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Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 23
Heimkehr: Eine zentrale Kategorie der Nachkriegszeit Geschichte, Literatur und Medien
Herausgegeben von
Elena Agazzi und Erhard Schütz
Duncker & Humblot · Berlin
ELENA AGAZZI / ERHARD SCHÜTZ (Hrsg.)
Heimkehr: Eine zentrale Kategorie der Nachkriegszeit
Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 23
Heimkehr: Eine zentrale Kategorie der Nachkriegszeit Geschichte, Literatur und Medien
Herausgegeben von
Elena Agazzi und Erhard Schütz
Duncker & Humblot · Berlin
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Inhaltsverzeichnis Elena Agazzi und Erhard Schütz Heimkehren – Ein Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Rainer Schulze Als Deutsche zu Deutschen? Geschichten einer Heimkehr in die Fremde: Umgesiedelte, Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten . . .
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Henning Wrage Flucht – Ankunft – Wandlung. Tradition und Transformation des Motivs der Heimkehr in der DDR-Kultur bis 1961 . . . . . . . . . . . . . .
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Fabrizio Cambi „Des Tags der Heimkehr habe ich geharrt / in deiner heiligen Allgegenwart“. Literatur der Heimkehr und Sozialismus in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR der fünfziger Jahre . . . . . . . . . . . . .
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Arnd Bauerkämper Die Heimkehr aus den USA und der politische Neuaufbau in Westdeutschland. Konservative Wissenschaftler als Förderer der Demokratie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
69
Erhard Schütz „Spätheimkehrer“. Mediale Reflexe zum Mythos von Adenauers Moskau-Reise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eva Banchelli Heimkehr als Gründungsmythos: Walter Kolbenhoff .
. . . . . . . . . 117
Enza Gini „Nachdenklich und hungrig“ – Heinrich Böll kehrt aus dem Krieg heim . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Cecilia Morelli „Ich weiß, ich werde alles wiedersehn, / Und es wird alles ganz verwandelt sein.“ Carl Zuckmayers Rückkehr nach Deutschland . . . . 143 Raul Calzoni „Herzlich willkommen“ – Walter Kempowskis „erzwungene“ Heimkehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
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Inhaltsverzeichnis
Michele Vangi „Sie lauschten dem echten Jazz …“. Generationsnarrationen in Paul Schallücks „Ankunft null Uhr zwölf“ und Hans Benders „Eine Sache wie die Liebe“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 Elena Agazzi Verweigerte Identitäten. Die Geschichte des Valentin Senger (19181997), Jude, Kommunist und Heimkehrer ohne Vaterland . . . . . . . . . . 185 Matteo Galli 1946: Anmerkungen zu einigen frühen Heimkehrer-Filmen
. . . . . . . . . 199
Wolfgang Kabatek Das Gestern im Heute: Inversion und Zukunftsversprechen. Zur Ästhetisierung von Ruinen in Film und Fotografie nach 1945 . . . . . 211 Alexandra Tacke und Geesa Tuch Frauen auf der Flucht. „Nacht fiel über Gotenhafen“ (1959), „Die Flucht“ (2007) und „Die Gustloff“ (2008) im Vergleich . . . . . . . . . . . 229 Simone Costagli Männer und Frauen. Die BRD-Trilogie von Rainer Werner Fassbinder 243 Andrea Rota Wiedersehen mit der Familie, Wiedersehen in der Heimat. „Söhne“ von Volker Koepp . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Personenregister .
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271
Verzeichnis der Autoren .
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Heimkehren – Ein Vorwort Von Elena Agazzi und Erhard Schütz
I. „Die Trümmerzeit ist eine transitorische Zeit … Die Fluktuation auf den Straßen und entlang der Schienen entwickelt sich zur Migrationskultur, die improvisatorische Qualitäten fördert und die Unsicherheit des Reisens mit vagantenhafter Unbekümmertheit bewältigt“1. So, in euphemistisch wirkender Distanzierung eines Miterlebenden ex post, Hermann Glaser in seiner „Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland“ über die Zeit bevor sie zur Bundesrepublik wurde. Düsterer dräuend hat W.G. Sebald das dann 1999 fort- und umgeschrieben: „Die Flucht- und Rückflutbewegungen der ausgebombten Bevölkerung wären also … durchaus so etwas wie Vorübungen zur Initiation in die in den Jahrzehnten nach der Katastrophe sich konstituierende mobile Gesellschaft, unter deren Auspizien die chronische Rastlosigkeit sich in eine Kardinaltugend verwandelte“2. Man kann stattdessen auch nüchtern die Wucht der Zahlen sprechen lassen: Allein auf dem Gebiet des bedingungslos kapituliert habenden Deutschen Reiches oder zu ihm hin etwa 11 Millionen deutsche Soldaten, die aus der Kriegsgefangenschaft oder als disarmed enemy forces aus 20 Gewahrsamsländern nach und in Deutschland unterwegs waren, etwa ebenso viele ehemalige Zwangsarbeiter und Überlebende der Konzentrationslager als displaced persons in Deutschland unterwegs, auf dem Weg in die Länder, aus denen sie verschleppt worden waren, oder ins amerikanische oder palästinische Exil. Über 12 Millionen, die vor der sowjetischen Armee geflohen oder aus Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien, Ungarn und Jugoslawien vertrieben worden waren. Die etwa 3 Millionen aus den bombardierten Städten Evakuierten oder Kinderlandverschickten ebensowenig zu vergessen wie die Millionen, die die Sowjetische Besatzungszone und die DDR vor dem Bau der Mauer verließen. Angesichts der ungeheuerlichen Migrantenströme, die der vom 1 H. Glaser, Die Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1: Zwischen Kapitulation und Währungsreform 1945-1948, Frankfurt a.M. 1990, S. 46. 2 W.G. Sebald, Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, München / Wien 1999, S. 44.
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Nazi-Deutschland angezettelte Krieg in Europa hinterlassen hatte, angesichts der radikalen materiellen Zerstörungen, durch die sie zogen, kurz, angesichts dessen, was man dann gerne existentialistisch als die „Unbehaustheit des Menschen“ beschwor, nimmt nicht wunder, dass die Versuche, dies in Worte und Begriffe zu fassen, allermeist eher vage oder beschränkt wirkten. Ein umso größeres Phantasma wurde da die Heimkehr – mit Hoffnungen, Sehnsüchten und Sentimentalitäten besetzt, zugleich und mehr oft aber mit Zweifeln, Ängsten und Sorgen. Biblisch im Bild vom verlorenen Sohn gefasst, freilich schon überformt von Kafkas „Heimkehr“, hellenisch in der Heimkehr des Odysseus. Mit ihr beginnt 1945 auch Alfred Schütz seinen sozialpsychologischen Versuch „Der Heimkehrer“3. Der Heimkehrer, anders als der Fremde, der weiß, dass er ins Unvertraute, Unbekannte und Ungewöhnliche geht, erwartet, ins Vertraute und ihn Erwartende zurückzukehren; er, wie sehr ihn seine Erlebnisse in der Fremde verändert haben mögen, „muss sich nur auf die Erinnerungen seiner Vergangenheit besinnen“. Doch hat sich die Heimat, der Ort, an den er zurück will, geändert, mit ihm die Menschen dort. Anders als der Heimkehrer haben die Heimischen, „obwohl sie sich des Wechsels bewußt sind, … diese sich wandelnde Welt gemeinsam durchlebt, den Wandel unmittelbar erfahren, ihr Auslegungssystem darauf angepaßt und sich selbst dem Wandel angeglichen. Mit anderen Worten, das System kann sich im ganzen geändert haben, aber es änderte sich als System …“. Und nun der Heimkehrer: „Weder für sich noch für die, die auf seine Heimkehr warten, ist er derselbe“. Alfred Schütz spricht hier im Blick auf die heimkehrenden G.I., er spricht – wohlgemerkt – vom heimkehrenden Sieger in eine vom Krieg verschonte Heimat. Und doch sieht er die Diskrepanzen der wechselseitigen Bilder und Erwartungen als so groß an, dass er – nicht gar so verwunderlich bei seiner Profession – einen Mediator für beide Seiten dringlich anempfiehlt. Oder in seinen Worten: „Wer nach Hause kommt und wer ihn dort willkommen heißt, beide brauchen die Hilfe des weisen Mentors“. Wo es bei den Soldaten professionelle psychologische Beratung ist, mögen immerhin für die Heimat, meint er, Informationen durch „die Presse, das Radio und das Fernsehen“ hinreichen. War das selbst unter den geordneten Bedingungen einer potenten Siegermacht schon eine medial-therapeutische Überforderung, wie viel umso mehr im Land der Verlierer und der verlorenen Heimaten, ohne reibungslos funktionierende Medien und ohne weise Mentoren!
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A. Schütz, Der Heimkehrer, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Bd. 2: Studien zur soziologischen Theorie, hrsg. von A. Brodersen, Den Haag 1972, S. 70-84.
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In seinem „Brief an einen Heimkehrer“ begibt sich Peter Suhrkamp 1946 einem Kriegsheimkehrer gegenüber in die Position eines Mentors, der am Ende einen idealen Mentor entwirft. Es verlohnt, hier eingangs etwas ausführlicher bei diesem Text zu verweilen, weil er ein ganzes Bündel der zeitgenössischen Selbstinterpretamente in den typischen Argumentations- und Sprachmustern aufruft. Zunächst verweist er obligat auf die zertrümmerte Heimat: „Wenn einmal ein Augenblick innerer Ruhe für Sie gekommen ist, dann blicken Sie mit offenen Augen um sich: sehen Sie bewußt die Zerstörungen überall und die Ruinen von Menschen in den Trümmern. Das ist unsere augenblickliche Existenz, die Gegenwart –: das Ergebnis unserer Vergangenheit. Müssen nicht Dämonen gehaust haben? … Eine solche Situation verlangt den metaphysischen Menschen“4.
Der Heimgekehrte steht vor dieser Situation wie zugleich vor dem Verlust seiner bisherigen „Existenzform“: „Sie waren in vier Jahren auf dem Balkan, in Frankreich, Norwegen und Holland. Allein im letzten Jahr wurden Sie in Italien noch vom Norden bis zum Süden und nach Afrika verschlagen … Jetzt hat diese Existenzform ein plötzliches Ende gefunden und wer sind Sie nun?“5 Suhrkamp beschwört das tertium comparationis zwischen zerstörter Heimat und verlorener Kriegsexistenz in der seelischen Ruinierung, die bereits mit der Zerstörung jüdischer Existenzen ihren Anfang genommen habe: „Für mich jedenfalls gehörten die ausgebrannten Ruinen der Synagogen und die verwüsteten Häuser der Juden aus dem November 38 zu den Trümmern dieses Krieges. In Bombennächten des November 43 hörte ich das Brechen von Glas, Gebälk und Mauerwerk in jener Novembernacht 38 wieder, und hinter den Bränden über den Dächern der Stadt nach Bombenangriffen stand der Reichstagsbrand vom Anfang des Jahres 33“. Emphatisch zugespitzt: „Wir sind nicht gewöhnliche Besiegte, wir erleiden nicht nur die Niederlage, wir sind die Niederlage“6. Dann kommt er auf die zeitgenössischen Reaktionen zu sprechen, auf die Wahrnehmung des Verstummens und Schweigens zumal: „Mir fällt auf, daß die meisten aufgehört haben, von ihren Geschicken zu sprechen oder zu erzählen; so viel haben sie schon erduldet, daß sie Schweigen schätzen und es üben. Die laute Verzweiflung als bequeme Erlösung, sie ist fast verstummt“7. Und nun imaginiert er, der sich hier dem Heimgekehrten als Gegenwartsdeuter offeriert hat, einen idealen Mentor in dieser Gegenwart, einen „Mann 4 P. Suhrkamp, Brief an einen Heimkehrer, in: ders. (Hrsg.), Taschenbuch für junge Menschen, Berlin 1946, S. 145-174, hier S. 145. 5 Ebd., S. 148 f. 6 Ebd., S. 157 f. 7 Ebd., S. 166 f.
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von Welt“, ausgestattet mit eben jenen im Nationalsozialismus spätestens problematisch gewordenen Eigenschaften der Sachlichkeit: „Unsentimental, stark und sachlich konstatiert er das Ende einer Welt, in der es nicht nur Anhänger des Bösen, der Unwahrheit, der Gewalt, sondern ebenso leidenschaftliche Kämpfer für die Wahrheit, das Gute und die Schönheit gegeben hat. Das ist nun zum soundsovielten Male das Ende. Und da … wendet er sich, kehrt jeder Vision einer Welt und allen glänzenden ldeen den Rücken. Aber nicht, um in eine aristokratische oder; mönchische Einsamkeit zu gehen, sondern um zu den anderen zu gehen … Gleichheit kann es nicht geben, aber Einheit. Er will … da sein, wo alle sind, wo alle ‚zu Hause‘ sind. Es ist so wichtig, daß alle wieder mit den Elementen beginnen und nicht mit ihren Vorstellungen von einer fertigen Welt, in der ihr Wille geschehen soll“8.
II. Das Bewusstsein, eine Katastrophe ohne Gleichen überlebt zu haben, ist das grundlegende Empfinden des Heimkehrers, ob es sich dabei um einen ehemaligen Kämpfer an der Front handelt, einen Flüchtling oder Vertriebenen, der durch den Vormarsch der aus Osten kommenden sowjetischen Armeen in Richtung Westen vorangetrieben wird, um einen ehemaligen Gefangenen der unzähligen Arbeitslager in den USA oder in der UDSSR, oder, was noch weitaus dramatischer ist, um einen der wenigen den Vernichtungslagern entkommenen Juden9. Von der Wahrnehmung einer beispiellosen Katastrophe zeugen die Berichte derer, die den Zweiten Weltkrieg an der Front überlebten. Für Heroismus war hier, im Gegensatz zu entsprechenden Schilderungen des Ersten Weltkriegs, kaum mehr Raum. Die Technisierung der Kriegsmaschinerie, die Massenvernichtungswaffen hatten das Schlachtfeld zu einem entmenschlichten Ort der Vernichtung werden lassen, an dem individuelle Schicksale oder gar Heldentaten nicht mehr zählten. Insbesondere die Texte über Stalingrad später indizieren das: individuelle Tapferkeit bleibt letztlich sinnlos10. Helden sind nurmehr die namenlos Leidenden; allenfalls sind es Ärzte, deren heillosem 8
Ebd., S. 173 f. Vgl. M. Brenner, Nach dem Holocaust. Juden in Deutschland 1945-1950, München 1995; R. Gay, Das Undenkbare tun, Juden in Deutschland nach 1945, München 2001; J. Schoeps, Leben im Land der Täter, Berlin 2002; F. Keilhack, Der Umgang mit Juden und Holocaust in der SBZ/DDR 1945-1989, München 2004; A. Königseder / J. Wetzel, Lebensmut im Wartesaal. Die jüdischen DPs (Displaced Persons) im Nachkriegsdeutschland, Frankfurt a.M. 2005. 10 Vgl. etwa M. Kumpfmüller, Die Schlacht von Stalingrad. Metamorphosen eines deutschen Mythos, München 1995, oder J. Bernig, Eingekesselt. Die Schlacht um Stalingrad im deutschsprachigen Roman nach 1945 (German Life and Civilization, 23), New York u.a. 1997. 9
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Kampf gegen den Massentod durch Waffen, Hunger und Frost ein Denkmal gesetzt werden darf, oder die, wie Peter Bamm, sich selbst eins setzen. Die massierte Bombardierung der deutschen Städte durch die britische und amerikanische Luftwaffe lässt auch hier das Abstraktwerden eines Krieges sichtbar werden, der nurmehr auf Zerstörung des Gegners aus ist, ohne zwischen zivilen und militärischen Opfern oder Personen- und Materialtreffern unterscheiden zu können, ja, zu wollen. Aber nicht nur das Bewusstsein, einer Katastrophe entgangen zu sein, ist wesentlicher Bestandteil der psychologischen Verfasstheit derer, die in den Reihen der Wehrmacht kämpften, sondern schon während des Krieges manifestierte sich bei vielen eine kaum zu entwirrende Verflechtung vom Wissen darum, für ein verbrecherisches System zu kämpfen einerseits, und der äußeren wie inneren Verpflichtung gegenüber dem Heer, dem man als Soldat die Treue geschworen hatte andererseits. Wie schwer dieses für den Einzelnen kaum zu fassende Schuldgefühl noch während der Phase des Wiederaufbaus auf den Beteiligten lastet, kann man in den zahlreichen autobiographischen Zeugnissen dieser Zeit nachlesen. Trauma und Schuldgefühl erweisen sich somit als die zwei Gesichter einer Epoche, mit denen man in Ost und West je unterschiedlich umging. Schien im Osten der schnelle Aufbau des sozialistischen Systems im propagandistisch damit automatisch gekoppelten Antifaschismus eine differenziertere Problematisierung der aus der Vergangenheit resultierenden moralischen Verantwortlichkeiten überflüssig, um desto nachdrücklicher mit dem Finger auf den Westen zu zeigen, so ging man im Westen der Schuldfrage mit offizieller Vehemenz nach, vor allem um die Zeit des Nürnberger Prozesses. Das klang in den nachfolgenden Jahren merklich ab, um in den Jahren des Auschwitz-Prozesses, vor allem dann in den Studentenunruhen und in deren Gefolge zur wesentlichen Konfliktlinie in der Auseinandersetzung zwischen Kindern und Vätern zu werden. Die Frage der ‚Heimkehr‘ ist ein ganz spezifisches Problem im umfassenden Problemkreis der deutschen Nachkriegszeit, das allerdings umfassend noch kaum erschlossen ist. Weitgehend noch fehlt es an Studien seitens der Psychologie und Soziologie, in denen das Phänomen des Traumas der Heimkehr unter der Perspektive des Individuellen und Kollektiven, des Psychosomatischen und Kulturellen sowie ihrer jeweiligen Übergänge und Schnittstellen untersucht wird11. 11 Zur psychologisch-psychiatrischen Diskussion in der Nachkriegszeit siehe z.B. H. Bürger-Prinz / H. Giese (Hrsg.), Die Sexualität des Heimkehrers. Vorträge, gehalten auf dem 4. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Sexualforschung in Erlangen 1956, Stuttgart 1957; K. Gauger, Die Dystrophie als psychosomatisches Krankheitsbild, München 1953; J. Gottschick, Psychiatrie der Kriegsgefangenschaft, Stuttgart 1963;
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Vor allem waren die historischen Konstellationen, aus denen heraus sich das Heimkehren ergab, derart verschieden, dass sich Generalisierungen nur schwer vornehmen lassen. Der Umgang mit Kriegsgefangenen variierte zwischen den einzelnen Ländern erheblich. Entscheidungen etwa darüber, wann die Gefangenen heimkehren durften, inwiefern dies über zivile oder religiöse Organisationen unterstützt wurden, verliefen in den Vereinigten Staaten, Großbritannien, der Sowjetunion und Frankreich12 durchaus unterschiedlich. In der Sowjetunion etwa wurde die Freilassung deutscher Kriegsgefangener aus den Arbeitslagern so hartnäckig verweigert und dann hinausgezögert, dass allein schon wegen der Dauer die russische Gefangenschaft zum Deckbild von Kriegsgefangenschaft schlechthin wurde, obwohl doch die Rheinwiesenlager, die Camps in England, Kanada und den USA oder die französischen Arbeits- und Minenräumeinsätze gänzlich andere Konstellationen zeigten. Darüber hinaus variiert die Art und Weise der Aufnahme von Kriegsheimkehrern an den Orten, an denen sie an ihr früheres Leben anzuknüpfen oder sich ein neues Leben aufzubauen hofften. Heimkehr wurde nicht selten zur großen Tragödie des Menschen, auf den man nicht mehr wartete und der bei seiner Rückkehr nurmehr Tote oder eine fatale Familiensituation vorfand. Es ist indes auch die große Tragödie desjenigen, der auf Ablehnung stößt, weil er etwa zu den Flüchtlingen aus den deutschen Ostgebieten oder zu den Volksdeutschen zählte, den aus Ost- und Südosteuropa stammenden deutschsprachigen und -kulturellen Minderheitengruppen. Die Folge war nur allzu oft Ausgrenzung von Menschen, die angesichts der Suche nach Stabilität in einem von Hunger und Arbeitslosigkeit gegeißelten Deutschland als unliebsame Konkurrenten angesehen wurden13. Dieses unterschiedlich ausgeprägte Konfliktpotential steht dabei allerdings auch dem wachsenden U. Gries, Abbau der Persönlichkeit. Zum Problem der Persönlichkeitsveränderung bei Dystrophie in sowjetischer Kriegsgefangenschaft, München 1957; vgl. auch S. Goltermann, Verletzte Körper oder „Building National Bodies“, Kriegsheimkehrer, „Krankheit“ und Psychiatrie in der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft, 1945-1955, in: Werkstatt Geschichte, 8 (1999), 24, S. 83-98, sowie Ch. Winkler, Männlichkeit und Gesundheit der deutschen Kriegsheimkehrer im Spiegel der Ärztekongresse des „Verbands der Heimkehrer“, in dies., Männlichkeit und Gesundheit im historischen Wandel, Stuttgart 2007, S. 157-173. Ansätze einer Zusammenschau aus volkskundlicher Sicht liefert A. Lehmann, Gefangenschaft und Heimkehr, Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion, München 1986. Aus sozialgeschichtlicher Perspektive siehe etwa die Skizze von P. Steinbach, Die sozialgeschichtliche Dimension der Kriegsheimkehr, in: A. Kaminsky (Hrsg.), Heimkehr 1948, München 1998. 12 Vgl. z.B. A.L. Smith, Heimkehr aus dem Zweiten Weltkrieg. Die Entlassung der deutschen Kriegsgefangenen, Stuttgart 1985. Dieser Text enthält eine umfangreiche Bibliographie. 13 Vgl. dazu besonders plastisch A. Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, Berlin 2008.
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Bemühen gegenüber, die den Heimkehrern entgegengebrachten Ressentiments, Feindseligkeiten und Nichtzugehörigkeit zu überwinden. Nicht zuletzt ist ,Heimkehr‘ nicht nur eine reale, sondern gleichsam immer auch eine mentale Kategorie. Geht es einerseits um die tatsächliche Rückkehr derer, die lange abwesend waren14, dann ist Heimkehr immer wieder auch das hoffnungsvoll erwartete Ereignis, das niemals eintritt – man denke nur an die eineinhalb Millionen Soldaten, die nach 1949 als „vermisst“ gemeldet wurden, und an die fünf Millionen und dreihundertzwanzigtausend Toten, die dagegen identifiziert wurden und bestattet werden konnten. Ist der Topos der Heimkehr mithin untrennbar mit dem Ende Krieges und dem Neubeginn nach 1945 verbunden, dann wird der Zustand des Heimkehrers, sowohl aus moralischer, mentaler oder materieller Sicht, zum nachhaltigen Motiv der literarisch-künstlerischen Produktion des ersten Jahrzehnts der Nachkriegszeit. Der Schwerpunkt des Interesses von Schriftstellern und Regisseuren schwankte zwischen verunsicherten Individuen und dem desolaten Anblick von in Trümmern liegenden Städten und nutzte, ausgehend vom kleinsten gemeinsamen Nenner von Verfall und Zerstörung, bisweilen ausgiebig die Beziehung zwischen dem Bild der ,Trümmer‘ und dem der ‚Ruinen‘. In „Der Tod in Rom“ von Wolfgang Koeppen (1954) etwa, ist die Ankunft eines unerschütterlichen Nazis wie Judejahn in der „heiligen Stadt“, der wieder aus seinem provisorischen Versteck in kulturell sanktionierten Ruinen auftaucht, um dem Nürnberger Kriegsgericht zu entkommen, eine ,Rückkehr‘ ins bürgerliche Leben, die das Andenken an die unzähligen Heimkehrer verletzt hat, welche den Krieg und die nationalsozialistische Gewalt erlebt haben. Besonders plastisch machte der zeitgenössische „Trümmerfilm“ als stets auch Heimkehrerfilm die kurrenten Topoi der Zeit. So lässt Gerhard Lamprecht in „Irgendwo in Berlin“ (1946) den traumatisierten Heimkehrer angesichts einer Mitwelt, für die die Trümmerlandschaft Berlins zum Alltag geworden scheint, sagen: „Die ganzen Jahre draußen. Immer im Dreck. Dann die Gefangenschaft. Man hält das ja nur aus, weil man an zu Hause denkt. Da ist die Frau, der Junge, die
14 Was die literarische Welt angeht, so ist die Bedeutung der Debatten und Kontroversen um die Beziehungen zwischen den Vertretern der „Inneren Emigration“ (unter denen Gottfried Benn hervorsticht) und den „Exilautoren“ (aus denen Thomas Mann als Mentor eines Vaterlandes hervortritt, in das er nicht zurückzukehren beabsichtigt) von besonderem Wert. All das ist ausführlich dokumentiert im Band: Fremdes Heimatland. Remigration und literarisches Leben nach 1945, hrsg. von I. von der Lühe / C.-D. Krohn, Göttingen 2005. Man beachte auch den bedeutenden Text von P. Mertz, Und das wurde nicht ihr Staat. Erfahrungen emigrierter Schriftsteller mit Westdeutschland, München 1985.
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Garage. Alles habe ich vor mir gesehen, so wie es aussah als ich weg mußte. Und dann kommt man zurück. Und alles was man sich so mühsam geschaffen hatte, ist zerstört. Einfach nicht mehr da“.
Während diese Figur am Ende durch die aufbauwillige Gemeinschaft aus ihrer larmoyanten Lethargie geholt wird, ist es 1947 in „Und über uns der Himmel“, Josef von Bakys Pendant aus dem amerikanischen Sektor zu Lamprechts Defa-Film, der heimgekehrte Sohn, der mit seinem Rigorismus des für eine schlechte Sache Geopferten den Vater aus der moralisch verkommenen Schiebergesellschaft und zusammen mit ihm die Stadt von dieser befreit. Besonders eindrücklich ist hier die Differenz der Erwartung des Heimkehrers zur ihn erwartenden Realität ins Bild gesetzt: Der Erblindete wird durch das zertrümmerte Berlin gefahren, während er Bilder des heilen Vorkriegs-Berlins evoziert. Wieder sehend, wird er dann umso härter mit dem Elend der Stadt und der Menschen konfrontiert. In der Literatur hieß ab Mitte der vierziger Jahre der Versuch, neue ästhetische und formale Voraussetzungen zu schaffen, sich mit Autoren konservativer Traditionslinien, wie Werner Bergengruen, Gertrud van le Fort, Hans Carossa, Rudolf Hagelstange auseinanderzusetzen, die denn etwa Wolf Dietrich Schnurre drastisch als „reimende Lügner“, „pensionierte Propheten“ und „spreizfüßige Pfaffen“ betitelte15. Aus Sicht der jungen Autorengeneration der Nachkriegszeit durfte diese Strömung, die durch Fatalismus und Resignation gegenüber dem göttlichen Willen inspiriert war, sich wieder eine – vorwiegend – katholische Weltsicht mehr zusammensetzte denn erwarb, unter keinen Umständen dem Prozess der kulturellen Erneuerung hinderlich sein. Deren spirituelle „Heimkehr“ ins „Haus des himmlischen Vaters“ blieb verpönt. Man selbst richtete sich ‚sachlich‘, nüchtern, desillusioniert, wie man meinte, in einer Literatur der Trümmer ein, in der freilich oft genug die Reste der kirchlichen oder antiken Mythologie von ehedem hervorstachen oder von einer Ruderalnatur überzogen wurden …
III. Das von Peter Suhrkamp beschworene reset auf einen gemeinsamen Anfang, das er für Daheimgebliebene und Heimgekehrte, für Reife wie um ihre Jugend gebrachte sich wünschte, galt freilich in den Augen der meisten seiner Zeitgenossen dann doch nicht für alle – vor allem für jene nicht, deren Heimkehr man gar nicht erst erwog oder, wenn sie denn trotzdem zurückkamen, mit denen gemeinschaftlich umzugehen man kaum versuchte: Es waren 15 Vgl. W. Brettschneider, Zorn und Trauer. Aspekte deutscher Gegenwartsliteratur, Berlin 1979, S. 39 ff.
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ja nicht nur die Literaten der Gruppe 47, die gegenüber den Remigrierten, gegenüber den aus dem Exil Zurückgekommenen oder auch nur Rückkehrwilligen, gar auf Rückruf Wartenden sich schwer taten. „Zivilpersonen, die sich aus Kriegsfolgegründen außerhalb ihres Staates befinden; die zwar zurückkehren oder eine neue Heimat finden wollen, dieses aber ohne Hilfestellung nicht zu leisten vermögen“ – die Definition von Displaced Persons, die im Aministrative Memorandum No. 39 der Supreme Headquarters Allied Expeditionary Forces (= SHAEF) gegeben wurde16, galt, wenn man zu den Kriegsfolgen die Kriegs(vorbereitungs)gründe hinzu nahm, nicht nur für die verschleppten Arbeitssklaven, sondern auch für die im Vorfeld vertriebenen Eliten17. Das Gesamt deutschsprachiger Exilierter wird auf ca. eine halbe Million Menschen geschätzt, die in insgesamt 75 Länder verstreut wurden; ein Viertel von ihnen fand in den USA Zuflucht, wo sie nicht zuletzt eine Renaissance des Gelehrtentums auslösten18. Etwa 30.000 von ihnen kamen zurück, ca. 7.000 politisch und ca. 12.000 bis 15.000 rassisch Verfolgte. „Im Vergleich zur Emigration war Remigration jedenfalls kein Massenphänomen“ – so lakonisch Marita Krauss19. Freilich, es waren nicht nur politische, wissenschaftliche und künstlerische Eliten gewesen, die vertrieben wurden, sondern auch viele ‚kleine‘ oder ‚einfache‘ Leute. Ist jedoch der Forschung schon immer schwer gefallen, deren Schicksal im Exil zu eruieren, umso mehr das der Remigranten unter ihnen. Ohnehin ist hier nur schwer zu generalisieren. Marita Krauss leitet ihre umfängliche Darstellung gewiss zu Recht programmatisch so ein: „Die Geschichte der Remigration steckt voller Brüche und Widersprüche. Es bleibt aber vor allem die Geschichte von Einzelschicksalen“20. Die jedoch haben stets symptomalen Charakter, wie der Aufsatz von Arnd Bauerkämper in diesem Band zeigt, der sich zwei Remigranten des politischen Konservatismus widmet. Indes, so groß oder historisch prägend die Namen inzwischen sind, die man für gewöhnlich als erste anzuführen pflegt, von Theodor W. 16 Hier zitiert nach W. Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum Heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945-1951, Göttingen 1985, S. 16. 17 So der Titel des Sammelbandes von G. Schulz (Hrsg.), Vertriebene Eliten. Vertreibung und Verfolgung von Führungsschichten im 20. Jahrhundert, München 2001. 18 Vgl. C.-D. Krohn, Vertriebene Intellektuelle aus dem nationalsozialistischen Deutschland, in: G. Schulz (Hrsg.), Vertriebene Eliten. Vertreibung und Verfolgung von Führungsschichten im 20. Jahrhundert, München 2001, S. 61-81, hier S. 71. 19 Vgl. M. Krauss, Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945, München 2001, S. 10. Vgl. auch ders., Die Rückkehr einer vertriebenen Elite. Remigranten in Deutschland nach 1945, in: G. Schulz (Hrsg.), Vertriebene Eliten. Vertreibung und Verfolgung von Führungsschichten im 20. Jahrhundert, München 2001, S. 103-123, hier S. 105. 20 M. Krauss, Heimkehr in ein fremdes Land, S. 7.
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Adorno bis Herbert Wehner, von Willy Brandt bis Carl Zuckmayer, Bertolt Brecht bis Wilhelm Pieck, Max Brauer bis Anna Seghers, Ernst Bloch bis Ernst Reuter, darüber darf nicht vergessen werden, wie viele Schicksale anders verliefen. Von daher mag selbst eine einschränkende Bilanz wie die folgende noch zu euphemistisch erscheinen: „Ein Teil – aber eben nur ein Teil – des kulturellen Verlusts, den die NS-Diktatur durch die Vertreibung vor allem jüdischer, aber auch nichtjüdischer Angehöriger der kulturellen Elite seit 1933 herbeiführte, konnte in den Jahrzehnten nach 1945, wenn auch mit Brüchen und Verzögerungen, allmählich wieder ausgeglichen werden“21.
