Dieser letzte Punkt leitet, gerade weil der Text mit den Beobachtungsmöglichkeiten, die er arrangiert, ja nicht unreflektiert verfährt, dabei direkt zum letzten Komplex über: zur Dekonstruktion und Fragmentierung des Erzählens von Heil
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und göttlicher Gnade. Wesentlich erscheint hierbei, dass der Parzival vorführt, dass, obwohl ein direktes Eingreifen Gottes in die Welt größtenteils vermieden wird, auch sein indirektes Wirken alles andere als problemfrei ist. Diese Konzeption bietet den Menschen und der höfischen Welt im Allgemeinen zwar entscheidende Freiheiten, allerdings scheint auch immer bereits das Scheitern vorprogrammiert. Deutlich wird darüber hinaus, dass, wie an der Figur des Gurnemanz gezeigt werden konnte, das Scheitern der Gralssippe auch immer Auswirkungen auf die gesamte höfische Welt hat. Wenn Leid aufgrund einer höfischen Normparadoxie (vornehmlich in Bezug auf Minne, Kampf und Herrschaft) entsteht, kann Gottes Hilfe nicht ansetzen, solange der Gralshof, sein Instrument, mit Dysfunktionalität geschlagen ist. Das Einzige, was möglich ist, ist die gesamte Hoffnung auf Parzival als rechtmäßigen Erben des Gralskönigtums zu verlagern, dementsprechend inszeniert der Text dies auch. Als ähnliches Phänomen geriert sich auch der Konflikt des Artushofs mit Ither, woran zur Beobachtung ausgestellt ist, wie ein höfisches Paradoxon in endgültige Handlungsunfähigkeit und Stagnation des Hofes führt, wenn ihm nicht ‚von außen‘ geholfen wird. Markiert ist dieser Zustand durch Artus’ entzweigebrochene werdekeit, die sich gleichsam auch am Katalysator der aufbrechenden Paradoxie und im Instrument (Gottes und) des Hofes, Parzival, widerspiegelt. Auch die gesamte sprachlich-visuelle Textregie (Raumkonzeption, Figurenanordnung sowie ihre Ausstattung etc.) ist auf die Inszenierung dieses Normenkonflikts abgestimmt. Zugleich offenbart sich hieran, auch wenn Parzival dem Dilemma des Artushofs Abhilfe schaffen kann, dass es kein eigentliches ‚außen‘ gibt, von dem man eingreifen könnte, denn sobald Religion als Gottes Wirken dezidiert im Spiel ist, erfolgt eine symptomatische Entdifferenzierung von Artushof und Gralshof zu der einen höfischen Welt. Das bedeutet einerseits, dass die beiden Höfe als essentiell aufeinander bezogen zu lesen sind, ihre chiastische Verschränkung ist zudem auch durch den wechselseitigen Bezug der Erlösungswerke ihrer beiden Helden untermauert, andererseits ist die Utopie göttlichen Wirkens radikal in Frage gestellt, da die Lösung des einen Problems in der höfischen Welt (Ither) wiederum zu einem neuen führt (Parzival hat die sünde zu tragen). Vor dem Hintergrund des damit angesprochenen spiegelbildlichen Erzählens von Erlösung bedarf der Gralshof ebenso der Öffentlichkeit des Artushofs, wie auch Gott der Menschen bedarf. Trotzdem regt der Text letztlich nicht zu einer prinzipiell religionsdemontierenden Lektüre an, denn was auf Darstellungsebene, vor allem aufgrund der Indifferenz der Begrifflichkeit, als eine Entdifferenzierung des Erzählens von wundern mit und ohne Gottesbezug erscheint, wird durch das den Gral bespiegelnde Erzählen von Schastel marveile widerlegt: Der aufmerksame und reflektierende Beobachter/Rezipient – und nur diesem kann schließlich ja der Zugang zum Heil gewährt werden – vermag sehr wohl frappierende Unterschiede festzustellen. Das Erzählen von Erlösung offenbart sich letztendlich, weil der Text Gnade und Heil selbst nicht kommunizieren kann, als fragmentarisches. Gott ist dabei in dieses Denksystem zwar notwendig einzubeziehen, aber die Gottesbil-
