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German Pages 272 [273] Year 2004
JOCHEN BOHN
Herrschaft ohne Naturrecht
ERFAHRUNG
UND
DENKEN
Schriften zur Förderung der Beziehungen zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften
Band 93
Herrschaft ohne Naturrecht Der Protestantismus zwischen Weltflucht und christlicher Despotie
Von
Jochen Bohn
Duncker & Humblot . Berlin
Die Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München hat diese Arbeit im Jahre 2003 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0425-1806 ISBN 3-428-11506-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706@ Internet: http://www.duncker-humblot.de
SI VELLE SE AC IUBERE PRONUNTlET MORTALlS HOMO, UT PRO RATIONE SIT SUA VOLUNTAS, TYRANNICAM ESSE VOCEM FATEOR. CALVIN
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde von der Fakultät für Sozialwissenschaften der Universität der Bundeswehr München zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Staats- und Sozialwissenschaften (Dr. rer. pol.) angenommen und am 20. Mai 2003 im Rahmen einer hochschulöffentlichen Disputatio verteidigt. Für die Drucklegung wurde der Text leicht überarbeitet. Die Veröffentlichung wurde aus Mitteln der Universität der Bundeswehr München gefördert. Vielleicht muß es so sein, daß wissenschaftliche Arbeit immer auch von der stillen Hoffnung getragen wird, durch sie möge der Lauf der Welt eine zumindest geringfügige Veränderung erfahren. Vielleicht muß es so sein, daß Zeiten der Erkenntnis immer auch Zeiten der Anmaßung sind. Bescheidenheit und Demut müssen jedoch den Sieg davon tragen. Glücklich ist, wer auf seinem wissenschaftlichen Weg Begleiter hat, die dieses Ziel nicht aus den Augen verlieren. So danke ich Herrn Universitätsprofessor Dr. Ulrich Weiß für die kompetente Betreuung und für seine sanfte Art, notwendige Korrekturen durchzusetzen. Die Arbeit lebt von der Freiheit, die er mir und meinem bisweilen nicht zu übersehenden Übermut eingeräumt hat. Herrn Universitätsprofessor i. R. Dr. Hans Jürgen Brandt danke ich für die zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten, die sich mir durch die Mitarbeit an seinem Lehrstuhl eröffnet haben. Herrn Universitätsprofessor i. R. Dr. Georg Geismann schulde ich Dank für die Geduld, mit der er mich gerade durch Zeiten hoher dienstlicher Belastungen tröstend und mahnend begleitet hat. Sein Anspruch nötigt dazu, den Meißel beiseite zu legen und die Radirnadel zu gebrauchen. Frau Dr. Irmingard Böhm hat mir bei den ersten Schritten geholfen. Später hat sie mir Türen geöffnet, die ich selbst nicht zu sehen vermochte. Nicht zuletzt ihr verdanke ich die Zukunft, die vor mir liegt. Herrn Universitätsprofessor Dr. Bernd Ludwig bin ich dankbar für den stets hilfreichen Rat aus der Ferne. In trübseligen Zeiten hat er mich daran erinnert, daß nur sehr wenige Dinge auf dem Altar der Wissenschaften geopfert werden dürfen. Dank sage ich auch allen Angehörigen des Instituts für Theologie und Gesellschaft der Universität der Bundeswehr München - namentlich Herrn Universitätsprofessor Dr. Gottfried Küenzlen und Herrn Dr. Konrad Zillober - für ihre freundliche Anteilnahme und Unterstützung. Und schließlich danke ich dem Verlag Duncker & Humblot und den Herausgebern der Reihe ,,Erfahrung und Denken" für die Publikationsmöglichkeit.
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Vorwort
Es ist wohl üblich, in Vorworten wissenschaftlicher Arbeiten auch die nächsten Anverwandten lobend zu erwähnen. Hier mag jedoch der Hinweis genügen, daß alles, was ich über das Gesagte hinaus an Verbundenheit und Anerkennung weiterzugeben habe, auf geeigneteren Wegen zum Ziel gefunden hat. Neubiberg, im März 2004
lochen Bohn
Inhalt I.
Zur Vorbereitung.......... ................................................ ........................... ... ..... 13
11. Reformation und Neuzeit ....... ......................................... .... ..... ................ ........ 19 1. Kein Zweifel an der Reformation .......................................... .. .. ...... ............... 20 2. Reformatorische Beiträge zur modemen Welt .......................................... ...... 23 3. Die Kehrseite reformatorischer Theologie .................................... .................. 35
111. Der Protestantismus und die Idee des Naturrechts ......................................... 41 1. Thomistisches Naturrecht ........ ...... ..... ..... ...... ...... ... ................................... .... 42 a) Grundzüge der thomistischen Lehre .................... .. .. .................................. 43 b) Naturrecht in Deutschland nach 1945 .................................................. ...... 50 c) Kritik und reformatorische Abkehr.. .................. ........................................ 54 2. Naturrecht bei Luther und Calvin .......................................................... ........ . 61 a) Natur und Offenbarung ...................................................... ........... .... ........ 62 b) Vorsehung und Freiheit ........ ........ .................... ........................................ 81 c) Lex und lus naturae .................................................. ........ ...... ................ 102 3. Die Not der protestantischen Rechtslehre...................... ............................... a) Barth oder Brunner ........... .. ....................... ... ...... .................................... b) Verwerfung des Naturrechts und protestantisches Dilemma..................... c) Worte der Kirche für die Welt.. ........................................................ .... ...
130 133 140 155
IV. Exeundum est e Statu Theologico ...... ...................................... ...................... 161 1. Der Ausweg ................ ............................................................................. ... a) Fides und Ratio ......................... ......................................... .................... b) Theologielose Rechtslehre ........ ... ..... ....... ......... ... ...... ... ..... .......... ........... c) Und du willst vernünftig sein ... ...... ............................ .......................... ...
162 163 168 175
2. Korrektur und Rehabilitierung der Zwei-Reiche-Lehre ............ ..................... a) Die reformatorische Idee .................... .............. .. ............................ ........ b) Eine neue Mengenlehre.... ...................................................................... c) Zwei Reiche ohne doppelte Moral .. ............... ........ ..................................
177 180 185 201
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Inhalt 3. Ein kurzer Blick voraus ............................................................................... 205 a) Philosophie des Protestantismus ...................................................... ........ 206 b) Ein Staat ohne Gott für Engel und Teufel ................................................ 215 c) Legalität und Moralität ........................................................................... 220
V. Gelassene Weltlichkeit ................ .......................... ... ....... ............................... 227 Quellen ............................................................................. ..................................... 231 Literatur ............................................................................................................... 233 Monographien und Aufsätze.................................................................................... 233 Sammelbände ......................................................................................................... 249
Auswahlbibliographie zur Naturrechtsdebatte im Protestantismus ..................... 254 Personenregister ................................................................................................... 261 Sachregister .......................................................................................................... 266
Abkürzungen AHR ARG ARSP Beg. BFcT ChH CScR CTJ EK ELKZ EvTh FaPh
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HThR HZ UPR JAUK JCR JGGPÖ JLR JPol JR JRE JRT KS Kath.
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American Historical Review Archiv für Reformationsgeschichte Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie Begegnung Beiträge zur Förderung christlicher Theologie Church History Christian Scholar' s Review Calvin Theological Journal Evangelische Kommentare Evangelisch-lutherische Kirchenzeitung Evangelische Theologie Faith and Philosophy First Things Hochland Historisch-politische Blätter History of Political Thought Harvard Theological Review Historische Zeitschrift International Journal for Philosophy of Religion Jahrbuch der Albertus-Universität zu Königsberg Journal of Christian Reconstruction Jahrbuch der Ges. f. d. Geschichte des Protestantismus in Österreich Journal ofLaw and Religion Jahrbuch für Politik Journal of Religion Jahrbuch für Recht und Ethik Journal of Religious Thought Kant-Studien Der Katholik Kritische Justiz Kerygma und Dogma Luther-Jahrbuch Luther Lutheran Quarterly Merkur
12 NZSTh Pers. PhRef PrM Pub!. RefR ReiSt
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ZEvKR ZHF ZSRG.K ZSTh ZThK
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Zwing.
Abkürzungen Neue Zeitschrift für systematische Theologie (und Religionsphilosophie) Perspectives Philosophia Reformata Protestantische Monatshefte Publicaties van de Reunisten-Organisatie van N.D.D.D. Reformed Review Religious Studies Reformierte Kirchenzeitung Reformed Theological Journal Reformed Theological Review Saeculum Salzburger Jahrbuch für Philosophie Scottish Journal ofTheology Der Staat Studium Generale Stulos Theological Journal Stimmen aus Maria-Laach Studia Philosophica Theologische Literaturzeitung Theologie und Philosophie Theologische Rundschau Theologische Zeitschrift Zeitschrift für Evangelische Ethik Zeitschrift für Evangelisches Kirchenrecht Zeitschrift für Historische Forschung Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte (Kanonist. Abtlg.) Zeitschrift für systematische Theologie Zeitschrift für Theologie und Kirche Zeitwende Zwingliana
I. Zur Vorbereitung Der Protestantismus hat ein Problem mit der Welt: Reformatorische Theologie behauptet, die Kirche verdanke ihre Existenz allein einem göttlichen Gnadenakt, der Mensch werde allein aufgrund eines göttlich gegebenen Glaubens gerettet und alle Glaubensweisheit müsse ausschließlich einer besonderen göttlichen Offenbarung entnommen werden. Wie kann nun eine Kirche, die unter diesem dreifachen SOLA steht, mit der sie umgebenden Welt zusammenleben? Wie kann sie mit ihr Kontakt halten oder gar in und an ihr gestaltend mitwirken? Reformatorische Theologie bricht die Schar der Glaubenden mit dem Hinweis auf eine übernatürliche Gnadenhandlung geradezu aus der Welt heraus, eröffnet aber über das schlichte Glaubensbekenntnis hinaus keine echten Kommunikationsmöglichkeiten. So leidet der Protestantismus bis heute daran, keine schlüssige und überzeugende Soziallehre, keine Lehre von der rechten und gerechten Gestaltung menschlichen Miteinanders vortragen zu können. Er scheint angesichts des vorausgesetzten SOLA scheitern zu müssen, kann er doch immer nur Glaubenslehre bieten, die von der gnaden- und glaubenslosen Welt nicht gehört, noch viel weniger aber verstanden wird. Zu den grundlegenden Fragen jeder politischen Theorie, zum Problem der Legitimation von Herrschaft und Herrschaftsordnung hat die protestantische Theologie der Welt nichts verbindendes mitzuteilen. Der Verweis auf Gott als setzende Instanz kann den Menschen außerhalb der Kirche nicht dazu verpflichten, sich anderen Menschen unterzuordnen, da ihm der einsetzende Gott ohne besondere göttliche Offenbarung schlechtweg unbekannt ist. Göttliche Gebote können bei der Einrichtung einer bürgerlichen Gemeinschaft keine Rolle spielen, weil sie zum einen in ihrer Verbindlichkeit von dem unbekannten Gebieter abhängen, weil sie aber zudem allein im Glauben unter der Anleitung eines göttlichen Geistes in ihrer wahren Bedeutung wahrgenommen werden können . Damit ist der Protestantismus, wenn er aus Glauben in dieser Welt gestaltend mitreden will, hilflos in allen Fragen des Rechts. Als besonders tragisch haben evangelische Christen diese Hilflosigkeit in Zeiten nationalsozialistischer und kommunistischer Herrschaft erfahren. Eine über die engen Grenzen der Glaubensgemeinschaft hinaus wirksame und verpflichtende Antwort auf despotische Unterdrückung haben sie nicht geben können. Das ist die deutliche Schwäche Barmens. Heute sind es nicht zuletzt die üblen Begleiterscheinungen des Weltvereinigungsprozesses, denen der Protestantismus kaum etwas Haltbares entgegenzusetzen weiß. Die alte, aber schon
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I. Zur Vorbereitung
früher keine Legitimität stiftende Erinnerung an die Werte eines vermeintlich christlichen Abendlandes muß unter globalen Vorzeichen geradezu lächerlich erscheinen. Innerhalb einer volkskirchlich geprägten Kultur mag es genügen, wenn die evangelische Kirche zur Bestimmung ihres Verhältnisses zum Recht nicht mehr vorzubringen weiß, als die überaus eifrige Berufung auf eine wie auch immer verstandene "prägende Kraft des Christentums"'. Dem afghanischen oder irakischen Bürger jedoch, dem ausgerechnet das christliche Abendland Frieden und Freiheit bringen zu müssen geglaubt hat, wird diese Kraft kaum beistehen können. Was er von ihr kennt, ist ohnehin nicht viel mehr als der Rumpf eines B-52-Bombers. Daß sie ihm auch sagen könne, was nach der Beseitigung der Tyrannis sein Recht sei, mag er mit Recht bezweifeln. Die protestantische Ratlosigkeit in weltlichen Dingen kann nicht durch die Aneignung der vermittelnden römisch-katholischen Naturrechtslehre geheilt werden. Nicht zuletzt Karl Barth hat die evangelische Kirche daran erinnert, daß sie das Letzte aufgibt, was innerhalb des Protestantismus verteidigt werden muß, wenn sie sich auf natürliche Vermittlungen zwischen übernatürlich bewirktem Glauben und natürlicher Vernunft einläßt. Diesen deutlichen Befund haben weder die zu Beginn der 1960er Jahre ergebnislos beendete Naturrechtsdebatte noch die späteren Bemühungen um eine die Konfessionen zusammenführende Haltung zu Gnade und Rechtfertigung entkräften können. Unter reformatorischen Bedingungen müssen Überlegungen zu Staat, Recht und Gerechtigkeit ohne ein theologisch begründetes Naturrecht auskommen. Damit bleibt der protestantischen Rechtslehre aber offenbar ein geradezu tragisches Dilemma: Entweder muß sie den Rückzug aus der als böse und unverständig geglaubten Welt einleiten, oder sie muß sich selbst das Zepter in die Hand geben und bürgerliche Gemeinschaften unter eine christliche Gerechtigkeitsidee stellen, muß also die Welt mit christlichen Mitteln des christlichen Glückes teilhaftig werden lassen. Kurz: Weltflucht oder christlich-despotischer Herrschaftsanspruch. Zu Weltflucht und Sprachlosigkeit, dies wird sich zeigen, neigt die lutherische Tradition, christlich-despotische Tendenzen lassen sich dagegen stärker in der reformiert-calvinistischen Lehre nachweisen. Die vorliegende Arbeit will einen neuen, einen dritten Weg öffnen. Sie geht davon aus, daß die reformatorische SOLA-Theologie und die mit ihr verbundene , Kirchenamt der EKD (Hg.), Christentum und politische Kultur. Über das Verhältnis des demokratischen Rechtsstaates zum Christentum. Eine Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (= EKD-Texte, Nr. 63), Hannover 1997, 8. In dieser knapp 30 Seiten umfassenden Schrift der EKD muß die unter dankbarem Verweis auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes hervorgeholte christliche Prägekraft in verschiedenen Variationen nicht weniger als 28 Mal als Beleg dafür herhalten, daß der demokratische Rechtsstaat sich vor allem christlichen, ja, protestantischen Einflüssen verdanke.
I. Zur Vorbereitung
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Lehre von Gott, Natur, Mensch und bürgerlicher Gemeinschaft nicht allein Ursache des protestantischen Problems mit der Welt sein darf, sondern zugleich auch dessen Lösung enthalten muß. Bei Luther und Calvin ist der gefallene Mensch von Natur aus blind und taub für das Göttliche. Dieser Zustand kann nur durch einen gnädigen Eingriff Gottes, durch eine göttlich bewirkte Neuschöpfung des Menschen aufgehoben werden. Natürliche Vermittlungen und Zwischenzustände sind ausgeschlossen. Neuschöpfung wird aber nur den wenigen Auserwählten zuteil, die Gott ohne Rücksicht auf natürliche Bedingungen zur Erneuerung bestimmt hat. Die Masse bleibt dagegen in der Finsternis. Daraus ergibt sich ein prinzipiell nicht vermittelbares und unbeeindrucktes Nebeneinander von Kirche und Welt. Die Kirche lebt aus Glauben, die Welt aber hat nichts anderes als ihre natürliche, gottlose Vernunft. Hier greift die erste These: Eine Theologie, die FIDES und RATIO, Glaube und natürliche Vernunft verbindungslos nebeneinander stellt, gleichzeitig jedoch ihren Einfluß auf die Welt geltend machen will, muß auf zwei grundsätzlich voneinander geschiedene Formen der Kommunikation mit der Welt zurückgreifen können. Ist sie auf Glauben aus, so hat sie bloß ihr Bekenntnis. Will sie dagegen die Welt, das Zeitliche, das Vergängliche mitgestalten, so muß der Glaube schweigen und an seine Stelle das vernünftige, das der Welt zugängliche Argument treten dürfen . Damit ist nicht gesagt, daß den Glauben zuvor ablegen muß, wer die Welt weltlich bindend anzusprechen beabsichtigt. Im Gegenteil: Weil der Glaube weiß, daß er die Welt mit den ihm eigenen Mitteln in weltlichen Dingen nicht zu erreichen vermag, greift er zur Vernunft. Kirche gebraucht dann die Vernunft aus Glauben. Daraus folgt die zweite These: Reformatorische Theologie, die sich in Fragen des Rechts äußern will, muß auf theologische Begründungen verzichten. Jede mögliche Rechtstheologie , selbst jene, die heute auf den Spuren Wolfgang Hubers als ,,kritische Theologie des Rechts" in bester Absicht eine theologisch begründete "Hoffnung auf Gerechtigkeit in den Diskurs über das Recht"2 einzubringen versucht, muß abgelegt werden. Protestantische Theologie muß sich der merkwürdigen Herausforderung stellen, eine theologie lose Rechtslehre zu entwickeln, die aus Glauben vertreten werden kann und der Kirche den alltäglich-gelassenen bürgerlichen Umgang mit der Welt allererst ermöglicht. Grundlegung und erste Ansätze einer derartigen Rechtslehre des Protestantismus, vor allem aber die Kriterien, denen sie genügen muß, werden hier vorgestellt. Die Arbeit beschreitet folgenden Weg: Ausgehend von vorbereitenden Überlegungen zum Verhältnis von Reformation und Neuzeit wird unter besonderer Berücksichtigung Luthers und Calvins der Nachweis versucht, daß der in der 2 Huber, Wolfgang, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 1996, 18. Siehe auch: Huber, Wolfgang, Rechtfertigung und Recht. Über die christlichen Wurzeln der europäischen Rechtskultur (= Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, H. 27), Baden-Baden 2001.