Generell festzuhalten bleibt ohnehin ein spannungsvolles Verhältnis zum Land der Heimkehr. Wahrscheinlich konnte für Ort und Zeit des Exils allermeist gelten, was Bertolt Brecht pointiert formulierte: „… Vertriebene sind wir, Verbannte. / Und kein Heim, ein Exil soll das Land sein, das uns da aufnahm“22. Mit Sicherheit aber belegen zahlreiche Reflexionen und Bemerkungen zur Heimkehr und zur ehemaligen Heimat das hohe Maß des Bewusstseins, das, was einmal Heimat war, nie mehr wiederfinden zu können. Dass man dort nicht oder zu skandalösen Konditionen nur willkommen war, gehörte ohnehin zur Grunderfahrung. Der Dramatiker und Regisseur Berthold Viertel schreibt beispielsweise 1945 im Exil von Stimmen, die laut würden, „welche die geistigen Repräsentanten im Exil zur Rückkehr einladen“, weiss aber dann als Beispiel nur Italien anzuführen, in dem nun statt Mussolini Toscanini gerufen werde, weil man sich wieder mit einem „Künstler von Prominenz und internationaler Geltung“ schmücken wolle. Und er setzt nicht ohne Bitterkeit hinzu: „Vielleicht hätte es die Umkehr noch überzeugender dargetan, wenn der Ruf zur Heimkehr an alle durch das Dritte Reich Entrechteten und Beraubten, an alle verbannten und geflüchteten Juden gegangen wäre“23. Verbittert zeigt sich auch der Jurist Robert Rie in einem offenen Brief an den österreichischen Bundeskanzler: „Kein Tag beinahe vergeht, an dem nicht die Post Briefe … brächte … voll von Berichten des Ausgestandenen, von Schilderungen der Ruinen, des Hungers, der Not … Aber selten schließen diese Briefe ohne Hinweis auf die Möglichkeit, die
21 H. Möller, Die Remigration von Wissenschaftlern nach 1945, in: E. Böhne / W. Motzkau-Valeton (Hrsg.), Die Künste und die Wissenschaften im Exil 1933-1945, Gerlingen 1992, S. 601-614, hier S. 613. 22 B. Brecht, Über die Bezeichnung Emigranten (1937), in: W. Hecht u.a. (Hrsg.), Bertolt Brecht. Werke, Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 12: Gedichte 2: Sammlungen 1938-1956, Darmstadt, 1998. S. 81. 23 B. Viertel, Rückkehr nach Europa?, in: W.R. Langenbucher / F. Hausjell (Hrsg.), Vertriebene Wahrheit. Journalismus aus dem Exil, Wien 1995, S. 338-342, hier S. 338.
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wir Emigranten hätten, den Absendern Liebesgabenpakete zu schicken … Nicht um Lebensmittel sollen uns unsere alten Landsleute bitten, sondern um unsere Rückkehr …“24.
Bleibt aber, selbst wenn die Anfragen zur Rückkehr dann kommen sollten, das nicht zu Vergessende und kaum zu Vergebende – und es bleibt die Präsenz der anderen, der Mitmacher und Opportunisten. So schreibt der große Kritiker und einzigartige Feuilletonist Alfred Polgar, nachdem er eine ganze Reihe solcher Kollegen aufgezählt hat: „An namhafte Emigranten kommen aus der Heimat Aufforderungen, zurückzukehren, um am Wiederaufbau der deutschen Kultur teilzunehmen. Mit den vorerwähnten Kollegen und anderen deretgleichen25. Es lag aber nicht nur an den bösen Erinnerungen, an den aktuellen Kränkungen und zukünftigen Befürchtungen der Exilierten, nicht nur an den schuldbeladenen Aversionen und abwehrenden Projektionen, am Futterneid oder der Subsistenzangst der Daheimgebliebenen oder geschlagen und gezeichnet aus dem Krieg Heimgekehrten, dass die Remigration vielen so schwer gemacht wurde, sondern zuvor bereits an bürokratischen Hürden oder taktischem Kalkül der Besatzungsmächte. So bedurfte es zunächst schon der Genehmigung durch ein Entry Permit. „Wer nicht unmittelbar von den Besatzern gebraucht oder angefordert wurde“, beschreibt Marita Krauss die Praxis im Westen, „mußte meist wesentlich länger auf seine Rückkehr warten. Um überhaupt die Chance einer Einreisegenehmigung zu bekommen, sollte der Emigrant nachweisen, daß er in Deutschland gebraucht wurde … Ein ‚Recht auf Heimkehr‘ gab es dabei erst einmal nicht. Die vielen Auflagen, denen eine Ausreise und dann auch eine Einreise in das besetzte Deutschland unterworfen wurden, macht deutlich, daß die Sowjets wie die Amerikaner und die Engländer den Emigranten nur bedingt Vertrauen entgegenbrachten“26.
In der sowjetischen Besatzungszone wurde Remigranten zwar entschiedener geholfen, freilich nur jenen Kommunisten, die in der Sowjetunion die stalinistischen „Säuberungen“ überlebt hatten. Marita Krauss führt zudem an, dass Robert Murphy, ranghöchster politischer Berater der amerikanischen Militärregierung davon abriet, Remigranten mit höheren Verwaltungspositionen zu betrauen, um die Ressentiments der Einheimischen nicht zu fördern. „Die von ihm befragten politischen Führer hatten erklärt, die Emigranten seien zu lange weggewesen und nicht mit den deutschen Bedingungen oder Leiden 24 R. Rie, Offener Brief aus der Emigration (1946), in: W.R. Langenbucher / F. Hausjell (Hrsg.), Vertriebene Wahrheit, S. 347 f. 25 A. Polgar, Die und wir (1945), in: W.R. Langenbucher / F. Hausjell (Hrsg.), Vertriebene Wahrheit, S. 346. 26 Vgl. M. Krauss, Heimkehr in ein fremdes Land, S. 69-71.
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vertraut“27. Ob es gleich im August 1948 die vor allem gegen Thomas Mann gerichteten, perfiden Bemerkungen von Frank Thiess waren, in denen er gegen die von den „Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie“ zuschauenden Exilierten den eigenen Heroismus des Erlebens und Erleidens pries28, oder ob in Eduard von Borsodys Verfilmung von Hans Venatiers Bestseller „Der Major und die Stiere“ (1955) sich endemische Bayern und bodenständige GIs sehr wohl verstehen, während der CIC-Offizier, ein deutscher Emigrant in US-Uniform, zum notorischen Störenfried wird – das Argument der Entfremdung von den einheimischen Verhältnissen und Menschen bildete stets den Kern der Vorbehalte gegenüber den Remigranten. Und leicht diente dann eine schillernde, auch unter Remigranten sehr umstrittene Figur wie Hans Habe billig zur Rechtfertigung der Aversionen. Doch selbst wenn sie davon gar nicht betroffen waren, nahmen die Zurückgekommenen eine viel grundsätzlichere Entfremdung wahr. Selbst der zu fröhlichem Optimismus entschlossene Carl Zuckmayer notiert rückblickend in seiner Autobiographie: „Die Fahrt ins Exil ist ,the journey of no return‘. Wer sie antritt und von der Heimkehr träumt, ist verloren. Er mag wiederkehren – aber der Ort, den er dann findet, ist nicht mehr der gleiche, den er verlassen hat, und er ist selbst nicht mehr der gleiche, der fortgegangen ist. Er mag wiederkehren, zu Menschen, die er entbehren musste, zu Stätten, die er liebte und nicht vergaß, in den Bereich der Sprache, die seine eigene ist. Aber er kehrt niemals heim“29.
Ähnlich der in der Bundesrepublik höchst einflussreiche Soziologe René König, der ebenfalls rückblickend feststellte, dass er „nicht im eigentlichen Sinne heimgekehrt“ sei, dass er aber „als ein anderer Mensch nach Deutschland gekommen“ sei. „Ein anderer Mensch kehrt aber nicht zurück, sondern geht voran, und er … muß sehen, daß er akzeptiert wird. Das geschieht aber nicht ohne Belastungen. Denn die vielen jüdischen Freunde, die ermordet wurden, kann ich nicht vergessen; ich kann bestenfalls unter Vorbehalt verzeihen“30. Unter bestenfalls wechselseitigem Vorbehalt nur gelang solche Heimkehr, die ohnehin nicht wirklich eine sein konnte. Und so blieb nicht selten über die Rückkehr hinaus, was Alfred Polgar in dem bitteren Aphorismus gefasst hat: „Emigranten-Schicksal: Die Fremde ist nicht Heimat geworden. Aber die Heimat Fremde“31. 27
M. Krauss, Die Rückkehr einer vertriebenen Elite, S. 114. F. Thiess, Die innere Emigration, in: Münchner Zeitung, 18. August 1945, hier zitiert nach: J.F.G. Grosser, Die grosse Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland, Hamburg u.a. 1963, S. 24 f. 29 C. Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir, Stuttgart 1966, S. 461. 30 Zitiert nach M. Krauss, Die Rückkehr einer vertriebenen Elite, S. 104. 31 A. Polgar, Der Emigrant und die Heimat (1945-1947), in: A. Polgar, Kleine Schriften, Bd. 1: Musterung, Reinbek 1982, S. 209-221, hier S. 221. 28
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IV. Mit seinem Beitrag zur Analyse der Situation von Vertriebenen und Flüchtlingen hat Rainer Schulze zugleich einen möglichen Weg der durch den Zweiten Weltkrieg in Mitleidenschaft gezogenen Kriegsheimkehrer im kollektiven Gedächtnis vorgezeichnet. Dabei wies er darauf hin, dass es angesichts der internationalen diplomatischen Beziehungen nach den 60er Jahren ratsam war, jegliche öffentliche Bezugnahme zu ‚Flucht‘ und ‚Vertreibung‘ zu unterlassen, Themen, die erst nach 1989 wieder hochaktuell wurden32. Eine der Triebfedern, die der Debatte über die Heimkehrer im letzten Jahrhundert wieder neuen Schwung gegeben hat, bestand in der verstärkten Aufmerksamkeit darauf, dass auch von Seiten der Alliierten repressiv gegen die deutsche Zivilbevölkerung vorgegangen wurde. Die Diskussion hierum wurde vor allem seit Ende der 90er Jahre von Schriftstellern wie W.G. Sebald, Walter Kempowski, Dieter Forte und Günter Grass ausgelöst33 und wurde im Anschluss daran Gegenstand verschiedener Debatten. Nicht zuletzt mögen diese Debatten und Positionen Anlass für den vorliegenden Band gewesen sein. Widmet er sich überwiegend der literarischen und filmischen Darstellung des Motivs der Heimkehr nach dem Krieg, dann richtet sich sein Blick doch auch auf jene ‚rückgewanderten‘ Intellektuellen und Schriftsteller, die nach längeren Aufenthalten im Ausland nun Impulse zum Aufbau einer bürgerlichen Gesellschaft demokratischer Ausprägung geben34. Das, was unsere Arbeit zu leisten vermag, ist folglich der Versuch verschiedene Typologien von Heimkehrern in einem künstlerischen uns historischen Zusammenhang abzubilden, und das selbstverständlich ohne jeglichen Anspruch darauf, sämtliche möglicherweise auftretenden Beispiele vollständig aufführen zu können. Denn so individuell jede Art der Erfahrung von ‚Remigration‘ auch ist, so spezifisch wird sie auch dargestellt. Der Begriff der „Heimat“, der wohl noch lange eine unbequeme, verlegen machende Entität bleiben wird, so lange sie deren Missbrauch in der Nazizeit evoziert, nimmt in den Werken vieler hier analysierter Schriftsteller eher die 32 R. Schulze, Zwischen Heimat und zuhause. Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene in (West-) Deutschland 1945-2000, Osnabrück 2001. 33 Vgl. besonders W.G. Sebald, Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, München 1999; W. Kempowski, Das Echolot. Ein kollektives Tagebuch Januar und Februar 1943, 4 Bde., München 1993, sowie ders., Das Echolot. Fuga furiosa. Ein kollektives Tagebuch Winter 1945, 4 Bde., München 1999; D. Forte, Das Haus auf meinen Schultern, Frankfurt a.M. 1999; G. Grass, Im Krebsgang, Göttingen 2002. Zu diesem Thema vgl. auch: Als Feuer vom Himmel fiel. Der Bombenkrieg gegen die Deutschen. Spiegel Special, 2003, 1. 34 Vgl. in diesem Band den Beitrag von A. Bauerkämper, Die Heimkehr aus den USA und der politische Neuaufbau in Westdeutschland. Konservative Wissenschaftler als Förderer der Demokratie?
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profane Bedeutung von „Zuhause“ an, welche indessen – wie beispielsweise Kolbenhoff in seinem autobiographischen Roman „Heimkehr in die Fremde“ (1949)35 – auch das Unbehagen der im Strom der Zeit von Unsicherheit und Entbehrung dahin getriebenen Individuen schildern. Kolbenhoff hat erst viel später, nämlich im Jahr 1984, eine der Geschichten publiziert, die den Gemütszustand einiger ‚privilegierter‘ Kriegsheimkehrer aus den amerikanischen Arbeitslagern besonders eindrucksvoll bildhaft beschreiben und dem Leser einen plastischen Querschnitt durch die Zeit des kulturellen Neuaufbaus in den Nachkriegsjahren in Süddeutschland vermitteln. Den Rahmen lieferte das 1945 in Trümmern liegende München. Jedes Kapitel der „Schellingstraße 48“ beginnt mit einem knappen Bericht über die historischen Fakten aus der Zeit vom 1. Januar 1945 bis zum 1. Januar 1948, die auch die Geschichte der glücklichen Begegnung des Ich-Erzählers (der Kolbenhoffs Züge trägt) mit der Gemeinschaft der Intellektuellen begleiten, welche eine der bekanntesten Zeitschriften der Nachkriegszeit, „Der Ruf. Blätter der jungen Generation“, ins Leben rufen. Als ein Gegenstück zu Hans Werner Richters 1951 erschienenem, voluminösem, auf Interviews und anderen Quellen beruhendem ‚Tatsachenroman‘, „Sie fielen aus Gottes Hand“, der die Schicksalswege von 13 Personen durch ein Lager hindurch beschrieb, gibt hier der Ich-Erzähler mit bemerkenswertem psychologischen Feingefühl dem Leser einen Abriss der verschiedenen Typologien der „Rückwanderer“36 und der ideologischen Wortgefechte, die sie einmal als Antagonisten, ein anderes Mal als menschliche Subjekte definieren, die aufgrund ihres durchlebten Leidens in der Lage sind einander zu verstehen. Am eindrucksvollsten aber ist das incipit dieses Buches, das auf lakonische Weise die beiden Elemente erfasst, die an die Stelle der metaphysisch aufgeladenen und so nicht mehr zu habenden ‚Heimat‘ getreten sind: Wohnung und literarisch-publizistische Arbeit: „Das Schönste und das Unglaublichste in dieser grausamen Zeit war, daß ich schon im Laufe des Jahres 1947 eine Wohnung bekam. Dreieinhalb Zimmer in der Schellingstraße 48, vierter Stock, rechts, gegenüber der ‚Neuen Zeitung‘, in der ich arbeitete“37. 35
W. Kolbenhoff, Heimkehr in die Fremde, Frankfurt a.M. 1988. „In dieser Stadt [München, A.d.A.] schien alles möglich, das hatte ich in der kurzen Zeit meines Aufenthaltes begriffen … Flüchtlinge vom Kaukasus bis zu England, Zigeuner, Weißrussen, Franzosen, die zu Hause mit den deutschen Besetzern mitgemacht hatten, aus den Niederlanden, aus Polen oder aus Jugoslawien, befreite Juden von überall und dann die deutschen Landser. Sie sahen fürchterlich aus. Sie hatten nichts mehr als ihre geflickten Uniformen, ihre schiefen Mützen über den unrasierten, eingefallenen Gesichtern, und manche hatten doch Dinger an den Füßen, die man mit gutem Willen Stiefel nennen konnte“, W. Kolbenhoff, Schellingstraße 48, Erfahrungen mit Deutschland (Süddeutsche Zeitung Bibliothek), München 2008, S. 28. 37 W. Kolbenhoff, Schellingstraße 48, S. 8. 36
Als Deutsche zu Deutschen? Geschichten einer Heimkehr in die Fremde: Umgesiedelte, Flüchtlinge und Vertriebene aus dem Osten Von Rainer Schulze
I. Umsiedlung, Flucht und Vertreibung als kollektive und individuelle Erfahrung „Es war mein sehnlichster Wunsch schon in Bessarabien, Deutschland einmal gründlich zu sehen. Nun ging mein Wunsch in Erfüllung: Im Laufe des Monats Mai [1945] fuhr ich mit einem Pferd, Frauen und Kindern 600 km von Sachsen (Leipzig) bis in den Schwarzwald, in den Heimatort meines Urgroßvaters, wo noch direkte Verwandte wohlsituiert leben. Einen Monat verbrachten wir hier. Mein Pferd war einem Bauern willkommen, aber für uns fand sich im Herkunftsort keine Wohnung, wiewohl wir die einzige Flüchtlingsfamilie waren … [Ich bin] sehr enttäuscht von meinem Vaterland, von dem ich einst so begeistert träumte und sprach“1.
Dies ist ein kurzer Auszug aus dem Bericht des Landwirts Gottlob Enßlen über die Zwangsumsiedlung seiner Familie von Bessarabien in den Bezirk Posen im Warthegebiet im Rahmen des deutsch-sowjetischen Umsiedlungsvertrages vom 5. September 1940 und die Flucht aus dem Warthegebiet vor der heranrückenden Roten Armee im Januar 1945 in Richtung Westen. Über mehrere Stationen kam Enßlen schließlich zurück in den Ort, den sein Urgroßvater 1806 verlassen hatte. Es war eine Art ‚Heimkehr‘, aber es war keine ‚glückliche Heimkehr‘, denn er konnte in der Heimat seiner Vorfahren nicht wieder Fuß fassen, weil niemand bereit war, ihn aufzunehmen, und weil es keine Arbeit für ihn gab – seine beiden Söhne wanderten schließlich nach Kanada aus. Gottlob Enßlen war einer von rund 13 bis 15 Millionen Deutschen, die zwischen 1939/40 und 1950 im Gefolge von staatlich organisierten Zwangsumsiedlungen, Flucht oder Vertreibung ihre traditionellen Siedlungsgebiete 1 Erlebnisbericht des Landwirts Gottlob Enßlen, 30. Dezember 1956, in: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (künftig BMVFK) (Hrsg.), Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa, Bd. 3: Das Schicksal der Deutschen in Rumänien, Bonn 1957, S. 26 f.
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verlassen mussten2. Manche erlebten dieses Schicksal mehrmals innerhalb dieser zehn Jahre; für einige wenige endete dieser Prozess tatsächlich im Herkunftsort oder in der Herkunftsgegend ihrer Vorfahren, aber für fast alle bedeutete es, dass sie ihre angestammte Heimat verloren und sich in einer Umgebung einleben mussten, die sich sehr stark von der unterschied, in der sie geboren und aufgewachsen waren und in der ihre Familien häufig seit Generationen gelebt hatten. Sie wurden nicht ‚heimgeführt‘ oder ‚repatriiert‘, sondern entwurzelt und zwangsumgesiedelt. Trotzdem kann man diesen Prozess im Rahmen der ethnographischen Neuordnung Europas im zwanzigsten Jahrhundert, der von einem ethnozentristischen Nationalismus vorangetrieben wurde, als eine Art kollektive Heimkehr beschreiben: die Heimkehr nationaler Minderheiten in den nationalen bzw. ethnischen Verband innerhalb international vereinbarter oder festgelegter Grenzen bzw. Einflusssphären. Führende Politiker in vielen Ländern haben die Umsiedlungsaktionen so verstanden und mit dieser Begründung offiziell verfochten. Die erste Phase der Zwangsumsiedlungen der deutschen Bevölkerungsgruppen wurde von deutscher Seite initiiert und war Teil der von den Nationalsozialisten verfolgten Politik der ,ethnischen Flurbereinigung‘ in Europa. Im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts schloss das Deutsche Reich zwischen Oktober 1939 und Januar 1941 sieben Umsiedlungsverträge ab, durch die insgesamt rund eine halbe Million Menschen in den deutschen Herrschaftsbereich ,heimgeführt‘ wurden3. In der nationalsozialistischen Propaganda wurden diese (Zwangs-)Umsiedlungen dargestellt als die Erfüllung eines jahrhundertelangen Traums der deutschen Bevölkerungsgruppen, nach Deutschland ‚heimzukehren‘ und mit der deutschen Volksgemeinschaft vereinigt zu werden. Die gesamte Umsiedlungsaktion lief unter dem Motto ,heim ins Reich‘, und offizielle Parolen wie ,Wir kommen glücklich heim‘ oder ,Der Führer rief, und alle, alle kamen!‘ sollten die Begeisterung der betroffenen Menschen ausdrücken4. Der zentrale Monolog in dem nationalsozialistischen (Unterhaltungs-)Film „Heimkehr“ von Gustav Ucicky aus dem Jahre 1941, der das Schicksal einer kleinen Gruppe Wolhynien-Deutscher thematisiert, vermittelte dieselbe Botschaft: 2 Die exakten Zahlen sind nicht zu ermitteln; vgl. dazu S. Reichardt / M. Zierenberg, Damals nach dem Krieg. Eine Geschichte Deutschlands 1945 bis 1949, München 2008, S. 135 f. und insbesondere Anm. 3. 3 H. Hecker, Die Umsiedlungsverträge des Deutschen Reiches während des Zweiten Weltkrieges, Hamburg 1971; siehe auch R. Schulze, „Der Führer ruft!“ Zur Rückholung der Volksdeutschen aus dem Osten, in: J. Kochanowski / M. Sach (Hrsg.), Die „Volksdeutschen“ in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität, Osnabrück 2006, S. 183-204. 4 Siehe dazu auch H. Bosse, Der Führer ruft. Erlebnisberichte aus den Tagen der großen Umsiedlung im Osten, Berlin 1941.
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„Leute, heimkommen werden wir bestimmt … denkt doch bloß, Leute, wie das sein wird, denkt doch bloß, wenn so um uns rum lauter Deutsche sein werden und nicht, wenn du in einen Laden reinkommst, daß da einer jiddisch redet oder polnisch, sondern deutsch! Und nicht nur das ganze Dorf wird deutsch sein, sondern ringsum und rundherum wird alles deutsch sein. Und wir werden so mitten in ihm sein, im Herzen von Deutschland“5.
Den Abschluss des Films bildet der Treck nach Deutschland; an der Reichsgrenze grüßt ein großes Hitler-Bild. Die zweite Phase der Zwangsumsiedlungen begann im Herbst 1944 mit der organisierten Evakuierung deutscher Bevölkerungsgruppen vor der heranrückenden Roten Armee insbesondere aus Kroatien, der Slowakei und dem östlichen Sudetenland. Zeitgleich mit diesen Evakuierungsmaßnahmen begannen in anderen Gegenden die unorganisierten Fluchtbewegungen von Osten nach Westen, die Anfang 1945 Massencharakter annahmen6. In beiden Fällen war die Umsiedlung nur als eine zeitweilige Maßnahme gedacht, und die meisten Menschen waren überzeugt, dass sie nach dem Ende der Kriegshandlungen wieder in ihre Heimat zurückkehren würden. Auch Evakuierung und Flucht können als eine Art kollektive Heimkehr betrachtet werden, denn dahinter stand die Überzeugung, dass eine wenn auch nur zeitweilige Rückkehr in den Kreis der nationalen bzw. ethnischen Gemeinschaft den deutschen Bevölkerungsgruppen die beste Chance auf ein Überleben in den Wirren des Zusammenbruchs der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bot. Die Erwartung einer Rückkehr in die Heimat erfüllte sich allerdings nicht, denn die Alliierten hatten sich bereits während des Krieges auf eine umfassende Umsiedlung der deutschen Bevölkerungsgruppen im Osten und Südosten Europas verständigt7. Vorbild war der griechisch-türkische Bevöl5 Monolog der Lehrerin Maria Thomas (gespielt von Paula Wessely), zitiert in: B. Drewniak, Der deutsche Film 1938-1945. Ein Gesamtüberblick, Düsseldorf 1987, S. 326 ff.; siehe auch H. Hofmann, „Und die Fahne führt uns in die Ewigkeit“. Propaganda im NS-Film, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1988, S. 166. Der Film, mit Paula Wessely, Carl Raddatz und Attila Hörbiger in den Hauptrollen, erhielt auf der Biennale 1941 in Venedig den Pokal des italienischen Ministeriums für Volkskultur. 6 Dazu K.E. Franzen, Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer, Berlin / München 2001; S. Aust / S. Burgdorff (Hrsg.), Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Stuttgart / München 2002; Flucht und Vertreibung. Europa zwischen 1939 und 1948, Hamburg 2004. Als Quellensammlung nach wie vor unverzichtbar ist BMVFK (Hrsg.), Dokumentation der Vertreibung, 9 Bde., Bonn 1953-1962, ND, München 1984; siehe auch Kulturstiftung der deutschen Vertriebenen (Hrsg.), Vertreibung und Vertreibungsverbrechen 1945-1948, Bericht des Bundesarchivs vom 28. Mai 1974, Archivalien und ausgewählte Erlebnisberichte, Bonn 1989. 7 Siehe dazu unter anderem D. Brandes, Der Weg zur Vertreibung, 1938-1945. Pläne und Entscheidungen zum „Transfer“ der Deutschen aus der Tschechoslowakei und aus Polen, 2. Aufl., München 2005. Siehe auch H.-Å. Persson, Rhetorik und Real-
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kerungsaustausch, der in der Lausanner Konvention vom 30. Januar 1923 unter Mitwirkung des Völkerbundes zur friedlichen Lösung des Konfliktes zwischen den beiden Nachbarstaaten vereinbart worden war8. Die Motive für derartige Umsiedlungen reichten von Vergeltung und Rache über Machtfestigung der neu installierten Regime bis hin zur Überzeugung, dass es im Interesse der Friedenssicherung sei, wenn alle Angehörigen einer nationalen oder ethnischen Gruppe in einem ethnisch homogenen Nationalstaat lebten. Der britische Premierminister Winston Churchill sprach sich am 15. Dezember 1944 in einer Erklärung im britischen Unterhaus öffentlich für eine ,Entwirrung‘ der Bevölkerungsgruppen („disentanglement of populations“) aus und befürwortete eine vollständige Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten, die nach Kriegsende an Polen abgetreten werden sollten: Es werde dann kein ,Gemisch‘ von Bevölkerungen mehr geben, das weiterhin endlose Probleme bereiten könnte9. Im Potsdamer Drei-Mächte-Abkommen vom 2. August 1945 wurde dies dann ausdrücklich festgeschrieben und ausgeweitet. Artikel 13 bestimmte, „daß die Überführung der deutschen Bevölkerung oder Bestandteile derselben, die in Polen, Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind, nach Deutschland durchgeführt werden muß“. Im selben Artikel wurde dazu weiter ausgeführt, „daß jede derartige Überführung, die stattfinden wird, in ordnungsgemäßer und humaner Weise erfolgen soll“10. Zu diesem Zeitpunkt waren die sogenannten ,wilden Vertreibungen‘ insbesondere aus der Tschechoslowakei und aus Polen bereits längst im Gange11; das Potsdamer Abkommen führte politik. Großbritannien, die Oder-Neiße-Grenze und die Vertreibung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, Potsdam 1997. 8 S.P. Ladas, The Exchange of Minorities. Bulgaria, Greece and Turkey, New York 1932; R. Hirschon (Hrsg.), Crossing the Aegean. An Appraisal of the 1923 Compulsory Population Exchange between Greece and Turkey, Oxford 2003; B. Clark, Twice a Stranger. Greece, Turkey and the Minorities They Expelled, London 2007. 9 „For expulsion is the method which, so far as we have been able to see, will be the most satisfactory and lasting. There will be no mixture of populations to cause endless trouble … A clean sweep will be made“; Parliamentary Debates (Hansard), Fifth Series, Official Report, House of Commons, Bd. 406, col. 1484. US Präsident Roosevelt hatte bereits am 14. März 1943 in einer Unterredung mit dem britischen Außenminister Anthony Eden seine Unterstützung für Zwangsumsiedlungen von deutschen Bevölkerungsgruppen signalisiert; United States Department of State, Foreign Relations of the United States Diplomatic Papers, 1943, Bd. 3, S. 15. 10 W. Cornides / H. Volle, Um den Frieden mit Deutschland. Dokumente zum Problem der deutschen Friedensordnung 1941-1948 mit einem Bericht über die Londoner Außenministerkonferenz vom 25. November bis 15. Dezember 1947, Oberursel 1948, S. 88 f. 11 D. Brandes, Der Weg zur Vertreibung, S. 377 ff.; siehe auch die entsprechenden Abschnitte in BMFVK (Hrsg.), Dokumentation der Vertreibung; zu Polen auch B. Nitschke, Vertreibung und Aussiedlung der deutschen Bevölkerung aus Polen
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lediglich zu einer organisierteren Form der Vertreibungen; der Grundsatz einer ,humanen Überführung‘ wurde allerdings niemals wirklich umgesetzt. Ende 1950, als der Prozess der massenhaften Zwangsumsiedlungen der deutschen Bevölkerungsgruppen im Wesentlichen abgeschlossen war, waren mehr als 15% der Bevölkerung der Bundesrepublik (der drei Westzonen) und fast 25% der Bevölkerung der DDR (der sowjetischen Zone) Umgesiedelte, Flüchtlinge oder Vertriebene aus den Gebieten außerhalb des Vierzonen-Deutschlands. Nominell waren alle als Deutsche nach Deutschland gekommen, aber im individuellen subjektiven Erleben der Betroffenen stellte sich dies in den meisten Fällen ganz anders dar. Zwangsumsiedlung, Flucht und Vertreibung wurden nicht als eine wie auch immer definierte Heimkehr erlebt, sondern in erster Linie als eine traumatische Entwurzelung und ein Heimatverlust, der sich rasch als endgültig herausstellte, auch wenn sich viele für lange Zeit an die Hoffnung klammerten, doch vielleicht noch eines Tages in ihre Heimat zurückkehren zu können. Das Deutschland, in das sie kamen, erwies sich überwiegend als wenig willens, die Neuankömmlinge solidarisch in ihrer Mitte aufzunehmen. Dies widerfuhr bereits denen, die im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts umgesiedelt wurden. Der Sicherheitsdienst der SS merkte in seinen geheimen Lageberichten kritisch an, „daß die Umsiedler geradezu als lästige Ausländer betrachtet würden … Redensarten wie: ‚Was wollt ihr eigentlich? Warum seid ihr nicht geblieben, wo ihr wart?‘ und Beschimpfungen als ‚Pollacken‘ wären nicht selten“12.
In einem anderen Lagebericht der SS wurde herausgestellt, dass sogar einige Behörden die im Gefolge der Umsiedlungsverträge ins Deutsche Reich gekommenen Deutschen „wie fremdvölkische Arbeitskräfte“ behandeln würden und zum Beispiel das Arbeitsamt in Lünen Umsiedlern „durch Dienstsiegel“ auf einer Karte für ausländische Arbeiter bestätigt habe, „daß sie die deutsche Sprache nicht beherrschen“13. Einige Verwaltungen hätten die Einstellung: „Erst kommen unsere Einwohner dran und dann die Umsiedler“14. Im gleichen Sinne äußerten sich diejenigen, die mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges als Flüchtlinge oder Vertriebene in das Vier-Zonen-Deutschland 1945-1949, München 2003, S. 65 ff.; zur Tschechoslowakei P. Pykel, The Expulsion of the Germans from Czechoslovakia, in: S. Prauser / E.A. Rees (Hrsg.), The Expulsion of the ‚German‘ Communities from Eastern Europe at the End of the Second World War, San Domenico, Florenz 2004 (EUI Working Paper HEC No. 2004/1), S. 11-20, hier S. 16 ff. 12 Meldungen aus dem Reich Nr. 300 vom 16. Juli 1942, in: H. Boberach (Hrsg.), Meldungen aus dem Reich 1938-1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS, Herrsching 1984, Bd. 10, S. 3961 ff. 13 Meldungen aus dem Reich Nr. 267 vom 12. März 1942, ebd., Bd. 9, S. 3461. 14 Meldungen aus dem Reich Nr. 300 vom 16. Juli 1942, ebd., Bd. 10, S. 3963.
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kamen. Frau B., die 1946 aus Schlesien ausgewiesen wurde, erinnerte sich später: „[W]ir haben uns eigentlich gefreut, als die Aufforderung kam, unsere Heimat zu verlassen. Weil wir dachten, Gott sei Dank, jetzt kommen wir endlich zu unseren – ich will’s mal so sagen – deutschen Brüdern und Schwestern“15.
Als die Flüchtlinge und Vertriebenen dann allerdings im Vier-ZonenDeutschland ankamen, verhielten sich die Einheimischen keineswegs wie ,Brüder‘ oder ,Schwestern‘. Frau M., die 1946 aus Westpreußen ausgewiesen wurde und in den niedersächsischen Landkreis Peine kam, hat nie vergessen, wie sie behandelt wurde: „Wir waren doch auch nur die Flüchtlinge. Zu mir wurde gesagt: ‚Warum sind Sie denn hergekommen? Sie hätten doch dableiben können‘. Weil keiner Flüchtlinge haben wollte … Die haben doch sogar hinter uns Polacken geschrieen“16.
Herr K., der mit seiner Familie 1945 flüchtete und ebenfalls in den Landkreis Peine kam, ergänzte: „… im Grunde waren die eigentlich auch alle nicht so gut auf die Flüchtlinge gestellt hier. ‚Die Flüchtlinge und die Kartoffelkäfer, die werden wir nie wieder los‘, haben die immer gesagt“17.