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der, die der Text produziert, erscheinen selbst als Fragment und kontextabhängig. Dementsprechend lassen sich genau zwei Räume identifizieren, die der Text für die Auslagerung dessen entwirft, was er nicht vermitteln kann, und welche durch eine spezifische Unbestimmtheit definiert sind. Diese beiden Räume fallen zudem bezeichnenderweise in Positionen inner- und außerhalb des Textes zusammen: in Gott und dem Rezipienten. Die zuletzt genannten drei Komplexe, aber auch schon die vorigen, erweisen sich insbesondere als durch Ergebnisse und Perspektiven ergänzungsbedürftig, welche das mediaevistische Forschungsfeld der Visualität und Oralität in der höfischen Kultur bieten kann. Fragen nach primärer, sekundärer und sogenannter fingierter Mündlichkeit spielen hier gerade in Bezug auf Heilsvermittlungsstrategien eine überaus wichtige Rolle. Luzide wäre es dabei außerdem, die Beobachtungen zur Sprachbildlichkeit nicht nur innerhalb des Parzival, sondern anhand einer Reihe von höfisch erzählenden Texten seriell zu verfolgen und zu analysieren. Daraus könnten sich darüber hinaus weiterführende Ergebnisse für die gegenwärtige Forschungsdiskussion über die ‚Textualität in der Vormoderne‘ ableiten lassen. Eine mögliche Frage wäre zudem auch: Welche Auswirkungen hat der Wandel von Gesellschaft auf die Rezeptionsmöglichkeiten? Eventuell ließe sich über die Konzentration auf Veränderungen von zentralen Wahrnehmungsmodi einer mittelalterlich höfischen Bezugsgesellschaft gegenüber moderner Gesellschaften auch eine tragfähigere Interpretation zur Differenzierung von Rezeptionsmöglichkeiten des ‚religiösen Gehalts‘ höfischer Texte leisten, als dies üblicherweise der Fall ist: Eine solche Unterscheidung erschöpft sich in der Regel in der Differenzierung von nicht-säkularisierten und säkularisierten Gesellschaften. Dass ein Interpretationsansatz, der mit einer dominant an Staatlichkeit gebundenen Begrifflichkeit operiert, es jedoch nicht vermag, das Phänomen Religion im Mittelalter ausreichend zu beleuchten, hat die Analyse des Parzival gezeigt. Das Ziel dieser Arbeit war, einen weiterführenden Beitrag zur Frage nach dem als inkonsistent geltenden Erzählkonzept des Parzival zu leisten. Aus der Fokussierung von Erzählstrukturen erklärt sich überdies, warum die eigentlich auch sehr spannende Frage nach der Figurenperspektive größtenteils ausgespart worden ist. Parzivals Gotteshass, Herzeloydes, Sigunes und Gurnemanz’ Gottesbilder wie auch die Karfreitagsbegegnung bieten noch eine Menge Stoff, den Ansatz und die interpretatorischen Konsequenzen der hier entworfenen und diskutierten Thesen zu überprüfen und zu modifizieren. In methodologischer Hinsicht hat sich außerdem gezeigt, dass ein rein auf Systemtheorie beruhender Ansatz entscheidende Beobachtungen unmöglich zugelassen hätte. Vielmehr war der Anschluss an erzähltheoretische, performative und rezeptionsästhetische Überlegungen wichtig, um tief genug in die religiöse Textur des Parzival eindringen zu können. Doch auch hieran ließe sich im Sinne weiterführender Fragen nach Raum- und Figurenkonzeption, allgemeiner Fragen nach der Funktion und dem Inszenierungscharakter sowie auch im Hinblick auf die Ergebnisse der Fiktionalitätsdebatte mediaevistischer Forschung anschließen.
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Abkürzungsverzeichnis Archiv DVjs Euphorion Geist und Leben IASL MIÖG MLN PBB WW ZfdA ZfdPh ZfG NF
Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte Geist und Leben. Zeitschrift für Aszese und Mystik Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Modern Language Notes Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur Wirkendes Wort. Deutsches Sprachschaffen in Lehre und Leben Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur Zeitschrift für deutsche Philologie Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge
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