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German Pages 419 [420] Year 1976
Margot Fleischer · Hermeneutische Anthropologie
Margot Fleischer
Hermeneutische Anthropologie Platon · Aristoteles
W DE
G 1976
Walter de Gruyter · Berlin · New York
CIP-Kurztitelattfnahme
der Deutschen Bibliothek
Fleisdier, Margot Hermeneutisdie Anthropologie: Platon, Aristoteles. — Berlin, New York: de Gruyter, 1976. ISBN 3-11-006714-5
© 1976 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp., Berlin 30 · Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Printed in Germany Satz und Druck: F. Spiller, l Berlin 36 Einband: Wübben & Co, Berlin
Inhaltsverzeichnis Einleitung 1. Kapitel: Eros (Symposion 198a—222b) Eros ein Dämon 9. Eros als menschliches Streben 11. Der Aufstieg zum Göttlich-Schönen 16. Eros und Wahnsinn 18. Durchblick 19. 2. Kapitel: Das dämonisch-hermeneutische Wesen der Philosophie (Symposion) Die Bedeutung der richtigen Meinung für das Philosophieren 21. Philosophie als Auslegen 26. Durchblick 28.
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3. Kapitel: Die Seinsart der Seele (Phaidon) 32 Die Aufgabenstellung 32. Die Beweise 33: Erster Beweis, a) „naturphilosophischer" Beweis: Die Seele im Anblick des Werdens 33. b) Anamnesisbeweis: Die denkende Seele 35. Einwand gegen den ersten Beweis, a) das Argument 38. b) Berechtigung des Einwands 39. Ergebnis des ersten Beweises nach dem Einwand 40. Zweiter Beweis: Die Ähnlichkeit der Seele mit dem Unsichtbaren 40. Einwand des Simmias gegen den zweiten Beweis, a) das Argument 44. b) Widersinn und Berechtigung des Einwands 44. c) Widerlegung des Einwands 46. Einwand des Kebes gegen den zweiten Beweis, a) das Argument 47. b) Berechtigung des Einwands 48. c) Ergebnis des Beweisgangs nach dem Einwand 49. Dritter Beweis: Die Seele als Ursache des Lebens 50. Der Mythos: Die Stufung der Seelen 57. Durchblick 62. 4. Kapitel: Beweisender Logos und Mythos (Phaidon) Logos 65. Die Katharsis des Logos 66. Hoffnung, Logos, Mythos 70. Mythos 72. Das Verhältnis von Logos und Mythos 76. Durchblick 82. 5. Kapitel: Das Göttliche in der Seele (Sonnengleichnis, Politeia 506d— 509d) Das Bild der Sonne 87. Idee des Guten und Vernunft 88. Durchblick 91. 6. Kapitel: Gleichnis der Wahrheit — Wahrheit des Gleichnisses (Sonnengleichnis) Gleichnis 94. Wahrheit im Gleichnis 95. Wahrheit des Gleichnisses 96. Durchblick 98.
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Inhaltsverzeichnis
7. Kapitel: Nochmals Eros (Phaidros 227a—257c) 102 Einleitung: Sokrates und Phaidros. Die frevelhaften Reden über die Liebe 102. Die Arten des Wahnsinns 103. Die Unsterblichkeit der Seele insgesamt 104. Das Leben der Seele insgesamt 106. Eros und Schönheit 113. Das Gott Ähnlichwerden der Liebenden 116. Eros: besonnener Wahnsinn 117. Durchblick 120. S.Kapitel: Philosophie als besonnener Wahnsinn (Phaidros 243e—257c) 131 Besonnenheit und Wahnsinn des Denkens 131. Durchblick 134. 9. Kapitel: Dihairesis — das Verfahren der Wesensbestimmung
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10. Kapitel: Staatsmann und Bürger — der Mensch als politisches Wesen (Politikos) 148 Versuch, das Wesen des Staatsmannes durch Dihairesis zu bestimmen 148. Das dämonische Wesen des Menschen (Der Mythos von der Epimeleia) 153. Die Aufgaben des Staatsmannes 161. Bürger und Staatsmann 177. Durchblickl78. 11. Kapitel: Dihairetischer Logos und Mythos (Politikos) 183 Dihairetischer Logos 183. Die Verschränkung von dihairetischem Logos und Mythos in der Dialektik 184. Durchblick 188. 12. Kapitel: Das Glück des Individuums (Philebos) 191 Das für den Menschen Gute: Lust oder Einsicht oder ein Drittes? 191. Die vier Gattungen alles Seienden in der Welt 196. Die Einsicht als Problem 198. Arten der Lust und Arten der Einsicht 203. Die gute Mischung aus Lust und Einsicht 208. Lösung des Problems der Einsicht 214. Das Treffen des Guten 219. Durchblick 220. 13. Kapitel: Genaue und auslegende Dialektik (Philebos) 229 Gestalten der Dialektik 229. Auslegende Dialektik 230. Durchblick 233. 14. Kapitel: Die Verwandlung der Philosophie durch Aristoteles (NE VI 3, 6, 7; I 4) 235 Der Notwendigkeitscharakter der Weisheit 235. Gegenposition zu Platon; Ausschluß des Menschen aus der Weisheit 242. Die „Wissenschaftlichkeit" der Untersuchung über das für den Menschen Gute: vorläufige Fragestellung 245. Durchblick 250. 15. Kapitel: Das Glück als das höchste Gute für den Menschen (NE I l, 3, 5, 6, 9, 11) 254 Ziele menschlichen Strebens und das Sein eines höchsten Ziels, des Glücks 254. Gelebte Meinungen über das Glück 256. Der Unterschied von Endzielen und vollendetstem Endziel 258. Das Glück als die der menschlichen Seele wesenseigene Tätigkeit in ihrem trefflichen Vollzug 261. Glück und Autarkie 264. Durchblick 268.
Inhaltsverzeichnis
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16. Kapitel: Ethische Trefflichkeit (NE l 13; II 1—6) 272 Seelenteile und Einteilung der Trefflichkeiten 272. Ethische Trefflichkeit als durch Gewöhnung entstehende Haltung 274. Ethische Trefflichkeit als Haltung der Mitte 278. Durchblick 281. 17. Kapitel: Freiwilligkeit und Entscheidung (NE III 1—5) 284 Das Unfreiwillige und das Freiwillige 284. Entscheidung 286. Durchblick 288. 18. Kapitel: Ethische Trefflichkeit und Einsicht (NE VI 2, 5, 8, 10; III 6, 7; VI 13) 290 a) Ethische Trefflichkeit und die auf Mittel und Wege gerichtete Einsicht: Erwägende Vernunft und praktische Wahrheit 290. Das Zusammenwirken der ethischen Trefflichkeit und der auf Mittel und Wege gerichteten Einsicht 293. Die handelnde Seele 295. b) Ethische Trefflichkeit und die auf die Ziele gerichtete Einsicht: Problemstellung 301. Wohlberatenheit und Einsicht 304. Das wahre Erfassen trefflicher Ziele 305. Das Entscheiden über die Ziele 306. Zweierlei Anfang ethischer Trefflichkeit 308. Die Trefflichkeit des die Gesetze achtenden Bürgers und die Einsicht des Gesetzgebers 310. Der einzelne als Miturheber seiner Trefflichkeit — Grenzen der Freiwilligkeit 313. Die die Ziele erfassende Einsicht als Problem für Aristoteles 319. Durchblick 322. 19. Kapitel: Das Glück in der Gestalt trefflichen Handelns — Möglichkeit und Wirklichkeit (NE II 8, 9; VI 1) 328 Das Zwischenfeld zwischen ethischer Trefflichkeit und Schlechtigkeit 328. Die Schwierigkeiten für den Trefflichen, die Mitte zu treffen 330. Konsequenzen für den Wissenscharakter der NE 335. Durchblick 337. 20. Kapitel: Die Weisheit als vollendetes Glück und die unvermittelte Zweiheit im Menschen (NE X 6—9) 339 Die Beschränkung der dianoetischen Trefflichkeiten auf nur zwei; Umfang des Glücks 339. Der Vorrang der Weisheit vor dem trefflichen Handeln — vollendetes und zweitrangiges Glück 342. Der unvermittelte Gattungsunterschied im Menschen 348. Durchblick 350. 21. Kapitel: Wissen des Glücks und Glück 352 Der Wissenscharakter der NE: Wiederaufnahme und weitere Ausarbeitung der Fragestellung 352. Die Untersuchung über das Glück trefflichen Handelns als von der Einsicht vollzogene Auslegung 356. Die Untersuchung über das Glück der Weisheit als von der Einsicht vollzogene Auslegung 358. Die Unangemessenheit des Begriffs des höchsten Guten als eines Maximums 360. Die unvermittelte Zweiheit im
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Inhaltsverzeichnis
Menschen, in seinem Glück und seinem Wissen: Wurzel und mögliche Überwindung 367. Die Vielfalt im Glück 370. Das Recht der Anderen auf Glück als Maß trefflichen Handelns 372. Durchblick 373. Rückblick Literaturverzeichnis
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Sachregister
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Namenregister
404
Stellenregister
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Einleitung ,Anthropologiec darf hier als Name gelten für ein wesentliches und unverzichtbares Aufgabengebiet gerade auch des gegenwärtigen Philosophierens. Sosehr andere Wissenschaften, die den Menschen zum Thema haben, heute mehr denn je das Wissen über den Menschen vermehren, sie können ein zu philosophischer Klarheit erhobenes Selbstverständnis des Menschen nicht ersetzen. Die gegenwärtige philosophische Anthropologie hat auf ihrem eigenen Feld noch viel zu tun. Es mag als ein Umweg erscheinen, wenn eine Untersuchung sich in diesem Bewußtsein in die philosophische Tradition zurückwendet. Und doch bringt sich die gegenwärtige Anthropologie nur durch solche Rückwendung nicht um den Gewinn, sich schon gegebene Antworten anzueignen oder, wo das nicht möglich ist, ihre eigenen Fragestellungen zu erweitern und ihr Problembewußtsein zu vertiefen. Es wäre seltsam, wenn der Mensch als das geschichtliche Wesen, das er ist, aus der Geschichte menschlichen Selbstverständnisses nichts über sich lernen könnte. Philosophische Hermeneutik wird gemeinhin für eine ,Richtung' gegenwärtiger Philosophie gehalten, die auf Heidegger zurückgeführt werden kann, und sie ist manchen suspekt. Als ,hermeneutische Anthropologie* mag man Heideggers Abhandlung Sein und Zeit und verwandte, daran anknüpfende Bemühungen verstehen. Demgegenüber wird mit der vorliegenden Untersuchung die These vertreten, daß philosophische Anthropologie w e s e n t l i c h hermeneutisch ist und es daher auf die eine und andere Weise auch immer schon war. Auf die eine und andere Weise war philosophische Anthropologie immer schon hermeneutisch — das soll heißen: Immer schon hat der Mensch als Thema der Philosophie hermeneutisches Denken gefordert, und wo die Philosophie willig dieser Forderung entsprach, gelangte sie zu in sich stimmigen Ergebnissen, wo sie sich ihr zu entziehen versuchte, mußte sie mit Unstimmigkeit dafür bezahlen. Laßt sich aber erhärten, daß das philosophische Selbstverständnis des Menschen wesentlich hermeneutisch ist, dann ist damit nicht nur etwas über Anthropologie als Philosophie gesagt, sondern auch über den
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Einleitung
Menschen. ,Hermeneutischec und janthropologische' Fragestellung treffen in diesem Punkt zusammen. Als Absichten dieser Untersuchung sind zu erkennen gegeben worden, der gegenwärtigen philosophischen Anthropologie aus der Tradition anthropologische Antworten und Fragestellungen zu gewinnen u n d philosophisch-anthropologisches Denken als wesentlich hermeneutisch zu erweisen. Weiterhin ist beabsichtigt, Gestalten und Strukturen hermeneutischen Denkens und Modelle der Vereinigung eines im engeren Sinne hermeneutischen Denkens mit anders gearteten philosophischen Denkvollzügen herauszuarbeiten. An solchen Gestalten, Strukturen und Modellen kann gegenwärtiges philosophisch-hermeneutisches Denken sein Selbstverständnis durchklären, und das auch noch dort, wo es sie unverändert nicht zu übernehmen vermag. Die Untersuchung führt ihre Absichten in dem hier vorliegenden Teil an Platon und Aristoteles durch. Eine Fortsetzung zu Kant und Nietzsche hin ist geplant. Mit ihr wird noch deutlicher, als es in diesem ersten Teil hervortreten kann, eine geschichtliche Bewegung in der ,hermeneutischen Anthropologie' der Tradition sichtbar werden, die vor allem dieses zeigt: daß sich mit einem geschichtlichen Wandel in der Grundauffassung des Wissens nicht nur die Einstellung zu hermeneutischem Denken sowie dieses selbst verwandelt, sondern zugleich auch die Anthropologie. — Es kann über den Bedeutungsumfang, in dem hier von Anthropologie gesprochen wird, etwas Erläuterndes gesagt werden. Nicht dagegen ist es jetzt schon möglich, zu bestimmen, was unter hermeneutischem Denken in dieser Untersuchung zu verstehen sei. Anthropologie meint hier nicht eine enge philosophische Disziplin, die andere sich ebenfalls mit dem Menschen befassende philosophische Disziplinen, wie etwa die Ethik, außer sich hat. Anthropologie ist hier in dem weiteren Sinn des philosophischen Wissens vom Menschen überhaupt genommen. Die anthropologischen Gedankengänge werden vielfach auf das Gebiet der ,Ethik' führen. Das kann, wenn die Anthropologie so weit verstanden wird, gar nicht anders sein. Die Sorge für das eigene Sein (Epimeleia) wird sich als Grundzug menschlichen Seins erweisen. In dieser Sorge ist der Mensch auf das für ihn Gute aus (oder jedenfalls auf das, was er dafür hält). Die philosophische Frage nach dem Menschen wird nicht nur unweigerlich auf die Frage nach dem für den Menschen Guten geführt, sie entspringt sogar der Sorge um dies Gute. Als das Wesen, das der Sorge um sein Sein überantwortet ist, will der Mensch wissen, wer er ist und was für ihn das Gute ist.
Einleitung
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Hermeneutisches Denken ist als auslegendes Verstehen zu begreifen. Das ist freilich nicht mehr als eine Worterklärung. Was hermeneutisches Denken bei Platon und Aristoteles (und Kant und Nietzsche) besagt und daß es bei diesen Denkern je etwas Verschiedenes besagt, muß die Untersuchung in ihrem Fortgang schrittweise ans Licht bringen. Die Untersuchung führt ihre Absichten im Platon-Abschnitt an einer Auswahl platonischer Dialoge und Dialog-Teile, im Aristoteles-Abschnitt an ausgewählten Kapiteln aus der Nikomachiscben Ethik (NE) durch (diesbezügliche Einzelangaben enthalten die Kapitelüberschriften). Zu diesem Vorgehen ist mehrerlei zu bemerken: Im Platon-Abschnitt ist, wie ich hoffe, bei der anthropologischen und der (auf sie bezüglichen) hermeneutischen Fragestellung Geschlossenheit erreicht worden — Vollständigkeit jedoch war keineswegs intendiert. Der Aristoteles-Abschnitt, der ebenfalls bei Behandlung der anthropologischen Thematik nicht auf Vollständigkeit aus ist, nimmt die NE als letztgültige ethische Schrift des Aristoteles. Die Spannungen innerhalb dieses Werkes werden als Ausdruck von Sachproblemen aufgefaßt, nicht jedoch im Rückgang auf Endemische Ethik, Magna Moralia1 und Protreptikos (sowie etwa auch auf Teile der Rhetorik) entwicklungsgeschichtlich zu erklären und zu mildern versucht2. Überhaupt kommt es der Untersuchung nicht auf die 1
Dirlmeier hat schon 1958 die Magna Moralia doch für echt erklärt. Dadurch ist Krämers gegenteilige Behauptung, daß „die Unechtheit der Magna Moralia durch Walzer und Dirlmeier bis zur Evidenz erhärtet ist" (Arete S. 364), überholt. Siehe zur ,Echtheitsfrage' auch During: „Unter gewissem Vorbehalt müssen wir die Magna Moralia im wesentlichen als ein Werk des Aristoteles betrachten" (S. 438). 2 Einem solchen Versuch würde auch Dirlmeier wenig Erfolg voraussagen: „die NE setzt der Schichtenanalyse harten Widerstand entgegen, schon deshalb, weil keine Pragmatic so durchgearbeitet ist" (Kommentar zur NE, S. 305 f.). Vgl. auch aus der Einleitung zu seinem Kommentar zu den Magna Moralia: „Was aber konnte dazu veranlassen, dreimal (sc. in den drei Ethiken), sachlich identisch, die Eudämonie, das Leben im Sinne der ethischen Trefflichkeit, als das Lebensziel des Menschen zu formulieren, dreimal Platons Eidos des höchsten Wertes durch Polemik auszuschalten, dreimal den Katalog derselben ethischen Tugenden nach dem Schema von Mitte, Zuviel und Zuwenig durchzugehen, dreimal im Grunde die gleichen Freundschaftsprobleme usw. z u diskutieren, w o b e i n i r g e n d s e i n U m d e n k e n i n w e s e n t l i c h e n P o s i t i o n e n s i c h t b a r w i r d , so wie dies W. Jaeger in der Metaphysik sehen gelehrt hat?" (S. 95, hier gesperrt); „der Aufbau, Richtungssinn, Einzelinhalt ist in allen drei Werken im wesentlichen identisch... Wer nicht als spezieller Philosophiehistoriker die peripatetische Ethik auch im kleinsten Detail mit allen Nuancierungen, Akzentverlagerungen, studieren will, k a n n a l l e i n a u s d e r Nik. E t h i k , als der am v o l l k o m m e n s t e n sich p r ä s e n t i e r e n d e n R e d a k t i o n , e i n e r s c h ö p f e n d e s B i l d g e w i n n e n . Aber auch dann, wenn nur eine der beiden unvollkommeneren Fassungen erhalten wäre, könnte
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Einleitung
Entwicklung des aristotelischen Denkens, seinen Ausgang von der platonischen Philosophie, seine auch in der Entfernung noch bewahrte relative N he zu dieser und die dementsprechenden mannigfachen Einzelbez ge an. Platon und Aristoteles werden mehr nebeneinander und gegeneinander gestellt, als verbunden. Das beschriebene Verfahren mit seinen verschiedenen Beschr nkungen mu durch die erzielten Ergebnisse der Untersuchung gerechtfertigt werden. Es hat nichts zu tun mit einer geringen Einsch tzung wesentlicher Teile der j ngeren und j ngsten Platon- und Aristoteles-Forschung, die gerade das thematisieren, was hier beiseite gelassen wird — darunter die Ungeschriebene Lehre Platons, deren Erforschung in der letzten Zeit vor allem mit den Namen Kr mer und Gaiser verkn pft ist und von der aus Kr mer 1959 in seiner Schrift Arete bei Platon und Aristoteles die entwicklungsgeschichtliche Aristoteles-Forschung weiterf hrt8. Die gegenw rtige Situation der Platon-Forschung wird entscheidend mitbestimmt durch Hirschs 1971 erschienenes Buch Platons Weg zum Mythos. Es setzt der erw hnten Forschung, die sich f r Platons Ungeschriebene Lehre, d. h. f r die in den Vortr gen ber das Gute mitman ber die wesentlidien Gehalte der arist. Ethik nicht im Zweifel sein" (S. 96, hier gesperrt). 3 Hierbei bleibt freilich festzuhalten, da Aristoteles seine Ethik gerade von der platonischen Prinzipienlehre, von dem Guten als Prinzip im Sinne von Περί τάγαθοΰ, gel st hat. Darauf weist Kr mer selbst hin: »Jede vergleichbare Deduktion, die Seinserm chtigung der Arete von einem Prinzip her, fehlt bei Aristoteles" (Arete S. 565). 4 Es kann, wie schon angedeutet, nicht mehr darum gehen, die neueren Forschungsergebnisse ber Platons Vortr ge ber das Gute im ganzen infrage zu stellen. Wohl aber w re es kaum zu begr en, h tte sich eine Tendenz, die mit solchen Forschungsergebnissen artikuliert wurde, allgemein durchsetzt. Kr mer ist mit einem bersteigerten Anspruch aufgetreten. In Arete bei Platon und Aristoteles liest man: „Vom A r e t e - B e g r i f f her betrachtet repr sentiert ' Π ε ρ ί τ ά γ α θ ο ΰ ' den Inbegriff des platonischen Philosophierens berhaupt" (S. 325, bei Kr mer kursiv). „Die Vortr ge ' Π ε ρ ί τ ά γ α ft ο ϋ ' repr sentieren damit die Grundposition der platonischen Philosophie schlechthin" (S. 341, bei Kr mer kursiv). „Der systematische Horizont, der sich von 'Περί τάγαθοΰ' und dem 6. Buch der ,Politeia' her f r die Dialoge abzeichnet, setzt jeder k nftigen Platoninterpretation einen unverr ckbaren obersten Ma stab" (S. 478). Kr mer spricht von „der methodischen Minderwertigkeit, die sie (sc. die Dialoge) f r die h here Paideia untauglich macht" (S. 463), von „der wahren, freilich nur esoterisch berlieferten Lehre Platons" (S. 554), von der „Existenz einer esoterischen Sonderlehre Platons" (S. 18). In ΈΠΕΚΕΙΝΑ ΤΗΣ ΟΥΣΙΑΣ sagt er: „Nicht nur der Ausleger der sp teren Dialoge Platons, sondern auch derjenige der ,Politeia' wird daher k nftig auf die indirekte Platon berlieferung nicht mehr verzichten k nnen" (S. 30). Noch entschiedener wird ein solcher Anspruch von Oehler formuliert: „Es gibt noch einen anderen Platon, den Platon der akademischen Lehrgespr che, den man den esoterischen Platon zu nennen sich gew hnt hat, dessen philosophische Konzeption inhaltlich und methodisch ber das hinausgeht, was die Dialoge vermitteln.
Einleitung
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geteilte und aus Berichten zu rekonstruierende Prinzipienlehre, engagiert und die Dialoge auf sie hin zentriert, ein Gegengewicht4. Hirsch legt überzeugend dar, daß für Platon seine philosophischen Mythen (die sich Erst dieser Platon des innerakademischen Unterrichts, so scheint es, läßt uns die Radikalität des platonischen Fragens und die Geschlossenheit der Beantwortung klar erkennen" (S. 95 f.). Und: »Man sollte sich lediglich daran erinnern, was man selber empfand, als man zum erstenmal platonische Dialoge las, oder was man empfindet, wenn man nach der Lektüre aristotelischer Texte wieder in Platons Dialogen liest. Es ist das Gefühl des Genarrten, das Gefühl, daß man von jemand, der das Ganze weiß, mit Absicht in dem Zustand dessen gehalten wird, der nur ein bißchen mehr als gar nichts weiß..." (S. 122). (Wäre dieses Gefühl nicht das Produkt eines vereinzelten Vorurteils, sondern von Platons Dialogen selbst hervorgerufen, so blieben die Überlieferung der Dialoge und die Lebendigkeit der platonischen Philosophie bis heute ein unverständliches Kuriosum.) Schließlich: „Es unterliegt keinem Zweifel mehr, daß in der weiteren Erschließung und Interpretation von Texten zur mündlichen Lehre Platons die zentrale Aufgabe der Platonforschung in der nahen Zukunft bestehen wird. Das Thema ist zu gewaltig, die Folgen für unser Gesamtverständnis der europäischen Philosophiegeschichte und Philosophie zu einschneidend, als daß wir nach den neuesten Vermutungen einfach wieder zur Tagesordnung übergehen könnten. Es ist die Aufgabe, die uns allem Anschein nach in dieser forschungsgeschichtlichen Situation aufgegeben ist" (S. 128). — Kritik an solchen Ansprüchen ist bereits vielfältig geübt worden (siehe als ein Beispiel K. v. Fritz1}. Eine Abwertung oder doch Zurücksetzung der platonischen Dialoge gegenüber der Ungeschriebenen Lehre muß in der Konsequenz nicht zuletzt jene Teile der Dialoge treffen, in denen Platon im Mythos oder im Gleichnis spricht. Hier besonders scheint er, was er eigentlich zu sagen hat, zurückzuhalten'. (Vgl. Krämer, Arete S. 389: „Gegen Ende des 6. Buches der ,Politeia' weigert sich Sokrates, über das , zu dem die emporführt (504C9 ff.), die , seine wahre Meinung mitzuteilen und weicht ins Sonnengleichnis aus" — dazu auch S. 3 f. — Arete S. 390: „Auch im ,Phaidros' erscheint der ,größere Weg' in doppelter Bedeutung: er erschließt das wahre Wesen der Seele ... — bleibt aber unbegangen und wird durch bildliche Darstellung ( ) ersetzt... Das Entscheidende bleibt also auch in diesem Dialog ungesagt.") Hier scheint Platon noch weiter als sonst in den Dialogen von der systematischen Dialektik seiner ungeschriebenen Prinzipienlehre entfernt zu sein. Indessen könnte es immerhin sein, daß Platon im Mythos weniger ,zurückhält'. Die alles entscheidende Frage dürfte da sein: In welcher Weise von Wissen sind denn die letzten Prinzipien, das Eine und die unbegrenzte Zweiheit, selbst gewußt? Daß sie durch Abstraktion gewonnen werden und daß, sind sie gewonnen, alles übrige aus ihnen abgeleitet wird, wäre für die Beantwortung dieser Frage zuwenig. Krämer spricht denn auch von „Seinsvision" (Arete S. 461) und vom „,Seinsgrundc, der bei Platon, sich entziehend, bis zur Grenze des Denkbaren zurückgetreten erscheint" (Arete S. 558); „der Seinsgrund ist vermöge seines Hinausgehobenseins über alles Seiende nicht positiv prädizierbar, weil alle denkbaren Prädikationen, die er ja erst aus sich entläßt, nach ihm liegen und darum auf ihn nicht wirklich angewendet werden können. Das Absolute entzieht sich streng genommen als unvergleichbar jeder näheren Bestimmung und sprachlichen Erfassung, sofern sie nicht negativ limitierend ist" (Arete S. 466; in Das Problem der Philosophenherrschaft bei Platon, S. 262, spricht Krämer dann jedoch von der „Letztverbindlichkeit des platonischen Absoluten und des zugehörigen absoluten Wissens" und auf Seite 264 vom „Absolutheitsanspruch. um nicht zu sagen... Dogmatismus der platonischen Philosophie".) Gaiser dringt in dieser Frage
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Einleitung
begreiflicherweise nur in den Dialogen finden) unverzichtbar waren5. Zumal in dieser Einstellung zum Mythos ist die hier vorgelegte Untersuchung in ihrem Platon-Abschnitt derjenigen Hirschs verwandt. — Unter dem Titel Der Logos der Dialektik hat Märten 1965 wichtige Züge des Logos und der Dialektik für das moderne Platon-Verständnis ernoch weiter vor: „Freilich gilt es nun aber zu beachten, daß für Platon jede Art der begrifflichen Mitteilung notwendigerweise nur ,abbildhaft' ist. Deshalb muß auch die mündliche Lehre Platons, gerade sofern sie auf das Höchste und Ursprünglichste gerichtet ist, unzulänglich und immer noch vorläufig sein" (S. 4). „Daher ist schließlich mit einem weiteren Unterschied zwischen dem Bereich des lehrhaft Mitteilbaren und einem Bereich des gänzlich ^Unsagbaren' ( ) zu rechnen: die Erkenntnis der Seinsprinzipien an sich ist dem Logos entzogen und einer intuitiv-,mystischen' Erfahrung vorbehalten" (S. 5). „ . . . das System steht offenbar in einem weiteren Horizont, der mit dem Logos an sich nicht mehr zu erfassen i s t . . . Die ,Aporie' des menschlichen Wissens wird hier nicht einfach aufgehoben, sondern in ihrer grundsätzlichen Notwendigkeit erst eigentlich sichtbar gemacht" (S. 10). In diesem Zusammenhang kommt Gaiser auf den „Dualismus der Prinzipienlehre" zu sprechen (S. 13); später äußert er die Vermutung, „daß das Verhältnis der Prinzipien zueinander — also die Tatsache der Gegensätzlichkeit an sich und die Ursache des Zusammenwirkens selbst — mit logischen Mitteln überhaupt nicht lösbar ist" (S. 201). Zur ersten Information über die neuere Forschung zu Platons Ungeschriebener Lehre eignet sich vorzüglich der von Wippern herausgegebene Sammelband Das Problem der ungeschriebenen Lehre Platons (1972), und darin vor allem Wipperns Einleitung und die Beiträge von Berti und Oehler. Wippern und Oehler stellen auch die Vorgeschichte dieser Forschung dar (S. VII—XIV und 95—106). Die Bibliographie verzeichnet ausführlich auch die Rezensionen der einschlägigen Schriften. 5 Hirsch erklärt sich über sein Thema folgendermaßen: „ D a s T h e m a dieses Buches ist die Notwendigkeit, mit der Platon auf dem Weg seines Denkens und durch die Entfaltung seines Grundgedankens zum Mythos hingeführt wird; ist die Stellung, die der Mythos, von diesem Weg bestimmt, im Ganzen der Philosophie Platons einnimmt; ist die Kraft der Erhellung, die der Mythos aus seinem Ort auf den Weg des platonischen Philosophierens zurückwirft" (S. IX). Siehe ferner ebd.: „ . . . d a ß der Mythos in der platonischen Philosophie vielmehr, als eine Sageweise des Menschen, die strenge, sachgebundene und dann einzig angemessene Darlegung von Sachverhalten ist, die sich ihrer Natur nach in der Sageweise des Logos nicht zureichend fassen lassen; daß diese Sachverhalte aber weder einfach vor Augen liegen, noch durch eine übernatürliche Offenbarung gekannt sind, sondern daß sie als Probleme erst aus dem Fragen des Logos aufgehen; daß demnach der Mythos eine eigene, bestimmbare, unausweichliche Aufgabe hat, aus deren Klärung das Verhältnis von Logos und Mythos im Denken Platons einsichtig zu machen ist." Der Mythos ist nach Hirsch für Platon deshalb unentbehrlich, weil „das Problem der Lebendigkeit, so wie es aus der allmählich entfalteten Ideenlehre hervorgeht... doch mit den Mitteln der Ideenlehre nicht zu lösen ist, weil der Logos, im Anhalt an die für sich unwandelbar bestehenden Ideen, vor dem Gedanken an die lebendig-bewegte Seele versagt und keine ,Idee der Seele' zu fassen vermag" (S. IX f., vgl. auch S. 164 und 169). So kommt es, „daß eine immer entschiedenere Selbstdurchdringung des Logos mit einer Entfaltung des Mythos zu einer eigenen Darlegungsweise der Wahrheit Hand in Hand geht, und zwar so, daß dieses Zugleich kein beiläufiges ist, sondern in der Sache gründet, die Platon denkt" (S. 178, Anm. 14). Entsprechend gilt: „Ist
Einleitung
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schlössen8. Das eigentümlich aporetische Ende seiner Arbeit7 könnte als Argument dafür genommen werden, daß eine weitgehend isolierte Betrachtung des „Logos der Dialektik", eine Betrachtung also, die andersartigen Denkvollzügen wie etwa dem Mythos kein Gewicht gibt, von der Sache her in Schwierigkeiten geraten muß. Über den Aufbau der hier vorgelegten Untersuchung dürfte das Inhaltsverzeichnis hinreichend Aufschluß geben. Es läßt u. a. erkennen, daß fast jedes Kapitel mit einem „Durchblick" abschließt. In diesen „Durchblicken" wird der Inhalt des jeweiligen Kapitels zusammengefaßt und nach Möglichkeit zu vorangegangenem und folgendem in Beziehung gesetzt. Der Forscher kann sich vielleicht dank dieser „Durchblicke" hier und da von der Lektüre eines Kapitels entlasten, wenn er dort allzuviel Bekanntes anzutreffen meint. (Keine Darstellung der platonischen aber der Mythos als Antwort auf eine Frage des Logos erzwungen, so kann er jedenfalls nicht ohne die Rücksicht auf den Logos vorgetragen werden: Logos und Mythos bleiben zwar verschieden in dem, was sie sagen und wie sie es sagen, sind aber in ihrer Verschiedenheit aneinander gebunden; der Logos fordert den Mythos und verweist an ihn, und der Mythos muß sich, gerade auch wenn er sich in seinem Eigensten bewahrt, als Antwort auf eine Frage des Logos vor diesem bewähren und verantworten" (S. 125). Übrigens beansprucht Hirsch für den Mythos nicht, daß er das .Unsagbare' des VII. Briefes zu sagen vermöchte (siehe S. 285). — Über die „ b i s h e r i g e E r s c h l i e ß u n g des platonischen Mythos" berichtet Hirsch in einem kurzen Abriß S. XIII— XIX. (Eine Übersicht über die Standpunkte zu den platonischen Mythen findet sich auch bei Müller, S. 347—351.) ' Die platonische Dialektik zeigt sich als „ein dialogisches Geben und Nehmen des Logos" (S. 3). Dazu S. 28: „Vorläufig ist als Schema des Gebens und Nehmens festzuhalten: Das, was zu geben ist, wird gefordert. Das Fordern ist erforderlich auf Grund einer Differenz, auf Grund eines Anspruchs, auf Grund einer Angemessenheit. Das Geben gibt auf Grund einer Forderung. Das Geben ist bei allem Gefordertsein frei, insofern die Forderung der Sache nach angemessen, ihr Anspruch begründet und sie wegen der Differenz nötig ist. Wozu das Geben gefordert ist, ist sein eigenes Interesse an dem Verhältnis, in das es als Geben gehört. Das Geben gewinnt — der Erfordernis entsprechend — das ihm gehörige Verhältnis, insofern ein Nehmen erfolgt. Im Nehmen erfüllt sich das Geben als solches. Im Geben wird dem Fordern stattgegeben. Im Nehmen wird dem Geben stattgegeben. Im Nehmen ist das Verhältnis vollständig, ist es ein szs. geschlossenes: Das Verhältnis, das wie in der Differenz weggewesen ist, ist — durch das Geben eingelenkt — im Nehmen in sich selbst zurückgekehrt." (Siehe auch den Fortgang S. 29.) Für den Logos der Dialektik zeigt sich: „Die Position des Fragens ist — dem Schema nach — dem Fordern und Nehmen, die des Antwortens dem Geben zugeordnet" (S. 34). Der „jeweils im Logos zu durchgehende (der zu überlegende) Sachverhalt [ist] als ein solcher unerschöpflich, d. h. er ist in seiner ,ganzen Wahrheit' faktisch nicht vorzubringen" (S. 43). 7 Siehe ab S. 238, insbesondere ab S. 246.
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Einleitung
oder aristotelischen Philosophie kommt heute darum herum, streckenweise von anderen Interpreten schon Gesagtes zu wiederholen.) Im übrigen mögen die „Durchblicke" — nicht zuletzt auch dem weniger Fortgeschrittenen — die Orientierung erleichtern. Das Literaturverzeichnis führt auch solche Schriften anderer Autoren auf, die nicht zitiert oder erwähnt wurden, die aber die vorgelegte Untersuchung ergänzen und/oder indirekt (indem sie gegensätzliche Auffassungen enthalten) in das Spannungsfeld einer Kritik rücken, vor der die Untersuchung sich durch Entwicklung ihrer eigenen Argumente im Urteil des Lesers zu behaupten hofft.
1. Kapitel: Eros (Symposion 198a-222b) In Platons Symposion gibt der junge Tragödiendichter Agathon zur Feier seines Sieges seinen Freunden ein Fest. Er und seine Gäste beschließen, jeder solle eine Rede auf Eros halten. Als letzter der Festteilnehmer hat Sokrates zu sprechen. Er beansprucht, im Gegensatz zu seinen Vorrednern die Wahrheit über Eros zu sagen. Der ,Rede' des Sokrates, die den Hauptteil eines Gesprächs zwischen Diotima und Sokrates wiedergibt, geht ein kurzer Dialog zwischen Sokrates und Agathon voraus. Der gleiche Dialog hat schon einmal stattgefunden, nämlich in jenem Gespräch. Damals hatte Sokrates eine ähnliche Auffassung über Eros wie jetzt Agathon, und er wurde von Diotima mit denselben Argumenten widerlegt, die er nun gegen Agathon verwendet. Der Dialog zwischen Sokrates und Agathon gehört also unlöslich zur ,Redec des Sokrates. Er schafft zugleich die Möglichkeit, daß nach der Rede Agathons und dem allgemeinen Beifall, der ihr zuteil wurde, überhaupt noch sinnvoll über Eros gesprochen werden kann. Sokrates bringt Agathon und mit ihm die übrigen vor das Rätsel des Eros. Er zeigt ihnen, daß sie nicht wissen, wer Eros ist, und macht sie so zu Fragenden. Ehe Sokrates ihn anspricht, steht es für Agathon fest, daß Eros ein Gott ist; ja Eros erscheint ihm als der glückseligste der Götter, da er der schönste und beste sei (l95a). Das ist der Kern seiner Rede. Nun aber muß er schrittweise zugeben: Eros ist Liebe von etwas, so wie der Vater nur ist, was er ist, als Vater eines Sohnes oder einer Tochter. Eros ist wesentlich ein Verhältnis zu etwas. Dies Verhältnis ist näher zu bestimmen als ein Begehren; Eros begehrt das, wovon er Liebe ist. Man begehrt aber nur, was man nicht hat; das Begehrende begehrt das, dessen es bedürftig ist. Wenn nun mit Agathon Eros zugleich als Liebe zur Schönheit zu bestimmen ist, dann hat Eros die Schönheit nicht, er ist ihrer bedürftig, er ist nicht schön. Agathon hat sich selbst widersprochen, als er einerseits Eros als den schönsten Gott pries, andererseits aber Liebe als Liebe zur Schönheit verstand. Wenn ferner das Gute auch schön ist, dann
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ist Eros, da er nicht sch n ist, auch nicht gut. Er ist nicht der beste der G tter, wie Agathon behauptet hatte. An dieser Stelle entl t Sokrates Agathon aus dem Gespr ch; von nun ab ist Sokrates selbst der Nichtwissende, Fragende, Lernende, und Diotima f hrt ihn zur Einsicht. — Eros ist also weder sch n noch gut. Was ist er aber dann? Ist er etwa h lich und schlecht? Mit dieser Frage wird die berlegung vorbereitet, die die grundlegende Bestimmung des Eros als D mon erbringt. Zu denken, Eros sei h lich und schlecht, w re ein Frevel. So m te denn Eros weder sdi n und gut noch h lich und schlecht sein. Das erscheint wie ein Widerspruch, aber doch nur so lange, als man nicht bedenkt, da es zwei Arten von Gegens tzen gibt: solche, bei denen das Entgegengesetzte kein Mittleres (μεταξύ) zul t, und solche, bei denen es ein Mittleres zwischen dem Entgegengesetzten gibt. An diese zweite Art von Gegens tzen erinnert Diotima durch ein Beispiel (202a), das ganz beil ufig gew hlt und ebensogut durch ein anderes ersetzbar erscheint, das aber in Wahrheit hineinzielt in die Wesensbestimmung der Philosophie, die im Symposion gegeben wird. Was nicht weise ist, braucht deshalb nicht schon unwissend oder unverst ndig zu sein. Zwischen Weisheit (σοφία) bzw. Einsicht (φρόνησις) und Unverstand (άμαθία) gibt es ein Mittleres: die richtige Meinung (ορθή δόξα). Solches Meinen vermag nidit, Rechenschaft zu geben (λόγον δοΰναι), es kann keine Gr nde vorweisen — deshalb ist es kein Wissen (έπίστασθαι, επιστήμη); es trifft aber das Seiende (siehe 202a7f.: το γαρ του οντος τυγχάνον), ist also wahr — deshalb ist es nicht Unverstand. Die richtige Meinung kann f r ihre Wahrheit keine Gr nde beibringen. Sie ist weder ein Wissen, noch dessen Gegenteil, n mlich Unwissenheit, Unverstand; sie ist in der Mitte zwischen diesen Gegens tzen. Die Stelle sei hier zun chst als das genommen, als was sie sich vordergr ndig gibt, als Beispiel f r ein Mittleres zwischen Gegens tzen innerhalb der beginnenden Darlegung ber das Wesen des Eros. Sowenig das, was nicht weise ist, notwendigerweise unverst ndig ist, sowenig ist das, was nicht sch n ist, notwendigerweise h lich und das, was nicht gut ist, notwendigerweise schlecht. Auch zwischen diesen Gegens tzen gibt es ein Mittleres, und Eros ist ein solches Mittleres. Hier nun wird im Gespr ch akut, was eigentlich schon seit der Widerlegung Agathons feststeht: Eros kann kein Gott sein. Alle G tter sind gl ckselig und sch n. Gl ckselig ist aber, wer das Gute und Sch ne besitzt. Eros besitzt das Gute und Sch ne nicht, denn er erstrebt es ja gerade. Also ist er nicht gl ckselig, also ist er kein Gott.
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Die Götter sind die Unsterblichen. Eros ist keiner der Unsterblichen. Ist er also sterblich? Sokrates fragt nach Eros noch einmal in derselben Art wie zuvor, ohne die Möglichkeit eines Mittleren ins Auge zu fassen. Wie sollte auch ein Mensch, aus dem Gegensatz zu den Unsterblichen sich verstehend, von sich aus auf den Gedanken kommen, daß es auch hier, zwischen Gott und Sterblichem, ein Mittleres gibt? Diotima, die von Platon, indem er sie weise nennt (201d3, vgl. 206b5 f.), über die Menschen erhoben und in die Nähe der Götter gerückt wird1, muß dies Mittlere in die Sicht bringen. Das Mittlere zwischen Unsterblichem und Sterblichem ist das Dämonische; Eros ist ein großer Dämon. Als Dämon ist Eros aber zunächst nur um so rätselhafter. Denn was ist das Dämonische? Diese Frage stellt Sokrates als Frage nach der Kraft, nach dem Vermögen ( ) des Dämonischen. Was vollbringt das Dämonische, was richtet es aus? Das Dämonische als ein Mittleres vollbringt eine Vermittlung. Es vermittelt diejenigen Gegensätze, zwischen denen es in der Mitte ist. Das Dämonische vermittelt zwischen Unsterblichen und Sterblichen, Göttern und Menschen. Es steht nicht einfach zwischen diesen Gegensätzen, sondern es läßt allererst ein solches Zwischen sein. Es bringt die Gegensätze zueinander, ohne doch ihre Gegensätzlichkeit im mindesten aufzuheben. Das Dämonische macht weder Götter zu Menschen noch Menschen zu Göttern. Aber es hält den Bezug zwischen beiden wirksam. Daher ist es für den Menschen von größter Bedeutung. Da die Gegensätzlichkeit der Menschen und Götter aber zugleich die Entfaltung des Seienden insgesamt in zwei Bereiche anzeigt, wird das Dämonische hier zugleich als Vermittlung des Alls beansprucht (202e6 f.)2. Eros steht nicht für das Dämonische als solches und im Ganzen. Er ist e i n Dämon unter vielen (203a7 f.), allerdings ein großer (202dl 3). — Eros ein Dämon — damit hat sich die Untersuchung bereits weit entfernt von der Meinung, Eros sei ein Gott. Sie wird sich von ihr noch weiter entfernen durch den nun folgenden entscheidenden Schritt, der Eros als m e n s c h l i c h e s Streben sichtbar macht. Dieser Schritt wird auf merkwürdige Weise vollzogen: durch eine allegorische Göttererzählung über die Herkunft des Eros, in deren Fort1
Diese Stellung Diotimas wird noch mehrmals zu beachten sein. Um diese Vermittlung der Bereiche ging es Platon von Anfang an. An seine Philosophie den Gedanken eines Chorismos heranzutragen, ohne diese Vermittlung herauszustellen, bezeugt ein einseitiges, um die Dimension des Dämonischen verkürztes Platon-Verständnis. 2
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gang Eros die Züge des Sokrates zeigt. Eros, der Dämon, hat seine Herkunft aus äußersten Gegensätzen: Sein Vater ist Porös, seine Mutter Penia. Porös ist ein Gott. Krüger (S. 53) übersetzt Porös mit „Verschaff er". Porös ist der personifizierte Erwerb. Penia ist die personifizierte Armut. Sie ist keineswegs glückselig, denn sie besitzt gar nichts. Als Bettlerin erscheint sie bei den Göttern, selbst alles andere als göttlich. Sie verkörpert das Prinzip der Sterblichkeit und ist für Eros der Ursprung seines täglichen Dahinsterbens. Als Sohn dieser Mutter und des göttlichen Porös ist Eros Dämon, ein Mittleres zwischen Sterblichen und Unsterblichen. Diotima beschreibt diesen Dämon: Er ist immer arm; er ist nicht schön, sondern struppig; er geht barfuß, übernachtet unter freiem Himmel ohne Decke. Diese dürftige Lebensweise geht auf die Natur seiner Mutter zurück. Dem Vater aber verdankt er sein Streben nach dem Schönen und Guten, seine Tapferkeit, die Lust am Ränke-schmieden; durch ihn ist er ein Philosoph zeit seines Lebens, ein Zauberer, Giftmischer und Sophist. Und er ist weder unsterblich noch sterblich. An e i n e m Tag kann er in blühender Kraft leben, sterben und Wiederaufleben. Was er sich verschafft, entgleitet ihm wieder. Er leidet nie Mangel und ist nie reich. Zwischen Weisheit und Unverstand befindet er sich in der Mitte ( . 203e5). Daß Platon hier Eros die Züge des historischen Sokrates gegeben hat, wurde von Interpreten des Symposion schon lange bemerkt. Die Rede des Alkibiades auf Sokrates (215a—222a) bestätigt diese Auffassung deutlich*. Die Textstelle selbst ist, auf Sokrates bezogen, trotz einer gewollten Zwielichtigkeit durchaus stimmig im Sinne des uns von Platon überlieferten Sokrates-Bildes. Sokrates lebte asketisch4; er sah nicht gut aus, vernachlässigte oft sein Äußeres, ging meistens barfuß. Insofern war er durchaus „immer der Dürftigkeit Genösse" ( — 5 203d3) . Andererseits strebte er nach dem Schönen und Guten, war tapfer, philosophierte sein Leben lang. Ränke schmiedete er gegen diejenigen, die sich für Wissende hielten, ohne es zu sein. Durch seine Worte schlug er viele in Bann und bezauberte sie (vgl. 215c—d). Als Giftmischer erschien er denen, die ihn wegen Gottlosigkeit und Verführung der Ju» Vgl. insbesondere 215b—d, 216d—e, 219e—220b, 220d—221b. Diese Lebensweise schließt bei ihm gerade ein, daß gelegentlicher übermäßiger Genuß von Speisen und Wein keinerlei Veränderung bei ihm hervorruft. Vgl. 176c, die genannte Stelle 219e—220a und 223c—d. 5 Vgl. Phaidon 64d—e. 4
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gend anklagten. Und als Sophist begegnet er bei Aristophanes9. — Sokrates ist weder unsterblich noch sterblich — diese Bestimmung läßt zunächst und im Blick auf den unmittelbaren Fortgang des Textes denken an das, was Sokrates im Phaidon ausspricht, nämlich daß der Leib dem Philosophen immer wieder zu schaffen macht und ihn der Muße beraubt, die er zum Philosophieren braucht. Nicht nur führt er zu Zeiten Kriege oder Krankheiten herauf, sondern täglich stellt er in die Sorge um Nahrung (Phaidon 66b—d). So stirbt der Philosoph täglich als Philosoph; täglich muß er aus dem Philosophieren zurückkehren in die tätige Sorge um die Erhaltung des Leibes. Täglich lebt er aber als Philosoph auch wieder auf, dann nämlich, wenn der Leib versorgt ist und der denkenden Seele neue Muße zum Philosophieren zuteil wird. Der tiefere Sinn der Aussage, daß Sokrates weder unsterblich noch sterblich sei, erschließt sich erst, wenn die Darlegung über Eros noch weiter fortgeschritten ist. — Was Sokrates an Erkenntnis erwirbt, entgleitet ihm wieder. Hier steht die Zeitlichkeit menschlichen Erkennens vor Augen. Vieles vergessen wir, was wir erkannt hatten; manches davon holen wir ins Gedächtnis zurück, anderes bleibt versunken. Und niemals vermag der Mensch alles von ihm Erkannte auf einmal präsent zu haben, sondern beim Vollzug e i n e r Erkenntnis tritt das übrige zurück. So gelangt der Erkennende nie zu Reichtum und Überfülle. Indessen leidet er auch keinen Mangel, insofern ihm ja Erkenntnis gelingt. Er ist in der Mitte zwischen Weisheit und Unverstand. Diotima spricht von Eros. Platon meint Eros und Sokrates. Diese Ineinssetzung bedeutet im Zusammenhang der Darlegungen Diotimas über Eros: Eros ist (jedenfalls auch) m e n s c h l i c h e s Streben. Sie bedeutet für die Bestimmung der Philosophie: Die Philosophie ist dämonisch. Dieser Gedanke ist Thema des folgenden Kapitels. Hier gilt es zu sehen: Wenn Eros jetzt als menschliches Streben erscheint, dann ist die Untersuchung über ihn damit nicht etwa am Ziel, sondern sie ist gerade erst an ihren angemessenen Anfang gelangt. Denn was dieses Streben ist, muß erst noch zureichend gedacht werden. Es bei der schlichten Ineinssetzung von Eros und Philosophie bewenden zu lassen, wäre allzu voreilig. Es geht im Fortgang um Eros als menschliches Streben. Eros kann nicht mehr als ein Wesen für sich verstanden werden; er wirkt als dämonische Kraft im Menschen. Die Ineinssetzung Eros' und des Philosophen « Vgl. Hoffmann S. 25 f.
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Sokrates hat dies Ergebnis zwar erbracht, steht aber der Entfaltung des Gedankens an dieser Stelle im Wege. Sie verhindert, Eros als zur Wesensverfassung des Menschen überhaupt gehörig zu begreifen. Eros als menschliches Streben ist nicht nur Streben des Philosophen. Der Horizont der Erörterung muß also wieder erweitert werden. Zuvor aber wird die Beziehung von Eros und Schönheit aufgenommen und eingeschärft. Das geschieht, indem Diotima Sokrates erklärt, wie er dazu kam, Eros für einen Gott zu halten. Sokrates hielt Eros für das Geliebte statt für das Liebende. Das Geliebte aber ist das wahrhaft Schöne, Zarte, Vollendete, Glücklichzupreisende ( — 204c4 f.) — es ist das Göttliche. Eros ist das Liebende, das d i e s e s Geliebte liebt. Hier ist der folgenden Erörterung das Ziel gesteckt, dem sie sich von fern und langsam nähern wird. Zugleich ist ihr die Beziehung von Eros und Schönheit neu vorgegeben. Liebe ist Liebe zu etwas, nämlich zum Schönen. Die Leitfrage für alles, was Diotima noch mitzuteilen hat, ist die Frage nach dem Nutzen ( ), den Eros für die Menschen hat. Lieben ist Begehren des Schönen. Der Liebende begehrt, daß ihm das Schöne zuteil werde. Was würde ihm aber mit dem Schönen zuteil? Sokrates weiß darauf nicht zu antworten. Doch wird das Gute für das Schöne gesetzt (und das Schöne ist ja zugleich das Gute), dann ist klar: Wem das Gute zuteil wird, der ist glücklich ( ). Glück ist Besitz des Guten. Im Glück beschließt sich das Streben; das Glück wird um seiner selbst willen erstrebt. Eros ist Streben nach Glück. Dann aber wirkt Eros in allen Menschen, und das immer. Alle Menschen sind immer Liebende. Das Ungewöhnliche dieses Gedankens wird eigens zum Bewußtsein gebracht. Für unser übliches Verständnis ist Liebe ein Verhältnis zweier Menschen zueinander. Liebe in diesem Sinn wird von der Bestimmung, die Eros soeben erfahren hat, mitumfaßt. Auch sie ist Streben nach Glück. Eros ist aber auch vieles andere. Er ist so vielfältig, wie menschliches Glück vielfältig ist. Eros ist Streben nach Glück, Streben nach dem Besitz des Guten. Nun lehrt die Erfahrung, daß das Gute, wird es wirklich erlangt, ein stets gefährdeter Besitz ist. Allzu leicht geht es wieder verloren. Ist Eros Streben nach Glück, dann muß er Streben nach d a u e r n d e m Besitz des Guten sein. I m m e r glücklich zu sein, das ist das von Eros Erstrebte7. Wiewohl Diotima es noch nicht ausspricht, kann der Leser hier 7
Der gesicherte dauernde Besitz des Guten ist die Glückseligkeit der Götter. Menschliches Glück ist in der Mitte zwischen dieser Glückseligkeit und ihrem Gegen-
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schon begreifen: Eros geht auf dieses ,immer' — und st t auf den Tod. Durch Eros und f r Eros geht der Tod auf als Schranke jeglichen Gl cks, als M glichkeit des schlechthinnigen Verlusts des Guten. Nur wenn Eros diese Schranke zu bersteigen vermag, kann er wahrhaft er selbst sein: Streben nach immerw hrendem Gl ck. Ist die Schranke des Todes von ihm nicht zu berwinden, dann ist er als Streben nach immerw hrendem Gl ck sinnlos und insofern von Nichtigkeit durchzogen. Eros ist wesentlich zugleich Streben, unsterblich zu sein. Als dieses Streben ist er nun zu denken aufgegeben. In ihrer neuen Frage nach Eros (206bl ff.) gibt Diotima schon eine entscheidende weitere Bestimmung: Gefragt ist nach dem Tun (πραξις) der Liebenden, nach dem Werk (έργον) des Eros. Das bedeutet: Eros ist t t i g e s Streben. Als solches ist er n her zu bestimmen. Die Bestimmung lautet: Eros ist Zeugung im Sch nen (τόκος εν καλώ), und zwar k rperliche Zeugung sowohl als auch Zeugung der Seele (206b7 f.). Eros ist ein Verlangen als produktive Kraft; er ist ein Streben, das etwas hervorbringt. Zur Zeugung im Sch nen hat sich das Verh ltnis von Eros und Sch nheit fortbestimmt. Dabei bleibt festzuhalten: Nur dank eines anderen, und zwar eines Sch nen, ist Eros als Zeugung m glich. Es geht um Eros als menschliches Streben. Da der Tod als m gliche Negation alles Gl cks gegenw rtig ist, dr ngt sich die Lebewesenhaftigkeit des Menschen vor und sorgt daf r, da der Mensch zu den brigen Lebewesen gestellt wird: Die Kl rung, was Zeugung im Sch nen meint und wie sie mit dem Streben, unsterblich zu sein, zusammengeh rt, wird auf der Ebene der Lebewesenhaftigkeit in Angriff genommen; das Verhalten der Tiere erscheint f r diesen Zusammenhang als besonders erhellend. Ihr Liebesgebaren und ihre bis zur Selbstaufopferung gehende Sorge um die Aufzucht des von ihnen Gezeugten und Geborenen kann nur einen Grund haben: das Streben, in den Grenzen des M glichen immer zu sein, unsterblich zu sein (κατά το δυνατόν αεί τε εΐναι και αθάνατος — 207dl f.). M glich ist das den Tieren n mlich nur, indem sie Junge hinterlassen. Entsprechend soll f r die Menschen gelten: Eros als k rperliche Zeugung geht auf die Unsterblichkeit des Menschen in seinen Kindern. Der Verdacht, Eros als menschliches Streben k nnte hier unterbestimmt sein, schleicht sich beim Leser ein. Indessen ist ja noch nicht die Zeugung der Seele bedacht. teil, dem v lligen und dauernden Mangel des Guten. Auch wenn der Mensch im Zustand des Gl cks ist, wirkt Eros noch in ihm — als das Streben nach dauerndem Besitz des Guten (vgl. dazu 200b—d).
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In Analogie zur körperlichen Zeugung, wie sie Mensch und Tier gemeinsam scheint, wird die Zeugung der Seele auf den Antrieb zurückgeführt, geistige Kinder zu erzeugen, die ihren Vätern über den Tod hinaus andauernden Ruhm sichern. Eros erscheint als Streben nach Ehre und Ruhm. Ruhm bei den nachkommenden Generationen — das scheint die höchste Gestalt der Unsterblichkeit zu sein, die Eros dem Menschen verschaffen kann. Es ist eine zeit-immanente Unsterblichkeit, fragwürdig und zerbrechlich wie alles, was in der Zeit ist. Und doch hieß es von der Zeugung im Schönen, sie sei etwas Göttliches (206c6) und Ewiges (206e8). Kein Zweifel kann daran bestehen: Der Ausgang von der Lebewesenhaftigkeit hat eine Unangemessenheit in der Bestimmung des menschlichen Eros auf den sichtbar gemachten Stufen zur Folge gehabt. Diese Unangemessenheit zeigt sich nicht nur als die zwischen vergänglichem Ruhm und jenem Göttlichen und Ewigen, das, wie unbestimmt auch immer, mit Eros als der Zeugung im Schönen in Verbindung gebracht wurde. Sie wird auch darin sichtbar, daß die Werke der großen Dichter und Gesetzgeber — als Werke des Eros, als von der Seele im Schönen Gezeugtes — allein dem Verlangen nach Ruhm in ihren Urhebern zu verdanken sein sollen. — Das Unangemessene kann nur durch einen neuen Anfang beseitigt werden. Dieser muß in der menschlichen Liebe im engeren Sinne gesucht werden, und er muß erlauben, die Zeitlichkeit zu transzendieren. Diotima macht einen solchen neuen Anfang und führt, nun in einer echten Stufung, schließlich vor das GöttlichSchöne8. Wer auf die rechte Weise liebt, muß beginnen damit, daß er als junger Mensch e i n e n schönen Körper liebt. Schon auf dieser Stufe bedeutet Zeugung im Schönen: schöne Reden hervorbringen ( — 210a7 f.)9. Auf der nächsten Stufe richtet sich die Liebe auf ein erstes Allgemeines: auf die Schönheit in allen schönen Körpern. Hier schon findet eine Art Befreiung statt, nämlich von der Heftigkeit, die 8
Der Versuch, den Menschen von der Lebewesenhaftigkeit her zu bestimmen, wird in anderem Zusammenhang noch einmal im Politikos unternommen. Sein Scheitern tritt dort aufs schärfste hervor. Vgl. S. 149 ff. 9 Platon nimmt hier implicite Stellung zur Päderastie: Sie ist auf der ersten, niedrigsten Stufe des Eros nicht auszuschließen, wird aber als sexuelles Verhältnis nicht zugelassen. Sie erscheint als ein ursprüngliches Phänomen der Paideia, und zwar in bezug auf den Geliebten sowohl als auch auf den Liebenden, der, indem er durch seine Liebe befähigt wird, schöne Reden hervorzubringen, Vor-gedachtes zu artikulieren und es so selbst erst voll zu verstehen vermag. Der Phaidros wird das Thema aufgreifen und verwandeln.
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der Bindung an nur einen sch nen K rper eignete. Weiter geht es zur Liebe der Sch nheit in den Seelen (το εν ταΐς ψύχους κάλλος — 210b6 f.); von der Trefflichkeit junger Menschen ergriffen, bringt der Liebende Reden hervor, durch die er die Trefflichkeit der Geliebten weiter zu entfalten und zu festigen versucht (als ein solcher Liebender wird Sokrates im Fortgang von Alkibiades gezeichnet werden). Auf dieser Stufe hat sich der Liebende aus der Abh ngigkeit von der sinnlich-k rperlichen Sch nheit befreit. Er ist auf die Trefflichkeit der Seele in vielen Individuen gerichtet. Von der Vielheit der Individuen schreitet er nun f n zu dem Sch nen in den Sitten und Gesetzen (το εν τοις έπιτηδεύμασι και τοις νόμοις καλόν — 210c3 f.). Die Vielheit des Sch nen nimmt zu, und zugleich die Entfernung vom einzelnen; Einheit des Sch nen im Vielen k ndigt sich an, wenn das Sch ne in Sitten und Gesetzen im Hinblick auf seine Verwandtschaft betrachtet wird. Der n chste Schritt f hrt konsequent vor das Sch ne der Wissenschaften. Sch nes in F lle liegt nun vor dem Blick; das einzelne blieb zur ck. Auf dieser Stufe erh lt das Erzeugen der Reden den Namen ,Philosophie* (210d6). Auf ihr erfolgt die letzte Vorbereitung auf die e i n e Erkenntnis des Sch nen selbst als des E i n e n , dem alles brige Sch ne seine Sch nheit verdankt. Das Sch ne selbst ist das G ttlich-Sch ne (το θείον καλόν — 211e3)10. Es erscheint als das zuh chst Zu-liebende. Vor ihm vollendet sich der Aufstieg. — Wer das G ttlich-Sch ne schaut, der zeugt wahre Trefflichkeit (αρετή). Und wer wahre Trefflichkeit zeugt, der d rfte — wenn irgendein Mensch — unsterblich sein, denn ihm wird die Liebe der G tter zuteil. Diotima ist am Ziel ihrer Darlegung, und ber Eros scheint alles Wesentliche gesagt. In Wahrheit fordert Diotima Alkibiades als ihre Gegengestalt heraus, in Wahrheit hat sie mit der h chsten Stufe des Aufstiegs die Philosophie und damit Eros und damit den Menschen berstiegen. Es ist daran zu erinnern (und wird auch sp ter nochmals daran zu erinnern sein), da Diotima weise genannt wurde. Sie ist ber die Menschen hinausgehoben, spricht gleichsam von der Seite der Unsterblichen her. Und so ist die h chste Stufe des von ihr gezeigten Aufstiegs Weisheit (Sophia), nicht Liebe zur Weisheit, Streben nach Weisheit (Philosophia). Ohne jede Einschr nkung spricht sie von der Wissen10
Platon legt hier (210e—211b) dem G ttlich-Sch nen alle Bestimmungen bei, in denen er anderw rts und weiterhin das Sein der I d e e n zu fassen pflegt. Die Trennung des G ttlichen selbst von den Ideen steht noch aus. Das S o n n e n g l e i c h n i s der Politeia zeigt sie als vollzogen.
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sdiaft vom Schönen selbst ( — 210d7, — 211c7 u. 8) sowie davon, das Schöne selbst zu erkennen (211c8), es anzuschauen (211d2f., dazu 212a2) und mit ihm zusammen zu sein (212a2). Die Ausdrücke ,anschauen' und ,zusammen sein' werden in diesem Zusammenhang auch für die Knabenliebe gebraucht (211d7f.) — der Unterschied bezüglich des Schönen, Geliebten, so groß er auch ist, verbietet doch nicht, bei der Knabenliebe und in Hinsicht auf das Göttlich-Schöne in analoger Weise von ,anschauen* und ,zusammen sein* zu sprechen. Diotima, die weise Frau, übersteigt mit ihrer Darlegung die Philosophie. Wenn zuvor das dämonische Wesen des Eros aber gerade durch die Ineinssetzung von Eros und Philosophieren als menschliches Streben gefaßt werden konnte, dann übersteigt Diotima auch Eros und den Menschen. Der von ihr vorgeführte Aufstieg entfernt nicht nur von der Leidenschaft, die die körperliche Schönheit des Geliebten zu erwecken vermag, sie entfernt von aller Leidenschaft. Das von keiner Einschränkung betroffene Anschauen des Göttlich-Schönen im Zusammensein mit ihm müßte die Beruhigung des Strebens sein; es müßte die Leidenschaft hinter sich gebracht haben. Platon gibt durch Alkibiades zu bedenken, ob das eine menschliche Möglichkeit sein kann. Mit Alkibiades kehrt die Leidenschaft in den Gesichtskreis zurück — eine Leidenschaft nun allerdings, die nicht an das Göttlich-Schöne gebunden ist, die aber dennoch nicht verächtlich sein kann, wenn anders sie entzündet wird durch das Göttliche in Sokrates. Der Kontrast hätte nicht schärfer gestaltet werden können: Kaum hat Sokrates seinen Bericht über Diotimas Unterweisung, die zuletzt jene abgeklärte Schau des Göttlich-Schönen zum Thema hatte, beendet, da bricht mit Alkibiades und seinen Begleitern das Dionysische in das Fest ein. Großer Lärm, wie von ausgelassenen Schwärmern, dazu Flötenspiel, kündigt ihn von draußen her an; berauscht und bekränzt kommt er herein. Alsbald gibt er sich als Liebenden zu erkennen: Er liebt Sokrates, liebt dessen innere Schönheit, und diese Liebe ist Wahnsinn, Raserei ( ). Sie präsentiert sich zunächst als unsinnige Eifersucht, zeugt aber dann die begeisterte Lobrede auf Sokrates. Alkibiades5 Rede gewinnt das dämonische Wesen des Eros zurück. Das geschieht, indem sie einerseits Sokrates als Dämon zeichnet (als der er schon einmal in Diotimas Darlegung erschien, an der entscheidenden Stelle, die Eros als menschliches Streben zu erkennen gab). Andererseits und vor allem aber macht sie die W i r k u n g des Geliebten auf den Liebenden unübersehbar. Das Geliebte, Schöne bringt den Liebenden in seine Gewalt. Es
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ruft in ihm Wahnsinn ( ) hervor. Es erzeugt so selbst die Kraft, die dem Liebenden die Zeugung im Schönen ermöglicht. Alkibiades steht für diese Wirkung des Geliebten im Liebenden. Die Wahrheit über Eros am Ende des Symposion heißt Diotima u n d Alkibiades. Und damit ist sie mehr eine Frage als eine Antwort. Denn Diotima und Alkibiades sind extreme Gegengestalten und nicht zu vereinigen. Diotima ist über die Leidenschaft hinaus, die auch das Göttlich-Schöne als Geliebtes im Menschen hervorrufen müßte und die gerade gegenwärtig hielte, daß Eros als Liebe zum Göttlich-Schönen den Unterschied zwischen diesem und dem Menschen nicht beseitigt. Alkibiades hingegen ist dem Göttlich-Schönen fern. Zwar liebt er das Göttliche in Sokrates, in seiner Seele und in seinen Reden, aber Sokrates bleibt Mensch, ein Mittleres, und er vermag Alkibiades nach dessen eigenem Zeugnis keinen dauernden Halt zu gewähren. Alkibiades' Liebe bleibt mannigfacher Verirrungen fähig. Die Wahrheit über Eros müßte ,in der Mitte' liegen zwischen Diotima und Alkibiades. Aber das Symposion kann diese Mitte nicht mehr sichtbar machen. Sein Schluß behält einen aporetischen Zug, wie weit dieses Werk sich im übrigen auch von Platons aporetischen Frühdialogen entfernt hat. Eros ist kein Gott. Als Liebe von etwas ist er ein Begehren; ihm mangelt also, was er liebt. Ihm mangeln das Schöne, das Gute und damit die Glückseligkeit; er ist nicht und niemals in vollem Sinne schön, gut, glückselig. Ebensowenig ist er aber häßlich, schlecht, unglücklich. Er ist ein Mittleres zwischen diesen Gegensätzen. Als dieses Mittlere ist er in der Mitte zwischen Gott und Sterblichem. Er ist ein Dämon. Seine ihn stets bestimmende Herkunft ist zwiefach und zuhöchst gegensätzlich; er ist von göttlicher Abstammung und entstammt zugleich der äußersten Armut. Eros ist das Dämonische im Menschen. Als Verlangen nach Glück bestimmt er wesentlich alle Menschen jederzeit. Alles, was von Eros gilt, ist vom Menschen gesagt. Indessen scheint es seltsam, den Menschen als ein Mittleres zwischen Gott und Sterblichem zu verstehen. Doch gerade hieran bewährt sich der Gedanke. Eros macht den Menschen sterblichunsterblich. Er gewährt ihm Unsterblichkeit der Sterblichen — als Seinsweise, im Leben. Als Streben nach immerwährender Nähe zum Schönen, nach dauerndem Besitz des Guten erstrebt Eros in eins das Immersein, das Unsterblichsein. In seiner wahren Gestalt transzendiert er die Zeitlichkeit, ist er Liebe zum Göttlich-Schönen. Liebend das Göttlich-Schöne, ist
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der Mensch in der Mitte zwischen diesem und dem Sterblichen. Das ist der Nutzen des Eros für den Menschen. Liebe zum Schönen meint Zeugung im Schönen. Eros bringt etwas hervor. Das Werk, das die Liebe zum Göttlich-Schönen hervorbringt, ist wahre Trefflichkeit. Das Symposion ist der fruchtbare Anfang der platonischen Anthropologie. Deutlich läßt es die Frage offen nach der Einheit der Liebe zum Göttlich-Schönen und der Leidenschaft, die wesentlich zu Eros gehört — der Phaidros wird diese Frage, sie verwandelnd, aufgreifen. Nicht ausdrücklich, aber doch offensichtlich hält Platon im Symposion zurück mit der Frage nach dem Dasein des Menschen nach dem Tod. Im Symposion liegt der Akzent darauf, daß das Leben des Menschen zum Sterblich-unsterblich-sein freigelassen ist, zum Transzendieren der Zeitlichkeit in der Zeit — als Liebe zum Göttlich-Schönen. Freilich erhält dieses Transzendieren erst seinen vollen Sinn, wenn das Dasein des Menschen nach dem Tod vor das Denken gebracht werden kann — der Phaidon leistet dies. — Im Sonnengleichnis der Politeia wird das Göttlich-Schöne klarer gefaßt als das (Göttlich-)Gute in Abhebung von den Ideen und in seiner Wirksamkeit für den Menschen und in ihm. Das Schauen des Göttlichen gewinnt als Gleichnis eine dem Menschen mögliche Form. — Das Dämonische der menschlichen Herkunft wird im Phaidros gegenwärtig sein. Beherrschend ist es dann im Politikos, bestimmend auch im Philebos. Diese beiden Dialoge sprechen eingehender auch vom Werk des Menschen, zu dem er durch seine Herkunft vom Göttlichen und seine Nähe zu ihm befähigt ist.
2. Kapitel: Das dämonisch-hermeneutische Wesen der Philosophie (Symposion) Es wurde sdion gezeigt: An einer widitigen Stelle im Gespräch zwischen Diotima und Sokrates nimmt Eros die Züge des Sokrates an. Das bedeutet für die Philosophie: Sie ist dämonischen Wesens. Von ihr gilt, was von Eros gesagt wird: Sie leidet nie Mangel und ist nie reich; sie ist zwischen Weisheit und Unverstand in der Mitte. Diese Bestimmung der Philosophie darf und muß jetzt in einem weiteren Sinne genommen werden als an früherer Stelle (S. 13), wo sie ganz von der Zeitlichkeit menschlichen Erkennens her verstanden wurde. Hier denkt sich das Denken des Eros selbst. Das Denken des Mittleren ( ) ist selbst Mittleres. Dem scheint freilich zu widersprechen, daß Diotima, die die Wahrheit über Eros enthüllt, weise ist. Durch die Spannung zwischen jener Bestimmung der Philosophie und der Gestalt Diotimas zwingt Platon vor die Frage nach der Philosophie. Eine Überlegung, die dieser Frage nachgeht, wird sich zuerst der Darlegung über Eros als solcher zuwenden. In deren Aufbau lassen sich mehrere Teile unterscheiden: 1. Dialog zwischen Sokrates und Agathon (einst zwischen Diotima und Sokrates) mit dem Ergebnis, daß Eros weder schön noch gut sein kann (199c—201c); 2. Dialog zwischen Diotima und Sokrates mit dem Ergebnis, daß Eros kein Gott ist (201 e—202d); 3. Belehrung über das Dämonische überhaupt und über Eros als Dämon im besonderen (202d—204c); 4. Dialog zwischen Diotima und Sokrates mit dem Ergebnis, daß Eros allen Menschen wesentlich zukommt, und zwar als Verlangen nach dauerndem Besitz des Guten (204c—206a); 5. Belehrung über Eros als Zeugung im Schönen (206b—209e); 6. Darstellung des Aufstiegs zum Göttlich-Schönen (209e—212a). Diese Teile sind näher zu charakterisieren. Der erste Teil ist s o k r a t i s c h e r Dialog. Er ist insofern aporetisch, als er die Meinung des Gesprächsteilnehmers als unhaltbar erweist, ohne doch einen Ausweg anzudeuten. Er macht den Gesprächsteilnehmer zu einem Fragenden. D i e s e r Dialog war von Diotima ablösbar. Er hätte auch ursprünglich von Sokrates geführt werden können. Er nimmt als Argument der Wi-
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derlegung in Anspruch das Selbstverständnis des Menschen, daß Liebe ein Begehren ist und daß das Begehrende begehrt, was es nicht hat und nicht ist. — Der zweite Teil scheint auf den ersten Blick dem ersten Teil zu gleichen. Er setzt gedanklich den vorigen Teil fort und endet wie dieser mit der Widerlegung einer Meinung. Tatsächlich aber ist er vom vorigen Teil verschieden. Er enthält einen weiterführenden Gedanken, der ihn von Diotima unablösbar macht, soll der Gedanke wirklich ein Gedanke und nicht nur ein Gedankenspiel sein. Zwar stellt sich das Ergebnis, daß Eros kein Gott sein kann, durch logische Folgerung ein. Und auch zur Einführung des Mittleren bedarf es noch nicht Diotimas Weisheit. Daß aber diese Einführung in bezug auf Eros einen Sinn haben kann, dafür kann nur Diotima einstehen. Daß das Mittlere und Eros zusammengebracht werden, ist ein Vorgriff auf das folgende, hat nur als solcher Vorgriff Bedeutung; das folgende aber wäre ohne Diotimas Weisheit nicht denkbar. — Im dritten Teil legt Sokrates die entscheidenden Fragen vor, auf die Diotima belehrend antwortet. Die Bestimmung des Dämonischen und die allegorische Göttererzählung über Eros' Herkunft sind nur durch sie möglich. — Der vierte Teil ist p l a t o n i s c h e r Dialog. Sokrates ist der lernende Partner Diotimas. — Im fünften Teil spricht Diotima selbst die weiterführenden Fragen aus. Der Gedanke der Zeugung im Schönen ist ein Gedanke ihrer Weisheit; nur sie kann ihn vorbringen. — Im sechsten Teil ist Diotima ganz Mystagogin. Sie hält es für möglich, daß Sokrates nicht mehr folgen kann, fordert ihn aber zu größter Anstrengung auf. Der Philosoph ist und bleibt zwischen Weisheit und Unverstand in der Mitte. Kein Zweifel, im Gespräch zwischen Diotima und Sokrates ist S o k r a t e s Philosoph in diesem Sinn. Den Unverstand seiner Meinung, Eros sei schön, gut und ein Gott, läßt er rasch hinter sich zurück. Er nähert sich der Weisheit, indem er Diotima nach Kräften folgt. Ihr zu folgen, wird immer schwerer, je mehr sie von Eros enthüllt. Im dritten Teil noch ist Sokrates Diotima gewachsen als Fragender, im vierten Teil als ihr lernender Partner. Im fünften Teil bringt Diotima durch eigene Fragen ihre Darlegung voran. Sokrates weiß diese Fragen nicht mehr zu beantworten (206b; 207a—c). Was nun die erwähnte Möglichkeit anbelangt, daß Sokrates beim Aufstieg zum Göttlich-Schönen zurückbleiben könnte, so ist dazu zu sagen: Sokrates war jedenfalls in der Lage, Diotima zu folgen in dem Sinn, daß er das von ihr Vorgetragene auffaßte. Denn er vermag es ja mit großer Deutlichkeit wiederzugeben. Indessen betrifft die Frage des Folgen-könnens hier weniger das Auffassen als die
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Zueignung des Dargestellten. Und dazu sagt Platon das Entscheidende: Sokrates h a t sich das von Diotima Vorgetragene zugeeignet, aber nicht als Wissender, sondern es glaubend und dazu bewegt, es auch andere glauben zu machen1. Gerade darin bew hrt sich die gegebene Bestimmung des Philosophen: Sokrates erlangt nicht das W i s s e n des G ttlichSch nen, er wird nicht weise. Aber er ist unwiderruflich vor das G ttlich-Sch ne gebracht. Sokrates ist, in diesem entscheidenden St ck des Symposion, Philosoph. Indessen darf nicht bersehen werden, da er es ist und sein kann allein durch Diotima. Im Blick darauf stellt sich die Frage nach der Philosophie noch einmal neu, und zwar zun chst als Frage nach Diotima. Mehrfach wurde schon gesagt, da Diotima als weise bezeichnet und damit ber die Menschen hinausgehoben wird. Freilich erscheint sie auch als ,Philosophin', so vor allem in dem sogar von ihr abl sbaren Dialog des ersten Teils der ,Redec oder auch im Dialog des vierten Teils. Aber das ,philosophische' Gespr ch dient der Vermittlung ihrer W e i s h e i t , ist Mittel, das schlie lich ganz aufgegeben werden mu . Und: Die entscheidenden Aussagen ber Eros sch pft sie aus ihrer Weisheit, wie sie auch gerade im unmittelbaren Zusammenhang mit diesen weise genannt (201 d3, 206b6) oder als Mystagogin vorgef hrt wird (209e—210a). Andererseits aber ist Diotima der Aporie f hig! Im vorigen Kapitel wurde bereits nachdr cklich auf die Unangemessenheit verwiesen, die darin liegt, da (am Ende des f nften Teils) der Ruhm bei den k nftigen Geschlechtern als die h chste Gestalt menschlicher Unsterblichkeit erscheint. Das Aporetische dieses Gedankens, der die Unsterblichkeit in die Dimension der Zeit bannt, wird freilich von Diotima mehr verschleiert als sichtbar gemacht. Nicht ohne Grund nennt Platon sie, als die Darlegung auf diesen Gedanken zusteuert, eine vollendete Sophistin (siehe 208cl: ώσπερ οί τέλεοι σοφισταί)2. Konnte aber Diotima einen solchen Gedanken, und w re es auch nur im Vorbeigehen, entwickeln — wie steht es dann mit ihrer Weisheit? Platon gibt hier selbst den Ansto , Diotima als Gestalt s e i n e s Werks zu denken. Diese Diotima ist eine
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212b2 f.: πέπεισμαι δ'έγώ · πεπεισμένος δε πειρώμαι και τους άλλους πείθειν — Apelt bersetzt mit „ berzeugt", „ berzeugung", „ berzeugen", Schleiermacher mit „geglaubt", „wie ich es glaube", „glaublich zu machen"; Schleiermacher ist hier der Vorzug zu geben. 2 Vgl. Kr ger S. 177: „Diotima spricht in keinem Abschnitt ihrer Rede so ironisch, so eingest ndlich (selbst dem Stile nach) ,sophistisch' wie hier (vgl. 208c)."
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Gestalt des Philosophen Platon8. Als solche mu sie gedacht werden. Geschieht das, so ist Diotima mit Sokrates zusammenzunehmen. Und dann zeigt sich das Entscheidende: Das Philosophieren ber Eros gibt sich selbst etwas vor (Diotima), dem es je und je folgt (Sokrates). Auf die Art dieser Vorgabe und auf ihre jeweilige Funktion im Verlauf des Gedankengangs spitzt sich die Frage nach der Bestimmung der Philosophie im Symposion jetzt zu. Die Art der Vorgabe ist im R ckgriff auf die Bestimmung der richtigen Meinung zu bedenken, das Aufweisen ihrer jeweiligen Funktion stellt zur Aufgabe, die Denkbewegung im Gespr ch Diotimas mit Sokrates noch genauer zu fassen. Die richtige Meinung (ορθή δόξα) wurde von Diotima als Beispiel gew hlt, als es den Begriff des Mittleren einzuf hren galt. Die richtige Meinung ist in der Mitte zwischen Weisheit und Unwissenheit bzw. Unverstand. Sie trifft das Seiende, fa t also Wahres. Sie vermag aber nicht, Gr nde beizubringen, Rechenschaft abzulegen. Deshalb ist sie kein Wissen. Hier nun sei die These formuliert, da die Vorgabe, um die es geht, richtige Meinung ist. Das Nachdenken ber Eros gibt sich in dem, was der Weisheit Diotimas zugeschrieben wird, Gedanken vor vom Charakter der richtigen Meinung. Diese Gedanken sind gerade als richtige Meinungen philosophische Gedanken. Wer die Bedeutung der „richtigen Meinung" statt dessen auf solche Gedanken beschr nkt wissen wollte, die nicht-philosophisch oder h chstens vor-philosophisch sind — wie etwa diejenigen u erungen der Vorredner des Sokrates, die ber Eros etwas Richtiges fassen — m ge folgendes bedenken: In der Bestimmung der richtigen Meinung (202a) und in der sp teren Bestimmung des Philosophen wird von Platon dieselbe Formulierung gebraucht: Eros ist in der Mitte zwischen Weisheit und Unverstand (σοφίας τε αΰ και άμαΐΚας εν μέσω εστίν — 203e5; schon einmal zitiert S. 12); die Philosophierenden sind weder die Weisen noch die Unverst ndigen (μήτε οι σοφοί μήτε οι αμαθείς — 204a9), sondern die zwischen diesen beiden (οί μεταξύ τούτων αμφοτέρων — 204bl f.); und sofort noch einmal: Eros ist notwendig Philosoph, und als Philosoph ist er zwischen dem Weisen und dem Unverst ndigen (ώστε άναγκαΐον "Ερωτα φιλόσοφον είναι, φιλόσοφον δε οντά μεταξύ είναι σοφοΰ και άμαθους — 204b4 f.). Die Wiederholung der fr heren Formulierung, dazu in dieser H ufung, ist eine Aussage Platons und alles andere als ein Zufall. Die 8
Die in der Literatur er rterte Frage, ob sie audi eine historische Gestalt war, ist hier ohne Bedeutung.
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Philosophie erscheint als richtige Meinung, und zwar gerade da, wo sie mit Eros verbunden wird und ihr dämonisches Wesen zeigt. Nun legt der Vergleich der Textstellen eine Identifikation von Philosophie und richtiger Meinung nahe, die über das Ziel hinauszuschießen scheint. Nimmt man Diotima als Gestalt des Philosophen Platon, so zeigen sich alle die Gedanken als unbegründet im Sinne des Rechenschaftgebens, für die allein Diotimas Weisheit einsteht; d i e s e Gedanken sind für alle Philosophierenden richtige Meinungen. Sie machen aber keineswegs das Ganze des Gesprächs zwischen Diotima und Sokrates aus. Die Frage nach ihrer Funktion im Ganzen des Gesprächs wird dringend. Zu ihrer Beantwortung muß die Denkbewegung des Gesprächs in ihren Schritten nochmals verfolgt werden. Der erste Teil des Gesprächs ist von Diotima ablösbar: Es bedarf nicht ihrer Weisheit, um die falsche Meinung, Eros sei schön und gut, zu widerlegen. Der weiterführende Gedanke des zweiten Teils muß als Vorgriff auf das im dritten Teil Ausgeführte verstanden werden und steht insofern in Bezug zu Diotimas Weisheit. Denn der dritte Teil ist durch Diotimas Weisheit ermöglicht. In ihm führt Diotima das Dämonische ein und entfaltet es in bezug auf Eros durch die allegorische Göttererzählung von Eros* Herkunft. Beide, die Einführung des Dämonischen und die allegorische Göttererzählung, sind richtige Meinung. Hier ist es nicht möglich, Gründe beizubringen, Rechenschaft abzulegen. Genau dies drückt Platon mit Diotimas Weisheit aus. Nun kann aber kein Zweifel sein, daß die Untersuchung über Eros ohne diese richtige Meinung über das Dämonische und die Herkunft des Eros aporetisch geblieben wäre. Sie hätte dabei stehenbleiben müssen, die Göttlichkeit des Eros zu negieren und sich von dem Gedanken, Eros sei häßlich und schlecht, aus Furcht zu freveln zurückzuhalten (vgl. 201 e). Ja, diese sonst unvermeidliche Aporie legitimiert dazu, die richtige Meinung, also Gedanken, für die keine Gründe beigebracht werden können, einzuführen. Und daß die richtige Meinung aus der Aporie herausführt, steht für ihre Richtigkeit ein, dafür, daß sie das Seiende trifft und insofern wahr ist. — Die richtige Meinung über das Dämonische und den Dämon Eros erlaubt, zum Dialog zurückzukehren, der jetzt (als platonischer, nicht mehr sokratischer) Dialog die Untersuchung fortführt (4. Teil). Der Dialog stößt aber an eine neue Grenze, als — in der Bestimmung des Eros als Streben nach dauerndem Besitz des Guten — der Tod, wenn auch noch unausdrücklich, als Schranke sichtbar wird. Die Untersuchung über Eros muß nun auf Unsterblichkeit abzielen. Und das
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überfordert den Dialog, das Durchsprechen. Allein Diotimas Weisheit kann hier weiterhelfen: Sie stellt den Gedanken bereit, Eros sei Zeugung im Schönen. Auch dieser Gedanke ist richtige Meinung. Seine Durchführung verwickelt sich aber dann in die aporetische Auffassung, die höchste Gestalt der Unsterblichkeit sei der Nachruhm — eine Unsterblichkeit, der Vergänglichkeit immanent ist, an der sich also der Begriff der Unsterblichkeit aufhebt. Diese Aporie zu überwinden und den Gedanken der Zeugung im Schönen ins Ziel zu führen, das erfordert Diotimas höchste und heiligste Weisheit. Es fordert die richtige Meinung über das Göttlich-Schöne und über den Aufstieg des Menschen zu ihm. Die Weisheit Diotimas rettet immer wieder die Untersuchung über Eros und läßt sie glücken. Das heißt: Ohne richtige Meinung gelänge diese Untersuchung nicht. Sie verdankt sich als Ganzes einem Denken, das keine Gründe beibringen kann. Daß an den entscheidenden Stellen der Darlegung das Denken zur richtigen Meinung wird, kann auch die übrigen Ausführungen positiven Inhalts nicht unberührt lassen. Zwar können sie Gründe beibringen, aber zuletzt gründen sie in der Wahrheit der richtigen Meinungen. Das Philosophieren, das Eros denkt und dabei vor das GöttlichSchöne gelangt, verdankt sich der richtigen Meinung. Es ist daher als Ganzes von dämonischem Wesen. Die Aufgabe ist jetzt, das Dämonische der Philosophie schärfer zu fassen. Dazu ist nochmals die Bestimmung des Dämonischen überhaupt heranzuziehen. Früher (S. 11) wurde bereits gesagt: Das Dämonische — und also auch Eros — ist ein Mittleres zwischen Unsterblichem und Sterblichem. Als dieses Mittlere vollbringt es eine Vermittlung; es vermittelt die Gegensätze, deren Mittleres es ist. Die Gegensätze vermittelnd, läßt es das Zwischen zwischen ihnen sein, als wirksamen Bezug. Das alles muß von der Philosophie gelten, wenn anders Eros (auch) Philosoph und also Philosophie Eros ist. Die Philosophie ist Mittleres, Vermittelndes. Als dieses ist sie noch genauer zu bestimmen. Auszugehen ist dabei von der Textstelle, auf die sich die Ausführungen im vorigen Kapitel schon stützten. Auf Sokrates' Frage, was das Dämonische zu vollbringen habe, antwortet Diotima (202e3 ff.): Das Dämonische verdolmetscht ( ) und überbringt ( ) den Göttern Menschliches und den Menschen Göttliches. Es verdolmetscht und überbringt von Seiten der Menschen Gebete und Opfer, von Seiten der Götter Anordnungen und Gegengaben für die Opfer. Es läßt die Mantik ( ) gelingen und die auf Opfer, Weihen
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und Beschw rungen sich verstehende Kunst der Priester, die Magie4 und die Zauberei (γοητεία). Gott verkehrt n mlich nicht mit dem Menschen (ου μείγνυται), vielmehr vollziehen sich Umgang und Gespr ch (διάλεκτος) der G tter mit den Menschen allein durch das D monische. — Das D monische vermittelt zwischen G ttern und Menschen, indem es verdolmetscht und berbringt. Das mit , berbringenc wiedergegebene Wort (διαπορθμεύειν) bedeutet auch: bersetzen, hin berfahren — etwa von einem Flu ufer zum anderen. Indessen handelt es sich beim D monischen nicht um ein Hin ber- und Her berfahren zwischen zwei im wesentlichen gleichartigen Ufern. Das D monische vermittelt zwischen zwei Bereichen, die einander entgegengesetzt sind. Deshalb ist es hier mit einem einfachen berbringen nicht getan. Das berbringen mu zugleich ein Dolmetschen (έρμηνεύειν) sein. Das D monische bersetzt G ttliches in das menschliche Verstehen und Menschliches in das g ttliche Verstehen. Dies bersetzen unterscheidet sich freilich vom bersetzen, das ein gew hnlicher Dolmetscher zu vollziehen hat. L t man das Besondere des Ubersetzens dichterischer Werke beiseite, so gilt, da es beim bersetzen darauf ankommt, f r das in der einen Sprache Gesagte in der anderen so genaue Entsprechungen wie m glich zu finden. Beim bersetzen von G ttlichem in das menschliche Verstehen sind genaue Entsprechungen aber unm glich. Hier ist das Dolmetschen ein Auslegen. Angleichung (adaequatio) findet hier nicht statt. Das D monische als ein Mittleres zwischen G ttern und Menschen vermittelt zwischen diesen. Das Vermitteln vollzieht sich im Verstehen, als ein Auslegen (έρμηνεύειν). Nun mag der Zweifel aufkommen, ob die beigezogene Stelle berhaupt von der Philosophie spricht und ob also mit Recht von ihr aus das D monische der Philosophie als ein Vermitteln im Verstehen, eben als Auslegen, bestimmt werden kann. Indessen gibt Platon durch das Schillernde des Wortlauts selbst den Ansto , die Stelle nicht zu w rtlich zu nehmen. Wenn hier Diotima von der Mantik und von der Kunst der Priester, damit aber zugleich von sich zu sprechen scheint, so h tte sie selbst diese doch in der Gestalt, in der sie hier erscheinen — n mlich als auf einer Stufe stehend mit Magie und Zauberei — weit hinter sich gelassen5.
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Vgl. die Lesarten zu 203al und die folgende Anmerkung. Vgl. Kr ger S. 152: „... die umstrittene Erw hnung von Magie (μαγεία) und Zauberei (γοητεία) pa t zu dieser Darstellung sehr gut, gerade indem sie ihr Unzul ngliches ironisch f hlbar macht." 5
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Die Textstelle nicht zu wörtlich nehmen, heißt, sie von den Einschränkungen befreien, die das Symposion selbst erkennen läßt. Es sind zwei, in sich zusammenhängende Einschränkungen. Die erste: Diotima spricht hier von sich und von ihrer Warte aus. Diotima ist weise, Priesterin, Mystagogin — den Göttern näher als den Menschen. Sie spricht gleichsam vom anderen Ufer her. Was sie, die Weise, sagt, ist Dolmetschen im Sinne der Mantik. Wenn aber Diotima als Gestalt des Philosophen Platon genommen wird und ihre Weisheit für das Philosophieren zur richtigen Meinung wird, dann wendet sich ihre Mantik in die Philosophie um. Diese ist Auslegen des Göttlichen vom Ufer der Sterblichen aus, d. h. durch den Menschen. Philosophie übersetzt vom Menschen aus Göttliches in das menschliche Verstehen, vermittelt so zwischen dem Göttlichen und dem Menschen, läßt das Zwischen sein, hält den Bezug wirksam. Die zweite Einschränkung kommt der Textaussage zu aus ihrer Stelle im Verlauf des Gedankengangs: Noch wurde Eros nicht als m e n s c h l i c h e s Streben sichtbar gemacht und also auch nicht als Philosophie (deshalb kann Diotima hier in der erwähnten Weise von sich sprechen); und noch lange nicht ist das Göttlich-Schöne in der Sicht. Vom Fortgang her ist die Einschränkung zu beseitigen, also das Gesagte umzudenken. Nicht zwischen Unsterblichen und Sterblichen vermittelt Eros als Philosophie, sondern zwischen dem Göttlich-Schönen und dem Menschen, der eben durch diese Vermittlung sterblich-unsterblich lebt. Philosophie zeigt sich als auslegendes Verstehen des Göttlich-Schönen. Die ,Rede' des Sokrates über Eros zeigt die Bewegung des Vorgebens und Folgens als die eigentümliche Bewegung des Philosophierens. Was Platon auf zwei Gestalten, Diotima und Sokrates, verteilt, ist in Einheit die Denkbewegung des Denkens, das Eros zu begreifen sucht. Die Vorgabe hat den Charakter der richtigen Meinung. Sie trifft das Seiende, ist also wahr. Sie kann sich aber nicht aus Gründen rechtfertigen. — Ohne die vorgebenden Gedanken könnte die Untersuchung über Eros nicht glücken, sie bliebe in Aporien stecken. Die jeweilige Aporie selbst legitimiert dazu, dem Denken in einer richtigen Meinung Neues vorzugeben. Und daß die Meinung aus der Aporie herauszuführen vermag, steht für ihre „Richtigkeit" ein. — Ist die Aporie überwunden, kann das Denken zum Durchsprechen ( , Dialog) zurückkehren. Da dies Durchsprechen aber gerade die Vorgabe in Anspruch nimmt, greift der Wahrheitscharakter der richtigen Meinung auf es über. — Das Folgen
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meint die Zueignung des Gedachten. Es entspricht dem Wahrheitscharakter der Vorg be und dem aus ihr Abgeleiteten als ein Glauben. Glauben, nicht Wissen als gesicherter Besitz des Wahren, wird, der Vorgabe folgend und ihr entsprechend, gewonnen. Sokrates hatte den Anspruch angemeldet, mit seiner ,Rede( ber Eros die Wahrheit ber Eros zu sagen. Von welcher Art ist diese Wahrheit? Sie ist, wie erinnert, Wahrheit der richtigen Meinung (Treffen des Seienden ohne Beibringen von Gr nden) und des auf sie sich zur ckgr ndenden Durchsprechens. Diese Wahrheit bestimmt sich n her als Wahrheit der Auslegung; Angleichung (adaequatio) ist sie nicht. Die Wahrheit des Philosophierens zeigt sich im Symposion als Wahrheit der Auslegung, die Philosophie als hermeneutisch. Der ,Glaube' des Philosophierenden ist die Zueignung des vom Auslegen Er ffneten. Der Philosophierende bringt es nicht zur unbedingten Sicherheit der Erkenntnis, die Weisheit w re. Er bleibt zwischen Weisheit und Unverstand bzw. Unwissenheit in der Mitte. Philosophie als hermeneutische ist ein Mittleres (μεταξύ) und d monisch. — Im Begr ungsgeplauder mit Agathon sagt Sokrates (175e2—4) von seiner Weisheit, sie sei nur unbedeutend (φαύλη) und anfechtbar (αμφισβητήσιμος), als ob sie ein Traum w re (ώσπερ δναρ ούσα). Die Heiterkeit des Gepl nkels l t den Ernst seines Selbstverst ndnisses durchscheinen. Platon macht im Symposion mit der Frage nach der Art philosophischen Verstehens einen Anfang. In dieser Feststellung liegt ein Hinweis auf die Fruchtbarkeit des Ansatzes (die im Fortgang dieser Untersuchung sich noch beweisen wird), aber auch auf seine Grenzen. Auf diese ist kurz einzugehen. Die Bestimmung der Philosophie wurde zuvor von jenen Worten Diotimas ber das D monische sowohl als auch von dieser weisen Gestalt berhaupt gel st. Jetzt gilt es, zu beachten, da Diotima gleichwohl in diese Bestimmung hineinwirkt. Es wird nochmals bedeutsam, da Platon Diotima und Alkibiades einander entgegensetzt. Die Leidenschaft (μανία), die in Diotimas Darstellung der Liebe zum G ttlich-Sch nen verborgen blieb und — mit ihr nicht zu vermitteln — durch Alkibiades hervortrat, m te gerade auch im auslegenden Verstehen des G ttlich-Sch nen wirken. Alkibiades spricht von der Leidenschaft der Philosophen (218b3); ihm zeigt sie sich freilich im Zeichen des Bakchos als Trunkenheit, als Raserei (βακχεία — 218b4). Denn er ist dem G ttlich-Sch nen fern. Auch hier gibt das Symposion eine Vereinigung auf, die es selbst nicht mehr leistet. — Alkibiades steht daf r ein, da Eros zugleich er-
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litten wird. Vom Schönen geht eine Wirkung auf den Liebenden aus, es zieht ihn an, ruft in ihm ein Verlangen hervor. Das müßte auch vom Göttlich-Schönen gelten, und gerade auch bezüglich des Philosophierenden. Aber wie wirkt das Göttlich-Schöne im Liebenden, Denkenden? Wie zieht es an? Der Aufstieg zum Göttlich-Schönen, den Diotima darstellt, gibt darauf keine befriedigende Antwort. An sehr viel früherer Stelle des Symposion und auf anderer Ebene, in der Rede des Phaidros, heißt es vom Liebenden, er sei gottbegeistert ( — 180b4). Das wäre ein anderer Zustand und ein anderes Verhältnis zum Göttlichen als die beruhigte Schau des Göttlich-Schönen, von der Diotima zu sagen weiß. Auch der Philosophierende könnte gottbegeistert sein, und das könnte den Vollzug seines Denkens betreffen. Der Phaidros wird Bedeutsames zu diesem Thema zu sagen haben. — Die Bewegung des Philosophierens in der ,Rede' des Sokrates wurde als Vorgeben und Folgen verstanden, und die Vorgabe als richtige Meinung. Die richtige Meinung wird von Platon scharf gegen Weisheit und Wissen ( ,) abgegrenzt. Sie ist kein Wissen. Nun überwiegt die richtige Meinung in Diotimas Darlegungen stark, so stark, daß von einem Wissen im strengen Sinn auch bezüglich des vom Durchsprechen Aufgehellten nicht mehr die Rede sein kann, da das Durchsprechen, wo es Positives beibringt, auf die richtigen Meinungen aufbaut. Dies Überwiegen der richtigen Meinung gegenüber einem philosophischen Wissen kann aus dem, was da bedacht wird, begreifbar gemacht werden: Es entspricht dem Gegenstand der Untersuchung — Eros, dem Dämon, dem Mittleren. Und es wird auch begreiflich von der von Platon gewählten Darstellungsart her: Platon läßt eine weise, über die Menschen hinausgehobene Gestalt die Wahrheit über Eros eröffnen; für Diotima aber kann der Dialog nur ein Mittel zur Vermittlung ihrer Weisheit sein. Platon schafft zu diesem Übergewicht der richtigen Meinung, das sich im Symposion findet, ein deutliches Gegengewicht: im Phaidon. Hier herrscht das Rechenschaft-geben vor und wird ständig aufs neue gefordert. Vom Symposion her muß man sagen: Das Verhältnis von Rechenschaft-geben (Wissen, Wissenschaft) und von richtiger Meinung (auslegendem Verstehen) muß von Platon noch ausgetragen werden. Allerdings darf, wenn vom Übergewicht der richtigen Meinung im Symposion gesprochen wird, nicht vergessen werden, daß bereits die ,Rede' des Sokrates den Aufbau von Durchsprechen — Aporie — richtiger Meinung — Fortgang des Durchsprechens aufweist, der im Politikos bestimmend sein wird und der im Philebos, wenngleich nicht so offen zutage liegend, anzutreffen sein wird. Auch bleibt festzuhalten,
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daß, wo immer die richtige Meinung die Untersuchung rettet oder überhaupt voranbringt, sie die Wahrheit der übrigen Untersuchung verwandelt. Die richtige Meinung (das auslegende Verstehen) hat im Symposion eine für Platon ungewöhnliche Form erhalten: Sie erscheint als Weisheit einer dichterisch vor Augen gestellten Gestalt. Anderwärts (und im Fortgang dieser Untersuchung) begegnet sie dagegen (vor allem) als Gleichnis oder philosophischer Mythos. Der philosophische Mythos zumal ist das dämonische Verstehen von der Seite der Menschen her. Er streift das Gewand der Weisheit ab und entgeht dem Anschein der Mantik.
3. Kapitel: Die Seinsart der Seele (Phaidon) Das Symposion denkt den Menschen dämonisch. Der Mensch zeigt sich als Mittleres zwischen Göttlichem und Sterblichem. Durch Eros ist er sterblich-unsterblich. Im Symposion liegt der Akzent auf dem Sterblichunsterblich-sein des Menschen im Leben. Der Phaidon dagegen bedenkt diese Seinsverfassung im Blick auf den Tod. In ihm stellt Platon die Frage nach dem Dasein des Menschen nach dem Tod. Diese Frage hat zugleich einen ontologischen Sinn: Sie erfragt die S e i n s a r t der menschlichen Seele. An die Gesprächssituation im Phaidon darf kurz erinnert werden: Am Tag seiner Hinrichtung finden sich Sokrates' Freunde, darunter Kebes und Simmias, früh bei Sokrates im Gefängnis ein, und die Zeit bis zum Sonnenuntergang wird genutzt zum philosophischen Gespräch. Sokrates hat morgens erfahren, daß am Abend dieses Tages das Todesurteil an ihm vollstreckt wird. Seine Haltung in dieser Lage erregt die Verwunderung und Bewunderung der Freunde. Als die Männer zu ihm eingelassen worden sind, unterhält er sich mit ihnen zunächst fast plaudernd. Sie gewinnen und äußern den Eindruck, daß Sokrates es leicht trägt, sie und sogar jene Götter, in deren Hut sein Leben stand, verlassen zu müssen (63a5—9). Sokrates gibt ihnen recht (69d8 f.). Er bekennt, daß er freudig in den Tod geht (68bl f.). Und Phaidon berichtet später Echekrates, Sokrates sei ihm glücklich erschienen in seinem Verhalten und in seinen Reden (58e3 f.). Wie ist eine solche Haltung möglich? Sokrates ist bereit zu erklären, sich zu verteidigen (63bl—5). Seine Haltung ist ihm ermöglicht durch seine Hoffnung (63cl; 63c5; 64al). Er hofft, nach dem Tod zu anderen weisen und guten Göttern zu kommen und zu verstorbenen Menschen, die besser sind als die Menschen hier1; er hofft, daß für die Verstorbenen noch etwas i s t , und zwar etwas viel Besseres für die Guten als für die Schlechten (63b—c). 1
Sokrates braucht nicht zu fürchten, daß seine Freunde ihn mißverstehen und diese Worte auf sich beziehen. Zu deutlich ist ihnen das Unrecht vor Augen, das die Athener begingen, als sie Sokrates zum Tod verurteilten.
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Sokrates erkl rt seinen Freunden seine Haltung aus seiner Hoffnung. Aus seiner Sicht ist das bereits seine Verteidigung. Indessen: Hoffnung ist j e e i n e s Menschen Hoffnung. Kraft und Festigkeit der Hoffnung bertragen sich nicht unmittelbar vom Hoffenden auf andere Menschen. Um mit Sokrates in bezug auf das, was er erhofft, eins sein zu k nnen, bed rfen die Freunde nun erst recht einer Begr ndung. Das eigentliche Rechenschaft-geben steht f r sie noch aus. F r sie scheiden sich in Sokrates' Hoffnung das eigentlich darin Erhoffte und seine Voraussetzungen, und die Voraussetzungen wenigstens wollen sie bewiesen haben. Es w re zu beweisen, da die Seele nach dem Tod noch ist u n d da der guten Seele dann Gutes zuteil werden kann. Der Seele eines Philosophen kann aber Gutes nur zuteil werden, solange sie zu denken vermag. Also stellt Sokrates' Hoffnung dem Beweisen eine Doppelaufgabe. Kebes spricht sie aus: Es ist zu zeigen, „da die Seele nach dem Tod des Menschen ist u n d eine Art von Kraft und Einsicht hat" (ως εστί τε ψυχή αποθανόντος του ανθρώπου καί τίνα δύναμιν έχει και φρόνησιν — 70b2—4). Die Beweise Man pflegt von mehreren Unsterblichkeitsbeweisen des Phaidon zu sprechen. Geschieht das, dann sollten der sogenannte naturphilosophische Beweis und der Anamnesisbeweis als ein Beweis gelten, da sie ja nur zusammen die Doppelaufgabe in Angriff nehmen. Im Phaidon l gen also drei Unsterblichkeitsbeweise vor. Eine solche Z hlung ist n tzlich zur Orientierung und wird im folgenden angewendet. Nur darf dar ber nicht vergessen werden, da es sich in Wahrheit um einen einzigen Beweis handelt, denn erst am Ende des ,dritten' Beweises erreicht der Gedankengang wirklich sein Ziel. E r s t e r B e w e i s , a) , n a t u r p h i l o s o p h i s c h e r ' Bew e i s (70c—72e). Der Beweisgang kommt von einer alten Rede, einer alten Kunde (παλαιός λόγος — 70c5 f.) her in Gang. Was das bedeutet, wird im folgenden Kapitel er rtert werden. Eine alte Kunde sagt: Die Seelen der Menschen gelangen nach dem Tod in die Unterwelt; von dort kehren sie wieder hierhin zur ck, sie werden geboren aus den Toten. — Wenn das so w re, dann k me unseren Seelen in der Unterwelt ein Sein zu. Nur wenn unsere Seelen dort s i n d , k nnen sie wiedergeboren werden. Von hier aus empf ngt das Beweisen seine Anweisung. Es m te bewiesen werden, da es ein Wiederaufleben gibt. Auf dem Her-
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Vorgang der Lebenden aus den Toten liegt in diesem Beweis alles Gewicht, auf einem Werden also, auf einem Entstehen von etwas aus seinem Gegensatz. Der Blick wird vom Menschen auf alles Lebendige gelenkt und weiter auf alles, was berhaupt entsteht. Alles Entstehende entsteht aus seinem Gegensatz (z. B. das Sch ne aus dem H lichen, das Gro e aus dem Kleinen). Zwischen den Gegensatzpaaren gibt es jeweils zwei verschiedene Entstehungen (δύο γενέσεις — 71al3), so zwischen dem Gr eren und Kleineren Abnahme und Wachstum, zwischen Wachen und Schlafen Einschlafen und Aufwachen. So mu es auch zwischen dem Lebenden und dem Toten sich verhalten: Die Bewegung aus dem Leben in das Totsein ist das Sterben; die Bewegung aus dem Totsein ins Leben ist das Wiederaufleben. Es gibt also Wiederaufleben, und unsere Seelen s i n d in der Unterwelt. Jedoch: Vielleicht sind Leben und Totsein Gegens tze, zwischen denen gar kein Werden stattfindet, und man h tte also zu vorschnell geschlossen? Diesem m glichen Einwand wird begegnet durch den Hinweis auf den sinnlichen Anblick des Sterbens. Das Sterben ist ein bergang von Leben in Totsein; diesen bergang nehmen wir an anderen Menschen und an Tieren wahr. Das Sterben ist deutlich, sicher (σαφές — 71 e5). Also sind Leben und Totsein Gegens tze, zwischen denen sich Werden vollzieht. Der Weg ist frei f r die Annahme eines dem Sterben entgegengesetzten Werdens. Dieses wird nun aufgrund eines weiteren Arguments „notwendig" einger umt (siehe 71e9 f.: ή ανάγκη άποδοΰναι τφ άποονησκειν εναντίον τινά γένεσιν;). G be es n mlich kein Wiederaufleben als die dem Sterben entgegengesetzte Bewegung, dann w re die Natur lahm (χωλή); wer wollte das aber behaupten?! Indessen wird dieses Argument doch noch einmal ausf hrlicher bedacht: Leben und Totsein k nnten n mlich schlechthin unvergleichliche Gegens tze sein. Bei allen anderen Gegens tzen, zwischen denen sich ein Werden vollzieht, handelt es sich auf beiden Seiten um ein Sein (etwas geht ber aus dem Gro -sein ins Klein-sein). Beim Gegensatz Leben Totsein k nnte das aber anders sein. Vielleicht ist das Tot,seinc ein Nichtsein. Dann g be es zwischen Leben und Tot,sein* nur das eine Werden, das Sterben. Die Bewegung zwischen diesen Gegens tzen verliefe in gerader Richtung; sie w re keine Kreisbewegung. — Die Konsequenz eines nur in einer Richtung sich vollziehenden Werdens zwischen Gegens tzen w re: Schlie lich ist alles in demselben Zustand, und das Werden zwischen den Gegens tzen h rt auf. G be es zwischen Wachen und Schlafen nur das Einschlafen und nicht auch das vom Schlafen zum Wachen zu-
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r cklaufende Werden, das Aufwachen, dann schliefe schlie lich alles; das Werden zwischen diesen Gegens tzen w re zum Stillstand gekommen. Entsprechendes w re f r Leben und Totsein anzunehmen: Wenn alles Lebendige ins Totsein bergeht, ein Werden des Lebenden aus dem Toten aber nicht stattf nde, dann w re schlie lich alles tot2. Das weitere brauchen die Gespr chsteilnehmer nicht mehr auszusprechen. Es ist f r sie allzu selbstverst ndlich. Die berlegung hat eine Natur (φύσις) vor Augen gestellt, die unweigerlich auf ihren ewigen Tod zugeht. Eine solche Natur m te als v o r h e r r s c h e n d e n Anblick den des Schwindens und Erlahmens zeigen. Sterben, nicht Hervorgang ins Erscheinen w re der Grundzug der Natur. Das erscheint als ausgeschlossen. So gilt das Wiederaufleben als erwiesen, und damit das Sein der Seele nach dem Tod. Der ,naturphilosophische' Beweis kann indessen auf keine Weise sicherstellen, da die Seele nach dem Tod als denkende existiert. Diese Aufgabe mu ein anderer Beweis bernehmen. b) A n a m n e s i s b e w e i s (72e—77a). Der ,naturphilosophische' Beweis fa te das Werden zwischen den Gegens tzen Leben - Totsein in den Blick und mu te den Akzent legen auf das vom Totsein ins Leben gerichtete Werden. Werden die Lebenden aus den Toten, dann s i n d die Toten, dann s i n d die Seelen vor ihrem Eintritt ins Leben. Hier kn pft Kebes an. Er erinnert an Sokrates* Gedanken, Lernen sei Wiedererinnerung, und zwar an solches, das wir in einer fr heren Zeit (vor diesem Leben) gelernt haben, so da unsere Seelen also schon gewesen sein m ssen, ehe sie in die menschliche Gestalt eingetreten sind. Der Gedanke erscheint hier als weiteres Argument f r die Unsterblichkeit der Seele; als solches setzt er aber (wie sich zeigen wird) den vorangegangenen Beweis voraus. Es geht im Anamnesisbeweis nicht um ein zus tzliches Argument f r die Unsterblichkeit der Seele, sondern eben um die volle Erf llung der Doppelaufgabe, die der ,naturphilosophische' Beweis allein nicht zu leisten vermochte. Simmias fordert Beweise (αποδείξεις — 73a5) f r den vorgetragenen Gedanken. Kebes verweist auf die M eutik (im Sinne des im Menon, 81c ff., vorgef hrten Verfahrens). Es folgt die eigentliche berlegung, in 2
M te das angenommen werden, so entst nde eine Schwierigkeit: Ohne Zweifel entsteht Lebendes. Aus dem Totsein nach dem Sterben entsteht es aber nicht. Also mu es a n d e r e s geben, woraus das Lebende entsteht (siehe 72dl f.: εί γαρ εκ μεν των δλλων τα ζώντα γίγνοιτο). Dies andere, das die Natur mit ausmachen und in ihr mit erscheinen m te, w re wie ein begrenzter Vorrat, aus dem st ndig gesch pft, der aber nie aufgef llt wird.
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der der Beweis zunächst vorbereitet wird durch eine Begriffserläuterung und eine kleine ,Phänomenologie' der Wiedererinnerung. Wiedererinnerung ist Wiedererinnerung an vorher Gewußtes. (Dabei kann es sich bei dem Erinnerten um solches handeln, an das ich nur gerade nicht denke, oder — und das in erster Linie ( ) — um solches, das ich vergessen habe, weil ich ihm lange nicht mehr begegnet bin — 73e.) Etwas erinnert an etwas anderes. Die Beispiele, die gegeben werden, lassen drei Typen für das ,etwas erinnert an etwas anderes* erkennen: Dieses vollzieht sich zwischen Unähnlichem derselben Seinsart (Leier — Mensch; Simmias — Kebes) oder Unähnlichem verschiedener Seinsart (gemalte Leier — Mensch; gemalter Simmias — Kebes) oder Ähnlichem verschiedener Seinsart (gemalter Simmias — Simmias selbst). Wenn Ähnliches aneinander erinnert, dann macht der, der sich erinnern läßt, notwendig die Erfahrung, daß er das Erinnernde und das Erinnerte miteinander vergleicht in Hinsicht auf ihre Ähnlichkeit, also feststellt, ob das eine hinter dem anderen zurückbleibt oder nicht. Die Durchführung des Beweises kann beginnen. Vorausgesetzt wird3: Das Gleiche selbst ( ) ist etwas und nicht nichts. (Vorausge4 setzt wird das Sein der Ideen .) Wir erkennen das Gleiche selbst in seinem Wassein (74b2). Das Gleiche selbst ist, und wir erkennen es. W i e erkennen wir das Gleiche selbst? Wir erkennen es von dem einzelnen Gleichen her, das wir wahrnehmen. Das ist festzuhalten. Die einzelnen gleichen Steine oder Hölzer sind verschieden vom Gleichen selbst. Gleiche Hölzer z. B. erscheinen, wiewohl sie dieselben bleiben, auch als ungleich; als gleich zeigen sie sich etwa in ihrer Größe, während sie ungleich sind in der Farbe. Das Gleiche selbst aber erscheint nie als ungleich, die Gleichheit nie als Ungleichheit. Die Verschiedenheit des einzelnen Gleichen vom Gleichen selbst bestimmt sich näher als ein Zurückbleiben hinter diesem. Dem Gleichen selbst gegenüber mangelt es dem einzelnen Gleichen an Gleichheit. Daß das einzelne Gleiche hinsichtlich seiner Gleichheit hinter dem Gleichen selbst zurückbleibt, bemerken wir. Das können wir aber nur bemerken, weil wir das Gleiche selbst schon kennen. Die Überlegung scheint auf ein Paradox zuzugehen. Einerseits wird die Erkenntnis des Gleichen selbst erst gewonnen von dem einzelnen Gleichen her, das wir 3
Zur Hypothesis vgl. S. 85. Platon hält mit dem Wort dem schon gebraucht werden. 4
lange zurück. Die Bezeichnung ,Idee' darf trotz-
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wahrnehmen. Andererseits m ssen wir das Gleiche selbst schon kennen, wenn wir bemerken, da das wahrgenommene einzelne Gleiche hinter dem Gleichen selbst zur ckbleibt. Indessen entginge man dem Paradox, wenn man annehmen k nnte, da wir zun chst von der Wahrnehmung gleicher Dinge her die Erkenntnis des Gleichen selbst erlangen und dann irgendwann einmal bei einem neuerlichen Wahrnehmen gleicher Dinge ihr Zur ckbleiben hinter dem Gleichen selbst erfassen. Um diese M glichkeit auszuschlie en, legt Platon nachdr cklich dar, da die wahrgenommenen gleichen Dinge selbst und jederzeit ihr Zur ckbleiben hinter dem Gleichen selbst bekunden. Sie wollen sein wie das Gleiche selbst und pr sentieren sich in diesem Streben5. So liegt im einzelnen Gleichen die V e r w e i s u n g auf das Gleiche selbst, und zwar immer schon. Die Verweisung ist prinzipiell schon bei der ersten Wahrnehmung gleicher Dinge verstehbar. Daher bleibt es dabei: Schon vor der ersten Wahrnehmung gleicher Dinge kennen wir das Gleiche selbst (kennen im Sinne der Erkenntnis — 75b5), und dennoch erkennen wir es von den wahrgenommenen gleichen Dingen her! L sung des R tsels und Kernpunkt des Beweises: Hier liegt Wiedererinnerung vor des Typs, da etwas (einzelnes, wahrgenommenes Gleiches) an ein ihm hnliches verschiedener Seinsart (das Gleiche selbst) erinnert, das vergessen war. Nun ist zu folgern: Da wir von der Geburt an wahrnehmen, m ssen wir vor der Geburt die Erkenntnis des Gleichen selbst erlangt, sie bei der Geburt aber vergessen haben. Unsere Seele mu also vor der Geburt schon existiert haben. Und sie mu vor der Geburt als denkende existiert haben. Ihr vorgeburtliches Denken war ein umfassendes Denken — das Gleiche diente ja nur als Beispiel; alle Ideen, zu deren Wissen die Seele im Leben jemals gelangen kann, hat sie vor ihrer Geburt schon einmal erkannt (75dl f.). Dieser Beweis der Pr existenz der denkenden Seele gilt freilich nur, wenn wir i m L e b e n nicht immer schon und jederzeit Wissende sind, sondern durch Lernen zum Wissen gelangen. Deshalb wird hier ber nach dem Beweis nochmals Einverst ndnis hergestellt. Verf gte der Mensch im Leben immer schon und jederzeit ber die Ideen als einen gesicherten Be5
βοΰλεται μεν τοΰτο δ νυν εγώ ορώ είναι οίον αλλο τι των όντων — 74d9 f.; δτι ορέγεται μεν πάντα ταΰτα είναι οίον το Ισον — 75al f.; δτι πάντα τα εν ταΐς αίσθήσεσιν εκείνου τε ορέγεται του δ εστίν ίσον — 75all—b2. Die wahrnehmbaren Dinge erscheinen als eroshaft: Das einzelne Gleiche strebt zu sein wie das Gleiche selbst und h lt sich dadurch in der Mitte zwischen diesem und dem schlechthin Ungleichen.
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sitz, so würde er durch die Wahrnehmung nicht an V e r g e s s e n e s erinnert (sondern nur an solches, an das er jetzt gerade nicht dachte). Es wäre nicht mehr einsehbar zu machen, daß die Seele auch vor der Geburt schon existierte. Simmias versucht noch einen Einwand: Vielleicht gelangten wir ja zu jener früheren Erkenntnis bei der Geburt. Indessen bliebe dann keine Zeit übrig, in der das Vergessen sich hätte vollziehen können; vergessen haben wir aber das einstmals Gewußte. Die Geburt als Eintreten der Seele in das Leben (in die Gemeinschaft mit dem Leib) ist für die Seele der Übergang aus Wissen in Nichtwissen. Die Seele macht beim Geborenwerden des Menschen den Vorgang des Vergessene durch. Der geborene Mensch hat das zuvor Erkannte vergessen; er ist ein Nichtwissender. Zum Wissen gelangt er durch Lernen; Lernen ist der dem Vergessen entgegengesetzte Übergang: Übergang aus Nichtwissen in Wissen. Lernend erinnert sich der Mensch an das zuvor Gewußte. Die Wiedererinnerung verdankt er der Verweisung, die in den sinnlich wahrnehmbaren Dingen liegt — als deren Streben und Zurückbleiben im erörterten Sinn. — Dem Rechenschaft-geben war die Doppelaufgabe gestellt zu erweisen, daß die Seele nach dem Tod noch ist und noch zu denken vermag. Der ,naturphilosophische' Beweis hat erbracht, daß die Seele nach dem Tod weiterexistiert. Jedoch ist er weit davon entfernt, zeigen zu können, daß die Seele dann noch denken kann. Der Anamnesisbeweis hat erbracht, daß die Seele vor ihrem Eintritt in dieses Leben als denkende existierte. Indessen kann er das Dasein der Seele nach dem Tod nicht beweisen. Beide Beweise zusammengenommen erfüllen erst die Doppelaufgabe. Die Kreisbewegung, die der ,naturphilosophische' Beweis aufzeigt, stellt sicher, daß die Seele vor ihrem Eintritt ins Leben und nach dem Tod in derselben Seinsverfassung existiert. Der Anamnesisbeweis, indem er die Präexistenz der Seele als denkender beweist, bringt bei, daß die eine und selbe Seinsverfassung der Seele vor dem Eintritt ins Leben und nach dem Tod die ist, als denkende zu existieren. — So stellt sich das Ergebnis des Doppelbeweises dar, solange man von dem Einwand absieht, der gegen ihn vorgebracht wird. E i n w a n d gegen den ersten Beweis, a) das Argum e n t (77a—c). Sokrates' Mitunterredner halten die Präexistenz der Seele als denkender für erwiesen, nicht jedoch das Dasein der Seele nach dem Tod. Der Einwand wiederholt, was Kebes vor dem Beginn des Beweisgangs (69e6 ff.) gesagt hatte. Es gibt die Meinung der Vielen (
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— 77b3 f.), daß die Seele beim Tod des Menschen sich auflöst und daß der Tod auch für sie das Ende des Seins ist. Zu diesem Einwand gehört als Aussage Platons hinzu, wann und wie er vorgebracht wird. Er wird vorgebracht am Ende des Anamnesisbeweises und ehe dieser mit dem vorangegangenen ,naturphilosophischen' Beweis ausdrücklich zusammengenommen worden ist. Und er wird so vorgebracht, als hätte es den ,naturphilosophischen' Beweis überhaupt nicht gegeben. Der ,naturphilosophische' Beweis, der ja gerade jenes Argument der Vielen widerlegen sollte, ist von Simmias und Kebes über dem Anamnesisbeweis vergessen worden! Er steht nicht mehr im Blick, als stünde er schon gar nicht mehr zur Diskussion. Erst als Sokrates, dem Einwand begegnend, auf den ,naturphilosophischen' Beweis zurückverweist und dann doch noch bereit ist, den Einwand entschiedener zu widerlegen (77c—e), wird dieser eigentlich zum Einwand gegen den ,iiaturphilosophischen' Beweis und damit gegen das bisherige Beweisganze, b) B e r e c h t i g u n g des E i n w a n d s . Der ,naturphilosophische' Beweis konnte über dem Anamnesisbeweis vergessen werden. Darin liegt ein Hinweis: Der Anamnesisbeweis hat die Untersuchung auf eine Ebene gehoben, die hoch über derjenigen des ,naturphilosophischen' Beweises liegt. Der ,naturphilosophische' Beweis hatte die Seele in den Kreislauf des " W e r d e n s zwischen Leben und Totsein versetzt, als ein Werdendes unter allem übrigen Werdenden, das zwischen Gegensätzen sich bewegt. Der Anamnesisbeweis bindet die Seele an das S e i n der Ideen, die von keinem Werden betroffen sind, vielmehr in diesem Beweis schon sich zeigen als das von der Seele sowohl während ihrer Präexistenz als auch in diesem Leben zu erfassende S e l b i g e 9 . Die Bindung der Seele an das Sein der Ideen stellt Platon am Ende des Anamnesisbeweises eigens noch einmal und mit großer Nachdrücklichkeit vor Augen (76e2 ff.). Es ist die gleiche Notwendigkeit ( ), daß die Ideen sind und daß unsere Seele vor unserer Geburt schon war. ,Naturphilosophischer* Beweis und Anamnesisbeweis, die zusammen die Doppelaufgabe lösen sollen, sind von ihrer Beweisebene her einander unangemessen. Deshalb konnten Simmias und Kebes den einen Beweis über dem anderen vergessen. — Das auf die höhere Ebene gehobene Denken muß dem entscheidenden Argument des ,naturphilosophischen' Beweises ein Gegenargument entgegenhalten. Für den Gedanken der Kreisbewegung zwischen Leben und Totsein nahm der ,naturphilosophische' Beweis in Anspruch, daß die Natur als vorherr• Diese Bindung besagt nicht, daß Seele und Ideen gleidi sind — vgl. S. 62.