Aus fast allen überlieferten Äußerungen der zwischen 1939/40 und 1950 nach Deutschland zwangsumgesiedelten, geflüchteten bzw. vertriebenen Menschen spricht das Gefühl einer großen Heimatlosigkeit, und diese Heimatlosigkeit wurde oftmals als noch bedrückender empfunden als der Verlust des Besitzes, der für fast alle mit der (Zwangs-)Umsiedlung einherging. Damit verbunden war ein starkes Heimweh nach der verlassenen Heimat sowie der Wunsch und die lange Zeit ungebrochene Hoffnung, möglichst bald dorthin zurückkehren zu können, wo man wieder sein eigener Herr und nicht mehr von der Mildherzigkeit anderer Menschen abhängig sein würde. Die Heimat im Osten erschien den meisten dabei mehr und mehr wie ein verlorenes Paradies18. 15 Zitiert in: C. Jäger, „Die Flüchtlinge und die Kartoffelkäfer, die werden wir nie wieder los!“ Flüchtlinge und Vertriebene im Landkreis Peine nach dem 2. Weltkrieg, Peine 2001, S. 13. Die Namen aller Interviewpartner in diesem Band sind anonymisiert. 16 Ebd., S. 44. 17 Ebd. 18 Zum Folgenden siehe A. Kossert, Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008; M. Schwartz, „Zwangsheimat Deutschland“, in: K. Naumann (Hrsg.), Nachkrieg in Deutschland, Hamburg 2001, S. 137-159. Siehe auch R. Schulze (Hrsg.), Zwischen Heimat und Zuhause. Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene in (West-)Deutschland 1945-2000, Osnabrück 2001; M. Wille (Hrsg.), 50 Jahre Flucht und Vertreibung. Gemeinsamkeiten und Unterschiede bei der Aufnahme und Integration der Vertriebenen in die Gesellschaften der Westzonen/Bundesrepublik und der SBZ/DDR, Magdeburg 1997; D. Hoffmann / M. Krauss / M. Schwartz (Hrsg.),
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Für nahezu alle gestaltete sich das Einleben in der neuen Umgebung außerordentlich schwierig. Die meisten Neunankömmlinge fühlten sich ausgegrenzt und unerwünscht, und sie merkten sofort bei ihrem ersten Zusammentreffen mit der alteingesessenen Bevölkerung in den Aufnahmegebieten, dass sie als anders und deshalb in der Regel auch als minderwertig angesehen wurden. Viele klagten darüber, dass sie von den Einheimischen herablassend und bestenfalls als Deutsche zweiter Klasse behandelt würden und keinerlei Verständnis für die eigene schwere Situation fänden. Ein Lehrer aus Brief in Schlesien, der nach Wathlingen im Landkreis Celle kam, berichtete: „Ich bin so sehr enttäuscht von den niedersächsischen Bauern, vor allem von den Wathlingern. Wir Schlesier sind eine großzügige Gastfreundschaft gewohnt. Wir sind Grenzbewohner, und der Deutsche nahm den Deutschen mit einer ganz besonderen Herzlichkeit auf. Wir Deutsche waren ja dort aus allen Teilen Deutschlands zusammengewürfelt … Aber hier haben wir gar kein Entgegenkommen gespürt … Wenn ich nicht drei Jahre in Rußland gewesen wäre und dort den Kommunismus kennengelernt hätte, wäre ich jetzt sicher Kommunist. Aber nun kann ich das nicht … Das Ungerechteste ist die Verteilung der Nahrungsmittel. Es wird höchste Zeit, daß der hiesige Bauer auch mal lernt, was es heißt, betteln zu müssen. Diese Ungerechtigkeit ist schrecklich“19.
Bei Ingeborg W. war die Verbitterung darüber, wie sie und ihre beiden Schwestern von den einheimischen Bauern im Landkreis Celle aufgenommen wurden, in einem Gespräch mehr als fünfzig Jahre später noch immer fast körperlich spürbar: „Und dann haben sie zu uns gesagt: ,Wenn ihr was gehabt hättet, dann hättet ihr ja was mitgebracht‘ … Also zum Heiraten und zum Arbeiten, da waren wir denn noch gut, und die Kinder, [denn wir] kriegten gesunde Kinder, ja, ja, das war schon wichtig“20.
Alfred H., 1924 in Weidicken in Ostpreußen (heute Wejdyki) als einziger Sohn eines kleines Bauern geboren, heiratete nach seiner Flucht in einen einheimischen Hof im Landkreis Celle ein. Auch bei ihm hatte die Erinnerung daran, wie „ganz erbärmlich“ es ihm ergangen war, selbst fünfzig Jahre später noch nichts von ihrer Unmittelbarkeit verloren. Von Seiten der Einheimischen sei ihm nur Neid und Missgunst entgegengeschlagen, weil er einem der Ihren die Einheiratung und damit die Übernahme eines guten Hofes verbaut habe: Vertriebene in Deutschland. Interdisziplinäre Ergebnisse und Forschungsperspektiven, München 2000; S. Schraut / T. Grosser (Hrsg.), Die Flüchtlingsfrage in der deutschen Nachkriegsgesellschaft, Mannheim 1996. Dort auch jeweils Hinweise auf die große Zahl von Lokal- und Regionalstudien zum Flüchtlingszustrom, die in den letzten zwei Jahrzehnten erschienen sind. 19 Kreisarchiv Celle, Sammlung Hannah Fueß, N 298 Nr. 22. 20 University of Essex, Sammlung Rainer Schulze (künftig SRS), Band Nr. 35/2. Die Namen aller Gesprächspartner in diesem Interviewprojekt sind im Folgenden anonymisiert.
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„Wenn ich das gewußt hätte, was das für Schwierigkeiten gibt, hier seßhaft zu werden, dann hätte ich’s nie und nimmer getan, nie und nimmer“21. Die Aufnahmeregionen sahen sich durch den gewaltigen Bevölkerungszustrom vor enorme Probleme gestellt: Die neu hinzugekommenen Menschen mussten untergebracht und mit Lebensmitteln, Heizmaterialien, Möbeln, Hausrat, Kleidung, Schuhen und überhaupt allen Gebrauchsgegenständen versorgt werden, und es mussten Arbeitsplätze bzw. Erwerbsmöglichkeiten für sie geschaffen werden. Die Gegensätze, die sich vor allem in den ländlichen Räumen zwischen Einheimischen und Flüchtlingen auftaten, hätten kaum größer sein können22. Die einheimische ländliche Bevölkerung hatte fast alles behalten: Heimat, Wohnraum, Besitz, angestammte Berufs- und Erwerbstätigkeit, eigenes Land zur Sicherstellung der Ernährung, vor allem auch den angestammten sozialen Status und die gesicherte Identität. Dies sollte nun mit einem Mal mit den Flüchtlingen und Vertriebenen geteilt werden, die das meiste, zum Teil auch alles verloren hatten. Einheimische Dorfbewohner sollten mit Großstädtern, Welfen mit Schlesiern oder Ostpreußen, Protestanten mit Katholiken auskommen; Bauern lebten mit einem Mal mit Menschen unter einem Dach, die Arbeiter bzw. Angestellte waren. Unterschiedliche Normen, Leitbilder, Verhaltensweisen, politische Traditionen und Bräuche wirkten sich in den ländlichen Gegenden sehr viel belastender für das Zusammenleben aus als in großstädtischen, industriell geprägten Gebieten, die schon immer eine gewisse soziale Mobilität und Zuwanderung und damit auch Durchmischung aufwiesen. Doch entgegen allen ursprünglichen Annahmen wurde bereits im Verlauf der 1950er Jahre aus dem Gegeneinander von Einheimischen und Flüchtlingen und Vertriebenen ganz allmählich ein Neben- und dann auch ein Miteinander. Gemeinsame Alltagssorgen und -erfahrungen halfen dabei. Erhebliche Bedeutung bei diesem Prozess des Zusammenwachsens kam im Übrigen der Ankunft einer weiteren Welle von Neuankömmlingen in den ländlichen Gebieten zu: Gegenüber den ‚Stadtflüchtlingen‘ und den ausländischen ‚Gastarbeitern‘, die in den 1960er Jahren in die ländlichen Gebiete kamen, erschienen vielen Alteingesessenen die nun schon sehr viel länger bei ihnen lebenden Flüchtlinge und Vertriebenen mittlerweile fast wie ihresgleichen, SRS, Band Nr. 65/1. R. Schulze, „Wir leben ja nun hier“. Flüchtlinge und Vertriebene in Niedersachsen – Erinnerung und Identität, in: K.J. Bade / J. Oltmer (Hrsg.), Zuwanderung und Integration in Niedersachsen seit dem Zweiten Weltkrieg, Osnabrück 2002, S. 69-100; R. Schulze, Zuwanderung und Modernisierung – Flüchtlinge und Vertriebene im ländlichen Raum in: K.J. Bade (Hrsg.), Neue Heimat im Westen. Vertriebene, Flüchtlinge, Aussiedler, Münster 1990, S. 81-105; R. Schulze, Growing Discontent: Relations between Native and Refugee Populations in a Rural District in Western Germany after the Second World War, in: German History, 7 (1989), S. 332-349. 21 22
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und auch die Flüchtlinge und Vertriebenen haben sich in dieser Situation für die Sicherung ihrer eigenen Position offenbar mehr von einer Solidarisierung mit den Einheimischen versprochen als von einer gemeinsamen ‚Front‘ mit den ‚Neuen‘. Trotz der schwierigen Anfänge hat es die große Mehrzahl der Umgesiedelten, Flüchtlinge und Vertriebenen im Westen erfolgreich ‚zu etwas gebracht‘. Sie fanden Beschäftigung, sie bauten Häuser, sie übernahmen politische Ämter, die jüngeren unter ihnen heirateten und bekamen Kinder, materieller Wohlstand stellte sich ein. Auch wenn sie als Gruppe für lange Zeit immer ein wenig hinter den Einheimischen zurückblieben, nahmen sie teil am steigenden Lebensstandard im Nachkriegsdeutschland, und inzwischen sind die materiellen Unterschiede abgeschliffen. Die Indikatoren, die gemeinhin für eine erfolgreich verlaufene Eingliederung genommen werden, sind ohne Frage vorhanden. Lebensgeschichtliche Interviews, die in den letzten zehn Jahren mit noch lebenden Übersiedlern, Flüchtlingen und Vertriebenen geführt worden sind, zeigen aber, dass es doch immer noch eine ganze Reihe von Bereichen gibt, in denen bis heute erhebliche Unterschiede zwischen beiden Bevölkerungsgruppen bestehen23. Dazu gehört nicht zuletzt die Tatsache, dass es viele in den 1940er Jahren Hinzugekommene nach wie vor schwierig finden, eine umfassende Lebensgeschichte zu formulieren, in der sie ihre Vergangenheit in der ,alten‘ Heimat in einen sinnvollen und sinnstiftenden Bezug zu ihrer Gegenwart in der ,neuen‘ Heimat setzen und an ihrem neuen Lebensmittelpunkt verorten können. Dies wird deutlich in den mehrstündigen lebensgeschichtlichen Interviews, die ich in den letzten Jahren mit mehr als 60 Flüchtlingen und Vertriebenen geführt habe und die in der Sammlung Rainer Schulze zusammengeführt sind. Mit einigen Gesprächspartnern habe ich noch vertiefende Nachgespräche geführt, verschiedene haben mir außerdem Tagebuchaufzeichnungen, Briefe und andere private Unterlagen zur Verfügung gestellt. Alle Befragten sind in Gebieten östlich der Oder-Neiße-Linie geboren, mussten im Gefolge des Zweiten Weltkrieges als Kinder bzw. Jugendliche oder junge Erwachsene ihre Heimat verlassen und sind schließlich, einige über manche Umwege, im Landkreis Celle gelandet, wo sie zum Zeitpunkt des Interviews lebten. Der älteste Gesprächspartner ist 1906 geboren, der jüngste 1940. Dazu R. Schulze, Alte Heimat – neue Heimat – oder heimatlos dazwischen? Zur Frage der regionalen Identität deutscher Flüchtlinge und Vertriebener – Eine Skizze, in: Nordost-Archiv, NF 6 (1997), S. 759-787; R. Schulze, Die deutsche Titanic und die verlorene Heimat. Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus Mittel-, Ost- und Südosteuropa in der deutschen kollektiven Erinnerung, in: Annali dell’Istituto storico italo-germanico in Trento / Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, 29 (2003), S. 577-616. Siehe auch A. Lehmann, Im Fremden ungewollt zuhaus. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945-1990, München 1991; H. Lemberg, Geschichten und Geschichte. Das Gedächtnis der Vertriebenen in Deutschland nach 1945, in: Archiv für Sozialgeschichte, 44 (2004), S. 509-523. 23
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Zwar sind aus den ‚Heimatvertriebenen‘ durchweg respektable und respektierte ‚Neubürger‘ geworden, aber die Eingliederung und Einpassung in die neue Heimat ist häufig nur unvollständig erfolgt. Für fast alle Neuhinzugekommenen waren die alte Heimat und der erzwungene Verlust dieser Heimat prägende Lebenserfahrungen und sind Teil ihrer Identität geblieben – und diese Erfahrungen und Erinnerungen setzen die Zwangsumgesiedelten, Flüchtlinge und Vertriebenen als Gruppe bis heute von den Alteingesessenen ab. Unterschiedlich ist lediglich der Stellenwert, den diese emotionalen und mentalen Aspekte in den individuellen Lebensbiographien einnehmen.
II. Heimat – Heimkehr – Identität Im allgemeinen Sprachgebrauch wird Heimat in der Regel mit dem Ort der Geburt und der ersten Sozialisationserfahrungen gleich gesetzt. In der neuesten Auflage des „Brockhaus“ wird Heimat definiert als „eine teils vorgestellte, teils real angebbare Gegend (Land, Landschaft oder Ort) zu der – aufgrund tatsächlichen Herkommens oder vergleichbarer ‚ursprünglicher‘ Verbundenheitsgefühle – eine unmittelbare und für die jeweilige Identität konstitutive Vertrautheit besteht“24. Der „Duden“ setzt noch hinzu, dass Heimat neben dem Ort, „in dem man geboren und aufgewachsen ist“, auch der Ort sein kann, in dem man „sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt“25. Heimkehr ist danach „nach Hause, an seinen Heimatort, in die Heimat zurückkehren“26. Es gibt zwar einen Plural für Heimat (Heimaten), aber der „Duden“ setzt hinzu: „selten“ (in einer älteren Ausgabe hieß es: „ungebräuchlich“)27 . Die Ansicht, dass es nur eine Heimat gibt, ist sicherlich immer noch weit verbreitet. Wenn man Heimat jedoch nicht nur als etwas Statisches und auf die Vergangenheit Bezogenes versteht, als den unerreichbaren Raum der frühen Lebensjahre im Sinne von Ernst Bloch: „etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war“28, sondern pragmatischer als einen Ort der Geborgenheit, Vertrautheit und Verortung, als Lebenszusammenhang, „dort, wo ich mich wohl fühle, auch wenn ich aus einer anderen 24 Art. Heimat, in: Brockhaus Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. Aufl., Bd. 12, Mannheim 2006, S. 221-226, hier S. 221. 25 Duden – Deutsches Universalwörterbuch, 6. Aufl., Mannheim 2007, S. 779. 26 Ebd., S. 780. 27 Ebd., S. 779; dazu auch R. Schulze (Hrsg.), Celle – unsere Heimat? Materialien zur Ausstellung Fremde – Heimat – Niedersachsen, Celle 1999, S. 9. 28 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Fünfter Teil, Frankfurt a.M. 1977, S. 1628; siehe auch C. Graf von Krockow, Heimat. Erfahrungen mit einem deutschen Thema, 2. Aufl., Stuttgart 1989, S. 7 ff.
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Heimat komme“29, dann ist es möglich, sich nach einem Heimatverlust auch an einem anderen Ort Heimat wieder anzueignen. Allerdings reicht für einen solchen ,Aneignungsprozess‘ die Teilhabe am wirtschaftlichen Wohlstand allein nicht aus30. Heimat bildet einen Gegenbegriff zu Entwurzelung und Entfremdung31. Heimat kann ein konstitutives Element der Identität sein, aber dafür bedarf es Erinnerung. Heimat als emotionaler Erlebnisraum und integrative Lebensmöglichkeit, die Identifikation und Verhaltenssicherheit ermöglicht, ist davon abhängig, dass jeder Einzelne seine individuellen Erfahrungen und Erinnerungen dort räumlich und zeitlich mit einbezogen fühlt. Dies ist vielen Umgesiedelten, Flüchtlingen und Vertriebenen lange Zeit nicht möglich gewesen. Für sie hat durch den Verlust ihrer Heimat und den Zwang, sich in einer neuen Umgebung einzupassen, die Region als identitätsstiftendes Element an Bedeutung verloren, und sie stellen im Vergleich zu gleichaltrigen Einheimischen für sich eine sehr viel geringere Bindung an den Ort, in dem sie leben, fest. Für manche hatte der erzwungene Heimatverlust ein andauerndes Gefühl einer Wurzellosigkeit zur Folge, die sich in einer Rastlosigkeit und einem häufigen Umziehen äußerte. Sie haben nie wieder einen Ort gefunden, den sie Heimat nennen würden, aber manche wollten dies auch gar nicht mehr: Der Verlust war als so traumatisch erlebt worden, dass eine Bindung an einen neuen Ort und eine Verwurzelung an diesem Ort nicht nur unmöglich schien, sondern bewusst vermieden wurde, um nicht nochmals diese trauma29 So eine Eintragung in dem Besucherbuch der Ausstellung „Fremde – Heimat – Niedersachsen“ (20. März - 29. August 1999 im Bomann-Museum, Celle), Kreisarchiv Celle. 30 So bereits P.P. Nahm, Der Wille zur Eingliederung und seine Förderung, in: E. Lemberg / F. Edding (Hrsg.), Die Vertriebenen in Westdeutschland. Ihre Eingliederung und ihr Einfluß auf Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Geistesleben, Kiel 1959, Bd. 1, S. 145-155, hier S. 153. 31 Dazu bereits H. Bausinger, Heimat und Identität, in: K. Köstlin / H. Bausinger (Hrsg.), Heimat und Identität. Probleme regionaler Kultur. 22. Deutscher Volkskunde-Kongreß in Kiel vom 16. bis 21. Juni 1979, Neumünster 1980, S. 9-24. Eine ausführliche Diskussion der Begriffe ,Heimat‘ und ,Identität‘ kann hier, nicht zuletzt aus Platzgründen, nicht erfolgen. Dazu immer noch hilfreich sind die Beiträge in E. Moosmann (Hrsg.), Heimat. Sehnsucht nach Identität, Berlin 1980, sowie in F. Maurer (Hrsg.), Lebensgeschichte und Identität. Frankfurt a. M. 1981; siehe auch I.-M. Greverus, Auf der Suche nach Heimat, München 1979; W. von Bredow / H.-F. Foltin, Zwiespältige Zufluchten. Zur Renaissance des Heimatgefühls, Bonn 1981; C. Graf von Krockow, Heimat; M. Hough, Out of Place. Restoring Identity to the Regional Landscape, New Haven CT / London 1990; R.A.M. Mayer, Zwischen Herkunft und Zukunft. Überlegungen zu Heimat, Sozialisation und Umwelt, in: Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik, 32 (1993), Heft 122, S. 50-59; E. Boa / R. Palfreyman, Heimat – A German Dream. Regional Loyalties and National Identity in German Culture, 1890-1990, Oxford 2000.
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tische Erfahrung einer Entwurzelung machen zu müssen. Wolfgang Borchert bezeichnete 1946 seine Generation als die Generation „ohne Heimat“ und „ohne Heimkehr, denn wir haben nichts, zu dem wir heimkehren könnten“32. Dies traf in besonderem Maße auf die Zwangsumgesiedelten zu. Ganz ohne Heimat ging es allerdings nicht auf Dauer, aber die ,Heimatlosen‘ mussten für sich den Begriff Heimat neu definieren. Da Heimat für sie nicht mehr der Ort der Kindheit, der ersten Prägungen und sozialen Beziehungen sein konnte, suchten sie statt dessen Heimat anderswo. Arbeit und Beruf sowie persönliche Interessen und Hobbies ersetzten oft die Heimat, und für viele wurde der Familien- und Freundeskreis zur Ersatzheimat. Almut von M., 1945 aus Pommern geflohen, meinte: „Heimat braucht man erst, wenn man wieder etwas erbärmlicher wird. Heimat ist Schutz und sich zur Ruhe setzen können innerlich. Beine auf’n Tisch, sich fallen lassen können: das ist Heimat. Dem anderen eine Heimat sein, das ist beim Ehepaar doch etwas sehr Schönes – dieses sich in den anderen fallen lassen können: das ist Heimat. Heimat ist Ausruhen“33.
Ähnlich äußerte sich Frau B., die mit ihrer Familie 1946 aus Schlesien vertrieben worden war: „Also ich finde, Heimat ist das, wo ich meine Angehörigen habe. Die Menschen, die ich liebe, die ich gut kenne, mit denen ich befreundet bin …“34. Darüber wurde dann auch der Begriff Heimkehr umdefiniert. Heimkehr war jetzt nicht mehr die Rückkehr an einen bestimmten Ort, sondern vielmehr in den Kreis der Familie bzw. Verwandten oder in den Freundeskreis. Dieser Prozess der Um- und Neudefinierung von Heimat und Heimkehr dauerte allerdings zum Teil Jahrzehnte, und das Fehlen einer sicheren Heimat hatte Auswirkungen bis in die zweite und dritte Generation. Die Kinder- und Enkelgeneration der Umgesiedelten, Flüchtlinge und Vertriebenen erlebte häufig eine ‚gespaltene Kindheit‘ – gespalten zwischen dem Ort, in dem sie geboren wurden, und der verlorenen Heimat der Eltern und Großeltern. Die Kindheit konnte sogar mehrfach gespalten sein, wenn beide Eltern ihre Heimat verloren hatten und aus unterschiedlichen Gegenden stammten35. Die heute überwiegend in Italien lebende Autorin Petra Reski hat dies in zwei Büchern 32 W. Borchert, Generation ohne Abschied, in: W. Borchert, Das Gesamtwerk, Hamburg 1949, S. 59-61, hier S. 59 und 60. 33 SRS, Band Nr. 13/1. 34 C. Jäger, „Die Flüchtlinge und die Kartoffelkäfer“, S. 65. 35 Siehe dazu u.a. A. von Friesen, Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die 2. Generation deutscher Vertriebener, 6 Aufl., Gießen 2006; U. Langendorf, Heimatvertreibung – Das stumme Trauma. Spätfolgen von Vertreibung in der zweiten Generation, in: Analytische Psychologie, 136 (2004), S. 207-223; B. von der Stein, Charakteristische Abwehrformen bei Kindern von Flüchtlingen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten, in: Psychosozial, 26 (2003), S. 67-72.
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sehr eindrucksvoll verarbeitet36. Reski wurde 1958 im Ruhrgebiet geboren; ihr Vater stammte aus Reußen (heute RuĞ) in Ostpreußen, ihre Mutter aus Neiße (heute Nysa) in Oberschlesien. Als Kind, so erinnert sie sich, hegte sie lange Zeit große Zweifel, ob diese fast ins Mythische erhobene Heimat ihrer Eltern, die bei den Familientreffen in sentimentaler Weise immer wieder beschworen wurde, tatsächlich existierte: „In meinem Heimatkundebuch stand nur etwas von der Soester Börde und von Steinkohleflözen und wie man sie abbaute und nichts von Ostpreußen oder Schlesien … Als ich zehn war, besuchte ich das Gymnasium und bekam einen Diercke-Atlas. Dort fand ich endlich Ostpreußen und Schlesien. Rechts oben auf der Karte: Deutschland – politische Gliederung. Und da gehörte es zu meinem großen Erstaunen zu Deutschland“37.
Erst als Petra Reski, als nunmehr erwachsene Frau, in die Herkunftsregionen ihrer Eltern fuhr und dadurch die Geschichten, die ihre Eltern erzählt hatten, wirklich verorten konnte, gelang es ihr, die durch den Heimatverlust ausgelösten Gefühle ihrer Eltern und Großeltern emotional anzunehmen. Bei einer Fahrt mit ihrer Mutter und ihrer Tante nach Schlesien erlebte sie, wie ihre Mutter „traumverloren“ durch den Ort lief, „an dem sich ihre Kindheit wieder anfassen ließ“38, mit einem stillen Lächeln im Gesicht. „Und dann schämte ich mich. Für mein kleines, hartes Kinderherz, das von Schlesien nichts wissen wollte“39. Dies löste dann allerdings bei ihr selbst neue Verwirrungen und neue Fragen nach ihrer eigenen Identität aus: „Mein Vater war Ostpreuße, meine Mutter ist Schlesierin, ich wurde im Ruhrgebiet geboren und lebe in Venedig. Was ist eigentlich meine Heimat?“40. III. Hilma E.: Von Bartenstein nach Celle Die Suche nach Heimat gewinnt vor allem im Alter an Dringlichkeit. Erst im Rentenalter wird vielen wirklich bewusst, dass Arbeit, berufliche Karriere und ein gesichertes Einkommen nicht den Verlust der ‚Heimat‘ ersetzt haben, nicht wirklich eine ‚Heimkehr‘ dargestellt haben. Die Leere wurde vor allem von denjenigen als besonders schmerzhaft erlebt, die nach dem Heimatverlust keine Familie gründeten, was überprozentual auf Frauen zutraf41. 36 P. Reski, Ein Land so weit, München 2000, sowie dies., Meine Mutter und ich, Berlin 2004. 37 P. Reski, Ein Land so weit, S. 28 f. 38 P. Reski, Meine Mutter und ich, S. 116. 39 Ebd., S. 118. 40 Ebd., S. 87. 41 Siehe hierzu und zum Folgenden u.a. M. Dörr, Vertrieben, ausgebombt, auf sich gestellt. Frauen meistern Kriegs- und Nachkriegsjahre, Frankfurt a.M. 1998; siehe auch
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Ein Beispiel soll etwas deutlicher machen, welche Auswirkungen dies haben kann42. Hilma E., 1934 geboren im ostpreußischen Bartenstein (heute Bartoszyce), verließ ihre Heimatstadt im September 1944. Als die Front näher rückte, zog die Familie – wie sie meinte, für kurze Zeit – nach Harsleben (bei Halberstadt) im Harz, wo sie Verwandte hatte. Die Rückkehr ins mehr und mehr idealisierte weil unerreichbare Bartenstein war aber natürlich nicht mehr möglich, Hilma blieb zunächst in der DDR, wechselte später in Berlin in den Westen (ein zweiter Heimatverlust), wurde Musikpädagogin und spielte auch in verschiedenen Orchestern. 1968 zog sie nach Celle, wo sie dann bis zu ihrer Pensionierung an der örtlichen Musikschule unterrichtete. Trotz einer erfolgreichen beruflichen Karriere war Hilma ihr ganzes Leben auf der Suche nach Heimat, weil sie eine Leere in ihrem Leben spürte: „Materieller Besitz war da, den erarbeitete ich mir – aber es fehlte mir [lange Zeit] die Beziehung dazu“. Sie wurde von dem Gefühl beherrscht, „nicht dazu zu gehören“: „Wir waren immer nur die Flüchtlinge … Niemand verstand uns … und deshalb waren wir ausgeschlossen … Ich war zwar dabei – gehörte aber nicht dazu – konnte also auch keine Beziehungen entwickeln und keine Freundschaften schließen … Durch die Flucht war ich entwurzelt. Ich kam – dazu als Kind – in eine Gegend, wo ich keine Wurzeln schlagen konnte. Dadurch entstanden massive Ängste – wie die Angst vor Ausgrenzung“.
Sie ist sich sicher, dass viele der Ängste, unter denen sie in ihrem erwachsenen Leben litt, darauf zurückzuführen sind, dass sie als Kind „vor allem wegen meines ostpreußischen Dialekts“ in ihrer neuen Heimat gehänselt wurde. Daraus entwickelten sich bei ihr „panische Ängste vor Ausgrenzung, … später auch in unangemessenen Reaktionen auf geringfügige Begebenheiten“. Dies begann sich erst zu ändern, als sie „freier (befreiter)“ über ihre alte Heimat sprechen konnte. 1990 traute sie sich, zum ersten Mal nach Bartenstein
U. Langendorf, Die Krypta des Schreckens. Psychische Folgen ethnischer Vertreibung als Lebensthema, in: Jahrbuch der psychohistorischen Forschung, 3 (2002), S. 153-160; F. Teegen / V. Meister, Traumatische Erfahrungen deutscher Flüchtlinge am Ende des II. Weltkriegs und heutige Belastungsstörungen, in: Zeitschrift für Gerontopsychologie und -psychiatrie, 13 (2000), S. 112-124; P. Heinl, „Maikäfer flieg, dein Vater ist im Krieg …“. Seelische Wunden aus der Kriegskindheit, München 1994; G. Ennulat, Kriegskinder – Wie die Wunden der Vergangenheit heilen, Stuttgart 2008; M. Ermann, Kriegskinder im Forschungsinterview, in: Zeitschrift für Individualpsychologie, 32 (2007), S. 304-311 (Michael Ermann ist Leiter des Projektes „Europäische Kriegskindheit im 2. Weltkrieg und ihre Folgen“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München; www.kriegskindheit.de). 42 Eine frühere Fassung dieses Fallbeipiels habe ich bereits vor einigen Jahren in einem etwas anderen Kontext vorgesellt: R. Schulze, Die deutsche Titanic, S. 613-615. Alle folgenden Zitate stammen aus meinen lebensgeschichtlichen Interviews mit Hilma E. sowie aus persönlichen Briefen und Unterlagen, die Hilma E. mir überlassen hat, 1997-2009, SRS.
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Abb. 1: Alte Heimat – Hilma E. als siebenjähriges Mädchen vor dem Wohnhaus ihrer Familie in Bartenstein zusammen mit ihrer Tante, ihrer Mutter und ihrem Bruder (von links nach rechts), 1941; © Privatbesitz des Autors
Abb. 2: Neue Heimat – Hilma E. auf einem „Rätselrundgang“ durch die Innenstadt von Celle, 2009; © Kathrin Panne, Celle
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zurückzufahren, und in der alten lutherischen Stadtkirche, in der ihr Vater Kantor war, entdeckte sie, dass sie hier die lange gesuchte Verortung hatte: „Ich habe Heimat gefunden. Ich habe sie wiedergefunden, habe sie aber eigentlich erst da als Heimat identifiziert … Da war mir das egal, ob das Polen ist oder was, das war einfach meine Heimat. Da wohnen jetzt andere Menschen, die eine andere Sprache sprechen, es ist ein anderes Land, aber es bleibt meine Heimat, meine gefühlsmäßige Heimat“.
Nach einem zweiten Besuch in Bartenstein im folgenden Jahr merkte sie, dass sie sich nunmehr allmählich auch ihrer neuen Heimat Celle öffnen konnte, und sie begann, ihre Geschichte zu erzählen. Für sie war es überhaupt erst einmal wichtig, dass ihr jemand beim Erzählen ihrer eigenen Lebensgeschichte und der Geschichte ihrer Familie zuhörte und sie erzählen ließ. In einem weiteren Schritt brachte sie ihre Erinnerungen in eine Ausstellung im lokalen Museum ein: „Dadurch bin ich in Celle mehr und mehr ,zu Hause‘“. Nach einem Prozess, der sich über mehrere Jahre erstreckte, kann Hilma E. heute feststellen: „So empfinde ich mehr und mehr auf der Basis der kindlichen Heimat hier mein Zuhause in Celle auch als ein Stück Heimat …, so daß sich bei mir die bisher getrennt erlebten Gefühle von Heimat und Zuhause mehr und mehr mischen … Jetzt, wo sich bei mir Gefühle von Zuhause und Heimat – alte und neue – beginnen zu mischen, merke ich real, wie meine Wurzeln hier in Celle wachsen und stärker werden“.
Am Ende des langen Prozesses stellt sie fest: „Mir fiel heute auf, daß ich mich bei dem Gedanken ertappte: ich lebe jetzt und ‚mit‘ der Vergangenheit. Als ich es merkte, überlegte ich, wie es vorher war. Da lebte ich jetzt und ‚in‘ der Vergangenheit“. Aber es dauerte noch einmal einige Zeit, bis sie schließlich in der Lage war zu sagen, wenn sie jetzt noch einmal auf einen Besuch in die Stadt fahre, in der sie geboren wurde und ihre Kindheit verbracht hatte, dann fahre sie nach Bartoszyce und nicht mehr nach Bartenstein. Anfang 2009 bekräftigte Hilma: „Jetzt lebe und erlebe ich vorrangig in der Gegenwart. Trotzdem ist und bleibt die Vergangenheit immer ein Teil von mir. Wichtig für mich ist jetzt mein Leben hier in Celle. Das ist aber immer noch ein Entwicklungsprozeß“.
Hilma E. ist keineswegs ein Einzelfall, auch wenn sie sich vielleicht in ihrer subjektiven Befindlichkeit sehr viel stärker durch die Erfahrung der Entwurzelung beschädigt fühlt als andere ihres Alters. Sie ist jetzt dabei heimzukehren, weil sie endlich ihre alte Heimat in die neue Heimat mitbringen und einbringen kann. Sie besucht die Veranstaltungen des Museumsvereins in Celle und nimmt an lokalen Wettbewerben wie dem Rätselrundgang „Tausend Schritte durch Celle“ teil. Dies sind Zeichen, wie sie sich endlich ihre ‚neue‘ Heimat gewissermaßen erobert – mehr als sechzig Jahre, nachdem sie Bartenstein verlassen hat.