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I. Zur Vorbereitung
SOLA-Idee angelegte Bruch zwischen Kirche und Welt zugleich zu einem Bruch mit der thomistischen Naturrechtstradition führen muß. Des Naturrechtes als Mittel der Kommunikation mit der Welt entledigt steht der Protestantismus vor dem beschriebenen Dilemma, scheinbar allein zwischen Weltflucht und christlicher Despotie wählen zu können. Am Beispiel Helmut Thielickes und Karl Barths soll gezeigt werden, daß Äußerungen dieser Not sich auch und gerade in den gegenwärtig immer noch einflußreichen Sozialtheorien sowohl lutherischer als auch reformierter Prägung finden lassen. Die evangelische Theologie, so der Ertrag dieser Überlegungen, wird sich selbst nur dann helfen können, wenn sie den theologischen Zustand in allen Fragen des Rechts zu verlassen und aus Glauben in einen philosophischen Zustand einzutreten bereit ist. Philosophie als pure Weltweisheit muß dem Protestantismus wieder zugänglich und brauchbar gemacht werden. Möglich wird die theologisch motivierte Hinwendung zur reinen Rechtsphilosophie nicht zuletzt durch eine Rehabilitierung der ursprünglichen, wenngleich dringend korrekturbedürftigen Lösung des protestantischen Konfliktes mit der Welt - der Lehre von den beiden Reichen. Was hier vorgelegt wird, ist (erstens) nicht mehr Theologie und noch nicht Philosophie. Der Leser wird nicht selten feststellen, daß der Rückzug aus theologischen Kategorien bereits begonnen hat, daß der Weg hinein in die philosophische Terminologie dagegen nur sehr zurückhaltend eingeschlagen wurde. Dies wird unter Umständen den Unmut beider Fakultäten heraufbeschwören, ist aber eine wohl nicht abzuwendende Eigenart der dieser Arbeit zugrunde liegenden Idee und der mit ihr verbundenen Grenzstellung. Ferner wird hier (zweitens) keine Kritik an den Prämissen reformatorischer Theologie vorgetragen. Vielmehr werden diese Prämissen als gegeben angenommen und mit den notwendig aus ihnen hervorgehenden Folgen konfrontiert. Durch die Beseitigung systemimmanenter Brüche eröffnen sich dabei bislang verdeckte Perspektiven. Zudem wird (drittens) die innerprotestantische Suche nach einer möglichen Soziallehre kaum teilnehmend begleitet. Die Arbeit greift überwiegend zur beobachtenden Analyse, um die notwendige kritische Distanz herstellen und eine bisweilen recht hilfreiche Angriffslust ermöglichen zu können. Schließlich (viertens) werden die wesentlichen Elemente reformatorischer und moderner protestantischer Theologie in einer Art idealtypischen Zuspitzung präsentiert. Dabei werden die Deutlichkeit und Anschaulichkeit des Argumentes wissent- und willentlich mit einer erheblich erhöhten Kritikanfalligkeit erkauft. Ein umfassender Literaturbericht kann an dieser Stelle entfallen, da die notwendig erscheinenden bibliographischen Hinweise und Erläuterungen im Text an geeigneter Stelle gegeben werden. Die Vorgabe einiger Zitationskonventionen mag genügen: Quellen werden ausschließlich unter Verwendung von Kurz-
I. Zur Vorbereitung
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titeln zitiert. Sie sind im beigefügten Apparat gesondert erklärt. Luther wird zitiert nach der Weimarer Kritischen Gesamtausgabe. Sprachliche Übertragungen werden dabei selbst oder, wo möglich, in Anlehnung an die von Kurt Aland herausgegebene WerkauswahP geliefert. Calvins Schriften sind den Bänden des Corpus Reformatorum beziehungsweise der Calvini Opera entnommen und gegebenenfalls mit einem Hinweis auf die Opera Selecta versehen. Da abgesehen von der gerade entstehenden Studienausgabe4 die verschiedenen Anläufe, Calvin dem deutschen Sprachraum zugänglich zu machen, ein recht buntes Bild ergeben, erscheint es sinnvoll, jedem Zitat einen Verweis auf die jeweils herangezogene Übertragung beizufügen. Übersetzungen werden grundsätzlich im Original belassen und bei Bedarf in Anmerkungen kommentiert. An zahlreichen Stellen werden sie zur Verdeutlichung durch die Einfügung der lateinischen oder französischen Urtexte ergänzt. Dabei ist lateinischer Text ausnahmslos in KAPITÄLCHEN gesetzt. Die zitierte Literatur ist im Literaturverzeichnis vollständig erfaßt. Zusätzlich ist eine kleine bibliographische Auswahl zur Naturrechtsdebatte im Protestantismus beigefügt. Die einzelnen Titel werden bei erstmaliger Angabe im Text vollständig, danach unter Verwendung selbsterklärender Kurztitel zitiert. Grundsätzlich wird auf die zunächst zugängliche Ausgabe des jeweiligen Titels zurückgegriffen. Spielt der Zeitpunkt der Erstveröffentlichung inhaltlich eine Rolle, so wird darauf eigens verwiesen. Hervorhebungen innerhalb der zitierten Texte sind ohne Veränderung wiedergegeben. Eigene Hervorhebungen wurden, abgesehen von der besonderen Kennzeichnung lateinischer Texte, nicht eingefügt. Zeitschriftentitel werden durchweg abgekürzt. Die ausführlichen Angaben finden sich im Abkürzungsverzeichnis.
3 Siehe: Aland, Kurt (Hg.), Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, Bde. 1 - 10 (= UTB Wissenschaft. Uni-Taschenbücher, Nr. 1656), Göttingen 4 1991. 4 Siehe: Busch, Eberhard u. a. (Hg.), Calvin-Studienausgabe, Bde. 1 - 4, Neukirchen-Vluyn 1994 - 2002.
11. Refonnation und Neuzeit Die protestantische Suche nach theologisch-naturrechtlich begründeten Vermittlungen zwischen Kirche und Welt ist immer auch eng verbunden mit einer ideengeschichtlichen Einordnung reformatorischer Theologie überhaupt. Schon an der durch Ernst Troeltsch vorangetriebenen Reformation-NeuzeitDebatte läßt sich dies ablesen. So behauptet Troeltsch im Anschluß an Max Weber, die Mittelalterlichkeit der Reformation könne unter anderem an ihrer ungebrochenen Fortfiihrung der überkommenen LEX NATURAE-Idee festgemacht werden. "Der alte, echte Protestantismus des Luthertums und des Calvinismus ist durchaus im Sinne des Mittelalters kirchliche Kultur, will Staat und Gesellschaft, Bildung und Wissenschaft, Wirtschaft und Recht nach den supranaturalen Maßstäben der Offenbarung ordnen und gliedert wie das Mittelalter überall die LEX NATURAE als ursprünglich mit dem Gottesgesetz identisch sich ein."! Damit soll an dieser Stelle nicht mehr gesagt sein als dies: Wer die Bedingungen, Besonderheiten und Grenzen einer protestantischen Kommunikation mit der Welt entdecken will, der muß zugleich - besser noch zuvor - der Reformation einen klar abgesteckten Platz zwischen Mittelalter und Neuzeit zuweisen. Die vermeintlichen Beiträge reformatorischer Theologie zur Entstehung der modernen Welt sind rege diskutiert worden. 2 Dabei kreisen die Überlegungen ! Troeltsch, Ernst, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modemen Welt, in: HZ 97 (1906) 14. Für die protestantischen Folgegenerationen glaubt Troeltsch dagegen feststellen zu können: "Der modeme Protestantismus seit dem Ende des 17. Jahrhunderts ist [... ] überall auf den Boden des paritätischen oder gar toleranten Staates übergetreten und hat die religiöse Organisation und Gemeinschaftsbildung im Prinzip auf die Freiwilligkeit und persönliche Uberzeugung übertragen [... ]. Er hat ferner grundsätzlich neben sich ein völlig emanzipiertes weltliches Leben anerkannt, das er weder direkt noch indirekt durch Vermittlung des Staates mehr beherrschen will, und hat seine alte Lehre von der diese Beherrschung ermöglichenden und fördernden Identität der LEX DEI und LEX NATURAE bis zum völligen Unverständnis vergessen." Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus, 14 - 15. 2 Im Folgenden wird eine vor allem im anglo-amerikanischen Raum von calvinistischen Theologen gezogene Verbindungslinie zwischen reformatorischem und neuzeitlichem Denken nicht berücksichtigt: die Überführung des religiösen Bundesgedankens in den säkular begründeten Sozialvertrag. Neben den sogenannten Covenants oder Federafists läßt sich wohl kaum eine zweite derart einflußreiche Bewegung ausmachen, die sich im vermeintlichen Nachvollzug reformatorischer Lehre zugleich so radikal von derselben löst, ja, sich sogar gegen sie stellt. farnes B. Torrance spricht zurecht von "a seri-
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II. Reformation und Neuzeit
vor allem um drei Begriffe, die die neuzeitliche Gesellschaft nachhaltig geprägt haben: Freiheit - Menschenrechte - Demokratie. Zumeist wird nach Möglichkeiten gesucht, diese Begriffe mittels Analogiebildung dem Denken der Reformatoren rückwirkend einzugliedern oder sie diesem sogar zu entnehmen. Auffällig ist jedoch, daß in der Diskussion nicht selten lediglich die scheinbar gefälligen Aspekte reformatorischer Theologie präsentiert werden. Offenbar können die erhofften Ähnlichkeiten allein auf diesem Wege behauptet werden. Die der modernen Theologie allzu oft peinlichen Gegenstücke reformatorischer Lehre werden dagegen schamhaft bedeckt. Es wird sich allerdings zeigen, daß es gerade diese verheimlichten Aspekte sind, die eine sinnvolle und theologisch haltbare ideengeschichtliche Einordnung der Reformation ermöglichen. 1. Kein Zweifel an der Reformation
,,Noch vor zwanzig Jahren", so stellt John Witte jr. fest, "wurde die protestantische Reformation des 16. Jahrhunderts allgemein als eine für die Entwicklung der westlichen Ideen und Institutionen konstitutive Epoche angesehen. Heutzutage wird sie regelmäßig als eine Fiktion von Geschichtswissenschaftlern, sowie als ein geschichtlicher Mißerfolg betrachtet. Den neuesten Darstellungen zufolge sollen Martin Luther, Johannes Calvin [... ] und andere Persönlichkeiten des 16. Jahrhunderts zwar auf allerlei Reformen gedrängt, aber keine richtige Reformation veranlaßt haben. Ihre Ideen sollen nur geringen Einfluß
ous shift away from Calvin and the first reformers". Torrance, James B., The Concept of Federal Theology - Was Calvin a Federal Theologian?, in: Neuser, Wilhelm H. (Hg.), Calvinus Sacrae Scripturae Professor. Die Referate des Internationalen Kongresses für Calvinforschung vom 20. bis 23. August 1990 in Grand Rapids, Grand Rapids 1994,32. Gegen Torrance tritt unter anderen Paul Helm mit der These auf, "that Calvin's theology and the developed Covenant Theolgy [... ] are in essential doctrinal agreement". Helm, Paul, Calvin and the Covenant: Unity and Continuity, in: Gamble, Richard C. (Hg.), An elaboration of the theology of Calvin (= Articles on Calvin and Calvinism, Vol. 8), New York u. London 1992,93. Zudem: Helm, Paul, Was Calvin a Federalist?, in: RTJ 10 (1994) 47 - 59. - Einen guten Überblick über die verschiedenen CalvinInterpretationen hinsichtlich des Bundesgedankens bietet: Lillback, Peter A., The Continuing Conundrum: Calvin and the Conditionality of the Covenant, in: CTJ 29 (1994) 42 - 45. Die ideengeschichtliche Wandlung des Bundesgedankens zur Lehre vom Sozial vertrag zeigt: Oestreich, Gerhard, Die Idee des religiösen Bundes und die Lehre vom Staatsvertrag, in: Strohm, Theodor / Wendland, Heinz-D. (Hg.), Kirche und modeme Demokratie (= Wege der Forschung, Bd. 205), Darmstadt 1973, 157 - 185. Im deutschen Sprachraum wird der Bundesgedanke - allerdings mit dem ausdrücklichen Hinweis, daß dieser sich nicht auf Calvin zurückführen lasse - in jüngerer Zeit vor allem von Jürgen Moltmann vertreten. Siehe: Moltmann, Jürgen, Covenant oder Leviathan? Zur Politischen Theologie der Neuzeit, in: ZThK 90 (1993) 299 - 317. Oder auch: Moltmann, Jürgen, Im Bund gegen den Leviathan. Mit der Theologie gegen die Politikverdrossenheit, in: EK 27 (1994) 24 - 28.
1. Kein Zweifel an der Reformation
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auf die Überzeugungen und das Verhalten der kleinen Leute gehabt haben. Die Ideen der sog. Reformatoren sollen eher elitäre und chauvinistische Zustände fortgesetzt, an statt Gleichheit und Freiheit gefördert haben. Ihre Reformen sollen dazu geführt haben, daß die aufkeimenden Bestrebungen in Demokratie und Marktwirtschaft behindert und neue patriarchalische Auswüchse in den Bereichen von Familie, Kirche und Staat gefördert wurden."3 Was heute unter Historikern als reformation denial gepflegt wird, muß mit Blick auf den theologischen Diskurs geradezu als Banalität erscheinen. Hier ist zu keinem Zeitpunkt ein breiter Konsens entstanden, der die Reformation als eindeutigen neuzeitlichen Impuls erscheinen ließe. Zweifellos überwiegen die Bemühungen um eine im Sinne modernen Denkens positive Wertung, aber schon bei Troeltsch läßt sich die jede übertriebene Euphorie dämpfende Behauptung finden, die reformatorischen Effekte müßten "großenteils in indirekten und in unbewußt hervorgebrachten Folgen, ja geradezu in zufälligen Nebenwirkungen oder auch in wider Willen hervorgebrachten Wirkungen'''' gesucht werden. So gesehen erscheint die Neuzeit als eine Art Unfall der Reformation. In Anlehnung an Troeltsch glaubt Hanns Rückert feststellen zu dürfen, der "Protestantismus des konfessionellen Zeitalters" habe "viel mehr mittelalterliches als neuzeitliches Gepräge". Man könne "es von der negativen oder von der positiven Seite her, von der Auflösung des Mittelalters" oder "vom Durchbruch der neuzeitlichen Gedanken aus ins Auge fassen: auf beides" habe "die Reformation mehr verzögernd als beschleunigend gewirkt. "5 Damit erscheint jede Eingliederung des Protestantismus in die Moderne als problematisch.
3 Witte, lohn, Zwischen Sakrament und Vertrag: Ehe als Bund im Genf Johannes Calvins, in: ZSRG.K 115 (1998) 386 - 387 [Original: Witte, lohn, Between Sacrament and Contract. Marriage as Covenant in John Calvin's Geneva, in: CTJ 33 (1998) 9 - 75]. Siehe auch: Witte, lohn, Vom Sakrament zum Vertrag. Ehe, Recht und Religion in der abendländischen Tradition (= Öffentliche Theologie, Bd. 15), Gütersloh 2001 [Original: Witte, lohn, From Sacrament to Contract. Marriage, Religion, and Law in the Western Tradition (= The Family, Religion, and Culture, Vol. 2), Louisville 1997]. 4 Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus, 28. Troeltsch hält dagegen den von Luther und Calvin bekämpften radikalen Protestantismus des Täufertums in seiner Neuzeitlichkeit für ungleich wirkungsvoller. Siehe: Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus, 16 - 17. 5 Rückert, Hanns, Die geistesgeschichtliche Einordnung der Reformation, in: ZThK 52 (1955) 49 - 50. "Es spricht viel für die Auffassung Troeltschs", so Rückert, "der der Reformation ganz allgemein die Rolle zuweist, daß sie einen spätmittelalterlichen Auflösungsprozeß, der in Renaissance und Humanismus unmittelbar vor dem Durchbruch stand und in dem sich der abendländische Geist bereits aus der Bindung an die christlich-kirchliche Autorität emanzipieren wollte, noch einmal aufgehalten und Europa noch einmal für nicht weniger als rund 200 Jahre unter die christliche Norm gebeugt habe." Rückert, Die geistes geschichtliche Einordnung der Reformation, 51.
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II. Reformation und Neuzeit
Troeltschs erläuternder Hinweis, der Protestantismus sei eben vor allem eine religiöse, und erst nachrangig eine kulturelle Kraft,6 ist so schlicht wie richtig. Ebenso richtig ist aber auch,7 daß gerade theologische Reformbemühungen am Ausgang eines stark religiös geprägten Zeitalters umfassende soziale und kulturelle Veränderungen erwarten lassen. Der konsequente und nachhaltige Bruch mit der päpstlichen Alleinherrschaft in Verbindung mit der Etablierung eines am Individuum orientierten Kirchenverständnisses verursacht nicht nur religiöse, sondern auch soziale Verunsicherungen, die in einen bis dahin unbekannten Kirchenpluralismus und einer über Kirchengrenzen hinaus wirkenden Konfessionalisierung der Religion münden. Dabei rückt der individuelle Glaube in den Mittelpunkt des kirchlichen Lebens. Aufwertung und Verselbständigung des Einzelnen auch innerhalb der Gesellschaft sind die Folgen. "Together with the impetus of Renaissance humanism and late scholasticism, the Reformation paved the way for a turning point in the human image that urged recognition of the equal dignity of all men. Now the idea emerged that all men possess equal rights before the state, namely those of life, liberty, and property, which cannot be taken from them either by social contract or by state power."g Die in die Neuzeit verweisende soziale Relevanz selbst des frühen Protestantismus kann insofern nicht ohne weiteres verdrängt werden. Zwar haben Luther und Calvin selbst keine moderne Gesellschaftslehre entwickelt. Werden jedoch ihrer religiös motivierten Befreiung von den Ketten des mittelalterlichen Katholizismus soziale Effekte zugeschrieben, dann lassen sich zugleich - mit ein wenig Aufwand - ihre theologischen Festlegungen in politische Prinzipien überführen. Wesentliche Aspekte der neuzeitlichen Sozialtheorie können dann an scheinbar analogen Begriffen der reformatorischen Theologie festgemacht werden. Auf diesem Wege wird dann die Behauptung durchaus möglich, die Reformation habe insgesamt "tiefgreifende Spuren hinterlassen", die "sowohl die Alltagswelt betrafen als auch die religiöse Ordnung und die politischöffentliche Welt": Die "Trennung von Religion und weltlicher Ordnung", die ,,Aufwertung der weltlichen Ordnung", die "Stärkung freiheitlicher politischer Organisationen" und die ,,Moralisierung aller sozialen Beziehungen". Mit der Reformation seien somit "wesentliche Voraussetzungen für die Entstehung der Moderne gegeben. "9 Siehe: Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus, 57. Zum Folgenden siehe: Dülmen, Richard V., Reformation und Neuzeit. Ein Versuch, in: ZHF 14 (1987) 4 - 10. g Huber, Wolfgang, Human Rights and Biblical Legal Thought, in: Witte, John / Vyver, Johan D. v. d. (Hg.), Religious Human Rights in global Perspective: Religious Perspectives, Den Haag u. a. 1996,51. 9 Dülmen, Reformation und Neuzeit, 24 - 25. - Siehe ergänzend: Ebeling, Gerhard, Luther und der Anbruch der Neuzeit, in: ZThK 69 (1972) 185 - 213. Kantzenbach, Friedrich w., Christentum in der Gesellschaft. Grundlinien der Kirchengeschichte, 6 7
2. Reformatorische Beiträge zur modemen Welt
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2. Reformatorische Beiträge zur modernen Welt Freiheit ist einer der Begriffe, die in der Reformation-Neuzeit-Debatte ausdrücklich mit den theologischen Vorgaben der Reformation verbunden werden. Sei es die lutherische Freiheit eines Christenmenschen durch die im Glauben erfahrene Rechtfertigung vor Gott, sei es die Freiheit des menschlichen Gewissens von kirchlichen Satzungen oder auch die Freiheit der Kirche von staatlicher Bevormundung - der Ruf nach Freiheit ertönt durch zahlreiche reformatorische Schriften. Grund genug, diesem Ruf bei der Suche nach in die Neuzeit verweisenden sozialen Wirkungen besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Gerade hier scheint die Aufwertung des Einzelnen vor Gott und Menschen besonders nachvollziehbar. Der Glaubende ist durch seine im Glauben direkt eingegangene, nicht durch die Kirche vermittelte Bindung an Gott, durch seine individuelle Erkenntnisfähigkeit und durch seine Aufnahme in den Kreis der Herrschenden im Rahmen des allgemeinen Priestertums in die Mündigkeit entlassen. ,,Durch sein Wirken in Wort und Geist bindet Gott die Existenz des Menschen ausschließlich an sich selbst und befreit sie gleichzeitig von allen anderen Autoritäten und Bindungen." Denkt er "diese Lehre konsequent zu Ende", dann steht der reformatorisch Gläubige früher oder später vor der Entdeckung, daß er "schwerlich der Forderung nach Glaubens- und Gewissensfreiheit wird ausweichen können". \0
In ihrer Bewertung der befreienden Wirkungen reformatorischer Theologie versteigen sich nur wenige zu so weitreichenden Behauptungen, die Aufklärung habe vor allem "ein guter Jünger Luthers" sein wollen, da ihr Luther und die Reformation "als Hort aller Freiheit"ll erschienen seien. Ebenso selten werden derartige Wirkungen schlechtweg bestritten. 12 Vielmehr bieten die verschiedezweiter Bd.: Reformation und Neuzeit (= Siebenstern-Taschenbuch, Bd. 186), Hamburg 1976. Pannenberg, Wolfhart, Reformation und Neuzeit, in: Renz, Horst I Graf, Friedrich W. (Hg.), Protestantismus und Neuzeit (= Troeltsch-Studien, Bd. 3), Gütersloh 1984,21 - 34. Schilling, Heinz, Luther, Loyola, Calvin und die europäische Neuzeit, in: ARG 85 (1994) 5 - 3l. \0 Staedtke, Joachim, Calvins Genf und die Entstehung politischer Freiheit, in: Fuchs, Walther P. (Hg.), Staat und Kirche im Wandel der Jahrhunderte, Stuttgart u. a. 1966, 1Ol. Siehe dazu auch: Kantzenbach, Christentum in der Gesellschaft, 145 - 147. Dülmen, Reformation und Neuzeit, 10 - 1l. 11 Blaschke, Karlheinz, Die Bedeutung der Reformationstheologie für die Ausbildung der Menschen- und Freiheitsrechte, in: Blickle, Peter u. a. (Hg.), Zwingli und Europa. Referate und Protokolle des Internationalen Kongresses aus Anlaß des 500. Geburtstages von Huldrych Zwingli vom 26. bis 30. März 1984, Zürich 1985, 240. 12 Beispielhaft sei hier auf Martin Brechts Vermutung verwiesen, "daß die reformatorische Freiheitslehre und deren Übernahme in Orthodoxie und Pietismus unmittelbar so gut wie nichts hergeben für die politische und gesellschaftliche Emanzipation. Man mag deshalb mit ihr theologisch hadern oder ihr historisch mangelnde Modernisierungsleistung vorwerfen. Man wird jedenfalls sehr darauf zu achten haben, wo und wie dann