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sehenden Anblick den des Hervorgangs ins Erscheinen, des Aufgangs und nicht des Niedergangs, zeigt. Daß dies der vorherrschende Anblick der Natur ist, genügt auf der Beweisebene dieses, aufs Werden gerichteten und an sinnliche Anblicke sich haltenden Beweises als Argument. Es genügt nicht mehr, wenn das Denken dem Werden im Ganzen ein beständiges Sein entgegengesetzt hat. Jetzt wird dem als vorherrschend genommenen Anblick der Natur ein anderer Anblick, den die Natur auch zeigt, argumentierend entgegengesetzt, der Anblick des Sichauflösens. Dem Denken, das nach dem Anamnesisbeweis dem Werden freier gegenübertritt als zuvor, meldet sich der Zweifel, ob der Hervorgang ins Erscheinen mit Recht als der vorherrschende Anblick der Natur in Anspruch genommen wurde. Dahinter steht das noch entschiedenere Bedenken, ob die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele überhaupt im Rückgriff auf sinnliche Anblicke entschieden werden kann. Der einzige, der diese Zusammenhänge wirklich durchschaut, ist Sokrates selbst. Simmias und Kebes bringen ihren Einwand noch als jene Ansicht der Vielen vor und bekunden damit, daß sie, wiewohl ihnen der Anamnesisbeweis als Beweis der Präexistenz einleuchtet, auf der neuen Ebene noch nicht Fuß gefaßt haben. Ergebnis des ersten Beweises nach dem Einw a n d . Als gesichert darf nach dem Einwand nur die Präexistenz der Seele als denkender gelten. An dieser Präexistenz als solcher liegt aber gar nichts. Sie ist Vergangenheit, während es gerade um die Zukunft der Seele nach dem Tod geht. Der eigentliche Ertrag des bisherigen Beweisgangs ist daher auch in anderem zu erblicken: in der erwähnten Bindung der Seele an das Sein der Ideen. In ihr liegt die Anweisung und die Ermöglichung, das Problem der Unsterblichkeit der Seele im Blick auf die Ideen anzugehen. Dieser Anweisung folgt der weitere Beweisgang. Z w e i t e r B e w e i s (78b—81a). Der erste Beweis hat in der Zweiheit von ,naturphilosophischem' und Anamnesisbeweis zweierlei Seiendes vor Augen geführt. Neben dem Werdenden stehen die Wesenheiten ( ). Bezüglich der Wesenheiten, der Ideen, ist bisher gesagt worden: Sie zeigen sich nicht zugleich so und anders (im Gegensatz etwa zu zwei gleichen Hölzern, deren Gleichheit sich auf ihre Größe beschränkt und deren Farben ungleich sind). Und sie währen als selbige (die Seele erinnert sich im Leben an dasselbe, das sie in ihrer Präexistenz schon einmal erkannte; während die Seele die Bewegung des Vergessene und Wiedererinnerns durchmacht, bleibt das Gleiche selbst, das Schöne selbst und jegliches dieser Art sich selbst gleich, so daß die Seele auf es zurück-
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kommen kann). Der zweite Beweis stellt sich die Aufgabe, die Verschiedenheit des Werdenden und der Wesenheiten in deutlicher Entgegensetzung herauszuarbeiten und dann die Seele einer dieser beiden Arten des Seienden zuzuordnen. Auf diesem Weg soll sich erweisen, da die Seele sich nicht aufl sen kann. Damit w re der Einwand entkr ftet. Vorn Ziel her ergibt sich die Ausgangsfrage: Was kann sich berhaupt aufl sen, und was nicht? Nur Zusammengesetztes kann sich aufl sen, Unzusammengesetztes ist unaufl slich. Denn: Aufl sung bedeutet Zerfall in Teile. Ein aus Teilen Zusammengesetztes kann in diese zerfallen. Das Unzusammengesetzte hat keine Teile, in die es zerfallen k nnte; es ist einfach. — Gibt es aber Unzusammengesetztes? Unzusammengesetztes m te sich immer auf die gleiche Weise verhalten, denn in ihm ist ja keine Vielheit, ohne die Ver nderung nicht stattfinden kann. Das Kriterium f r das Unzusammengesetztsein ist Unver nderlichkeit. Unver nderliches hat sich aber schon gezeigt: Jene Wesenheit selbst (αυτή ή ουσία — 78dl), von der fr her schon die Rede war (das Gleiche selbst, Sch ne selbst7 usw.), ist unver nderlich. Die Wesenheiten verhalten sich immer gleich und nehmen niemals und auf keine Weise eine Ver nderung an. Unzusammengesetztes und damit Unaufl sliches ist also gefunden. — Der Seinsart des Unver nderlichen steht die des Ver nderlichen gegenber. Das vielerlei einzelne Sch ne tritt bald wieder aus dem Anblick heraus, den es jetzt noch zeigt (der sch ne Mensch ist eines Tages nicht mehr sch n). Es ist weder mit sich selbst gleich noch mit anderem Sch nem. Das vielerlei einzelne verh lt sich anders und immer anders. — Das Ver nderliche ist sichtbar (in dem weiten Sinne von wahrnehmbar berhaupt); das Unver nderliche ist unsichtbar, es kann nur durch das Denken erfa t werden. Dieser Unterschied von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit erm glicht die geforderte Zuordnung der Seele zu einer der beiden Arten des Seienden. Deshalb tritt er in den Vordergrund. Es gibt zwei Arten des Seienden (δυο είδη των όντων — 79a6): das Sichtbare und das Unsichtbare. Beim Menschen unterscheiden wir Leib und Seele. Der Leib ist dem Sichtbaren hnlicher (όμοιότερον) und verwandter (συγγενέστερον) als dem Unsichtbaren. Die Seele ist unsichtbar. Unsichtbar bedeutet hier wie zuvor festgelegt: nicht wahrnehmbar, den Sinnen verschlossen. Die Seele zeigt sich unseren Sinnen nicht. Aber so7
Platon stellt hier (78d3) das Gleiche selbst und das Sch ne selbst als gleichwertige Beispiele nebeneinander; das Sch ne selbst kann dabei nicht das G ttlich-Sch ne des Symposion sein, das ebenfalls αυτό το καλόν genannt wurde (Symposion 211d2). Anders gesprochen: Die Trennung des G ttlichen von den Ideen k ndigt sich an.
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wenig der Leib schlechthin dem Sichtbaren ähnlich und verwandt genannt wurde, sowenig wird von der Seele einfachhin behauptet, sie sei dem Unsichtbaren ähnlich8. Sie ist dem Unsichtbaren ähnlicher als der Leib (79bl6). Sie ist dem sich immer auf dieselbe Weise Verhaltenden ähnlicher als dem Veränderlichen (79e3—5). In diesen vorsichtigen Komparativen ist der Ansatzpunkt für den späteren Einwand des Kebes enthalten. Der Leib — als b e s e e l t e r Körper, als l e b e n d i g e s Ganzes — wäre unterbestimmt, wenn er ohne Einschränkung der Seinsart des Sichtbaren, aus Teilen Zusammengesetzten und Auflöslichen, zugerechnet würde; erst der Leichnam ist ganz von dieser Art. Und die Seele des lebenden Menschen, in ihrer Verflochtenheit mit dem Leib, wäre überbestimmt, wenn sie ohne Einschränkung als dem Unsichtbaren ähnlich und verwandt gesetzt würde. Die Seele bietet, solange der Mensch lebt, nie nur einen einzigen Anblick, wie das sich selbst gleiche Unsichtbare. Richtet sie sich vermittels der Wahrnehmungen, und d. h. mit Hilfe des Leibes, auf das Seiende, dann wird sie vom Leib zu dem Veränderlichen hingezogen und schwankt und wird verwirrt. Wenn sie aber selbst für sich das Seiende betrachtet, zeigt sie einen anderen Anblick: Sie erscheint als verwandt dem Reinen, Immerseienden, Unsterblichen und sich immer auf dieselbe Weise Verhaltenden (79dl—3). Die Seele erscheint in entgegengesetzten Anblicken (und das, wenn auch mehr oder minder, so doch notwendig, solange sie mit dem Leib zusammen ist). Die Frage kann also nur sein, welcher der beiden Anblicke ihr wesenhaft zugehört. Und das ist der Anblick, den sie zeigt, wenn sie für sich, im Denken allein, das Seiende betrachtet. Diese Überlegung reicht aus, um die Behauptung zu tragen, die Seele sei dem Unsichtbaren ähnlicher als dem Sichtbaren, und sie sei dem Unsichtbaren ähnlicher, als der Leib es ist. Mehr kann nicht behauptet werden. Indessen genügt Sokrates das. Nach einem Ausblick auf die Ähnlichkeit der Seele mit dem Göttlichen zieht er den Schluß: Dem Leib kommt zu, nach dem Tod bald aufgelöst zu werden, der Seele dagegen, gänzlich unauflöslich oder doch etwas diesem Nahekommendes ( — SOblO) zusein. Sokrates glaubt, die Rechtfertigung für seine Hoffnung gegeben zu haben. Doch kann das Ergebnis nur dem Hoffenden selbst als befriedi8
Daß die Seele dem Unsichtbaren g l e i c h sein könnte, kommt keinen Augenblick in Betracht. Das S o n n e n g l e i c h n i s wird deutlich zeigen: Seele und Idee sind verschieden als Sitz der Vernunft einerseits und als das der Vernunft Vernehmbare andererseits.
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gend erscheinen. Sokrates geht ber das — vom Redienschaft-geben her gesehen — Unbefriedigende des Resultats mit zwei Schritten hinweg. Der erste Schritt besteht in der Durchf hrung des Vergleichs von Leib und Seele unter der Hinsicht von Aufl slichkeit. Wenn der Tod Seele und Leib getrennt hat, l st sich der Leib nicht sofort auf. Vielmehr besteht er als Leichnam noch eine geraume Zeit fort, im g nstigen Fall sogar noch lange. Ja, als Mumie h lt er sich fast undenkliche Zeit. Und wenn selbst der Leib als Ganzes zerfallen ist, so bestehen doch einige Teile — Knochen, Sehnen und alles dieser Art — fort und sind sozusagen unsterblich (ως έπος ειπείν αθάνατα εστίν — 80d2). Wie sollte also die Seele nach dem Tod sofort (ευθύς) vergehen und dahin sein, wie die Menge sagt. Die Seele mu unsterblicher sein als der Leib und seine sozusagen unsterblichen Teile. Dieser Schritt, der das Resultat des zweiten Beweises zu st tzen scheint, bereitet in Wahrheit den Einwand des Kebes vor. Da hier der unm gliche Komparativ ,unsterblicher' durch die Argumentation geistert, deutet das Dilemma schon an. Ausdr cklich wird nur die Meinung der Menge zur ckgewiesen, die Seele vergehe s o f o r t nach dem Tod. Der Unterschied zwischen Seele und Leib droht, sich zu verwischen. Das bekundet sich auch darin, da am Ende des Beweises vom Leib noch gesagt wird, er l se sich bald (ταχύ — 80b9) auf, w hrend er jetzt als sehr dauerhaft erscheint; was dort von der Seele gesagt wurde, da sie jedenfalls nahezu unaufl slich ist, wird jetzt vom Leib behauptet, wenn er hinsichtlich einiger seiner Teile sozusagen unsterblich genannt wird. Sokrates vollzieht ohne Z gern den zweiten Schritt: Er bersteigt den Beweis in mythischer* Rede (81 a ff.). Davon ist sp ter noch zu handeln (S. 77 f.). Hier sei nur soviel bemerkt: Dem Rechenschaft-geben ist ja die Doppelaufgabe gestellt zu zeigen, da die Seele nach dem Tod noch ist und noch zu denken vermag. Der zweite Beweis konnte den ersten Teil der Aufgabe nicht zu voller Zufriedenheit l sen. W e n n aber die Seele nach dem Tod als unsterbliche fortexistiert, so ist es — nach der Argumentation dieses Beweises — immerhin wahrscheinlich, da sie dann wird denken k nnen. Schon im Leben geht sie ja, wenn sie f r sich, ohne den Leib, das Seiende betrachtet, zu dem Immerseienden und Unsterblichen und ist auf dessen Seite (vgl. nochmals 79dl—3). Wieviel mehr m te das nach der endg ltigen Trennung von Leib und Seele der Fall sein. Indessen hat jener eben dargestellte erste Schritt des Sokrates ber das Beweisergebnis hinaus (der in Wahrheit ein — im Beweis schon angelegter — R ckschritt ist) die Seele so sehr in die N he zum Leib ge-
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bracht, daß die Denkkraft der Seele nach dem Tod nur noch ,mythisch' erhofft werden kann. Einwand des Simmias gegen den zweiten Bew e i s , a) das A r g u m e n t (85d—86d). Simmias' Einwand ergibt sich aus einer Wesensbestimmung der Seele, in der die Seele gefaßt wird als Mischung und Harmonie der Elemente des Leibes. Die Seele wird hier verstanden als das wohlbemessene Verhältnis dieser Elemente9. Ist sie das, dann wird sie beim Tod des Menschen zuerst aufgelöst, und die Teile des Leibes überdauern sie. Simmias verdeutlicht seinen Einwand durch einen Vergleich. Er vergleicht das Verhältnis von Leib und Seele mit dem Verhältnis einer Leier zur Harmonie ihrer Saiten. Die Harmonie der Saiten ist das wohlabgewogene Zahlen Verhältnis zwischen ihnen, durch das die Leier gut gestimmt ist. Setzt man Leier und Harmonie zu den zwei Arten des Seienden in Bezug, die der zweite Beweis einander gegenüberstellte, so muß man nach Simmias sagen: Die Harmonie ist etwas Unsichtbares und Unkörperliches. Die Leier selbst und ihre Saiten sind körperlich und zusammengesetzt; d. h., sie gehören zur Seinsart des Sichtbaren und Auf löslichen. Gemäß der Argumentation des zweiten Beweises müßte die Harmonie, weil unsichtbar, auch unauflöslich oder doch fast unauflöslich sein, während die Leier und ihre Saiten sich leicht auflösen. Tatsächlich aber ist die Harmonie das Empfindlichste und Auflöslichste. Und daß die Harmonie noch da sein könnte, wenn die Leier zerstört ist und die Saiten zerrissen sind, ist ein unmöglicher Gedanke. Entsprechendes gilt für die Seele, wenn sie die Harmonie der Elemente des Leibes ist. b) Widersinn und Berechtigung des Einwands. Der Einwand des Simmias muß auf zwei Ebenen betrachtet werden. So, wie er von Simmias gemeint ist und vorgebracht wird, ist er widersinnig in sich und widersinnig in bezug auf das gesicherte Ergebnis der Präexistenz der Seele, weshalb Simmias ihn auch, an dies Ergebnis erinnert, sofort zurücknimmt. Auf einer anderen Ebene, der des Sokrates, hat der Einwand ein Recht und wirft er einen Schatten des Zweifels sogar auf den Ertrag des Anamnesisbeweises, weshalb Sokrates den Einwand widerlegt, obwohl Simmias ihn schon zurückzog. * Es wäre falsch, diese von Simmias vorgetragene Auffassung in Platons Spätphilosophie (im Philebos etwa) als diejenige Platons wiederfinden zu wollen. Simmias' Einwand blickt nicht auf eine Gattungsverschiedenheit von Leib, Seele und aus beidem Gemischtem und schon gar nicht auf die Vernunft als vierte Gattung.
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Auf der Ebene des Simmias ist der Einwand widersinnig in sich. Die Seele kann gar nicht in Simmias' Sinn Harmonie sein, nämlich das rechte Mischungsverhältnis der Elemente des Leibes. Das zeigt Simmias selbst, ohne es zu merken, schon als er sein Argument vorträgt. Er sagt nämlich, daß, wenn unser Leib übermäßig erschlafft oder von Krankheit oder anderen Übeln angestrengt wird, die Seele notwendigerweise sofort untergeht (86c3—5). Mit anderen Worten: Jede Krankheit (als Mißverhältnis der Elemente des Leibes) ist schon der Untergang der Seele. Tatsächlich übersteht die Seele aber viele Krankheiten des Leibes, und die Annahme wäre absurd, ein Kranker sei während der Krankheit unbeseelt und der Genesene habe nach der Krankheit eine andere Seele als zuvor. Die Bestimmung der Seele als Harmonie der Elemente des Körpers widerspricht aber auch dem Gedanken der Präexistenz der Seele. Jede Harmonie ist ein Zusammengesetztes ( — 92a8). Ein Zusammengesetztes kann nicht früher bestehen als das, woraus es zusammengesetzt ist. Wäre die Seele die Harmonie der Elemente des Leibes, dann könnte sie nicht früher sein als der Leib. Eine vorgeburtliche Existenz der Seele wäre also ausgeschlossen. Eins von beiden muß preisgegeben werden, entweder die Präexistenz der Seele oder Simmias' Bestimmung der Seele als einer Harmonie der Elemente des Leibes. Simmias entschließt sich, an der Präexistenz der Seele festzuhalten. Gegen den Anamnesisbeweis kommt seine Bestimmung der Seele nicht an, für die es keinen Beweis gibt, die vielmehr den Charakter einer Meinung der Menge hat. Die Seele kann nicht die Harmonie der Elemente des Leibes sein. Dennoch könnte sie auf irgendeine andere Weise eine Harmonie sein, und dann ergäbe sich nicht nur ein Einwand gegen die Argumentation des zweiten Beweises, sondern sogar eine Gefährdung jenes eigentlichen, vorwärts deutenden Ergebnisses des Anamnesisbeweises, nämlich daß die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele im Blick auf die Ideen zur Entscheidung gebracht werden muß. Jede Harmonie ist ein Zusammengesetztes, wurde gesagt. Deshalb fehlt auch mit Recht unter den Bestimmungen, die Simmias in Anlehnung an den zweiten Beweis der Harmonie der Leier zuteil werden ließ, die Bestimmung ^zusammengesetzt', während an derselben Stelle die Leier und die Saiten zusammengesetzt genannt werden (85e4—86a3). Darin liegt schon ein Hinweis Platons. Die Harmonie ist aber zugleich etwas Unsichtbares (85e5). Es gibt also zusammengesetztes Unsichtbares. Von dieser Art sind alle Zahlverhält-
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nisse. Vom Mathematischen her erwächst dem zweiten Beweis ein Einwand. Es fragt sich: Wurde mit Recht das Seiende in zwei Arten ( ) eingeteilt, und wurde mit Recht die Seele wegen ihrer Unsichtbarkeit als dem Unzusammengesetzten ähnlicher, als den Ideen verwandter behauptet? Zwar ist Unzusammengesetztes unsichtbar, aber nicht alles Unsichtbare ist unzusammengesetzt (einfach), wie sich jetzt zeigt. Deshalb kann eine Verwandtschaft der Seele zu den Ideen nicht so einfachhin von der Unsichtbarkeit der Seele hergeleitet werden, sondern es muß eigens sichergestellt werden, daß die Seele nicht dem zusammengesetzten Unsichtbaren zugeartet ist. D. h., es muß gezeigt werden, daß die Seele auf keine Weise als Seele, in ihrem Sein, Harmonie, also ein Zahlenverhältnis ist. Nur wenn das erwiesen ist, kann auch an der Anweisung festgehalten werden, die als der eigentliche Gewinn des Anamnesisbeweises anzusehen war: die Unsterblichkeit der Seele im Blick auf die Ideen zu erweisen. Wäre die Seele eine Harmonie, dann wäre der ganze bisherige Beweisgang vergeblich gewesen. c ) W i d e r l e g u n g d e s E i n w a n d s (92e—95a). M i t d e r Widerlegung des Einwands ist hier nicht mehr die Aufdeckung des Widersinns gemeint, der in dem Einwand liegt, sofern er auf der Ebene des Simmias durchdacht wird. Es geht jetzt um die Widerlegung des soeben herausgearbeiteten Arguments. Es gilt zu zeigen, daß die Seele auf keine Weise eine Harmonie ist. Dazu werden zwei Hinsichten genommen: die Hinsicht auf die Seele selbst unangesehen ihres Verhältnisses zum Leib und die Hinsicht auf die Seele in ihrem Verhältnis zu dem (angemessener als zuvor aus seinem Wesen gedachten) Leib. Zunächst die Argumentation aus der ersten Hinsicht: Keine Seele ist mehr oder weniger Seele als irgendeine andere, vielmehr ist jede Seele ganz das, was sie ist, eben Seele. Es ist aber gesetzt, das S e i n der Seele sei Harmonie. Dann gilt: Keine Seele ist mehr oder weniger Harmonie als irgendeine andere Seele; jede Seele ist vollkommen Harmonie. — Wer nun aber in Hinsicht auf die Seele selbst und für sich von Harmonie sprechen will, der wird (jedenfalls auch) die Trefflichkeit einer Seele als ihre Harmonie verstehen müssen. Er wird Trefflichkeit ( ) als Harmonie, ihr Gegenteil aber, die Schlechtigkeit ( ), als Disharmonie begreifen. Die schlechte Seele ist häßlich, und Häßlichkeit wird niemand für Harmonie erklären wollen. — Jetzt ergibt sich: Ist die Seele in ihrem Sein Harmonie, ist also jede Seele vollkommen Harmonie (weil jede Seele ganz Seele ist), dann kann es keine Schlechtigkeit geben. Jede Seele ist jederzeit trefflich. Dagegen spricht aber die Erfah-
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rung des Unrechts, das Mensdien von anderen Menschen erleiden (Sokrates im Gefängnis, unschuldig zum Tod verurteilt, macht Unrecht unübersehbar). In Hinsicht auf die Seele selbst zeigt sich: Das Sein der Seele kann nicht Harmonie sein. Nun könnte die Seele vielleicht doch noch Harmonie sein, nämlich in bezug auf den Leib (wenn auch nicht als das maßbestimmte Mischungsverhältnis seiner Elemente). Auch aus dieser Hinsicht muß der Gedanke abgewehrt werden, die Seele sei Harmonie. Dem Leib werden hier die Regungen ( — 94b7, e3—4), die Begierden ( — 94d5) als Grundweisen seiner Lebendigkeit zugeschrieben. Kann die Seele die Harmonie des so verstandenen Leibes sein? Das kann sie nicht sein; das widerspräche ihrem Wesen. Denn: Eine Harmonie kann sich nicht anders verhalten als jenes, woraus sie zusammengesetzt ist. Sie kann nichts anderes tun oder erleiden, als was jenes tut oder erleidet. Sie kann auch das, woraus sie zusammengesetzt ist, nicht führen, sondern muß ihm folgen. Sie ist unfähig, sich entgegengesetzt zu bewegen zu dem, woraus sie besteht, oder diesem auf irgendeine andere Weise entgegenzutreten. Die menschliche Seele begibt sich aber gerade ihres Wesens, wenn sie sich den Regungen und Begierden des Leibes gegenüber so verhält, wie eine Harmonie sich verhalten muß. Sie beherrscht Zorn und Furcht, wenn sie wahrhaft sie selbst ist. Sie kann Nichtessen und Nichttrinken verfügen, wenn der Leib Hunger und Durst anmeldet. Ihr kommt aus ihrem Wesen zu, den Leib mit seinen Regungen und Begierden zu leiten und im Zaum zu halten, nicht aber ihm zu folgen und sich ihm zu unterwerfen. Es ist mit dem Wesen der Seele unvereinbar, das Sein der Seele als Harmonie zu denken. — Die Seele ist auf keine Weise eine Harmonie. Damit fällt das Bedenken, sie könnte, wiewohl unsichtbar, doch zu Unrecht dem Unzusammengesetzten zugeordnet worden sein. Und die Anweisung, die der Anamnesisbeweis für die weitere Untersuchung gab, bleibt in Kraft. — Über das Sein des Mathematischen wird nichts entschieden10. Jedoch wird das Mathematische im Hauptteil des dritten Beweises in den Beispielen ständig mitgeführt, und so wird ausgeschlossen, daß noch einmal aus dieser Richtung dem Bewiesenen ein Einwand entstehen kann. Einwand des Kebes gegen den zweiten Beweis, a) das A r g u m e n t (86e—88b, dazu 95b—e). Im Gegensatz zu 10
Interessant ist hier gleichwohl, was in anderem Zusammenhang Krüger über das Mathematische sagt: „So hat das Mathematische in der Tat eine wesentliche Relativität und eine der Zeitlidikeit des Sinnlichen analoge Hinfälligkeit', die es vom Göttlichen trennt und an die Seite des Sinnlichen stellt" (S. 213).
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Simmias hat Kebes keinerlei Zweifel an der Präexistenz der Seele. Ihre Unsterblichkeit aber scheint ihm nach dem zweiten Beweis sowenig bewiesen wie vorher. Zwar gibt er — als Konsequenz aus der Argumentation des zweiten Beweises —r zu, daß die Seele stärker und dauerhafter ist als der Leib, aber deshalb ist sie nicht schon unsterblich. Auch er verdeutlicht durch ein Bild, was er meint. Ein alter Weber ist gestorben. Er hat während seines Lebens viele Gewänder gewebt, getragen und verbraucht. Es kann kein Zweifel sein, daß er, der Mensch und Urheber der Gewänder, dauerhafter ist als ein Gewand. Dennoch verschlägt es nichts, bei seinem Tod das zuletzt von ihm getragene Gewand vorzuweisen und zu argumentieren, dieses sei ja noch, also müsse auch der Weber noch irgendwo sein. Der Weber hat zwar, dauerhafter als ein Gewand, viele Gewänder überdauert, nichts hindert aber, daß das letzte Gewand ihn überdauert. Entsprechendes läßt sich nach Kebes von der Seele in ihrem Verhältnis zum Leib sagen. Die Seele i s t dauerhafter als der Leib. Wie der Weber viele von ihm gewebte Gewänder überdauert, so überdauert die Seele viele durch sie lebende Leiber. Dabei ist zunächst der Gedanke der Wiedergeburt noch gar nicht im Spiel. Der eine Leib, dem die Seele eines Menschen von der Geburt bis zum Tod einwohnt, ist in Wahrheit gar nicht ein Leib; er ist eine aufeinander folgende Leibmannigfaltigkeit. Der Leib ist im Fluß, ja vergeht, solange der Mensch lebt, die Seele aber webt das Verbrauchte immer wieder von neuem. Die Seele verbraucht viele Leiber, besonders wenn sie viele Jahre lebt. Gleichwohl vergeht sie eher als der letzte Leib; sie löst sich beim Tod schneller auf als dieser. Setzt man aber den Fall, die Seele überdauere den Tod und gehe in einen ganz neuen Leib ein, ja dies vollziehe sich sogar oft, und die Seele mache viele Geburten und Tode durch, dann liegt die Annahme nahe, daß sie sich dabei verbraucht und schließlich vor Erschöpfung vergeht, also von e i n e m Leib als dem letzten überdauert wird. Der Einwand gibt zu bedenken: Die Seele, wiewohl dauerhafter als der Leib, der ihr gerade Dauer und Leben verdankt, verbraucht sich als Ursache der Lebendigkeit. b ) B e r e c h t i g u n g d e s E i n w a n d s . D i e Berechtigung d e s Einwands des Kebes tritt schon während der Darlegung des zweiten Beweises immer deutlicher hervor. Von der Seele konnte nur behauptet werden, sie sei dem Unsichtbaren ähnlicher, als der Leib es ist, und sie sei dem Unsichtbaren ähnlicher als dem Sichtbaren. Die in diesen Komparativen sich ausdrückende Unsicherheit führte schließlich dazu, daß der Unterschied von Leib und Seele sich zu verwischen begann. Kebes zieht
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in seinem Einwand daraus die Konsequenz: Die Seele wird mit dem Leib verglichen, Leib und Seele werden aneinander gemessen. Die Seele erscheint dem Grad nach vom Leib verschieden, und zwar handelt es sich um einen Grad zeitlicher Dauer. Die Verwandtschaft der Seele zum Ewigen verkehrt sich zum Anblick des Durchstehens von Zeit. Und: zwar werden Seele und Leben verknüpft, aber Leben wird nur verstanden als Wiederherstellung des unausgesetzt vergehenden Leibes, und die Seele, die darin aufgeht, Ursache solcher Lebendigkeit zu sein, erscheint als vegetative Seele. Die Denkkraft der Seele steht nicht mehr im Blick. Das stimmt damit zusammen, daß schon der zweite Beweis den zweiten Teil der Doppelaufgabe nicht in Angriff nehmen konnte und die Denkkraft der Seele nach dem Tod derjinythischen' Hoffnung überlassen mußte. c) E r g e b n i s des Beweisgangs nach dem Einw a n d . Das Ergebnis des bisherigen Beweisgangs zeigt sich in drei verschiedenen Aspekten, die eine Stufung erkennen lassen. Da ist zunächst der Aspekt des Atmosphärischen (88c)u: Unter den Anwesenden greift Resignation um sich. Man steht unter dem Eindruck eines Rückschritts. Die hohe Gestimmtheit, die von der Sprache des zweiten Beweises erzeugt worden sein muß12, ist zerstört. Es besteht die Gefahr, daß die Anwesenden zu Redefeinden ( — 89dl) werden, wie andere zu Menschenfeinden. Der zweite Aspekt ist der, den Kebes denkend fixiert: nicht Rückschritt, aber Stillstand. Man ist mit dem zweiten Beweis nicht von der Stelle gekommen (86e5—87al). Der dritte Aspekt wird von Sokrates repräsentiert. Sokrates ist nicht verstimmt, wie die übrigen, sondern weiß diese sogar aufzurichten. Er hat die Zuversicht, auf dem Weg der Begründung zu sein. Für ihn dürfte der Fortschritt deutlich sein, den der zweite Beweis, allem Anschein zum Trotz, erbracht hat. Wenn auch die Unsterblichkeit der Seele nicht gesichert werden konnte und von da aus ein Schatten auf die Argumentation des Beweises fällt, ja diese selbst am Ende zweideutig wird, so ist doch dessen ungeachtet die Verbindung von Seele und Idee gegenüber dem Anamnesisbeweis noch enger geworden. Die Wenn-dann-Beziehung (wenn die Ideen sind, dann ist unsere Seele vor der Geburt als denkende) hat sich zu einer 11
Dabei ist zu beachten, daß die Widerlegung des Einwands des Simmias hier vorweggenommen wurde. Das Atmosphärische ist Wirkung b e i d e r Einwände. 12 Siehe Dirlmeier S. 262 zum zweiten Beweis: „Die im einzelnen nüchternen Sprachelemente ergeben in der Zusammenfügung doch dieselbe hymnische Höhenlage wie auf dem Höhepunkt der Diotima-Rede (symp. 211ab). Manchmal fast Wortmagie ..."; vgl. dort auch Seite 263, ad Kap. XXVIII und XXIX.
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Seinsverwandtsdiaft gesteigert. Nimmt man den ,Beweis' nur als Durchgang und mißt man ihn nicht an dem Ziel, das ihm eigentlich gesetzt war, dann fällt alles von ihm ab, was ihm angelastet werden konnte. Als Durchgang leistet er etwas. Nicht nur die erwähnte engere Verbindung von Seele und Ideen, sondern auch noch etwas anderes: Er vermittelt ontologisch zwischen erstem und drittem Beweis. Der erste Beweis bringt in seiner Zweiheit von ,naturphilosophischem' und Anamnesisbeweis die beiden Arten des Seienden in den Blick: das Werdende und die Ideen. Aber die beiden Arten des Seienden stehen im Grunde quer zueinander, wie ja auch die Beweisebenen der Teilbeweise ganz verschieden sind. Das Werden des ,naturphilosophischen' Beweises ist — zufolge der gesicherten, sich selbst erhaltenden Kreisbewegung zwischen den Gegensätzen Leben und Totsein — eines Bezugs zu andersartigem Seienden unbedürftig. Daß die Seele im ,Totsein' die Ideen erkennt, ist für den Kreisgang der Natur ohne Belang. Es bedarf eines anderen Beweises mit ganz anderer Beweisebene — eben des Anamnesisbeweises —, damit Bleibendes überhaupt in die Sicht kommen kann. Der zweite Beweis dagegen bringt Werdendes und Bleibendes auf e i n e r Gedankenebene zusammen, und zwar, indem er ihre Entgegensetzung denkt. Werdendes und Bleibendes sind einander als zwei Arten des Seienden entgegengesetzt. Darin liegt, daß sie nur zusammen das Ganze dessen, was ist, ausmachen können. Damit ist für den dritten Beweis die Möglichkeit eröffnet, das Bleibende dem Werdenden als Seinsgrund zugrunde zu legen. D r i t t e r B e w e i s (95e—107a). Im Gegensatz zu Simmias* Einwand, der nur dazu führte, bereits Erarbeitetes gegen neuen Zweifel zu sichern, ist der Einwand des Kebes produktiv. Er fordert zu einem weiteren Beweis — bzw. zur Fortführung des Beweisgangs — heraus und zeichnet bereits einige Gedankenlinien vor. Zwar ist Kebes' Einwand immer noch derselbe, den er nach dem ersten Beweis (und zuvor schon einmal gegen Sokrates' vorangegangenen Rechtfertigungsversuch) vorgebracht hat, nämlich daß die Seele sich beim Tod auflöst. Aber diese Möglichkeit des Sichauflösens ist jetzt präziser gefaßt: Die Seele könnte sich als Ursache der Lebendigkeit, des Werdens und Sicherneuerns des Leibes, verbrauchen. Darin liegt die Anweisung, die Ursache des Entstehens und Vergehens überhaupt zu denken, was zu Beginn des dritten Beweises geschieht. Ferner: Im Einwand des Kebes werden Seele und Leben zusammengedacht, so aber, daß die Seele als rein vegetative Seele unterbestimmt ist. Es müßte eine Einheit von Seele und Leben gedacht werden, die die Seele nicht um ihr Wesen bringt, nämlich denkendes Vernehmen
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des wahrhaft Seienden zu sein. Und schlie lich: Die Untersuchung steht vor einem verwandelten Begriff des Todes, von dem her das Beweisziel radikaler gefa t werden mu als zuvor. Der Tod wurde zun chst gedacht als Trennung der Seele vom Leib. Unsterblich ist die Seele bei dieser Auffassung des Todes dann, wenn sie die Trennung vom Leib berdauert. Inzwischen hat sich ergeben: Die Seele k nnte diese Trennung sehr wohl berdauern und das sogar oft — und k nnte dennoch irgendwann zugrunde gehen. Tod bedeutet jetzt: Untergang der Seele (ψυχής όλεθρος — 91d6 f.). Demgem ist von einem Unsterblichkeitsbeweis nun gefordert zu zeigen, „da die Seele ganz und gar unsterblich und unverg nglich ist" (δτι εστί ψυχή παντάπασιν άθάνατόν τε και άνώλεθρον — 88b5 f.). Im Hintergrund — und im Augenblick f r Kebes selbst nicht deutlich — steht, da die ganz und gar unsterbliche, unverg ngliche (unzerst rbare) Seele nach der Trennung vom Leib als denkende fortbesteht. Unverg nglich sein im Sinne von ganz und gar unsterblich sein schlie t die Unversehrbarkeit der Seele ein (vgl. S. 56 f.). Kann bewiesen werden, da die Seele unverg nglich ist, dann ist die Doppelaufgabe gel st, die dem Beweisgang von Anfang an gestellt ist. — Durch den Einwand des Kebes ist es n tig geworden, die Ursache des Entstehens und Vergehens im allgemeinen zu untersuchen. Diese Untersuchung zielt darauf ab, das Wesen der Ursache (της αιτίας το είδος — 100b3 f.) zu bestimmen, und das hei t zugleich: dasjenige aufzuzeigen, was das Wesen der Ursache erf llt. Platon l t Sokrates von seiner Suche nach den Ursachen berichten. Nach einer Odyssee durch den Bereich der sich anbietenden M glichkeiten kommt Sokrates schlie lich bei den Ideen als den wahren Ursachen an. Die wahren Ursachen des Werdens und Bestehens sollen gedacht werden. Vorausgesetzt wird wieder, da die Ideen sind. Ist das zugestanden, dann kann gesagt werden: Ein einzelnes Sch nes ist sch n durch Teilhabe am Sch nen selbst. Das Sch ne selbst macht das einzelne Sch ne sch n durch seine Anwesenheit oder Gemeinschaft — das ontologische Verh ltnis wird ausdr cklich nicht weiter thematisiert. Und was vom Sch nen gilt, das gilt auch f r das brige Seiende. Die Ideen erf llen das Wesen der Ursache. Um das noch deutlicher sichtbar zu machen, mu jetzt das Wesen der Ursache genauer gefa t werden. Wenn berhaupt das Seiende der sichtbaren Welt aus Ursachen verst ndlich sein soll, und das hei t zugleich, wenn es berhaupt einen Sinn haben soll, von Ursachen zu sprechen, dann m ssen die Ursachen drei Wesensz ge auf weisen: dieselbe Ursache darf nicht Entgegengesetz-
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tem das Werden oder Bestehen gewähren; entgegengesetzte Ursachen dürfen nicht dasselbe Werden oder Bestehen gewähren; und die Ursache muß selbst das sein, was sie anderem gewährt. Platon macht das deutlich, indem er auf Beispiele zurückgreift, die er zuvor (96d—97b) schon einmal anführte. Zwei Menschen stehen nebeneinander; der eine überragt den anderen um einen Kopf. Das gewöhnliche Meinen erblickt die Ursache dafür, daß der eine größer ist als der andere, in dem Kopf des Größeren. Das, was am Größeren den Kleineren überragt, nimmt es eben deshalb, weil es den Kleineren überragt, als Ursache für das Größersein des Größeren. Darin liegt aber ein zweifacher Widersinn: 1. Ist der Kopf des Größeren die Ursache für das Größersein des Größeren, so ist er zugleich auch die Ursache für das Kleinersein des Kleineren. Dasselbe — der Kopf — ist Ursache für Entgegengesetztes. Durch eine solche jUrsache* wird Seiendes aber nicht verständlich, sondern ganz unverständlich. 2. Der Große ist groß durch etwas Kleines. Die Ursache ist das Entgegengesetzte von dem, was ihr verdankt wird. Auch eine solche Ursache macht nichts begreiflich; sie macht im Gegenteil unbegreiflich, was sie zu erklären vorgibt. — Für das Zweiwerden von etwas gibt es im Horizont des gewöhnlichen Meinens zwei entgegengesetzte Ursachen: Hinzufügung und Spaltung. Kann die Hinzufügung für sich genommen schon nicht den Anspruch erfüllen, Ursache zu sein (vgl. 96e7 ff.), so erst recht nicht, wenn vom gewöhnlichen Meinen auch das Gegenteil, die Spaltung, als Ursache für dasselbe eingeräumt werden muß. Das gewöhnliche Meinen sucht die Ursache für das Zweiwerden einmal darin, daß eins zum anderen hinzugegeben wird, das andere Mal darin, daß dem einen etwas weggenommen wird. Entgegengesetzte Ursachen für dasselbe machen aber nichts begreiflich. Im Wesen der Ursache ist gedacht, daß dieselbe Ursache nicht Entgegengesetztem das Werden oder Bestehen gewährt, ferner daß entgegengesetzte Ursachen nicht dasselbe Werden oder Bestehen gewähren, und schließlich daß die Ursache selbst das ist, was sie anderem gewährt. Diese Wesenszüge der Ursache werden von den Ideen erfüllt. Jede Idee ist dadurch ausgezeichnet, daß sie nur einen einzigen Anblick zeigt. Jede Idee ist eindeutig. Deshalb hat sie nicht die Möglichkeit, Entgegengesetztem das Werden oder Bestehen zu gewähren. Die Idee läßt das einzelne an ihrem Sein teilhaben — sie ist selbst das, was sie anderem gewährt. Und indem sie als Eindeutige das einzelne an ihrem Sein teilhaben läßt, hat sie nicht die Möglichkeit, dasselbe Werden oder Bestehen zu gewähren wie die ihr entgegengesetzte Idee.
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Es scheint mir wichtig, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß Platon, nachdem die Ideen dem Sichtbaren als Ursachen zugrunde gelegt sind, sehr wohl auch andere Ursachen zulassen kann, Ursachen auch aus dem Bereich des Sichtbaren. Innerhalb des Gedankengangs des dritten Beweises wird ein — auch für diesen Beweis selbst — bedeutsamer Schritt vollzogen: Auf die Frage, wodurch jemandem warm ist, gibt es die sichere Antwort: weil seinem Leib Wärme zuteil wird. Aber diese Antwort ist roh ( ) gegenüber der inzwischen möglich gewordenen und ebenso sicheren (als feiner — — bezeichneten) anderen: weil seinem Leib Feuer einwohnt (105b6—c2; vgl. auch die weiteren Beispiele 105c). Das Feuer, mit der Idee der Wärme als seiner Gestalt notwendig beisammen, vermittelt die Teilhabe des Leibes an der Idee der Wärme. Deshalb ist es nicht nur möglich, sondern sogar besser, das Feuer als Ursache des Warmseins zu nennen. Platon ermöglicht mit diesem Schritt eine wissenschaftliche Erforschung der Natur. — Die beiden „Arten des Seienden", das Sichtbare und das Unsichtbare, stehen nun nicht mehr in scharfer Entgegensetzung nur einander gegenüber (wie im zweiten Beweis); das Sichtbare gründet jetzt in seinem Werden und Bestehen im Unsichtbaren. Mit dem Vollzug dieses Gedankens — in dem man den Beginn der abendländischen Metaphysik erblicken darf — ist die Beweisebene des dritten Beweises erreicht. Der Beweis kann durchgeführt werden. Er wird hier in seinen fünf Schritten skizziert. Erst beim vierten Schritt wendet Platon das Erarbeitete auf die Seele an, denn erst dieser Schritt bringt das erstrebte Ergebnis. Doch läßt sich der ganze Weg auf das Beweisthema hin transparent machen; das soll in dieser Skizzierung dadurch geschehen, daß am Ende der ersten drei Gedankenschritte jeweils in Klammern der Bezug zum Beweisthema hergestellt wird. 1. Jede Idee ist etwas, und das übrige hat Anteil an den Ideen und wird nach ihnen benannt. Die Benennung deutet in die Richtung des Urteils. Vom Urteil her kommt die Überlegung in Gang. Simmias ist größer als Sokrates, und er ist kleiner als Phaidon. Über Simmias sind daher zwei Urteile möglich: ,Simmias ist groß' und ,Simmias ist klein'. Beide Urteile sind wahr, und doch sind sie einander entgegengesetzt. Das zwingt vor die Frage nach dem Sinn des ,ist' in diesen Urteilen, und das heißt nach der Art der Teilhabe des Simmias an Größe und Kleinheit. Simmias kann nicht a l s Simmias zugleich groß und klein sein. Wäre Simmias a l s Simmias in den beiden Urteilen als das Worüber der Aussage gesetzt, dann widersprächen die Urteile einander. In jedem der bei-
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den Urteile ist Simmias in einer bestimmten Hinsicht genommen. In Hinsicht auf Sokrates ist Simmias groß; in Hinsicht auf Phaidon ist Simmias klein. Der Sinn des ,ist' ist daher: Es t r i f f t s i c h für Simmias, groß zu sein bzw. klein zu sein; es trifft sich für ihn, teilzuhaben an der Idee der Größe bzw. der Idee der Kleinheit. Jene Urteile drücken ein zufälliges Beisammen von etwas mit etwas aus. (Ist das Beisammen von Seele und Leben ein zufälliges Beisammen, d. h. hat die Seele an der Idee des Lebens nur zufällig teil, dann kann sie untergehen.) 2. Die Ideen bieten immer nur einen Anblick. Die Idee der Größe erscheint niemals im Anblick einer anderen Idee. Die Größe selbst ( — 102d6) nimmt niemals ihr Gegenteil in sich auf. Simmias dagegen zeigt sich sowohl als groß als auch als klein. Nun wird ein Drittes zwischen der Größe selbst einerseits und dem großen Simmias andererseits in den Blick gefaßt: die Größe in uns ( — 102d7). Auf welche Seite gehört sie? Nimmt sie ihr Gegenteil nicht in sich auf, wie die Größe selbst? Oder ist sie bereit, auch klein zu sein, wie der große Simmias? Die Größe in uns verhält sich wie die Größe selbst: Sie nimmt niemals das Kleine auf. Entweder sie flieht und räumt den Platz, wenn das Kleine herannaht, oder sie geht unter, wenn es da ist. Von der Größe in uns kann nicht mehr (wie zuvor von Simmias) gesagt werden, es treffe sich für sie, an der Idee der Größe teilzuhaben. Die Größe in uns i s t die Teilhabe an der Größe selbst (die Anwesenheit der Größe selbst in uns; die Gemeinschaft mit der Größe selbst). Deshalb gilt für sie dasselbe wie für die Größe selbst. Die Teilhabe an der Idee der Größe kann selbst nicht klein sein oder werden. (Es gibt neben der Seele und der Idee des Lebens ein Drittes: das Leben in uns. Wenn der Tod herannaht, flieht und entweicht das Leben in uns; es nimmt den Tod nicht auf. Aber das Entweichen des ,Lebens in uns' könnte gerade der Untergang der Seele sein. — Daß das Leben in uns von der Idee des Lebens unterschieden wird, ist für den Beweis von größter Bedeutung; der Unterschied ermöglicht es, im folgenden die Seele als Ursache zu denken, und zwar die einzelne Seele.) 3. In dem Urteil ,Simmias ist groß* wurde ein zufälliges Beisammen von etwas mit etwas gedacht. Jetzt geht es darum, zu sehen, daß es auch ein notwendiges Beisammen von etwas mit etwas gibt. Das wird an Beispielen gezeigt. Jedes Beisammen ist ein Beisammen von Verschiedenem. Deshalb einigt man sich zunächst darüber, daß das Feuer etwas anderes ist als das Warme, der Schnee etwas anderes als das Kalte. Die Begründung wird nicht ausgesprochen; sie ist klar: Es gibt vielerlei War-
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mes, das nicht Feuer ist, mag es auch dem Feuer die Wärme verdanken; und das Feuer ist anderes als nur warm. Feuer und Wärme sind verschieden; deshalb kann bei ihnen von einem Beisammen gesprochen werden. Entsprechendes gilt für Schnee und Kälte (— und für Seele und Leben; Seele und Leben sind ein Beisammen von Verschiedenem). — Schnee und Kälte sind beisammen. Die Kälte im Schnee nimmt niemals das Warme auf, sondern geht weg oder geht unter, wenn das Warme an sie herantritt. Soviel ist aus dem früheren schon deutlich. Jetzt aber zeigt sich: Auch der Schnee geht weg oder geht unter, wenn das Warme an ihn herantritt. Er geht weg oder geht unter, wenn das Gegenteil dessen herantritt, mit dem er beisammen ist. Niemals wird der Schnee mit der Wärme beisammen sein. Entweder er ist mit der Kälte beisammen, oder er ist überhaupt nicht mehr. D. h., Schnee und Kälte sind notwendig beisammen. Entsprechendes gilt für das Feuer und die Wärme. Der Gedanke wird für die Drei und das Ungerade nochmals vollzogen. Etwas, das selbst keinen Gegensatz hat (Schnee, Feuer, Drei), geht weg oder geht unter, wenn der Gegensatz dessen heranrückt, mit dem es notwendig beisammen ist. (Die Seele hat selbst keinen Gegensatz — auf der Ebene dieses Beweises darf der Leib nicht als Gegensatz der Seele gedacht werden, denn als Gegensätze im strengen Sinn könnten Leib und Seele nie zusammenkommen. Das Leben hat den Tod zum Gegensatz. Wäre die Seele notwendig mit dem Leben beisammen, dann nähme sie den Tod nie an, sowenig das Leben in uns jemals den Tod annimmt.) 4. Es gibt ein zufälliges Beisammen von etwas mit etwas und ein notwendiges Beisammen von etwas mit etwas. Es gilt, das Kriterium für ein notwendiges Beisammen von etwas mit etwas zu finden. Etwas ist notwendig mit etwas beisammen, wenn es allem, an das es herantritt, nicht nur die Teilhabe an der eigenen Idee aufzwingt, sondern auch die Teilhabe an der Idee desjenigen, mit dem es selbst beisammen ist. Die Drei läßt alles, an das sie herantritt, nicht nur an der Dreiheit teilhaben, sondern auch an der Idee des Ungeraden. Was drei wird, wird notwendig auch ungerade. Und so ist denn die Drei mit dem Ungeraden nicht zufällig, sondern notwendig beisammen. — Es wurde behauptet, daß etwas, das selbst keinen Gegensatz hat, weggeht oder untergeht, wenn der Gegensatz dessen heranrückt, mit dem es notwendig beisammen ist. Diese Behauptung kann jetzt noch strenger gedacht werden, und zwar dank des früher erörterten Wesens der Ursache. Dabei vermittelt jener Schritt, von dem oben (S. 53) schon einmal gesprochen wurde. Das Feuer bringt allem, an das es herantritt, die Wärme. Feuer und Wärme
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sind notwendig beisammen. Wird nach der Ursache des Warmseins von etwas gefragt, so kann man die sichere Antwort geben: Die Ursache ist die Wärme. Aber diese Antwort ist roh. Feiner und besser ist es, zu antworten: Die Ursache ist das Feuer. Ursachen sind nicht nur die Ideen selbst, sondern Ursache ist auch alles, das die Teilhabe an einer Idee vermittelt. Zum Wesen der Ursache gehört es aber, selbst das zu sein, was ihr verdankt wird. Das muß auch für die vermittelnden Ursachen gelten. Sie schließen das Gegenteil der Idee von sich aus, an der teilzuhaben sie anderem Seienden vermittelnd gewähren. Das Feuer als Ursache der Wärme kann nie kalt werden. Unter Punkt 3 ließ sich schon sagen: Gesetzt, die Seele ist notwendig mit dem Leben beisammen, dann nimmt sie den Tod niemals auf, sondern weicht ihm aus. Es galt, das Kriterium für das notwendige Beisammen von etwas mit etwas zu suchen. Dieses ist gefunden, und nun kann entschieden werden, ob die Seele mit dem Leben notwendig beisammen ist. Sie ist es, denn sie bringt dem, an das sie herantritt, das Leben. Sie ist die Ursache für das Leben in dem Seienden, dem sie einwohnt. Als diese Ursache schließt sie den Gegensatz zum Leben, den Tod, notwendig von sich aus. Die Seele nimmt den Tod nie an. (Der Beweis trifft den Einwand des Kebes zum zweiten Beweis in seinem Kern; Kebes hatte befürchtet, die Seele könnte sich als Ursache der Lebendigkeit verbrauchen und schließlich untergehen.) 5. Den Tod nie annehmen bedeutet nichts anderes als unsterblich sein. Die Seele ist also unsterblich. — Nun hatte sich durch den Einwand des Kebes gegen den zweiten Beweis die Aufgabe gestellt zu zeigen, daß die Seele g a n z und gar unsterblich und in diesem Sinn unvergänglich (unzerstörbar) ist. Deshalb wird der Beweis jetzt noch fortgesetzt. Unvergänglich ist die Seele, wenn sie niemals verdirbt. Ganz und gar unsterblich sein meint zugleich: unversehrt davongehen, wenn der Tod herankommt. Das „unvergänglich" wird in diesem letzten Beweisabschnitt zweimal durch „unversehrt" ( ) erläutert (106a5 u. 10) und einmal durch „unmöglich verderben" ( — 106b2 f.). Es soll bewiesen werden, daß die als unsterblich erkannte Seele auch unvergänglich ist, also unmöglich verderben kann und beim Herannahen des Todes unversehrt entweicht. Indessen, die vermeintliche Fortsetzung des Beweises, die durch den früheren Einwand des Kebes gefordert zu sein scheint, ist in Wahrheit das deutliche Heraustreten einer Implikation: Auf der Beweisebene des dritten Beweises ist in der Unsterblichkeit schon die Unvergänglichkeit gedacht. Versehrt werden durch den Tod
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hieße, den Tod aufnehmen, und sei es auch noch so langsam. Die Seele als Ursache, die die Teilhabe an der Idee des Lebens vermittelt, weist den Tod schlechthin von sich ab. Dasselbe Argument, das die Unsterblichkeit der Seele erweist, erbringt auch ihre Unvergänglichkeit. Unsterblichkeit und Unvergänglichkeit sind gar nicht mehr zu trennen. — Gleichwohl wird die ,Fortsetzung* des Beweises umständlich durchgeführt (105e—106e). Platon verfolgt damit die Absicht, den Gedankengang über die Unsterblichkeit der Seele vom Charakter der Analogie zu befreien und das Besondere der Seele in aller Deutlichkeit herauszustellen. Vom Feuer, vom Schnee, von der Drei konnte gesagt werden: Sie gehen weg oder gehen unter, wenn das Gegenteil dessen herankommt, mit dem sie notwendig beisammen sind. Dagegen gibt es bei der Seele dieses Entweder-oder in Wahrheit nicht. Ihre Zerstörung wäre gerade die Aufnahme jenes Gegensatzes, den sie, als notwendig beisammen mit dem Leben, niemals aufnehmen kann13. Die Seele ist unsterblich und unvergänglich; der Tod kann sie nicht versehren. Also ist die Seele noch nach dem Tod, und also ist sie dann noch als denkende. Die dem Beweisgang gestellte Doppelaufgabe ist gelöst. D e r M y t h o s (107d—114d) Sokrates leitet zum Mythos über mit folgendem Gedanken (107c—d): Wenn die Seele unsterblich ist und mit dem Tod für sie nicht alles zu Ende ist, dann bedarf sie der Sorge ( ) nicht nur in bezug auf diese Zeit des ,Lebens', sondern darüber hinaus für alle Zeit. Es gibt für sie keine andere Flucht vor Übeln und keine Rettung ( ), als daß sie möglichst gut und vernünftig geworden ist. Denn nichts anderes hat sie (und ist sie), wenn sie in die Unterwelt kommt, als ihre ,Bildung' ( ), als das, womit sie sich ernährt hat ( — vgl. 84a8 ff.). Und das wird ihr nutzen oder schaden, und zwar schon sofort zu Beginn ihrer Wanderung dorthin. — Der Übergang zum Mythos ist vollzogen. Was der Mythos zunächst erzählt, das macht schon mit seinen Kernthemen bekannt: Gericht, Bewegung der Seelen hinein in die Unterwelt und wieder ins Diesseits zurück, Differenziertheit des jenseitigen Bereichs, Stufung der Seelen. Jeder Verstorbene wird von dem Dämon, der sich schon um ihn kümmerte, als er noch lebte, zu einer Gerichtsstätte 19
Die hier erwähnte Absidit Platons ist sdion hervorgehoben bei VolkmannSchluck, S. 261.
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gef hrt. Von hier aus werden die Gerichteten in Gruppen von einem anderen, daf r zust ndigen D mon zum Hades geleitet. Wenn sie dort das ihnen Zugemessene empfangen haben und die angeordnete Zeit ber geblieben sind (eine in jedem Fall sehr lange Zeit), bringt ein anderer F hrer sie wieder hierher. Daraus, da die Seele auf ihrer Wanderung in den Hades des F hrers bedarf, ist zu entnehmen, da es nicht, wie der Telephos des Aischylos sagt, nur einen, einfachen Weg dorthin gibt, sondern da der Weg sich teilt und viele Kreuzungen hat. — Das Verhalten der Seelen gleich nach dem Tod ist unterschiedlich. Jede verh lt sich dem gem , wie sie ist. Die gesittete und vern nftige Seele l t sich willig f hren und begreift die Lage. Die Seele aber, die sich im Leben durch die Begierde engstens an den Leib gebunden hat, flattert noch lange in seiner N he und im Bereich des Sichtbaren umher. Nach langem Widerstreben wird sie schlie lich gewaltsam und mit M he weggef hrt. Sie gelangt zu den anders gearteten Seelen. Diese aber fliehen sie wegen ihrer Unreinheit und ihres begangenen Unrechts, und sie findet weder Reisegef hrten noch einen F hrer. So irrt sie in gr ter Verlegenheit umher, bis schlie lich die Notwendigkeit sie in die ihr geb hrende Wohnung bringt. Die Seele aber, die im Leben rein und ma voll war und die g ttliche F hrer gefunden hat, bewohnt den ihr zukommenden Ort. — Indem von der geb hrenden Wohnung und dem zukommenden Ort gesprochen wird, wird bergeleitet zur Beschreibung der Erde. Es beginnt nun der Wechsel von wissenschaftlicher', geographischer Beschreibung und mythischer Rede. Von der Bedeutung dieser Darstellungsform wird noch zu sprechen sein. Die Erde ist „weder ihrer Beschaffenheit noch ihrer Gr e nach so, wie diejenigen annehmen, die ber sie zu sprechen pflegen" (ούτε οϊα ούτε όση δοξάζεται υπό των περί γης ειωθότων λέγειν — 108c6 f.), und, so darf man hinzuf gen, sie ist nicht so, wie wir annehmen. Die Erde ist rund, und sie befindet sich in der Mitte des Himmels. Sie braucht keinerlei St tze. Sie selbst h lt das Gleichgewicht, und der Himmel, der sie umgibt, ist berall mit sich selbst gleich. Sie ist sehr gro . Und nun das ganz und gar Befremdliche: Wir unterscheiden Land und Meer und glauben, auf dem Land zu wohnen, umgeben von der Luft. In Wahrheit befinden wir uns in einer Vertiefung der wahren Erde14. Wir leben wie auf dem Meeresgrund. Was wir Luft nennen, das f llt eine Vertiefung der wahren Erde aus (und es gibt viele solche Vertiefungen, in denen brigens gleichfalls Menschen woh14
Zur Beschreibung der Erde vgl. Friedl nders Skizzen Bd. I, Tafel II.
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nen). Die wahre Luft ist der Äther, der die Erde umgibt. Zu ihm taudien wir aber nicht empor. Daher sehen wir auch nicht den wahren Himmel, das wahre Licht der Gestirne, die wahre Erde. Unsere Erde hier verhält sich zur wahren Erde, wie der vom Salz zerfressene, zerklüftete und teilweise mit Schlamm bedeckte Meeresgrund zu unserer Erde. Der Unterschied im Seinsrang zwischen wahrer Erde und unserer Erde tritt hier schon deutlich hervor. Man übersehe aber nicht, daß gleichwohl von den Schönheiten bei uns ( ' — 110a7) gesprochen wird. Unsere Erde hier erscheint so als ein Mittleres zwischen der unvergleichlich schönen wahren Erde und dem häßlichen Meeresgrund. Von den Schönheiten der wahren Erde berichtet Sokrates nun im „Mythos" (HObl u. b4). Die wahre Erde erscheint zunächst, wie sie sich einem Beschauer zeigt, der im Äther schwebt, weit genug entfernt von ihr, um sie ganz übersehen zu können: Sie sieht aus wie ein zwölfteiliger Lederball, bunt und von herrlichsten Farben. Solche Farben kommen bei uns (als Farben der Maler) nur in so geringem Ausmaß vor, daß sie gleichsam Proben sind, ja selbst diese Proben bleiben an Glanz und Reinheit hinter den Farben der wahren Erde zurück. Gleichwohl, unsere Erde und die wahre Erde sind e i n e Erde. Die Einheit wurde zuvor schon sichtbar, indem unsere Wohnplätze als die Vertiefungen der wahren Erde erschienen. Und der deutliche Rangunterschied ließ doch Raum für die Feststellung, daß es auch bei uns Schönheiten gibt. Jetzt, für einen Betrachter, der aus dem Äther auf die Erde hinblickt, fügen sich die Vertiefungen in das herrliche farbige Bild. Sie bringen nichts Häßliches in den Anblick der Erde. Die Versöhnung der Bereiche schreitet fort. Nachdem die Erde aus einiger Entfernung betrachtet worden ist, wird nun aus größerer Nähe geschaut. Von ausgezeichneten Pflanzen, Gesteinen, Metallen, Tieren und vor allem von den Menschen wird erzählt, von ihrem sorgenlosen, glücklichen Dasein, ihrem unmittelbaren Umgang mit den Göttern. Noch kein Hinweis allerdings darauf, daß diese Menschen Verstorbene sein könnten, daß ihr ,Tod' die Rückkehr auf unsere Erde hier sein könnte. Der Mythos hält damit noch an sich und geht ganz auf in der Beschreibung des jenseitigen Bezirks der zum Glück Erhobenen. Die Darstellung wendet sich von der Oberfläche der wahren Erde und dem Leben auf ihr dem Erdinneren zu, nun wieder geographisch, ,wissenschaftlich'. Rundumher auf der Erde sind viele Vertiefungen, teils weit teils weniger weit geöffnete, teils tiefere teils weniger tiefe. Die Ver-
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tiefungen sind im Erdinneren miteinander verbunden. Durch diese Durchgänge fließt Wasser, das in die Vertiefungen einströmt wie in Mischkrüge. Die unterirdischen Ströme führen aber nicht nur kaltes und warmes Wasser; es gibt auch Feuerströme und SchlammstrÖme. Zu beachten ist, daß die Ströme im Erdinneren und die Ströme, Meere, Seen, Quellen hier bei uns ein einziges, in ständiger Hin- und Herbewegung verbundenes Stromsystem bilden; auch hier ist eine Einheit der Bereiche hergestellt. Das Stromsystem wird in Bewegung gehalten durch eine Art Schaukel im Erdinneren. Sie ist vorzustellen als ein großer, durch die ganze Erde gebohrter, also bodenloser Schlund, in dem es auf und nieder wogt. Alle Flüsse strömen in diesen Schlund zusammen und fließen wieder aus ihm heraus. Das Wogen in dem Schlund wird von einer Luftbewegung begleitet, die der Ursprung der Winde ist. Der Schlund ist jener Abgrund, den Homer und andere Dichter Tartaros genannt haben. Das ist eine erste Vordeutung darauf, daß die beschriebenen Bezirke Aufenthalte der Seelen nach dem Tod sind. — Es gibt vier Hauptströme: Okeanos, Acheron, Pyriphlegethon und Kokytos. Der Okeanos ist der größte von ihnen; er strömt am weitesten außen in einem Kreis herum. Ihm gegenüber und in entgegengesetzter Richtung fließt der Acheron. Sein Lauf führt durch öde Gegenden. Unter der Erde gelangt er in den Acherusischen See. An diesem See weilen die Seelen der meisten Verstorbenen die ihnen bestimmte, teils längere, teils kürzere Zeit bis zu ihrer Wiedergeburt. Der Pyriphlegethon ergießt sich unweit seiner Quelle in einen weiten, feuererfüllten Raum, wo er einen riesigen See aus siedendem Wasser und Schlamm bildet. Dann fließt er weiter, kommt ganz nahe an den Acherusischen See heran und mündet schließlich weiter unten in den Tartaros. Der Kokytos fließt ebenfalls zunächst in eine wilde Gegend und bildet dort den See Styx. Mit gewaltigen Wassermassen strömt er dann weiter, geht unter die Erde, kommt selbst auch nahe an den Acherusischen See heran und stürzt sich dann, dem Pyriphlegethon gegenüber, in den Tartaros. — Mit der Nennung des Acherusischen Sees beginnt die Skizzierung einer unterirdischen Landschaft, gleichsam einer Erde in der Erde. Darin vollzieht sich der Übergang von Geographie zu neuerlicher mythischer Rede, die sogleich den Mythos in sein Ziel bringen wird. In der unterirdischen Landschaft können Seelen ihren Aufenthalt nehmen. Mittelpunkt dieser Landschaft ist der Acherusische See. Als Mittelpunkt der unterirdischen Landschaft wird der Acherusische See zum Zentrum des Geschehens. Nicht nur haben die meisten Seelen hier ihren Aufenthalt, hier ist auch der Ort, an dem die im Pyri-
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phlegethon und Kokytos qualvoll Dahintreibenden Erlösung finden können. Jede Seele kommt nach dem Tod an den ihr gemäßen jenseitigen Ort. Diejenigen, die sich weder im Guten noch im Schlechten besonders hervorgetan haben, werden auf dem Acheron zum Acherusischen See geschifft. Dort wohnen sie, reinigen sich von etwa begangenen Vergehen und werden losgesprochen, empfangen Belohnung für das Gute, das sie getan haben. Andere Orte und Schicksale erwarten die wahrhaft Guten und die Schlechten. Unter diesen gibt es jeweils noch einmal zwei Gruppen. Verbrecher, deren Heilung bzw. Besserung ausgeschlossen ist, werden in den Tartaros gestoßen und bleiben dort für immer. Die übrigen Schlechten kommen auch in den Tartaros, aber nur für ein Jahr; dann nimmt sie, je nach der Art ihrer Vergehen, der Pyriphlegethon oder der Kokytos in seine Strömung auf. Beide Flüsse fließen, wie erwähnt, dicht an den Acherusischen See heran. Die in der Strömung Treibenden können an dieser Stelle Erlösung erlangen. Sie rufen nämlich jene am Acherusischen See Weilenden, an denen sie gefrevelt haben, und bitten sie, sie an den See heraussteigen zu lassen und aufzunehmen. Wird ihr Bitten erhört, so sind sie von ihren Leiden befreit, wenn nicht, so gelangen sie wieder in den Tartaros, und ihre Qualen beginnen von vorne15. Die wahrhaft Guten lernen die Stätten im Erdinneren nie kennen. Ihnen wird der reine Wohnsitz auf der Erde angewiesen, auf der wahren Erde, die zuvor gepriesen wurde. Aus ihnen sind noch einmal die Philosophen herausgehoben. Sie leben schlechterdings für alle Zukunft ohne Leiber, und ihre Wohnungen sind noch schöner als die der anderen. Schlechterdings für alle Zukunft ohne Leiber leben, das bedeutet: niemals wieder durch ,Tod* (Wiedergeburt) die herrlichen Wohnstätten verlassen müssen. So zeigt der Mythos eine Stufung der Seelen und ihrer jenseitigen Schicksale10, die, ausgehend von den meisten, den Durchschnittlichen, in deutlicher, wenn auch nicht schematisch durchgeführter Entsprechung 16
Hier ergibt sich eine Seltsamkeit: Die Erlösung kommt den Bittenden von jenen, an denen sie gefrevelt haben; diese hören das Rufen oder Schreien, weil sie selbst sich am Acherusischen See, in Rufweite also, aufhalten. Die auf der (wahren) Erde Wohnenden kommen daher als Erlösung Gewährende nicht in Betracht. Nun ist aber selbstverständlich, daß im Leben die wahrhaft Guten vor den Freveltaten der Schlechten nicht geschützt sind — Sokrates selbst steht dafür ein. Sollte Platon der Auffassung sein, daß nur denen, die an den Mittelmäßigen gefrevelt haben, die Möglichkeit offensteht, aus dem Pyriphlegethon oder Kokytos an den Acherusischen See auszusteigen? Aber das hieße sicher, den Mythos überdeuten. le Eine solche Stufung ist möglich, weil, wie es im Symposion hieß, gut und schlecht zu den Gegensätzen gehören, zwischen denen es Mittleres gibt.
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hinauf- und hinabsteigt. Auf den Zwischenstufen einerseits Qual mit der M glichkeit der Erl sung, andererseits Gl ck, aber nicht das h chste, das f r die Verstorbenen m glich ist, und ein befristetes dazu. Auf den u ersten Stufen niemals vergehende Qual und immerw hrendes Gl ck, und weder von der einen noch von der anderen Stufe ein bergang in andere Bereiche oder eine R ckkehr ins Leben. Das Symposion hatte gezeigt: Eros l t den Menschen ein Mittleres sein zwischen Gott und Sterblichem; Eros l t den Menschen sterblichunsterblich leben. Der Tod m te aber dieses Dasein widerlegen, wenn er Sterben und nichts als Sterben w re. Nur wenn der Mensch unsterblich-sterblich ist, d. h. wenn seine Seele als unsterbliche durch den Tod hindurchgeht, ist er wahrhaft sterblich-unsterblich. Der Phaidon, der die Unsterblichkeit der Seele darlegt, und das Symposion, das den Menschen von Eros her d monisch denkt, geh ren zusammen. Der Weg, den Platon im Phaidon geht, wird im n chsten Kapitel thematisiert. Hier gen gt es daher, das Ergebnis nochmals zu formulieren und zu bedenken. Die Doppelaufgabe war, zu erweisen, da die Seele nach dem Tod noch ist und noch zu denken vermag. Nachdem einerseits der Anamnesisbeweis die Seele wesentlich als denkende fa te, andererseits der zweite Beweis der Besorgnis Raum lie , die Seele m chte, wiewohl sie sich bei der Trennung vom Leib nicht sogleich aufl st, doch Schaden leiden und schlie lich untergehen, nahm die Fragestellung die Gestalt an: Ist die Seele ganz und gar unsterblich und unverg nglich (unzerst rbar)? Als ganz und gar unsterblich ist die Seele mit der ihr einwohnenden Denkkraft schlechthin unversehrbar. Der dritte Beweis f hrt zu diesem Ziel. Der Phaidon denkt die Seinsart der Seele. Die Seele ist unsterblich. Und die Ideen sind unsterblich™'. Dennoch ist ihr Sein nicht dasselbe. Der Phaidon gibt keinerlei Anhalt, die Ideen als bewegt zu denken. Die Seele aber macht in ihrem Verh ltnis zu den Ideen die Bewegung des Vergessens und Lernens durch. Sie ist den unsterblichen Ideen verwandt (συγγενής — 79d3). Das Sonnengleichnis wird diese Verwandtschaft als gemeinsame Verwandtschaft mit dem G ttlichen zu denken geben. 17
Innerhalb des zweiten Beweises und nachdem das Seiende in die zwei Arten eingeteilt ist, hei t es von der Seele, wenn sie als sie selbst, ohne Hilfe des Leibes (der Sinne) das Seiende betrachte, gehe sie zum Reinen, Immerseienden, Unsterblichen, sich stets Gleichen (οΐχεται είς το καθαρόν τε καΐ αεί δν και άθάνατον και ωσαύτως £χον — 79dl f.).
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Die Seele ist die Ursache des Lehens für den Leih, und sie ist denkende. Beides müßte in Einheit gedacht werden. Als Ursache des Lehens für den Leih lebt die Seele selbst (jede Ursache ist selbst das, was das andere ihr verdankt). Die Seele lebt aber nicht nur, sofern und solange sie dem Leib Leben vermittelt. Sie ist notwendig mit dem Lehen beisammen; sie lebt auch nach dem Tod. Sie lebt also als denkende (denn nach dem Tod, ganz für sich und ohne Leih, ist sie ganz denkende). Auch ihr Denken ist Leben. Der Versuchung, das Leben der denkenden Seele als Eros zu interpretieren, stellt Platon im Phaidon zweierlei in den Weg: 1. Die Einsicht ( ,), die die Seele nach dem Tod erlangt (wenn sie auf der wahren Erde Aufenthalt nehmen darf), ist die Erfüllung des Strebens, ist das, worauf die Philosophen in ihrem hiesigen Dasein liebend aus waren (66e, siehe S. 71); sie macht glücklich (vgl. Illc3). Der Schau des Göttlich-Schönen im Symposion verwandt, steht sie zwar zu Eros in Bezug, läßt ihn aber gerade als seine Erfüllung hinter sich zurück. 2. Im Phaidon spricht Platon von einer Idee des Lebens ( ; — 106d5 f.). Auch das Denken als Vollzug der Seele ist Leben. Und es gibt eine Idee des Lebens. So müßte nach dieser Idee weiter gefragt werden. Andererseits ist sofort zu bedenken: Seele und Leben sind verschieden (das ist die Voraussetzung dafür, sie als notwendiges Beisammen denken zu können), sie sind verschieden wie die Drei und das Ungerade oder wie der Schnee und die Kälte. Also könnte das Sein der Seele von der Idee des Lehens her nicht voll erfaßt werden. Platon weist einen anderen Weg. Die Drei hat teil an der Idee des Ungeraden und an der Idee der Drei. Hat die Seele teil an der Idee des Lebens und an einer Idee der Seele? Gibt es eine Idee der Seele? Nichts deutet darauf hin, daß eine Idee der Seele zu denken sei. Dennoch müßte auch die Seele sein durch Teilhabe', und durch Teilhabe' eben nicht nur an der Idee des Lebens. Hier ist ein Hinweis Platons aufzunehmen: Als der Beweisgang ins Ziel gelangt und das Unsterbliche als Unvergängliches (Unzerstörbares) gefaßt ist, werden Gott und die Idee des Lebens nebeneinander genannt (106d5 f.). UnsterblicJj und unvergänglich wie Gott und die Idee des Lebens ist auch die Seele. Wäre etwa die Seele durch Teilhabe' auch und vor allem am Göttlichen? Diese vom Phaidon implicite gestellte Frage findet im Sonnengleichnis ihre erste Antwort. Sie ist im Mythos des Phaidros zentral, der zugleich über das Leben der Seele Auskunft gibt, und sie zielt hinein bis in die Gedankengänge des Politikos und Philebos. Im Sonnengleichnis wird die Seele als gutartig
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also als von g ttlicher Art gedacht; Sokrates nennt sie im Phaidon etwas Gottartiges (vgl. 95c5: ότι ίσχυρόν τί εστίν ή ψυχή και Als „gottartig" w re die Seele vielleicht ein Mittleres und d monisch? Und ihre Selbstverwirklichung w re vielleicht ein Gott hnlich wer den, zu dem es Eros' bed rfte? Der Phaidon gibt mit seinem Beweisgang Antwort auf die Frage nach dem Sein des Menschen, und er l t zugleich neue Tragen erblicken. Der Beweisgang erbrachte: Die Seele ist unsterblich, als denkende. Der Mythos sagt, auf seine Weise, noch mehr ber die Seelen. Er zeigt eine Stufung der Seelen hinsichtlich gut und schlecht; er bringt den Gedanken des Gerichts und der Angemessenheit der jenseitigen Schicksale an das, was die Seelen hier waren. Er nimmt f r die meisten Seelen ein Hin- und Hergehen zwischen Diesseits und Jenseits an. Hieran wird der Phaidros ankn pfen.
4. Kapitel: Beweisender Logos und Mythos (Pbaidon) Sokrates geht gefa t, ja heiter auf den Tod zu, denn er hofft, da es ein Dasein nach dem Tod gibt, und zwar ein besseres f r die Guten als f r die Sdilechten. Diese Hoffnung ist s e i n e Hoffnung; sie hat ihren Grund in Sokrates, dem Hoffenden, selbst und kann sich deshalb nicht unmittelbar als Hoffnung auf seine Freunde bertragen. Um die Freunde teilhaben zu lassen an Gefa theit und Heiterkeit, ist Sokrates bereit, f r das von ihm Erhoffte Gr nde vorzubringen; er ist bereit, Rechenschaft zu geben (τον λόγον άποδοΰναι — 63e9). Sokrates glaubt schon bald, hinreichend Rechenschaft gegeben zu haben (69d7—e5), doch Kebes sp rt die verborgene Voraussetzung seiner Argumentation auf. Sokrates hat vorausgesetzt, was es doch allererst zu zeigen gilt, eben da die Seele nach dem Tod noch ist und noch zu denken vermag. Das Rechenschaft-geben als Vorweisen von Gr nden wird durch das kritische Denken des Kebes in seine strengste Form, das Beweisen, gen tigt. Logos im Pbaidon bedeutet Beweis (άπόδειξις), als beweisender ist der Logos im Phaidon wahrhaft er selbst1. Dazu mu klar gesehen werden: Die Sicherheit eines Beweises h ngt f r Platon davon ab, wieweit die Seele in ihm ohne Hilfe des Leibes zur Erkenntnis gelangt. Nimmt die Seele beim Erkennen den Leib zu Hilfe, dann richtet sie sich auch vermittels der Sinne auf das Seiende. Nun sind von allen Sinnen der Gesichtssinn und das Geh r noch die besten. Aber selbst sie sind nicht genau und nicht sicher (μη ακριβείς είσιν μηδέ σαφείς — 65b5). Nicht in der Wahrnehmung, sondern im Denken (εν τω λογίζεσθαι — 65c2) wird der Seele Seiendes offenbar2. Die Seele wird vom Leib get uscht (έξαπαταται — 65bll). Es kommt daher f r die Seele darauf an, soviel wie m glich (καθ5 όσον δύναται — 65c8) davon abzustehen, mit dem Leib gemeinschaftliche Sache zu machen. Dies „soviel wie m glich" darf nicht berh rt werden. Es ist im Leben gerade nicht 1
Sp ter (vgl. vor allem Kap. 11) wird sidi die Dihairesis als eine andere Art des Rediensdiaft-gebens zeigen, von gleicher Strenge, aber mit anderer Aufgabe und von anderer Form. * Vgl. Tbeaitet, insbesondere 184b—186e.
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möglich, das Erkennen in gänzlicher Unabhängigkeit von den sinnlichen Anblicken zu vollziehen. Das bestätigt der Anamnesisbeweis, wenn er darlegt, daß die Seele durch einzelnes Gleiches erinnert werden muß an das Gleiche selbst, das sie vor diesem Leben erkannte, beim Eintritt ins Leben aber vergaß. Und das wird auch die folgende Reflexion auf den Beweisgang des Dialogs bestätigen. Die erkennende Seele wird im Leben die Angewiesenheit auf den Leib nie ganz los. Ihr Erkennen kommt vom Wahrnehmbaren her in Gang. Es kann sich von diesem Anfang zwar weit entfernen, nicht aber ihn schlechthin aufheben. Der Beweisgang im ganzen ist eine Katharsis des Logos von sinnlichen Anblicken, und zwar eine Katharsis ,soweit möglich'. Die Katharsis des Logos zieht sich als ein einheitlicher Zug durch den Beweisgang. Sie läßt sich in vier Momente auseinanderlegen: In die Katharsis der Beweisargumente, in die Katharsis des Begriffs der Seele, die Katharsis des Begriffs des Lebens und die Katharsis des Begriffs der Unsterblichkeit. Zunächst zur Katharsis der Beweisargumente: Der ,naturphilosophische* Beweis nimmt als Argumente zwei sinnliche Anblicke in Anspruch, den sinnlichen Anblick des Sterbens und den Anblick des Hervorgangs ins Erscheinen als vorherrschenden Anblick der Natur. Der zweite Beweis hält sich nicht mehr an diesen oder jenen sinnlichen Anblick. Er denkt aus dem Unterschied von Sichtbarem und Unsichtbarem überhaupt. Sein Argument ist eine Ähnlichkeit der Seele mit dem Unsichtbaren. Indessen h a f t e t der Beweis an dem Unterschied von Sichtbarem und Unsichtbarem, was sich darin bekundet, daß die Seele mit dem Leib verglichen wird und schließlich „sozusagen unsterblichen" Teilen des Leibes als unsterblicher gegenübersteht. Erst der dritte Beweis ü b e r s t e i g t das Sichtbare, indem er diesem das Unsichtbare als Ursache zugrunde legt. Der dritte Beweis argumentiert aus dem Wesen der Ursache, das von den Ideen erfüllt wird. Nur weil die Ideen das Wesen der Ursache erfüllen, kann es auch noch andere Ursachen geben, Ursachen nämlich, die — wie die Seele — die Teilhabe an einer Idee vermitteln. Das Sein der Ideen trägt den Beweis. Kein sinnlicher Anblick bestimmt hier noch die Argumentation, auch nicht das Sichtbare insgesamt. Zur Katharsis des Begriffs der Seele: Im ,naturphilosophischen' Beweis ist das Sein der Seele, wie das Sein alles von Natur Seienden, bestimmt durch den ewigen Kreislauf des Werdens zwischen Leben und Totsein. Die Seele ist ein Werdendes unter anderem Werdenden. Die Seele erscheint in der Seinsart der Natur. Damit ist sie aber unterbestimmt, weshalb ein zweites Argument mit anderer Beweisebene, der
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Anamnesisbeweis, hinzukommen muß, wenn die Doppelaufgabe überhaupt Aussicht haben soll, erfüllt zu werden. Der Anamnesisbeweis bindet die Seele auf eine erste Weise an die Ideen. Mit gleicher Notwendigkeit s i n d die Ideen und war unsere Seele schon vor der Geburt. Damit ist zwischen den Ideen und der Präexistenz der d e n k e n d e n Seele eine Wenn-dann-Beziehung hergestellt. Der zweite Beweis, darüber hinausgehend, entscheidet über die Seinsart der Seele: Die Seele ist dem Unsichtbaren ähnlicher als dem Sichtbaren. Zugleich wird aber gesagt, die Seele sei dem Unsichtbaren ähnlicher als der Leib; darin liegt, daß die Seele auch etwas vom Anblick des Leibes hat. Dadurch konnte ihr Sein zweideutig werden. Der dritte Beweis erbringt die Unvergänglichkeit der Seele. Darin, unvergänglich zu sein, kommt die Seele mit Gott und der Idee des Lebens überein. Die Seele ist in die Nachbarschaft zum höchsten Sein versetzt. Sinnliches kann der Seele in ihrer Unvergänglichkeit als solcher nichts mehr anhaben, und es ist Sache des Mythos zu zeigen, daß der Bezug zum Sinnlichen auch über den Tod hinaus Unterschiede zwischen den Seelen setzt. Zur Katharsis des Begriffs des Lebens: Im ,naturphilosophischen' Beweis wird Leben ausschließlich naturhaft und als Gegensatz zum Totsein verstanden. Das Leben hört im Sterben auf. Neues Leben entsteht im Wiederaufleben. Im Einwand des Kebes auf den zweiten Beweis — einem Einwand, der sich unverändert auf der Ebene der sinnlichen Anblicke und damit auch des ,naturphilosophischen* Beweises hält — ist Leben die Wiederherstellung des unausgesetzt vergehenden Leibes durch die Seele. Der dritte Beweis spricht von einer Idee des Lebens, und mit dieser Idee ist die Seele vor und nach dem Tod in Gemeinschaft. Die Seele ist immer mit dem Leben beisammen, auch wenn der Leib gestorben ist. Das bedeutet: Auch und gerade als denkende lebt die Seele. Leben ist auch und gerade die Seinsweise der denkenden Seele. Zur Katharsis des Begriffs der Unsterblichkeit: Der ,naturphilosophische' Beweis kann von Unsterblichkeit überhaupt nicht sprechen, sondern nur von einem Totsein als Gegensatz zum Leben. Der Ausdruck „unsterblich" fällt innerhalb des Beweisgangs zum ersten Mal zu Beginn des Anamnesisbeweises (73a2). Aber der Anamnesisbeweis denkt nicht die Unsterblichkeit, er denkt die Präexistenz der Seele. Im zweiten Beweis schillert die Bedeutung der Unsterblichkeit. Die Ähnlichkeit der Seele mit dem Unsichtbaren und Ewigen soll für ihre Unsterblichkeit einstehen. Aber dann erscheinen auch besonders dauerhafte Teile des Körpers als „sozusagen unsterblich", und die Seele erscheint als unsterb-
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lidier als diese. Unsterblichkeit wird zu einem lange andauernden Durchstehen von Zeit, das irgendwann aufhören kann. Der dritte Beweis denkt die Unsterblichkeit als Unvergänglichkeit und Unversehrbarkeit der Seele. Im dritten Beweis ist die Katharsis der Argumente sowie der Begriffe der Seele, des Lebens und der Unsterblichkeit vollzogen. Wieso kann von dieser Katharsis gesagt werden, sie sei eine Katharsis ,soweit möglich'? Ist sie denn nicht vollendet? Das ist sie deshalb nicht, weil der dritte Beweis die vorangegangenen Beweise braucht, und zwar alle, auch den ,naturphilosophischen' Beweis. Das mag befremdlich klingen, aber doch nur, wenn wir platonischer denken als Platon selbst. Wir stehen in der Gefahr, Gedanken, die Platon erst eröffnen mußte, für (in seinem Denkkreis) selbstverständlich zu nehmen. Das Ziel, an das der Beweisgang des Pbaidon gelangt, ist nicht zu trennen von dem Weg, der zu ihm hinführt. Zwar darf für im Horizont des damaligen griechischen Denkens gegeben erachtet werden, daß Seele und Leben zusammengehören: Die Seele ist das Belebende. Aber eben deshalb muß ein beweisender Logos sich erst das Recht erstreiten und die Möglichkeit schaffen, das Sein der Seele mit dem Sein unvergänglicher Ideen zusammenzudenken. Der dritte Beweis bedarf des zweiten: Der zweite Beweis scheidet scharf die zwei Seinsbereiche des Sichtbaren und des Unsichtbaren, und er erbringt darüber hinaus ein Ergebnis, das dann unbestritten dasteht, wenn man ihn nur als Durchgang nimmt (vgl. S. 49 f.): Er denkt eine Seinsverwandtsdiaft von Seele und Ideen. Er sichert damit zugleich, daß die Seele so wesentlich denkende ist, daß der Verlust der Denkkraft ihrer Zerstörung gleichkäme. Dadurch allein kann der dritte Beweis, wenn er die Unversehrbarkeit der Seele beweist, die Seele fassen als unvergänglich wie Gott und die Idee des Lebens, kann er der d e n k e n d e n Seele immerwährendes Leben zusprechen. Ohne das Ergebnis des zweiten Beweises bliebe der dritte, als Widerlegung des Einwandes des Kebes, auf der Ebene dieses Einwands: Er könnte nur sicherstellen, daß die (vegetative) Seele sich als Ursache der Lebendigkeit auch unzähliger Leiber niemals verbraucht. — Der zweite Beweis braucht den Anamnesisbeweis. Der Anamnesisbeweis bindet auf eine erste Weise die Seele an die Ideen. Er zeigt, daß es rechtens ist, die Frage nach der Unsterblichkeit der Seele überhaupt im Blick auf die Ideen zu stellen. Er ermöglicht, daß das Sein der Seele im Bereich des Unvergänglichen angesiedelt werden kann, und damit eben ermöglicht er gegen die Zweideutigkeit des zweiten Beweises dessen positives Ergebnis, das für den dritten Beweis
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unerläßlich ist. — Der Anamnesisbeweis braucht den ,naturphilosophischen' Beweis. Er braucht aus diesem Beweis das Wiederaufleben. Das Wiederaufleben ist die eine der beiden Bewegungen zwischen den Gegensätzen Leben und Totsein. Das Wiederaufleben ist die Bewegung der Seele aus Totsein in Leben. Ohne daß diese Bewegung gedacht worden ist, wäre der Anamnesisbeweis eine bloße Spekulation. Es entsprechen einander in den beiden Beweisen: Totsein und Präexistenz, ferner Wiederaufleben (Übergang von Totsein in Leben) und Vergessen (Übergang von Wissen in Nichtwissen). Der ,naturphilosophische' Beweis macht die B e w e g u n g des Vergessene begreiflich, auf die im Anamnesisbeweis alles ankommt (worauf durch den naiven Einwand des Simmias und Sokrates' Gegenargument — 76cl4—d6 — eigens noch einmal aufmerksam gemacht wird). Oder, anders gewendet: Der Anamnesisbeweis denkt, was die Seele im Wiederaufleben durchmacht, was das Wiederaufleben für sie bedeutet. So bleibt der dritte Beweis über den zweiten und über den Anamnesisbeweis mit dem ,naturphilosophischen* Beweis verbunden. Er kann diesen Anfang nicht abstoßen, so weit er sich auch von ihm entfernt. Und nun gilt es, sich der Unangemessenheit und ,Unreinheit' des ,naturphilosophischen' Beweises noch einmal zu vergewissern. Zunächst: Die Unangemessenheit von jnaturphilosophischem' und Anamnesisbeweis bezeugt sich deutlich, wenn man in beiden Beweisen jeweils die andere Bewegung — nicht das Wiederaufleben, sondern das Sterben, nicht das Vergessen, sondern das Lernen — in den Blick faßt. D i e s e Bewegungen entsprechen einander nämlich nicht mehr. Das Sterben ist — gemäß dem ,naturphilosophischenc Beweis — der Übergang von Leben in Totsein; das Lernen vollzieht sich aber gerade schon im Leben. Schon im Leben geht der nach Erkenntnis Strebende von Nichtwissen zu Wissen über, und im Sterben setzt er diesen begonnenen Weg fort. Der Anamnesisbeweis wird auf einer höheren Beweisebene geführt als der ,naturphilosophische' Beweis. Daher verwischt er, auf den ,naturphilosophischen' Beweis zurückgewendet, was dieser unterscheidend und entgegensetzend auseinanderhielt: den Unterschied von Leben und Sterben und ferner den Gegensatz von Totsein und Leben. Da nämlich die Seele vor ihrem Eintritt ins Leben und dann wieder — dank des Lernens — im Leben d a s s e l b e denkt, eben die Ideen, sind Totsein und Leben nicht mehr Gegensätze in dem strengen Sinn des 3naturphilosophischen' Beweises. — Ferner: Der Anamnesisbeweis bedarf des Wiederauflebens aus dem ,naturphilosophischen' Beweis. Der ,naturphilosophische' Beweis
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gr ndet das Wiederaufleben auf den sinnenf lligen Anblick des entgegengesetzten bergangs, des Sterbens. Vom Sterben wurde gesagt, es sei sicher (σαφές — 71 e5). Das soll hellh rig machen. Denn nachdr cklich wurde im einleitenden Gespr ch eingesch rft, da die Sinne nicht genau und nicht sicher sind (vgl. S. 65). Der Bericht vom Sterben des Sokrates am Ende des Dialogs enth lt f r diesen Zusammenhang eine wichtige Aussage (117e4ff.): Der sinnliche Anblick des Sterbens als eines Werdens, eines bergangs, bezieht sich allein auf den Leib und nicht auf die Seele, deren Dasein nach dem Tod der ,naturphilosophische' Beweis gerade dartun will. Der sinnliche Anblick des Sterbens zeigt ein von den F en zum Herzen allm hlich ansteigendes Erkalten des Leibes. Die Seele aber entgeht pl tzlich: Eben noch gibt Sokrates den Auftrag, dem Asklepios einen Hahn zu opfern, im n chsten Augenblick antwortet er nicht mehr. Jedenfalls wird bez glich der Seele ein bergang nicht s i c h t b a r und k nnte als Argument vom ,naturphilosophischen' Beweis nicht in Anspruch genommen werden. Der ,naturphilosophische' Beweis als nicht abzusto ender Anfang des Beweisgangs setzt der Katharsis des Logos eine Grenze. — Der beweisende Logos steht in enger Verbindung zur Hoffnung des Sokrates. Kebes fordert die Beweise heraus, weil er sich bei der Voraussetzung nicht beruhigen kann, die Sokrates in dem Versuch, seine Hoffnung vor den Freunden zu rechtfertigen, gemacht hat. Aber auch der Mythos geh rt engstens zur Hoffnung. Unmi verst ndlich weist Platon darauf hin, wenn er Sokrates die Erz hlung des Mythos mit den Worten schlie en l t: „Denn sch n ist der Preis und die Hoffnung gro " (καλόν γαρ το δΰλον και ή έλπίς μεγάλη — 114c8). So ergeben sich die Fragen nach dem Verh ltnis von Hoffnung und Mythos einerseits, von Hoffnung, Logos und Mythos andererseits. — Der Inhalt der Hoffnung ist mythisch3. Die Hoffnung geht auf ein Dasein nach dem Tod, das die N he zu weisen und guten G ttern und den Aufenthalt bei besseren Menschen als denen hier bringen wird; sie geht auf bessere Verh ltnisse dort f r die Guten als f r die Schlechten (vgl. S. 32). Diese Hoffnung ist der Schlu mythos in nuce. Anders gewendet, der Schlu mythos entfaltet diese Hoffnung. Er ist die entfaltete Hoffnung. — Nur der Mythos kann die Hoffnung entfalten. Der Logos ist dazu nicht in 8
Daran ndert auch die Tatsache nichts, da das Erhoffte in Zusammenhang steht mit gerade zuvor er rterten pythagoreischen berzeugungen (Philolaos wird genannt). Diese erscheinen hier selbst als mythisch (vgl. 61d9—e3, insbesondere e2: μυθολογεΐν).
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der Lage. Er kann nicht weiter vordringen als bis zur Unversehrbarkeit der Seele. Er gibt zwar Sicherheit bez glich des Daseins gerade der denkenden Seele nach dem Tod. Dies aber f r a l l e Seelen in gleichem Ma . J e d e Seele lebt nach dem Tod als denkende, ohne die Aufgabe der Beseelung des Leibes und ohne Angewiesenheit auf die Sinne. Die vom Beweisgang erbradite Unsterblichkeit ist die eine und selbe f r alle Seelen4. Der Logos kann f r das jenseitige Dasein keinen Unterschied setzen zwischen den Seelen derer, die im Leben nur sehr wenig ,gedacht' haben, und den Seelen der Philosophen, deren ganzes Bestreben im Leben dahin ging, soweit wie m glich mit der Seele allein dem Seienden nachzugehen, das Denken also soweit wie m glich von den Sinnen zu l sen. Nur der Mythos kann eine Stufung erscheinen lassen, ohne die der Philosoph keine Aussicht h tte auf ein Fortschreiten im Erkennen ber das im Leben von ihm erreichbare Ma hinaus. Darauf aber richtet sich die Hoffnung, so hei t ihr Inhalt, wird er aus mythischer Rede in die Sprache begrifflichen Denkens bersetzt. In solcher bersetzung lautet Sokrates' Hoffnung: „da er dort die gr ten G ter erlangen werde" (εκεί μέγιστα οΐσεσΰαι αγαθά — 64al). Das Gute f r den Philosophen ist aber das Wahre (66b7). Und die gr ten G ter erlangen, meint dann: bekommen, „was wir begehren und was zu lieben wir versichern, die Weisheit" (ου έπιθυμοΰμέν τε καί φαμεν ερασταί είναι, φρονήσεως — 66e2 f.). Es ist aber nicht anzunehmen, da dies Gute allen Seelen ohne Unterschied zuteil werden k nnte, also etwa auch den Seelen der Vielen, die im Leben das Philosophieren verachteten und ihr ganzes Tun in den Dienst des Leibes stellten. Eine Einerleiheit im Dasein der Seele nach dem Tod k nnte f r den Philosophen nur ein R ckschritt sein und das Gegenteil dessen, was ihm im Angesicht des Todes Zuversicht gibt. Die im Mythos erscheinende Stufung der Seelen und ihrer gerecht ihnen zuerkannten jenseitigen Schicksale geh rt unl slich zu Sokrates' Hoffnung. Der Logos kann diese Stufung nicht vor das Denken bringen. Der Logos erhebt aber die Voraussetzung zum Wissen, die bei der Rechtfertigung der Hoffnung zun chst unausgesprochen gemacht wurde. Er erm glicht damit den Freunden, Sokrates in seiner Erz hlung ber die jenseitigen Bezirke und Schicksale zu folgen, d. h. sich selbst das Erz hlte gesagt sein zu lassen, daraufhin mit Sokrates f r ihn zu hoffen, ja, so-
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Da f r den die Unsterblichkeit der Seele erweisenden Logos keine Seele mehr Seele ist als eine andere, das zeigte nachdr cklich die Widerlegung des Einwands des Simmias, die Seele sei eine Harmonie.
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fern sie sich als Philosophierende verstehen können, auch für sich selbst zu hoffen. — Über das Verhältnis von Logos und Mythos wird freilich bald noch mehr zu sagen sein. Vom Mythos wurde an früherer Stelle (S. 31) vorgreifend gesagt, er sei das dämonische Verstehen von der Seite der Menschen und der Philosophie her. Das müßte sich jetzt bewähren. Ist der Mythos des Phaidon dämonisch? Er ist es zunächst in dem Sinne, daß er das All vermittelt. In den Überlegungen des zweiten Beweises hat das Seiende sich in aller Schärfe in zwei Arten ( ) auseinandergefaltet. Der dritte Beweis nennt die dem begrifflichen Denken eigene und mögliche Vermittlung: Er faßt das Verhältnis von Sichtbarem und Unsichtbarem als Teilhabe ( ), Gemeinschaft ( ), Anwesenheit ( ) des Unsichtbaren im Sichtbaren; diesem Verhältnis geht er selbst nicht denkend nach (vgl. S. 51). Es ist der Mythos, durch den die Vermittlung vollendet wird. Er versöhnt die Bereiche im Bild der e i n e n Erde. Freilich gibt es einen Rangunterschied zwischen der Erde hier bei uns, in der Vertiefung, die wir bewohnen, und der wahren Erde, oben auf der Erdoberfläche unter dem reinen Äther. Die Verwischung dieses Rangunterschiedes kann nicht die Sache des Phaidon sein. Dennoch leistet der Mythos die Vermittlung. Es ist daran zu erinnern, daß, blickt man auf die eine, große Erde herab, der Bezirk des Hiesigen sich einfügt in die Schönheit des Ganzen, ja daß es auch bei uns Schönheiten gibt. Auch mit dem jenseitigen Bezirk des Erdinnern zeigt sich unser Bereich geeint — durch das einheitliche Stromsystem. Die geographische Betrachtungsweise, von der in anderem Zusammenhang noch zu sprechen sein wird, trägt zu dieser Vermittlung bei. Daß es möglich ist, von der wahren Erde und von den unterirdischen Bezirken so zu sprechen wie von unserer Erde hier — eben geographisch —, das steht mit ein für die Einheit der Bereiche. — Die Vermittlung zwischen den Bereichen erscheint aber nicht nur im Bild der einen Erde, sondern auch im Hin- und Hergang der Seelen zwischen den Bereichen. Mit Ausnahme der Philosophen einerseits, der niemals aus dem Tartaros Erlösten andererseits kehren alle Seelen aus dem Jenseits hierher zurück und, nach Beendigung ihres Lebens hier, wiederum dorthin. Es ist ein ständiges Kommen und Gehen herüber und hinüber, ständige Bewegung aus einem in den anderen Bereich. Der Mythos ist ferner dämonisch in dem Sinne, daß er Göttliches in das menschliche Verstehen übersetzt. Das ,Göttliche' ist hier das dem Denken der Lebenden verschlossene Jenseits. Aus dem Bezirk des Jen-
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seitigen, künftigen Daseins überbringt der Mythos uns ein Verstehen in unser jetziges Dasein. Man mag Bedenken haben, das im Phaidon gezeichnete Jenseits ,göttlich' zu nennen, und solche Bedenken scheinen wenigstens im Blick auf die unterirdischen Bezirke gerechtfertigt zu sein. Indessen ist dem entgegenzuhalten, daß alles, was den Seelen im Jenseits zuteil wird, ihnen durch göttlichen Richterspruch zugesprochen worden ist (auch die Erlösbarkeit der in Pyriphlegethon und Kokytos am Acherusischen See Vorbeitreibenden — siehe 114b), keinesfalls aber durch ein Urteil, das Sterbliche zu fällen vermöchten. Der Mythos verdolmetscht, was für die unsterbliche Seele gemäß göttlichem Urteilsspruch ist, wenn die Seele den Leib verlassen hat. Damit läßt er aber für den Menschen, der sich diesen Mythos gesagt sein läßt, ein Zwischen sein und hält einen Bezug wirksam. Er läßt den Menschen im Leben auf das jenseitige Dasein zugehen. Er versetzt ihn in die Sorge ( — 107c2) 5 um die Trefflichkeit seiner Seele . Der Mythos ist dämonisches Verstehen von der Seite der Menschen und der Philosophie her. Das ist genauer zu fassen im Blick auf das erörterte Verhältnis von Hoffnung und Mythos im Phaidon. Der Mythos zeigte sich als entfaltete Hoffnung. Als entfaltete Hoffnung ist er Entwurf. Das in ihm sich aussprechende Verstehen ist entwerfendes Verstehen. Es ist, näher besehen, vor allem ein Sich-selbst-entwerfen der auf den Tod zugehenden Seele auf ihr künftiges Dasein hin. Dieses Sichselbst-entwerfen ist in Übereinstimmung mit dem, woraufhin Sokrates sich sein Leben hindurch als auf seine wesentlichste Möglichkeit hin entwarf: mit seiner philosophischen Existenz6. Der Mythos entfaltet die Hoffnung des Sokrates; er ist eröffnend im Sinne eines entwerfenden Verstehens. Wie steht das aber zu der teilweise Wissenschaftlichen* Darstellung? Was von dieser zu halten sei, ist in der
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Der Gedanke der Epitneleia, mit dem vom Logos zum Mythos übergeleitet wird, gehört auf die Seite des Mythos, nicht des Logos. Er gehört zur Stufung im jenseitigen Bereich. Anschließend an den Mythos wird er wiederholt (114c6—8). 6 Die Unterschiede zwischen dem platonisch-metaphysischen Denken und dem Denken Heideggers in Sein und "Zeit sollen hier nicht verwischt werden. Heidegger denkt in Sein und "Zeit den Menschen nicht mehr metaphysisch. Das „Dasein" hat die Grundverfassung des In-der-Welt-seins. Die Möglichkeiten, auf die hin es sich entwirft, sind Möglichkeiten eben seines In-der-Welt-seins. Demgemäß ist der Tod die unüberholbare Möglichkeit des Daseins, das heißt, Dasein kann sich nicht über den Tod hinaus entwerfen.
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Forschung strittig7. Wie immer man die Frage entscheiden mag, ob oder ob nicht Platon mit der Geographie seines Mythos eine wissenschaftliche Intention gehabt hat, die für das Verständnis des Mythos als solchen vorrangige Frage ist die: Was soll die jedenfalls vorgeblich wissenschaftliche Darstellung in Teilen des Mythos? Man darf, wie immer bei Platon, in der Darstellungsform selbst eine Aussage sehen. Auf diese kommt es hier an, und sie gilt es zu finden. Platon entwirft einen Jenseitsmythos. Derselbe Platon, der den überkommenen Mythos und die diesem verpflichtete Dichtung entschieden bekämpft8. Es muß ihm darauf ankommen, daß sein Mythos weder mit dem überlieferten mythischen Denken noch mit jener Dichtung verwechselt wird. Dazu dient ihm die wissenschaftliche' Beschreibung der Erde. Sie hält gegenwärtig, daß hier g e d a c h t wird. Sie fordert zu beachten, daß hier Verbindliches gesagt wird, sie bringt in die Bezauberung, die der Mythos gewährt (vgl. S. 76), das für das Denken unerläßliche Moment einer Kühle; sie schafft Abstand und bewahrt davor, in das Anschauen der entfalteten Bildwelt zu versinken. Der Mythos des Phaidon enthüllt sich so als ein Denken in Bildern. Die wissenschaftliche' Darstellung, die mit der mythischen Rede im engeren Sinne wechselt, widerspricht, so aufgefaßt, keineswegs dem Entwurfcharakter des Mythos. Ja, sie ordnet sich diesem sogar insofern noch eigens unter, als ja das wissenschaftlich* Dargestellte unbeweisbar und in diesem Sinne selbst ein Entwurf ist. Das müssen auch diejenigen einräumen, die annehmen, Platon wolle mit der Geographie dieses Mythos beim Wort genommen werden. Mehr zu sein als ein verbindlicher Versuch, Phänomene der von uns bewohnten Erde erklärend auszulegen, könnte diese Geographie nie beanspruchen.
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Apelt etwa hält „die Schilderung der ,obcren Erde'" für eine „reine Phantasmagoric", läßt aber die Möglichkeit offen, daß die Darstellung des Stromsystems der „Versuch zu einer Theorie der Hydrographie" sei (S. 150, Anm. 110; dazu ebd. Anm. 108). Andere Forscher nehmen an, die Wissenschaftlichkeit des Vorgetragenen werde von Platon selbst nicht ernstgenommen (vgl. dazu Friedländer Bd. I, S. 400, Anm. 16). Friedländer dagegen widmet dem Mythos des Phaidon in seinem Kapitel „Platon als Geophysiker und Geograph" (Bd. I, S. 276 ff.) breiten Raum. Er sagt dort von diesem Mythos: „Man kann also recht wohl den Aufbau der platonischen Gesamtschöpfung leicht schematisierend in vier Teile sondern. Teil l und 3 sind naturwissenschaftlich, Teil 2 und 4 mythisch-eschatologisch zu verstehen" (S. 284). Und Friedländer unternimmt den Versuch, „das platonische Erdbild" in die „Geschichte der geographischen Wissenschaft" einzuordnen (S. 284 ff.). 8 Vgl. Krüger, insbesondere Teil I, Kap. 4; ferner Armin Müller, Platons Philosophie als kritische Distanzierung von der mythischen Dichtung.
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Der Mythos, den Sokrates im Phaidon erzählt, ist ein verbindlicher Entwurf und keine beliebige Erdichtung eines Mannes, den nur noch Stunden von seinem Tod trennen. Um das zum Ausdruck zu bringen, bedient sich Platon noch eines weiteren Darstellungsmittels. Er läßt Sokrates darlegen, was jemand ihm überzeugend mitgeteilt hat bzw. was man sagt. Sokrates, Gehörtes wiedergebend, tritt hinter dem zurück, was er erzählt, er ist nicht der ,Autor'; was gesagt wird, gilt unabhängig von seiner Person und seiner Situation. Der Mythos ist dämonisch; er verdolmetscht, legt aus, vermittelt. Er ist ein Denken in Bildern. Er ist Entwurf. Platon selbst hat sich im Phaidon mehrmals über das Wahrheitswesen des Mythos geäußert. An Diotimas Bestimmung des Dämonischen wird man erinnert, wenn Sokrates mit Nachdruck für sich in Anspruch nimmt, sich auf das Wahrsagen ( ) zu verstehen (siehe 84e3 ff.). Sokrates vergleicht sich mit den Schwänen Apollons. Ihr Gesang vor ihrem Tod, sagt er, wird von den Menschen zufolge ihrer eigenen Todesfurcht mißdeutet. Die Menschen meinen nämlich, die Schwäne sängen aus Trauer. In Wahrheit singen sie vor Freude, zu ihrem Gott zu gelangen. Sie sind wahrsagerisch. Sie sehen das Gute voraus, das in der Unterwelt ihrer wartet. Sokrates dient demselben Gott wie die Schwäne und glaubt, keine geringere Kraft des Wahrsagens von seinem Herrn erhalten zu haben als sie. — Der Mythos wird eingerahmt von Bemerkungen, die seiner Wahrheit gelten (108c7—e2; 114d). Die erste Stelle soll — in einer gewissen Zwielichtigkeit, die auf das Ineinander von wissenschaftlicher* Darstellung und mythischer Rede vorweist — darauf aufmerksam machen, daß die folgenden Darlegungen nicht im Sinne des Logos begründbar sind. Sokrates ist von einem Jemand mit einer ungewöhnlichen Auffassung über die Erde bekannt gemacht worden, und der Jemand hat ihn überzeugt. Sokrates ist also überzeugt. Aber als er nun den Freunden das Gehörte mitteilen soll, sieht er sich doch veranlaßt, etwas vorauszuschicken: Das, was ihn überzeugt hat, auseinanderzulegen (oder zu erzählen — , 108d5), ist keine große Kunst. Daß das aber wahr ist, das zu zeigen ist eine sehr große Kunst, wenn nicht gar unmöglich; dafür sieht Sokrates sich nicht aus, teils weil er es vielleicht überhaupt nicht vermöchte, teils weil sein Leben ihm für eine so umfängliche Darlegung nicht mehr auszureichen scheint. Daraus ist zu entnehmen: Auch Sokrates' eigene Überzeugung beruht nicht auf vorgewiesenen Gründen. — Nachdem Sokrates mit den (schon einmal zitierten) Worten „Denn schön ist der Preis und die Hoffnung groß" (114c8)
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den Mythos beendet und eindeutig zur Hoffnung in Bezug gesetzt hat, f hrt er fort (114d): Es zieme sich nicht f r einen vern nftigen Mann, fest zu behaupten, da sich alles Dargelegte so verhalte, wie es dargelegt wurde. "Wohl aber zieme es sich, zu behaupten, da es entweder so oder hnlich stehe mit unseren Seelen und ihren Wohnungen, und es sei wert, den Glauben zu wagen, da es sich so verhalte (άξιον κινδυνεϋσαι οίομένφ ούτως εχειν). „Denn es ist ein sch nes Wagnis" (καλός γαρ ό κίνδυνος). Und man m sse sich derartiges gleichsam zur Bezauberung vorsingen (και χρή τα τοιαύτα ώσπερ έπφδειν έαυτφ). Deshalb spinne er die Erz hlung (μϋθος) auch schon so lange aus. — Die Wahrheit des Mythos ist nicht die Wahrheit einer festen Behauptung. Sie hat nicht die Sicherheit einer auf vorweisbaren, f r jedermann zwingenden Gr nden beruhenden Erkenntnis. Mit dieser Wahrheit mu man es vielmehr wagen. Das Wagnis bernimmt je ein einzelner f r sich. Wer es bernimmt, der erf hrt die dem Mythos eigene berzeugungskraft: eine Bezauberung. Wagnis des Denkenden und Bezauberung stehen in einem Wechselverh ltnis. Die Wahrheit wagend, wird der Denkende von der Wahrheit in Bann genommen — und umgekehrt: von der Wahrheit in Bann genommen, vermag der Denkende sie zu wagen. Das ist der Zauberkreis des Mythos. Der Zauber h lt an, solange das Denken beim Mythos verweilt. Im Vollzug des Entwerfens wird diese Wahrheit er ffnet und gegenw rtig gehalten. Es kann jetzt das Verh ltnis von Logos und Mythos im Phaidon ber die fr here Andeutung hinaus gekl rt werden. Diese Er rterung l t sich zun chst unter die beiden Leitfragen stellen: Was leistet der Logos f r den Mythos? Und: Was leistet der Mythos f r den Logos? Der Mythos hat, wie gezeigt wurde, Aufgaben gel st, die der Logos nicht bernehmen konnte und die gleichwohl von diesem Dialog gestellt wurden. Es d rfte deutlich geworden sein, da der Mythos des Phaidon alles andere als ein Anh ngsel ist. Hier nun ist entschiedener zu fragen, ob der Mythos, um die ihm vorbehaltenen Aufgaben zu erf llen, des Logos bedarf. Die Antwort ergibt sich im Anschlu an fr her Dargestelltes sehr rasch. Sokrates begr ndet vor seinen Freunden seine Haltung angesichts des unmittelbar bevorstehenden Sterbens aus seiner Hoffnung. Diese Begr ndung fordert aber erst recht eine weitere. In einem zweiten Ansatz versucht Sokrates, seine Hoffnung aus seinem philosophischen Leben, d. h. aus dem Streben nach der Katharsis der Seele, zu begr nden. Und nun, nachdem die Sph re des rechenschaft-gebenden Logos eindeutig betreten ist, zeigt sich: Sokrates' Hoffnung hat eine Voraussetzung, n mlich da die Seele nach dem Tod noch ist und noch zu denken ver-
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mag. Eine Begründung der Hoffnung für die anderen muß über diese Voraussetzung Gewißheit verschaffen. Das geschieht durch den Beweisgang. Hoffnung und Mythos gehören aber zusammen. Der Mythos ist die entfaltete Hoffnung. Und so begründet der Logos den Mythos. Der Mythos, der wesensmäßig sich selbst nicht begründen kann und nichts in ihm begründet, wäre ohne die vom Logos erbrachte Unsterblichkeit und Unversehrbarkeit der Seele eine bloße Phantasterei. Deshalb hieß es, als von der eigentümlichen Wahrheit des Mythos die Rede war, es zieme sich zu behaupten, daß es sich so oder ähnlich mit unseren Seelen und ihren Wohnungen verhalte, „weil eben die Seele sich als unsterblich zeigt" ( — 114d4). Und deshalb entglitt an früherer Stelle des Dialogs, nach dem zweiten Beweis, der Mythos tatsächlich ins Phantastische, Fabulöse. Dieses bisher hier nicht beachtete Textstück des Phaidon (81a4 ff.) ist jetzt beizuziehen; es ist für das Verhältnis von Logos und Mythos aufschlußreich. Von dem Unzureichenden des zweiten Beweises wurde schon gesprochen, wie auch davon, daß dieses sich unmittelbar nach dem Ende des Beweises schon unüberhörbar ankündigt. Nachdem das geschehen ist, beginnt Sokrates die Entfaltung seiner Hoffnung in mythischer Rede. Aber der Mythos gerät hier nicht. Der zweideutige Logos zieht einen zweideutigen Mythos nach sich. Die Seele, die sich beim Tod rein vom Körper trennt und nichts von ihm mit sich zieht (80e2 f.), begibt sich zu dem ihr Ähnlichen, dem Unsichtbaren. Die Seele hingegen, die im Leben die engste Gemeinschaft mit dem Körper gesucht und ihn über alles geliebt hat, vermag sich beim Tod nicht rein von ihm abzulösen und bleibt von Körperartigem durchsetzt. Das hat für sie zur Folge, daß sie im Bereich des Sichtbaren ihren Aufenthalt behält. Seelen, die dieses Geschick für sich heraufgeführt haben, treiben sich an den Gräbern herum. Dort werden sie gesehen (dem Sichtbaren ähnlicher als dem Unsichtbaren — eine Pervertie des Ergebnisses des zweiten Beweises, ermöglicht durch seine Zweideutigkeit). Der Mythos begibt sich auf die Ebene des Gespensterglaubens. Aber das ist noch nicht alles. Von den an den Gräbern umhergeisternden Seelen wird weiter erzählt: Sie werden schließlich wieder verleiblicht, treten also in ein neues irdisches Leben ein, aber in den wenigsten Fällen in ein menschliches. Die meisten werden bei der Wiedergeburt zu Tieren, und es richtet sich nach dem Grad ihrer früheren Schlechtigkeit oder Mittelmäßigkeit, in welcher Tierart sie nun existieren. Die Seelen derjenigen, die sich der Völlerei, Üppigkeit und Trunksucht hingaben, dürften sich in Eseln oder dergleichen Tieren wiederfinden. Seelen von Menschen, die
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sich der Ungerechtigkeit, Gewaltherrschaft und des Raubs schuldig machten, gelangen in Wölfe, Habichte, Geier. Am glücklichsten treffen es die Seelen derjenigen, die sich um jene gewöhnliche Trefflichkeit bemühten, die man Besonnenheit und Gerechtigkeit nennt und die ohne Philosophie und Vernunft, allein aus Gewöhnung und Ausübung entsteht: Sie werden verleiblicht in einer zahmen Art, in Bienen, Wespen, Ameisen oder auch in Menschen, und im letzteren Fall werden aus ihnen brave Leute. — Sokrates, der das erzählt, zeigt sich hier eher als Bruder Äsops denn als ein Diener Apollons, der der „Wahrsagekunst" mächtig ist9. Freilich, am Ende spricht er wieder von dem glücklichen Los der rein vom Leib sich lösenden Seelen. Aber unüberhörbar durften sich Gespensterglaube und Fabulierfreude zu Wort melden10. Nicht zufällig folgt diesem Mythos eine beinahe überlange Ermahnung zur Katharsis der Seele (82c2—84b). Der Schlußmythos ermahnt durch sich selbst und seinen tiefen Ernst; deshalb folgt ihm nur eine ganz kurze, völlig unaufdringliche Ermahnung (114c6—8 u. 114d8—115a2). — Der Mythos gelingt nicht, solange der Logos nicht ins Ziel gekommen ist. Die Entfaltung der Hoffnung im Mythos bedarf der Begründung durch den Logos in dem Sinne, daß dieser das Dasein der Seele nach dem Tod und die Unversehrbarkeit der Seele unzweideutig vorgeben muß. Das leistet der Logos für den Mythos. Und was leistet der Mythos für den Logos? Zunächst zeigt jener eben in die Betrachtung gezogene mißglückte Mythos, was der Mythos für den Logos n i c h t leistet. Er kann nicht für einen Logos einspringen, der sich selbst nicht zu Ende gebracht hat. Sokrates versucht, das Unzureichende des zweiten Beweises zu überspringen durch den Sprung in den Mythos. Damit wird aber weder dem Logos noch der Untersuchung im Ganzen gedient. Der voreilig herbeigezogene Mythos kann die Einwände des Simmias und Kebes nicht aufhalten, und wäre er selbst nicht schon zweideutig genug, so würden doch diese Einwände ihn nachträglich unterhöhlen. Die Leistung des Mythos für den Logos besteht nicht darin, * Man findet sich an 60cl—61b7 erinnert und zu der Vermutung bestimmt, diese Stelle mödue nicht zuletzt auch auf den zweideutigen ,Mythos' einerseits, den Schlußmythos andererseits zu beziehen sein. 10 Es könnte der Einwand gemacht werden, Platon habe in ernst zu nehmenden Mythen gleichfalls von einer Verleiblichung menschlicher Seelen in Tiere gesprochen (so im Phaidros und — mit, wie es scheint, großer Entsprechung zum hier thematischen Textstück des Phaidon — Timaios 42cl ff.). Dem ist entgegenzuhalten, daß im Phaidon der Schlußmythos dem mißglückten Mythos geradezu ausdrücklich widerspricht. Sokrates knüpft an das früher Gesagte an (108a8: & ), aber gerade um es im Fortgang zu korrigieren.