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IV. Auf dem Weg zu einer gemeinsamen Heimat? Hilma E.s persönliche Geschichte ist ein Beispiel von vielen, das zeigt, wie kompliziert und gebrochen der Prozess der Heimkehr der Umgesiedelten, Flüchtlinge und Vertriebenen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war. Eine Rückkehr in die alte Heimat im Osten war ausgeschlossen, und auch eine innerliche Bewahrung der alten Heimat war in der deutschen Nachkriegsgesellschaft allenfalls im Familienverband, bei Heimattreffen und in den Landsmannschaften gegeben. Selbst ein Besuch war lange Jahre nicht möglich, so dass ein wirkliches Abschiednehmen nicht stattfinden konnte. Im Gefolge der Ostverträge kam es zu ersten Fahrten aus Westdeutschland in die früheren deutschen Siedlungsgebiete in Mittel- und Osteuropa, aber in größerem Umfang setzten die häufig etwas herablassend als „Heimwehtourismus“43 belächelten Fahrten erst in den späten 1980er und den 1990er Jahren mit dem Zusammenbruch des Ostblocks ein. Diese Fahrten hatten die wichtige Funktion, den Menschen dabei zu helfen, den dramatischen Bruch in ihrer Biographie im Gefolge des Zweiten Weltkrieges zu verarbeiten und die neuen Realitäten zu verstehen – wie Margot H. aus Hartfeld (heute Patniwi) es ausdrückte: „Die Erinnerung ist deutsch, aber die Realität ist polnisch“44. Um wirklich Heimat, wirklich Verortung zu finden, müssen die Lebensgeschichten immer wieder erzählt werden, müssen sie auch angenommen und in allen ihren Unvollkommenheiten akzeptiert werden. Sie müssen Teil des kollektiven Geschichtsbewusstseins der aufnehmenden Regionen werden und dürfen nicht rechts- oder auch linksradikalen Agitatoren überlassen bleiben. Johanna V. aus Köslin (heute Koszalin) stellte fast resignierend fest, dass selbst ihre Enkelin zu ihr schon gesagt habe: „Ach, Du kommst ja aus Polen, nech?“ Wie viele, so meint auch sie, „es ist zu wenig darüber gesprochen worden“45. Erst über eine aktive Verarbeitung der von vielen gemachten Unterscheidung von ‚Heimat‘ und ‚Zuhause‘ – zwischen dem Ort der Geburt, Kindheit und Jugend, der nur noch in der Erinnerung, einigen Familientraditionen und einem fernen Land existiert, und dem ‚neuen‘ Wohnort, wo sie zum Teil seit über fünfzig Jahren leben, der für sie aber immer noch eine Spur Fremdheit aufweist46 – ist dann schließlich und allmählich eine Art zunehmender Heimkehr möglich. 43 Siehe dazu auch U. Tolksdorff, Zum Stand der ostdeutschen Volkskundeforschung, in: R. Schulze u.a. (Hrsg.), Flüchtlinge und Vertriebene in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte. Bilanzierung der Forschung und Perspektiven für die künftige Forschungsarbeit, Hildesheim 1987, S. 196-200, hier S. 199 f. 44 SRS, Band Nr. 10/2. 45 SRS, Band Nr. 77/1. 46 Sehr eindrucksvoll formuliert von E. Krahn, Was ist Heimat?, in: Treibgut des Krieges. Zeugnisse von Flucht und Vertreibung der Deutschen, Kassel 2009, S. 53.
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Mittlerweile ist Sesshaftigkeit nicht mehr die Norm in unserer mobilen Gesellschaft, und in einer vor kurzem durchgeführten Umfrage antworteten knapp 90% der Befragten, dass sie als ihre Heimat ihre ganz direkte Umgebung wie ihre Wohnung, die Familie oder den Freundeskreis empfinden47. Der Heimatverlust der Zwangsumgesiedelten, Flüchtlinge und Vertriebenen war eine Folge von Krieg und nationalsozialistischer Gewaltherrschaft, und er war für die Betroffenen mit persönlichem Leid, materiellen Verlusten und in der Regel sozialer Deklassierung verbunden; rund 1 bis 2 Millionen Menschen überlebten die Zwangsmigration nicht. Der heutige Heimatverlust ist in der Regel die Folge von (allerdings häufig erzwungener) beruflicher Mobilität. Beiden gemeinsam ist, dass Heimat und Identität ,entregionalisiert‘ wurden. Die Zwangsumgesiedelten, Flüchtlinge und Vertriebenen können in diesem Sinne durchaus als eine (unfreiwillige) Vorhut eines allgemeinen gesamtgesellschaftlichen Entwicklungsprozesses gesehen werden. Allerdings blieben sie in diesem Prozess lange im Wesentlichen auf sich allein gestellt. Günter Grass stellte in einer Rede in Vilnius im Oktober 2000 fest, es mute „merkwürdig und beunruhigend“ an, „wie spät und immer noch zögerlich an die Leiden erinnert wird, die während des Krieges den Deutschen zugefügt wurden“48. In seiner 2002 erschienenen Novelle „Im Krebsgang“ räumte er dann, durch die Person des ,Alten‘, selbstkritisch ein, es sei eigentlich Aufgabe seiner Generation gewesen, diesen Gräueln und Schrecknissen Ausdruck zu geben: „Niemals … hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis [ist] bodenlos …“49. Das Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus schließt das Erinnern an die Opfer der Folgen des Nationalsozialismus nicht aus, es erfordert es sogar, um die Bildung von Geschichtsmythen zu verhindern. Umsiedlung, Flucht und Vertreibung sind untrennbar mit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft über weite Teile Europas und der nationalsozialistischen Rassen- und Ausrottungspolitik verbunden. Der allzu früh verstorbene Göttinger Historiker Hartmut Boockmann, der selbst aus Ostpreußen stammte und einer der renommiertesten Historiker der deutschen Geschichte im Osten Europas wurde50, hat diese Verbindung zwischen dem Anfang und dem Ende P. Sandmeyer, Was ist Heimat?, in: Stern, 51/204. G. Grass, Ich erinnere mich …, in: G. Grass / C. Miłosz / W. Szymborska / T. Venclova, Die Zukunft der Erinnerung, hrsg. von M. Wälde, Göttingen 2001, S. 2734, hier S. 32 f. 49 G. Grass, Im Krebsgang. Eine Novelle, Göttingen 2002, hier S. 99. 50 So der Titel einer Reihe, bei der er einer der Herausgeber war und zu der er auch den ersten Band beisteuerte: Deutsche Geschichte im Osten Europas, 10 Bde., Berlin 1992-2000; H. Boockmann, Ostpreußen und Westpreußen, Berlin 1992. 47 48
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der nationalsozialistischen Herrschaft lange vor Grass sehr eindrücklich hergestellt, als er darauf hinwies: „Wenn wir Deutschen nicht wissen, was mit uns im Jahre 1945 geschehen ist, werden wir uns auch nicht daran erinnern, was wir seit 1933 getan haben“51. Geschichte muss in ihrer Gesamtheit erinnert werden, und damit sie für alle Menschen sinn- und identitätsstiftend wirkt, müssen sich alle mit ihren individuellen Lebensgeschichten und Lebenserfahrungen darin wiederfinden und verorten können. Dies ist Teil des ehrlichen und reinen Erinnerns, zu dem der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker bereits in seiner Rede am 8. Mai 1985 bei der Gedenkstunde im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges aufgerufen hatte52. Über das ehrliche Erinnern wird dann auch für die Umgesiedelten, Flüchtlinge und Vertriebenen eine Heimkehr in eine gemeinsame Heimat möglich, aber dies ist nach wie vor ein mühseliger Prozess – oder wie es am Ende von Günter Grass Novelle heißt: „Das hört nicht auf. Nie hört das auf“53.
51 H. Boockmann, Die Geschichte Ostdeutschlands und der deutschen Siedlungsgebiete im östlichen Europa, in: Deutsches Historisches Museum Berlin (Hrsg.), Deutsche im Osten. Geschichte, Kultur, Erinnerungen (Ausstellung Lokschuppen Rosenheim 15. Juli bis 1. November 1994), Berlin 1994, S. 9-21, hier S. 12; ähnlich bereits in seinem Beitrag Historische, politische und kulturelle Traditionen der Herkunftsgebiete – Bemerkungen zur Einführung in den Forschungsgegenstand, in: R. Schulze u.a. (Hrsg.), Flüchtlinge und Vertriebene in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte, S. 81-88, hier S. 88. 52 R. von Weizsäcker, Der 8. Mai 1945, in: E. Jäckel (Hrsg.), Demokratische Leidenschaft. Reden des Bundespräsidenten, Stuttgart 1994, S. 39-56, hier S. 41. 53 G. Grass, Im Krebsgang, S. 216.
Flucht – Ankunft – Wandlung Tradition und Transformation des Motivs der Heimkehr in der DDR-Kultur bis 1961 Von Henning Wrage
Die Thematisierung des deutschen Anteils am Kriegsleiden hat einmal mehr Konjunktur: in literarischen Texten, Kinofilmen und, als Effekt der „kurrente[n] Guidoknoppisierung der Zeitgeschichte“1, in event movies im Fernsehen. Ein Echo findet das Thema – reflektiert als „Welle der Sentimentalisierung“2, „geschichtspolitische und gedächtniskulturelle Schwelle“3 oder „psychische[r] Gezeitenwechsel“4 – auch in der Forschung, die sich an Fragen nach öffentlichem und privatem Gedenken, seinen generationellen Kodierungen und dem Konnex von Täter- und Opfergedächtnis abgearbeitet hat, am Problem des Traumas und der Angemessenheit der Frage, ob – und von welchen Positionen aus – sich „auch die Deutschen als Opfer betrachten [dürfen] angesichts des Unheils, das sie in die Welt gebracht haben“5. Die vielzitierte Formulierung Lothar Kettenackers macht, wie die Beiträge in seinem Band „Ein Volk von Opfern?“6, noch einmal darauf aufmerksam, dass es sich hier um einen ebenso wissenschaftlichen wie eminent moralischen Diskurs handelt7. Doch wie Aleida Assmann zu Recht 1 W. Winkler, Nun singen sie wieder, in: L. Kettenacker (Hrsg.), Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940-45, Berlin 2003, S. 103-109, hier S. 105. 2 Ebd. 3 M. Brumlik, Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen, Berlin 2005, S. 7. 4 H.-U. Wehler, Wer Wind sät, wird Sturm ernten, in: L. Kettenacker (Hrsg.), Ein Volk von Opfern?, S. 140-144, hier S. 140. 5 L. Kettenacker, Vorwort, in: ders. (Hrsg), Ein Volk von Opfern?, S. 9-14, hier S. 11. 6 Vgl. ebd. 7 Vgl., um ein wesentliches Initial der Debatte zu nennen, J. Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940-1945, Berlin 2002, dagegen H. Heer, Vom Verschwinden der Täter. Der Vernichtungskrieg fand statt, aber keiner war dabei, Berlin 2004, sowie O. Frahm, Ein Deutsches Trauma? Zur Schamlosigkeit deutscher Opferidentifikation, in: German Life and Letters, 57 (2004), 4, S. 372-390. Vgl. differenzierender D. Fulda, Abschied von der Zentralperspektive. Der nicht nur
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anmerkt8, verdeckt die gegenwärtige Debatte vielfach die wiederholten Konjunkturen des Themas nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland9, die sich, nicht zuletzt, auch dem Komplex von Flucht, Vertreibung und Heimkehr widmeten10. Bezieht man die Frage nach dem deutschen Leiden auf die DDR, scheint seine Thematisierung auf die ideologischen Funktionalisierungen des „angloamerikanischen Bombenterrors“ verengt, der im modus operandi des antifaschistischen Gründungsmythos11 in Imperialismuskritik umgeformt wurde12. Dieser Text will dies differenzieren und eine bislang tatsächlich wissenschaftlich wenig beachtete kulturelle Konstruktion in der DDR der späten 1950er und frühen 1960er Jahre zum Thema machen: einen neuen Spieler im Feld der Kultur, der auch die Art und Weise verändert, wie man deutsches Leiden im Zweiten Weltkrieg diskutiert. Es handelt sich um das Fernsehen. Ich will argumentieren, dass die Ausdifferenzierung der Medienlandschaft in der DDR nach der Etablierung des Fernsehens auch eine Innovation in der literarische Geschichtsdiskurs im Nachwende-Deutschland als Dispositiv für Jörg Friedrichs „Brand“, in: W. Wilms / W. Rasch (Hrsg.), Bombs away! Representing the Air War over Europe and Japan, Amsterdam /New York 2006, S. 45-64. 8 Vgl. A. Assmann, On the (In)Compatibility of Guilt and Suffering in German Memory, in: German Life and Letters, 59 (2006), 2, S. 187-200. 9 Vgl. für einen profunden Überblick über die Diskussionen H. Schmitz, The Return of Wartime Suffering in Contemporary German Memory Culture, Literature and Film, in: ders. (Hrsg.), A Nation of Victims? Representations of German Wartime Suffering from 1945 to the Present, Amsterdam / New York 2007, S. 1-30; B. Niven, The GDR and Memory of the Bombing of Dresden, in: ders. (Hrsg), Germans as Victims. Remembering the Past in Contemporary Germany, Basingstoke 2006, S. 109-129. 10 Vgl. J. Thorwald, Es begann an der Weichsel, Stuttgart 1950, sowie ders., Das Ende an der Elbe, Stuttgart 1951; S. Kogelfranz (Hrsg.), Die Vertriebenen, Reinbek 1985, zuletzt etwa K.E. Franzen, Die Vertriebenen. Hitlers letzte Opfer, Berlin / München 2001; J. Echternkamp, Nach dem Krieg. Alltagsnot, Neuorientierung und die Last der Vergangenheit 1945-1949, Zürich 2003 oder M. Brumlik, Wer Sturm sät. Die Vertreibung der Deutschen, Berlin 2005. Vgl. für den Umgang der DDR-Gesellschaft mit den „Umsiedlern“ etwa Ph. Ther, Deutsche und polnische Vertriebene. Gesellschaft und Vertriebenenpolitik in der SBZ/DDR und in Polen 1945-1956, Göttingen 1998, besonders S. 11 ff., 50 ff. 11 Vgl. A. Grunenberg, Anti-Faschismus als Staatsdoktrin: die DDR, in: Antifaschismus – ein deutscher Mythos, Hamburg 1993, S. 120-144. 12 Hier sei als Beispiel nur die offizielle Inschrift an der Ruine der Dresdner Frauenkirche zitiert: „Zerstört durch anglo-amerikanische Bomber / Ihre Ruine erinnert an Zehntausende Tote / Und mahnt die Lebenden zum Kampf / Gegen imperialistische Barbarei“; zitiert nach F. Blohm / P. Ketman u.a., DDR: ein Reisebuch in den Alltag, Reinbek 1986, S. 348. Vgl. zur Rezeption des Bombenkriegs in der DDR ausführlicher Th.C. Fox, East Germany and the Bombing War, in: W. Wilms / W. Rasch (Hrsg.), Bombs away! Representing the Air War over Europe and Japan, Amsterdam / New York 2006, S. 113-130; B. Niven, The GDR and Memory of the Bombing of Dresden.
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Erinnerungskultur bedeutete: Erstmals in der Kulturgeschichte des „besseren Deutschlands“ entsteht im Fernsehen eine Dramaturgie des Opfers mit Wandlungsfiguren, die der Kriegsgeneration musterhaft die Integration in die Gegenwartsgesellschaft vorführen.
I. Am Ende der 1950er Jahre wird damit erstmals zum Thema, wozu in der DDR zuvor nur sehr vermittelt zu sprechen war – die massenhaften Transitbewegungen der Nachkriegszeit. Zunächst einige Zahlen, um ihr Ausmaß zu illustrieren: Nach der Legalisierung der bereits stattfindenden Vertreibungen von Deutschen aus Ost-, Mittel- und Südeuropa durch den Punkt 13 der Potsdamer Beschlüsse von 1945 strömen gewaltige Mengen von Menschen in die vier Besatzungszonen. Bei der ersten Volkszählung im Oktober 1946, die auf Anordnung des Alliierten Kontrollrats durchgeführt wird, zählt man 9,6 Millionen Flüchtlinge. In Schleswig Holstein steigt die Bevölkerung durch 860.000 Vertriebene um ein Drittel13. Die Vertriebenen stellten im Westen 16,5% der gesamten Bevölkerung, in der SBZ/DDR gar 24,2%14. Nicht nur Flüchtlinge und Vertriebene, sondern auch heimkehrende Soldaten, Verwundete, Evakuierte, Kinder aus den Heimen der Kinderlandverschickung, Zwangsarbeiter, Remigranten – 11.730.000 Menschen kehren auf die eine oder andere Weise nach dem Krieg heim15. Es gibt nach dem Krieg kaum etwas Offensichtlicheres als diese demographische Verwerfung und sie zeitigt in Ost und West tiefgreifende gesellschaftliche Effekte. Und umso erstaunlicher mutet es an, dass all diese Formen von Umsiedlung, Rückkehr und Heimkehr in der Kultur der DDR in gewisser Weise unsichtbar bleiben. Weil das Konzept „Heimkehr“ immer schon die doppelte Frage nach dem Woher und Wohin impliziert, bleibt ihre künstlerische Thematisierung in Literatur und Film der 1950er Jahre auf bestimmte, moralisch eindeutig indizierbare Dramaturgien und Figurentypen beschränkt. Das Phänomen wird offiziell unter dem Euphemismus des „Umsiedlers“ verhandelt und kulturell in vor allem zwei Motive kanalisiert: ‚Ankunft‘ und ‚Aufbau‘ – Tropen mit distinkten historischen, politischen und moralischen Koordinaten. Es gilt dabei, kulturell das Problem zu bewältigen, 13 Vgl. G.A. Ritter / M. Niehuss, Wahlen in Deutschland 1946-1991, Ein Handbuch, München 1991, S. 43. 14 Vgl. Ph. Ther, Deutsche und polnische Vertriebene, S. 13. 15 Vgl. für die Zahlen: M. Frantzioch, Die Vertriebenen. Hemmnisse, Antriebskräfte und Wege ihrer Integration in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1987, S. 93. Vgl. auch die Zusammenstellung in: G.R. Ueberschär / R.-D. Müller, Kriegsende 1945. Die Zerstörung des Deutschen Reiches, Frankfurt a.M. 1994, S. 123.
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dass Heimat – ein gleichermaßen mit einer positiven Tradition und einer positiven Vision besetzter Raum – im unmittelbaren Nachgang des „Dritten Reiches“ nicht zur Verfügung steht, also zunächst konstruiert werden muss. Deshalb entstehen in den ersten Jahren nach dem Krieg in der DDR vielfach Romane, die um antifaschistische Autoritäten gruppiert sind und vor dem Dritten Reich ihren Anfangspunkt haben. Nur ein paradigmatisches Beispiel sei hier angeführt, aus dem neben der Romanfassung Adaptionen in der bildenden Kunst16 und im Theater17, im Fernsehen18 und für das Kino19 entstehen: Otto Gotsches „Die Fahne von Kriwoj Rog“20. Die Vielfalt der Adaptionen ist in der DDR wohl nur mit dem „Garbe“-Stoff zu vergleichen,21 was nicht zuletzt auf einen historisch referenzierbaren, politisch höchst anschlussfähigen (der Roman galt in der DDR-Germanistik nicht ohne Kritik als „belletristische Illustration geschichtlicher Prozesse“22) und schließlich dank seiner Einfachheit volatilen Plot zurückzuführen ist: Es handelt sich um eine 16 Ein Gemälde von Karl Kothe mit dem Titel „Die Familie Brosowski empfängt die sowjetischen Besatzer in Gerbstedt“ entsteht 1953. 17 Im Stahl- und Walzwerk „Joliot Curie“ wird 1966 eine „Tänzerische Kantate in neun Bildern“ aufgeführt – vgl. Th. Beutelschmidt, „Die Fahne von Kriwoj Rog“. Materialien zur Adaptionsgeschichte eines Kanontextes der frühen DDR-Literatur, in: ders. / R. Steinlein (Hrsg.), Realitätskonstruktion. Faschismus und Antifaschismus in den Literaturverfilmungen des DDR-Fernsehens (MAZ 12), Leipzig 2004, S. 53-101, S. 62 f. 18 Die Fahne von Kriwoj Rog; Regie: B.K. Tragelehn, Buch: H. Müller / I. Müller, Deutscher Fernsehfunk, ESD: 6.5.1960. 19 Die Fahne von Kriwoj Rog; Regie: K. Maetzig, Buch: H.-A. Pederzani, Premiere: 27. Oktober 1967 20 Hier zitiert nach der Erstauflage: O. Gotsche, Die Fahne von Kriwoj Rog, Halle 1959; Bis 1979 werden 14 Auflagen zu je zehn- bis zwanzigtausend Exemplaren publiziert, zudem fünf Lizenz- und Sonderausgaben sowie Übersetzungen in sieben Sprachen. Vgl. M. Rost / R. Geist, Otto Gotsche, Auswahl-Bibliographie zum 80. Geburtstag, Leipzig 1984, S. 12 ff. 1956 nähert sich auch Stephan Hermlin dem Thema an („Der Zellenleiter vom Paulsschacht / Nahm die Fahne in seine Hut. / Schwur sie zu bewahren / Mehr als sein eigenes Blut.“); vgl. St. Hermlin, Jugendlied, in: Dichtungen, Berlin 1956, S. 100-101. 21 Das Leben des Hochofenarbeiters Hans Garbe fand künstlerische Reflexe in E. Claudius, Menschen an unserer Seite, Berlin 1951 (hier wird der Protagonist in Hans Ähre umbenannt); K. Rülicke, Hans Garbe erzählt, Berlin 1952; Brechts „Büsching“-Fragment, sowie H. Müller / I. Müller, Der Lohndrücker, Berlin 1958. Vgl. ausführlicher St. Bock, Chronik zu Brechts Garbe/Büsching-Projekt und Käthe Rülickes Bio-Interview Hans Garbe erzählt: sowie zu anderen Bearbeitungen des Garbe-Stoffes (Eduard Claudius, Karl Grünberg, Maximilian Scheer) von 1949 bis 1954, in: Brecht Jahrbuch (1977), S. 81-99. 22 J. Bonk, Otto Gotsche, in: Literatur der Deutschen Demokratischen Republik in Einzeldarstellungen, Bd. 1, hrsg. von H.J. Geerdts u.a., Berlin 1974, S. 77-91, hier S. 77.
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Familiengeschichte, die einen Zeitraum von 1929 bis 1945 überspannt. Das den Roman strukturierende, leitmotivische Element ist eine Fahne, die den Bergarbeitern im Mansfelder Land von ihren Kollegen aus dem ukrainischen Kriwoi Rog übergeben wird. Vermittler ist ein KPD-Funktionär, der sie an den würdigsten der Arbeiter, Otto Brosowski, übergibt. Die Fahne wird zwischen 1929 und 1933 zum öffentlichen Symbol für Kampf und Hoffnung der deutschen Arbeiterbewegung. Doch dem folgen bittere Niederlagen: Der Parteisekretär wird gleich 1933 verhaftet und stirbt 1941 im KZ. Die Brosowskis müssen die Fahne vor dem Zugriff der Nazis verstecken, die ihren Symbolwert wohl erkannt haben und sie öffentlich verbrennen wollen. Den dramaturgischen Höhepunkt des Romans bilden dann Episoden, in denen die SA die Familie, besonders aber den Vater brutal foltert, um die Fahne zu finden. Umsonst: Nach jedem neuen Versuch, die Fahne aufzuspüren, sucht die Familie ihr ein neues Versteck. Als schließlich die Rote Armee in das Mansfelder Land einrückt, geht die Familie Brosowski ihr entgegen; der Vater, obgleich körperlich zum Wrack gefoltert und von den anderen gestützt, im Mittelpunkt. Die Martyriumsgeschichte löst sich zum happy end: „Aber dann ging eine kleine Gruppe Menschen den Sowjetsoldaten mit der erhobenen Fahne von Kriwoi Rog entgegen. Die Soldaten … hatten glänzende Augen. Deutsche trugen ihnen ihre Fahne entgegen. Über Niederlagen und Greuel, über Tod und Vernichtung hinweg erhob sie sich sieghaft und verkündete Frieden, Freiheit und ein neues Leben … Eine Melodie flackerte auf, zuerst nur schüchtern und stockend. Aber dann fielen Soldatenstimmen in Russisch ein … Wie ein Brausen stieg es in den Sonnentag – ‚Brüder zum Lichte empor!‘. Sie sangen und jubelnd hoben Sowjetsoldaten und Bergarbeiter die Brosowskis auf ihre Schultern und trugen sie hinter der Fahne dem Zug voran“23.
Die Figur des Brosowski repräsentiert so ein Prinzip gesellschaftlicher Ordnung, das nach dem Martyrium letztlich siegreich ist. Die Ordnung der Familie und die Ordnung der Gesellschaft fallen am Ende ineinander, und zwar nach einem ganz offenbar christlichen Motiv, nach dem das Leiden eines Einzelnen die Schuld der Welt zu tilgen im Stande ist. Antifaschistische Väterfiguren wie Brosowski, die sich für ihre Idee bedingungslos aufopfern, prägen die Literatur der älteren Schriftstellergeneration; sie finden ihre politische Radikalisierung in dem, was man mit Antonia Grunenberg den antifaschistischen Gründungsmythos nennt: eine Form von Selbst- und Feindbildkonstruktion, die den kommunistischen Widerstand für die DDR verallgemeinert und im Gegenzug der Bundesrepublik die ungebrochene Fortsetzung des Dritten Reiches zuweist24. O. Gotsche, Die Fahne von Kriwoj Rog, S. 529 ff. Vgl. A. Grunenberg, Anti-Faschismus als Staatsdoktrin; dies, Bewußtseinslagen und Leitbilder in der DDR, in: W. Weidenfeld / H. Zimmermann (Hrsg.), DeutschlandHandbuch: eine doppelte Bilanz 1949-89, Bonn 1989, S. 221-238. 23 24
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Abb. 1: Schlussbild aus Kurt Maetzigs DEFA-Adaption von „Die Fahne von Kriwoj Rog“ (1967)
Wie fragil dieser Gründungsmythos eigentlich ist, macht die Kino-Adaption der „Fahne von Kriwoj Rog“ durch Kurt Maetzig deutlicher als der Roman. Abbildung 1 zeigt die Schlussszene der DEFA-Verfilmung: Aus dem jubilatorischen Romanende ist, zumindest optisch, ein verhaltenes Gegeneinander geworden, fast eine Konfrontation, die nur dadurch nicht eskaliert, dass beide Seiten die gleiche Fahne mit sich führen. Gotsches Familientreffen erscheint in der Variante Maetzigs eher wie ein Waffenstillstand – was durch den Unterbildkommentar noch verstärkt wird: „Unsere Fahne – wird sie ein gültiger Ausweis sein? Werden sie uns denn glauben, nach allem, was sie erlebt haben? Ja, sie werden. Die Proletarier aller Länder gehören zusammen“. Wo der Roman völlig bruchlos in der Verbrüderung des Mansfelder Helden und der Roten Armee endet, zeigt der Film eine Distanz, die erhalten bleibt und die eine Anspielung auf die historische Verantwortung der Deutschen erhält. Festzuhalten bleibt, dass in Literatur wie Film eine politische, moralische und kulturelle Transformation das „Dritte Reich“ von einem Raum der Täter und der Schuld zu einem der Opfer und des Martyriums umschreibt. Für die Literatur und das Kino der DDR hat diese Synekdoche zur Folge, dass
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in den Aufbautexten und -filmen vor allem der 1950er Jahre die eigentlich innerhalb der Gesellschaft verschwindend kleine Minderheit der Antifaschisten als Norm gesetzt wird, zu der die eigentlich innerhalb der Gesellschaft übergroße Mehrheit der Verstrickten und Schuldig gewordenen aufschließen muss – und zwar kulturell kodiert in den typisierten Figuren der Ankunft und der Wandlung. Der Begriff „Heimkehr“ ist in diesem Zusammenhang für zwei Gebrauchsformen reserviert: Einerseits nutzen ihn die zurückkehrenden Exildichter zur Selbstbeschreibung, andererseits dient er in einer abstrakteren Variante zur Beschreibung eines Deutschlands, das nach allen Abwegen schließlich teleologisch zu sich selbst kommt. Vor allem in den „Aufbauromanen“, also Texten wie Hans Marchwitzas „Roheisen“, Eduard Claudius’ „Menschen an unserer Seite“ oder Maria Langners „Stahl“25, bürgert sich schließlich das Doppelmotiv von Ankunft und Wandlung ein, mit dem als Heimkehrer auch durch den Faschismus verführte Charaktere beschrieben werden, die allmählich ihre Prägung überwinden und Schritt für Schritt – ganz im Sinne eines Bildungsromans – in die neue Gesellschaft und damit zu sich finden. Doch in diesen Konstruktionen findet die Masse der Heimkehrer aus der Kriegsgeneration keine Berücksichtigung. Ihr Schicksal wird in Literatur und Film oft nur kursorisch verhandelt und findet sich noch am ehesten in beispielhaften Autobiographien wie Manfred von Brauchitschs „Ohne Kampf kein Sieg“ oder Rudolf Petershagens „Gewissen in Aufruhr“26.
II. Es dauerte bis zum Anfang der 1960er Jahre, bis sich mit dem Fernsehen ein DDR-Medium explizit dem Leiden der Kriegsgeneration zuwandte. Der Deutsche Fernsehfunk27 etablierte sich in dieser Zeit als Massenmedium: Das Fernsehen entwickelte stabile Programmschemata und Genres, baute Studiokapazitäten, Reichweite und Sendezeiten aus – es wurde, mit einem Wort, zum ernsthaften kulturellen Konkurrenten28. 25 H. Marchwitza, Roheisen, Berlin 1955; E. Claudius, Menschen an unserer Seite; M. Langner, Stahl, Berlin 1952. 26 M. von Brauchitsch, Ohne Kampf kein Sieg, Berlin 1964; R. Petershagen, Gewissen in Aufruhr, Berlin 1956. Beide werden später durch den Deutschen Fernsehfunkt adaptiert. 27 Das Fernsehen in der DDR trug die Bezeichnung „Deutscher Fernsehfunk“ bis zum 11. Februar 1972 und wurde dann in „Fernsehen der DDR“ umbenannt. 28 Vgl. ausführlicher H. Wrage / Th. Beutelschmidt, Fernsehdramatik 1961-1969, in: R. Steinmetz / R. Viehoff (Hrsg.), Deutsches Fernsehen Ost. Eine Programmgeschichte des DDR-Fernsehens, Berlin 2008, S. 201-222.
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Was das Fernsehen jedoch von anderen Sparten der DDR-Kultur unterschied, war eine unaufhörliche und programmprägende Konkurrenz zu den Sendern der Bundesrepublik, ein Phänomen, das das Forschungsprojekt „Programmgeschichte des DDR-Fernsehens“ den „kontrastiven Dialog der Fernsehsysteme“ getauft hat29. Nach dem Mauerbau im August 1961 ist das Fernsehen das einzige Medium, in dem sich die kulturelle Systemauseinandersetzung noch verschärft. Ost- und westdeutsche Fernsehmacher übten sich in gegenseitiger Programmbeobachtung, analysierten Dramaturgien und Inhalte und kopierten mit einiger Skrupellosigkeit die Innovationen des Wettbewerbers. Die vielleicht wichtigste Innovation der Zeit ist die Erfindung der Mehrteilerproduktion – und sie exemplifiziert nicht zufällig gerade das Thema der Heimkehr. Ich möchte das wiederum an nur einem Beispiel zeigen: dem wohl berühmtesten frühen Fernsehmehrteiler des DDR-Fernsehens. Sein Titel lautet „Gewissen in Aufruhr“30, seine Vorgeschichte liegt in der Bundesrepublik. Hier wird der erste deutsche Fernsehmehrteiler überhaupt produziert, eine Verfilmung von Josef Martin Bauers „So weit die Füße tragen“ im WDR. Der Film setzt einen politischen Akzent, der autobiographisch verstärkt wird. Schon der gleichnamige Bestseller von 1955 hatte die Romanhandlung als authentisch kommuniziert: Die Geschichte des deutschen Kriegsgefangenen Clemens Forell, der nach Sibirien verschleppt wird, den Misshandlungen im Gulag entkommt, sich auf eine Flucht quer durch Asien bis in den Iran begibt und schließlich, nach „14208 Kilometern“, wie der Klappentext akribisch vermerkt, zu Weihnachten heimkommt. Diese Odyssee, so heißt es weiter, sei keineswegs fiktiv, sondern beruhe auf Tatsachen31 – eine erfolgreiche Marketingmaßnahme, deren empirischer Gehalt als umstritten gelten muss32. 29 Vgl. etwa H. Wrage, Kontrastiver Dialog. Literarisches Fernsehen, in: Weimarer Beiträge, 3 (2006), S. 454-458. 30 Der folgende Abschnitt entnimmt einige Passagen dem Kapitel 5.2 meiner Dissertation: H. Wrage, Die Zeit der Kunst. Literatur, Film und Fernsehen in der DDR der 1960er Jahre. Eine Kulturgeschichte in Beispielen, Heidelberg 2008. 31 So heißt es im Klappentext von J.M. Bauer, So weit die Füße tragen, München 1955: „Ein Mann war aus russischer Kriegsgefangenschaft in Sibirien geflohen …. Drei Jahre und zwei Monate hatte er für die Flucht gebraucht. Das Unvorstellbare, das die Jahre der Gefangenschaft und der Flucht für ihn bedeuten, hat er Josef Martin Bauer erzählt, der nach seinem Bericht diesen großen Abenteuerroman unserer Zeit gestaltete. Seinen Namen will der Heimgekehrte nicht genannt wissen, dennoch bleibt er nicht namenlos. Clemens Forell nennt ihn dieses Buch“. 32 Den einzigen – vagen – Hinweis auf die Identität des Protagonisten findet man in einem Artikel der „Passauer Neuen Presse“, der eine Rosel Neset zitiert, die den Mann hinter dem Pseudonym Clemens Forell gekannt haben will, einen Cornelius Rost, der 1983 in München gestorben sei. Vgl. R. Attenhauser, „Soweit die Füße tragen“: Der Mann, der Clemens Forell war, in: Neue Passauer Presse, 16. Februar 2002.