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nen Darstellungen zumeist ein Bild überaus verunsichernder Unentschlossenheit. Ein gutes Beispiel dafür ist die Untersuchung John Wittes zum Problem der Religionsfreiheit bei Calvin. 13 Bereits auf den ersten Seiten muß Witte zugeben, bei Calvin ließen sich sowohl zahlreiche Belege für "Gewissensfreiheit" und "religiöse Toleranz" als auch für ,,Engstirnigkeit" und "Unterdrükkung"14 finden. Calvin erscheint bei Witte als ein Wanderer zwischen den Extremen, der - von hier nach dort schwankend - ein wie auch immer verstandenes Ideal des Moderaten zu treffen sucht. So glaubt Witte bei Calvin irritierende Widersprüche zwischen Freiheit einerseits, Ordnung und Recht andererseits, zwischen Toleranz und Disziplinierung entdecken zu können, die sich jedoch selbst aus den systematisch noch nicht ausgereiften Frühschriften nur mit hohem interpretatorischem Aufwand herauspressen lassen. 15 Witte verliert sich in merkwürdigen Unbestimmtheiten. "Calvins Schriften", so behauptet er schlußfolgernd, "waren ein Saatbeet, aus dem ein Dschungel von politischen Dornbüschen erwuchs, der das Wachstum von religiöser und politischer Freiheit an vielen Stellen strangulierte. Andererseits trugen Calvins Schriften auch in tiefgehender und nachhaltiger Weise zur rechtlichen und politischen Tradition der Religionsfreiheit im Westen bei [... ]. Calvin hat diesem Kampf um die Freiheit nicht nur in Genf, sondern auch an vielen anderen Orten Westeuropas Auftrieb gegeben."16 Somit scheint Calvin nicht mehr hinterlassen zu haben als mißverständliche und von seinen Nachfolgern auch tatsächlich mißverstandene Mehrdeutigkeit. 17
doch die christliche Freiheit für die modernen säkularen Emanzipationsbestrebungen eingespannt wird". Brecht, Martin, Die Rezeption von Luthers Freiheitsverständnis in der frühen Neuzeit, in: LuJ 62 (1995) 151. Ähnlich reserviert äußert sich: Tiemey, Brian, Religious Rights: An Historical Perspective, in: Witte / Vyver (Hg.), Religious Human Rights in global Perspective: Religious Perspectives, 34 - 43. 13 Witte, lohn, Moderate Religionsfreiheit in der Theologie Johannes Calvins, in: ZSRG.K 114 (1997) 401 - 448 [Original: Witte, lohn, Moderate Religious Liberty in the Theology of John Calvin, in: CTJ 31 (1996) 359 - 403]. Die deutsche Version leidet erheblich unter der oft schwerfälligen Ubersetzung, insbesondere aber unter der mangelhaften Umsetzung der englischen auf die deutsche Quellenlage. 14 Witte, Moderate Religionsfreiheit in der Theologie Johannes Calvins, 404. 15 Siehe: Witte, Moderate Religionsfreiheit in der Theologie Johannes Calvins, 405 u.411. 16 Witte, Moderate Religionsfreiheit in der Theologie Johannes Calvins, 444 - 445. "Calvin war sicher nicht der Vater der modernen Religionsfreiheit". Dennoch gaben seine "Schriften und sein Vorbild der Verwirklichung und Integration der persönlichen und korporativen Religionsfreiheit einen unentbehrlichen Auftrieb. Er sollte nicht in der Reihe derer fehlen, die für ihren Einsatz um die Religionsfreiheit im Westen geehrt werden." Witte, Moderate Religionsfreiheit in der Theologie Johannes Calvins, 448. 17 Der Argumentation Wittes fehlt die erkennbare Logik. Er bleibt in seinen Deutungen überaus spekulativ. Besonders auffällig ist die zum Teil eklatant falsche Interpretation der Staatslehre, hier vor allem der Zwei-Regimenten-Lehre Calvins. Auch Witte
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Der Boden, auf dem Martin Heckel sich bewegt, ist offensichtlich vergleichbar unsicher. In seinen Überlegungen zur Verbindung zwischen modernem Rechtsstaat und christlichem Freiheitsverständnis sucht er - ausgehend von dem Begriff der Säkularisierung - bei Paulus, Luther und den Lutheranern, im Kirchenrecht und in der Reichsverfassung nach möglichen Anknüpfungspunkten. 18 Dabei ist Heckel erkennbar darum bemüht, einerseits zwischen theologischer und neuzeitlich-rechtlicher Freiheitsidee zu unterscheiden. So stellt er fest, das christliche Freiheitsverständnis sei gerade durch die Verweltlichung des Lebens, des Staates und des Rechts weitgehend verdrängt worden. Andererseits will er aber auch der reformatorisch gedachten Freiheit nicht jede Wirkung für das neuzeitliche Rechtsverständnis absprechen. Als nachhaltige Einflüsse benennt Heckel etwa die Achtung der menschlichen Würde, die Verantwortung für die Welt, die Betonung des Gewissens und die Zügelung menschlicher Macht. 19 Es gelingt ihm jedoch nicht überzeugend, die Übernahme des theologisch begründeten Freiheitsgedankens in das säkulare Programm der Moderne nachzuzeichnen. Auch er muß sich mit recht dunklen Vermutungen zufrieden geben. ,,zwischen dem modernen säkularen und dem christlichen Freiheitsverständnis herrscht weder ein Verhältnis der Identität noch der Gleichheit [... ] des Verschiedenen, noch auch des prinzipiellen Gegensatzes, geschweige denn Konfliktes, sondern ein Verhältnis der tiefen Wesensverschiedenheit und rechtlichen Sonderung, aber auch der gegenseitigen Abgestimmtheit und Bezugnahme. "20 Was also hat die Reformation zur neuzeitlichen Freiheitsidee tatsächlich beigetragen? Wer nach haltbaren Antworten sucht, muß mit zahlreichen Enttäuschungen rechnen. Die einschlägige Literatur verliert sich in undeutlichen Vielleicht- und Sowohl-als-auch-Behauptungen. Daneben wird in verschiedenen Variationen immer wieder die Unfall-These Troeltschs aufbereitet. Es drängt sich der Verdacht auf, daß die schlichte Suche nach ähnlichen oder gleichen Begriffen und die daran anknüpfenden Rückbindungen sich als ungeeignet erweisen müssen. So hat etwa die von theologischen Fundamenten sich losreißende Freiheit der Neuzeit augenscheinlich kaum etwas mit reformatorischer Freiheit gemein. Vielmehr kommen abhängig von dem jeweiligen ideologischen Ansatz gleiche Begriffe zur Anwendung, die inhaltlich erheblich voneinverfällt dem geradezu klassischen Fehler, in Calvins Lehre nach einem politischen Ideal zu suchen. 18 Siehe: Heckel, Martin, Der Einfluß des christlichen Freiheitsverständnisses auf das staatliche Recht, in: Marre, Heiner u. a. (Hg.), Das christliche Freiheitsverständnis in seiner Bedeutung für die staatliche Rechtsordnung (= Essener Gespräche zum Thema Staat und Kirche, Bd. 30), Münster 1996, 82 - 135. 19 Siehe: Heckel, Martin, Der Einfluß des christlichen Freiheitsverständnisses, 131. 20 Heckel, Martin, Der Einfluß des christlichen Freiheitsverständnisses, 130.
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ander abweichen. Dieser Befund läßt sich auch nicht mit der immer wieder gerne aufgegriffenen Schmitt-These von der "Säkularisierung theologischer Begriffe"21 aufweichen. Ein stichhaltiger ideen geschichtlicher Nachweis der neuzeitlichen Übernahme und allmählichen Umwandlung reformatorischer Begriffe läßt bislang auf sich warten. Viel näher liegt da die Vermutung, daß im Vollzug der Loslösung von christlichen Lebensmustern sich gerade das ereignet hat, was etwa schon Paulus und Augustinus im Rahmen ihrer Verwerfung der heidnischen Theologie und Philosophie praktiziert haben: Bekannte Begriffe werden aufgegriffen, mit völlig neuen Inhalten versehen und dadurch einer radikal veränderten Bedeutung zugeführt. Da ereignet sich kein schleichender, kaum wahrnehmbarer Prozeß, da wird nicht allmählich christianisiert oder säkularisiert, sondern da wird bewußt und mit Nachdruck eine Abkehr von dem bis dahin gültigen Gottes-, Menschen- und Weltbild zelebriert. Das ist Neuzeit - die willentliche, radikale und allumfassende Vergottlosung des Lebens. Und nichts anderes als dies muß geklärt werden: ob und inwiefern die Theologie der Reformation als Wegbereiter dieser Vergottlosung gedient hat. 22 Ähnlich problematisch erscheinen die Versuche, moderne Vorstellungen von universalen Menschenrechten rückwirkend im reformatorischen Glauben zu verankern. Karlheinz Blaschke weist mit Recht darauf hin, daß "die uns heute geläufigen Menschenrechte" eine ,,Errungenschaft der Aufklärungszeit" sind. In "der Reformationszeit waren Namen und Sache unbekannt"23. Dessen un21 Heckel, Martin, Der Einfluß des christlichen Freiheitsverständnisses, 131. Eine der wirkungsreichsten Thesen der Politischen Theologie Carl Schmitts geht bekanntlich davon aus, daß alle "prägnanten Begriffe der modemen Staatslehre" nichts anderes sind als "säkularisierte theologische Begriffe. Nicht nur ihrer historischen Entwicklung nach, weil sie aus der Theologie auf die Staatslehre übertragen wurden, indem zum Beispiel der allmächtige Gott zum omnipotenten Gesetzgeber wurde, sondern auch in ihrer systematischen Struktur, deren Erkenntnis notwendig ist für eine soziologische Betrachtung dieser Begriffe". Schmitt, Carl, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, Berlin 71996, 43. 22 Weitere Auseinandersetzungen zum Begriff der Freiheit in Reformation und Neuzeit finden sich unter anderem bei: Woolley, Paul, Calvin and Toleration, in: Gamble, Richard C. (Hg.), Calvin's opponents (= Articles on Calvin and Calvinism, Vol. 5), New York u. London 1992, 173 - 193. Lienhard, Mare, Freiheit in der Sicht Luthers und der Französischen Revolution, in: LuJ 62 (1995) 152 - 166. Honecker, Martin, Das reformatorische Freiheitsverständnis und das neuzeitliche Verständnis der "Würde des Menschen", in: Schwartländer, Johannes (Hg.), Modemes Freiheitsethos und christlicher Glaube. Beiträge zur juristischen, philosophischen und theologischen Bestimmung der Menschenrechte (= Entwicklung und Frieden. Wissenschaftliche Reihe, Bd. 24), München u. Mainz 1981,266 - 284. Stevenson, William R., Freedom's Flaws: A Calvinist Critique, in: Pers. 14 (1999) 8 - 10. 23 Blaschke, Die Bedeutung der Reformationstheologie, 238. - "Man sollte die modemen Konzepte, und gar unsere heutigen Bewertungen der Menschenrechtsproblematik, nicht in Calvin hineinzulesen versuchen." Ritschl, Dietrich, Der Beitrag des Calvi-
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geachtet mühen sich nicht wenige Protestanten darum, Verbindungslinien zur Reformation zu zeichnen. Überaus beliebt ist dabei die Herleitung der Menschenrechte aus der in der Reformationstheologie ganz neu betonten Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Dem außergewöhnlichen Geschöpf Mensch, so der Gedanke, sei durch seine herausgehobene Stellung eine unveräußerliche Würde verliehen. Zugleich seien ihm Achtung und Schutz dieser Würde als göttliche Aufträge mitgegeben. 24 Dieser Gedanke wird mit der reformatorischen Rechtfertigungslehre zusammengestellt. Zwischen der Übertragung unverlierbarer Rechte an das Abbild des Schöpfers und der gnädigen Erhebung des Sünders in den Stand eines Gerechten wird eine formale Übereinstimmung entdeckt. Im Zuspruch der Rechtfertigung "wird allen Menschen das göttliche Recht der Gnade verkündet" und "zugleich die gottgegebene Würde jedes und aller Menschen proklamiert. Wo aber diese Würde des Menschen offenbar wird, da werden auch die fundamentalen Menschenrechte in Kraft gesetzt. Ihre Verwirklichung wird möglich gemacht und ist deshalb eine unabweisbare Aufgabe. "25 Wesentlicher Bestandteil und Ausfluß der reformatorischen Rechtfertigungslehre, so der Gedanke, ist zunächst eine tief gegründete Rechtfertigungsgewißheit, dann aber auch die deutliche Forderung nach freier Behauptung und Ausübung des göttlich gewirkten Gnadenstandes. Die Gewißheit der Rechtfertigung entnimmt sich dem Zuspruch der göttlichen Offenbarung und dem inneren Erlebnis des Glaubens, die gemeinsam ein unerschütterliche Erwählungsbewußtsein hervorbringen . Der so geschaffene aufrechte und sich seines herausgehobenen Standes gewisse Mensch wird als Vorbild angenommen nicht nur für den "Optimismus und das Selbstvertrauen der Aufklärung", sondern auch für das moderne ,,Bewußtsein, daß alle Menschen in vollkommener Gleichheit eine natürliche Freiheit und natürliche, unveräußerliche Rechte besitzen".26 Die Forderung nach ungehinderter Glaubenspraxis beruft sich auf die nismus für die Entwicklung des Menschenrechtsgedankens in Europa und Nordamerika, in: EvTh 40 (1980) 339. 24 Siehe dazu etwa: Moltmann, Jürgen, Politische Theologie - politische Ethik (= Fundamentaltheologische Studien, Nr. 9), Grünewald 1984,166 - 179. 25 Moltmann, Politische Theologie - politische Ethik, 176. - "Der Gedanke, daß Gott den Menschen inhärente, unveräußerliche, unaufgebbare und unverlierbare Rechte verliehen hat, stimmt formal mit der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders überein, nach der der Allmächtige den Christen mit dem Status des Gerechten ausgestattet hat, indem er ihn in Gnaden angenommen, die Sünden vergeben und die Gerechtigkeit Christi zugerechnet hat." Zimmermann, Gunter, Reformation und amerikanische Unabhängigkeitserklärung. Studien zu den theologiegeschichtlichen Grundlagen des Gedankens der Menschenrechte, in: ARSP 82 (1996) 323. 26 Zimmermann, Reformation und amerikanische Unabhängigkeitserklärung, 323. "Sicherlich war dies nicht der einzige Beitrag zur Genese des Menschenrechtsgedankens, aber er war wohl der entscheidende und ausschlaggebende Punkt." Diese Behaup-
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Unabhängigkeit göttlicher Gnade von menschlichen Instanzen und Ordnungen. Sie wird zum ,,Angelpunkt" zwischen reformatorischer Theologie und der Idee der Menschenrechte, zum ,,Kanal der Säkularisierung"2?, in dem ursprünglich theologisch begründete Ansprüche in rein weltliche Ideen und in nun nicht mehr religiös motiviertes Handeln übergeleitet werden. Was hier zunächst recht nachvollziehbar erscheint, ist nach Hinzuziehung und Berücksichtigung weiterer theologischer Vorgaben alles andere als schlüssig und haltbar. Auch eine Rückbindung der Menschenrechtsidee an die Reformation führt notwendig zahlreiche Ungereimtheiten und Ausblendungen mit sich. Die Forschung sieht sich auch hier einem ,,Januskopf der Abwendung und Zugewandtheit zugleich"28 gegenüber. Daß die Reformatoren sich mit der Idee eines Menschenrechtes nicht beschäftigt haben ist bekannt. 29 Daß sie einer säkularen Begründung eines derartigen Rechtes nicht gefolgt wären, ist ebenso offensichtlich. Eine Neigung der Reformation hin zur Idee der Menschenrechte kann letztlich nur dann rückblickend abgeleitet werden, wenn zugleich einige hinter dieser Idee stehende Prinzipien wie Individualität, Subjektivität, Autonomie, Personalität oder Gleichheit in die reformatorische Theologie hineingelesen werden. 3o Dabei tauchen dann aber die bekannten Probleme und Notlösungen auf: Der Reformation müßten angesichts fehlender unmittelbarer Anknüpfungspunkte unbewußte oder gar ungewollte Effekte zugeschrieben werden, die reformatorisch gesinnten Folgegenerationen angeblich zahlreiche tung versucht Zimmermann durch den Hinweis auf eine Karikatur aus dem Jahr 1769 zu untennauern, die unter dem Titel "Ein Versuch, einen Bischof in Amerika zu installieren" eine aufgebrachte Menge zeige, die dem fliehenden Bischof "Glaubens- und Gewissensfreiheit", "Locke" und "Calvins Werke" nachwerfe. Siehe: Zimmermann, Reformation und amerikanische Unabhängigkeitserklärung, 323. 27 Blaschke, Die Bedeutung der Reformationstheologie, 251. 28 Heckel, Martin, Die Problematik der Menschen- und Bürgerrechte in der reformatorischen Theologie, in: Klug, Ulrich / Kriele, Martin (Hg.), Menschen- und Bürgerrechte. Vorträge aus der Tagung der Deutschen Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (NR) in der Bundesrepublik Deutschland vom 9. - 12. Oktober 1986 in Köln (= Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beih. 33), Stuttgart 1988, 39. - Eine erweiterte Fassung dieses Vortrages bietet Heckel in: Heckei, Martin, Die Menschenrechte im Spiegel der refonnatorischen Theologie (= Abhandlungen der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, 4. Abhandlung), Heidelberg 1987. 29 Vergleiche dagegen etwa Marc Lienhard, der davon ausgeht, daß "sich für Luther die Frage der Menschenrechte in seiner konkreten Situation" in "brennender Weise" gestellt habe. Lienhard, Marc, Luther und die Menschenrechte, in: Lu 48 (1977) 28. 30 Siehe: Heckel, Martin, Die Problematik der Menschen- und Bürgerrechte in der refonnatorischen Theologie, 37. Blaschke, Die Bedeutung der Refonnationstheologie, 245 und 252. Auch: Egmond, Aad V., Calvinist Thought and Human Rights, in: AnNa'im, Abdullahi A. u. a. (Hg.), Human Rights and Religious Values. An Uneasy Relationship? (= Currents ofEncounter, Vol. 8), Grand Rapids 1995, 195 -197 und 201.
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Anhaltspunkte und Perspektiven zur Entfaltung der Menschenrechtsidee und ihrer Prinzipien geboten hätten. 3\ Auf diesem Weg - und hier mag durchaus eine stille Absicht vermutet werden - eröffnet sich dann dem modernen Protestantismus die Möglichkeit, sich unter Berufung auf und in vermeintlicher Treue zur Reformation die neuzeitliche Idee von Mensch, Gesellschaft, Politik und Staat anzueignen. Die schlichte Feststellung lautet dann: Zahlreiche Aspekte des neuzeitlichen Lebens und der modernen Gesellschaft sind schon immer wesentliche Bestandteile protestantischer Theologie gewesen. Sie sind dem Protestantismus nicht etwa wesensfremd oder unbekannt, sondern sie sind ihm geradezu entnommen. Auf der Suche nach neuzeitlicher Identität kann der Protestantismus so die Moderne nicht nur vereinnahmen, er kann sich ihr sogar ohne innere Not anpassen und anschmiegen. Ob damit jedoch eine zumindest rudimentäre Treue zur Reformation gewahrt bleibt, darf mit Recht bezweifelt werden. 32 Nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus und der damit verbundenen gesamtgesellschaftlichen Neuorientierung tritt dem deutschen Protestantismus seine Stellung zur Demokratie als Problem entgegen. In der Weimarer Zeit war es nicht unüblich, hinter dieser Staatsform ein "zersetzendes Prinzip"33 zu entdecken, die im anglo-amerikanischen Raum behauptete Nähe zwischen demokratischer Staatsverfassung und der Idee des allgemeinen Priestertums zu 3\ Siehe: Ritschl, Der Beitrag des Calvinismus, 345. Blaschke, Die Bedeutung der Reformationstheologie, 243 - 244. - Troeltsch dagegen verweist weniger auf die lutherischen oder calvinistischen Folgegenerationen. Er schreibt die politischen Wirkungen reformatorischer Theologie nicht etwa der Reformation selbst, sondern vielmehr dem radikalen Protestantismus zu. Der "Vater der Menschenrechte" ist "nicht der eigentliche Protestantismus, sondern das von ihm gehaßte und in die Neue Welt vertriebene Täuferturn". Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus, 40. Dieser Einschätzung schließt sich Kantzenbach an: "Die Ideen der Menschenrechte und der Gewissensfreiheit verdankt man dem in die neue Welt vertriebenen Sektenturn und Spiritualismus, verschmolzen mit einem pietistisch-puritanisch radikalisierten Calvinismus." Die "Idee der Menschenrechte und Gewissensfreiheit" ist "also sicherlich nicht auf die lutherische Reformation, auch nicht auf den Calvinismus oder die Puritaner zurückzuführen, sondern auf den täuferisch-freikirchlichen und spiritualistisch-subjektivistischen Einfluß." Kantzenbach, Christentum in der Gesellschaft, 154. 32 Ergänzende Aspekte zum Problem des Zusammenhangs zwischen protestantischer Theologie und der Idee der Menschenrechte bieten: Dreitzel, Horst, Grundrechtskonzeptionen in der protestantischen Rechts- und Staatslehre im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: Birtsch, Günter (Hg.), Grund- und Freiheitsrechte von der ständischen zur spätbürgerlichen Gesellschaft (= Veröffentlichungen zur Geschichte der Grund- und Freiheitsrechte, Bd. 2), Göttingen 1987, 180 - 214. Hall, Karl, Die Kulturbedeutung der Reformation, in: Holl, Karl, Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte, Bd. I: Luther, siebente, photomech. gedr. Auflg., Tübingen 1948,468 - 543. 33 Seeberg, Reinhold, Kultur und Protestantismus, in: Schenkel, Gotthilf (Hg.), Der Protestantismus der Gegenwart, Stuttgart 1926, 314.