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diesem die eigene Aufgabe abzunehmen. Logos und Alythos k nnen nicht beliebig einer an die Stelle des anderen treten. Was sie f reinander leisten, das leisten sie als wesensverschiedene f reinander und ohne ihre je eigene Sph re zu verlassen. — Dennoch steht die Leistung des Mythos f r den Logos in gewisser Weise in Kontinuit t zu dem, was der Logos bis zu einem bestimmten Grad, aber nicht vollkommen f r sich selbst geleistet hat. Der Mythos vollendet die Katharsis des Logos. Es sei hier schon darauf hingewiesen, da dadurch der Logos verwandelt wird. Die Katharsis des Logos durch sich selbst wurde ausf hrlich dargestellt. Dieser Katharsis ist eine Grenze gesetzt dadurch, da der dritte Beweis ber den zweiten und den Anamnesisbeweis an den ,naturphilosophischen* Beweis zur ckgebunden bleibt. Eine Katharsis des Logos durch den Mythos m te hier ansetzen. Sie m te auf eine Weise, wie es dem Logos selbst nicht m glich war, den Beweisgang von dem Unzul nglichen des ,naturphilosophischen' Beweises befreien. Das f hrt auf die Frage nach dem Verh ltnis von Mythos und ,naturphilosophischem' Beweis. Eine Korrespondenz zwischen beiden ist unverkennbar. Schon der Beginn des Mythos stellt eine gedankliche Verbindung zum ,naturphilosophischen' Beweis her, indem er von der Wanderung ins Jenseits und von einer R ckkehr hierher erz hlt. Und als der Mythos in seiner geographischen Beschreibung des unterirdischen Bereichs beim Acherusischen See, dem Zentrum des Geschehens, anlangt, wird die ,wissenschaftliche' Darstellung f r einen Augenblick unterbrochen durch den Hinweis: Die meisten Seelen finden an diesem See ihren Aufenthalt, und von hier aus werden sie, nach einer ihnen bestimmten l ngeren oder k rzeren Frist, wiederum ausgeschickt zu den Entstehungen der Lebendigen (πάλιν εκπέμπονται εις τάς των ζφων γενέσεις — 113a4 f.). Dies vorauszuschicken, ehe noch die mythische Rede ber die Schicksale der Seelen in den unterirdischen Bezirken begonnen hat, h lt Platon f r wichtig. — Die Korrespondenz von Mythos und ,naturphilosophischem' Beweis wird vorbereitet durch das Verh ltnis der alten Kunde (παλαιός λόγος) zum ,naturphilosophischen' Beweis, jener alten Kunde, die da sagt: Nach dem Tod gelangen die Seelen der Menschen in die Unterwelt; aus der Unterwelt kommen sie wieder hierher zur ck, sie werden aus den Toten geboren. Auch alte Kunde und ,naturphilosophischer* Beweis korrespondieren. Die alte Kunde, eine mythische Kunde, bringt das Beweisen in Gang. Sie ist hier die unerl liche Vorgabe f r das Verstehen. Das darf nicht mi verstanden werden: Es handelt sich hier nicht um eine Pr misse des
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Beweises, nicht um eine Voraussetzung, die von dem durchgeführten Beweis nicht zu trennen wäre, sondern eben um eine Vorgabe, die dem Beweis das Zu-beweisende als solches vorgibt. Sie expliziert für den Logos dieses ersten Beweises, was ihm zu beweisen aufgegeben ist. Ohne diese Vorgabe wäre das Beweisen nicht in Gang gekommen. Schon das ist merkwürdig genug. Die alte Kunde ist im Schlußmythos aufbewahrt. Das bedeutet: Der Schlußmythos, einmal entfaltet, rückt an die Stelle der alten Kunde. Die Darlegung schließt sich zum Kreis. Der Mythos wird zur Vorgabe (nicht zur Voraussetzung) des Logos. — Das hat für den ,naturphilosophischen* Beweis zunächst zur Folge, daß er auf den Mythos hin transparent wird. In dieser Sicht enthüllt er sich als dem Mythos unangemessen. — Nun war der ,naturphilosophische' Beweis aber auch dem weiteren Gang des Logos unangemessen, was sich am sinnenfälligsten (und nicht zufällig) vom Ende des ganzen Dialogs her bezeugt: Der sinnliche Anblick des Sterbens faßt nur das fortschreitende Erkalten des Leibes; was mit der Seele geschieht, entzieht sich ihm. Man möge sich an dieser Stelle vergegenwärtigen, welche Funktion der ,naturphilosophischee Beweis eigentlich nach Beendigung des Beweisgangs noch hat. Der Rückgang vom dritten Beweis zum ,naturphilosophischen' Beweis zeigte: Dem ,naturphilosophischen* Beweis bleibt es überlassen, (durch den Übergang des Wiederauflebens) das Vergessen begreiflich zu machen, auf das der Anamnesisbeweis sich stützt. Das vermag der Mythos aber viel besser, da der ,naturphilosophische* Beweis die Seele gar nicht als denkende zu fassen bekommt, sondern sie gänzlich in den Kreislauf der Natur, des Werdens, versetzt. Der Mythos tritt auch an die Stelle des ,naturphilosophischen* Beweises. Er reinigt den Beweisgang von dem Unzulänglichen, das ihm aus dem ,naturphilosophischen* Beweis noch anhaftet und das der Logos selbst nicht abstoßen konnte. Der Mythos macht die sinnlichen Anblicke des Sterbens und des Hervorgangs des naturhaft Seienden entbehrlich, jene Anblicke, die für das Wiederaufleben und für den Kreisgang der Natur einzustehen hatten, am Wesen der Seele aber gerade vorbeiblicken ließen. Der Mythos gibt das Wiederaufleben von der jenseitigen Welt her zu verstehen, als ein von dort her den Seelen zubestimmtes Geschick. Und er läßt Ausnahmen von der Wiedergeburt zu; die Philosophen und die für immer in den Tartaros Verdammten kehren nicht mehr hierher zurück. Der Mythos vollendet die Katharsis des Logos. Diese Leistung des Mythos für den Logos läßt den Logos als solchen und im Ganzen nicht
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unber hrt. Er verwandelt den Logos. Wenn der Mythos nicht nur an die Stelle der alten Kunde r ckt, sondern sogar an die des ,naturphilosophischen' Beweises, ergibt sich ein Zirkel, der vom Standpunkt der formalen Logik aus gesehen unertr glich erscheinen m te. Der Mythos bedarf des Beweisgangs als seiner Begr ndung in dem fr her er rterten Sinn, er setzt ihn voraus. Erst am Ende des Beweisgangs ist er m glich. Keinen Augenblick fr her, als er erz hlt wird, hat er ein Recht; das bezeugt der mi gl ckte Mythos nach dem zweiten Beweis. Und der Beweisgang mu te zuerst genau so durchgef hrt werden, wie er im Text vorliegt. Dann aber, nachdem der Mythos erz hlt ist, schwingt das Denken in den Anfang zur ck. Das Ende setzt sich als Anfang; es schlie t sich ein Kreis. Das Beweisen erbringt in fortschreitender Katharsis f r den Mythos die Voraussetzung der Unsterblichkeit und Unversehrbarkeit der Seele. Dann jedoch tr gt der Mythos seinerseits auch den Logos und vollendet dessen Katharsis. Dieses ist das innere Geschehen des Dialogs. Man liest des fteren, Platon selbst habe seine Beweise im Phaidon nicht ernst genommen. Zu dieser Auffassung mag gelangen, wer den Phaidon an dem mi t, was man im Sinne der formalen Logik unter einem strengen Beweis versteht. An dem eigent mlichen Wahrheitsgeschehen des Phaidon geht eine solche Auffassung aber hoffnungslos vorbei. Der beweisende Logos des Phaidon ist Wissen. Aber er ist ein Wissen, das seine eigene Vollkommenheit nicht erreichen kann. Ihm mangelt die volle Sicherheit, weil er sich nicht g nzlich von der Sinnlichkeit zu reinigen vermag. Das Rechenschaft-geben stellt sich in die strenge Gestalt des Beweisens auf und erreicht doch keine Unbedingtheit. Das wird am Ende des Beweisgangs von allen Beteiligten ausgesprochen. Kebes, der unbeirrbar auf seinem Gegenargument beharrte und das Rechenschaft-geben auf die h chste Ebene hinauftrieb, erkl rt nach dem dritten Beweis, da er nichts mehr dagegen vorzubringen habe und dem Dargelegten den Glauben nicht versage (siehe 107a3: ουδέ πη άπιστεϊν τοις λόγοις). Diese Formulierung aus seinem Mund l t aufhorchen. Kebes hat etwas vom Beweischarakter dieses Beweises begriffen. Er f gt sich in diesen menschlichen Logos und die von ihm gew hrte Sicherheit. Simmias, wiewohl auch er keinen Einwand mehr formulieren kann, beh lt einen Rest von Unglauben (απιστία — 107b2), eingedenk der Gr e des Er rterten und der menschlichen Schwachheit (107a9 f.). Sokrates r umt ihm das ein und fordert die Freunde auf, die ersten Voraussetzungen (τάς γε υποθέσεις τάς πρώτας — 107b5)u noch genauer ins Auge zu fassen. Wenn das ge-
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schehen sei, würden sie dem Logos folgen, soweit es dem Menschen möglich ist (107b7 f.). Am Ziel und auf dem Höhepunkt des beweisenden Logos erfolgt das ausdrückliche Sich-fügen in die Endlichkeit menschlichen Denkens. Für den s o verstandenen Logos kann der Mythos etwas leisten, eben die Vollendung seiner Katharsis. Dadurch verwandelt er aber den Logos. Das heißt nicht, daß der Unterschied von Logos und Mythos beseitigt würde. Der Logos bleibt Rechenschaft-geben durch Vorweisen von Gründen. Aber als solches steht er jetzt im Horizont einer Auslegung. Ihn in diesen Horizont zu stellen, bedeutet im Sinne Platons keine Herabminderung, sondern eine Vervollkommnung des Logos. Weder gewinnt noch verliert der Logos dadurch an Sicherheit. Aber er gewinnt an Reinheit. Indem er sich mit dem Mythos vereinigt, stößt er seinen ihm unangemessenen Ausgang von der Sinnlichkeit ab. Er tauscht die Unsicherheit der Sinne gegen die Wahrheit des Mythos, welche Wahrheit sich doch ohne ihn (und seinen früheren Ausgang vom Sinnlichen) nicht hätte eröffnen können. Der Phaidon fordert zwei Denkbewegungen: Er fordert, den Gedankengang von Anfang bis Ende geradlinig zu vollziehen. Diese Bewegung folgt dem Aufbau des Dialogs. Und er fordert sodann, wenn die vorige Bewegung am Ziel angelangt ist, sich nochmals auf das Ganze zurückzuwenden, das Ende mit dem Anfang zu vereinigen und sich in den Kreis zu fügen. Die erste Bewegung nimmt ihren Ausgang von der Gefaßtheit, ja Heiterkeit des Sokrates. Der Grund dieser Verfassung soll sich zeigen, und es zeigt sich Sokrates' Hoffnung. Als seine und nur seine Hoffnung fordert sie aber, vom Standpunkt der Freunde aus und damit diese mit Sokrates eines Sinnes sein können, weitere Rechenschaft. Die in ihr implizierte Voraussetzung erheischt einen Beweis. Von einer alten Kunde her, die das Zu-beweisende artikuliert, kommt der erste Beweis in Gang. Der Beweisgang setzt sich fort, im Blick auf das Zubeweisende Fortschritt und Rückschritt erleidend, dabei aber gerade sich reinigend, sich entfernend vom Unangemessenen des ,naturphilosophischen' Beweises. Die Voraussetzung der Hoffnung wird schließlich sichergestellt, soweit dem menschlichen, endlichen Logos das möglich ist. Dadurch begründet, kann die Hoffnung sich im Mythos entfalten. Ein Denken in Bildern entwirft den Bereich, in dem die Hoffnung des Philo11
Vgl. S. 85.
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sophen Aussicht hat auf Erfüllung. — Das Denken, das den Weg nicht vergißt, den es zurückgelegt hat, vollzieht nun eine Rückwendung und schließt einen Kreis. Der Mythos am Ende ist die Entfaltung der Hoffnung, von der die Überlegung ausging. Er wird jetzt selbst mit dem Anfang eins. Zugleich tritt er an die Stelle der alten Kunde, ja an die des ,naturphilosophischen' Beweises. Da selbst der dritte Beweis den ,naturphilosophischen' Beweis noch braucht, tritt der Mythos an den Anfang des Logos. Dadurch verwandelt er den Logos. Er holt ihn ein in den Horizont einer Auslegung, aber gerade nicht so, daß er dem Logos das Begründen nähme, wodurch er ihn und damit schließlich sich selbst zerstören würde. Es bleibt festzuhalten, daß die zweite Bewegung der ersten bedarf. Beide Bewegungen zusammen sind das Wahrheitsgeschehen des Phaidon. Der Phaidon ist eine entschiedene Aussage Platons zum Wesen der Philosophie. Wie steht diese Aussage zu der des Symposion? In der ,Redec des Sokrates im Symposion steht Philosophie als richtige Meinung im Vordergrund. Die richtige Meinung kann nicht Rechenschaft geben, kann keine Gründe vorweisen; sie ist in der Mitte zwischen Weisheit (Wissen) und Unverstand bzw. Unwissenheit. Von dieser Art ist der Mythos des Phaidon. Er ist zugleich im Sinne des Symposion ein Auslegen, kann also Angleichung (adaequatio) nicht beanspruchen; er ist ein Dolmetschen, das von der Seite der Menschen aus, also philosophisch, Göttliches in das menschliche Verstehen übersetzt. Er verdolmetscht, was den Seelen nach göttlichem Richterspruch zuteil wird, wenn sie den Leib verlassen haben. Er läßt zwischen dem Jenseits und dem Leben hier ein Zwischen sein, indem er die Seele im Leben schon auf das jenseitige Dasein zugehen läßt. Er hält den Bezug zum Jenseits wirksam, indem er den Menschen in die Sorge um die Trefflichkeit der Seele stößt. Überdies vermittelt er das All. Er ist dämonisch im Sinne des vom Symposion herausgestellten dämonischen Wesens der Philosophie. Der richtigen Meinung im Phaidon, also dem Mythos, wird aber im beweisenden Logos ein Gegengewicht geschaffen, das im Symposion fehlt. Ja, vom Symposion herkommend, muß man sagen: Im Phaidon herrscht der beweisende Logos vor, scheint er das Übergewicht zu haben. Der Logos als Durchsprechen vermag im Symposion aus sich nichts Positives beizubringen. Er muß mehrmals durch die richtige Meinung (die Weisheit Diotimas) aus der Aporie gerettet werden. Der beweisende Logos im Phaidon vermag etwas aus sich selbst. Er kann sich auch selbst aus der
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Krise retten, in die er nach dem zweiten Beweis durch die Einwände gerät. Der Mythos könnte ihm da, nicht helfen. — Der beweisende Logos des Phaidon könnte für sich stehen. Er bliebe dann, als was er am Ende des dritten Beweises aufgefaßt wird: ein Beweis, dem ein Moment der Unsicherheit anhaftet, das nicht zu beseitigen ist, weil das menschliche Denken endlich ist und bezüglich eines Gegenstandes wie der Unsterblichkeit der Seele an seine Grenze stößt — aber er bliebe eben doch beweisendes Wissen. Dieser Logos könnte sich gegen die Vollendung seiner Katharsis durch den Mythos sperren, er bliebe doch beweisender Logos. Das Motiv für das Denken, ihn im Mythos zu überschreiten, liegt weniger in der Unreinheit des Logos als darin, daß die Hoffnung über das, was der Logos darlegen kann, von Anfang an schon hinausgegriffen hat. Durch die Selbständigkeit des beweisenden Logos ist die Begründungsleistung möglich, die er für den Mythos übernimmt. Daß er als selbständiger unsicher ist, macht eine Leistung des Mythos für ihn möglich, läßt ihn offen sein für eine Verbindung mit dem Mythos. Das Moment der Unsicherheit, das aus seiner Unreinheit herrührt, trennt ihn von der Weisheit, vom Wissen im Sinne des schlechthin gesicherten Besitzes der Wahrheit. Der beweisende Logos des Phaidon ist gewissermaßen ein Mittleres zwischen richtiger Meinung, die sich nicht begründen kann, und Weisheit. Er fügt sich in das dämonisch-hermeneutische Wesen der Philosophie. Die Philosophie aber gibt nun dem Beweisen als einem von der richtigen Meinung verschiedenen Denken Raum. Zugleich holt sie das Beweisen in den Horizont einer Auslegung ein. Im Symposion hatte sich die Bewegung des Vorgebens und Folgens als eigentümliche Bewegung des Philosophierens gezeigt. Das Folgen meinte die "Zueignung des Dargelegten durch den Denkenden. Der richtigen Meinung entsprach als Zueignung ein Glauben. Wie steht es damit im Phaidon? Der Mythos wurde bereits als richtige Meinung aufgefaßt. Er ist eine Vorgabe für den Denkenden. Die Vorgabe ist hier eine entfaltete Hoffnung und hat als solche den Charakter des Entwurfs. Auch ihre Zueignung ist ein Glauben. Sokrates glaubt, daß es sich so oder ähnlich verhalte, wie der Mythos gesagt hat. Diese Zueignung hat jetzt den Charakter des Wagnisses, sie wagt die Wahrheit. Geschieht das, dann bezaubert die Wahrheit, dann zieht sie in ihren Bann. Und: Bezaubernd, erleichtert, ja ermöglicht die Wahrheit das Wagnis. Hier ist Eros am Werk. Wagnis und Bezauberung in ihrer Spannung und ihrem Wechselverhältnis vollziehen sich im Medium der Leidenschaft. Darin geht der Phaidon über das Symposion hinaus, das die Leidenschaft in
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Alkibiades f r sich stellte, abseits von Diotimas Weisheit und vom G ttlich-Sch nen. Der Phaidros wird in der hier vom Phaidon eingeschlagenen Richtung weiter vordringen. Nun kennt der Phaidon daneben aber noch eine andere Zueignung, ein anderes Folgen — eben jenes Folgen, von dem am Ende des Beweisgangs gesprochen wird. Das Moment der Unsicherheit im Beweisergebnis, das nicht beseitigt werden kann, l t Sokrates die Freunde auffordern, die ersten Voraussetzungen noch genauer zu bedenken. Zueignung meint hier, angesichts dessen, was der beweisende Logos vorgelegt hat, im Denken fortfahren. Wagnis und Bezauberung einerseits, Fortfahren im Denken der Voraussetzungen andererseits, machen zusammen die Zueignung aus, die dem im Phaidon Dargelegten gem ist. Der beweisende Logos im Phaidon bleibt unsicherer, endlicher, menschlicher Logos. Durch den Mythos wird er in den Horizont einer Auslegung eingeholt. Mit dem Mythos verbunden und selbst ein Mittleres zwischen richtiger Meinung und Weisheit, f gt er sich ein in das d monisch-hermeneutische Wesen der Philosophie. Wird das gesehen, dann stellt sich neu die Frage nach den ersten Voraussetzungen, von denen soeben und vorher schon einmal (S. 81 f.) die Rede war. Dem beweisenden Logos folgen, ihm entsprechen im Sinne der Zueignung, das erfordert nach Sokrates' Meinung, die ersten Voraussetzungen weiter zu bedenken. Was sind diese Voraussetzungen? Sind es die Argumente des ,naturphilosophischen( Beweises? Aber diese — im Logos — weiter zu bedenken, k nnte nichts erbringen. Die ersten Voraussetzungen sind nicht die Argumente des ,naturphilosophischen( Beweises, sondern die Ideen, die als die ersten und wahren Ursachen den dritten Beweis tragen und die schon den Anamnesisbeweis erm glichen. Ihr Sein liegt dem Beweisen vor und zugrunde. Es selbst wird nicht bewiesen. Es wird vorausgesetzt. Wir sagen, behaupten (φαμέν), da das Gerechte selbst etwas sei, ebenso das Sch ne selbst, das Gute selbst (siehe 65d4—8, dazu entsprechend 74a9—bl; vgl. ferner 76d7—77a5). Nachdem sein Einwand, die Seele sei eine Harmonie, von Sokrates widerlegt ist, bekennt Simmias sich zum Anamnesisbeweis und dessen w rdiger Voraussetzung (ύπόθεσις αξία — 92d6 f.). Als das Wesen der Ursache bestimmt werden soll, beginnt Sokrates damit, da er voraussetzt ('ύποθέμενος/)> das Sch ne selbst an ihm selbst, das Gute usw. seien (100b5—7, siehe ferner 102alO f.). Die Ideen sind die ersten Voraussetzungen des beweisenden Logos im Phaidon. Das Recht solcher Voraussetzung liegt zun chst in der Stimmigkeit dessen, was von ihr abgeleitet werden kann (siehe 101d2—5).
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Die Voraussetzung der Ideen hat sich im Beweisgang und durch den Beweisgang des Phaidon bew hrt, sie hat ein stimmiges Beweisergebnis gew hrt. Indessen besteht das Folgen, die Zueignung, hier ja darin, die Voraussetzung weiter zu bedenken12. Wie soll das geschehen? Durch ein Rechenschaft-geben folgender Art: Der Rechenschaft-gebende legt aufs neue eine andere Voraussetzung zugrunde (αλλην αδ ΰπόθεσιν ύποθέμενος^ — und zwar diejenige h here, die als die beste erscheint — und dies Verfahren setzt er so lange fort, bis er bei einem Zureichenden ("ικανόν) ankommt (siehe 101d5—cl). Das Sonnengleichnis der Politeia bringt als Gleichnis das Denken vor das wahrhaft Erste. Sollte das W eiterbedenken der ersten Voraussetzungen, die den beweisenden Logos im Phaidon tragen, eines Gleichnisses bed rfen? Wenn Wahrheit und Sein dieser ersten Voraussetzungen (also der Ideen) nur von einem Gleichnis in ihrem zureichenden Grund gefa t werden k nnten, das Gleichnis aber eine Art der richtigen Meinung w re, dann w re der beweisende Logos des Phaidon zuletzt durch solche richtige Meinung gegr ndet. Diesen Schritt vollzieht der Phaidon selbst nicht. Aber vom S onne n gle ic h ni s der Politeia her wird sichtbar, was mit dem beweisenden Logos geschieht, wenn seine ersten Voraussetzungen weiter bedacht werden: Er kommt in einer richtigen Meinung auf seinen letzten Grund; er vereinigt sich mit einem Gleichnis in der einen Wissenschaft der Dialektik.
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Gerade wenn das aus den Voraussetzungen Gefolgerte stimmig ist, gilt es, die Voraussetzungen genauer ins Auge zu fassen. Afelt (Anm. 96, zur Stelle) vertritt die entgegengesetzte Auffassung.
5. Kapitel: Das G ttliche in der Seele (Sonnengleichnis, Politeia 506 d - 509 d) Der Phaidon stellte sich und l ste eine Doppelaufgabe. Er erbrachte den Auf weis, da die menschliche Seele nach dem Tod noch ist und noch zu denken vermag. Damit ist ber das Sein der Seele soviel entschieden: Die denkende Seele ist den Ideen verwandt (συγγενής). Das S o n n e n g l e i c h n i s der Politeia gr ndet die Verwandtschaft von Seele und Ideen in ihre gemeinsame Verwandtschaft zum G ttlich-Guten. Nicht, was das Gute selbst ist (αυτό μεν τί ποτ' εστί τάγαθόν — 506d8 f.), will und kann Sokrates zum Thema machen. Ein Spr ling (εκγονος) des Guten, diesem zuh chst hnlich (ομοιότατος έκείνω — 506e3 f.), tritt f r es ein: die Sonne. Was vom Guten sich zeigt, zeigt sich dank eines anderen, das von ihm abstammt und jedermann bekannt ist. Indessen geht die Darlegung nicht sofort schon auf dies Bekannte los. Es bedarf einer Vorbereitung, der Erinnerung an gleichfalls — wenn auch nur den Philosophierenden — Bekanntes und der Vergewisserung, da man sich einig ist ber es. Erinnert wird an die zwei Arten des Seienden, an das vielerlei einzelne einerseits, an die Ideen, deren jede durch ihre Anwesenheit in ihm vieles einzelne das sein l t, was es ist, andererseits. Einigkeit besteht dar ber, da die Ideen sind, sowie ferner dar ber, da die Ideen gedacht werden (νοεΐσθαι), w hrend das vielerlei einzelne gesehen wird (όρασθαι). Das vielerlei einzelne steht im Blick als das Sichtbare (δρώμενα). Wir sehen das Sichtbare mit dem Gesichtssinn bzw. mittels der Sehkraft (οψις). Das Sichtbare ist Sichtbares f r das Sehen der Sehkraft; das Sehen der Sehkraft ist Sehen von Sichtbarem. Aber weder bringt das Sichtbare das Verm gen gesehen zu werden von sich aus auf, noch die Sehkraft das Verm gen zu sehen. Sie bed rfen eines Dritten. Dieses Dritte, von ihnen artverschieden (γένος τρίτον — 507el), ist das Licht. Ohne das Licht bleiben die Farben der sichtbaren Dinge und damit diese selbst (f r das Sehen) verborgen. Das Licht erst holt sie aus ihrer Verborgenheit
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hervor; es l t sie erscheinen, indem es sie bescheint. Das Licht l t auch die Sehkraft erst sehen. Es macht die Sehkraft zu einem Verm gen, das etwas taugt. Es gew hrt der ihr eigenen Verrichtung die Trefflichkeit. Und zwar vollbringt das Licht das beides in eins und zumal. Es bindet Sichtbares und Sehkraft in ein Joch (ζυγόν — 508al), stiftet die Gemeinsamkeit von Gesehenwerden und Sehen. Da das Licht als ein Drittes dies vollbringt, daf r steht das n chtliche Dunkel ein. Die Dunkelheit wird von den Sehenden erfahren als Absenz des Lichtes. Diese Erfahrung macht des Lichtes als eines Dritten gewi , dem die sichtbaren Dinge ihr Gesehenwerden und die Sehkraft das Sehen verdanken. Nun ist das (nat rliche) Licht das Scheinen der Sonne. Es ist die Wirksamkeit des von sich her Scheinenden. Die Sonne also ist es, der die sichtbaren Dinge ihr Gesehenwerden und die Sehkraft das treffliche Sehen (όραν ότι κάλλιστα — 508a5) verdanken. Der Gesichtssinn wohnt dem Auge ein. Das Auge ist das Organ des Sehens. In diesem Organ wirkt die Sonne. Es empf ngt seine Kraft von ihr als gleichsam von ihr ihm zuflie end (ωσπερ έπίρρυτον — 508b7). Deshalb ist es von allen Organen der Wahrnehmung das sonnenartigste (ήλιοειδέστατον — 508b3). Es ist von der Art der Sonne, ist ihr verwandt. Die Sonne ist Ursache (αίτιος — 508b9) der Sehkraft. Und sie wird als diese Ursache selbst gesehen. Das Verh ltnis von Sonne/Licht, Sichtbarem und Sehkraft wurde nicht um seiner selbst willen betrachtet, sondern um das Denken vor das G ttlich-Gute zu f hren. Der Dreiheit in der sichtbaren Welt soll eine Dreiheit in der denkbaren Welt entsprechen; das Verh ltnis der einen soll das der anderen aufhellen. Hier stellt sich sofort die Frage nach dem Recht dieses Vorgehens. Zwar mag man ohne weiteres, da ja Einigkeit herrscht ber Sein und Gedachtwerden der Ideen, dem Sichtbaren die Ideen als das Denkbare (νοούμενα — 508cl) und der Sehkraft die Vernunft (νους — ebd.) entsprechen lassen. Die Annahme eines Dritten aber im Bereich des Denkbaren scheint zun chst h chst willk rlich. Sie bedarf der Rechtfertigung, und sie wird gerechtfertigt, indem eine Entsprechung zum Unverm gen der Sehkraft in der Dunkelheit vorgewiesen wird. Der Denkende (d. h. der, der zum Erkennen von Ideen gelangt ist), erf hrt im R ckblick auf seinen fr heren Zustand diesen als Unverm gen seiner Vernunft. Das Meinen (δοξάζειν — 508d8), das sich an die jeweiligen sinnlichen Anblicke des Werdenden h lt, ist T tigkeit
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einer Vernunft, die nichts vermag1. Dies Meinen ist ein Faktum (das H ö h l e n g l e i c h n i s zeigt, daß j e d e r Mensch zunächst im Zustand solchen Meinens ist). Als Faktum steht es dafür ein, daß ohne ein Drittes die Vernunft nicht die Kraft hätte, die Ideen zu denken2. Also entspricht der Dreiheit in der sichtbaren Welt eine Dreiheit in der denkbaren Welt, und der Versuch der Übertragung des Verhältnisses der einen Dreiheit auf die andere kann gemacht werden. Die Ideen sind das Denkbare. Wir denken das Denkbare mit der Vernunft. Das Denkbare ist Denkbares für das Denken der Vernunft; das Denken der Vernunft ist Denken von Denkbarem. Aber weder bringt das Denkbare das Vermögen gedacht zu werden von sich aus auf, noch die Vernunft das Vermögen zu denken. Oder anders formuliert: Weder bringen die Ideen ihre Wahrheit von sich aus auf, noch die Vernunft das Erkennen. Sie bedürfen eines Dritten. Dieses Dritte, von ihnen artverschieden, ist die Wirksamkeit der Idee des Guten. Ohne das Richten' der Idee des Guten blieben die Ideen verborgen. Dies ,Lichtenc erst holt sie aus der Verborgenheit hervor. Die Idee des Guten macht die Ideen unverborgen, indem sie sie bescheint ( — 508d5). Sie läßt auch die Vernunft erst denken. Sie macht die Vernunft zu einem Vermögen, das etwas taugt. Sie gewährt ihr die Trefflichkeit zu erkennen. Die Idee des Guten vollbringt das in eins und zumal. Sie bindet Ideen und Vernunft in ein Joch, stiftet die Gemeinsamkeit von Erkanntwerden und Erkennen. Der Idee des Guten verdanken die Ideen ihr Erkanntwerden und die Vernunft das Erkennen. Die Vernunft wohnt der Seele ein (vgl. Politela 518c4—6). In der Seele wirkt die Idee des Guten. Von der Seele gilt entsprechend, was zuvor für Auge und Sonne gesagt wurde: Die Seele empfängt ihre Kraft von der Idee des Guten als gleichsam von ihr ihr zufließend. Deshalb ist sie gutartig ( — siehe 509a3). Sie ist von der Art der Idee des Guten; sie ist dem Göttlichen verwandt. Die Idee des Guten ist Ursache der Vernunft als erkennender. Und sie wird als diese Ursache selbst ,gedacht'. 1
Hier läßt das S o n n e n g l e i c h n i s auf das H ö h l e n g l e i c h n i s vorblicken. 2 An dieser Stelle wird natürlich auch das Problem der Paideia (.Bildung') akut. Im Blick auf die Paideia stellt sich das Verhältnis von S o n n e n g l e i c h n i s und H ö h l e n g l e i c h n i s so dar: Das S o n n e n g l e i c h n i s zeigt die Bedingung der Möglichkeit der Paideia; des H ö h l e n g l e i c h n i s zeigt die Notwendigkeit der Paideia. Siehe dazu Fleischer1.
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Platon selbst hat die Entsprechungen nicht in dieser Parallelität durchgeführt, wie es hier geschehen ist. Gleichwohl ist die hier gegebene Durchführung im Sinne des Gleichnisses. Das Ergebnis bezüglich der Seele lautet: Die Seele, soweit sie Vernunft, Kraft des Erkennens, hat (und ist), ist dem Göttlichen verwandt. Erkenntnis (Vernunft, Seele) und Wahrheit (Ideen) sind gutartig. Aber, so wird sofort eingeschärft: Sie sind nicht das Gute selbst. Dieses ist in noch höherem Maße zu schätzen ( — 509a4 f.). Das S o n n e n g l e i c h n i s , das die Verwandtschaft der Ideen und der menschlichen Vernunft zum Göttlichen vor Augen führt, verwischt nicht den Abstand jener zum Göttlichen. Es arbeitet diesen Abstand gerade deutlich heraus. Das S o n n e n g l e i c h n i s sagt über das Sein der Seele: Die Seele ist gutartig — von der Art der Idee des Guten und also dem Göttlichen verwandt. Steht diese Auskunft über die Seele nicht ontologisch unter einer Einschränkung? Die Wirksamkeit des Göttlichen in der Seele erwirkt der Vernunft die Kraft des Erkennens und damit die ihr eigene Trefflichkeit. Das H ö h l e n g l e i c h n i s aber, das mit dem S o n n e n g l e i c h n i s engstens zusammengehört (es bedurfte nicht des ausdrücklichen Hinweises Platons — Politeia 517a8 ff. —, um das zu begreifen), läßt keinen Zweifel darüber, daß nicht alle Menschen zu dieser Trefflichkeit gelangen. Tatsächlich gehören diese Gleichnisse ja in die Erörterung über die ,Bildung* der künftigen Herrscher, und das sind die Wenigen gegenüber den Vielen, denen die Herrschaft im Staat nicht anvertraut werden kann. In vielen Menschen bleibt nach Platons Auffassung die Denkkraft schwach. Kann auch bei ihnen vom Göttlichen in der Seele gesprochen werden? Im Kernstück der Politeia beantwortet Platon diese Frage auf folgende Weise: Sofern eine Seele der Kraft, die Ideen zu erkennen, ermangelt, kann von einer Wirksamkeit des Göttlichen in ihr nicht die Rede sein. Daran muß festgehalten werden, wenn das S o n n e n g l e i c h n i s nicht um seinen Sinn gebracht werden soll. Auch leitet sich ja das Recht der Annahme eines Dritten für den Bereich des Denkbaren von einem Zustand der Seele her, in dem sie in haltlosem Meinen befangen ist; der Vergleich dieses ZuStands der Seele mit dem des Erkennens erlaubt gerade, für den Zustand des Erkennens ein Drittes als Ursache anzunehmen; dieses Dritte wirkt eben n i c h t in der Seele, die ganz in das Aufnehmen des Werdenden aufgeht. Andererseits hebt Platon aber im Zusammenhang des H ö h l e n g l e i c h n i s s e s hervor, das
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G ttliche, dem die Trefflichkeit (αρετή) des Erkennens sich verdankt, verliere niemals seine Kraft (518e3 f.), es sei kraftvoll sogar in den B sen, wenn sie klug zu Werke gehen bei ihren schlechten Taten (siehe 519al—7). Die B sen vernehmen aber die Ideen nicht. Sie sind dem Bereich des Denkbaren abgewandt. — Was hier wie ein Widerspruch erscheint, kann doch als stimmig begriffen werden: Auch d i e Denkkraft, die es nicht dank einer ihr von der Idee des Guten zuflie enden Kraft zur Trefflichkeit der Ideenerkenntnis bringt und die in diesem Sinne schwach ist, ist g ttlichen Ursprungs. Sie ist es in ihrem Vollzug als solchem3 — und in ihrer urspr nglichen M glichkeit, durch ,Bildung' (παιδεία) umgewendet und in den Bereich des Denkbaren geleitet zu werden. Jede Seele hat G ttliches in sich. Jede Seele ist zwar zun chst dem Werdenden zugekehrt (denn sie hat ja, wie der Phaidon zeigte, bei ihrem Eintritt ins Leben die Ideen vergessen). Zugleich aber bringt sie von ihrem Ursprung her die M glichkeit mit, vom Werdenden (Sichtbaren) weg zum wahrhaft Seienden (Denkbaren) hin umgewendet zu werden (περιαγωγή — 518d4), so da die Idee des Guten in ihr wirksam werden kann in der vom S o n n e n g l e i c h n i s angenommenen Weise. Der Vollzug der Umwendung ist ,Bildung* (παιδεία). Nichts ist dem Menschen n tiger als sie. Der Phaidon zeigte: Die Seele hat teil an der Idee des Lehens (die unbestimmt blieb). Indessen erschien schon als klar, da das Sein der Seele von einer Idee des Lebens her nicht voll zu fassen sei (so wenig die Drei voll erfa t ist, wenn man ihre Teilhabe an der Idee des Ungeraden denkt). Eine Idee der Seele stand aber nicht in der Sicht. So war zu fragen: Durch Teilhabe woran ist die Seele Seele, wenn die Teilhabe an der Idee des Lebens vom Ansatz des Phaidon her nicht ausreicht, die Seele Seele sein zu lassen? Der Phaidon gab den Hinweis, die Seele sei etwas Gottartiges. Das Sonnengleichnis l st ein, was dieser Hinweis enthielt. Die Seele, soweit sie Vernunft ist, ist gutartig, von der Art der Idee des Guten, dem G ttlichen verwandt. Von den drei Begriffen, die Platon im Phaidon f r das Seinsverh ltnis von einzelnem und Idee aufstellte*, ist der der Anwesenheit (παρουσία) f r den vom Sonnengleichnis gedachten Sachverhalt der erhellendste. Erken3
Die gestufte Wiedererinnerung im Phaidros (vgl. S. 111 und S. 114) k nnte zu dieser L sung des Problems weiteres beitragen, freilich um den Preis, da in die Sph re des Meinens (δοξάζειν) begriffliches Denken aufzunehmen ist. « Vgl. S. 51 und S. 72.
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neu, Kraft der Vernunft, bedeutet Anwesenheit des G ttlichen in der Seele. Die Kraft des G ttlichen, anwesend in der Seele (und das hei t wirkend in der Seele), macht die Denkkraft, die der Seele je schon einwohnt, zur Vernunft im strengen Sinn, n mlich zur Kraft, die Ideen zu erkennen. Wieso die Anwesenheit des G ttlichen in der Seele eine Teilhabe (μέθεξις^ der Seele am G ttlichen ist, wird schon im Phaidros deutlicher heraustreten und im Politikos und Philebos thematisch sein. Eine Gemeinschaft (κοινωνία^ der Seele mit dem G ttlichen gibt das Sonnengleichnis selbst zu verstehen: Die Idee des Guten wird als Ursache der Kraft des Erkennens , g e d a c h t'. Die Kraft, die die Vernunft der Idee des Guten verdankt, ist auch Kraft, die g ttliche Quelle ihrer selbst anzuschauen. Diese Gemeinschaft der Seele mit dem G ttlichen ist eroshaft. Das geht aus einer Stelle im Zusammenhang des H hlengleichnisses hervor, die sich ebensosehr auf das Sonnengleichnis bezieht. Von denen, die den Aufstieg des Denkens vollendet haben, indem sie der Idee des Guten ansichtig wurden, hei t es, da sie, „dort angekommen, nicht bereit sind, menschliche Alltagsgesch fte auszuf hren, vielmehr verlangen ihre Seelen immer danach, da oben zu verweilen" (ενταύθα έλθόντες ουκ έθέλουσιν τα των άν&ρώπων πράττειν, αλλ' άνω αεί επείγονται αυτών αί ψυχαί διατρίβειν — Politeia 517c8 f.)6. Das Sonnengleichnis zeigt, ber den Phaidon hinausgehend, das G ttliche in der Seele. Es bringt so die Frage nach dem Sein der Seele (und also des Menschen) weiter voran. Die Seele ist gutartig, der Idee des Guten verwandt. Dieses Ergebnis des Sonnengleichnisses wird auch durch das H hlengleichnis und die an es anschlieenden berlegungen nicht eingeschr nkt. ]edoch wird man durch die Erw hnung der B sen, die Schlechtes klug und ,trefflich' vollbringen, wie auch durch das Bild der Gefesselten im H hlengleichnis an jene Stufung der Seelen erinnert, die der Mythos des Phaidon sehen lie . Der Phaidros wird sie nochmals aufnehmen. Dieser Dialog wird auch, ankn pfend an die Ausf hrungen ber die drei Teile der Seele im 4. Buch der Politeia, die gedoppelte Herkunft des Menschen aus Entgegengesetztem, also das d monische Wesen des Menschen, wieder aufgreifen, worin ihm der Politikos noch entschiedener folgen wird, wie auch im Philebos dies Thema bestimmend sein wird. * Zum Verh ltnis von Philosophie und Eros in der Politeia vgl. Kr ger S. 218 und die Stellenangaben dort.
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Was vermag der Mensch, dem die Idee des Guten Kraft des Erkennens spendet? Er vermag, die Ideen zu denken und die Idee des Guten als den Ursprung seiner Kraft und der Wahrheit (wie des Seins) der Ideen zu begreifen. Die Idee des Guten schauend, vermag er aber noch mehr: vern nftig zu handeln — „sei es f r seine Person, sei es in ffentlichen Angelegenheiten" (r\ ίδίςι ή δημοσίςι — 517c5). Der Philebos, der das Gl ck des Individuums bestimmt, wird das eine, der Politikos, der den Menschen als politisches Wesen denkt, wird das andere wieder aufnehmen.
6. Kapitel: Gleichnis der Wahrheit - Wahrheit des Gleichnisses (Sonnen gleichnis) Es wurde schon gesagt: Nicht, was das Gute selbst ist, legt Sokrates dar; einen Spr ling des Guten, dem Guten sehr hnlich, f hrt er vor. Das Gute erscheint in einem Gleichnis. Die Sonne ist Abbild (είκών — 509a9) der Idee des Guten. Das Gute mittels dieses Abbildes vor das Denken bringend, teilt Sokrates seine A n s i c h t bez glich des Guten mit (siehe 509c3 f.: τα έμοί δοκοΰντα περί αύτοϋ λέγειν). Wird auf diese Weise das Gute aber berhaupt gedacht? Die Frage gewinnt ihre ganze Sch rfe, wenn die weitl ufig angelegte Vorbereitung des Gleichnisses beigezogen wird. Es geht um die Heranbildung derer, die im Staat die Herrschaft ausben sollen. Von ihnen mu erwartet werden, da sie sich in den h chsten Wissenschaften (μέγιστα μαθήματα — 503e4) bew hren, da sie bis zum Gipfel der h chsten Wissenschaft gelangen (vgl. 504d2 f.). Den Weg dorthin vorzuzeichnen, hei t, ihn selbst zu gehen. Und die Untersuchungen der Politeia sind an dem Punkt angelangt, wo dieser Weg beschritten werden mu . Die Er rterung ber die Gerechtigkeit und die anderen Tugenden mu ber den gegebenen Umri (υπογραφή — 504d6) hinaus zur vollendetsten Ausarbeitung (τελεωτάτη άπεργασία — 504d7) gebracht werden. Sie stellt sich jetzt unter den Anspruch der gr ten Genauigkeit (siehe 504d8—e4). Damit macht sie sich f r den h chsten Gegenstand des Wissens (μέγιατον μάθημα — 505a2) bereit, f r die Idee des Guten. Von dieser wird zwar gesagt, „da wir sie nicht hinreichend kennen" (ότι αυτήν ούχ ίκανώς ΐσμεν — 505a5 f.), aber deshalb geht es gerade darum, sie zu erkennen (φρονεϊν — 505b3). — Dann aber, als nach einer weiteren berlegung dies Erkennen in Angriff genommen werden soll, sieht Sokrates sich nicht mehr so recht daf r aus. Der aufgestellte Anspruch scheint den Erkennenden im Angesicht seiner Aufgabe zu erdr cken. Jetzt fragt Sokrates: „Scheint es dir recht, da man wie ein Wissender redet ber solches, ber das man nichts wei ?" (δοκεΐ σοι δίκαιον είναι περί ων τις μη οΐδεν 7-έγειν ως είδότα; 506c2 f.). Ihm wird der Bescheid, wie ein Wissender solle man keineswegs dar ber reden, aber
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man solle bereit sein, wie ein Meinender das, was man meint, zu sagen. Darauf gibt Sokrates zu bedenken, da Meinungen ohne Wissen nichts taugen — „(selbst) die besten von ihnen sind blind" (ων αί βέλτιστοι τυφλοί — 506c7). Was ber die Idee des Guten dargelegt werden k nnte, ger t in den Verdacht, Meinung ohne Erkenntnis und also blind zu sein. Wo der h chste Gegenstand des Wissens vom Erkennen h chste Genauigkeit fordert, scheint mehr als erkenntnisferne Meinung nicht m glich zu sein. Dennoch folgt das Gleichnis. Es m te seine eigene Wahrheit selbst erst mit er ffnen. Nur wenn dies Gleichnis zugleich mit zu verstehen gibt, wieso es als Gleichnis Wahres sagt, wird es nicht zwischen dem Anspruch gr ter Genauigkeit und dem Verdacht, blinde Meinung zu sein, zerrieben. Was sagt das Gleichnis ber die Wahrheit? Wahrheit ist zum einen Wahrheit der Ideen (508el f.). Sie ist die Unverborgenheit der Ideen f r die Vernunft. Ihre Unverborgenheit f r die Vernunft bringen die Ideen nicht selbst auf. Sie verdanken sie der Wirksamkeit der Idee des Guten. Diese ,lichtet* die Ideen, bescheint sie. In ihrem ,Lichten' ist sie selbst wahr. Sie erf llt damit die ontologische Forderung, die an jede Ursache gestellt ist, n mlich selbst das zu sein, was ihr verdankt wird. Wahrheit ist also zum anderen Wahrheit der Idee des Guten. Die Idee des Guten kann selbst Wahrheit genannt werden (508d5). — Wahrheit der Ideen und Wahrheit der Idee des Guten sind nicht dasselbe. Nicht nur, weil die Idee des Guten die Wahrheit der Ideen weit bertrifft (508e3—509al). Die Wahrheit der Idee des Guten unterscheidet sich von der Wahrheit der Ideen prim r nicht durch den Grad. Sie ist, vom menschlichen Erkennen her betrachtet und f r es, von anderem Charakter. Platon gibt das unmi verst ndlich zu verstehen. Er sagt, die Idee des Guten sei Ursache (αιτία) der „Wahrheit, s o w e i t d i e s e e r k a n n t w i r d " (αληθείας, ως γιγνωσκομένης — 508e4). Von „Wahrheit, soweit diese erkannt wird" zu sprechen, hat nur Sinn in Abhebung von einer Wahrheit, die nicht erkannt wird. Die Wahrheit, die erkannt wird, ist die Wahrheit der Ideen. Erkennen ist Erkennen der Ideen; es ist die Trefflichkeit der Vernunft, die diese erreicht in dem Joch, in das die Idee des Guten sie mit den Ideen zusammenspannt. In dem vom S o n n e n g l e i c h n i s festgelegten Sinn von Erkennen wird die Idee des Guten nicht erkannt. Dem Erkennen der Ideen ist die Idee des Guten entzogen. Wenn sie dennoch auch f r den Menschen Wahrheit ist, dann f r ein andersartiges Denken.
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Das l t sich auf einem anderen Weg noch best tigen. Daf r ist jener Teil des Gleichnisses heranzuziehen, der bisher au er Betracht blieb. Das Sichtbare verdankt der Sonne nicht nur seine Sichtbarkeit, sondern auch Werden, Wachstum und Nahrung (509b2—4). Entsprechend verdankt das Denkbare der Idee des Guten nicht nur seine Wahrheit, sondern auch das Sein und das Wesen (το εΐναί τε και την ούσίαν — 509b7 f.). Die Ideen verdanken der Idee des Guten, da sie sind und was sie sind: best ndige Anwesenheit. Die Idee des Guten aber ist nicht in dieser Weise seiend. Sie ist jenseits dieses Seins und ber es hinaus, sie bertrifft es an W rde und Kraft1. Wenn aber das Sein der Ideen und das Sein der Idee des Guten verschieden sind, dann auch ihre Wahrheit. Wahrheit ist ja Offenbarkeit des Seins. — Das vorige macht noch einmal den Schritt deutlich, den das S o n n e n g l e i c h n i s bez glich des G ttlichen ber das Symposion hinaus tut. Im Symposion wurden dem G ttlich-Sch nen die Seinscharaktere der Ideen beigelegt. Das S o n n e n g l e i c h n i s hebt das Sein des G ttlich-Guten deutlich von dem der Ideen ab. — Andererseits freilich nennt es das G ttlich-Gute I d e e des Guten (neben der h ufigeren Benennung „das Gute"). Es ist dies gleichsam der Widerschein, den die Ideen auf das G ttliche werfen, sofern es als ihre Ursache beansprucht wird. Weil die Ideen Ursachen (des Werdenden) sind, kann das G ttliche, wo es als Ursache angesprochen wird, Idee genannt werden. Ein Mi verst ndnis ber das Sein des G ttlichen und ber seine Wahrheit kann dadurch nicht aufkommen; dem kommt das Gleichnis auf alle Weise zuvor. Das Gleichnis begann durch das Wagnis eines Sprungs. Das Denken bersprang die Unsicherheit, von der es in der aporetischen Situation zwischen h chstem Anspruch an Genauigkeit einerseits und Verdacht auf erkenntnislose Meinung andererseits befallen wurde. Es mu te darauf vertrauen, da das Gleichnis die M glichkeit einer ihm als Gleichnis eigenen Wahrheit mit er ffnen w rde, anders gesprochen, da das Gleichnis sehen lassen w rde, wie es auf seine Weise Wahres zu fassen vermag. Das ist geschehen, indem das Gleichnis die Wahrheit des G ttlich-Guten als verschieden von der Wahrheit der Ideen sichtbar machte. Ist die Wahrheit des G ttlich-Guten nicht die der Ideen, dann kann es auch nicht auf die Weise erkannt werden, wie die Ideen erkannt werden. Nur wenn und solange die Erkenntnis der Ideen als Ma alles Wissens 1
Siehe 509b8—10: ουκ ουσίας δντος του άγαθοΰ, αλλ' Ιτι έπέκεινα της ουσίας πρεσβεία καΐ δυνάμει υπερέχοντος.
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genommen wird, kann die Furcht vorwalten, der Versuch, sich dem Göttlichen denkend zu nähern, werde nichts anderes sein können als Meinung ohne Wissen. Wenn aber Sein und Wahrheit der Ideen erst auf ihren Grund kommen dank der anderen Wahrheit des Göttlich-Guten, dann ist die Sicherheit und Genauigkeit der Ideenerkenntnis nicht mehr das Maß für alles Wissen. Der Sprung ins Gleichnis erbringt nicht zuletzt die Einsicht, daß es möglich ist, das Göttliche im Gleichnis zu denken. Das S o n n e n g l e i c h n i s ist kein Gottesbeweis. Es beweist nichts, es legt mittels eines Bildes etwas aus. Das, wofür das Bild steht, muß für das das Gleichnis hervorbringende Denken im Vorblick stehen. Ohne einen solchen Vorblick könnte kein Bild als Bild f ü r . . . genommen werden, was ja die Einsicht in eine Ähnlichkeit voraussetzt — ohne einen Vorblick auf das Göttliche als Ursache von Wahrheit, Sein und Denken könnte mit dem Bild der Sonne gar nicht der Versuch gemacht werden, Wahrheit, Sein und Denken auf ihren Grund zu bringen. Was leistet aber dann das Bild? Es ermöglicht, die im Vorblick vorläufig und undeutlich schon verstandenen Bezüge deutlich auseinanderzulegen. Dies deutliche Auseinanderlegen geschieht in der Übertragung des Bildes. Bei der Übertragung kommt alles darauf an, genaue Entsprechungen herzustellen — Genauigkeit ist gefordert. Mit der vollzogenen Übertragung endet die Funktion des Bildes. Es bestätigt nicht die Wahrheit des mit seiner Hilfe Gedachten. Das mittels des Bildes Gedachte muß seine Wahrheit aus sich und in sich haben. Daß das Göttlich-Gute den Ideen Wahrheit und Sein und der Vernunft Kraft des Erkennens gewährt, ist nicht deshalb wahr, weil ersichtlich die Sonne die sichtbaren Dinge sichtbar sein und gedeihen läßt und die Sehkraft trefflich macht. Das vom S o n n e n g l e i c h n i s gedachte Verhältnis von Idee des Guten, Ideen und Vernunft hat seine Wahrheit darin, daß durch dies Verhältnis die die Ideen erkennende Vernunft sich in ihrer eigenen Möglichkeit versteht. Sie legt sich auf ihren ermöglichenden Grund hin aus, und diese Auslegung begreift sie als wahr. Das S o n n e n g l e i c h n i s bringt solches auf seinen Grund, das es zuvor vorausgesetzt hat2. Sollte hier etwas bewiesen werden, wäre der Vorwurf des fehlerhaften Zirkels unvermeidlich. Aber ein Gleichnis beweist nichts. Und das S o n n e n g l e i c h n i s zeigt eine dem auslegen* Diese Voraussetzung ist nicht mit dem Vorblick identisch, von dem soeben gesprochen wurde. Der Vorblick überschreitet gerade das Vorausgesetzte auf seinen Grund hin.
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den Verstehen eigene Kreisbewegung: Was schon verstanden ist (Wahrheit und Sein der Ideen, Erkenntniskraft der Vernunft) und als schon Verstandenes vorausgesetzt wird, wird auslegend auf einen Grund gebracht, der es erst wahrhaft verstehbar macht. Das Gleichnis nimmt an wichtiger Stelle die Erfahrung in Anspruch, die die Vernunft mit sich selbst schon gemacht hat: die Erfahrung ihrer entgegengesetzten Zustände, ihrer Kraftlosigkeit beim gebannten Hinschauen auf das Werdende einerseits, ihres kraftvollen Vermögens beim Erkennen der Ideen andererseits. Im Gleichnis gibt die Vernunft sich ihre Kraft aus ihrem Ursprung her zu verstehen; jetzt erst begreift sie, was diese Kraft in Wahrheit ist: Wirksamkeit des Göttlichen in der Seele. Das Gleichnis schickt als Voraussetzung voraus die Wahrheit und das Sein der Ideen (vgl. 507a7 ff.). Das Denken ist sich der Wahrheit und des Seins der Ideen schon gewiß — weil es sie erkennt. Aber es versteht Wahrheit und Sein der Ideen erst wahrhaft aus ihrem göttlichen Grund, den das Gleichnis sehen läßt. Schließlich ist auch der Gedanke, daß die Sonne ein Sprößling des Göttlichen sei, eine Voraussetzung. Erst wenn die Idee des Guten als Ursache des Seins der Ideen gedacht worden ist, kann das in der Voraussetzung Vorausgeschickte denkend eingelöst werden. Als Ursache der Ideen ist die Idee des Guten nämlich, da die Ideen ja die Ursachen alles Werdenden sind, auch Ursache der sichtbaren Welt, und so denn wohl auch der Kraft der Sonne, ohne die das Werdende nicht wäre. Der beweisende Logos im Phaidon mußte sich als ein Mittleres zwischen Weisheit und richtiger Meinung verstehen. Er mußte ein Moment der Unsicherheit einräumen. Als die ihm gemäße Zueignung forderte er, die von ihm gemachten Voraussetzungen weiter zu bedenken. Diese Voraussetzungen sind die als seiend und wahr gesetzten Ideen. Sie weiter bedenken, heißt, sie auf ein Voraussetzungsloses, Zureichendes hin übersteigen. Der Überstieg wird im Phaidon als Rechenschaft-geben gefordert. Unter der Forderung des Rechenschaft-gebens tritt das Denken in der Politeia zu dieser Aufgabe an. Es stellt sich unter den Anspruch größter Genauigkeit. Der Erfüllung seiner Aufgabe sich weiter nähernd, begreift es aber, daß dem Anspruch auf der Ebene des Rechenschaft-gebens nicht entsprochen werden kann. Würde der Anspruch auf dieser Ebene festgehalten, so müßte jeder Versuch, die Aufgabe in Angriff zu nehmen, sich an dem Verdacht aufheben, blinde Meinung zu sein. Indessen gibt der Logos seine Aufgabe an ein Gleichnis ab. Das geschieht in einem Sprung und als ein Sich-fügen des Denkens in ein Verstehen, das Platon im Sym-
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posion als richtige Meinung vorf hrte3. Der Denkende geht, vom Rechenschaft gehenden Logos herkommend, mit Bedauern in das Gleichnis hinein: Vom Spr ling des Guten sprechen, nicht aber von seinem Vater, das bedeutet, Zinsen bezahlen, aber das Geschuldete selbst zur ckhalten; viel lieber jedoch w rde Sokrates das Geschuldete auszahlen als blo die Zinsen, wenn er nur k nnte (506e3—507a2). Dann aber bringt das Gleichnis die M glichkeit seiner eigenen Wahrheit — als einer von der Wahrheit der Ideen und des auf sie gerichteten Erkennens verschiedenen Wahrheit — selbst mit ans Licht. Und das erm glicht dem Denkenden, anders aus dem Gleichnis herauszugehen, als er sich in es hineinbegab. Das Liniengleichnis schon fa t das Erkennen der Ideen und das Denken ihres voraussetzungslosen Anfangs als einen Teil der Linie, als die eine „Wissenschaft der Dialektik" (του διαλέγεσθαι επιστήμη — Politeia 5lief), die an Deutlichkeit alles andere Erkennen bertrifft dank des Grades der Wahrheit dessen, was sie betrachtet. Innerhalb der Bestimmung der Paideia als Periagoge, die vom H hlengleichnis erm glicht wird, wird das G ttlich-Gute als das Hellste unter dem Seienden (του δντος το φανότατον — 518c9) bezeichnet. Die Rede vom Guten als h chstem Gegenstand des Wissens (μέγιστον μάθημα) wird, mit ausdr cklicher Ankn pfung an die fr here Stelle, wieder aufgenommen (519c9 f.). — Die Wissenschaft der Dialektik wird f r Platon dadurch nicht weniger wissenschaftlich, da sie ein Gleichnis vom G ttlich-Guten in sich aufnimmt. Der Logos, der die Ideen denkend fa t, ist und bleibt 3
In der Politeia herrscht eine andere Bedeutung von δόξα vor, auch und gerade wo sie als Mittleres bestimmt wird (vgl. insbesondere 476c—480). Indessen darf die am Symposion erarbeitete Bedeutung weiter festgehalten und gebraucht werden. Nicht nur, weil Platon sich — wie bekannt — terminologisch nicht ein f r allemal festzulegen pflegt, vielmehr verschiedene Bedeutungen desselben Begriffs durchaus nebeneinander bestehen l t (δόξα ist daf r ein besonders sprechendes Beispiel). Im Zusammenhang mit dem S o n n e n g l e i c h n i s scheint er mir sogar versteckt an die richtige Meinung im Sinne des Symposion zu erinnern, und zwar durch das Schillernde jener hier an fr herer Stelle teilweise schon in Anspruch genommenen Stelle 506c. Sokrates hat festgestellt: Meinungen ohne Erkenntnis sind blind. Und nun fragt er, ob wohl ein Unterschied bestehe zwischen Menschen, die ohne Vernunft etwas Wahres meinen, und Blinden, die einen Weg richtig zur cklegen (506c7—9: η δοκοϋσί τί σοι τυφλών διαφέρειν όδόν ορθώς πορευομένων οι άνευ νου αληθές τι δοξάζοντες;). Vordergr ndig genommen, ist das noch Abwehr des Sokrates. Zugleich aber ist klar, da Blinde, die einen Weg richtig zur cklegen, jedenfalls dort ankommen, wohin sie gelangen wollten; unter gr eren Schwierigkeiten zwar wohl als die Sehenden, erreichen sie doch ihr Ziel. Entsprechendes gilt f r die, die etwas Wahres meinend erfassen — ohne die Vernunft (die auf die Ideen gerichtet ist und diese erkennt) —, nur da es hier, wo es sich um das G ttlich-Gute handelt, unter den Menschen keine Sehenden gibt.
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endlicher Logos und vermag sich mit einem Gleichnis, einer richtigen Meinung, in einer Wissenschaft zu vereinigen. Das Gleichnis ist wie der Mythos richtige Meinung, und doch unterscheidet es sich vom Mythos. Es kommt mit dem Mythos darin Hierein, ein Mittleres zwischen Weisheit und Unwissenheit zu sein, das Wahres faßt. Das S onnen gleic hnis eröffnet Wahrheit, ohne bezüglich des Göttlichen etwas zu beweisen. Es bleibt dabei, daß das, was das Gute selbst ist, nicht dargelegt wird und daß das Gute in einer Ansicht erscheint (vgl. S. 94). Wollte das Vorgelegte als ein Beweis genommen werden, so entginge es nicht dem Vorwurf des fehlerhaften Zirkels. Das Gleichnis bringt auf seinen Grund, was es vorher vorausgesetzt hat (Wahrheit und Sein der Ideen einerseits, Erkennen der Vernunft andererseits). Es vollzieht eine dem auslegenden Verstehen eigene Kreisbewegung: Schon Verstandenes macht es zum wahrhaft und deutlich Verstandenen. Vom Mythos wurde gesagt, er sei ein Denken in Bildern. Das Gleichnis unterscheidet sich dadurch vom Mythos, daß es das Bild nur als Mittel nimmt und es schließlich hinter sich zurückläßt. Im Vorblick auf schon Verstandenes, aber noch undeutlich Verstandenes, nimmt das Denken etwas Bekanntes (oder leicht Verstehbares) als Bild für ... Das Sonnengleichnis nimmt das Verhältnis von Sonne, Sichtbarem und Sehkraft als Bild für das Verhältnis von Göttlich-Gutem, Ideen und Vernunft. Es stellt das Bild deutlich vor Augen. Ist das geschehen, so ist die Übertragung des Bildes zu vollziehen. Ist sie beendet, dann hat das Bild keine weitere Funktion mehr. Es hat das, wofür es als Bild für .. . genommen wurde, deutlich auseinanderlegen helfen. Das so Auseinandergelegte muß seine Wahrheit in sich selbst haben. In dem vom S onne n gle ic h n i s auseinandergelegten Verhältnis von GöttlichGutem, Ideen und Vernunft versteht sich die die Ideen erkennende Vernunft in ihrer eigenen Möglichkeit. Diese Auslegung verdankt dem Bild ihre Deutlichkeit und nur insoweit ihre Wahrheit. Die Übertragung, die zum Gleichnis als solchem gehört, unterscheidet es deutlich vom Mythos und stellt es zwischen Mythos und Logos. Die Übertragung stellt Entsprechungen her. Dabei kommt es auf Genauigkeit an. Im Sonnengleichnis wird sogar Rechenschaft gegeben darüber, daß die Übertragung stattfinden darf (daß das Bild wirklich als Bild genommen werden darf für das, was es verdeutlichen soll). Und wenn sich dank des Bildes im Bereich des Erkennbaren die Idee des Guten erst einmal gezeigt hat, wird sogar ein gewisses „Schließen" ( -
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λογίζεσθαι,) m glich; es mu gefolgert werden, da die Idee des Guten die Ursache alle s Rechten und Sch nen ist — in der Welt der denkbaren Dinge und der Vernunft sowohl als auch in der Welt der sichtbaren Dinge (siehe 517b7—c4; vgl. S. 98).
7. Kapitel: Nochmals Eros (Phaidros 227a - 257c) Platon hat es für angezeigt gehalten, das Thema des Symposion auf einer späteren Stufe seiner Entwicklung noch einmal in einem Dialog zu behandeln, in einem Dialog, dessen Charakter fast so außergewöhnlich ist wie der des Symposion und der sich doch von diesem früheren Werk stark unterscheidet. Eros ist im Phaidros nicht mehr das einzige Thema (und die Beurteilungen des Aufbaus, der sich daraus ergibt, reichen von ,mißglückt' bis ,höchst kunstreich'). Im Symposion halten die Teilnehmer eines Festes nacheinander Reden auf Eros; auch Sokrates übernimmt es, zu reden, bleibt aber darin Sokrates, daß seine ,Rede* Dialog ist, hauptsächlich erzählter Dialog zwischen Diotima und ihm. Im Phaidros begegnet Sokrates durchaus im Dialog, im Dialog mit dem jungen Phaidros. Es ist ein Dialog nicht zuletzt auch über Reden, so daß es nicht zu sehr verwundert, daß Reden in ihm vorkommen. Und doch: Als Sokrates die Wahrheit über Eros ausspricht (und auch schon in der voraufgehenden Rede), scheint er nicht er selbst zu sein — er redet lang, ist verzückt von dem idyllischen Ort, an den Phaidros ihn geführt hat, und bezaubert von dem Jüngling, der ihm zuhört. Sokrates trifft auf Phaidros am Stadtrand von Athen. Phaidros kommt von Lysias, den er verehrt als den größten lebenden Meister im Schreiben von Reden. Lysias hat seinen Zuhörern eine Rede über die Liebe mitgeteilt, eine Werbung um einen schönen Knaben, in der der Werbende die paradoxe These einsetzt, man solle eher dem Nichtliebenden als dem Liebenden zu Willen sein. Phaidros ist ganz erfüllt von dieser Rede — Grund genug für Sokrates, sich Phaidros anzuschließen: Hier gibt es eine Aufgabe für ihn, hier gilt es, im Denken eines jungen Menschen etwas zurechtzurücken. Sokrates läßt sich von Phaidros verlocken, sich gänzlich gegen seine Gewohnheit hinaus in die Natur zu begeben. Phaidros führt ihn an einen Platz, dessen liebreizende Schönheit bezaubert. Man läßt sich nieder, und Phaidros liest die besagte Rede des Lysias vor. In ihr ist Liebe gleichgesetzt mit der Begierde nach sinnlichem Liebesgenuß, die zugleich als Krankheit, als Verlust von Verstand und Besinnung, erscheint. Als Phaidros zu Ende gelesen hat, zeigt Sokra-
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tes sich hingerissen — freilich nicht von der Rede, sondern vom Anblick des jungen Phaidros, seines Eifers und seiner Freude am Vorgetragenen. Sokrates' Urteil über die Rede selbst ist vernichtend. Seine Kritik betrifft weniger die These der Rede als die Unordnung ihres Aufbaus, das gedankenlose Aneinanderreihen und Wiederholen der Argumente. Er bringt die Rede in Ordnung, indem er nun selber redet. Dabei verhüllt er sein Gesicht vor Phaidros, um nicht, ihn erblickend, von Scham erfüllt und dadurch an der zügigen Durchführung der Rede gehindert zu werden. Dieser Verhüllung bedarf es, da die Rede auch jetzt noch die eines Verführers zu sein scheint und da sie die Gleichsetzung von Liebe und Begierde nach sinnlichem Liebesgenuß übernimmt. Für Phaidros enttäuschend, beendet Sokrates seine Rede, nachdem er die Nachteile aufgewiesen hat, die einem jungen Menschen daraus erwachsen, daß er einem ,Liebenden' zu Willen ist. Dahin, die absurde Behauptung argumentativ zu verfechten, es bringe einem jungen Mann Vorteile, wenn er sich einem Nichtliebenden hingibt, kann Sokrates sich nicht versteigen. — Diese Rede des Sokrates ist mehr als ein Lehrstück über die klare Gedankenführung einer Rede. Sie weist etwas Wahres auf: Unter der Voraussetzung, daß Liebe Begierde nach sinnlichem Liebesgenuß ist und nichts sonst, daß sie Krankheit ist als Verlust von Verstand und Besinnung, ist sie verderblich. Aber in dieser Voraussetzung liegt ein Frevel gegenüber Eros, der etwas Göttliches ist, liegt ein Unrecht zugleich gegenüber der Liebe trefflicher Menschen zueinander. Die Rede fordert ein Sühnopfer, sie fordert, daß man sich reinigt von der Verfehlung. Das geschieht durch Sokrates' neue, lange Rede, die, als Widerruf zur vorigen, die Wahrheit über Eros ans Licht bringt. Unter diesem Aspekt gerät Sokrates' erste Rede in den Verdacht, gar nichts Wahres gesagt zu haben. Indessen sagte sie Wahres über eine die Vernunft des Menschen beherrschende und sie außer Kraft setzende Begierde nach sinnlichem Liebesgenuß. Nur eben sprach sie dabei in Wahrheit nicht von Eros, nicht von der Liebe, was sie aber vorgab. Am Anfang einer Rede hat man sich nach Sokrates' Auffassung deutlich darüber zu erklären, worüber die Rede reden wird (wie auch bei jeder Unterredung eine Verständigung über das Worüber, über den Gegenstand, den Anfang machen muß). Nur den Namen des Worüber auszusprechen, genügt da nicht; es muß eine erste Bestimmung dessen gegeben werden, was das ist, worüber die Rede handelt. So genügt es auch jetzt nicht, es bei dem Verständnis (und Einverständnis) zu belassen, daß die Rede eine Rede über Eros sein wird. Es muß auf eine erste
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Weise bestimmt werden, was Eros ist. Diese Bestimmung stellt Eros als eine Art von Wahnsinn (μανία) heraus. Das Wort μανία bedeutet: Wahnsinn — Raserei, Wut, Tollheit — Verz ckung, Begeisterung. Es meint hier, wo es um eine erste Bestimmung von Eros durch das Verfahren des Einteilens einer Gattung in Arten (Dihairesis)1 geht: Wahnsinn, der sowohl Raserei, Wut, Tollheit ist (und darin etwas Schlechtes ist), als auch Verz ckung, Begeisterung (als die er etwas Gutes ist). Der Wahnsinn insgesamt wird hier dem Besonnensein (σωφρονεΐν) entgegengesetzt, er steht im Blick als ein Au ersichsein des Menschen im Gegensatz zum Beisichsein der menschlichen Vernunft. (Ob es bei dieser dem gew hnlichen Verstehen vertrauten Antithese bleiben kann, wird sich zeigen.) Der Wahnsinn ist eine Gattung, die zun chst zwei Arten hat: die eine Art ist dadurch bestimmt, da der Wahnsinn schlecht ist (in diese Art geh rt die in den vorigen Reden f lschlich als Liebe ausgegebene sinnliche Begierde nach Liebesgenu , die im Anblick einer Krankheit erschien); die andere Art ist der Wahnsinn, der uns die gr ten G ter entstehen l t und der eine g ttliche Schenkung ist. Diese Art des Wahnsinns wird noch einmal in vier Arten eingeteilt: Sie ist 1. Mantik, 2. Wahnsinn, der erl st von den aus begangener Schuld erwachsenen Leiden, indem er die Vers hnung der G tter herbeif hrt, 3. von den Musen kommender Wahnsinn der Dichter, 4. Eros2. — Das Wor ber der Rede ist bestimmt: Die Rede wird ber Eros reden als ber eine Art des Wahnsinns, der als eine g ttliche Schenkung uns die gr ten G ter entstehen l t. Ihr Thema ist Eros als Verz ckung, als Begeisterung g ttlichen Ursprungs. Nachdem ber den Gegenstand der Rede Klarheit hergestellt ist, wird ihre erste Aufgabe ausgesprochen: Sie hat von der Natur (φύσις) der Seele zu handeln, und zwar der g ttlichen und der menschlichen Seele. Die Natur der Seele wird sich zeigen im Blick auf ihre Erleidnisse und Taten (πάθη τε και έργα — 245c3 f.). Schon da es auch um die Natur der g ttlichen Seele gehen soll, l t erwarten, da die Rede bei dieser ihrer Aufgabe einen Bereich betreten wird, der jenseits unseres hiesigen menschlichen Lebens liegt. Damit das geschehen kann, wird eine Voraussetzung erbracht: Die Unsterblichkeit der Seele wird bewiesen. Der Beweis nimmt sich die Seele in ihrem weitesten Umfang vor. Er fa t alles, was Seele ist, in eins zusammen und zeigt: „Seele insgesamt ist unsterblich" (Ψυχή πασά αθάνατος — 245c5). 1
Dieses Verfahren wird im 9. Kapitel thematisiert. * Vgl. audi die Wiederholung 265 a—b.
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Der Beweis denkt Leben als Bewegung. Ist Leben Bewegung, dann ist das Immer-bewegte (das, dessen Bewegung nie ein Ende hat und nie eine Unterbrechung erf hrt) unsterblich (το γαρ άεικίνητον άθάνατον — 245c5). Welchem Bewegten kommt es aber zu, immer-bewegt zu sein? Es kommt solchem nicht zu, das ein anderes bewegt und s e l b s t von e i n e m a n d e r e n b e w e g t w i r d 3 . Allein d a s Sich-selbst-bewegende (το αυτό κινοΰν) h rt niemals auf, sich zu bewegen. Bei ihm w rde das Aufh ren der Bewegung n mlich besagen, da es sich selbst im Stich lie e. Aber das ist noch nicht das eigentliche Beweisargument. Das Sich-selbst-bewegende ist allem anderen Bewegten Ursprung und Anfang der Bewegung (και τοις άλλοις δσα κινείται τοΰτο πηγή και αρχή κινήσεως — 245c8 f.). Es ist daher Ursprung und Anfang alles Entstehenden (denn das Entstehende ist ein B e w e g t e s , es macht die Bewegung vom Nichtsein ins Sein durch — u n d es kann diese Bewegung n i c h t s e l b s t a u f b r i n g e n , denn dazu m te es als Nichtseiendes schon sein, was ein Widersinn ist). Der Ursprung und Anfang alles Entstehenden ist selbst unentstanden (αρχή δε άγένητον — 245dl). Das Entstehende kann ja seine Bewegung aus Nichtsein in Sein nicht selbst aufbringen. Den Anfang des Entstandenen selbst als entstanden annehmen, hie e, sein Anfang-sein negieren und einen anderen Anfang setzen, den man dann konsequenterweise wieder als entstanden verstehen m te, und so k me man nie zu einem Anfang und w rde damit zugleich alles Entstehende und Entstandene leugnen — in gr bstem Widerspruch dazu, da es Entstehendes und Entstandenes gibt. Ist aber das Sich-selbstbewegende unentstanden, dann ist es auch unzerst rbar, unverg nglich (άδιάφθορον). Das Zugrundegehen des Anfangs w rde n mlich bedeuten, da weder er selbst aus irgendetwas, noch anderes aus ihm je wieder entstehen k nnte. Aus dem Anfang mu ja alles entstehen. Das Aufh ren der Bewegung des Sich-selbst-bewegenden w re f r a l l e Zeit das Ende a l l e r Bewegung, die eines Sich-selbst-bewegenden sowohl als die von solchem, das den Anfang seiner Bewegung in anderem hat. Es w re das Ende der Welt. Es w rde unwiderruflich das All zusammenst rzen lassen und zum Stillstand bringen. Warum sollte das aber nicht geschehen k nnen? Platon spricht es nicht aus. Und doch ist klar: Nicht nur der Frevel, der in der Vorstellung eines solchen totalen Zusammen' Das wird vom Fortgang her vollends deutlich: Von einem anderen bewegt werden bedeutet: in Bewegung gesetzt werden; dem In-Bewegung-gesetzt-werden ist das Nicht-in-Bewegung-sein vorweg. Schon deshalb erf llt das von anderem Bewegte nicht, was im Begriff des Immer-bewegten gedacht ist.
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bruchs der Welt l ge, macht es dem Philosophen unm glich, diese M glichkeit nicht auszuschlie en. Der Beweis liefert ein Argument daf r, da das Nichts des Stillstandes niemals sein wird: Dies Nichts m te schon erreicht sein, denn das Sich-selbst-bewegende als nicht entstanden w hrt schon eine u n e n d l i c h e Z e i t . Das Sich-selbst-bewegende ist immer-bewegt. Das aber bedeutet: Es ist unsterblich. Der Name f r das Sich-selbst-bewegende ist Seele. Anders gesprochen: Wesen (ουσία) und Begriff (λόγος) der Seele ist die Selbstbewegung. (Wir begreifen ja jeden K rper, der von au en bewegt wird, als unbeseelt, der aber von innen aus sich selbst bewegt wird, als beseelt.) Ist also die Seele das Sich-selbst-bewegende, so ist sie unentstanden und unsterblich. Das Sein der Seele ist immerw hrendes Sein. Diese Voraussetzung mu te gesichert werden, damit die Natur der Seele (oder, wie es 246a3 hei t, das Wesen — Ιδέα — der Seele) gedacht werden kann. Von der Natur der (g ttlichen und menschlichen) Seele hat sich aber schon gezeigt, da sie Selbstbewegung ist. Die Natur der g ttlichen und menschlichen Seele, als immerseiend gesichert, ist zu denken aufgegeben als Leben, das Selbstbewegung ist. Vom Leben als dem Wesen, der Natur der Seele handelt Sokrates' Rede, indem sie einen Mythos erz hlt. Diesem Mythos gibt ein Gleichnis das Bild der Seele vor. Die Seele gleicht der „zusammengewachsenen Kraft eines befiederten Gespanns und seines Lenkers" (συμφύτφ δυνάμει ύποπτέρου ζεύγους τε και ηνιόχου — 246a6 f.). Bei den G ttern sind Rosse und Lenker gut, bei unseren Seelen liegt eine Mischung vor. Bei uns ist n mlich von zwei Rossen eines schlecht. Dadurch ist notwendig die Lenkung schwierig. — Platon gibt im Phaidros keine Anweisung f r die bertragung des Bildes. Indessen ist klar genug, da er hier, was die menschliche Seele anbelangt, die Seelenteile ins Bild bringt, die in der Politeia4 herausgearbeitet sind. Der Lenker des Gespanns steht f r die Vernunft, das gute Ro f r den zornigen Drang (θυμός), das schlechte Ro f r die Begierde (επιθυμία). Der Vernunft kommt die Herrschaft ber die anderen Seelenteile zu. Ihr gehorcht und verb ndet sich der zornige Drang, sofern seine Natur nicht umgebogen wird. Die Begierde aber ist ihrer Natur nach uners ttlich und versucht, sich die anderen Seelenteile zu unterwerfen.
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435b ff., siehe vor allem 439d4—441bl und 441e4—442dl.
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Im befiederten Gespann und seinem Lenker kommt die Seele rein f r sich selbst ins Bild, ohne da ihre Vereinigung mit einem Leib in der Sicht st nde. Nachdem die Seele in diesem Bild vorgestellt ist, bedarf es noch einer weiteren Vorbereitung: Der Unterschied von unsterblichem und sterblichem Lebewesen ist zu bedenken. (Dabei geht das Gleichnis unmerklich in den Mythos ber.) Dieser Unterschied wird nicht dadurch gewonnen, da eine einfache Entsprechung zwischen ihm und dem Unterschied der Seele der G tter und unserer Seele hergestellt wird. Vielmehr wird zun chst noch einmal (wie im Unsterblichkeitsbeweis — vgl. S. 104) „Seele insgesamt" in den Blick gefa t: „Seele insgesamt sorgt f r das Unbeseelte insgesamt" (ψΐ'Χή πασά παντός επιμελείται του αψύχου — 246b6). Sie durchzieht dabei den ganzen Himmel (πάντα δε ούρανόν περιπολεί — 246b6 f.). An dieser Seele insgesamt tritt als Gegensatz heraus die vollkommene und befiederte Seele einerseits, die entfiederte Seele andererseits. Jene „wandelt oben in der H he und verwaltet die ganze Welt" (μετεωροπορεϊ τε και πάντα τον κόσμον διοικεί — 246cl f.). Diese „wird dahingetrieben, bis sie etwas Festes ergreift" (φέρεται ε'ω; αν στέρεου τίνος άντιλάβηται — 246c2 f.). Dies Feste ist ein erdhafter Leib (σώμα γήϊνον). Ihm wohnt sie jetzt ein, er ist das Unbeseelte, f r das sie jetzt sorgt, ihn bewegend. Das aus einer solchen Seele und einem solchen Leib Zusammengesetzte ist ein sterbliches Lebewesen. Zur Vorstellung von einem unsterblichen Lebewesen aber, so hei t es, kommen wir nicht durch eine Schlu folgerung unserer Vernunft. Dazu fehlt uns n mlich eine hinreichende Erkenntnis von Gott. Wir bilden uns (πλάττομεν) vielmehr dies Lebewesen als eine Seele und einen Leib habend, die beide auf ewige Zeit vereint sind. Dies aber l t die Rede auf sich beruhen5, sich der Frage zuwendend, was die Ursache (αιτία) f r den Verlust des Gefieders sei. Mit dieser Frage bringt sie den Mythos endg ltig in Gang. Er beantwortet sie, gibt aber sehr viel mehr zu verstehen, als nur diese Antwort. Er erz hlt vom Leben der Seele berhaupt und allen seinen Stufungen und Stationen. Unsere Seelen haben Schweres in sich, das herunterzieht (eines der Rosse ist ja schlecht). Dem Gefieder verdankt unsere Seele, da sie trotz dieser Schwere sich dort aufzuhalten vermag, wo das Geschlecht der G tter wohnt. Ihm verdankt sie, da sie den G ttern bei ihren Ausz gen folgen kann. Es ist nach der Vernunft dasjenige an der Seele, was am meisten am G ttlichen Anteil hat. 5
Der Politikos und der Philebos werden die Welt als unsterbliches Lebewesen thematisieren.
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Die ganze Seele, mit Ausnahme der Seelen, die sich durch Verlust des Gefieders aus ihr herausgelöst haben, durchzieht, wie es hieß, den ganzen Himmel, für das Unbeseelte sorgend. Der Mythos erzählt davon folgendes: Außer Hestia, die allein im Haus der Götter zurückbleibt8, ziehen alle Götter aus in den Himmel, voran Zeus, der große Gebieter im Himmel ( — 246e4), seinen geflügelten Wagen lenkend. Er ordnet alles. Ihm folgt das Heer der Götter und Dämonen. Es ist in zwölf Abteilungen geordnet. Die eine führt Zeus selbst unmittelbar an; die anderen elf werden je von einem anderen Gott angeführt nach der Ordnung, die ihm angewiesen wurde. Viele glückselige Anblicke bieten sich innerhalb des Himmels, während jeder aus dem glücklichen Geschlecht der Götter das Seine verrichtet. Folgen darf ihnen, wer immer es will und vermag. Dann begeben sich die Götter zum Mahl. Steil steigt ihr Gespann zur Himmelskuppel hinan. Dort angekommen, steigen die Götter hinaus und stehen nun auf dem Rücken des Himmels. Der Umschwung des Himmels führt sie mit sich herum, und sie schauen, was außerhalb des Himmels ist. Dies Schauen des überhimmlischen Ortes ist ihr Mahl. Aus ihm ziehen sie Kraft und Nahrung. Was sich da dem Schauen darbietet, ist vernehmbar freilich nur für den Lenker der Seele, die Vernunft. Es ist die Wahrheit. Es ist das wahrhaft seiende Wesen ( ). Es sind Gerechtigkeit, Besonnenheit, wahrhaft seiende Wissenschaft, das will sagen: nicht Wissenschaft, der das Werden verbunden ist und die in Verschiedenem je verschieden ist, sondern Wissenschaft, die in dem ist, was i s t (und die e i n e ist). Die göttlichen Lenker schauen, vom Umschwung des Himmels mitgeführt, nicht nur nacheinander einzeln die Gerechtigkeit, Besonnenheit und alles andere dieser Art in seiner unverstellten Wahrheit; sie schauen deren Wahrheit als Wissenschaft, in der Einheit eines geordneten Zusammenhangs. Diese Schau macht froh. Sie währt, bis der Umschwung des Himmels in seiner Kreisbewegung dort wieder angekommen ist, wo die Götter an den überhimmlischen Ort hinausstiegen. Hier kehren sie nun wieder in das Innere des Himmels und sodann nach Hause zurück. Dort angelangt, versorgt der Lenker die Rosse mit Ambrosia und Nektar. Wie aber ergeht es den nicht-göttlichen Seelen, die den Göttern zunächst auf ihrer Fahrt durch den Himmel zu folgen vermochten? Wenn die göttlichen Seelen steil zur Himmelskuppel aufsteigen an den Ort ihres Ausstiegs, geraten die nicht-göttlichen Seelen schon in Schwierigkeiten. Vgl. Hackforth S. 73.
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Das sdiledite Roß, wenn es nicht gut erzogen worden ist von seinem Lenker, widersetzt sich dem Aufstieg, es drängt herab mit seiner ganzen Schwere und Kraft. Daraus erwächst der Seele der härteste Kampf. Das Äußerste, was eine nicht-göttliche Seele, den Göttern nach oben folgend, erreichen kann, ist, daß der Lenker seinen Kopf durch die Öffnung, durch die die Götter an den überhimmlischen Ort hinausstiegen, herausstreckt und so von dem Umschwung des Himmels mit herumgeführt wird. Die Schau dieses Lenkers bleibt aber weit zurück hinter der glücklichen Schau, die den göttlichen Lenkern zuteil wird. Er wird nämlich von den Rossen derart in Unruhe versetzt, daß er das Seiende kaum zu erblicken vermag. Anderen Seelen gelingt zufolge des Gebarens der Rosse nur zeitweise ein Ausblick in den überhimmlischen Ort; immer wieder wird ihre Schau unterbrochen, so daß sie einiges sehen, anderes nicht. Alle übrigen, wiewohl sie, durchaus wissend, daß nur dort die wahre Nahrung zu finden ist, danach streben, nach oben zu gelangen, vermögen es doch nicht. Sie werden unter der Oberfläche mit herumgeführt, treten einander, ja stürzen sich aufeinander, indem jede versucht, der anderen den Platz streitig zu machen. Heftigster Lärm und Kampf entstehen unter ihnen, und der Schweiß bricht ihnen aus. Vielen wird viel Gefieder zerbrodien. Ist das Getümmel vorüber, so müssen diese Seelen, der wahren Nahrung nicht teilhaftig geworden, aus Meinungen bestehende Nahrung zu sich nehmen, die ihrem Gefieder keine Kraft verleihen kann. Alle nicht-göttlichen Seelen stehen unter folgendem Gesetz der Adrasteia, der „Unentrinnbaren": Jede Seele, die, während die Götter die Schau des wahrhaft Seienden genossen, auch nur etwas von diesem erblicken konnte, bleibt bis zum nächsten Auszug der Götter unversehrt. Gelingt es ihr jedesmal, etwas von dem wahrhaft Seienden zu schauen, so bleibt sie immer unversehrt. Die Seelen, die nicht mehr vermochten, auch nur in bescheidensten Grenzen der Schau des wahrhaft Seienden teilhaftig zu werden, füllen sich mit Vergessen und Untüchtigkeit an, werden schwer, verlieren gänzlich das ohnehin schon beschädigte Gefieder und fallen auf die Erde. Sie vereinigen sich mit einem erdhaften Leib, und es beginnt für sie ein anderes Leben. Das erste irdische Leben, das eine Seele nach dem Verlust ihres Gefieders führt, ist bestimmt davon, wieviel diese Seele, in den überhimmlischen Ort herausblickend, vom wahrhaft Seienden hat schauen können. Die Seelen, die am meisten geschaut haben, lassen den Menschen als Philosoph oder Freund des Schönen oder Diener der Musen und des
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Eros leben. Dies ist das höchste Leben, das einem Menschen in seinem irdischen Dasein möglich ist. Es folgen, dem Rang nach abgestuft und, sofern es sich um das erste Leben nach der Entfiederung und Verleiblichung handelt, eben durch das Ausmaß der gehabten Schau des Wahren bestimmt: das Leben eines rechtmäßigen Königs oder eines Kriegsherrn und Herrschenden; das Leben eines Staatsmannes (mit geringerer Macht und von geringerem Rang), eines Verwalters eines Hauswesens oder eines Geschäftsmannes; das Leben eines Turnlehrers oder Arztes; das der Mantik oder den Mysterien gewidmete Leben; das Leben eines (nachahmenden) Dichters7 oder anderen nachahmenden Künstlers; das Leben eines Handwerkers oder Landwirts; das Leben eines Sophisten oder Volksschmeichlers (dem Volk schmeichelnden Redners); das Leben eines Tyrannen. Neunfach gestuft nach Nähe bzw. Ferne zum wahrhaft Seienden erscheint das Leben der Seelen im irdischen Dasein des Menschen, solange auf das Leben nach der (jeweils) ersten Verleiblichung geblickt wird. Bei der Wiedergeburt ist noch eine zehnte Stufe möglich: das Leben als Tier. Hier ist (für die Dauer dieses Lebens) das einstmals geschaute Wahre gänzlich vergessen, die Vernunft außer Kraft gesetzt. Dadurch, wie gerecht eine Seele in ihrem ersten Leben lebt, entscheidet sie über ihr nächstes Geschick. Eine Sonderstellung kommt hier den Menschen zu, die das ranghöchste Leben als ohne Trug philosophierende oder mit Philosophie die Knaben liebende gelebt haben. Sie sind es, die, wenn sie dreimal nacheinander dieses Leben gewählt haben, wieder befiedert werden und im dreitausendsten Jahr in die Sphäre der Götter zurückkehren. Sie haben mit ihrem ersten Leben schon angefangen, ihre frühere Rückkehr zu den Göttern zu erwirken. Das ist dem Mythos so wichtig, daß er über ihr nächstes Geschick nichts sagt. Von den anderen wird erzählt, daß sie nach Beendigung ihres ersten irdischen Lebens gerichtet werden. Die einen kommen an die unterirdischen Straforte, wo sie die ihnen zuerkannte Strafe verbüßen; die anderen gelangen an einen Ort des Himmels (freilich nicht in der Gegend der Götter), wo sie dem Leben gemäß leben, das sie in Menschengestalt geführt haben. Im tausendsten Jahr findet für die einen wie die anderen Verlosung und Wahl des zweiten Lebens statt, und jede Seele wählt das Leben, das sie begehrt. Jetzt kann eine Seele auch das Leben eines Tieres wählen, wie auch eine Seele, die zuletzt das Leben eines Tieres gewählt hat, früher aber einmal in Menschengestalt lebte, also einstmals vom wahrhaft Seien7
Zum Bezug zu 245a (Wahnsinn der Dichter als dritte Art des gott-geschenkten Wahnsinns) vgl. Haafonh S. 84.
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den etwas geschaut hat, wieder ein menschliches Leben wählen kann. Diese Lebensbewegung vom irdischen Leben in ein durch dies Leben bestimmtes Dasein nach dem Tod und von diesem Dasein nach dem Tod in ein neu gewähltes irdisches Leben wiederholt sich, bis nach zehntausend Jahren auch diese Seelen befiedert in den Bereich ihrer Herkunft heimkehren. Die Herkunft der menschlichen Seele aus dem Bereich des Lebens der göttlichen Seele bestimmt nicht nur Gestalt und Rang des ersten irdischen Lebens. Sie macht jedes irdische menschliche Leben erst zu einem menschlichen. Das Leben der menschlichen Seele, genauer des vernünftigen Teils der Seele, hier auf der Erde ist nämlich Wiedererinnerung an das einstmals Geschaute, wie schwach und undeutlich diese auch sein mag (nur wenn eine Seele die Verleiblichung in ein Tier gewählt hat, weicht die Wiedererinnerung dem Vergessen, aber auch nicht endgültig, denn die Rückkehr in ein menschliches Leben bei der nächsten Lebenswahl ist ja möglich). Menschliches Begreifen vollzieht sich auf der Ebene der Arten; zu einer Art ( ) gelangt aber die menschliche Vernunft, indem sie das aus vielen Wahrnehmungen Gegebene in eins zusammennimmt — und das eben ist Wiedererinnerung an das, was die Seele einstmals geschaut hat. Der Philosoph ergreift mit seinem ganzen Streben das Wiedererinnern, er ergreift es ausdrücklich als sein Leben und bringt es in ihm so weit, wie es einem Menschen möglich ist. So sehr er nur kann, ist er im Wiedererinnern bei jenem Seienden, bei dem weilend Gott Gott ist. Darin verwirklicht er die dem Menschen in diesem Leben mögliche Vollkommenheit. Deshalb auch wird er eher als die übrigen wieder befiedert. Hier kommt die Rede nach ihrem eigenen Zeugnis bei Eros an. Eros kann nur verstanden werden, wenn das Leben der Seele insgesamt verstanden worden ist. Über das Leben der Seele hat sich gezeigt: Leben ist das Wesen, die Natur der Seele. Und Leben ist Selbstbewegung. Akzentuiert man an der Seele insgesamt und ihrem Leben die Unterschiede, so tritt dreierlei Leben heraus: das Leben der Götter, das Leben derjenigen nicht-göttlichen Seelen, denen es gelingt, ihr Gefieder zu bewahren, und das Leben der nicht-göttlichen Seelen, denen das nicht gelingt. Das Leben der Götter ist glückhaft ruhige Bewegung im Rhythmus dreier Phasen: des Auszugs ins All, um für es zu sorgen, der durch nichts gestörten oder getrübten Schau der Wahrheit an ihrem überhimmlischen Ort, der Rückkehr und Einkehr in die eigene Wohnung. Dies Leben ist Näherung und Entfernung in bezug auf das wahrhaft Seiende, aber ohne das Schmerzliche
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einer Trennung. Die Entfernung als Einkehr in die eigene Wohnung ist weder so weit noch dauert sie so lange, daß der Lenker das Geschaute nicht in seiner vollen Wahrheit bei sich bewahren könnte. Und schon der Auszug ins All bringt wieder herrliche, die Erinnerung belebende Gesichte. Dieses Leben der Seele ist reines Glück. Das Leben der nicht-göttlichen Seelen, die sidi ihr Gefieder zu erhalten vermögen, ist dauerhafte Teilhabe am Leben der Götter und seinem Rhythmus. Nur freilich erheben sie sich nie zur wahrhaft beruhigten Schau des Wahren, und nie nähern sie sich diesem so, daß sie den überhimmlischen Ort wirklich betreten. Dies Zurückbleiben hinter den Göttern macht eben den Abstand aus, der im Begriff der Teilhabe gedacht ist. Die Näherung dieser Seelen an das wahrhaft Seiende bleibt hinter derjenigen, die den Göttern möglich ist, hinter dem reinen Anwesend-sein beim Wahren, zurück. Auch dürfte es diesen Seelen, wiewohl sie bei jedem Mahl der Götter etwas vom wahrhaft Seienden erblicken, einmal besser, einmal weniger gut gelingen, sich an der Himmelskuppel zu halten. Ihr Leben dürfte auch insofern Bewegung sein, als die Näherung bald weiter, bald weniger weit an das Wahre herankommt. Die Seelen, die ihr Gefieder verlieren, leben anfangs das eben beschriebene Leben. Aus diesem Leben löst sich ihr Leben dann jedoch heraus. Es tritt mit der Verleiblichung der Seele zunächst in einen engeren Kreislauf ein, in den Kreislauf zwischen irdischem Leben, jenseitigem Dasein (in das die Seele durch das Sterben eintritt) und abermaligem irdischem Leben (das die Seele durch Wiedergeburt erlangt). Dieser geschlossene Kreislauf ist eine Bewegung fern von der himmlischen Sphäre, in der diese Seelen zuvor weilten. In sie kehren sie erst nach zehntausend Jahren (in Ausnahmefällen nach dreitausend Jahren) zurück. Dann schließt sich der größere Lebenskreis. Die Seelen kehren heim in den Bereich ihrer Herkunft und zu jener Bewegung, in der sie, den Göttern folgend, an deren Leben teilhaben. Dort leben sie wieder so lange, als es ihnen gelingt, jeweils während des Mahls der Götter etwas vom wahrhaft Seienden zu schauen (und gesetzt, es gelingt einer Seele nun jedesmal, so lebt sie hinfort immer in der Teilhabe am göttlichen Leben). — Der Eintritt solcher Seelen in das irdische Leben und den engeren Kreislauf ist gesteigerte Entfernung vom wahrhaft Seienden und vom glücklichen Leben der Götter; diese Entfernung ist Trennung. Die Seele lebt nach dieser Trennung ein anderes Leben. Dies andere Leben der Seele zeigte sich bisher, soweit es menschliches Leben bleibt, als Bewegung der Wiedererinnerung. Die Wiedererinnerung ist Näherung der Seele an das
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wahrhaft Seiende im Ausgeschlossensein der Seele von der unmittelbaren Schau. In ihr kehrt sich die Seele dem zu, was als Gegenwärtiges zu schauen ihr jetzt versagt ist. Sie nähert sich ihm aus größter Ferne und in der Ferne. Dieses Leben der Seele ist am lebendigsten im Philosophen. Er wirft sich mit seinem gesamten Streben in den Vollzug der Näherung durch Wiedererinnerung. Deshalb überwindet seine Seele auch eher als jede andere die Trennung vom göttlichen Leben. Seine Seele erwirkt sich Näherung als vergleichsweise frühe Rückkehr. Akzentuiert das Denken die Einheit und Ganzheit der Seele insgesamt und ihres Lebens, dann muß es zwar zunächst noch unterscheiden zwischen dem göttlichen und nicht-göttlichen Leben. Von dem nichtgöttlichen Leben der Seele ist dann aber zu sagen, daß es sich als ein übergängiges durch alle Stufen der Nähe und Ferne zum wahrhaft Seienden hindurchbewegt. Sokrates hält eine Rede über Eros. Eros gehört zum Menschen hier in seinem irdischen Leben. Er gehört zum Menschen, dem der Verlust der Teilhabe am göttlichen Leben widerfahren ist, der die Trennung erlitten hat und dessen Seele lebt im Wiedererinnern an das einstmals aus geringerer oder größerer Ferne, zusammenhängender oder weniger zusammenhängend, aber doch unmittelbar geschaute Wahre. Eros gehört zum Menschen, dessen Seele sich, ausgeschlossen von der unmittelbaren Schau des wahrhaft Seienden, diesem nähert. Für das so verstandene Menschenwesen ist Eros Wahnsinn — Wahnsinn, der eine göttliche Schenkung ist und dem Menschen die größten Güter entstehen läßt. Dem so verstandenen Menschenwesen wird mit Eros eine Verzückung, eine Begeisterung göttlichen Ursprungs zuteil. Was ist Eros? Das Leben der Seele als Näherung an das einstmals Geschaute im Wiedererinnern ist im Philosophen am lebendigsten. Dank seiner Erinnerungen empfängt der Philosoph immer die vollendeten Weihen ( — 249c7 f.). Er enthält sich menschlicher Bestrebungen und hält sich zum Göttlichen. Die Vielen halten ihn für verrückt. Ihnen bleibt die Wahrheit verborgen, nämlich daß der Philosoph gottbegeistert, eines Gottes voll ist ( ). Hier nun, sagt Sokrates, sei die Rede bei der vierten Art des Wahnsinns, bei Eros also, angekommen. Eros und Philosophie gehören offenbar zusammen. Es wird sich zeigen, daß Philosophie Eros ist, während Eros nicht immer Philosophie zu sein braucht. Aber indem so Eros und Philosophie einander nahe gerückt sind, ist doch über Eros noch gar nichts und über die Philosophie folglich viel zu wenig gesagt.
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Die Rede kommt aus dem Mythos her und geht von ihm her auf Eros zu. Eros, der Wahnsinn göttlichen Ursprungs ist und verzückt, wird durch die Schönheit erweckt. Wer hier im Irdischen Schönheit sieht, wird an die wahre Schönheit erinnert. Seine Seele wird befiedert und strebt, sich aufzuschwingen. Hinaufzufliegen in den Bereich des Göttlichen vermag sie freilich nicht, aber wie ein Vogel schaut sie hinauf. Eros ist Wiederbefiederung, aber mit einem Gefieder, das nicht in die göttlichen Gefilde emporträgt. Eros vermag der Seele hier im Leben nicht die unmittelbare Schau des Wahren wiederzugeben, aber er kräftigt auf unvergleichliche Weise das Vermögen der Wiedererinnerung an das einstmals geschaute Wahre. Das kann er allerdings nicht bei allen Seelen. Zwar haben alle menschlichen Seelen einstmals Wahres geschaut, das eben macht sie zu menschlichen Seelen. Aber nicht allen ist es leicht, sich zu erinnern, manchen gar unmöglich, weil sie das Geschaute vergessen haben. Dies ist kein Widerspruch, wohl aber eine Ergänzung zu der früheren Stelle, an der das Wiedererinnern als Begreifen im Sinne eines Fassens von Arten im Ausgang von Wahrnehmungen allen Menschen als das spezifisch Menschliche zugesprochen wurde. Dieses Begreifen, diese Wiedererinnerung muß, zumindest in gewissem Umfang, allen Menschen zugesprochen werden, die bei Verstand sind. Jetzt aber ist eine ganz andere Intensität von Wiedererinnerung im Blick, nämlich ein hier im Leben zu vollziehendes Denken des wahrhaft Seienden selbst und als solchen, und vor allem des Verehrungswürdigsten unter ihm. Das, so sagt die Rede jetzt, wird denen nicht möglich sein, die damals nur kurz etwas Wahres schauten oder hier im Leben zufolge schlechten Umgangs sich Unrechtem zugewendet und das damals geschaute Heilige ( ) vergessen haben. Eros vermag nur etwas bei Menschen, denen das Zu-erinnernde noch hinreichend gegenwärtig ist. Das sind wenige. — Bezüglich des Lebens der entfiederten Seele ergibt sich hier die Ergänzung: Dieses Leben ist nicht nur Näherung im Wiedererinnern, es kann zugleich Entfernung im Vergessen sein, freilich nicht mit Bezug auf dasselbe Wahre. An einiges sich erinnernd, kann die Seele anderes doch vergessen, und wenn sie das Beste vergißt, was es damals zu schauen gab, kann Eros in ihr nichts bewirken. Warum ergreift Eros die Seelen aber nur beim Anblick hiesiger Schönheit, nicht auch beim Anblick von Gerechtigkeit, Besonnenheit oder anderem dieser Art? Weil, so wie einstmals dort, so auch jetzt hier die Schönheit für uns an Glanz alles übertrifft 8 . Das Schöne hier ist ein leuch8
Daß die Schönheit dort für unsere Seelen an Glanz alles übertraf, besagt: Sie zog unsere Seelen an, sie zog in besonderem Maße das Schauen auf sich. Diese Wir-
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tendes Abbild der Sch nheit dort. Das Sch ne hier erblickend, ger t die Seele daher au er sich und ist nicht mehr bei Besinnung. Das begegnet ihr nicht bei anderen Abbildern, etwa der Gerechtigkeit oder der Besonnenheit. Was sie hier an Gerechtem oder Besonnenem betrachtet, bildet n mlich die wahre Gerechtigkeit oder die wahre Besonnenheit so schwach ab, da die Seele nur mit M he sich bei seinem Anblick der wahren Gerechtigkeit oder Besonnenheit erinnern kann; von einem Au er-sich-geraten bleibt sie weit entfernt. Nur das Sch ne hier hat die Kraft, die Seele zu begeistern, sie als wiedererinnernde in die N he des damals Geschauten zu entr cken. Diese Begeisterung ist Eros. Sie l t den erinnernd zur wahren Sch nheit Entr ckten auch anderes Wahres erinnern, das er damals mit der Sch nheit zusammen schaute: wahre Besonnenheit, Gerechtigkeit und anderes dieser Art. — Die Rede erf hrt das, wovon sie spricht, an sich selbst: Sie ger t begeistert au er sich in der Erinnerung an das vergangene Leben, sie wird selbst von Eros erfa t, wird enthusiastisch (250b5—c6). Dann fa t die Rede im Hiesigen Fu , betrachtet Eros von hier aus. Sie beschreibt, was den Liebenden widerf hrt (πάθος) und dessen Ursache. Wie schon gesagt, leuchtet die Sch nheit f r uns wie damals dort, so auch jetzt hier unter allem hervor. Der Glanz hiesiger Sch nheit wird durch den Gesichtssinn aufgenommen, durch den deutlichsten aller Sinne. Das zeichnet die hiesige Sch nheit aus vor den Abbildern von anderem, ebenso Liebenswertem oder noch Liebenswerterem, zum Beispiel der Weisheit (φρόνησις). Die hiesige Sch nheit, durch den Gesichtssinn wahrgenommen, hat f r die Seele einen nicht bertreffbaren Grad von Gegenw rtigkeit. Je nachdem, ob eine Seele sich Erinnerung an das damals Geschaute bewahren konnte oder dem Vergessen anheimfiel, wirkt die wahrgenommene Sch nheit verschieden auf sie. In der Seele, die das Damalige vergessen hat, weckt sie die Begierde nach widernat rlichem Liebesgenu . Die Seele aber, die sich noch zu erinnern vermag, „wird heftig von hier dorthin gerissen zur Sch nheit selbst" (οξέως ένθένδε έκεΐσε φέρεται προς αυτό το κάλλος — 250e2). Ein Mensch, dem das begegnet, macht Seltsames durch. Indem er ein gott hnliches Angesicht oder einen Leib erblickt, in denen die Sch nheit angemessen nachgebildet ist, schaudert er zuerst, und etwas von den damaligen ngsten berkommt kung bt sie nicht auf die g ttlichen Seelen, die in reiner Anwesenheit gleichm ig bei allem weilen. Man beachte in diesem Zusammenhang, da 247d f. unter den Beispielen f r das von den G ttern Geschaute die Sch nheit nicht genannt wird, sie ragt eben f r die G tter nicht besonders hervor.
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ihn. Dann aber verehrt er den Schönen mit frommer Scheu wie einen Gott. Durch die Augen die Schönheit des geliebten Knaben in sich aufnehmend, wird er durchglüht. Die Verhärtungen um die Keime seines Gefieders werden weich, das Gefieder will wieder wachsen, die Kiele, vom Ausfluß der Schönheit begossen und genährt, drängen, hervorzutreten überall an der Seele9. Er leidet ähnlich wie kleine Kinder beim Zahnen. In der Nähe des Geliebten erholt er sich vom Schmerz und ist froh. Ist er aber dem Geliebten fern, so verhärten sich wieder die Stellen, an denen das Gefieder heraustreten kann, und seine Leiden verschlimmern sich. Zugleich aber freut er sich in der Erinnerung an den Schönen. Das macht ihn rasend, so daß er weder bei Nacht Schlaf noch am Tag irgendwo anders als in der Nähe des Schönen Ruhe findet. Deshalb sucht er sich soviel wie möglich bei diesem aufzuhalten, den er höher schätzt als die engsten Verwandten und alle Freunde. Sie wie auch Besitz und Einkommen vernachlässigt er, ja Sitte und Anstand achtet er im Gegensatz zu früher gering. Hier scheint es, als beginne der Unterschied sich zu verwischen zwischen dem Wahnsinn dieses Liebenden und dem krankhaften Wahnsinn, der als ein Übel mit Eros nichts zu tun hat. Tatsächlich streift die wahrhaft liebende Seele in dieser Phase ihrer Liebe jenen krankhaften Wahnsinn. Indessen wird sie der Gefahr Herr, ihm anheimzufallen. Davon, wie das geschieht, berichtet die Rede später. Sie springt jetzt gleichsam vor, um das Gute zu zeigen, das dem Liebenden als göttliche Schenkung zuteil wird. Dieses Gute ist nichts Geringeres als ein „nach Möglichkeit Gott Ähnlichwerden" ( — Theaitet 176bl f.; diesen Ausdruck aus einem anderen Dialog in die Erörterung des Phaidros herüberzuholen, mag gestattet sein, weil er treffend die Sache bezeichnet, die der Phaidros, dabei verwandte Ausdrücke verwendend, jetzt zu verstehen gibt). Eros kräftigt das Vermögen der Wiedererinnerung an das einstmals geschaute Wahre nicht nur, sondern auch an den Gott, dem die Seele damals folgte, an seinem Leben teilhabend, und dem sie jedenfalls in ihrem ersten irdischen Leben in ihrer Wesensart noch verwandt ist. Diese Ver-
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Die Rede hat vom Bild des Gespanns und seines Lenkers, zu dem sie später zurückkehren wird, zum Bild des Vogels, das 249d7 schon einmal gestreift wurde (vgl. S. 114), übergewechselt.
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wandtschaft bedeutet: den Gott nach M glichkeit nachahmen10 (wobei dies Nachahmen als solches zun chst nur undeutlich oder gar nicht bewu t ist). So stiftet die Verschiedenheit der G tter Verschiedenheit unter den sie nachahmenden Menschen, von der auch deren Liebe betroffen ist. Die einstmals dem Zeus folgten, lieben anders und andere, als die, die dem Ares folgten oder einem anderen der G tter. Jeder Liebende w hlt einen Sch nen zum Geliebten, der ihm gem ist und in dem er also etwas von seinem Gott findet. M nner aus dem Gefolge des Zeus halten Ausschau nach einem Sch nen, der von Natur philosophisch und zur Herrschaft bef higt ist. Haben sie ihn gefunden und lieben sie ihn, so tun sie alles, da er auch wirklich der werde, der er von Natur ist. Sie machen ihn dem Gott hnlich, dem sie einstmals folgten. Dazu m ssen sie sich aber dieses Gottes m glichst deutlich erinnern. Sie forschen bei sich selbst nach und machen seine Natur ausfindig. In der Erinnerung ihn erfassend, werden sie des Gottes voll und bernehmen seine Sitten und Bestrebungen, „soweit es einem Menschen m glich ist, an einem Gott teilzuhaben" (καθ' όσον δυνατόν ϋεοϋ άνθρώπω μετασχεϊν — 253a4 f.). Den Grund f r dieses Gute sehen sie im Geliebten, den sie deshalb nur um so mehr lieben. Und indem sie wie Bakchantinnen aus Zeus sch pfen, sch tten sie davon auf die Seele des Geliebten und machen ihn dem Gott so hnlich wie nur eben m glich (ως δυνατόν όμοιότατον — 253a7 f. — vgl. auch 253b8—c2). Entsprechendes gilt f r die, die damals einem anderen Gott folgten. Eros ist Wahnsinn als die g ttliche Schenkung, die Liebendem und Geliebtem gew hrt, dem Gott, dem sie verwandt sind, m glichst hnlich zu werden, an ihm teilzuhaben, seiner voll zu sein — hier im Leben, in der Ferne, die durch die Verleiblichung der Seele gesetzt ist. Die Rede hat sich erneut in die N he zum G ttlichen erhoben. Nun kehrt sie noch einmal zur Liebespein des Verliebten zur ck. Sie stellt die berwindung jenes krankhaften Zustands dar und geht von hier aus gleichsam nat rlich dazu ber, die Gewinnung der Gegenliebe des Geliebten zu beschreiben. Sie nimmt das fr here Bild f r die Seele — Gespann und Lenker — wieder auf. Sie bringt an Eros jetzt einen 'Wesenszug ans Licht, der bisher unbeachtet blieb: Freilich ist Eros Wahnsinn, Enthusiasmus, verz cktes Erf lltsein vom Gott. Und doch gibt es wahren Eros nicht ohne Besonnenheit. Eros ist b e s o n n e n e r Wahnsinn. Eros ist ein Paradox. 10
Vgl. 252d2: μιμούμενος εις το δυνατόν — ferner auch 253b5 f.
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Zwei Rosse, ein gutes und ein schlechtes, sind im Gespann der Seele zusammengespannt. Das gute wird jetzt als schön, das schlechte als häßlich beschrieben. Dem guten, das dem Lenker willig gehorcht, werden Besonnenheit ( ) und Schamgefühl ( ) zugesprochen. Das schlechte, das sich seiner Natur nach dem Lenker widersetzt, erscheint in den Anblicken der Zügellosigkeit ( ) und Anmaßung ( ). Erblickt der Lenker die Gestalt des Geliebten, so wird die ganze Seele durchwärmt und erfüllt von Kitzel und Verlangen. Das gute Roß bewahrt auch jetzt sein Schamgefühl und hält sich davon zurück, den Geliebten anzuspringen. Das schlechte Roß dagegen drängt mit aller Gewalt zu dem Geliebten hin und zwingt Lenker und Spanngenossen, um des Genusses der Liebesgunst willen sich zu diesem zu begeben. Lenker und gutes Roß widersetzen sich zwar anfangs dem Drängen des schlechten Rosses, schließlich aber geben sie nach und willigen ein, das Befohlene zu tun. So begeben Lenker und Gespann sich zu dem Geliebten. Indem der Lenker aber nun die strahlende Gestalt des Geliebten erblickt, wird seine Erinnerung fortgerissen zur Schönheit selbst, und mit ihr sieht er auch wieder die Besonnenheit (254b7) auf heiligem Grund stehen. Bei diesem Anblick überkommt ihn ehrfürchtige Scheu. Er kann nicht mehr anders, als mit dem Gespann zurückzuweichen. Dabei folgt das gute Roß ihm freiwillig, das schlechte aber höchst widerwillig. Bald beginnt das schlechte Roß erneut sein Drängen, und der ganze Vorgang wiederholt sich. Das geschieht so oft, bis schließlich die Zügellosigkeit des schlechten Rosses bezwungen ist und dieses gedemütigt dem Lenker folgt und beim Anblick des Schönen vor Furcht vergeht. Die Liebe des Mannes zum geliebten Jüngling ist besonnene Liebe geworden. Der Liebende vermag sich dem Geliebten jetzt so zu nahen, daß auch in diesem eine Liebe erwacht, die Eros als gemeinsames Gott Ähnlichwerden ermöglicht. Der Liebende, der zur Besonnenheit seiner Liebe gefunden hat, dient dem Geliebten wie einem Gott. Und da überdies eine Ähnlichkeit zwischen beiden besteht (einen seinem eigenen Gott von Natur schon ähnlichen Schönen erwählte sich ja der Liebende), so kann es nicht anders kommen, als daß der Schöne sich zum Umgang mit dem Liebenden bereit findet. Indessen ist der Liebende nicht schön. Schönheit des Antlitzes und der ganzen körperlichen Gestalt ist in dieser Rede eindeutig auf die Jugend beschränkt. So kann die Liebe des Jünglings zum Mann nicht unmittelbar durch die Schönheit erweckt werden. Vielmehr ist es der Strom ( ) seiner eigenen Schönheit, der vom Liebenden her wieder in den Geliebten durch seine Augen zurückfließt, ohne daß er wüßte,
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was da eigentlich geschieht. Nun liebt er. Er macht jetzt alles das durch, was die Rede früher und eben zuvor über Leiden, Raserei und inneren Kampf des Liebenden berichtet hat. Der Umgang von Liebendem und Geliebtem entbehrt nun keineswegs einer sinnlichen Nähe (siehe 255e— 256a)n, aus der auch dem Liebenden neue Bedrängnis durch das schlechtere Seelenroß erwächst. Freilich, einander Liebende der höchsten Stufe enthalten sich des Liebesgenusses im engeren Sinne, den viele für das Höchste ansehen. Bei ihnen haben die besseren Teile der Seele dauerhaft gesiegt. Sie führen als Beherrschte ( ) ein geordnetes und der Philosophie gewidmetes, hier schon seliges Leben. Bei ihrem Tod haben sie, mit neuem Gefieder und leichter geworden, schon e i n solches Leben vollendet, das für die frühest mögliche Rückkehr in die Sphäre der Götter, nach dreitausend Jahren, bereitmacht. Es sind dies die Menschen, die einst dem Zeus folgten. Ihnen gelingt dank der Besonnenheit ihres Wahnsinns die höchste Stufe der hiesigen Teilhabe an ihrem Gott. Einander Liebende dagegen, deren Lebensweise derber und unphilosophisch, gleichwohl aber ehrliebend ist, werden — etwa im Rausch — den schlechteren Seelenrossen nachgeben, und haben sie sich erst einmal den Liebesgenuß gewährt, so werden sie es auch weiterhin tun, indessen doch selten, weil dieses Tun nicht die Zustimmung ihrer ganzen Seelen hat. Unlösliche Freundschaft wird sie auch über ihre Liebe hinaus ihr ganzes Leben lang miteinander verbinden. Da aber ihre Seelen kein neues Gefieder hervortreiben, haben sie bei ihrem Tod durch ihr Leben nicht, wie die Philosophierenden, einen Teil der Voraussetzung für ihre vorzeitige Rückkehr in die Gefolgschaft der Götter erfüllt. Wohl aber gelangten sie zu dem Verlangen, wieder befiedert zu werden. Deshalb wird auch ihnen beim Tod kein geringer Preis für den Wahnsinn der Liebe: Sie bleiben vor einem Aufenthalt an den Straforten im Inneren der Erde bewahrt, und ihnen ist ein lichtes ( ) Leben in gemeinsamem Glück beschieden. Werden sie aber einst wieder befiedert, so geschieht es ihnen um der Liebe willen gleichzeitig. — Die Besonnenheit, die in Eros als Wahnsinn waltet, hat sich als gestuft gezeigt. Eros als Paradox des besonnenen Wahnsinns ist dann voll verstanden, wenn man sieht, daß nur die höchste Stufe der Besonnenheit die höchste Stufe des Wahnsinns — der Entrückung zum Wahren in der Wiedererinnerung und des Gott Ähnlichwerdens — ermöglicht. Daß Eros als Wahnsinn aber der Besonnenheit bedarf, liegt 11
Das darf nicht übersehen werden, sosehr es auch einem gängigen Platon-Bild widersprechen mag. Platon zeigt sich im folgenden sogar versöhnlich gegenüber der geschlechtlichen Seite der Knabenliebe.
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daran, daß ein Teil unserer Seele Begierde ist. Indem Eros als göttlicher, in die hiesige Teilhabe am Göttlichen entrückender Wahnsinn zugleich Liebe zweier Menschen zueinander ist, deren Glut vor Augen zu führen die Rede nicht müde wird, muß er sich mit der Besonnenheit vereinen, die ihn gerade steigert, nicht schwächt. Sokrates' Rede kommt zum Ende. Vor dem Guten, das den Menschen durch Eros geschenkt ist, zeigt sich der Nichtliebende der ersten Reden in seiner Erbärmlichkeit. Von sterblicher Besonnenheit wird mit Bezug auf ihn gesprochen. Das ist nicht die Besonnenheit, die im Wahnsinn der Liebe waltet, so daß dieser der Seele philosophische Erinnerung und höchstmögliches Ähnlichwerden mit dem herrschenden Gott erwirken kann; das ist Kalkül, der von Eros nichts weiß und durch den ein Mann sich bei einem Jüngling den sinnlichen Liebesgenuß zu verschaffen und gleichzeitig dem krankhaften Wahnsinn zu entrinnen sucht. Sokrates läßt im Anruf an Eros die Rede zu Phaidros, zu sich selbst und zu Lysias zurückkehren. Phaidros stimmt in das Gebet ein und spricht seine Bewunderung für Sokrates' Rede aus. Er ist von Lysias zu Sokrates übergegangen. Sokrates, der Liebende, hat Phaidros, den jungen Mann, zur Philosophie hingeführt.