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Dennoch: Schuldverdrängung33 – über die Kritik an den stalinistischen Verhältnissen mit Hilfe einer „wahren“ Leidensgeschichte – war ein Rezept, das dem Buch eine Millionenauflage, Übersetzungen in 15 Sprachen und Rezensionen beschert hat, die mal den „großartigsten Abenteuerroman“ preisen, den „die deutsche Nachkriegsgeschichte besitzt“34, mal einen „schlichten Tatsachenbericht, der sich spannender liest, als jeder Kriminalroman“35. Der Stoff wird in der Regie von Fritz Umgelter ab 1958 in einen sechsteiligen Fernsehfilm umgesetzt und 1959 zu einem Publikumserfolg36. Tatsächlich war die Mischung aus Zeitgeist, authentischer Anmutung und filmisch-narrativem Gestus in einem Mehrteilerformat zu jener Zeit eine spektakuläre Neuigkeit. Andere Mehrteiler, die sämtlich den Vorteil hatten, die Zuschauer über das singuläre Fernseherlebnis hinaus zu binden, schlossen sich an37. Die DDR-Fernsehmacher zeigten sich von dieser Innovation des westdeutschen Konkurrenten geschockt: „Wir [waren] in Adlershof völlig erschrocken“, als diese „Erfindung vom Westen losgelassen worden ist. Das Prinzip war uns nicht eingefallen“, so Hans-Erich Korbschmitt, der die Regie in einem eilig produzierten „Konter-Progamm“38 führte: dem Vierteiler „Flucht aus der Hölle“, in dem einem deutschen Fremdenlegionär (gespielt von Armin Mueller-Stahl) dank der algerischen Befreiungsbewegung die Flucht aus Afrika in die DDR gelingt39. Diese Produktion kopierte nicht nur das Format, sondern offensichtlich auch den Plot von „So weit die Füße tragen“, wobei die parallele Handlungsentwicklung politisch rekodiert wurde; über die (vermeintliche) Authentizität des westlichen Konkurrenten verfügte sie freilich nicht. 33 Gerade der Aspekt, dass die Flucht des Clemens Forell erst durch die Hilfe eines armenischen Juden erfolgreich ist – eine Verzeihensgeste, die dem „jüdischen Kulacken“ von einem Deutschen zugeschrieben wird – ist schlicht perfide. 34 W. Görlitz, So weit die Füße tragen, in: Die Welt, 17. Oktober 1955. 35 H. Uhlig, Flucht aus Sibirien, in: Der Tagesspiegel, 16. Oktober 1955. Uhlig sucht den „authentischen“ Charakter des Romans später paradoxerweise gerade dadurch zu bestätigen, dass er auf die Kohärenz des Narrativs verweist: „So unwahrscheinlich die Geschichte dieser Flucht anmutet, so zwingend ist doch, unabhängig von ihren Einzelheiten, die romanhaft kaschiert sein mögen, die innere Wirklichkeit des Geschehens …“. 36 Vgl. Der Fernsehspiegel, in: Der Spiegel, Nr. 18, 1959. 37 Etwa zur gleichen Zeit und mit ähnlich anti-totalitaristischer und antikommunistischer Stoßrichtung wäre etwa die Adaption von Wolfgang Leonhards „Die Revolution entlässt ihre Kinder“ zu nennen (Regie: Rolf Hädrich, drei Teile, 1962). 38 Hier und zuvor zitiert nach P. Hoff / H. Müncheberg, Experiment Fernsehen. Vom Laborversuch zur sozialistischen Massenkunst. Die Entwicklung fernsehkünstlerischer Sendeformen zwischen 1952 und 1961 in Selbstzeugnissen von Fernsehmitarbeitern, Berlin 1984, S. 207. 39 Flucht aus der Hölle, ESD: 11. Oktober-1 November 1960, Regie: H.-E. Korbschmitt, H.-J. Brandt.
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Einen ganz unmittelbaren Wirklichkeitsbezug versprach erst eine Großproduktion, die 1960 und 1961 mit Hochdruck von zwei parallel arbeitenden Drehteams (denen je ein separater Regisseur vorstand) in Angriff genommen wurde: „Gewissen in Aufruhr“40. Günther Reisch und Hans-Joachim Kasprzik adaptierten die Autobiographie des Stalingrad-Veteranen Rudolf Petershagen41, ein Buch, das damals den Platz 13 in der Rangliste der meistverbreiteten Texte in der DDR einnahm42, Der letzte Stadtkommandant von Greifswald war in der DDR eine politische Ikone, da er als einziger Wehrmachtsoffizier eine zur Festung erklärte Stadt kampflos an die Rote Armee übergeben hatte43. Der Film wird zu einem der größten Publikumserfolge des Deutschen Fernsehfunks am Anfang der 1960er Jahre: ein „beglückendes Erlebnis“ und „künstlerisch vollendet“, wie das „Neue Deutschland“44 lobte. Seinen Reiz entwickelt die Produktion durch das Verfahren, Dokumentarund Spielfilmpassagen so weit als möglich zur Deckung zu bringen. Das nie ausdrücklich als solches gekennzeichnete Dokument und die fiktionalen Elemente stehen in einem Verhältnis von Totale und Mikroskop: Die historischen Aufnahmen situieren die Handlung, schaffen Übersicht und beglaubigen insgesamt die Realitätsnähe der Produktion. Die Spielhandlung, die filmästhetisch von Nahaufnahmen und verknappten Räumen geprägt ist, fügt demgegenüber das so als authentisch Kommunizierte in die dramatische Struktur fiktionaler Formen. Hier sollen, um dies zu illustrieren, einige Szenen aus dem ersten Teil besprochen werden. Sie spielen im Kessel von Stalingrad; Ebershagen figuriert als Oberst in vermittelnder Funktion zwischen der skrupellosen Offiziersclique und den einfachen Soldaten. Den dramaturgischen Höhepunkt der Folge bilden Passagen nach dem (innerhalb der Narration auch verhandelten) Einschluss der 6. Armee. Im Bild sehen wir Dokumentaraufnahmen von stets sich auf die Kamera zubewegenden russischen Truppen; aus dem Off 40 Vgl. auch B. Thurm, Die Massenresonanz von „Gewissen in Aufruhr“, in: Film- und Fernsehkunst der DDR. Traditionen – Beispiele – Tendenzen, hrsg. von Hochschule für Film und Fernsehen der DDR, Berlin (DDR) 1979, S. 197-205, sowie dies., Besonderheiten der Mischformen in Film und Fernsehen. In: Beiträge zur Theorie der Film- und Fernsehkunst. Gattungen - Kategorien – Gestaltungsmittel, hrsg. von Hochschule für Film und Fernsehen der DDR, Berlin (DDR) 1987, S. 301-387, hier S. 353: Hier wird die authentische Anmutung des Films als Effekt der „‚Bifunktionalität‘ der Fernseh-Mischformen, bestehend in der Verbindung von ästhetischer und utilitaristischer Funktion“ entschlüsselt. 41 R. Petershagen, Gewissen in Aufruhr. 42 A. Hochmuth (Hrsg.), Literatur im Blickpunkt. Zum Menschenbild in der Literatur der beiden deutschen Staaten, Berlin (DDR) 1967, S. 51. 43 Vgl. A. König, Greifswald 1945 – Kampflose Übergabe und Kriegsende, in: Greifswalder Stadtblatt, 27. April 2005. 44 K. Stern, „Gewissen in Aufruhr“. Ein hervorragendes Kunstwerk vom Weg eines deutschen Patrioten in: Neues Deutschland, 19. September 1961.
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kommentiert Ebershagen: „Wir lagen seit acht Wochen in vorderster Stellung. Die Männer feuerten, froren und fragten sich: ‚Wozu braucht Deutschland Stalingrad?’“ Dem folgt ein Gespräch Ebershagens mit einem Hauptmann, der verzweifelt Ablösung für seine Truppe verlangt („Die Leute erfrieren in ihren Löchern – heute Nacht sind es 32 Grad … Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll, Herr Oberst.“). Eine Ablösung kann der Befehlshaber jedoch nicht bieten und sucht dieses Unvermögen durch eine Ersatzhandlung zu substituieren, indem er der Ordonanz befiehlt, heißen Kaffee auszuschenken. Doch auch das scheitert an der Bürokratie des Mangels in der eingeschlossenen Armee („Herr Oberst, Kaffee darf nur noch an Verwundete ausgeschenkt werden.“). Eine Figur, die in zweifacher Wiederholung nun noch ins Extrem getrieben wird: Als Surrogat für den Kaffee (der selbst nur die Ablösung ersetzen sollte), befiehlt Ebershagen nun, heißen Tee zu verteilen. Die Szene eskaliert, als der Versorgungsoffizier auch diesem Befehl nicht nachkommen will („Aber Herr Oberst, unsere Ration reicht nur noch für vier Tage!“). Es kommt zu einem Ausbruch Ebershagens, der mit Blick auf die verzweifelte Lage der Soldaten seinen Befehl durchsetzt. Und als hätte diese Szene die Ohnmacht eines Offiziers, der zwar einen realistischen Blick, aber kaum Handlungsspielräume hat, nicht deutlich genug demonstriert, zeigt die folgende auch das Versagen des zweifach marginalisierten Hilfsversuchs.
Abb. 2 und 3: Das Leiden der Deutschen in Stalingrad, in: „Gewissen in Aufruhr“ (H.-J. Kasprzik / G. Reisch, DEFA 1961), Filmausschnitte
Ein Schnitt leitet über in eine fast intime Szene, die drei ausgemergelte, halb erfrorene deutsche Soldaten zeigt, die in einem notdürftig wetterfest gemachten Schützengraben von Bratkartoffeln und Heringen träumen: Ein Bild des Elends wird vorgeführt (vgl. Abb. 2), vor dem Ebershagens Hilfe zumindest Linderung verspricht: Ein Zwischenschnitt zeigt in einer halbnahen Einstellung einen Soldaten, der sich durch Schneegestöber einen Weg zu den Soldaten bahnt und den Schützengraben mit einem „Macht Platz Jungs, es gibt heißen Tee“ betritt. Wie der Zuschauer aus der vorhergehenden Szene
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fast erwarten kann, erweist sich der jedoch als gefroren (Abb. 3). Auch Ebershagens Ersatz zweiter Stufe ist dahin. Die Szene endet im einsetzenden Geräusch feindlicher Artillerie. Eine Szenenfolge von fast plakativer emotionaler Intensität, die – wie der erste Teil von „Gewissen in Aufruhr“ insgesamt – dadurch bemerkenswert ist, dass sie nicht gegen die Deutschen inszeniert ist. Die faschistische Wehrmacht in der Sowjetunion erscheint, zumindest im Blick auf die einfachen Soldaten, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte des DDR-Fernsehens als Opfer. Komplementär dazu wird dem Offizierskorps die Täterschaft zugeschrieben. So entsteht eine Struktur von Verführern und Verführten. Auch Ebershagen ist davon nicht ausgenommen; er bleibt, auch wenn er innerhalb seines Horizonts redlich zu handeln versucht und als Figur im Verlauf des Films an Identifikationspotential zugewinnt, stets im System; Ebershagen äußert Widerspruch, jedoch keinen Widerstand, die Befehlshierarchie bleibt intakt und ist für ihn, gerade vor dem drohenden Chaos, ein orientierendes Raster. Dies äußert sich explizit in einem Gespräch Ebershagens mit seinem vorgesetzten General nach der Nachricht vom Verbot Hitlers, aus dem Kessel auszubrechen: „[Ebershagen:] Aber das ist ja der reinste Wahnsinn, Herr General! // [General:] Wahnsinn? Wie meinen’sen das? // [Ebershagen:] Herr General, was denkt sich das Oberkommando eigentlich. In der Steppe draußen gibt es weder Baum noch Strauch, keine Deckung, keine Heizung, nicht einmal Winterkleidung ist vorhanden. Meine Leute hausen in offenen Erdlöchern, bei 40 Grad minus … // [General:] Ich muss doch sehr bitten, Oberst Ebershagen, der Führer weiß, was er tut. Bei uns ist kein Platz für Gefühle. Hier gibt es nur eins: Härte, Tapferkeit, Durchhalten. // [Ebershagen, nimmt Haltung an:] Jawohl, Herr General!“
Eine weitere Szene spitzt die Figur von Verführern und Verführten in einem kritischen Moment des Gefechts zu. Der eben zitierte General macht sich persönlich auf, noch ruhrkranke und schwer verwundete Soldaten in die Schlacht zu schicken, Erfrorene und Tote bestimmen das Bild; eine Einstellung zeigt ein jeder Pietät entkleidetes Massenbegräbnis („200, das reicht, zuschütten – Sie können, Herr Pfarrer!“), bei dem das „De profundis“ des Divisionspfarrers (Werner Dissel in einer eindrucksvollen Rolle) den Eindruck der Apokalypse nur verstärkt. Am Ende wird die Schlacht verloren. Dokumentarische Totalen zeigen die Soldaten der 6. Armee beim Gang in die Kriegsgefangenschaft. Nach einer Überblendung teilen sich der Pfarrer und ein Vertreter der Arbeiterklasse das Resümee: Hans Stiller (Harry Hindemith), ein Feldwebel, der in der Autobiographie nicht vorkommt, wechselt bereits am Anfang des ersten Teils die Seiten und steht exemplarisch für das richtige (also klassenbewusste) Handeln. Nach dem Fazit des Pfarrers („Dies irae. Das war das jüngste Gericht“) hat er, in einer Szene, die immer wieder auch Dokumentareinstellungen der Verwundeten, Toten und Gefangenen zeigt, das letzte Wort: „Ja, das war die Hölle, Herr Pfarrer. Jetzt werden wir die Welt
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neu erschaffen müssen: mit diesen Menschen“. Damit formuliert Stiller schon am Ende des ersten Teils eine wesentliche Moral des Films – in einer Rede, die mit dem Ende den Neuanfang beschwört und so ein Wandlungsmotiv, das auch in der Entwicklung Ebershagens zentral werden wird, auf die Deutschen insgesamt bezieht. Der Film zeigt so die Deutschen massenhaft als Täter und als Opfer zugleich, er zeigt explizit Empathie, aber auch das Problem, mit einem offenbar schuldig gewordenen Volk eine neue Gesellschaft aufzubauen. Die hier beschriebene Schilderung deutschen Leidens bildet ein in der DDR so kaum je dagewesenes, zielgruppenspezifisches Identifikationsangebot. Sie bildet den Ausgangspunkt einer bildungsromanhaften Narration, in der auf Krise und Läuterung schließlich die Heimkehr des Protagonisten folgt. Tatsächlich ist „Gewissen in Aufruhr“ kein Film über die Not aufrechter Antifaschisten, sondern, und das macht ihn so besonders, über die Täter als Opfer. „Gewissen in Aufruhr“ ist ein Film über und für die Kriegsgeneration und über ihre Integrationsfähigkeit in die Nachkriegsgesellschaft. Die Erneuerung der Welt durch den gewandelten Menschen wird hier exemplarisch an der Figur des Oberst Ebershagen entwickelt, der im Film von Erwin Geschonneck gespielt wird45. Ebershagen macht eine Wandlung durch, die durch die eben beschriebene Szene nachhaltig angeschoben wird, sich jedoch erst in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft vollendet. Die Evolution des Protagonisten vom disziplinierten Rädchen im Apparat des „Dritten Reiches“ zum Antifaschisten, nicht jedoch zum Marxisten, konturiert genau die Grenzen eines zuvor von höchster Stelle proklamierten Minimalprogramms für die Integration der Kriegsgeneration. Am 18. August 1961 hatte Ulbricht im Fernsehen nicht nur den Mauerbau gerechtfertigt, sondern auch die Bedingungen für die „Ankunft“ – und somit auch „die Heimkehr“ in die DDR abgesteckt. Da heißt es: „Aber ein guter Deutscher ist nur der, der hilft, den Frieden zu sichern. Das Minimum dessen, was man von einem guten Deutschen verlangen muß, ist, daß er tatkräftig mithilft, zu verhindern, daß ein neuer Krieg von deutschem Boden ausgeht …“46. Die Heimkehr Ebershagens, die am Ende des zweiten Teils der Produktion eine Schlüsselszene bildet, setzt mithin eine Läuterung voraus, deren wich45 Geschonneck hatte bis dahin in aller Regel Antifaschisten gespielt und war als solcher dem DDR-Fernsehpublikum nicht zuletzt durch die Verkörperung des Lagerältesten in der Fernsehadaption von „Nackt unter Wölfen“ in frischer Erinnerung. Durch Biographie und Rollenimago des Schauspielers ist der Plot so von der ersten Szene an als Wandlungsgeschichte bestimmt. 46 Ansprache des ersten Sekretärs des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Walter Ulbricht an die Bevölkerung der DDR, ESD: 18. August 1961, 20:00, Abdruck in: W. Ulbricht, Die Maßnahmen unserer Regierung haben den Frieden in Europa und in der Welt gerettet. Ansprache im DFF vom 18. August 1963 (Schriftenreihe des Staatsrates der DDR, 15), Berlin (DDR) 1961, S. 5-32 , hier S. 17.
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Abb. 4 bis 7: Heimkehr in: „Gewissen in Aufruhr“ (s. Abb. 2 und 3), Filmausschnitte
tigsten Katalysator wiederum das oben geschilderte Szenario durchlittener Qualen bildet. Sie wird durch Sequenzen eingeleitet, die Ebershagen auf der Reise nach Deutschland zeigen, verhärmt, mit Rucksack, Wattejacke und in der typischen ambivalenten Position zwischen der Hoffnung heimzukommen und der Furcht, das als Heimat Imaginierte nicht mehr wiederzufinden (vgl. Abb. 4 und 5). In diesem Fall verläuft sie glücklich; sie ist in der Inszenierung um so glaubwürdiger, als sie nicht expliziert wird: Als Ebershagens Frau eintrifft, findet sie den Heimgekommenen schlafend (Abb. 6), das glückliche Zueinanderkommen wird lediglich an ihrer stummen, erschütterten Freude deutlich (Abb. 7). Bis hierhin ist „Gewissen in Aufruhr“ ein gelungenes, gar kunstvolles Stück Empathie-Design, das noch kaum die propagandistische Wendung erwarten lässt, die der Plot in den letzten Teilen nimmt. Sie enden in einer zweiten Heimkehr, die nunmehr ganz im Mittel des antifaschistischen Gründungsmythos konstruiert wird: Der nunmehr geläuterte Protagonist, der als DDR-Bürger versucht, auf seine ehemaligen Offizierskollegen friedenspolitisch einzuwirken, wird in den Westen gelockt. Dort als Spion verurteilt, landet Ebershagen im Gefängnis, erleidet physische und psychische Folter. In parallel montierten Einstellungen wird die Wiederaufrüstung der Bundesrepublik gezeigt, die Wiedereinsetzung von Größen des Dritten Reichs in Machtpositionen, die
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Kriegstreiberei des militärisch-industriellen Komplexes – kurzum: die Fortsetzung des Dritten Reichs unter der liberalen Oberfläche der Bundesrepublik. Wieder wird die historische Opposition von Faschismus und Antifaschismus in die gegenwartsbezogene Opposition von Sozialismus und Imperialismus übersetzt. Insofern ist das letzte Bild der fünften Folge, die zweite Heimkehr des Protagonisten durch das Brandenburger Tor von höchster Bedeutung: Ebershagen durchquert es von West nach Ost – und damit verweist der Film auf eine Systemgrenze, die zwar (noch) nicht sichtbar ist, aber in den letzten Folgen der Produktion deutlich akzentuiert wird. Sichtbar wird ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen dem antifaschistischen Hier der DDR und der kaum kaschierten Fortsetzung des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik. Durch die Kontrastierung der im Westen erlebten Schrecken und der für die DDR artikulierten Heimatemphase erscheint die offene Grenze wie eine Wunde – und hierin liegt sicher ein wesentlicher Aspekt für die unmittelbare politische Nutzbarkeit des Films nach dem 13. August 1961: Während Ebershagen und seine Frau sich in die Arme fallen, wird extradiegetisch Herbert Kellers 1952 komponiertes Lied „Unsere Heimat“47 eingespielt. Dessen zentraler Vers „Und wir lieben die Heimat, die schöne / Und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört“ zielt, zumindest in diesem Kontext, auf die Betonung der Schutzbedürftigkeit einer Heimat, die nur differenziell über den Kontrast zum Gegner konstituiert ist. Der Gang durch das Brandenburger Tor zeigt das mühelose Überqueren einer Grenze zwischen zwei Gesellschaften, die einander diametral gegenüberstehen – und es hinterfragt diese Mühelosigkeit durch die Gesamtanlage des Plots vor allem der letzten beiden Teile.
III. Für die späten 1950er und die 1960er Jahre im Kulturraum DDR konnten zwei kulturelle Operationen beobachtet werden, die die Grundlage einer positiven Heimatkonstruktion sind – und damit die Voraussetzung für „Heimkehr“ bilden. Beide bezwecken Exkulpation und beide operieren mit einem Splitting, das das östliche Deutschland zum antifaschistischen Staat umformt und dem westlichen die Fortsetzung des „Dritten Reichs“ zuschreibt. Sie 47 „Unsre Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer / Unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald / Unsre Heimat ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld / und die Vögel in der Luft und die Tiere der Erde / Und die Fische im Fluß sind die Heimat / Und wir lieben die Heimat, die schöne / Und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, / Weil sie unserem Volke gehört“; „Unsre Heimat“, Text: H. Keller, Musik: H. Naumilkat, zuletzt erschienen als Track 11 der CD „Fröhlich sein und singen“ (BMG Amiga 1998).
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unterscheiden sich in der Art der Begründung und in der Frage, auf welche Art Protagonist sie sich konzentrieren: In der ersten Variante garantieren antifaschistische Vatergestalten ein historisch teleologischen Raum, der mit dem Zu-Sich-Selbst-Kommen des Arbeiter- und Bauernstaates seine Bestätigung findet. Das „Dritte Reich“ stellt hier nur eine Abweichung dar; durch die Konzentration auf und die Verallgemeinerung des Leidens der Antifaschisten erscheint es als Zeit der Opfer, nicht der Täter. Die zweite Variante macht demgegenüber Schuld und Verstrickung tatsächlich sichtbar. Erzähltheoretisch würde man hier von interner Fokalisierung sprechen; die Einsicht in den historischen Prozess ist hier nicht apriori, sondern final. Mit diesem Verfahren gelingt es vor allem dem Fernsehen, auf eine neue und emotionalisierende Weise identifikatorisch zu sein. In manchem Aspekt, etwa der Problematisierung der massenhaften Verstrickung der Deutschen in den Nationalsozialismus, scheint das Fernsehen hier anderen Formen kultureller Entschuldung voraus zu sein. Andererseits lösen beide Varianten die Welt in die Splitting-Struktur eines Märchens auf, in dem die Schuld in die Bundesrepublik gehört und der Antifaschismus in die DDR.
„Des Tags der Heimkehr habe ich geharrt in deiner heiligen Allgegenwart“ Literatur der Heimkehr und Sozialismus in der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR der fünfziger Jahre Von Fabrizio Cambi
Einleitend sei darauf hingewiesen, dass sich nach 1945 eine als „Literatur der Heimkehr“ oder „Literatur über die Heimkehr“ klassifizierte Strömung in den östlichen Gebieten Deutschlands, das heißt in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), nicht hat etablieren können. Auch in den drei Westzonen setzt sich eine literarische Kategorie der Heimkehr nicht durch, obwohl in Formeln wie der vom „Nullpunkt“, der „Stunde Null“, dem „Kahlschlag“ oder der „Trümmerliteratur“ doch immer wieder auf die spezifische zeithistorische Kontextualisierung der Texte verwiesen wird. Nichtsdestotrotz existiert ein umfangreicher, sowohl Prosa als auch Lyrik einschließender Textkorpus, der einer solchen Kategorie der Heimkehr zuzuordnen wäre. Das literarische Panorama, das sich nach 1945 in den drei Westzonen entfaltete, unterscheidet sich dabei ganz grundsätzlich von dem in der SBZ. Unter der Proklamation der „Stunde Null“ wurden im Westen heterogene Prozesse der Defaschisierung und Demokratisierung in Gang gesetzt, die zum Teil ideologisch und ästhetisch an Positionen des Antifaschismus der Weimarer Republik anknüpften. Daneben entstanden unter dem Stichwort der „Trümmerliteratur“ solche Texte, die sich als Aufruf zur existentiellen und sprachlichen Ablösung vom Nationalsozialismus verstanden, sich aber in den Rahmen einer politischen und wirtschaftlich-kapitalistischen Restauration begaben. Um ein einziges Beispiel zu nennen: In seinem Gedicht „Inventur“ macht Günter Eich („Dies ist meine Mütze, / dies ist mein Mantel, / hier mein Rasierzeug / im Beutel aus Leinen“) durch einen lakonischen Duktus eine nüchterne und armselige Bestandaufnahme des materiellen Überbleibens. Anders sieht die Situation in der Ostzone unter der Sowjetischen MilitärAdministration in Deutschland (SMAD) aus, wo sich die meisten Heimkehrer auf die Politik der Volksfront seit dem Jahr 1935 beziehen und auf günstigem ideologischem Boden durch die Unterstützung und vor allem durch die Aufsicht der Sowjetunion auf ein demokratisches Deutschland glauben rekurieren zu können.
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In den Jahren 1945 bis 1949 entsteht im Ostteil Deutschlands eine Literatur, die sich in der Tendenz, antifaschistische und bis dato weitgehend unbekannt gebliebene Schreibweisen des Exils fortzusetzen, von den Entwicklungen im Westen unterscheidet. Hinzu kommt eine starke ideologische Bindung an das Programm der SED, die proklamiert: „Säuberung des gesamten Erziehungs- und Bildungswesen von dem faschistischen und reaktionären Unrat, Pflege eines wahrhaft demokratischen, fortschrittlichen und freiheitlichen Geistes in allen Schulen und Lehranstalten. Systematische Aufklärung über den barbarischen Charakter der Nazi-Rassentheorie, über die Verlogenheit der ,Lehre vom Lebensraum‘, über die katastrophalen Folgen der Hitlerpolitik für das deutsche Volk, Freiheit der wissenschaftlichen Forschung und künstlerischen Gestaltung“1.
Dass sich die Mehrheit der antifaschistischen Autoren nach ihrer Rückkehr im östlichen Teil niederlässt, erklärt sich zweifelsohne durch ihre feste ideologische Überzeugung. Eine Überzeugung, die in der SBZ und dann in der DDR der fünfziger Jahre eine literarische Homogenität gewährleisten und in den ersten Jahren mit treibender Kraft sogar einen „besonderen (deutschen) Weg zum Sozialismus“ anstreben wird. Vergessen darf man nicht, dass bis 1948 die deutsche Frage nach einer möglichen Wiedervereinigung Deutschlands auch seitens der Sowjetunion noch offen stand und dass das Vertrauen in einen bewussten Umschlag im sozialistischen Sinn nicht unbegrenzt war, wie Willi Bredel in seinem Roman „Ein neues Kapitel“ (1960) rückblickend gestehen soll: „Ich habe etwas Angst angesichts der Aufgabe, die vor uns steht und die wir lösen müssen. Die sozialistische Revolution in Deutschland ist ausgeblieben, die Befreiung vom Faschismus ist den deutschen Arbeitern, dem ganzen deutschen Volk, durch den Kampfsieg der Roten Armee gebracht und, ich wähle jetzt absichtlich das Wort: geschenkt worden … Was das Klassenbewußtsein und die Moral der Arbeiter in Deutschland betrifft, so ist schließlich bekannt, daß ein Jahrzehnt faschistischer Demagogie, nicht ohne Spuren zu hinterlassen, vorüber ist“2.
Willi Bredel (1901-1964), der unter den ersten Antifaschisten am Ende des Krieges aus dem zehnjährigen Exil in der Sowjetunion zurückkehrte, wo der erste Band der Trilogie „Verwandte und Bekannte“ erschienen war, berichtet rückblickend über die schweren Anfangsjahre der demokratischen Umgestaltung. Im Prolog, der den Titel „Heimkehr“ trägt, entwirft der Autor ein nüchternes und zugleich berührendes Bild des zerstörten Deutschlands: „Von Ost nach West, von West nach Ost zogen die Menschen, selbst nicht wissend, wohin … Die Fremdarbeiter würden in ihre Heimatländer zurück1 „Schaffendes Volk in Stadt und Land! Männer und Frauen! Deutsche Jugend!“, Aufruf des ZK der KPD vom 11. Juni 1945, in: Revolutionäre Parteiprogramme, hrsg. und eingeleitet von L. Berthold / E. Diehl, Berlin 1964, S. 197. 2 W. Bredel, Ein neues Kapitel, Berlin 1959, S. 92-93.
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kehren, die deutschen aus den Grenzgebieten aber – wo sollten sie hin? Wo würden sie Unterkunft finden? Eine neue Heimat?“3. Bei den aus dem Exil zurückgekehrten Autoren, die zwischen 1945 und 1949 ihren Wohnsitz in der SBZ wählen und die zu den Gründungsvätern der DDR werden sollten, handelt es sich zumeist um solche, die den Generationen der zwischen 1875 und 1910 Geborenen angehörten und häufig Mitglieder der KPD und des BPRS (Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller) gewesen waren. Wenn man eine rasche Bestandaufnahme macht, etwa anhand der „Literaturgeschichte der DDR“ von Wolfgang Emmerich, fällt die große Anzahl dieser Autoren auf: aus der Sowjetunion kamen Johannes R. Becher, Erich Weinert, Friedrich Wolf, Willi Bredel, Adam Scharrer, Theodor Plievier; aus Mexiko, Anna Seghers, Ludwig Renn, Bodo Uhse, Alexander Abusch; aus den Vereinigten Staaten im Laufe der Zeit Hans Marchwitza, Ernst Bloch, Bertolt Brecht, Franz-Carl Weiskopf, Wieland Herzfelde, Stefan Heym. Arnold Zweig und Louis Fürnberg kamen aus Palästina, Rudolf Leonhard aus Frankreich, Jan Petersen aus England, Stephan Hermlin aus der Schweiz, Erich Arendt aus Kolumbien. Weder nach Westen noch nach Osten konnten indes diejenigen, die von den Nazis ermordet worden waren (Erich Mühsam, Carl von Ossietzky, Klaus Neukrantz, Franz Braun) oder aus verschiedenen Gründen Selbstmord begangen hatten (Kurt Tucholsky, Walter Hasenclever, Ernst Toller, Walter Benjamin, Stefan Zweig). Der starke Aufschwung der Literatur in der SBZ wird durch eine Kulturpolitik gefördert, die die sofortige Veröffentlichung zahlreicher Werke bestimmt (zu nennen seien nur „Das siebte Kreuz“ von A. Seghers, „Väter“ von W. Bredel, „Irrweg einer Nation“ von A. Abusch. Zur Aufführung kamen Stücke wie „Professor Mamlock“ von F. Wolf und „Furcht und Elend des dritten Reiches“ von B. Brecht). Hinzu kommt bereits im Juli 1945 die Gründung des Kulturbunds zur demokratischen Erneuerung Deutschlands mit dessen kulturpolitischer Monatszeitschrift „Aufbau“. Der Kulturbund, der durch die Initiative von Johannes R. Becher im Auftrag des Zentralkomitees der KPD zustande kam und bis zur Gründung des Deutschen Schriftstellerverbandes im Oktober 1947 als die wichtigste organisatorische Einrichtung der sich neu formierenden Literatur fungierte, sollte „den Schriftstellern verschiedener politischer, weltanschaulicher und ästhetischer Auffassung geistige Heimat sein, um zur Erneuerung der deutschen Kultur durch die Entwicklung einer realistischen Literatur beizutragen“4. Ebd., S. 18. Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, von einem Autorenkollektiv unter Leitung von H. Haase, Berlin 1976, S. 55. 3 4
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Die rechtzeitige Errichtung von kulturellen Institutionen in enger Beziehung zu den politischen Organen beschleunigt den Prozess einer Wiederbelebung und Festigung des Kulturlebens. Zugleich aber wird durch die bewusste drastische Zäsur zur Nazizeit eine gründliche und (selbst)kritische Verarbeitung der Vergangenheit und der Schuldfrage verhindert. Agiert wird, als ob der zukunftsorientierte sozialistische Rahmen das tragische Vergangene wettgemacht hätte. Auffallend wird das gerade da, wo der Faschismus zum Thema der Literatur wird. Brecht selber weist auf die Unzulänglichkeit, ja die Unmöglichkeit hin, den Holocaust zum literarischen Gegenstand zu machen – was sich zum Teil auch mit dem Mangel an nötigem Abstand erklären lässt: „Die Vorgänge in Auschwitz, im Warschauer Getto, in Buchenwald vertrügen zweifellos keine Beschreibung in literarischer Form. Die Literatur war nicht vorbereitet auf und hat keine Mittel entwickelt für solche Vorgänge“5.