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leugnen und sogar zum Kampf gegen die als "Religions- und Kirchenersatz"34 wahrgenommene Demokratie aufzurufen. Dies war der Boden, auf dem die unvorsichtige Sympathie für Ideologie und Struktur des Nationalsozialismus in weiten Teilen des deutschen Protestantismus wachsen konnte. Nach 1945 wird jedoch angesichts des siegreich sich durchsetzenden demokratischen Gedankens eine radikal gewandelte Haltung unausweichlich. Die protestantische Theologie sucht mehr denn je den Rat der Reformatoren, sieht sie sich doch zugleich mit der wieder auflebenden thomistischen Naturrechtstradition und der im Schatten Karl Barths vorangetriebenen Auseinandersetzung über die Tragfähigkeit des klassischen Zwei-Reiche-Konzeptes konfrontiert. Schon ein oberflächlicher Blick in die einschlägige Literatur der Zeit vermittelt ein deutliches Bild von der notvollen Orientierungslosigkeit des deutschen Nachkriegsprotestantismus. 35 Wie steht es nun um den Ertrag? Die bis in die I 960er Jahre hineinreichende Debatte erweckt den Eindruck, als könne der Protestantismus vor allem auf den Spuren der calvinischen Theologie zur Demokratiefreundlichkeit finden. 36 Dabei tauchen auch hier die bekannten Deutungsmuster auf: Calvin könne sicher nicht als Demokrat bezeichnet werden, so die allgemeine Feststellung. Er habe aber seinen Nachfolgern einen Raum geöffnet, in dem sich zahlreiche demokratisierende Neigungen hätten entfalten können. Dieser Gedanke ist nicht neu. Schon bei Troeltsch findet sich die Behauptung, die "eigentliche Demokratie" sei dem "calvinistischen Geiste fremd", jedoch habe "der Calvinismus einen 34 Smend, Rudolj, Protestantismus und Demokratie, in: Strohm / Wendland (Hg.), Kirche und modeme Demokratie, 9 (Erstveröffentlichung: 1932). 35 Eine Zusammenstellung der wichtigsten Texte liefern Strohm und Wendland in der bereits erwähnten Sammlung Kirche und moderne Demokratie. - Hermann Vahle bietet einen übersichtlichen Literaturbericht zur besonders fruchtbaren Debatte über das Verhältnis von Calvinismus und Demokratie: Vahle, Hermann, Calvinismus und Demokratie im Spiegel der Forschung, in: ARG 66 (1975) 182 - 212. Erhellend ist dieser Bericht unter anderem deshalb, weil er auch Texte der marxistischen Geschichtsschreibung berücksichtigt. - Eine knapp gehaltene Sammlung von Texten und Quellen findet sich bei: Kingdon, Robert M. / Linder, Robert D. (Hg.), Calvin and Calvinism. Sources of Democracy? (= Problems in European Civilization, Vol. 22), Lexington (Mass) 1970. Allerdings sind alle zitierten Texte ins Englische übertragen. - Die neuere Literatur macht Immo Meenken zugänglich: Meenken, Immo, Refonnation und Demokratie. Zum politischen Gehalt protestantischer Theologie in England 1570 - 1660 (= Questiones, Bd. 10), Stuttgart 1996,61 - 85. Die Dissertation Meenkens ist im Übrigen ein lesenswerter Beitrag zu den Verbindungen von Demokratie, Puritanismus, radikaler Reformation und Anglikanismus. Substantiell Neues liefert sie jedoch nicht. 36 Nur wenige können - wie etwa Kantzenbach - auch bei Luther und im Luthertum Entwicklungen ausmachen, "die in Affinität zu demokratiefreundlichen Gedankengängen stehen." Kantzenbach, Friedrich w., Luthertum und Demokratie, in: Kantzenbach, Friedrich W., Geist und Religion der Neuzeit. Bd. 2: Pluralismus - Polarisierung - Kontinuität. Wandlung der christlichen Religion im 19./20. Jahrhundert (= Schriften zur internationalen Kultur- und Geisteswelt, Bd. 10), Saarbrücken 1991,322.
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hervorragenden Anteil in der Herbeiführung der Disposition für den demokratischen Geist."37 Und noch heute spricht etwa Eberhard Busch davon, durch Calvin hätten sich "Türen geöffnet", die "er vielleicht nicht einmal oder noch nicht gen au sah und durch die er jedenfalls noch nicht schritt, die dort aber doch geöffnet waren und durch die dann doch einmal geschritten werden konnte. "38 Die Tendenz dieser Deutung liegt auf der Hand: Was bei Calvin nicht unmittelbar zu finden ist, wird ihm - um ihn letztlich doch als Zeugen für die gesuchte Affinität des Protestantismus zur Demokratie anhören zu können - über den Umweg der ihm nahe stehenden Tradition zugeeignet. Selbstverständlich war Calvin kein Demokrat, aber er hätte es, wie zahlreiche calvinistische Theologen und Staatstheoretiker in Frankreich, den Niederlanden, in England und Nordamerika später auch, durchaus sein können - so Busch. Nur selten und nie erfolgreich wird allerdings im Gefolge derartiger Interpretationen der Versuch unternommen, die theologische Treue calvinistischer Staats- und Demokratietheorie gegenüber ihrer reformatorischen Herkunftslehre und ihre daran hängende Rückbindungsfähigkeit nachzuweisen. 39 Der Erklärungsnotstand ist aber gar nicht so groß, wie es hier zunächst nahe gelegt wird. Bei Calvin selbst sind die Hinweise auf eine auch im neuzeitlichen Sinne entwicklungsfähige Haltung recht konkret. So entsteht etwa - ausgehend von der Idee des allgemeinen Priestertums, die rasch den Gedanken der Gleichheit aller in Wert und Rechten mit sich führt40 - in Genf eine eigentümliche Kirchenverfassung, die die Versammlung des Kirchenvolkes einerseits und Pfarrer, Älteste und Konsistorium andererseits in ein wechselseitiges Verhältnis 37 Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus, 37. 38 Busch, Eberhard, Calvin und die Demokratie, Online verfügbar unter:
http://www.gwdg.de/-ebusch/cdemo.htm. 1995. Ähnlich äußern sich unter anderen: Maddox, Graham, Religion and the Rise ofDemocracy, London u. New York 1996,121 - 126. Hudson, Winthrop S., Democratic Freedom and Religious Faith in the Reformed Tradition, in: ChH 15 (1946) 177 - 194. "A bud does not have all the characteristics of a full-blown flower, a child does not have all the qualities of an adult, an egg does not even resemble a chicken - but the relationship between them all is direct and intimate." Hudson, Democratic Freedom and Religious Faith, 194. 39 Siehe unter anderen: DeGruchy, lohn w., Christianity and Democracy. A Theology for a just World Order (= Cambridge Studies in Ideology and Religion, Vol. 5), Cambridge 1995,75 -79. Kingdon, Robert M., Calvinism and Democracy: Some Political Implications of Debates on French Reformed Church Government, 1562 - 1572, in: AHR 69 (1964) 393 - 401. Delekat, Friedrich, Die Umsetzung der Grundprinzipien der Reformation in die Grundprinzipien der konstitutionellen Demokratie, in: EvTh 14 (1954) 485 - 498. - Die Schriften der wichtigsten calvinistischen Monarchomachen, denen in besonderer Weise demokratisierende Wirkungen zugeschrieben werden, bietet: Dennert, lürgen (Hg.), Beza, Brutus, Hotman. Calvinistische Monarchomachen (= Klassiker der Politik, N. F., Bd. 8), Köln u. Opladen 1968. 40 Siehe: Maddox, Religion and the Rise of Democracy, 112 - 113. Hudson, Democratic Freedom and Religious Faith, 184.
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von Berufung, Führung und Kontrolle setzt. Die synodalen und konsistorialen Elemente dieser Ordnung sind es, die den Prinzipien der Gleichberechtigung, Mitbestimmung und Repräsentation einen wirkungsreichen Stellenwert einräumen. Schon früh sind die durch diese Orientierung geprägte Gesinnung und deren vermeintliche Beeinflussung des politischen Umfeldes entdeckt worden. Bereits Hundeshagen will beobachtet haben, daß "Calvin aus jeder Gemeinde eine kleine Republik" und "aus der Vereinigung aller Gemeinden einen republikanischen Bundeskörper" macht. Hier ist ,,kein Platz für die Erhebung des Einen über den Andern", außer "durch Wahl der Gleichberechtigten." Die Gesetze gelten "für Alle ohne Ausnahme", und werden "von den durch die Gesammtheit bestellten geistlichen und weltlichen Kirchenvorständen mit größter Strenge gehandhabt." Mit "unabweisbarer Konsequenz" drängt eine "Kirchenverfassung, in welcher ein so starker Reiz zur Vergleichung" liegt, "auch zu einer entsprechenden politischen Verfassung der Glaubensgenossen hin.''"'' Und so entwerfen die von der Genfer Kirche beeinflußten Theoretiker in Frankreich, Schottland und den Niederlanden kirchliche und politische Modelle, die sich von dem in Genf noch recht stark aristokratisch orientierten System zunehmend lösen und sich einer repräsentativ-demokratischen Ordnung zuwenden. "Wahrscheinlich hat das alte Reformiertenturn an keinem Punkt unmittelbarer ein demokratisches Denken und Verfahren befruchtet als durch diese, zuletzt auf Calvin zurückgehende Konzeption von synodaler Gestaltung der Kirche und durch die dadurch geprägte Mentalität. ''"'2 Das mag so sein. Dennoch lassen sich gegen die Feststellung einer demokratienahen Struktur der Genfer Kirche und gegen Rückführungen calvinistischdemokratischer Staatslehren auf Calvin gewichtige Bedenken anmelden. Zum einen setzen derartige Erklärungsversuche die bei Calvin undenkbare Möglichkeit voraus, eine geistliche Gesinnung könne in eine säkulare überführt, eine theologisch legitimierte Ordnung könne in eine ohne religiöse Bezugnahme auskommende übergeleitet werden. Zum anderen überschätzen sie die demokratischen Elemente in der Genfer Kirchenaristokratie. "Wenn man das Demokratische einer Verfassung darin sehen möchte, daß das Volk, der Demos, herrschen soll, so war die calvinische Verfassung sicherlich nicht demokratisch. Die Herrschaft der Menge lag nicht in seinem Sinn." Der Versammlung des Kirchenvolkes kam in Genf lediglich das Recht zu, die gefaßten Beschlüsse der 4' Hundeshagen, Carl B., Ueber den Einfluß des Calvinismus auf die Ideen vom Staat und staatsbürgerlicher Freiheit, Bem 1842, 17. 42 Busch, Calvin und die Demokratie, 1995. Busch fragt sich sogar, "ob die unlöslich zur modemen Demokratie gehörende Gewaltenteilung - Legislative, Exekutive, Jurisdiktive - nicht in dem dreifachen Amt der Gemeindeleitung in der aufCalvin zurückgehenden typisch reformierten Tradition ihren Vorläufer hatte." - Siehe zu den dargestellten Zusammenhängen auch: McNeill, lohn T., The Democratic Element in Calvin's Thought, in: ChH 18 (1949) 153 - 171.
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Kirchenleitung zu bestätigen, "zu überprüfen und gegebenenfalls gegen sie zu protestieren, um dadurch einer willkürlichen Entschließung [... ] den Boden zu entziehen. ''43 Ein maßgeblicher inhaltlicher Einfluß auf die Führung der Kirche war aber nicht vorgesehen. Versuche, Calvin mit Blick auf die durch ihn verantwortete Kirchenverfassung rückwirkend für den demokratischen Gedanken in Anspruch zu nehmen, sind so gesehen recht gewagt. Aber nicht nur aus der Kirchenlehre, auch aus der Staatslehre Calvins lassen sich demokratische Neigungen herauslesen: So empfindet Calvin die Aristokratie oder eine aus ihr und volksherrschaftlichen Elementen zusammengesetzte Regierungsmischform als besonders glücklich. In ihr wird, so glaubt er, der kaum zu vermeidenden Willkürherrschaft der Könige unter öffentlichen Gesetzen die nötige Mäßigung entgegengesetzt, die Beständigkeit der Regierung sichergestellt und für die Freiheit des Volkes ausreichend Sorge getragen. Praktische Relevanz gewinnt dieser Gedanke insbesondere durch die daran anschließende Behauptung einer öffentlich-rechtlichen Kontrollpflicht tagender Ständevertretungen. 44 Vieles ist in diese Lehre Calvins hineingedeutet worden. So soll etwa die erwähnte Regierungsmischform Anzeichen für eine deutliche Sympathie für demokratisch-repräsentative Regierungsmodelle sein. Die Betonung der ständischen Rechte wird Calvin als ein demokratiefreundliches Interesse an der Verlagerung der Macht auf niedrigere, volksnähere Ebenen ausgelegt. Vor allem aber sehen Calvins Nachfolger sich aufgrund des vermeintlich von Calvin selbst an dieser Stelle aufgebrochenen Widerstandsverbotes dazu berechtigt, ihre später als charakteristisch für den Calvinismus berühmt gewordenen Widerstandslehren zu entwerfen. 45 Allerdings erweisen sich auch diese Ableitungen als bedenklich: Gerne wird verschwiegen, daß Calvin zunächst die aristokratische und erst an zweiter Stelle die gemischte Regierungsform empfiehlt. 46 Zudem machen zahlreiche Interpre-
43 Bohatec, losej, Die kulturgeschichtliche Bedeutung Calvins, in: RKZ 85 (1935) 10 1. Dessen ungeachtet hält selbst Bohatec an dem Gedanken fest, Calvin habe den Versuch unternommen, "das demokratische Gemeindeprinzip nicht bloß aufzustellen, sondern, soweit es ging, auch durchzusetzen." Bohatec, Die kulturgeschichtliche Bedeutung Calvins, 102. 44 Siehe: Calvin, Institutio 1559, N, 20, 8 und 31 (OS V, 478 und 5011 CR 30 / CO 2, 1098 und 1116). 45 Die Reihe derjenigen, die diesen und ähnlichen Spekulationen anhängen, ist lang. Für den hier besprochenen Zusammenhang siehe lediglich: McNeill, The Democratic Element in Calvin's Thought, 169. DeGruchy, Christianity and Democracy, 78. Maddox, Religion and the Rise ofDemocracy, 124 - 126. Hudson, Democratic Freedom and Religious Faith, 179. Blaschke, Die Bedeutung der Reformationstheologie, 243 244. 46 Calvin spricht von VEL ARISTOCRATJAM, VEL TEMPERATUM EX IPSA ET POLITJA STATUM. Der platonische Gehalt und die damit deutlich verbundene ständisch-
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ß. Reformation und Neuzeit
ten aus der glücklichsten [BEATIUS] kurzerhand die beste Staatsform und berauben Calvin damit seiner im Vertrauen auf die göttliche Vorsehung stets beibehaltenen Neutralität in Fragen der Staatsform. Die Calvin zugesprochene Widerstandslehre schließlich übersieht einerseits die konsequente calvinische Trennung von öffentlicher und privater Berufung, andererseits denkt sie die ständischen Kontrollpflichten irrtümlich nicht - wie Calvin dies tat - von oben, von Gott her, sondern von unten, vom Volk her und damit repräsentativ. 47 Zweifellos läßt sich, darauf hat Eberhard Busch zurecht hingewiesen, der mäßigenden Funktion, die er den Ständevertretungen zuweist, eine generelle Sorge Calvins vor Herrschaftsmißbrauch und Pflichtverletzungen im Regierungsamt entnehmen. Und die Vermutung ist durchaus nicht abwegig, daß sich aus dieser Sorge eine beständige Haltung der Wachsamkeit entwickeln konnte, in deren Konsequenz sich dann "unerbittlich die Frage einer Kontrolle aller Macht im Staat" aufdrängte. "Und zwar geht es nicht nur um eine Kontrolle des Volks durch den Magistrat und nicht nur um eine staatliche Kontrolle der Mächtigen in deren Verhalten zu den Schwachen im Staat, sondern auch um eine Kontrolle des die legitime Gewalt im Staat ausübenden Regiments selbst. Indem diese Konzeption einen solchen Rechtsstaat meint, in dem nach inhaltlich klar umrissenen, von allen erkennbaren ,humanen' Gesetzen regiert wird, öffnet sie faktisch der bürgerlichen Mündigkeit die Möglichkeit, die Übereinstimmung des Regierungshandelns mit den staatlichen Gesetzen zu überprüfen. Sie weist damit in die Richtung der Demokratie, in der eben das Volk jene Kontrolle ausübt, mit dem legitimen Recht, Regierungen abzusetzen und darum dann ja auch einzusetzen."48 Allerdings hat Calvin selbst, so muß auch Busch zugeben, diese Konsequenzen nicht gezogen, ja, er hat sie nicht einmal aufleuchten sehen. Und damit ist, soll Calvin auf diesem Wege ein demokratischer Impuls für die Neuzeit zugeschrieben werden, erneut ein Verweis auf die calvinistische Tradition, ihre weit über Calvin hinausreichenden und theologisch letztlich doch nicht mehr auf ihn rückführbaren Schritte unausweichlich. Auch wenn sich also in der calvinischen Sympathie für volksherrschaftliche Elemente in Kirche und Staat die mit Abstand stärksten Argumente für die eine neue Epoche einleitende soziale aristokratische Orientierung dieser Passage hat bislang leider zu wenig Beachtung gefunden. 47 Näheres Ausführungen dazu bei: Bahn, Jochen, Der Mensch im calvinischen Staat. Göttliche Weltordnung und politischer Beruf (= Biblia et Symbiotica, Bd. 11), Bonn 1995,64 -71 und 122 - 127. - Bohatec zeigt, daß Calvin "die Volkssouveränität nicht begründet" hat. "Der Staat behält [.. .] ein aristokratisches Gepräge, indem die Institution der Stände als Volksvertreter in ihrer positiven Ausgestaltung betont, deren Ableitung aus dem Volks willen aber unterlassen und also die Volkssouveränität hier umgangen wird." Bohatec, Die kulturgeschichtliche Bedeutung Calvins, 108. 48 Busch, Calvin und die Demokratie, 1995.
3. Die Kehrseite reformatorischer Theologie
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Wirkung der Reformation finden lassen, so leiden diese Argumente dennoch an den bekannten methodischen Schwächen, an den systematischen Unsicherheiten, an den umständlichen, lückenhaften und bisweilen verdächtigen Umwegen. Es bleibt dabei : Die Herleitung der Neuzeit aus scheinbar gefälligen Begriffen und Aspekten reformatorischer Theologie muß scheitern. Dagegen sind es gerade ihre allzu oft verheimlichten weil unbequemen Gegenstücke, mit deren Hilfe eine haltbare ideen geschichtliche Einsortierung der Reformation erst möglich wird:9
3. Die Kehrseite reformatorischer Theologie Der Protestantismus wird sich selbst eine neue Perspektive verordnen müssen. Sein Verhältnis zur neuzeitlichen Welt kann er nur durch das geeignet bestimmen, was Wolfhart Pannenberg beiläufig, etwas verschämt, aber umso treffender die "Kehrseite"50 reformatorischer Theologie nennt. Was ist gemeint? Jeder Versuch des Protestantismus, sich etwa unter Berufung auf die reformatorische Freiheitsidee in die Neuzeit einzugliedern, mißachtet den im SOLA verankerten fundamentalen Unterschied "zwischen einer vermeintlich jedem Menschen von Natur aus zukommenden Freiheit und der reformatorischen Freiheit eines Christenmenschen."51 Die evangelische Freiheit im Sinne der Reformatoren ist eben immer nur eine durch den göttlichen Gnadenakt bewirkte geistliche Freiheit. Sie wird der natürlichen Unfreiheit, dem natürlichen Zustand des von der Schuld geknechteten gottlosen Menschen entgegengesetzt. Ebenso enthält die Rechtfertigung allein aus Gnaden in ihrer Umkehrung die Behauptung einer auf natürlichem Wege nicht zu beseitigenden Vergottlosung der Menschen. Die geistlich rettende und erneuernde Wirkung des göttlichen Rechtfertigungshandelns am Menschen ist lediglich der kleinen Schar des auserwählten Christenvolkes vorbehalten. Reformatorische Rechtfertigung gilt also nur wenigen und hat damit in ihrer Umkehrung für die Welt nicht etwa eine würdigende und aufwertende, sondern bloß eine verurteilende und ausschließende Wirkung. Ausgehend von dieser theologischen Perspektive und der damit zugleich festgestellten, prinzipiell unaufhebbaren Trennung zwischen Kirche und Welt 49 Ergänzungen siehe bei: Thadden, Rudolfv., Protestantismus und Demokratie, in: Renz / Graf (Hg.), Protestantismus und Neuzeit, 103 - 119. Staedtke, Joachim, Demokratische Traditionen im westlichen Protestantismus, in: Pflaumer, Hans (Hg.), Demokratische Traditionen im Protestantismus (= Schriftenreihe der Akademie für Politik und Zeitgeschehen in der Hanns-Seidel-Stiftung e.V., H. 2), München u. Wien 1969, 7 - 30. Müller-Schwefe, Hans-R., Demokratie und Protestantismus, in: Strohm / Wendland (Hg.), Kirche und modeme Demokratie, 418 - 437. 50 Pannenberg, Reformation und Neuzeit, 31. 51 Pannenberg, Reformation und Neuzeit, 32.