Sokrates' Rede über Eros ist ein Siihnopfer und ein Widerruf, nötig geworden durch den Frevel seiner ersten Rede und der geschriebenen Rede des Lysias, die Phaidros zuvor vorgelesen, Sokrates angehört hat und von der Sokrates' erste Rede provoziert wurde. Eros ist nicht der krankhafte, verderbliche Wahnsinn, als der er in jenen beiden Reden erschien, die ihn gleichsetzten mit der Begierde nach sinnlichem Liebesgenuß. Und doch kann die Rede über die Wahrheit des Eros auch diese Erscheinung begreiflich machen, die den Namen Eros nicht verdient. Eros ist Wahnsinn. Aber das ist so lange mißverständlich, als man nicht Arten des Wahnsinns deutlich voneinander trennt. Der Wahnsinn insgesamt ist eine Gattung, die sich in einem ersten Einteilungsschritt in zwei Arten auseinanderlegen läßt: die eine Art ist schlechter Wahnsinn (zu ihr gehört ,Liebec als krankhafter, alles Gute gänzlich hintansetzender Wahnsinn); die andere Art ist dadurch bestimmt, daß uns der Wahnsinn als göttliche Schenkung die größten Güter entstehen läßt. In einem weiteren Einteilungsschritt wird diese Art in vier Arten weiter zerteilt. Eine dieser Arten ist Eros. Sokrates' Rede spricht über Eros als einen Wahnsinn, der eine göttliche Schenkung an den Menschen ist und ihm ttnver-
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gleichlich Gutes erwirkt. Was dieser Wahnsinn ist, hat die Rede zu zeigen. Und sie kann es nur zeigen im weitesten Ausgreifen auf die Natur der Seele überhaupt, der menschlichen Seele nicht nur, sondern auch der göttlichen. Die Darlegung über die Natur der Seele insgesamt erfordert vorher den Beweis der Unsterblichkeit. Behauptet ist und bewiesen wird: „Seele insgesamt ist unsterblich." — Tod würde bedeuten: Ende der Bewegung — denn Leben ist verstanden als Bewegung. Seele insgesamt ist unsterblich, wenn sie immer-bewegt ist. Es besteht damit die Aufgabe, das Immer-bewegte zu denken und die Seele als Immer-bewegtes zu denken. — Als das Immer-bewegte wird das Sich-selbst-bewegende gesetzt. Das Sich-selbst-bewegende muß als Immer-bewegtes gesichert werden. Das geschieht, indem das Sich-selbst-bewegende begriffen wird als Anfang aller Bewegung, der eigenen nicht nur, sondern auch alles Bewegten, das durch anderes bewegt wird. Dieser Anfang ist notwendig ungeworden und folglich unvergänglich. Er ist ungeworden — denn als Anfang alles Bewegten ist er Anfang alles Entstehenden und kann nicht selbst entstanden sein. Er ist unvergänglich — denn niemals könnte nach seinem Untergang er selbst wieder oder irgend etwas anderes als er entstehen; verginge er, so würde das All für immer zusammenstürzen und stillstehen; das müßte aber schon geschehen sein, da ja der Anfang als nicht entstandener schon eine unendliche Zeit währt. — Das Sich-selbst-bewegende ist Immer-bewegtes. Seele insgesamt ist das Sich-selbst-bewegende. Seele insgesamt ist unsterblich. Die Natur der Seele insgesamt, im Beweis schon als Leben begriffen und vom Beweis als unvergängliches Leben vorgegeben, wird im Mythos zum Verständnis gebracht. Dazu bedient sich der Mythos des ihm in einem Gleichnis zur Verfügung gestellten Bildes der Seele: Die Seele erscheint als befiedertes Rossegespann mit einem Lenker. Der Lenker steht für die Vernunft. Die Rosse stehen für die nichtvernünftigen Teile der Seele. Bei den Göttern sind Lenker und Rosse gut. Von unseren zwei Rossen ist eins schlecht, während das andere, wenn es nicht verdorben wird, gut ist, nämlich der Vernunft willig gehorcht und sich ihr verbündet. Das schlechte Roß steht für die Begierde, das gute für den zornigen Drang. "Zur Natur der Seele, zu ihrem Leben, gehört es, Unbeseeltes zu beleben. Das tut sie, indem sie das All durchzieht. Sie macht das All zum unsterblichen Lebewesen. Aus ihr lösen sich aber Seelen heraus, fallen herab zur Erde und beleben alsdann einen erdhaften Leib, mit ihm zu-
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summen ein sterbliches Lebewesen bildend. Als ein solches sterbliches Lebewesen findet sich der Mensch vor. Der Mythos erzählt dem Menschen seine Herkunft, die für seine unsterbliche Seele zugleich Zukunft ist. Der Mensch hat seine Herkunft aus der Teilhabe am Leben der Götter. Einstmals, als seine Seele noch nicht einem irdischen Leib einwohnte, folgte sie den Göttern durchs All, teilhabend an ihren herrlichen Gesichten, und versuchte sie, ihnen auch noch zu folgen, wenn sie sich durch eine Öffnung des Himmelsgewölbes hinausbegaben an den überhimmlischen Ort zur Schau des Wahren, was in regelmäßigen Abständen geschah. Von der glücklichen, reinen und beruhigten Schau blieb seine Seele freilich ausgeschlossen; das schlechte Roß hinderte sie daran, indem es herabzog und sich ungebärdig benahm, dadurch zugleich das andere Roß in Unruhe versetzend. Bestenfalls vermochte sie alles Wahre von fern und in großer Beunruhigung zu sehen. Vielleicht gelang es ihr aber auch nur, weniges von dem Wahren zu erblicken. Auch konnte das von Mal zu Mal wechseln, zumindest sich zum Schlechteren hin verändern. Schließlich muß der Seele die Schau des Wahren trotz ihres Strebens danach gänzlich versagt geblieben sein. Das hatte zur Folge die Trennung der Seele von der Teilhabe am Leben der göttlichen Seele und das Hinüberwechseln in einen anderen, zehntausend jähr igen, mindestens aber dreitausendjährigen Lebenskreislauf, der mit dem Eintritt der Seele in den erdhaften Leib und in ihr erstes irdisches Dasein begonnen hat. Das Leben eines Menschen hier in seinem irdischen Dasein ist, wie immer es geartet sein mag, Stufe im gestuften Ganzen des Lebens überhaupt und Bewegung im übergängigen Leben der nicht-göttlichen Seele überhaupt. Der Mythos und der Fortgang der Rede zeigen sehr viele Stufen des Lebens, deren jede bestimmt ist durch ihre Nähe bzw. Ferne zum wahrhaft Seienden. Die oberste Stufe haben die Götter inne, unter denen Zeus als Gebieter der übrigen Götter noch einmal herausragt. Möglicherweise soll man sich auch Rangstufen unter den übrigen Göttern vorstellen, gemäß den ihnen von Zeus übertragenen Aufgaben bei der Verwaltung des Alls. Indessen schauen alle Götter das Wahre insgesamt in seinem Zusammenhang und aus der Nähe. Die nächste Stufe bilden die nicht-göttlichen Seelen, die sich ständig im Gefolge eines Gottes zu halten vermögen — auch sie noch einmal gemäß den Rangstufen der Götter voneinander verschieden (es besteht Ähnlichkeit der Seele zu dem Gott, dem sie folgt) und dementsprechend mehr oder weniger vom Wahren schauend. Die Stufung setzt sich nach unten fort zu den Seelen, die sich aus dem Gefolge der Götter herauslösen und die von den vorigen
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erst unterscheidbar werden, wenn sie sich herausgelöst haben. Bei diesen Seelen angekommen, führt die Stufung über die Stufen der hiesigen Lebensformen herab bis zum Tyrann, ja bis zum Tier. Der Tyrann hat dasjenige Wahre vergessen, das unter dem Wahren besonders hervorragtiz. Die im Tier verleiblichte Seele hat, solange dies von ihr gewählte irdische Leben anhält, alles Wahre vergessen13. — Neben dieser durchgängigen Stufung vom höchsten Gott bis zum höheren Tier lassen sich weitere Stufungen bemerken: Auch das jenseitige Dasein zwischen den irdischen Leben einer Seele im engeren Lebenskreislauf ist gestuft. Eine höhere Stufe hat ferner wohl das jeweils erste irdische Leben einer Seele gegenüber ihren folgenden Leben, wenn sie im ersten nicht Eros' teilhaftig wurde. (Diese Stufung betrifft eine Abnahme der Ähnlichkeit mit dem Gott, dem die Seele einstmals folgte.) Dessen ungeachtet kann eine Seele vor der Wiedergeburt eine Lebensform, also die Stufe ihres nächsten irdischen Lebens, wählen (wiewohl nicht die höchste, wenn ihr voriges Leben nicht von Eros bestimmt war). Und: Stufen der Besonnenheit im Wahnsinn der Liebe sind Stufen der Liebenden in ihrem hiesigen Leben und in ihrem Leben zwischen Sterben und Wiedergeburt im engeren Lebenskreislauf. Die mehr statische Betrachtungsweise des Lebens der Seele als vielfältiger Stufung muß aber in eine dynamische aufgehoben werden. Diese erblickt das Leben der Seele insgesamt als die eine große Bewegung des Sich-näherns und Sicly-entfernens in bezug auf das wahrhaft Seiende in seiner Wahrheit. Aus dieser einen Bewegung heben sich ihr verschiedene Kreise ab, ein göttlicher Kreis, ein engerer Kreis der Bewegung vom irdischen Dasein in ein jenseitiges und zurück und ein diesen Kreis in sich befassender größerer, vom gottnahen Leben ins irdische und wieder ins gottnahe Leben zurückführender Kreis. Sie begreift das Leben der Seele mit Ausnahme des Lebens der göttlichen Seele als sich durch alle Stufungen und Gestalten hindurch bewegendes, übergängiges. Die Rede erzählt den Mythos vom Leben der Seele, damit verständlich gemacht werden kann, was Eros ist. Eros ist Wahnsinn als göttliche Schenkung; er erwirkt dem Menschen, der die Trennung von der Teilhabe am göttlichen Leben erlitten und damit die Möglichkeit der un12
Seine Vernunft ,lebt' bezüglich der Gerechtigkeit etwa im dcfizienten Modus des Meinens. 13 Ihr .Leben' kann überhaupt nicht mehr Näherung als Wiedererinnerung an Ideen sein; es vollzieht sich, was den zuvor ,vernünftigen' Seelenteil anbelangt, im defizienten Modus der Wahrnehmung.
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mittelbaren Schau des wahrhaft Seienden verloren hat, die größten Güter, Was könnten diese Güter aber anderes sein als eine Teilhabe unserer Seele am göttlichen Leben hier im irdischen Dasein und eine besonders deutliche Wiedererinnerung an das einstmals geschaute Wahre? Wie vermöchte jedoch Eos dem Menschen solches zu verschaffen? Eros entsteht dem Menschen dank der Schönheit. Wenn unsere Seelen einst, in den überhimmlischen Ort hinausschauend, das wahrhaft Seiende erblickten, leuchtete für sie die Schönheit unter allem übrigen mit besonderem Glanz hervor. Das tut sie auch im irdischen Bereich. Die Schönheit hier bildet strahlend die Schönheit dort ab. Daher begeistert sie die Seele, entrückt sie im Wiedererinnern in die Nähe der wahren Schönheit, und mit dieser wird nun auch anderes von dem damals Geschauten deutlich erinnert, die wahre Besonnenheit etwa, die wahre Gerechtigkeit und die wahre Weisheit, Die Rede läßt das über Eros und Schönheit Gesagte nicht in dieser Allgemeinheit stehen. Mit Entschiedenheit und ausführlich wendet sie sich der Liebe zwischen Menschen zu und der Schönheit eines menschlichen Antlitzes, einer menschlichen Gestalt. Als schön kommen in ihr freilich nur Antlitz und Gestalt eines Knaben bzw. heranreifenden jungen Mannes in Betracht, und als Liebe erscheinen nur die Liebe des reiferen Mannes zu diesem und dessen (mittelbar durch seine eigene Schönheit hervorgerufene) Gegenliebe1*. Sokrates' Rede liefert eine Phänomenologie des Sich-verliebens und Verliebtseins, die aus irdischer Perspektive rechtfertigt, von Eros als Wahnsinn zu sprechen, die aber zugleich nahelegt, nach einer höheren Gestalt dieses Wahnsinns auszuschauen. Diese wird gefunden im Paradox des besonnenen Wahnsinns. Unter welchen Mühen der besonnene Wahnsinn in den Liebenden entsteht, wird ebenfalls phänomenologisch beschrieben, wobei das frühere Bild für die Seele, Gespann und Lenker, erneut seinen Dienst tut. Wahrer Eros kommt nur den Seelen zu, die zur Besonnenheit gefunden haben, deren Vernunft also die Begierde in "Zaum hält. Den besonnen einander Liebenden schenkt Eros, daß sie hier im Leben in gemeinsamer Anstrengung dem Gott ähnlich werden, dem ihre Seelen einstmals folgten. Dabei kommt dem liebenden Mann gegenüber dem geliebten, 14
Das wirkt sich — für unser Verständnis — folgenschwer aus in der Einstellung zur Sexualität, die ablehnend ist (ohne daß sie unversöhnlich wäre), weil Platon die geschlechtliche Liebe zwischen Männern als widernatürlich empfand und doch einer Liebe zwischen Mann und Frau in dieser Sokrates-Rede des Pbaidros keine Beachtung schenkt.
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ihm Gegenliebe entgegenbringenden Jüngling die Führung zu insofern, als er alles daransetzt, diesen dem Gott, dem sie beide verwandt sind, ähnlich zu machen. Dieses sein Bestreben indessen läßt ihn selbst erst dem Gott ähnlich werden, und da es letztlich durch die Schönheit des jungen Menschen hervorgerufen ist, verdankt der liebende Mann seinerseits diesem sein Gott Ähnlichwerden. Die Besonnenheit in der Liebe hat Stufen. In Liebenden, die die höchste Besonnenheit in der Liebe erreicht haben, ist die Vernunft dauerhaft Herr geworden über die Begierde nach sinnlichem Liebesgenuß. Nur sie verwirklichen Eros der höchsten Stufe. Sie bringen es zu jenem Grad und Umfang der Wiedererinnerung an das wahrhaft Seiende, die erlauben, von Philosophie zu sprechen. Und in eins damit gelingt ihnen ein Ähnlichwerden mit dem höchsten Gott, mit Zeus. Ihm, zu dessen Gefolge sie einstmals gehörten, schon verwandt als philosophische und zur Herrschaft befähigte Naturen, vermögen sie dank Eros diese Verwandtschaft — als Ähnlichwerden soweit wie möglich — zu leben. Und wenn die politischen Verhältnisse solche Menschen schon nicht zur Herrschaft gelangen lassen, so kann doch nichts sie daran hindern, am Leben ihres Gottes teilzuhaben als Philosophierende. Eros ist besonnener Wahnsinn der Liebenden als verzücktes Erfülltsein vom Gott. Eros gewährt in eins und zumal ein Leben der Wiedererinnerung an das einstmals geschaute Wahre und an den Gott. Für ein solches Leben ist das wiedererinnerte Wahre bestimmend, und indem es bestimmend ist, wird der Mensch dem Gott ähnlich. Eros ist das Höchste, was einem Menschen im irdischen Leben zuteil werden kann. Er ist Teilhabe am Leben der göttlichen Seele, soweit die Trennung es zuläßt. Eros der höchsten Stufe erwirkt der Seele eine vergleichsweise frühe Heimkehr in den Bereich ihrer Herkunft, in die Teilhabe am Leben der göttlichen Seele ohne Trennung. Aber auch jenen erwirkt Eros über den Tod hinaus Gutes, die die volle Besonnenheit nicht erreichen und die nicht zur Philosophie gelangen, jedoch ein ehrliebendes Leben in treuer Liebe und unvergänglicher Freundschaft führen. — Philosophie ist Eros. Eros ist ,nur' auf seiner höchsten Stufe Philosophie. Philosophie ist Eros. Sokrates ist Philosoph. Seine Rede ist selbst Eros. Sie ist, durch die Nähe des schönen Phaidros gezeugt, Wiedererinnerung an unsere Herkunft aus der Teilhabe am Leben der göttlichen Seele. Mit ihr beginnt Sokrates mit Erfolg, den Jüngling Phaidros, dem er zugetan ist, ja der ihn bezaubert, von der Rhetorik eines Lysias weg zur Philosophie hin umzuwenden, beginnt er, Phaidros dem Gott,
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dem sie beide einstmals folgten (vgl. 250b7), Zeus, ähnlich zu machen. Sokrates und Phaidros — das sagt noch einmal etwas über Philosophie als Eros. Es zeigt: Philosophie als Eros ist auch ,Liebenden( möglich, die nicht jeder im anderen den Wahnsinn des Verliebtseins erweckten, deren ,Liebe' nicht Ausschließlichkeit fordert (wie sollte nicht Sokrates auch andere junge Männer liebend zur Philosophie führen wollen, und sei auch ihr Äußeres weniger schön als das des Phaidros, wenn nur ihre Seele es ist15), deren Empfindung die Glut der von der Rede beschriebenen Liebe nicht erreicht. Diese Entschränkung oder Erweiterung wird man am Ende machen müssen. Und doch ginge man fehl, wenn man nicht festhielte, daß Platon im Phaidros das Zusammentreffen der von der Rede gefeierten besonnenen Liebe mit der Philosophie als ein unüberbietbares irdisches Glück des Menschen gepriesen hat. Gerade daß die Liebe zwischen Menschen von Eros, der sich dem wahrhaft Seienden nähert, nicht mehr als eine niedrigere Stufe hinter sich zurückgelassen wird, zeichnet Sokrates' Rede im Phaidros vor der im Symposion aus. Der Phaidros ist dem Symposion nah und auch fern19. Er überholt das Symposion, ohne es überflüssig zu machen. Er ist Antwort, das Symposion bleibt die Ausarbeitung der Frage und stellt mit ihr vieles unverlierbar bereit, etwa daß Eros kein Gott ist, daß er vermittelt zwischen Göttern und Menschen und den Bezug zwischen ihnen wirksam hält, daß er Streben nach immerwährendem Glück ist und damit die Zeitlichkeit transzendiert, daß Eros und Schönheit zusammengehören und daß Eros Zeugung im Schönen ist, Kraft also, Reden (Sokrates' Rede im Phaidros\) und wahre Trefflichkeit hervorzubringen. — Das Symposion endet aporetisch, insofern es die extremen Gegensätze Diotima und Alkibiades nicht vermitteln konnte. Diotima sprach von der Seite der Götter her, wenn sie die beruhigte Schau des Göttlich-Schönen als die höchste Stufe im Bezug zum Schönen erscheinen ließ. Sie schritt über das hinaus, was dem Menschen möglich ist, und ließ damit Eros und Philosophie entgleiten. Alkibiades' Liebeswahnsinn trat als Antithese auf, als etwas Menschlicheres, aber eben doch in seiner Maßlosigkeit Allzumenschliches. Alkibiades' Wahnsinn ist krankhafter Wahnsinn, fern aller Besonnenheit. Der Phaidros läßt sehen, daß unseren Seelen niemals die beruhigte Schau der wahren Schönheit, Gerechtigkeit usw. möglich ist (wobei nicht übersehen werden darf, daß die wahre 15
Darum, schön zu werden i m I n n e r n , betet Sokrates am Schluß des Dialogs — 279B8 f. 18 Gemeint ist jeweils der Teil dieser Werke, der vom wahren Eros handelt.
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Schönheit des Phaidros nicht mehr das Göttlich-Schöne des Symposion ist; das Göttliche erscheint im Phaidros ja in den die Welt durchwaltenden Göttern, die selbst in Abständen die wahre Schönheit schauen). Ist die beruhigte Schau des wahrhaft Seienden unseren Seelen vor ihrer Verleiblichung schon nicht möglich, so hier im irdischen Leben erst recht nicht. Eros entrückt uns im hiesigen Dasein in die wiedererinnernde Schau jenes Wahren, in eine Schau aus der Ferne der Trennung, die von der Sehnsucht nach der Heimkehr durchstimmt ist. Eros, so verstanden, vermag nichts bei einem Alkibiades. Er setzt die besonnene Liebe voraus. Als besonnener Wahnsinn überspringt oder übersteigt er aber nicht mehr die Liebe zwischen Menschen, sondern nimmt sie gerade als menschliches Glück in sich auf. So bleibt Eros einerseits ein Mittleres zwischen Glück und Unglück (das reine Glück der Götter wird unseren Seelen nie zuteil, am wenigsten im irdischen Leben), andererseits ist er Glück als glückseliges Leben der Liebenden — Sokrates' Rede im Phaidros bringt beides zum Ausdruck. Die Frage, die das Symposion mit der unaufhebbaren Antithese Diotima — Alkibiades stellte, beantwortet der Phaidros mit dem Paradox des besonnenen Wahnsinns. Dabei ersetzt er — aus der Einsicht in das Menschenunmögliche einer reinen Anwesenheit beim wahrhaft Seienden und einer uneingeschränkten Gemeinschaft mit dem Göttlichen — die Schau des Göttlich-Schönen durch das Wiedererinnern im Philosophieren und das Gott Ähnlichwerden. Der Rückblick auf das Symposion akzentuiert das Streben, die dämonische Kraft, in diesem Wiedererinnern und Ähnlichwerden, und auch die Sehnsucht, wieder dort zu sein, woher die Seele kommt. Im Symposion stellte Platon die Frage nach dem Dasein des Menschen nach dem Tod zurück. Diese Frage überließ er damals dem Phaidon. Der Beweisgang des Phaidon zeigte, daß unsere Seelen nach dem Tod noch sein werden, und zwar als denkende, wie sie auch vor der Geburt sdjon waren als denkende. Der Mythos des Phaidon ließ die Stufungen der jenseitigen Schicksale der Seelen und damit der Seelen selbst erscheinen". Der Phaidros vereinigt die Thematik von Symposion 17
Das glücklichste Los, so erzählte er, wird den Philosophen zuteil, die nicht nur an den herrlichsten Wohnstätten wohnen, sondern dort auch für a l l e Z u k u n f t bleiben dürfen. In diesem letzten Punkt ist der Phaidros nicht mehr so zuversichtlich. Die Rückkehr in die Teilhabe an dem Leben des Zeus ist höchstens die Chance für die Seele, sich künftig im Gefolge des Zeus zu halten — so wie jede andere Seele nach der Heimkehr in das Gefolge der Götter allenfalls wieder die Chance erhält, dort auch zu bleiben.
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und Phaidon, und das nicht im Sinne einer nachträglichen Zusammennähme, sondern im Rückgang in ihren Einheitsgrund. Aus dem Lehen der Seele insgesamt, das nie begonnen hat und nie aufhören wird, gibt er Eros zu verstehen. Der Mythos des Phaidros steht durch seine Akzentuierung der Vergangenheit unserer Seelen dem Anamnesisbeweis des Phaidon nah. Jedoch wäre es falsch, ihn als die Entfaltung des in jenem Beweis Gedachten aufzufassen. Im Phaidros trennt Platon sich nämlich von zwei Gedanken, die für den Anamnesisbeweis unverzichtbar waren. Er nimmt das Vergessen nicht mehr so radikal, wie jenes Beweisargument, dem vorangegangenen ,naturphilosophischen' Beweis zur Ergänzung dienend, es tun mußte. Und er macht die Wiedererinnerung an die Ideen nicht mehr begreiflich durch das eroshafte Streben der Sinnendinge selbst und die damit gesetzte Verweisung aller Sinnendinge auf die Ideen, an denen sie teilhaben. Das Verhältnis von Seele und Leben blieb im Phaidon Problem: Unsere Seele lebt, und das nicht nur, solange sie, ihn belebend, einem Leib einwohnt, sondern immer. Sie ist notwendig mit dem Leben beisammen. Und doch ist sie vom Leben verschieden wie die Drei vom Ungeraden und wie der Schnee von der Kälte. Wie die einzelne Drei an der Idee der Drei und an der Idee des Ungeraden teilhat, so müßte, wollte man formal argumentieren, die einzelne Seele an einer Idee der Seele und an einer Idee des Lebens teilhaben. Von einer Idee des Lebens spricht der Phaidon tatsächlich, ohne doch weiter nach ihr zu fragen. Eine Idee der Seele steht nicht einmal in der Sicht. Es gibt sie nicht. Auch die Seele ist durch Teilhabe — aber durch Teilhabe woran? Die Teilhabe an einer Idee des Lebens, wie immer diese zu denken wäre, reicht vom Phaidon aus gesehen nicht aus. Der Phaidon verwies hier auf so etwas wie eine Teilhabe am Göttlichen. Eine Teilhabe am Göttlichen gab dann das Sonnengleichnis zu denken, nämlich als Verwandtschaft der Seele zur Idee des Guten, die in der Seele wirkt. Das vom Phaidon her noch anstehende Problem des Lebens der Seele und einer Idee des Lebens war damit nicht gelöst. Der Phaidros beseitigt es, indem er die Natur (" ) der Seele bzw. ihr Wesen (' ) als Leben denkt, ohne die Teilhabe am Göttlichen und die mit ihr gedachte Wirksamkeit des Göttlichen in der Seele preiszugeben. Für ihn sind Seele und Leben nicht mehr das notwendige Beisammensein von Verschiedenem. Das Wesen der Seele insgesamt ist Leben, und unsere Seelen haben ihre Herkunft aus der Teilhabe am Leben der göttlichen Seele. Diese Herkunft bleibt in ihrem hiesigen Dasein in ihnen wirksam als Kraft der
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Wiedererinnerung, die als Vermögen, Seiendes auf der Ebene der Arten zu erfassen, den Menschen Mensch sein läßt. Durch Eros wird die Kraft der Wiedererinnerung wunderbar gesteigert. In dem Gott Ähnlichwerden strömt aus dem Gott Kraft in die Seele über (von den Liebenden, die dem Zeus ähnlich werden, hieß es, sie schöpften aus Zeus wie Bakchantinnen). — Die Lösung des Problems des Lebens der Seele bei gleichzeitigem festhalten an der vom Sonnengleichnis erbrachten Teilhabe der Seele am Göttlichen ist dadurch möglich geworden, daß im Phaidros das Göttliche anders erscheint als im S onnen gleic hnis. Der Preis, der dafür gezahlt worden ist, scheint hoch: Das Göttliche zeigt sich nicht mehr, wie im Sonnen gleichnis, als Ursache der Wahrheit und des Seins der Ideen. Platon bleibt im Politikos und Philebos auf dem im Phaidros begonnenen Weg. Indessen mag man sich vom Politikos und Philebos aus fragen, ob nicht jedes Zugehen auf das Göttliche von der Welt aus in Platons Sinne nur eine Seite des Göttlichen zur Ansicht bringen kann. Die Frage kann hier nicht weiter verfolgt werden; sie gehört in eine Untersuchung über Platons philosophische Theologie. Das Symposion zeigte den Menschen als dämonisches Wesen, seit es Porös und Penia als Eltern des Eros und sodann Eros selbst als menschliches Streben dachte. Phaidon und Sonnengleichnis ließen dieses Thema ruhen. Der Phaidros greift es auf. Zwar legt er das Schwergewicht darauf, die Herkunft der menschlichen Seele aus der Teilhabe am Leben der göttlichen Seele vor Augen zu führen. Aber unmißverständlich erscheint in ihm ein Teil der Seele als schlecht (eben die Begierde, verbildlicht in dem schlechten Roß des Gespanns). Dieser Teil der Seele kann nicht von göttlicher Herkunft sein. Die doppelte Herkunft des Menschen, die ihn zu einem dämonischen Wesen macht, wird der Politikos nochmals thematisieren, und auch im Philebos wird sie erscheinen. Das Sonnengleichnis ließ eine Gemeinschaft der Seele mit dem Göttlichen sehen, die darin erblickt wurde, daß die Seele die Idee des Guten als Ursache ihrer Kraft des Erkennens ,denktf. Diese Gemeinschaft konnte im Ausgang von einer späteren Stelle der Politeia (517c8 f.) als eroshaft verstanden werden, und Eros bedeutete dort: immer verlangen, da oben (auf der höchsten Stufe, die menschliches Denken erreichen kann) zu verweilen und sich den menschlichen Alltagsgeschäften zu entziehen. Die Politeia macht aber klar, daß solchem begreiflichen Verlangen nicht entsprochen werden kann, weil gerade denen,
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die sich auf die höchste Stufe menschlichen Denkens erhoben haben, die Herrschaft im Staat zu übertragen ist. Davon ist im Phaidros nicht mehr die Rede. Zu der der Politeia-5ie//c (517c8 f.) und ihrem Fortgang korrespondierenden Phzidros-Stelle (249c l—d3) schafft der Phaidros kein Gegengewicht. Politische Herrschaft und Betätigung erscheinen in ihm in der Stufung der Lebensformen erst auf der zweiten und dritten, nicht auf der höchsten Stufe. Aber der Grund dafür läßt sich unschwer auffinden. Er dürfte darin liegen, daß Platon, als er den Phaidros schrieb, dem philosophisch Liebenden und dem Zeus Ähnlichwerdenden, der dem Zeus je schon ähnlich ist als philosophische und zur Herrschaft befähigte Natur, keine Chance einräumte, wirklich zur Herrschaft zu gelangen. Diese Resignation überwand Platon dann zumindest insofern, als er es für nötig hielt, im Polhikos das Wesen des wahren Staatsmannes zu bestimmen™. — Der Politikos und der Philebos werden auch Veranlassung geben, das Gott Ähnlichwerden über den Phaidros hinaus fortzubestimmen.
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Vgl. audiS. 177f.
8. Kapitel: Philosophie als besonnener Wahnsinn (Phaidros243e-257c) Der enge Bezug von Eros und Philosophie im Pbaidros wurde schon im vorigen Kapitel deutlich. Eros auf seiner höchsten Stufe ist Philosophie. Philosophie ist also Eros. Sie ist Wahnsinn als Entrückung zum Wahren in der Wiedererinnerung. Der Philosoph ist gottbegeistert, eines Gottes voll. Sein Leben ist das höchste dem Menschen mögliche Gott Ähnlichwerden1. Sokrates' Rede selbst ist Eros. Sie wird dank der Nähe des schönen Phaidros gezeugt und vollbringt die Wiedererinnerung an die Herkunft unserer Seelen aus der Teilhabe am göttlichen Leben und an das damals geschaute Wahre. Nun war Eros zu denken als b e s o n n e n e r Wahnsinn. Sollte also nicht auch Philosophie b e s o n n e n e r Wahnsinn sein? Freilich würde hier der einfache Schluß zu kurz tragen, daß, da Philosophie Eros und Eros besonnener Wahnsinn sei, eben auch Philosophie besonnener Wahnsinn sei. Er ließe nämlich eine früher erarbeitete Differenzierung außer acht. Die Besonnenheit, die zu Eros gehört, war zu denken als die Herrschaft der besseren Teile unserer Seele über den schlechteren Teil, die Begierde. Nur die Liebenden, die die höchste Stufe dieser Besonnenheit erreichen, gelangen zur höchsten Stufe des Wahnsinns — zur Philosophie. Die Philosophie scheint also, von hier aus gesehen, die Besonnenheit als eine Bedingung ihrer Möglichkeit a u ß e r sich zu haben. Sie selbst scheint ganz der durch diese Bedingung ermöglichte Wahnsinn zu sein. Sie erscheint als der Wahnsinn derer, die als Liebende in ihrem Verhältnis zueinander höchste Besonnenheit walten lassen. Sie selbst noch einmal als besonnenen Wahnsinn denken zu wollen, zeigt sich jetzt eher als abwegig. Und doch ist Philosophie in Sokrates' Rede besonnener Wahnsinn. Ihr eigener Vollzug ist selbst dies Paradox. Nur muß man sehen, daß Besonnenheit jetzt als Besonnenheit des Denkens aufzufassen ist. Und dann gilt wieder, früher Ausgeführtem entsprechend: Nur die höchste 1
Siehe auch 245cl—8, besonders 5 f.
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Stufe der Besonnenheit des Denkens erm glicht d e n Wahnsinn des Denkens, der den Namen Philosophie beanspruchen kann. Dieser Wahnsinn artikuliert sich in Sokrates' Rede im Mythos. Der philosophische Mythos hat Besonnenheit des Denkens zur Voraussetzung. Wahres fa t der Mythos nur, wo das Denken der Versuchung enthusiastischen Spekulierens und Fabulierens Herr geworden ist und wo es sich selbst in u erste Zucht genommen hat. Das vollzieht sich am Anfang von Sokrates' Rede gleich in den b e i d e n Formen, die f r Platon die strengsten sind: in Dihairesis2 und Beweis. Jeder m glichen Verf hrung zur begeisterten Schw rmerei, die von seinem sch nen Zuh rer, von dem Zauber des Ortes und von dem Thema der Rede ausgehen k nnte, begegnet Sokrates mit der Disziplinierung des Denkens durch den Vollzug von Dihairesis und Beweis. Ist das gesehen, so wird die Denkbewegung der ganzen Rede als besonnener Wahnsinn begreiflich. Besonnen bewegt das Denken sich in den Wahnsinn des Mythos hinein und wieder aus ihm heraus. Den Anfang machen, wie erinnert, eine Dihairesis und ein Beweis. Vom Beweis aus wendet sich das Denken nicht schroff in die so andersartige Denkweise des Mythos, sondern es schafft sich einen bergang. Es ergreift ein g l e i c h n i s h a f t e s Bild3 und begibt sich damit in ein Zwischen zwischen Logos und Mythos. Von hier aus f hrt sein Weg fast unmerklich zum Mythos her ber. Als es sich dann im Mythos zu dem Wagnis erhebt, das Wahre ber den berhimmlischen Ort zu sagen (247c4 f.), den noch kein Dichter angemessen besungen hat noch je auch angemessen besingen wird (247c3 f.), verweilt es, die wahrhaft seienden Wesen erinnernd, vor allem auch bei der wahrhaft seienden Wissenschaft (247d5—e2). Die h chste Erinnerung, die der Wahnsinn des philosophischen Mythos zu gew hren vermag, bringt gerade auch die Idee der wahrhaft seienden Wissenschaft deutlich ins Ged chtnis — der Wahnsinn des Mythos entr ckt zur Idee besonnenen Erkennens und nimmt damit selbst Besonnenheit in sich auf. hnliches vollzieht sich an sp terer Stelle (249a—c), als der Mythos sich kurz jenen jenseitigen Regionen zuwendet, in die die menschlichen Seelen nach dem Tod gelangen, solange sie nicht in die Teilhabe an dem Leben der G tter zur ckkehren d rfen: 2
Siehe das folgende Kapitel, auf das im vorigen Kapitel schon einmal verwiesen wurde. 3 Man vergleiche 246a5 φ δε εοικεν und 246a6 έοικέτω (Verdenius S. 277: εοικέ τφ) mit Politeia 509a9 (das S o n n e n g l e i c h n i s als είκών) wie berhaupt 246a mit der Einf hrung des S o n n e n g l e i c h n i s s e s Politeia 506d—e.
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Auch hier wird das Denken durch den Wahnsinn des Mythos nicht so aus sich herausgesetzt, daß es sein anderes, nicht-mythisches Verstehen vergäße, sondern es versichert sich gerade des Begreifens von Arten als des den Menschen vom Tier unterscheidenden Erkenntnisvollzugs. — Dem Mythos verdankt das Denken, Eros deuten zu können, und diese Aufgabe nimmt es, nachdem der Mythos zu Ende erzählt ist, in Angriff. Die dem Mythos verdankte Deutung und eine Phänomenologie des Sichverliebens und Verliebtseins durchdringen sich. Dem Mythos nah, beginnt das Denken gleichwohl, aus der Weihe seines Wahnsinns zurückzukehren. Im Zuge dieser Bewegung nimmt es dann das Bild des Rossegespanns und seines Lenkers, dessen Gleichnischarakter im Mythos zurückgetreten war, wieder gleichnishaft, begibt sich also in dieses Zwischen zwischen Logos und Mythos zurück. Schließlich kommt es dann bei der nüchternen Verurteilung jener Position an, die früher in der Rede des Lysias so ausschweifend vor Augen gestellt worden war. Sokrates* Rede ist wieder bei Sokrates, Phaidros, Lysias. Nur scheinbar erhebt sie sich im Anruf an Eros noch einmal in die Nähe von Weihe und Wahnsinn — wo Eros als Gott erscheint, wird in Wahrheit uneigentlich von ihm gesprochen. Die Rede endet nicht gottbegeistert, sondern protreptisch, nicht im Gebet sich an einen Gott Eros, sondern ermahnend sich an Phaidros und mittelbar auch an Lysias wendend. — Dem Ziel der allmählichen Rückkehr des Denkens aus dem Enthusiasmus des Mythos ist auch die Komposition im betreffenden Teil der Rede untergeordnet: Das Gott Ähnlichwerden wird vor der Besonnenheit des Eros thematisiert, wiewohl es, auf die Genesis der Liebe in Liebendem und Geliebtem gesehen, am Ende steht. Auch inhaltlich geht die Rede in diesem Teil vom Enthusiasmus zur Besonnenheit. Philosophie ist besonnener Wahnsinn. Sie ist es, indem sie Dihairesis, Beweis, Gleichnis und Mythos in sich vereinigt. Daß Philosophie besonnener Wahnsinn ist, gibt Platon durch den Gang der Rede, durch die Bewegung des Denkens, zu erkennen. Das Denken verlegt sich nacheinander in die verschiedenen Denkvollzüge, die sich dadurch als voneinander getrennt zeigen, wobei zugleich Dihairesis und Beweis ganz als Besonnenheit, der Mythos überwiegend als Wahnsinn, das Gleichnis als ein Mittleres und als besonnener als der Mythos, ,wahnsinnigerc als Dihairesis und Beweis erscheinen. Dieser Anblick des besonnenen Wahnsinns der Philosophie läßt indessen Philosophie noch nicht zureichend verstehen. Es muß noch schärfer gesehen werden: Besonnenheit und Wahnsinn durchdringen sich in der Philosophie. Das heißt einmal: Nicht
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nur ist, wie betont, der Wahnsinn des Mythos, wo er an die wahrhaft seienden Wesen erinnert, besonnen — sondern umgekehrt ist auch die Dialektik als die wahrhaft seiende Wissenschaft von den wahrhaft seienden Wesen Wahnsinn, dank Eros zur deutlichen Wiedererinnerung des Wahren entrücktes Erkennen. Ja mehr noch: Im Phaidros begreift das dialektische Denken durch den Mythos seine eigene Möglichkeit. Und daß Besonnenheit und Wahnsinn sich in der Philosophie durchdringen, das heißt ferner: Zwar vollzieht sich das philosophische Denken zunächst n a c h e i n a n d e r in Dihairesis, Beweis, Gleichnis oder Mythos, aber bei diesem bloßen Nacheinander bleibt es nicht, weil nämlich innerhalb eines Gedankenganges diese Vollzüge in bezug auf die im Thema stehende Sache gerade f ü r e i n a n d e r etwas leisten. Auch das zeigt Sokrates' Rede über den wahren Eros im Phaidros. Das Schwergewicht dieser Rede liegt beim Mythos und der von ihm ermöglichten Deutung des Eros. Dem Mythos gehen Dihairesis, Beweis und Gleichnis (gleichnishaftes Bild) vorher. Sie erbringen Vorgaben. Das gleichnishafte Bild für die Seele gibt dem Mythos ebendieses Bild vor. Der Beweis gibt dem Mythos das Unsterblichsein der Seele insgesamt vor, ihr unvergängliches Leben. Die Dihairesis des Wahnsinns gibt der ganzen Rede als einer Rede über Eros ein deutlich umgrenztes Worüber vor und leistet damit die angemessene Aufgabenstellung. Die Deutung des Eros vom Mythos aus zeigt dann, warum die Dihairesis mehr nicht leisten konnte, als diese Vorgabe zu machen: Eros ist das Paradox des besonnenen Wahnsinns, und keine Dihairesis vermag ein Paradox zu bestimmen. Ja, die Deutung des Eros korrigiert sogar das von der Dihairesis Vorgestellte und läßt es als einseitige, vorläufige Bestimmung erscheinen: Die Dihairesis hatte ja als erstes den Wahnsinn insgesamt dem Besonnensein entgegengesetzt (vgl. S. 104). — Ein ähnliches Zurückwirken läßt sich auch bei Mythos und Beweis feststellen. Der Beweis mußte voraussetzen, daß es Seele insgesamt (menschliche und g ö t t l i c h e Seele) gibt und daß ihr Sein Leben ist. Diese Voraussetzung wurde nicht selbst durch einen Beweis gesichert. Der Mythos dagegen entfaltet das in ihr Gedachte und gibt sie erst wahrhaft zu verstehen. Philosophie zeigt sich in Sokrates* Rede als Eros. Das bedeutet jedenfalls, daß sie Wahnsinn ist, gottbegeisterte Entrückung zum Wahren in der Wiedererinnerung und höchstmögliches Gott Ähnlickwerden. Daß sie als besonnener Wahnsinn zu denken ist, läßt sich nicht unmittelbar von der Bestimmung des Eros auf sie übertragen. Es muß den
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Denkformen, dem Aufbau, der Denkbewegung der Rede abgewonnen werden. Nur dank seiner Besonnenheit vermag sich das Denken 2u einem solchen Wahnsinn zu erheben, der als Philosophie gelten darf. Im Durchgang durch die strengen Denkformen der Dihairesis und des Beweises sich in die Zucht nehmend, macht sich das Denken in Sokrates' Rede bereit für den Wahnsinn des Mythos. Mit einem gleichnishaften Bild schafft es sich gelassen den Übergang zum Mythos. Im Enthusiasmus des Mythos bewahrt es sich die Haltung der Besonnenheit — auf dem Höhepunkt des Mythos erinnert es sich gerade auch an die wahrhaft seiende Wissenschaft. Aus dem Wahnsinn des Mythos kehrt das Denken schrittweise zurück, bis es schließlich wieder bei Sokrates, Phaidros und Lysias ist, den Inhalt der Lysias-Rede nüchtern verurteilend, Phaidros zur dauerhaften Hinwendung zur Philosophie ermahnend. Der Bewegung der Rückkehr aus dem Wahnsinn dient auch die inhaltliche Anordnung: Die Rede behandelt das Gott Ähnlichwerden vor der Besonnenheit des Eros, auf die es, genetisch betrachtet, folgt. Die Bewegung der Rede ist Platons Aussage, Philosophie sei besonnener Wahnsinn. Faßt man diese Bewegung linear auf, so hat man noch nicht Platons ganze Aussage zu diesem Thema. Die Einheit von Besonnenheit und Wahnsinn in der Philosophie ist mehr als das Nebeneinander bzw. Nacheinander von Dihairesis, Beweis, Gleichnis, Mythos. Sie bekundet sich noch nachdrücklicher darin, wie diese Denkvollzüge im Vor-geben und Zurück-wirken füreinander etwas leisten. Die Dihairesis des Wahnsinns umgrenzt der Rede ihr Worüber. Nachdem die vom Mythos ermöglichte und das gleichnishafte Bild der Seele in Anspruch nehmende Deutung Eros als das Paradox des besonnenen Wahnsinns zu verstehen gegeben hat, wird nicht nur offenkundig, warum das Verfahren der Dihairesis nicht geeignet ist, Eros durch z übe stimmen. Das von der Dihairesis Gefaßte wird zugleich korrigiert. Der Beweis gibt dem Mythos das Unsterblichsein der Seele insgesamt vor. Dazu setzte er Unbewiesenes voraus: Sein und Leben der Seele insgesamt. Der Mythos erst läßt diese Voraussetzung ausdrücklich verstehen. Eros galt es zu denken. Eros wurde gedacht als das Paradox des besonnenen Wahnsinns. Das Denken, das Eros so denkt, präsentiert sich selbst als besonnener Wahnsinn. Es ist damit dem gemäß, was es denkt. Philosophie ist aber nicht nur dort, wo sie Eros bestimmt, besonnener Wahnsinn. Sie ist besonnener Wahnsinn in einem engeren Sinne überall dort, wo sie (wie in Mythos und Gleidjnis) enthusiastisch denkt und sich
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doch darin ein Moment der Besonnenheit bewahrt, wozu sie sich selbst durch ihre strengeren Denkvollzüge bereit und fähig gemacht hat. Und sie ist besonnener "Wahnsinn in einem weiteren Sinne, wann immer sich ,besonnene* Denkvollzüge (Dihairesis, Beweis) mit mehr oder weniger ^wahnsinnigen' (Mythos, Gleichnis) in der Einheit eines Gedankengangs vereinigen und durchdringen. Ja, im Phaidros geht Platon so weit, jedes deutliche Erfassen von Ideen als besonnen-wahnsinnig anzusehen, denn dieses ist streng und besonnen nicht nur, es ist Wahnsinn als Wiedererinnerung, die Eros verdankt wird. Philosophie ist besonnener Wahnsinn. Diese Erkenntnis des Phaidros überwindet die Aporie des Symposion. Die Untrennbarkeit von Eros und Philosophie bewirkte, daß der Bezug zwischen Phaidros und Symposion auch für die Philosophie schon im vorigen Kapitel (S. 126 f.) herzustellen war. Das Symposion hinterließ die besonnene, beruhigte Weisheit Diotimas und den nicht-philosophischen Wahnsinn Alkibiades' als unaufhebbare Antithese. Es konnte daher Sokrates nur auf eine der beiden Seiten stellen. Es schloß ihn vom Wahnsinn aus und ließ ihn an der Wahrheit teilhaben, ohne doch zeigen zu können, wie und wodurch Philosophie als Teilhabe an göttlicher Weisheit eine menschliche Möglichkeit sein kann. Im besonnen-wahnsinnigen Sokrates des Phaidros ist die Antithese des Symposion in einem Neuen, Dritten überwunden. Das dämonisch-hermeneutische Wesen der Philosophie wird jetzt von diesem Sokrates repräsentiert. Vom Mythos des Phaidon konnte gesagt werden, daß er, dämonisch im Sinne des Symposion, das All des Seienden vermittelt. Der Mythos des Phaidros übertrifft ihn darin noch. — Die dem Mythos eigene Überzeugungskraft wurde im Phaidon als Bezauberung vorgestellt. Der Phaidros gibt die Bezauberung entschieden von Eros her als Enthusiasmus zu verstehen. — Die Besonnenheit im Wahnsinn des Phaidros-A/yt^os war herauszustellen. Besonnenheit wurde auch im Mythos des Phaidon angetroffen: in ihm wechselten mythische Rede im engeren Sinn und ,wissenschaftliche' Beschreibung. Auch er ist besonnener Wahnsinn. Daß auch vom Mythos des Phaidon behauptet wird, er sei besonnener Wahnsinn, kann bedenklich erscheinen. Der Phaidros dachte den Wahnsinn der Philosophie als Entrückung zum Wahren in der Wiedererinnerung, und dieser Bestimmung fügte sich sein Mythos ein. Der Mythos des Phaidon wurde jedoch hier als entfaltete Hoffnung des Sokrates verstanden, als ein Entwerfen, in dem die auf den Tod zugehende Seele auf ihre Zukunft ausgreift. Sicher wäre es ein leichtes, vom
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Mythos des Phaidros her den des Phaidon rückwirkend als Wiedererinnerung zu interpretieren. Dem käme vom Phaidros her zweierlei entgegen: einmal daß sein Mythos den des Phaidon anklingen läßt und in sidy aufbewahrt; zum anderen, daß sein Wiedererinnern ein auf Zukunft sich umwendendes Wiedererinnern ist. Die Vergangenheit der Seele, die er zeigt, ist eben das Dasein, in das zurückzukehren die philosophisch liebende Seele sich sehnt und das sie durch ihr hiesiges Leben aus einer ferneren jenseitigen "Zukunft in eine vergleichsweise nähere heranzuholen trachtet. Die ihr Gewesensein als ihre Herkunft erinnernde Seele holt das Gewesensein zugleich vor in ein Seinwerden, auf das sie ihr sehnsüchtiges Verlangen ( ) richtet. Statt jedoch auf diese Weise den Mythos des Phaidon und den späteren Dialog aneinander heranzurücken, ziehe ich es vor, für den Mythos des Phaidon von einer Entrückung zum Wahren in der (vom Logos soweit wie möglich begründeten) H o f f n u n g — und in diesem Sinne von seinem besonnenen Wahnsinn — zu sprechen.
9. Kapitel: Dihairesis — das Verfahren der Wesensbestimmung Dieses Kapitel ist als ein Zwischenkapitel anzusehen. Was es darlegt, hätte der Sache nach seinen Ort im übernächsten Kapitel. Im folgenden Kapitel muß aber die Bekanntschaft mit dem Verfahren der Dihairesis und seinen Gesetzlichkeiten vorausgesetzt werden. Deshalb dieser Vorgriff und Einschub, der sich auf das jetzt Nötige beschränkt. Später werden Ergänzungen erfolgen1. Die Dihairesis ist in der späteren Philosophie Platons d a s Verfahren ( ) zur Bestimmung dessen, was etwas ist, zur Wesensbestim2 mung also . Im Phaidros wurde sie angetroffen. Im Sophistes und Politikos fügt sich das Denken über größere Strecken in ihre Gestalt. Dabei wird im Vollzug des Verfahrens dieses selbst ausdrücklich mit gelehrt, und stets sollen die Dihairesen über das hinaus, was sie für die Bestimmung einer Sache leisten, zugleich auch der Einübung des Verfahrens dienen8. Dihairesis ( ) bedeutet hier Trennung, Einteilung. Das zugehörige Verb ( ) bedeutet (u.a.): auseinandernehmen, spalten, zerlegen, zergliedern, trennen, absondern, zerschneiden, teilen, einteilen. Alle diese Bedeutungen und Bedeutungsnuancen treffen auf das zu, was 1
S. 183 f. wird die Dihairesis als eine Gestalt des Rechenschaft gebenden Logos thematisiert. — In den Philebos-Ka.pite\n begegnet man der Dihairesis bei einer anderen Aufgabe als der in diesem Kapitel akzentuierten Wesensbestimmung, nämlich bei der Aufgabe, eine Gattung vollständig in ihre Arten zu zerteilen und damit das Wissen bereitzustellen, welche Arten die Gattung umfaßt und wieviele es sind. Auch diese Dihairesis (über die der Philebos 16c ff. eingehend belehrt) ist ein Rechenschaft-geben. Auch für sie gelten die in diesem Kapitel herauszuarbeitenden Gesetzlichkeiten des Einteilens entsprechend. * Damit ist nicht behauptet, daß dies Verfahren nicht auch in früheren Dialogen gelegentlich angewendet wurde — vgl. z. B. Gorgias 462b—465c. 3 Bei den Dihairesen am Anfang des Sophistes ist allerdings Vorsicht geboten, da sie weitgehend sophistisch sind und zeigen sollen, daß der Sophist sich sogar dieses strengen wissenschaftlichen Verfahrens zur Durchsetzung seiner Absichten bedienen kann.
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im Verfahren der Dihairesis geschieht, und Platon hebt, indem er zahlreiche andere W rter (mit z. T. hnlicher Bedeutungsf cherung, aber anders akzentuierter Grundbedeutung) f r denselben Vorgang gebraucht4, einmal die, einmal jene st rker heraus. Was etwas ist, soll bestimmt werden. Dazu ist zuerst die Gattung zu suchen, die dem Zu-bestimmenden mit allem, was ihm irgend verwandt ist, gemeinsam ist. Das Denken vollzieht hier eine Zusammenf hrung, ein Sammeln, eine Vereinigung (συναγωγή). Vielf ltig Zerstreutes f hrt es in e i n e Gattung5, in ihr es zusammensehend6. Diese dem Einteilen in Arten entgegengesetzte Denkoperation geh rt zu diesem Verfahren der Wesensbestimmung unl slich hinzu7. — Ist die Gattung, die dem Zu-bestimmenden mit allem ihm Verwandten gemeinsam ist, gefunden, so wird es als dieser Gattung zugeh rig gesetzt. Damit ist ein erster Schritt zu seiner Bestimmung vollzogen, aber auch nur ein erster Schritt, denn in dieser Gattung steht das Zu-bestimmende ja gemeinsam mit vielem anderen, von dem es, ungeachtet seiner Verwandtschaft mit ihm, verschieden und zu unterscheiden ist. Von allem diesem mu es abgetrennt werden. Dazu ist die gefundene Gattung einzuteilen, und zwar schrittweise. Bei jedem Einteilungsschritt ist gem den gr ten Teilen (κατά μέγιστα μέρη — Sophistes 220b9 f.) einzuteilen; es darf keine Stufe bersprungen werden. Die gr ten Teile sind zumeist zwei. Anders gesprochen: Wann immer es m glich ist, hat man in nur zwei Teile einzuteilen (sonst in die n chst m gliche Anzahl8). Ist es m glich, so wird die einzuteilende Gattung in der M i t t e zerschnitten9. Unabdingbar ist, da jeder Teil (μέρος) eine Art (είδος) ist10. Sicherzustellen, da eine Art, und nicht blo ein beliebiger Teil gefa t ist, das macht die eigent-
4
Z. B. σχ'ιζειν, τέμνειν, διατέμνειν, νέμειν, διορίζειν. Es sei hier sdion angemerkt, da Platon im Zusammenhang mit dem dihairetischen Verfahren zumeist nicht, wie man vielleicht erwarten k nnte, die Ausdr cke γένος einerseits, Ιδέα und είδος andererseits in terminologischer Unterscheidung (Gattung Art) gebraucht. * Siehe Phaidros 265d3 f.: Εις μίαν τε Ίδέαν συνορώντα αγειν τα πολλαχή διεσπαρμένα... Als Beispiele siehe Sophistes 226b—c und die in der folgenden Anmerkung genannte Stelle. 7 Sie kann auch auf einzelnen Einteilungsstufen n tig werden — vgl. etwa Sophistes 219a—c. ber die Funktion der συναγωγή nach zu Ende gef hrter Einteilung siehe weiter unten. 8 Vgl. Politikos 287c2—5. • Vgl. Sophistes 229b7 f.; Politikos 262b6. 10 Vgl. Politikos 262bl f. u. b6—cl, dazu die Erl uterung 262clO—263al. 5
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liehe, durch nichts zu beseitigende Schwierigkeit des Verfahrens aus11. Rangverhältnisse unter den Arten dürfen auf die Einteilung schlechterdings keinen Einfluß haben12. Wurde das Zu-bestimmende in die Gattung gesetzt, die seine erste Bestimmung ausmacht, dann ist also nun diese Gattung in ihre größten Teile, in ihre nächsten Arten, einzuteilen. Ist das geschehen, so ist das Zu-bestimmende in die Art zu setzen, in die es gehört. Diese Art ist weiter einzuteilen, während das Denken die andere Art beiseite läßt13. Auf diese Weise ist fortzufahren, bis das Denken bei einem Unteilbaren ankommt14. Danach ist vom Denken eine neue Zusammenführung ( ) gefordert, nämlich aller der Gattungen (Arten), in die das Zu-bestimmende im Verlauf der Einteilung zu setzen war. D i e s e Zusammenführung hat nicht ein Zerstreutes in eine Idee zusammenzuschauen, sondern ihr liegt eine geordnete Vielfalt vor, geordnet in eine von der ersten Gattung bis zur unteilbaren Art herabsteigende Reihe unvertauschbarer, d. h. notwendig so und nicht anders aufeinander folgender Glieder15. Diese Reihe von oben nach unten16 oder von unten nach oben17 durchlaufend, sieht das Denken die geordnete Vielfalt in eine Einheit zusammen und faßt darin, was das Zu-bestimmende ist. Das Verfahren der Dihairesis ist ein wissenschaftliches Verfahren von großer Strenge18 und erfordert keine geringe Anstrengung des Denkens. Dennoch hat es nichts Gewaltsames, ja muß alles Gewaltsame vermeiden und sich im Trennen von den gewissermaßen natürlich sich darbie11
Vgl. Politikos 263a—b. Vgl. Sophistes 227a7—b6; Politikos 26604—9 — diese Stelle ist freilich im Kontext ironisch. 13 Vgl. Politikos 261 c4 f.; Sophistes 220al—4. 14 Vgl. Phaidros 277b7 f.; Sopbistes 229d5 f. 15 Über den Ausnahmefall einer Vertauschbarkeit siehe Anm. 20 zu diesem Kap. » Z. B. Sophistes 221b2—c3, 224c9—dl u. 231b3—8. 17 Z. B. Sophistes 226al—4 u. 268c5—d4. 18 Daran muß für die Durchführung des Verfahrens, wo es ernsthaft angewendet wird, festgehalten werden. Im übrigen stimme ich Gadamer3 S. 257 zu: „... daß diairetisch gewonnene Definitionen selbst ein Moment der Beliebigkeit nidit ausschalten, sofern die Hinsicht, die man jeweils einer Teilung zugrundelegt, nichts Zwingendes hat... und wenn man bedenkt, daß jeweils das Resultat einer solchen Teilungsweise, wie gerade Aristoteles kritisch bemerkt hat, in "Wahrheit in den Teilungsschritten antizipiert ist, ist es in Wahrheit gar nicht eine feste Systematik, auf die alles zielt, eine Ideenpyramide ... Es ist mit diesen Diairesen so, daß sie auf ein nie vollendbares Ganzes von Explikationen gleichsam hinausweisen... Man muß es als die eigentliche platonische Einsicht festhalten, daß es ein versammeltes Ganzes aller Explikationsmöglichkeiten weder für ein einziges Eidos noch für das Ganze der Eide gibt." Vgl. dazu hier Anm. 21 zu Kap. 12. 12
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tenden Teilen der Sache leiten lassen. Im Phaidros l t Platon Sokrates sagen, es gelte, den Gliedern und ihrem nat rlichen Wuchs gem zu zerschneiden und nicht nach Art schlechter K che Teile zu zerbrechen (265e; vgl. auch Politikos 286c3); das Heraustreten der zwei Arten aus der Gattung wird dem Herauswachsen der rechten und linken Gliedma en aus dem einen Leib verglichen (Phaidros 265e/266a). Das Dargestellte soll kurz veranschaulicht werden an der Dihairesis, die den Sophistes abschlie t und in der das Wesen des Sophisten gefa t wird (Sophistes 265a—268d). Dieser Dihairesis ist vorgegeben, da sich die Kunst (τέχνη) des Sophisten, nachdem sie am· Anfang des Dialogs schillerte und sich jedem bestimmenden Zugriff entzog, inzwischen als nachahmende Kunst (μιμητική τέχνη) gezeigt hat. Was der Sophist ist, soll bestimmt werden. Die Gattung, die dem Sophisten mit allen, die ihm irgend verwandt sind, gemeinsam ist, ist die der Kunst (τέχνη) im Sinne des Sich-verstehens auf etwas. Mit unz hligen anderen kommt der Sophist darin berein, sich auf etwas zu verstehen. Die Gattung der Kunst ist also einzuteilen. Ihre gr ten Teile und n chsten Arten sind die erwerbende Kunst einerseits, die hervorbringende Kunst andererseits. Die Kunst des Sophisten (der sich ja auf das Nachahmen versteht) ist hervorbringende Kunst. Die Kunst des Sophisten zeigt sich auf dieser Stufe als von einer Art mit allen hervorbringenden K nsten, jedoch der Art nach verschieden von allen erwerbenden K nsten, mit denen sie als Kunst gleichwohl verwandt ist. Sie i s t hervorbringende Kunst und ist n i c h t erwerbende Kunst; sie ist mit der erwerbenden Kunst verwandt als Kunst — und ist doch dadurch bestimmt, die erwerbende Kunst nicht zu sein, ihr entgegengesetzt zu sein19. Und: Als hervorbringende Kunst ist sie Kunst — und doch ist sie verschieden von der Gattung Kunst, weil sie verschieden ist von der erwerbenden Kunst, die eine Art dieser Gattung ist. Das ist das dialektische Verh ltnis von Gattungen und Arten, f r das Platon mit der Fortbildung der Ideenlehre im ontologischen Kernst ck des Sophistes das Fundament gelegt hat. Die Kunst des Sophisten ist hervorbringende Kunst. Diese ist weiter einzuteilen, w hrend die erwerbende Kunst liegen gelassen wird, weil ihre weitere Einteilung nichts beitragen k nnte zur Wesensbestimmung des Sophisten, um die allein es geht. Die hervorbringende Kunst ist entweder g ttliche oder menschliche. Die sophistische Kunst i s t mensch19
Die Glieder derselben Einteilungsstufe sind εναντία — vgl. Politikos 261 al.
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lidie hervorbringende Kunst und ist n i c h t göttliche hervorbringende Kunst, obwohl als hervorbringende Kunst mit der göttlichen verwandt. Eine größere dialektische Spannweite kann es nicht geben. Die menschliche hervorbringende Kunst ist weiter einzuteilen. An dieser Stelle der Dihairesis geschieht etwas Ungewöhnliches: Es wird auch die göttliche hervorbringende Kunst weiter eingeteilt. Die Einteilung beider Einteilungsglieder ist aber nur das Resultat davon, daß sich auf dieser Einteilungsstufe zwei Dihairesen überschneiden. Daß solche Überschneidung gefordert sein kann und also auch statthaft ist, soll man an dieser Stelle lernen. Die hervorbringende Kunst gibt unmittelbar auch eine andere Einteilung her als die in göttliche und menschliche, nämlich die in eine die Dinge selbst hervorbringende Kunst und eine Bilder der Dinge hervorbringende Kunst. Diese beiden Einteilungen der hervorbringenden Kunst müssen zusammengedacht werden, und das ergibt je zwei Arten der göttlichen und der menschlichen hervorbringenden Kunst: eben jeweils einerseits die die Dinge selbst hervorbringende, andererseits die die Bilder von Dingen hervorbringende20. Der Sophist bringt Bilder von Dingen hervor und ist also in die Art der menschlichen, Bilder hervorbringenden Kunst zu setzen. Diese ist weiter einzuteilen. Sie ist einerseits ebenbildnerische, andererseits trugbildnerische. Die Kunst des Sophisten ist trugbildnerisch. Die trugbildnerische Kunst hat die zwei Teile der Werkzeuge gebrauchenden Kunst und der nachahmenden Kunst, in der jemand sich selbst für die Hervorbringung des Trugbildes zum Werkzeug madit. Von dieser Art ist die Kunst des Sophisten. Die nachahmende Kunst ist entweder eine das Nachgeahmte wissende oder das Nachgeahmte nicht-wissende Kunst; bei letzterer weiß der Nachahmende nicht, was er da eigentlich nachahmt, hat von dem Nachgeahmten vielmehr nur eine bloße, unbegründete Meinung. Das ist der Fall des Sophisten. Also ist die das Nachgeahmte nichtwissende Kunst weiter einzuteilen. Sie wird entweder einfältig zum Vollzug gebracht (der Nachahmende weiß nicht, daß er gar nicht weiß, was das Nachgeahmte ist), oder so, daß der Nachahmende sich verstellt (sich selbst ausgibt als das Nachgeahmte wissend, wiewohl ihm bewußt ist, daß er es nicht weiß). Die Kunst des Sophisten ist von der
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Bei dieser Art der Uberkreuzung ist auch die umgekehrte Anordnung möglich: Die Einteilung der hervorbringenden Kunst in die die Dinge selbst hervorbringende einerseits, in die die Bilder von Dingen hervorbringende andererseits wird vorangestellt; beide haben je einen göttlichen und einen menschlichen Teil.
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Art der sich verstellenden Kunst. Diese hat noch einmal zwei Teile: Sie bt entweder die Verstellung ffentlich aus und richtet sich mit langen Reden an das Volk, oder sie wendet sich an einzelne und zwingt diese mittels kurzer Reden, sich selbst zu widersprechen; jene ist die volksrednerische, diese die sophistische Kunst. Bei der sophistischen Kunst angelangt, ist die Einteilung bei einer unteilbaren Art angekommen. Das Denken hat, um das Wesen des Sophisten zu bestimmen, nun noch alle Gattungen und Arten, in die der Sophist zu setzen war, in geordneter Folge zu durchlaufen und in Eins zusammenzudenken. Was ist also der Sophist? Was ist seine Kunst? Sie ist zum Sich-selbst-widersprechen bringende (und darin den Philosophen — der hier als Sokrates vor Augen steht — nachahmende), sich verstellende, das Nachgeahmte nicht-wissende, nachahmende, trugbildnerische, Bilder der Dinge hervorbringende, menschliche, hervorbringende Kunst. Die durchgef hrte Dihairesis kann in einem Schema vor Augen gestellt werden, das bei Platon in gewissem Sinne schon mitgegeben ist in seiner Beschreibung des Verfahrens vor Beginn dieser Dihairesis: Eine Gattung wird vorausgesetzt; sie wird in zwei Teile gespalten; dann gilt es, das festhaltend, womit der Sophist Gemeinschaft hat, immer auf der rechten Seite des Zerschnittenen entlangzugehen, bis alles Gemeinsame von ihm weggenommen und seine eigene Natur briggelassen ist21.
11
264dlO—265al: Πάλιν τοίνυν έπιχειρώμεν, σχ'ιζοντες διχη το προτεοέν γένος, πορεύεσθαι κατά τούτα δεξιά αεί μέρος του τμηθέντος, έχόμενοι της του σοφιστοΰ κοινωνίας, ?ως αν αύτοΰ τα κοινά πάντα περιελόντες, την οίκείαν λιπόντες φύσιν . . .
α
Es mu darauf aufmerksam gemacht werden, da Platon selbst jede Art durch e i n Wort bezeichnet, ihr in diesem Sinne einen Namen gebend. Dabei fehlt h ufig im vorhandenen Sprachschatz das passende Wort, so da Wortpr gungen n tig werden, die dann nur aus dem Kontext verst ndlich sind. Der Einfachheit halber ist in diesem Schema darauf verzichtet worden, entsprechend zu verfahren. — ber die sprachlichen Schwierigkeiten, denen sich das dihairetische Verfahren gegen ber sieht, hat Platon sich gerade innerhalb der Durchf hrung dieser Dihairesis ge u ert (267d4— el); an dieser Stelle schreibt er sich auch das Verdienst zu, das Verfahren der Dihairesis eingef hrt zu haben.
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Die als schwierig geltende Sophistes-Stelle 253d5—el, die die Dihairesis als dialektisches Gesch ft genauestens bestimmt, ist mit Hilfe des Beispiels der Dihairesis zur Bestimmung des Sophisten und seines Schemas vielleicht gar nicht so schwer zu begreifen. Viererlei durchschaut (διαισθάνεται), wer sich auf das dihairetisdie Verfahren versteht: 1. Er durchschaut, „da e i n e Idee sich durch vieles, das eines vom anderen getrennt gesetzt ist, berallhin erstreckt" (μίαν Ίδέαν δια πολλών, ενός εκάστου κειμένου χωρίς, πάντη διατεταμένην) — wie die Idee der Kunst (τέχνη) sich durch a l l e Glieder der durchgef hrten Dihairesis erstreckt (ja auch noch durch alle Glieder, zu denen man gelangen w rde, wenn man die jeweils ungeteilt beiseite gelassenen Glieder weiter und bis zu Ende einteilen w rde). Hier ist auf die Einheit in der getrennten Vielheit geblickt. 2. Er durchschaut (und das ist dasselbe wie das vorige, nur in anderer Blickrichtung, n mlich nicht von der einen Idee ausgehend, sondern von dem vielerlei Getrennten), „da viele voneinander verschiedene (Ideen) von e i n e r au en umfa t sind" (πολλάς ετέρας αλλήλων υπό μιας έξωθεν περιεχόμενος) — wie die vielen einzelnen Ideen jener Dihairesis von der einen Idee der Kunst umfa t sind (sowie auch alle brigen Ideen, die bei weiterer Einteilung der liegengelassenen Glieder heraustreten w rden). Hier ist die Abgrenzung des gesamten Gef ges gegen alles, was nicht unter der betreffenden einen Idee vereinigt werden kann, hervorgehoben. 3. Er durchschaut, „da wiederum eine durch viele Einheiten23 hin in eins zusammengekn pft ist" (μίαν αΰ δι' όλων πολλών εν ένί συνημμένην) — wie durch die Zusammenf hrung (συναγωγή) der rechtsseitigen Glieder der Einteilung die Idee des Sophisten zusammengekn pft ist. 4. Er durchschaut, „da viele nach allen Seiten hin getrennt abgesondert sind" (πολλάς χωρίς πάντη διωρισμένας) — wie alle linksseitigen Glieder der Einteilung, die sich der Zusammenkn pfung in eine Idee widersetzen. Zwei wichtige Erg nzungen zum Verfahren der Dihairesis als Wesensbestimmung sind noch zu machen. Sie k nnen aus dem Beispiel gewonnen werden, das Platon im Politikos vorf hrt: aus dem Beispiel der Wollweberei (279a—283a). Dazu braucht das Beispiel hier nicht in allen Einzelheiten ausgebreitet zu werden. Die Wollweberei ist eine Kunst
23
Stenzel S. 66 f. u. S. 70 versteht δλων als Plural zu εν — als Einheiten, Ganze; seine Auffassung hat sidi in neueren bersetzungen durchgesetzt.
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( ). Künste lassen sich bestimmen im Hinblick auf die D i n g e , mit denen sie es zu tun haben. So geht auch die Dihairesis zur Bestimmung der Wollweberei zunächst vor. Sie nimmt ihren Ausgang von der Gattung: alles, was wir verfertigen und erwerben (279c7). Diese Gattung hat die beiden Arten: Dinge, die dazu dienen, daß man etwas tut — Dinge, die dazu dienen, daß man etwas nicht erleidet. Diese letzteren heißen Schutzmittel. In diese Art gehört, was die Wollweberei verfertigt. Auf dieser Seite ist also weiter zu teilen. Die Einteilung gelangt schließlich zu den Kleidern und zur Kunst der Kleiderverfertigung. Die Kleiderverfertigung ist aber kein Unteilbares, und also ist die Wollweberei als Kleiderverfertigung in ihrem Wesen noch nicht zureichend bestimmt. Gleichwohl gibt die Hinsicht auf die D i n g e keinen weiteren Einteilungsschritt mehr her. Die Künste, die von der Wollweberei noch nicht abgetrennt sind, haben es alle auch mit Kleidern zu tun. Die Dihairesis muß fortgesetzt werden und kann doch den bisherigen Einteilungshinblick nicht in Anspruch nehmen. Sie wird fortgesetzt, indem e i n e n e u e H i n s i c h t die weitere Einteilung leitet. In der Dihairesis dieses Beispiels ist es die Hinsicht auf die Art und Weise, wie die an der Kleiderverfertigung (und -pflege) beteiligten Künste Ursache sind. Die Hinsicht auf das Werk der Künste wird abgelöst durch die Hinsicht auf die Art und Weise des Ursacheseins der Künste. Durch d i e s e Hinsicht lassen sich die Künste von der Wollweberei abtrennen, die sich mit demselben Werk wie sie zu schaffen machen. Am Beispiel der Dihairesis zur Bestimmung der Wollweberei wird sichtbar, daß ein Wechsel der Einteilungshinsicht in einer Dihairesis erlaubt sein kann; er ist erlaubt, wenn er von der Sache her geboten ist. — Zugleich zeigt das Beispiel eine weitere Art der Überschneidung zweier Dihairesen. An der Dihairesis zur Bestimmung des Sophisten war eine Überschneidung zu studieren, die daraus resultierte, daß auf einer bestimmten Stufe eine Art zwei Einteilungen zuließ, die beide in die Dihairesis eingebracht werden mußten. Jetzt handelt es sich darum, daß von außen eine Dihairesis herangebracht wird, die auch für die dihairetische Fortbestimmung der von der Kleiderverfertigung zuvor schon abgetrennten Künste bestimmend sein müßte. — Die Kleiderverfertigung (und -pflege) ist weiter einzuteilen, bis die Wollweberei von allen Künsten abgetrennt ist, die es auch mit Kleidern zu tun haben. Die Einteilungshinsicht ist die auf die Art und Weise des Ursacheseins dieser Künste. Die zweite Dihairesis, die hier herangebracht wird, ist diese: Kunst, sofern sie Ursache für ein Entstehen ist, hat zwei Arten — sie ist entweder Mitursache für das Ent-
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stehen, oder sie ist Ursache des Entstehens. Diese Dihairesis erlaubt bei der Kleiderverfertigung die Abtrennung aller der Künste, die Werkzeuge zur Kleiderverfertigung herstellen, von denjenigen, die selbst Ursache für das Entstehen von Kleidern sind und zu deren Art die Wollweberei gehört. Die Wollweberei ist dann noch von allen Künsten abzusondern, mit denen sie in der Art der Ursachen der Kleiderverfertigung (und -pflege) zusammensteht. Das geschieht im Blick auf die Art und Weise des Ursacheseins als Art und Weise der Verrichtung. — Das Beispiel der Wollweberei zeigt den Wechsel der Hinsicht innerhalb einer Dihairesis, und es zeigt das Heranbringen einer anderen Dihairesis an die, in deren Durchführung man begriffen ist. (Darüber hinaus ist sein zweiter Teil im Politikos Muster für eine dihairetische Fortbestimmung des Staatsmannes; in dieser seiner Funktion wird es im nächsten Kapitel herangezogen.) Das Verfahren der Dihairesis wurde schon als ein wissenschaftliches Verfahren von großer Strenge bezeichnet. Von seinen Gesetzlichkeiten darf das Denken nicht abgehen, wenn es das Wesen der zu bestimmenden Sache nicht verfehlen will. Was wäre aber von dem Fall zu halten, daß das Denken, des Verfahrens mächtig und zu seiner strengen Durchführung bereit, dennoch das Wesen, das es zu bestimmen sucht, verfehlt?
10. Kapitel: Staatsmann und Bürger — der Mensch als politisches Wesen (Politikos1) Das Gesprädi über den Staatsmann gibt sidi als Fortsetzung desjenigen über den Sophisten (der Politikos wird mit dem Sophistes verknüpft 2 ). Anwesend sind dieselben Personen jetzt wie zuvor: Sokrates, Theodoros, der Fremde aus Elea, Theaitetos, Sokrates der Jüngere. Während in dem Gespräch über den Sophisten Theaitetos dem Fremden antwortete, wird jetzt Sokrates der Jüngere der Gesprächspartner des Fremden sein. Die Aufgabe besteht darin, das Wesen des Staatsmannes zu bestimmen. Daß dies durch Dihairesis zu geschehen habe, bedarf nicht einmal der Erwähnung — mit der Dihairesis wird ohne weiteres und unverzüglich begonnen. Die Gattung, die dem Staatsmann mit allen, die ihm verwandt sind, gemeinsam ist, ist die der Wissenden. Der Staatsmann wird als Wissender gesetzt. Die Gattung der Wissenden oder des Wissens ist einzuteilen. Ihre eine Art ist das praktische Wissen (258e5), das heißt das Wissen, das in den Handlungen darin und mit ihnen zusammengewachsen ist (258d9); zu dieser Art gehören alle Handwerke. Ihre andere Art ist das nur erkennende Wissen (258e5), das von Handlungen entblößte Wissen (258d5). Zu dieser Art gehört das Wissen des Staatsmannes. Denn was der Staatsmann mit Hilfe seiner Hände oder überhaupt seines Leibes auszurichten vermag, ist ganz unbedeutend (259c6—8). Das (nur) erkennende Wissen ist weiter zu spalten. Es ist als ganzes dem praktischen Wissen im oben festgelegten Sinn entgegengesetzt, enthält aber gleichwohl eine Art, die sich auf Handlungen bezieht. Das (nur) erkennende Wissen hat die beiden Arten: (bloß) beurteilendes Wissen — anordnendes Wissen. Von der Art des (bloß) beurteilenden Wissens (der ,reinen Theorie'3) ist z. B. die Rechenkunst; ihr kommt es auf nichts anderes an als darauf, den Unterschied in den Zahlen zu erkennen und zu beurteilen (259e5 f.). Von der Art des anordnenden Wissens ist z. B. das Wis1 2 3
Nicht interpretiert werden 277d—278e und 290d—303d. und noch weiter zurück mit dem Theaitet — 258a. Vgl. 260c: .
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sen des Architekten. Der Architekt legt nicht selbst Hand an beim Bau; insofern ist sein Wissen nicht praktisch. Dennoch ist es praxisbezogen: Der Architekt leitet durch seine Anweisungen an die Arbeiter den Bauvorgang bis zur Vollendung des Baus. — Das Wissen des Staatsmanns ist anordnendes Wissen. Das anordnende Wissen hat zwei Arten: es gibt entweder Anordnungen nur weiter, oder es ordnet selbst an. Das Wissen des Staatsmanns ist in die Art des selbstanordnenden Wissens zu setzen. Das Wissen des Staatsmanns ist selbstanordnendes Wissen. Als solches ist es aber noch nicht zureichend bestimmt, denn auch andere verfügen über ein Wissen dieser Art. Nun gibt der bisher leitende Einteilungshinblick — der unmittelbare Hinblick auf das Wissen selbst — keinen weiteren Einteilungsschritt mehr her. Es muß ein neuer Einteilungshinblick genommen werden. (Daß das legitim ist, wo es von der zu bestimmenden Sache gefordert wird, wurde im vorigen Kapitel am Beispiel der Wollweberei aus dem Politikos gezeigt.) Der neue Einteilungshinblick ist der auf das Seiende, auf das das anordnende Wissen sich bezieht. Anordnendes Wissen kommt zum Vollzug allein im Bereich des Werdenden — Anordnen geht immer auf das Entstehen und Werden von etwas. Die begonnene Dihairesis wird in der Dihairesis des Werdenden fortgesetzt. Es kommt darauf an, dasjenige Werdende, dem die Anordnungen des Staatsmannes gelten, von allem übrigen Werdenden abzugrenzen. Alles Werdende ist entweder Unbeseeltes oder Beseeltes, d. h. Lebendiges, und so geht alles anordnende Wissen entweder auf das Werden von Unbeseeltem oder auf das Werden von Lebendigem. Natürlich gilt das Anordnen des Staatsmannes dem Werden von Lebendigem. Nun also steht die Gattung der Lebewesen im Blick, und entsprechend als Gattung des Wissens das Wissen, das es mit Entstehung und Ernährung ( — 261 d3) des Lebendigen zu tun hat. Hier ist die Weiche gestellt, die das Entgleisen der Dihairesis unweigerlich erfolgen läßt. Schon beim nächsten Einteilungsschritt bekommt man einen Vorgeschmack des Lächerlichen, das einen erwartet. Die Sorge um Entstehung und Ernährung von Lebewesen richtet sich entweder auf einzelne oder auf Herden. Die Sorge des Staatsmanns gilt selbstverständlich in einer Herde lebenden Lebewesen. Er gleicht mehr einem Pferdezüchter als einem Stallknecht, mehr einem Rinderzüchter als einem kleinen Rinderhirten. Es gilt nun also, die Herdenzucht oder Gemeinzucht weiter einzuteilen — beide Ausdrücke dürfen beliebig gewählt werden, und der Fremde bedeutet dem jungen Sokrates, wenn er sich gehörig davor
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hüte, es mit den Namen ernst zu nehmen, werde er mit zunehmendem Alter reicher an Einsicht werden (261e5—7). Die Ironie dieses sophistischen Ratschlags an dieser Stelle zeigt an, daß das Verfahren kaum noch ernsthaft fortgesetzt werden kann. Auch Sokrates der Jüngere, der freilich Sophistik und Ironie des Gesagten nicht durchschaut, ahnt, daß die Fortsetzung der Dihairesis nichts Gutes verspricht. Er springt daher mit einem Satz ins vermeintliche Ziel vor und teilt die Herdenzucht sofort in die Auferziehung der Menschen einerseits, der Tiere andererseits. Dabei verstößt er freilich gegen das Gebot, daß in einer Dihairesis kein Einteilungsschritt übersprungen werden darf. Der Fremde besteht darauf, daß die Dihairesis diesem Gebot gemäß zu Ende gebracht wird. Dabei kann er indessen bald nicht mehr verhindern, daß eine andere Gesetzlichkeit des Verfahrens mißachtet wird, und er begleitet die weitere Durchführung mit seiner Ironie. Ironisch ist schon die ,Korrektur', die er einschiebt: Die Einteilung aller Lebewesen in zahme und wilde war dort schon vorausgesetzt, wo man das anordnende Wissen als das Wissen dachte, das es mit Entstehung und Ernährung des Lebendigen zu tun hat — sie auszusprechen wurde aber versäumt, und das wird jetzt nachgeholt (264a). Damit ist aber nicht nur nichts für den Fortgang gerettet, sondern die ,Korrektur' ist an der entsprechenden Stelle der Dihairesis nicht einmal möglich4. Platon fügt die ,Korrektur* ein, um auf die Stelle zu weisen, an der das, was sich nun begeben wird, seinen Ursprung hat. Es ist die Stelle der Verbindung von anordnendem Wissen und Lebendigem. Die Gemeinzucht ist weiter einzuteilen. Sie hat es entweder mit im Wasser lebenden oder mit auf dem Land lebenden Wesen zu tun. Der Staatsmann betreibt Herdenzucht an auf dem Land lebenden Wesen. Die auf dem Land lebenden Wesen sind entweder geflügelt oder gehen zu Fuß. Der Staatsmann hat es mit Wesen zu tun, die zu Fuß gehen. Jetzt kann die Einteilung zwei Wege einschlagen! Wenn es noch eines Indizes bedurft hätte dafür, daß von einer Wesensbestimmung keine Rede mehr 4
Die Einteilung des anordnenden Wissens geht in die des Werdenden über, und die erste Einteilung des Werdenden ist die in Unbeseeltes und Lebendiges. Das anordnende Wissen müßte es demnach in einer seiner beiden Arten mit dem Lebendigen insgesamt zu tun haben. Das ist aber nicht der Fall — bei wilden Lebewesen richtet dies Wissen nichts aus. Nun könnte man eine Überschneidung zweier Dihairesen versuchen und zunächst das Werdende für sich in Unbeseeltes und Lebendiges, dieses wieder in Wildes und Zahmes einteilen. Dann aber müßte man aus dieser Dihairesis Arten verschiedener Einteilungsstufen (Unbeseeltes und zahmes Lebendiges) in die Einteilung des anordnenden Wissens einführen, und das dürfte wohl kaum statthaft sein.
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sein kann, hier wäre es. Beide Wege werden gegangen. Am Ende des einen ist die Herdenzucht des Staatsmannes bestimmt als befaßt mit einem zweifüßigen, sich unvermischt begattenden, ungehörnten, zu Fuß gehenden, auf dem Land lebenden Herdentier — als welches sich der Mensch in seinem , Wesen* gezeigt hat, von seinen nächsten Verwandten, den Schweinen, einzig durch seine Zweifüßigkeit der Art nach verschieden. Am Ende des anderen Weges besteht das , Wesen' des Staatsmannes darin, Herdenzucht zu betreiben an einem nackten (ungefiederten), zweifüßigen, zu Fuß gehenden, auf dem Land lebenden Herdentier — als dieses Herdentier präsentiert sich jetzt der Mensch in seinem ,Wesen', dem Federvieh engstens verwandt und von ihm der Art nach verschieden einzig durch das Fehlen des Gefieders. Jeder mag sich entscheiden, ob ei sich in der nächsten Verwandtschaft zu den Schweinen oder zum Federvieh wohler fühlt. Das Lächerliche des Ergebnisses wird ausdrücklich ausgesprochen. Die Dihairesis ist gescheitert. Das Wesen des Staatsmannes und das Wesen des Menschen haben sich entzogen — und zwar in einem und demselben Vorgang. Es ist von größter Wichtigkeit, zu sehen, daß das Scheitern der Dihairesis nicht auf einen Fehler in der Durchführung zurückgeht, daß ihm also auch nicht mit einer Korrektur an der Durchführung begegnet werden kann. Das Wesen des Staatsmannes hat sich dem Verfahren der Dihairesis als s o l c h e m entzogen. Verantwortlich dafür, daß das Wesen des Staatsmannes der dihairetischen Bestimmung entglitt, ist die Stelle, an der die Dihairesis den Einteilungshinblick wechselt und zur Einteilung des Werdenden in Unbeseeltes und Lebendiges übergeht. Dieser Schritt war aber der einzig mögliche, sollte die Dihairesis fortgesetzt werden. Zieht er das Scheitern der Dihairesis nach sich, dann bedeutet das also das Scheitern des Verfahrens der Dihairesis selbst an der Aufgabe, das Wesen des Staatsmannes zu fassen. Das dihairetische Denken ist bei dieser Aufgabe in die Aporie geraten und kann sich aus ihr nicht selbst befreien*. Dennoch war der Gedankengang nicht vergeblich. Zunächst: Ein Teil der Dihairesis bleibt ja gültig. Der Staatsmann i s t ein Wissender, sein Wissen i s t selbstanordnendes Wissen. Die Dihairesis hinter5
Anders stünde es, ginge es jemandem um eine Dihairesis der Tiere. Auch die vorgelegte Dihairesis des Lebendigen — aufgefaßt als eine Dihairesis der Tiere und abgelöst von der des Wissens — müßte für gescheitert erklärt werden. Das könnte aber nicht ein Ungenügen des Verfahrens als solchen angesichts dieser Aufgabe belegen, sondern nur die Unangemessenheit des Gesichtspunktes der Aufzucht.
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l t und stellt die Aufgabe, das selbstanordnende Wissen des Staatsmannes zu denken. Ferner: Da dieses Wissen es mit Menschen zu tun hat, ist klar. Und da es es mit Menschen zu tun hat in der Weise der Sorge, der Besorgung, der F rsorge (επιμέλεια), das ist ein Vorverst ndnis, das die ganze Dihairesis des Lebendigen begleitet hat und von ihrem Scheitern nicht widerlegt wird. Unmi verst ndlich klargeworden ist indessen, da die staatsm nnische Sorge, als die das selbstanordnende Wissen des Staatsmannes vorverstanden ist, so lange nicht gedacht werden kann, als das Wesen des Menschen nicht gedacht ist. Daf r steht ein, da das Wesen des Staatsmannes und das des Menschen sich zugleich und in eins entzogen. Schlie lich hat die Dihairesis deutlich gemacht, da der Mensch in seinem Wesen verfehlt wird, wenn er als eine Art der Gattung alles Lebendigen gesucht wird. Freilich ist der Mensch ein Lebewesen. Aber sein Wesen ist keine dihairetisch zu fassende Art der Gattung des Lebendigen. Die Frage nach seinem Wesen mu gestellt werden und kann nicht im Blick auf die Gattung der Lebewesen und ihre Arten gestellt werden. So hatte die aporetisch endende Dihairesis doch einen mehrfachen Ertrag. Die Aufgabe, nach Sorge, Besorgung, F rsorge (επιμέλεια) des Staatsmannes zu forschen, wird auf eigent mliche Weise akzentuiert. Nachdem die im L cherlichen endende Dihairesis doch noch ordnungsgem durch eine Zusammenf hrung (συναγωγή) abgeschlossen worden ist, macht der Fremde darauf aufmerksam, da die Untersuchung keineswegs vollst ndig durchgef hrt sei (267c5—dl). Da die Staatskunst die Sorge (επιμέλεια) f r eine bestimmte Herde sei (26706—8), gen gt nicht zu ihrer Bestimmung. Denn mit Recht d rften sich andere — z. B. die Kaufleute, Bauern, K che, Turnlehrer, rzte — hinzudr ngen und behaupten, da s i e diese Besorgung der menschlichen Herde leisten. Das bedeutet: Bew hrt sich das Vorverst ndnis, da dem selbstanordnenden Wissen des Staatsmannes die Sorge f r eine menschliche Gemeinschaft obliegt, dann mu der Staatsmann von allen unterschieden werden, die ihrerseits f r das Wohl des Menschen sorgen. Die Aufgaben sind gestellt, und zugleich ist klar, da sie zun chst nicht durch Dihairesis zu bew ltigen sind. Die Aporie zwingt dazu, von einem anderen Anfang aus einen anderen Weg einzuschlagen (268d5 f.: Πάλιν τοίνυν εξ άλλης αρχής δει καθ' έτέραν δδόν πορευθήναί τίνα). Es ist der Weg des Mythos. Vorweg wird aber schon angek ndigt, da man im Anschlu an den Mythos zum Verfahren der Dihairesis zur ckkehren wird (268d9—e2).
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Der Mythos ist ein Mythos von der Epimeleia, von der Sorge im Sinne der Besorgung und Fürsorge. Er erzählt von der Welt und von den Wesen, die in der Welt leben, zumal vom Menschen. Dabei wird Scherz eingemischt (268d8), und man soll die Erzählung nach Art der Kinder aufmerksam aufnehmen (268e4 f.). Das bedeutet: Dem räsonierenden Verstand hat der Mythos nicht viel zu sagen; von der Deutung aber erwartet er, daß sie ihn nicht in allen Stücken wörtlich nimmt. Der Mythos berichtet von zwei entgegengesetzten Weltläufen, die sich in großen Zeitabständen immer wieder ablösen. Der eine Weltlauf ist dadurch bestimmt, daß Gott selbst das All in seiner Kreisbewegung mit führt und mit dreht, für das Ganze sorgend. Im anderen Weltlauf ist das All sich selbst überlassen. Gott hat das Steuer der Welt losgelassen und sich auf seine Warte zurückgezogen, das freilich nicht aus purer Willkür, sondern in Übereinstimmung mit dem den von ihm geleiteten Umläufen zukommenden Maß (die Welt hat nämlich an der körperlichen Natur teil, und es ist ihr daher nicht vergönnt, in der Seinsordnung des Göttlichsten von allem Seienden zu stehen und sich stets gleich zu verhalten und immer dasselbe zu sein). Läßt Gott die Welt los, so erleidet sie den Umschwung in die entgegengesetzte Richtung ihrer Kreisbewegung (das ist die Richtung, in die sie sich auch jetzt bewegt). Das Zusammenstoßen beider Bewegungen verursacht ihr eine große Erschütterung. Es entsteht eine Ubergangsphase, die von Aufruhr und Verwirrung gezeichnet ist. Schließlich aber stellt sich Ruhe ein, und die Welt findet sich wieder in den Lauf hinein, der ihr gewohnt ist, wenn sie auf sich selbst gestellt ist. Sie übernimmt die Sorge für sich selbst und das, was in ihr ist, kraftvoll alles ordnend. Dabei erinnert sie sich — als ein Lebewesen, dem Vernunft zuteil geworden ist — nach Kräften der Unterweisung ihres Bildners ( ) und Vaters. Mit der Zeit aber läßt sie darin nach. Schuld daran ist das Körperhafte in ihrer Mischung, das, womit sie aus ihrer früheren Natur her unlöslich zusammen ist. Ehe sie zum Kosmos wurde, hatte sie nämlich teil an großer Unordnung. Alles Schöne verdankt sie dem, der sie zusammengefügt hat. Alles Schlimme und Unrechte hat sie aus ihrem früheren Zustand der Disharmonie. Dieser bleibt stets in ihr wirksam und gewinnt in dem Weltumlauf, in dem die Welt selbst für sich zu sorgen hat, allmählich immer mehr an Macht, indem er sie die göttliche Unterweisung vergessen macht. Die Welt mit allem, das in ihr ist, gerät schließlich in die Gefahr des Untergangs. Es ist die Gefahr, durch Verwirrung aufgelöst in das grenzenlose Meer der Unähnlichkeit zu ver-
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sinken (vgl. 273d5—el: ϊνα μη ... υπό ταραχής διαλυθείς είς τον της ανομοιότητας άπειρον οντά πόντον δύη). Um diesen Untergang zu verhindern, ergreift Gott wieder das Steuer der Welt und wendet sie in den entgegengesetzten, von ihm selbst gelenkten Weltlauf zur ck. Er ordnet sie wieder, l t sie neues Leben gewinnen und macht sie wieder unsterblich und frei vom Altern. Den Zust nden und Erleidnissen der Welt entsprechen die Zust nde und Erleidnisse aller Wesen in ihr. Die unerh rten Ersch tterungen in den Ubergangsphasen f hren zu Vernichtungen gro en Ausma es unter dem Lebendigen, auch unter den Menschen. An den Wesen, die brigbleiben, vollziehen sich die denkbar gr ten Ver nderungen. Wendet Gott die Welt in den von ihm besorgten (unserem jetzigen entgegengesetzten) Weltumlauf zur ck, dann geschieht mit allem Lebendigen folgendes: Sein Lebensalter bleibt stehen, und statt weiterhin lter zu werden, wird es nun immer j nger und zarter. Greise gelangen wieder zur ck zur Bl te ihrer Mannesjahre, M nner werden zu J nglingen, J nglinge zu Kindern, und die Leiber der Kinder werden kleiner und kleiner, schwinden g nzlich dahin bis zu ihrer v lligen Vernichtung. In der Ubergangsphase geschieht das alles rasch. Die gleiche Entwicklung bleibt als allm hliche aber durch den ganzen gottgelenkten Weltlauf bestehen. Die Menschen sind in diesem Weltlauf Erdgeborene. Sie gehen als Greise aus der Erde hervor, wo sich ihre Leiber aus Teilen zusammengef gt haben und beseelt wurden. (Es gibt Wiedergeburt: Die Seelen derer, denen Gott nicht ein gl cklicheres Geschick zuteil werden lie , machen viele solche Entstehungen durch.) Leben bedeutet in diesem Weltlauf: immer j nger werden. Immer j nger wird aber nicht nur der Leib, sondern auch die Seele (vgl. 270e7). Auch die Seele, und mit ihr die Vernunft, geht best ndig auf den Zustand kleiner Kinder zu. Das wird zu denken geben. Das Zeitalter, das das Menschengeschlecht im gottgelenkten Weltumlauf durchlebt, ist in der berlieferung als das Zeitalter des Kronos bekannt. Ihm steht das unsere als das Zeitalter des Zeus gegen ber. Wie lebten die Menschen im gottgelenkten Weltumlauf, in der Kronoszeit also? Ihnen wurde alles von selbst, sie brauchten f r nichts zu sorgen. So, wie die Welt als Ganzes von dem Gott besorgt wurde (und so, wie die Teile der Welt in der Obhut anderer herrschender G tter waren), so waren auch die Tiere nach Gattungen und Herden an D monen als ihre g ttlichen Hirten verteilt. Jeder von diesen gen gte denen, die er h tete, zu allem. Daher gab es keine wilden Tiere; Krieg und Aufruhr
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fehlten gänzlich. Ähnlich stand es mit den Menschen. Indessen waren sie dadurch ausgezeichnet, daß Gott selbst sie hütete und leitete. Unter dieser göttlichen Hut hatten sie keine Staaten. Auch gab es nicht den Besitz von Frauen und Kindern (alle lebten ja aus der Erde wieder auf) — es fehlte also die Gemeinschaft der Familie. Die Menschen hatten Früchte aller Art im Überfluß; die Erde gab sie ihnen von selbst, ohne daß sie bestellt werden mußte. Die Witterung war so milde, daß die Menschen sich weder durch Kleidung noch auf andere Weise vor ihr schützen mußten. Durch reichliches Gras war für ein weiches Lager gesorgt. Den Menschen der Kronoszeit war also ununterbrochene Muße gewährt und damit die Voraussetzung zu höchstem Glück. Ob sie sie nutzten zum Philosophieren oder aber sich ganz dem Wohlleben ergaben, bleibt offen. Im ersteren Fall wären sie tausendmal glücklicher gewesen als die Menschen unseres Zeitalters. Im anderen Fall hätten sie die enge Verwandtschaft zu den Schweinen verwirklicht, die die mißglückte Dihairesis als eines ihrer beiden Ergebnisse ironisch erblicken ließ. Sie hätten ihrem Geist nicht einmal die Betätigung in allen jenen Künsten ( ) gegeben, in denen (im engeren Sinn) Kultur besteht, denn die Sorglosigkeit ihres Daseins hat keinen Raum für derartige Künste. Solche geistig unlebendigen Wesen wird niemand für glücklich halten können. Von unserem Zeitalter, dem des Zeus, erzählt der Mythos so gut wie nichts — jeder kennt es ja. Um so wichtiger ist ihm aber die Übergangsphase zwischen den Zeitaltern des Kronos und des Zeus, beim Umschwung der Welt aus ihrem gottgelenkten Lauf in den Lauf, in dem sie für sich selbst sorgen muß. Bei diesem Umschwung bleibt zunächst wieder bei allem Lebendigen das Lebensalter stehen, und es wendet sich in die entgegengesetzte Richtung des Werdens: Die schon ganz klein gewordenen Leiber wachsen wieder, die kürzlich erst aus der Erde geborenen grauen Leiber sterben und kehren in die Erde zurück, und auch alle anderen verändern sich. Nun müssen die Lebewesen für ihr Entstehen und Währen selbst aufkommen: Erdgeburt gibt es nicht mehr, statt dessen Schwangerschaft, Geburt, Auferziehung. Der Zustand der Menschen in dieser Übergangsphase ist bejammernswert und findet denn auch die tätige Anteilnahme der Götter. Ganz verlassen von jener göttlichen Fürsorge, die ihnen zur Kronoszeit zuteil wurde, finden sich die Menschen schwach und schutzlos den in diesem Umschwung verwilderten Tieren ausgeliefert. Die von selbst sich darbietende Nahrung ist ihnen ausgegangen, und doch wissen sie nicht, wie sie sich selbst ihre Nahrung ver-
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schaffen können. Sie sind überdies keiner der Künste mächtig. Sie sind in den größten Nöten. Da greifen die Götter ein. Sie geben den Menschen Gaben und unterweisen sie zugleich, wie sie die Gaben gebrauchen und nutzen können. Von Prometheus erhalten sie das Feuer, von Hephaistos und seiner Kunstgenossin (Athene) die Künste ( ), Saat und Pflanzen von anderen. Allein durch diese Gaben und die zugehörige göttliche Anleitung ist der Mensch dieses Zeitalters in die Lage versetzt, die Sorge für sich selbst zu übernehmen und dem unmittelbaren Untergang seines Geschlechts zu entgehen. Was der Mythos erzählt, soll gedeutet werden. Dabei will der Mythos nicht in allen Stücken beim Wort genommen werden — Scherz ist ihm ja eingemischt. Die Deutung des Mythos hat sich vor allem in folgendem von der Erzählung zu entfernen: Sie muß die beiden Weltläufe, den gottgelenkten und den, in dem die Welt sich selbst überlassen ist, in e i n e n Weltlauf zusammendenken — und das, ohne daß zugleich auch die Zeitalter des Kronos und des Zeus zusammenzudenken wären. Die beiden Weltläufe, von denen der Mythos erzählt, sind in Wahrheit e i n Weltlauf. Nie wird die Welt, aller Sorge für sich enthoben, ganz und gar von ihrem Bildner (und seinen göttlichen Helfern) versorgt. Nie ist sie ganz und gar sich selbst überlassen. Und also gibt es auch keine Ubergangsphasen zwischen den entgegengesetzten Weltläufen. Diesen Ansatz der Deutung muß freilich der Mythos mit dem, was er erzählt, legitimieren. Und das tut er. Er tut es durch einen Widerspruch im Erzählten. J e d e r der beiden Weltläufe muß z u g l e i c h der erste und der zweite sein, er muß o n t o l o g i s c h dem anderen vorhergehen und ihm folgen. Der gottgelenkte Weltlauf beschert den Lebewesen das Zeitalter des Kronos — beide gehören im Mythos unlöslich zusammen. Im Weltlauf, in dem die Welt selbst für sich sorgt, leben die Lebewesen im Zeitalter des Zeus — auch dieser Weltlauf und dieses Zeitalter sind im Mythos untrennbar. Nun muß der gottgelenkte Weltlauf seinem entgegengesetzten Weltlauf der Zeit nach nicht nur, sondern gerade auch dem Sein nach vorhergehen; in diesem dreht die Welt sich ja z u r ü c k , von dem Zustand der Wohlgeordnetheit, den sie der göttlichen Lenkung verdankt, sich immer mehr entfernend. Andererseits muß das Zeitalter des Zeus dem des Kronos dem Sein und der Zeit nach insofern vorhergehen, als das Entstehen des Lebendigen in der Kronos-Zeit eindeutig als Wiederaufleben vor Augen gestellt wird. Das gesamte Geschlecht der Erdgeborenen setzt voraus, daß zuvor ein anderes
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Geschledit war, dessen Werden von der Geburt zum Tod hin verlief. Das Wiederaufleben, die Erdgeburt, setzt Totes voraus, in das zuvor Lebendes sidi aufgelöst hat. So zeigt sich: Der gottgelenkte, die KronosZeit umschließende Weltlauf muß zugleich der vorangehende und der folgende sein — das heißt: er kann keines von beiden sein6. Und entsprechend gilt für den die Zeus-Zeit umschließenden Weltlauf der Überlassenheit der Welt an sich selbst: Er muß zugleich der folgende und der vorangehende sein — und kann also keines von beiden sein. Keiner der beiden Weltläufe geht dem anderen voran oder folgt ihm — beide sind in Wahrheit einer. Dieser Konsequenz entgeht man nicht durch einen regressus in infinitum, und zwar deshalb nicht, weil jeder der beiden Weltläufe den Widerspruch i n s i c h hat und ontologisch unmöglich ist. Was sagt der Mythos von der Welt, wenn er von der Deutung fordert, beide Weltläufe in e i n e n Weltlauf zusammenzudenken? Er zeigt eine zwiefache Herkunft der Welt, u n d er zeigt, daß der Zustand der Welt ein Zwischen, ein Mittleres zwischen zwei Extremen ist. Die Welt hat Gott zum Bildner und Vater (siehe 273bl f.). Sie hat eine göttliche Herkunft. Und die Welt hat ihre Herkunft aus dem, woraus her Gott sie bildete, ordnete: das ist das grenzenlose Meer der Unähnlichkeit — oder, aus dem Bild in den Begriff übersetzt: das Grenzenlose ( )7. Im Grenzenlosen geht alles ungeschieden ineinander über, nichts bringt es zur Selbigkeit mit sich selbst. Das Grenzenlose weist Ordnung und Harmonie schlechthin von sich ab. Sein Zustand ist schlechthinnige Verwirrung und Disharmonie. Der Mythos belehrt darüber, daß die Welt diese ihre Herkunft niemals gänzlich hinter sich zurückläßt. Er läßt sie in der Welt wirksam sein und in der Übergangsphase vom gottgelenkten zum entgegengesetzten Weltlauf sowie allmählich auch in diesem selbst die Übermacht gewinnen. Die Welt ist eine Mischung, und in dieser Mischung ist ihre Herkunft aus dem Grenzenlosen, ihre frühere Natur, als das Körperartige wirksam (siehe 273b4: ). Als diese Mischung bewegt sie sich stets in dem e i n e n Weltlauf, der ein Mittleres ist zwischen den beiden Weltläufen des Mythos, dem einen, in dem die Welt dank göttlicher Lenkung ein höchstmögliches Maß an Vollkommenheit erreicht, und dem
* Nicht zufällig ist die Beschreibung dieses Weltlaufs die einer Rettung, nimmt ihn also als folgenden. 7 Von ihm wird der Pbilebos sprechen.
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anderen, in dem sie unaufhaltsam auf ihren Untergang zugeht, vor dem sie dann schließlich gerettet wird. In der Weise dieses e i n e n Weltlaufs zu leben und ein Mittleres zu sein, das ist die wahre Unsterblichkeit der Welt (während die Unsterblichkeit, die der Mythos erwähnt — nämlich eine 'Unsterblichkeit, die der Bildner der Welt ihr w i e d e r g i b t , wenn sie fast schon untergegangen ist — zum „Scherz" des Mythos gehört). In dem e i n e n wahren Weltlauf der Welt lenkt Gott die Welt und läßt sie zugleich zu sich selbst, zu ihrer Fürsorge für sich selbst, frei. Er sorgt für die Welt so weit, daß sie für sich selbst sorgen kann, ohne dabei auf ihren Untergang zugehen zu müssen. D i e s e r Welt ist der Mensch ähnlich, s i e ahmt er nach (siehe 274d4—7). Dadurch unterscheidet er sich aber zugleich von allem anderen in der Welt, insofern für dieses nämlich die Welt sorgt (vgl. 273a7—bl). Die Welt ist ein Lebewesen, das Vernunft hat (269dl), und der Mensch ist ein Lebewesen, das Vernunft hat. Nur ein vernünftiges Lebewesen aber kann so weitgehend zur Sorge für sich selbst freigelassen werden, wie es bei der Welt und dem Menschen der Fall ist. Für die Lebewesen, die keinen Anteil an der Vernunft haben, gilt zwar auch, daß sie für ihr Entstehen und Währen durch Schwangerschaft, Geburt und größtenteils auch Auferziehung der Jungen selbst aufzukommen haben. Gleichwohl ist im übrigen doch für sie gesorgt (wenn für die wilden Tiere auch freilich so, daß sie sich andere Lebewesen einverleiben). Das bestätigt sich dadurch, daß die Hirten zahmer Tiere die gleiche Autarkie haben, wie sie im Mythos den göttlichen Hirten der Kronos-Zeit zugesprochen wird (man vergleiche 271d6—el mit 268a7—b6); sie haben sie, weil ihren Pfleglingen von der Erde dargeboten wird, was sie zum Leben brauchen. Vom Menschen wurde gesagt, er sei der Welt ähnlich, wenn deren Leben gedacht wird aus der Zusammennähme beider Weltläufe des Mythos in einen. Andererseits wurde behauptet, das Zeitalter des Kronos und das des Zeus seien n i c h t zusammenzudenken — was zugleich bedeutet, daß das Zeitalter des Zeus, das Zeitalter also, in dem wir leben, das einzige und wahre ist. Dazu ist folgendes zu beachten: Die Kronos-Zeit zeigt zwei entgegengesetzte Gesichter. Naiv aufgefaßt im Sinne überlieferter Erzählung, könnte sie für den Menschen eine Zeit höchsten Glücks gewesen sein (eine Zeit freilich, die es in Wahrheit niemals gab, denn es gab ja auch nie den Weltlauf, in dem sie möglich wäre). Die Frage, ob die Menschen dieses Zeitalters glücklich waren, wird nicht von ungefähr ausdrücklich nicht entschieden. Sie ist selbst i n n e r -
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h a l b des Mythos, also wenn dies Zeitalter als gewesenes und stets wiederkehrendes angenommen wird, müßig. Denn das andere, das wahre Gesicht dieser Kronos-Zeit, macht sie sinnlos. Es zeigt, daß in dieser Zeit nicht einmal die Möglichkeit eines dem Menschen wesenseigenen Glücks bestünde. Es wurde schon gesagt: Das Leben alles Lebendigen in der Kronos-Zeit besteht in einem Immer-jünger-werden. Von dieser Richtung der Entwicklung sind auch Seele und Vernunft nicht ausgenommen (siehe 270e4—7 u. 271 b4 f.). Das heißt aber bezüglich der menschlichen Vernunft nichts anderes, als daß sie sich unaufhaltsam zur Einsicht eines kleinen Kindes »fortentwickelt*, in Wahrheit also zurückentwickelt8. Mit diesem Tatbestand wird konfrontiert, wer vielleicht geneigt wäre, die Verjüngung gegenüber dem Altern als die durchaus glücklichere, der sorgenlosen Kronos-Zeit angemessene Entwicklung zu betrachten, ja im Prozeß der Verjüngung die größtmögliche Annäherung des Loses der Menschen an das ewig junger Götter zu sehen. Die Einsicht der Menschen nimmt je länger um so mehr ab; die geistige Entwicklung verläuft umgekehrt zum Prozeß geistigen Heranreifens und geistiger Entfaltung. Im sorgenlosen, gepriesenen Zeitalter des Kronos eignet dem Menschen eine Sterblichkeit, die schmerzlicher für den Philosophen nicht sein kann — Eros als Philosophie ist um die Wesensmöglichkeit gebracht. (Nicht umsonst ist dies ein Zeitalter ohne Zeugung!) Gesetzt, es bestünde unter den Menschen der Kronos-Zeit das Streben nach Einsicht, so müßte es sich an der Rückwärtsentwicklung der Vernunft zerreiben. Die Wesensverfassung des Menschen der Kronos-Zeit enthüllt sich als im strengsten Sinne unmenschlich. Sie als eine zumindest der Möglichkeit nach glücklichere mit der Zeus-Zeit zusammenzudenken, um so — in Analogie zu den Weltläufen — ein Mittleres zu fassen, geht nicht an. Nimmt man die Erzählung über das Leben der Menschen in der Kronos-Zeit aber vordergründig und naiv, dann gibt sie den Kontrast ab, vor dem sich die Lage des Menschen in der ,Übergangsphase' zur Zeus-Zeit aufs schärfste abhebt — und daß dies geschehe, ist einer der Gründe, warum der Mythos das Leben im Zeitalter des Kronos entfaltet. Daß im übrigen, was den Menschen (und den Staatsmann) anbelangt, auf die ,Übergangsphase* gerade alles ankommt, wird deutlich ausgesprochen. Um ihretwillen wurde der Mythos erzählt (274bl f.). Von ihr aus gesehen, prägt die vordergründige Darstellung der Kronos-Zeit ein, was der 8
Das macht verständlich, daß die Menschen dieses Zeitalters auch in Unterhaltungen mit den Tieren ihre Einsicht zu vermehren vermögen — vgl. 272b8—c4.
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Mensch n i c h t ist, damit er sich um so deutlicher und entschiedener ergreife als der, der er ist. Der Mythos gibt das Wesen des Menschen zu verstehen. Dazu wurde schon gesagt: Der Mensch ist der Welt ähnlich. Die Welt aber hat eine zwiefache Herkunft — die Herkunft vom Göttlichen und die Herkunft aus dem Grenzenlosen. Und die Welt ist ein Zwischen, ein Mittleres zwischen zwei Extremen. Das ist sie als eine Mischung. Sie ist es als ein Lebewesen, das Vernunft hat und in dem zugleich das Körperartige auflösend zu wirken strebt. Die Welt ist ein Mittleres, indem sie — kraft ihrer Vernunft für sich sorgend — sich in der Mitte hält. Ist der Mensch der Welt ähnlich, so gilt das alles auch von ihm. Auch der Mensch hat die zwiefache Herkunft vom Göttlichen und aus dem Grenzenlosen (die Welt bringt, was sie selbst aus ihrem früheren Zustand in sich hat, auch in den Wesen in ihr hervor — 273b7—c2). Deshalb nennt Platon an späterer Stelle des Dialogs das Menschengeschlecht das dämonische Geschlecht (309c8; vgl. S. 173). Auch der Mensch ist ein Zwischen, ein Mittleres zwischen zwei Extremen, zwischen den Extremen eines vollkommenen Lebens, wie es den Göttern zukommt, und dem unaufhaltsamen Zugehen auf seinen Untergang. Er ist eine Mischung. Er ist ein Lebewesen, das Vernunft hat, und in dem doch auch das Körperartige seine auflösende Kraft geltend zu machen strebt. Er ist ein Mittleres, solange er — kraft seiner Vernunft für sich sorgend — sich in der Mitte hält. Von der zwiefachen Herkunft des Menschen erzählt der Mythos Genaueres dort, wo er von der Übergangsphase zur Zeus-Zeit berichtet. Wie im Mythos das Grenzenlose als Herkunft der Welt in dem gottverlassenen Weltlauf nicht nur, sondern auch in den Obergangsphasen zwischen den Weltläufen durchbricht, so zeigt es sich als Herkunft des Menschen in der Phase, die dem Zeitalter des Zeus unmittelbar vorhergeht. In dieser Phase sind die Menschen in Nöten, die größer nicht sein könnten. Die Gefahr schlechthinnigen Untergangs wäre unabwendbar, käme nicht rechtzeitig noch göttliche Hilfe. Der Mensch der Zeus-Zeit hat seine Herkunft aus einer schlechthinnigen Bedrohung seines Daseins, aus dem Grenzenlosen als zum Untergang treibender Kraft. Aber er hat ja überlebt — dank göttlichen Eingreifens. Göttliche Gaben und göttliche Unterweisung machten es ihm möglich, für sich selbst zu sorgen und nicht nur nicht unterzugehen, sondern als M e n s c h zu leben. Göttliche Gaben und göttliche Unterweisung — darin erscheint die göttliche Herkunft des Menschen im Mythos.
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Nun ist ja klar, daß es in Wahrheit keine Ubergangsphase zwischen Kronos-Zeit und Zeus-Zeit gibt, wie ja auch in Wahrheit der Weltlauf stets e i n e r ist. Das bedeutet: Nicht war die ,Übergangsphase' vor langer Zeit einmal und kehrt nun mit Sicherheit lange nicht wieder; der jetzt lebende Mensch ist ihr nicht so entkommen, daß er ihre Nöte nicht mehr zu fürchten brauchte. Seine Herkunft aus dem Grenzenlosen kann jederzeit (und während die W e l t ihren Lauf gut vollbringt) zu neuer Mächtigkeit gelangen, und dem entgeht er nur, indem er die Sorge für sich als ständige Aufgabe übernimmt. Sie ist ein Grundzug seines Seins. Daß er aber für sich sorgen kann, verdankt er seiner göttlichen Herkunft. Sie hebt ihn zugleich über alle anderen Lebewesen in der Welt hinaus — er ist ein anderes, göttlicheres Lebewesen ( — 271e6 f.). Der Mythos zeigt das Wesen des Menschen. Er zeigt, daß der Mensch seiner eigenen Sorge überlassen ist. Für sich zu sorgen, ist ihm nötig, weil er aus Not und Verwirrung, aus dem Grenzenlosen, herkommt. Für sich zu sorgen ist ihm möglich dank der Hilfe der Götter, das heißt dank seiner Herkunft vom Göttlichen und der Wirksamkeit des Göttlichen in ihm. Der Mythos macht einsichtig, w a r u m die Dihairesis das Wesen des Menschen verfehlen mußte. Ein Seiendes, das eine zwiefache Herkunft hat, dazu noch aus den äußersten Gegensätzen und aus solchem, das sich der Wesensumgrenzung durch menschliches Denken entzieht, kann nicht durch das Verfahren der Dihairesis in seinem Wesen bestimmt werden. Nicht nur eine Dihairesis der Lebewesen muß an diesem Wesen vorbeitreffen, k e i n e Dihairesis vermag es zu fassen. Der Mythos zeigt nicht schon das Wesen des Staatsmannes. Er erzählt nichts von Staatsgründung und Leben im Staat. Er gibt nur einen kleinen Hinweis: In der Darstellung der Kronos-Zeit wird gesagt, daß die Menschen dieses sorgenlosen Zeitalters der Staaten nicht bedurften (271e8). Der der Sorge für sich selbst überlassene Mensch wird also wohl staatlicher Gemeinschaft und damit des Staatsmannes bedürfen. Die Untersuchung kehrt denn auch zum Thema Staatsmann zurück. Hier darf zunächst daran erinnert werden, welche Ergebnisse der Gedankengang schon erzielte. Vom Wissen des Staatsmannes hatte sich gezeigt, daß es selbstanordnendes Wissen ist. Dieses blieb freilich unbestimmt, wenn auch soviel klar ist, daß es mit in einer Gemeinschaft lebenden Menschen zu tun hat, und das wohl im Sinne einer Epimeleia.
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Nun hat der Mythos das dämonische Wesen des Menschen zu verstehen gegeben und zugleich die Epimeleia, die Sorge für das eigene Sein, als Grundzug des Menschseins herausgehoben. Mit d i e s e m Menschenwesen hat es der Staatsmann zu tun, selbst auch ein Mensch unter Menschen. Ist ihm eine Sorge für den Menschen aufgegeben, so für den Menschen als ein Wesen zwiefacher Herkunft (das sich jeder Dihairesis entzieht) und für ein Wesen, das auf vielfältige Weise selbst für sich sorgt. Der Blick auf die Gattung der Lebewesen insgesamt kann für die Bestimmung des Staatsmannes daher nichts hergeben. Und: Eine Sorge des Staatsmannes für den Menschen wäre erst dann gefaßt, wenn sie zugleich von allen anderen Weisen, in denen der Mensch für sich sorgt, unterschieden wäre. Hält man sich das alles gegenwärtig, so muß der Fortgang des Gesprächs denjenigen sehr verwundern, der kein Gespür für Platons Ironie hat. Zunächst zwar geht es noch an: Das Ende des Mythos wird verbunden mit der Absichtserklärung, sich den Mythos zunutze zu machen zur Entdeckung bei der früheren Dihairesis begangener Fehler (274el—4), und es zeigen sich zwei Fehler, ein größerer und ein kleinerer. Der größere bestand darin, daß der Staatsmann mit dem Gott verwechselt wurde, der in dem dem unsrigen entgegengesetzten Weltlauf für die Menschen sorgte. (Diese Verwechslung machte es möglich, daß der Staatsmann in eine Gattung zu stehen kam mit den Hirten von Tierherden, die ja tatsächlich mit den göttlichen Hütern der Kronos-Zeit Ähnlichkeit haben.) Der kleinere Fehler lag darin, daß der Staatsmann zwar richtig als an der Spitze des ganzen Staates stehend betrachtet wurde, daß aber die Art und Weise nicht bestimmt wurde, weshalb denn auch andere den Anspruch hätten geltend machen können, daß s i e ja die Sorge für den Menschen übernommen haben und ihnen also auch der hohe Rang gebührt. — Nach diesen Feststellungen nun aber (und nach einem Zwischengedanken, von dem noch zu sprechen sein wird) kehrt die Unterredung allen Ernstes zur früheren Dihairesis zurück — allen Ernstes, in Wahrheit aber eben ironisch, jedoch mit positiver Absicht. Eine Gattung wird korrigiert, u n d die Dihairesis wird als unfertig erklärt und nun zu Ende geführt. Korrigiert wird die Gattung Herdenzucht. Sie umfaßte den Staatsmann gar nicht mit, führte vielmehr nur die Hirten von Tierherden zusammen. Dem Staatsmann obliegt nicht ein Auferziehen und Ernähren ( ) einer Herde, wohl aber kommt er mit allen, die dies zur Aufgabe haben, darin überein, ein Pflegen ( ) zu vollziehen, so daß die gemeinsame Gattung als Herden-
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Wartung (άγελαιοκομική) oder Pflege (θεραπευτική) oder Besorgung (έπιμελητική) zu bezeichnen w re. Diese Bezeichnung erlaubt, „den Staatsmann zugleich mit den brigen zu verh llen" (περικαλύπτειν και τον πολιτικόν άμα τοις άλλοις — 275e6 f.) — also doch wohl ihn zu verstekken?! Der Fortgang der Dihairesis soll nun ohne weitere Ver nderung bernommen werden! Wieder also k me es, bliebe man nicht bei (freilich hinreichend deutlichen) Andeutungen stehen (276al—6), zu den fr heren l cherlichen Ergebnissen, nur da jetzt nicht mehr von der Herdenzucht, sondern der Herdenwartung, Pflege oder Besorgung die Rede w re. Was soll das? Es soll bewu tmachen, da die fr here Dihairesis gerade nicht korrigierbar ist, da der Mythos eine solche Korrektur gerade nicht erm glicht. — Indessen war das ja noch nicht alles. Die fr here Dihairesis soll, als hinsichtlich jener Gattung korrigierte, ber ihr damaliges (so l cherliches) Ende hinaus fortgesetzt werden. Und das sieht so aus: Die Besorgung der zweibeinigen Herde ist entweder die eines g ttlichen H ters oder die eines menschlichen F rsorgers. Zur Bestimmung des Staatsmannes ist die letztere weiter einzuteilen. Sie ist entweder gewaltt tig oder freiwillig. Die gewaltt tige bestimmt den Tyrannen, die freiwillige den Staatsmann. Nun d rfte klar sein, da eine gewaltt tige F rsorge ein Widerspruch in sich ist, jedenfalls wenn es sich, wie hier gesetzt, um Gewaltt tigkeit von Tyrannen handelt. Wozu dient also die zu einem Widerspruch f hrende Fortsetzung der nach wie vor in h chstem Ma e l cherlichen Dihairesis? Sie vervollst ndigt die Aufgabenstellung, und zwar um die ethische Dimension. Am Gegenbild des Tyrannen wird zur Aufgabe gestellt, da die Sorge des wahren Staatsmannes gedacht werden mu als gerichtet auf das f r die Menschen Gute. Der Staatsmann wird nur dann wirklich gefa t sein, wenn gedacht ist, da und inwiefern sein Besorgen dem in staatlicher Gemeinschaft lebenden Menschen das Gute erwirkt. — Der Erg nzung der Aufgabenstellung dient auch der schon erw hnte Zwischengedanke (275b8—c8). Der Staatsmann und der g ttliche H ter der Menschen aus der Kronos-Zeit des Mythos unterscheiden sich bei weitem. Bei weitem unterscheiden sich aber auch der wahre Staatsmann, den es zu bestimmen gilt, und die wirklich regierenden Staatsm nner. Diese haben n mlich ihrer Natur und Bildung nach mehr hnlichkeit mit den Beherrschten als mit einem wahren Herrscher. Aber auch sie m ssen bestimmt werden. Eine Untersuchung ber das Wesen des Staatsmannes kann die nicht au er acht lassen, die tats chlich regieren (wenn
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sie im Blick auf diese auch gerade das Wesen des Staatsmannes niemals zu fassen verm chte)9. Die Ausarbeitung der Aufgabe ist abgeschlossen. Das wird auch angezeigt dadurch, da im Dialog durch den Exkurs ber die Natur des Beispiels ein Einschnitt gemacht wird. Es folgt dann das Beispiel der Dihairesis der Wollweberei, das hier im vorigen Kapitel schon thematisiert wurde. Es wird im Dialog nicht sofort schon f r die Bestimmung des Staatsmannes fruchtbar gemacht. Vielmehr schlie en sich zun chst die Ausf hrungen ber die Me kunst (μετρητική) an. Sie bringen die Frage nach dem Wissen des Staatsmannes einen Schritt weiter. Gegenstand der Me kunst sind berma und Mangel ( bertreffen und Zur ckbleiben, Mehr und Weniger). Eine Dihairesis der Me kunst ergibt zwei Teile: Der eine Teil der Me kunst erfa t Gr e und Kleinheit in bezug aufeinander (προς άλληλα — 283d7). Der andere Teil der Me kunst wird auf zun chst r tselhafte Weise bestimmt. Er bezieht sich auf das notwendige Wesen der Entstehung (το δε [το] κατά την της γενέσεως άναγκαίαν οΰσίαν — 283d8 f.). Da es ihn berhaupt gibt, k nnte bezweifelt werden. Scheint denn nicht a l l e s Gr ere gr er zu sein einzig in bezug auf ein Kleineres, und entsprechend auch alles Kleinere kleiner einzig in bezug auf ein Gr eres — so da Messen eben niemals etwas anderes sein k nnte als Messen des einen an seinem entgegengesetzten Anderen, des berma es also am Mangel und des Mangels am berma ? Das mag zwar so scheinen, in Wahrheit gibt es auch berma und Mangel, bertreffen und Zur ckbleiben in bezug auf ein Angemessenes (μέτριον), und das haben wir immer schon anerkannt, wenn wir gute und schlechte Menschen unterscheiden (als schlecht beurteilen wir n mlich diejenigen, die nach der Seite des Zuviel oder Zuwenig am Angemessenen vorbeitreffen). E s g i b t also eine Art der Me kunst, die in bezug auf das Angemessene mi t. Sie zu leugnen, hie e, die K nste (τέχναι) selbst und alle ihre Werke zu zerst ren, ja die gesuchte Staatskunst zum Verschwinden zu bringen. Alle K nste n mlich h ten sich bei ihrem Entstehenlassen vor jedem Mehr, das ber das Angemessene hinausgeht, und vor jedem Weniger, das hinter dem Angemessenen zur ckbleibt, als vor einem Verderblichen, „und auf diese Weise eben das Ma bewahrend, vollbringen sie alles Gute und Sch ne" (και τούτω δη τφ τρόπω το μέτρον σφζουσαι πάντα αγαθά και καλά 9
Dieses Thema wird von Platon in einem hier nicht interpretierten Textst ck behandelt; vgl. aber ein weiteres Mal Seite 177 f.