Um zum Thema Literatur der Heimkehr zurückzukommen, seien zunächst einige Gedichte von Brecht, Becher und Peter Huchel in Blick genommen. Brecht kommt 1947 nach Europa zurück, nach Stationen in Zürich und Prag lässt er sich 1949 in Ost-Berlin nieder. In den letzten Monaten seines amerikanischen Exils hatte er zunehmend verbittert die Hexenjagd gegen Schriftsteller, Filmregisseure und Schauspieler erleben müssen, die im Verdacht „kommunistischer Infiltration“ standen. Für das am 30. Oktober 1947 vor dem „Kongreßausschuß zur Untersuchung unamerikanischer Betätigung“ vorgesehene Verhör hatte Brecht eine Erklärung vorbereitet, die er letzten Endes aber nicht verlesen durfte. In dieser Erklärung rekonstruiert er sein Leben und die dramatischen Geschehnisse der letzten 15 Jahre scharf und eindrucksvoll und schließt im Ton eines definitiven Abschieds: „Zurückschauend auf meine Erfahrungen als Stückeschreiber und Dichter in dem Europa der beiden letzten Jahrzehnte, möchte ich sagen, daß das große amerikanische Volk viel verlieren und viel riskieren würde, wenn es irgend jemandem erlaubte, den freien Wettbewerb der Ideen auf kulturellem Gebiet einzuschränken oder gegen die Kunst einzuschreiten, die frei sein muß, um Kunst zu sein“6.
Sehr interessant ist das dialektische Verhältnis zwischen den Gedichten, die in der Erwartung der Rückkehr verfasst werden, und den lyrischen Texten, die nach der Heimkehr entstehen. Aus dem amerikanischen Exil beobachtet Brecht die deutschen Ereignisse klarsichtig und verweist auf die Verantwortung des deutschen Volkes. So heißt es in „Alles wandelt sich“: „Was geschehen, ist geschehen. Das Wasser / Das du in den Wein gossest, kannst Du / Nicht mehr herausschütten, aber / Alles wandelt sich. Neu 5 B. Brecht, Gespräche mit jungen Intellektuellen, in: Gesammelte Werke, Frankfurt a.M. 1970, Bd. 20, S. 313. 6 B. Brecht, Anrede an den Kongreß für unamerikanische Betätigungen, in: Gesammelte Werke, Bd. 20, S. 305.
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beginnen / Kannst du mit dem letzten Atemzug“7. Das Wandlungsmotiv, als allgemeiner Ausdruck des Notwendigen, das hier eine offensichtlich distanzierte Einstellung offenbart, mischt sich mit den negativen Aussichten der Rückkehr, die in dem gleichnamigen Gedicht, das einen lyrischen Zyklus aus dem Exil schließen sollte, ausgedrückt werden. Zusammen kommen hier das Schuldgefühl des Exilierten und die Befürchtungen eines unvermeidlichen schlechten Empfangs in der Heimat: „Du Vaterstadt, wie find ich sie doch? / Folgend den Bomberschwärmen / komm ich nach Haus. / Wo denn liegt sie? Wo die ungeheueren / Gebirge von Rauch stehen. / Das in den Feuern dort / Ist sie / Die Vaterstadt wie empfängt mich wohl? / Vor mir kommen die Bomber. Tödliche Schwärme / Melden auch meine Rückkehr. Feuerbrünste / Gehen dem Sohn voraus“8. In dem Gedicht „Ein neues Haus“ beschreibt Brecht sich als einen privilegierten Heimgekehrten: „Zurückgekehrt nach fünfzehnjährigem Exil / Bin ich eingezogen in ein schönes Haus: / … Fahrend durch die Trümmer / Werde ich tagtäglich an die Privilegien erinnert / Die mir dies Haus verschafften“9. In den Gedichten der Heimkehr nimmt Brecht die Tragweite der Katastrophe wahr und berichtet über die Ruinen und den „Schmutz“ der Städte, die gereinigt werden müssen genauso wie das „Wissen“ für die neuen Generationen. So in „Als unsere Städte in Schutt lagen“: „Als unsere Städte in Schutt lagen / Verwüstet durch den Krieg des Schlächters / Haben wir begonnen sie wieder aufzubauen / In der Kälte, im Hunger, in der Schwäche / … Dann machten wir für diese unsere Kinder / In den Schulen Platz und säuberten die Schulen / Und reinigten das Wissen der Jahrhunderte / Vom alten Schmutz, daß es gut für sie sei“10. Der heimgekehrte Brecht, der sich in „Ruinenstädten“ und unter schockierenderen „Ruinenmenschen“ bewegt, zeigt sich involviert. „Der Anblick der ungeheuerlichen Verwüstungen erfüllt mich nur mit einem Wunsch: auf meine Weise dazu beitragen, daß die Welt endlich Frieden bekommt. Sie wird unbewohnbar ohne Frieden“11, vermerkt er am 25. Oktober 1948. Die Anregung zum Wiederaufbau und der Anstoß zur Zusammenarbeit bekunden die Verse des Gedichts „Wahrnehmung“: „Als ich wiederkehrte / War mein Haar noch nicht grau / Da war ich froh. / Die Mühen der Gebirge liegen hinter uns / Vor uns liegen die Mühen der Ebenen“. Ähnlich heißt es in „Als die Stadt nun tot lag“, wo das Leben den Tod wegzuscheuchen
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B. Brecht, Alles wandelt sich, in: Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 888. Ebd., S. 858. Ebd., S. 962. Ebd., S. 960. B. Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 20, S. 308.
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vermag: „Als die Stadt nun tot lag, ging dein einer Sohn / Große Mutter du, in den Schutt zurück / Grub die Werkbank aus, zimmerte ein Dach … Oft die Fliegen, die von Toten kamen / Wischte er weg“12. Bereits im Juni 1945 kehrt Johannes R. Becher (1891-1958) nach einem zwölfjährigen Exil aus Moskau zurück. Bekanntermaßen übernahm Becher sofort viele Aufträge, um das öffentliche Leben zu normalisieren, und war bemüht, die kulturellen Institutionen zu beleben. Als Begründer des „Nationalkomitees Freies Deutschland“ im Jahr 1943 förderte er, wie schon angedeutet, den „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“, die Wochenzeitung „Sonntag“ und 1949 zusammen mit Paul Wiegler die Literaturzeitschrift „Sinn und Form“. Er war (1952-1956) Präsident der Deutschen Akademie der Künste und erster Kulturminister der DDR (19541958). 1949 verfasste Becher den Text der DDR-Nationalhymne, die mit den Worten beginnt: „Auferstanden aus Ruinen / Und der Zukunft zugewandt, / Laß uns dir zum Guten dienen, / Deutschland, einig Vaterland“. Im Gegensatz zum Brecht’schen Stil ist die Dichtung Bechers aus dieser Zeit durch ein überströmendes Glücksgefühl über das Ende des Faschismus und durch das Leiden um das Trümmerfeld zerstörter Städte und menschlicher Werte gekennzeichnet. Literarische Reminiszenzen, unter anderen an Gryphius („Tränen des Vaterlandes Anno 1937“), Goethe und Rilke sowie christlich-religiöse Motive bestimmen seine Lyrik, die um die Widersprüchlichkeit zwischen „Vernichtung und Neubeginn“, „Resignation und Aufschwung“ kreist. Der traurigen und wehmütigen Gemütslage, mit der er das Exil antritt (wie im Gedicht „Die Heimat“: „Als ich aus Deutschland ging, nahm ich mit mir ein Bild, / Oft sucht mein Auge jetzt, festzuhalten sich dort, / Wo inmitten der Hügel / Urach liegt“13) entspricht die enthusiastische Stimmung der Rückkehr in einem anderen Text mit demselben Titel „Heimat“: „Du – meine Frühandacht! Beim Frühaufstehen / Warst, Heimat du, mein erstes Wiedersehen! … Des Tags der Heimkehr habe ich geharrt / In deiner heiligen Allgegenwart“14. In diesem Kontext nimmt der Dichter Peter Huchel eine gewichtige Stelle ein. In der Vorkriegszeit als Naturlyriker im Rahmen der Lehmann-Schule bekannt, wird er im Herbst 1945 von Kulturoffizieren aus sowjetischer Gefangenschaft zur Einrichtung einer Hörspielabteilung an den Ost-Berliner Rundfunk geholt. Auf Wunsch Bechers übernimmt er 1949 die Redaktion von „Sinn und Form“. In der zyklischen Dichtung „Der Rückzug“ (1945) stellt Huchel in einer erstarrten Landschaft den Rückzug und das Ende der 12 13 14
B. Brecht, Gesammelte Werke, Bd. 10, S. 960 und 965. J.R. Becher, in: Werke, Berlin und Weimar 1971, Bd. 1, S. 169. Ebd., S. 299-300.
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deutschen Armee dar: „Ich sah des Krieges Ruhm. / Als wäre des Todes Säbelkorb, / durchklirrt von Schnee, am Straßenrand / lag eines Pferde Gerippe. / Nur eine Krähe scharrte dort im Schnee nach Aas, / wo Wind die Knochen nagte, Rost das Eisen fraß“15. „Das lyrische Ich fixiert die Ergebnisse und Auswirkungen des Krieges …, aber von der verzweifelten Trauer angesichts des Sterbens alles Lebendigen und der sinnlosen Vernichtung dessen, was der Mensch vormals zur Aneignung der Natur geschaffen hatte, gelangt es, ermutigt durch das Erwachen der Natur, zur hoffnungsvollen Bejahung eines sinnvollen zukünftigen Tages“16, so kommentiert man in der „Geschichte der Literatur der DDR“, bevor Huchel Anfang der sechziger Jahre in Ungnade fällt. Die negative Spiegelung von Krieg und Natur verwandelt sich Huchels Gedicht „Heimkehr“ (1948) in eine Übereinstimmung zwischen dem Ich und der Welt: „Aber am Morgen, / es dämmerte kalt, / als noch der Reif / die Quelle des Lichts überfror, / kam eine Frau aus wendischem Wald. / Suchend das Vieh, das dürre, / das sich im Dickicht verlor, / ging sie den rissigen Pfad, / Sah sie schon Schwalbe und Saat? / Hämmernd schlug sie den Rost vom Pflug“17. Der Rost, der im ersten Gedicht das Eisen, die Vernichtungswaffen zerfrisst, wird hier vom Pflug abgekratzt, um das Leben durch einen Neubeginn und durch die Feldarbeit wieder in Gang zu setzen. Im April 1947 verlässt Anna Seghers ihr mexikanisches Exil und reist über Frankreich und ihre zerstörte Heimatstadt Mainz nach Ost-Berlin. Seghers, die mit dem in englischer Sprache erschienenen Romans „Das siebte Kreuz“ (1942) zu großem Erfolg gekommen war, wird von keinerlei Zweifel und Bedenken, wie im Falle Brechts, begleitet. Durch eine aufmerksame Beobachtung der deutschen Situation und des Vormarsches der Roten Armee unternimmt sie die Rückreise nicht nur mit dem Manuskript ihres neuen Romans „Die Toten bleiben jung“ (1949), sondern ausgerüstet mit klaren ideologisch-politischen Programmen, wie etwa der Aufsatz „Freies Deutschland 1792“ zeigt. Indem sie sich auf den Kampf ihres ehemaligen Mitbürgers Georg Forsters genauso wie auf die politische und moralische Verantwortung des militanten Aufklärers Lessings beruft (im „Lessing-Aufsatz“, 1945) – „eine(s) Intellektuellen, der nie Leid verschuldet, der die Feste seines Glaubens nie verraten hat, dessen vielfältiges Werk von keinem einzigen Flecken getrübt wurde“18 –, versucht Anna Seghers die aufklärerischen und progressiven Traditionen des deutschen Denkens wiederzubeleben und voranzutreiben. Auf diese Weise werden ihr In: Geschichte der Literatur der Deutschen Demokratischen Republik, S. 84. Ebd. 17 Ebd. 18 A. Seghers, Lessing-Aufsatz, in: Über Kunstwerk und Wirklichkeit, Berlin 1970, Bd. 2, S. 69. 15 16
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ideologischer Beitrag und ihr literarisches Schaffen die ersten und echten Bausteine des Kulturerbes. „Wenn die deutsche Emigration“ – so schreibt sie im Aufsatz „Freies Deutschland 1792“ – „heimfährt, dann würde sie ein nützliches Gepäck mitbringen, wenn sie sich durch mündliche und schriftliche Überlieferung in der Geschichte ihrer speziellen Heimat schulen würde … in der echten, bis jetzt in Deutschland vernachlässigten progressiven Geschichte der Freien Deutschen“19. Der erste Kontakt zur deutschen Wirklichkeit lässt sie doch schreiben: „Als ich aus der Emigration zurückkam, fuhr ich vom Westen her quer durch Deutschland. Die Städte waren zertrümmert, und die Menschen waren im Innern genauso zertrümmert. Damals bot Deutschland eine ,Einheit‘ von Ruinen, Verzweiflung und Hunger“20.
Und nach der Gründung der DDR sagt sie in ihrer „Ansprache in Weimar“: „Man fragt mich oft, warum ich nach dem Krieg in diesen Teil Deutschland fuhr, der damals die Sowjetzone war, und nicht in meine Heimat an den Rhein. Darauf antwortete ich: … Weil hier ein enger Zusammenhang besteht zwischen dem geschriebenen Wort und dem Leben. Weil ich hier ausdrücken kann, wozu ich gelebt habe“21.
Anna Seghers geht davon aus, dass die Befreiung und der Neuanfang Mühen und große Belastungen mit sich bringen werden und dass „die moralisch-politische Umerziehung, auf die sie als Schriftstellerin das Hauptgewicht legt, mit einer Veränderung der Machtstrukturen einhergehen muß“22. Nur hingewiesen sei auf ihren Roman „Die Toten bleiben jung“, der eine umfangreiche und vielfältige epische Retrospektive der Jahre 1918-1945 mit einem tiefen Einblick in die Grundfragen der Zeit darstellt. Durch die tragische Dopplung des Schicksals des Kommunisten Erwin, der in der ersten Nachkriegszeit von reaktionären Kräften ermordet wird, und seines Sohns, der als Widerstandskämpfer den Nationalsozialisten erliegt, werden die Ursachen des Ersten sowie des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Katastrophe veranschaulicht, die auf die enge Beziehung zwischen dem Monopolkapital, preußischem Militarismus und dessen faschistischen Voraussetzungen zurückzuführen sind. Die Botschaft zur Fortsetzung des Kampfes, der dem noch ungeborenen Enkel des Kommunisten überlassen wird, zielt auf den Aufbau einer besseren Welt ab, die aber weitere Kämpfe und Opfer benötigen wird. 19 A. Seghers, Freies Deutschland 1792, in: Über Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. 3, S. 212. 20 A. Seghers, Der Anteil der Literatur an der Bewußtseinsbildung, in: Über Kunstwerk und Wirklichkeit, Bd. 1, S. 91. 21 Ebd., S. 154. 22 K. Batt, Anna Seghers. Versuch über Entwicklung und Werke, Leipzig 1980, S. 169.
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Ebenso wichtig sind einige von Seghers Prosaarbeiten aus den Jahren 1945-1949, die in der DDR zum Vorbild für viele Werke der fünfziger und frühen sechziger Jahre werden. Um den revolutionären Prozess der Epoche zu legitimieren und bekräftigen, arbeitet Seghers durch einen historischen Rückblick dialektische Verbindungen zu Umwälzungen in der Vergangenheit heraus, wie in den Erzählungen „Die Hochzeit von Haiti“ oder „Wiedereinführung der Sklaverei in Guadelaupe“ (beide 1948). In der ersten Erzählung symbolisiert die berühmte Figur Toussaint Louverture, der „schwarze Napoleon“ aus Haiti, als Fortsetzer der Ideale der französischen Revolution, den Freiheitskampf gegen die Sklaverei und die Ausbeutung. Die kontinuierliche internationalistische Linie in der Geschichte der revolutionären Umbrüche im Denken und Handeln der Menschen stellt sich nach den Absichten Seghers als fruchtbare Erfahrung und Bereicherung für die definitive Befreiung des Menschen dar. Realismus und Märchenhaftes verschmelzen in der Novelle „Das Argonautenschiff“ (1946), in der nach der antiken Sage die abenteuerliche Fahrt Jasons, der sich des Goldenen Vliesses bemächtigen will, ins Irrationale und ins Leere und unvermeidlich weit weg von den Mitmenschen führt. Mit der unmittelbaren Gegenwart verbunden sind die Erzählungen „Das Ende“ (1945), „Die Saboteure“ (1946) und „Die Rückkehr“ (1949). In diesem letzten Prosatext, der ein Thema einführt, das sich bis zur Literatur des „Geteilten Himmels“ erstreckt, geht es um eine Rückkehr im doppelten Sinne, in der autobiographische Bezüge anklingen. Denn der Heimkehr des Soldaten Werner Funk aus der Kriegsgefangenschaft folgt seine Übersiedlung aus den Westzonen in die SBZ. Das Eintreffen im östlichen Teil bedeutet ein Zurückfinden zu sich selbst und vor allem den Rückgewinn seiner Identität als Mitglied der Arbeiterklasse. Der ideologische Vorbildcharakter und der Blick von unten, aus der Perspektive der Betroffenen, werden zu einem Paradigma in der erzählenden Prosa dieser Jahre, auf die man in ihrer Gänze hier kaum eingehen kann. Werke wie „Leutnant Bertram“ (1944) von Bodo Uhse, „… damit du weiterlebst“ (1949) von Elfriede Brüning, die „Kumiak-Trilogie“ insbesondere der zweite Roman „Die Heimkehr der Kumiaks“ (1952), von Hans Marchwitza, „Das Beil von Wandsbek“ (hebräisch 1943, deutsch 1947) von Arnold Zweig oder „Die Hirtenflöte“ (1948) von Wolfgang Joho tragen zu einer Epochenbilanz bei, die bis zu den Aufbaujahren der DDR reicht. Eine besondere Stelle nimmt die Erzählung „Bis zum letzten Mann“ (1956) von Karl Mundstock ein, in deren Mittelpunkt die tragische und quälende Herausforderung zweier deutscher Soldaten an der schwedischen Grenze steht: Hollerer, der nach einem gescheiterten Desertionsversuch der Hinrichtung seines von den Kameraden festgenommenen Freunds Kohlmeyer beiwohnen musste, und der Oberjäger Weiß, ein „schmieriges, gummiartiges und heimtückisches“ Wesen, der ihm seine Flucht heimzahlen will. Während eines heftigen Schneesturms
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verfolgen sie einander, ums Leben kommen am Ende beide. Weder ideologische Ansätze noch heroisierende Taten gibt es in Mundstocks Erzählung. Es dominiert eine explosive Feindseligkeit, die auf eine Verkommenheit der Kameradschaft in der Wehrmacht verweist, weshalb „Feiglinge mutig und Mutige feig erscheinen“23. Im Rahmen dieses kursorischen Überblicks sei kurz auf das häufige Auftreten von russischen Figuren in der Prosa der Heimkehrer hingewiesen, das durchaus nicht immer, später aber in zunehmendem Maße im Sinne einer rhetorischen Anerkennung des Eingreifens der Roten Armee anzusehen ist. In der kurzen Erzählung „Die zwei Söhne“ (1949) von Brecht glaubt eine Bäuerin im Thüringen im Januar 1945 ihren Sohn auf dem Hof zu erkennen. Der junge Mann erweist sich aber als ein junger russischer Kriegsgefangener. Die Verwandlung seines Gesichts in das ihres Sohnes regt die Bäuerin an, ihm mit Essen und Medikamenten zu helfen. Als sich schließlich die Rote Armee nähert, liefert sie ihren Sohn, der inzwischen in SS-Uniform tatsächlich zurückgekommen ist, der russischen Kommandantur aus, „damit er sein Leben behalte“. In „Siebzehn Brote“ (1953) erzählt Friedrich Wolf von der Hilfsbereitschaft sowjetischer Soldaten, die vierzig deutschen Kriegsgefangenen, die meisten gewiss Arbeiter und Arbeitersöhne, siebzehn Brote im Geist der proletarischen Solidarität zur Verfügung stellen. In diesem Fall wird am Anfang der fünfziger Jahre das emphatische Anliegen sehr deutlich, die Entstehung und das Wachsen der deutsch-sowjetischen Freundschaft darzustellen und zu befördern. In den ersten Band (1959) der bereits erwähnten Chronik „Ein neues Kapitel“, die über die Erlebnisse des emigrierten Schriftstellers Peter Boisen berichtet, fügt Willi Bredel die Novelle „Frühlingssonate“ ein, in der von einem sowjetischen Offizier, im Zivilleben Musikpädagoge, erzählt wird, der nach Rostock gekommen ist und in der Wohnung eines deutschen Professors Beethovens „Frühlingssonate“ hört. Die Musik erweckt in ihm die tragische Erinnerung an die Ermordung seiner gesamten Familie durch deutsche Soldaten. Er zerstört die Wohnungseinrichtung, der Professor steht fassungslos vor diesem Ausbruch seines sonst immer freundlichen Gastes: „Die Schuldigen sind doch eigentlich wir“, sagte der Professor, „ich meine, wir Deutschen. Man stelle sich vor: Ein Offizier befindet sich als Sieger in dem Land, aus dem die Menschen kamen, die in seiner Heimat seine Frau und seine beiden Kinder umgebracht haben. Die Mörder sind besiegt, aber die Menschen dieses Landes sind den Mördern nicht in den Arm gefallen, sie haben sie gewähren, das heißt morden lassen“24. K. Mundstock, Bis zum letzten Mann, in: Fünfundsiebzig Erzähler der DDR, Berlin / Weimar 1981, Bd. 1, S. 300. 24 W. Bredel, Frühlingssonate, in: Fünfundsiebzig Erzähler der DDR, S. 71. 23
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Einige Jahre später, 1971, veröffentlichte Anna Seghers die Erzählung – eigentlich handelt es sich um einen Kurzroman – „Überfahrt. Eine Liebesgeschichte“, deren Handlung in der Gegenwart auf einem polnischen Schiff spielt, das von Brasilien nach Rostock fährt. Zwei Ich-Erzähler, der Ingenieur Franz Hammer und der junge Arzt Ernst Triebel, vermitteln dem Leser eine Geschichte von hohem poetischem Reiz und weltanschaulicher Dichte, wodurch die Überfahrt zum metaphorischen Ausdruck für den Übergang von einer alten Lebensauffassung, die durch einen geteilten nächtlichen Himmel veranschaulicht wird, zu einer neuen wird, die auf einem geschichtlichen Selbstbewusstsein gründen soll und deshalb die Schuldfrage nicht vermeiden darf. So schreit ein Junge in der Erzählung auf: „Ihr Eltern, ihr habt uns nie erzählt, was ihr den Russen angetan habt, und den Tschechen und den Polen und den Franzosen und anderen. Jetzt redet ihr immer vom Imperialismus, in dem ihr selber mittendrin gesteckt habt. Ihr habt ihn ja gemacht, den Imperialismus. Ihr hättet uns alles sagen müssen, ja. Jetzt haben wir für euch Reue, denn ihr habt keine. Wir haben Mitschuld. Wir haben Mitreue“25.
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A. Seghers, Überfahrt. Eine Liebesgeschichte, Berlin / Weimar 1974, S. 25.
Die Heimkehr aus den USA und der politische Neuaufbau in Westdeutschland Konservative Wissenschaftler als Förderer der Demokratie? Von Arnd Bauerkämper
Heimkehr vollzieht sich in unterschiedlichen Formen, die jeweils hinsichtlich des Ausgangsortes differieren. So unterscheiden sich die Migrationsverläufe und die damit verbundenen Deutungen bei der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft, nach vorangegangenen Vertreibungen und aus dem politischen Exil. Mit remigrierten Wissenschaftlern behandelt dieser Beitrag eine spezifische Form der Heimkehr, die durchweg Erfahrungen der Grenzüberschreitung einschloss. Die Darstellung konzentriert sich zudem auf den Stellenwert dieser Akteure im Transfer amerikanischer Demokratiekonzepte und -vorstellungen. Aber auch die Wahrnehmungen, Erfahrungen und Rollen dieser Gruppe waren überaus heterogen, wie hier exemplarisch gezeigt werden soll. Heimkehr ist deshalb als pluraler und vielschichtiger, oft sogar widersprüchlicher Prozess zu fassen, in dem die Perzeptionen der Betroffenen oft auf konträre Erwartungen der aufnehmenden Gesellschaften und ungünstige Konstellationen getroffen sind1. In Westdeutschland war die Heimkehr mit der Herausbildung und sukzessiven Festigung von Demokratien verbunden. Allgemein erschöpft sich dieser Prozess nach dem Zusammenbruch von Diktaturen keineswegs in der Konsolidierung der Verfassungsordnung. Vielmehr hat die vergleichende politikwissenschaftliche Transformationsforschung herausgearbeitet, dass diese Institutionalisierungsprozesse, die in der Systemtransition bzw. -transformation im Allgemeinen früh abgeschlossen sind, zwar eine unentbehrliche Voraussetzung demokratischer Stabilisierung bilden. Jedoch muss die demokratische Ordnung darüber hinaus im Wertesystem und im Handeln der Akteure verankert werden. In dieser Sicht setzt eine funktionierende Demokratie nicht nur Freiheit, Gleichheit und politische Kontrolle in einer rechtsstaatlichen 1 Dazu für die Rückkehrer nach Deutschland bzw. die Kriegsheimkehrer: M. Krauss, Heimkehr in ein fremdes Land. Geschichte der Remigration nach 1945, München 2001, S. 7-29; F. Biess, Homecomings: Returning POWs and the Legacy of Defeat in Postwar Germany, Princeton NJ 2006.
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Ordnung voraus, sondern auch eine entfaltete Zivilgesellschaft, in der demokratische Normen – z.B. durch Formen symbolischer Repräsentation – im Wertehorizont der Bürger verankert sind. Erst damit bildet sich eine deliberative Demokratie heraus, die auf freier Interaktion basiert, in pluralistischen Gesellschaften verwurzelt ist, lebensweltliche Geltungskraft gewinnt und damit auch politische Stabilität herstellt2. Neben Politikern agierten auch remigrierte Wissenschafter in Westdeutschland nach dem Zweiten Weltkrieg als Vermittler von Konzeptionen und Vorstellungen amerikanischer Demokratie. Wegen ihrer professionellen Qualifikation waren nicht zuletzt Historiker und Politikwissenschaftler mit der Aufgabe konfrontiert, die Herausbildung und Konsolidierung der Demokratie in Westdeutschland zu unterstützen. Zudem verlieh ihnen ihre Multiplikatorenfunktion nach 1945 einen beträchtlichen Einfluss auf die politische und gesellschaftliche Demokratisierung Westdeutschlands. Die Reaktionen der Remigranten auf die amerikanische Demokratie variierten allerdings deutlich, denn ihre jeweiligen Perzeptionen wurden nicht zuletzt von politisch-kulturellen Orientierungen gefiltert, die bereits in der Weimarer Republik angelegt waren. Das Amerika-Bild der Rückkehrer blieb deshalb widersprüchlich. Trotz des Erfahrungs- und Wissenstransfers förderte die Remigration auch die Herausbildung grenzüberschreitender Netzwerke nur begrenzt. Heimkehr vollzog sich nicht einfach als „Amerikanisierung“ oder „Globalisierung“. Vielmehr überlagerten sich in den vielschichtigen Prozessen der Aneignung und des Transfers durch remigrierte Akademiker amerikanische Einflüsse und deutsche Traditionen3. Bislang hat sich die Forschung auf zurückgekehrte Geschichts- und Politikwissenschaftler konzentriert, die – wie Ernst Fraenkel (1898-1975) – als liberale Initiatoren und Träger der westdeutschen Demokratie galten. Zusam2 H.-J. Lauth, Dimensionen der Demokratie und das Konzept defekter und funktionierender Demokratien, in: S. Pickel u.a. (Hrsg.), Demokratie. Entwicklungsformen und Erscheinungsbilder im interkulturellen Vergleich, Frankfurt a.d.O. 1997, S. 33-53, hier S. 41, 43, 50, 45, 47-49. Vgl. auch W. Merkel, Die Konsolidierung postautoritärer und posttotalitärer Demokratien: Ein Beitrag zur theorieorientierten Transformationsforschung, in: H. Süssmuth (Hrsg.), Transformationsprozesse in den Staaten Ostmitteleuropas 1989-1995, Baden-Baden 1998, S. 39-61, hier S. 43-55, 59-61. Daneben: H.-J. Puhle, Demokratisierungsprobleme in Europa und Amerika, in: H. Brunkhorst / P. Niesen (Hrsg.), Das Recht der Republik, Frankfurt a.M. 1999, S. 317-345, hier S. 317-345, 325. Zur Analyse der gesellschaftlichen Aneignung der Demokratie besonders die Hinweise in: R. Lammersdorf, Verwestlichung als Wandel der politischen Kultur, in: D. Junker (Hrsg.), Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945-1990. Ein Handbuch, Bd. 1: 1945-1968, Stuttgart 2001, S. 966977, hier S. 966-969. 3 Dazu am Beispiel von Theodor W. Adorno: A. Soellner, Adornos Amerika, in: Mittelweg, 12 (2003), S. 3-25, hier S. 4, 13-15.
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men mit den sojourners Franz L. Neumann und Carl J. Friedrich, die nur vorübergehend nach Westdeutschland zurückkehrten, begründete Fraenkel zudem in der jungen Bundesrepublik die Politologie als „Demokratiewissenschaft“. Der Beitrag dieser liberalen Remigranten zur Demokratisierung der Bundesrepublik ist deshalb zu Recht hoch veranschlagt worden4. Jedoch trugen – wie hier argumentiert wird – letztlich auch konservative Remigranten wie der Historiker Hans Rothfels (1891-1976) und der Politikwissenschaftler Arnold Bergstraesser (1896-1964), die in den dreißiger Jahren aus dem nationalsozialistischen Deutschland geflohen und in den Vereinigten Staaten von Amerika Zuflucht gefunden hatten, maßgeblich zur Konsolidierung der Demokratie in dem neuen westdeutschen Staat bei. Zwar standen diese beiden konservativen Wissenschaftler, die eng miteinander bekannt waren und im amerikanischen Exil an der University of Chicago lehrten, den demokratischen Traditionen ihres Gastlandes überwiegend skeptisch gegenüber, und sie blieben auf den Staat als Ordnungsmacht fixiert. Dennoch hatten sie die Demokratie als Lebensform im amerikanischen Exil unter dem Eindruck der freiheitlichen Gesellschaft der USA zumindest selektiv aufgenommen. Damit war die Distanz zu den autoritären Politikkonzepten gewachsen, die sie in der Weimarer Republik vertreten hatten. Im Anschluss an ihre Rückkehr nach Westdeutschland konnten diese konservativen Wissenschaftler sogar eine wichtige Rolle als Vermittler einnehmen, weil sie einzelne Komponenten amerikanischer Demokratievorstellungen aus der Sicht der Deutschen, die im „Dritten Reich“ geblieben waren, besonders überzeugend auf deutsche Traditionen bezogen. Bis zu den frühen sechziger Jahren ermöglichten sie damit – z.T. unreflektiert und nicht intendiert – die allmähliche Auflösung autoritärer politischer Mentalitäten und die Integration traditionaler Eliten in die westdeutsche Demokratie. Gerade konservative Rückkehrer banden damit demokratieferne Gruppen an das politische und gesellschaftliche System der Bundesrepublik. In der Transformationsphase der unmittelbaren Nachkriegszeit, die eine biographische „Verwandlungszone“ war, verliehen diese Remigranten der noch ungefestigten parlamentarischen Demokratie Stabilität. Obgleich dabei retardierende Effekte in Rechnung zu stellen sind, werden Interpretationen, die ausschließlich auf die entlastende und apolo-
4 Zur Rolle der sojourners vgl. z.B. M. Krauss, Gedankenaustausch über Probleme und Methoden der Forschung, Transatlantische Gastprofessoren aus Emigrantenkreisen in Westdeutschland nach 1945, in: Berichte über Wissenschaftsgeschichte, 29 (2006), S. 243-259; dies., Die Rückkehr einer vertriebenen Elite. Remigranten in Deutschland nach 1945, in: G. Schulz (Hrsg.), Vertriebene Eliten. Vertreibung und Verfolgung von Führungsschichten im 20. Jahrhundert, München 2001, S. 103-123, hier S. 105, 112. Auch die Remigration von Historikern in die DDR ist untersucht worden; vgl. M. Keßler, Exilerfahrung in Wissenschaft und Politik. Remigrierte Historiker in der frühen DDR, Köln 2001.
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getische Funktion der Stellungnahmen dieser Remigranten abheben, ihrer vermittelnden Position nicht gerecht5.