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II. Reformation und Neuzeit
muß der reformatorisch gesinnte Mensch sich jedem weltlichen Anpassungsund Integrationsdruck strikt verweigern. Er darf nicht der Versuchung erliegen, neuzeitliche Identität über die Rückführung säkularer Leitbegriffe auf theologische Lehrinhalte zu finden. Vielmehr muß er diese Begriffe als weltliche Notkonstrukte demaskieren - Konstrukte entwickelt von jenen, die das Leben und Zusammenleben von Menschen ohne Gott einzurichten bemüht, die ohne göttliches Setzen und Ordnen auszukommen und ihre Gottlosigkeit radikal zu praktizieren bestrebt sind. Geschaffen also gerade von jenen (und gerade in dieser Entdeckung liegt die Chance einer möglichen Integration des Protestantismus), die durch die Kehrseite reformatorischer Theologie einer nicht zu durchbrechenden Vergottlosung allererst preisgegeben werden. Wie kann nun aus der Kehrseite reformatorischer Theologie deren Bedeutung für die Hervorbringung der Neuzeit abgeleitet werden, zugleich aber auch ein gelassenes Leben des Protestantismus in der Neuzeit gelingen? Hans Blumenberg gibt einen hilfreichen ideengeschichtlichen Hinweis: 52 Er entdeckt in der Suche nach göttlicher Gnade angesichts des in die Ferne gerückten mittelalterlichen Willkürgottes eben jene Problematik, an der das Mittelalter zerbricht und die es "der Neuzeit zur Lösung oder Überwindung"53 zurückläßt. Die mit dem mittelalterlichen Gottesbild verbundene "quälende innere Not", die "die angstvolle Physiognomie des endenden Mittelalters prägt, treibt historisch auf zwei Auswege zu: einmal zur Erneuerung und Bestärkung des Glaubens, daß dieser furchtbare Gott aus der Ferne seiner absoluten Souveränität, unerwartet und unverdienbar, selbst heraustritt und sich dem Menschen zu einem seine Willkür auf Bedingungen des Heils einschränkenden Bunde gnädig anbietet; zum anderen aber dahin, daß der Mensch sein Bewußtsein von der Rücksicht auf jene despotische Willkür und Macht ganz losreißt und nur bei sich selbst und in sich selbst Gewißheit und Sicherheit sucht. Den ersten der bei den Wege geht die Reformation. Das unerschütterte historische Faktum der Gottmenschlichkeit Jesu Christi ist für Luther das stupende Angebot des ,MUTABILISSIMUS DEUS', seine ängstende Hoheit zugunsten des menschlichen Heils an eine verlässige Zusage zu binden, die der Mensch im Glauben annimmt und verbindlich werden läßt. Doch entkräftet sich diese Lösung selbst sogleich dadurch, daß die Annahme jenes Angebotes des sich offenbarenden Gottes keine dem Menschen frei verfügbare Entscheidung, sondern wiederum eine aus unfaßbarer Willkür 52 Erstmals sehr klar in: Blumenberg, Hans, Kant und die Frage nach dem "gnädigen Gott", in: StGen 7 (1954) 554 - 570. Später auch in: Blumenberg, Hans, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966. Eine überarbeitete Fassung ist erschienen unter: Blumenberg, Hans, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von "Die Legitimität der Neuzeit", erster und zweiter Teil (= Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 79), Frankfurt a. M. 1974. 53 Blumenberg, Kant und die Frage nach dem "gnädigen Gott", 555.
3. Die Kehrseite reformatorischer Theologie
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herkommende Prädestination eben jenes Gottes, diesmal als eines verborgenen, ist". Angesichts dessen wird es "die Kluft zwischen dem neu erwachten menschlichen Freiheitsbewußtsein und einer theologischen Gnadenlehre überhaupt," die den zweiten der bei den Wege dem modernen Denken entscheidend empfiehlt. "Schon der Verdacht, daß eine Religion, in deren Mitte der Gnadenbegriff' steht, "eine Infragestellung der Freiheit des Subjekts bedeuten könne oder gar notwendig bedeuten müsse", verringert "die Möglichkeiten des Christentums im Kern" und begründet "die Faszination des anderen Weges. Dieser zweite Weg ist die breite Heerstraße, auf der die Epoche einherzieht." Um die Frage nach dem gnädigen Gott wird eine Klammer gesetzt, "um zunächst mit den Faktoren zu rechnen, die dem Menschen einsichtig und verfügbar sind, und mit ihnen vielleicht ganz auszukommen."54 Blumenberg folgend muß der moderne Protestantismus zunächst und vor allem feststellen, daß die Reformation nicht Übergang oder gar Überleitung ist. Sie ist keine Brücke zwischen Mittelalter und Neuzeit, sie ist auch nicht in beiden Epochen gleichermaßen verankert. Luther und Calvin provozieren vielmehr einen radikalen Bruch sowohl mit der vermittelnden Prägung des mittelalterlichen Katholizismus als auch mit der im Humanismus sich ankündigenden Weltlichkeit. Die Krise des mittelalterlich-scholastischen Glaubens stellt den Menschen vor die Wahl zwischen radikal-geistlicher Erneuerung einerseits und radikal-weltlicher Vergottlosung andererseits. Hier die Ermöglichung des Glaubens durch die vorbestimmte Gnadenhandlung eines dem einzelnen Menschen sich offenbarenden, gnädig rechtfertigenden und geistlich befreienden Gottes, dort die sich von jeder beliebigen Willkürgottidee losreißende Selbstbestimmung. Wenn also der um neuzeitliche Identität ringende Protestantismus an der reformatorischen Lehre von Gnade, Rechtfertigung und Freiheit festhalten will, dann kann er sich nicht das verbindende und aneignen, sondern muß sich zunächst als Alternative definieren: Reformation oder Neuzeit! Über Blumenberg hinausgehend darf der Protestantismus aber auch entdekken, daß die zwei Auswege, auf die das Mittelalter historisch zutreibt, in der Kehrseite reformatorischer Lehre zueinander finden. Die gegen die scholastische Ideologie gerichtete Behauptung einer natürlich nicht zu durchbrechenden Gottlosigkeit und einer göttlich vorbestimmten Heillosigkeit der Welt liefert die bis dahin undenkbare theologische Legitimation jenes Weges, den der neuzeitliche Mensch in der Beschränkung und Konzentration auf das ihm Verfügbare beschreitet. Die breite Heerstraße der Neuzeit wird befestigt und bestätigt, die Schritte des in die gottlose Modernität hineinlaufenden Menschen werden geradezu beschleunigt durch die reformatorischerseits behauptete Vergottlosung der
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Blumenberg, Kant und die Frage nach dem "gnädigen Gott", 555.
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II. Reformation und Neuzeit
natürlichen Welt. Die Kehrseite der reformatorischen Idee von Gott, Mensch und Welt wird zum theologischen Hilfsmotor der Neuzeit. Wie das? o Dem befreiten, durch Gott gerechtfertigten Menschen steht der gebundene, in seine Schuld verstrickte, gnaden- und heillose Mensch gegenüber. Die Reformatoren lassen jene paulinisch-augustinische Anthropologie wieder auferstehen, die die Scholastik durch ihren Aristotelismus zerstört zu haben glaubte. Die Menschheit wird erneut einer auf natürlichem Wege nicht überbrückbaren Teilung unterworfen - hier das durch einen göttlichen Gnadenakt neu geschaffene und geistbegabte Häuflein der Glaubenden, dort die von der erneuernden Gnade Gottes ausgeschlossene vergottloste Masse. Eine Welt als CORPUS CHRISTIANUM ist wieder undenkbar geworden. Reformatorische Theologie hebt die mittelalterliche Vermischung von Geist und Welt auf, weist der Welt sozusagen die Tür, verurteilt sie, erklärt und legitimiert sie damit aber zugleich. Die radikale Säkularität der Neuzeit findet in der reformatorischen Anthropologie ihre theologische Rechtfertigung. o Reformatorische Gnadenlehre behauptet in ihrer Umkehrung die Macht- und Hilflosigkeit des Menschen in allen Fragen seines Heils. Die dem Menschen gewährte Begnadigung wird - erneut im Anschluß an Paulus und Augustinusss - allen natürlichen Bedingungen entrückt und in die Sphäre eines aus der Ewigkeit kommenden göttlichen Beschlusses versetzt. Nicht mehr der Mensch und seine vermeintlich freie Wahl, sondern allein die dem menschlichen Verständnis vorenthaltene Vorsehung eines prädestinierenden Gottes wirkt entweder unverdiente Rechtfertigung oder aber gerechte Verdammnis. Nichts kann der Konzentration des neuzeitlichen Menschen auf das ihm Verfügbare förderlicher sein, als die so festgestellte Unverfügbarkeit des Heils. o Dem einzelnen Menschen wird im reformatorischen Glauben die rettende Rechtfertigung in der unmittelbaren Zuwendung Gottes zugeeignet. Dies bedeutet zugleich die rückstandslose Abschaffung jeder heilsvermittelnden Anstalt. Der Institution Kirche kann nun nicht mehr als Spenderin des Heils auftreten. Dem an der Schwelle zur Neuzeit stehenden, sich von der mittelalterlichen Willkürgottidee losringenden und nach Freiheit suchenden Menschen nimmt die Reformation auch noch die letzte Sicherheit. Selbst die Kirche ist nun nicht mehr eine zwischen furchterregender menschlicher Ungewißheit und göttlicher Willkür vermittelnde Instanz. Die reformatorische Reduzierung und Begrenzung der Kirche beseitigt zugleich deren noch verss Zur radikalen Wende in der augustinischen Gnadenlehre, deren Rückführung auf Paulus und den unter veränderten Vorzeichen innerhalb der Reformation wieder auflebenden Folgen siehe: Flasch, Kurt (Hg.), Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo: De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2 (= Excerpta classica, Bd. 8), lateinischdeutsch, dt. Erstübers. v. Walter Schäfer, Mainz 1990.
3. Die Kehrseite reformatorischer Theologie
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bliebene Attraktivität und vertreibt den neuzeitlichen Menschen gänzlich aus ihren Reihen. Jede Spekulation über Gnade und Heil erscheint nun widersinnig, die Heerstraße der anbrechenden Epoche dagegen ungleich anziehender. o Der reformatorische Offenbarungsglaube entzieht der Welt alle geistlichen Erkenntnisse. Dem natürlichen Menschen wird in allen Fragen des Göttlichen Blindheit und Taubheit bescheinigt. Zugang zu göttlichen Wahrheiten haben ausschließlich die Begnadigten. Jeder Form natürlicher Theologie versetzen die Reformatoren den Todesstoß. Gleichzeitig fordern und fördern sie damit aber auch die konsequente Beschränkung der Welt auf das Weltliche, auf das ihr Zugängliche und Mögliche. Die umfassende Entgeistlichung und Enttheologisierung der Neuzeit ist als Kehrseite in der reformatorischen Offenbarungslehre enthalten. Schon diese kurze Skizze zeigt: Alle an Christenmenschen gerichteten Aussagen reformatorischer Theologie lassen sich ausschließlich als Alternative zu neuzeitlichen Orientierungen definieren. Alle in Umkehrung dieser Aussagen gesprochenen Urteile über die Welt und ihre Menschen öffnen dem Protestantismus dagegen zugleich einen Zugang zur Welt, machen ihm die Welt und ihre Prägungen verständlich, wecken nicht nur Abwendung, sondern auch Barmherzigkeit, nötigen zu einer angemessenen, ganz weltlichen Ansprache der Welt. Reformatorischer Glaube entnimmt sich selbst die Vergottlosung und Enttheologisierung der Neuzeit. Er mag darüber betrübt sein, wird sich jedoch eingestehen müssen, das Dasein und Sosein der modernen Welt selbst bekräftigt, ja, beschleunigt zu haben. Mehr noch: Er wird sich angesichts der eigenen theologischen Voraussetzungen in zahlreichen Fragen des Lebens in und des Zusammenlebens mit der Welt auf diese einlassen müssen. Nicht, daß er seine spezifische Andersartigkeit und das ihm eigene Bekenntnis verleugnen oder gar aufgeben müßte. Er selbst aber hat der Welt das Göttliche entzogen und muß daher, wenn er die Welt mitgestalten will, in Weltfragen auf das Göttliche, auf jede Theologie verzichten. Für den Entwurf einer protestantischen Soziallehre bedeutet dies: Eine auf Christenmenschen wie Weltmenschen gleichermaßen abgestimmte Gesellschaftstheorie muß - theologisch begründet! - von allen theologischen Prämissen, Bezugnahmen und Begründungen befreit werden. 56
56 Das ist zugleich das Ende aller Politischen Theologie. Die bekanntlich von Eric Peterson gegen earl Schmitt aufgestellte These von der Erledigung jeder Politischen Theologie durch das trinitarische Dogma müßte protestantisch gewendet lauten: Mit dem reformatorischen SOLA und der in seiner Umkehrung ausgesprochenen Vergottlosung der Welt wird "grundsätzlich der Bruch mit jeder ,politischen Theologie' vollzogen, die die christliche Verkündigung zur Rechtfertigung einer politischen Situation mißbraucht." Peterson, Erik, Der Monotheismus als politisches Problem. Ein Beitrag zur Geschichte der politischen Theologie im hnperium Romanum, Leipzig 1935,99.
III. Der Protestantismus und die Idee des Naturrechts Christliche und säkulare Deutungen der Welt finden üblicherweise in der Idee des Naturrechtes zueinander. Bei der Einordnung des menschlichen Seins in naturrechtliche Kategorien begegnen "sich philosophische und theologische Reflexion besonders intensiv", indem sie sich "entweder wechselseitig durchdringen oder sich kritisch voneinander absetzen."l Hat die römisch-katholische Lehre es geschickt verstanden, im Zuge der Traditionsbildung ihre Naturrechtsversion als universal vereinnahmende Idee zu entfalten, so ist es dem Protestantismus stets schwer gefallen, sich in der vorgefundenen, zumeist reichlich undurchsichtigen Überschneidung von religiösen und rationalen Begründungen deutlich zu positionieren. Nicht zuletzt angesichts der Wiederbelebung naturrechtlicher Orientierungen nach 1945 ist die immanente Tragik protestantischer Theologie unverhüllt aufgebrochen: Jedem Versuch, dem Protestantismus eine Naturrechtslehre anzubieten, folgen der Verlust reformatorischer Prägungen und eine augenf:illige Neigung zum katholischen Gottes- und Menschenbild. Jede Abkehr vom Naturrecht treibt dagegen in ein überaus unangenehmes Dilemma: Reformatorischer Glaube kann sich entweder in der Auseinandersetzung mit der ihn umgebenden Säkularität zu Fragen des Rechts und der Politik nicht mehr äußern, muß also konsequent den Rückzug aus den Zusammenhängen dieser Welt einleiten, oder aber er beansprucht eine mehr oder weniger sichtbare christlich-despotische Führungsrolle in Staat und Gesellschaft. Katholisierende Vermischung, oder vorsichtiger: Begegnung von Theologie und Philosophie, von Kirche und Welt einerseits, vermeintlich alternativlose Wahl zwischen politischer Sprachlosigkeit und Rückfall in die konstantinische Epoche andererseits - dies ist die verdrießliche Ausweglosigkeit, in die der Protestantismus bei seiner Suche nach einer geeigneten Soziallehre gestellt zu sein scheint. Die folgenden Überlegungen gehen den Ursachen dieser hilflosen Zerrissenheit nach. Ausgehend von Inhalt, Praxis und Kritik des thomistischen Naturrechtsdenkens soll gezeigt werden, daß die reformatorische Deutung des Verhältnisses zwischen Gott, Mensch und Welt eine Anknüpfung an die scholastisch überformte Naturrechtslehre antiker Prägung unmöglich macht. Dies läßt 1 Hollerbach, Alexander, Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens, in: Böckle, Franz / Böckenförde, Ernst-W. (Hg.), Naturrecht in der Kritik, Mainz 1973, 10.