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απεργάζονται — 284bl f.). Das Ma und das Angemessene sind hier dasselbe10. Und worauf es ankommt bei dieser Art der Me kunst, das ist die Entstehung des Angemessenen. Messen ist hier ein Entstehenlassen des Angemessenen — und erst in zweiter Linie eine Beurteilung des Entstandenen. Im Entstehenlassen und als es wird gemessen, wird das jeweils e i n e Gute dem Grenzenlosen des Mehr und Weniger abgewonnen. Dies Messen erscheint im Anblick der Rettung. Die Bedrohung durch das Ma lose ist jedem Entstehenden vorweg. Durch die erste Bezeichnung dieser Me kunst, die sie bezog auf das notwendige Wesen der Entstehung, ist sie in den weitesten Horizont gestellt, in jenen Horizont, den der Mythos sehen lie . Alles Entstehende entsteht aus dem Grenzenlosen und ist durch dieses bedroht. Auch der g ttliche Bildner der Welt vollzieht die das Angemessene entstehen lassende Me kunst. Die Welt als Kosmos ist ein Angemessenes. Es gibt also zwei Arten der Me kunst. Ihr einer Teil umfa t alle K nste (τέχναι), die Zahl, L ngen, Tiefen, Breiten, Geschwindigkeiten in bezug auf ihr Gegenteil messen (284e3). Ihren anderen Teil machen die K nste aus, die in bezug auf das Angemessene messen. Das Angemessene hei t jetzt auch das Geb hrende (πρέπον), das Passende — durchaus auch in bezug auf Ort und Zeit (καιρός), das N tige (δέον); es ist „alles, was in die Mitte zwischen zwei Extremen versetzt ist" (πάνυ' δπόσα εις το μέσον άπωκίσθη των εσχάτων — 284e7 f.). Die Kunst des Staatsmannes ist Me kunst, die in bezug auf das Angemessene mi t. In dieser Art der Me kunst steht der Staatsmann nun freilich auch mit jenen zusammen, von denen er in der fr heren Dihairesis des Wissens im ersten Einteilungsschritt schon abgetrennt wurde: mit den Handwerkern. Das bedeutet: Bei der Dihairesis der Me kunst handelt es sich nicht um eine Fortsetzung der fr her durchgef hrten Dihairesis des Wissens, sie steht vielmehr gewisserma en quer zu dieser. Sie fa t aus allen K nsten und Wissenschaften diejenigen in eine Gattung zusammen, die messen, und teilt sie ein in Hinsicht auf die beiden Grundarten des Messens. Was sich in dieser Einteilung ber den Staatsmann zeigt, ist ebenso wahr, wie die fr here, unfertige Bestimmung, da sein Wissen ein selbstanordnendes Wissen ist. Beides ist zusammenzudenken (und kann doch nicht in e i n e r Dihairesis zusammengebracht werden): Der Staatsmann vollzieht ein selbstanord10
Es geht um ein Ma i m Werdenden und Gewordenen (um das Ma Mischung f r eine Mischung).
i n einer
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nendes Wissen, das ein Messen in Bezug auf das Angemessene ist. (Für das Verständnis platonischer Ontologie liegt hier ein Hinweis darauf, daß Gattungen und Arten kein starres Gefüge ausmachen, sondern mannigfacher Verflechtungen fähig sind. Das ermöglicht zugleich eine Beweglichkeit des dihairetischen Verfahrens.) Mit Hilfe des Beispiels, das als Dihairesis der Wollweberei gegeben wurde, wird der Staatsmann weiter bestimmt — dihairetisch also (287a—290d; 303d—305e). Es ist der zweite Teil jener Dihairesis, der das Muster abgibt. In ihm galt es, die Wollweberei von allen den Künsten abzutrennen, die an der Kleiderverfertigung (und -pflege) mit beteiligt sind. Dazu wurde die Hinsicht genommen auf die Art und Weise, wie Künste Ursache sind. Kunst als Ursache für ein Entstehen hat zwei Arten: entweder ist sie Mitursache für das Entstehen, oder sie ist Ursache des Entstehens. Diese Einteilung ermöglichte es, von der Wollweberei alle Künste abzutrennen, die Werkzeuge zur Kleiderverfertigung hervorbringen. Die Wollweberei stand nun noch in einer Gattung zusammen mit allen Künsten, die als Ursachen des Entstehens von Kleidern anzusehen sind. Von diesen wurde sie abgetrennt unter der leitenden Hinsicht auf die Art und Weise des Ursacheseins als Art und Weise der Verrichtung. Seit längerem ist deutlich, daß die Aufgabe des Staatsmannes Sorge für den Menschen ist. Und durch die Bestimmung seines Tuns als Meßkunst, die in bezug auf das Angemessene mißt, ist seine Sorge als ein Entstehenlassen vorläufig zu verstehen gegeben. Das Werk, das der Staatsmann, für den Menschen sorgend, entstehen läßt, ist der Staat. Sehr viele andere aber sind mit ihm in bezug auf dieses Werk und die Sorge um den Menschen geeint — alle, die sich früher schon hinzudrängten, wenn die Sorge für den Menschen ins Blickfeld rückte, und noch viele andere. Von ihnen allen wird der Staatsmann nach jenem Muster durch Dihairesis abgetrennt. Auch jetzt handelt es sich nicht um eine Fortsetzung der früheren Dihairesis des Wissens. Ebensowenig liegt eine Fortsetzung der Dihairesis der Meßkunst vor (zwar sind jetzt alle, die ein Messen in bezug auf das Angemessene vollziehen und damit an der Sorge für den Menschen teilhaben, vom Staatsmann abzusondern, aber auch andere, z. B. die Kaufleute, müssen abgesondert werden). — Zu beachten ist, daß das Entstehenlassen, wo es ein Sorgen ist, die Sorge für das Bestehen des Entstandenen einschließt. Deshalb wurde schon im Beispiel der Wollweberei zur Kleiderverfertigung die Kleiderpflege hinzugenommen. Das sorgende Entstellenlassen des Staates umfaßt die tätige
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Sorge für sein Bestehen. Alle, die in diesem Sinne mit dem Staatsmann in e i n e r Gattung stehen, bemüht um das e i n e Werk, den Staat, sind nun durch Einteilung vom Staatsmann zu unterscheiden — eben nach dem gegebenen Muster. Allerdings wird die Dihairesis nicht dichotomisch sein können. Im ersten Einteilungsschritt werden Mitursachen und Ursachen unterschieden; abgetrennt werden vom Staatsmann alle diejenigen, die dem Staat als Mitursachen dienen. Mitursachen sind alle, die ein dem Staat dienliches Werkzeug herstellen. Werkzeug ist hier in weitem Sinn genommen, als eine Gattung, die sich in folgende Arten gliedern läßt: Werkzeuge im engeren Sinn, Gefäße, Fahrzeuge, Schutzwehren (z. B. Kleider, Waffen, Mauern), Spielzeug (Schmuck, Werke der Malerei und Musik), Material für die anderen Künste, Nahrung. Wer immer mit dem Entstehenlassen von Werkzeugen aus einer dieser Arten beschäftigt ist, sorgt für den Menschen und dient dem Staat — aber er ist nicht Staatsmann. Der Staatsmann ist Ursache, nicht Mitursache des Staates. Der Staatsmann ist aber nicht die einzige Ursache des Staates, sondern steht in der Gattung der Ursache noch mit vielen zusammen (wie im Beispiel die Wollweberei, nachdem alle Künste, die Werkzeug zur Kleiderverfertigung herstellen, als Mitursachen abgetrennt waren, doch noch mit vielen anderen Künsten gemeinsam die Gattung der Ursache ausmachte). Der Staatsmann muß noch von allen anderen Ursachen des Staates unterschieden werden. Die die g a n z e Einteilung leitende Hinsicht ist die auf die Art und Weise des Ursacheseins. Sie ließ die Mitursachen von den Ursachen abtrennen und muß nun die Einteilung der Ursachen des Staates ermöglichen. Die Gattung der Ursachen des Staates läßt sich im Blick auf die Art und Weise des Ursacheseins in zwei Arten einteilen: in die Art ,dienende Ursache' und in die Art herrschende Ursache*. Der Staatsmann gehört in die Art »herrschende Ursache'. Daß e r a l l e i n von dieser Art ist, hat die Dihairesis schließlich zum Ergebnis. Der Staatsmann ist alle diejenigen nicht, die dienend, nicht herrschend, für den Staat als Ursache tätig sind. — Diejenigen, die dienende Ursachen für den Staat sind, machen eine Gattung aus, die sich in viele Arten einteilen läßt. Diese Arten unterscheiden sich voneinander nach dem Grad der Unfreiheit bzw. Freiheit der Dienenden, der zugleich ein Grad des Ansehens ist. Die Art, die die unterste Stufe der dienenden Ursachen ausmacht, ist die der gekauften Sklaven. Als nächste werden genannt die Art der Kaufleute (die Freie zwar sind, sich aber jenen frei-
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willig als Dienstleistende an die Seite stellen) und die Art der Söldner und Tagelöhner. Es folgen die Staatsdiener im engeren Sinn (zu ihnen gehören z. B. die Herolde), dann die Wahrsager (ihr Dienst besteht darin, den Menschen von den Göttern her zu dolmetschen), schließlich die Priester (die sich darauf verstehen, mit Opfern und Gebeten zwischen Menschen und Göttern zu vermitteln). Die Abtrennung der übrigen Ursachen im Staat vom Staatsmann selbst ist damit noch nicht abgeschlossen. Doch erfährt die Durchführung dieser Dihairesis jetzt eine lange Unterbrechung. Das hat kompositorische Gründe. Für die begonnene Dihairesis selbst zeigt es an, daß diejenigen, die in ihr jetzt noch vom Staatsmann abzutrennen sind, diesem ihren Aufgaben, ihrer Verantwortung und ihrem Rang nach weit näher stehen als alle übrigen. Ihm näher stehend, sind sie zugleich schwerer von ihm zu unterscheiden. (Sie fällen selbst für den Staat bedeutsame Entscheidungen oder führen sie, das Volk beeinflussend, herbei; so könnte es scheinen, daß sie ein selbstanordnendes Wissen von der Art des staatsmännischen vollziehen.) Und: Ihre Abgrenzung vom Staatsmann zeigt (im Gegensatz zu der der vorigen Arten) nicht nur, wer der Staatsmann nicht ist, sie läßt zugleich positiv Aufgaben des Staatsmannes erblicken. Während der bisherige Ertrag der Dihairesis für die positive Bestimmung des Staatsmannes sich darauf beschränkt, daß der Staatsmann als Ursache (nicht Mitursache) und als herrschende (nicht dienende) Ursache gesetzt worden ist, beginnt sich jetzt etwas von dem zu zeigen, was er als herrschende Ursache zu vollbringen hat. Es sind noch drei Arten von der Staatskunst abzutrennen: die Strategik, die Rechtspflege und eine bestimmte Redekunst, die nämlich, die sich in den Dienst der (wahren) Staatskunst stellt, indem sie durch Überreden das (wahrhaft) Gerechte durchzusetzen hilft11. Durch ein Beispiel begegnet Platon der Schwierigkeit der nun zu vollziehenden Abtrennung. Es gibt ein Erlernen des Musizierens wie auch aller anderen Künste, bei denen es auf die Geschicklichkeit der Hände ankommt. Davon verschieden ist ein Wissen, das es zu tun hat mit der Frage, ob wir eine von diesen Künsten erlernen sollen oder nicht, bzw. welche wir erlernen sollen, welche nicht. Das Verhältnis dieses Wissens zu jenen Künsten ist das des Herrschens. Das Wissen herrscht über jene Künste, indem es sie beaufsichtigt, lenkt ( ). Von dieser Art ist auch 11
Diese Charakterisierung der im Blick stehenden Redekunst schon sofort bei ihrer ersten Nennung war für Platon unerläßlich wegen seiner im übrigen so heftigen Kritik an der Rhetorik. Zu dieser Kritik vgl. Fleischer2, besonders S. 176 ff.
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das Verhältnis der Staatskunst zur Redekunst. Die Redekunst ist die Kunst der Überredung. Der Staatskunst obliegt das Wissen und die Entscheidung darüber, ob im einzelnen Fall die Redekunst angewendet werden soll oder nicht. So herrscht die Staatskunst, sie beaufsichtigend und lenkend, über die Redekunst, und diese dient der Staatskunst. Als dienende Ursache ist die Redekunst von der Staatskunst abgeteilt. Ein entsprechendes Verhältnis liegt bei Strategik und Staatskunst vor. Die Strategik ist die Kunst, die weiß, w i e mit dem jeweiligen Gegner, mit dem Krieg zu führen man sich entschlossen hat, der Krieg zu führen ist. Das Wissen und die Entscheidung aber, o b man mit einem Staat Krieg führen soll oder nicht, sind Sache der Staatskunst. Diese herrscht über jene; jene ist von dieser getrennt als dienende Ursache von der herrschenden. Und wie steht es bei der Rechtspflege? Aufgabe der Richter ist es, mit unbestechlichem Urteil Recht zu sprechen gemäß den bestehenden Gesetzen. Sie geben diese Gesetze aber nicht selbst, sie wachen nur über sie. Die Gesetzgebung vollzieht der Staatsmann. So unterstehen die Richter als dienende Ursachen dem Staatsmann, der sich auch hier wieder als herrschende Ursache erweist. Der Staatsmann ist die e i n z i g e herrschende Ursache im Staat. Selbst diejenigen, die ihm in der Sorge um den Staat am nächsten stehen, deren Verantwortung besonders groß ist und die besonderes Ansehen genießen, gehören alle in die Gattung der dienenden Ursachen. Vom Staatsmann als der herrschenden Ursache hat sich im letzten Teil der Dihairesis gezeigt: Im einzelnen Fall weiß und entscheidet er darüber, ob die Redekunst beim Volk durch Überredung das Gerechte durchsetzen soll oder ob ein anderer Weg zu gehen ist. Er weiß und entscheidet im einzelnen Fall, ob oder ob nicht Krieg zu führen ist. In beiden Verhältnissen bewährt und konkretisiert sich die frühere Bestimmung, daß der Staatsmann ein selbstanordnendes Wissen vollzieht, das ein Messen in bezug auf das Angemessene ist (vgl. auch 305d2—4). In der Abhebung vom Richter zeigt sich der Staatsmann als Gesetzgeber. Diese positive Bestimmung ist in Wahrheit die letzte Aufgabenstellung. Der Staatsmann ist als Gesetzgeber allererst zu denken gegeben. Und er ist jetzt an sich und im Blick auf ihn allein zu bestimmen (vgl. 304a3 f.). Das heißt zugleich: Die Dihairesis ist zu Ende, und doch steht die Hauptaufgabe der Wesensbestimmung noch bevor; sie ist nicht mehr dihairetisch zu lösen. Was der Untersuchung nun aufgegeben ist, ist frei-
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lieh so gut vorbereitet, da sie in kurzer Durchf hrung ins Ziel gebracht werden kann. Klar ist, da die Gesetzgebung selbstanordnendes Wissen ist. Aber ist sie auch Me kunst, die in bezug auf das Angemessene mi t? Der Staatsmann ist als Gesetzgeber zu denken. Dabei hat das Denken den Staatsmann selbst, an sich und allein, vor sich zu bringen. Das bedeutet auch: Ein Seitenblick auf die Richter k nnte nicht weiterhelfen. Es geht jetzt um nichts Geringeres als um das Entstehenlassen des Staates, soweit es der einzigen herrschenden Ursache des Staates obliegt, also um das Entstehenlassen des Staates im engeren und strengsten Sinn (305e—311c). Die berlegung scheint sehr weit auszuholen. Tats chlich aber ist sie von Anfang an ganz bei ihrem Thema und schreitet z gig fort. Der Fremde stellt eine Behauptung auf, die dem gew hnlichen Meinen zuwiderl uft und daher auch von denen, die gerne ber Reden streiten, leicht angegriffen werden kann. Es ist die Behauptung, da ein Teil der Trefflichkeit (αρετή) mit einem anderen Teil der Trefflichkeit entzweit sein kann. Mit Teilen der Trefflichkeit sind hier einzelne Trefflichkeiten gemeint. Die Behauptung wird einleuchtend und zwingend gemacht, indem die beiden Teile der Trefflichkeit herausgegriffen werden, die f r die h chste Aufgabe des Staatsmannes von besonderer Wichtigkeit sind. Das sind Tapferkeit (ανδρεία) und Besonnenheit (σωφροσύνη). ,Tapferkeit* und ,Besonnenheit' werden hier freilich so weit gefa t, da in ihnen zwei (einander entgegengesetzte) Grundweisen des Handelns und Sichverhaltens berhaupt vorgestellt sind. Tapferkeit ist Sch rfe und Schnelligkeit des Leibes, in der Seele und in der Bewegung der Stimme (306clOf.); etwas sp ter wird der Sch rfe und Schnelligkeit noch das Energische (σφοδρότης) hinzugef gt, und an Stelle der Seele wird das Denken (διανόησις) genannt (306e4 f.). Besonnenheit zeigt als vorherrschenden Anblick den des ruhigen Werdens (307al). Sie ist das ruhige Vorgehen des Denkens, das Langsame und Nachgiebige der Handlungen, das Sanfte und Tiefe der Stimme, das Harmonische der Bewegung (307a7—10). Behauptet ist, da zwischen Tapferkeit und Besonnenheit oft genug Feindschaft besteht. Das widerspricht dem gew hnlichen Meinen, f r das alle Teile der Trefflichkeit untereinander befreundet sind. Loben wir denn nicht alles Verhalten, das wir tapfer nennen, sobald wir es so nennen, und ebenso alles Verhalten, das wir besonnen nennen? Wir loben aber Gutes, und wie k nnte Gutes anders als freundschaftlich zueinander stehen?
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Sind aber Sdiärfe, Schnelligkeit, kraftvolle Energie wirklich jederzeit zu loben? Und sind Ruhe, Langsamkeit, Nachgiebigkeit, Sanftheit und Gemessenheit wirklich jederzeit lobenswert? Die Fragen müssen verneint werden. Was schärfer, schneller, härter als das Angemessene ( ) geschieht, wird nicht als tapfer gelobt, sondern vielmehr getadelt als übermütig und rasend. Entsprechend wird das, was langsamer und nachgiebiger als angemessen geschieht, als feige und träge getadelt. Es zeigt sich ein seltsames Verhältnis bezüglich der beiden entgegengesetzten Trefflichkeiten: Was über das Angemessene der Tapferkeit in Richtung auf das Zuviel hinausgeht, i s t ein Zuwenig an Besonnenheit. Und was über das Angemessene der Besonnenheit in Richtung auf das Zuviel hinausgeht, i s t ein Zuwenig an Tapferkeit. Was über die eine Trefflichkeit ins Zuviel hinauszielt, ist das Zuwenig der anderen und muß deshalb mit ihr in Streit liegen. Wer schärfer, schneller, härter denkt und handelt als der Tapfere, macht sich durch seine Unbesonnenheit den Besonnenen zum Feind. Wer langsamer und nachgiebiger als der Besonnene denkt und handelt, muß sich den Tapferen zum Gegner machen. Erst recht entsteht natürlich Feindschaft immer dann, wenn beide, ,Besonnene* und , Tapfere', zugleich zu ihrem Extrem hinneigen. Wo aber solche Feindschaft aufkommt, werden gemeinsame Handlungen unmöglich. Bei den Tapferen handelt es sich bis jetzt um Menschen von tapferer Natur ( ), um tapfere Naturen, und bei den Besonnenen um Menschen von besonnener Natur, um besonnene Naturen. Das Natürliche ist hier ein beständiges Hinneigen zu der einen oder der anderen der beiden entgegengesetzten Handlungs- und Verhaltensweisen. Die tapfere Natur neigt immer und in allen Situationen zu Schärfe, Schnelligkeit, Härte — sie geht daher sehr oft über das Tapfere hinaus ins Zuviel — immer dann nämlich, wenn besonnenes Handeln und Verhalten angemessen wäre. Und Entsprechendes gilt für die besonnene Natur. In der Natur der Tapferen und der Besonnenen liegt es, daß sie immer wieder in Streit geraten müssen, ja gar sich dauerhaft verfeinden. Ihre Natur ist im Grunde gut (was sich durch die Erörterung darüber, was mit den schlechten Naturen geschehen soll, noch eindeutig bestätigen wird) — und dennoch erzeugt sie Zwietracht, macht sie den Staat krank! Ja, gesetzt selbst, es gäbe in einem Staat nur besonnene oder nur tapfere Naturen, so würden auch diese noch den Staat zugrunde richten — zwar nicht durch innere Zwietracht, wohl aber durch ihr Verhalten gegenüber anderen Staaten. Die besonnenen Naturen, ganz sich selbst überlassen
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und in ihrer Neigung ungest rt durch die entgegengesetzten Naturen, w rden immer unkriegerischer und schlie lich ganz unf hig, sich zu verteidigen, so da sie, indem ein anderer Staat den ihren eroberte, ihre Freiheit verl ren. Entsprechend w rden die tapferen Naturen, in ihrer Neigung durch niemanden gehemmt, ihren Staat st ndig zu Kriegen mit anderen Staaten bestimmen, sich also nur Gegner schaffen, dabei auch die Macht einzelner Gegner oder die Verb ndung vieler nicht scheuend, so da auch sie schlie lich die v llige Vernichtung ihres Staates herbeigef hrt haben d rften. Das alles bedeutet: In den besonnenen und tapferen Naturen wirkt das Grenzenlose, das der Mythos zu verstehen gab. Es wirkt hin auf Vernichtung des Staates sogar in den und durch die im Grunde guten Naturen. Es erzeugt die Zwietracht der besonnenen und tapferen Naturen untereinander, wenn sie in einem Staatswesen zusammenleben. Es erzeugt die Zwietracht mit anderen Staaten, wenn nur tapfere Naturen den Staat bilden. Und es setzt Staaten, die nur aus besonnenen Naturen bestehen, dem Untergang durch fremde Eroberung aus. Wie kann dann aber je ein Staat bestehen? Diese Frage, radikaler gefragt, besagt: Wie kann berhaupt ein Staat entstehen? Das anf ngliche Entstehenlassen des Staates ist die vorz glichste Aufgabe des Staatsmannes. Jetzt zeigt sich: Im Vollzug dieser seiner Aufgabe mu der Staatsmann den Staat dem Grenzenlosen abgewinnen, das in den Menschen, die B rger des Staates sein sollen, wirksam ist. Der Staat ist das Werk des Staatsmannes — ein Werk, das durch ein Zusammenf gen entsteht. Keine der K nste, die auf diese Weise ein Werk entstehen lassen, nimmt dazu freiwillig Schlechtes und Gutes, jede schlie t soweit wie m glich das Schlechte aus. Das gilt also auch von der Staatskunst. Sie schlie t die hoffnungslos schlechten Naturen vom Staat aus. Sie pr ft die Menschen schon im Kindesalter, beim Spiel. Nach der Pr fung bergibt sie sie Erziehern. Diesen steht sie selbst vor. Sie leitet die Erzieher so, da diese ihre Aufgabe ganz zum Nutzen ihres eigenen, der Staatskunst, Werk durchf hren. Die Aufgabe der Erzieher besteht darin, in den ihnen anvertrauten Menschen eine Sinnesart (ήθος) hervorzubringen, die f r die vom Staatsmann zu vollbringende Mischung passend ist. Es handelt sich um eine auf Trefflichkeit gerichtete Sinnesart — um die tapfere und die besonnene, aber auch um andere, nicht n her bezeichnete. Zu solcher Sinnesart k nnen die Erzieher nicht bringen die „durch die Gewalt einer schlechten Natur in Gottlosigkeit, Z gellosigkeit und Ungerechtigkeit Gesto enen" (είς άθεότητα και ΰβριν και άδικίαν υπό κακής βία φύσεως άπωθουμένονς — 308elO—309a2). Diese mu der
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Staatsmann durch Todesstrafe, Verbannung oder Aberkennung der B rgerrechte aussto en. Diejenigen andererseits, die durch Unverstand und Bedeutungslosigkeit (ταπεινότης) charakterisiert sind, werden von ihm in den Sklavenstand unterjocht. Die H rte dieser Ma nahmen d rfte zumindest den heutigen Leser erschrecken. brig bleiben die Tapferen und Besonnenen. Aus ihnen mischt der Staatsmann den Staat. Aus ihnen, die sich wie Kette und Schu voneinander unterscheiden, webt er das Gewebe des Staates (das Beispiel der Weberei wird hier wie an anderen Stellen dieser die vorz glichste Aufgabe des Staatsmannes bestimmenden berlegung herangezogen). Ein Staat, in dem es nicht Tapfere u n d Besonnene gibt, kommt gar nicht in Betracht. Der Wesensart der einen bedarf der Staat so sehr wie der der anderen. Wiewohl die tapferen Naturen und die besonnenen Naturen, sich selbst berlassen, unausweichlich miteinander in Streit gerieten und den Staat unm glich machen w rden, kommt es doch gerade nicht darauf an, ihre Verschiedenheit auszul schen, sondern eben, so schwierig das auch sein mag, sie zu dauerhafter Eintracht zu vereinigen. Diese Vereinigung ist das Werk des Staatsmannes, f r das er sich die Zu-vereinigenden von den durch ihn selbst geleiteten Erziehern vorbereiten l t. Klar ist ja, da sich die tapferen und besonnenen Naturen als solche und unverwandelt nicht vereinigen lie en. Die Sinnesart (ήθος), die die Erzieher in den Tapferen einerseits, den Besonnenen andererseits hervorbringen, ist nichts anderes, als die Bereitschaft, sich binden zu lassen. Sie ist die zu dieser Bereitschaft verwandelte (tapfere oder besonnene) Natur. Die zur Bereitschaft, sich binden zu lassen, verwandelten Naturen der Tapferen und Besonnenen bindet der Staatsmann durch zweierlei B nder. Zuerst bindet er den ewigen Teil ihrer Seelen durch ein g ttliches Band, danach bindet er das Lebewesenhafte (το ζφογενές) in ihnen durch menschliche B nder. Mit dieser zweifachen Bindung entspricht er dem Menschengeschlecht als einem d monischen Geschlecht. Den ewigen Teil der Seelen durch ein g ttliches Band binden, das hei t, den Seelen „die wahrhaft seiende, wahre Ansicht ber das Sch ne, Gerechte und Gute und deren Gegenteil" (Την των καλών και δικαίων περί και αγαθών και των τούτοις εναντίων όντως ουσαν αληθή δόξαν — 309c5 f.) einpflanzen, und zwar so, da sie ihnen auf Dauer einwohnt (vgl. 309c6 f.: μετά βεβαιώσεως). Genau das tut der Staatsmann als Gesetzgeber. Er spricht jene wahrhaft seiende, wahre Ansicht in den Gesetzen aus, denen er zugleich bindende Kraft gibt. Sind die
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Besonnenen und Tapferen mit dem ewigen Teil ihrer Seele an die Gesetze gebunden, so sind sie ebendadurch auch aneinander gebunden. Sind ihren Seelen die Gesetze eingepflanzt, so ist das Grenzenlose ihrer ursprünglichen Natur begrenzt worden. Sie sind wahrhaft Besonnene und wahrhaft Tapfere geworden. Sie sind zugleich fähig geworden, einander anzuerkennen und gemeinsam zum Wohl aller zusammenzuwirken, dem besonnenen Handeln den Vorrang gebend, wann immer solches Handeln angemessen ist, und ebenso beim tapferen Handeln. Allerdings muß nach Platons Auffassung die Bindung durch menschliche Bänder hinzukommen, wenn die Verbindung der Bürger zu dem Gewebe des guten Staates Bestand haben soll. Sie ist die höchst befremdliche Bindung durch Ehegesetze. Hier geht es um die Kindererzeugung. Wenn sich über Generationen hin immer wieder Besonnene mit Besonnenen zur Ehe verbinden, wird die besonnene Natur in den Kindern schließlich so mächtig, daß die Bindung an das göttliche Band unmöglich wird. Und entsprechend verhält es sich bei den Tapferen. Deshalb hat der Staatsmann durch Gesetze dafür zu sorgen, daß Besonnene und Tapfere miteinander die Ehe eingehen. Deutlich wird hier, wie real Platon die ständig fortbestehende Bedrohung des Staates durch das Grenzenlose in der Natur der Bürger sieht. Das Grenzenlose als Herkunft des Menschen und des Staates ist nicht als Gegenstand eines wirklichkeitsfernen Denkens präsent, sondern als greifbare wirkliche Gefahr. Deshalb ist das Entstehenlassen des Staates auch nicht ein einmaliger Akt, der mit der Fixierung jener Gesetze, die das göttliche Band und die menschlichen Bänder ausmachen, abgeschlossen wäre12. Es setzt sich vielmehr im tätigen Bewahren des Staates fort, das nicht zuletzt auch deshalb unerläßlich ist, weil sich die staatliche Gemeinschaft durch Geburten und Tod ständig erneuert. 12
Platon hat in dem hier bisher übergangenen Textstück 293e—297b ausführlich die Nachteile fixierter Gesetze erörtert, sie dennoch für nötig erachtet, zugleich aber dem guten Staatsmann das Recht eingeräumt, Gesetze wieder zu ändern, bestehende schlechtere Gesetze durch bessere zu ersetzen und überhaupt seine eigene Einsicht höher zu stellen als geschriebenes Recht. Die Nachteile fixierter Gesetze liegen darin, daß sie zufolge ihres Allgemeinheitscharakters weder der Verschiedenheit der Bürger noch den wechselnden Situationen gebührend Rechnung zu tragen vermögen. Diese Erörterung hat durchaus Gesetze über das Schöne, Gerechte und Gute und über deren Gegenteil im Blick (siehe 295e4 f.), aber als höchst konkrete, die Besonderheiten der jeweiligen staatlichen Gemeinschaft und ihrer Lebensbedingungen berücksichtigende. Gewisse .Grundgesetze' über das Schöne, Gerechte und Gute und deren Gegenteil stehen außerhalb dieser Diskussion — eben als die w a h r h a f t s e i e n d e , w a h r e Ansicht, die es in den Bürgern zu b e f e s t i g e n gilt. Entsprechendes ist auch von dem Grundsätzlichen der Ehegesetze zu sagen.
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Der Staatsmann als Gesetzgeber vollzieht ein selbstanordnendes Wissen. Gefragt wurde, ob ihm damit zugleich ein Messen in bezug auf das Angemessene obliegt. Die Frage ist unausdrücklich inzwischen schon beantwortet. Das Entstehenlassen des Staates ist Meßkunst, die in bezug auf das Angemessene mißt. Es bringt den Staat als ein Werk hervor, das als ein Angemessenes dem Grenzenlosen abgewonnen wird. Es läßt eine Mischung entstehen, in der das Zuviel und das Zuwenig gleichermaßen gemieden sind. Die Verbindung von Besonnenheit und Tapferkeit wird zum Schluß des Dialogs auf die Herrschenden zurückgewendet. Überall, wo nur einer herrscht, ist jemand zum Herrscher zu wählen, der beide, Besonnenheit und Tapferkeit, in sich vereinigt. (Daß Platon die Vereinigung dieser Gegensätze in e i n e r Person als möglich angesehen hat, wird an dieser Stelle klar, doch wird er sie als ein herausragendes Maß an Trefflichkeit für selten gehalten haben.) Wo mehrere herrschen, kommt es darauf an, besonnene und tapfere Herrscher zu mischen. Am Ende des Dialogs hat Platon alles gesagt, was zur Wesensbestimmung des Staatsmannes zu sagen war. Er hat mehr gesagt, als was sich am Dialogende unmittelbar als Ergebnis präsentiert, mehr über den Bürger, mehr über den Staatsmann, mehr über den Staat. Es ist ein Überhang da, auf den das Denken zurückblicken soll. Der Mensch als dämonisches Wesen, mit der zweifachen Herkunft vom Göttlichen und aus dem Grenzenlosen, ist ein politisches Wesen. Nur als politisches Wesen vermag er in der Welt zu leben. Politisches Wesen ist er in den zwei Gestalten: als Bürger und als Staatsmann. Der Bürger hat sich am Ende des Dialogs unter dem Gesichtspunkt der Trefflichkeit ( ) gezeigt. In einem guten Staat eignet dem Bürger wahre Trefflichkeit — wahre Besonnenheit oder wahre Tapferkeit (in dem weiten Sinn, der für diese Trefflichkeiten festgelegt wurde). Die Bürger sind gebunden an die Gesetze und damit an die „wahrhaft seiende, wahre Ansicht über das Schöne, Gerechte und Gute und deren Gegenteil". Dieser Bindung gemäß handelnd, verwirklichen sie die Verwandtschaft des ewigen Teils ihrer Seele mit dem Göttlichen. Ursache dieser Bindung ist aber der Staatsmann, der die Gesetze gibt, ihnen bindende Kraft verleiht und dafür sorgt, daß die Mitglieder des Staates durch Erziehung zur Bindung an die Gesetze bereitgemacht werden. Nicht nur ist er selbst wie die Bürger trefflich, er übertrifft die Bürger als Ursache ihrer Trefflichkeit. Im Staatsmann vollendet sich der Mensch als politisches Wesen. Als Gesetzgeber ist der Staatsmann aber zugleich Philo-
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soph. Er könnte die „wahrhaft seiende, wahre Ansicht über das Schöne, Gerechte und Gute und deren Gegenteil" nicht in Gesetzen aussprechen, wenn er des Schönen, Gerechten und Guten in seiner Wahrheit nicht ansichtig geworden wäre. Das Schöne, Gerechte und Gute zeigt sich in seiner Wahrheit nur philosophischem Denken. Der Staatsmann ist „der weise und gute Mann" ( — 296e3). Der Mythos hat den Menschen als ein Wesen gezeigt, das, um überhaupt zu überleben, für sich sorgen muß und das dank seiner göttlichen Herkunft für sich sorgen kann. Dies Sorgen ist höchst mannigfaltig und wird von den Bürgern vollzogen. Die Dihairesis, die vom Staatsmann alle Mitursachen und dienenden Ursachen im Staat abtrennte, hatte nicht nur den Zweck, schließlich den Staatsmann als die einzige herrschende Ursache deutlich zu fassen. Dazu hätte es der weitläufigen Aufzählung der Mitursachen und dienenden Ursachen nicht bedurft, wie es ja auch gerade zum Verfahren der Dihairesis als Wesensbestimmung gehört, die abzutrennenden Arten uneingeteilt liegenzulassen. Die Aufzählung der Mitursachen und dienenden Ursachen läßt die Vielfalt der Aufgaben sehen, die von den Bürgern in ihrer Sorge für die Gemeinschaft arbeitsteilig übernommen werden. Aber auch hier wieder übertrifft der Staatsmann die Bürger. Sein Sorgen ist das anfängliche Entstehenlassen und Bewahren des Staates, durch das alles Besorgen (Entstehenlassen und Bewahren), das die Bürger (als dienende Ursachen und Mitursachen) vollziehen, erst möglich ist. Er ist insofern die Ursache des Besorgenkönnens. Er ist herrschende Ursache, erste Ursache, Ursache im eigentlichsten Sinn. Auch jetzt zeigt sich wieder, daß sich im Staatsmann der Mensch als politisches Wesen vollendet. Diese Vollendung kann noch näher bestimmt werden. Zwar verwirklichen alle Bürger in ihrer Trefflichkeit sowohl als im Vollbringen der Aufgabe, die sie im Sorgen für die Gemeinschaft übernommen haben, die Herkunft des Menschen vom Göttlichen. Aber gerade darin werden sie vom Staatsmann übertroffen. Der Staatsmann vollbringt für den Staat, was Gott für die Welt tut. Wiewohl der Mythos darauf verzichtete, von der Staatsgründung und vom Staatsmann zu erzählen, ist er doch für das Denken, das den Staatsmann denkt, ein Beispiel, ein Muster ( — siehe 277b3—5). Das Wesen des Staatsmannes ist so lange noch nicht zureichend gedacht, als es nicht aus der Analogie zum göttlichen Bildner der Welt verstanden ist. Gott gewinnt die Welt dem Grenzenlosen ab. Der Staatsmann gewinnt den Staat dem Grenzen-
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losen ab13. Gott sorgt niemals so für die Welt, daß diese aller Sorge für sich selbst enthoben wäre. Er läßt sie aber auch niemals gänzlich los, so daß das Grenzenlose in ihr immer mehr Macht gewinnen könnte, bis sie schließlich auf ihren Untergang zuginge. Gott sorgt vielmehr als herrschende Ursache der Welt auf die Weise und bis zu dem Grade für die Welt, daß sie, als Lebewesen, das Vernunft hat, für sich selbst sorgen und sich in guter Ordnung erhalten kann. Der Staatsmann sorgt als herrschende Ursache des Staates auf die Weise für die staatliche Gemeinschaft, daß diese, als eine Vereinigung von Lebewesen, die Vernunft haben, für sich selbst sorgen und sich in guter Ordnung erhalten kann. In seinem Tun ist der Staatsmann dem göttlichen Bildner der Welt ähnlich. Mehr als alle anderen Glieder des Staates verwirklicht er die Herkunft des Menschen vom Göttlichen14. Sein Wirken ist ein Gott Ähnlichwerden dank der Wirksamkeit des Göttlichen in ihm. — Früher, bei der Interpretation des Mythos, wurde gesagt: Der Mensch ist der Welt ähnlich; er ahmt die Welt nach, insofern diese, von ihrem Bildner dazu befähigt und freigelassen, für sich selbst sorgt und darin ihrer göttlichen Abkunft gemäß lebt. Das gilt auch jetzt noch, es bestimmt den Menschen als politisches Wesen. Inzwischen hat sich aber der Staatsmann als die Bürger übertreffend erwiesen. Er erhebt sich über die Ähnlichkeit der Bürger mit der Welt zur Ähnlichkeit (soweit möglich) zum göttlichen Bildner der Welt. Durch ihn wird es erst möglich, daß die Bürger des Gemeinwesens für sich selbst sorgen und darin ihre Herkunft vom Göttlichen verwirklichen — so wie es der Welt durch ihren göttlichen Bildner erst möglich wird, für sich zu sorgen und darin ihre Herkunft vom Göttlichen zu verwirklichen. Die Bürger leben der göttlichen Herkunft des Menschen gemäß, indem sie die Welt nachahmen. Der Staatsmann lebt der göttlichen Herkunft des Menschen gemäß, indem er Gott ähnlich wird, soweit das einem Menschen möglich ist. Das Wesen des Staatsmannes ist bestimmt. Ein Staatsmann, der dieses Wesen verwirklicht, ist ein guter, ein wahrer Staatsmann. In Gegenwart und Vergangenheit erblickt Platon indessen keinen Staatsmann, der dem aus dem Wesen des Staatsmannes an ihn ergehenden Anspruch wirklich erfüllt. Alle wirklichen Staatsmänner der Gegenwart und Vergangenheit bleiben weiter oder weniger weit hinter dem wahren Staats18
Man beachte in diesem Zusammenhang, daß das göttliche Band, mit dem der Staatsmann bindet, ein Heilmittel ( — 310a3) ist. 14 Vielleicht wird deshalb 309d2 f. von der Muse der königlichen Kunst gesprochen.
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mann zurück15. Das heißt freilich nicht, daß es diesen niemals geben kann, wiewohl es ein außerordentlicher Glücksfall wäre, wenn er zur Herrschaft käme18. Unter diesem Aspekt ist den Herrschenden das Ziel gesetzt, sich dem wahren Staatsmann (dem Wesen des Staatsmannes) soweit wie möglich anzunähern. Je näher ein Staatsmann dem wahren Staatsmann kommt, um so mehr gelingt auch ihm ein Gott Ähnlich werden. Das Gott Ähnlichwerden als Wesensvollendung des Menschen schließt damit die Möglichkeit seiner gradweisen Verwirklichung ein und verliert so den Zug des Übermenschlichen, den man sonst an ihm erblicken könnte. Die erklärte Aufgabe im Politikos ist es, das Wesen des Staatsmannes zu denken. Die Durchführung bringt ans Licht, was bei der Aufgabenstellung zunächst noch nicht zu sehen war: Der Mensch ist ein politisches Wesen. Nur als politisches Wesen kann der Mensch existieren. Das Menschengeschlecht ist ein dämonisches Geschlecht. Herstammend aus dem Grenzenlosen, bleibt es durch dieses vom Untergang bedroht. Herstammend vom Göttlichen, vermag es, dieser Bedrohung Herr zu werden durch die Bildung staatlicher Gemeinschaften. Den Bürgern und dem Staatsmann kommen dabei verschiedene Aufgaben zu. Als erste und eigentliche Ursache des Staates läßt der Staatsmann den Staat anfänglich entstehen und bewahrt er ihn auf entsprechende Weise. Damit ermöglicht er, daß die Bürger, als wahrhaft Tapfere und wahrhaft Besonnene der je eigenen Aufgabe nachgehend, gemeinschaftlich und in Eintracht für ihr Wohl sorgen können. So verwirklichen sie ihre Herkunft vom Göttlichen. Im Verwirklichen der göttlichen Herkunft werden sie vom Staatsmann übertroffen. Im Staatsmann vollendet sich der Mensch als politisches Wesen. Der Staatsmann vollzieht ein Gott Ähnlichwerden. Er vollbringt für den Staat, was Gott für die Welt tut. Das gilt, solange man auf das Wesen des Staatsmannes und damit auf den wahren und guten Staatsmann hinblickt. In der Hinsicht auf die wirklichen Herrschenden und auf die Schwierigkeit, ob bei den politischen Realitäten ein wahrer Staatsmann überhaupt zur Herrschaft gelangen 15
Vgl. die schon einmal beigezogene Stelle 275c, ferner 291 a—293e. Im Politikos überschneiden sich zwei Perspektiven, die einander aber nicht ausschließen. Im Blick auf die politischen Realitäten ist es wenig wahrscheinlich, daß ein wahrer Staatsmann zur Herrschaft gelangt. In der Perspektive der Wesensbestimmung dagegen ist der wahre Staatsmann gerade als vom Menschen zu verwirklichende Möglichkeit zu denken. Deshalb bleibt er auch angesichts der politischen Realitäten eine Hoffnung. 18
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kann, wird der wahre Staatsmann zum Ziel der Annäherung. Am Gott Ähnlichwerden im staatsmännischen Wirken tritt damit die menschlichendliche Seite seiner gradweisen Verwirklichung hervor. Die Denkbewegung des Dialogs als solche soll im nächsten Kapitel noch deutlicher herausgehoben werden. Hier sei nur kurz daran erinnert, welche Bestimmungen des Staatsmannes, in schrittweiser Aufgabenstellung und Erfüllung der gestellten Aufgaben, herausgetreten sind. Der Staatsmann ist ein Wissender. Sein Wissen ist kein praktisches Wissen (das dadurch bestimmt ist, daß es in Handlungen darin und mit ihnen zusammengewachsen ist), sondern es ist nur erkennendes Wissen (das von Handlungen entblößt ist). Die Gattung des nur erkennenden Wissens hat die beiden Arten: (bloß) beurteilendes Wissen (,reine Theorie") einerseits, anordnendes Wissen andererseits. Das Wissen des Staatsmannes ist anordnendes Wissen. Und es ist selbstanordnendes Wissen im Gegensatz zu der anderen Art des anordnenden Wissens, das Anordnungen anderer weitergibt. Die Bestimmung, daß der Staatsmann ein Wissender ist, der ein selbstanordnendes Wissen vollzieht, ist aber noch viel zu weit. Mit ihr ist erst eine Aufgabe gestellt. In diese geht das Vorverständnis mit ein, daß der Staatsmann durch die Anordnungen, die er als Wissender gibt, für eine Gemeinschaft von Menschen sorgt. — Der Mensch ist das dämonische Wesen, das in seinem Sein dadurch bestimmt ist, für sein Sein sorgen zu müssen. Die Sorge des Staatsmannes für die menschliche Gemeinschaft ist Sorge für Menschen, die als Menschen immer schon in die Sorge um ihr eigenes Sein versetzt sind. Die Sorge des Staatsmannes muß in bezug auf die Sorge als Grundzug des menschlichen Daseins gedacht und zugleich in ihrer Eigentümlichkeit gegen alles andere Sorgen, das Menschen um ihres Gedeihens willen vollziehen, abgegrenzt werden. — Die Sorge des wahren Staatsmannes hat eine ethische Dimension. Die Aufgabe besteht darin, diese Dimension sichtbar werden zu lassen. — Der schrittweisen Aufgabenstellung folgt die schrittweise Bewältigung der Aufgabe. Der Staatsmann vollzieht eine Meßkunst, und zwar von der Art der Meßkunst, die in bezug auf das Angemessene mißt. Damit ist zugleich gesagt, daß die Sorge des Staatsmannes ein Entstehenlassen ist. Das Sorgen des Staatsmannes für Menschen, die als Menschen in die Sorge um ihr eigenes Sein gestellt sind, läßt ein Werk entstehen: den Staat. Das Entstehenlassen schließt die Sorge für das Bestehen des Entstandenen ein. — Der Staatsmann ist Ursache, nicht Mitursache des Staates. Und er ist herrschende, nicht dienende Ursache des Staates. Er ist die einzige herrschende Ursache des
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Staates, Ihm obliegt es, zu wissen und darüber zu entscheiden, ob im einzelnen Fall die Redner beim Volk durch Überredung das Gerechte durchsetzen sollen oder ob ein anderer Weg einzuschlagen ist. Seine Aufgabe ist es, zu wissen und darüber zu entscheiden, ob im einzelnen Fall Krieg zu führen oder der Krieg zu vermeiden ist. Und der Staatsmann ist Gesetzgeber. Er steht mit seinem selbstanordnenden Wissen, das in bezug auf das Angemessene mißt, den Rednern, Strategen und Richtern vor. — Die Gesetzgebung ist seine vorzüglichste Aufgabe. Die Gesetzgebung ist selbstanordnendes Wissen als Meßkunst, die in bezug auf das Angemessene mißt und den Staat anfänglich entstehen (und währen) läßt; sie läßt das Gemeinwesen entstehen, in dem Menschen, die zufolge ihrer Herkunft aus dem Grenzenlosen gerade auch durch ihre tapfere und besonnene Natur zur Zwietracht gedrängt werden, als wahrhaft Tapfere und wahrhaft Besonnene vereinigt sind und in dieser Vereinigung fähig sind, die Sorge für ihr Sein zu übernehmen. Die Sorge, die dem Staatsmann als Gesetzgeber obliegt, ist zunächst die Sorge dafür, daß die von Natur tapferen oder besonnenen Menschen durch Erziehung bereitgemacht werden, sich durch die Gesetze binden zu lassen. Der Staatsmann steht den Erziehern vor und sorgt dafür, daß diese die bezeichnete Aufgabe gut durchführen. Die durch Erziehung auf die Bindung durch Gesetze vorbereiteten Menschen bindet der Staatsmann einerseits durch ein göttliches, andererseits durch ein menschliches Band. Das göttliche Band ist „die wahrhaft seiende, wahre Ansicht über das Schöne, Gerechte und Gute und deren Gegenteil", die der Staatsmann in den Gesetzen ausspricht und in Gestalt der Gesetze den Seelen der Bürger dauerhaft einpflanzt. Die Bindung an die Gesetze bindet zugleich die Bürger aneinander. Als wahrhaft Tapfere und wahrhaft Besonnene anerkennen sie einander in ihrer Verschiedenheit und wirken sie gerade als Verschiedene zum Gedeihen ihres Staates zusammen. Das menschliche Band sind Ehegesetze, die die Verbindung der Tapferen mit den Besonnenen vorsehen, um zu verhindern, daß zufolge einer über Generationen fortwährenden Verbindung der Tapferen untereinander und der Besonnenen untereinander die tapfere oder die besonnene Natur in den einzelnen so stark wird, daß sie nicht mehr durch Erziehung zur Bindung an die Gesetze bereitgemacht werden kann. Durch die zweifache Bindung der Bürger läßt der Staatsmann den Staat entstehen als ein Angemessenes, das dem Grenzenlosen des Zuviel und Zuwenig abgewonnen wurde, als eine Mischung, die deshalb gut ist, weil sie weder Übermaß noch Mangel enthält. — Der Staatsmann, der in Gesetzen
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das Schöne, Gerechte und Gute und deren Gegenteil ausspricht, muß das, was er da ausspricht, gedacht haben. Gedacht haben kann er es nur als Philosoph. Insofern ist der Staatsmann zugleich Philosoph. Der Politikos denkt Themen weiter, um die es auch im Phaidros ging. Phaidros und Politikos verstehen die Welt als ein unsterbliches Lebewesen und gehen von der Welt her auf den Menschen zu. Der Phaidros interessierte sich allein für die Seele des unsterblichen Lebewesens Welt. Der Politikos akzentuiert das Körperhafte der Welt und seine Herkunft, das Grenzenlose. In seinem Mythos erscheint die Welt als dämonisch, als das Lebewesen, das seine Herkunft zugleich vom göttlichen Bildner der Welt und vom Grenzenlosen hat. Die Herkunft aus dem Grenzenlosen versetzt das Lebewesen Welt in das Sorgenmüssen für sein Bestehen. Die Herkunft vom göttlichen Bildner macht es fähig, für sich zu sorgen. Dazu gehört, daß die ihm einwohnende Vernunft sich an die göttliche Unterweisung erinnert. Diesem Lebewesen Welt ist der Mensch ähnlich — als dämonisches und deshalb politisches Wesen. Der Phaidros sah das Dämonische des Menschenwesens in der von jeher bestehenden Zwiefalt unserer Seelen, ohne die Herkunft des schlechten Seelenteiles weiter zu bedenken. Der Politikos führt das Widervernünftige und ins Maßlose Drängende im Menschen auf unsere Herkunft aus dem Grenzenlosen zurück, die wir mit der Welt gemeinsam haben. — Das Gott Ähnlichwerden, im Phaidros nicht im Anblick des Politischen erscheinend, wird im Politikos angesichts des dämonisch-politischen Wesens des Menschen als das Wirken des Staatsmannes gedacht; es erfordert jetzt, ein Werk — den Staat — zu vollbringen. Zu diesem Werk ist der Staatsmann aber nur als Philosoph fähig. Seine vornehmste Aufgabe, die Bindung der Bürger an die Gesetze, setzt voraus, daß er das Schöne, Gerechte und Gute gedacht hat. Platon erinnert häufiger offen oder versteckt in einem späteren Dialog an einen früheren. Im Politikos erinnert er nicht an den Phaidros. Sollte er wollen, daß der Leser über den Politikos das vergißt, was in Sokrates' zweiter Rede über Eros das Wichtigste war — eben Eros? Sicher nicht. Doch sind Politikos und Phaidros in bezug auf Eros in einer Hinsicht zwar leicht, in einer anderen Hinsicht aber schwer zu vereinigen. Nach dem Phaidros verdankt der Mensch Eros ein Doppeltes: die Wiedererinnerung an das einstmals geschaute Wahre und die als Gott Ähnlichwerden sich verwirklichende Wiedererinnerung an den Gott, dem die Seele einstmals folgte. (Auf der höchsten Stufe des Eros gehört im Phaidros freilich beides unlöslich zusammen: dem "Zeus ähnlich
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werden meint, philosophierend sich des wahrhaft Seienden erinnern.) Nun läßt sich vom Staatsmann, soweit er Philosoph ist, ohne Schwierigkeit sagen, daß Eros in ihm wirke als belebend die Kraft seiner Wiedererinnerung an das einstmals geschaute Schöne, Gerechte und Gute. Dagegen läßt sich die vom Phaidros bereitgestellte Möglichkeit kaum ergreifen, dem Staatsmann eine Eros verdankte Wiedererinnerung an Zeus und ein Eros verdanktes dem Zeus Ähnlichwerden zuzuschreiben. Denn der Mythos des Politikos trennt Gott als den Bildner und Vater der Welt von Welt und Weltseele, so daß nicht mehr zu sehen ist, wie menschliche Seelen aus der Teilhabe am ,Leben' dieses Gottes herstammen und dank Eros an sie sich erinnern könnten. D. h., die vom Politikos gedachte Herkunft des Menschen vom Göttlichen hat die Konkretion verloren, die das große Bild des Phaidros-M^i^os vor Augen führte und durch die das Gott Ähnlichwerden als Eros verständlich wurde. Vom Philebos her wird ein neues Licht auf diesen Fragenkomplex fallen. Der Politikos zeigt, daß es zum Wesen des Menschen gehört, politisch zu existieren. Und doch geht der Mensch nicht darin auf, politisches Wesen zu sein. Er ist auch und ebensosehr Individuum. Im Philebos denkt Platon den Menschen als Individuum unter der leitenden Hinsicht auf sein Glück.
11. Kapitel: Dihairetischer Logos und Mythos (Politikos) Dem Logos als einem Rechenschaft-geben begegnete diese Untersuchung im Phaidon. Logos als Rechenschaft-geben bedeutete dort: Vorweisen von Gründen dafür, daß etwas ist und daß es so ist, wie von ihm behauptet worden ist. (So war Sokrates im Phaidon gehalten, Gründe dafür beizubringen, daß die Seele nach dem Tod noch ist und daß sie dann noch als denkende ist.) D i e s e s Rechenschaft-geben findet seine strengste Gestalt im Beweis. Es gibt aber noch eine andere Art des Rechenschaft gebenden Logos bei Platon: die Dihairesis. Die Dihairesis gibt Rechenschaft darüber, was etwas ist1. Sie gibt Rechenschaft über das Wesen einer Sache. Dieses Wesen ist ihr als vor-verstandenes vorgegeben. Ohne ein solches Vorverständnis könnte nicht einmal der erste Schritt dieses Verfahrens vollzogen werden: das Aufsuchen der Gattung, von der das Einteilen auszugehen hat (die erste Zusammenführung — ). Und auch die Entscheidung, die bei jedem Einteilungsschritt erfordert ist, nämlich darüber, in welche Art das Zubestimmende zu setzen ist, welche Art also weiter einzuteilen ist und welche man liegen lassen soll, ist ohne das Vorverständnis nicht möglich. Die Dihairesis artikuliert das undeutlich schon verstandene Wesen einer Sache, und zwar so, daß mit ihrem Abschluß bezüglich des deutlich bestimmten Wesens nach allen vier wünschenswerten Hinsichten Rechenschaft gegeben ist — darüber nämlich 1. „daß e i n e Idee sich durch vieles, das eines vom anderen getrennt gesetzt ist, überallhin erstreckt"; 2. „daß viele voneinander verschiedene (Ideen) von e i n e r außen umfaßt sind"; vor allem aber 3. „daß wiederum eine durch alle vielen hin in eins zusammengeknüpft ist" und 4. „daß viele nach allen Seiten hin getrennt abgesondert sind" (vgl. S. 145). Das Verfahren der Dihairesis
1
Siehe im Politikos das Rechenschaft-fordern (285e2) und das Rechenschaft-geben und -entgegennehmen (286a4 f.) im Kontext 285d4 ff.
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steht in der Strenge2 des Rechenschaft-gebens dem beweisenden Logos kaum nach, von dem es freilich nach Aufgabe und Form gänzlich verschieden ist. Der Rechenschaft gebende Logos als Dihairesis gibt der späteren Dialektik Platons weithin das Gepräge. In der Bestimmung der Dialektik im Sophistes (253b8—e7) erscheint die Dialektik ganz im Licht dieses Verfahrens8 und seiner ontologischen Begründung. Indem der Politikos mit dem Sophistes eng verbunden wird (vgl. S. 148), wird er (jedenfalls zunächst einmal) auf diesen Boden gestellt. Wenn in ihm eine Dihairesis in die Aporie führt und ein Mythos die Untersuchung retten muß, so betrifft das die Dialektik nicht am Rande, sondern im Kern. Nun hat sich schon gezeigt, d a ß die Dihairesis, die ohne weitere Umschweife und völlig selbstverständlich in Angriff genommen wird, sobald die Aufgabe, das Wesen des Staatsmannes zu denken, gestellt ist, im Lächerlichen endet und aporetisch ist und daß, käme nicht Hilfe von der Seite des Mythos, das Unternehmen für gescheitert erklärt werden müßte. Zwar faßt der Anfang der Dihairesis Wahres über den Staatsmann: Daß der Staatsmann ein Wissender ist, der ein selbstanordnendes Wissen vollzieht, bleibt unumstößlich, sagt aber über sein Wesen noch viel zu wenig. Um hier weiterzukommen, wechselt die Dihairesis die Einteilungshinsicht. Sie tut damit etwas, was die Gesetze des Verfahrens zulassen. Und doch entzieht sich ihr von nun ab, zunächst kaum merklich, dann immer offensichtlicher, das Wesen, das sie bestimmen will. Sie selbst gerät aus den Fugen, indem an die Stelle der vom Verfahren geforderten Strenge Beliebigkeit tritt, so daß die Dihairesis schließlich sogar zwei Ergebnisse zur Auswahl anbietet, eines so lächerlich und unannehmbar wie das andere. In der Negativität des Entzugs tritt aber noch etwas Bemerkenswertes hervor: Das Wesen des Staatsmannes sollte bestimmt werden — entzogen hat sich aber nicht nur das Wesen des Staatsmannes, sondern auch und in demselben Vorgang das Wesen des Menschen, auf dessen Bestimmung man gar nicht aus war. Die Aporie gibt damit zu verstehen, daß man so lange das Wesen des Staatsmannes nicht zureichend wird denken können, als man das Wesen des Menschen nicht faßt. Hieße das, daß eine neue Dihairesis zu versuchen ist, die das 8
Man möge sidi nodi einmal vergegenwärtigen, was S. 139 ff. über die Gesetzlichkeiten des Verfahrens ausgeführt wurde. 8 Vgl. audi Phaidros 266b3—cl.
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Wesen des Menschen bestimmt? Doch von welcher Gattung sollte diese Dihairesis ausgehen, wenn nicht von der des Lebendigen? Eine Dihairesis des Lebendigen Hegt ja aber schon vor und war auch in bezug auf den Menschen aporetisch. Der Dialog versucht denn auch an dieser Stelle keine neue Dihairesis, sondern entspricht durch die Tat der Einsicht, daß das Verfahren der Dihairesis als solches an der Aufgabe, den Staatsmann zureichend zu bestimmen, gescheitert ist: Er schlägt von einem anderen Anfang aus einen anderen Weg ein (vgl. S. 152) — er erzählt den Mythos. Daß der Mythos aber nur ein Durchgang sein soll und daß man danach wieder das Verfahren der Dihairesis anwenden wird, wird vorweg erklärt. Der Mythos hat die Aufgabe, den dihairetischen Logos aus der Aporie zu befreien. Jedenfalls ist das an dieser Stelle seine vordringlichste Aufgabe. Das Scheitern des dihairetischen Logos rechtfertigt den Versuch, mit einem andersartigen Denken, eben dem Mythos (und seiner Auslegung), einen neuen Anfang zu machen. Der Mythos bringt aber dann sein eigenes Recht selbst erst voll ans Licht, indem er sehen läßt, daß und warum die voraufgegangene Dihairesis scheitern mußte. Diese Dihairesis verfehlte das Wesen des Staatsmannes, indem sie das Wesen des Menschen verfehlte. Der Mythos gibt den Menschen zu verstehen als ein Seiendes, das eine z w i e f a c h e Wesensherkunft hat, nämlich vom Göttlichen und aus dem Grenzenlosen. Und er gibt dementsprechend den Menschen als ein Seiendes zu verstehen, das lebt als ein Zwischen, als ein Mittleres zwischen den Extremen eines vollkommenen, göttlichen Lebens und dem unaufhaltsamen Zugehen auf den Untergang. Er zeigt den Menschen als eine Mischung. Ein Seiendes dieser Seinsverfassung kann von k e i n e r Dihairesis in seinem Wesen bestimmt werden. Der Mythos läßt das dämonische Wesen des Menschen sehen und gibt die Epimeleia, die Sorge für das eigene Sein, als Grundzug menschlichen Daseins zu erkennen. Er enthält sich, von Staatsgründung und Staat zu erzählen4. Er gibt die Aufgabe, den Staatsmann zu denken, an das dihairetische Denken zurück; er greift nicht auf die Aufgabe über, die das dihairetische Denken jetzt mit Aussicht auf Erfolg in Angriff nehmen kann.
4
Platon unterstreicht das 277b7 durch den Hinweis, der Mythos sei nicht zum Abschluß gebracht.
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Der dihairetische Logos geht mit dem Wissen vom Menschen, das der Mythos eröffnet hat, wieder an seine Aufgabe. Dabei muß er selbst einen neuen Anfang machen — er kann die frühere Dihairesis nicht korrigieren, er kann ihrem weiterhin gültigen Teil keine andere Fortsetzung geben. Das wird eingeschärft gerade durch die ironische Korrektur und Fortsetzung jener früheren Dihairesis im Anschluß an den Mythos. Im Beispiel der Wollweberei kehrt das Denken erst wirklich zur Dihairesis zurück, bringt sich der dihairetische Logos als strenges Verfahren des Denkens selbst wieder in Gang, gleichsam sich reinigend von seinen früheren Verstößen gegen seine Gesetzlichkeiten. Das Wissen des Staatsmannes erfährt eine erste weitere Bestimmung in der Dihairesis der Meßkunst. Die Einteilung der Meßkunst in zwei Arten wäre freilich auch ohne den Mythos möglich gewesen (wenngleich dann das Verständnis der Meßkunst, die in bezug auf das Angemessene mißt, vergleichsweise flach geblieben wäre — vgl. das S. 164 f. Gesagte, das das vom Mythos vorgewiesene Grenzenlose zum Hintergrund hat). Ohne das vom Mythos eröffnete Wissen über das Wesen des Menschen wäre aber nicht zu begreifen, was eine Dihairesis der Meßkunst überhaupt mit dem Staatsmann zu tun hat. Nicht einmal in der Vorläufigkeit, in der es an dieser Stelle noch geschieht, könnten Staatsmann und Meßkunst zusammengebracht werden. Auch die Dihairesis, die nach dem Muster der Dihairesis der Wollweberei (bzw. des zweiten Teils dieser Dihairesis) den Staatsmann von allen anderen Ursachen des Staates abtrennt, setzt das vom Mythos erbrachte Wissen über das Wesen des Menschen voraus. Nachdem der Mythos das Für-sich-sorgen-müssen als Grundzug menschlichen Daseins zu erkennen gegeben hat, können alle, die mit dem Staatsmann in der Sorge um den Menschen geeint sind, mit ihm in eine Gattung zusammengeführt werden und dann so von ihm unterschieden werden, daß jedem sein Recht wird. Der dihairetische Logos im Politikos führt mit drei Dihairesen an das Wesen des Staatsmannes heran: mit dem gültigen Anfang der ersten, aporetisch endenden Dihairesis, mit der Dihairesis der Meßkunst und mit der Dihairesis, die den Staatsmann als die einzige herrschende Ursache von allen dienenden Ursachen und allen Mitursachen des Staates absondert. Keine dieser drei Dihairesen kann mit einer der anderen zu e i n e r Dihairesis vereinigt werden (vgl. S. 165 f. und 166). Also ist von
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dem Denken, das das Wesen des Staatsmannes denken will, ein Zusammendenken gefordert, das selbst nicht mehr dihairetisch (synagogisch) sein kann. Für die erste und dritte Dihairesis macht sich das Zusammendenken gleichsam von selbst. Die Aufgaben des Staatsmannes, die sich am Ende der dritten Dihairesis zeigen (im Verhältnis des Staatsmannes zu den Rednern, Strategen und Richtern), konkretisieren die in der ersten Dihairesis gewonnene Bestimmung, daß das Wissen des Staatsmannes selbstanordnendes Wissen ist. Indessen bleibt die Aufgabe bestehen, das selbstanordnende Wissen des Staatsmannes, sofern es Gesetzgebung ist, mit der dem Staatsmann zugeschriebenen Meßkunst zusammenzudenken. Das geschieht am Schluß des Dialogs. Gerade auch auf dieser Strecke des Denkweges bewährt das vom Mythos eröffnete Wissen über das Wesen des Menschen seine erschließende Kraft. Es t r ä g t das Zusammendenken der beiden dihairetisch gewonnenen Wesensanblicke des Staatsmannes. Nachdem die gesetzgeberische Tätigkeit des Staatsmannes als Meßkunst, die in bezug auf das Angemessene mißt, deutlich gedacht worden ist, ist der Dialog zu Ende. Ist das Denken, das das Wesen des Staatsmannes denkt, damit schon ganz am Ziel? Es wurde im vorigen Kapitel schon gezeigt, daß das nicht der Fall ist, daß sich das Denken um einen weiteren Erkenntnisschritt bringen würde, wollte es sich nicht zurückwenden auf den Überhang, der über das am Ende des Dialogs erzielte Ergebnis hinaus da ist — da ist aus dem Mythos. Der Mythos hatte sich enthalten, vom Staat und vom Staatsmann zu erzählen, und nur den Hinweis gegeben, daß die Menschen der Kronos-Zeit keine Staaten kannten, ihrer nicht bedurften. Der Mythos nahm dem dihairetischen Logos nichts weg von der Aufgabe, die er selbst zu erfüllen vermag. Nachdem aber der dihairetische Logos mit seiner Sache zu Ende gekommen ist, beginnt der Mythos für ein aufmerksames Denken noch einmal zu sprechen — über den Staatsmann zu sprechen. Er läßt — als ein Beispiel, ein Muster — eine Analogie zwischen dem Staatsmann und Gott als dem Bildner der Welt erblicken. Er gibt zu verstehen, daß der Mensch, wenn er, als das politische Wesen, das er ist, sich im Staatsmann vollendet, ein Gott Ähnlichwerden vollzieht. Das Verfahren der Dihairesis stößt im Politikos an seine Grenze. Als Verfahren der Wesenserfassung definiert, kann es doch das Wesen des Menschen nicht fassen und vermag es deshalb auch nicht, ohne die
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Hilfe eines vom Rechenschaft gebenden Logos verschiedenen Denkens (des Mythos eben) zum Wesen des Staatsmannes vorzudringen. Da aber das Verfahren der Dihairesis zum beherrschenden Verfahren der Dialektik geworden ist, wäre die Grenze dieses Verfahrens auch die Grenze der Dialektik selbst, wenn diese nicht bereit wäre, ein andersartiges Denken in sich zuzulassen und sich damit zugleich selbst zu verwandeln. Im Politikos ist sie dazu bereit und verwandelt sie sich entsprechend. Sie nimmt nicht nur die Rettung der Untersuchung durch den Mythos als unmittelbare Überwindung der Aporie an und in sich auf, sondern stützt sich fortan durchgängig auf das vom Mythos eröffnete Wissen über den Menschen. Dadurch wird die Strenge des dihairetischen Verfahrens, wo immer und soweit es angewendet werden kann, nicht beeinträchtigt. Es findet keine Aufweichung des dihairetisch-dialektischen Denkens statt. Schließlich schreitet die Dialektik dann über das Verfahren der Dihairesis hinaus zu einem Zusammendenken der von Mythos und Dihairesen erbrachten Ergebnisse, das selbst weder dihairetisch noch mythisch ist. Die Dihairesis ist Rechenschaft gebendes Denken, sie ist Logos in diesem Sinn. Sie gibt Rechenschaft darüber, was etwas ist. Der Sophistes, an den der Politikos anknüpft, bestimmt die Dialektik ganz vom Vollzug dieses Verfahrens und seiner ontologischen Begründung her. Nun gerät zu Beginn des Politikos eine Dihairesis in die Aporie. Damit stößt das Verfahren als solches an seine Grenze. Die Dialektik müßte von der Aufgabe, die sie sich in diesem Dialog gestellt hat, ablassen, wollte sie nicht die Hilfe des Mythos in Anspruch nehmen, durch den allein die Aporie überwunden werden kann. Sie nimmt diese Hilfe an und nimmt also den Mythos in sich auf. — Der Mythos befreit den dihairetischen Logos aus der Aporie. Dabei bringt er zugleich das Unvermeidliche der Aporie deutlich ans Licht. Wiewohl die Aporie der Dihairesis als Faktum den Versuch rechtfertigte, von einem anderen Anfang aus einen anderen Weg einzuschlagen (vgl. S. 152), bringt der Mythos selbst sein eigenes Recht dadurch voll auf, daß er mit dem, was er eröffnet, zugleich sagt, daß und warum die Dihairesis fehlgehen mußte. — Der Mythos wird von vorneherein nur als Durchgang genommen. Das Denken soll so bald wie möglich zur Dihairesis zurückkehren. Deshalb erzählt der Mythos nichts von Staatsgründung und
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Staat. — Das dihairetische Denken setzt sich im Beispiel der Wollweberei selbst als strenges Verfahren wieder in Gang. Die weiteren Dihairesen, die der Bestimmung des Wesens des Staatsmannes dienen, nehmen, ohne daß der Strenge des Verfahrens dadurch Abbruch geschähe, das vom Mythos eröffnete Wissen über den Menschen in Anspruch. Das dihairetische Denken nimmt das vom Mythos Eröffnete in sich auf, ohne dadurch aufgeweicht zu werden. Es vereinigt sich mit dem dem Mythos verdankten Wissen, ohne sich selbst aufzugeben. Aufgeben müßte es sich vielmehr in bezug auf die gestellte Aufgabe, wenn es sich der Vereinigung widersetzen wollte. — Allerdings führen die Dihairesen an die volle Bestimmung des Staatsmannes nur heran. Sie können nämlich nicht zu einer Dihairesis verbunden werden, sondern stellen getrennte Ergebnisse bereit, die es zusammenzudenken gilt. Auch das Zusammendenken der dihairetisch gewonnenen Wesensanblicke des Staatsmannes stützt sich auf das vom Mythos eröffnete Wissen; es wird von diesem getragen. — Indem die Bestimmung des Staatsmannes durch dies Zusammendenken der Ergebnisse beendet ist (und das Gespräch zu Ende ist), ist sie doch für den mitdenkenden Leser noch nicht vollendet. Die erreichte Wesensbestimmung des Staatsmannes läßt den Mythos noch einmal sprechen. Sie läßt ihn sprechen über den Staatsmann, über den zu sprechen er sich zunächst doch gänzlich zu enthalten schien. Und jetzt sagt er etwas über den Staatsmann, was nur von mythischem Denken über ihn gesagt werden kann. Im Politikos verschränken sich dihairetischer Logos und Mythos in der einen Dialektik, die dank dieser Verschränkung die Wahrheit über den Menschen als politisches Wesen erkennen läßt. Im Politikos vereinigt sich das Rechenschaft gebende Denken in der Gestalt der Dihairesis mit dem auslegenden Verstehen des Mythos, so wie sich im Phaidon das Rechenschaft gebende Denken in der Gestalt des Beweises mit dem auslegenden Verstehen des Mythos vereinigte. Bei aller Verschiedenheit (nicht nur des dihairetischen und beweisenden Logos, sondern auch der Funktion und Stellung des Mythos in den Gedankengängen) beweist sich im Politikos erneut das Sich-fügen des strengen Denkens in seine Endlichkeit und seine Bereitschaft zur Verwandlung. Der Phaidros dachte die Philosophie als besonnenen Wahnsinn. Er ließ Besonnenheit auch im Wahnsinn des Mythos entdecken. Damit konnte schon der Wechsel von mythischer Rede im engeren Sinn und ,wissenschaftlicherc Beschreibung im Mythos des Phaidon in Verbindung gebracht werden. Der Mythos des Politikos fordert für die Besonnen-
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heit noch mehr Gewicht, als jene beiden Mythen ihr zukommen ließen. Er läßt das Denken nicht mehr beim Erzählten verweilen und in solchem Verweilen das ergreifen, was es zu verstehen gilt, sondern er verlangt eine Deutung — eine Deutung, die sich von der Erzählung zu entfernen hat. Erst in der (vom Leser zu leistenden) Deutung eröffnet hier das auslegende Verstehen, als das der Mythos zu begreifen ist, seine volle Wahrheit.
12. Kapitel: Das Gl ck des Individuums (Philebos*) Im Philebos findet man Sokrates in einem gr eren Kreis junger M nner. Zu Beginn des Dialogs ist das Gespr ch schon einige Zeit im Gange. Philebos und Sokrates haben einander entgegengesetzte Thesen aufgestellt. Philebos, der Sdi ne, ist erm det, und er hat soeben die Verteidigung seiner These an Protardios abgetreten. Es ist die These, das Gute sei die Lust. Philebos ist so sehr eins mit dieser These, da er die Anstrengung, die die Fortf hrung des Gespr chs von ihm fordern w rde, nicht auf sidi nehmen will. Eine Weile folgt er nodi der Unterredung, dann aber sdieint er davon abzulassen; jedenfalls l t er sich im sp teren Fortgang des Gespr dis nidit mehr vernehmen. F r den Leser, der ihn gleichwohl nidit vergi t, bleibt er pr sent als einer, der seine Position beharrlidi lebt und die Bereitsdiaft und Kraft, sidi aufgrund etwa gewonnener besserer Einsidit zu verwandeln, nidit aufbringt. Protardios bernimmt die Verteidigung der von Philebos vorgebrachten These, weil er sie f r wahr h lt. Im Gegensatz zu Philebos ist er aber bereit, die These im Durdispredien aufs Spiel zu setzen und sidi selbst durdi Erkenntnis verwandeln zu lassen. Mit dem so harmlosen Wechsel des Gespr chsparts von Philebos zu Protardios weist Platon kunstvoll vor auf einen zentralen Gedanken des Dialogs. Der Wechsel gibt Gelegenheit, These und Gegenthese nochmals auszusprechen — hiermit setzt der Dialog ein. Der Streit geht darum, was f r den Menschen das Gute ist2. Philebos hat behauptet und Protardios ist darin mit ihm einig, gut sei f r alle Lebewesen (πασι ζφοις — Ilb5) das Vergn gen, die Lust (ηδονή), der Genu und was sonst von dieser Gattung ist. Sokrates hat die Auffassung dagegengestellt, f r alle Wesen, die daran teilhaben k nnen (σύμπασιν οσαπερ αυτών δυνατά μεταλαβεΐν — Ilb9f.), seien das Einsehen (φρονεΐν), das Denken, das Sidierinnern und was diesen verwandt ist, wie richtige Meinung und wahre Erw gungen8, besser als die Lust und in h chstem Ma e zutr glich (ώφελιμώτατον). 1
Nicht interpretiert werden 14c—18d und 31b—55c. * Vgl. 19c6: τί των ανθρωπίνων κτημάτων άριστον. 8 Vgl. auch 19d4 f.
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In dieser Rekapitulation ist schon zu erkennen gegeben: Wer das für den Menschen Gute in der Lust erblickt, der unterscheidet den Menschen nicht von anderen Lebewesen, er stellt ihn mit allen Lebewesen zusammen und auf eine Stufe4. Es geht, wie gesagt, darum, herauszubringen, was für den Menschen das Gute ist. Ein anderer Name für dies Gute ist das Glück. So stimmen Sokrates und Protarchos denn darin überein, daß jeder von ihnen die Aufgabe hat, eine Verfassung der Seele aufzuzeigen, die allen Menschen das Leben glücklich zu machen vermag (Ild4—6) 5 . Daß das glückliche Leben ein Leben der Lust sei, meint Protarchos; daß es ein Leben der Einsicht sei, setzt Sokrates dagegen. Indessen führt Sokrates nun eine weitere Möglichkeit ein: Es könnte sein, daß das gesuchte Gute und also das Glück ein Drittes wäre. Man mag sich fragen, warum Sokrates, wenn er ein solches Drittes für denkbar hält, ja selbst diese Möglichkeit ins Gespräch bringt, überhaupt seine anderslautende These vertritt. Dafür kann es nur einen Grund geben: Das Dritte ist, wenn überhaupt, dann nur im Austrag des Streits von These und Antithese in ihrer aufgestellten Gestalt verbindlich vor das Denken zu bringen. Sokrates macht hier schon klar: Sollte sich ein Drittes zeigen, durch das Lust sowohl wie Einsicht übertroffen werden, dann wäre die Frage, ob die Lust oder die Einsicht das höhere Gute für den Menschen ist, damit nicht erledigt. Sie stünde vielmehr immer noch zur Entscheidung an und könnte entschieden werden gerade im Blick auf jenes Dritte: Wäre das Dritte der Lust verwandter als der Einsicht, dann hätte im Rangstreit die Lust über die Einsicht gesiegt, wäre das Dritte der Einsicht verwandter, so käme dieser der Sieg über die Lust zu. Der Widerstreit von These und Antithese ist auszutragen. Lust ( ) und Einsicht ( ) erheben jede für sich den Anspruch, das für den Menschen Gute und also sein Glück auszumachen. Mindestens eine von ihnen muß diesen Anspruch zu Unrecht erheben. Wie steht es mit dem Anspruch der Lust, und wie mit dem der Einsicht? Sokrates versucht, auf dem direktesten Weg den von Protarchos vertretenen Anspruch der Lust als unrechtmäßig zu erweisen. Er versucht, Protarchos das Zugeständnis abzugewinnen, daß es auch schlechte Lüste gibt. Protarchos begreift sehr wohl, daß die Lust nicht mehr als das Gute gesetzt werden darf, wenn eingeräumt wird, daß Lust schlecht 4
Vgl. zur späteren Verschärfung S. 194. Damit wird von vorneherein ausgeschlossen, daß das Glück vom Menschen abgelöst sein und etwa in äußeren Gütern zu finden sein könnte. 6
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sein kann. Er weigert sich daher, schlechte Lüste zuzugeben. Dabei bleibt es, auch nachdem er seine Argumentation in dieser Frage preisgegeben hat. Er glaubte, argumentieren zu können, die Lust sei Eines und lasse keine Verschiedenheit in sich zu, Lust sei der Lust (eben als Lust) in höchstem Maße ähnlich. Nicht so sehr Sokrates' Widerlegung dieser — auf eine Leugnung des Unterschieds von Gattung und Art hinauslaufenden — Auffassung, als vielmehr seine Bereitschaft, Vielheit und Verschiedenheit auch in der Einsicht zuzulassen, bringt Protarchos zum Einlenken. Das Ergebnis, auf das man sich am Ende dieses ersten Gefechts einigt, ist also, daß Lust sowohl als Einsicht in sich vielfältig und verschieden sind. Damit ist zwar weniger erreicht, als Sokrates jetzt schon erreichen wollte; für den geordneten Gang des Gesprächs könnte aber sogar mehr erreicht sein. Jedenfalls ist eine Voraussetzung erbracht nicht nur für die zunächst zu entscheidende Frage, ob die Lust, die Einsicht oder ein Drittes das für den Menschen Gute ist, sondern auch für die genauere Bestimmung des glücklichen Lebens, die später zu erfolgen hat und um derentwillen im Dialog dialektische Bestimmungen der Lust und der Einsicht vorzunehmen sein werden6. Um weiterzukommen in der zunächst zur Entscheidung anstehenden Frage, eben ob das für den Menschen Gute die Lust, die Einsicht oder ein Drittes sei, bedarf es noch einer Vorverständigung über das Gute als solches. Ganz gleich, was inhaltlich unter dem für den Menschen Guten zu verstehen sein mag — mit dem Begriff des Guten ist ein dreifacher Anspruch aufgestellt: Das Gute ist vollendet ( ), ja es ist das Vollendetste; das Gute ist genügend ( ), und auch das in höchstem Maße; es ist das, worauf alles, was der Erkenntnis fähig ist, in allem Erstreben von etwas eigentlich aus ist. Es sind dies drei Aspekte des Guten, die so eng zusammengehören, daß sie im Gedankengang wechselweise füreinander eintreten können. D a s Gute ist das Vollendetste. Als das Vollendetste ist es im höchsten Maße genügend; was nicht schlechthin genügt, was uns vielmehr noch anderer Dinge außerdem bedürfen läßt, ist nicht vollendet und also nicht das Gute. Im Blick auf das Streben zeigt sich das Vollendetste als das, wonach alles wissende Streben jederzeit auslangt und worin es sich je beschließt. Dieses in allem Wählen stets zuerst und zuhöchst Gewählte muß das in höchstem Maße Genügende sein. • Im Text wird diese Voraussetzung befestigt und entfaltet durch eine Erörterung über das Eine und das Viele, die auch von der Dihairesis handelt (14c—18d; vgl. auch 19b2—4 sowie ferner hier Anm. l zu Kap. 9).
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Was nicht standhält, wenn es am dreifachen Anspruch des Guten gemessen wird, kann nicht das für den Menschen Gute, das Glück des Menschen, ausmachen. Weder Lust noch Einsicht halten aber solcher Prüfung stand. Was zunächst die Lust betrifft, so vermag sie die Forderung nicht zu erfüllen, selbst und für sich das in höchstem Maße Genügende zu sein. Die Vielfältigkeit der Lust ist nicht mehr umstritten. Daß diese Vielfalt jedenfalls Gradunterschiede beinhaltet, gibt Protarchos jetzt ganz selbstverständlich und gewissermaßen unversehens zu (vgl. 21 a8— 10). Als das glückliche Leben erscheint ihm ein Leben, in dem der Mensch immerfort der größten Freuden teilhaftig ist. Gerade für dieses Leben genügt aber die Lust selbst nicht. Sie erreicht allein, getrennt von der Einsicht, keinen höheren Grad als den, der sich in einer Muschel auf dem Meeresgrund finden mag. Ohne Einsicht bleibt ein Wesen sich in seiner Lust völlig verschlossen: Des Zeitbewußtseins ermangelnd, ist es auf die Empfindung des jeweiligen Augenblicks beschränkt. Vergangene Lust ist ihm, da es kein Gedächtnis hat, je sofort schon und endgültig entglitten. Gegenwärtige Lust wird es über das Jetzt hinaus nicht erinnernd festzuhalten vermögen. Jeder Ausblick auf zukünftige Lust ist ihm unmöglich; es kann für die Zukunft Lust weder erwarten noch gar tätig ermöglichen (wozu es überdies der Einsicht im Sinne des Erwägens bedürfte). Aber nicht einmal der gegenwärtigen Empfindung der Lust ist sich ein Wesen ohne Einsicht wirklich bewußt. Es ,weißc nicht, d a ß e s Lust empfindet und w a s es da eigentlich empfindet (vgl. auch 60d8 f.). Lust allein genügt nicht zu einem Leben der Lust, es sei denn auf der Stufe der niedrigsten Lebewesen. Kein Mensch würde ein Leben dieser Stufe wählen. Die Lust ist nicht das Vollendetste. Sie ist nicht das für den Menschen Gute. In ihr erfüllt sich nicht das menschliche Glück. Und wie steht es mit der Einsicht? Ist ein Leben der Einsicht ohne alle Lust das zuhöchst Erstrebte unseres Strebens? Daß Protarchos diese Frage verneint, ist natürlich. Aber Sokrates ist darin mit ihm einig. So scheint auch ein Leben der Einsicht, in dem die Lust schlechterdings fehlen würde, kein menschliches Leben zu sein. Das Gespräch geht an dieser Stelle rasch weiter. Und doch ist klar und wird im Fortgang des Dialogs immer klarer: Die Einsicht selbst, soweit sie menschliche Einsicht ist, gewährt Lust, und das um so mehr, je genauer sie ist. Und: Wollte vielleicht jemand um eines der Einsicht gewidmeten Lebens willen auf alle Lust, die nicht unmittelbar zur Einsicht gehört, verzichten, so würde er sich doch unverzüglich von der Unmöglichkeit solchen Verzichts über-
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zeugen müssen. Denn einfaches Essen und Trinken schon bereiten Lust7 und sind doch unerläßliche Bedingungen unseres Lebens. Ein Leben der Einsicht allein ist für den Menschen nicht wählbar. Es ist für ihn nicht das Vollendetste, nicht das Gute, nicht das Glück. Das für den Menschen Gute ist weder ein Leben der Lust noch ein Leben der Einsicht. Es muß ein Drittes sein. Dieses Dritte wird nun aber nicht, wie man vielleicht annehmen könnte, fern von Lust und Einsicht gesucht. These und Antithese, von ihrem unrechtmäßigen Anspruch und damit von ihrer Einseitigkeit befreit, kehren jetzt ihren Wahrheitskern hervor. Lust u n d Einsicht sind gut für den Menschen und sind ihm so wesenseigen, daß das Gute nur in ihrer Vereinigung zu finden sein kann. Das Dritte, das das Glück des Menschen ausmacht, muß das aus Lust und Einsicht gemischte Leben sein. Indessen können Mischungen gut oder weniger gut, ja schlecht sein. Eine Mischung wird verdorben, wenn man schlechte Bestandteile zu ihr hinzugibt. Aber auch eine aus nur guten Bestandteilen hergestellte Mischung ist nur dann gut, wenn die Bestandteile in ausgewogenem Verhältnis gemischt worden sind. Nun besteht seit Sokrates' erstem Angriff auf die These des Protarchos der Verdacht, es gebe auch schlechte Lüste. Diese müßten also der Mischung schaden, würden sie in sie aufgenommen. Und: In welchem Verhältnis sollen denn Lust und Einsicht gemischt werden, damit unser Leben eine gute Mischung und glücklich sei? In diese Fragerichtung zielt Sokrates, wenn er den Rangstreit von Lust und Einsicht nun fortgesetzt wissen will als Streit um den zweiten Platz in der Rangordnung des Guten. Wenn unter den guten Bestandteilen einer Mischung noch einmal ein Rangunterschied besteht, so werden in einer guten Mischung die besseren wohl überwiegen müssen, jedoch freilich nicht so, daß ihr Übergewicht die übrigen erdrückt. Mit dem Gedanken, daß unser Glück die zu lebende gute Mischung aus Lust und Einsicht sei, ist erst eine Aufgabe gestellt. Es fragt sich ja auch ferner noch: Können wir eine solche Mischung überhaupt leben? Wodurch wird sie wirklich? Nicht zuletzt auch diese (im Gespräch zwischen Sokrates und Protarchos hier so nicht ausgesprochene) Frage fordert, nun zunächst Mischung ontologisch zu begreifen. Es scheint, daß der Mensch die Mischung, die ihn glücklich sein läßt, nicht wahrhaft wissend erwirken kann, wenn er das Sein von Mischung nicht gedacht hat.
7
Vgl. 31e6—32al.
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Das Sein von Mischung denken, bedeutet nichts Geringeres als „alles, was nun ist in dem All" (πάντα τα νυν οντά εν τω παντί — 23c4) vor das Denken bringen. Im Blick auf alles Seiende im All sind zun chst drei Gattungen zu unterscheiden: das Grenzenlose (άπειρον), Grenze (πέρας) und die Mischung aus diesen beiden. Diesen drei Gattungen ist als vierte hinzuzuf gen die Gattung der Ursache; ihr verdankt die Mischung jener beiden ihr Sein. Die Gattung des Grenzenlosen hat viele Arten, z. B. das W rmere und das K ltere, das Trockenere und das Feuchtere, das Schnellere und das Langsamere, das Gr ere und das Kleinere. Ihnen allen ist gemeinsam, da ihnen immer das Mehr und Weniger (το μάλλον τε και ήττον) einwohnen. Das Mehr und Weniger in ihnen verhindern, da sie je an ein Ende (τέλος) kommen. An ein Ende zu gelangen, das w rde f r sie bedeuten: zu Ende sein. Das Mehr und Weniger bringen in allem, dem sie einwohnen, das bestimmte Wieviel (το ποσόν) und das Angemessene (το μέτριον) zum Verschwinden. Alles, was von der Gattung des Grenzenlosen ist, weist jedes Bleiben von sich ab und schreitet immer weiter (προχωρεί). Die Gattung der Grenze ist der des Grenzenlosen schlechterdings entgegengesetzt. Alles, was von der Gattung der Grenze ist, weist das Mehr und Weniger von sich ab. Es nimmt gerade das bestimmte Wieviel an. Es schreitet nicht endlos fort, sondern steht still. Zu dieser Gattung geh ren das Gleiche, das Doppelte, ja alles, was Zahl ist im Verh ltnis zu Zahl oder Ma im Verh ltnis zu Ma . Die dritte Gattung ist als die Mischung von Grenzenlosem und Grenze zu 'denken aufgegeben. Sie zu bestimmen, erscheint als so schwierig, da Sokrates g ttlichen Beistand erbittet. Wer der Ausf hrung ber die beiden ersten Gattungen gefolgt ist, mu sich ja tats chlich fragen, wie eine Mischung aus ihnen berhaupt m glich sein soll. Er mu sich fragen, wie Seiendes als aus Grenzenlosem und Grenze Gemischtes denn sein kann. Alles, was zur Gattung des Grenzenlosen geh rt, weist — eben als Grenzenloses — Grenze und Bestimmtheit schlechthin von sich ab. Und alles Seiende von der Gattung der Grenze weist ebenso entschieden das Mehr und Weniger zur ck. Diese beiden Gattungen sind einander so entgegengesetzt, da die eine das Nichtsein der anderen ist. Ihre Vereinigung ist zun chst ein ontologisches R tsel. Und doch l t sich unz hliges Seiendes vorweisen, das nur der Gattung der Mischung zugeordnet werden kann, z. B. die Gesundheit, Werke der Tonkunst, die Jahreszeiten, auch sehr viel Sch nes (πάγκαλα) in den Seelen. Dieses
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alles zeigt sich im Anblick des Abgemessenen, Harmonischen, Maßhabenden. Und das ganz offenbar deshalb, weil in ihm Zahlen und Maße wirksam sind als begrenzend solches, das aus dem Grenzenlosen herstammt. Es gibt also die dritte Gattung. Aber was ist ihre Seinsart und wie ist sie möglich? Das Grenzenlose hat die Seinsart des an keiner Grenze sich je beruhigenden Werdens. Grenze zeigt sich demgegenüber als Bleibendes und Stehendes und in diesem Sinne als Sein. Die dritte Gattung wird als Werden zum Sein ( ) bestimmt. Was heißt das? Es heißt zunächst einmal: Die dritte Gattung ist ein Werden, das nicht wie das Werden der ersten Gattung an keiner Grenze zum Stehen kommt. Und die dritte Gattung ist Sein, das nicht wie das Sein der zweiten Gattung vom Werden abgelöst ist. Die dritte Gattung vereinigt in sich , Werden* und ,Sein' zu einem Neuen, Dritten. Aber damit ist noch nicht viel gewonnen. Das Werden zum Sein ist erst noch zu denken. Und da gilt es zuerst einmal zu sehen: Was hier wird, ist je eine Vereinigung von Grenzenlosem und Grenze. Grenzenloses und Grenze können aber so, wie sie für sich sind, zufolge ihrer Gegensätzlichkeit gar nicht Eines werden. Es muß also angenommen werden, daß im Werden der Vereinigung allem zuvor Grenzenloses und Grenze werden, nämlich verwandelt werden. Es wird Grenzenloses zum Begrenzbaren, und es wird Grenze zum Begrenzenden. Begrenzbares (Bestimmbares) und Begrenzendes (Bestimmendes) werden eins. Werden zum Sein bedeutet unter diesem Aspekt das Werden von etwas aus W e r d e n d e m . Freilich sind das Werden der Gegensätze (die Verwandlung von Grenzenlosem und Grenze) und das Werden des Dritten, Neuen, e i n Geschehen. Daß die Mischung aus Grenzenlosem und Grenze zu einem Einen als eigene, dritte Gattung des Seienden aufgestellt wird, das hat sein Recht und seinen Grund darin, daß das Geschehen der Einigung die Verwandlung der zu vereinigenden Gegensätze notwendig einschließt. Über das Werden zum Sein als Seinsart der dritten Gattung ist damit aber noch nicht genug gesagt. Werden z u m S e i n meint: In diesem Werden entsteht S e i e n d e s , eben das Gemischte. W e r d e n zum Sein bedeutet: Das Seiende, das in diesem Werden entsteht, läßt das Werden nicht ein für allemal hinter sich zurück. Die durch Verwandlung zur Mischung bereit gewordenen und als zur Mischung bereite vereinigten Gegensätze des Grenzenlosen und der Grenze sind nicht so endgültig verwandelt und vereinigt, daß ihre Gegensätzlichkeit nicht in dem Gemischten jederzeit als trennende Kraft wirksam werden könnte. Das Seiende der dritten Gattung bleibt ein Werdendes, weil es als Gemisch-
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tes von der Auflösung bedroht bleibt und daher nur werdend als Eines zu währen vermag (vgl. 31c ff.). Als vierte Gattung wurde die Gattung der Ursache genannt. Daß das Seiende der dritten Gattung wird und werdend ist dank einer Ursache, die als v i e r t e G a t t u n g zu setzen ist, muß eigens gesichert werden, und das um so mehr, als für das Hauptthema der Untersuchung, für die Bestimmung des für den Menschen Guten, gerade diese vierte Gattung alsbald ein Problem heraufführen wird, das nicht übersehen werden darf, soll die Untersuchung gelingen. Es wird gezeigt, daß die Gattung der Ursache von der dritten Gattung verschieden ist, und sodann, daß sie ebenfalls von der ersten und zweiten Gattung verschieden ist. Alles Werdende wird durch eine Ursache (26e3 f.). ,Ursache* und ,das Bewirkende' ( ) sind nur dem Namen nach verschieden, der Sache nach aber eins. Dasselbe gilt für ,das Werdende* und ,das Bewirkte* (,das, was bewirkt wird' — ). Die Natur des Bewirkenden ist es nun aber, zu führen, die des Bewirkten dagegen, dem Bewirkenden zu folgen. Das Bewirkende (die Ursache) als Führendes und das Bewirkte (das Werdende) als Folgendes sind ontologische Gegensätze —: Die Ursache ist eine eigene Gattung und gehört nicht in die dritte Gattung. — Die Ursache ist aber auch eine eigene Gattung neben der ersten und zweiten Gattung. A u s Seiendem dieser beiden Gattungen läßt sie die Mischung entstehen. Die Gattungen des Grenzenlosen und der Grenze dienen ihr also zum Werden. Die Ursache nimmt sie in Anspruch, herrscht über sie. Sie selbst kann daher keiner dieser beiden Gattungen angehören. (In die Gattung des Grenzenlosen hätte sie wohl auch ohnehin niemand setzen mögen. Eher hätte die Gefahr bestanden, daß jemand sie von der Gattung der Grenze her verstehen wollte, insofern Begrenzendes in dem Gemischten w i r k s a m ist. Indessen w i r d ja Grenze zum Begrenzenden erst in dem Werden, als das die dritte Gattung zu denken ist. Die Verwandlung der Grenze zum Begrenzenden ist selbst durch die Ursache erwirkt.) Das Glück des Menschen ist weder ein Leben der Lust noch ein Leben der Einsicht — es ist ein Drittes, das aus Lust und Einsicht gemischte Leben. Dieses gilt es zu bestimmen. Damit das geschehen könne, brachte sich das Denken vor die ontologische Frage nach dem Sein von Mischung überhaupt. Im Ausgriff auf alles Seiende im All legte es vier oberste Gattungen auseinander: das Grenzenlose, die Grenze, das aus beiden Gemischte und die Ursache. Von diesen Gattungen her kommt es nun auf den Menschen zurück. Ist das für den Menschen Gute eine
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Mischung, dann müßte es von den vier Gattungen her für das Verstehen aufgeschlossen werden können. Nun ist klar, daß das aus Lust und Einsicht gemischte Leben in die dritte Gattung zu setzen ist. Die Lust ferner, wenn sie getrennt von der Einsicht gedacht wird, ist von der Gattung des Grenzenlosen. Lust und Unlust nehmen das Mehr und Weniger auf. Philebos, der hier von Sokrates ins Gespräch gezogen wird, erblickt gerade darin das Gute der Lust, daß sie der Menge und dem Grad nach unbegrenzt ist. Es bleibt die Aufgabe, die Einsicht einer Gattung zuzuordnen. Und jetzt gerät die Untersuchung in die Aporie. Zwei Gattungen stehen noch zur Verfügung, die der Grenze und die der Ursache. Sokrates sieht die Gefahr, daß man sich einer Gottlosigkeit schuldig machen könnte bei der Zuordnung, und er betont die Wichtigkeit der jetzt zu fällenden Entscheidung. Diese zu vollziehen, dazu sehen weder Philebos noch Protarchos sich aus. Protarchos gesteht, daß er ziemlich in Verlegenheit ist8. Da aber erklärt Sokrates seine vorigen feierlichen Worte für Scherz und die Lösung der Aufgabe für leicht. Nach der gemeinsamen Auffassung aller Weisen, sagt er, sei die Vernunft ( ) der König des Himmels und der Erde, und darin hätten die Weisen sicher recht (28c6—8). Die Gattung der Ursache zeigt sich als Vernunft. Wer wollte also noch zögern, die menschliche Einsicht in die Gattung der Ursache zu setzen? Und doch muß das als unmöglich erscheinen, wenn man nicht vergessen hat, daß das gemischte Leben aus E i n s i c h t und Lust gemischt ist. Die Einsicht m u ß in die Gattung der Grenze gesetzt werden, wenn man nicht die Mischung völlig aufgeben will. Das für den Menschen Gute als die Mischung aus Lust und Einsicht denken, ist gleichbedeutend damit, die Einsicht als Grenze zu denken. Nun kann aber keine Mischung sein ohne Ursache; die Ursache ist als vierte Gattung in ihrer Unentbehrlichkeit gesichert. Auch das aus Lust und Einsicht gemischte Leben verdankt sich einer Ursache. Wie ist diese Ursache zu bestimmen, wenn die Einsicht an die Gattung der Grenze vergeben werden muß? Sollte sie außerhalb des Menschen zu suchen sein? Aber das wäre widersinnig*. Der Mensch selbst lebt sein Leben. Er selbst muß die Mischung seines Lebens, die ihn glücklich sein läßt, vollbringen. Welche Kraft im Menschen könnte aber dazu fähig sein, wenn nicht die Einsicht? Diese jedoch ist als Bestandteil der Mischung von der Gattung der Grenze, so wie die Lust als der andere Bestandteil der Mischung 8
— 28b7; vgl. 29bl f. • Anders Hackforth S. 49.
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von der Gattung des Grenzenlosen ist. Die Aporie ist nicht nur eine Verlegenheit des jungen Protarchos, in die er von dem überlegenen Sokrates mutwillig versetzt wäre. Sie ist eine Aporie auch des Sokrates, das heißt der Untersuchung selbst. Die Aporie wird überwunden durch schwierige Überlegungen, deren Wissenscharakter im nächsten Kapitel zu thematisieren ist. Diese Überlegungen denken zunächst, was vorher als eine Auffassung der Weisen bloß angeführt wurde — sie denken die Gattung der Ursache als Vernunft. Zur Frage steht, ob das All gelenkt wird von einer unvernünftigen, planlos wirkenden Kraft und vom Zufall, oder aber im Gegenteil von einer bewunderungswürdigen Vernunft und Einsicht10. Die Frage, so gestellt, könnte schon den Verdacht der Gottlosigkeit auf sich ziehen. Es gibt die in ihr vorgelegte Alternative in Wahrheit nicht. Der Anblick des Kosmos läßt nur die Annahme einer alles ordnenden Vernunft zu11. Die Ursache des Alls ist Vernunft, und das heißt, die Gattung der Ursache ist Vernunft. Zu zeigen, daß die menschliche Vernunft ihre Seinsherkunft aus dieser Gattung hat, ist das Ziel des nun folgenden Gedankengangs. In den Leibern aller Lebewesen finden sich Feuer, Wasser, Luft und Erde. Aus denselben Elementen besteht auch das All. Als selbstverständlich wird angenommen, daß zwischen den Elementen in den Lebewesen und den Elementen im All ein Verhältnis der Seinsherkunft, der Abstammung, der Gattung besteht (das indessen nicht als Verhältnis Gattung — Art aufzufassen ist). Wäre das nicht so, dann müßten dieselben Elemente noch einmal außerhalb der Welt und der Lebewesen (als Gattung für die Elemente in Welt und Lebewesen) angesetzt werden, und das ergäbe keinen Sinn12. Zu fragen ist also nur: Haben die Elemente im All ihre Seinsherkunft aus den Elementen der Lebewesen, oder verhält es sich umgekehrt? Von jedem der Elemente gibt es in uns nur weniges, Schlechtes und Unreines. Das Entgegengesetzte ist in bezug auf das All zu sagen. Am Beispiel des Feuers ist das besonders sinnenfällig. Bei uns ist es gering, schwach und schlecht, im All dagegen erblickt man es in bewunderungswürdiger Menge, Schönheit und Kraft. Die Frage nach der Seinsherkunft ist deshalb nicht schwer zu beantworten. Unmöglich kann man meinen, daß das Feuer im All sich ernährt ( ), 10 11 12
Vgl. Anm. 18 zu diesem Kap. Siehe aber S. 231. Vgl. Timaws 33c ff.
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entsteht (γίγνεται) und sich mehrt13 aus dem Feuer in uns. Umgekehrt mu es sein. Und dasselbe gilt f r die anderen drei Elemente. Wenn Feuer, Wasser, Luft und Erde zu einem Einen zusammengesetzt sind, sprechen wir von einem Leib. Das tun wir bei allen Lebewesen. Folgerichtig sollten wir es auch bei der Welt tun. So ist zu sagen: Nicht n hrt sich der Leib der Welt aus unserem Leib, sondern umgekehrt. Unser Leib hat eine Seele. Nun zeigte sich zuvor, da die Elemente unseres Leibes ihre Seinsherkunft aus den Elementen des Alls haben und da also unser Leib sein Sein aus dem Leib der Welt empf ngt. Woher anders sollte er dann seine Seele erhalten haben, wenn nicht aus der Seele der Welt? So h tte denn die Welt Seele. Dieses Ergebnis erm glicht den letzten, f r die Absicht, die mit dem Gedankengang verfolgt wird, entscheidenden Schritt. Als Ursache des Alls wurde die Vernunft gedacht. Das All hat Seele. Wie stehen Vernunft und Seele beim All zueinander? Bei uns ist es so, da die Vernunft Ursache der Beseelung des Leibes ist14. Auch wissen wir von uns: Vernunft kann nicht ohne Seele sein15. So d rfte denn auch die Vernunft, die Ursache des Alls ist, Ursache seiner Beseelung sein, und es ist anzunehmen, da auch diese Vernunft nicht sein kann ohne Seele — ohne d i e Seele, die die Welt ihr verdankt. Das hei t nun aber: Die g ttliche Vernunft als Ursache des Alls w o h n t diesem e i n , sie ist i n der Welt, i n dem aus Grenzenlosem und Grenze gemischten Einen (siehe 30alO f.). Und nun kann gesagt werden: So, wie die Elemente in uns ihre Seinsherkunft haben aus den Elementen im All, wie also unser Leib seine Seinsherkunft hat aus dem Leib der Welt, und so, wie unser Leib seine Seele empfangen hat aus der Weltseele, so stammt auch unsere Vernunft her aus der g ttlichen Vernunft, die — als Ursache der Welt (des Alls als Mischung) — der Welt einwohnt. Mehrerlei und Wichtiges ist durch diesen Gedankengang geleistet worden. Die vier Gattungen alles Seienden in der Welt sind im Blick auf das Weltganze in ein Eines zusammengedacht worden: Die Elemente im 19
Ich lese αΰξεται (29c5) mit Burnet, Hackforth, Taylor gegen die von Bury, Fowler, Schleiermacher und Apelt bevorzugte Lesart άρχεται. 14 Siehe 30bl f.: τούτο (sc. το της αιτίας γένος — 30alO) εν μεν τοις παρ' ήμΐν ψυχήν τε παρέχον — und den Fortgang bis b4. 15 F r diese Feststellung werden ,wirc vom Text nicht als Grund genannt, aber der Grund kann nur bei ,unsc zu finden sein. — Das S o n n e n g l e i c h n i s schon dachte die Seele als ,Organ' der Vernunft (wie das Auge als Organ der Sehkraft).
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All gehören zur Gattung des Grenzenlosen. Die Seele des Alls ist von der Gattung der Grenze; sie ist (durch die Ursache) zum Begrenzenden verwandelte Grenze; sie ist Begrenzendes in seiner Wirksamkeit des Begrenzens. Der beseelte Leib des Alls — oder das All als Lebewesen — ist in die Gattung der Mischung, des Werdens zum Sein, zu setzen16. Im All als Lebewesen sind die beiden ersten Gattungen vereinigt. Diesem gemischten Einen wohnt aber die vierte Gattung, die göttliche Vernunft als Ursache, ein. Sie ist mit ihm geeint, und ist und bleibt doch eine vom Gemischten verschiedene Gattung. — Der Mensch hat sich gezeigt als ähnlich dieser Welt, der die göttliche Vernunft als Ursache einwohnt. Nicht nur findet sich in ihm, wenn auch viel schwächer und weniger trefflich, dasselbe Seiende derselben vier Gattungen. Dieses ist auch auf dieselbe Art geeint. — Es erwies sich: Der Mensch als das Lebewesen, dem Vernunft eignet, ist der Welt als dem Lebewesen, dem die göttliche Vernunft einwohnt, ähnlich, weil er allen vier Gattungen nach a b s t a m m t von den Gattungen der Welt. — Schließlich und vor allem: Es ist ein Weg eröffnet, der aus der Aporie herausführt, in die das Gespräch geraten war, als man die menschliche Einsicht einer der vier Gattungen alles Seienden in der Welt zuordnen wollte. Das für den Menschen Gute ist die Mischung aus Lust und Einsicht, die wie jede Mischung aus Grenzenlosem und Grenze eine Ursache haben muß. Unumgänglich ist es, die Einsicht in die Gattung der Grenze zu setzen, denn a u s Einsicht und Lust ist und wird die Mischung unseres Lebens, die unser Glück ausmacht. Sokrates verfuhr aber gerade nicht so, sondern er behauptete, die Einsicht sei von der Gattung der Ursache. Er verschleierte die Aporie, doch auf eine Weise, daß der Leser von Platon auf sie gestoßen wird17. Wem anders als der Einsicht im Menschen soll man zutrauen, Ursache des gemischten Lebens zu sein? Und doch ist unumstößlich die Einsicht Bestandteil der Mischung. Die inzwischen durchgeführte Überlegung hilft aus der Aporie heraus, indem sie zwingend macht, d a ß unsere Einsicht von der Gattung der Ursache ist. Die menschliche Einsicht (die menschliche Vernunft) ist in zwei Gattungen zu setzen18! Damit ist freilich nicht mehr als ein Anfang erbracht. Denn 18
Vgl. zum Beseelten als Mischung aus Grenzenlosem und Grenze 32a9 f. Vgl. S. 199. 18 Es ist zu beachten, daß Platon (Einsicht) und (Vernunft) sowie die zugehörigen Verben und durch das ganze Gespräch hindurch nicht terminologisch scheidet und fixiert. Er setzt sie nebeneinander (auch in der Erörterung über die göttliche Ursache der Welt und zu ihrer Bezeichnung — 28d8) oder läßt sie 17
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jetzt steht die Untersuchung vor dem Problem: Ist nicht in der menschlichen Vernunft ein Gattungsunterschied aufgebrochen, der sie auseinanderreißt? Unabweisbar stellt sich die Frage: Können Einsicht als Grenze und Einsicht als Ursache vermittelt werden? Dieser Problemstand wird nun allerdings von Sokrates wieder nicht eingestanden19. Er bleibt unausgesprochen. Ihn zu sehen, verlangt Platon dem Leser ab, ohne nachdrücklich darauf zu zeigen. So, wie die These, die Einsicht gehöre in die Gattung der Grenze, nicht verlautbart wurde, so wird auch die Antithese, die Einsicht sei von der Gattung der Ursache, nicht als Antithese aufgestellt, so daß die Aufgabe der Vermittlung nicht ins Gesprochene heraustritt. Tatsächlich kehrt das Gespräch im Fortgang (in der dialektischen Bestimmung der Arten der Einsicht) zur These zurück, als ob nichts gewesen wäre — was wiederum zumindest für Protarchos dadurch undeutlich bleibt, daß eine ausführliche dialektische Bestimmung der Arten der Lust vorangestellt wird. Immerhin fordert Sokrates Protarchos und sich selbst dazu auf, die Zuordnung der Einsicht zur Gattung der Ursache im Gedächtnis zu behalten (31a7 f.). Die Zuordnung der menschlichen Einsicht zur Gattung der Ursache hinterläßt die Aufgabe der Vermittlung der Einsicht als Grenze mit der Einsicht als Ursache, insofern eben Grenze und Ursache zwei verschiedene Gattungen sind. Ob und wie weit dieser Vermittlung ein Weg bereitet ist dadurch, daß die vier Gattungen alles Seienden in der Welt in ein Eines zusammengedacht wurden, kann hier noch nicht gegründet entschieden werden. Die Aporie, der die Untersuchung ausgesetzt war, als es galt, die Einsicht einer der vier Gattungen alles Seienden in der Welt zuzuordnen, ist überwunden durch die freilich problemreiche Erkenntnis, daß die Einsicht in zwei Gattungen zu setzen ist. Jetzt kann der Weg der Bestimmung unseres Glücks fortgesetzt werden. Es folgen zunächst die dialektischen Erörterungen der Bestandteile der Mischung: der Lust als des Grenzenlosen und der zur Gattung der Grenze gehörigen Einsicht. füreinander eintreten. Sicher geschieht dergleichen auch sonst ständig in platonischen Texten. Im Philebos aber hätte es sich beim jetzt erreichten Stand der Untersuchung nahegelegt, im Blick auf den Menschen (oder ) nur noch zur Bezeichnung der der Gattung der Grenze zugehörigen Einsicht, und (oder ) nur noch zur Bezeichnung der der Gattung der Ursache zuzuordnenden Vernunft zu verwenden. Doch Platon verfährt nicht so. Das dürfte einen Grund haben. Ich werde darauf zurückkommen. 18 wenngleich man einen Hinweis erblicken darf in dem — 31a8.
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Die ausf hrliche und sehr ins einzelne gehende Er rterung der Lust (31b—55c) braucht hier nicht vorgef hrt zu werden. Es gen gt, einige Ergebnisse zu nennen. Die dialektische Bestimmung der Lust best tigt eindr cklich, da die Lust nicht das Gute sein kann. Sie deckt auf, da es wahre und falsche Lust und Unlust gibt. Sie unterscheidet Arten der Lust, in denen Lust mit Unlust gemischt ist, von Arten der Lust, die von jeder Beimischung der Unlust frei sind. Jene werden unreine, diese reine L ste genannt. Heftige Lust gibt es nur als unreine Lust. Heftige Lust ist durch Ma losigkeit (άμετρία) gekennzeichnet. Den reinen L sten, die eben niemals heftig werden, kommt immer das Ma -haben (έμμετρία) zu. Die reinen und Ma habenden L ste sind, eben als reine und Ma habende, die wahreren und sch neren. Reine L ste sind z. B.: die L ste an sch nen Farben und an Formen, die meisten L ste aus Ger chen und Tonen, die L ste an Erkenntnissen. Es ist bemerkenswert, da die Er rterung der Lust auf eine Art von L sten f hrt, die Lust an Einsicht sind. Die Untersuchung ber die Lust hat ein Paradox ans Licht gebracht: Die Lust war in die Gattung des Grenzenlosen zu setzen. Ihre dialektische Bestimmung gelangt jedoch zu Arten der Lust, die, da sie rein von Unlust sind, das Mehr und Weniger nicht aufnehmen und nicht grenzenlos, sondern vielmehr Ma habend, also begrenzt sind20. Die Zuordnung der Lust zur Gattung des Grenzenlosen geht, nachdem die Lust dialektisch in ihre Arten zerlegt worden ist, nicht mehr ganz auf. Sollte sich hnliches bei den anderen Gattungen feststellen lassen, so hie e das: Der R ckgang auf die vier Gattungen alles Seienden in der Welt bew hrt seine aufschlie ende Kraft f r die Bestimmung unseres Gl cks dann erst voll, wenn das Denken ihn frei in Anspruch nimmt und nicht auf strengster Entsprechung besteht. Die dialektische Er rterung der Einsicht thematisiert die Einsicht, sofern sie von der Gattung der Grenze ist. Dabei wird der fr here weite Bedeutungsumfang von Einsicht (vgl. nochmals lib, 21b—c) eingeschr nkt auf Wissen (επιστήμη) — Arten des Wissens werden bestimmt. Auf diese Einschr nkung ist zur ckzukommen. — Die Gattung der Lust hatte viele Arten gezeigt, die sich in die zwei gro en Arten der reinen und der unreinen Lust zusammenfassen lie en. Reinheit ist nun die
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Da έμμετρία der Gegensatz nicht nur zu άμετρία, sondern damit auch zum άπειρον ist, wird 52c—dl eigens akzentuiert.
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leitende Hinsicht f r eine Dihairesis des Wissens21. Rein bedeutet hier: genau, sicher, wahr. Alles Wissen wird zun chst eingeteilt in zwei gro e Arten: die eine Art ist die handwerkliche (δημιουργικόv), die andere erstreckt sich auf Bildung und Unterhalt (περί παιδείαν και τροφήν). Das handwerkliche Wissen hat, auf seine Reinheit hin gepr ft, zwei Arten. Die eine Art ist gekennzeichnet durch Schlie en aus hnlichkeit (είκάζειν) und Ein bung der Sinne durch Erfahrung und anhaltendes Betreiben (τάς αισθήσεις καταμελεταν εμπειρία καί τινι τριβή — 55e5 f.). Wer sich in ihr bew hren will, bedarf der F higkeit geschickten Erratens. Zu dieser Art rechnet Platon die aus bende Tonkunst: Sie hat es mit dem Ma (μέτρον) zu tun, aber eben indem der K nstler es geschickt err t und trifft. Als weitere Beispiele dieser Art des Wissens werden die Heilkunst, die K nste des Ackerbaus und der Seefahrt sowie die Strategik genannt. Die zweite Art des handwerklichen Wissens wird am Beispiel von Bauhandwerk und Zimmermannskunst vorgef hrt. Sie ist durch gr ere Genauigkeit ausgezeichnet, weil sie sich mannigfaltiger Me werkzeuge bedient. — Die dem handwerklichen Wissen entgegengestellte, sich auf Bildung und Unterhalt erstreckende Art des Wissens erscheint zun chst allein als die Rechenkunst (αριθμητική), Me kunst (μετρητική), Gewichtskunde (στατική) und ihnen verwandte K nste in sich begreifende Art, und diese wird weiter eingeteilt in zwei Arten. Die eine dieser beiden Arten ist das Wissen derer, die jene K nste als Nichtwissenschaftler vollziehen, wie z. B. Kaufleute und Architekten; die andere Art ist das Wissen derer, die die Rechenkunst, Me kunst usw. als Wissenschaftler betreiben. Das Wissen der Wissenschaftler bertrifft hier das Wissen der Nichtwissenschaftler an Sicherheit, Genauigkeit und Wahrheit. Es ist von allen bisher unterschiedenen Arten des Wissens die h chste. Und es erscheint Protarchos als die h chste Art des Wissens berhaupt — denn wie sollten die Wissenschaften von Zahlen und Ma en an Genauigkeit noch berboten werden k nnen? Indessen vergi t Protarchos (nicht zuf llig, denn er steht unter dem Einflu des Gorgias) die Dialektik. Sie ist innerhalb der sich auf Bildung und Unterhalt erstreckenden Art des Wissens entgegenzustellen der die Rechenkunst und die ihr verwandten K nste (und zwar als nichtwissenschaftliche und wissenschaftliche) umfassen-
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Gem dieser Hinsicht f llt die Dihairesis des Wissens anders aus als diejenige, die im Po tikos vorgenommen wurde in der Absicht, das Wissen des Staatsmannes zu finden.
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den Art des Wissens, und sie übertrifft diese an Wahrheit22. Sie ist die bei weitem wahrste Erkenntnis. Denn sie erkennt das Wahrste: das wahrhaft Seiende, das sich stets gleich bleibt. Die Reinheit der Dialektik wird von keiner anderen Art des Wissens erreicht. Ja, im Blick auf sie erscheint jetzt das Wissen aller jener Arten, die im Bereich des Werdenden messen, als Meinung ( ). Von Meinungen gehen sie aus, und im Umkreis von Meinungen hält sich ihr Suchen. Unreinheit und Reinheit des Wissens rühren von seinen Gegenständen her. Je seiender der Gegenstand, um so reiner, also genauer, sicherer und wahrer das Wissen. Das Wissen ist seinen Gegenständen verwandt. Die Einsicht ist (auch) in die Gattung der Grenze zu setzen. Das wurde hier bisher als gesichert angenommen, weil die Einsicht Bestandteil der Mischung ist, die uns glücklich sein läßt. Es wurde aber noch nicht von der Einsicht selbst her bedacht. Das muß jetzt geschehen. Als die Gattung der Grenze erläutert wurde, hieß es, Seiendes dieser Gattung sei dadurch charakterisiert, daß es das bestimmte Wieviel annehme, und zu dieser Gattung gehöre alles, was Zahl sei im Verhältnis zu Zahl und Maß im Verhältnis zu Maß (vgl. S. 196). Keine der inzwischen bestimmten Arten des Wissens ist aber selbst ein Zahlen- oder Maßverhältnis. Die Einsicht kann also der Gattung der Grenze nicht auf die gleiche Weise zugehören wie anderes Seiendes dieser Gattung, etwa das Gleiche oder das Doppelte. Wieso ist sie dann aber überhaupt von dieser Gattung? Weil sie es mit dem bestimmten Wieviel ständig und wesentlich zu tun hat, weil sie berechnet, mißt, Zahlen- und Maßverhältnisse erforscht. Zahlen- und Maßverhältnisse sind ihr Gegenstand, mag sie sie im Werdenden anwenden oder mag sie sie bloß betrachtend ** Das Schema der Dihairesis des Wissens: Wissen
handwerkliches
Schließen aus Ähnlichkeit usw.
Meßwerkzeuge benutzend
auf Bildung und Unterhalt sich erstreckendes
Rechenkunst usw.
der Nichtwissenschaftler
Dialektik
der Wissenschaftler
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erforschen. Und die Einsicht ist ihren Gegenständen verwandt. Das Gerichtetsein auf Zahlen- und Maßverhältnisse macht das Wissen zum Wissen u n d läßt das Wissen, eben zufolge der Verwandtschaft von Wissen und Gewußtem, von der Gattung der Grenze sein. Auf andere Weise zeigt sich auch hier, was schon bei der Zuordnung der Lust zur Gattung des Grenzenlosen zu beobachten war: Ein starres Ineinssetzen mit der Gattung wäre verdeckend. Indessen mag man fragen, ob nicht die Dialektik, die höchste und reinste der dihairetisch bestimmten Arten des Wissens, nun doch aus der Gattung der Grenze herausfällt. Geht es bei ihr denn um ein bestimmtes Wieviel? Das ist allerdings der Fall, und es zeigt sich bei ihrem Verfahren der Dihairesis sehr deutlich. Die Dihairesis hat nicht nur Arten (etwa der Lust oder der Einsicht) zu unterscheiden und gegeneinander abzugrenzen, sondern sie muß dabei auch alle betreffenden Arten erfassen und angeben, wieviele es sind23. Die Einsicht ist von der Gattung der Grenze, weil und soweit sie es mit dem bestimmten Wieviel, mit Zahlen- und Maßverhältnissen, zu tun hat. Jetzt wird klar, warum für die dihairetische Bestimmung der Einsicht der Bedeutungsumfang von Einsicht eingeschränkt wurde. Wahrnehmung, Gedächtnis, Erinnerung, Erwartung, mögen sie auch in Arten des Wissens in Anspruch genommen werden, gehören nicht in die Gattung der Grenze. Das bestätigt sich darin, daß sie (wie auch die falsche Meinung) für unreine und falsche Lüste konstitutiv sind, also für Grenzenloses, weshalb sie von Platon innerhalb der dialektischen Bestimmung der L u s t zu behandeln waren. Wie die Lust nicht ohne Rest in die Gattung des Grenzenlosen gesetzt werden konnte, so kann die Einsicht nicht ohne Rest in die Gattung der Grenze gesetzt werden. Einsicht ist von der Gattung der Grenze, soweit sie Wissen ist (mag dieses als unreines auch nur den Genauigkeitsgrad von Meinung haben). In diesem Zusammenhang bedarf es noch einer Ergänzung: Wie die Untersuchung der Arten der Lust auf Arten stieß, die nicht mehr in die Gattung des Grenzenlosen gehören, so würde eine eingehendere Behandlung der Einsicht bei einigen Arten der Einsicht zumindest zu dem Zweifel führen, ob sie nicht eher in die Gattung der Ursache als in die der Grenze zu setzen sind — bei jenen Arten der Einsicht nämlich, die, 23
Siehe nochmals 19b2—4; die Stelle steht in Bezug zur vorangegangenen, hier nicht behandelten Erörterung über das Eine und das Viele (vgl. daraus vor allem 16clO—el u. 18a7—b2).