I. Hans Rothfels: Heimkehr als ambivalenter „Brückenbau“ Hans Rothfels (1891-1976), der Sohn eines Rechtsanwaltes, war einer der bekanntesten, aber auch umstrittensten deutschen Historiker des 20. Jahrhunderts. Er studierte Geschichte an den Universitäten Freiburg, München, Berlin und Heidelberg. Nach der Promotion und Habilitation wurde er 1926 an die „Grenzlanduniversität“ Königsberg berufen, wo er für eine Revision der deutschen Ostgrenzen eintrat, zum „Volkstumskampf“ beitrug und den Übergang zu einer autoritären Staatsordnung forderte. Als Jude dennoch 1934 entlassen, emigrierte Rothfels 1939/40 über Großbritannien in die Vereinigten Staaten, wo er zunächst an der Brown University (Providence) und ab 1946 an der Universität Chicago lehrte. Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg hatte er offenbar gehofft, schon bald einen Ruf von einer westdeutschen Universität zu erhalten. Rothfels verurteilte die alliierte Forderung nach „bedingungsloser Kapitulation“ und den amerikanischen „Morgenthau-Plan“ ebenso scharf wie die Vertreibung der Deutschen aus den verlorenen Ostgebieten. Auch traf er bei einer Vortragsreise im Sommer 1949 und mit seinem spektakulären Beitrag zum ersten Historikertag nach dem Zweiten Weltkrieg in München, in dem er die Politik Bismarcks positiv vom Nationalsozialismus abhob und nachdrücklich verteidigte, bei seinen Kollegen auf lebhafte Zustimmung. Mit der von ihm vorgenommenen deutlichen Trennung des „Dritten Reiches“ von der Geschichte des Kaiserreichs trat Rothfels vor allem „Kollektivschuld“5 Vgl. z.B. N. Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, S. 158, 163, 169, 178, 182; ders., Hidden Memory and Unspoken History: Hans Rothfels and the Postwar Restoration of Contemporary German History, in: Leo Baeck Institute Year Book, 49 (2004), S. 195-220, hier S. 208 f. Zitiert nach: D. van Laak, Zur Soziologie der geistigen Umorientierung. Neuere Literatur zur intellektuellen Verarbeitung zeitgeschichtlicher Zäsuren, in: Neue Politische Literatur, 47 (2002), S. 422-440, hier S. 433. Zur Schlüsselrolle konservativer Vermittler: P. Nolte, Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 16-21; D. van Laak, Soziologie, S. 426; U. Herbert, Liberalisierung als Lernprozess. Die Bundesrepublik in der westdeutschen Geschichte – eine Skizze, in: ders. (Hrsg.), Wandlungsprozesse in Westdeutschland. Belastung, Integration, Liberalisierung 1945-1980, Göttingen 2002, S. 7-49, hier S. 25; A. Bauerkämper, Demokratie als Verheißung oder Gefahr? Deutsche Politikwissenschaftler und amerikanische Modelle 1945 bis zur Mitte der sechziger Jahre, in: ders. / K.H. Jarausch / M.M. Payk (Hrsg.), Demokratiewunder. Transatlantische Mittler und die kulturelle Öffnung Westdeutschlands 1945-1970, Göttingen 2005, S. 253-280, hier S. 257-265, S. 279 f. Zum Verhältnis zwischen Rothfels und Bergstraesser: J. Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert, Göttingen 2005, S. 219, 259.
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Vorwürfen und negativen Kontinuitätskonstruktionen deutscher Geschichte von Luther bis Hitler entgegen, die den Alliierten zugeschrieben wurden. Diesem Zweck diente auch die Glorifizierung des deutschen Widerstandes im nationalsozialistischen Deutschland, das er – im Anschluss an den amerikanischen Diplomaten, Politiker und Direktor des CIA Allen Welsh Dulles (1893-1969) – in seinem einflussreichen Buch „The German Opposition to Hitler“ (1948) sogar als „occupied country“ bezeichnete. 1950 erreichten ihn deshalb aus der Bundesrepublik viele Briefe, in denen seine Kollegen und auch Studenten Rothfels baten, in seine Heimat zurückzukehren. Die Zustimmung und Ermunterung trugen 1951 ebenso wie die Resonanz, die seine wissenschaftliche Arbeit bei seinen westdeutschen Kollegen fand, maßgeblich zu seiner Entscheidung bei, die Berufung an die Universität Tübingen (als Nachfolger des 1949 verstorbenen Rudolf Stadelmann) anzunehmen6. Vor allem seine universalisierende Deutung des Nationalsozialismus als Folge des Übergangs zur „Massenpolitik“ war weitgehend identisch mit den in der westdeutschen „Zunft“ dominierenden Deutungen. Damit konnten die „daheimgebliebenen“ Historiker den viele von ihnen unmittelbar betreffenden Fragen nach ihrem eigenen Verhalten in der nationalsozialistischen Diktatur ausweichen. So hoffte der Wiener Historiker Heinrich von Srbik (1878-1951), dessen „großdeutsche Konzeption“ den „Anschluss“ Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland zumindest indirekt gefördert hatte, in einem Brief an Rothfels vom 10. Februar 1949, dass „gerade Sie mich … nicht einer Färbung meiner Vergangenheit bezichtigen werden.“ Rothfels forderte diese Blockade seiner Kollegen nicht offen heraus, so dass ihm Theodor Schieder in seiner Rede zum 70. Geburtstag noch 1961 für das gewährte „Vertrauen“ und die „Nachsicht“ dankte7. Nach seiner Rückberufung an die Universität Tübingen war Rothfels einer der herausragenden Historiker in der jungen Bundesrepublik geworden. Er hatte hier die zeithistorische Forschung begründet, führend an der Etablierung des Instituts für Zeitgeschichte in München mitgewirkt und wissenschaftliche Großprojekte wie die „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“ initiiert8. 6 N. Berg, Holocaust, S. 175 f. Zitiert nach: H. Rothfels, The German Opposition to Hitler. An Appraisal, Hinsdale IL 1948, S. 16; vgl. auch J. Eckel, Intellektuelle Transformationen im Spiegel der Widerstandsdeutungen, in: U. Herbert (Hrsg.), Wandlungsprozesse, S. 140-176; G.A. Eakin-Thimme, Geschichte im Exil. Deutschsprachige Historiker nach 1933, München 2005, S. 143, Anm. 51, S. 176. 7 Zitiert nach (in dieser Reihenfolge): J. Kämmerer (Hrsg.), Heinrich Ritter von Srbik. Die wissenschaftliche Korrespondenz des Historikers 1912-1945, Boppard 1988, S. 564 (kursiv im Original); Th. Schieder, Hans Rothfels zum 70. Geburtstag am 12. April 1961, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte (künftig VfZ), 9 (1961), S. 117-123, hier S. 119. 8 Zur Biographie, die umfassend untersucht worden ist: J. Eckel, Rothfels, besonders S. 230, 239. Daneben: J. Eckel, Hans Rothfels – An Intellectual Biography
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Obgleich Rothfels seinen amerikanischen Pass bis 1969 behielt, ist sein Exil in den Vereinigten Staaten in der Geschichtsschreibung noch kaum beachtet worden9. Vielmehr hat sich die historiographische Diskussion bislang weitgehend auf die Einstellung des Königsberger Historikers gegenüber der Weimarer Republik und dem Nationalsozialismus konzentriert, dem er früh zuneigte10. Jedoch veränderte sein erzwungenes Exil in den Vereinigten Staaten von Amerika durchaus die politischen Einstellungen, die Rothfels vertrat11. Zunächst jedoch war es für ihn schwierig, sich an die neue Heimat in the Age of Extremes, in: Journal of Contemporary History, 42 (2007), S. 421-446, hier S. 427. Pointierte Kritik in: K.H. Roth, Hans Rothfels: Geschichtspolitische Doktrinen im Wandel der Zeiten. Weimar – NS-Diktatur – Bundesrepublik, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 40 (2001), S. 1061-1073; ders., „Richtung halten“: Hans Rothfels und neo-konservative Geschichtsschreibung diesseits und jenseits des Atlantik, in: Sozial.Geschichte, 18 (2003), S. 41-71; P.Th. Walther, Die deutschen Historiker in der Emigration und ihr Einfluss in der Nachkriegszeit, in: H. Duchhardt / G. May (Hrsg.), Geschichtswissenschaft um 1950, Mainz 2002, S. 37 f., 43-47; H. Mommsen, Geschichtsschreibung und Humanität. Zum Gedenken an Hans Rothfels, in: W. Benz / H. Graml (Hrsg.), Aspekte deutscher Außenpolitik im 20. Jahrhundert. Aufsätze Hans Rothfels zum Gedächtnis, Stuttgart 1976, S. 9-27; ders., Hans Rothfels, in: H.-U. Wehler (Hrsg.), Deutsche Historiker, Bd. 9, Göttingen 1982, S. 129-147. Weniger kritisch: W. Conze, Hans Rothfels, in: Historische Zeitschrift, 237 (1983), S. 311-360; W. Neugebauer, Hans Rothfels (1891-1976) in seiner Zeit, in: D. Rauschning / D. von Nerée (Hg.), Die Albertus-Universität zu Königsberg und ihre Professoren. Aus Anlaß der Gründung der Albertus-Universität vor 450 Jahren, Berlin 1995, S. 245-256. Zur Rolle in der westdeutschen Forschung: H. Graml / H. Woller, Fünfzig Jahre Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 1953-2003, in: VfZ, 51 (2003), S. 54-56, 59-61, 66, 69, 73-76; M. Beer, Die Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa. Hintergründe – Entstehung – Ergebnis – Wirkung, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 50 (1999), S. 99, 103. 9 Dazu aber Chr. Blume, Transformationen eines Historikers – Hans Rothfels’ Weg aus dem Dunstkreis der Volksgeschichte zur leuchtenden Symbolfigur der Nachkriegshistoriografie, in: H-Soz-u-Kult, 28.09.2004, http://hsozkult.geschichte.hu-berlin. de/forum/2004-09-001. 10 I. Haar, Historiker im Nationalsozialismus. Deutsche Geschichtswissenschaft und „Volkstumskampf“ im Osten, Göttingen 2000, S. 70-105; ders., Anpassung und Versuchung. Hans Rothfels und der Nationalsozialismus, in: J. Hürter / H. Woller (Hrsg.), Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte, München 2005, S. 63-81, hier S. 71. Dazu auch die Kontroverse zwischen Ingo Haar und Heinrich August Winkler; vgl. H.A. Winkler, Hans Rothfels – Ein Lobredner Hitlers? Quellenkritische Bemerkungen zu Ingo Haars Buch „Historiker im Nationalsozialismus“, in: VfZ, 49 (2001), S. 643-652; ders., Geschichtswissenschaft oder Geschichtsklitterung? Ingo Haar und Hans Rothfels: Eine Erwiderung, in: VfZ, 50 (2002), S. 635-652; I. Haar, Quellenkritik oder Kritik der Quellen? Replik auf Heinrich August Winkler, in: VfZ, 50 (2002), S. 497-505. 11 P.Th. Walther, Emigrierte deutsche Historiker in den USA, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte, 7 (1984), S. 41-43, 47, 49 f.; ders., Emigrierte Deutsche Historiker in den Vereinigten Staaten, 1945-1950: Blick oder Sprung über den großen Teich?, in: Ch. Cobet (Hrsg.), Einführung in Fragen an die Geschichtswissenschaft
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anzupassen, da er noch lange auf die Rückkehr nach Deutschland hoffte und seine wissenschaftliche Ausbildung ihn zunächst nicht für die Integration in den amerikanischen Wissenschaftsbetrieb prädestinierte. Obgleich er kein Anhänger des amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt war, zeigte er sich doch von dessen Politik des New Deal und der entsprechenden Sozialgesetzgebung beeindruckt. Er bezog diese eng auf die sozialpolitischen Maßnahmen Bismarcks, die er als Voraussetzung einer inneren Erneuerung des deutschen Staates interpretierte. Bereits in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren hatte Rothfels eine Dokumentation dazu vorbereitet, die er allerdings nie fertig stellte12. Vor diesem Hintergrund übte Roosevelts New Deal durchaus eine erhebliche Anziehungskraft auf den deutschen Historiker aus, so dass sich auch seine Ressentiments gegen die westliche Demokratie milderten. Überdies akzeptierte er zunehmend den Rechtsstaat, den er zwar als Fundament parlamentarisch-demokratischer Ordnungen schätzte, aber durchaus auch auf das überkommene Primat der Staatsmacht bezog. Das Konzept des Rechtsstaates überbrückte so die Distanz zur Demokratie, ohne den staatlichen Rahmen aufzugeben. Demgegenüber lehnte Rothfels Demokratievorstellungen, die auf Massenmobilisierung, plebiszitären Legitimationsverfahren und pluralistischen Interessenkonflikten basierten, scharf und kompromisslos ab. Vielmehr sollte die „Massendemokratie“ durch einen starken Staat eingehegt werden. Dennoch öffnete sich Rothfels partiell gegenüber demokratischen und liberalen in Deutschland nach Hitler 1945-1950, Frankfurt a.M. 1986, S. 44-49. Kritischere Deutungen in: K.H. Roth, Hans Rothfels: Geschichtspolitische Doktrinen im Wandel, hier S. 1068-1072. Dazu auch die Bemerkungen in Th. Etzemüller, Sozialgeschichte als politische Geschichte. Werner Conze und die Neuorientierung der westdeutschen Geschichtswissenschaft nach 1945, München 2001, S. 184, 188, 192, 237 f., 241 f., 248-250, 252, 254 f.; Chr. Cornelißen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2001, S. 462, 549, 552; H. Wolf, Deutschjüdische Emigrationshistoriker in den USA und der Nationalsozialismus, Bern 1988, S. 223, 230 f., 235, 240, 368; J.-S. Chun, Das Bild der Moderne in der Nachkriegszeit. Die westdeutsche „Strukturgeschichte“ im Spannungsfeld von Modernitätskritik und wissenschaftlicher Innovation 1948-1962, München 2000, S. 131, 161-163, 205-208, 229, 233. Dagegen wird ein Wandel weitestgehend in Abrede gestellt in: J. Eckel, Geschichte als Gegenwartswissenschaft. Eine Skizze zur intellektuellen Biographie von Hans Rothfels, in: J. Hürter / H. Woller (Hrsg.), Rothfels, S. 28; ders., Rothfels, S. 237. Andererseits werden die Auswirkungen des erzwungenen Aufenthaltes in den USA auf Rothfels’ Einstellung zur Demokratie erheblich überschätzt in: G.A. Ritter, Friedrich Meinecke und seine emigrierten Schüler, in: Friedrich Meinecke. Akademischer Lehrer und emigrierte Schüler. Briefe und Aufzeichnungen 1910-1977, eingeleitet und bearb. von G.A. Ritter, München 2006, S. 13-111, hier 37 f. 12 L. Machtan, Hans Rothfels und die Anfänge der historischen SozialpolitikForschung in Deutschland, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, 28 (1992), S. 161-210.
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politischen Werten, die er in seinem nordamerikanischen Exil aufnahm. So erkannte er in der Verfassung der Vereinigten Staaten durchaus Elemente, welche die konservative Widerstandsbewegung in Deutschland aufgenommen hatte. Auch verwies er auf die demokratischen Aktivitäten in den Gemeinden als wichtige Basis der amerikanischen „Graswurzeldemokratie“, die er zunehmend akzeptierte. Jedoch adaptierte er diese Form demokratischer Mitbestimmung in den communities der USA durchaus eigenwillig, indem er sie gegen die perhorreszierte „Massendemokratie“ richtete13. Zudem ließ die veränderte weltpolitische Konstellation nach 1945 einen Rekurs auf das Konzept „Mitteleuropa“, das Rothfels in den zwanziger und dreißiger Jahren vertreten hatte, nicht mehr zu. Vielmehr begann in seinem amerikanischen Exil eine graduelle Annäherung an den Westen, die Rothfels im Kalten Krieg zu einem Anhänger der Westintegration der Bundesrepublik werden ließ. Das „Abendland“ − ein Konzept, an dem Rothfels festhielt − wurde aus seiner Sicht seit den späten vierziger Jahren nicht mehr ausschließlich durch europäische Staaten, sondern vor allem von den USA verteidigt. Europa schien gleichsam „ausgewandert“ zu sein. Damit gab der Historiker nicht nur seinen radikalen Nationalismus auf, sondern er bewahrte ein tradiertes Konzept, indem er es auf die westliche Hemisphäre bezog14. Diese Umcodierung auf eine Allianz mit westlichen Demokratien ließ andererseits eine Kontinuität des Antikommunismus zu, den Rothfels nahezu ungebrochen fortschrieb. Der Abgrenzung gegenüber den staatssozialistischen Diktaturen in Ostmitteleuropa entsprach, dass Rothfels in der Bundesrepublik zunehmend bereit war, sein Ideal nationaler Einheit zugunsten politischer 13 C.-D. Krohn, Geschichtswissenschaften, in: ders. u.a. (Hrsg.), Handbuch der deutschsprachigen Emigration 1933-1945, Darmstadt 1998, S. 757; J. Solchany, Vom Antimodernismus zum Antitotalitarismus. Konservative Interpretationen des Nationalsozialismus in Deutschland 1945-1949, in: VfZ, 44 (1996), S. 393; J. Eckel, Transformationen, S. 165, 167, 174; P.Th. Walther, Emigrierte deutsche Historiker in den Vereinigten Staaten, S. 45, 47; W. Neugebauer, Hans Rothfels’ Weg zur vergleichenden Geschichte Ostmitteleuropas, besonders im Übergang von früher Neuzeit zur Moderne, in: Berliner Jahrbuch für osteuropäische Geschichte, 1 (1996), S. 333-378, hier S. 377. 14 J. Eckel, Rothfels, S. 239; ders., Geschichte, S. 29; ders., Hans Rothfels – An Intellectual Biography in the Age of Extremes, S. 430, 434, 438; Chr. Blume, Transformationen, S. 47 f., 52 f., 57. Zu den „Abendland“-Konzepten umfassend: V. Conze, Das Europa der Deutschen. Ideen von Europa in Deutschland zwischen Reichstra-dition und Westorientierung (1920-1970), München 2005; dies., Abendland gegen Amerika! „Europa“ als antiamerikanisches Konzept im westeuropäischen Konservatismus (1950-1970) – Das CEDI und die Idee des „Abendlandes“, in: J.C. Behrends / Á. von Klimó / P. Poutrus (Hrsg.), Antiamerikanismus im 20. Jahrhundert. Studien zu Ost- und Westeuropa, Bonn 2005, S. 204-224; A. Schildt, Ankunft im Westen. Ein Essay zur Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, Frankfurt a.M. 1999, S. 149-173.
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Freiheit zurückzustellen. So unterstützte er auch die „neue Ostpolitik“ des Bundeskanzlers Willy Brandt15. Jedoch waren seine Vorbehalte gegenüber der westlich-liberalen Demokratie damit keineswegs vollständig gewichen. Rothfels blieb zutiefst misstrauisch gegenüber den „unverantwortlichen“ Impulsen und Emotionen der „Massen“, deren Stimmungsschwankungen aus seiner Sicht ein starker Staat einhegen musste. Sein Demokratieverständnis blieb deshalb etatistisch geprägt, wie vor allem die Gegenüberstellung von Gesellschaft und Staat zeigte. Auch unter dem Eindruck der Instabilität der Weimarer Republik blieben „Ordnung“ und „Sicherheit“ bei Rothfels Leitkonzepte einer gebändigten Demokratie, die allerdings auf Rechtsstaatlichkeit und humanitären Prinzipien beruhen sollte. Im Gegensatz zu linksliberalen Remigranten wie Ernst Fraenkel und – dem in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren nur vorübergehend an westdeutschen Hochschulen lehrenden – Hans Rosenberg lehnte Rothfels die pluralistischen Demokratiekonzepte westlicher Provenienz weiterhin dezidiert ab. Vielmehr verteidigte er nachdrücklich die Vorstellung einer Autonomie des Staates16. Insgesamt konnte Rothfels damit durchaus den in der konservativen Tradition der Geschichtsschreibung tief verankerten Etatismus und den ebenso fest verwurzelten Antibolschewismus mit ausgewählten Komponenten der amerikanischen Demokratie kombinieren. In der westdeutschen Nachkriegshistoriographie, in der er als jüdischer Remigrant gerade wegen seines konzilianten Umgangs mit den „daheimgebliebenen“ Historikern eine enorme Reputation gewann, und auch darüber hinaus in 15 K. von Klemperer, Hans Rothfels (1891-1976), in: H. Lehmann / J. Van Horn Melton (Hrsg.), Paths of Continuity. Central European Historiography from the 1930s to the 1950s, Cambridge 1994, S. 133; B. Faulenbach (Hrsg.), Geschichtswissenschaft in Deutschland. Traditionelle Positionen und gegenwärtige Aufgaben, München 1974, S. 233. 16 G.G. Iggers, Die deutschen Historiker in der Emigration, in: B. Faulenbach (Hrsg.), Geschichtswissenschaft, S. 108 f.; J. Eckel, Rothfels, S. 261, 266 f., 341, 354-356; ders., Geschichte, S. 36, 38; ders., Hans Rothfels – An Intellectual Biography, S. 437 f., 440, 442, 445; Th. Mommsen, Hans Rothfels, S. 142; Ch. Blume, Transformationen, S. 50, 53, 57. Zu Rosenberg: G.A. Ritter, Hans Rosenberg 1904-1988, in: Geschichte und Gesellschaft, 15 (1989), S. 282-302; A. Bauerkämper, Americanisation as Globalisation? Remigrés to West Germany after 1945 and Conceptions of Democracy: The Cases of Hans Rothfels, Ernst Fraenkel and Hans Rosenberg, in: Leo Baeck Institute Year Book, 49 (2004), S. 153-170, hier S. 165-169. Zu den Vorbehalten gegenüber dem Konzept einer pluralistischen Demokratie unter den deutschen Historikern nach 1945 allgemein: B. Faulenbach, Historische Tradition und politische Neuorientierung. Zur Geschichtswissenschaft nach der „deutschen Katastrophe“, in: W.H. Pehle / P. Sillem (Hrsg.), Wissenschaft im geteilten Deutschland. Restauration oder Neubeginn nach 1945?, Frankfurt a.M. 1992, S. 200 f.; ders., Deutsche Geschichtswissenschaft nach den beiden Weltkriegen, in: G. Niedhart / D. Riesenberger (Hrsg.), Lernen aus dem Krieg? Deutsche Nachkriegszeiten 1918 und 1945. Beiträge zur historischen Friedensforschung, München 1992, S. 236 f., 240.
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der Gesellschaft der jungen Bundesrepublik wirkte er als einflussreicher Vermittler. Keineswegs zufällig lobte ihn deshalb Friedrich Meinecke, der während der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland geblieben war, als „Brückenbauer“ zwischen dem „alten“ und „neuen“ Deutschland17. Seine Kollegen und Studierenden schätzten auch seine informellen Umgangsformen und sein offenes Verhalten, das viele Beobachter mit „Amerika“ assoziierten. In funktionalistischer Perspektive trug Rothfels zur Aneignung aus den USA selektiv transferierter demokratischer Werte in konservativen Milieus bei, die ihnen zunächst überaus kritisch gegenüberstanden18. Als Historiker vertrat Rothfels zwar die Methode akribischer Quellenkritik, plädierte jedoch zugleich für klare Werturteile. Damit stellte er nicht nur das historistische Ideal der „Objektivität“ in Frage – wenngleich indirekt –, sondern er trug auch zur politischen Debatte über die nationalsozialistische Vergangenheit in der frühen Bundesrepublik bei. Über seine geschichtswissenschaftliche Forschung und die akademische Lehre hinaus trat Rothfels deshalb für eine umfassende Aufarbeitung der Geschichte des „Dritten Reiches“ ein. So verlangte er als Mitglied der wissenschaftlichen Kommission, die in den fünfziger Jahren das Dokumentationsprojekt zur Vertreibung der Deutschen leitete, auch die Zwangsumsiedlungen der NS-Machthaber in Osteuropa in die Darstellung einzubeziehen. Diese Forderung lehnte das Vertriebenenministerium aber ab. Auch als Herausgeber der „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“ (von 1952 bis 1976) und mit seiner Beteiligung an der Publikation der amtlichen „Akten zur deutschen auswärtigen Politik“ legte Rothfels die Verbrechen der Nationalsozialisten offen. Nicht zuletzt diesem Zweck waren auch zahlreiche öffentliche Reden des Tübinger Historikers gewidmet. Insgesamt hatte damit das erzwungene Exil in den Vereinigten Staaten und die Rückkehr in die Bundesrepublik außer einer zögernden methodischen Neuorientierung auch Vorbehalte gegenüber der Demokratie beseitigt, deren Stellenwert aber ebenso wegen der neuen Konstellation des Kalten Krieges in Rothfels’ politischer Konzeption erheblich zugenommen hatte. Jedoch hielt er allenfalls repräsentative Formen demokratischer Herrschaft, die staatlich gezähmt werden sollte, mit den in Deutschland vorherrschenden Traditionsbeständen für vereinbar19. 17 F. Meinecke, Zum Geleit, in: W. Conze (Hrsg.), Deutschland und Europa. Historische Studien zur Völker- und Staatenordnung des Abendlandes, Düsseldorf 1951, S. 11. Vgl. auch H. Graml / H. Woller, Jahre, S. 55; P.Th. Walter, Die deutschen Historiker in der Emigration. 18 Chr. Blume, Transformationen, S. 41, 45. Zum Auftreten Rothfels’: Th. Eschenburg, Letzten Endes meine ich doch. Erinnerungen 1933-1999, Berlin 2002, S. 200 f. 19 W. Bußmann / G. Grünthal (Hrsg.), Siegfried A. Kaehler. Briefe 1900-1963, Boppard 1993, S. 360. Vgl. auch Th. Etzemüller, Kontinuität und Adaption eines Denkstils. Werner Conzes intellektueller Übertritt in die Nachkriegszeit, in: B. Weisbrod
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II. Arnold Bergstraesser: Heimkehr und das Konzept einer freiheitlich-elitären Demokratie Arnold Bergstraesser wurde am 14. Juli 1896 als Sohn eines protestantischen Verlegers und Landtagsabgeordneten in Darmstadt geboren. Nach dem Abitur 1914 nahm er als Leutnant am Ersten Weltkrieg teil, aus dem er schwer verwundet zurückkehrte. Im Anschluss an sein Studium der Nationalökonomie und Geschichte in Berlin, München und Heidelberg promovierte er 1923 bei Alfred Weber über die Probleme der berufsständischen Verfassung nach der Revolution von 1918/19. Geprägt durch die Wandervogelbewegung, befürwortete Bergstraesser früh eine gesellschaftliche Erneuerung nach organisch-ständischen Konzepten. Schon vor seiner Habilitation 1928 richtete der aufstrebende Forscher an der Universität Heidelberg das Institut für Sozial- und Staatswissenschaften ein. Bevor er 1932 einen Ruf auf eine Professur für Staatswissenschaften und Auslandskunde an der Universität Heidelberg annahm, arbeitete Bergstraesser seit 1929 als Dozent an der Berliner Hochschule für Politik. Er konzentrierte sich zunächst auf Studien zur staatlichen und wirtschaftlichen Ordnung Frankreichs20. Bereits in den späten zwanziger Jahren distanzierte sich Bergstraesser, der zunächst die Deutsche Demokratische Partei (DDP) und anschließend die aus ihr hervorgegangene Deutsche Staatspartei unterstützte, von den Regierungen der Weimarer Republik, die nach dem Einbruch der Weltwirtschaftskrise, spätestens aber seit 1930/31 nicht mehr imstande zu sein schienen, die politische Ordnung zu sichern. Ohnehin hatte er die Demokratie in Deutschland nur als Not- und Übergangslösung verstanden, da hier aus seiner Sicht organischständische Traditionen die Herausbildung einer westlich-liberalen politischen Kultur ausschlossen. Einem intellektuell-elitären Selbstverständnis verpflichtet, näherte er sich seit den späten zwanziger Jahren dem rechtskonservativ-nationalistischen „Tat-Kreis“ an. Überdies schloss sich Bergstraesser, der nach dem Ersten Weltkrieg früh einen europäischen Zusammenschluss befürwortet hatte, der Fédération Internationale des Unions Intellectuelles (auch „Europäischer Kulturbund“ genannt) an, deren Führung eine „konservative Revolution“ forderte und mit dem italienischen Faschismus sympathisierte. Im „Kultur(Hrsg.), Akademische Vergangenheitspolitik. Beiträge zur Wissenschaftskultur der Nachkriegszeit, Göttingen 2002, S. 127, 130; ders., Sozialgeschichte, S. 238, 249 f., 252, 254; K. von Klemperer, Hans Rothfels (1891-1976), in: Central European History, 9 (1976), S. 383; M. Beer, Dokumentation, S. 110, 113; H. Graml / H. Woller, Jahre, S. 60 f.; P.Th. Walther, Historiker, S. 47. 20 Vgl. H. Schmitt, Politikwissenschaft und freiheitliche Demokratie. Eine Studie zum „politischen Forschungsprogramm“ der „Freiburger Schule“, 1954-1970, BadenBaden 1995, S. 40-42; H.K. Rupp, Macht, Freiheit, Demokratie. Anfänge der westdeutschen Politikwissenschaft. Biographische Annäherungen, Marburg 1991, S. 125-127.
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bund“, auf dessen Tagungen gelegentlich auch Rothfels referierte, vertrat Bergstraesser eine elitäre Kultur- und Demokratiekritik, die sich vor allem gegen den Einfluss der „Massen“ auf politische Prozesse und Entscheidungen richtete. Deshalb befürwortete er 1931/32 eine Beteiligung der Nationalsozialisten an der Regierung. Als Redakteur der „Europäischen Revue“ und als Geschäftsführer des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (seit 1924) trat Bergstraesser, der überdies dem deutsch-französischen Studienkomitee angehörte, besonders für den außenpolitischen Revisionismus ein21. Auf der Grundlage eines tiefen Krisenbewusstseins sollte die Staatswissenschaft nach Bergstraessers Verständnis Ganzheitlichkeit („Synopse“) herstellen und als „existenzielle Wissenschaft“ in Deutschland die nationale, kulturelle und politische Identität sichern. Seine politische Konzeption basierte vor allem auf der Kategorie der Macht, so dass er pazifistische Positionen scharf ablehnte. 1932 war er deshalb Anklagevertreter in einem Untersuchungsausschuss der Universität Heidelberg gegen den Mathematiker Emil Julius Gumbel, dessen Enthüllungen zur Rechtsprechung zugunsten von rechtskonservativen Republikgegnern und zur subversiven Aktivität der „Freikorps“ und der „schwarzen Reichswehr“ von den Gegnern der Weimarer Republik scharf abgelehnt wurden. Im Mai 1932 soll Gumbel auf einer Friedenskundgebung der sozialistischen Studentengruppe schließlich empfohlen haben, eine große Kohlrübe als Kriegerdenkmal aufzustellen, um die Aufmerksamkeit auf Hunger und Entbehrung zu lenken und damit der weitverbreiteten Kriegsverherrlichung entgegenzutreten. Die Leitung der Universität Heidelberg sah sich daraufhin genötigt, einen Untersuchungsausschuss gegen Gumbel einzurichten und damit die nationalistische Propagandakampagne zu unterstützen. Dem politisch missliebigen Mathematiker, der auch wegen seiner Umgangsformen an der Universität Heidelberg Ressentiments weckte, wurde daraufhin noch im Juli 1932 die Lehrbefugnis entzogen22.
21 Vgl. G. Müller, Europäische Gesellschaftsbeziehungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Das Deutsch-Französische Studienkomitee und der Europäische Kulturbund, München 2005, S. 281, 284, 360, 439, 442, 448, 462; I.U. Paul, Konservative Milieus und die ‚Europäische Revue‘ (1925-1944), in: M. Grunewald / U. Puschner (Hrsg.), Das konservative Intellektuellen-Milieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1890-1960), Frankfurt a.M. 2003, S. 510-555, hier: S. 518, 526, 531. 22 R. Eisfeld, Ausgebürgert und doch angebräunt. Deutsche Politikwissenschaft 1920-1945, Baden-Baden 1991, S. 79-86; H. Schmitt, Politikwissenschaft, S. 42-44, 68, 72. Vgl. auch C.-D. Krohn, Der Fall Bergstraesser in Amerika, in: Exilforschung, 4 (1986), S. 254-275, hier S. 256, 259; R.M. Gatens, Prelude to Gleichschaltung: The University of Heidelberg and the E.J. Gumbel Controversies, 1924 to 1932, in: European History Quarterly, 31 (2001), S. 65-99, hier S. 89 f. Zu Bergstraessers Wissenschaftsverständnis bis zu den dreißiger Jahren: H. Schmitt, Existenzielle Wissenschaft und Synopse. Zum Wissenschafts- und Methodenbegriff des ‚jungen‘ Arnold Bergstraesser (1923-1936), in: Politische Vierteljahresschrift, 30 (1989), S. 466-481.