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ID. Der Protestantismus und die Idee des Naturrechts
sich sowohl bei Luther und Calvin als auch im jüngeren Protestantismus nachweisen. Für die daraus hervorgehende Verlegenheit der protestantischen Theologie in Fragen des bürgerlichen Miteinanders wird hier ein möglicher Ausweg vorgeschlagen: der theologisch begründete Verzicht auf Theologie und die Hinwendung zu einer theologielosen, rein rationalen Soziallehre. 1. Thomistisches Naturrecht
Seitdem der Mensch über das Problem der raum-zeitlichen Gemeinschaft mit anderen Menschen nachdenkt, ,,hat die Frage nach einer gerechten Ordnung der menschlichen Beziehungen nicht zu brennen aufgehört. "2 Auch die christliche Theologie ist von Beginn an, insbesondere aber seit ihrer Überführung in die Gesellschaftsfähigkeit im spätantiken Rom herausgefordert, überzeugende Antworten zu geben. Nachhaltige, bis in die Neuzeit hineinreichende Wirkungen kann allerdings erst die thomanische Übernahme und Überformung der stoischen Gesetzeslehre für sich beanspruchen. An ihr orientiert oder reibt sich die gesamte politische Philosophie des ausgehenden Mittelalters, der Renaissance und der Aufklärung. Selbst die Moderne kommt nicht an Thomas und seiner LEX NATURAE vorbei. Eindrucksvoll betritt der aufblühende NeoThomismus des zwanzigsten Jahrhunderts vor allem nach 1945 die Bühne der Zeit und plädiert für eine Rückbesinnung auf scholastische Traditionen. 3
Im Folgenden werden zunächst einige wesentliche Lehrinhalte dieser Bewegung offen gelegt. Sie spielen bei der rechtlichen und politischen Ausrichtung der jungen Bundesrepublik Deutschland eine prägende Rolle. Eine mögliche außertheologische Kritik wird nur kurz angedeutet. Für den weiteren Gang der Argumentation erheblich wichtiger scheint die Aufdeckung jener Kriterien, die den Protestantismus zur Abkehr von der unter den Voraussetzungen katholischer Theologie und Anthropologie entwickelten Naturrechtslehre führen müssen. 4 2 Kelsen, Hans, Die Idee des Naturrechts, in: Kelsen, Hans, Staat und Naturrecht. Aufsätze zur Ideologiekritik, m. e. Ein!. hrsg. v. Ernst Topitsch, München 21989, 73. 3 Beispielhaft sei hier auf das 1947 in zweiter Auflage erschienene Werk des thomistischen NaturrechtIers Rommen verwiesen: Rommen, Heinrich, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, München 21947. 4 Eine historische Aufarbeitung des vielschichtigen und oftmals schillernden Naturrechtsdenkens soll an dieser Stelle nicht geleistet werden. Zu den antiken Ursprüngen dieser Idee siehe: Adams, fames L., The Law ofNature in Greco-Roman Thought, in: JR 25 (1945) 97 - 118. - Die Anfange eines christlichen Naturrechts zeigt aus katholischer Sicht: Schilling, Otto, Naturrecht und Staat nach der Lehre der alten Kirche (= GörresGesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland. Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Sozialwissenschaft, H. 24), Paderborn 1914. - Einen Einstieg in die Naturrechtslehre bei Thomas bietet: Strasser, Michael, St. Thomas
1. Thomistisches Naturrecht
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a) Grundzüge der thomistischen Lehre
Der Mensch ist ein in die Gemeinschaft mit anderen Menschen hineingestelltes Wesen. Er kann dem Problem, sich Raum und Zeit mit Seinesgleichen teilen zu müssen, nicht ausweichen. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, das vorgefundene Miteinander irgendwie zu regeln. Ordnungen für das äußere Miteinander von Menschen werden allgemein als Recht bezeichnet. Woran aber soll dieses Recht sich orientieren? Was ist der Maßstab für Recht und Unrecht? Welches Recht wird dem und den Menschen gerecht? Wer soll Recht setzen, sprechen und durchsetzen? Was verleiht dem Recht und denen, die es erzwingen, Legitimität? Das thomistische Naturrecht verspricht eine geeignete Antwort. Mit anderen sind seine Vertreter sich darin einig, daß die positiv-rechtlichen Beschränkungen des Menschen in Gemeinschaft mit anderen Menschen einer Rechtfertigung bedürfen und nicht allein durch ihr Dasein bereits gerechtfertigt sind. Gerade die neo-thomistische Naturrechtslehre versteht sich in diesem Sinne stets als ein Schutzwall gegen alle positivistischen Versuche, die Legitimität des Rechts aus dessen bloßer Existenz herzuleiten. 5 Es gibt, so der Grundgedanke, Aquinas on Natural Law, in: Smith, Elwyn A. (Hg.), Church-State Relations in Ecumenical Perspective, Louvain 1966, 152 - 175. - Die Entwicklung des Naturrechtsdenkens im Katholizismus untersucht: Hittinger, Russel, Natural Law and Catholic Moral Theology, in: Cromartie, Michael (Hg.), A Preserving Grace. Protestants, Catholics, and Natural Law, Washington u. Grand Rapids 1997, 1 - 30. - Zur Entwicklung der Naturrechtsidee überhaupt sind nach wie vor einschlägig: Gierke, Otto v., Das deutsche Genossenschaftsrecht. Bd. 4: Die Staats- und Korporationslehre der Neuzeit. Durchgeführt bis zur Mitte des siebzehnten, für das Naturrecht bis zum Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, Graz 1954. Gierke, Otto v., Johannes Althusius und die Entwicklung der naturrechtlichen Staatstheorien. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der Rechtssystematik (= Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, A. F., H. 7), 7. unveränd. Ausg. m. Vorw. v. Julius v. Gierke, Aalen 1981. Link, Christoph, Herrschaftsordnung und bürgerliche Freiheit. Grenzen der Staatsgewalt in der älteren deutschen Staatslehre (= Wiener Rechtsgeschichtliche Arbeiten, Bd. 12), Wien u. a. 1979. Wehel, Hans, Naturrecht und materiale Gerechtigkeit (= Jurisprudenz in Einzeldarstellungen, Bd. 4), 2., unveränd. Nachdr. d. 4. Aufl., Göttingen 1990. - Einen Überblick bieten ebenfalls: Hartung, Gerald, Die Naturrechtsdebatte. Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert (= Alber-Reihe Praktische Philosophie, Bd. 56), Freiburg u. München 1998. Kriele, Martin , Das Naturrecht der Neuzeit, in: Ballestrem, Karl Graf (Hg.), Naturrecht und Politik (= Philosophische Schriften, Bd. 8), Berlin 1993,9 - 23. Tiemey, Brian, The Idea of Natural Rights. Studies on Natural Rights, Natural Law, and Church Law, 1150 - 1625 (= Emory University Studies in Law and Religion, No. 5), Atlanta 1997. Tuck, Richard, Natural rights theories. Their origin and development, Cambridge u. a. 1979. 5 Zur Idee des Rechtspositivismus siehe: Kelsen, Hans, Reine Rechtslehre, Neudr. d. 2., vollst. neu bearb. u. erw. Aufl . 1960, Wien 1992. Zudem: Kelsen, Hans, Hauptproblerne der Staatslehre. Entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, unveränd. Neudr. d. 2. um e. Vorr. verrn. Aufl. Tübingen 1923, Aalen 1960. - Zur Konfrontation von Rechtspositivismus und Naturrechtslehre siehe die bei den Sammelbände: Maihofer,
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m. Der Protestantismus und die Idee des Naturrechts
eine objektive, eine an den Menschen, seinen Ursprung, sein Wesen und sein Ziel, kurz: eine an seine Natur gebundene Norm, die den positiven Regelungen des menschlichen Miteinanders vorausgeht, die diesen dann und nur dann Rechtfertigung verschafft, wenn sie eben jener Norm gemäß sind. Legitimität des Rechts ist gegeben, wenn die zeitlich-bedingte Ordnung der zeitlosunbedingten Norm genügt. Von Gerechtigkeit kann gesprochen werden, wenn die Gemeinschaft der Menschen nach den Prinzipien dieser Norm geordnet ist. Die wesentlichen Elemente der thomistischen Naturrechtslehre sind folgende: 6 o Das Sein, die Dinge, alles was ist, ist einer Ordnung unterworfen. Diese Ordnung ist von Ewigkeit zu Ewigkeit. Sie ist nicht abhängig von menschlicher Vernunft, die aus einem natürlichen Chaos durch Ideen und Begriffe einen Kosmos allererst entwerfen müßte. Die Ordnung der Natur ist vorgegeben und der Mensch ist mit seiner Vernunft Teil dieser Ordnung. o Die Seinsordnung hat finalen Charakter. Ihr ist ein Telos, ein Ziel, ein Zweck vor- und aufgegeben. Sie bildet eine ,,Einheit der Dinge nach Zwekken"7. Dies~ Einheit ist das Gesetz der Natur, die LEX NATURAE, die nicht nur die Hinordnung der Gesamtheit des Seins auf einen abstrakten Zweck, sondern auch konkrete Zwecke für jedes beliebige Seiende festlegt. Und erst in der Zusammenschau und Zusammenführung aufeinander abgestimmter und bezogener Einzelzwecke des Seienden liegt die Verwirklichung des aufgegebenen Endzweckes. o Auch dem in die finale Struktur des Natürlichen eingeordneten Menschen ist ein Zweck gesetzt. Auch seinem Wesen, auch seiner Natur ist ein Ziel gegeben, das zu alltäglichen Konkretisierungen nötigt. Der Mensch kann sich selbst und seine Existenz ,,nicht nach seinem Gutdünken gestalten", weil er
Werner (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus? (= Wege der Forschung, Bd. 16), Bad Homburg 2 1966. Kaufmann, Arthur (Hg.), Die ontologische Begründung des Rechts (= Wege der Forschung, Bd. 22), Darmstadt 1965. - Den Versuch einer Versöhnung wagt: Renzikowski, Joachim, Naturrechts1ehre versus Rechtspositivismus - ein Streit um Worte?, in: ARSP 81 (1995) 335 - 346. 6 Zum Folgenden siehe: Ebbinghaus, Julius, Der Begriff des Rechtes und die naturrechtliche Tradition, in: Ebbinghaus, Julius, Gesammelte Schriften, Bd. I: Sittlichkeit und Recht. Praktische Philosophie 1929 - 1954 (= Aachener Abhandlungen zur Philosophie, Bd. 5), hrsg. v. Hariolf Oberer u. Georg Geismann, Bonn 1986, 337 - 348. Geismann, Georg, Ethik und Herrschaftsordnung. Ein Beitrag zum Problem der Legitimation (= Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften. Studien in den Grenzbereichen der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Bd. 14), Tübingen 1974,25. Specht, Rainer, Über philosophische und theologische Voraussetzungen der scholastischen Naturrechtslehre, in: Böckle / Böckenförde (Hg.), Naturrecht in der Kritik, 39 - 60. 7 Ebbinghaus, Der Begriff des Rechtes und die naturrechtliche Tradition, 340.
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die natürliche Ordnung "als ihn determinierend vorfindet"8. Es ist dem Menschen nicht freigestellt, sich beliebige Zwecke zu setzen, sondern ihm ist im Gesamtverbund des Natürlichen eine ganz bestimmte, unveränderliche Zwecksetzung zugewiesen. o Dem Menschen bleiben das Wesen und die Ordnung der Dinge, das Endziel der Natur und die Einzelziele ihrer Teile nicht verborgen. Da auch seine Vernunft in die Naturordnung hineingestellt ist, kann der Mensch - im Unterschied zu allen anderen bekannten Naturwesen - den "sonst latenten Funktionszusammenhang" der "objektiven teleologischen Verfaßtheit der individuellen Physis"9 erkennen. Er bedarf also nicht einer übernatürlichen Offenbarung oder gar eines über alle Vernunft hinausgehenden Organs, um sich selbst verstehend in die Einheit der LEX NATURAE einfügen zu können. Seine Vernunft ist bereits Teil, ja, Spiegelbild dieser Einheit. So verstanden ist Naturordnung zugleich Vernunftordnung. o Vermittelt durch die Erkenntnis der Vernunft tritt das Telos der Natur dem Menschen als Befehl entgegen. Die unvernünftige Natur kann sich dem Gesetz der Natur nicht widersetzen. Vernunftbegabte Wesen sind jedoch ,Nein' zu sagen in der Lage. Für sie ist die LEX NATURAE nicht Zwang, sondern bloß Nötigung. Sie können "entweder der in der Natur enthaltenen Gesamtzweckmäßigkeit gemäß oder zuwider" handeln. ,,Darin ist ja aber schon der normative Charakter des Gesetzes enthalten. Das Gesetz der notwendigen Einheit aller Zwecke in Beziehung auf den Menschen als ein der Zweck setzung fähiges Wesen ist für diesen notwendigerweise eine Norm, die ihm sagt, wie er sich Zwecke setzen soll. Und zwar ist es offenbar die Norm einer Zwecksetzung, durch deren Beobachtung bewirkt wird, daß die Zwecke, die Menschen sich machen, in der Einheit eines letzten höchsten Zweckes [... ] vereinigt werden."lo o Gültigkeit, Gewißheit und Festigkeit gewinnt die Idee einer teleologischen Naturordnung und der mit ihr zugleich vorgegebenen, an den Menschen als ein Sollen herangetragenen Zwecksetzung durch ihre "nicht immer aufge8 Forsthoff, Ernst, Zur Problematik der Rechtsemeuerung, in: Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 78. - Die LEX NATURAE weist "einem jeden in der Welt seinen bestimmten Ort" zu. Eckertz, Rainer, Neuzeit und Naturrecht. Zugleich eine Besprechung von Claus Urban, Nominalismus im Naturrecht, in: ZEE 26 (1982) 334. 9 Spaemann, Robert, Die Bedeutung des Natürlichen im Recht, in: Ballestrem (Hg.), Naturrecht und Politik, 114 - 115. - Jede Naturrechtslehre ist abhängig von der "Erkennbarkeit der Wesenheit der Dinge und ihrer wesens mäßigen Ordnung, ihres metaphysischen Seins - und des werthierarchischen Kosmos". Rommen, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts, 45. 10 Ebbinghaus, Der Begriff des Rechtes und die naturrechtliche Tradition, 340 34l.
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deckten theologischen Rückbindungen"ll. Allzu oft wird verschwiegen, daß die Behauptung natürlicher Zwecksetzungen etwas Vor- und ÜberNatürliches, also einen gestaltenden und verbindenden Schöpfergott voraussetzt. Ordnung bedarf einer ordnenden Vernunft, Zwecksetzung bedarf eines setzenden Willens. Ohne den göttlichen Gesetzgeber, dessen Autorität die Kraft hinter aller nötigenden Zielvorgabe ist, bricht die Idee der LEX NATURAE in sich zusammen. Mit ihm jedoch bietet diese Idee eindrucksvolle Möglichkeiten, zwischen Glaube und Vernunft zu vermitteln und den Weltbezug von Theologie sicherzustellen. Vermittlungen zwischen geglaubter und vernünftiger Erkenntnis gelingen also nur dann, wenn Gott tatsächlich nicht verschwiegen und zwischen Theologie und Natur "eine theologisch begründete Einheit"12 festgestellt wird. Der Übergang von der LEX NATURAE über das Naturrecht hin zur LEX POSIwird nun dadurch geschaffen, daß die in der Natur enthaltene Zwecksetzung zum Gegenstand von Prinzipien für eine mögliche äußere Gesetzgebung gemacht wird. Naturrecht wird dabei verstanden als "der Inbegriff der unabhängig von allem positiven Recht und ihm gegenüber präeminent geltenden Normen, welche ihre Dignität nicht von willkürlicher Satzung zu Lehen tragen, sondern umgekehrt deren Verpflichtungsgewalt erst legitimieren"13. Naturrecht ist eine Art Schnittstelle, die es dem Menschen ermöglicht, die in der LEX NATURAE enthaltenen göttlich-materialen Zielvorgaben in eine das menschliche Miteinander positiv ordnende Gesetzgebung zu überführen. Positive Rechtsetzung ist dann und nur dann legitim und gerecht, wenn und insofern durch sie die naturrechtlich hergeleitete göttliche Zielvorgabe realisiert, eine äußere Bündelung und Ausrichtung der Einzelzwecke hin auf den Endzweck also geleistet
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11 Böckenförde, Emst- w., Kirchliches Naturrecht und politisches Handeln, in: Böckle / Böckenförde (Hg.), Naturrecht in der Kritik, 96. 12 Eckertz, Neuzeit und Naturrecht, 332. Aus der antiken Philosophie herkommend "wird das Naturrecht in die christliche Theologie eingebaut, wobei die Lehre von Gott als dem Schöpfer und Erhalter der Welt als Brücke zwischen der biblischen Offenbarung und dem in der griechischen Metaphysik fundierten Naturbegriff dient. Systematisch gesehen bewahrt die katholische Theologie noch heute in ihrem Naturrecht ein Element heidnisch-antiker Weltbejahung." Eckertz, Neuzeit und Naturrecht, 333. - Die Naturrechtslehre "braucht zur logischen Geschlossenheit eine Theologie. Sie kann zumindest auf den Begriff des Schöpfers nicht verzichten [... ]. Die rationale Erkenntnis einer göttlichen Ursache der Welt gehört wesentlich zum Naturrecht. Sie hat mit Glaube an sich nichts zu tun. Sie ist aber grundlegend für eine katholische Auffassung vom Glauben an die Erlösung." Utz, Arthur F., Die politische Theologie von earl Schmitt, in: ARSP 85 (1999) 399. 13 Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5., rev. Aufl., Studienausg., bes. v. Johannes Winckelmann, Tübingen 1980,497. Siehe auch: Veit, Otta, Der geistesgeschichtliche Standort des Naturrechts, in: Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 37 - 38.
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wird. 14 Naturrechtliche Prinzipien sind Mittler zwischen dem in der LEX NATURAE sich äußernden ewigen Gesetz (LEX AETERNA) und dem in der Zeit gültigen menschlichen Recht (LEX HUMANA). Sie ermöglichen die Umsetzung göttlicher Zwecksetzungen in positiv-rechtliche Zwecksetzungen. Indem also der Mensch sich bei der Ordnung menschlicher Gemeinschaft an natürlich ableitbaren göttlichen Prinzipien orientiert, indem er den in der Natur ablesbaren Willen Gottes als objektives Prinzip, als etwas von allen Vernunftwesen notwendig zu Wollendes erkennt, ist er nicht nur in der Lage, sich selbst und anderen durch das Recht mitzuteilen, was zu tun und was zu lassen ist. Er kann sogar festlegen, welche Zwecke der LEX NATURAE gemäß oder zuwider sind, was also gewollt werden soll und was nicht. Damit ist der Kern der thomistischen Naturrechtslehre freigelegt: Der menschliche Rechtsetzer ist qua naturrechtlich abgeleiteter Erkenntnis und Schlußfolgerung in die Lage versetzt, sowohl das Handeln als auch das Wollen des Menschen gesetzlich zu binden. Die Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen äußerer und innerer Gesetzgebung entfallt. Die Verwirklichung der im Naturgesetz verankerten materialen Zwecksetzungsverpflichtung kann über den Umweg naturrechtlicher Rechtsetzungsprinzipien mit Mitteln der äußeren Gesetzgebung erzwungen werden. Dem nötigenden Antrieb durch die innere, ethische Verpflichtung wird äußerlich mit Zwangsmitteln des Rechts nachgeholfen. 15 Der weltliche Gesetzgeber tritt geradezu an die Stelle Gottes, wenn er unter den gegebenen Bedingungen seiner jeweiligen Zeit und auf die jeweils vorgefundenen Menschen abgestimmt er14 Man kann "die Suche nach dem Naturrecht auch bezeichnen als Suche nach einer endzielgemäßen rationalen Gesellschaftsordnung im Hinblick auf einen konkreten Fall." Utz, Arthur F., Die Grundpositionen der Naturrechtstheorien. Die Erwartungen, die an eine Naturrechtslehre gestellt werden müssen, in: ARSP 83 (1997) 307. - Im thomistischen Naturrecht ist jene Herrschaftsordnung "legitim, welche den Gebrauch der freien Willkür auf solche äußeren Handlungen einschränkt, die mit den dem Menschen von der Natur bzw. von Gott gesetzten Zwecken übereinstimmen; eine Herrschaftsordnung besteht also zu Recht, wenn und weil sie (realiter) die freie Willkür so weit und nur so weit begrenzt, als diese (idealiter) schon durch die Normen des ,natürlichen Sittengesetzes' eingeschränkt ist. Mit anderen Worten: Die ,LEX NATURALlS' als ein ethisches (!) Gesetz für den menschlichen Willen im Hinblick auf mögliche Zwecke soll Prinzip für die rechtliche (!) Einschränkung der freien Willkür sein." Geismann, Ethik und Herrschaftsordnung, 39 - 40. - Robert Spaemann betont in Fragen der Legitimation des positiven Rechts den Begriff der "Normalität". Das Normale ist unverzichtbar "für jedes menschliche Zusammenleben, für jeden rechtlichen Umgang und für jedes rechtliche Verfahren. Normalität ist das, was Präjudizien begründet." Natur ist bei Spaemann die "basale Normalität", die "prinzipiell der diskursiven Problematisierung entzogen ist." Natur ist "weder hinterfragbare noch rechtfertigungsbedürftige Normalität". Spaemann, Die Bedeutung des Natürlichen im Recht, 117 und 119. 15 "Das Problem einer besonderen Begründung für die Verwendung ethischer Normen als Rechtsnormen tritt hierbei überhaupt nicht auf, da das Recht sich als ein integraler Bestandteil der ,natürlichen sittlichen Ordnung' darstellt." Geismann, Ethik und Herrschaftsordnung, 23.
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kennt, festlegt, ausspricht und durchsetzt, was von Ewigkeit zu Ewigkeit göttlich geordnet und angeordnet ist. 16 Die naturrechtlich verfaßte Gemeinschaft von Menschen versteht sich wesentlich als christliche Einheitsgesellschaft. Das Christliche ist "nun nicht mehr entzweiendes, sondern gerade einheitsstiftendes Moment", weil "die Möglichkeit offenbarungsfreier, natürlicher sittlicher Erkenntnis behauptet", das der christlichen Theologie ursprünglich anhaftende Kommunikations- und Verständigungsproblem zwischen Glaube und Vernunft beseitigt und eine ,,homogene Gesellschaftsordnung" begründet wird, "in der Religion, Sitte und Recht im wesentlichen [... ] ungeschieden sind."17 Die Konfrontation zwischen Christ und Welt wird durch die Angleichung von geschaffener Natur und christlicher Offenbarung beendet. In diesem Sinne weist Johannes Messner darauf hin, daß sein Naturrecht nicht etwa auf Offenbarung, sondern vielmehr auf der empirisch ermittelbaren Natur des Menschen ruhe. Offenbarung und Glaube, so Messner, fügten der Erkenntnis über diese Natur nichts Wesentliches hinzu. Sie ließen lediglich noch ,,klarer sehen" und bewahrten vor "Selbsttäuschung". Die der Menschennatur entnommenen naturrechtlichen Prinzipien könnten des theologischen Fundamentes dieser Prinzipien ungeachtet ohne Rekurs auf Übernatürliches "mit rein wissenschaftlichen Methoden sichtbar"18 gemacht werden. Mit Hilfe empirischer Forschung glaubt Messner, die natur- und damit schöpfungsgemäßen physischen und geistigen Antriebe des Menschen feststellen zu können, um sie anschließend mittels des Naturrechts in eine konkrete vereinheitlichende Ordnung zu übertragen. Die Theonomie der dabei entstehenden Gemeinschaft von Christen- und Weltmenschen sieht er allein schon 16 Leinweber weist vorsorglich darauf hin, daß die "naturrechtliche Lehre" zwischen "dem ,Naturrecht' als einer vom menschlichen Zutun unabhängigen Norm und dem ,Naturrechtsdenken' als Bewußtseinsphänomen des einzelnen irrtumsfähigen Menschen" unterscheidet. Leinweber, Adolph, Gibt es ein Naturrecht? (= Hamburger Rechtsstudien, H. 53), Hamburg 1965, 1. An den Voraussetzungen und Prinzipien der Naturrechtslehre ändert sich dadurch jedoch nichts. Der Untergrund, auf dem diese Lehre steht, wird lediglich noch unsicherer. 17 Hollerbach, Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens, 19. Siehe auch: Nocke, Joachim, Naturrecht und Demokratie, in: Goldschmidt, Werner / Zechlin, Lothar (Hg.), Naturrecht, Menschenrechte und politische Gerechtigkeit (= Dialektik, Bd. 1994/1), Hamburg 1994, 85. 18 Messner, Johannes, Zur Problematik des Naturrechts in der modernen Welt, in: Hoch!. 42 (1949/59) 535. "Es ist die Aufgabe des christlichen Ethikers, Rechts- und Sozialwissenschaftlers, diese Methoden so auszubilden, daß sie denen, die der Hilfe des Glaubens entbehren, die ganze Naturwirklichkeit der menschlichen Existenz aufzuzeigen vermögen. Tatsächlich erwächst ja aus der ,übernatürlichen' Offenbarung nichts Wesentliches für die Deutung des Menschen in seiner gesellschaftlichen Existenz, was nicht schon der ,natürlichen' Erkenntnis zugänglich wäre, ebenso wie das ,christliche' Sittengesetz dem ,natürlichen' in seiner Tragweite für die gesellschaftliche Ordnung nichts Wesentliches hinzufügt."