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Zahlen- und Maßverhältnisse anwendend, Seiendes der dritten Gattung entstehen lassen. Die Bestandteile der Mischung, Lust und Einsicht, sofern diese von der Gattung der Grenze ist, sind in ihre Arten zerlegt. Gegliedert und bestimmt stehen sie für die Mischung bereit. Das Denken hat sich nun die gute Mischung aus Lust und Einsicht vorzunehmen. Angesichts dieser Aufgabe fordert Sokrates dazu auf, Beistand von den Göttern zu erflehen, von Dionysos, Hephaistos oder wem sonst unter den Göttern das Ehrenamt des Mischens zukommt. Soll man jetzt so vorgehen, daß man die Lust insgesamt mit der Einsicht insgesamt mischt? Protarchos weiß es nicht recht, und Sokrates schlägt ein weniger gefährliches Verfahren vor, nämlich zuerst die wahrsten Teile der Lust und der Einsicht zu mischen und dann zu prüfen, ob die Mischung schon genügend ist im Sinne des wünschenswertesten Lebens, oder ob sie noch anderer Teile der Lust und der Einsicht bedarf. Tatsächlich verfährt er dann aber etwas anders. Die Lust wird zurückgestellt, und für die Einsicht wird gefragt, ob, was ihren Anteil an der Mischung betrifft, die wahrste Einsicht (das Wissen des wahrhaft Seienden und stets sich selbst Gleichen) genügt. Sie genügt nicht, denn der Mensch lebt im Bereich des Werdenden und bedarf notwendig des Wissens der Maße, die (wie etwa in der Baukunst) auf das Werdende angewendet werden. Also müssen auch weniger reine Arten des Wissens in die Mischung aufgenommen werden. Dann aber ist nicht einzusehen, warum nicht auch solche weniger reinen Arten des Wissens zur Mischung zugelassen werden sollten, die zwar nicht notwendig sind für unser Leben, ihm aber — wie die Tonkunst — Lust gewähren24. So werden denn a l l e Arten des Wissens in die Mischung gegeben. Das geschieht in der Überzeugung, daß keine Art der Mischung schaden wird, wenn nur die höchsten Arten auch in ihr enthalten sind. Jetzt ist bezüglich der Lust zu fragen, ob ihre wahren Arten genügen oder ob die gute Mischung unseres Lebens auch anderer Arten der Lust bedarf, ja ob sie alle Arten der Lust in sich enthalten sollte. Hier wird nun nicht mehr Protarchos von Sokrates befragt, sondern die
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Der Bezug zur Lust ist im Text nicht wörtlich ausgesprochen, wohl um das an dieser Stelle paradox Erscheinende nicht zu akzentuieren, daß man Einsichten um der Lust willen der Mischung zuführt; er ist aber deutlich, insofern Protarchos es für unumgänglich hält, die Tonkunst nicht beiseite zu lassen, wenn unser Leben überhaupt ein Leben sein soll.
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Lüste und Einsichten selbst werden ins Gespräch gezogen und antworten. (Warum das geschieht, ist später zu bedenken.) Die zu entscheidende Frage tritt zunächst wieder zurück. Es werden nämlich die Lüste vor die Alternative gestellt, entweder mit aller Einsicht zusammenzugehen oder von ihr getrennt zu bleiben. Damit ist indirekt die Bedingung formuliert, unter der die Einsicht bereit ist zu einer Vereinigung mit der Lust — sie ist es nur dann, wenn sie alle ihre Arten in die Mischung mitbringen kann und nicht etwa nur diejenigen, die vielleicht der Lust als besonders nützlich erscheinen mögen. Die Lüste erklären sich bereit, mit aller Einsicht gemischt zu werden. Denn jene Alternative bedeutet für sie, entweder mit der Einsicht oder mit einer ganz anderen Gattung eine Mischung einzugehen (da keine Gattung allein für sich bleiben kann), und die Mischung mit der Einsicht erscheint den Lüsten als die beste. Die Einsicht nämlich vermag (wie im Dialog geschehen) die Lüste zu erkennen, und das betrachten sie als Gewinn. — Jetzt erst wird die Frage aufgegriffen, welche Arten der Lust in die gute Mischung unseres Lebens gehören. Sie wird an die Einsichten gerichtet als Frage, ob sie in der Mischung der Lüste bedürfen. „Welcher Lüste?"25 könnten sie in gespielter Ahnungslosigkeit und nicht ohne Arroganz zurückfragen. Diese Rückfrage würde aber wortlos übergangen. Ihr Recht läge darin, daß die Einsicht die Lust nur in einem verschwindend kleinen Teil der Dialektik und sonst nirgends zum Erkenntnisgegenstand hat. Das Recht, die Rückfrage wortlos abzutun, wäre darin begründet, daß die Einsicht als menschliche Einsicht in sich lustvoll, also mit einer bestimmten Art der Lust stets schon geeint ist und das spätestens seit der dialektischen Bestimmung der Lust auch wissen muß. Die Einsichten werden deshalb gleich weiter befragt, ob sie außer der wahren Lüste auch der größten und heftigsten bedürfen. Das weisen sie zurück, denn diese Lüste schaden ihnen, indem sie die Seelen verwirren, dem Entstehen von Erkenntnis hindernd im Weg stehen und erworbene Erkenntnis dem Vergessen aussetzen. Dagegen nehmen sie alle reinen und wahren Lüste als ihnen verwandt bereitwillig auf, und außerdem auch noch diejenigen, die mit der Gesundheit und der Besonnenheit zusammengehen und die, die alle Trefflichkeit begleiten. Die Auswahl der Bestandteile, aus denen die gute Mischung unseres Lebens herzustellen ist, ist vollzogen. Alle Arten der Einsicht gehören *5 63c8: " ", , " ;" Apelt übersetzt: „worauf sie vielleicht antworten würden: ,Was haben wir mit den Lüsten zu schaffen?'"
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in die Mischung28, und von Seiten der Lust alle Arten, die nicht schlecht und nicht sch dlich sind. Au erdem ist noch Wahrheit beizumischen27. Zur Frage steht nun noch das Mischungsverh ltnis. Die zur Mischung zugelassenen Arten der Einsicht und der Lust m ssen in ausgewogenem Verh ltnis gemischt werden, wenn die Mischung gut und unser Leben gl cklich sein soll. F r das ausgewogene Mischungsverh ltnis kann aber offenbar kein Rezept mitgeteilt werden. Das einzige, was der philosophischen Untersuchung hier m glich ist, das ist die Festlegung eines Rangverh ltnisses zwischen Lust und Einsicht. Auf sie zielte Sokrates, seit sich gezeigt hatte, da das f r den Menschen Gute weder die Lust noch die Einsicht ist, mit seiner Ank ndigung, da er f r die Einsicht um den zweiten Platz in der Rangordnung des Guten streiten wolle. Wenn entschieden werden soll, ob der Einsicht oder der Lust in einer Rangordnung des Guten die h here Stelle zukommt, mu ein Gutes zum Ma stab genommen werden. Was w re das Gute, das hier als Ma stab dienen k nnte? Nichts anderes als das f r den Menschen Gute, also die gute Mischung seines Lebens28. Genauer gesagt: nichts anderes als das an der Mischung, was die Mischung gut sein l t. Was ist das aber? Dasselbe, das j e d e Mischung gut sein l t29. Und was ist das? Es zeigt sich zuerst als rechtes Ma (μετριότης) und richtiges Verh ltnis (συμμετρία). Hiermit nun aber „hat sich uns das Wesen des Guten in die Natur des Sch nen gefl chtet" (καταπέφευγεν ήμϊν ή του άγαθοϋ δύναμις εις την του κάλου φύσιν — 64e5 f.). Aus jener ersten (Doppel-)Bestimmung geht die Sch nheit als zweite Bestimmung hervor. Sie meint zugleich Trefflichkeit (αρετή — siehe 64e7). Das Sch ne ist hier das leuchtend Scheinende u n d das Anziehende, das Streben auf sich Ziehende (w hrend sein Gegenteil, das H liche, das Licht des Tages scheut und macht, da man sich 2e
64a4 f. werden audi Erinnerung und richtige Meinung (und damit zugleich Wahrnehmung, Ged chtnis, Erwartung) eingeholt. 27 Dieser Gedanke wird hier von Platon ganz unvermittelt hingesetzt. Ohne ihn k nnte freilich in dem nun folgenden Gedankengang die Wahrheit nicht zum Ma stab genommen werden, und man m chte vermuten, da er sich deshalb an dieser Stelle findet. Was wird gesagt? Ein Werdendes oder Seiendes, dem nicht Wahrheit beigemischt ist, k nnte niemals wahrhaft werden oder, wenn es geworden ist, sein. Wahrheit meint hier: Hervorgehen in das Erscheinen als ein Etwas. 28 Das scheint widersinnig, wo doch nach dem ausgewogenen Verh ltnis und damit nach dem Guten dieser Mischung gerade noch gefragt wird. Indessen liegen hier, wie sogleich deutlich werden wird, zwei verschiedene Hinsichten vor. 29 Platon spricht hier von Ursache (αΐτ'ια — 64d4), gemeint ist aber nicht die vierte Gattung, sondern es ist auf das Seiende der dritten Gattung geblickt, auf das an ihm, durch das es gut wird und ist.
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abwendet — vgl. 65e9—66a3). Zu den beiden Bestimmungen richtiges Verhältnis (und rechtes Maß) sowie Schönheit (und Trefflichkeit) tritt als dritte die Wahrheit30. Richtiges Verhältnis, Schönheit und Wahrheit — in diese drei Bestimmungen legt sich das Gute der Mischungen und also auch das Gute unseres gemischten Lebens auseinander. An ihnen sind daher Lust und Einsicht zu messen, damit ihnen ihr Platz in einer Rangordnung des Guten zugewiesen werden kann. Dies Messen vollzieht sich als ein Entscheiden über die nähere oder entferntere Verwandtschaft von Lust einerseits, Einsicht andererseits mit richtigem Verhältnis, Schönheit und Wahrheit. Dabei werden Lust und Einsicht als Gattungen vorgenommen, und nicht werden Arten der Lust und der Einsicht einzeln gegeneinandergestellt und geprüft. Das Ergebnis kann daher auch nur sein, daß allgemein die Gewichtigkeit von Lust und Einsicht in der guten Mischung unseres Lebens bestimmt sein wird. Als erstes wird die Verwandtschaft der Lust und der Einsicht mit der Wahrheit untersucht. Die Entscheidung fällt zugunsten der Einsicht aus. Sie ist der Wahrheit verwandter, als die Lust es ist. Denn sie ist entweder mit der Wahrheit eins31 oder der Wahrheit ähnlicher als irgendetwas sonst und selbst in höchstem Maße wahr (siehe 65d2 f.). Wahrheit gehört so wesentlich zur Einsicht, daß diese ihren Namen gar nicht verdient, wenn ihr Wahrheit abgeht. In der dialektischen Bestimmung der Einsicht zeigte sich auch die niedrigste Art noch als wahr. Lust dagegen verträgt sich sehr wohl mit Unwahrheit. Protarchos spricht ihr große Unwahrhaftigkeit zu und verweist darauf, daß bei den Liebeslüsten sogar der Meineid auf die Verzeihung der Götter rechnen kann. Auch dem richtigen Verhältnis bzw. dem rechten Maß ist die Einsicht verwandter als die Lust. Protarchos meint hier, es gebe nichts Maßloseres ( ) als die Lust, nichts Maß-habenderes ( ) als die Einsicht. Schließlich obsiegt die Einsicht auch, wenn nun der Maßstab der Schönheit angelegt wird. Sie ist schöner als die Lust. Denn sie hat keine Möglichkeit, jemals häßlich zu sein, sagt Protarchos mit Emphase, während die Lust, wenn sie am größten ist, zuhöchst häßlich ist, so daß wir uns schämen, wenn wir Menschen ansichtig werden, die sie genießen, und solche Lust im Dunkel der Nacht verbergen, wenn wir selbst uns ihr überlassen. » Vgl. S. 210 mit Anm. 27. wenn man Wahrheit ganz auf die Seite des Erkennens stellen wollte, was im Philebos gerade nicht geschieht — 31
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Man mag sich fragen, ob der Vorrang für die Einsicht nicht allzu billig erstritten worden ist. Spräche nicht Protarchos sondern Sokrates, so könnte man fast Verdacht schöpfen, hier werde manipuliert. In alle drei Prüfungen werden nämlich ausgerechnet die Arten der Lust stellvertretend für alle hineingeschickt, die nach Platon nicht oder jedenfalls so nicht, wie sie hier erscheinen, zur Mischung unseres Lebens zugelassen sind82. Von ihnen her kann daher kaum eine gerechte Entscheidung über das Rangverhältnis und die Gewichtigkeit von Lust und Einsicht in der guten Mischung getroffen werden. Warum verfährt Platon so? Und darf er so verfahren? So zu verfahren ist nur legitim, wenn das Ergebnis das gleiche wäre, hätte man die heftigen und schlechthin maßlosen Lüste überhaupt nicht berücksichtigt. Tatsächlich wäre die Prüfung dann zu demselben Ergebnis gekommen. Die Einsicht ist schlechterdings wahrer als alle Lust. Denn mag Lust auch wahr sein (und es gibt wahre Lust, wie die dialektische Bestimmung der Lust ergab — und nur deshalb ist es ja auch möglich, den Maßstab der Wahrheit an die Lust anzulegen), sie wird darin doch von jeder Einsicht übertroffen, insofern Einsicht und nur sie ihr Wesen darin hat, Wahrheit zu erfassen und zu eröffnen. Ferner: Da die Einsicht in die Gattung der Grenze gehört und da nicht nur reine und Maß habende Lüste, sondern auch unreine Lüste in die Mischung aufzunehmen sind, die Lust also durchaus als zur Gattung des Grenzenlosen gehörig im Blick steht, unterliegt sie der Einsicht in jedem Fall auch in den beiden weiteren Prüfungen, in denen an den Maßstäben des rechten Maßes und der Schönheit gemessen wird. Ist also Platons Vorgehen legitim und das Ergebnis nicht verfälscht, so bleibt doch die Frage, w a r u m er Protarchos über das Ziel hinausschießen läßt. Platon dürfte damit zwei Absichten verfolgt haben, von denen eine unschwer zu entdecken ist33: Er holt zum letzten Schlag aus gegen die Position, die Protarchos nun hinter sich gelassen hat, die aber in Philebos präsent ist34. D i e Lust als d a s Gute setzen (und das gerade um der Grenzenlosigkeit der Lust willen) erweist sich als absurd, wenn der Maßstab des Guten sich als der dreifache Maßstab von Wahrheit, richtigem Verhältnis (rechtem Maß) und Schönheit (Trefflichkeit) gezeigt hat. 3t
Möglich geworden ist das dadurch, daß die Gattung der Lust und die Gattung der Einsicht an dem dreifachen Maßstab gemessen werden. 3S Zur zweiten Absicht siehe Anm. 42 zu diesem Kap. 84 Vgl. aus der im Text bald folgenden Rekapitulation 66e2 f.
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Seit Sokrates die M glichkeit ins Gespr ch gebracht hatte, das f r den Menschen Gute sei weder Lust noch Einsicht, sondern ein Drittes, stellte er in Aussicht, der Einsicht jedenfalls den zweiten Platz erstreiten zu wollen. Jetzt ist der Vorrang der Einsicht vor der Lust dargetan worden. Aber nun stellt Sokrates eine Rangordnung des Guten auf, in der auch die Einsicht nicht die zweite Stelle einnimmt, ja in der das gemischte Leben den ersten Platz r umt. Der erste Platz wird zugesprochen dem Ma (μέτρον), dem Angemessenen (μέτριον), dem Passenden (καίριον) und allem dergleichen. Was damit gemeint ist, ergibt sich aus dem vorangegangenen Gedankengang35. Gemeint ist das Gute, das dort zum Ma stab genommen wurde — eben dasjenige an jeder guten Mischung, das sie gut sein l t (die ,Ursachec in diesem Sinne — vgl. Anm. 29 zu Kap. 12) und das sich zuerst als rechtes Ma (μετριότης) und richtiges Verh ltnis (συμμετρία) zeigte. Den zweiten Platz haben inne das Abgemessene (σύμμετρον), Sch ne (καλόν), Vollendete (τέλεον), Gen gende (ίκανόν) und alles andere dieses Geschlechts. Hier haben alle guten Mischungen selbst — als Seiendes der dritten Gattung (des Werdens zum Sein) — ihre Stelle, und also auch die gute Mischung unseres Lebens. Da sie als abgemessene und sch ne das Vollendete und Gen gende ist, nach dem seit der fr heren Verst ndigung ber das Gute als solches auszuschauen war, wird hier durch die Aufz hlung mitgesagt. Auf dem dritten Platz findet sich die Vernunft als hervorbringende Ursache guter Mischung. Der Einsicht, sofern sie von der Gattung der Grenze ist, wird der vierte Platz zugewiesen36. Den f nften Platz erhalten die reinen L ste. Ein sechster Platz wird noch genannt — hierhin wird man die brigen zur Mischung zugelassenen L ste setzen sollen. Gefragt wurde nach dem Verh ltnis, in dem Lust und Einsicht zu mischen sind, soll die Mischung unseres Lebens gut sein. Ein Rezept war nicht zu erwarten, sondern nur die allgemeine Festlegung eines Rangverh ltnisses zwischen Lust und Einsicht, aus der sich die Gewichtigkeit von Lust und Einsicht berhaupt in der Mischung ergibt. Das Rangverh ltnis ist nun endg ltig so bestimmt, da die Einsicht in der Rangordnung des Guten die vierte Stelle einnimmt, w hrend die Lust auch mit ihren besten, den reinen Arten nicht ber den f nften Platz hinauskommt. So w re denn also der Einsicht in der guten Mischung un35
Der Interpret ist daher gegen ber dem bersetzer in der g nstigeren Lage, die textkritisch umstrittene und nach wie vor unsichere Zeile 66a8 auf sich beruhen lassen zu k nnen. M Vgl. Anm. 39 zu diesem Kap.
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seres Lebens mehr Gewicht zu geben als der Lust, woraus freilich für e i n e Art der Lust keine Einschränkung erwächst, nämlich für die Lust, deren wir im Vollzug von Erkenntnis teilhaftig sind. Das Gespräch hat sein Ziel erreicht. Sokrates wiederholt noch einmal in größten Zügen den Gang der Überlegung. Protarchos zeigt sich befriedigt und glaubt, auch die anderen, die zugehört haben, seien es. Als aber Sokrates nun freigelassen sein will, reklamiert Protarchos ein Weniges ( ), das noch ausstehe, und hält ihn fest. Damit endet — verblüffend genug — der Dialog. Es konnte nicht ausbleiben, daß Interpreten nach Textstellen im Dialog suchten, an denen ausdrücklich etwas offengelassen wurde — sie fanden sie auch87. Die volle Bedeutung des Dialogendes scheint mir damit aber nicht erfaßt. Platon dürfte hier kaum auf etwas Ubergangenes oder Beiseitegelassenes hinweisen wollen, zu dem er dann doch nichts mehr sagt. Viel wahrscheinlicher ist es, daß Protarchos etwas vermißt, das ihm nicht deutlich geworden ist, das ihm also von Sokrates nicht ausdrücklich klargemacht worden ist, und zu dem doch Platon nichts weiter mitzuteilen hat. Kurz gesagt, mit dem Schluß des Dialogs dürfte Platon den Leser dazu auffordern, sich dem Problem zu stellen, das der Dialog deutlich zu erkennen gab, ohne es je als Problem zu formulieren: dem Problem der Einsicht, sofern sie zwei Gattungen des Seienden angehört und damit selbst zwiefach ist. Die Einsicht ist von der Gattung der Grenze, sofern sie Bestandteil der Mischung ist und jede Mischung aus Grenzenlosem und Grenze gemischt wird. Jede solche Mischung bedarf aber einer Ursache. Die Ursache wurde als vierte Gattung gesichert und als Vernunft (Einsicht) bestimmt. Unsere Einsicht, sofern sie Ursache der Mischung unseres Lebens ist, ist in die Gattung der Ursache zu setzen. Damit stellt sich das Problem der Vermittlung der aus und in zwei Gattungen seienden menschlichen Einsicht. Platon hat dies Problem für jeden, der es bei seinem Auftauchen bemerkt hat, ständig gegenwärtig gehalten durch die Art und Weise, wie er auch weiterhin und bis zum Ende des Dialogs die Ausdrücke (Einsicht) und (Vernunft) gebraucht38: Er verwendet sie beliebig sowohl für die Einsicht, die der Gattung der Grenze zuzurechnen ist, als auch für die Einsicht, die von der Gattung 37
Apelt zu 67bll—13: „Mit diesen Worten wird wohl angespielt auf 50 DE. Vielleicht auch auf 41 A." (41 a dürfte aber eingelöst sein durch 45a ff.) Hackforth zur Stelle: „The reference is doubtless to the further discussion of mixed pleasures promised for to-morrow at 50 D." Vgl. auch Bury zur Stelle. 88 Vgl. Anm. 18 zu diesem Kap.
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der Ursache ist, ja er h uft sogar beide Ausdr cke, wenn er von der Einsicht in einer der beiden Bedeutungen spricht3". Eine terminologische Festlegung der Ausdr cke je auf die der zweiten oder der vierten Gattung zugeh rige Einsicht h tte verdecken k nnen, da die menschliche Einsicht (die menschliche Vernunft) einen Gattungsunterschied in sich hat. Dieser Gattungsunterschied und seine Vermittlung sind jetzt zu thematisieren. Dabei wird im folgenden mit jEinsicht* die der Gattung der Grenze zuzuordnende Einsicht (bzw. Vernunft) bezeichnet werden, mit , Vernunft' hingegen die der Gattung der Ursache zugeh rige Einsicht (bzw. Vernunft). Von den vier Gattungen alles Seienden in der Welt her sollte die ontologische Struktur des f r den Menschen Guten erhellt werden, das sich schon als eine Mischung aus Lust und Einsicht zu denken gegeben hatte. Das legt nahe, die Vermittlung von Einsicht und Vernunft zu versuchen im Ausgang von der Vereinigung, die bez glich der vier Gattungen alles Seienden in der Welt gedacht werden konnte. Die g ttliche Vernunft, so zeigte sich, wohnt als Ursache der von ihr erwirkten Mischung ein, wiewohl sie von ihr und ihren Bestandteilen der Gattung nach verschieden ist und bleibt. (Entsprechendes gilt f r die menschliche Vernunft und das Lebewesen Mensch.) So k nnte auch die menschliche Vernunft dem aus Lust und Einsicht gemischten Leben einwohnen, wiewohl sie von dieser ihr verdankten Mischung und ihren Bestandteilen der Gattung nach verschieden ist und bleibt. Und so w ren jedenfalls auf diese Weise Vernunft und Einsicht vermittelt. Jedoch stellen sich dieser Inanspruchnahme der zu einem Einen vereinigten vier Gattungen alles Seienden Hindernisse in den Weg. Es zeigte sich schon, da weder die Zuordnung der Lust zur Gattung des Grenzenlosen noch die der Einsicht zur Gattung der Grenze restlos aufgeht. Die dialektische Er rterung der Lust f hrte auf Arten, die Ma habend, also nicht grenzenlos sind. Die Einsicht ist selbst kein Zahlen- oder Ma Verh ltnis; ihre Verwandtschaft mit ihren Gegenst nden, den Zahlen- und Ma verh ltnissen, macht, da sie von der Art der Grenze ist. Dabei scheinen die Arten der Einsicht, die Zahlen- und Ma Verh ltnisse so anwenden, da sie dabei Seiendes der dritten Gattung hervorgehen lassen, eher in die Gattung der Ursache zu geh ren. Und Vollz ge der Einsicht, die es 39
So noch an entscheidender Stelle: 66b5 f.; die Folge davon ist, da 66b8—cl kein zusammenfassender Begriff zur Verf gung steht. (Das umschreibende α της ψυχής αυτής ε'Φεμεν (b8) ist in Zusammenhang zu sehen mit 63d5 f.: ... τας ψυχάς εν αΐς οίκοΰμεν ., .)
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nicht dank der Anwendung oder Erkenntnis von Zahlen- und Maßverhältnissen zum Wissen bringen (wie schlichte Wahrnehmungen und ihnen zugehörige Erinnerungen und Erwartungen), fallen aus der Gattung der Grenze heraus (wie sie ja auch gerade grenzenlose Lüste mit konstituieren). Ähnlich widersetzen sich aber nun auch die Mischung aus Lust und Einsicht und die Vernunft einer starren Zuordnung zur dritten bzw. vierten Gattung. In Seiendem der dritten Gattung, das ist in der Weise des Werdens zum Sein, werden Grenzenloses und Grenze verwandelt zu Begrenzbarem und Begrenzendem und als solche vereinigt. Die aus der Gattung der Grenze herstammenden Bestandteile der Mischung, zu Begrenzendem verwandelt, w i r k e n in der Mis c h u n g als b e g r e n z e n d die aus der Gattung des Grenzenlosen herstammenden Bestandteile. In der Mischung unseres Lebens aber wirken die Einsichten nicht als begrenzend die Lüste. In ihr schränken sich zwar Einsichten und einige Lüste gegenseitig ein (die nämlich, deren wir nicht gleichzeitig teilhaftig werden können), aber diese Einschränkung ist nicht das Resultat einer auf sie gerichteten Tätigkeit der Einsichten. Sie wird vielmehr von der Vernunft, der Ursache der Mischung, erwirkt. Während sonst bei dem Seienden der dritten Gattung die Vernunft die aus der Gattung der Grenze herstammenden Bestandteile zu begrenzenden verwandelt und ihnen überläßt, als begrenzende in der Mischung wirksam zu sein, bleibt bei der Mischung unseres Lebens die begrenzende Wirksamkeit ganz bei der Vernunft als der Ursache der Mischung. So gehen auch die Zuordnung des gemischten Lebens zur dritten Gattung und die der Vernunft zur Gattung der Ursache alles Seienden in der Welt nicht völlig auf. Darin, daß unsere Vernunft für die Mischung aus Lust und Einsicht begrenzend wirkt, also eine Funktion übernimmt, die sonst von der Ursache den aus der Gattung der Grenze stammenden Bestandteilen ermöglicht und überlassen wird, ist nun allerdings nicht schon eine Vermittlung zwischen Einsicht und Vernunft zu erblicken. Im Gegenteil verschiebt sich nur das Problem und muß die Vermittlung als um so schwieriger erscheinen. Die Einsichten sind mit anderem beschäftigt als damit, in begrenzender Wirksamkeit die Mischung ihrer selbst mit den zur Mischung zugelassenen Lüsten eine abgemessene und schöne sein zu lassen, und sie sind daher der Ursache der Mischung, der Vernunft, ferner als das Begrenzende anderer Mischungen. Können also Vernunft und Einsicht des Menschen vermittelt werden, und bewährt vielleicht trotz der aufgeführten Differenzen jene ontolo-
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gisdi erarbeitete Einheit der vier Gattungen alles Seienden ihre aufhellende Kraft? Die göttliche Vernunft als Ursache des Kosmos verwandelt Grenzenloses zu Begrenzbarem und Grenze zu Begrenzendem und vereinigt Begrenzbares und Begrenzendes. Unsere Vernunft v e r w a n d e l t die Lust einerseits, die Einsicht andererseits in dem Sinne, daß sie sie b e r e i t m a c h t , sich mischen zu lassen, u n d sie v e r e i n i g t sie. Die Vernunft erwirkt die Bereitschaft der Lüste, die nicht immer schon (nämlich als Lust an Erkenntnissen) mit der Einsicht geeint sind, sich mit der Einsicht mischen zu lassen, und sie erwirkt die Bereitschaft der Einsicht, sich mischen zu lassen mit Lüsten, die nicht immer schon mit ihr geeint sind, und zwar auch mit unreinen Lüsten. Um hierauf aufmerksam zu machen, läßt Platon 63a8 ff. Lüste und Einsichten selbst zu Wort kommen40. Sie selbst erklären ihre Bereitschaft, sich mischen zu lassen. Aus ihnen spricht gewissermaßen die Vernunft, wie sie ja auch das sagen, was die Vernunft bei der von ihr zu vollziehenden Auswahl der Bestandteile der Mischung denkt. Was hier in Wahrheit von der Vernunft verwandelt wird, das sind die Haltungen, die zu Beginn des Gesprächs als These des Protarchos und Antithese des Sokrates gegeneinander antraten. Anders gewendet: Die Vernunft hat Protarchos verwandelt zur Bereitschaft, alle Einsichten zur Mischung seines Lebens zuzulassen (und diese Verwandlung kommt um so deutlicher heraus durch den Kontrast zwischen Protarchos und Philebos). Sokrates, der nach seinem eigenen Zeugnis (66el f.) das Ergebnis des Gesprächs von Anfang an schon antizipiert hat (und der deshalb seine These nie mit der gleichen Schärfe zu formulieren vermochte, die der gegnerischen These eignete), hat seine Verwandlung am Beginn des Dialogs schon hinter sich. Er ist, was seine Einstellung zur Bedeutung der Lust für das der philosophischen Einsicht gewidmete Leben betrifft, nicht mehr derselbe, als der er im Symposion (bei der Ineinssetzung von Eros und ihm — vgl. S. 12 f.) erschien und der er im Phaiäon und auch noch im Phaidros (vgl. 249c4 f. u. 250cl—6) war. (Ich sehe in dieser indirekten Aussage und ihrem Gewicht in dem hier erörterten Zusammenhang den Grund dafür, daß Platon anders als in den anderen Dialogen seiner Spätzeit im Philebos noch einmal Sokrates zum Gesprächsführer macht.) — Die Vernunft, der Gattung der Ursache angehörend, verwandelt Lust und Einsicht zur Bereitschaft, sich im Leben mischen zu lassen, und sie stellt die Mischung aus den so Verwandelten her. Sie ist mit der * Vgl. S. 208 f.
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Mischung und ihren Bestandteilen ebensosehr geeint wie die göttliche Vernunft mit der Mischung Welt und ihren Bestandteilen. Das heißt aber: Vernunft und Einsicht sind geeint. Der Gattungsunterschied zwischen ihnen (der bestehen bleibt) reißt den Menschen nicht auseinander. Indessen ist, soweit bis jetzt zu sehen ist, die Vernunft mit der Einsicht nicht enger vereinigt, als sie es mit der ihr doch recht fernen Lust ist. So wäre denn nun zu fragen, ob zwischen Vernunft und Einsicht nicht eine noch engere Vermittlung gedacht werden kann. Und da zeigt sich: Vernunft und Einsicht sind vermittelt in dem Gespräch und durch das Gespräch, das Sokrates mit Protarchos führt. In ihm wirken Vernunft und die Einsicht in Gestalt der Dialektik um des für den Menschen Guten willen zusammen. Die Einsicht als Dialektik ist im Dialog tätig im Dienst der Vernunft, die den Dienst der Einsicht in Anspruch nimmt und sich daher als wissende an ihre Aufgabe begeben kann. Die Dialektik erkennt das für den Menschen Gute als Drittes, als Mischung; sie zergliedert ontologisch Mischung überhaupt auf ihre Gattungen hin und denkt die Einheit der vier Gattungen alles Seienden in der Welt; sie legt die Gattungen der Lust und der Einsicht in ihre Arten auseinander und stellt sie so für die Mischung bereit. Dann wird das Gespräch an die Vernunft übergeben. Das wird 61bll—c2 angedeutet durch den Anruf der Götter des Mischens41. Unsere Vernunft ist von der Gattung der göttlichen Vernunft, der Ursache des Kosmos, und wie diese die schöne Mischung der Welt erwirkt, so hat unsere Vernunft die gute Mischung unseres Lebens zu erwirken. An diese Verwandtschaft wird mit dem Anruf an die Götter des Mischens erinnert. Mit ihm wird angezeigt, daß jetzt die Vernunft ihr Werk beginnt — nämlich mit der Auswahl der Bestandteile der Mischung. Die Vernunft tritt dann nochmals vor der Dialektik zurück42 und läßt sich von ihr den dreifachen Maßstab des Guten, das Rangverhältnis von Lust und Einsicht, ja die Rangordnung des Guten mit ihren sechs Stufen geben. Danach hat sie sich wieder ans Werk zu machen, freilich nicht mehr das Gute denkend und innerhalb des Dialogs, sondern im Leben des einzelnen Menschen, der sich das vom Dialog eröffnete Wissen zugeeignet hat. 41
Vgl. S. 208. Das auffällig zu machen, scheint mir die zweite Absicht zu sein, die Platon damit verbindet, daß er Protarchos bei der Festlegung des Rangverhältnisses zwischen Lust und Einsicht hinsichtlich der Beurteilung der Lust über das Ziel hinausschießen läßt. Dialektik knüpft so an Dialektik an, ohne zu achten auf das, was die Vernunft inzwischen gedacht und entschieden hat. 42
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Aufgabe der Vernunft (der Einsidit, sofern sie von der Gattung der Ursache ist) ist es, die Bereitschaft der Lust und der Einsicht, sich mischen zu lassen, zu erwirken und die gute Mischung herzustellen. Da die gute Mischung unseres Lebens, wie jede Mischung, zur dritten Gattung alles Seienden in der Welt gehört und also ist in der Weise des Werdens zum Sein, kann die Vernunft ihre Aufgabe niemals hinter sich bringen. Ein Leben lang obliegt ihr das Mischen. Ein Leben lang obliegt ihr die Sorge für das Glück. Vorbereitet ist sie durch die Dialektik. Dank der Dialektik geht sie wissend an ihr Werk. Das der Dialektik verdankte Wissen bleibt aber umrißhaft. Es weiß, daß das menschliche Glück die gute Mischung aus Lust und Einsicht ist; es kennt die ontologische Struktur von Mischung; es verfügt über die deutliche Unterscheidung der Arten der Lust sowohl als auch der Einsicht; es hat begriffen, was eine Mischung zur guten Mischung macht; es hat das Rang Verhältnis von Einsicht und Lust gefaßt und eine Rangordnung des Guten erblickt. Es weiß aber kein Rezept, nach dem Lust und Einsicht zu mischen wären, damit die Mischung des Lebens gelingt. Der höhere Rang der Einsicht gegenüber der Lust steht dafür ein, daß der Einsicht in der Mischung mehr Gewicht zukommt als der Lust. Indessen darf die Lust nicht um ihren rechtmäßigen Anteil gebracht werden. Das Ausgewogene der Mischung kann nicht an einem bestimmten Zahlen- oder Maßverhältnis abgelesen werden. Die Vernunft muß es treffen. Dasselbe gilt für Auswahl und ausgewogenes Verhältnis der Einsichten selbst in der Mischung. Kein Individuum kann auf allen Gebieten der Wissenschaften und der Künste wissend sein43. In der guten Mischung unseres Lebens darf die Dialektik nicht fehlen und kann sie nicht die einzige Art der Einsicht sein. Nur mit diesem Wissen ausgerüstet, muß die Vernunft des Individuums Einsichten auswählen und ein ausgewogenes Mischungsverhältnis herstellen. Das alles ist schwer. Daß es überhaupt gelingen kann, gründet für Platon in der Zugehörigkeit unserer Vernunft zur Gattung der Ursache, das heißt in der Abkunft unserer Vernunft von der göttlichen und also in der Verwandtschaft zu ihr. Damit wird zugleich klar: Indem der Mensch die gute Mischung seines Lebens vollbringt, verwirklicht er tätig seine Herkunft vom Göttlichen. Er wird Gott ähnlich, soweit es einem Menschen möglich ist. Er tut für sich, was Gott für die Welt tut, indem er sie die schöne Mischung aus Grenzenlosem und Grenze sein und werden läßt. 43
Von der Basis dieser Erkenntnis aus bekämpft Platon selbst die Sophistik.
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Es wurde gesagt, in der guten Mischung unseres Lebens dürfe die Dialektik nicht fehlen. Sie hat unter den Arten der Einsicht den höchsten Rang, und sie müßte mehr als jede andere Einsicht die reine Lust an Erkenntnissen gewähren, die unter den Lüsten den höchsten Rang hält. Wer der dialektischen Erkenntnis nicht fähig ist oder sie aus anderen Gründen nicht vollzieht, erreicht demnach nicht die Gestalt des Glücks, die im Philebos als das für den Menschen Gute im Sinne des Vollendeten herausgearbeitet wurde. Tatsächlich hatte ja Platon, als die dialektische Bestimmung der Lust bei der reinen Lust an Erkenntnissen ankam, schon klargemacht, daß nur wenige Menschen dieser Art der Lust teilhaftig werden (52b7 f.). Wenn man nicht annehmen will, Platon halte das Glück, nach dem ja alle Menschen streben, nur für wenige überhaupt für erreichbar, muß man ihn dahin verstehen, daß das Glück gestuft ist. Wo die Dialektik als Bestandteil der Mischung fehlt, erreicht das Glück nicht seine höchste Gestalt. Hinzukommt, daß ohne Dialektik die Vernunft als Ursache der Mischung ihre Aufgabe nicht wissend übernehmen kann. — Vermag aber ein Individuum die höchste Gestalt des Glücks zu erstreben, so sind auch hier noch Unterschiede möglich. Ein Leben lang die schöne Mischung aus Lust und Einsicht treffen, das ist so schwer, daß die Annäherung an dieses Ziel für das endliche Wesen Mensch schon Glück bedeutet. Der Philebos thematisiert das für den Menschen Gute als Glück. Er fragt, welches Leben gut und das heißt glücklich ist. Gut und glücklich ist ein Leben, das vollendet und genügend ist und das von allem wissenden Streben stets zuerst und zuhöchst gewählt wird. Vor diesem dreifachen Anspruch bestehen weder das ganz der Lust gewidmete, aller Einsicht entratende Leben noch dessen Gegensatz, das Leben der Einsicht, das auf jegliche Lust verzichten wollte. Die erste Lebensform ist von dem für den Menschen Guten so weit entfernt, daß sie untermenschlich ist. Die zweite Lebensform entfernt sich von dem für den Menschen Guten ebensoweit in die entgegengesetzte Richtung — sie ist übermenschlich, göttlich. Das für den Menschen Gute und sein Glück dürfte in der Mitte zwischen diesen Lebensformen liegen. Es zeigt sich als ein Drittes, als das aus Lust und Einsicht gemischte Leben. Das Glück steht jetzt in Frage als die vom Menschen in seinem Leben und als sein Leben zu vollbringende gute Mischung aus Lust und Einsicht. Soll dem Menschen die gute Mischung seines Lebens gelingen und er sich darin sein Glück erwirken, dann bedarf er eines nach vier Hinsichten entfalteten Wissens: 1. Er muß hinreichend erfassen, wie überhaupt
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Mischung ontologisch strukturiert ist. Das wird erreicht durch eine dialektische Bestimmung der obersten Gattungen alles Seienden in der Welt. 2. Er bedarf einer deutlichen Kenntnis der Bestandteile der Mischung. Diese wird erlangt durch eine dialektische Erörterung) die die Gattung Lust einerseits, die Gattung Einsicht andererseits in ihre Arten zergliedert. 3. Er hat zu begreifen, was an einer guten Mischung eigentlich das ist, was sie gut sein läßt. 4. Er muß eine Rangordnung des Guten gewinnen, in der Lust und Einsicht ihre Stelle haben. Die dialektische Bestimmung der obersten Gattungen alles Seienden in der Welt legt vier Gattungen vor: Grenzenloses, Grenze, Mischung und Ursache. Von diesen vier Gattungen her kann der Mensch, der sein Glück erwirken will, sich durchsichtig werden, wenngleich eine starre Zuordnung sich nicht durchhalten ließe. Die Lust ist von der Gattung des Grenzenlosen; die Einsicht, sofern sie mit der Lust zu mischen ist, gehört zur Gattung der Grenze; das aus beiden gemischte Leben ist von der dritten Gattung, deren Seinsweise das Werden zum Sein ist; die Einsicht ist aber auch in die Gattung der Ursache zu setzen, denn sie ist es, die die Mischung ein Leben lang herzustellen hat. — Daß die Einsicht zwei Gattungen zuzuordnen ist, zwingt das Denken vor die Frage, ob etwa menschliche Einsicht durch diesen Gattungsunterschied in ihr in eine unv er mittelbare Zweiheit auseinanderbricht. Dieses Problem wird im Dialog nicht als solches formuliert und entsprechend auch nicht expressis verbis beseitigt, und doch ist es für den aufmerksamen Leser deutlich gemacht und gelöst. Die Einsicht als Ursache (Vernunft) und die Einsicht, sofern sie Bestandteil der Mischung und von der Gattung der Grenze ist, können als vermittelt gedacht werden in Entsprechung zu jener Einheit, die die göttliche Vernunft mit der von ihr erwirkten Mischung Welt und ihren Bestandteilen verbindet. Darüber hinaus läßt sich aber eine noch engere Einheit der zwei Gattungen angehörenden Einsicht mit sich selbst aufdecken im Hinblick auf das Zusammenwirken von Dialektik und Vernunft im Dialog und zugunsten des für den Menschen Guten, das sein Thema ist. Die dialektische Zergliederung der Gattungen der Lust und der Einsicht (sofern sie zur Gattung der Grenze gehört) gewährt das Wissen der Bestandteile der Mischung. Dies Wissen weiß die deutlichen Unterschiede zwischen wahren und falschen, reinen und unreinen, maßlosen und Maß habenden Lüsten einerseits, zwischen den nach dem Grad ihrer Reinheit, d. h. ihrer Genauigkeit, Sicherheit und Wahrheit, gestuften Arten der Einsicht andererseits.
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Dem Erkennen dessen, was an einer guten Mischung es ist, das sie gut sein läßt, entfaltet sich dies Gute in die drei Bestimmungen rechtes Maß (und richtiges Verhältnis), Schönheit (und Trefflichkeit), Wahrheit. Eine gute Mischung hat das rechte Maß, ist schön und ist wahr. Von der Erkenntnis des Guten jeder Mischung aus kann das Wissen einer Rangordnung alles Guten, das hei der guten Mischung unseres Lebens in Betracht zu ziehen ist, gewonnen werden. Den ersten Platz haben inne das Maß, das Angemessene, das Passende und alles übrige, das — wie sie — gute Mischungen gut sein läßt. Auf dem zweiten Platz finden sich alle guten Mischungen selbst, als Seiendes der dritten Gattung. Der dritte Platz gebührt unserer Vernunft als der Ursache, die die gute Mischung unseres Lebens zu vollbringen hat. Der vierte Platz kommt der Einsicht als Bestandteil der Mischung zu, der fünfte Platz den reinen Lüsten, der sechste den übrigen zur Mischung zugelassenen Lüsten. Gut und glücklich ist dasjenige menschliche Leben, von dem mit Recht gesagt werden kann, es sei vollendet und genügend und werde von allem wissenden Streben stets zuerst und zuhöchst gewählt. Diese Bedingungen erfüllt ein Leben, in dem Lust und Einsicht gemischt werden zu einer Mischung, die sich durch rechtes Maß, Schönheit und Wahrheit auszeichnet. Wissend geworden über das so bestimmte Ziel, über die ontologische Struktur von Mischung, über die Bestandteile der Mischung und die Rangordnung des Guten, kann sich die menschliche Vernunft an ihr Werk des Mischens begeben. Als erstes wird sie entscheiden**, welche Arten der Lust und der Einsicht in die Mischung aufzunehmen sind. Sie wird keine Art der Einsicht von der Mischung ausschließen, und auch von den Lüsten nur diejenigen unreinen, die durch ihre Maßlosigkeit die Mischung verderben würden. Ist diese Entscheidung vollzogen, so beginnt allererst das wirkliche Mischen im Lebensvollzug des Individuums. Die Bereitschaft der Lust und der Einsicht, sich mischen zu lassen, muß gewonnen werden. Die gute Mischung muß gelebt werden. Und dafür hat das Wissen kein Rezept bereitgestellt, hier blieb es vielmehr umrißhaft. Die Vernunft weiß hier nur vom Vorrang der Einsichten vor den Lüsten, wie er in der Rangordnung des Guten festgelegt ist. Sie wird also die Einsichten vor den Lüsten bevorzugen. Aber in welchem Verhältnis das zu geschehen hat, damit die Lüste ihren rechtmäßigen Anteil 44
Im Dialog geschieht das, ehe noch das Gute an einer Mischung und die Rangordnung des Guten bestimmt sind.
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an der Mischung erhalten und die Schönheit der Mischung nicht verfehlt wird, dafür ist ebensowenig ein bestimmtes Maßverhältnis vorgegeben wie für die Mischung der reineren und weniger reinen Arten der Einsicht. Die Vernunft muß aus sich das rechte Maß treffen, und das ein Leben lang. Ihre Abkunft von der göttlichen Vernunft macht sie dazu fähig. Im Mischen des guten Lebens verwirklicht sie ihre Verwandtschaft zur göttlichen Vernunft, die aus Grenzenlosem und Grenze den Kosmos in seiner Schönheit hervorgehen läßt. Sein Glück vollbringend, wird der Mensch Gott ähnlich, soweit das für ihn möglich ist. Das Glück, das der Philebos bestimmt hat, ist in der Gestalt, in der es bestimmt worden ist, nach Platon nicht jedem Menschen erreichbar. Es setzt voraus, daß der Mensch der Dialektik fähig ist und sie vollzieht, und das trifft nach Platons Auskunft nur bei wenigen zu. Alle erstreben aber das Glück, und wenn dieses Streben sich nicht an seiner eigenen Vergeblichkeit zerreiben soll (was es ganz offensichtlich nicht tut), wird man Stufen des Glücks annehmen müssen und dabei auf Platons Zustimmung rechnen dürfen. Ferner wird man in Platons Sinne Annäherung an das vollendete Glück auch unter den Menschen vielfach als gegeben ansehen müssen, die die höchste Gestalt des Glücks zu leben vermögen. — Der Philebos macht sichtbar: Der Mensch als Individuum vollendet sich, indem er sein Glück vollbringt, indem er eine Mischung aus Lust und Einsicht lebt, die im Anblick von rechtem Maß, Schönheit und Wahrheit erscheint. Der Politikos zeigte: Der Mensch als politisches Wesen vollendet sich im Staatsmann. Platon denkt also zwei Vollendungsmöglichkeiten des Menschen, gleichsam eine private und eine im öffentlichen Bereich. Wie stehen beide zueinander? Sie müssen in einem Menschen vereinbar sein, wenn nicht durch sie das Wesen des Menschen in eine Zweiheit zerrissen werden soll. Tatsächlich sind sie ohne Schwierigkeit im Denken wie im Leben zu vereinen. Denn sie sind einander im höchsten Maße verwandt. Das Individuum, das sein Glück erwirkt, und der Staatsmann, der als erste, herrschende Ursache den Staat anfänglich entstehen läßt und bewahrt, vollziehen eine Meßkunst, die in bezug auf das Angemessene mißt. Und diese Meßkunst des Individuums und des Staatsmannes entsprechen einander aufs engste. Was Gott für die Welt tut, das tut das Individuum, das sein Glück verwirklicht, für sich, und das tut der Staatsmann für den Staat. In beiden Vollzügen wird der Mensch Gott ähnlich, soweit es einem Menschen möglich ist. Das glückliche Individuum mischt Grenzenloses (Lust) und Grenze
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(Einsicht) —: es verwandelt sie zur Bereitschaft, sich mischen zu lassen, und vereinigt sie. Der gute Staatsmann mischt Grenzenloses (natürliche Besonnenheit und natürliche Tapferkeit der Bürger) und Grenze (das Schöne, Gerechte und Gute) —: er läßt sich durch die von ihm geleiteten Erzieher die tapferen und besonnenen Naturen zur Bereitschaft, sich binden und mischen zu lassen, verwandeln; er verwandelt das Schöne, Gerechte und Gute (Grenze) zu Begrenzendem, indem er es in Gesetze faßt45; er bindet die Bürger an die Gesetze und mischt so in ihnen Begrenzbares und Begrenzendes; er bindet damit zugleich die Tapferen und Besonnenen, die in ihrer ursprünglichen Natur zur Zwietracht trieben, aneinander und stellt die gute Mischung der Bürger in der staatlichen Gemeinschaft her. Die Vernunft des Individuums ist Ursache (vierte Gattung) des gemischten Lebens. Der Staatsmann ist Ursache der Mischung Staat. Die Vernunft des Individuums verdankt ihr Wissen des Guten der Dialektik. Dasselbe muß vom Staatsmann gesagt werden. Die beiden vom Philebos einerseits, vom Politikos andererseits gedachten vollendeten Vollzüge menschlichen Seins führen nicht dazu, daß im Wesen des Menschen eine unvermittelbare Zweiheit aufbricht. Sie entsprechen einander nicht nur in ihrer Struktur, sie sind auch im Leben des einzelnen vereinbar. Und lebt ein Mensch die Vereinigung beider, dann, so darf man jetzt sagen, gelingt ihm ein Höchstes: Er ist ein wahrer Staatsmann, der zugleich als Individuum Arten der Einsicht mit den zur Mischung zugelassenen Arten der Lust zur schönen Mischung seines Lebens vereinigt und glücklich ist. Platon spart im Philebos die Thematik des Politikos aus und umgekehrt. Das kann den Anschein erwecken, als ob das Glück des Individuums und der Mensch als politisches Wesen nichts miteinander zu tun hätten. Daß dieser Anschein trügt, zeigte sich soeben schon. Es bestätigt sich, wenn man die höchste menschliche Möglichkeit, die Einheit von glücklichem Individuum und wahrem Staatsmann in einer Person, beiseite stellt. Der Politikos dachte den Menschen als das dämonische Wesen, das zufolge seiner Herkunft aus dem Grenzenlosen nur in einer staatlichen Gemeinschaft zu leben vermag. Ohne Staat ginge der Mensch zugrunde, und vom glücklichen Leben des Individuums kann dann keine Rede mehr sein. Im Politikos erschien der Mensch als das Wesen, das in die Sorge für das eigene Sein versetzt ist. Diese Sorge ist zunächst Sorge 45
Zu als zu vergleichen).
siehe Philebos 26b9 f. (zur Formulierung dort ist u. a. 26b2
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für das Bestehen in der Welt und kann sich in die Sorge für die schöne Mischung des eigenen Lebens nur fortsetzen in einem Staat, in dem eine Gemeinschaft von Bürgern mit Erfolg für Existenz und Gedeihen ihrer Mitglieder sorgt. Vom Philebos aus ergibt sich derselbe Bezug. Der Mensch als das dämonische Wesen, das gerade auch im Bereich des Werdenden lebt, bedarf aller Arten der Einsicht, auch der ungenauen. Freilich heißt das, daß kein Individuum ein glückliches Leben zu führen vermag, wenn es seine Einsicht auf Dialektik und reine Mathematik beschränkt. Es heißt aber auch, daß der einzelne, der eben niemals in allen Wissenschaften und Künsten ein Wissender sein kann, nur in einer Gemeinschaft mit anderen, in der alle Arten der Einsicht arbeitsteilig zum Vollzug kommen, und das heißt in einem Staat, glücklich zu werden vermag. — Weiterhin gilt es zu sehen: Der Philebos, der auch das Thema der Trefflichkeit ( ,) weitgehend ausspart, läßt doch erkennen: Es bedarf, damit die gute Misdmng aus Lust und Einsicht1* gelinge, der Trefflichkeit im engeren Sinn. Denn nur ein trefflicher Mensch wird es fertigbringen, die heftigen, mit Besonnenheit und Gesundheit nicht vereinbaren Lüste aus der Mischung seines Lebens herauszuhalten. Nach dem Politikos entsteht aber Trefflichkeit in einem Menschen durch vorbereitende, vom Staatsmann angeordnete und geleitete Erziehung und durch die vom Staatsmann zu vollziehende Bindung mittels des göttlichen Bandes der Gesetze. Philebos und Politikos ergänzen einander; es bestehen sachliche Verschränkungen. Das ist möglich durch die gemeinsame anthropologische Grundlage: Der Mensch ist hier wie dort das dämonische Wesen, das seine Herkunft hat vom Grenzenlosen einerseits", von der göttlichen Ursache der Welt andererseits; er ist eine Mischung, ein Mittleres, und der Welt ähnlich™. Der Philebos spart nicht nur die Thematik des Politikos aus, sondern er spart auch, wie der Politikos, die Thematik des Phaidros aus. Daß der Philebos keine Beziehung zum Phaidros herstellt, ist erstaunlicher als daß der Politikos das nicht tut. Denn schließlidi zeigte ja auch der Phaidros menschliches Glück. Wendet sich das Denken von der Bestim46
die selbst auch als Trefflichkeit erscheint zufolge der Doppelbestimmung .Schönheit und Trefflichkeit' innerhalb der Bestimmung des Guten einer Mischung überhaupt — 47 weshalb der Mensch nicht nur weniger reine Einsichten, sondern auch unreine Lüste zur Mischung seines Lebens zulassen muß — 48 Vgl. S. 226 f.
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mung des Glücks im Philebos zum Phaidros zurück, so wird klar: Wenn der Phaidros das höchste dem Menschen mögliche irdische Glück und die dem Menschen in diesem mögliche Vollkommenheit darin erblickt, daß zwei Liebende in gemeinsamer Anstrengung die Wiedererinnerung an das wahrhaft Seiende philosophierend vollziehen und dabei ihrem Gott ähnlich werden, so genügt das nun nicht mehr, denn die Dialektik ist nur ein Bestandteil der Mischung, wenn auch ihr vorzüglichster. Ebenso offenkundig ist aber auch, daß die Bestimmung des Glücks im Philebos das Glück der Liebenden der höchsten Stufe, eben der Philosophierenden, in sich aufzunehmen vermag. Ja, nichts hindert anzunehmen, zwei Liebende könnten einander dazu verhelfen, daß jedem die gute Mischung seines Lebens gelingt. Die Steigerung der Liebenden aneinander läßt sich auf das Gott Ähnlichwerden übertragen, auf das der Philebos führt. Allerdings denkt der Philebos ein Glück, das die Liebe zweier Menschen zueinander und ihre Glückseligkeit nicht notwendig einschließt. Dennoch dürfte im Gedankenkreis des Philebos Eros unverzichtbar sein. Eros müßte, vom Philebos aus gesehen, auch anders geweckt werden können als durch die Schönheit eines jungen Antlitzes und einer jugendlichen Gestalt, nämlich durch die Schönheit der Welt, des Kosmos als guter Mischung. Tatsächlich verweist ja die Schönheit der Welt auf die göttliche Vernunft als ihre Ursache, von der unsere Vernunft herstammt. Am Anblick der Welt kann sich also Eros entzünden als das Streben, im Mischen der schönen Mischung aus Lust und Einsicht Gott ähnlich zu werden, soweit das einem Menschen möglich ist. Dem Streben, Gott ähnlich zu werden, fließt aus dem Gott die Kraft zu, sein Erstrebtes zu vollbringen. Diese Konzeption des Eros läßt sich gleichsam rückwirkend auf den Staatsmann übertragen, wobei an die Stelle der schönen Mischung aus Lust und Einsicht die schöne Mischung Staat zu setzen ist. — Indessen scheint so doch die Ferne zum Phaidros nicht überwunden (vgl. S. 182) und könnten sich Bedenken auch deshalb erheben, weil Welt und Gott im Politikos anders erscheinen als im Philebos. Dazu sei hier — mit allem Vorbehalt einer Untersuchung, die einen anderen Gegenstand hat als Platons Kosmologie und philosophische Theologie — folgendes angemerkt: Im Politikos zeigt sich die Welt als dämonisch. Sie ist das Lebewesen, das zugleich vom Göttlichen und vom Grenzenlosen herstammt. Zufolge seiner Herkunft vom Grenzenlosen muß dies Lebewesen für sein Bestehen und Gedeihen sorgen. Seine Herkunft vom Göttlichen macht es dazu fähig. Seine Vernunft erinnert sich an die göttliche Unter-
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Weisung. Dieser Welt ist der Mensch ähnlich als dämonisches, politisches Wesen. Im Philebos hat die Welt den Anblick der Schönheit. Sie ist die schönste und ruhigste ( ^ Mischung (63e9). Dieser Welt ist der Mensch ähnlich als beseelter Leib, der sein Gutes der der Seele einwohnenden Vernunft verdankt. Das für den Menschen Gute im eigentlichen Sinn ist aber eine andere Ähnlichkeit mit der Welt, nämlich die von ihm zu lebende schöne Mischung aus Lust und Einsicht. Die beiden Anblicke, die die Welt im Politikos einerseits, Philebos andererseits bietet, sind nur andere Akzentuierungen. Sie schließen einander nicht aus, lassen sich vielmehr vereinigen. Die Welt ist das schlechthin schöne Lebewesen, dessen Schönheit zwar aufgrund seiner Herkunft aus dem Grenzenlosen ständig gefährdet ist, das dieser Gefährdung aber Herr wird und erfolgreich für seine Schönheit zu sorgen vermag dank seiner göttlichen Herkunft. Von der göttlichen Ursache der Welt her ist zu ergänzen: Immer sorgt die göttliche Vernunft für die Schönheit der Welt so weit, daß die Welt als Lebewesen sich in ihrem Leben und durch ihr Leben ihre Schönheit bewahren kann. — Der Anblick der Welt, der im Politikos für die Absicht des Dialogs akzentuiert wurde, forderte, die göttliche Ursache der Welt aus der Welt herauszusetzen als den göttlichen Bildner und Steuermann, der sich zeitweise auf seine Warte zurückzieht. Jedenfalls war das für die Erzählung des Mythos gefordert; seine Deutung schon könnte wohl die göttliche Ursache wieder in die Welt hineinnehmen. Im Philebos ist sie in die Welt hineingenommen. Der Philebos steht damit dem Phaidros nahe (wenngleich er vielleicht die göttliche Vernunft als Ursache der Welt und die Weltseele schärfer scheidet als der PhaidrosJ. Das macht es möglich, im Denkkreis des Philebos an den Mythos des Phaidros anzuknüpfen bezüglich der Herkunft unserer Seelen aus der Teilhabe am göttlichen Leben und bezüglich Eros als Wiedererinnerung an diese Teilhabe. Und diese Anknüpfung kann auch für den Politikos fruchtbar gemacht werden, wenn Politikos und Philebos sich haben verbinden lassen. Der Philebos bestimmt das Glück des Menschen. Das von ihm bestimmte Glück bleibt für die meisten Menschen ein Ziel der Annäherung. Aber auch wenn einem Individuum die wahrhaft schöne Mischung seines Lebens gelingt, ist dies Glück menschliches Glück, ein Mittleres zwischen Unglück (und der Glücklosigkeit zum Glück nicht fähiger nicht-mensdjlicher Wesen) einerseits und der Glückseligkeit der Götter andererseits. Dieser Sinn von Glück wurde im Symposion deutlich und vom Phaidros bestätigt. Der Philebos läßt sehen: Weil und sofern das Glück eines
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dämonischen Wesens ein Mittleres ist, ist es Mischung, Mischung eben aus Lust und Einsicht. Den Göttern kommt es nicht zu, Lust zu empfinden (siehe 33b), wie sie denn auch der ungenaueren Arten der Einsicht nicht bedürfen.
13. Kapitel: Genaue und auslegende Dialektik (Philebos) Das Denken im Philebos ist nahezu durdigängig dialektisdi. Es vollzieht sidi in versdiiedenen Gestalten der Dialektik, so daß die Dialektik in einer Fülle von Möglichkeiten ansichtig wird. Das kann verdeutlicht werden, indem zugleich die Denkbewegung des Dialogs als solche kurz nachgezeichnet wird. Am Beginn des Dialogs stehen sich These (Protarchos) und Antithese (Sokrates) entgegen, so aber, daß Sokrates alsbald die Möglichkeit eines Dritten ins Spiel bringt. Daß Sokrates die Antithese vertritt, während er ein mögliches Drittes schon in der Sicht hat (vgl. dazu nochmals auch 66el f.), ließ darauf schließen, der Widerstreit von These und Antithese müsse ausgetragen werden, damit das Dritte verbindlich ergriffen werden kann. Im Sinne einer Vorverständigung wird eine Begriffsbestimmung des Guten eingeschoben; bestimmend, was das Gute als solches ist, erbringt hier die Dialektik einen dreifachen Maßstab des Guten. Indem sodann These und Antithese an diesem Maßstab geprüft werden, wird ihr unrechtmäßiger Anspruch zurückgewiesen, zeigt sich die Einseitigkeit und Beschränktheit der einen wie der anderen zugleich mit ihrem Wahrheitskern und werden beide in das Dritte aufgehoben. Die Dialektik hat hier die Gestalt, an die jeder, der eine vage Vorstellung von Dialektik hat, zu denken pflegt. Sie bewegt sich nach dem Schema These — Antithese — Synthese. Mit der erreichten Synthese (,das für den Menschen Gute ist die gute Mischung aus Lust und Einsicht') ist die angemessene Aufgabenstellung vollzogen. Die Dialektik geht jetzt daran, die vier obersten Gattungen alles Seienden in der Welt auseinanderzulegen. Drei dieser Gattungen (Grenzenloses — Grenze — Mischung) stehen zueinander wie These — Antithese — Synthese und begründen ontologisch1 die entsprechende Gestalt der Dialektik, der man zuvor schon begegnete. Von den vier Gattungen alles Seienden in der Welt her wendet sich das Denken auf den Menschen zurück und versucht, ihnen Lust, Einsicht 1
Die Begründung führt freilich weiter auf die vierte Gattung, die Ursache, die die Mischung (.Synthese') vollbringt.
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und gemischtes Leben zuzuordnen. Dabei gerät es in die Aporie. Aus ihr wird es befreit durch einen Gedankengang, dessen Wissenscharakter zu bestimmen eine Hauptaufgabe dieses Kapitels ist und den ich vorgreifend an dieser Stelle schon als auslegende Dialektik bezeichne. Auslegende Dialektik bestimmt die vierte Gattung alles Seienden in der Welt, die Gattung der Ursache, als Vernunft und ordnet ihr unsere Einsicht zu. Damit überwindet sie die Aporie, läßt aber das (unausgesprochene) Problem der Vermittlung der Einsicht mit sich selbst zurück (da die Einsicht auch in die Gattung der Grenze gesetzt werden muß). Indem sie aber zugleich die vier Gattungen alles Seienden in der Welt zusammendenkt, gibt sie eine Möglichkeit jener Vermittlung vor2. Nachdem die Aporie zurückgelassen ist, kann die Bestimmung des für den Menschen Guten fortgesetzt werden. Die Bestandteile der Mischung werden dialektisch erörtert. Die Dialektik ergreift hier die Aufgabe, Gattungen vollständig in ihre Arten zu zergliedern. Sie verfährt bei der Gattung der Einsicht eindeutig dihairetisch. Die weitläufige Bestimmung der Gattung der Lust könnte indessen auch dihairetisch gefaßt werden. Die Bestimmung des für den Menschen Guten kann sich nun die gute Mischung vornehmen. Die Dialektik, soeben noch als reinste Art der zur Gattung der Grenze gehörenden Einsicht herausgestellt, tritt vorübergehend vor der Einsicht qua Ursache unseres gemischten Lebens zurück und überläßt ihr die Entscheidung über die Auswahl aus den bereitgestellten Bestandteilen der Mischung. Dann übernimmt sie es, zu bestimmen, was an einer Mischung die Mischung gut sein läßt. Sie mißt daran Lust und Einsicht und stellt eine Rangordnung des Guten auf. Der Dialog endet damit, daß Platon den Anstoß dazu gibt, weiterzudenken, nämlich, wie man annehmen muß, die Vermittlung der Einsicht zu denken im Rückgriff auf solches, das der Dialog erarbeitet hat. Die Aporie, in die die Untersuchung geriet, als die Einsicht in eine der vier Gattungen alles Seienden in der Welt zu setzen war, fordert zu ihrer Überwindung einen Gedankengang (28d ff.; siehe hier S. 200 ff.), der zwar dialektisch, gleichwohl aber auslegend ist. Ich sprach schon von auslegender Dialektik. 2
Indessen kann jene Vermittlung hier noch nicht als (indirekt) schon geleistet angesehen werden, weil erst im Fortgang des Dialogs herauskommt, daß Lust, Einsicht in den beiden Bedeutungen und Mischung sich einer starren Zuordnung zu den vier Gattungen widersetzen, was bei der Vermittlung berücksichtigt werden muß.
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Auf den ersten Blick mag es freilich so scheinen, als werde ein Themenkomplex, der sonst bei Platon in den Denkformen des Mythos und des Gleichnisses zur Sprache kommt, im Philebos in einem nichtauslegenden, im engeren Sinne dialektischen Denken angegangen. Von der Ursache der Welt wird gehandelt, von der Weltseele, von der hnlichkeit des Menschen mit der Welt und von der Herkunft seiner Vernunft aus der g ttlichen. Und das geschieht, indem die zuvor schon dialektisch auseinandergelegten vier Gattungen weiter bedacht und zur Einheit zusammengedacht werden. Es geschieht also insofern dialektisch. Und doch kann kein Zweifel sein, da das hier vollzogene dialektische Denken Mythos und Gleichnis n her steht als einem Rechenschaft-geben. Der erste Gedankenschritt der berlegung erbringt f r das folgende die Vorgabe, da eine bewunderungsw rdige Vernunft, eben die g ttliche, das All lenkt. Das wird aber nicht bewiesen. Es ist und bleibt richtige Meinung. Das Gegenteil k nnen die Gespr chsteilnehmer nicht annehmen, weil es gottlos w re8. Andere k nnten es aber sehr wohl annehmen, und ihnen gegen ber g lte es dann, mit den Gleichgesinnten die Gefahr zu teilen (συγκινδυνεύειν) und den Tadel mit auf sich zu nehmen (μετέχειν του ψόγου). Die Auffassung von der g ttlichen Ursache des Alls nimmt den Anblick des Kosmos f r sich in Anspruch (28e2—5) und wei sich in bereinstimmung mit den Fr heren (28d7 f., e7 f.). Sie vermag damit aber keinen Rechtsgrund vorzuweisen, durch den das Denken anderer gen tigt werden k nnte, sie als wahr anzuerkennen. Wahr ist die Meinung, die die g ttliche Vernunft als Ursache des Alls annimmt, f r Menschen, die nicht gottlos sind. Nur f r solche Menschen hat der Anblick des Kosmos eine auf die g ttliche Ursache verweisende Aussagekraft und hat die bereinstimmung mit den Fr heren best tigende Bedeutung. Insofern setzt diese Meinung sich bis zu einem bestimmten Grade selbst voraus. Der weitere Gedankengang st tzt sich an entscheidender Stelle auf diese Meinung und kann schon deshalb nicht die richtige Meinung auf einen ,sicheren' Logos hin bersteigen. Indessen ist dieser Gedankengang hinsichtlich der Art und Weise, wie in ihm gedacht wird, noch n her ins Auge zu fassen. Er nimmt die vier Elemente in den Lebewesen und im All als Gegebenes zum Ausgang und setzt (mit Recht) als selbstverst ndlich an, da zwischen den Elementen in uns und denen im All ein Ver-
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Siehe 28e2: ουδέ δσιον είναι μοι φαίνεται.
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hältnis der Abstammung besteht. Die Frage, ob die Elemente in uns Seinsherkunft derer im All sind oder umgekehrt diese die Seinsherkunft jener, wird mit Evidenz dahin entschieden, daß es den Elementen im All zukommt, Seinsherkunft zu sein. Der Dialektik fehlt es bis hierhin nicht an der ihr sonst eigenen Strenge. Nun aber geht das Denken dazu über, Analogien herzustellen, und diese werden immer kühner. Die Zusammensetzung der vier Elemente zu einem Einen nennen wir bei den Lebewesen Leib. Deshalb wird auch die Einheit dieser Elemente im All als Leib angesehen. — Unser Leib ist beseelt. Auch der Leib der Welt ist beseelt. "Warum kann das angenommen werden? Unser Leib hat seine Seinsherkunft aus dem Leib der Welt. Deshalb wird auch die Seele in ihm ihre Herkunft aus der Welt haben. Seele kann aber nicht von Leib abstammen. Und so ist denn eine Weltseele anzusetzen. — Unsere Vernunft ist Ursache der Beseelung des Leibes, und sie kann selbst ohne Seele nicht sein. Vernunft und Seele gehören bei uns in eine Seinseinheit zusammen. Die göttliche Vernunft, zuvor schon in richtiger Meinung als Ursache des Kosmos gedacht, und die Weltseele werden deshalb ebenfalls nicht voneinander getrennt sein. Die göttliche Vernunft wohnt der Welt ein. — Da aber das übrige in uns abstammt aus den entsprechenden Gattungen des Alls, wird auch unsere Vernunft von der dem All einwohnenden göttlichen Vernunft abstammen. Verhältnisse, die sich bei uns finden (Elemente — Leib; Leib — Seele; Seele — Vernunft) werden auf das All übertragen. Dies Übertragen stützt sich auf die Seinsherkunft der Elemente in uns aus denen des Alls. Das heißt aber: Es muß zugleich das Abstammungsverhältnis von den Elementen (über den Leib) auf die Seele übertragen werden. Für alle diese Übertragungen gibt es keine Beweisgründe. Der Mensch deutet hier die Welt von sich selbst aus und kommt von der gedeuteten Welt her auf sich selbst zurück. Er überschreitet sich selbst auf ein Größeres, Göttlicheres hin und versteht sich dann aus diesem. Wollte das, worauf es dem Gedankengang vor allem ankommt, die Seinsherkunft der menschlichen Vernunft aus der göttlichen und also die Zuordnung unserer Vernunft zur Gattung der Ursache, als bewiesen gelten, so wäre der Vorwurf des Zirkels unvermeidlich. Die menschliche Vernunft ,schließt* hier von ihrer Einheit mit der Seele auf die Einheit der göttlichen Vernunft mit der Weltseele und also mit der Welt, und sie ,schließt' von hier aus auf ihre Abstammung von der göttlichen Vernunft. Wie anders aber als aufgrund der Voraussetzung, daß sie der göttlichen Vernunft verwandt sei, hätte sie, von sich ausgehend, die Einheit von göttlicher
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Vernunft und Weltseele bzw. Welt ,folgern1 können4? — Auslegend ist nicht nur das Denken, das die göttliche Ursache der Welt als Vorgabe erbringt, auslegend ist auch das dialektische Denken, das, diese Vorgabe in Anspruch nehmend, die Zugehörigkeit der menschlichen Vernunft zur Gattung der Ursache sichtbar macht. Die Dihairesis, die die Gattung der Einsicht nach der Hinsicht Reinheit des Wissens* in Arten zergliederte, faßte die Wissenschaft der Dialektik als reinste, und das heißt genaueste, sicherste und wahrste Erkenntnis. Die so verstandene Dialektik gerät angesichts der Aufgabe, das für den Menschen Gute als Mischung ontologisch zu denken, in die Aporie, läßt sich aus ihr durch auslegende Dialektik den Ausweg bahnen und geht sodann den Weg weiter. Der Durchgang der Dialektik durch ein auslegendes Verstehen berührt den ganzen Gedankengang. Die genaue Dialektik bedarf der auslegenden Dialektik, um an ihr Ziel zu kommen, und das verwandelt sie, ohne daß damit der Strenge ihrer einzelnen Vollzüge Abbruch getan würde. Die Dialektik als genaueste Wissenschaft findet man im Philebos in verschiedenen ihrer Vollzüge am Werk: Sie bewegt sich im dialektischen Dreischritt von These — Antithese — Synthese. Sie leistet eine Begriffsbestimmung des Guten als solchen. Sie legt die obersten vier Gattungen alles Seienden in der Welt auseinander. Sie zergliedert Gattungen vollständig in ihre Arten. Sie gibt eine Begriffsbestimmung des Guten der Mischungen und mißt an dem damit gewonnenen Maßstab. Sie stellt eine Rangordnung des Guten auf. Diese der Gattung der Grenze zugehörige Dialektik gestattet nicht nur der Einsicht, die von der Gattung der Ursache ist, sie zu unterbrechen, um eine Entscheidung zu fällen, sie nimmt auch, von einer Aporie dazu genötigt, auslegendes Verstehen im Sinne auslegender Dialektik in sich auf, wodurch ihr Wissenscharakter modifiziert wird. Auslegende Dialektik erbringt den aus der Aporie befreienden Gedankengang. Sie gibt diesem Gedankengang eine richtige Meinung über die göttliche Ursache der Welt vor, die dann an wichtiger Stelle beansprucht wird. Diese Meinung wird gewonnen mit Argumenten, die sie bis zu einem gewissen Grade schon voraussetzen. Die weiterführende Überlegung selbst arbeitet mit Analogien. Sie überträgt Verhältnisse, und für die Übertragung gibt es keine Beweisgründe. Auch sie bewegt 4
Tatsächlich wurde die menschliche Vernunft ja auch schon 30bl ff. als Ursache genommen — vgl. S. 201.
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sich im Kreis. Sie setzt ihr Ergebnis, die Herkunft unserer Vernunft aus der dem All einwohnenden göttlichen Vernunft, in ihrem Verlauf insoweit schon voraus, als eine bereits angenommene Verwandtschaft unserer Vernunft mit der göttlichen eine Übertragung trägt (unsere Vernunft kann ohne Seele nicht sein und ist Ursache der Beseelung des Leibes — die göttliche Vernunft ist mit der Weltseele geeint und wohnt der Welt ein). Von der ganzen Überlegung muß gesagt werden: Der Mensch gelangt im Ausgang von einem schon gegebenen Selbstverständnis zum Verstehen der Welt (und ihrer Ursachen als ihr einwohnender) und versteht sich dann von dem so Verstandenen her. Das auslegende Verstehen war in früheren Kapiteln dieser Untersuchung thematisch als an die Weisheit einer (gedichteten) Mystagogin gebundene richtige Meinung (Symposion,), als Mythos (Thaidon, Phaidros, Politikos) und als Gleichnis (Sonnengleichnis, PhaidrosJ. Im Philebos begegnet es in einer neuen Gestalt — als auslegende Dialektik. Die auslegende Dialektik verzichtet auf Bilder, die für Mythos und Gleichnis konstitutiv sind. Gleichwohl darf auch sie als besonnener Wahnsinn (im engeren Sinne) aufgefaßt werden. Das Denken wird in ihr aus den strengen Vollzügen der Dialektik herausgesetzt. Und es kommt dabei in Gang, indem es sich von der Schönheit der Welt auf ihre göttliche Ursache verweisen läßt. Freilich, das Gewicht der Besonnenheit wird gegenüber dem Mythos des Politikos noch einmal verstärkt.
14. Kapitel: Die Verwandlung der Philosophie durch Aristoteles (NE VI 3, 6, 7; I 4) Menschliche Vernunft er ffnet Wahrheit in f nf verschiedenen Vollz gen: als Kunst (τέχνη), Wissenschaft (επιστήμη), Einsicht (φρόνησις), Weisheit (σοφία) und Prinzipienerkenntnis (νονς). Sie alle bertreffen die Vermutung (ύπόληψις) und die Meinung (δόξα), denn diese k nnen uns t uschen, jene nicht. (1139bl5—18) Jene f nf Vollz ge der Vernunft sind voneinander der Art nach verschieden (vgl. X 5, 1175a25—28). Diese Arten der Vernunftt tigkeit geh ren zwei verschiedenen Gattungen an. Menschliche Vernunft richtet sich n mlich einerseits auf Seiendes, dessen Seinsgr nde ein Anderssein nicht zulassen (όσων αί άρχαί μη ένδέχονται άλλως εχειν), andererseits auf Seiendes, das das Anderssein zul t (τα ενδεχόμενα — VI 2, 1139a7 f.). Dieser Unterschied im Seienden, zwischen dem Unver nderlichen1 und dem Ver nderlichen, ist ein Unterschied der Gattung (τα τφ γένει Ιτερα — 1139a9). Da nun eine hnlichkeit (όμοιότης) und Verwandtschaft (οίκειότης) besteht zwischen dem Seienden und der es erfassenden Vernunft, gibt es auch in der Vernunft einen Unterschied der Gattung (1139a8—11). Es ist der Unterschied von erkennender und erw gender Vernunft (1139all f.). Die erkennende Vernunft fa t das Unver nderliche in seiner Wahrheit, die erw gende Vernunft erwirkt Wahrheit im Bereich des Ver nderlichen. Erkennend ist die Vernunft in den drei Arten Wissenschaft, Prinzipienerkenntnis und Weisheit; erw gend ist sie in den beiden Arten Kunst (τέχνη) und Einsicht. Die genannten Unterscheidungen und Bez ge werden die vorliegende Untersuchung noch mehrfach besch ftigen, und die Einsicht wird zu einem zentralen Thema werden. Hier geht es zun chst nur um die 1
Wiewohl es nicht ohne Reiz w re, die Formulierung όσων cti άρχαι μη ένδέχονται άλλως εχειν zu verstehen als von Aristoteles bewu t gew hlt im Blick auf eine Naturerkenntnis auch im Bereich des Entstehenden und Vergehenden, einer Erkenntnis also des Unver nderlichen im jeweils Verg nglichen, schlie e ich midi Burnet an, der (mit Verweis auf seine Erl uterung zu 1140a34) schreibt: „It makes no difference whether we say the things themselves or their άρχαί are necessary or contingent" (Seite 253). Er k nnte auch 1139bl9—21 f r sich in Anspruch nehmen.
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erkennende Vernunft, und zwar in der Absicht, ber den Wissenscharakter der Weisheit Aufschlu zu gewinnen. Der Weg zur Bestimmung der Weisheit f hrt im VI. Buch der NE ber die Bestimmung der beiden anderen Gestalten des Erkennens, der Wissenschaft und der Prinzipienerkenntnis. Das Wesenseigene der Wissenschaft (επιστήμη) ist das Beweisen; Wissenschaft vollzieht sich in Beweisen2. Das bedeutet zugleich, da sie den Charakter der Allgemeing ltigkeit und Notwendigkeit hat — oder, was dasselbe sagt, da sie Allgemeines und Notwendiges aufweist3. Notwendig kann aber nur das sein, dessen Seinsgr nde ein Anderssein nicht zulassen. Aristoteles verweist in VI 3 zweimal auf seine Analytiken und legt nahe, sich dort genauer zu informieren. Dieser Empfehlung soll hier (und auch bei der Behandlung der beiden anderen Arten des Erkennens) so weit gefolgt werden, wie es der Absicht der gegenw rtigen Darlegung dienlich ist. — Beweis und beweisende Wissenschaft sind dasselbe (77. Anal. II 19, 99bl5—17), d.h. wer vom Beweis handelt, der handelt auch von der beweisenden Wissenschaft. Jeder Beweis (άπόδειξις) ist ein Schlu (συλλογισμός), aber nicht jeder Schlu ist ein Beweis (7. Anal. I 4, 25b30 f.). Zwar zieht jeder Schlu aus zwei Pr missen eine notwendige Folgerung4. Aber der dialektische Schlu , von Aristoteles in der Topik behandelt, braucht nicht aus Wahrem zu schlie en. Der Beweis ist indes nicht dadurch schon zureichend bestimmt, da man sagt, er schlie e aus Wahrem. Es gibt Schl sse aus Wahrem, die keine Beweise sind. Ein Beweis liegt nur vor, wenn das Wahre, aus dem geschlossen wird, notwendig wahr ist. Der Beweis schlie t aus Notwendigem (έ| αναγκαίων), und jeder Schlu aus Notwendigem ist ein Beweis. Das bedeutet zugleich, da das Bewiesene notwendig ist und sich nicht anders verhalten kann (77. Anal. I 6, 74bl3—18). Das Gewu te wissenschaftlichen Wissens ist notwendig. Nun sind schon f r die aristotelische Wissenschaftstheorie notwendig und allgemein Wechselbegriffe. Die Feststellung, da das durch Beweis Gewu te notwendig ist, provoziert eine Erl uterung der Bedeutung von allgemein (a. O. I 4 — dazu ausf hrlich * ή μεν δρα επιστήμη εστίν Εξις αποδεικτική — 1139b31 f.; επιστήμη μεν μετ' αποδείξεως — VI 5, 1140a33; το μεν γαρ έπιστητόν άποδεικτόν — 1140b35. 8 έ| ανάγκης αρά εστί το έπιστητόν — 1139b22 f.; Έπει δ' ή επιστήμη περί των καθόλον εστίν ύπόληψις και των εξ ανάγκης δντων — 1140b31 f. 4 Der Schlu besteht bei Aristoteles, wie Patzig (S. 13 f.) deutlich macht, aus e i n e m Satz, der die beiden Vorders tze und den Schlu satz in sich vereinigt in der Form .Wenn ... und wenn ... so ...'.
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Joachim S. 192 ff.), und diese Erl uterung f hrt ihrerseits zu der Feststellung, da , was allgemein ist, den Dingen notwendig zukommt5. Das Gewu te der Wissenschaft ist notwendig und allgemein. Aristoteles entwickelt einen Wissenschaftsbegriff von u erster Strenge. Zwar stellt er im Wissenschaftskapitel der NE neben den Beweis die Induktion (επαγωγή), aber der Text belehrt unmi verst ndlich dar ber, da damit weder eine Unterscheidung innerhalb des Ganzen der Wissenschaften in induktive Wissenschaften einerseits, deduktive andererseits, noch auch das Nebeneinanderbestehen induktiver und deduktiver Teile in einer Wissenschaft gemeint ist. Aristoteles sagt vielmehr: Jede Wissenschaft ist lehrbar und lernbar. Alles Lehren geht von schon Bekanntem aus. Und da gibt es zwei Wege, auf denen man lehrend bzw. lernend und erkennend vom Bekannten zum noch Unbekannten und Unerkannten gelangen kann, die Induktion und den Schlu . Diese Wege k nnen aber nicht beliebig beschatten werden. Beim Schlu (Beweis) mu das Allgemeine bekannt sein, und er folgert aus dem Allgemeinen6. Er bringt jedoch das Allgemeine nicht selbst auf. (Bei einer Kette von Schl ssen g lte das jedenfalls f r den ersten.) Die Induktion stellt dies Allgemeine bereit. Das Bekannte, von dem sie ausgeht, ist das Einzelne, und sie ist der Weg, der das Lernen oder Erkennen vom Einzelnen zum Allgemeinen f hrt. Sie ist der Anfang (αρχή7 — 1139b28), denn ohne sie g be es kein beweisendes Wissen, weil ohne sie das Allgemeine nicht bekannt w re, aus dem der Beweis schlie t. Die Induktion kann also bei Aristoteles der Strenge der beweisenden Wissenschaft keinen Abbruch tun, im Gegenteil erm glicht sie erst die Wissenschaft in der ihr eigent mlichen Notwendigkeit. Es ist zu fragen, welche Wissenschaften dem Anspruch zu gen gen verm gen, den der strenge Wissenschaftsbegriff des Aristoteles stellt. Die Disziplinen der reinen Mathematik sind da ber allen Zweifel erhaben, und neben ihnen wohl auch die Harmonielehre als Mathematik* der Tonverh ltnisse. Aber welche anderen Wissenschaften erf llen den an Wissenschaft gestellten Anspruch? Die Beantwortung der Frage kann vereinfacht werden, indem die Seinsbereiche bezeichnet werden, die Gegenstand der Wissenschaft sein k nnen. Seiendes, das das Anderssein zul t, ist von vornherein schon ausgeschieden — es ist ja Gegenstand 5
φανερόν αρά ότι δσα καθόλου, εξ ανάγκης υπάρχει τοις πράγμασιν — 73b27 f. ό δε συλλογισμός εκ των καθόλου — 1139Β29. 7 αρχή mit Bekker (und auch Dirlmeier, Gigon, Rolfes/Bien) gegen αρχής bei Rackham. β
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der erw genden, nicht der erkennenden Vernunft. Kann es dann aber Naturwissenschaft geben? Vom Verg nglichen, sagt Aristoteles, gibt es keinen Beweis und also auch keine Wissenschaft im eigentlichen Sinn, sondern nur im akzidentellen Sinn. ber das Verg ngliche kann man n mlich nichts allgemein aussagen, sondern nur in der Beschr nkung auf eine bestimmte Zeit (auf die Gegenwart) und auf eine bestimmte Weise8. Man kann nur behaupten, da etwas jetzt so ist, und mu einr umen, da es bald anders sein kann oder berhaupt nicht mehr sein wird. Ist damit nicht f r die gesamte sublunare Natur entschieden, da es von ihr keine Wissenschaft geben kann? Diese Folgerung w re voreilig. Zwar vergeht in dieser Natur das einzelne, aber sie selbst vergeht nicht, und das hei t f r Aristoteles zugleich, da die Arten des naturhaft Seienden unverg nglich und unver nderlich sind. Das k nnte Wissenschaft, Erkenntnis des Allgemeinen, erm glichen auch von dem Bereich der Natur, in dem es st ndig Entstehen und Vergehen gibt. Die gesamte Natur k nnte demnach gemeint sein, wenn Aristoteles in VI 3 der NE als Gegenstand der Wissenschaft das Ewige (άΐδια) und also Ungewordene und Unzerst rbare (άγένητα και άφθαρτα) nennt. Die Forschung9 sieht aber f r den sublunaren Bereich eine Einschr nkung auf die anorganische Natur darin gegeben, da Aristoteles in dem genannten Kapitel das Ewige nicht nur als das aus Notwendigkeit Seiende versteht, sondern diese Notwendigkeit durch ein „schlechthin" n her bestimmt10. Sie erl utert die Stelle durch Verweis auf Physik II 9, wo Aristoteles ausf hrt, da es im Bereich der durch Zwecke bestimmten, also der organischen Natur nur bedingte Notwendigkeit gibt11. So g be es denn neben der reinen Mathematik als Wissenschaften im strengen Sinn nur die Harmonielehre, die Astronomie und eine Physik der anorganischen sublunaren Natur. Der strenge Wissenschaftsbegriff schlie t die teleologisch zu denkende (und das hei t f r Aristoteles: die eigentliche) sublunare Natur aus. — Auf den Anspruch der Strenge im aristotelischen Wissenschaftsbegriff und seine Konsequenzen wurde hier deshalb so viel Nachdruck gelegt, weil die anderen Arten des Erkennens, die Prinzipien8
ουκ εστίν αρά άπόδειξις των φθαρτών ούδ' επιστήμη απλώς, αλλ' ούτως ώσπερ κατά συμβεβηκός, δτι ου καθόλου αύτοΰ εστίν άλλα ποτέ καΐ πώς. II. Anal. I 8, 75b24—26. • Siehe Stewart II 36 zu 1139b23, im Zusammenhang mit I 256—258 zu 1112a23; Burnet 258; Joadiim 191 f.; Dirlmeier 446 zu 125,5; Gauthier 453. 10 τα γαρ εξ ανάγκης δντα απλώς πάντα άΐδια — 1139b23 f. 11 Vgl. Wagner S. 483 f. zu 55,9 f.; Wieland S. 264.
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erkenntnis und die Weisheit, die Wissenschaft an Notwendigkeit und Strenge noch übertreffen12. Die Wissenschaft ist beweisend. Es muß unbeweisbare Beweisanfänge geben. Denn wenn jeder Beweisanfang seinerseits einen Beweis forderte, ginge dies ins Endlose fort, es gäbe überhaupt keinen Anfang und damit überhaupt keinen Beweis. Die Wissenschaft selbst steht dafür ein, daß es unbeweisbare Beweisanfänge gibt. Diese Beweisanfänge kann sie selbst aber nicht aufbringen — durch das Beweisen ist sie ja definiert. Eine andere Erkenntnisart gibt ihr die Beweisanfänge vor: die Prinzipienerkenntnis ( )18. Über sie äußert sich Aristoteles in der N E nur sehr 12
During hat es ausgesprochen, daß Aristoteles sich selbst als Wissenschaftler keineswegs an seinen Begriff der Wissenschaft gehalten hat: „In seiner Theorie unterschied er nicht die verschiedenen Gebiete der Naturwissenschaft; vielmehr legt er den Nachdruck darauf, daß die Methode in der physike allgemeingültig ist. In der Praxis aber gebraucht er in den zoologischen Schriften nicht dieselben Methoden wie bei der Erörterung der Bewegung in der theoretischen Physik. Verhältnismäßig selten befolgt er die von ihm selbst in der Analytik dargestellte deduktive Methode der apodeixis" (S. 22 f.). „Die dialektische, analysierende Methode, die er in den physischen, ethischen, psychologischen und biologischen Schriften verwendet, entspricht gar nicht den Forderungen, die er in seiner Theorie an eine wissenschaftliche Darstellung stellt" (S. 30). — Bedenkt man, daß Aristoteles an seinem zwar früh entwickelten Begriff der Wissenschaft noch in der abschließenden Fassung seiner Ethik, also spät und angesichts seiner naturwissenschaftlichen Schriften, festgehalten hat, so ist die Annahme erlaubt, daß er mit ihm über die Wissenschaften hinaus auf den Stufenbau in der Notwendigkeit der Erkenntnisarten abzielte, von dem hier die Rede ist. 15 Die Übersetzung von mit Prinzipienerkenntnis mag befremden; vielleicht bewährt sie sich aber im folgenden. Jedenfalls möge man bedenken: ,Vernunft' ist zu reservieren für die Übersetzung von , wenn der vernünftige Seelenteil im Gegensatz zum vernunftlosen gemeint ist (der jetzt zu bestimmende ist nur e i n e Art der e r k e n n e n d e n Vernunft). Mit .Geist' wird füglich dann übersetzt, wenn die Kraft in uns meint, deren Tätigkeit die Weisheit ist (X. Buch). Auch wäre es mißlich, neben Wissenschaft und Weisheit ein .Vermögen' zu stellen. Auch Dirlmeier, der die Übersetzung „intuitiver Verstand" wählt, muß (S. 129 u.) zu „intuitives Verstehen" überwechseln. Dirlmeier kommt mit seiner Übersetzung durch die Schwierigkeit der entgegengesetzten Vollzüge des in VI 12, 1143a35ff. einigermaßen glücklich hindurch. Indessen wäre vom Interpreten verlangt zu erläutern, was intuitiv hier bedeuten soll, und das würde eine Stellungnahme zur These Wielands erfordern, die hier nicht geleistet werden kann, zu der These nämlich, daß es bei Aristoteles eine „unmittelbare intuitive Prinzipienerkenntnis" nicht gibt, daß die Prinzipien vielmehr allenfalls von „reflexiv vermittelter Evidenz" sind (§ 5). — Noch eine andere Bescheidung ist nicht zu vermeiden. Es ist klar, daß der die Induktion vollzieht, von der im Zusammenhang mit der Wissenschaft schon gesprochen wurde. Die Frage, ob der als eine Erkenntnisart neben und zwischen der Wissenschaft und der Weisheit in seinem ganzen Umfang .induktiv' ist, muß hier offenbleiben, und das nicht nur deshalb, weil Aristoteles' Äußerungen zur Induktion sehr komplex sind (vgl. darüber K. von Fritz1), sondern auch und insbesondere, weil das Thema Induktion in eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Ansatz der aristotelischen
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knapp (VI 6): Nadidem er zuvor schon festgestellt hat, da die menschliche Vernunft in f nf verschiedenen Vollz gen Wahrheit erwirkt (vgl. S. 235), schlie t er jetzt f r vier von ihnen aus, da sie die Beweisanf nge zu geben verm gen, und so bleibt die Prinzipienerkenntnis brig. Aber ber die Prinzipienerkenntnis war ja auch gen gend gesagt schon in den Analytiken. Einiges davon soll hier kurz beigezogen werden. Unter Beweisanfang versteht Aristoteles eine unvermittelte Pr misse, d. h. eine Pr misse, der keine andere vorhergeht14. Die unvermittelten Pr missen lassen sich in Arten einteilen (a. O. 72al4 ff.). Eine unvermittelte Pr misse ist entweder ein Axiom (αξίωμα) oder eine Setzung (θέσις), und eine Setzung ist entweder eine Definition (ορισμός) oder eine Voraussetzung (ίπόθεσις). Axiome unterscheiden sich von den Setzungen zun chst dadurch, da jeder, der etwas lernen will, ber die Axiome notwendig schon verf gen mu , w hrend das bei den Thesen nicht der Fall ist. Zumindest einige Axiome bergreifen alle Wissenschaften, w hrend in den Setzungen die Prinzipienerkenntnis einer einzelnen Wissenschaft ihren eigent mlichen Gegenstandsbereich vorgibt. Die Definition sagt nur, was etwas ist. Die Voraussetzung dagegen setzt das Sein der Sache15. — Das Entscheidende ist nun, da diese unbeweisbaren Beweisanf nge nicht nur fr her bekannt sein m ssen als das aus ihnen Abgeleitete, sondern da wir sie auch in einem h heren Grad (μάλλον — a. O. 72a28 f.) erkennen. D u r c h sie erkennen wir ja das andere. Ihnen verdankt das Abgeleitete seine Notwendigkeit. Deshalb sagt Aristoteles: Wahr sind Wissenschaft und Prinzipienerkenntnis, aber die Prinzipienerkenntnis ist genauer (ακριβέστερος) und wahrer (αληθέστερος — a. O. lOObS u. 11). Wissenschaftstheorie n tigen w rde. Man hat des fteren darauf verwiesen, da Aristoteles, weil f r ihn der von Platon zuerst im Anamnesisbeweis des Phatdon beschrittene Weg, die Erkenntnis des Allgemeinen begreiflich zu machen, zufolge seiner Ablehnung der Ideenlehre nicht gangbar war, die Induktion als d e n Zugang zum Allgemeinen angesehen hat (eindrucksvolles Zeugnis: die ph nomenologisch-genetische Darstellung II. Anal. II 19). Das wirft das Problem der M glichkeit einer Erkenntnis a priori auf (das f r Platon nicht bestand, bei dem umgekehrt die Erfahrung zu kurz kommt) — das Problem zugleich, ob auch jene allgemeinsten Prinzipien, die jeder schon verstanden haben mu , der berhaupt etwas denken und lernen will (z. B. der Satz vom Widerspruch), ,induktiv' erfa t werden. (Vgl. a. O. 100b3f.: δήλον δη 8τι ήμϊν τα πρόδτα επαγωγή γνωρίζειν άναγκαΐον.) 14 δρχή δ'έστιν αποδείξεως πρότασις δμεσος, δμεσος δε ης μη εστίν άλλη πρότερα. — Π. Anal. I 2, 72a7 f. 15 Wieweit diese letzte Unterscheidung an der Mathematik orientiert ist und ob Aristoteles die Definition nicht auch anders versteht, kann hier beiseite bleiben.
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Die Weisheit (σοφία) bertrifft als Erkenntnisart noch die Prinzipienerkenntnis. Sie ist die genaueste aller Wissenschaften18. Ihre Aufgabe ist es nicht, zu erkennen, was aus den Prinzipien blo folgt, sondern sie erforscht die Prinzipien, die Anf nge des Seienden und des Wissens, selbst. Sie ist Wissenschaft u n d Prinzipienerkenntnis17, das aber nicht als die Summe beider, sondern als von ihnen der Art nach verschiedenes Drittes. Die Prinzipienerkenntnis (νους) gibt den Wissenschaften die Beweisanf nge vor; in diesem ,Geben' beschlie t sich ihre Aufgabe. Die Weisheit ergreift dieses ,Gegebene', um es daraufhin zu befragen, was und wie es ist. Sie erkennt das Sein der Seins- und Wissensgr nde. Sie ist zur Wissenschaft entfaltete Prinzipienerkenntnis. Auf dem Gebiet des Wahreren und Genaueren, das das Gebiet der Prinzipienerkenntnis ist, schreitet sie erkennend voran und ist darin Wissenschaft, eine Wissenschaft aber eben von eigener Art und besonderem Rang. Sie verf hrt auch — wenngleich nach Aristoteles' Auffassung sicher nicht nur — beweisend18. Aber nach allem Gesagten kann der Gedanke, da die Weisheit auch anders als durch Beweis erkennend fortschreiten d rfte, keinen Einwand gegen die Strenge ihrer Wissenschaftlichkeit hergeben. Hinter die Notwendigkeit, Genauigkeit und Wahrheit der Prinzipienerkenntnis kann die Weisheit nicht zur ckfallen. Sie mu im Gegenteil die Prinzipienerkenntnis noch bertreffen, indem sie sie ja durchleuchtet und indem sie als philosophische Theologie zu dem h chsten Seinsgrund aufsteigt. Ob der Aufweis des Seins eines unbewegten Bewegers im XII. Buch der Metaphysik im aristotelischen Sinn ein Beweis ist und von Aristoteles so verstanden worden ist, mag dahinstehen. Da er als Aufweis Notwendigkeitscharakter hat, oder, was dasselbe sagt, da er das Sein eines notwendig seienden Wesens aufweist, spricht Aristoteles an pointierten Stellen der Abhandlung aus19. Die Weisheit ist die h chste Wissenschaft nicht nur, weil sie Wissenschaft von den ehrw rdigsten Gegenst nden ist, sondern weil sie ebendeshalb auch Wissenschaft im strengsten Sinn ist. Da die Weisheit alle anderen Wissenschaften an Wissenschaftlichkeit berbietet, wird von Aristoteles auch in den Zweiten Analytiken ausgesprochen (I 9, 76al7—22): Die Wissenschaft, die
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ώστε δήλον δτι ή ακριβέστατη αν των επιστημών εΐη ή σοφία — 1141al6 f. ή σοφία νους και επιστήμη — 1141al8 f. 18 Siehe 1141a2 f.: του γαρ σοφού περί ένίων Ιχειν άπόδειξ'ιν εστίν. 19 1071b4f.: λεκτέον, δτι ανάγκη είνα'ι τίνα άΐδιον οΰσίαν άκ'ινητον. 1072blO: εξ ανάγκης αρά εστίν δν. 17
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die Prinzipien von allem (απάντων άρχαί) erforscht, gebietet ber alle Wissenschaften (κυρία πάντων). Wer aus den h heren Ursachen wei , wei in h herem Grade20. Und wer aus ersten, nicht mehr verursachten Ursachen wei , der wei in h herem und h chstem Grade (μάλλον... και μάλιστα); die betreffende Wissenschaft ist Wissenschaft in h herem und h chstem Grade21. — Da sich das Ausgef hrte aus der Metaphysik best tigen (siehe etwa I 2) und weitl ufig illustrieren lie e, braucht kaum erw hnt zu werden. Es d rfte deutlich sein, da zwischen Aristoteles' Begriff der Weisheit und Platons Auffassung vom Wesen der Philosophie, wie sie hier zuvor herausgearbeitet werden konnte, ein un berbr ckbarer Gegensatz besteht. Aristoteles schlie t mit seinem Begriff der Weisheit jene hermeneutischen Denkvollz ge von der Weisheit aus, die Platon bis ins Zentrum seines philosophischen Denkens vorl t. Und Aristoteles hat sich konsequent daran gehalten22. Mit richtiger Meinung, Mythos, Gleichnis und auslegender Dialektik verschwinden nat rlich aus der Weisheit zugleich die Verschr nkung solcher Denkformen mit den genaueren (z. B. dem Beweis) und die Verwandlung dieser durch jene. Wenn nun aber die Gestalt platonischen Philosophierens seinen Gegenst nden nicht u erlich ist, sondern, was ich gezeigt zu haben hoffe, wesentlich von ihnen verlangt wird, dann bedeutet die verwandelte Gestalt der Philosophie bei Aristoteles zugleich: Nichts von dem, was Platon nur durch die Vereinigung auslegenden Verstehens mit genauem Denken sichtbar machen konnte oder was zu dieser Vereinigung fortdr ngte, darf so, wie es sich bei Platon findet, bei Aristoteles Eingang in die Weisheit finden. Diesen Inhalten gegen ber hat die Weisheit aristotelischer Pr gung nur die beiden M glichkeiten, sie entweder v llig zu verwandeln oder sie von sich auszuschlie en. Als v llig verwandelte bleiben diejenigen Fragen Inhalt der Weisheit, die Platon durch die — von Aristoteles so
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και γαρ έπίσταται μάλλον ό εκ των άνώτερον αίτιων είδώς. καν επιστήμη εκείνη εΐη καΐ μάλλον καΐ μάλιστα. 22 Vgl. Dirlmeier S. 287 zu 20,1: „er (A.) hat keine Mythen mehr gebildet, auch nicht in den Dialogen (Silen-Midas im Eudemos, fr. 6 W, ist kein Mythos)." ber die Ablehnung jeglicher Bedeutung mythischen Denkens f r die Philosophie siehe Met. III 4, lOOOalS f. und Kontext. Diese Ablehnung schlie t nicht aus, da Aristoteles unter kulturgeschichtlichem Gesichtspunkt den Mythos als eine Vorstufe philosophischen Wissens gelten lassen kann (Met. I l, 982bl8 f. und Kontext). Sie d rfte auch kaum eine Modifikation dadurch erfahren haben, da Aristoteles am Ende seines Lebens f r seine Person eine Neigung f r den Mythos versp rt hat (dazu Jaeger S. 342). 21
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heftig kritisierte und fr h schon abgelehnte23 — Ideenlehre zu l sen gedachte. Ganz anders als bei Platon erscheint auch das G ttliche und wird so von der Weisheit bewahrt. Ausgeschlossen aus der Weisheit wird indessen der Mensch, der sie doch gerade vollzieht und darin nach Aristoteles' Auffassung seine h chste M glichkeit ergreift. (Da die Frage nach dem Menschen aus der Weisheit ausgeschlossen ist, wird hier noch nicht auf einen Grund hin befragt; es k nnte sich zeigen, da Aristoteles die philosophische Bestimmung des Menschen gegen ber Platon verwandelt hat und sie gleichwohl nicht in die Weisheit aufgenommen hat.) Die Weisheit ist Erste Philosophie (πρώτη φιλοσοφία) und erforscht die Prinzipien und Ursachen des Seienden, sofern es seiend ist24. Als (philosophische) Theologie erhebt sie sich in einem Aufweis, der — fern von Gleichnis und Mythos — Notwendigkeitscharakter beansprucht, zum G ttlichen als dem unbewegten Beweger, der ersten Ursache aller naturhaften Bewegung in der Welt. Den Menschen gibt sie als Thema ab, indem sie zugleich philosophische Disziplinen' aus sich entl t und auf sich stellt, so die Psychologie, die Staatswissenschaft, die Ethik25. Was die Frage nach dem Sein des Menschen in der Gestalt der Frage nach dem f r ihn Guten, d. h. nach seinem Gl ck, betrifft, so wird ihr Ausschlu aus der Weisheit nicht nur faktisch vollzogen, sondern Aristoteles macht ihn in der N E auch ausdr cklich: Die Weisheit „betrachtet nichts von dem, wodurch der Mensch gl cklich wird" (ουδέν ϋεωρεΐ εξ ων εσται ευδαίμων άνθρωπος — VI 13, 1143bl9 f.)28. Das Gebiet der Weisheit wird nicht betreten, wo es um Sein und Gl ck des Menschen geht. Die Weisheit ist Thema der NE, aber der Mensch ist nicht Thema der Weisheit. In der NE formuliert Aristoteles nicht nur den Ausschlu der Frage nach dem Gl ck des Menschen aus der Weisheit, er trennt diese Frage 23
Siehe in den Analytiken, deren Entstehung in Aristoteles' Akademiezeit (der Zeit also, in der Aristoteles in Platons Schule studierte und selbst auch lehrte) von der Forschung gesichert sein d rfte: II. Anal. I 22, 83a32 f. *4 Vgl. Met. VI l, 1025b3 f.: Ai όρχαί καΐ τα αίτια ζητείται των δντων, δήλον δε ότι ή οντά. 25 Staatswissenschaft und Ethik sind auch im Werk des Aristoteles zu unterscheiden. Er selbst verweist in der Politik (II 2, 1261a31; III 12, 1282b20) und anderw rts auf seine „ethischen" Schriften. ber die Verwendung von „Staatswissenschaft" in der NE siehe hier S. 246 f. und S. 249. ϊβ Da dadurch ihr Rang, h chste Wissenschaft zu sein, bedroht sein k nnte, w re eine Vorstellung von t richter berheblichkeit; nicht einmal in der sichtbaren Welt ist der Mensch das h chste Wesen — die Gestirne, die den Kosmos bilden, sind bei weitem g ttlicher als er (siehe VI 7, 1141a34—b3).
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nach dem f r den Menschen Guten auch programmatisch von der Sicht auf das G ttliche und l st sie damit aus jedem m glichen Bezug zur Theologie der Ersten Philosophie. Dieser Schritt wird als Kritik an Platon schon am Anfang der NE (I 4) vorgef hrt. Platon hat (in der Politeia) das G ttliche „Idee des Guten" und „das Gute" genannt. Aristoteles insistiert auf dem Idee-Charakter dieses G ttlich-Guten und nimmt es auf der Ebene der Ideen als ein Allgemeines. Von diesem Allgemeinen behauptet er, es k nne unm glich sein. Dabei st tzt er sich vor allem auf die kategorialen Unterschiede des Seienden: Seiendes ist in vielfacher Weise seiend, als Substanz oder Qualit t oder Quantit t usw. In ebenso vielen Weisen ist es aber auch gut. Ein gemeinsames Gutes, das sich ber das kategorial verschiedene Gute einheitlich erstreckte, kann es nicht geben. D a s Gute existiert nicht. F r diese These l t Aristoteles noch eine Reihe anderer Argumente streiten, die hier nicht aufgef hrt zu werden brauchen. Von gr tem Gewicht ist aber seine Feststellung, da , selbst wenn es d a s Gute im Sinne einer einzigen, f r alles einzelne Gute gemeinsamen Idee g be, dieses doch vom Menschen nicht handelnd verwirklicht noch auch erworben werden k nnte27. Ja, dieses Gute m te f r menschliches Handeln und Wirken ganz ohne Bedeutung sein. Es w re nicht einmal richtunggebend. Es k nnte nicht als Muster (παράδειγμα) dienen, wenn es dem Menschen darum geht, das f r ihn Gute zu erkennen und zu erwirken. Daf r f hrt Aristoteles die K nste als Zeugen an: In jeder Kunst geht es darum, ein Gutes hervorzubringen, aber durch die Erkenntnis jenes allgemeinen Guten k me der Hervorbringende seinem Ziel keinen einzigen Schritt n her. Tats chlich lenkt er seinen Blick auch gar nicht in diese Richtung. Und da das von allen gilt, die etwas hervorbringen, w re es widersinnig zu behaupten, die Idee des Guten k nnte irgendwie hilfreich sein auf dem Feld menschlicher T tigkeit. Ausdr cklich sucht nun aber Aristoteles in der NE nach dem Guten, das vom Menschen handelnd verwirklicht oder erworben werden kann28. Die Abl sung der Frage nach dem f r den Menschen Guten vom G ttlichen ist damit vollzogen. Aristoteles versagt es sich, bei der Untersuchung dieser Frage in die Dimension des G ttlichen vorzudringen29. " δήλον ως ουκ δν εΐη πρακτόν ουδέ κτητόν άνθρώπφ — 1096b33 f. Siehe den Fortgang der vorigen Stelle: νυν δε τοιούτον τι ζητείται — 1096b34f. 29 Entsprechend verf hrt Aristoteles auch bei der Bestimmung der Wahrheit menschlicher Erkenntnis, was vor allem Met. IX 10 fa bar wird (dies Kapitel entspricht in seiner Bedeutung dem S o n n e n g l e i c h n i s bei Platon). 28
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Er stellt sich die Aufgabe, das f r den M e n s c h e n Gute und das m e n s c h l i c h e Gl ck zu untersuchen30, und das hei t nach dem vorigen: das Gute und das Gl ck im Blick auf den Menschen und nur auf ihn zu bestimmen. Die Gegenstellung zu Platon schon in dieser Ausgangsposition der NE ist offenkundig. Sie kann noch etwas weiter umrissen werden. Mit der Losl sung der Frage nach dem f r den Menschen Guten von der Sicht auf das G ttliche verbindet Aristoteles den Verzicht auf jeglichen Ausblick in eine jenseitige Dimension berhaupt. Damit verlieren Eros und Unsterblichkeit ihre thematische Bedeutung. Dasselbe gilt von dem Gott hnlichwerden des Menschen im t tigen Vollzug seiner g ttlichen Herkunft — als Staatsmann einerseits, als die gute Mischung seines Lebens vollbringendes Individuum andererseits. Diese Grundthemen platonischer Anthropologie schlie t Aristoteles nicht nur aus der Weisheit aus, er trennt sich in der NE ganz von ihnen (bis auf den schwachen Nachklang, der im X. Buch h rbar wird, wenn Aristoteles den Vorrang der Weisheit vor dem trefflichen Handeln herausstellt — davon wird noch zu sprechen sein, siehe S. 345 und 348). Steht es aber so, dann d rfte f r Aristoteles kein Anla mehr bestehen, mit der Frage nach dem Menschen Denkwege von der Art des Mythos oder Gleichnisses zu beschreiten31. Dann aber fragt es sich gerade, warum der Mensch nicht in der Weisheit, in der Ersten Philosophie, seine Stelle finden konnte. Da die Untersuchung ber den Menschen und sein Gl ck sich den Ausblick auf das G ttliche versagt, ist daf r noch kein hinreichender Grund. Auch die Erste Philosophie ist weithin nicht-theologisch (n mlich bis auf das XII. Buch der Metaphysik}-, sie ist, aufs Ganze gesehen, so wenig , theologisch', da das Verh ltnis von Erster Philosophie und Theologie in der Metaphysik des Aristoteles f r die Forschung zum Problem werden konnte. Warum also ist die Untersuchung ber das f r den Menschen Gute nicht Teil der Weisheit? Weil diese Untersuchung nicht einmal den Anspruch zu erf llen verm chte, den Aristoteles an die Wissenschaften stellt, geschweige denn denjenigen, der in seiner Konzeption der Weisheit als eines die Wissenschaften und die Prinzipienerkenntnis an Strenge noch berbietenden Wissens liegt. Da man an die Wissenschaftlichkeit der Ausf hrungen ber das menschliche Gl ck keine zu hohen Anforderungen stellen darf, das hat 80
και γαρ τάγαθόν άνθρώπινον έζητοΰμεν καΐ την εύδαιμονίαν άνθρωπίνην — 113, 1102al4f. S1 Vgl. S. 242 mit der Anm. 22.
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Aristoteles gleich zu Beginn der NE klargestellt und danach noch mehrfach eingesch rft. Jede Untersuchung ist dann zureichend, wenn sie so deutlich ist, wie es die Materie, von der sie handelt, zul t; Genauigkeit darf nicht auf gleiche Weise bei allen Untersuchungen gefordert werden32. Die Untersuchung, die Aristoteles durchzuf hren beabsichtigt, hat es nun aber mit Dingen von gro er Unbest ndigkeit (πλάνη — 1094bl6 u. 17) zu tun. Das gilt f r das, was im menschlichen Gemeinwesen als gerecht angesehen wird, ebensosehr wie f r das, was man im brigen f r gut h lt, etwa Reichtum oder Tapferkeit — viele haben durch Reichtum oder Tapferkeit schon Schaden erlitten. Auf diesem Feld kann das Wahre nur grob und im Umri dargelegt werden33, und wenn es hier Schl sse gibt, so doch keine Beweise, denn ber wahrscheinliche Pr missen kommt man nicht hinaus (vgl. 1094b21 f.). An das Gesagte erinnert Aristoteles, wie schon erw hnt, fters34. Aristoteles f gt noch hinzu: Wenn schon eine Untersuchung auf dem Gebiet des Handelns Genauigkeit nicht einmal dort erreichen kann, wo sie vom Allgemeinen (καθόλου) spricht, wieviel weniger vermag sie es dort, wo sie auf das Einzelne geht (1104a5—10). Auf das Einzelne kommt es Aristoteles, wie er sagt, in der NE aber noch mehr an als auf das Allgemeine (II 7, 1107a28—32). — Aristoteles rei t in der N E zwischen Wissenschaften, Prinzipienerkenntnis und Weisheit einerseits, der Untersuchung ber das f r den Menschen Gute andererseits eine un berwindliche Kluft des Wissens auf. Ob er in seiner diesbez glichen Argumentation seine eigene Untersuchung unterbestimmt hat, und wenn ja, worin der Grund daf r liegen k nnte, das sind Fragen, die sp ter (in Kap. 21) ihre Beantwortung finden m ssen. Hier kann zun chst nur vorl ufig gefragt werden, ob Aristoteles ber die negative Abgrenzung seiner Untersuchung von allen Wissenschaften hinaus einen positiven Begriff f r dieses Wissen entwickelt hat. Da f llt zun chst auf, da er die Untersuchung, die uns als Nikomachische Ethik vorliegt, in der NE selbst als Staatswissenschaft (πολιτική) bezeichnet hat (siehe vor allem I l, 1094a24—bll u. b!4 f.). Damit hebt er sie jedenfalls auf die Stufe einer etablierten , Wissenschaft'. Aber diese Bezeichnung trifft doch kaum zu. Sicher hat Aristoteles am Schlu der NE zu seiner Politik bergeleitet. Sicher gibt es thematische Be88
Siehe I l, 1094bll—13: Λέγοιτο &' αν ίκανώς, ει κατά την ύποκειμένην ίίλην διαβαφηθείη· το γαρ ακριβές ούχ ομοίως εν απασι τοις λόνοις έπιζητητέον .. . 33 παχυλώς και τΰπφ τάληθές ένδείκνυσθαι — 1094b20 f. 34 I 7, 1098a26—33; II 2, 1103b34—1104a5; IX 2, 1165al2—14.
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rührungen, nicht zuletzt dort, wo Aristoteles auf die Gesetze zu sprechen kommt (vgl. auch hier S. 310 ff.). Und klar ist auch, daß N E und Politik darin übereinkommen, daß es ihnen um menschliches Glück geht — denn das Glück der Staaten und also der Menschen als Bürger ist das beherrschende Thema der Politik. Auch wird man einräumen, daß das Wissen, das die NE entfaltet, Staatsmännern und ,Staatswissenschaftlern' von Nutzen ist. Aber der Inhalt der NE erführe keine wesentliche Beeinträchtigung, wenn man alle diese Bezüge abschnitte. Deshalb kann man von der Bezeichnung Staatswissenschaft keinen Aufschluß über den Wissenscharakter der NE erwarten. Aber es gibt andersartige, ausdrückliche Hinweise. Wer nach dem menschlichen Glück fragt, hat seinen Ausgang immer auch von den Meinungen zu nehmen, in denen menschliches Selbstverständnis sich ausgesprochen hat ( — 1 8 , 1098blO). Meinungen dieser Art, die entweder von vielen Menschen und seit langem schon, oder nur von wenigen, aber in besonderem Ansehen stehenden Menschen vertreten werden, gehen wohl kaum gänzlich an der Wahrheit vorbei, treffen sie vielmehr in einer oder auch in vielen Beziehungen (I 9, 1098b26—29). Dieses Wahre gilt es herauszuschälen; mit ihm muß die Untersuchung in Übereinstimmung sein (vgl. VII l, 1145b2—7). Insbesondere ist solche Übereinstimmung erforderlich hinsichtlich der Auffassungen, die von allen Menschen geteilt werden (vgl. X 2 , 1172b35—1173a2)85. Dem Ausgehen von dem in Meinungen auf vielfältige Weise sich aussprechenden Selbstverständnis des Menschen in seinem Streben nach Glück und der Forderung, daß die Untersuchung mit dem Wahrheitsgehalt dieser Meinungen übereinzustimmen habe, sind verwandt der Ausgang der Untersuchung vom Leben und der Erfahrung und die Forderung, daß die Ergebnisse mit dem Leben und der Erfahrung in Einklang sein müssen. Dort, wo Aristoteles zuerst davon spricht, daß man an die Untersuchung keine zu hohen Ansprüche bezüglich ihrer Genauigkeit stellen dürfe (I 1), sagt er auch, daß junge Menschen wenig Gewinn von ihr haben dürften. Einer der Gründe dafür liegt darin, daß der junge Mensch unerfahren ist im praktischen Leben, von dem die
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Vgl. zu dieser Thematik Dien Seite XXXIV f. mit den Anmerkungen 59 und 60 (S. L V). — Im Gegensatz zu Dien S. XXXIV kann ich in Bezug auf die N E allerdings nicht von Beweisen sprechen (s. o. S. 246); die von Bien beigezogene Stelle NE I 8, 1098b9 ff. muß im Zusammenhang mit 1094b21 f. gesehen werden.
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Vortr ge aber gerade ausgehen und von dem sie handeln39. Da die Wahrheit, wo menschliches Handeln im Blick steht, aus dem Leben gewonnen wird und mit ihm bereinstimmen mu , und das hei t zugleich, da die Untersuchung von der Erfahrung ausgeht und ihr nicht widersprechen darf, bringt Aristoteles im X. Buch zum Ausdruck (Kap. 9, 1179al8—22). Die Erfahrung, die in jedem vorausgesetzt werden mu , der die Darlegungen ber das f r den Menschen Gute in ihrer Wahrheit und Verbindlichkeit soll auffassen k nnen, ist nun freilich eine ganz spezifische — und das ist hier besonders zu betonen, weil es im Fortgang Bedeutung gewinnen wird. Im I. Buch (Kap. 2) unterscheidet Aristoteles Untersuchungen, die von Prinzipien ausgehen, und solche, die zu Prinzipien hinf hren87. Er bringt diese Unterscheidung zusammen mit dem oft von ihm herausgestellten Unterschied des f r uns Bekannten und des schlechthin Bekannten. Die Prinzipien sind schlechthin bekannt. Das bedeutet: Wenn wir eine Sache aus ihren Prinzipien erkannt haben, dann ist sie uns erst wahrhaft bekannt. Eine Untersuchung, die von Prinzipien ausgeht, geht von dem schlechthin Bekannten aus. Das gilt f r die Beweisg nge der beweisenden Wissenschaften. Eine Untersuchung dagegen, die zu den Prinzipien hinf hrt, geht aus von dem f r uns Bekannten, und das ist der Fall der Untersuchung ber das f r den Menschen Gute. Sie f hrt zu den Prinzipien (den wahrhaft guten Zielen menschlichen Strebens) hin im Ausgang von dem f r uns Bekannten: im Ausgang vom Leben, von der Erfahrung — und zwar von einem bestimmten Leben und einer bestimmten Erfahrung, dem Leben und der Erfahrung eines ethisch trefflichen Menschen88. Wer nicht schon (auf eine gewisse, sp ter n her zu bestimmende Weise) ethisch trefflich ist, der bringt die Erfahrung nicht mit, die ihn f hig macht zu begreifen, worauf es in der Untersuchung ankommt89. Eben weil hier nichts bewiesen werden kann, kommt auf die Verfassung des H rers alles an. Die Untersuchung geht aus von dem, was einem irgendwie schon trefflichen Menschen aus dem Leben, das er f hrt, und aus der Erfahrung, die er daraus gezogen hat, bekannt ist, und f hrt zu den Prinzipien hin. Dabei bleibt sie im Umkreis des Da (ότι) und kl rt es durch, und sie s
* απειρος γαρ των κατά τον β'ιον πράξεων, οί λόγοι δ' εκ τούτων καΐ περί τούτων — 1095a3 f. Vgl. auch VI 9, 1142all—16. " 87 μη λανθανέτω δ' ήμας δτι διαφέρουσιν οΐ από των άρχων λόγοι και οί επί τάς αρχάς. — 1095a30—32. 88 Siehe 1095b4: διό δει τοις Ι*εσιν ήχθαι καλώς... se Entsprechendes gilt f r die Ausf hrungen ber die Weisheit — darauf wird Kapitel 21 zur ckkommen.
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verzichtet (muß wohl verzichten) auf das Warum ( ), das, wie Aristoteles sagt, nicht mehr nötig sein wird, wenn das Daß deutlich erfaßt ist (1095b6 f.). Der Weg führt hier von Bekanntem, das man selbst schon ist, das man lebt und darin erfährt, zu den zunächst nicht oder nur undeutlich bekannten Prinzipien. Ein Warum, eine Deduktion aus Prinzipien sind nicht zu erwarten. Mehr läßt sich der NE über die Art der Untersuchung zunächst nicht entnehmen. Eine Frage kann aber noch formuliert werden, indem der Anfang dieses Kapitels noch einmal aufgegriffen wird. Es hieß, Aristoteles erblicke fünf Vollzüge, in denen menschliche Vernunft Wahrheit erwirkt: Kunst, Wissenschaft, Einsicht, Weisheit und Prinzipienerkenntnis, und sie alle unterscheide er von der Vermutung und der Meinung; diese können uns täuschen, jene nicht. Inzwischen ist klargeworden, daß die Untersuchung über das menschliche Glück weder Wissenschaft noch Prinzipienerkenntnis ( ) noch Weisheit ist. Das heißt aber: Diese Untersuchung wird nicht von der erkennenden Vernunft durchgeführt, sie ist nicht Erkenntnis in dem Sinn, den Aristoteles eben in der NE festlegt. Dann bleiben folgende Möglichkeiten offen: die Untersuchung ist Sache der erwägenden Vernunft und erfaßt auf zuverlässige Weise Wahrheit, und dann müßte sie entweder Kunst ( ) oder Einsicht ( ) sein. Oder die Untersuchung gehört auf die Seite der Vermutung und Meinung, die wahr sein, aber auch täuschen können. Letzteres dürfte nicht wirklich Aristoteles' Auffassung sein, und vielleicht hat er nicht zuletzt um diese Möglichkeit auszuschließen, die Bezeichnung Staatswissenschaft für die NE in Anspruch genommen. Es blieben Kunst ( ) und Einsicht. Der Unterschied zwischen Kunst und Einsicht entspricht dem von Hervorbringen und Handeln (davon wird noch zu sprechen sein). Kunst ist hervorbringend, Einsicht dagegen bezieht sich auf das Handeln. Da der Mensch sein Glück nicht im Hervorbringen von Werken verwirklicht, dürfte die Untersuchung über dies Gute wohl kaum Kunst sein. Die Frage läuft also auf die Einsicht zu. Ist die Untersuchung, die das Sein des Menschen aus der Sorge um sein Glück und in der Sicht auf dies Glück zu denken unternimmt, ein Vollzug der Einsicht? Kann sie das aber sein, wenn die Einsicht erwägende, und das heißt (wie sich zeigen wird) Entscheidungen treffende Vernunft ist? Diese Fragen werden langehin offenbleiben müssen. Sie werden später verschärft werden können. Eine Antwort wird sich erst geben lassen, wenn die Sache, die die NE zu verstehen gibt, durchdacht worden ist.
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Aristoteles unterscheidet als zwei Gattungen Seiendes, dessen Scinsgründe ein Anderssein nicht zulassen, und Seiendes, das das Anderssein zuläßt. Zufolge der Ähnlichkeit und Verwandtschaft der menschlichen Vernunft mit dem Seienden, das sie erfaßt, gibt es auch in ihr einen Gattungsunterschied: Die Vernunft, soweit sie überhaupt auf verläßliche Weise Wahrheit eröffnet und nicht beim Vermuten und Meinen verharrt, ist entweder erkennende oder erwägende Vernunft. Erkennend ist sie als Wissenschaft, Prinzipienerkenntnis und Weisheit, erwägend ist sie als Kunst ( ) und Einsicht. Die drei erkennenden Vollzüge der Vernunft zeichnen sich dadurch aus, daß sie Notwendiges (und das heißt zugleich: Allgemeines) denken und so seihst Notwendigkeitscharakter haben. Doch gibt es bezüglich ihrer Genauigkeit eine Steigerung: die Prinzipienerkenntnis überbietet die Wissenschaften und wird von der Weisheit überboten. Die Wissenschaften gewinnen Erkenntnis durch das Verfahren des Beweisens. Der Beweis ist ein Schluß aus Wahrem nicht nur, sondern aus Wahrem, das notwendig wahr ist. Indem die Wissenschaften aus notwendig Wahrem schließen, kommen sie stets zu notwendigen Ergebnissen. Indessen ist die Notwendigkeit ihrer Ergebnisse eine abgeleitete. Sie wird anderem Notwendigem verdankt, das daher als in höherem Grade notwendig angesehen werden muß. Es sind dies die unbeweisbaren Beweisanfänge, die, eben weil sie unbeweisbar sind, nicht von den Wissenschaften selbst aufgebracht werden können. Die Prinzipienerkenntnis ( ) stellt sie bereit. Sie übertrifft daher die Wissenschaften in der Genauigkeit und Strenge des Wissens. Indessen ,gibt( sie die Seins- und Wissensanfänge anderem Erkennen nur vor, sie erforscht sie nicht weiter. Hier setzt die Weisheit an. Sie macht die Seins- und Wissensanfänge selbst zum Thema. Sie schreitet erkennend auf dem Feld fort, das die Prinzipienerkenntnis schon betreten hat. Sie entfaltet die Implikationen der Ausgangssätze, die die Prinzipienerkenntnis für die Wissenschaften aufstellt. Sie dringt zu ersten Ursachen vor. Sie ist als Vereinigung von Wissenschaft und Prinzipienerkenntnis ein Drittes, der Art nach von ihnen Verschiedenes, sie Übertreffendes. Sie ist höchste und genaueste Wissenschaft, entfaltetes Wissen vom schlechthin Notwendigen und selbst notwendig. Aristoteles hat in seinem auf Notwendigkeit drängenden Wissenschaftsbegriff einen Anspruch aufgestellt, dem keineswegs alle Wissenschaften seiner Zeit Zu entsprechen vermögen und dem auch seine eigene Naturforschung teilweise nicht genügt. Die lebendige, von Zwecken
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bestimmte Natur scheidet als Forschungsfeld eigentlicher Wissenschaft aus. Man mag bereits in dieser Konzeption von Wissenschaft eine Tendenz sehen, die darauf hinzielt, Weisheit als Wissenschaft von äußerster Genauigkeit und Notwendigkeit sicherzustellen. Jedenfalls aber ist klar: Durch diesen Begriff der Weisheit ist die Gegenposition zu Platon angezeigt. Und: Wie der Begriff von Wissenschaft zum Ausschluß von Wissenschaften aus dem Kreis ,eigentlicher' Wissenschaften führt, so geht mit dem Begriff von Weisheit einher, daß Gebiete von ihr ausgeschlossen werden, auf die ,philosophisches' Fragen nicht verzichten kann und auch bei Aristoteles selbst nicht verzichtet. Platons Philosophie muß als wesentlich hermeneutisch verstanden werden. Sie vereinigt in sich beweisenden Logos und strenge Dialektik mit Mythos und Gleichnis. Darin hat sie selbst ihre Einheit, und in ihrer Einheit umfaßt sie zugleich Gott, Welt und Mensch. Aristoteles setzt gegen Platons Philosophie seinen Begriff der Weisheit. Er kann weder Mythos noch Gleichnis Einlaß in die Weisheit gewähren, ja schon Platons Begriff der Teilhabe ( ,), den die Ideenlehre fordert, entbehrt für Aristoteles der Notwendigkeit. Inhalte, die bei Platon an die Gestalt seines Philosophierens gebunden sind, können bei Aristoteles nur als völlig verwandelte oder überhaupt nicht von der Weisheit aufgenommen werden. Es mag für den — zumindest wissenschaftlich — noch jungen, in unmittelbarster Nähe Platons philosophierenden und auf um so heftigere Opposition eingestellten Aristoteles ein Triumph gewesen sein, daß er in der uns als Buch XII der Metaphysik überlieferten Abhandlung das Göttliche in einem notwendigen Aufweis als notwendig seiend dachte. Aber der unbewegte Beweger, zu dem er denkend gelangte, ist nicht das Göttliche des Sonnengleichnisses und der späten Dialoge Platons. Hier ist die Abtrennung der Frage nach dem für den Menschen Guten von der Sicht auf das Göttliche schon angelegt. In der NE sagt Aristoteles, daß es eine Idee des Guten nicht gibt und daß sie, selbst wenn es sie gäbe, für das Gute, das der Mensch erwirken oder erwerben kann, und damit für sein Glück keinesfalls Maß und Richtung gebend wäre. Die Weisheit, wo sie (philosophische) Theologie ist, und die Untersuchung über menschliches Glück sind keine Einheit. Indessen ist die Weisheit Erste Philosophie, Wissenschaft von den Prinzipien und Ursachen des Seienden als solchen und als diese nur zu einem kleinen Teil Theologie. Jene Trennung der Frage nach dem für den Menschen Guten von der Sicht auf das Göttliche braucht daher nicht schon den Ausschluß des Menschen aus der Weisheit bzw. der Ersten Philosophie
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überhaupt zu bedeuten. Faktisch indessen hat Aristoteles diesen Ausschluß vollzogen, und in der NE sagt er ausdrücklich, die Weisheit habe nichts von dem zum Thema, was zum Glück des Menschen gehört. Nun wäre dieser Ausschluß für Aristoteles unumgänglich, wenn er bei der Frage nach Sein und Glück des Menschen die Denkwege Platons beschritte. Das ist aber nicht der Fall. Aristoteles trennt sich gänzlich von Gleichnis und Mythos, und die Themen Eros, Unsterblichkeit, Gott Ähnlichwerden durch das Wirken als Staatsmann oder als die rechte Mischung seines Lebens erstrebendes Individuum verlieren bei ihm ihre Bedeutung. So scheint es, daß der Mensch auch dann von einer sich unter das Gebot der Notwendigkeit und höchsten Genauigkeit stellenden Weisheit nicht gedacht werden kann, wenn Mythos und Gleichnis aufgegeben und die Dimension des Göttlichen und eines Jenseits überhaupt abgeschnitten werden. Das macht die Frage akut, von welcher Art das Denken ist, das in der NE den Menschen unter der Leitfrage nach seinem Glück bestimmt. Negativ läßt sich die Frage zunächst dahin beantworten, daß dieses Denken nicht einmal die Notwendigkeit und Genauigkeit der Wissenschaften, geschweige denn die der Weisheit zu erreichen vermag. Darüber gibt Aristoteles selbst eindeutigsten Bescheid. Er kennzeichnet die Gegenstände, von denen er in der NE zu handeln gedenkt, als unbeständig und hält Beweise für unmöglich. Genauigkeit ist nicht einmal bei der Untersuchung des Allgemeinen möglich, noch viel weniger aber dort, wo die Untersuchung, ihre vordringliche Aufgabe ergreifend, das Einzelne behandelt. Fraglich mußte erscheinen, ob Aristoteles damit, daß er das Unbeständige zu seinem Gegenstand erklärt und dem Einzelnen den Vorrang vor dem Allgemeinen zuspricht, sein eigenes Unternehmen nicht unterbestimmt, was erst später entschieden werden kann. Wäre das der Fall, dann müßte nach dem Grund dafür weitergefragt werden. Indessen hat Aristoteles in der NE nicht nur übersteigerte Ansprüche an die Untersuchung zurückgewiesen, sondern auch positive Hinweise auf ihren Wissenscharakter gegeben. Freilich gibt ihre Bezeichnung als Staatswissenschaft ( ^) nur wenig her, insbesondere, weil sie den Inhalt nicht wirklich trifft. Sie mag aber gerade auch angesichts der vom Standpunkt der Wissenschaften und der Weisheit her vollzogenen negativen Charakteristik dafür stehen, daß ein — wie auch immer geartetes — Wissen zum Vortrag kommt, nicht aber bloße Meinung oder Vermutung. Wenn es demnach unwahrscheinlich sein dürfte, daß Aristoteles seine Ausführungen als auf der Ebene bloßer Meinung oder Ver-
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mutung angesiedelt verstanden haben möchte, so stellt er doch heraus — und das gehört zur positiven Bestimmung des Wissenscharakters der NE —, daß man bei der Erörterung des menschlichen Glücks von den Meinungen auszugehen hat, in denen Menschen ihr Selbstverständnis zum Ausdruck gebracht haben. Den Wahrheitsgehalt solcher Meinungen gilt es zu ermitteln und zu bewahren; Einklang mit ihm ist allenthalben herzustellen. Dieser Forderung verwandt ist die andere, daß die Untersuchung vom Leben und der Erfahrung auszugehen und mit ihnen in Übereinstimmung zu sein hat. Die Erfahrung, von der die Untersuchung über das für den Menschen Gute ausgeht, mit der sie übereinstimmen muß und die sie in jedem Hörer oder Leser voraussetzt, der sie in ihrer Verbindlichkeit soll auffassen können, ist, näher betrachtet, die Erfahrung des (auf eine noch zu bestimmende Weise) schon guten, ethisch trefflichen und glücklichen Menschen™. Die Untersuchung setzt in dem, der sie vollzieht oder nachvollzieht, eine bestimmte Seinsverfassung voraus. Das ist mehr bzw. etwas qualitativ anderes, als was man üblicherweise unter Erfahrung oder Lebenserfahrung versteht. Die Erfahrung des schon ethisch trefflichen Menschen ist das Bekannte, von dem die Untersuchung über das für den Menschen Gute ausgeht und von dem aus sie zu den noch nicht oder noch nicht hinreichend bekannten Prinzipien (den wahrhaft guten Zielen menschlichen Strebens) hinführt. Dieser Weg ist eine Klärung des Daß, er zeigt kein Warum auf. Die Untersuchung über das menschliche Glück ist weder Wissenschaft, Prinzipienerkenntnis oder Weisheit, noch dürfte sie bloße Vermutung oder Meinung sein. Sie müßte demnach der erwägenden Vernunft zuzuschreiben sein, und hier wohl kaum der Kunst ( ,), deren Sache das Hervorbringen von Werken ist. Es ergibt sich die Frage: Ist es die Einsicht, die das menschliche Glück untersucht? Diese Frage kann erst später deutlicher herausgearbeitet, ihre Lösung erst im 21. Kapitel versucht werden. Das Problem, das die NE als Wissen' vom Menschen stellt, hat zunächst zurückzutreten hinter dem, was dieses Wissen' zu verstehen gibt.
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Daß auch die Ausführungen über das Glück der Weisheit eine entsprechende Erfahrung voraussetzen, soll später gezeigt werden.
15. Kapitel: Das Glück als das höchste Gute für den Menschen (NEl l, 3, 5, 6, 9, 11) Die NE denkt den Menschen, indem sie sein Glück denkt. Sein Glück ist für den Menschen das höchste Gute — oder auch: das höchste Gute für den Menschen macht sein Glück aus. Die Erörterung des Glücks im I. Buch knüpft an an etwas, was andere1 schon zutreffend ausgesprochen haben: Das Gute ist das, wonach alles strebt2. Diese Bestimmung liegt vor einer Unterscheidung von wahrhaft Gutem und fälschlich als gut Vermeintem. In ihr ist das Gute das Erstrebte, insofern es erstrebt wird. Über diese allgemeine Bestimmung des Guten schreitet Aristoteles sofort differenzierend hinaus. Das Gute als Erstrebtes ist Ziel ( ). Es gibt zwei Arten von Zielen: Entweder das Ziel ist eine Tätigkeit selbst, oder das Ziel ist ein Werk, das durch die Tätigkeit zustande kommt. Ist das Erstrebte ein Werk, dann ist dieses von höherem Rang als die Tätigkeit, durch die es entsteht; um seinetwillen wird man ja tätig. Ist dagegen die Tätigkeit als solche das Erstrebte, dann liegt das Gute in ihrem Vollzug. Man kann den Gedanken hier schon zu Ende führen: Gesetzt, es gibt ein höchstes Gutes für den Menschen, dann muß es zu der Art von Zielen gehören, die um ihrer selbst willen vollzogene Tätigkeiten sind. Wollte man es der anderen Art von Zielen zuordnen, so würde man es vom Menschen ablösen, wenn anders das (fertige) Werk aus der hervorbringenden Tätigkeit entlassen und in diesem Sinne auf sich gestellt ist3. Ein höchstes Gutes für den Menschen begrifflich scharf denken, heißt für Aristoteles, dieses Gute als tätigen Vollzug denken. G i b t es aber ein höchstes Gutes für den Menschen? Oder thematisiert die Untersuchung vielleicht ein bloßes Gedankending? Diese Frage bringt Aristoteles unverzüglich für sich zur Entscheidung. Die Ziele 1
Dlrlmeier (zur Stelle) verweist auf Platon und Eudoxos. , ' — 1094a2 f. 3 Daß schon die hervorbringende Tätigkeit selbst ihr Sein nicht im Tätigen, sondern in dem entstehenden Werk hat (das Bauen in dem, was gebayt wird), sagt Aristoteles in der Met. (siehe IX 8, 1050a23—b2). 2
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menschlichen Strebens sind nicht nur sehr mannigfaltig (als Beispiele nennt Aristoteles in diesem Zusammenhang Gesundheit, Schiff, Sieg, Reichtum), sie bilden auch (mannigfaltige) Gef ge der ber- und Unterordnung 4 . Wie die Handwerke, die Reitzeug herstellen, der Reitkunst untergeordnet sind und diese der Strategik, so sind auch ihre Ziele einander untergeordnet. Die Ziele jener Handwerke werden um des Ziels der Reitkunst willen gew hlt, dieses wird um des Ziels der Strategik willen gew hlt. So ist das Ziel der Reitkunst ein in h herem Grade zu w hlendes, als es die Ziele jener Handwerke sind, und das Ziel der Strategik ist ein in h herem Grade zu w hlendes gegen ber dem Ziel der Reitkunst. Entsprediendes gilt f r die anderen Gebiete des Strebens. Von gr ter Wichtigkeit f r die anstehende Frage ist nun, ob die berordnung der Ziele ins Endlose fortgehen kann. Wird j e d e s Ziel um eines anderen Zieles willen gew hlt, oder gibt es Ziele, die um ihrer selbst willen gew hlt werden? Nur wenn es um ihrer selbst willen erstrebte Ziele gibt, kann es ein h chstes Gutes f r den Menschen geben. — Angenommen, der Mensch w rde jedes Ziel um eines anderen Zieles willen erstreben, dann k me sein Streben nie wirklich an. Jedes Erreichte w re erreicht um eines erst noch Zu-erreichenden willen. Und das hie e, menschliches Streben w re leer und vergeblich (1194a21). Das ist es nach Aristoteles aber nicht. Aristoteles' Argumentation enth lt den Schlu : Menschliches Streben ist nicht (schlechthin und jederzeit) leer und vergeblich. Das w re es aber, wenn es keine um ihrer selbst willen gew hlte Ziele g be. Also gibt es solche Ziele. Was steht aber daf r ein, da menschliches Streben im ganzen nicht leer und vergeblich ist? Aristoteles spricht es nicht aus. Stillschweigend nimmt er eine Erfahrung in Anspruch, die er ganz selbstverst ndlich bei seinen H rern voraussetzt und die sich durch keinerlei Demonstration oder Argumentation ersetzen lie e, sollte sie bei einem H rer fehlen: die Erfahrung der Befriedigung im Erreichen von Zielen. Es gibt um ihrer selbst willen gew hlte Ziele (Endziele). Nun spricht Aristoteles aber an der in Rede stehenden Stelle (1094al8—22) nicht von solchen Zielen im Plural, sondern von einem Ziel5, und dies eine Ziel erscheint als d a s Gute und das Beste (τάγαϋόν και το άριστον). Darin geht er ber das hinaus, was die Argumentation hergibt. Die Er4
Das gilt f r Ziele der beiden zuvor bezeichneten Arten; die ordnung braucht dabei nicht innerhalb der Art zu verbleiben. 5 El δη τι τέλος εστί των πρακτών . . .
ber- und Unter-
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fahrung der Befriedigung im Erreichen von Zielen steht f r das Sein von Endzielen ein, nicht f r das Sein eines h chsten Zieles, das d a s Gute und das Beste genannt werden k nnte8. Hier gilt es allerdings noch etwas genauer hinzusehen. Wenn es Endziele gibt — und es gibt sie —, dann ist ein h chstes Ziel m g l i c h ; ein h chstes Ziel w re hingegen unm glich, wenn wir jedes Ziel um eines anderen Zieles willen w hlten. Das wahre Resultat der berlegung zur Architektonik der Ziele ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als dies: Es k a n n ein h chstes Gutes f r den Menschen g e b e n , ein h chstes Ziel menschlichen Strebens ist m g l i c h . Zweifellos berspringt Aristoteles aber die M glichkeit und setzt schon an der behandelten Stelle und f r alles weitere das h chste Ziel als seiend. Auf diesen Sachverhalt ist sp ter zur ckzukommen (Kap. 21). F r Aristoteles gilt von nun ab der Gegenstand seiner Untersuchung als gesichert. Zu fragen ist nicht mehr, ob es ein h chstes Gutes f r den Menschen gibt, sondern was es ist7. Wer fragt, was das Gl ck ist, sieht sich vielf ltigen Meinungen ber das Gl ck gegen ber. F r die einen ist das h chste Ziel menschlichen * Diese Diskrepanz hat dazu gef hrt, da einige Kommentatoren und Interpreten die Stelle durch R ckgriff auf die aristotelische Ontologie zu st tzen trachten. Eine bevorzugte Rolle spielt dabei Met. II 2, 994al ff. und b9 ff. (so bei Burnet und Gauthier}. Dort aber ergibt sich bez glich des τέλος qua Endziel dasselbe Problem wie in NE 1094al8—22. Der „Parallelit t" der „Lehre von der ersten Ursache" und der „Lehre vom letzten Zweck" hat schon Gigon (S. 23) .mi traut', jedoch nicht so sehr, als da er sie nicht aufgriffe. Grant (zur Stelle) zieht sich auf das ουδέν ατελές ποιεί ή φύσις zur ck (ohne Zitatangabe; vgl. Politik I 8, 1256b20 f. und Kontext, ber die Seele III 9, 432b21 und III 12, 434a31 (μάτην) — weitere Stellen bei Cassirer, S. 36). Er sagt dazu: „As everything in nature has its proper end, so has human desire. There must therefore be some absolute good, desirable for its own sake, towards which our life ought to be directed." Diese Versuche verkennen den eigent mlichen, mit Entschiedenheit festgehaltenen Ansatz der NE im Menschen selbst, wiewohl freilich Aristoteles selbst insbesondere der Version Grants Vorschub zu leisten scheint mit seiner u erung NE I 10, 1099b20—23, die aber nicht gewichtiger genommen werden sollte, als sie es innerhalb der dortigen, bereits ganz anders vorbereiteten Abweisung der τύχη als Ursache menschlichen Gl cks ist. — Zur Problematik vgl. auch Dirlmeier (zur Stelle), der vom „horror infiniti" bei Aristoteles spricht. Dirlmeier stellt dort auch (wie Gauthier) eine Beziehung zu Platans Lysis her. Aber man braucht nur die Linie vom Lysis zum Symposion zu ziehen, um sich wieder dessen bewu t zu sein, da Aristoteles in der NE gegen ber dem h chsten Erstrebten gerade in ganz anderer Lage ist als Platon. 7 τί το πάντων άκρότατον των πρακτών αγαθών — 1095al6f.; siehe auch 1095al7— 19 u. 20 f. — Es sei darauf aufmerksam gemacht, da damit eine andere Fragerichtung eingeschlagen ist als die, von der im vorigen Kapitel (S. 248 f.) die Rede war (vgl. dazu H. Anal. II l, 89b23—35). Das weist auf ein zentrales Problem, das im 21. Kapitel zu behandeln ist.
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Strebens die Lust, für die anderen die Ehre oder der Reichtum, für andere wieder anderes, und mitunter ändert ein Mensch seine Vorstellung vom Glück nach seinen wechselnden Lebensumständen (I 2, 10953.22—25). Die Meinungen über das Glück, da sie das Streben bestimmen, führen, wenn sie festgehalten werden, zu bestimmten Lebensformen ( — 1095bl5)8. Die philosophische Frage, was das Glück sei, kann an diesen Lebensformen, den von Menschen g e l e b t e n Auffassungen vom Glück, nicht vorbeigehen — jedenfalls nicht an den besonders bevorzugten. Das sind drei: Wer das Glück mit der Lust in eins setzt, lebt ein Leben des Genusses. Wer das Glück in der Ehre erblickt, stellt sein Leben in den Dienst des Staates. Wem wissenschaftliche Erkenntnis das Glück bedeutet, der lebt das Leben des Erkennenden. Neben diese drei Lebensformen stellt Aristoteles noch eine vierte: die des Geschäftsmannes, der Reichtum für das Glück hält. Aristoteles kommt es bei der Betrachtung dieser Lebensformen darauf an, zu zeigen, was das Glück nicht ist; so macht er sich den Weg frei für die weitere begriffliche Bestimmung. Deshalb wird das Leben des Erkennenden nur erwähnt und die Behandlung dieser Lebensform aufgeschoben. Daß das Glück nicht im Reichtum liegen kann, ist von der früheren Erörterung über die Ziele her leicht zu sehen. Reichtum ist ein untergeordnetes Ziel; er ist wählenswert um anderer Ziele willen". Wer in ihm das Glück sieht und danach lebt, verkehrt das Mittel zum Zweck und lebt entsprechend verkehrt. Lust und Ehre aber sind um ihrer selbst willen zu wählen (so nicht nur 1096a7—9, sondern auch in der weiterführenden Erörterung 1097b2—4)10. Lust oder Ehre könnten daher eher das Glück sein. Daß die Lust nicht das Glück ist, weist Aristoteles an dieser Stelle durch ein Werturteil kurz und für Andersdenkende gewaltsam zurück. Wer die Lust als Höchstes erstrebt, ist knechtisch gesinnt ( ) und lebt das Leben des Viehs (1095bl9—22). Dieses Urteil gründet in einer Entscheidung für das wahrhaft glückliche Leben, das erst noch zu bestimmen ist. — Auch die Ehre ist nicht das Glück. Das wird mit zwei Argumenten begründet (1096b23—31): Der Begriff des höchsten Guten für den 8
Siehe Dirlmeier zur Stelle. Siehe auch 1097a26f.; vgl. Politik I 8, 1256b26—37. (Anders äußert Aristoteles sich NE VII 6, 1147b23—31; die Abweichung läßt sich vielleicht durch die enge Fassung der an dieser Stelle verstehen; Dirlmeier — zur Stelle — stellt Anlehnung an Platon fest.) 10 Zur Lust differenzierter X 2, 1174a8—11 und das vorangegangene. 9
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Menschen impliziert, daß dies Gute nicht abgelöst ist vom Menschen, daß der Mensch dies Gute vielmehr selbst i s t (vgl. S. 254). Die Ehre aber, die jemandem zuteil wird, ist mehr in dem, der ehrt, als in dem Geehrten. Der, dem die Ehre zukommt, verfügt nicht über ihren Vollzug. Er selbst kann sich im Handeln für die staatliche Gemeinschaft nur der Ehre würdig machen. Ihre Wirklichkeit hat seine Ehre durch die anderen und in den anderen11. Ferner: Das im Streben nach Ehre eigentlich Erstrebte ist die Selbstvergewisserung bezüglich der eigenen Trefflichkeit ( ). Wer nach Ehre strebt, strebt danach, von Einsichtigen ( ), und das heißt von Trefflichen (vgl. Kap. 18), in seiner Trefflichkeit anerkannt und dadurch seiner selbst als eines Trefflichen sicherer zu werden. Weil er die Trefflichkeit hochschätzt, strebt er nach Ehre. Deshalb wäre eher die Trefflichkeit als die Ehre das höchste Gute. Aristoteles hat ausgeführt, daß weder Lust noch Ehre noch Reichtum mit dem Glück identisch sind. Was ist aber das Glück? Aristoteles vollzieht einen weiteren entscheidenden Schritt: Er legt dar, daß das Glück ein einzigartiges Ziel und als solches eines ist. Er hatte zuvor die Ziele in Werke einerseits, um ihrer selbst willen vollzogene Tätigkeiten andererseits unterschieden; er hatte die Über- und Unterordnung von Zielen vor Augen geführt und festgesetzt, daß es ein höchstes Ziel gibt. Zugunsten dieser Festsetzung übersprang er den Unterschied von Endzielen und höchstem Ziel bzw. vollendetstem Endziel. Um diesen Unterschied geht es ihm jetzt (I 5). Viele Ziele wählen wir nur um anderer Ziele willen. Sie sind Mittel, Werkzeuge im weitesten Sinn. Also sind nicht alle Ziele Endziele ( ). Das höchste Gute aber muß Endziel sein. Falls es im Bereich menschlichen Handelns nur ein einziges Endziel gibt, ist dies das höchste Gute; falls es mehrere Endziele gibt, ist das höchste Gute das vollendetste von ihnen ( — 1097a30). Es wäre an dieser Stelle auch eine andere Auskunft denkbar, nämlich: Falls es mehrere Endziele gibt, ist das höchste Gute ihre Summe. Das würde bedeuten, daß der Mensch um so glücklicher wäre, je mehr dieser Endziele er erreicht, und daß er im vollen Sinne glücklich wäre dann, wenn er sie alle erreicht. Diese Alternative wird von Aristoteles nicht ausgesprochen, aber indirekt beseitigt er sie durch die für alles weitere grundlegende ontologische Unterscheidung der Endziele: Die Endziele unterscheiden 11
Das Thema der Autarkie klingt schon an, daher auch die Abschweifung 1095b33 f.
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sich ihrem Sein nach in solche, die wir zwar um ihrer selbst willen, zugleich aber um eines anderen Endzieles willen w hlen, und in das eine Endziel, das wir stets einzig und allein um seiner selbst willen w hlen. Dieses eine Endziel ist das h chste Gute, das Gl ck. A l l e Endziele sind vollendeter als jene Ziele, die nur als Mittel, die Endziele zu verwirklichen, gew hlt werden. Aber innerhalb der Endziele stiftet der genannte ontologische Unterschied noch einmal einen Rangunterschied. Nur um seiner selbst willen gew hlt werden, das ist vollendeter als: um seiner selbst willen und zugleich um eines anderen willen gew hlt werden. Der Seins- und Rangunterschied innerhalb der Endziele kann aber als problematisch erscheinen. Wie ist das denn zu verstehen, da wir ein Endziel zwar um seiner selbst willen, zugleich aber um eines anderen (h heren) Zieles willen w hlen? L st sich der Begriff des Endzieles nicht an dieser Doppelung auf12? Dazu ist zun chst zu sagen: Das Endziel, um dessentwillen wir ein anderes Endziel zugleich auch w hlen, ist immer dasselbe; es ist das Gl ck. Und zu diesem steht jenes (auch) um seinetwillen gew hlte Endziel niemals im Verh ltnis des Mittels. Wir w hlen Ehre, Lust, Geist (νους), alle Trefflichkeit13 (1097b2) je um ihrer selbst und um des Gl cks willen. Keineswegs aber sind Ehre, Lust, Geist oder Trefflichkeit Mittel zum Gl ck. Vielmehr machen sie selbst uns gl cklich; wir s i n d gl cklich, wenn wir sie erreichen14. F llt gerade damit aber nicht doch der Seins- und Rangunterschied zwischen dem Gl ck einerseits und den brigen Endzielen andererseits wieder in sich zusammen? Diesem m glichen Bedenken tritt Aristoteles entgegen, indem er den Endzielcharakter der vielen Endziele, die selbst nicht das Gl ck sind, folgenderma en akzentuiert: „Wir w rden jedes von ihnen auch dann w hlen, wenn nichts (weiter) dabei herausk me" (μηΟενός γαρ άποβαίνοντος έλοίμεθ' αν εκαστον αυτών — 1097b3 f.) — d. h. wenn das Erreichen des Endziels uns n i c h t gl cklich machen w rde15. Ist dies Abstrahieren vom Gl ck aber mehr als eine blo e Denkoperation? Wenn wir, wie behauptet, alle Endziele au er dem einen Endziel Gl ck 12
τέλειον — Endziel — bedeutet vollendetes Ziel. Siehe dazu Met. X 4,1055al3—
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Da Geist und Trefflichkeit hier unter den Endzielen erscheinen, die um ihrer selbst und um des Gl ckes willen gew hlt werden, mu vom Fortgang der NE her merkw rdig ber hren. Das wird aufzugreifen sein (in Kapitel 21). 14 δια τούτων ύπολαμβάνοντες εΰδαιμονήσειν — 1097b5. 15 Vgl. X 2, 1174a4—8.
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stets auch um des Glücks willen wählen, wie kann dann der Gedanke Verbindlichkeit gewinnen, daß wir, auch wenn wir das Ausbleiben des Glücks gewärtigen müßten, jedes jener Endziele doch noch um seiner selbst willen wählen würden? Aristoteles könnte auf Grenzsituationen verweisen. Er könnte die Möglichkeit anführen, daß jemand die Ehre wählt um den Preis seines Lebens und damit seines Glücks16. Diese Grenzsituation faßt Aristoteles tatsächlich in seiner Erörterung der Tapferkeit ins Auge (III 12, 1117b7—16): Der Tapfere nimmt den Tod und schmerzhafte Wunden auf sich, weil es edel ( ) ist und weil anders zu handeln schmachvoll ( ) wäre. Er tut das im vollen Bewußtsein darüber, was er verliert. Er leidet über den Verlust seines Glücks, den er selbst herbeiführen wird. Sein Handeln ist nicht lustvoll, wiewohl es gerade trefflich ist. — Indessen ist hier doch zweierlei zu bedenken: Das Endziel Ehre ist, auch wenn es um den Preis des Lebensglücks gewählt wird, insofern noch immer auch um des Glücks willen gewählt, als der Handelnde durch die tapfere Tat nicht zuletzt das Unglück der Ehrlosigkeit und Schande von sich fernhalten will. Vor allem aber sollte gesehen werden, daß das vorgeführte Verständnis der Grenzsituation selbst ein Problem ist, wenn, wie es bei Aristoteles geschieht, das treffliche Handeln als eine Gestalt des Glücks gedacht wird (vgl. S. 264 und die folgenden Kapitel). Aristoteles selbst hat im IX. Buch die Möglichkeit ergriffen, auch die äußerste tapfere Tat noch als in sich selbst glückhaft zu begreifen (siehe IX 8, 1169al8—26 im Zusammenhang mit IX 7, 1168a5—7 und 13—15). Die Unterscheidung des Glücks (als einzig um seiner selbst willen gewählten Endziels) und der übrigen Endziele (als sowohl um ihrer selbst als auch um des Glücks willen gewählter) bleibt unbefriedigend (darauf ist in Kap. 21 zurückzukommen). Auf ihr baut Aristoteles aber alles weitere auf. Implicite leistet die Unterscheidung, wie erwähnt, die Abweisung der Vorstellung, das Glück könnte die Summe aller Endziele sein. Sie leistet sofort aber noch etwas anderes Entscheidendes: Sie trägt den Gedanken, daß das Glück eines ist für alle Menschen, so daß die Frage nach dem, was das Glück ist, nach diesem Einen, Gemeinsamen, suchen kann. Das Glück ist seinem Sein und Rang nach über alle anderen Endziele hinausgehoben. Es ist nicht ein Endziel unter und neben anderen
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Glück ist bei Aristoteles L e b e n s Vollzug; auf ein Glück jenseits des Todes blickt die NE nicht hinaus. Vgl. S. 245, S. 266 und Anm. 6 zu Kapitel 20.
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Endzielen. Das widerspräche auch der Bestimmung des Glücks als des höchsten Guten für den Menschen. Denn: Wäre das Glück ein Endziel unter und neben anderen Endzielen, ihnen gleich an Sein und Rang, so wäre es zwar ein Gutes, aber nicht mehr das höchste Gute. Denn durch Hinzutreten auch nur eines anderen Endzieles entstünde ja ein höheres Gutes. — Das Glück ist kein Endziel unter und neben anderen Endzielen. Das erhärtet nicht nur den Gedanken, daß kein einzelnes Endziel von der Art der Lust oder der Ehre mit dem Glück identisch sein kann. Es schließt auch aus, daß der Inhalt des Glücks relativ auf den einzelnen Menschen und damit von Mensch zu Mensch verschieden sein könnte. Auf der Ebene der mannigfaltigen Endziele mag allenfalls der eine andere Prioritäten setzen als der andere. Die inhaltliche Bestimmung des Glücks bleibt davon unberührt. Das Glück, in seiner Wahrheit gedacht, muß eines sein für alle Menschen. Das Glück ist eines. Seine Einheit zeigt zwei Aspekte. Das Glück ist nicht die Summe aller oder weniger besonders schätzenswerter Endziele; es ist vielmehr das in allem Wählen von Endzielen immer zugleich auch und vor allem gewählte eine vollendetste Endziel. Und das Glück ist seinem Inhalt nach eines für alle Menschen. Als dieses Eine für alle Menschen ist es Thema der weiteren Untersuchung. Früher wurde schon gezeigt, daß das Glück eine vom Menschen um ihrer selbst willen vollzogene Tätigkeit sein muß. Die Frage geht jetzt also auf die für alle Menschen eine und selbe um ihrer selbst willen vollzogene Tätigkeit, die das höchste Gute für den Menschen ist (I 6)17. Diese Tätigkeit kann nicht im Bereich des Körperlichen gesucht werden; sie ist nicht die Tätigkeit eines Organs oder Gliedes des menschlichen Körpers und auch nicht die Summe aller dieser Tätigkeiten. Denn der Körper ist zu diesen Tätigkeiten nur fähig als belebter, beseelter. Der Seele verdankt er seine Lebendigkeit und damit alle seine Vollzüge.
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Aristoteles spricht in diesem Kapitel zunächst nicht von , sondern gebraucht das Wort " (teils zusammen mit ) in einer weiten Bedeutung, die Werke bzw. um der Werke willen vollzogene Tätigkeiten sowohl als auch um ihrer selbst willen vollzogene Tätigkeiten umfaßt. (Dirlmeier, der in seinem Kommentar — Seite 278 zu 14,2 — Beziehung zu Platon herstellt, trägt diesem weiten Bedeutungsumfang von Rechnung durch die Übersetzung mit „Leistung".) Dieser Gebrauch von erlaubt Aristoteles die Frage, ob der Mensch zwar als Zimmermann und Schuster ein habe, als Mensch aber nicht. 1098a5—8 legt er dann fest, daß das gesuchte des Menschen (im Sinne der um ihrer selbst willen vollzogenen Tätigkeit) ist.
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Bei der Suche nach der h chsten T tigkeit des Menschen scheidet er aus. Diese Suche ist an die Seele verwiesen18. Die T tigkeiten der Seele sind mannigfaltig. Wie kann d i e T tigkeit der Seele gefunden werden, die als um ihrer selbst willen vollzogene das h chste Gute f r den Menschen ist? Als Richtpunkt gibt Aristoteles sich vor, da diese T tigkeit eine dem Menschen und nur ihm eigene sein mu 19, eine T tigkeit also, die kein anderes beseeltes Wesen vollziehen kann. Darin ist gesetzt, da die T tigkeiten der Seele, indem sie Arten des Lebendigen konstituieren, unter diesen Arten ein Rangverh ltnis stiften. Nur wenn alle T tigkeiten der Seele, die der Mensch mit anderen Lebewesen gemeinsam hat, im Verh ltnis zur Menschenart niedrigere Arten des Lebendigen konstituieren, kann in keiner von ihnen das h chste Gute f r den Menschen erreicht werden. Dem Gedanken dieser Rangordnung liegt eine Entscheidung zugrunde, von der noch zu sprechen sein wird (Kap. 21). Gefragt ist also nach der T tigkeit der Seele, die nur dem Menschen eigen ist und durch die er sich von allem brigen Lebendigen unterscheidet. Es scheiden aus: der einfache Lebensvollzug (ζην — 1097b33) des Sichern hrens und Wachsens — denn der ist dem Menschen mit den Pflanzen (und Tieren) gemeinsam — sowie das Leben, f r das die
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Aristoteles" Argumentation vollzieht sich an dieser Stelle gewisserma en untergr ndig. Ausgesprochen werden zwei dem Sinn nach parallele Fragen, deren positive Antwort jeweils als selbstverst ndlich angenommen wird: Sollten der Zimmermann und der Schuster je ein Werk (έργον) haben, der Mensch (als Mensch) aber nicht? Und: Sollten die Organe und Glieder des K rpers je ein Werk haben, der Mensch aber nicht? Wie das Werk des Menschen nicht die Summe der Werke des Zimmermanns, des Schusters und anderer auf entsprechende Weise T tiger sein kann (denn gesucht wird ja das Werk, das das Gl ck der existierenden einzelnen Menschen ausmacht), so kann das Werk des Menschen auch nicht die Summe aller Organe und Glieder des K rpers sein, sondern mu etwas neben diesem allem sein (παρά πάντα ταΰτα — 1097b32). Aber warum? Weil die Summe aller k rperlichen Werke gar nicht denkbar ist ohne die Seele. Als b l o e Summe kann sie gar nicht gedacht werden, sondern nur als das Zusammenwirken zum Leben je eines Lebendigen. Das Leben ist aber T tigkeit (ενέργεια) der S e e l e . Vgl. aus der schon erw hnten Met.-Stelle IX 8, 1050a34—bl. Besonderes Gewicht ist jetzt auch auf den Fortgang bl f. zu legen: Wie das Leben in der Seele ist, so auch das Gl ck; denn das Gl ck ist Leben — Leben von einer bestimmten Beschaffenheit. Zum Verh ltnis K rper — Seele vgl. vor allem auch ber die Seele I l, 402a4f.; II 4, 415b7ff. und II l, 412al9 ff. sowie Politik I 5, 1254a34—39. Der Gedanke, da das Werk des Menschen nicht ein Werk des Leibes ist, dient Aristoteles auch zur Rechtfertigung der Sklaverei — Politik I 5, 1254bl6—19. 19 ζητείται δε το ίδιον — 1097b34.
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Wahrnehmung konstitutiv ist20 — denn das teilt der Mensch mit den Tieren. brig bleibt (λείπεται — 1098a3) der Lebensvollzug des Seelenteils, der Vernunft hat (του λόγον έχοντος — 1098a3 f.). So wird nun also das Gl ck eine T tigkeit der Seele sein, die als t tiger Vollzug der Vernunft oder jedenfalls nicht ohne Vernunft stattfindet21. Die berlegung mu aber noch einen Schritt weitergef hrt werden. Eine T tigkeit der Seele, die als t tiger Vollzug der Vernunft oder jedenfalls nicht ohne Vernunft stattfindet, braucht als solche nicht schon gut zu sein. Gesucht ist aber das h chste Gute f r den Menschen. Deshalb ist zu sagen: Das h chste Gute f r den Menschen und sein Gl ck ist eine T tigkeit der Seele von der bezeichneten Art, sofern sie t r e f f l i c h vollzogen wird. Wie der Vollzug des Kitharaspielens zwar einen Menschen zum Kitharaspieler, aber nicht ohne weiteres schon zum guten Kitharaspieler macht, so macht der Vollzug der Vernunft den Menschen zwar zum Menschen, aber er ist nicht ohne weiteres schon das h chste Gute und das Gl ck des Menschen. Ein guter Kitharaspieler ist der, der trefflich Kithara spielt. Ein gl cklicher Mensch ist der, der seine Vernunft trefflich zum Vollzug bringt. Er verwirklicht f r sich darin das h chste f r den Menschen Gute und i s t so selbst gut. Der Gl ckliche ist der Treffliche. Gl ck ist Trefflichkeit (αρετή). Es ist Trefflichkeit der Seele in ihrem dem Menschen und nur ihm eigenen Lebensvollzug. Ist diese Trefflichkeit in sich vielf ltig, dann ist das Gl ck die beste und vollendetste Trefflichkeit innerhalb dieser Vielfalt (1098al7). Damit ist die Fragestellung der NE ausgearbeitet. Die Aufgabe besteht darin, die Trefflichkeit (oder h chste Trefflichkeit) zu bestimmen, die die Seele im Vollzug der Vernunft zu erreichen vermag22. 20
Aus der Schrift ber die Seele (II 2, 413b22—24) ist zu entnehmen, da mit der Wahrnehmung auch Lust und Schmerz gegeben sind, mit diesen auch die Begierde (επιθυμία), das Streben (ορεξις). Sie alle kommen also auch den Tieren zu. Ihre Erw hnung an dieser Stelle der NE unterbleibt nicht von ungef hr. Sie haben n mlich beim Menschen durch ihren Bezug zur Vernunft eine Qualit t, die ihnen bei den Tieren nicht zukommt — es sei denn, man wollte f r das Strebeverm gen auf bestimmte Haustiere verweisen, die menschlicher Vernunft gehorchen; dann entginge man aber nicht der Konsequenz, zumindest diese Tiere im Sinne von N E I 13 als teilnehmend an der Vernunft' zu denken. 21 Ψ^χής ενέργεια κατά λόγον ή μη άνευ λόγου — 1098a7 f. 22 Es mu darauf aufmerksam gemacht werden, da in diesem — Aristoteles referierenden — Absatz untergr ndig eine Gedankenverschiebung stattgefunden hat, die hier nur erst angedeutet werden kann, die aber sp ter (Kap. 20 und 21) Bedeutung gewinnen wird. Das Gl ck erscheint zun chst als treffliche T tigkeit der Seele, wobei diese T tigkeit der Seele als t tiger Vollzug der Vernunft oder jedenfalls als auf die Vernunft angewiesen zu verstehen ist. Diese weite Formulierung erlaubt es, die ethische
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Die bisherige Darlegung ber das Gl ck mu an dieser Stelle durch zwei Bestimmungen erg nzt werden, die Aristoteles im L Buch gibt und deren eine dazu angetan ist, das Erreichte zu problematisieren. Das Gl ck ist freudevoll. Und das Gl ck ist Autarkie. Das Leben der Trefflichen ist an sich selbst freudevoll23 (καθ5 αυτόν ηδύς — 1099a7). Wahre Trefflichkeit kommt n mlich nur denen zu, die die Trefflichkeit lieben und um der Trefflichkeit selbst willen, nicht aber aus anderen Gr nden als trefflich geltende T tigkeiten vollziehen. Wer aber die Trefflichkeit liebt, dem wird Freude durch ihren Vollzug, hnlich wie ein Pferdeliebhaber durch ein Pferd, ein Liebhaber von Schauspielen durch ein Schauspiel erfreut wird (siehe 1099a7—11). — „Das Gl ck ist das Beste, Sch nste und Freudevollste" (άριστον αρά και κάλλιστον και ήδιστον ή ευδαιμονία — 1099a24 f.). Als solches ist es zugleich durch Autarkie ausgezeichnet. Der Gl ckliche ist autark. Das vollendete Gute (τέλειον αγαθόν — 1097b8) ist sich selbst gen gend (αΰταρκες — ebd.). Das sich selbst Gen gende ist das, „was f r sich allein das Leben w nschenswert und keines weiteren bed rftig macht" (δ μονούμενον αίρετόν ποιεί τον βίον και μηδενός ένδεα — 1097bl4 f.)24. Aristoteles beugt dem Mi verst ndnis vor, als rede er der Isolierung des Individuums das Wort. Autarkie des Gl cks bedeutet nicht, da das Individuum als aus allen sozialen Bindungen gel stes sein Gl ck verwirklichen k nnte. In die Autarkie ist vielmehr ein begrenzter Kreis von Personen einbezogen — Eltern, Kinder, der Ehepartner, Freunde, Mitb rger. So wichtig nun freilich diese Erl uterung ist, sie bringt in die Bestimmung des Gl cks als Autarkie ein sich gegen sie wendendes Moment. Trefflichkeit, und zwar gerade auch in der Gestalt, bei der der einzelne von der Einsicht anderer abh ngig bleibt, als Gl ck zu verstehen. Da Aristoteles daran gedacht haben d rfte, erkl rt den umstrittenen Vorgriff auf die Einteilung der Seele 1098a4 f.: Der Seelenteil, der Vernunft hat und durch den der Mensch sich von anderen Lebewesen unterscheidet, hat teils Vernunft im engeren Sinn, teils gehorcht er solcher Vernunft. Auch die Trefflichkeit der gehorchenden Vernunft kann das Gute, das Gl ck, sein. Dem steht aber entgegen die Auffassung, wenn die Trefflichkeit des menschlichen Vernunftvollzugs vielf ltig sei, dann sei das Gl ck die beste Trefflichkeit innerhalb dieser Vielfalt. Damit ist die Entscheidung zugunsten der Weisheit im X. Buch vorbereitet. Die Diskrepanz wird, wie gesagt, noch zu thematisieren sein. Sie betrifft die NE in ihrem Kern. i3 — an sich selbst, weil diese Freude dem Aussein auf das h chste und schlechthin Gute korrespondiert, nicht aber relativen, zuf lligen .Neigungen', die miteinander streiten k nnen. M Vgl. auch X 6, 1176b6f.
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Das Gl ck als das vollendete Gute ist sich selbst gen gend — es selbst f r sich allein macht das Leben w nschenswert und keines weiteren bed rftig. Diese Bestimmung des Gl cks liegt auf einer Ebene mit den anderen erarbeiteten Bestimmungen — in engem Zusammenhang mit ihnen erfolgt sie ja auch: Das Gl ck ist ein einzigartiges Ziel, eben das e i n e Endziel, das stets nur um seiner selbst willen gew hlt wird; es ist nicht die Summe aller Endziele menschlichen Strebens, sondern ist als das vollendetste Endziel ber sie alle hinausgehoben; es ist der gute Vollzug der Vernunft, es ist Trefflichkeit. Neben diesen (Vor-)Begriff des Gl cks mu Aristoteles aber einen umfassenderen Begriff des Gl cks stellen, der gegen jenen streitet und ihn schlie lich in einem ganz anderen Anblick erscheinen l t. Schon die fr here Argumentation selbst dr ngt implicite darauf hin. Vom Gl ck als dem einen Endziel, das stets nur um seiner selbst willen gew hlt wird, wurden die Endziele unterschieden, die um ihrer selbst willen und zugleich um des Gl cks willen gew hlt werden. Erreichen wir ein Endziel, das wir auch um des Gl cks willen w hlen, n i c h t , bzw. bleibt uns die Erf llung des Endziels versagt, dann fehlt etwas am Gl ck. Dieser Konsequenz ist nicht zu entrinnen. Aristoteles stellt sich ihr, indem er die Bedeutung der u eren G ter f r das Gl ck behandelt. Das Gl ck wurde gedacht als Trefflichkeit der Seele in ihrem dem Menschen eigent mlichen Lebensvollzug. Aristoteles r umt ein, da das Gl ck au erdem noch der u eren G ter bedarf25. Diese sind n tig einerseits als Mittel, ohne die treffliches Handeln sich nicht oder jedenfalls nicht leicht verwirklichen k nnte (siehe 1099a32 f.). Aristoteles nennt als Beispiele: Freunde, Reichtum, politischen Einflu . u ere G ter sind andererseits n tig auf der Ebene der Endziele. Aristoteles verweist auf edle Abkunft, wohlgeratene Kinder, k rperliche Sch nheit28. Wo sie fehlen, fehlt es an Gl ck. Sicherlich w rden wir heute andere Beispiele w hlen, aber das ndert nichts an dem Sachverhalt, um den es geht. Deutlich spricht Aristoteles aus, da es (auf der Ebene der Endziele) u ere G ter gibt, die zum Gl ck n o t w e n d i g sind27. Weder
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και των εκτός αγαθών προσδεομένη — 1099a31 f. Im IV. Buch (Kap. 7, 1123bl8—21) erscheint als h chstes u eres Gut die Ehre, im IX. Buch (9) sind es die Freunde als die, denen man wohltut (1169b8 ff.) und an deren trefflichen Handlungen man Freude hat (1169b28—70a4). 27 των δε λοιπών αγαθών τα μεν ύπάρχειν άναγκαΐον — 1099b27. 28
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Glück als das höchste Gute für den Menschen
über die zur Verwirklichung trefflichen Handelns erforderlichen oder doch jedenfalls nützlichen Mittel, noch über die zum Glück notwendigen Endziele verfügt der einzelne frei. Bei einigen kann er daran mitwirken, daß sie ihm zuteil werden. Andere werden ihm zuteil oder bleiben ihm versagt oder werden ihm wieder genommen ganz ohne sein Zutun. Das sind jGlücks'umstände, Wechselfälle des ,Glücks' ( ), die ihn treffen — als Glücksfall ( ) oder als Unglück ( ). Insofern genügt 28 der Mensch sich doch nicht zum Glück . Aristoteles treibt das Problem auf die Spitze, indem er die Behandlung der äußeren Güter mit der Vorstellung verknüpft, daß zum Glück Dauer gehört. Man wird niemanden glücklich nennen, der, mag er auch trefflich sein und mögen ihm auch langehin alle zum Glück nötigen äußeren Güter zuteil geworden sein, im Alter von Schicksalsschlägen getroffen wird; Priamos steht dafür als Beispiel (I 10, 1100a4—9). Seine Lösung des Problems gibt Aristoteles in Kapitel 11, in dem er sich mit auffallender Ausführlichkeit der Behandlung der Frage widmet, ob je ein Mensch vor seinem Tod glücklich genannt werden kann. Aristoteles geht aus von einem Ausspruch Sohns, der sagt, man müsse auf das Ende sehen. Es geht zunächst um den Sinn dieses Satzes. Meint Solon, daß erst der Tote glücklich ist? Sollte Sohn das meinen, so wäre sein Satz nach Aristoteles widersinnig. Denn Glück ist und bleibt allem zuvor tätiger Lebensvollzug des vernünftigen Seelenteils, und Aristoteles enthält sich in der NE jeder Vorstellung eines solchen Lebensvollzugs jenseits des Todes. Sinnvoller wäre es nach Aristoteles schon, wenn Sohn meinte, daß erst am Ende des Lebens mit Gewißheit festzustellen sei, ob jemandem das Glück als dauerndes, durch keinen Umschwung zerstörtes zukam oder nicht. Gegen diesen Gedanken wendet Aristoteles ein: Das Ende des Lebens erlaubt keineswegs ein gewisses Urteil über das Glück eines Menschen. Denn auch nach dem Tod ist ein Umschwung aus Glück in Unglück noch möglich. So können etwa die Nachfahren dem Toten Schande bereiten oder selbst auch auf andere Weise ins Unglück geraten. Auch wenn das dem Toten nicht mehr zum Bewußtsein kommt, würde doch (dieser Perspektive nach) sein Glück dadurch zerstört. Es ergibt sich die Frage, wann dann aber eine Grenze gesetzt werden soll. Ist mit Gewißheit von Glück zu sprechen, wenn dem Toten nach vier Generationen keine Schande bereitet worden ist, oder nach sechs Generationen, oder nach zwanzig? Man kommt wiederum nicht dazu, mit 28
Vgl. 1100b22—30.
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Gewißheit von irgend jemandem zu sagen, daß er glücklich war. — Aus dem Ausspruch Solons ergibt sich auch noch dies Paradox: Glücklich ist der Mensch im Leben. Während er glücklich ist, darf er nicht glücklich genannt werden; erst wenn der Tod das Glück beendet hat, kann das Glück ausgesagt werden — als vergangenes (,dieser Mensch war glücklich'). Solons Ausspruch führt nicht weiter, wie man ihn auch interpretieren mag. Blickt man nun aber nicht mit Solon auf das Ende, wohl aber auf die äußeren Güter als zum Glück gehörig, dann scheint es, daß die Aussagen über Glück und Unglück bei vielen Menschen sehr oft wechseln müssen, und das hieße, daß ein und derselbe Mensch bald glücklich, bald unglücklich wäre. Das würde bedeuten: Das Glück ist etwas Unbeständiges. Wie könnte aber das Vollendetste etwas Unbeständiges sein? Auch wenn man den Satz Solons beiseite läßt, bleibt das Glück ein Problem. Aristoteles* Lösung des Problems lautet: Zwar sind die äußeren Güter nötig zum Glück, entscheidend ( — 1100b9 f.) aber sind die trefflich vollzogenen Tätigkeiten, als die das Glück im Sinne des vollendetsten Endziels zu denken ist und deren genauere Bestimmung noch erfolgen muß. Sie geben den Ausschlag. Sie aber zeichnen sich durch besondere Beständigkeit ( — 1100bl3) aus. Sie gewähren die Beständigkeit glücklichen Lebens. Indessen: Bleiben nicht gerade doch die Wechselfälle, die mit Gewährung oder Entzug äußerer Güter gegeben sind? Aristoteles' früheres Beispiel aufgreifend, kann man fragen: War Priamos noch glücklich zu der Zeit, als die harten Schicksalsschläge ihn trafen? Aristoteles gibt die Antwort: Der Treffliche wird die Wechselfälle des Lebens am besten tragen; er wird am wenigsten durch sie aus seinem Glück herausgesetzt. Selbst starke Unglücksfälle, wiewohl sie ihn schmerzlich berühren und sein Glück beeinträchtigen, können ihn nicht schlechthin unglücklich machen. Schlechthin unglücklich ist nur der, dem das Glück als Trefflichkeit mangelt. Der Glückliche kann nicht schlechthin unglücklich werden. Im I. Buch der NE begegnet man dem Vorgang, daß Aristoteles einerseits das Glück als Autarkie denkt und also das glückliche Leben als ein Leben, das keines weiteren bedürftig ist, und daß er andererseits über die Erörterung der äußeren Güter und der Dauer des Glücks dahin geführt wird, die Bestimmung des Glücks bis an die Grenze vorzutreiben, an der das Glück im Sinne von Trefflichkeit erscheint als Garant dafür, daß der Glückliche nicht schlechthin unglücklich werden kann, wie
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tief auch der Schmerz sein mag, den Schicksalsschläge ihm verursachen29. Auf diesen Vorgang ist an späterer Stelle (Kap. 21) zurückzukommen. Er beeinträchtigt im übrigen nicht die Fragestellung, deren Ausarbeitung das I. Buch diente. Denn auch im Grenzfall des auf die Negation schlechthinnigen Unglücks reduzierten Glücks ist es ja eben die Trefflichkeit (oder höchste Trefflichkeit) der Seele im Vollzug der Vernunft, die überhaupt noch von Glück zu sprechen erlaubt. Das Gute ist zu verstehen als das, wonach alles strebt. Es ist Ziel. Es gibt viele und verschiedenartige Ziele. Ein Gradunterschied ist darin zu erblicken, daß Ziele entweder durch Tätigkeiten entstandene Werke oder um ihrer selbst willen gewählte Tätigkeiten sind. Das höchste Gute für den Menschen dürfte zur Art der um ihrer selbst willen gewählten Tätigkeiten gehören. Weder ein menschliches Werk noch gar eine Tätigkeit, die ein Werk entstehen läßt, würde erfüllen, was im Begriff eines höchsten Guten für den Menschen gefordert ist. Die mannigfaltigen Ziele menschlichen Strebens stehen in Verhältnissen der Über- und Unterordnung. Wir wählen ein Ziel (ob Werk oder Tätigkeit) um eines anderen Zieles willen und dieses wieder um eines weiteren Zieles willen. Diese Überordnung geht aber nicht ins Endlose fort. Das hieße nämlich, daß unser Streben niemals wirklich ankäme und also leer und vergeblich wäre. Das ist es aber nicht, jedenfalls nicht schlechthin und jederzeit. Dessen macht uns die Befriedigung gewiß, die wir im Erreichen von Zielen erfahren. Es gibt also ein höchstes Ziel, es gibt ein höchstes Gutes für den Menschen, es gibt das Glück. Dieses ist in seinem Wassein zu bestimmen. Die Frage, was das Glück sei, wird von den Menschen verschieden beantwortet. Das geschieht keineswegs nur auf dem Feld der Diskussion und Theorie. Viele leben konsequent gemäß ihrer Auffassung vom Glück. Vor allem drei Lebensformen lassen sich feststellen: das Leben des Genusses, das Leben für die Ehre, das Leben des Erkennenden. Daneben 29
Wie sehr Aristoteles an die Grenze seiner Glücksbestimmung geführt wird, zeigt auch eine radikalere Äußerung aus dem VII. Buch: Kap. 14, 1153bl6—21. — Eine andere Grenze ist in seiner Erörterung der Tragödie in der Poetik gegenwärtig; der Umschwung aus Glück in Unglück, den die Tragödie vorführt, trifft einen edlen Charakter und ist total; der große Fehler des Handelnden, durch den die Tragödie den edlen Charakter und sein totales Unglück vermittelt, geschieht in Tragödien von Rang aus Unwissenheit bezüglich eines Moments der Situation und ist insofern unfreiwillig; er ist eine Tat, deren Sinn äußerstes Unrecht ist, und macht deshalb unglücklich, wiewohl dem Handelnden Trefflichkeit zukommt. Vgl. Fleischer3,
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tritt hervor das Leben um des Reichtums willen. Aus unterschiedlichen Gründen erfüllt sich weder im Leben des Genusses noch in dem der Ehre noch in dem des Reichtums das höchste Gute für den Menschen. Wie es mit dem Leben des Erkennenden steht, bleibt vorerst und langehin offen. Das Glück ist jedenfalls weder mit Genuß noch mit Ehre noch gar mit Reichtum identisch. Es gibt viele Endziele menschlichen Strebens. Das Glück ist ein Endziel. Es ist aber ein einzigartiges Endziel, unterschieden von allen anderen Endzielen durch sein Sein und seinen Rang. Während die übrigen Endziele vom Menschen gewählt werden um ihrer selbst willen und stets zugleich auch um eines anderen Endziels, eben des Glücks, willen, wird das Glück jederzeit nur um seiner selbst willen gewählt. Es ist das vollendetste Endziel. — Damit ist zugleich gesagt, daß das Glück nicht die Summe aller Endziele ist, und ferner, daß das Glück für alle Menschen eines ist. Die Frage nach dem Glück sucht nach dem einen, für alle Menschen gemeinsamen höchsten Guten. Sie sucht zugleich nach einer um ihrer selbst willen gewählten Tätigkeit. Der Bereich körperlicher Tätigkeiten scheidet aus, denn der Körper verdankt der Seele seine Lebendigkeit, weshalb die Seele von höherem Rang ist als er und also auch ihre Tätigkeiten das höhere Gute sind. Unter den Tätigkeiten der Seele sind es die nur dem Menschen eigentümlichen, unter denen das höchste Gute für den Menschen gefunden werden muß. (Diesem Gedanken liegt eine Entscheidung zugrunde, von der noch die Rede sein wird — siehe Kap. 21.) Es kommen also nicht in Betracht der einfache Lebensvollzug des Sichernährens und Wachsens und das Leben, für das die Wahrnehmung konstitutiv ist. Das höchste Gute für den Menschen muß ein Lebensvollzug des Seelenteils sein, der Vernunft hat. Und es muß weiterhin t r e f f l i c h e Tätigkeit dieses Seelenteils sein. Der treffliche Vollzug der Vernunfttätigkeit, die das Glück ausmacht, ist an sich selbst freudevoll. Und er ist autark, sich selbst genügend; für sich allein macht er das Leben wünschenswert und keines weiteren bedürftig. Aristoteles gewinnt im I. Buch der NE einen Vorbegriff des Glücks. Das Glück ist die Trefflichkeit (oder höchste Trefflichkeit), zu der die menschliche Vernunft in tätigem Vollzug zu gelangen vermag. Damit ist der weiteren Untersuchung die präzise Aufgabe gestellt, diese Trefflichkeit zu bestimmen.
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Die Ausarbeitung der Frage nach dem Glück im L Buch hinterläßt einige offene Probleme. Aristoteles hat gezeigt, daß die Überordnung der Ziele nicht ins Endlose fortgehen kann. Dazu nahm er — unausdrücklich — eine Erfahrung in Anspruch, die Erfahrung der Befriedigung, die wir beim Erreichen von Zielen machen. Eine Überordnung der Ziele ins Endlose ist nun allerdings schon dann ausgeschlossen, wenn es überhaupt Endziele gibt, Ziele also, die nicht mehr anderen Zielen untergeordnet sind und die selbst eine aufsteigende Reihe von Zielen abzuschließen geeignet sind. Daß es ein einziges höchstes Gutes sein muß, das die Überordnung der Ziele ins Endlose ausschaltet, ist nicht zwingend. Das aber gerade wird von Aristoteles gesetzt, und mit dieser Setzung sichert er sich den Gegenstand seiner Untersuchung: Es gibt ein höchstes Gutes — und nun ist zu fragen, was es ist. Tatsächlich ist nur erarbeitet, daß es ein höchstes Gutes geben kann. Darauf soll später (Kap. 21) zurückgekommen werden. Aristoteles unterscheidet innerhalb der Endziele ontologisch und dem Rang nach Endziele, die zwar um ihrer selbst willen, zugleich aber auch um eines anderen Endziels (des Glücks) willen gewählt werden — und das eine Endziel, das stets nur um seiner selbst willen gewählt wird und das das vollendetste Endziel ist, eben das Glück. Diese Unterscheidung bietet aber eine Schwierigkeit auf der Seite der vielen Endziele. Da wir jedes von ihnen stets auch um des Glücks willen wählen, ist ihr Endzielcharakter in Frage gestellt. Aristoteles hilft hier nach mit dem Gedanken, daß wir solche Endziele auch dann wählen würden, wenn kein Glück durch sie erreicht würde. Dies Abstrahieren vom Glück könnte aber als eine reine Gedankenoperation erscheinen. Aristoteles würde vielleicht dem Einwand entgegentreten, indem er auf Grenzsituationen verwiese, etwa darauf, daß jemand um der Ehre willen sein Leben und damit sein Glück opfert. Aber das führt zu neuen Schwierigkeiten. Auch dieses Problem wird in Kapitel 21 nochmals zur Sprache kommen. — Sollte übrigens Aristoteles mit der hier in Rede stehenden Unterscheidung der Endziele den Gedanken haben stützen wollen, daß allein ein höchstes Gutes die Überordnung der Ziele ins Endlose ausschließen kann, dann wäre damit der Endzielcharakter der übrigen Endziele nur um so fraglicher geworden. Daran ist Aristoteles aber gerade nicht interessiert, vor allem wohl deshalb nicht, weil er klar sieht, daß wir im Erreichen bestimmter übergeordneter Ziele ,glücklich' sind. Die Bestimmung des Glücks als Autarkie wird von Aristoteles selbst noch in Buch I problematisiert. Das geschieht, indem Aristoteles eine im
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Vergleich zu dem erarbeiteten Vorbegriff des Glücks umfassendere Vorstellung vom Glück zur Geltung bringt: Mag immerbin das Glück die treffliche (oder trefflichste) Tätigkeit der Vernunft sein, so gehören zu ihm doch auch die äußeren Güter. Diese kann der Mensch sich aber nicht jederzeit nach Belieben beschaffen. Sie können ihm vorenthalten bleiben oder entzogen werden ohne sein Zutun. Hier ist der Mensch nicht autark. Handelt es sich bei Vorenthalt oder Entzug um äußere Güter von besonderem Rang, so kann von Glück nur noch in sehr eingeschränktem Sinn gesprochen werden. Starke und sich häufende Schicksalsschläge beeinträchtigen das Glück eines Menschen in hohem Grad. Unter diesem Aspekt wird die Trefflichkeit der tätigen Vernunft reduziert zum Garanten dafür, daß der Mensch, dem sie zukommt, nicht schlechthin unglücklich werden kann*0.
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Zu den Problemen, die das I. Buch aufwirft, gehört ferner noch das vorher (in Anm. 22 zu diesem Kapitel) angedeutete.
16. Kapitel: Ethische Trefflichkeit (NE I 13; II 1-6) Die Ausarbeitung der Frage nach dem Gl ck hat zur Aufgabe gestellt, das h chste Gute f r den Menschen als Trefflichkeit (oder h chste Trefflichkeit) des dem Menschen und nur ihm eigenen Lebensvollzugs der Seele zu denken. Dieser Lebensvollzug der Seele ist eine T tigkeit der Vernunft oder findet jedenfalls nicht ohne Vernunft statt. Um hier weiterzukommen, nimmt Aristoteles eine Einteilung der Seele vor, die ber das im I. Buch zuvor schon ber die Seele Gesagte hinausgeht, dennoch aber nicht abschlie end ist. Sie wird von Aristoteles sp ter erg nzt1. Auch diese Darstellung nimmt das Thema Seele weiter unten (S. 291 f. u. 295 ff.) wieder auf. Eine Einteilung der m e n s c h l i c h e n Seele fa t keine f r sich bestehenden Teile — St cke oder abgetrennte Verm gen — der Seele2. Sie kann, gem der jeweils genommenen Hinsicht (die sich wiederum aus dem Zweck bestimmt, den die Einteilung in einer Untersuchung hat), Verschiedenes an der Seele herausheben. So bleibt jetzt die Wahrnehmung unber cksichtigt, durch die fr her (16) die Lebendigkeit der Tiere und Menschen von der der Pflanzen unterschieden wurde. Aristoteles teilt die Seele zun chst in zwei Teile: Der eine Teil ist vernunftlos (αλογον), der andere hat Vernunft (λόγον έχον). Der vernunftlose Teil wird weiter eingeteilt: Sein einer Teil ist die Ursache des Sichern hrens und Wachsens (αίτιον του τρέφεσθαι και αΰξεσ&αι — bekannt schon aus I 6), sein anderer Teil wird charakterisiert als teilnehmend an der Vernunft (φύσις της ψυχής μετέχουσα λόγου). Ihm widmet Aristoteles hier seine besondere Aufmerksamkeit. Dieser Seelenteil ist das Begehrungsverm gen bzw. berhaupt das Strebeverm gen (το δ' έπιϋυμητικόν και όλως όρεκτικόν). In ihm liegen die Antriebe (όρμαί) zum Handeln. Er beweist sich am deutlichsten, wenn er gegen die Vernunft k mpft und sich ihr 1
In Kap. 14 wurde auf diese Erg nzung vorgegriffen. Vgl. 1102a28—32. Es ist klar und wird vom Fortgang der N E best tigt, da f r Aristoteles im zweiten Glied der Disjunktion die Wahrheit liegt. Vgl. auch S. 296. Eine m gliche Abtrennbarkeit des Geistes durch den Tod, wie sie in der Schrift ber die Seele anklingt, kann an dieser Stelle au er Betracht bleiben. 2
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widersetzt3. Sich k mpfend der Vernunft entgegenstellen, das kann das Strebeverm gen nur, weil es, vernunftlos zwar, doch dem Einflu der Vernunft offen ist. Die reine Gestalt seines Teilnehmens an der Vernunft ist aber der Gehorsam (πει/θαρχεΐν) gegen ber der Vernunft. Der Vernunft gehorchend, ist das Strebeverm gen mit ihr in Einklang, hat es die gleiche Sprache mit ihr (όμοφωνεΐ τφ λόγφ). Deshalb geht Aristoteles an einer Stelle so weit, diesen Teil des vernunftlosen Seelenteils nicht nur als teilnehmend an der Vernunft zu bezeichnen, sondern sogar zu sagen, da er Vernunft hat (λόγον εχειν — 1103al). Das ergibt ein Problem, wie sich gleich zeigen wird. Der Seelenteil, der Vernunft hat, wird ebenfalls in zwei Teile geteilt: Der eine Teil hat Vernunft im eigentlichen Sinn und in sich selbst (κυρίως και εν αύτφ — 1103a2), der andere ist vern nftig als gleichsam auf den Vater h rend, dem Vater gehorchend (ώσπερ του πατρός άκουστικόν — 1103a3). Bei dieser Einteilung der Seele mag man sich, ihre Vorl ufigkeit und beschr nkte Zielsetzung durchaus in Rechnung stellend, doch schwerlich schon beruhigen. In ihr erscheint ein Seelenteil, der zum vernunftlosen Seelenteil geh rt, also selbst vernunftlos (αλογον) ist, nicht nur als teilnehmend an der Vernunft, sondern schlie lich als Vernunft habend. Dementgegen wird ein Teil des als Vernunft habend bestimmten, dem vernunftlosen Seelenteil gegen bergestellten Seelenteils bezeichnet durch eine Umschreibung, die keinen Unterschied zur Bestimmung jenes vernunftlosen Seelenteils erkennen l t. Das l t die Frage aufkommen, ob diese beiden Seelenteile in Wahrheit e i n Seelenteil sind (was der Wortlaut 1103al—3 nahelegen k nnte) und ob also eine Dreiteilung der Seele vorliegt. Das erg be freilich die Schwierigkeit, da Aristoteles in ein und derselben Einteilung der Seele zu ein und demselben Zweck (dem Zweck der Einteilung der Trefflichkeit in zwei Arten — siehe unten) einen Seelenteil — das Strebeverm gen — einmal als Teil des vernunftlosen Seelenteils, einmal als Teil des Vernunft habenden Seelenteils bestimmt h tte. Die andere M glichkeit w re, da eine Einteilung in vier Seelenteile vorliegt. Dann h tte Aristoteles aber an dieser Stelle nicht mitgeteilt, was unter dem als gleichsam auf den Vater h renden Teil des vernunfthabenden Seelenteils zu verstehen ist. Wir w ten dann nur, da dieser Teil weder das Strebeverm gen ist 3
Aristoteles bestimmt ihn als παρά τον λόγον πεφυκός, ο μάχεται τε καί αντιτείνει τφ λόγφ (1102bl7f.) — ferner als έναντιούμενον τούτω (sc. τφ λόγφ) καί αντίβαιναν (1102b24f.).
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nodi im eigentlichen Sinn und in sich selbst Vernunft hat. Auffallen mu , da Aristoteles in diesem Kapitel, das gerade auch der Vorbereitung des II. Buchs dient, kein Wort ber die Regungen (πάθη) sagt, die dort von zentraler Bedeutung sind. In welchen Seelenteil geh ren sie? In den des Strebeverm gens? Oder machen sie vielleicht einen eigenen Seelenteil aus, etwa gar den, der als Vernunft habend im Sinne des ,H rens auf den Vater* zu verstehen ist? Das hie e, da die Regungen j vern nftiger' w ren als das Strebeverm gen und dennoch mit ihm darin bereink men, auf die Vernunft im eigentlichen Sinn h ren zu k nnen. Das 13. Kapitel des I. Buchs erlaubt nicht mehr als diese Problemstellung. Eine L sung kann nur vom Fortgang der Untersuchung aus gewonnen werden. Die Mehrdeutigkeit bei der Einteilung der Seele berschattet auch die Unterscheidung der menschlichen Trefflichkeit in zwei Arten, die der unmittelbare Zweck jener Einteilung ist. Im Blick auf die Seele unterscheidet Aristoteles die dem Menschen als Menschen eigene Trefflichkeit (αρετή) in dianoetische (διανοητικοί — dem Denken eigene) Trefflichkeiten einerseits, in ethische (ήθικαί) Trefflichkeiten andererseits. Jene sind die Trefflichkeiten des Seelenteils, der im eigentlichen Sinn und in sich selbst Vernunft hat; als Beispiele nennt Aristoteles Weisheit (σοφία), Verst ndigkeit (σύνεσις)4 und Einsicht (φρόνησις). Die ethischen Trefflichkeiten — als Beispiele f r sie werden Gro z gigkeit (έλευΟεριότης) und Besonnenheit (σωφροσύνη) genannt — sind die Trefflichkeiten des H i n h r e n s auf den Seelenteil, der im eigentlichen Sinn und in sich selbst Vernunft hat. Gibt es nur einen Seelenteil, der solches Hinh ren vollzieht, so sind die ethischen Trefflichkeiten Trefflichkeiten dieses Seelenteils. Gibt es zwei Seelenteile, die auf die Vernunft im eigentlichen Sinn zu h ren verm gen, so sind die ethischen Trefflichkeiten Trefflichkeiten eines dieser beiden Teile oder auch dieser beiden Teile zusammen. Wie dem auch sei, die Aufgabe, das h chste f r den Menschen Gute zu denken, hat sich fortbestimmt zu der Aufgabe, die beiden Arten der Trefflichkeit zu denken. Aristoteles thematisiert zun chst die ethische Trefflichkeit. Was ist ethische Trefflichkeit? Aristoteles f hrt an den ersten zentralen Begriff zu ihrer Bestimmung heran, indem er die Entstehung der ethischen Trefflichkeiten ins Blickfeld r ckt.
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Von Aristoteles er rtert VI 11.
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Die ethischen Trefflichkeiten entstehen durch Gew hnung Davon geht Aristoteles als von einem Faktum aus, f r das er auch einen Beleg in der Sprache findet5. Entstehen aber die ethischen Trefflichkeiten durch Gew hnung, dann entstehen sie in uns weder von Natur (φύσει) noch gegen die Natur (παρά φύσιν) — von Natur nicht, denn dann w re Gew hnung berfl ssig; gegen die Natur nicht, denn keine Gew hnung vermag etwas gegen die Natur. Wir werden oder sind also nicht von Natur aus tapfer oder gerecht. Ebensowenig aber werden wir tapfer oder gerecht, indem unsere feige oder ungerechte Natur zur tapferen oder gerechten umgew hnt wird. (Dies w re n mlich genau so ausgeschlossen, wie da jemand durch h ufiges Hochwerfen einen Stein umgew hnte, von Natur nicht mehr zu fallen, sondern zu steigen.) Von Natur gegeben ist bei den ethischen Trefflichkeiten unsere M glichkeit, sie aufzunehmen (δέξασΟαι αύτάς — 1103a25) — sie oder aber ihr Gegenteil, ganz nach Ma gabe der Gew hnung6. Was hei t das aber, wir werden tapfer oder gerecht durch Gew hnung? Aristoteles hilft durch einen Vergleich weiter. Baumeister wird man durchs Bauen, Kitharak nstler durch das Spielen der Kithara. Das dem Baumeister eigene Tun l t in h ufiger Wiederholung den Baumeister entstehen, und ebenso beim Kitharaspieler. Ganz entsprechend verh lt es sich bei den ethischen Trefflichkeiten. Jemand wird tapfer, indem er immer wieder das tut, was ein Tapferer in seiner jeweiligen Lage tun w rde; jemand wird gerecht, indem er immer wieder Gerechtes tut, und ebenso bei den anderen ethischen Trefflichkeiten. Das bedeutet hier Gew hnung. Auf die gleiche Weise entsteht in den Menschen auch das Gegenteil der Trefflichkeit. Wiederholtes feiges Verhalten macht jemanden zum Feigling, wiederholtes ungerechtes Handeln macht einen Menschen zum Ungerechten. Die Bedeutung guter Erzieher f r den jungen Menschen l t sich schon absch tzen. Das Ergebnis der Gew hnung ist eine Haltung (έξις). Die ethische Trefflichkeit ist als Haltung zu bestimmen. In diesem Begriff ist hier eine Verfassung der Seele zu denken, die durch Festigkeit ausgezeichnet ist. Der gerechte Mensch hat durch gerechte Handlungen die Gerechtigkeit als seine Haltung erworben. Ihm eignet Gerechtigkeit als feste Verfassung seiner Seele. Entsprechendes gilt vom Tapferen oder vom Besonnenen. 6
Etymologische Verwandtschaft von εθος mit ήθος — 1103al7 f. • Zur nat rlichen Trefflichkeit siehe S. 318 f.
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Der Gerechte h a t Gerechtigkeit — als Haltung. Dank dieser Haltung wird er, wann immer es von ihm erwartet werden kann, auf gerechtes Handeln aus sein. Gerechte Handlungen gr nden in der Haltung des Gerechten. Wie kann man dann aber gerecht w e r d e n durch gerechte Handlungen? Wie kann die Haltung erworben werden durch Handlungen, die ihr erst verdankt werden? Aristoteles stellt selbst dies Problem vor. Der Widerspruch kann nur gel st werden, wenn gerechte, besonnene, tapfere Handlungen je auf zweierlei Weise vollzogen werden k nnen. Damit das deutlich werde, mu zun chst ein anderer Unterschied beleuchtet werden. Zwei Handlungen k nnen dasselbe Erscheinungsbild haben, und doch ist die eine gerecht, die andere nicht. Insofern tun zwei Menschen dasselbe und doch nicht dasselbe. Gerecht ist die Handlung, die um der Gerechtigkeit willen vollzogen wird. Nicht gerecht ist dieselbe Handlung, wenn sie aus anderen Beweggr nden getan wird, etwa weil sie dem Handelnden Vorteil verspricht. Durch Handlungen dieser zweiten Art wird nat rlich niemand gerecht, und durch diesen Unterschied der Handlungen kann jener Widerspruch nicht aufgehoben werden. Dagegen l t sich das Problem auf folgende Weise l sen: Bei einem gerechten Menschen sind drei Momente zur Handlung erfordert: er mu handeln erstens als Wissender (είδώς), zweitens als jemand, der sich entscheidet (προαιρούμενος) — und zwar um der Gerechtigkeit willen sich so entscheidet, wie er sich entscheidet, und drittens aufgrund seiner sicheren (zuverl ssigen) und nicht ins Wanken zu bringenden Verfassung (βεβαίως και άμετακινήτως έχων — 1105a31—33). (Das Schwergewicht liegt nach Aristoteles auf den beiden zuletzt genannten Momenten.) Der Mensch, der durch gerechte Handlungen allererst gerecht werden soll, kann diese Forderungen nat rlich noch nicht erf llen. M glicherweise7 fehlt es ihm an Wissen. Auch d rfte er zu selbst ndiger Entscheidung noch nicht f hig sein. Und vor allem: Die gerechte Handlung hat, auf seinen inneren Zustand bezogen, noch etwas Zuf lliges. Aber hier hat man sich daran zu erinnern, da es sich bei den ethischen Trefflichkeiten um Trefflichkeiten des Hinh rens auf die Vernunft handelt. So k nnen denn gerechte Handlungen vollzogen werden auch im Hinh ren auf eine andere Vernunft als die des Handelnden selbst, auf die Vernunft gerechter Erzieher, Ratgeber oder Gesetzgeber. Ent7
Ich formuliere vorsichtig, da nicht eindeutig ist, welches Wissen an dieser Stelle gemeint ist; vgl. die Ausf hrungen ber das auf die Momente der Handlung bezogene Wissen im 17. Kapitel und ber die zwei Vollz ge der Einsicht im 18. Kapitel.
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scheidend bleibt, da der Handelnde bei der einzelnen Handlung auf Gerechtigkeit aus ist und sich nicht von anderen Motiven bestimmen l t. Dann handelt er wie ein Gerechter, ohne es noch zu sein. Durch Handlungen von diesem Charakter wird jemand gerecht. Die ethische Trefflichkeit ist Haltung. Aristoteles sichert dieses Ergebnis, indem er feststellt, da ethische Trefflichkeit weder Regung (πάθος) noch Verm gen (δύναμις) ist. Die Er rterung der Regung in diesem Zusammenhang dient vor allem auch zur Vorbereitung der folgenden Bestimmung der ethischen Trefflichkeit. Auf den Gedanken, die ethischen Trefflichkeiten seien Regungen (πάθη), k nnte jemand deshalb kommen, weil die ethischen Trefflichkeiten zu den Regungen in engstem Verh ltnis stehen. Als Beispiele f r Regungen nennt Aristoteles Begierde, Zorn, Furcht, K hnheit, Neid, Freude, Zuneigung, Ha , Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid (1105b21—23). Besonderes Gewicht kommt unter den Regungen der Lust und dem Schmerz bzw. der Unlust zu. Sie treten einerseits f r sich auf, andererseits begleiten sie die anderen Regungen. Da jede andere Regung von Lust oder Schmerz bzw. Unlust begleitet wird (siehe 1105b23), das kann auch anders gedacht werden: Alle anderen Regungen sind modifizierte Gestalten der Lust oder des Schmerzes, der Unlust (vgl. 1106bl8—20). Aristoteles f hrt drei Argumente daf r an, da ethische Trefflichkeiten und Regungen verschieden sind: 1. Wegen seiner ethischen Trefflichkeit wird jemand gut genannt oder — spricht man ihn selbst darauf an — gelobt; wem ethische Trefflichkeit abgeht, der wird schlecht genannt oder getadelt. Man wird aber gerade nicht gut oder schlecht genannt, gelobt oder getadelt, weil man Mitleid hat oder sich f rchtet. Nicht das Empfinden der Regungen als solches begr ndet die Einsch tzung, die andere uns zuteil werden lassen, sondern die Art und Weise, wie wir sie empfinden. In diesem Wie wird der Unterschied fa bar zwischen den Regungen einerseits, den ethischen Trefflichkeiten und deren Gegenteil andererseits. Es zu bestimmen, wird die Aufgabe sein. 2. „Die (ethischen) Trefflichkeiten sind eine Art von Entscheidungen oder sind jedenfalls nicht ohne Entscheidung" (αϊ δ' άρεταί προαιρέσεις τινές ή ουκ άνευ προαιρέσεως — 1106a3 f.), die Regungen dagegen gehen weder aus einer Entscheidung hervor noch dr ngen sie selbst auf eine Entscheidung hin (sich selbst berlassen, w rden sie vielmehr u n m i t t e l b a r das Streben bestimmen)8. 3. Das Empfinden der Regungen ist ein Bewegtwerden 8
Das alles wird noch weiter auszuf hren sein.
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(κινεϊσθαι — 1106a5). Uns f rchtend, Mitleid oder Freude empfindend, sind wir vielf ltig bewegt. Die eine Regung l st die andere ab. Sie ergreift uns und verl t uns wieder. Die ethischen Trefflichkeiten und ihre Gegens tze dagegen sind das Gegenteil eines Bewegtwerdens. Ihnen eignet Festigkeit, Stetigkeit, Dauer. Sowenig die ethischen Trefflichkeiten Regungen sind, sowenig sind sie das Verm gen, die Regungen zu versp ren. (Andere Verm gen kommen schon gar nicht mehr in Betracht.) Aristoteles wiederholt hier das erste Argument f r die Verschiedenheit von Regung und ethischer Trefflichkeit: Wir werden weder gut noch schlecht genannt, weder gelobt noch getadelt aufgrund des Verm gens, die Regungen zu empfinden. Aristoteles f gt als weiteres Argument hinzu, da Verm gen uns von Natur (φύσει) eignen, w hrend wir nicht von Natur gut oder schlecht werden, sondern, wie schon gezeigt wurde, durch Gew hnung. Die ethischen Trefflichkeiten sind also Haltungen, Haltungen indes, die mit den Regungen zu tun haben und deren Wie bestimmen d rften. Damit ist die Fortbestimmung der ethischen Trefflichkeit vorbereitet. Die ethische Trefflichkeit ist Haltung — aber was f r eine Haltung? Die n here Bestimmung der ethischen Trefflichkeit als Haltung lautet: Sie ist eine Mitte (μεσάτης). Sie setzt sich zum Ziel und trifft das Mittlere (στοχαστική γε ούσα του μέσου — 1106b28) beim Empfinden der Regungen8. (Diese Bestimmung wird zu erg nzen sein.) Die Regungen sind von der Seinsart der Dinge, die ein Mehr und Weniger zulassen. Furcht, Mitleid und die brigen Regungen bekunden diese ihre Seinsart auf vielf ltige Weise: Derselbe Mensch kann bei verschiedenen Anl ssen sich das eine Mal sehr, das andere Mal nur wenig f rchten. In derselben Lage mag ein Mensch sich sehr f rchten, der andere weniger, ein dritter fast gar nicht. Ja, das Bewegtwerden im Empfinden einer einzelnen Furchtregung hat einen Verlauf, der durch ein Mehr und Weniger gekennzeichnet ist. Die ethischen Trefflichkeiten bringen in dieses Mehr und Weniger ein Ma . Sie lassen je im einzelnen Fall die Mitte treffen zwischen dem Zuviel ( berma ) und dem Zuwenig (Mangel). Tapferkeit als Haltung macht, da der Mensch in einer bestimmten Lage sich nicht zu sehr f rchtet und nicht zu wenig, da er sich vielmehr zwischen dem Zuviel und Zuwenig in der Mitte h lt. Auf die Frage, w i e er sich f rchtet, m te dann geantwortet werden: auf angemessene Weise. 9
Zu den Ausnahmen siehe S. 281.
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Die ethischen Trefflichkeiten lassen je im einzelnen Fall die Regungen sich in der Mitte halten zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig. Die einzelnen F lle, die konkreten Situationen, sind aber je verschieden. Deshalb liegt die Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig der Regungen je an anderer Stelle. Sie bleibt relativ. Sie ist eine Mitte in bezug auf uns (προς ημάς). Sie hat leider nichts gemeinsam mit einer Mitte von der Art des arithmetischen Mittels, das f r jedermann verbindlich in der Sache hinterlegt ist, errechnet werden kann und stets gleich ist (wie etwa 6 als das arithmetische Mittel zwischen 2 und 10). Sie ist anders und immer anders. Indessen bedeutet diese Relativit t auf uns nicht Relativit t auf die jeweiligen Eigenheiten eines Individuums; es gibt nicht je eine Mitte in der Furcht, im Mitleid, in der Freude, die mir angemessen w re, weil ich so bin, wie ich bin, w hrend anderen eine andere Mitte angemessen w re, weil sie eben anders sind. Mitte in bezug auf uns meint: Mitte in bezug auf uns, insofern wir je in einer Situation sind. Sollten je zwei Menschen in genau derselben Situation sein, so w re die Mitte, die ihre Regungen zu treffen h tten, auch gleich. Die Mitte, die die ethische Trefflichkeit ausmacht, ist nicht relativ im Sinne von subjektiv oder beliebig. Diese Mitte ist nichts Einfaches, sie hat verschiedene Momente. Sich nicht dem Zuviel oder Zuwenig der Regungen berlassen, sondern die Mitte treffen, das hei t: die Regungen empfinden „zur rechten Zeit, in den rechten Lagen, gegen ber den rechten Menschen, mit dem rechten Ziel und auf die rechte Weise" (δτε δεΐ και εφ' οΐς και προς ονς και ου ένεκα και ώ; δεΐ — 1106b21 f.)10. Wie die Mitte f chert sich auch das Zuviel und Zuwenig auf. Wer sich f rchtet, wenn noch gar keine wirkliche Bedrohung besteht, f rchtet sich z u f r h ; wer sich erst f rchtet, wenn die Bedrohung schon wieder vor ber ist, f rchtet sich z u s p t. Zuviel f rchtet sich auch, wer sich in einer Lage f rchtet, die gar nicht bedrohlich ist; zuwenig f rchtet sich, wer sich ber die Bedrohlichkeit seiner Lage hinwegsetzt. Aristoteles w rde sicher sagen, da jemand zuviel Mitleid empfindet, wenn er Mitleid hat mit Menschen, die mutwillig ihr Ungl ck verschulden, und da der zuwenig Mitleid empfindet, der diese Regung nicht aufbringt gegen ber Menschen, die unverschuldet in Not geraten sind. Ein ,Zuviel* liegt auch dann vor, wenn wir Mitleid in uns aufkommen lassen um einer Lust an dieser Regung willen, n m10
Anderw rts (II 9) f gt Aristoteles noch hinzu: wie lange es recht ist (πόσον χρόνον — 1109bl5f. u. .). In bezug auf das Handeln (vgl. u.), etwa das Schenken von Geld, gibt es ein weiteres Moment der Mitte: wieviel recht ist (όσον — 1109a28).
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lieh um uns selbst in ihr zu genießen. Das Zuviel und Zuwenig bei der Weise des Empfindens meint einen der Lage oder den Personen nicht angemessenen Grad der Regung, Übermaß oder Mangel an Intensität. Ethische Trefflichkeit bedeutet, hier überall die Mitte erstreben und sie treffen. Sie ist die Haltung, die beständig auf diese Mitte aus ist und die sich in den jeweiligen Situationen als Vollzug des Treffens der Mitte bewährt und aktualisiert. Sollte sich herausstellen, daß die Regungen, um die Mitte treffen zu können, auf Vernunft angewiesen sind (siehe dazu S. 297 f.), so wiese ethische Trefflichkeit hier schon über sich hinaus. Gemäß der Vielfalt der Situationen und menschlichen Beziehungen sowie der Regungen, durch die der Mensch sie auf sich bezieht und sich von ihnen betreffen läßt, ist die ethische Trefflichkeit wirklich in einer Vielfalt einzelner ethischer Trefflichkeiten. Aristoteles gibt in Kapitel 7 des II. Buchs eine Art Tabelle der ethischen Trefflichkeiten; er behandelt sie ausführlich in Einzeluntersuchungen (III 9—V, dazu auch VII l—11), die man mit Recht als phänomenologisch bezeichnet hat. Die ethische Trefflichkeit ist als die Haltung, die bei den Regungen die Mitte zu treffen strebt und jeweils trifft, erst einseitig bestimmt. Wer in der Furcht sich in der Mitte hält zwischen dem vielfältigen Zuviel und Zuwenig, ist noch nicht wirklich tapfer. Das ist er erst, wenn er handelt. Zur ethischen Trefflichkeit gehört das Handeln. Im Handeln gelangt sie erst zu ihrer vollen Wirklichkeit. Aristoteles hat deshalb auch in dem behandelten Text mehrfach neben die Regungen die Handlungen ( ) gestellt. Die ethische Trefflichkeit ist ebensosehr auf die Mitte beim Handeln wie auf die Mitte bei den Regungen aus. Die Mitte beim Handeln ist gleichfalls in jene Momente gegliedert. Indessen ist zu sehen: Wer sich zur rechten Zeit, in der rechten Lage, gegenüber den rechten Menschen, mit dem rechten Ziel und auf die rechte Weise fürchtet, braucht deshalb noch nicht zu wissen, was z u t u n ist, um die Gefahr abzuwenden oder zu bestehen. Das muß er eigens eröffnen, angesichts von Lage und Personen. Er muß herausfinden, was wann wie zu tun ist, er muß das Mittlere für die Handlung entdecken. Dazu läßt das Einhalten der Mitte in der Furcht ihn frei. Würde er sich zuviel oder zuwenig fürchten, so müßte ihm die Mitte im Handeln verborgen bleiben, und so würde er auch handelnd an ihr vorbeitreffen (oder möglicherweise gar nicht handeln). Ethische Trefflichkeit, die erst im Handeln zu voller Wirklichkeit gelangt, ist zugleich die Haltung, die die Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig im Handeln erstrebt. Und damit weist sie vollends und eindeutig über sich hinaus. Sie wurde ja
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einem Seelenteil zugeordnet, der selbst nicht im eigentlichen Sinn und in sich selbst Vernunft hat, vielmehr auf die Vernunft hört11. Zum Treffen der Mitte im Handeln ist ein Überlegen der Mittel und Wege erfordert und eine Entscheidung, die die abgeschlossene Überlegung mit dem Streben verknüpft. Überlegung und Entscheidung aber sind Sache der Vernunft. Die ethische Trefflichkeit dürfte wohl ihre volle Wirklichkeit im Handeln nur erreichen in Einheit mit einer Trefflichkeit des Seelenteils, der Vernunft hat, einer dianoetischen Trefflichkeit also. Haltung und Mitte sind die Grundbegriffe, in denen die ethische Trefflichkeit gedacht worden ist. Aus ihrem Umkreis ist zweierlei nachzutragen. 1. Die Haltung ist eine durch Festigkeit ausgezeichnete Verfassung der Seele, und sie entsteht durch Gewöhnung. Durch Gewöhnung kann sie auch wieder vergehen. Das Moment der Dauer in ihr schließt nicht aus, daß ein Mensch seine Trefflichkeit wieder verliert. Er verliert sie wieder, wenn er nachläßt in der Anspannung, die die ethische Trefflichkeit fordert, wenn er sich dem Zuviel und Zuwenig überläßt und wiederholt schlecht handelt. Er wird schlecht durch Gewöhnung, wie er durch Gewöhnung trefflich geworden war. — 2. Ethische Trefflichkeit erstrebt und trifft die Mitte bei den Regungen und zielt auf das Treffen der Mitte im Handeln ab. Nicht alle Regungen aber und nicht alle Handlungsweisen lassen ein Treffen der Mitte und damit Trefflichkeit zu; manche sind an sich selbst und jederzeit schlecht und nicht erst durch Übermaß oder Mangel. Aristoteles nennt als Beispiele die Regungen der Schadenfreude, der Schamlosigkeit und des Neides und auf der Seite der Handlungen Ehebruch, Diebstahl, Mord. Hier findet der Begriff der Mitte keine Anwendung. Aristoteles erarbeitete im I. Buch einen Vorbegriff des Glücks. Glück erschien als Trefflichkeit (oder als die höchste Trefflichkeit) des spezifisch menschlichen Lebensvollzugs der Seele. Der Untersuchung über das Glück war damit die Aufgabe gestellt, diese Trefflichkeit zu finden und zu bestimmen. Dazu tut Aristoteles im letzten Kapitel des I. Buchs noch einen vorbereitenden Schritt. Aus einer Einteilung der Seele leitet er einen Grundunterschied der menschlichen Trefflichkeiten ab. Aristoteles erblickt zunächst zwei Teile der Seele: einen vernunftlosen und einen, der Vernunft hat. Den vernunftlosen Seelenteil gliedert er weiter in die Ursache des Sichernährens und Wachsens einerseits, das Strebevermögen andererseits. Dieses wird bestimmt als teilnehmend an der Vernunft; 11
oder m e h r e r e n Seelenteilen dieser Art — diese Frage ist ja noch offen.
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selbst vernunftlos, ist es doch dem Einfluß der Vernunft offen, der es sich indes auch widersetzen kann. Der Seelenteil, der Vernunft hat, wird weiter eingeteilt in den Teil, der im eigentlichen Sinn und in sich selbst Vernunft hat, sowie in den Teil, der vernünftig ist in dem Sinne, daß er gleichsam auf den Vater hört. Die Einteilung der Seele mündet in die Einteilung der dem Menschen eigentümlichen Trefflichkeiten in dianoetische einerseits, ethische andererseits. Beide Arten der Trefflichkeit werden von Aristoteles im Fortgang der NE untersucht, und zwar zuerst die ethische Trefflichkeit. — Die gegebene Einteilung der Seele ließ Fragen offen bezüglich der Seele und auch der ethischen Trefflichkeit. Liegen wirklich vier Seelenteile vor oder nur drei — und wenn vier: welchem Teil oder welchen Teilen sind die ethischen Trefflichkeiten zuzuordnen? Ferner: In welchen Seelenteil gehören die Regungen, die Aristoteles im Zusammenhang mit der Einteilung der Seele nicht erwähnt, wiewohl sie bei der Bestimmung der ethischen Trefflichkeit eine so große Rolle spielen? Die inzwischen vorgelegte Darstellung zur ethischen Trefflichkeit würde eine erste Antwort auf diese Fragen schon ermöglichen. Die Antwort mag indes aufgeschoben werden, bis das Thema Seele umfassender und abschließend wieder aufgegriffen werden kann (Kap. 18). Die Erörterung der ethischen Trefflichkeit im II. Buch könnte den Eindruck erwecken, als sei das Hauptthema, das Glück, gänzlich zurückgetreten. Tatsächlich bringt sie die Untersuchung über das Glück einen Schritt weiter, auch wenn das erst später in voller Deutlichkeit hervortritt. — Die ethische Trefflichkeit wird durch die zwei Grundbegriffe Haltung und Mitte bestimmt. Die ethischen Trefflichkeiten entstehen in uns durch Gewöhnung. Wiederholte treffliche Handlungen derselben Art lassen im Handelnden die entsprechende Trefflichkeit als Haltung entstehen, als eine Verfassung der Seele, die durch Festigkeit ausgezeichnet ist, die aber gleichwohl wieder verlorengehen kann. Das geschieht, wenn sie nicht durch treffliche Handlungen immer wieder befestigt wird, wenn vielmehr der Handelnde wiederholt nicht-treffliche Handlungen vollzieht12. Die ethischen Trefflichkeiten sind Haltungen und deshalb nicht identisch mit den Regungen, mit denen sie andererseits doch gerade in engstem Zusammenhang stehen. Nicht daß wir uns fürchten oder Mitleid empfinden, macht uns trefflich, sondern w i e wir es tun. Auch 12
Über den weitergehenden Gedanken einer Befestigung der Haltung durch Entscheidung siehe Kap. 18.
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stehen die Regungen von sich aus in keiner Beziehung zur Entscheidung, wohl aber die ethischen Trefflichkeiten. Und schließlich ist das Empfinden der Regungen ein Bewegtwerden, sprechen wir aber von ethischer Trefflichkeit, so denken wir an Festigkeit, Stetigkeit, Dauer, Die ethische Trefflichkeit ist als Haltung noch nicht zureichend bestimmt. Es mußte herausgearbeitet werden, um was für eine Haltung es sich handelt. Ethische Trefflichkeit ist die Haltung der Mitte, und zwar zunächst der Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig der Regungen. Das Sein der Regungen ist durch das Mehr und Weniger bestimmt. Die ethischen Trefflichkeiten fügen dies Mehr und Weniger je und je ins Maß. Sie lassen den Menschen beständig auf die Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig der Regungen aus sein und diese Mitte jeweils im Einzelfall auch treffen, woran (wie sich noch zeigen wird) Vernunft beteiligt ist. Die Mitte ist relativ. Sie ist Mitte in bezug auf uns — allerdings nicht in bezug auf uns als Individuen mit je besonderen Eigenheiten, sondern in bezug auf uns, insofern wir je in einer Situation sind, und zwar je in einer anderen Situation. — Die Mitte ist strukturiert. Ihre Momente sind vor allem: Zeit (Zeitpunkt, Zeitdauer), Lage, die anderen Menschen, Ziel, die Weise wie. Sich in der Mitte halten zwischen dem Zuviel und Zuwenig der Regungen bedeutet, bezüglich dieser Momente der Mitte das rechte Maß der Regungen erstreben und treffen. Die ethische Trefflichkeit als Haltung der Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig der Regungen denken, reicht noch immer nicht aus. Ethische Trefflichkeit gelangt zur vollen Wirklichkeit erst im Handeln. Sie ist auch für das Handeln auf die Mitte (mit allen ihren Momenten) aus. Hier aber weist sie eindeutig über sich hinaus. Damit handelnd die Mitte getroffen werde, müssen Überlegung und Entscheidung stattfinden. Das aber ist Sache des Seelenteils, der im eigentlichen Sinn und in sich selbst Vernunft hat. So muß angenommen werden, daß die ethischen Trefflichkeiten ihre volle Wirklichkeit erst in der Einheit mit einer dianoetischen Trefflichkeit gewinnen. Insofern die ethische Trefflichkeit als Trefflichkeit des Handelns über sich hinaus weist, ist ihre Bestimmung noch unabgeschlossen. Es ergeben sich als nächste Aufgaben, die Entscheidung zu denken (Kap. 17) und die dianoetische Trefflichkeit zu bestimmen, die den ethischen Trefflichkeiten zu ihrer vollen Wirklichkeit verhilft (Kap. 18). Danach kann das Thema Seele zu Ende geführt werden (Kap. 18). Zu sagen ist noch, daß das II. Buch der NE Probleme aufwirft, die bisher hintangehalten wurden. Sie werden in Kapitel 18 und 19 thematisiert.
17. Kapitel: Freiwilligkeit und Entscheidung (NE III l—5) Ethische Trefflichkeit gelangt erst zu voller Wirklichkeit im Handeln aufgrund einer Entscheidung (προαίρεσις). Deshalb erf hrt die ethische Trefflichkeit eine Fortbestimmung, indem die Entscheidung errtert wird. Die Entscheidung ist etwas Freiwilliges. So r ckt der Bereich des Freiwilligen (έκούσιον) und Unfreiwilligen (άκούσιον) in den Blickpunkt. Die Untersuchung gewinnt damit eine neue Dimension hinzu. Nur wenn es freiwilliges Handeln gibt, kann es ethische Trefflichkeit und deren Gegenteil geben. Nur freiwillig handelnden Wesen k nnen ihre Handlungen nach den Hinsichten von gut und schlecht zugerechnet werden. Freiwilligkeit haben wir immer schon vorausgesetzt, wenn wir jemandem zu- oder absprechen, trefflich gehandelt zu haben oder trefflich zu sein. Was ist sie? Aristoteles bestimmt zun chst das Unfreiwillige. Die Umkehr dieser Bestimmung ergibt dann die Bestimmung des Freiwilligen. Es gibt zwei Arten des Unfreiwilligen: Unfreiwillig ist „das, was durch Gewalt oder aufgrund von Unwissenheit erfolgt" (τα βίςι ή δι' αγνοιαν γινόμενα — 1109b35/1110al). Das Unfreiwillige, sofern es durch Gewalt erfolgt, ist dadurch charakterisiert, da der Anfang (αρχή) der Handlung au erhalb des Handelnden (bzw. Leidenden) liegt und da dieser auch nicht mitwirkt. Als Beispiel f hrt Aristoteles an, da jemand durch einen Sturm oder durch die Gewalt von Menschen irgendwohin entf hrt wird. Zum freiwilligen Tun w re dementsprechend also jedenfalls erfordert, da sein Anfang im Handelnden selbst liegt. Nun gibt es aber Handlungen, bei denen man zun chst im Zweifel sein k nnte, ob sie freiwillig oder unfreiwillig sind. Aristoteles bringt auch daf r Beispiele: Seeleute werfen bei starkem Sturm ihre Ladung ber Bord, um sich und andere vor dem Untergang zu bewahren. Handeln sie unfreiwillig, durch u ere Gewalt gezwungen? Wie st nde das aber dazu, da das Wegwerfen der Ladung doch ganz offenbar in ihnen seinen Anfang hat? Oder handeln sie freiwillig? Wer w rde aber freiwillig G ter ins Meer werfen? Und wie steht es mit dem Mann, der ein Verbrechen begeht, das ein Tyrann ihm befiehlt mit der Drohung, seine
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Eltern und seine Kinder würden getötet, wenn er den Befehl nicht ausführt? Aristoteles antwortet: Handlungen dieser Art sind gemischt, gemischt aus Freiwilligem und Unfreiwilligem; das Freiwillige aber überwiegt in ihnen. An sich ( ) würde der Handelnde die Handlung nicht begehen; losgelöst von den besonderen Umständen wäre sie für ihn nicht wählenswert. Und doch wählt er sie zu dem Zeitpunkt, zu dem er sie tut. Insofern sie an sich für den Handelnden nicht wählenswert ist, ist sie, hier und jetzt getan, unfreiwillig; insofern sie ohne sein Tun überhaupt nicht zustande käme, ist sie freiwillig und sogar mehr freiwillig als unfreiwillig. Wiewohl nun aber das Freiwillige in diesem Sinne überwiegt, trifft den Handelnden kein Vorwurf. Denn allein die Gewalt der Umstände hat etwas, das er sonst nicht gewählt hätte, zum Ziel für ihn gemacht, indem sie es unter ein höheres Ziel zwang. Die ethische Trefflichkeit eines Menschen erfährt durch Handlungen dieses Mischcharakters keine Einbuße; wer eine gemischte Handlung tut, kann mitunter sogar Lob beanspruchen, wenn die Handlung absolut betrachtet als schädlich erscheinen müßte. Das ist kein Freibrief. Es gibt Handlungen, die durch keine noch so große Gewalt der Umstände jemals zu einem erlaubten Ziel werden können. Neben das Unfreiwillige, das durch Gewalt erfolgt, tritt als zweite Art des Unfreiwilligen das, was aufgrund von Unwissenheit getan wird. Indessen ist hier zu differenzieren. Zwar ist alles, was aufgrund von Unwissenheit getan wird, nicht-freiwillig (der Handelnde weiß ja gar nicht, was er da eigentlich tut, und wählt es daher nicht frei), aber es ist deshalb nicht auch schon unfreiwillig. Dazu müssen zwei Bedingungen erfüllt sein: Der Handelnde muß seine Handlung bedauern, sobald die Unwissenheit dem Wissen gewichen ist. Und die Unwissenheit darf nicht selbst verschuldet sein. Selbst verschuldet ist sie etwa bei einem Betrunkenen oder bei einem Menschen, der sich hemmungslos dem Zorn überlassen hat, so daß ihm gewissermaßen Hören und Sehen vergangen sind. Selbst verschuldete Unwissenheit ist das Resultat fehlender ethischer Trefflichkeit, des Nichteinhaltens der Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig einer Regung. Sie ist freiwillig. Und damit liegt die eigentliche Ursache für das, was der Handelnde unwissend und insofern nicht-freiwillig tut, in ihm selbst. Seine Handlung ist auch dann nicht unfreiwillig, wenn er sie nachträglich bedauert. Also: Unfreiwillig ist eine Handlung, die der Handelnde in unverschuldeter Unwissenheit begeht und die er bedauert, sobald er zum Wissen gelangt ist — sein Bedauern
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steht nämlich dafür ein, daß er die Handlung nicht vollzogen hätte, wäre er nicht in Unwissenheit befangen gewesen. Unwissenheit und Wissen beziehen sich auf jene Momente, die aus der Erörterung der Mitte im II. Buch schon bekannt sind, und zwar der Mitte, die es im H a n d e l n zu treffen gilt. Aristoteles fügt hier, wo es um Unwissenheit und Wissen beim Handeln geht, noch zwei Momente hinzu: das, was man tut, und das, womit man es tut (etwa Werkzeuge). Die Unwissenheit eines geistig gesunden Menschen betrifft stets nur eines oder auch mehrere dieser Momente, niemals aber alle Momente zugleich. Wer auch nur über ein Moment zum Zeitpunkt der Handlung in Unwissenheit war, konnte die Mitte im Handeln nicht treffen. Er hat die Mitte im Handeln unfreiwillig verfehlt, wenn er seine Unwissenheit nicht selbst verschuldete und wenn er, wissend geworden, die Handlung bedauert. Seine ethische Trefflichkeit erleidet durch das unfreiwillige Verfehlen der Mitte im Handeln keinen Schaden1. Es geht um die Bestimmung des Freiwilligen auf dem Weg über das Unfreiwillige. Unfreiwillig ist, was durch Gewalt erfolgt; der Anfang der Handlung liegt nicht im ,Handelndenc, und dieser wirkt auch nicht mit. Unfreiwillig ist ferner alles Handeln, dessen beherrschender Anfang zwar im Handelnden liegt, das aber durch die unverschuldete Unwissenheit des Handelnden bezüglich eines oder mehrerer zur Handlung gehöriger Momente bestimmt ist und das vom Handelnden bedauert wird, sobald er wissend geworden ist. Freiwillig ist dementsprechend ein Handeln, dessen Anfang im Handelnden liegt und bei dem der Handelnde alle zur Handlung gehörigen Momente weiß. (Auf den Spezialfall der Handlungen mit Mischcharakter nimmt Aristoteles nun keine besondere Rücksicht mehr. Sie lassen sich diesem weiten Begriff des Freiwilligen subsumieren.) Von der Bestimmung des Freiwilligen geht Aristoteles weiter zur Bestimmung der Entscheidung. Die Entscheidung ist etwas Freiwilliges, aber nicht alles Freiwillige ist Entscheidung; zum Beispiel liegt dem, was Kinder tun oder was man plötzlich tut, keine Entscheidung zugrunde, auch wenn es freiwillig getan wird. Das, wofür man sich entscheidet, ist das, was man vorher bei sich überlegt hat ( ); das zeigt 1
Hier wäre wieder von der Erörterung der Tragödie in der Poetik aus zu ergänzen: Ein unfreiwilliges Verfehlen der Mitte im Handeln von weitreichender und furchtbarer Konsequenz bedeutet für den Handelnden, auch wenn seine ethische Trefflichkeit davon unberührt bleibt, einen Umschwung von Glück in unaufhebbares Leid. Vgl. Anm. 29 zu Kap. 15.
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nach Aristoteles das Wort „entschieden" schon an, indem es „vor anderem gew hlt" bedeutet (προαιρετόν — προ έτερων αίρετόν). Die Entscheidung ist „verbunden mit Erw gung und Nachdenken" (μετά λόγου και διανοίας — 1112al6). Sie ist die eigentlich menschliche Gestalt des Freiwilligen2. Ohne berlegen gibt es keine Entscheidungen. Worauf richtet sich aber unser berlegen? Zun chst: In welchem Seinsbereich kommt es zum Vollzug? Jedenfalls nur im Bereich solcher Dinge, mit denen Menschen sich besch ftigen, die bei Verstand sind (νουν έχων — 1112a21). Aus diesem Bereich scheiden f r das berlegen aus: das Ewige (Weltall, mathematische Sachverhalte); das, was zwar in Bewegung ist, aber nach unver nderlichen Gesetzen (Sonnenwenden, Aufg nge der Gestirne)*; das, was sich bald so, bald so verh lt, ohne da wir Einflu darauf nehmen k nnten (D rren, Regenf lle); das, was sich zuf llig trifft (Finden eines Schatzes); menschliche Angelegenheiten, die au erhalb unseres Wirkungskreises liegen (Verfassung eines entfernten Staates). brig bleibt als Gegenstand unserer berlegung das, was in unserer Macht (εφ' ήμϊν) ist, was durch uns selbst zustande gebracht werden kann. Manches davon ist in Wissenschaften und bei den Handwerken schon durch andere — sei es auf dem Weg der bereinkunft (Schriftzeichen), sei es als Ergebnis gemachter Erfahrungen — unter Regeln gebracht, die allgemein anerkannt werden. Auch in solchen F llen berlegen wir nicht (es sei denn, wir hielten die Regeln f r nderungsbed rftig). Wir berlegen bei solchem, das wir selbst handelnd bewirken k nnen. Das Ziel der Handlung ist dem berlegen vorgegeben. Das berlegen gilt allein den Mitteln und Wegen zur Erreichung des Ziels. So berlegt ein Arzt nicht, ob er den Kranken heilen soll, sondern wodurch er ihn heilen kann. Sein Ziel ist schon damit gegeben, da er Arzt ist. Wie vollzieht sich das berlegen? Das Ziel steht schon fest. Bei ihm setzt das berlegen an. Es sucht zuerst, was dem Ziel am n chsten ist und zuletzt getan werden mu . Ist das gefunden, so sucht es danach, wie das, was zuletzt zu tun ist, m glich gemacht werden kann, und weiterhin wie dies selbst erm glicht werden kann und so fort, bis es beim Handelnden selbst und dem, was er zuerst zu tun hat, angekommen ist. In diesem Augenblick ist das Ziel als durch den Handeln2
Vgl. IX 8, 1168b35/69al. Seiendes von dieser Art kann Aristoteles auch zum Ewigen rechnen; ber den weiteren Umfang der άΐδια siehe S. 238. 3
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den möglich aufgewiesen. Der Handelnde weiß, d a ß er das Ziel erreichen kann, weil er weiß, w i e er es erreichen kann. Er nimmt die Verwirklichung in Angriff. — Das Überlegen wird unterwegs abgebrochen, wenn es auf eine Bedingung der Verwirklichung trifft, die vom Handelnden auf keine Weise erfüllt werden kann. Es zeigt dann etwas an sich zwar Mögliches als jetzt und hier durch den Handelnden nicht möglich auf. Die Verwirklichung des Ziels wird — jedenfalls vorerst — aufgegeben. — Wenn sich mehrere Wege zum Ziel als möglich erweisen, so sucht die Überlegung unter ihnen den besten. Entsprechendes gilt auch für Teilstrecken des Weges. — Nicht alles, was in die Überlegung eingeht, muß oder kann selbst überlegt werden. Das Überlegen vollzieht sich auf dem Grunde menschlichen Sichauskennens in der Welt. Es nimmt Bekanntes in Anspruch, so das Einzelne, von dem wir durch die Wahrnehmung Kenntnis haben. Dadurch bleibt das Überlegen davor bewahrt, sich ins Endlose zu verlieren. Das, was man überlegt, und das, wofür man sich entscheidet, ist dasselbe. Überlegung und Entscheidung sind aber zu unterscheiden. Ihr Verhältnis ist so zu denken: Die Überlegung kommt in ihrem Vollzug zu immer schärferer Abgrenzung dessen, was zu tun ist. Sie sondert schrittweise den besten Weg zum Ziel in allen seinen Teilstrecken aus. Dadurch hat, wenn sie abgeschlossen ist, eine Vorwahl stattgefunden. Andere Mittel und Wege zum Ziel, falls sie möglich sein sollten, kommen kaum noch in Betracht. Die Entscheidung greift hier zu. Sie bestimmt das Streben, das sich bisher abwartend verhalten hat, das Überlegte zu tun. Zwei Seelen teile wirken so zusammen: ein vernunftloser — das Strebevermögen — und ein Seelenteil, der im eigentlichen Sinn und in sich selbst Vernunft hat. Dieser vollzieht nicht nur das Überlegen, sondern auch die Entscheidung (vgl. 1113a6 f. und Dirlmeier zur Stelle). Aristoteles faßt seine Erörterung der Entscheidung zusammen in die Bestimmung: Entscheidung ist „überlegtes Streben nach dem, was in unserer Macht ist" ( ' — 1113all). Die ethische Trefflichkeit hat zwei Seiten. Sie ist aus auf die Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig der Regungen und trifft sie. Und sie ist aus auf die Mitte im Handeln. Wiewohl sie erst in einem die Mitte treffenden Handeln zu voller Wirklichkeit kommt, vermag sie in bezug auf dieses Handeln aus sich selbst nur das an sich haltende Abwarten des Strebevermögens zu bewirken. Sie macht, daß das Strebevermögen auf die Entscheidung wartet und dieser dann folgt. Die Ent-
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Scheidung aber fällt im vernünftigen Seelenteil und setzt Überlegung voraus. Die Entscheidung ist etwas Freiwilliges. Freiwillig ist alles Handeint dessen Anfang im Handelnden selbst liegt und bei dem der Handelnde über keines der zur Handlung gehörigen Momente in Unwissenheit ist, vielmehr weiß, was er tut, wem gegenüber, wozu, womit, wie er es tut. Also kann auch von Entscheidung nur dann gesprochen werden, wenn der Anfang der Handlung im Handelnden liegt und wenn der Handelnde sich über keins der zur Handlung gehörigen Momente täuscht. Zur Entscheidung ist aber noch etwas anderes erfordert: die Überlegung. Auch unüberlegtes Handeln kann freiwillig sein (plötzliches Handeln, das Handeln von Kindern), aber es wird nicht aufgrund einer Entscheidung vollzogen. Der Überlegung ist das Ziel der Handlung vorgegeben. Sie richtet sich auf die Mittel und Wege zum Ziel. Vom Ziel ausgehend, führt sie schrittweise seine Ermöglichung auf den Handelnden als Ursache zurück. Wenn sie abgesdilossen ist, ist durch sie selbst eine Vorwahl erfolgt. Als Vor-gewähltes liegt das Überlegte zur Entscheidung vor. Die Entscheidung beschließt die Handlung, sie bestimmt das Streben zu ihr. In der Entscheidung gewinnt das Freiwillige seine eigentlich menschliche Gestalt. In ihr macht sich die Vernunft zum Anfang der Handlung. Indes muß gesehen werden, daß nicht jede Entscheidung das Streben zu trefflichem Handeln bestimmt. Wenn das vorgegebene Ziel nicht trefflich ist, dann auch nicht die Handlung, die es erwirkt, mag die Überlegung auch noch so folgerichtig und die Entsdieidung für das Streben auch noch so bindend sein. Treffliches Handeln setzt treffliche Ziele und damit ethische Trefflidjkeit voraus. Es setzt jeweils die ethische Trefflichkeit als Haltung voraus, die es selbst erst im Einzelfall zu voller Wirklichkeit bringt. Andererseits sind zum trefflichen Handeln Entscheidungen erfordert, die selbst trefflich sind. Da die Entscheidung und die zu ihr gehörige Überlegung Sache der Vernunft sind, wird, wie schon früher vermutet, ethische Trefflichkeit einer Trefflichkeit der Vernunft, einer dianoetischen Trefflichkeit, bedürfen. Diese ist die Einsicht ( ^. Sie wird im folgenden Kapitel thematisiert. — Aristoteles stellt sich im III. Euch dem Problem, ob auch die Ziele freiwillig sind. Damit ist die Frage gestellt, ob der einzelne Mensch der Urheber seiner ethischen Trefflichkeit oder deren Gegenteil ist — eine Frage, für deren Beantwortung die früheren Ausführungen zur Entstehung der ethischen Trefflichkeit durch Gewöhnung nicht ausreichen. Auch auf dieses Thema wird Kapitel 18 eingehen.