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dadurch gewahrt, daß die ermittelten Triebe als vom Schöpfer "vorgezeichnet" verstanden werden könnten. Damit sei zugleich die natürliche Neigung zur ,,Herstellung des rechten Verhältnisses zum Schöpfer"19 verbunden. Die schöpfungsgemäßen Triebe des Menschen und die durch sie vermittelte Einsicht in die sachgemäßen Prinzipien der Vergesellschaftung bedürfen nach Messner der Ausbildung innerhalb einer naturrichtig eingerichteten Umwelt. 20 Den in der Natur angelegten richtigen Ort für die naturgemäße Bildung des Menschen entdeckt Messner in der Familie. Gerade hier erscheint ihm die Notwendigkeit einer naturrechtlieh begründeten Ordnung menschlicher Gemeinschaft besonders evident ,,Die Erfahrungswissenschaften vom Menschen in ihrer neuesten Entwicklung lassen [... ] keinen Zweifel über die Gesichertheit unseres Fundamentes der induktiv-ontologischen Naturrechtsbegründung: daß der Mensch zuvärderst und zuallererst Familienwesen ist, daß die Menschen in der Familiengemeinschaft durch ihre natureigenen Triebe der Liebe, der Achtung, der Sorge füreinander sowie der natureigenen Triebe zum Streben nach dem eigenen Wohl und dem dieses bedingenden Wohl des Ganzen zu einer Gemeinschaftsordnung gedrängt sind, in der sie das Naturrecht als Existenzordnung erleben, die sie bestimmenden Rechtsgrundsätze in inhaltlicher Erfülltheit erlernen und in ihrem unmittelbar einsichtigen Geltungsanspruch erkennen. "21 In der Zusammenschau ist thomistisches Naturrecht also nichts anderes als das Bemühen um eine universale, einheitsstiftende, alle Menschen in ihrer natürlichen Existenz begreifende und ergreifende Ordnung der Welt. Diese Ordnung wird als natürlich gegeben angenommen, bedarf aber dennoch der Ausbildung in einer naturgemäß eingerichteten Umgebung. Aufgabe eines naturrechtlich begründeten positiven Rechtes ist es, eben diese Naturgemäßheit herzustellen. Darin liegt das Telos der LEX HUMANA: die Ermöglichung der Natur-
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528.
Messner, Zur Problematik des Naturrechts in der modemen Welt, 525. Siehe: Messner, Zur Problematik des Naturrechts in der modemen Welt, 527 -
21 Messner, Johannes, Naturrecht ist Existenzordnung, in: Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 550. - Ob die jüngsten Ergebnisse der empirischen Sozialforschung Messners Idee nach wie vor stützen, darf mit Recht bezweifelt werden. Aber vermutlich würde Messner gemeinsam mit dem Schweizer Naturrechtsscholastiker Arthur F. Utz unter Berufung auf Thomas feststellen: "Je nach Zeit und Umständen ist das Resultat [naturrechtlicher Einsichten] verschieden. Das ist der Sinn der Aussage, die menschliche Natur, nach der sich der Mensch in seinen Handlungen richtet, sei variabel." Utz, Die Grundpositionen der Naturrechtstheorien, 314. - Seine Naturrechtslehre und den daraus konstruierten Gesellschaftsaufbau entfaltet Messner unter Berücksichtigung zahlreicher kritischer Anfragen ausführlich in: Messner, Johannes, Das Naturrecht. Handbuch der Gesellschaftsethik, Staatsethik und Wirtschaftsethik, 5. neubearb., erw. Aufl., Innsbruck u. a. 1966.
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gemäßheit des Menschen durch eine zu schaffende Übereinstimmung zwischen natürlicher und positiver Ordnung. 22
b) Naturrecht in Deutschland nach 1945 Getrieben von dem Verlangen, der neu entstehenden Gesellschaft ein menschlicheres Gesicht zu geben, werfen deutsche Politik und Justiz sich nach 1945 in die weit geöffneten Arme der mit scheinbar unwiderstehlicher Kraft ausgerüsteten Naturrechtslehre römischer Moraltheologen. 23 Ein ,,reicher Chor von Stimmen" erblickt in dem auferstehenden Naturrecht das neue ,J{eil" und pflegt eine geradezu "bekenntnishafte Bejahung". Recht arglos wird dabei die "verwirrende Fülle" dieser alten Idee als ein "getreues Spiegelbild" des eigenen "geistigen Daseins"24 hingenommen. Ihre Heimat findet die neue Naturrechtsbewegung im politischen Katholizismus der CDU, die rasch ein naturrechtlieh gegründetes Gesellschafts- und Wirtschaftskonzept vorweisen kann. Der deutsche Protestantismus dagegen, der sich vorerst parteipolitisch nicht binden will und bislang nie eine praxisrelevante Naturrechtsidee zu entfalten in der Lage war, stürzt in eine tiefe Krise. Zunächst bleibt ihm nicht viel mehr als die Besinnung auf Trennendes. Hastig sucht er die kontrovers-theologische Auseinandersetzung und die konfessionelle Differenz. Seine insgesamt recht hilflos wirkende Angriffslust wird allerdings durch die schon bald einsetzende Neigung zur Ökumenisierung überlagert. Wo universale Einheit gesucht wird, da darf auch das Naturrecht nicht mehr spalten. Der innerprotestantische Disput wird bereits nach wenigen Jahren ergebnislos abgebrochen. Öffentliches Signal für das Ende der nie bis zur letzten Konsequenz getriebenen Suche nach Orientie-
22 Weitere Aspekte der thomistischen Naturrechtlehre siehe bei: George, Robert P., Naturallaw ethics, in: Quinn, Philip L. / Taliaferro, Charles (Hg.), A Companion to Philosophy of Religion (= Blackwell Companions to Philosophy, Vo!. 8), Cambridge u. Oxford 1997, 460 - 465. Macquarrie, lohn, 3 Issues in Ethics, London 1970, vor allem 82 - 110. Ramsey, fan T., Towards aRehabilitation of Natural Law, in: Ramsey, lan T. (Hg.), Christian Ethics and Contemporary Philosophy, London 21973,382 - 396. 23 Einblicke in die naturrechtliche Ausrichtung der jungen Bundesrepublik und die nach 1945 gängigen Naturrechtskonzeptionen bieten: Schelauske, Hans-D., Philosophische Probleme der Naturrechtsdiskussion in Deutschland. Ein Überblick über zwei Jahrzehnte: 1945 - 1965, Diss. phi!. Köln 1968. Würtenberger, Thomas, Wege zum Naturrecht in Deutschland 1946 - 1948, in: ARSP 38 (1949/50) 98 - 138. Würtenberger, Thomas, Neue Stimmen zum Naturrecht in Deutschland (1948 - 1951), in: ARSP 40 (1952/53) 576 - 597. Würtenberger, Thomas, Zur Geschichte der Rechtsphilosophie und des Naturrechts. Deutschsprachige Beiträge seit 1948, in: ARSP 41 (1954/55) 58 - 87. Würtenberger, Thomas, Das Naturrecht und die Philosophie der Gegenwart, in: Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 429 - 443. 24 Würtenberger, Wege zum Naturrecht in Deutschland 1946 - 1948, 125 und 138.
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rung ist der ökumenisch gerichtete Naturrechtsartikel in der um 1960 erschienenen Auflage des Staatslexikons der GÖrres-Gesellschaft. 2s Worin liegen nun die Ursachen für die Rückkehr zu den durch die Aufklärung vermeintlich überwundenen scholastischen Quellen? Naturrechtslehren haben nicht selten gerade "dann Konjunktur, wenn es um Vergangenheitsbewältigung durch das Recht geht. "26 Zu bewältigen haben die Deutschen zum einen das Erbe des Rechtspositivismus, dem offenbar die Verantwortung für den totalen Staat und dessen giftige Früchte zugeschoben werden kann. Zu bewältigen haben sie aber auch und gerade den totalen NS-Staat selbst, in dem positivistische Spekulationen über die mögliche Legitimität eines Rechtes zur Tötung blauäugiger Kinder grauenvolle Wirklichkeit geworden sind. 27 Überwindung von Rechtspositivismus und Schutz vor schrankenloser Staatlichkeit - in dieser Absicht finden die deutsche Sehnsucht nach Erneuerungen des Rechtes und das behauptete Anliegen des neo-thomistischen Naturrechts zueinander. Eine regelrechte ,,historische Zwangsläufigkeit"28 zu behaupten scheint möglich. Denn immer dann, wenn "der Staat der totalitären Systeme das Recht ganz in seine Hände zu nehmen und ,sein' Recht schaffen zu können" glaubt, beginnt offenbar ",das' Recht, das heißt das Naturrecht, sich als Wirklichkeit von unnachgiebiger Existenzmacht zu erweisen." Plötzlich scheint "die vom abendländischen Kulturboden getragene oder davon ausgehende Menschheit mit bedrängender Deutlichkeit" zu wissen, "daß ihr über Staatsgrenzen, Klassengegensätze, Parteiprogramme und Glaubensunterschiede hinweg ein Band von elementaren Rechtsüberzeugungen gemeinsam ist" und daß "das unbedingte Eintreten für diese Überzeugungen zu den schicksalentscheidenden sittlichen Pflichten gehört. "29
2S Siehe: Hollerbach, Das christliche Naturrecht im Zusammenhang des allgemeinen Naturrechtsdenkens, 33. Kantzenbach, Luthertum und Demokratie, 329. 26 Renzikowski, Naturrechtslehre versus Rechtspositivismus, 341. 27 Siehe: Welzel, Hans, Naturrecht und Rechtspositivismus, in: Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 323. 28 Veit, Der geistesgeschichtliche Standort des Naturrechts, 33. 29 Messner, Zur Problematik des Naturrechts in der modernen Welt, 521. Siehe auch: Forsthoff, Zur Problematik der Rechtserneuerung, 73. - "Die Rechtsnot nicht nur der hitlerschen Gewaltherrschaft, sondern auch der nachfaschistischen Vogelfreiheit hat den Schrei nach einem Naturrecht laut werden lassen, so wie der Verirrte ruft, um damit in der Finsternis seine eigene Angst zu übertönen". Amdt, Adolf, Die Krise des Rechts, in: Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 117. - "Die heutige Naturrechtsbewegung bei uns trat nämlich nach dem Ende des Nationalsozialismus plötzlich in einer Weise in Erscheinung, als wollte sich etwas seelisch Aufgestautes, das die Gemüter seit langem gequält haben mochte, mit elementarer Gewalt Luft schaffen. Man vernahm von allen Seiten, nur aus dem alten christlichen Glauben könne das neue naturrechtliche Denken erwachsen, die Aufklärung wäre tot." Leinweber, Gibt es ein Naturrecht?, 2. - "West Germany, Italy, and Japan are countries which have made consider-
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Derartige Überhöhungen der vermeintlich integrativ-heilenden Kräfte naturrechtlicher Orientierung erscheinen jedoch historisch kaum haltbar. Wo sind denn nach 1945 die positivistischen Feinde, die vor der mit Macht über Deutschland hereinbrechenden Naturrechtswelle fliehen müßten? In der jungen Republik suchen Naturrechtier vergeblich nach ernstzunehmenden Gegnern vielmehr ist man jetzt unter sich. Gerade der Nationalsozialismus hatte doch die deutsche Rechtslehre von den "zersetzenden Einflüssen Kelsenscher Prägung gereinigt"30. Schlimmer noch: Ritler selbst hatte sich mit einem naturrechtlich überladenen Pathos umgeben. Ein willkürlich definiertes deutsches Sein und Wesen diente als Rechtfertigung für das vorgeblich natürliche Recht der Deutschen auf Lebensraum und Herrschaft. 31 Das Naturrecht ist so gesehen nach 1945 nicht der neue Heilsweg aus einer angeblich von Nationalsozialismus und Positivismus gemeinschaftlich provozierten Rechtsnot. Es muß sich nicht erst durchsetzen. Vielmehr sind zahlreiche "vormalige Naturrechtier auch die nachmaligen" und müssen unter den neuen Bedingungen "nicht einmal die theoretische Seite, sondern nur das politische Lager wechseln". Wie in den zwölf Jahren zuvor kann das Naturrecht sich auf dasselbe Fundament stellen, nämlich auf das einer "überpositiven Gerechtigkeit", sie mag "göttlichen oder völkischen Ursprungs" sein. Nach wie vor geht "es mit dem Naturrecht gegen den Positivismus." Neu ist allein dies: Der Nationalsozialismus - "mit dem man zuvor gegen den Positivismus focht" - ist "nach der Kehre mit dem Positivismus zu identifizieren oder zumindest in irgendeine Verbindung zu bringen. "32 Eine rettende Wende, wie sie die Naturrechtler sich selbst gerne zuschreiben, findet nach 1945 nicht statt. Das Naturrecht erweist sich vielmehr in geradezu grotesker Weise als verbindendes, einheitsstiftendes Element: Der Weg von der völkischen zur vorgeblich christlichen Idee, vom faschistischen able use of the natural law concept in reconstructing their legal and political institutions in the years following World War ll. It is surely significant that the three countries named were precisely lands that had for a time totalitarian rule. The concept of natural law is, among other things, a safeguard against the ursurpation by the state of unlimited power." Macquarrie, 3 Issues in Ethics, 99. 30 Nocke, Naturrecht und Demokratie, 88. 31 "Wir sollten erkennen, daß der Hauptverfechter eines ,Naturrechts' - Hitler war, dessen Totalität darin bestand, sein Selbst zum Maß aller Dinge zu setzen und von dieser seiner Natur aus die ,Rechte' auf Lebensraum, auf Herrschaft und Gehorsam zu ,begründen'." Arndt, Die Krise des Rechts, 118. - Es ist "nicht falsch, in der ,rassengesetzlichen Rechtslehre' des Nationalsozialismus den Ansatz zu einer Naturrechtsbildung zu sehen; und in der Tat hat man die Gebarung des Nationalsozialismus auf dem Gebiet des Rechts auch unter diesem Gesichtspunkt gewürdigt." Forsthoff, Zur Problematik der Rechtserneuerung, 78 -79. 32 Nocke, Naturrecht und Demokratie, 89. - Der katholische Jurist Ernst-W Böckenförde ist einer der ersten, die sich nicht scheuen, auf die im deutschen Katholizismus vollzogene naturrechtliche Legitimation des Nationalsozialismus hinzuweisen. Siehe unter anderem: Böckenförde, Kirchliches Naturrecht und politisches Handeln, 100 - 106.
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Gesellschaftsentwurf zum politischen Katholizismus des Wahlsiegers von 1949 ist prinzipiell gar nicht so weit. Das politische und rechtliche Legitimationsprinzip bleibt erhalten - allein sein Angesicht wird freundlicher. Erste Wirkungen der naturrechtlichen Ausrichtung der jungen Bundesrepublik lassen sich etwa in der theologischen und sittlichen Bindung des Grundgesetzes finden. 33 Vor allem aber die Justiz eignet sich rasch und zunehmend eine naturrechtlich begründete Rolle an. So stellt Hermann Weinkauff, bekennender Protestant und erster Präsident des Bundesgerichtshofes, bereits 1960 mit Genugtuung fest, in der Rechtsprechung deutscher Gerichte habe sich eine naturrechtliche Gesinnung durchgesetzt. Der Staat sei gerade bei der "ihm aufgegebenen Setzung des positiven Rechtes" an die "übergreifenden Normen der Naturrechtsordnung gebunden". Verstoße "er klar gegen sie", so sei "das von ihm gesetzte Recht nichtig." Davon gingen alle ,,Entscheidungen des BGH aus, die positives Recht wegen Verstoßes gegen übergesetzliches Recht für nichtig erklärt"34 hätten. Sorgenvoll warnt Weinkauff allerdings vor einem sich andeutenden Rückfall in positivistische Neigungen und beklagt die Unfähigkeit des deutschen Volkes, die Idee des Naturrechtes dauerhaft zu handhaben. Derart mangelhaftes Wertgefühl, das offenbar auch Juristen befallen habe, müsse nicht zuletzt durch tiefgreifende Reformen in Rechtsunterricht und Richterauslese bekämpft werden. 35 Die Tragik dieser Entwicklungen und ihre gesellschaftlichen Folgen liegen rückblickend auf der Hand: So stellt die deutsche Nachkriegs-Justiz etwa mittels einer angeblich ,,natürlichen und für den Gesetzgeber ,undurchbrechbaren' Ordnung die Frauen an den Herd"36. Das zeitlos gültige, überpositive Naturrecht wird durch das Amt des Richters und das diesem je eigene Gewißheitsge33 Siehe: Geismann, Ethik und Herrschaftsordnung, 7 - 19. Czermak, Gerhard, Das System der Religionsverfassung des Grundgesetzes, in: KJ 33 (2000) 229 - 247. 34 Weinkauf!, Hermann, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, in: Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 573 - 574 (Erstveröffentlichung: 1960). - Den konkreten Naturrechtsbezug in der deutschen Rechtsprechung zeigt auch Wetzet: "Das Landgericht Frankfurt entschied, daß ein Gesetz (Reichsleistungsgesetz) gegen das Naturrecht verstoße und nichtig sei, wenn es Privateigentum ohne Entschädigung in Anspruch nimmt. Das AG Wiesbaden erklärte ebenfalls Gesetze, die eine entschädigungslose Enteignung aussprechen, für naturrechtswidrig und darum vom Augenblick ihres Erlasses an für nichtig. Das AG Wuppertal will sich nicht einmal in der Mindeststrafe für den Einbruchsdiebstahl (3 Monate Gefangnis) binden: ,Höher als das positive Gesetz steht das absolute Pflichtbewußtsein des Strafrichters gegenüber Recht und Moral. '" Welzet, Naturrecht und Rechtspositivismus, 324. 35 Siehe: Weinkauf!, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes, 576. Geismann meint treffend, daß der Leser Weinkauf! "nach der Lektüre seines Aufsatzes beinahe zustimmen" möchte - "wenn auch aus anderen Gründen als den seinen." Geismann, Ethik und Herrschaftsordnung, 14. 36 Nocke, Naturrecht und Demokratie, 84.
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fühl zu einern Instrument moralischer Wertungen und gleichzeitiger Stabilisierung überkommener Ordnungsvorstellungen. Richter werden zu Einheitsstiftern der ganz besonderen Art: Ihre aus welchen individuellen Erfahrungen auch immer geprägte Standesideologie wird Maßstab für die Herstellung einer eigenartigen universalen Einheitskultur. 37 Der so schon früh vorgezeichnete Weg deutscher Rechtsprechung ragt hinein bis in die gegenwärtige Praxis der Verfassungsgerichtsbarkeit. Unter Berufung auf überpositive Prinzipien wird bis heute nahezu täglich die Verfassung geändert. Die höchstrichterliche Interpretation ist faktisch die absolute Rechtsnorm und kann demokratische Willensbildungsprozesse mit einern Federstrich außer Kraft setzen. Gleichzeitig wird aber das Volk "bei jeder innovativen Regung mahnend auf eine Verfassung verpflichtet [... ], die als positivrechtliche gar nicht mehr existiert. Hierzulande wäre ein Blick in das Grundgesetz eher irreführend. Was unsere Verfassung ist", findet sich in den ,,Entscheidungsbänden des Bundesverfassungsgerichts. "38 Auch wenn nach dem Ende der NS-Herrschaft der ideologische Kampf um die Haltbarkeit des römisch-christlichen Naturrechts nie bis zur letzten Konsequenz ausgefochten wurde, auch wenn schon längst nicht mehr das Christliche die deutsche Gesellschaft verbindet, so haben die damalige Suche nach Orientierung und die Sehnsucht nach einer letztgültigen und gerechten Rechtsetzungsautorität dennoch tiefe Spuren hinterlassen. Der naive Rückfall in die naturrechtliche Ideologie ist letztlich zum ,,dernier eri" geworden, "den uns der Satanismus Hitlers noch ließ". Er ist nichts anderes als eine unselige ,,Restauration der Vergangenheit, die noch vor Marx, vor Luther, ja letzten Endes vor Jesus Christus liegt. "39 c) Kritik und reformatorische Abkehr
Gegen die thomistische Naturrechtslehre sind treffliche Bedenken angemeldet worden. Als eindeutiges Kriterium für die Rechtfertigung einer positiven Rechtsordnung ist sie allein schon ihrer natürlichen Vielfalt wegen unSiehe: Eckertz, Neuzeit und Naturrecht, 33l. Maus, Ingeborg, Naturrecht, Menschenrechte und politische Gerechtigkeit, in: Goldschmidt / Zechlin (Hg.), Naturrecht, Menschenrechte und politische Gerechtigkeit, 14. "Indem so Grundrechte ihre vorstaatliche Dimension ganz verlieren und zu staatlich verwalteten und von Fall zu Fall zugeteilten Gütern werden, tritt tatsächlich ein, was die Naturrechtstheorie der Aufklärung mit aller Anstrengung zu verhindern suchte. Während Staatsapparate sich eine LEGIBUS sOLUTus-Position gegenüber der Verfassung verschaffen können, indem sie nicht mehr an die Verfassung, sondern nur noch an ihre eigene Verfassungsinterpretation gebunden sind, werden die Bürger verfassungsmäßigen Verpflichtungen unterworfen, die durch die exzessiven Interpretationsspielräume der Verfassungsgerichte schlechterdings unberechenbar geworden sind." 39 Amdt, Die Krise des Rechts, 125. 37
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brauchbar. Der farbenfrohe Reichtum der Natur spiegelt sich in der bunten und reichlich unbestimmten Welt des Naturrechts wider. Gerade dieser Mangel eröffnet aber die Möglichkeit, den ,,Kampjbegrifj''40 Naturrecht zur Durchsetzung beliebiger Interessen zu mißbrauchen. Das thomistische Naturrecht ist überaus anschmiegsam und dehnbar. Es kann sowohl der Legitimation und Förderung bestehender Ordnungen als auch der revolutionären Beseitigung vermeintlich oder tatsächlich ungerechter Strukturen dienstbar gemacht werden - je nachdem, wessen Natur nun gerade auf empirischem Wege als maßgebend ermittelt wird. 41 Diese Ideologieanfälligkeit ist besonders bedenklich, wenn das Naturrecht - verbunden mit dem Hinweis auf eine angeblich klärende und vor Selbsttäuschung bewahrende Wirkung des Glaubens - zu einem Instrument katholischer Gesellschaftskontrolle mutiert. Der Verdacht liegt dann nahe, daß Naturrecht nichts anderes ist als eine Art ,,Rechtfertigungsideologie des Lehramtes", die sich darum müht, die "Individuen und ihre sozialen Ordnungsgefüge einer metaphysischen Heilslehre dienstbar zu machen". So verstanden wollen NaturrechtIer die Welt dann ,,nicht erklären und erkennen sondern gestalten und nach ihrem Willen und Überzeugungen verändern''42. Zweifelhaft sind auch die Möglichkeiten einer Konkretisierung naturrechtlicher Prinzipien. Nicht nur, daß etwa die bekannte naturrechtliche Forderung, das Gute sei zu tun und das Böse sei zu meiden, sich einer inhaltlichen Füllung weitgehend verweigert. Derartige Prinzipien stehen zudem ihrer Allgemeinheit wegen so weit abseits der alltäglich notwendigen Aktualisierung, daß der handelnde Mensch letztlich nicht mehr hat als die Hoffnung, an verborgenen Fäden geleitet irgendwie auf dem natürlich-guten Wege gehalten zu werden. Als Alternative zu dieser Unsicherheit hinsichtlich des konkret Rechten muß eine Idee formuliert werden, die dem Menschen die Fähigkeit zur unmittelbaren, nicht abgeleiteten Verwirklichung des natürlichen Rechts zuschreibt. Soll dieser Idee universale Gültigkeit zukommen, so muß mit ihr zugleich gefordert werden, daß alle Menschen "weise und gut sind, und zwar alle in gleicher Weise, d. h. 40 Adams, fames L., The Law of Nature: Some General Considerations, in: JR 25 (1945) 94. 41 Das scholastische Naturrecht ist "ein JUs ACCOMODATITIUM! Es schmiegt sich um sämtliche Sozialsysteme und -modelle der Geschichte". Das "scholastische Naturrecht, seine Allengefälligkeit hat potentiell jeden Inhalt!" Knoll, August M., Katholische Kirche und scholastisches Naturrecht. Zur Frage der Freiheit, m. e. Ein!. v. Ernst Topitsch, Neuwied u. Berlin 2 1968,37. 42 Mühlfeld, Claus, Scholastisches Naturrecht und katholische Gesellschaftslehre. Eine Studie zur Re1igions- und Rechtssoziologie, Diss. phi!. Heidelberg 1969, 216 217. - Adams bemerkt treffend, daß die Behauptung des Thomisten, sein Naturrecht verhindere den totalen Staat, "does not prevent his accepting the FIAT of an absolute and totalitarian church [... ]. Without naturallaw we get a totalitarian state; and with it [... ] we get a totalitarian church which strives always for a monopoly on ,religion' and ,education. '" Adams, The Law of Nature, 94 - 95.
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auf dieselbe Art und in demselben Grade, kurz daß sie vollkommen sind [... ]. Gerade in solcher Annahme und in nichts, in gar nichts anderem liegt das Wesen aller Utopie!"43 Fragwürdig ist ferner die thomistische Behauptung, die Natur sei einer ewigen Ordnung unterworfen und finde ihr Abbild in der menschlichen Vernunft. Durch die natürliche Harmonie zwischen Naturordnung und Vernunftordnung sei dem Menschen nicht nur die Erkenntnis des Wesens der Dinge und ihres natürlichen Gefüges möglich, er habe darüber hinaus die Fähigkeit zu einer wertenden Beurteilung der Dinge sowohl hinsichtlich ihrer jeweiligen Teilzwecke als auch hinsichtlich des Gesamtzweckes alles Seienden. Nicht zuletzt Kant hat dagegen darauf hingewiesen, daß nicht die Natur eine Ordnung vorgibt, sondern daß vielmehr umgekehrt "der Verstand der Ursprung der allgemeinen Ordnung der Natur" ist, "indem er alle Erscheinungen unter seine eigene Gesetze faßt und dadurch allererst Erfahrung (ihrer Form nach) APRIORI zu Stande bringt, vermöge deren alles, was nur durch Erfahrung erkannt werden soll, seinen Gesetzen nothwendig unterworfen wird. Denn wir haben es nicht mit der Natur der D i n g e ans ich sei b s t zu thun, die ist sowohl von Bedingungen unserer Sinnlichkeit als des Verstandes unabhängig, sondern mit der Natur als einem Gegenstande möglicher Erfahrung, und da macht es der Verstand, indem er diese möglich macht, zugleich, daß Sinnenwelt entweder gar kein Gegenstand der Erfahrung oder eine Natur ist.·... Erst die der Natur nicht ausgelieferte Vernunft ist es, die das Natürliche ordnet und zu einem Gegenstand von Erfahrung und Erkenntnis macht. Erst die Vernunft ist es, die wertet und damit Zwecksetzung ermöglicht - dies aber nicht natürlich, sondern aus sich selbst heraus mittels eines ihr eigenen und ihr gemäßen Kriteriums. Wesenserkenntnis und Zweckerkenntnis, der Blick hinter die Kulissen der Natur und ihre angeblichen Verpflichtungen können bloß behauptet, nicht aber mit den der Vernunft zur Verfügung stehenden Mitteln entdeckt und abgeleitet werden. Die Natur bietet selbst kein qualifizierendes Kriterium, dem ein spezifischer Zweck und ein wesensgemäßes Sollen entnommen werden könnten. Das gefahrliche Werk eines Naturrechtiers ist also nicht etwa bloß die (logisch unmögliche) Deduktion eines Sollens aus dem Sein, sondern die beliebige Feststellung eines von wem auch immer so festgelegten Seins verbunden mit einer daraus willkürlich abgeleiteten Sollensbehauptung:5 Zahlreiche Naturrechtler neigen dazu, derartiger Kritik mit dem Hinweis auf Gefühle oder Intuitionen, auf Glaube oder allgemeine göttliche Offenbarungen zu begegnen. Was aber ist damit für den rationalen, um Allgemeinverständlichkeit und Allgemeinver43 44
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Kelsen, Die Idee des Naturrechts, 96. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, 1783, AA IV, 322. Siehe: Geismann, Ethik und Herrschaftsordnung, 32.
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bindlichkeit bemühten Diskurs über Recht und Unrecht gewonnen? Nichts! Wer das Behauptete nicht fühlt, wem der Glaube fehlt, wer sich keiner ihm erkennbaren Offenbarung erfreuen kann, dem ist tatsächlich nicht mehr zu helfen. Selbst der Hinweis auf Gott schlägt ins Leere. Was garantiert dem offenbarungslosen Menschen angesichts der ihn umgebenden naturwissenschaftlichen Entzauberungsveranstaltung den schaffenden und festlegenden Gott? Und auch wenn Gott tatsächlich als Schöpfer gedacht würde, so müßte ihm unter den Bedingungen einer final angelegten Ordnung Allmacht zugeschrieben werden. Allmacht jedoch beinhaltet, daß alles natürliche Sein in seinem Sosein gewollt ist - sonst hätte der Allmächtige es anders geordnet. Ein Verzicht auf Allmacht ist undenkbar. Damit bricht aber auch die Unterscheidung zwischen natürlich und naturwidrig in sich zusammen. Die Vielfalt des in der Natur Vorgefundenen muß als dem Willen des ordnenden Schöpfers gemäß verstanden werden. Die Antwort auf die Frage nach dem von Natur aus Rechten lautet also: Vielfalt, ja, Beliebigkeit! Als schwerste Hypothek bleibt dem Abendland die thomistisch verHUschte Übernahme der stoischen Gesetzeslehre. Der Antike bis hin zu Cicero war eine Unterscheidung zwischen ethischen und juridischen Prinzipien fremd. Sie bedurfte dieser Unterscheidung auch gar nicht, weil sie die von ihr behauptete LEX NATURAE strikt im Bereich der Ethik, der Zwecksetzung des Menschen im Rahmen seiner teleologisch verstandenen Natur beließ. Die thomistische Tradition dagegen glaubt nun durch die LEX NATURAE "im Besitze der Zauberrute zu sein, vermöge deren man imstande sein soll, das zu tun, was Cicero gar nicht erst versucht hat, und was seine Vorbilder auch schwerlich beabsichtigt hatten, nämlich aus wirklichen oder vermeintlichen Notwendigkeiten menschlicher Zwecksetzungen juridische Bindungen herauszupressen. Das heißt offenbar solche Bindungen, vermöge deren das freie Belieben der Menschen in bezug auf äußere Handlungen ohne jede Rücksicht auf deren Zwecke den Charakter der Gesetzlichkeit bekommen kann."46 Jede Herrschaft aber, die vorgeblich in der Natur begründete Zwecke in positiv-rechtliche Pflichten überführt, ist prinzipiell despotisch, weil sie sich selbst zur naturgemäßen Zwecksetzungsinstanz erklärt, weil sie sich selbst göttliche Einsicht zuerkennt und sich gerade das zur Aufgabe macht, was selbst eine Gottheit nicht zu leisten vermag: die äußere Setzung von Zwecken mit Mitteln des Rechts. 47
Ebbinghaus, Der Begriff des Rechtes und die naturrechtliche Tradition, 344. Zur Transformation der antiken Naturrechtsidee bei Thomas siehe auch: Ebbinghaus, Julius, Die Idee des Rechtes, in: Ebbinghaus, Julius, Gesammelte Schriften, Bd. 2: Philosophie der Freiheit. Praktische Philosophie 1955 -1972 (= Aachener Abhandlungen zur Philosophie, Bd. 6), hrsg. v. Hariolf Oberer u. Georg Geismann, Bonn 1988, 142 - 153. - Die Untauglichkeit des thomistischen Naturrechts zur Hervorbringung von Rechtsprinzipien zeigt die Diskussion zwischen Joachim Detjen und Georg Geismann: 46
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Diese kurze Zusammenschau der außerhalb des theologischen Diskurses formulierten Kritik mag hier genügen. 48 Die weiteren Überlegungen versetzen sich nun hinein in das System christlicher Theologie und decken die theologischen Rahmenbedingungen auf, unter denen aus reformatorischer Sicht eine Verwerfung des thomistischen Naturrechts unausweichlich erscheint. Im Einzelnen rücken folgende Aspekte in den Vordergrund: o Thomistisches Naturrecht setzt die natürlich-vernünftige Erkennbarkeit des Göttlichen voraus. Reformatorische Theologie dagegen verweigert dem natürlichen Menschen jede über die Vernunft vermittelte Einsicht in Existenz, Wesen und verbindlich ordnende Autorität Gottes. o Die im Akt der Schöpfung gesetzte Ordnung der Dinge ist aus thomistischer Sicht zu keinem Zeitpunkt grundlegend erschüttert worden - einer zerstörten Naturordnung ließe sich kaum das Rechte entnehmen. Der Protestantismus setzt dieser Vorstellung das Bild einer zutiefst verdorbenen und korrumpierten Natur entgegen. Die Naturordnung ist durch den Sündenfall vollständig verdreht und in zusammenhanglose Bruchstücke zerlegt. Was nun der Natur entnommen wird, ist verdorben und ohne Struktur. In ihr findet sich nicht das Göttliche und das Gute, sondern nur Verwirrung und Verirrung.
Detjen, Joachim, Neopluralismus und Naturrecht. Zur politischen Philosophie der Pluralismustheorie (= Politik- und Kommunikationswissenschaftliche Veröffentlichungen der Görres-Gesellschaft, Bd. 1), Paderborn u. a. 1988. Detjen, Joachim, Pluralismus und klassische politische Philosophie, in: JPol 1 (1991) 151 - 189. Detjen, Joachim, Kantischer Vernunftstaat der Freiheit oder klassische Ordnung zum Gemeinwohl? Zur Kontroverse mit Georg Geismann um die Grundlagen politischer Philosophie, in: JPol 4 (1994) 157 - 188. Geismann, Georg, Politische Philosophie - hinter Kant zurück? Zur Kritik der "klassischen" Politischen Philosophie, in: JPol 2 (1992) 319 - 336. Geismann, Georg, Naturrecht nach Kant. Zweite und letzte Replik zu einem untauglichen Versuch, die "klassische" Naturrechtslehre - besonders in ihrer christlich-mittelalterlichen Version - wiederzubeleben, in: JPol5 (1995) 141 - 177. 48 Zur Kritik des Naturrechts siehe auch: Gerhardt, Volker, Recht der Natur oder Recht der Vernunft?, in: Inciarte, Fernando / Wald, Berthold (Hg.), Menschenrechte und Entwicklung. Im Dialog mit Lateinamerika (= Bibliotheca Ibero-Arnericana, Bd. 39), Frankfurt a. M. 1992, 101-107. Höjfe, Otfried, Naturrecht (Vernunftrecht) ohne naturalistischen Fehlschluß: Ein rechtsphilosophisches Programm (= Klagenfurter Beiträge zur Philosophie. Reihe Referate, Bd. 2), Wien 1980. lnciarte, Fernando, Zwischen Naturund Vernunftrecht. Bemerkungen zu einem rechtsphilosophischen Kolloquium, in: Gerhardt, Volker / Krawietz, Werner (Hg.), Recht und Natur. Beiträge zu Ehren von Friedrich Kaulbach (= Schriften zur Rechtstheorie, H. 153), Berlin 1992, 81 - 99. lnciarte, Fernando, Natur- und/oder Vernunftrecht. 30 Thesen und ein Versuch, in: Inciarte / Wald (Hg.), Menschenrechte und Entwicklung, 87 - 99. Topitsch, Ernst, Das Problem des Naturrechts, in: Maihofer (Hg.), Naturrecht oder Rechtspositivismus?, 159 - 177. Troeltsch, Ernst, Das stoisch-christliche Naturrecht und das moderne profane Naturrecht, in: Troeltsch, Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, 166 - 191.
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o Mit der Naturrechtsidee ist die Behauptung verbunden, jedem Menschen stehe die natürliche Entdeckung der Seinsordnung offen. Der reformatorischen Lehre ist dagegen der Gedanke an eine der Vernunft auf natürlichem Wege zugängliche Schöpfungsanordnung, an die Möglichkeit der vernünftigen Erkenntnis der ursprünglichen Schöpferabsichten fremd. Wenn der Mensch sich bemüht, das vorgefundene natürliche Chaos zu ergründen, dann ist ihm in seiner Blindheit nichts anderes möglich, als die Unordnung zu vervollständigen. o Nach thomistischer Auffassung ist die Umsetzung der über die Natur vermittelten göttlichen Ordnungen in positives Recht grundsätzlich jedem Menschen möglich. Die Reformatoren dagegen halten den natürlichen, geistlich blinden und untauglichen Menschen in jeder Hinsicht für unfähig, Göttliches in die Welt zu überführen. o Thomistisches Naturrechtsdenken setzt voraus, daß allen Menschen ein gemeinsamer Zweck vorgegeben ist. Dieser Zweck ist im Diesseits das durch den Staat zugewiesene materiale BONUM COMMUNE, im Jenseits das durch den Schöpfer zugeteilte Heil. Das zeitliche BONUM COMMUNE ist abhängig von der durch das positive Recht zu stiftenden Zweckvereinigung der Menschen, die ewige Glückseligkeit dagegen wird dem einzelnen Menschen in Abhängigkeit von Erfolg oder Mißerfolg seiner den Schöpfungsvorgaben entsprechenden Zweckverwirklichung verliehen. Reformatorische Theologie stellt dieser Idee zwei Behauptungen entgegen: Zum einen haben nicht alle Menschen den gleichen Zweck. Nur wenige sind zum Heil bestimmt, vielen wird dagegen die ewige Verdammnis göttlich zugeordnet. Der weitaus größere Teil der Menschheit ist also von der Möglichkeit, des Heils teilhaftig zu werden, prinzipiell ausgeschlossen. Erwählte und Verworfene verfolgen auf getrennten Wegen getrennte Ziele. Ein Zusammenwirken unter einem gemeinschaftlichen, am gemeinsamen Ziel ausgerichteten natürlichen Prinzip ist daher unmöglich. Zum anderen bestreiten die Reformatoren, der Mensch könne sich irdische oder ewige Glückseligkeit durch das freie Werk seines setzenden Willens aneignen. Weder der Wille noch das Werk des Menschen können in Fragen des BONUM irgend etwas ausrichten. Der natürliche Mensch kann und will sich selbst aus eigener Kraft keine dem Schöpfer gemäßen Zwecke setzen. Er kann des daran gebundenen göttlichen Glückes noch nicht einmal durch Strebsamkeit würdig werden. Also kann die menschliche Zwecksetzung weder in zeitlicher noch in ewiger Hinsicht Voraussetzung der göttlichen Zuteilung des BONUM sein. o Im Thomismus ist der natürliche Mensch zu material anleitender Sollenserkenntnis fähig. Sowohl die Gebote der Frömmigkeit als auch die der Sittlichkeit sind natürlich in der menschlichen Vernunft enthalten. Demgegenüber lehrt die Reformation, daß nach dem Sündenfall nichts im Menschen
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verblieben ist, was ihn zu natürlicher Frömmigkeit oder natürlicher Sittlichkeit befähigen könnte. Damit ist der natürliche Mensch zugleich unfahig, das im göttlichen Gesetz enthaltene Prinzip zu entdecken. Eine durch ihn geleistete Anwendung dieses Prinzips auf positive Ordnungen ist daher undenkbar. o Die thomistische Tradition ist davon überzeugt, daß Frömmigkeit und Sittlichkeit im Sinne sowohl des zeitlichen als auch des ewigen BONUM durch äußere Gesetzgebung befördert werden können. Zwecksetzungen durch das positive Recht geben dem Menschen Halt und verhindern Zielverfehlungen. Reformatorische Lehre löst dagegen die Einheit von äußerer und innerer Gesetzgebung, von LEX HUMANA und LEX NATURAE auf. Äußerlich-bürgerliche Gerechtigkeit und innerlich-geistliche Gerechtigkeit, geistliche Rechtfertigung und bürgerliches Recht sind durch einen breiten, unüberwindbaren Graben voneinander geschieden. Das geistliche Reich ist jetzt nicht mehr von dieser Welt, die Welt kann ihr Reich nicht mehr dem Himmel entlehnen und das positive Recht darf nicht mehr in das Innere des Menschen hineinzureichen versuchen. o Im naturrechtlich begründeten BONUM COMMUNE soll die Trennung von Kirche und Welt, von Glaube und Vernunft überwunden und eine Art "sakrale Einheit'