18. Kapitel: Ethische Trefflichkeit und Einsicht (NEVl 2, 5, 8, 10; III 6, 7; VI 13) Ethische Trefflichkeit ist die Haltung, die auf die Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig der Regungen aus ist und sie je im Einzelfall trifft — und die darüber hinaus auf die Mitte im Handeln aus ist, weil sie erst im Handeln zu ihrer vollen Wirklichkeit gelangt. Damit aber die Mitte im Handeln getroffen werde, bedarf es der Überlegung und der Entscheidung. Die Überlegung hat die Mittel und Wege zu eröffnen, durch die im jeweiligen einzelnen Fall handelnd die Mitte verwirklicht werden kann. Das Ziel, nämlich eben in diesem bestimmten Fall die Mitte handelnd zu verwirklichen, ist der Überlegung und damit auch der Entscheidung vorgegeben. Auf diese Mitte ist die ethische Trefflichkeit ja gerade schon aus. Die ethische Trefflichkeit ist aber nicht Trefflichkeit des Seelenteils, der selbst die Überlegung zu vollziehen vermag. Sie macht daher die Überlegung nur möglich, indem sie das Streben an sich halten und die Entscheidung abwarten läßt. Eben dies ist das Aussein auf die Mitte im Handeln: dem Überlegen Raum geben und sich durch die Entscheidung bestimmen lassen wollen. Das Ziel sei etwa, einem Menschen, der in Not geraten ist, zu helfen und dabei die Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig zu treffen. Dieses Ziel gibt die betreffende ethische Trefflichkeit vor (man mag sie Wohltätigkeit nennen; sie deckt sich teilweise mit der Großzügigkeit — —, die Aristoteles IV l und 2 beschreibt). Die Überlegung hat zu eröffnen, was wann wie womit wielange zu tun ist, und bezüglich dieser Momente hat sie schrittweise, vom Ziel ausgehend, dieses als durch den Handelnden möglich zu erweisen. Ist das geschehen, so bestimmt die Entscheidung das Streben, das Überlegte zu tun in eben der geordneten Folge, die das Überlegen sichtbar gemacht hat (jedoch in umgekehrter Reihenfolge). D i e s e Überlegung, wenn sie wahr ist, und d i e s e Entscheidung sind treffliche Tätigkeit der Vernunft. Aristoteles macht sie im VI. Buch der NE unter dem Namen Einsicht ( ) zum Thema. Das geschieht innerhalb einer weitergespannten Untersuchung über die Tätigkeiten der Vernunft und die dianoetischen Trefflichkeiten, die an die frühere Ein-
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teilung der Trefflichkeiten in ethische und dianoetische ankn pft und das Thema der Seelenteile aufgreift1. Hier in diesem Kapitel erfolgt eine Beschr nkung auf diejenigen Ausf hrungen, die der Bestimmung der Einsicht dienen und geeignet sind, die Er rterungen zur ethischen Trefflichkeit und ber die Seele weiterzuf hren. Die Behandlung der Einsicht wird sich im Fortgang des Kapitels ber die Entfaltung des eben schon Angedeuteten hinaus auf eine andere Ebene heben. Dabei werden auch weitere Kapitel aus dem III. und Stellen aus dem VII. Buch Beachtung finden. Kapitel 2 des VI. Buches setzt mit der erw hnten Ankn pfung an den fr her eingef hrten Unterschied der ethischen und dianoetischen Trefflichkeiten ein. Zur Fortbestimmung der dianoetischen Trefflichkeiten wird die Einteilung der Seele erg nzt. Der erste Unterschied, den eine Einteilung der Seele fa t, ist der bekannte zwischen dem vernunftlosen Teil (αλογον) und dem Teil, der Vernunft hat (λόγον έχον). Der Seelenteil, der Vernunft hat, soll nun weiter eingeteilt werden. Dabei ist aus dem Blick geraten, da eine solche Einteilung an fr herer Stelle (113) schon erfolgte. Nimmt man sie hinzu, so handelt es sich jetzt nicht um eine Einteilung des ganzen Seelenteils, der Vernunft hat, sondern eines Teils desselben, n mlich jenes Teils, der Vernunft im eigentlichen Sinn und in sich selbst hat. F r die folgenden Er rterungen des VI. Buches ist die Abweichung von 113 ohne Belang; f r die Frage, die von 113 her noch offen ist, n mlich was es mit jenem Seelenteil auf sich hat, der dort als ein Teil des Vernunft habenden Seelenteils angesetzt und als gleichsam auf den Vater h rend charakterisiert wurde, ist sie aufschlu reich — doch davon sp ter. Aristoteles2 teilt den Seelenteil, der Vernunft hat (λόγον έχον), jetzt ein in einen erkennenden (έπιστημονικον) und einen erw genden Teil (λογιστικόν). Zu dieser Einteilung gelangt er ber den Unterschied im Seienden, auf das die Vernunft sich richtet. Seiendes teilt sich in die zwei gro en Gattungen (vgl. 1139a9: τα τφ γένει ετέρα): Seiendes, dessen Seinsgr nde ein Anderssein nicht zulassen8 — Seiendes, das das Anderssein zul t4. Es handelt sich um den Gegensatz von Unver nderlichem 1
Sie wurde in Kapitel 14 schon in Anspruch genommen. * Das folgende wiederholt zun chst, was am Beginn des 14. Kapitels schon darzustellen war. 8 τα τοιαύτα των όντων δσων at άρχαί μη ένδέχονται δλλως Ιχειν — 1139a7 f. 4 τα ενδεχόμενα — 1139a8.
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und Ver nderlichem, wobei zum Unver nderlichen auch das Gleichbleibende im Bereich des naturhaft Entstehenden und Vergehenden zu rechnen ist. Auf beide Gattungen des Seienden richtet sich die menschliche Vernunft. Deshalb gibt es auch in ihr einen gattungsm igen Unterschied. Denn es besteht hnlichkeit (όμοιότης) und Verwandtschaft (οίκειότης) zwischen dem Seienden und der Vernunft, die es betrachtet. Auf das Seiende, dessen Seinsgr nde ein Anderssein nicht zulassen, richtet sich der erkennende Seelenteil (έπιστημονικόν). Von diesem Seelenteil der Gattung nach verschieden ist der erw gende Seelen teil (λογιστικόν), der sich richtet auf das, was anders und immer anders ist. Erw gen (λογίζεσϋαι) und berlegen sind dasselbe (1139al2f.). Der erw gende Seelenteil vollzieht also das berlegen (und die Entscheidung). Die Einsicht wird als Trefflichkeit dieses Seelenteils zu denken sein, wiewohl sie keineswegs sein einziger Vollzug ist. Nicht zuletzt auch das das Hervorbringen leitende Denken ist Sache des erw genden Seelenteils. Auch es ist ein berlegen, das sich in der Wahl des berlegten beschlie t. Aristoteles wird es an sp terer Stelle ausdr cklich von der Einsicht abheben. Die dianoetischen Trefflichkeiten sind Trefflichkeiten des erkennenden und des erw genden Seelenteils. Diese Trefflichkeiten sind zu bestimmen in Hinsicht darauf, was die Seelenteile vollbringen5. Der erkennende und der erw gende Seelenteil vollbringen, wenn sie gut zum Vollzug kommen, Wahrheit, aber je auf verschiedene Weise eine je verschiedene Wahrheit. Der erkennende Seelenteil (die erkennende Vernunft) vollzieht Bejahung und Verneinung. Das Gute ist hier das Wahre, sein Gegenteil das Falsche6. Mehr, als da das Bejahen oder Verneinen wahr ist, braucht von diesem Seelenteil nicht verlangt zu werden. Auf andere Weise vollbringt der erw gende Seelenteil (die erw gende Vernunft) eine andersartige Wahrheit. Er vollbringt Wahrheit nur im Zusammengehen mit dem Streben (δρεξις), und Wahrheit ist hier praktische Wahrheit, eine Wahrheit also, die ohne t tige Verwirklichung nicht w re. Das Streben hat die beiden Grundrichtungen des Verfolgen s (δίω|ις) und Meidens (φυγή). Im Verfolgen und Meiden kann das Streben auf die erw gende Vernunft h ren, sich ihr aber auch widersetzen 8
προς το Εργον το οίκεϊον — 1139al7. Gem seiner begrenzten Absicht an dieser Stelle kann Aristoteles die Wahrheitsproblematik, die er in Met. IX 10 entwickelt, hier au er Betracht lassen; dort stellt er als das Eigent mliche der Wesenserkenntnis heraus, da T uschung bei ihr nicht m glich ist. β
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oder sie gar nicht erst zum Vollzug kommen lassen. Hört das Streben auf das, was die erwägende Vernunft überlegt hat, so ist es richtig ( ). Es richtet sich nach der Vernunft, stimmt mit ihr überein. Solche Richtigkeit des Strebens ist zu einer trefflichen Entscheidung erfordert, wenn anders die Entscheidung zu bestimmen war als überlegtes S t r e b e n nach dem, was in unserer Macht ist. Von einer trefflichen Entscheidung kann gar nicht gesprochen werden, wenn das Streben in seinem Verfolgen und Meiden nicht zur Übereinstimmung mit der erwägenden Vernunft, zum Sich-richten nach dem Ergebnis der Überlegung, gebracht wird. Andererseits wird bei der trefflichen Entscheidung verlangt, daß das Überlegen wahr ist. Nur die wahre Erwägung ( ) bringt die Mittel und Wege an den Tag, durch die das Ziel gut verwirklicht werden kann. Praktische Wahrheit ist die Einheit von wahrer Überlegung und richtigem Streben. Diese Einheit wird je und je von der Entscheidung erwirkt. Die treffliche Entscheidung vereinigt eine abgeschlossene wahre Überlegung mit dem Streben derart, daß dieses in Übereinstimmung mit dem Überlegten tätig wird. Der erwägende Seelenteil vollbringt praktische Wahrheit, und zwar durch wahres Überlegen und eine das Streben erfolgreich bestimmende Entscheidung. Insofern die Richtigkeit des Strebens unlösbar zur praktischen Wahrheit gehört, gibt es für den erwägenden Seelenteil keine Trefflichkeit, ohne daß er sich mit einem anderen Seelenteil, der selbst keine Vernunft hat, aber auf sie zu hören vermag, vereinigt. Ebensowenig vermag dieser Seelenteil ohne den erwägenden trefflich zu sein7. Wiewohl für Aristoteles bei der Erörterung der praktischen Wahrheit durchaus das Handeln im Sinne der Verwirklichung ethischer Trefflichkeiten im Vordergrund stand, bedarf es doch noch einer expliziten Abhebung dieses Handelns von einer anderen menschlichen Tätigkeit, die eben auch nur dank praktischer Wahrheit gut gelingt. Es bedarf der 7
Im Oberlegen jeglicher Art können praktische Syllogismen auftreten. Im praktischen Syllogismus erfolgt die Subsumtion von Einzelnem (Untersatz) unter ein Allgemeines (Obersatz). Der Untersatz setzt das Handeln in Bewegung. Dieses selbst entspricht dem Schlußsatz im erkennenden Syllogismus. Aristoteles hat sich an verschiedenen Stellen der NE und anderer Schriften über den praktischen Syllogismus geäußert. (Vgl. etwa Über die Seele III 11, 434al6—21; NE VII 5, 1146b35—47a7; 1147a25—31; 1147b9 f.; VI 9, 1142a20—23; VI 13, 1144a31—33.) Sicher war er nicht der Auffassung, daß alles Überlegen sich durchgängig in praktischen Syllogismen vollzieht oder in diese Form gebracht werden könnte, wodurch er der Sache auch Gewalt angetan hätte. Zum praktischen Syllogismus siehe Grant S. 263—270; Allan1; Ando Kap. 5.
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Abhebung des Handelns im eigentlichen Sinn vom Hervorbringen8. Wie sehr auch eine tiefer dringende Analyse hier auf Differenzen sto en m te, so steht doch zun chst einmal fest, da auch das Hervorbringen je und je auf die Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig abzielt (vgl. II 5, 1106b8—14) und da die Mitte getroffen wird dank einer wahren berlegung und eines sich nach dem berlegten richtenden Strebens der Verwirklichung. Auch die Art der berlegung, die der Mensch beim Hervorbringen vollzieht, ist Sache der erw genden Vernunft. Nun gibt es aber zwischen dem Hervorbringen und dem Handeln im eigentlichen Sinn einen fundamentalen Unterschied: Das Hervorbringen hat sein Ziel je und je in einem Werk; sein Gutes ist das gelungene Werk. Das Handeln dagegen hat sein Ziel in sich selbst; sein Gutes ist das gelingende Handeln selbst (εύπραξία). Wie sich das Hervorbringen vom Handeln unterscheidet, so die »Kunst' (τέχνη) von der Einsicht (φρόνησις)9. Die Einsicht vollzieht wahres berlegen und ein das Streben bestimmendes Entscheiden nicht um irgendwelcher Werke, sondern um des Handelns selbst und seiner Trefflichkeit willen. Ziel der Einsicht ist das gute Handeln (εΰπραξία). Ihr berlegen und ihr Entscheiden vollzieht sie im Umkreis dessen, was f r den Menschen gut und schlecht ist (περί τα άνθρώπφ αγαθά και κακά — 1140b5 f.). Sie blickt auf das gute Leben im ganzen (το ευ ζην όλως — 1140a2810), aber je auch auf einzelne treffliche Ziele. Sie berlegt die Mittel und Wege zu diesen Zielen und entscheidet entsprechend der berlegung. Sie ist Trefflichkeit der erw genden Vernunft und als diese Trefflichkeit eine Haltung (wie andererseits die ethischen Trefflichkeiten Haltungen sind). Wer Einsicht hat, der hat sie dauerhaft und ist eben deshalb ein Einsichtiger (φρόνιμος). Das verdankt er aber nicht zuletzt einer ethischen Trefflichkeit, der Besonnenheit (σωφροσύνη). Die Besonnenheit bewahrt die Einsicht11. Die
8
Zur praktischen Wahrheit der ,Kunst' (τέχνη) vgl. noch S. 340 f. Freilich tritt beim Hervorbringen der Faktor der Entscheidung in seiner Bedeutung zur ck, da hier das Strebeverm gen zumeist von selbst darauf aus sein wird, das berlegte t tig zu verwirklichen. • Vgl. VI 4. 10 όλως fehlt bei Bekker; vgl. Rackham, Fu n. zur Stelle. 11 Aristoteles sieht im Wort σωφροσύνη schon einen Hinweis auf diesen Sachverhalt; die beiden Silben σω und φρο bezieht er auf σώζειν und φρόνησις. Da er mit dieser ^Etymologie' Platon (Kratylos 411e/412a) folgt, wurde von Dirlmeier (S. 347 zu 64,4) festgestellt.
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Besonnenheit ist diejenige Haltung, die das Streben im Verfolgen des Angenehmen und Meiden des Unangenehmen an sich halten und die Entscheidungen abwarten läßt und die gegenüber bestimmten Regungen der Lust und des Schmerzes die Mitte trifft. Da Lust und Schmerz in einem weiteren Sinne alle anderen Regungen begleiten, bzw. da alle anderen Regungen modifizierte Gestalten von Lust und Schmerz sind (vgl. S. 277), steht die Besonnenheit hier gewissermaßen stellvertretend für alle ethischen Trefflichkeiten. Es zeigt sich ein Wechselverhältnis zwischen Einsicht und ethischer Trefflichkeit. Nur dank der Einsicht gelangt ethische Trefflichkeit zu ihrer vollen Wirklichkeit — zur Verwirklichung dessen, worauf sie aus ist, in einem die Mitte treffenden Handeln. Nur dank der ethischen Trefflichkeit als der festen Verfassung der Seele, die in den Regungen die Mitte trifft und das Streben an sich halten und warten läßt, vermag sich Einsicht zu vollziehen. Ein Übermaß an Lust oder Schmerz ließe sie vergehen oder gar nicht erst als Haltung entstehen. Einsicht und ethische Trefflichkeit bedingen sich wechselseitig. Ihre Vereinigung12 allein läßt treffliches Handeln ( ) entstehen und den Menschen gut leben. Indessen wird ja über die Einsicht noch mehr zu sagen sein, und dann wird auch das Verhältnis von Besonnenheit und Einsicht nochmals zur Sprache kommen. Zuvor aber soll über die Seele, soweit sie in der NE im Blick steht, abschließend gehandelt werden. Die Erörterungen über die Seele in der NE kennen folgende Seelenteile: die Ursache des Sichernährens und Wachsens, das Wahrnehmungsvermögen, das Strebevermögen, den erwägenden Seelenteil, den erkennenden Seelenteil und außerdem wohl noch einen Seelenteil, der im Dunkeln bleibt. Das Wahrnehmungsvermögen tritt sofort wieder zurück. Die Ursache des Sichernährens und Wachsens und das Strebevermögen werden als Teile des vernunftlosen Seelenteils gedacht. Der erwägende und der erkennende Seelenteil erscheinen im VI. Buch als die beiden Teile des Seelenteils, der Vernunft hat. Im I. Buch war dieser Seelenteil, der Vernunft hat, aber schon einmal anders eingeteilt worden: in den Seelenteil, der Vernunft im eigentlichen Sinn und in sich selbst hat, und in den Seelenteil, der vernünftig ist als gleichsam auf den Vater hörend. Von dieser früheren Einteilung her ließen sich der erwägende und der erkennende Seelenteil als Teile eines Teils des Seelenteils, der Vernunft hat, denken, eben jenes Teils, der Vernunft im eigentlichen Sinn und in sich 12
Vgl. VI 13, 1144bl7—28.
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selbst hat. Dunkel bleibt, wie gesagt, der Seelenteil, der vern nftig ist als gleichsam auf den Vater h rend — dunkel und dubios nicht nur, weil nicht gesagt wird, was unter ihm zu verstehen ist, sondern auch, weil er bei der sp teren Einteilung wieder verschwunden ist und dort, wo er genannt wird (I 13), die Frage aufkommen l t, ob er nicht vielleicht das Strebeverm gen und also gar kein vierter Seelenteil ist. (Das erg be freilich die Seltsamkeit, da derselbe Seelenteil — das Strebeverm gen — unmittelbar hintereinander zun chst als Teil des vernunftlosen, dann als Teil des Vernunft habenden Seelenteils bestimmt w re.) Die Regungen (πάθη) finden in keiner Einteilung ausdr cklich ihre Stelle. Man sieht: Aristoteles hat in der NE eine systematische Gliederung der Seele nicht vorgelegt und auch nicht erstrebt. Das stimmt berein mit seiner Auffassung, da eine Gliederung der Seele in Seelenteile ein h chst problematisches Gesch ft ist. Diese Auffassung dr ckt er in der Schrift ber die Seele deutlich aus: Die Erkenntnis der Seele geh rt zum Schwierigsten (εστί των χαλεπωτάτων — I I , 402alO f.). Es ist fraglich, wieviele Seelenteile es berhaupt gibt — in gewisser Weise sind es unendlich viele (III 9, 432a22—24). Und schwierig ist es, genau zu bestimmen, welche Seelenteile voneinander verschieden sind (I l, 402blO f.). Die Zuordnung des wahrnehmenden Seelenteils zu nur einem der beiden bergeordneten Seelenteile, dem vernunftlosen oder dem Vernunft habenden, w re problematisch (III 9, 432a30 f.). Das Strebeverm gen (όρεκτικόν — hier in weiterem Sinne als in der NE) geht durch die beiden bergeordneten Seelenteile hindurch — im erw genden Teil des Vernunft habenden Seelenteils ist es als Wollen (βούλησις) enthalten (III 9, 432b5) — dieser Seelenteil vollzieht ja, wie die NE zeigt, berlegung u n d Entscheidung. Doch zur ck zur Problematik der NE. Es sei die Annahme gemacht, da Aristoteles in I 13 tats chlich einen Seelenteil angesetzt hat, von dem soviel klar w re: Er ist weder mit dem Ern hrungsverm gen noch mit dem Strebeverm gen noch auch mit dem erw genden oder erkennenden Seelenteil identisch; er kommt mit dem Strebeverm gen darin berein, da er auf den im eigentlichen Sinn und in sich selbst Vernunft habenden Seelenteil hinh rt, unterscheidet sich aber vom Strebeverm gen dadurch, da er auf eine Weise ,Vernunft hat', die es erlaubt, ihn als Teil des Vernunft habenden Seelenteils (λόγον έχον) zu setzen13. Da ia
Diese Annahme steht im Gegensatz zu den meisten neueren Kommentaren: siehe Stewart, Burnet, Gauthier zu 1103al—3 sowie Burnet S. 64. In diesem Sinne auch Ross, Introduction, S. VIII; Ando S. 92; Ingenkamp. Ingenkamp h lt sich ganz an
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Aristoteles ber diesen Seelenteil rasch hinweggeht und auch nicht wieder auf ihn zur ckkommt, wird seinen Grund haben — dar ber ist sp ter noch zu sprechen. Hier ist zun chst zu fragen: Was ist dieser Seelen teil? Wiewohl die Regungen (πάθη) in der in I 13 gegebenen Einteilung nicht genannt werden, d rften sie mit dem fraglichen Seelenteil gemeint sein. Sie sind aus der Er rterung der ethischen Trefflichkeit im II. Buch, zu der die Einteilung auch berleitet, nicht wegzudenken. Wenn die Regungen (au er der Begierde und dem zornigen Drang, die gelegentlich auch als Regungen erscheinen und hier noch eigens zu thematisieren sind) jenen Seelenteil ausmachen, der zwar Vernunft hat, aber nicht im eigentlichen Sinn und in sich selbst, und der auf die Vernunft im eigentlichen Sinn zu h ren vermag wie ein Kind auf den Vater, dann mu zweierlei gezeigt werden k nnen: das Hinh ren der Regungen auf die Vernunft einerseits und andererseits eine Funktion der Regungen, die es erlaubt, die Regungen — und sei es auch nur das eine Mal in N E I 13 — in den Vernunft habenden Seelenteil zu versetzen und ihnen damit eine gr ere N he zur Vernunft zuzugestehen als dem Strebeverm gen, das doch auch auf die Vernunft zu h ren vermag und insofern , vern nftig* ist. Das Hinh ren der Regungen auf den Seelenteil, der im eigentlichen Sinn und in sich selbst Vernunft hat, vollzieht sich in der ethischen Trefflichkeit. Es ist die Voraussetzung daf r, da die erw gende Vernunft zur berlegung und zur Entscheidung dessen kommt, was zu tun gut ist, Voraussetzung daf r also, da die ethische Trefflichkeit im Handeln zu voller Wirklichkeit gelangt. Hinh rend auf die Vernunft, h lt der treffliche Mensch seine Regung in der Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig. Die Mitte in bezug auf die Regungen mu von der Vernunft je im einzelnen Fall erblickt werden. Dies Erblicken ist verschieden von dem berlegen und Entscheiden, das die Vernunft f r die den aristotelisdien Wortlaut und erblickt in ihm „zwei verschiedene Vorschl ge des Aristoteles" (S. 129), ohne den Versuch zu machen zu erkl ren, warum Aristoteles die verschiedenen Vorschl ge gemacht haben sollte. — Dirlmeier h lt f r m glich, da Aristoteles an der fraglichen Stelle vier Seelenteile im Blick hat, und zwar als vierten „ein rezeptives Verm gen auf der Seite des λόγον έχον ... Doch w rde die Verfolgung dieses Gedankens in das nahezu hoffnungslose Problem des νους παθητικός — ποιητικός f hren ... Der Deutlichkeit halber sei angemerkt, da das παθητικόν μόριον von Pol. I 5, 1254b8 nicht ein rezeptiver Teil ist, sondern der, in dem die πάθη sich befinden" (S. 293); Dirlmeier schlie t damit aus, da die Regungen mit dem vierten Seelenteil gemeint sein k nnten. M glicherweise ist er der Auffassung Joachims, der die Regungen f r „modifications of (occurrences in) the orectic soul" h lt (S. 82).
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Handlung vollzieht und durch das sie das Streben bestimmt. Es erblickt nicht Mittel und Wege zur Erreichung eines Ziels, sondern das jeweilige Maß für die Regung bezüglich der verschiedenen Momente der Mitte. Aristoteles müßte diesen Vollzug der Vernunft auch in den erwägenden Seelenteil setzen, denn dieser ist auf das gerichtet, was sich immer wieder anders verhält. Das Hinhören der Regung auf die Vernunft bedeutet: sich das von der Vernunft erblickte Maß zum Maß nehmen, weder zuviel noch zuwenig Furcht, Freude oder Mitleid empfinden, sondern „so, wie die Vernunft es anordnet" ( — IV 11, 1125b35; vgl. auch III 10, 1115bl9f.). Was leisten aber die Regungen, daß sie im Gegensatz zum Strebevermögen als Teil des Vernunft habenden Seelenteils erscheinen können? Sie eröffnen etwas, und zwar auf eine nur ihnen vorbehaltene Weise. Wahrnehmen14 und Denken zeigen uns je im einzelnen Fall, in welcher Lage wir uns befinden, mit wem wir es zu tun haben, was geschehen ist oder geschieht oder geschehen wird. Die Regungen aber eröffnen, was das alles für uns bedeutet. Sich fürchtend, Mitleid empfindend, sich freuend bezieht der Mensch je jenes vom Wahrnehmen oder Denken schon Gezeigte auf sich, auf sich als einzelnen und auf sich im Miteinandersein mit anderen. Die Regungen eröffnen ihm, daß er betroffen ist, daß ihn die Lage, die Personen, das Geschehen etwas angehen. Ein noch so geschärftes Wahrnehmungsvermögen und ein noch so analytischer Verstand vermögen das nicht. Die Regungen sind auf eine eigentümliche Weise eröffnend. Das erlaubt es, sie in den vernünftigen Seelenteil zu versetzen, wenn nur festgehalten wird, daß sie — als hinhörend auf die Vernunft — von dem Seelenteil, der die Vernunft im eigentlichen Sinn und in sich selbst hat, eindeutig unterschieden sind. Tatsächlich hat nun aber Aristoteles die Regungen zumeist stillschweigend im vernunftlosen Seelenteil untergebracht. Das zeigt nidit zuletzt der Umstand, daß der vernünftige Seelenteil im VI. Buch eingeteilt wird ohne Rücksichtnahme auf die Einteilung, die in I 13 schon erfolgte. Aristoteles nimmt also im allgemeinen das Strebevermögen und die Regungen im vernunftlosen Seelenteil zusammen, wiewohl er nicht übersieht, daß sie verschiedene ,Tätigkeiten* der Seele sind. Für sein Vorgehen mag er eine Reihe von Gründen gehabt haben: Regungen und Strebevermögen wirken eng zusammen (vgl. 14
im weitesten Sinn — auf eine Erörterung der von der unmittelbaren Präsenz des Gegenstandes unabhängigen Vorstellung ( ) kann hier verzichtet werden (Aristoteles hat sie in der Schrift Über die Seele behandelt) —
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S. 300); beiden ist eigent mlich, da sie auf den erw genden Seelenteil zu h ren verm gen; ihrer beider Hinh ren auf den erw genden Seelenteil ist zur ethischen Trefflichkeit erfordert, die ja die zwei Seiten hat des Treffens der Mitte im Empfinden der Regungen und des Treffens der Mitte im Handeln. Hinzukommt, da es im Bereich des Strebeverm gens und der Regungen die doppelgesichtigen Ph nomene der Begierde (επιθυμία) und des zornigen Drangs (θυμός) gibt. Zweifellos sind sie Strebungen und geh ren ins Strebeverm gen15. Die Begierde ist das Streben nach dem Lustvollen, und zwar schon in ihrer elementarsten Form, dem nat rlichen Begehren, einen Mangel aufzuheben (Hunger, Durst). Der zornige Drang ist das Streben anzugreifen. Er reagiert auf eine geschehene, sich vollziehende oder sich ank ndigende Mi handlung oder Schm hung, und zwar seiner Natur nach rasch, leidenschaftlich, ja hitzig16. Begierde und zorniger Drang erscheinen aber auch als Regungen17. Mit den Regungen haben sie gemein, da wir durch sie bewegt werden. Sie ergreifen uns, kommen ber uns her. Au erdem enthalten sie stets eine Empfindung der Unlust18. Nur dadurch aber er ffnen auch sie etwas. An sich selbst sind sie vernunftlose Regungen (αλόγα πάθη — III 3, llllbl). Es gilt, das Zusammenwirken der Seelenteile beim Handeln im Anschlu an die durchgef hrte Differenzierung genauer als bisher zu fassen. Dabei wird der Grundunterschied zu beachten sein, ob das Handeln ethische Trefflichkeit verwirklicht oder nicht. Wahrnehmen und Denken zeigen uns unsere Lage, die Menschen, mit denen wir es zu tun haben, was geschehen ist, gerade geschieht oder geschehen wird. Soweit es sich dabei um solches handelt, auf das Begierde oder zorniger Drang sich zu richten pflegen (sinnliche Lust Versprechendes einerseits, Mi handlung oder Schm hung andererseits), sind Begierde oder zorniger Drang auch schon erregt. Das Zuviel der Begierde oder des zornigen Drangs st t ohne R cksicht auf die erw gende Ver15
F r die Begierde wird das belegt durch die schon zitierte Stelle aus I 13, an der der betreffende Seelenteil eingef hrt wird als das Begehrungsverm gcn und berhaupt das Strebeverm gen (το δ' έπιθυμητικόν και όλως όρεκτικόν — 1102b30), f r Begierde und zornigen Drang durch III 3, Hlla29—31 im Zusammenhang mit 24 f. und 27 f. (Vgl. ferner ber die Seele II 2, 413b22—24; II 3, 414b2; III 9, 432b3—6; III 10, 433a25 f.) 19 Vgl. die Hauptstellen der NE: III 11, 1116b23 ff. und VII 7, 1149a24 ff. 17 Vgl. au er der im folgenden angef hrten Stelle noch: II 4, 1105b21; V 10, 1135b20 f. — Aristoteles gebraucht θυμός im Wechsel mit οργή (Zorn) und όργίζεσΦαι. 18 Vgl. III 14, 1119a4; III 11, 1117a5 f. und VII 7, 1149b20 f.
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nunft das Streben ins Handeln19. Ihr Zuwenig ist das Ausbleiben eines hinreichenden Ansto es zum Handeln. Das Treffen der Mitte zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig bedeutet: Das Streben dr ngt zum Handeln, h lt darin aber an sich; es wartet die Entscheidung der erw genden Vernunft ab und l t sich durch sie bestimmen, gem der berlegung zu handeln. Das Treffen der Mitte in diesem Sinn als Ansichhalten der Begierde oder des zornigen Drangs in ihrem Hindr ngen zur Handlung ist selbst schon ein Hinh ren auf Vernunft. Es l t die Vernunft das Ma des Strebens erblicken und bindet sich an dies Ma , auf diese Weise ein Zuviel nicht nur, sondern auch ein Zuwenig des Begehrens oder zornigen Dr ngens vermeidend. — Bestimmt die Entscheidung das Streben zum Handeln, so gilt: T r e f f l i c h e berlegung und Entscheidung, die Sache der Einsicht sind, lassen im H a n d e l n die Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig treffen. Wo das Streben nicht die Gestalten der Begierde oder des zornigen Drangs hat20, wirkt das von Wahrnehmung oder Denken Gezeigte nicht unmittelbar auf das Streben. Hier vermitteln die Regungen. Die jeweilige Regung er ffnet, was jenes Gezeigte f r das eigene Dasein bedeutet, sie macht betroffen. Dadurch erweckt sie das Streben. Ein Zuviel der Regung bestimmt das Streben unmittelbar zum Handeln. Ein Zuwenig der Regung gibt dem Streben keinen hinreichenden Ansto zum Handeln. Im Treffen der Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig der Regung mi t sich die Regung dem von der Vernunft erblickten Ma an, nachdem sie durch ihr abwartendes Ansichhalten der Vernunft das Erblicken des Ma es selbst erm glicht hat; sie setzt das Streben hinreichend in Bewegung, so aber, da das Streben an sich h lt, der erw genden Vernunft den Ansto zum berlegen gibt und die Entscheidung der Vernunft abwartet. Die vollzogene Entscheidung ist f r es verbindlich und l t es ins Handeln frei. Ist die Entscheidung trefflich, so trifft der Mensch handelnd die Mitte (es sei denn, er w rde an der Ausf hrung des berlegten gehindert). — Ein Mensch, dessen Seelenteile auf die beschriebene Weise im Sinne der Trefflichkeit zusammenwirken, „ist mit 19
ber den Unterschied von Z gellosigkeit (ακολασία) und Unbeherrschtheit (άκρασία), die hier im Vordergrund steht, siehe S. 307. Zwischen Unbeherrschtheit des zornigen Drangs und der Begierde differenziert Aristoteles VII 7, 1149a24—b3. 20 Ich kann Ando nicht folgen, der — vielleicht unter dem Eindruck platonischer Seelenlehre — auch f r die NE noch annimmt, das όρεκτικόν bestehe allein aus επιθυμία und θυμός; das ginge nur an, wenn man επιθυμία so weit fassen wollte, da alle Strebungen umgriffen sind, die nicht θυμός sind. — Ando bergeht brigens auch ganz die Funktion der Regungen.
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sich selbst eins und erstrebt mit der ganzen Seele dasselbe" (όμογνωμονεϊ έαυτφ, και των αυτών ορέγεται κατά πδσαν την ψυχήν— IX 4, 1166al3 f.)21.
Ethisdie Trefflichkeit vollzieht sich im Hinh ren auf den Seelenteil, der im eigentlichen Sinn und in sich selbst Vernunft hat, genauer: im Hinh ren auf die erw gende Vernunft. Diese Trefflichkeit ist also, wie sich schon lange zeigte, nicht ohne diesen vern nftigen Seelenteil. Dessen Trefflichkeit in bezug aufs Handeln ist die Einsicht. Ethische Trefflichkeit verwirklicht sich dank der Einsicht. Sie selbst ist aber die Trefflichkeit der Seelenteile, die als Strebeverm gen und als Sitz der Regungen zu unterscheiden sind, mag man diese Seelenteile nun in einem vernunftlosen Seelenteil zusammenfassen oder, wie es hier f r I 13 angenommen wurde, auf den vernunftlosen und den vern nftigen Seelenteil verteilen. Nun wurde in den Er rterungen zur ethischen Trefflichkeit wiederholt gesagt, sie sei die Haltung, die auf die Mitte in den Regungen a u s i s t und sie auch trifft und die auf die Mitte im Handeln a u s i s t . Zur ethischen Trefflichkeit geh rt — und zwar als erstes — das Aussein auf diese Trefflichkeit22. Worin gr ndet dieses Aussein? In welchem Seelenteil hat es seinen Ursprung? Im Strebeverm gen? Aber dieses ist ja, wenn es sich nicht gar der Vernunft widersetzt, dadurch bestimmt, da es auf die Vernunft hinh rt. Wollte man also das Aussein auf die ethische Trefflichkeit dem Strebeverm gen zuschreiben, so m te man es als ein Hinh ren auf die Vernunft verstehen. Ein solches Hinh ren auf die Vernunft setzt aber voraus, da die Vernunft gesprochen hat, vielleicht sogar im Sinne einer Entscheidung gesprochen hat. Die Untersuchung mu sich noch einmal der Einsicht zuwenden. Ist die Einsicht zureichend gedacht, wenn sie verstanden wird als berlegung und Entscheidung ber die Mittel und Wege, handelnd das Ziel, die Mitte, zu verwirklichen? Die Vorstellung, Aristoteles k nnte die Aufgabe der Einsicht hierauf beschr nkt haben, hat die Interpreten stets beunruhigt. Die Vernunft erscheint dann allzusehr in dienender Funktion, w hrend man doch wei , da sie f r (Platon und) Aristoteles gerade das Herrschende im Menschen ist. Wie verhalten sich Vernunft und Ursprung ethischer Trefflichkeit zueinander? Der Hinweis darauf, da Aristoteles doch die Entstehung der ethischen Trefflichkeit auf die Gew hnung zur ckf hrt, 21
ber den Bezug zu Platon siehe Dirlmeier zur Stelle. — Den Kontrast zum Befreundetsein mit sich selbst findet man IX 4, 1166b6—29. 22 Vgl. IV 11, 1125b33—35: Der Mensch, dem die Trefflichkeit der Milde zukommt, w i l l ruhig sein und sich nicht von der Regung treiben lassen (βούλεται γαρ ό πράος ατάραχος είναι και μη αγεσθαι υπό του πάθους); vgl. ferner V l, 1129a6—11.
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bliebe hinter der Frage zur ck, wiewohl andererseits klar ist, da dieser Gedanke aufzugreifen sein wird. Die Einsicht wurde gedacht als Trefflichkeit der erw genden Vernunft im jeweiligen berlegen und Entscheiden ber Mittel und Wege zur Verwirklichung trefflicher Ziele im Handeln. Sie vollbringt in der Entscheidung praktische Wahrheit als die Einheit ihrer wahren berlegung mit dem richtigen Streben. In den Vollz gen dieses berlegens und Entscheidens ist sie von ethischer Trefflichkeit (von der Besonnenheit im weitesten Sinne) abh ngig, insofern sie von ihr ,bewahrt* wird. Der Einsicht wird man auch das jeweilige Erblicken der Mitte bez glich der Regungen, der Begierde und des zornigen Drangs zuschreiben m ssen. Es wurde ferner gesagt, die einzelnen trefflichen Ziele seien jeweils f r das berlegen und Entscheiden von der betreffenden ethischen Trefflichkeit vorgegeben. Ebendies ist der Punkt, an dem es noch einmal einzusetzen gilt. Worin gr ndet es, da ein gerechter Mensch in der jeweiligen entsprechenden Situation darauf aus ist, sein Gerechtsein in gerechtem Handeln zu verwirklichen? Was ist der Grund daf r, da f r diesen Menschen in solcher Situation gerechtes Handeln und nichts sonst das Gute, das Zu-w hlende ist? Ist hier die Einsicht beteiligt? — Als Ziel der Einsicht wurde schon das gute Handeln (εύπραξία) genannt. Auch wurde gesagt, die Einsicht vollziehe ihr berlegen und Entscheiden im Umkreis dessen, was f r den Menschen gut und schlecht ist, und sie blicke nicht nur auf einzelne treffliche Ziele, sondern ihr Ziel sei zugleich das gute Leben im ganzen. Finden diese Bestimmungen ihre volle Erf llung, solange die Einsicht nur verstanden wird als die Trefflichkeit, die ber Mittel und Wege zur Erreichung anderw rts vorgegebener Ziele berlegungen anstellt und entscheidet? Aristoteles stellt im I. Buch zweimal eine Beziehung her zwischen seinen Ausf hrungen ber das Gl ck und der gel ufigen Auffassung, Gl ck sei gutes Leben und gutes Handeln (I 2, 1095al8—20 — siehe auch Dirlmeier zur Stelle; I 8, 1098b20—22). Wenn er im VI. Buch das gute Handeln (εύπραξία) als Ziel der Einsicht nennt und den Einsichtigen bestimmt als einen Menschen, der trefflich mit sich zu Rate zu gehen wei bez glich dessen, was f r ihn selbst gut und gedeihlich ist23, und zwar in bezug auf das gute Leben (ευ ζην), dann darf man annehmen, da auch an diesen Stellen vom Gl ck die Rede ist. Ziel der Einsicht 23
δοκεϊ δη φρονίμου είναι το δύνασθαι καλώς βουλεύσασθαι περί τα αύτφ αγαθά και συμφέροντα — Kap. 5, 1140a25—27.
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wäre also das Glück24. Nun scheint sich hier die Struktur wiederfinden zu lassen, die bisher die Behandlung der Einsicht beherrschte: Das Ziel ist vorgegeben; die Einsicht überlegt und entscheidet über die Mittel und Wege zum Ziel. Das Ziel — das Glück — ist in der Tat vorgegeben. Alle Menschen streben nach dem Glück, das machte das I. Buch schon klar. So, wie beim Arzt mit seinem Arztsein das Ziel zu heilen gegeben ist (vgl. S. 287), so ist bei jedem einzelnen Menschen damit, daß er Mensch ist, auch schon das Glück als sein Ziel gegeben. Die Einsicht hätte also bezüglich der Mittel und Wege zu diesem gegebenen Ziel zu überlegen und zu entscheiden. Das findet seinen guten Sinn darin, daß es (beim einsichtigen Menschen25) tatsächlich Sache der Einsicht sein dürfte, zu überlegen und darüber zu entscheiden, auf welchen Wegen d i e äußeren Güter zu erlangen sind, die für das Glück unentbehrlich sind und die in die Macht des Menschen gegeben sind (oder soweit sie in die Macht des Menschen gegeben sind)28. Indessen liegt der Schwerpunkt des Glücks gerade nicht in solchen äußeren Gütern. Und es wäre schwer verständlich, daß die Einsicht — wenn nun doch das Glück ihr Ziel ist — nicht mehr zur Erreichung dieses Ziels zu vollbringen hätte als eben das Überlegen und Entscheiden über die Mittel, gewisse zum Glück erforderte äußere Güter zu erlangen. Wesentlicher als die äußeren Güter gehört zum Glück das gute Handeln, und zwar das gute Handeln im Sinne ethischer Trefflichkeit. Daß und wie die Einsicht über Mittel und Wege zum guten Handeln in diesem Sinn überlegt und entscheidet, ist eindeutig. Aber macht hier nicht etwas anderes den Anfang, nämlich ein — wie immer geartetes — Nachdenken und Entscheiden' darüber, was das Glück überhaupt ist? Muß nicht — angesichts der vielfältigen, nicht nur gedachten, sondern eben gerade auch gelebten Auslegungen des Glücks — das Wissen am Anfang stehen27, daß das Glück wesentlich gutes Handeln ( ) im Sinne der von Aristoteles analysierten Trefflichkeit ist, und nicht nur das Wissen, sondern auch eine Entscheidung, die dieses Wissen 24
In diesem Sinn darf man auch 1141B12—14 verstehen. Gewandtheit und Gerissenheit (vgl. S. 320 f.) können an dieser Stelle außer Betracht bleiben. 29 Daß Anaxagoras, Thaies und andere ihnen verwandte Philosophen in diesen Dingen als wenig engagiert erscheinen, macht sie zumindest in den Augen der Vielen zu Leuten, denen Weisheit zwar zukommt, Einsicht aber nicht — siehe VI 7, 1141b3—8. (Auf die bekannte Anekdote über Thaies in Platons Theaitet 174a4—8 hat schon Dirlmeier — zur Stelle — hingewiesen.) Vgl. auch VI 7, 1141a25—28. 27 In welchem Sinne hier von Anfang gesprochen werden könnte, wäre noch zu klären. 25
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f r das Leben, das Handeln, das Streben bestimmend macht, und zwar mit anhaltendem Erfolg? (Denn da ein Wissen ber diesen Gegenstand nicht als solches schon das Handeln bestimmt, wendet Aristoteles gerade gegen Sokrates ein.) Das Gewu te dieses Wissens w re nichts anderes als das, was Aristoteles zum Inhalt seiner Ethik gemacht hat. Dies Wissen, auf seine h chstm gliche Stufe gehoben, w re die philosophische' Explikation des Guten, des Gl cks. Da die philosophische' Explikation des Guten nur den einen Zweck haben kann, uns zu trefflicheren (und gl cklichen) Menschen zu machen, und da sie um der Theorie willen betrieben sinnlos w re, hat Aristoteles deutlich genug gesagt (II 2, 1103b26—29; ferner I l, 1195a5 f. und 1094a22—24). H tte die Einsicht solchem Wissen (welchen Grad der Deutlichkeit es auch erreichen mag) durch ihr Entscheiden den bestimmenden Einflu auf das Leben und Handeln zu geben? Verm chte sie selbst dies Wissen, oder st t Aristoteles' Ansatz hier an eine Grenze? Jedenfalls scheint es im Horizont dieser Fragen unausweichlich, den Text daraufhin zu befragen, ob der Einsicht von Aristoteles auch eine Entscheidung bez glich der trefflichen Ziele selbst, und nicht nur ber die Wege ihrer jeweiligen Verwirklichung zugesprochen wird. Das ist der Fall. Aristoteles bestimmt innerhalb der Er rterung ber die Einsicht den Einsichtigen als den Wohlberatenen (εΰβουλος — VI 7, 1141bl3). Der Einsichtige vollbringt das gute berlegen, das gute Mit-sich-zu-Rategehen (το ευ βουλεύεσθαι — VI 7, 1141blO). Im 10. Kapitel des VI. Buches thematisiert Aristoteles dann die Wohlberatenheit (ευβουλία). Was ist sie? Ist sie identisch mit der Einsicht (φρόνησις), und wenn nicht, worin unterscheidet sie sich von ihr? Fehlte der Schlu satz des Kapitels, so w re ein Unterschied zwischen Wohlberatenheit und Einsicht h chstens darin zu vermuten, da die Wohlberatenheit die Entscheidung der Einsicht berl t und da mit ihr mehr der Vollzug des berlegens als dessen Abschlu vor Augen gestellt wird. Die bis zum Schlu satz des Kapitels aufgef hrten Charakteristika der Wohlberatenheit passen im brigen alle auch f r die Einsicht: Sie ist eine berlegung (βουλή τις — 1142bl), und „der berlegende sucht und erw gt" (ό δε βουλευόμενος ζητεί και λογίζεται — 1142bl f.); sie braucht Zeit; sie ist eine Richtigkeit (όρϋότης τις — 1142b8 f.), gerichtet auf ein Gutes und richtig berlegend; sie ist sowohl Wohlberatenheit schlechthin, n mlich auf d a s menschliche Ziel schlechthin (das Gl ck) gerichtet, als auch Wohlberatenheit in bezug auf einzelne Ziele. Dann schlie lich aber kommt die Abhebung: Die Wohlberatenheit ist „die Richtigkeit in bezug auf das, was n tzlich ist
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zur Erreichung eines Zieles, dessen wahre Erfassung28 die Einsicht ist" (όρΰότης ή κατά το συμφέρον προς τι τέλος, ου ή φρόνησις αληθής ύπόληψίς εστίν — 1142b32 f.29). Dem Einsichtigen eignet beides, die so verstandene Wohlberatenheit u n d Einsicht im Sinne der wahren Erfassung der Ziele, zu welchen Zielen, wie das voraufgegangene klarmacht, eben gerade auch das Gl ck geh rt. Nimmt man das mit den fr heren Ausf hrungen ber die Einsicht zusammen, so ist festzustellen: Das berlegen der Mittel und Wege zur Erreichung trefflicher Ziele im Handeln erscheint jetzt als e i n Vollzug der Einsicht und bedeutet Wohlberatenheit. Daneben tritt ein anderer Vollzug der Einsicht, das wahre Erfassen des Gl cks und der trefflichen Ziele selbst. Ist d i e s e r Vollzug der Einsicht sichergestellt, so ist zu fragen, ob nicht auch zu diesem wahren Erfassen ein Entscheiden geh rt, wodurch allein der Mensch im vollen und eigentlichen Sinn Urheber seiner Trefflichkeit w re. Das wahre Erfassen trefflicher Ziele menschlichen Handelns er rtert Aristoteles schon im III. Buch (Kap. 6). Dort hat er eben zuvor die Darlegung ber die Entscheidung als die eigentlich menschliche Gestalt freiwilligen Handelns in das Ergebnis zusammengefa t, die Entscheidung sei das berlegte Streben nach dem, was in unserer Macht ist. berlegung und Entscheidung sind hier ganz auf Mittel und Wege zur Verwirklichung der Ziele bezogen. Die Ziele selbst aber sind Sache des W nschens (βούλησις). Hier setzt das 6. Kapitel ein. Es fragt nach dem Gutsein der Ziele. Was jemand als Ziel w nscht, und das hei t hier: was jemand als Ziel w hlt30, das mu ihm jedenfalls als gut erscheinen. Aber 28
Aristoteles verwendete ύπόληψίς wenig fr her (VI 6, 1140b31 f.) zur Bestimmung der Wissenschaft (επιστήμη). Das sei angemerkt, um anzuzeigen, da durch den Gebrauch dieses Wortes in VI 10 ber den Wissenscharakter der von der Einsicht vollzogenen Erfassung nichts, vor allem nichts Abwertendes, gesagt ist. 29 Kuhn — der die These vertritt, die Prohairesis und mit ihr die φρόνησις h tten bei Aristoteles ausschlie lich mit Mitteln und Wegen zur Verwirklichung schon gegebener Ziele zu tun, und der damit im alten Streit um die Funktionen der φρόνησις (vgl. den Forschungsbericht bei Allan2) eine eindeutige Stellung bezieht — hat diese Stelle unber cksichtigt gelassen. Er m te (wie fr her Walter und Burnet, vgl. Allan2 S. 282 — und wie Greenwood und Rackham) das ου auf το συμφέρον beziehen, eine Operation, die nicht zugunsten von Aristoteles ausf llt. Wenn Aristoteles wirklich h tte sagen wollen, da ευβουλία = όρθότης und φρόνησις = αληθής ΰπόληψις dasselbe seien, so h tte er es sicher anders ausgedr ckt. — Auch Green-wood, der dieser Identit t zu entgehen versucht, indem er einen Unterschied zwischen όρθότης und αληθής ΰπόληψις zu entdecken glaubt, mu zugeben: „it is plain that very little help can be got from the wording of this sentence towards understanding the difference between ευβουλία and φρόνησις" (S. 65; siehe den Fortgang bis S. 67). 30 Vgl. Dirlmeier S. 332 zu 53,1.
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mu es deshalb auch g u t s e i n ? Aristoteles stellt zwei Auffassungen gegeneinander, von denen er keine teilen kann. Die eine Auffassung erblickt in jedem Gew nschten ein Gutes; nur Gutes wird gew nscht; da etwas gew nscht wird, steht schon daf r ein, da es gut ist. Diese Auffassung m te sich angesichts der schlichten Erfahrung, da mancher sich schon etwas gew nscht hat, dessen Verwirklichung f r ihn zum bel wurde, zu der paradoxen Behauptung versteigen, er habe es nicht gew nscht, wiewohl er doch gew hlt hat, nur eben falsch gew hlt hat. Die entgegengesetzte Auffassung l t gar kein Gutes zu, sondern nur solches, das als gut erscheint. Hier ist das Gute durch und durch relativ auf den einzelnen W nschenden und sein jeweiliges W nschen. Es gibt nichts, das seiner eigenen Natur wegen zu w nschen w re (μη είναι φύσει βουλητόν — 1113a20f.). Der einzelne mit seinem jeweiligen W nschen wird zum Ma des Guten. Das bedeutet die Aufl sung jeglicher Verbindlichkeit, die Beseitigung ethischer Trefflichkeit und damit zugleich des Gl cks31. Aristoteles l t beide Auffassungen hinter sich zur ck mit folgendem Gedanken: Es gibt das Gute. Im Blick auf dieses ist zu sagen, da es das Zu-w nsdiende ist. Nimmt man jedoch die Hinsicht auf die einzelnen Menschen und ihr W nschen, dann w nscht jeder das, was ihm als gut erscheint. Aber, und das ist das Entscheidende, den einen erscheint das wahrhaft Gute als gut, den anderen erscheint anderes als gut. Die Ursache daf r aber, da jemandem entweder das wahrhaft Gute oder etwas anderes, etwa eine Abart sinnlicher Lust, als gut erscheint, liegt in ihm selbst32. Sie liegt in der Verfassung seiner Seele. Ist die Verfassung seiner Seele die Trefflichkeit, dann erscheint ihm das wahrhaft Gute als gut. Er w nscht (und das hei t er w hlt) Ziele, die in Wahrheit gut sind. Insofern ist er selbst Richtschnur und Ma (κανών και μέτρον — 1113a33). Er „beurteilt jegliches richtig, und in jedem einzelnen Fall erscheint ihm das Wahre" (έκαστα κρίνει ορθώς, και εν έκάστοις τάληΰές αύτψ φαίνεται — 1113a30 f.). Auf die gedankliche Ebene des VI. Buches bertragen, hei t das: Der treffliche Mensch vollzieht Einsicht als wahres Erfassen der trefflichen Ziele und w nscht (w hlt) diese Ziele, wozu ihn gerade seine Trefflichkeit f hig macht. (Ob in diesem Gedanken ein fehlerhafter Zirkel liegt, wird zu fragen sein.) Das III. Buch kennt, wie gezeigt, ein wahres Erfassen der Ziele und ein W nschen der Ziele im Sinne des W hlens. Es beschr nkt die Ent31
Vgl. zur Auseinandersetzung mit dieser Position im Horizont platonischer Protagoras-Knuk Fleischer* S. 171 ff., bes. S. 173 ff. 32 Vgl. X2, 1173b20—25.
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sdieidung (προαίρεσις) aber ausdr cklich auf die Mittel und Wege zum jeweiligen Ziel. Hier wurde, von der gedanklichen Ebene des VI. Buches ausgehend, gefragt, ob die Einsicht nicht auch ber die Ziele e n t s c h e i d e t . Diese Frage l t sich bejahend beantworten auf dem indirekten Weg ber einige Stellen aus dem VII. Buch. Der Gegensatz zur Trefflichkeit ist die Schlechtigkeit (κακία). Von dieser zu unterscheiden ist die Unbeherrschtheit (άκρασία). Sie und ihr Gegenteil, die Beherrschtheit (εγκράτεια), fallen nicht unter das Gegensatzpaar Schlechtigkeit-Trefflichkeit (1145al6—18; vgl. auch 1150b35f.). Jedoch korrespondiert der Unbeherrschtheit33 die Z gellosigkeit als Schlechtigkeit, und der Beherrschtheit korrespondiert die Besonnenheit als Trefflichkeit. Diese Korrespondenz r hrt davon her, da sie alle ein Verhalten zu denselben Gegenst nden sind, n mlich den Gegenst nden der Begierde im engeren Sinn. Was konstituiert aber den Unterschied zwischen Unbeherrschtheit und Z gellosigkeit34? Was ist der Grund daf r, da der Z gellose schlecht zu nennen ist, w hrend der Unbeherrschte diese Bezeichnung nicht verdient? Der Z gellose hat eine E n t s c h e i d u n g vollzogen. Er hat sich in einer Entscheidung das schrankenlose Verfolgen der sinnlichen Lust zum Ziel gesetzt. Er hat dar ber entschieden, da f r ihn sinnliche Lust um jeden Preis das Gute ist. Und bei dieser Entscheidung bleibt er. Aufgrund dieser Entscheidung ist Schlechtigkeit seine dauernde Verfassung, seine Haltung (έξις). Der Unbeherrschte dagegen hat eine solche Entscheidung nicht vollzogen. Er m chte durchaus in Begierde, Lust und Unlust die Mitte treffen, aber seine Begierden sind im einzelnen Fall starker als dies Verlangen. Er wei zwar, was zu tun gut w re, handelt aber nicht danach. Deshalb kann man ihn keinesfalls einen Einsichtigen (φρόνιμος) nennen, denn der Einsichtige setzt sein Wissen des Guten in entsprechende Handlungen um. Im Gegensatz zum Z gellosen aber ist er f hig, sein Handeln zu bedauern; er hat sich ja nicht f r das Schlechte als Ziel entschieden. Er kann daher gebessert werden35. 33
im engeren und eigentlichen Sinn — siehe 1146bl8—20, 1147b20— 1148al5, 1149a21—24. 34 Der Unterschied von Beherrschtheit und Besonnenheit, von Aristoteles ausgesprochen 1152al—3, ist vom Text und von den Ph nomenen her f r das anstehende Problem weniger ergiebig und bleibt deshalb au er Betracht. «Textbelege zum vorigen: 1146b22—24; 1148al6f. ; 1150al9—22 u. 23—25; 1150b29—32; 1151a5—7; 1152a6—9 (vgl. auch 1146a4—9). Zur Erg nzung sind beizuziehen V 10, 1134al7—23 und 1135bl9—25.
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Wenn die Zügellosigkeit dadurch eine Schlechtigkeit ( ) ist, daß der Zügellose eine Entscheidung über sein Ziel getroffen hat, dann muß Entsprechendes auch für die Besonnenheit gelten. Besonnenheit müßte dadurch eine Trefflichkeit sein, daß der Besonnene über sein Ziel entschieden hat, und ebenso für die anderen Trefflichkeiten. Daß eine solche Entscheidung nicht möglich ist ohne ein wahres Erfassen des Ziels, ist klar. So wird man sagen dürfen: Der Besonnene hat als Einsichtiger ( ) und dank der Einsicht ( ) über sein Ziel entschieden. Dank des wahren Erfassens des Ziels und der Entscheidung für das Ziel durch die Einsicht ist der Besonnene je und je darauf aus, die Mitte zu treffen. Die ethische Trefflichkeit ist in eine Trefflichkeit des im eigentlichen Sinne vernünftigen Seelenteils, in die Einsicht, zurückgegründet. Hier stellen sich aber sofort zwei Probleme: Das wahre Erfassen der trefflichen Ziele setzt Trefflichkeit ja gerade schon voraus. Nur dem Trefflichen erscheint das wahrhaft Gute als gut, während andererseits die Entscheidung für dies Gute ihn trefflich macht. Es scheint ein fehlerhafter Zirkel in der Gedankenführung vorzuliegen. Und ferner: Eindeutig hatte Aristoteles im II. Buch die Entstehung der ethischen Trefflichkeit in der Gewöhnung erblickt, und das war so zu verstehen, daß jemand, der noch nicht gerecht oder besonnen ist, durch oft wiederholte gerechte bzw. besonnene Handlungen die Gerechtigkeit oder Besonnenheit als Haltung, als dauernde Verfassung, erwirbt. Diese Herkunft der ethischen Trefflichkeit aus dem Prozeß der Gewöhnung scheint ihrer Rückgründung in ein wahres Erfassen und demgemäßes Entscheiden der Einsicht zu widersprechen. Die Lösung beider Probleme fällt zusammen. Schon einmal war das Verhältnis von ethischer Trefflichkeit (Besonnenheit im weitesten Sinn) und Einsicht zu bedenken gewesen, und es zeigte sich ein wechselseitiges Sich-bedingen der beiden. Damals handelte es sich um die Einsicht, sofern sie Mittel und Wege zum Ziel überlegt und entsprechend entscheidet. Die Einsicht in diesem Vollzug muß von der Besonnenheit bewahrt werden. Nur wenn die ethische Trefflichkeit auf die Mitte in den Regungen aus ist und sie trifft und wenn sie das Streben auf die Mitte im Handeln aussein läßt, kann die Einsicht überlegen und entscheiden, kann sie ihr Werk, die praktische Wahrheit, vollbringen. Aber nur diese Einsicht verhilft der ethischen Trefflichkeit zu ihrer vollen Wirklichkeit im Handeln. J e t z t geht es um die Einsicht, die die trefflichen Ziele erfaßt und für den Menschen bestimmend macht. Läßt sich auch von ihr sagen, daß sie von der ethischen Trefflichkeit abhängt und diese doch andererseits erst zu ihrer vollen
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Wirklichkeit bringt? Das läßt sich sagen gerade unter Heranziehung des Gedankens, daß ethische Trefflichkeit aus Gewöhnung entsteht. Es muß nur gesehen werden, daß die ethische Trefflichkeit, solange sie bloßes Produkt der Gewöhnung ist, noch nicht ihre höchste Stufe erreicht hat. Es bleibt dabei, daß ethische Trefflichkeit auf die durch Aristoteles beschriebene Weise durch Gewöhnung entsteht. Die Gewöhnung bringt ethische Trefflichkeit als Haltung hervor. Aber diese Haltung behält gewissermaßen etwas Naturhaftes (weshalb sie auch jederzeit auf dieselbe Weise wieder vergehen kann, wie sie entstand36), wenn ihre Ziele nicht durch die Einsicht in eine Entscheidung übernommen werden. Erst indem die Einsicht die Ziele der ethischen Trefflichkeit durch die Entscheidung für sie eigens als treffliche Ziele ergreift, gelangt die ethische Trefflichkeit auf ihre höchste Stufe und gewinnt sie zugleich als Haltung ihre eigene Festigkeit37. Die Einsicht wäre aber zu solcher Entscheidung und zu dem dieser zugehörigen wahren Erfassen der Ziele gar nicht fähig, wenn ethische Trefflichkeit nicht schon durch Gewöhnung entstanden wäre. (Deshalb auch sind Vorlesungen über die Gegenstände, die Aristoteles in der NE behandelt, für junge Leute, die noch ganz unter dem Einfluß der Regungen leben, ohne Nutzen — siehe I l, 1095a4—11.) So bedingen ethische Trefflichkeit und Einsicht auch in bezug auf die Ziele einander wechselseitig38. Anfang im Sinne der Entstehung ist die Gewöhnung an treffliches Handeln. Ohne sie käme die Vernunft nicht zur Trefflichkeit der Einsicht. Hat aber die Einsicht das wahre Erfassen der trefflichen Ziele und die Entscheidung für sie vollzogen, dann hat sie sich damit zum Anfang im Sinne des bestimmenden Grundes gemacht89. Vernunft ist der bestimmende Grund der ethischen Trefflichkeit geworden. Im Aussein auf die Mitte ist sie wirksam. Dieses 86
An diesem im II. Buch betonten Gedanken ist festzuhalten auch angesichts des VII 11, 1152a29—33 Gesagten, das im übrigen das Naturhafte der aus Gewöhnung entstandenen Haltung bestätigt. 37 Vielleicht darf man die früher (S. 277) erwähnte Stelle, die ethischen Trefflichkeiten seien eine Art von Entscheidungen oder seien jedenfalls nicht ohne Entscheidung, in diesem Sinne verstehen. 38 Wer das in VI 5 über das Verhältnis von Besonnenheit und Einsicht Gesagte noch einmal beizieht, wird feststellen, daß es gerade auch mit Bezug auf die Ziele gesagt ist. — Zur Abhängigkeit der Einsicht von ethischer Trefflichkeit vgl. noch VI 13, 1144a29—bl. 39 Ebendies erscheint in Buch VII, Kap. 15 der Politik als Ziel der Erziehung, und der Aufbau ihrer Phasen, der dort gefordert wird, entspricht dem hier vorgetragenen Verhältnis von Gewöhnung und Einsicht (1334b8—29). — Siehe auch Politik I 13, 1260a31—33.
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ist das Hinhören auf die Vernunft, die über die Ziele entschieden hat. Wie sich der Fortgang des VI. Buches zu diesem Ergebnis verhält, wird zu erörtern sein. Zuvor sind aber noch Ergänzungen zu machen. Aristoteles läßt keinen Zweifel darüber, daß die Trefflichkeit der Einsicht selten ist. Viele Menschen haben sie nicht. Sind sie damit von ethischer Trefflichkeit abgeschnitten? Oder gibt es eine ethische Trefflichkeit von niedrigerem Rang, eine durchschnittliche ethische Trefflichkeit, die sehr wohl auch etwas Gutes wäre und Glück gewährte? Und wenn es sie gäbe, ließe sich bei ihr etwas Analoges zu dem eben erörterten Verhältnis von Gewöhnung und Entscheidung finden? Es wurde schon einmal darauf hingewiesen, daß man bei dem Vorgang der Gewöhnung, dem die ethische Trefflichkeit als Haltung zu verdanken ist, an ein Hinhören des Handelnden auf eine andere Vernunft als die eigene zu denken hat. Das gilt bezüglich der Mittel und Wege zur Verwirklichung der Ziele gleichermaßen wie bezüglich der Ziele selbst. Bei Menschen nun, die die Trefflichkeit der Einsicht nicht erlangen, bleibt ethische Trefflichkeit ein Hinhören auf die Einsicht anderer40. Das kann zunächst und im Umkreis des eben Ausgeführten besagen: Bei Menschen, deren ethische Trefflichkeit auf der Stufe, bloßes Resultat der Gewöhnung zu sein, stehenbleibt, ist das Aussein auf die Mitte die fortbestehende Bindung an die Vernunft derjenigen, unter deren bestimmendem Einfluß sich die Gewöhnung vollzog, mögen diese anderen auch ihren Einfluß unmittelbar gar nicht mehr geltend machen. Ethische Trefflichkeit als Hinhören auf die Einsicht anderer bedeutet aber auch und vor allem noch etwas anderes: das Hinhören auf die Einsicht der Gesetzgeber. Der Gesetzgeber hat — wenn er ein guter Gegesetzgeber ist — als ein Einsichtiger für solches Hinhören das wahre Erfassen der Ziele und das Entscheiden darüber, daß diese Ziele zu verfolgen sind, übernommen und in den Gesetzen ausgesprochen41. Die Gesetze sagen, was zu tun gut ist, und haben bindende Kraft; ihre Übertretung, die der Ausnahmefall sein muß, wird geahndet. So, wie beim einzelnen Individuum von Einsicht nur gesprochen werden kann, wenn das erfaßte oder überlegte Gute über die Entscheidung das Streben wirklich bestimmt, so kann von guter gesetzlicher Ordnung ( ) nicht gesprochen werden, wenn gute Gesetze zwar da sind, aber nicht befolgt werden (Politik 40
In diesem Zusammenhang lese man das Hesiod-Z'itzt I 2, 1095blO—13 und seinen Kontext. 41 Zur Gesetzgebung als Vollzug der Einsicht vgl. hier S. 313 sowie X 10, H80a.l4—22, diese Stelle auch zum folgenden.
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IV 8, 1294a2 f.). Die Gesetze beziehen sich auf die gesamte Lebensführung ( — 10, 1180a4; siehe auch V 3, 1129bl4 f. u. 19—24 sowie V 5, 1130b22—24). Aristoteles geht so weit zu sagen, daß die Gesetze das, was sie nicht gebieten, ebendadurch verbieten (siehe V 15, 1138a5—7). Das Erfassen und Entscheiden, das die Einsicht des Gesetzgebers vollzieht, betrifft die Ziele sowohl als auch die Mittel und Wege zu ihrer Verwirklichung, letzteres indem die Gesetze so konkret wie möglich werden. Da alles Handeln sich in Einzelfällen vollzieht, reicht jedoch auch die konkreteste Gesetzgebung nicht bis ans Handeln heran. Auch das konkreteste Gesetz bleibt noch ein Allgemeines42. Es muß dem Bürger überlassen, was er im jeweiligen Einzelfall zu tun hat, um dem Gesetz gemäß zu handeln. Insofern bleibt auch hier für den Handelnden ein erheblicher Rest von Überlegung und Entscheidung, nämlich bezüglich der Erfüllung des Gesetzes in der jeweiligen besonderen Situation43. Der Gesetzgeber kann nur bis zu einem bestimmten Grad der Konkretion seine Einsicht für diejenigen sprechen lassen, denen die Trefflichkeit der Einsicht nicht zukommt. Darin liegt für Aristoteles ein nicht aufzuhebender Mangel. Ohne Zweifel ist auch das Handeln gemäß den Gesetzen ethische Trefflichkeit (es sei denn, Furcht vor Strafe oder das Verlangen nach Belohnung sei sein bestimmendes Motiv)44. Es verlangt das Aussein auf die Mitte in den Regungen45 und im Streben, es verlangt das Hinhören aufs Gesetz in jedem einzelnen Fall. Auch hier gilt: Die (dank einer durch Gesetzgebung geregelten Erziehung48) aus Gewöhnung 47 entstehende Haltung der ethischen Trefflichkeit findet ihre volle Verwirklichung in einem Handeln, das sich von den Gesetzen sagen läßt, was zu tun ist, um die Mitte zu treffen zwischen dem Zuviel und dem Zuwenig, wobei freilich die Mitte zufolge der Allgemeinheit des Gesetzes unscharf bestimmt bleibt. Zu fragen ist nun, ob auch für d i e s e ethische Treff42
Vgl. V 10, 1135a5—8 u. V 14, 1137bl3—19. Vgl. V 13, 1137a9—17; allerdings könnten hier auch Rechtspflege und politische Praxis im Blick stehen. 44 Das bezeugt eindringlich V 3, 1129b24—1130al3; dazu 1129bll f. über die hier vorliegende Bedeutung von Gerechtigkeit. 43 hier vor allem das Ansichhalten gegenüber dem Zuviel; ein Zuwenig kann durch das Gesetz ausgeglichen werden, indem es bestimmte Handlungen zu tun befiehlt, etwa dem Mitbürger in einer bestimmten Situation auf eine bestimmte Weise zu helfen — 46 Vgl. X 10, 1179b31—35. 43
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Vgl. Politik II 8, 1269a20—22 und V 9, 1310al4—17.
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lichkeit eine höhere Stufe anzunehmen ist als die, die sie als bloßes Resultat der Gewöhnung hat. Hier läßt sich in der Tat eine Entsprechung herstellen zu der ethischen Trefflichkeit, die sich vollendet dadurch, daß die Einsicht des einzelnen Individuums selbst durch ihr wahres Erfassen der trefflichen Ziele und ihr Sich-entscheiden für diese Ziele in ihr wirksam wird. Hier wie dort bleibt die ethische Trefflichkeit als bloßes Ergebnis der Gewöhnung etwas gewissermaßen Naturhaftes, hat die Haltung noch nicht ihre eigentliche Festigkeit gewonnen. Der Entscheidung der Einsicht für die trefflichen Ziele entspricht eine bewußte Anerkennung der Gesetze. Diese nimmt ausdrücklich das in den Gesetzen Gesagte als Gutes an und ,entscheidet* sich für dieses Gute. Sie ist in der ethischen Trefflichkeit wirksam. Sie begründet ein freies, vernünftiges Verhältnis zu den Gesetzen. Insofern macht sich auch hier die Vernunft des einzelnen Individuums zum bestimmenden Grund der ethischen Trefflichkeit. Allerdings scheint für Aristoteles im Vordergrund zu stehen, daß für die Vielen die Gesetze ein mehr oder minder stark empfundener Zwang bleiben (vgl. X 10, 1180a4—5 im Zusammenhang mit 1179b35/80al, jedoch auch 1180a23 f.). Menschen, denen selbst die Trefflichkeit der Einsicht nicht zukommt, können, indem sie als Bürger die Gesetze ihres Staates befolgen, sehr wohl ethische Trefflichkeit verwirklichen, und zwar, wie gezeigt, auf einer niedrigeren oder auf einer höheren Stufe. Da sie dabei aber abhängig von den bestehenden Gesetzen sind, ist ihre ethische Trefflichkeit relativ auf diese Gesetze. Je besser die Gesetze sind, um so trefflicher ist — absolut gesehen — der Bürger, der ihnen gemäß handelt. Nur unter einer vollkommenen Gesetzgebung vollzieht der treffliche Bürger die gleichen Handlungen wie derjenige, der seiner eigenen Einsicht folgt. Unter einer schlechteren Gesetzgebung sind seine Handlungen schlechter, und das, obwohl er es von sich aus an ethischer Trefflichkeit nicht fehlen läßt. Die Abhängigkeit von der Einsicht eines anderen, eben des Gesetzgebers, hat diese Relativität ethischer Trefflichkeit zur Folge48. Für sie ist der Bürger, der selbst kein Einsichtiger ist, nicht verantwortlich zu machen, und doch entscheidet sie über das Maß des Glücks, das ihm erreichbar ist. Die kurze Betrachtung über die ethische Trefflichkeit des die Gesetze achtenden Bürgers hat eine andere Seite der Einsicht ins Licht gerückt. Während zuvor die Einsicht des Individuums im Blick stand, das 48
Zum vorigen siehe Politik III 4, 1276bl6—35.
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ber sein eigenes Leben und sein eigenes Handeln im Zusammenleben mit anderen entscheidet, hat sich jetzt die Einsicht gezeigt als diejenige Trefflichkeit der Vernunft, die anderen Menschen zur Verwirklichung ethischer Trefflichkeit und zum Gl ck verhilft. Diese Einsicht vollzieht der Mensch als Gesetzgeber und im weiteren Sinne als Staatsmann. Anders gewendet: Der Gesetzgeber, der Staatsmann bestimmt nicht nur sein eigenes Leben als Einsichtiger, er l t seine Einsicht auch anderen zugute kommen, indem er sie regiert. ber ihn sagt die Politik mehr als die NE*9. Jedoch r ckt Aristoteles in der zentralen Er rterung der Einsicht im VI. Buch der NE die Staatskunst (πολιτική) ins Blickfeld (Kap. 8). Die Einsicht, die der einzelne f r sich vollzieht, gilt in erster Linie als Einsicht, d. h. ihr pflegt man diesen Namen vorzubehalten. Diese Einsicht und die Staatskunst sind aber dieselbe Haltung (ή αυτή μεν έξις — 1141b23 f.), wiewohl sie sich in ihrem Sein unterscheiden. Der Staatskunst geht es eben um den Staat. Die Staatskunst gliedert sich in mehrere Teile. Von besonderem Rang, weil Grund gebend, ist die Gesetzgebung. Daneben tritt als zweiter Teil die Staatskunst, die es je mit einzelnem zu tun hat. Sie berlegt und handelt. Sie gliedert sich in beratende Staatskunst (βουλευτική) und Rechtspflege (δικαστική). Alle Teile der Staatskunst (sowie die von Aristoteles erw hnte, hier weniger interessierende Verwaltung des Hauswesens — οικονομία) sind Vollz ge der Einsicht, sofern diese sich in den Dienst eines menschlichen Gemeinwesens stellt. Fr her Ausgef hrtes ist jetzt noch einmal aufzugreifen und weiter zu bedenken. Ein wesentlicher Vollzug der Einsicht ist das wahre Erfassen der trefflichen Ziele menschlichen Handelns und das Sich-entscheiden f r diese Ziele. Durch diesen Vollzug der Einsicht macht sich ein Mensch im vollen und eigentlichen Sinn zum Urheber seiner Trefflichkeit. Er gr ndet seine ethische Trefflichkeit auf seine eigene Vernunft. Analog dazu wurde f r Menschen, in denen die Trefflichkeit der Einsicht nicht ausgebildet ist, gesagt, sie k nnten ihr Verh ltnis zu den Gesetzen zu einem freien und vern nftigen machen durch den ausdr cklichen Vollzug der Anerkennung der Gesetze als des Guten. Durch einen solchen Vollzug der Anerkennung wird ein Mensch — bei aller Abh ngigkeit vom Gesetzgeber — doch auch zum Urheber seiner ethischen Trefflichkeit, freilich in einem modifizierten, sekund ren Sinn. 49
Vgl. vor allem Politik III 4, 1277al4 f. u. 1277b25—30; VII 2, 1325a7—10; VII 13, 1332a25—32; VII 14, 1333all f.
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Nun muß in beiden Fällen Gewöhnung an treffliches Handeln vorangegangen sein. Sich selbst zum Anfang seiner ethischen Trefflichkeit zu machen in dem Sinn, daß die eigene Vernunft ihr bestimmender Grund wird, das ist, zeitlich und auf die Entwicklung des einzelnen Menschen gesehen, das zweite. Anfang im zeitlichen Sinn ist die Gewöhnung, und die bedeutet Abhängigkeit von anderen, von den Erziehern im weitesten Sinn. Sind diese nicht selbst trefflich und vermögen sie nicht zu trefflichen Einzelhandlungen anzuleiten, ja diese durchzusetzen, dann, so scheint es, werden die von ihnen Abhängigen nicht zu ethischer Trefflichkeit gelangen. Kann dann aber die ethische Trefflichkeit des einzelnen ganz auf die Freiwilligkeit zurückgeführt werden? Die Untersuchung muß sich noch einmal dem III. Buch zuwenden. Aus diesem wurde zuletzt das 6. Kapitel thematisiert. Es handelt vom Erfassen und Wünschen (Wählen) der Ziele. Den einen erscheinen wahrhaft gute Ziele als gut, und sie wählen diese Ziele, den anderen erscheinen Ziele als gut, die in Wahrheit gar nicht gut sind, und auch sie wählen, was ihnen als gut erscheint. Was hier jemandem so oder so erscheint, das ist abhängig von der Verfassung seiner Seele. Es ist abhängig davon, ob er trefflich ist oder nicht. So zeigt sich der einzelne als Urheber seiner Ziele insofern, als in ihm selbst der Grund dafür liegt, ob ihm Gutes als gut erscheint oder anderes und ob er also gute oder schlechte Ziele wählt. Aus anderen Textabschnitten ist aber schon klargeworden, daß diese Urheberschaft, diese Freiwilligkeit als Grund der ethischen Trefflichkeit, eine Bedingung hat. Sie setzt ja ethische Trefflichkeit als durch Gewöhnung entstandene Haltung voraus. Und im Prozeß der Gewöhnung ist der Mensch gerade von anderen abhängig. Wie freiwillig ist also ethische Trefflichkeit? Mit dieser Frage setzt Aristoteles sich im Fortgang des III. Buches (Kap. 7) auseinander. Es scheint, daß er die uneingeschränkte Freiwilligkeit ethischer Trefflichkeit durchsetzen möchte, aber realistisch genug ist, doch eine Einschränkung einzuräumen50. Aristoteles argumentiert zunächst so: Das Ziel entstammt dem Wünschen. Die Mittel und Wege zum Ziel aber werden überlegt, und man entscheidet sich für sie. Die Handlungen, die es mit diesen Mitteln und Wegen zu tun haben, werden auf Grund der Entscheidung vollzogen und sind freiwillig. Durch solche Handlungen geschieht aber die Verwirklichung der Trefflichkeiten. Also: „Auch die Trefflichkeit ist in unse50
Das Kapitel leidet darunter, daß die Phänomene der Beherrschthcit und Unbeherrschtheit nicht im Sinne des VII. Buches aus dem Gegensatz Trefflichkeit — Schlechtigkeit ausgegliedert sind.
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rer Macht" (εφ' ήμϊν δε και ή αρετή — 1113b6). Entsprechendes gilt f r die Schlechtigkeit (κακία). Und so ist es in unserer Macht, gut oder schlecht zu sein. — Das Ergebnis l t keinen Zweifel ber die Absicht der Argumentation. Und doch ist klar, da sie zu kurz tr gt. Nat rlich v e r w i r k l i c h e n wir ethische Trefflichkeit oder ihr Gegenteil im Handeln, das hat sich schon lange gezeigt. Aber die eigentliche ,Entscheidung' f llt mit der Wahl des Ziels. Wer das Ziel gew hlt hat, will auch die Mittel und Wege zum Ziel und entscheidet sich f r sie mit dem Abschlu seiner berlegung. So bleibt bestehen: Nur wenn die Wahl der Ziele freiwillig ist, ist die Handlung im vollen Sinne freiwillig und entscheidet der Mensch frei ber seine Trefflichkeit oder Schlechtigkeit. Ein Mensch w hlt aber als Ziel, was ihm als gut erscheint, und solches Erscheinen ist bereits abh ngig von seiner Trefflichkeit oder Schlechtigkeit, die ihm als Haltung auf Grund von Gew hnung eignet. Nur z gernd ist Aristoteles bereit, diesem Sachverhalt Rechnung zu tragen. Zun chst bekr ftigt er das erw hnte Ergebnis. Die Rede, niemand sei freiwillig schlecht, niemand unfreiwillig gl cklich, sei, sagt Aristoteles, zum Teil falsch, zum Teil wahr (1113bl4—16; vgl. Dirlmeier zur Stelle), falsch sei n mlich die erste H lfte. Schlechtigkeit ist freiwillig. Wer davon abgeht, meint Aristoteles, d rfe nicht l nger sagen, der Mensch sei der Anfang (αρχή) und der Erzeuger (γεννητής) seiner Handlungen, wie er der Erzeuger seiner Kinder ist. Darum ging es aber Aristoteles bisher im III. Buch. Er wiederholt es noch einmal (1113bl9—21). Und er beruft sich auf die Ph nomene des Strafens und Belohnens im privaten und im staatlichen Bereich, die sinnlos w ren, wenn das Handeln nicht freiwillig w re. Indessen differenziert er im Fortgang zun chst auf folgende Weise: Wenn eine Schlechtigkeit (etwa Z gellosigkeit oder Ungerechtigkeit) zur Haltung (έξις) geworden ist, dann besteht keine Wahl mehr zwischen gutem und schlechtem Handeln. Aber da es bei einem Menschen zu einer solchen Haltung gekommen ist, das hat er selbst verschuldet, indem er viele einzelne z gellose oder ungerechte Handlungen beging. Diese Handlungen waren freiwillig, bis die Gew hnung an solches Handeln zur Haltung gef hrt hat. Insofern lag der Anfang eben doch im Handelnden, und die Haltung, von der er nun nicht mehr oder nur sehr schwer wieder loskommt, ist freiwillig. Aber hier besteht das alte Problem fort. Denn zumindest die Gew hnung an g u t e s Handeln vollzieht sich, zumal beim jungen Men-
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sehen, unter dem bestimmenden Einflu anderer. Und soweit sich die Gew hnung an schlechtes Handeln nicht ebenfalls unter dem bestimmenden Einflu anderer Menschen vollzieht, fehlt eben der Einflu trefflicher Menschen und bleibt der Handelnde dem Zuviel und Zuwenig seiner Regungen und seines Strebens ohne Vernunftleitung berlassen. Nichts davon steht in der freien Verf gung dessen, der zur Trefflichkeit oder Schlechtigkeit durch Gew hnung erst herangebildet wird. Deshalb ja auch legt Aristoteles, wie sich schon zeigte, so gro en Wert auf Gesetze, die die Erziehung regeln und die Gew hnungen festlegen. So finden sich denn schlie lich in dem in Rede stehenden Kapitel zwei einschr nkende Formulierungen: „Wenn jedenfalls jeder i r g e n d w i e Urheber seiner Haltung ist, dann wird er selbst auch i r g e n d w i e Urheber dessen sein, was ihm (als gut) erscheint" (ει μεν οΰν έκαστος έαυτω της εξεώς εστί πως αίτιος, και της φαντασίας εσται πως αυτός αίτιος — 1114bl—3). Und vor allem: „Wir sind irgendwie M i t u r h e b e r der Haltungen" (των έξεων συναίτιοί πως αυτοί έσμεν — 1114b22f.). Diese Feststellung gilt es richtig zu verstehen. Einerseits schr nkt sie die fr heren Ausf hrungen ein. Sie gibt Raum f r den bestimmenden Einflu der Vernunft (oder Unvernunft) anderer auf den Menschen, der im Proze der Gew hnung durch Einzelhandlungen noch auf dem Weg zu seiner Haltung ist. Sie r umt ein Moment der Unfreiheit ein in bezug auf die Bildung trefflicher und nicht trefflicher Haltungen und infolge davon auch in bezug auf ethische Trefflichkeit und ihr Gegenteil berhaupt. Andererseits soll sie einen Determinismus ausschlie en. Was besagt der Terminus Miturheber (συναίτιος)? Unter dem Miturheber ist (entsprechend zur Mitursache — συναίτιον51) ein Urheber zu verstehen, ohne den ein anderer, und zwar der eigentliche Urheber, nicht Urheber sein k nnte. Der Miturheber ist notwendig, damit der eigentliche Urheber etwas auszurichten vermag. Er mu mit dem anderen Urheber zusammenwirken, ist ihm aber untergeordnet. Der Mensch ist Miturheber seiner trefflichen oder schlechten Haltungen, das hei t also: Die eigentlichen Urheber seiner Haltungen sind andere, aber diese anderen sind auf sein Mitwirken angewiesen. Auf dieses Mitwirken ist der Anteil des einzelnen beim Entstehen seiner Haltungen aus der Gew hnung jetzt eingeschr nkt. Da das Mitwirken notwendig ist, bliebe Freiwilligkeit ein notwendiges Moment im Ursprung der Trefflichkeiten und ihres Gegenteils — gesetzt, dies Mitwirken w re freiwillig. Ist es das? Die 51
Vgl.
ber die Seele II 4, 416a9—15; Met. V 5, 1015a20—22.
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Frage ist für das Entstehen der trefflichen Haltungen und deren Gegenteil getrennt zu beantworten. Bei der Entstehung trefflicher Haltungen durch häufig vollzogene treffliche Handlungen haben treffliche Menschen die Erziehung übernommen. Sie sind die eigentlichen Urheber dieser Haltungen. Das Mitwirken bei der Entstehung der eigenen Haltungen besteht hier in der vom einzelnen eigens aufzubringenden Bereitschaft, auf die Einsicht der anderen hinzuhören und entsprechend zu handeln. Es ist freiwillig, was sich daran zeigt, daß es versagt werden kann. Wird die Mitwirkung beharrlich versagt, dann kann ethische Trefflichkeit nicht entstehen. Die trefflichen Haltungen gründen mit in dem, der sie erwirbt. Sie sind insofern freiwillig, als dieser ihr Miturheber ist. Wie steht es, wenn jemand keine trefflichen Erzieher findet und wenn von Anfang an nur schlechte Menschen Einfluß auf seine Entwicklung nehmen? Das Mitwirken muß hier zu schlechten Haltungen führen. Die entscheidende Frage ist, ob es freiwillig ist. Dann müßte es auch versagt werden können. Indem Aristoteles im Zusammenhang mit der Äußerung, wir seien irgendwie Miturheber der Haltungen, argumentiert, wenn die Trefflichkeiten freiwillig seien — und das sind sie im Sinne der Miturheberschaft —, dann seien auch die Schlechtigkeiten freiwillig (1114b21—25), setzt er, daß die Mitwirkung auch hier versagt werden kann. Er setzt, daß ein Mensch, der noch nicht auf dem Weg zu trefflichen Haltungen ist, dessen Einsicht nicht entfaltet ist, also auch keine Orientierung geben kann, und der nicht gleichzeitig auch unter dem Einfluß besserer Menschen steht, Widerstand zu leisten vermag gegenüber der Einflußnahme schlechter Menschen auf seine Handlungen. Es ist schwer zu sehen, wie Aristoteles die Möglichkeit solchen Widerstands, der jedenfalls auch eine außerordentliche Kraft erforderte, anders als mit der Annahme begründen wollte, es sei ein Göttliches in der Seele, das zu ihm befähigt. Die Annahme des Göttlichen in der Seele hält Aristoteles aber in der NE von den Erörterungen der ethischen Trefflichkeit und der Einsicht konsequent fern. Das Göttliche im Menschen ist Geist und kommt in der Weisheit zum Vollzug und nur in ihr (vgl. X 7 und 8; diese Kapitel werden noch thematisiert). So bleiben Zweifel daran erlaubt, ob die Miturheberschaft eines Menschen beim Entstehen seiner schlechten Haltungen durch Gewöhnung dafür einzustehen vermag, daß in jedem Fall der Ursprung schlechter Haltungen ein Moment der Freiwilligkeit enthält. Zwar wurde hier der Extremfall in den Vordergrund gerückt, daß ein Mensch ohne eigenes Zutun nur
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schlechten Einfl ssen ausgesetzt ist, aber dieser Extremfall, der so selten nicht ist, da er bersehen werden k nnte, f hrt die Analyse der Freiwilligkeit ethischer Haltungen jedenfalls an eine Grenze. Er verbietet, auf diesem Felde Unbedingtheit zu behaupten bzw. im Menschen zu verankern. In diesem Zusammenhang ist ein anderer Gedanke aus der NE anzuf hren. Zu Beginn des II. Buches hatte Aristoteles, wie dargestellt, davon gesprochen, da ethische Trefflichkeiten und deren Gegenteil in uns weder von Natur noch gegen die Natur entstehen, da wir von Natur vielmehr nur die M glichkeit haben, sie aufzunehmen — eben auf dem Wege der Gew hnung. Ethische Trefflichkeiten k nnten nicht gegen eine schlechte Natur entstehen, denn die Natur l t sich nicht umgew hnen (keinen Stein wird man daran gew hnen k nnen, zu steigen statt zu fallen). Aristoteles sieht nun aber Ausnahmen von dem Sachverhalt, da wir von Natur nicht in Richtung des Guten oder Schlechten festgelegt sind, vielmehr von Natur die M glichkeit haben, gut oder schlecht zu werden. Es gibt in Ausnahmef llen eine Festlegung des Menschen zum Schlechten hin durch seine Natur. Davon spricht Aristoteles vor allem im VII. Buch. Der tierische Mensch (ό θηριώδης) erscheint dort (1. Kap., 1145al5 ff.) als eine dritte negative Art neben dem Schlechten und dem Unbeherrschten. Der tierische Mensch bertrifft den Schlechten an Schlechtigkeit. Es gibt ihn selten und haupts chlich, meint Aristoteles als Grieche seiner Zeit, unter den Barbaren. Doch k nnen auch Krankheit und Verst mmelung einen Menschen tierisch machen. An sp terer Stelle erscheint das Tierische in einem Menschen als seine schlechte Natur (6. Kap., 1148bl8; Beispiele f r das Tierische im Fortgang der Stelle). Schon im I. Buch hatte Aristoteles gesagt, das Gl ck k nne allen zuteil werden, die nicht in bezug auf Trefflichkeit verst mmelt sind52. — Es kann auch eine Veranlagung zur Unbeherrschtheit geben, die durch Krankheit oder durch die Natur des Geschlechts — Abstammung von einem Geschlecht; Zugeh rigkeit zum weiblichen Geschlecht (!) — verursacht ist (VII 8, 1150bl2—16). — Andererseits gibt es Veranlagungen zum Guten, gibt es nat rliche Trefflichkeit (φυσική αρετή — VI 13, 1144b3), z.B. nat rliche Gerechtigkeit, nat rliche Besonnenheit, nat rliche Tapferkeit. Diese Veranlagungen sind keine Festlegungen zum Guten. Sie m ssen — durch Gew hnung und Bindung an die Einsicht — si
δυνατόν γαρ ύπάρξαι πΰσι τοις μη πεπηρωμένοις προς άρετήν — Kap. 10, 1099bl8 f.
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erst zu ethischen Trefflichkeiten im eigentlichen Sinn herangebildet werden. Bleiben sie ohne Führung sich selbst überlassen, dann werden sie Schaden anrichten — einem starken aber blinden Körper vergleichbar, der überall anstößt und gerade zufolge seiner Stärke vieles zerstört (vgl. den Fortgang in VI 13). Es bleibt bestehen, daß wir nicht von Natur im eigentlichen Sinne trefflich werden oder sind (vgl. S. 275). Wohl aber wird deutlich, daß ein Mensch, der von Natur zur Gerechtigkeit, Tapferkeit, Besonnenheit neigt, leichter die Bereitschaft aufbringen wird, auf treffliche Menschen zu hören und sich an gutes Handeln zu gewöhnen, als ein Mensch, der anders veranlagt ist. Die natürlichen Trefflichkeiten beseitigen nicht das Moment der Freiwilligkeit im Entstehen ethischer Trefflichkeiten. Doch kostet es nicht alle Menschen die gleiche Kraft, wenn sie Miturheber ihrer Trefflichkeit im eigentlichen Sinn sind. — Die Untersuchung wendet sich nun der zuvor offengelassenen Frage zu, wie sich die weiteren Erörterungen des VI. Buches (nämlich in VI 13) verhalten zu dem Ergebnis, daß die Einsicht nicht nur die Mittel und Wege zur Verwirklichung trefflicher Ziele überlegt und entsprechend das Handeln bestimmt, sondern auch das wahre Erfassen der trefflichen Ziele selbst und die Entscheidung für sie vollzieht. Dieses Ergebnis wurde gewonnen im Ausgang zunächst von der Erörterung der Wohlberatenheit in VI 10; Wohlberatenheit zeigte sich dort schließlich als der e i n e Vollzug der Einsicht selbst, nämlich das Überlegen der Mittel und Wege zur Erreichung trefflicher Ziele im Handeln, neben den der andere Vollzug der Einsicht trat, eben das wahre Erfassen der trefflichen Ziele selbst und des Glücks. Das wahre Erfassen der Ziele wurde von III 6 her deutlicher gefaßt, insbesondere auch in seiner Abhängigkeit von ethischer Trefflichkeit. Stellen aus dem VII. Buch ermöglichten sicherzustellen, daß der Einsichtige über seine Ziele entscheidet. Das Verhältnis der Einsicht in ihrem auf die Ziele selbst gerichteten Vollzug und der ethischen Trefflichkeit zueinander konnte wieder (wie schon früher beim Überlegen und Entscheiden über das Verwirklichen der Mitte in der einzelnen Handlung) als ein wechselseitiges Sich-bedingen verstanden werden. Die durch Gewöhnung entstandene Haltung ethischer Trefflichkeit ermöglicht die Einsicht; diese macht sich zum bestimmenden Grund der ethischen Trefflichkeit und bringt diese damit auf ihre vollendete Stufe. Die Frage, wie gesagt, ist zu erörtern, wie sich der Schluß von Buch VI zu diesen Gedanken verhält. Die Antwort darf vorweggenommen werden: Im Schlußkapitel des VI. Buches läßt sich beobachten, wie Einsicht als Anfang (bestimmender Grund) der ethischen Trefflichkeit zurück-
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tritt zugunsten jenes Vollzugs der Einsicht, der mit den Mitteln und Wegen zur Verwirklichung trefflicher Ziele befaßt ist, und zugunsten seines Verhältnisses zur ethischen Trefflichkeit. Das ist kurz auszuführen, damit dann gefragt werden kann, warum das so sein mag. Das Kapitel steht unter der Leitfrage nach dem Nutzen von Weisheit und Einsicht. Die Explikation der Frage für die Einsicht ist unter dem Vorzeichen zu lesen, daß Aristoteles hier einen möglichen Einwand, etwa aus seiner Zuhörerschaft, formuliert. (Daß er einen solchen Einwand noch für möglich hält, ist freilich schon seltsam.) Die Einsicht hat es zu tun mit dem, wodurch der Mensch glücklich wird. Ihre Sache ist das Wissen ( ) des Gerechten, Schönen und Guten. Es kommt aber gerade darauf an, das Gute zu t u n , und dazu trägt das Wissen nichts bei, da die Trefflichkeiten ja Haltungen sind. Wollte man der Einsicht aber einen Nutzen zusprechen für das Entstehen der Trefflichkeiten, also für die Phase, in der die Haltungen noch nicht bestehen, sondern erst gewonnen werden, so hätte das doch auch wenig Sinn. Für den, dessen Entwicklung abgeschlossen ist, wäre die Einsicht sofort überflüssig; überflüssig wäre sie aber gerade auch für den, der sich noch in der Entwicklung befindet, denn für ihn genügt es, der Einsicht anderer zu folgen, so daß die Einsicht Sache von Fachleuten sein könnte. Wir studieren ja auch nicht Medizin, weil wir gesund sein wollen. — Die Einsicht erscheint hier als Wissen des Guten, oder, in der früher verwendeten Formulierung, als wahres Erfassen der Ziele menschlichen Handelns und des höchsten Ziels, des Glücks; der Inhalt dieses Wissens käme mit dem der NE überein, die höchste Gestalt dieses Wissens wäre die .philosophische' Explikation des Guten. Aristoteles entkräftet den Einwand nun aber nicht auf dieser Gedankenlinie, sondern indem er gegen ihn die Einsicht in ihrem anderen Vollzug, als Überlegen und Entscheiden bezüglich der Mitte bei jeder einzelnen Handlung, ins Feld ziehen läßt. Dadurch entsteht unvermeidlich der Eindruck, als sei dies der einzige und volle Sinn von Einsicht. Daß die Einsicht es mit Mitteln und Wegen zum Ziel zu tun hat, während die Ziele selbst von der ethischen Trefflichkeit gegeben sind, wird geradezu eingehämmert (1144a6—9 u. 20—22; 1145a4—6). Auch die in diesem Kapitel durchgeführte Abhebung der Einsicht von der Gewandtheit ( ) geht in die gleiche Richtung. Die Gewandtheit ist das Vermögen, Mittel und Wege zu einem gegebenen Ziel zu finden und entsprechend das Handeln zu bestimmen. Ist das Ziel gut, dann ist die Gewandtheit etwas Positives. Ist das Ziel schlecht, dann hat sie die Gestalt der Gerissenheit, Durchtrieben-
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heit ( ). Aristoteles stellt eine Analogie her zwischen dem Verhältnis der Gewandtheit zur Einsicht einerseits und dem Verhältnis der natürlichen Trefflichkeit zur ethischen Trefflichkeit andererseits. Die natürliche Trefflichkeit, wie sehr sie das Entstehen ethischer Trefflichkeit begünstigen mag, kann doch, sich selbst überlassen, viel Schaden anrichten; sie bedarf der Bindung an die Vernunft. Die Gewandtheit ist dementsprechend sozusagen die ,natürliche Einsicht'. Damit sie nicht schädlich werde, bedarf sie der Bindung an gute Ziele, bedarf sie der ethischen Trefflichkeit. Dank ethischer Trefflichkeit wird die Gewandtheit aus einem naturgegebenen Vermögen zu einer Trefflichkeit, zur Einsicht, die durch ihr Überlegen und Entscheiden das Verwirklichen trefflicher Ziele im Handeln ermöglicht. (Wenn es nur naturgegebene Gewandtheit gäbe und wenn Gewandtheit, wo sie als Naturgabe fehlt, nicht erworben werden könnte, dann bliebe es vom Vorhandensein oder Fehlen dieser Naturgabe abhängig, ob ein Mensch zur Trefflichkeit der Einsicht zu gelangen vermag. Man hätte hier den Grund dafür, warum einigen trefflichen Menschen Einsicht zukommt, andere auf die Einsicht anderer angewiesen bleiben. Indessen versteht man Aristoteles vielleicht richtig, wenn man annimmt, daß die Naturgabe der Gewandtheit sowenig conditio sine qua non der Einsicht ist, wie es die natürliche Trefflichkeit für die im eigentlichen Sinn ethische Trefflichkeit ist. Auch das Überlegen heranzubilden, darf als Aufgabe der Erziehung angesehen werden.) In deutlichem Widerspruch zum Resultat der Behandlung der Wohlberatenheit (VI 10), nämlich der Abhebung der Wohlberatenheit als des trefflichen Überlegens der Mittel und Wege zum Ziel (eines Vollzugs der Einsicht selbst) von der Einsicht in ihrem Vollzug des wahren Erfassens der Ziele, reduziert Aristoteles jetzt (VI 13) die Einsicht auf die Wohlberatenheit53 und ein ihr gemäßes Entscheiden, und das, wiewohl es das Problem zu lösen galt, welchen Nutzen das Wissen der trefflichen Ziele (und seine philosophische* Durchdringung) für den Menschen haben kann. Läßt sich das erklären? Es läßt sich erklären aus einer Schwierigkeit, in der Aristoteles sich solchem Wissen gegenüber befindet. Dessen Inhalte sind eindeutig der Einsicht zugeschrieben. Die Einsicht aber ist in den Seelenteil versetzt, der auf das Veränderliche gerichtet ist (das hebt das Kapitel selbst mehrfach hervor — siehe 1143bl9—21; 1144al f.; 1144bl4f.; 1145a2—4). Das Wissen der Ziele, von welcher Art auch 53
Der Sache nach, der Ausdruck fällt hier nicht.
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immer es sein mag, faßt jedoch in den Zielen nichts Veränderliches. Anders und immer anders sind die Situationen, in denen die Ziele handelnd zu verwirklichen sind, anders und immer anders ist die jeweilige Mitte und sind die Mittel, sie zu treffen. Das Wissen der Ziele, das Wissen des Glücks ist davon nicht betroffen. Was ist es aber dann? Aristoteles weicht der Frage aus, indem er dies Wissen verschwinden laßt hinter dem Vollzug der Einsicht, der es als Überlegen und dem Überlegen gemäßes Entscheiden in der Tat mit dem Veränderlichen zu tun hat. Ethische Trefflichkeit wird wirklich im Handeln. Sie wird wirklich in einem Handeln, das durch Überlegung und Entscheidung und also durch Vernunft bestimmt wird. Genauer noch: Sie bedarf der t r e f f lichen Überlegung und Entscheidung zu ihrer Verwirklichung. Sie weist über sich hinaus auf eine dianoetische Trefflichkeit. Diese ist die Einsicht. Die Einsicht erst führt, indem sie jeweils die Mittel und Wege zur Verwirklichung der Ziele überlegt und entsprechend entscheidet, ethische Trefflichkeit auf die Stufe der Wirklichkeit. Auf einer höheren Gedankenebene zeigt sich aber, daß die Einsicht sich auch auf die Ziele selbst zu richten vermag. Dann ist sie diejenige Trefflichkeit, durch die der einzelne Mensch seine Vernunft zum bestimmenden Grund seiner ethischen Trefflichkeit macht. In diesem Vollzug der Einsicht erreicht die dem Menschen eigene Freiwilligkeit ihre höchste Gestalt, die indes nicht den Charakter der Unbedingtheit hat. — Auf zwei Gedankenebenen sind zwei Vollzüge der Einsicht zu unterscheiden, beide um ethische Trefflichkeit bemüht, beide mit ethischer Trefflichkeit im Verhältnis wechselseitigen Sich-bedingens stehend. Der eine Vollzug, das auf Mittel und Wege gerichtete Überlegen und Entscheiden, ist unentbehrlich, soll ethische Trefflichkeit zur Wirklichkeit gelangen. Der andere Vollzug, auf die trefflichen Ziele selbst gerichtet, vollendet menschliche Trefflichkeit, soweit ihr Gebiet das Handeln ist, indem er die Haltung ethischer Trefflichkeit aus einem Resultat der Gewöhnung zu einer in vernünftiger Entscheidung fundierten und damit in höchstem Maße freiwilligen macht. Diese Hauptlinien der Gedankenführung zogen sich durch ein Feld reicher Thematik. Dianoetische Trefflichkeiten sind Trefflichkeiten des Seelenteils, der im eigentlichen Sinn und in sich selbst Vernunft hat. Dieser Seelenteil wird von Aristoteles in zwei Teile eingeteilt. So, wie das Seiende sich in zwei große Gattungen teilt, in das Seiende nämlich, dessen Seinsgründe
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ein Anderssein nicht zulassen, und in das Seiende, das anders und immer anders ist, so teilt sich die Vernunft (dem Seienden ähnlich, auf das sie sich richtet) in die erkennende und die erwägende Vernunft. Jede von ihnen ist trefflich, wenn sie das ihr eigentümliche Werk gut vollbringt. Das gut vollbrachte Werk der Vernunft ist in jedem Fall Wahrheit. Aber wie beim Seienden und der Vernunft, so findet sich entsprechend auch bei der Wahrheit ein Grundunterschied. Das Gute für die erkennende Vernunft ist Wahrheit als wahres Bejahen und Verneinen. Das Gute für die erwägende Vernunft ist praktische Wahrheit. Praktische Wahrheit ist die Einheit von wahrer Überlegung und richtigem Streben. Zu ihr gehört wesentlich, daß die Vernunft das Streben bestimmt, das Überlegte zu tun; zur praktischen Wahrheit gehört die erfolgreiche Entscheidung. Praktische Wahrheit findet nicht statt, wenn sich nicht erwägende Vernunft und vernunftloses, auf die Vernunft hinhörendes Streben vereinigen. — Von praktischer Wahrheit darf auch beim Hervorbringen gesprochen werden. Aristoteles geht es aber um die Trefflichkeit des Handelns. Im Gegensatz zum Hervorbringen zielt das Handeln nicht auf Werke ab, sondern auf das Glücken des Handelns selbst. Praktische Wahrheit als das Gute, um das es beim Handeln geht, ist das gelingende Handeln ( ). Praktische Wahrheit im Sinne des gelingenden, trefflichen Handelns wird verdankt der Vereinigung des von ethischer Trefflichkeit gehaltenen Strebens und der Trefflichkeit der auf gutes Handeln abzielenden erwägenden Vernunft, d. h. der Einsicht. Diese Vereinigung muß als ein wechselseitiges Sichbedingen von ethischer Trefflichkeit (Besonnenheit im weitesten Sinn) und Einsicht gefaßt werden. Die ethische Trefflichkeit bewahrt die erwägende Vernunft davor, durch ein Übermaß der Regungen und des Strebens außer Kraft gesetzt zu werden oder aber zufolge eines Zuwenig der Regungen und des Strebens gar nicht zum Handeln bewegt zu werden. Die so bewahrte Vernunft verhilft durch ihr Überlegen und Entscheiden der ethischen Trefflichkeit dazu, im jeweiligen Verwirklichen der Mitte handelnd sich selbst zu verwirklichen. Aristoteles hat nur der erkennenden Seele eine eigene, zusammenhängende Schrift gewidmet. Die handelnde Seele ist in der NE auf eine Weise mitthematisch, die hinreichend Aufschluß über sie gibt. Die handelnde Seele nimmt in Anspruch, was die erkennende Seele als wahrnehmende und denkende an Weltkenntnis bereithält und an Situationskenntnis jeweils beibringt. Sie selbst umfaßt Regungen, Streben und erwägende Vernunft. Die Regungen eröffnen, was die jeweilige Situa-
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üon für den Menschen, der sich in ihr befindet, bedeutet. Durch sie bezieht der einzelne seine Umstände und die Personen, mit denen er es gerade zu tun hat, ihr Tun und Lassen oder ihre Lage, auf sich, läßt er sich betreffen. Ein Zuwenig der Regung setzt das Strebevermögen nicht hinreichend in Bewegung. Ein Zuviel der Regung setzt das Strebevermögen so stark in Bewegung, daß es unmittelbar fortdrängt zur Handlung und der erwägenden Vernunft keinen Raum läßt. Hält sich die Regung in der Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig, so hört sie auf die Vernunft hin, die ihr (in einem Abwägen eher als einem Erwägen) das Maß bestimmt. In diesem Fall ist das Streben zum Handeln motiviert, hält aber an sich und wartet die Überlegung und Entscheidung der erwägenden Vernunft ab. Es ist darauf aus, handelnd die Mitte zu verwirklichen, und diese Mitte muß von der erwägenden Vernunft gefunden werden. Ist die Entscheidung erfolgt, nimmt das Streben die Handlung gemäß der Überlegung in Angriff und führt sie, unter der Voraussetzung, daß die Überlegung trefflich war und sich bei der Durchführung der Handlung kein Hindernis in den Weg stellt, zum guten Ende. Bei den beiden Doppelphänomenen der Begierde und des zornigen Drangs, die Strebungen sind, zugleich aber Züge der Regungen aufweisen und stets mit Unlust verbunden auftreten, gestalten sich die Bezüge zur Vernunft dem vorigen entsprechend. — £5 wurde im Umkreis dieser Erörterungen angenommen, daß Aristoteles in l 13 vier und nicht drei Seelenteile unterscheidet. Das hieße, daß Aristoteles hier die Regungen als selbst auch vernünftigen, zugleich auf den im eigentlichen Sinn Vernunft habenden Teil hinhörenden Seelenteil abhebt vom Strebevermögen als dem vernunftlosen, gleichfalls auf den im eigentlichen Sinn vernünftigen Teil hinhörenden Seelenteil. Ethische Trefflichkeit erscheint dann als Trefflichkeit der beiden auf die Vernunft im eigentlichen Sinn hinhörenden Seelenteile, als eine in sich gedoppelte Haltung. Die Einsicht überlegt in jedem Einzelfall, was zu tun ist, damit handelnd die Mitte getroffen werde, und sie entscheidet entsprechend. Dadurch gelangt die Haltung ethischer Trefflichkeit je und je zur Wirklichkeit. Es konnte aber ein weiterer Vollzug der Einsicht sichergestellt werden, durch den ein Mensch seine eigene Vernunft zum bestimmenden Grund seiner Trefflichkeit als seiner Haltung macht. Dieser Vollzug der Einsicht richtet sich auf das Glück. Angesichts der vielfältigen gelebten Meinungen über das Glück versichert er sich dessen, daß Glück wesentlich (wenn auch nicht ausschließlich) gutes Handeln (' /) ist. Er erfaßt die wahrhaft guten Ziele menschlichen Strebens und entscheidet sich
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für sie. Die Überlegungen zu diesem Thema zogen die Erörterungen über Wohlberatenheit und Einsicht im VI. Buch (Kap. 10), über das Wünschen wahrhaft guter und scheinbar guter Ziele im III. Buch (Kap. 6) und über die Entscheidung zur Zügellosigkeit im VII. Buch bei. Das Ergebnis, daß die ethischen Trefflichkeiten in einer Entscheidung des Menschen für seine Ziele fundiert sind, stellte vor zwei Probleme: vor das Problem eines fehlerhaften Zirkels in den Überlegungen über das Bedingungsverhältnis von ethischer Trefflichkeit und über die Ziele befindender Einsicht und vor das Problem, daß einerseits Gewöhnung, andererseits Einsicht als Anfang ethischer Trefflichkeit erscheinen. Die Lösung des zweiten Problems löste auch das erste. Die Haltung ethischer Trefflichkeit geht zunächst aus Gewöhnung hervor. Gewöhnung ist der zeitliche Anfang ethischer Trefflichkeit. Wer unter der Leitung anderer Menschen (der Erzieher im weitesten Sinn) und ihrer Einsicht die Haltung ethischer Trefflichkeit erworben hat, ist zu einer Verfassung seiner Seele gelangt, die ihm das wahre Erfassen der trefflichen Ziele und die eigene, vollbewußte Entscheidung für diese Ziele ermöglicht. Vollzieht ein Mensch diese Entscheidung, dann löst er sich damit aus der Abhängigkeit von denen, unter deren Einfluß er sich entwickelte. Er macht seine eigene Vernunft zum bestimmenden Grund und in diesem Sinn zum Anfang seiner Trefflichkeit. Seine ethische Trefflichkeit erreicht das Höchstmaß an Freiwilligkeit. Was den Verdacht eines fehlerhaften Zirkels im Gedankengang nahelegt, zeigt sich als ein wechselseitiges Sichbedingen von ethischer Trefflichkeit und auf die Ziele gerichteter Einsicht (analog dem Bedingungsverhältnis von ethischer Trefflichkeit und auf die Mittel und Wege gerichteter Einsicht). Ethische Trefflichkeit erreicht ihre höchste Stufe dann, wenn ein Mensch seine durch Gewöhnung schon erworbene treffliche Haltung auf seine Entscheidung gründet, wodurch diese Haltung, die selbst Entscheidung möglich macht, ihre eigentliche Festigkeit gewinnt und in vollem Sinn freiwillig wird. Im Aussein auf die Mitte wirkt nun die eigene Vernunft mit. Die Einsicht in ihren beiden Vollzügen ist nach Aristoteles' Auffassung nicht allen Menschen erreichbar. Diejenigen, die sie nicht erreichen, sind damit aber nicht von der Möglichkeit, ethisch trefflich zu sein, ausgeschlossen. Sie können sich bleibend an die Einsicht anderer binden. Soweit ihre Bindung eine Bindung an die Einsicht des Gesetzgebers, also an die Gesetze, ist, gilt: Für sie treten die Gesetze, tritt die Einsicht des Gesetzgebers an die Stelle der eigenen Einsicht. In ihnen entsteht durch Gewöhnung an ein den Gesetzen gemäßes Handeln ethische Trefflichkeit
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als Haltung. Diese Haltung verwirkliaen sie dann, wenn die Erziehung abgeschlossen ist, aus eigenem Antrieb in Handlungen) die vom Gehorsam gegen die Gesetze bestimmt sind. Durch eine eigens vollzogene Anerkennung der Gesetze können sie ihr Verhältnis zu den Gesetzen auf eine höhere Stufe der Freiwilligkeit heben und ihre Haltung befestigen. Ihre Trefflichkeit bleibt freilich relativ auf die Qualität der Gesetze. Unter einer weniger guten Gesetzgebung werden die Bürger, absolut gesehen, nicht so trefflich (und nicht so glücklich) sein wie unter einer vollkommenen. Dafür sind sie nicht verantwortlich. Daß Menschen der Gesetze bedürfen, macht die Tätigkeit der Einsicht auf dem Feld der Gesetzgebung nötig. Der Einsichtige, der als Gesetzgeber wirkt, legt das Gute auch für andere fest, spricht es in den Gesetzen aus und gibt ihm bindende Kraft. Für die Gemeinschaft der Bürger erfaßt er die trefflichen "Ziele und das erreichbare Glück und entscheidet darüber. (Auch alle anderen Aufgaben des Staatsmannes sind Aufgaben für seine Einsicht.) — Die höchste Stufe der dem Menschen eigenen Freiwilligkeit wird dann erreicht, wenn ein Mensch durch seine Entscheidung für die trefflichen Ziele menschlichen Strebens seine Einsicht, also seine Vernunft, zum gründenden Anfang seiner Haltung macht. Daß es eine solche Gestalt der Freiwilligkeit gibt, darf nicht hinwegtäuschen über eine Grenze, die menschlicher Freiwilligkeit gezogen ist und die es verbietet, Freiwilligkeit als Unbedingtheit zu denken. Aristoteles stößt (Buch III, Kap. 7) zu dieser Grenze vor. Weil Gewöhnung der zeitliche Anfang der ethischen Haltungen ist, der einzelne aber während des Prozesses der Gewöhnung, d. h. während seiner Entwicklung, von anderen abhängig ist, kann es vorkommen, daß jemand ohne eigenes Verschulden nicht zu trefflichen Haltungen und also auch nicht zu der Verfassung seiner Seele gelangt, die es ihm ermöglichen würde, wahrhaft gute Ziele dank eigener Einsicht oder dank einer positiven Einstellung zu den Gesetzen für sich verbindlich werden zu lassen. Darin, daß der Mensch Mit Urheber seiner Haltungen ist, ist diese Möglichkeit angelegt. Im Begriff der Miturheberschaft sind die zwei Momente des unerläßlichen Mitwirkens und der Abhängigkeit von einem anderen, eigentlichen Urheber zu denken. Das Mitwirken des Miturhebers ist freiwillig, wo es auch versagt werden kann. Das ist der Fall, wenn die eigentlichen Urheber ihren Einfluß zum Guten hin auszuüben versuchen. Ist aber ein junger Mensch völlig dem Einfluß schlechter Menschen ausgesetzt, dann wirkt er zwar mit beim Entstehen seiner
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schlechten Haltungen, aber nicht freiwillig. Er kann die Mitwirkung nicht versagen, weil er zum Guten in keinerlei Verhältnis steht und ihm das Schlechte als gut erscheinen muß. Aristoteles hat keine Möglichkeit, hier eine göttliche Kraft in der Seele helfend einspringen zu lassen, weil er die Sphäre menschlichen Handelns vom Göttlichen losgelöst hat. — Nicht nur die Abhängigkeit von anderen während der Entwicklung eines Menschen setzt der Freiwilligkeit eine Grenze. Aristoteles sieht Fälle, in denen Menschen durch ihre Natur von der Möglichkeit, trefflich zu sein, ausgescJylossen sind. Sie bilden die Ausnahme zu dem Sachverhalt, daß wir von Natur weder in Richtung auf das Gute noch in Richtung auf das Schlechte festgelegt sind, vielmehr von Natur die Anlage haben, gut oder schlecht zu werden. — Während es — in Ausnahmefällen — natürliche Festlegung zur Scfjlechtigkeit gibt, sind die natürlichen Trefflichkeiten keine Festlegung in Richtung auf das Gute. Sie sind weder selbst ethische Trefflichkeiten im eigentlichen Sinn, garantieren sie, daß diese erreicht werden. Wohl aber begünstigen sie die Entwicklung trefflicher Haltungen in einem Menschen, wenn dieser treffliche und einsichtige Erzieher findet. — Zwei verschiedene Vollzüge der Einsicht und ihr Verhältnis zur ethischen Trefflichkeit konnten herausgearbeitet werden. Es ist aber nicht zu übersehen, daß Aristoteles in Buch VI, Kap. 13 den einen dieser beiden Vollzüge, nämlich den auf die Ziele selbst gerichteten, gleichsam zum Verschwinden bringt. Das muß einen Grund haben. Dieser Grund dürfte darin zu erblicken sein, daß Aristoteles Schwierigkeiten hat, das wahre Erfassen der Ziele selbst in seinem Wissenscharakter zu denken. Seinem Inhalt nach ist es Sache der Einsicht. Die Einsicht wurde aber als Trefflichkeit eines Seelenteils verstanden, der auf das Veränderliche und nur auf dies gerichtet ist. Und die wahrhaften Ziele menschlichen Strebens sind selbst nicht veränderlich; veränderlich ist nur das Feld des Handelns, in dem die Ziele je und je zu verwirklichen sind. Es scheint, daß Aristoteles hier an eine Grenze gelangt, die zugleich die NE als Ganzes betrifft. Darauf ist später zurückzukommen.
19. Kapitel: Das Glück in der Gestalt trefflichen Handelns — Möglichkeit und Wirklichkeit (NE II 8, 9; VI 1) Die drei vorangegangenen Kapitel handelten vom menschlichen Glück in einer der beiden Gestalten, die Aristoteles in der NE herausarbeitet, vom Glück als trefflichem Handeln oder, was dasselbe sagt, vom Glück als gutem Handeln ( ). Dieses Kapitel bleibt bei diesem Thema. Es konfrontiert mit Aristoteles die durchdachte Gestalt des Glücks mit der menschlichen Realität; es konfrontiert das gute Handeln als wahres Ziel menschlichen Strebens mit dem faktischen Handeln der Menschen und seinen Schwierigkeiten. Dabei wird die Untersuchung auf das Problem eines Maßes für die jeweils zu treffende Mitte gestoßen und schließlich auf anderem Weg erneut an die Frage herangeführt, von welcher Art das Wissen trefflidier Ziele und seine Entfaltung in der NE sein mag. Gutes Handeln ( ) ist eine Gestalt menschlichen Glücks. Im Vollzug guten Handelns ist ein Mensch glücklich. Solches Handeln muß ihn freuen, denn er verwirklicht in ihm, was er als wahrhaft gutes Ziel vorrangig gewählt hat. Und er erfährt in ihm das einmütige Zusammenwirken seiner Seelenteile, also die Einheit mit sich selbst, als glückhaft. Stufungen ethischer Trefflidikeit nach Maßgabe ihres Verhältnisses zur Einsicht waren sichtbar geworden. Der Treffliche folgt eigener oder fremder Einsicht (der Einsicht des Gesetzgebers). Er hebt durch eine Entscheidung für die wahren Ziele oder eine eigens vollzogene Anerkennung der Gesetze seine Trefflichkeit auf eine vollkommenere Stufe der Freiwilligkeit, oder er bleibt auf der Stufe der Gewöhnung, in fortwährender Abhängigkeit zurückgebunden an jene, unter deren Einfluß er seine treffliche Haltung erlangte. Diese Stufungen stützen den schon im I. Buch (Kap. 10, 1099bl8f.) ausgesprochenen Satz, das Glück sei vielen gemeinsam ( ), und es zu erreichen sei allen möglich, die nicht von einer Verstümmelung betroffen sind (siehe S. 318). Im Sinne der im vorigen Kapitel (S. 313 ff.) herausgearbeiteten weiteren Einschränkungen wäre der Satz zu ergänzen: Das Glück ist vielen gemeinsam, und es zu erreichen ist allen möglich, deren Natur nicht für
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ethische Trefflichkeit verst mmelt ist und die nicht von fr hester Jugend an und w hrend ihrer ganzen Entwicklung ausschlie lich dem Einflu schlechter Menschen ausgesetzt sind1. Dieser zuversichtlich erblickten M g l i c h k e i t des von vielen zu erreichenden Gl cks steht eine Wirklichkeit gegen ber, die anders aussieht. Die Vielen (οί πολλοί) unterlassen schlechte Handlungen allein aus Furcht vor Strafe; sie leben ihrer Leidenschaft (πάθος), verfolgen die ihnen gem en Freuden und meiden, was Unlust mit sich bringt; des Guten (καλόν) und wahrhaft Freudevollen (αληθώς ηδύ) sind sie nicht gewahr (X 10, 1179bll—16). Da f r die Vielen die Gesetze ein mehr oder minder starker Zwang sind, wurde schon fr her erw hnt (S. 312). Im Sinne der vorigen Stelle werden die Vielen von Aristoteles auch anderw rts charakterisiert: Sie streben nach Geld, Ehre, sinnlichen Gen ssen als dem f r sie H chsten; sie berlassen sich ganz ihren Begierden, ihren Regungen, dem vernunftlosen Teil ihrer Seele2 (IX 8, 1168bl6—21). Von ethischer Trefflichkeit sind sie weit entfernt. Ohne Furcht vor den Strafen, die sie bei bertretung der Gesetze zu gew rtigen h tten, w ren sie schlecht. Die Regung der Furcht bestimmt sie, ihre Ziele im Rahmen der Legalit t zu verfolgen. Auch mit der Behandlung der Unbeherrschtheit und der Beherrschtheit im VII. Buch legt Aristoteles ein weites Zwischenfeld zwischen ethischer Trefflichkeit und Schlechtigkeit frei. Unbeherrschtheit f hrt zu mehr oder weniger verwerflichen Handlungen, ist aber nicht Schlechtigkeit, denn der Unbeherrschte anerkennt treffliche Ziele; sein Streben streitet gegen seine Vernunft und bleibt Sieger in diesem Streit. Beherrschtheit macht treffliche Handlungen m glich. Der Beherrschte ist jedoch nicht im eigentlichen Sinn trefflich. Denn er hat schlechte oder zu starke Begierden, deren seine Vernunft allerdings Herr wird. In ihm findet Widerstreit statt, und auch der Sieg seiner Vernunft l t das ungetr bte Gl ck des Mit-sich-selbst-eins-seins nicht aufkommen, das dem Besonnenen eigen ist. Nun sind Unbeherrschtheit (die nicht Schlechtigkeit ist, ihr aber n her kommt als der Trefflichkeit) und Beherrschtheit (die nicht Trefflichkeit ist, ihr aber nahekommt8) selbst in einem 1
— wodurch sie von der μάθησις und επιμέλεια ausgeschlossen w ren, von denen der Fortgang jener Stelle (Zeile 19 f.) spricht. * Entsprechende u erungen, darunter eine noch sch rfere, finden sich in der Politik; vgl. II 7, 1267a41—b5; V l, 1301b40—02a2; V 4, 1304b4 f. 3 Aristoteles bezeichnet sie in diesem Sinne als gemischt (μικτή — IV 15, 1128b33f.).
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gewissen Sinn Extreme, zwischen denen die Haltung der Vielen angesiedelt ist; der Beherrschte n mlich h lt mehr, der Unbeherrschte weniger an guten Zielen fest, als die meisten es verm gen4. — Nimmt man dies alles zusammen, dann zeigen sich die Schlechtigkeit, aber auch die Trefflichkeit als Ausnahmen — die eine wie die andere kommt je nur wenigen zu5. So verwirklichen auch nur wenige das Gl ck trefflichen Handelns. Die meisten halten sich irgendwo zwischen diesem Gl ck und dem Ungl ck eines schmachvollen Lebens. Eine andere Gedankenbewegung f hrt zu einem hnlichen Ergebnis. Ethische Trefflichkeit ist die Haltung, die in den Regungen und beim Handeln auf die Mitte aus ist. In jedem einzelnen Fall ist ihr Ziel die Mitte zwischen dem Zuviel und Zuwenig. Hier aber gilt: „Das Ziel zu verfehlen ist leicht, es zu treffen schwer" (ρ