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Da er vor allem die ständisch-organische Gesellschaftsauffassung der nationalsozialistischen Machthaber teilte, begrüßte Bergstraesser die „Machtergreifung“ zunächst. So forderte er 1933 eine „neue Totalität des Menschen“, und 1934 war er als Hauptreferent an der Promotion von Alfred Six beteiligt, dem späteren Amtschef des Reichssicherheitshauptamtes und Leiter der Auslandswissenschaftlichen Fakultät Berlin. Auch Fritz Hippler (1909-2002), der 1940 zum Reichsfilmintendanten ernannt, aber drei Jahre später von Propagandaminister Joseph Goebbels entlassen wurde, hatte bei Arnold Bergstraesser promoviert23. Dennoch zweifelte die Gestapo an dessen politischer Loyalität. Der Nachweis jüdischer Vorfahren führte schließlich zur Beurlaubung und – im August 1936 – zum Verlust der venia legendi. 1937 in die Vereinigten Staaten von Amerika emigriert, errang Bergstraesser mit Protektion seines Freundes Carl-Joachim Friedrich schnell eine Professur am Scripps College, Claremont, wo er im Dezember 1941 und im Herbst 1942 zweimal vom FBI verhaftet und jeweils wenige Monate interniert wurde. Obgleich die Vorwürfe wegen seiner Beteiligung an der Repression politisch verfolgter Wissenschaftler in den letzten Jahren der Weimarer Republik und aufgrund seiner Unterstützung des NS-Regimes in den polizeilichen Untersuchungen keineswegs entkräftet worden waren, konnte Bergstraesser 1944 an die Universität Chicago wechseln, wo er einen Lehrstuhl für deutsche Kulturgeschichte übernahm. Dort schloss er sich einem Kreis konservativer deutscher Wissenschaftleremigranten an, dem auch der Historiker Hans Rothfels zugehörte. Seine Rolle in der Weimarer Republik blieb auch Emigranten wie Georg G. Iggers, der bei Bergstraesser studierte, weitgehend verborgen24. Ebenso wie Rothfels verteidigte Bergstraesser in den späten vierziger Jahren in mehreren Büchern energisch das Erbe der deutschen Kultur und Geschichte bis zum 19. Jahrhundert. Schon 1944 war er in der Schrift „Germany, a Short History“ Interpretationen entgegengetreten, die den Nationalsozialismus als Konsequenz der deutschen Geschichte einstuften. In Anlehnung an die kulturkritische Deutung Hermann Rauschnings wurde der Nationalsozialismus letztlich als „revolution of nihilism“ eingestuft. Damit verbunden, forderte Bergstraesser – ebenso wie in Deutschland verbliebene Wissenschaftler wie der Historiker Friedrich Meinecke – den Rekurs auf das überlieferte Kulturerbe Deutschlands als einen „higher creed“, der geeignet 23 Zur Rolle Bergstraessers bei der Promotion von Six: R. Eisfeld, Politikwissenschaft: Exil und Rückkehr, in: E. Böhne / W. Motzkau-Valeton (Hrsg.), Die Künste und die Wissenschaften im Exil 1933-1945, Gerlingen 1992, S. 413-444, hier S. 425, S. 438. 24 W. Iggers / G.G. Iggers, Zwei Seiten der Geschichte. Lebensbericht aus unruhigen Zeiten, Göttingen 2002, S. 47-50, 82 f., 90. Zur Verhaftung und Internierung Bergstraessers in den USA: C.-D. Krohn, Fall Bergstraesser, S. 260-273.
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schien, nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus allgemeine Orientierung und universalisierbare Verhaltensmaßstäbe zu vermitteln. Zudem trat er ebenso wie Rothfels für eine Besinnung auf die Werte des konservativen Widerstandes im „Dritten Reich“ ein25. Da Bergstraesser die Vereinigten Staaten letztlich ebenso fremd geblieben waren wie Rothfels, wandte er sich nach dem Zweiten Weltkrieg bald verstärkt seiner deutschen Heimat zu. Dabei förderte die Rezeption der „klassischen“ Kultur – vor allem Goethes – und das Konzept des christlich-europäischen Abendlandes die Annäherung an seine Heimat. 1951/52 und 1952/53 kehrte Bergstraesser schließlich als Gastprofessor der Universitäten Frankfurt am Main bzw. Erlangen nach Deutschland zurück. Die Heimkehr vollzog sich damit – wie auch bei Rothfels – schrittweise, so dass eine langsame Wiedereinpassung begünstigt wurde. Zugleich verweist die Remigration auf zurückgebliebene Vorbehalte gegenüber der Heimat. Im Gegensatz zum Tübinger Historiker hielt sich Bergstraesser aber vor seiner dauerhaften Rückkehr bereits über einen Zeitraum von mehreren Monaten wieder in Deutschland auf. Dabei verzichtete er auf Vorwürfe gegen seine in Deutschland verbliebenen Kollegen, über deren Verhalten im „Dritten Reich“ vielmehr geschwiegen wurde. Vielmehr abstrahierte – und vernebelte – Bergstraesser Schuld und Verantwortung, deren Übernahme die Deutschen ohnehin überwiegend ablehnten. Indem er – so in einem 1951 veröffentlichten Aufsatz – zur Sinnfindung in einem „überindividuellen Ganzen“ aufrief, die Einbindung des Individuums innerhalb „persönlicher Kräfte“ herausstellte und eine „Versöhnung“ des „Subjektive[n]“ mit dem „Objektiven“ verlangte, zeigte er ein universalistisches Denken, das sich für die „Daheimgebliebenen“ als unmittelbar anschlussfähig erwies. Auf diesem Resonanzboden kehrte Bergstraesser schließlich dauerhaft nach Deutschland zurück26. 25 H. Schmitt, Politikwissenschaft, S. 75 f. Zitiert nach: A. Bergstraesser / G.N. Shuster, Germany. A Short History, New York 1944, S. 10 f., 205. Siehe zu Bergstraessers Einsatz für eine Rehabilitierung deutscher Geschichte und Kultur: N. Berg, Der Holocaust und die westdeutschen Historiker. Erforschung und Erinnerung, Göttingen 2003, S. 158. Vgl. auch J. Eckel, Transformationen, S. 160; H. Rothfels, German Opposition, 1948. 26 Zitiert nach: A. Bergstraesser, Religiöse Motive des universalgeschichtlichen Denkens, in: W. Conze (Hrsg.), Deutschland, S. 324 f., 328. Vgl. auch H. Schmitt, Die Freiburger Schule 1954-1970. Politikwissenschaft in „Sorge um den deutschen Staat“, in: W. Bleek / H.J. Lietzmann (Hrsg.), Schulen in der deutschen Politikwissenschaft, Opladen 1999, S. 213-243, hier S. 218; M. Krauss, Heimkehr, S. 85. Zu den wirkungsmächtigen universalistischen Deutungen des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren: A. Bauerkämper, Nationalsozialismus ohne Täter? Die Diskussion um Schuld und Verantwortung für den Nationalsozialismus im deutsch-deutschen Vergleich und im Verflechtungsverhältnis von 1945 bis zu den Siebzigerjahren, in: Deutschland Archiv, 40 (2007), S. 231-240, hier S. 234-236.
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Nachdem er 1954 an der Universität Köln mit der Leitung des Institutes für Amerikastudien betraut worden war, richtete ihm die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät an der Universität Freiburg 1954 einen Lehrstuhl für Wissenschaftliche Politik und Soziologie ein, den er bis zu seiner Emeritierung im Februar 1964 innehatte. Hier entwickelte Bergstraesser sein normativ-universalistisches Verständnis der politischen Ordnung und Wissenschaft weiter. Aber auch über die Hochschule und den Kreis seiner einflussreichen Schüler, darunter Manfred Hättich, Hans Maier, Dieter Oberndörfer, Alexander Schwan und Kurt Sontheimer, erzielte Bergstraesser eine erhebliche öffentliche Wirkung. So wurde er in hohe politische Ämter wie das Präsidium der deutschen UNESCO-Sektion berufen. Als Träger des Großkreuzes zum Bundesverdienstkreuz und der Konrad-Adenauer-Medaille verfügte Bergstraesser, der auch in Akademien, Amerikahäusern und anderen Institutionen politischer Bildung vortrug, über ein beträchtliches gesellschaftliches Prestige. Sein wissenschaftliches Renommee setzte er maßgeblich zur Vermittlung der amerikanischen Politik bei, so in der Deutschen Gesellschaft für Amerikastudien, an deren Gründung er 1953 mitwirkte, und als Direktor des Forschungsinstituts der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik27. Arnold Bergstraessers Demokratieverständnis war sowohl an seine politischen Überzeugungen als auch an sein Konzept der Politikwissenschaft gekoppelt. Schon in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren hatte sich „sein geistesaristokratischer Habitus und nationalpädagogischer Erziehungsauftrag, kulturkritisch inspirierter Argumentationsgestus und synoptisches Wissenschaftsverständnis … mit gesellschaftlich-politischen Ordnungsvorstellungen, gegenwartsdiagnostischen Defizitskizzen und daraus resultierenden Politikoptionen verschränkt“28. Trotz der Erfahrung des nationalsozialistischen Rassismus und der Vertreibung aus Deutschland blieb Bergstraesser einer autoritären Staatskonzeption verhaftet, die politischem und gesellschaftlichem Pluralismus nur einen geringen Stellenwert einräumte. Er lehnte deshalb partikulare Interessen, widerstreitende Ansprüche und politische Konflikte ab. Bergstraesser strebte nach politischer Homogenität und nahezu uneingeschränkter Staatssouveränität. Damit blieb er einem allgemein weit verbreiteten Demokratieverständnis verhaftet, das in den fünfziger Jahren die rechtsstaatliche Ordnung der Bundesrepublik hervorhob, auf Ergebnisse 27 H. Schmitt, Freiburger Schule, S. 216-219, 222-224, 235 f.; A. Söllner, Vom Staatsrecht zur „political science“? Die Emigration deutscher Wissenschaftler nach 1933, ihr Einfluß auf die Transformation einer Disziplin, in: Politische Vierteljahresschrift, 31 (1990), S. 627-654, hier S. 647; W.P. Adams, Amerikastudien in der Bundesrepublik, in: D. Junker (Hrsg.), USA, Bd. 1, S. 451-465, hier S. 454. Eigener Rückblick in: E. Fraenkel, Arnold Bergstraesser, 14. Juli 1896-24. Februar 1964, in: Jahrbuch für Amerikastudien, 10 (1965), S. 8-14. 28 H. Schmitt, Politikwissenschaft, S. 64.
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(output) orientiert war und Politik als Prozess „von oben“ fasste. Ausgehend von dieser Vorstellung, perhorreszierte Bergstraesser die Auseinandersetzungen in der späten Weimarer Republik als fundamentale Bedrohung der politischen Ordnung in Deutschland. Obgleich sein kulturpessimistisches Krisenbewusstsein unter dem Eindruck seines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten zurückgegangen war, schwächte erst die wirtschaftliche Dynamik in der Bundesrepublik in den fünfziger Jahren die politische Krisendiagnostik ab, die seinen Konzepten staatlicher Ordnung zugrunde lag. Auch der nationale Rahmen, auf dem sein Politikverständnis bis zum Zweiten Weltkrieg uneingeschränkt basierte, trat angesichts der staatlichen Teilung Deutschlands zurück. Vielmehr rechtfertigte Bergstraesser in den fünfziger und frühen sechziger Jahren die globale Führungsrolle der Vereinigten Staaten bei der Verteidigung des christlich-abendländischen Erbes gegen den sowjetischen Kommunismus. Außer seinem Exil in den USA hatte auch die Konzeption vom Kampf zwischen „freiheitlicher Demokratie“ und „Totalitarismus“ Bergstraessers Amerikabild beträchtlich aufgehellt. Obgleich die Vereinigten Staaten über die abendländische Vergangenheit hinausgewachsen seien, empfahl Bergstraesser aber die humanitären Werte Europas als stabilisierenden Rahmen, um die „technologische Daseinsweise“ moderner Industriestaaten normativ zu fundieren29. Der Rekurs auf den abendländischen Universalismus erschien ihm vor allem geeignet, um die ordnungspolitische Krise abzuwenden, die aus der Sicht Bergstraessers in der Orientierungslosigkeit der pluralistischen Gesellschaft begründet war. Obwohl er 1954 keineswegs als „geläuterter Demokrat“ nach Westdeutschland zurückgekehrt war und sein Ideal politischer Ordnung elitär blieb, hatte er in den Vereinigten Staaten eine positivere Einstellung zur Demokratie gewonnen30. Damit war seine kulturkonservative Weltanschauung zurückgetreten. Überdies hatte die Wertschätzung der liberalen Republik, die auch bürgerliche Freiheiten einschloss, zunehmend sein funktionalistisches Verständnis der Demokratie überlagert. Als die Bundesregierung in ihrem Zitiert nach: H. Schmitt, Freiburger Schule, S. 224; Arnold Bergstraesser, Zur Einführung, in: ders., Politik in Wissenschaft und Bildung. Schriften und Reden, Freiburg 1961, S. 9-13, hier S. 11. Zum Rückgang der Fixierung auf den Nationalstaat: A. Bergstraesser, Geschichtliches Bewußtsein und politische Entscheidung. Eine Problemskizze, in: F. Freiherr Hiller von Gaertringen / W. Besson (Hrsg.), Geschichte und Gegenwartsbewußtsein. Historische Betrachtungen und Untersuchungen. Festschrift Hans Rothfels, Göttingen 1963, S. 9-38, hier S. 14-21. Übersicht in: A. Bauerkämper, Remigranten als Akteure von Zivilgesellschaft und Demokratie. Historiker und Politikwissenschaftler in Westdeutschland nach 1945, in: ders. (Hrsg.), Die Praxis der Zivilgesellschaft. Akteure, Handeln und Strukturen im internationalen Vergleich, Frankfurt a.M. 2003, S. 343-370, hier S. 353 f. 30 Zitiert nach: C.-D. Krohn, Fall Bergstraesser, S. 273. Vgl. auch A. Bergstraesser, Bewußtsein, S. 38. 29
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Vorgehen gegen das Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ Ende Oktober 1962 rechtsstaatliche Verfahren offenkundig verletzte, gehörte Bergstraesser deshalb zu den Autoren einer Erklärung, in der prominente Politologen die beteiligten Minister – vor allem Franz Josef Strauß – zum Rücktritt aufforderten. In dem Entwurf des Briefes an den Bundesratspräsidenten beklagten die Verfasser – außer Bergstraesser Theodor Eschenburg und Wilhelm Hennis – das Verhalten der Bundesregierung in der Krise, die damit „Lebensnerv und innere Autorität eines freiheitlichen Staatswesens … schmerzlich verwundet“ habe. Obgleich er zweifellos der konservativen CDU/CSU nahe stand und auf die Ordnungs- und Lenkungsfunktion des Staates abhob, wurde in seiner Stellungnahme zur „Spiegel-Affäre“, in der er das Vertrauen des Bürgers zu Parlament und „Regierung“ erschüttert sah, die republikanische Orientierung seines Demokratieverständnisses deutlich, das auf dem Wert individueller Freiheit basierte. Er teilte mit sozialdemokratischen Remigranten wie Ernst Fraenkel seit den fünfziger Jahren zunehmend das Bekenntnis zur Demokratie, zum Rechtsstaat und zur Westintegration, besonders im Rahmen der NATO. Bergstraesser trat zwar für persönliche Freiheits- und Teilhaberechte ein, die aber nicht der individuellen Selbstentfaltung dienen, sondern auf die Gemeinschaft und den Staat bezogen werden sollten31.
III. Bilanz: Heimkehr als Interaktionsprozess und als zögernde Hinwendung zur Demokratie Im Umbruch nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Demokratie der westdeutschen Gesellschaft „von oben“ verordnet. Jedoch war die „innere“ Demokratisierung der frühen Bundesrepublik erstens mit der Heimkehr einzelner Politik- und Geschichtswissenschaftler verknüpft, die als Mediatoren den selektiven Transfer politisch-kultureller Werte und Vorstellungen von den Vereinigten Staaten in die Bundesrepublik herbeiführten. Dabei blieben die Demokratievorstellungen und die politisch-gesellschaftliche Handlungspraxis konservativer Remigranten weitgehend auf die Etablierung des Rechtsstaates, eines Mehrparteiensystems und einer parlamentarischen Regierungsordnung 31 H. Schmitt, Politikwissenschaft, S. 82, 85, 160 f, 177 f.; M.G. Ash, Wissenschaft und Wissenschaftsaustausch, in: D. Junker (Hrsg.), USA, Bd. 1, S. 634-645, hier S. 639 f. Zitiert nach: F. Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949-1970, München 2004, S. 241. Vgl. auch A. Bergstraesser, Zum Begriff des politischen Stils, in: G.A. Ritter / G. Ziebura (Hrsg.), Faktoren der politischen Entscheidung. Festschrift Ernst Fraenkel, Berlin 1963, S. 39-55, hier S. 42; ders., Amerika und wir. Gemeinsame Ziele und Probleme der deutschen und amerikanischen Außenpolitik, in: Zwei Völker im Gespräch. Aus der Vortragsarbeit der Amerika-Häuser in Deutschland, Frankfurt a.M. 1961, S. 82-95, hier S. 94; ders., Bewußtsein, S. 33.
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begrenzt. In den fünfziger Jahren gingen in der Bundesrepublik jedoch aus einem subtileren Prozess der Anpassung und Adaption spezifische Normen und Verhaltensformen (wie Toleranz. Rechtsstaatlichkeit und politischer Freiheit) hervor, welche die Herausbildung einer genuinen, pluralistischen Demokratie förderten. Der langwierige Prozess der Demokratisierung Westdeutschlands ist damit trotz der Vorherrschaft der Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg als Komplex asymmetrischer Interaktion zu verstehen. Dabei wurden amerikanische Demokratiemodelle und -vorstellungen, die selber keineswegs einheitlich waren, an deutsche Traditionen angepasst. Die Demokratisierung der Bundesrepublik Deutschland war deshalb ein vielschichtiger Prozess der Aneignung und Einfügung, der durch das enge Beziehungsgeflecht zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und dem neuen westdeutschen Staat maßgeblich vorangetrieben wurde. Dabei traten Bergstraesser und Rothfels gleichermaßen für eine staatlich gebändigte Demokratie gegenüber plebiszitären politischen Konzepten ein. Deutlicher als der zurückgekehrte Politikwissenschaftler kritisierte Rothfels aber in seinen zeithistorischen Schriften die Konformität und Unterstützung, mit der viele Deutsche im „Dritten Reich“ die Diktatur der Nationalsozialisten getragen hatten32. Dabei befähigten die Herkunft aus Deutschland und die Erfahrung des amerikanischen Exils Remigranten im Wissenstransfer zweitens, bis zu den frühen sechziger Jahren eine transatlantische Brücke zwischen den beiden politischen Systemen und Kulturen zu errichten. Neben anderen Berufsgruppen wie Journalisten fungierten zurückgekehrte Wissenschaftler in der jungen Bundesrepublik Deutschland dabei als wichtige Vermittler der normativen Grundlage angelsächsischer Demokratien33. Dabei verliehen nicht zuletzt konservative Rückkehrer wie Bergstraesser und Rothfels der neuen 32 M. Krauss, Migration, Assimilierung, Hybridität. Von individuellen Problemlösungsstrategien zu transnationalen Gesellschaftsbeziehungen, in: E. Conze / U. Lappenküper / G. Müller (Hrsg.), Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin, Köln 2004, S. 259-276, hier S. 259-276, besonders S. 275 f. Allgemein zu den konservativen Demokratiekonzepten: K.H. Jarausch, Die Umkehr. Deutsche Wandlungen 1945-1995, München 2004, S. 189. Vgl. zum transatlantischen Verhältnis auch Ph. Gassert, Die Bundesrepublik, Europa und der Westen. Zu Verwestlichung, Demokratisierung und einigen komparatistischen Defiziten der zeithistorischen Forschung, in: J. Baberowski u.a., Geschichte ist immer Gegenwart. Vier Thesen zur Zeitgeschichte, München 2001, S. 68, 71. 33 A. Söllner, Normative Verwestlichung. Der Einfluß der Remigranten auf die politische Kultur der frühen Bundesrepublik, in: H. Bude / B. Greiner (Hrsg.), Westbindungen. Amerika in der Bundesrepublik, Hamburg 1999, S. 92. Zu den Journalisten: J. Gienow-Hecht, Transmission Impossible. American Journalism as Cultural Diplomacy in Postwar Germany 1945-1955, Baton Rouge LA 1999, besonders S. 30-53, 149-187; dies., Zuckerbrot und Peitsche. Remigranten in der Medienpolitik der USA und der US-Zone, in: C.-D. Krohn u.a. (Hrsg.), Zwischen den Stühlen? Remigranten und Remigration in der deutschen Medienöffentlichkeit der Nachkriegszeit, Hamburg
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westdeutschen Demokratie – z.T. indirekt und unbeabsichtigt – Unterstützung und Legitimität. Obgleich sie amerikanische Demokratiemodelle keineswegs einhellig begrüßten und ihre tief verwurzelten Vorbehalte gegenüber den angeblich unberechenbaren Emotionen der „Massen“ auch nach dem Zweiten Weltkrieg nur langsam zurücktraten, förderte ihre Rückkehr in die Bundesrepublik und ihre Reintegration in die westdeutsche Gesellschaft den Wandel politisch-kultureller Werte und Orientierungen, der bereits im amerikanischen Exil eingesetzt hatte. Die politische Stabilisierung und der wirtschaftlichen Aufstieg des neuen westdeutschen Staates beschleunigte die bereits begonnene Überlagerung überkommener autoritärer Denkformen durch demokratische Überzeugungen34. Die Remigration nach Westdeutschland als spezifischer Typ der Wanderung hatte erheblich zu diesem Arrangement mit der freiheitlichen Demokratie beigetragen. Die Rückkehr in die Heimat beendete eine Zirkulärmigration, die Rothfels und Bergstraesser bewusst vollzogen. Ihre Entscheidung, nach Westdeutschland zu remigrieren, ging mit einer Anpassungsbereitschaft einher, die auch die graduelle Hinwendung zur parlamentarischen Demokratie begünstigte. Dafür war die Flucht in die USA aber keineswegs folgenlos geblieben. Vielmehr hatte die Konfrontation mit der amerikanischen Demokratie die obrigkeitlich-autoritären Politikvorstellungen der beiden konservativen Emigranten unterhöhlt, ohne sie vollständig zu beseitigen. Die Untersuchung der Rückkehr von Arnold Bergstraesser und Hans Rothfels in die Bundesrepublik demonstriert daher paradigmatisch, dass Entscheidungen politischer Flüchtlinge zur Heimkehr nachhaltig vom Ausmaß der jeweiligen Verwurzelung im Gastland und – damit verbunden – den Zukunftserwartungen beeinflusst waren, die sich auf einen neuen Lebensabschnitt in ihrer Heimat bezogen35. Die Bereitschaft, die erlittene Vertreibung hinter sich zu lassen und dennoch in die Heimat zurückzukehren, wurde von Interaktionen mit „Daheimgeblie2002, S. 48 f.; M. Görtemaker, Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Von der Gründung bis zur Gegenwart, München 1999, S. 215 f., 224-226. 34 Vgl. auch die Befunde von M.M. Payk, Der Geist der Demokratie. Intellektuelle Orientierungsversuche im Feuilleton der frühen Bundesrepublik: Karl Korn und Peter de Mendelssohn, München 2008, S. 301, 363, 373. Die Furcht vor den vermeintlich leicht zu mobilisierenden Leidenschaften und Emotionen der „Massen“ teilten Rothfels und Bergstraesser mit vielen ihrer konservativen Kollegen. Vgl. R. Nicolaysen, Siegfried Landshut. Die Wiederentdeckung der Politik. Eine Biographie, Frankfurt a.M. 1997, S. 200 f. 35 Die „Remigration“ bzw. „Rückwanderung“ als analytische Kategorie der Migrationsforschung ist – im Gegensatz zur „Eingliederung“ – nicht berücksichtigt in: D. Hoerder / J. Lucassen / L. Lucassen, Terminologie und Konzepte in der Migrationsforschung, in: K.J. Bade u.a. (Hrsg.), Enzyklopädie Migrationen in Europa. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2007, S. 28-53.
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benen“ nachhaltig beeinflusst. So war Rothfels von den Reaktionen seiner Kollegen auf seine Vorträge 1949 – vor allem auf die Präsentation auf dem Historikertag – ebenso beeindruckt wie Bergstraesser von der Resonanz, auf die er von 1951 bis 1953 als Gastprofessor an den Universitäten Frankfurt und Erlangen traf. Zugleich belegte ihre Heimkehr aus der Sicht der „Daheimgebliebenen“, deren Deutungen und Verhalten in der NS-Diktatur die beiden Remigranten allerdings nicht direkt in Frage stellten oder sogar offen kritisierten, die relative Offenheit und Aufnahmebereitschaft der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Die Entscheidung zur Heimkehr kann damit nur nachvollzogen und erklärt werden, wenn die konkreten Kommunikationsprozesse, Interaktionen und Rezeptionsbedingungen ebenso untersucht werden wie die individuellen Konstruktionen von „Heimat“ und „Fremde“. Dazu sollte die künftige Forschung zur Rückkehr bzw. Remigration kräftig beitragen36. Literaturverzeichnis Adams, W.P.: Amerikastudien in der Bundesrepublik, in: D. Junker (Hrsg.), Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945-1990. Ein Handbuch, Bd. 1: 1945-1968, Stuttgart 2001, S. 451-465 Ash, M.G.: Wissenschaft und Wissenschaftsaustausch, in: D. Junker (Hrsg.), Die USA und Deutschland im Zeitalter des Kalten Krieges 1945-1990. Ein Handbuch, Bd. 1: 1945-1968, Stuttgart 2001, S. 634-645 Bauerkämper, A.: Americanisation as Globalisation? Remigrés to West Germany after 1945 and Conceptions of Democracy: The Cases of Hans Rothfels, Ernst Fraenkel and Hans Rosenberg, in: Leo Baeck Institute Year Book, 49 (2004), S. 153-170 –
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36 Dazu das Plädoyer in der Rezension von M.M. Payk, Amerikanisierung in Deutschland und Europa, in: H-Soz-u-Kult, 14. Januar 2009; http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-031. Vgl. auch Chr. Metzger / H. Kaelble / H. Rausch (Hrsg.), Transatlantischer Kulturtransfer im „Kalten Krieg“. Perspektiven für eine historisch vergleichende Transferforschung, Leipzig 2006; A. Games, Atlantic History. Definitions, Challenges, and Opportunities, in: American Historical Review, 111 (2006), S. 741-757.
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„Spätheimkehrer“ Mediale Reflexe zum Mythos von Adenauers Moskau-Reise Von Erhard Schütz
„O schöner Tag! wenn endlich der Soldat Ins Leben heimkehrt, in die Menschlichkeit …“ Friedrich Schiller, Wallenstein
I. Heimsuchende Heimgesuchte und Kriegsheimkehrer Die unmittelbare Nachkriegszeit muss eine Zeit unentwegter Menschenströme gewesen sein. Etwa 11 Millionen deutsche Soldaten, die aus der Kriegsgefangenschaft oder als Disarmed Enemy Forces aus 20 Gewahrsamländern nach und in Deutschland unterwegs waren, etwa ebenso viele ehemalige Zwangsarbeiter und Überlebende der Konzentrationslager als displaced persons in Deutschland unterwegs, auf dem Weg in die Länder, aus denen sie verschleppt worden waren, oder ins amerikanische oder palästinische Exil. Über 12 Millionen, die vor der sowjetischen Armee geflohen oder aus Polen, der Tschechoslowakei, Rumänien, Ungarn und Jugoslawien vertrieben worden waren. Die etwa 3 Millionen aus den bombardierten Städten Evakuierten oder Kinderlandverschickten ebenso wenig zu vergessen wie die Millionen, die die Sowjetische Besatzungszone und die DDR vor dem Bau der Mauer verließen. So nimmt es nicht wunder, dass Heimkehr zum zentralen Phantasma in der Frühgeschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde, in dem selbst die deutsche Wiedervereinigung als eine Art Heimkehr vorgestellt wurde. Das alles verdeckte nicht nur eine andere Heimkehr (oder Nicht-Heimholung), nämlich die der Exilierten, sondern wurde insgesamt dominiert von der Heimkehr aus Kriegsgefangenschaft, die alle anderen Reterritorialisierungsbewegungen überlagerte und geradezu verdrängte. Eine Vielzahl von Erlebnisberichten in den unterschiedlichsten Formen, mal bekehrt, mal aufrechnend, mal humoresk, mal lamentierend, mal das Exemplarische, mal das Exzeptionelle betonend, reklamierten allesamt Authentizität für sich. Durchweg appellieren diese Berichte und Erinnerungen, sich um die Freilassung der noch verbliebenen Lagerinsassen zu bemühen. Zwei Muster
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sind es vor allem, die, wenn es um mehr als den Bericht von der eigenen tapferen Leidensfähigkeit geht, die Darstellungen bestimmen, oft unmittelbar miteinander verknüpft – christliche Schicksalsdemut und Gottesfügung und Zeugnis wider den unmenschlichen Kommunismus und Bolschewismus. Auch der Bericht Helmut Gollwitzers, nachmals einer der bedeutendsten evangelischen Theologen der Bundesrepublik, das wohl unter den autobiografischen Veröffentlichungen am weitesten verbreitete und einflussreichste Buch, „… und führen wohin du nicht willst“, 1951 erschienen, nimmt beide Aspekte zusammen, den Weg in die Gefangenschaft als auferlegte Prüfung – „so war es uns zugedacht“1 – und Kritik eines Christen am sowjetischen System, das in den Lagern ein Willkürregime nicht nur über die deutschen Gefangenen, sondern auch über die russischen Menschen führte. So unterscheidet er – was in fast allen anderen Texten auch zu finden ist – zwischen dem „russischen Menschen“ und dem bolschewistischen Terrorsystem. „Vielleicht ist der Unterschied der: der Westen verführt zur Unmenschlichkeit, das System des Ostens zwingt zur Unmenschlichkeit“2. Und er hebt neben der Bedeutung des Glaubens und seiner Rituale ganz besonders die der Bemühungen um Bildung, Kulturelles und Künstlerisches hervor sowie die selbstorganisierten Bemühungen um Humanisierung und Verschönerung. Dies übrigens findet sich nicht nur auch in vielen anderen Berichten, sondern gehört ins Zentrum der nachmaligen Lager-Erzählungen, wobei die dortige Bemühung um Bildung und Kultur nicht selten mit der zu Hause vorgefundenen Zerstreuungs- und Unterhaltungsmentalität kontrastiert wurde3. „Dies Leben [im Krieg, ESCH], das mit all seinem Nomadentum und all seiner harten Rechtlosigkeit so viel Gesetzmäßigkeit verband und zuletzt … der Gewöhnung heimischer dünken mochte als manches Heimische daheim, hat von einem Tag zum andern aufgehört. Noch in den Gefangenenlagern konnte es für eine Weile den Anschein haben, als gälten unter veränderten Vorzeichen seine Gesetze und Bindungen weiter. Dann war auch das aus. Mit dem Entlassungsschein in der Tasche standen viele von euch in einer Welt, zu der nunmehr alle alten Verbindungen … fehlten. – Heimat? Für … viele zum Feindesland geworden, aus dem mit dem nackten Leben entflohen zu sein noch Glück heißen durfte. Haus und Habe verbrannt und in Trümmern. Eltern, Verwandte, Geschwister. Es gab keine Möglichkeit der Todesfälle, der Verschleppungen, der Entrechtungen oder Verluste, die nicht in irgendeiner Form das alte, fest Geglaubte den Heimkehrern … entfremdet hätte“4.
1 H. Gollwitzer, … und führen wohin du nicht willst. Bericht einer Gefangenschaft, München 1951, S. 28. 2 Ebd., S. 195. 3 Vgl. dazu – etwas überpointiert – F. Biess, Homecomings. Returning POWs and the Legacies of Defeat in Postwar Germany, Princeton NJ / Oxford 2006, S. 99 f. 4 R.A. Schröder, Bekenntnis, in: P. Suhrkamp (Hrsg.), Taschenbuch für junge Menschen, Berlin 1946, S. 78-107, hier S. 81.
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So wie sich hier der nationalkonservative Protestant Rudolf Alexander Schröder in die aus dem Krieg Heimkehrenden einzufühlen versuchte, so sahen diese offenbar es selbst auch: Alles das, was sie nicht mehr als Heimat und zu Hause vorfanden, war ihnen angetan worden. Sie fühlten sich als Opfer noch der anderen Opfer. Wolfgang Borchert hat diese narzisstische Kränkung besonders insistent formuliert. „Wir sind die Generation ohne Bindung, ohne Vergangenheit, ohne Anerkennung“, und eben darum auch eine „Generation ohne Heimkehr, denn wir haben nichts, zu dem wir heimkehren könnten“5. Zugleich erklärten sie sich als besonders legitimiert, über diese Gegenwart der Deterritorialisierung und Deplatziertheit zu schreiben. Denn sie kamen aus Lagern. „Sie gingen den Weg dieser Massenapokalypse und sie gehen ihn noch immer, … durch Lazarette und Spitäler, durch Konzentrations- und Gefangenenlager. Die Apokalypse hat die Lebenden verändert … Hinter dem Stacheldraht, der zum Symbol dieser Zeit geworden ist, … ist der Pulsschlag der Entwicklung früher spürbar als draußen in der Hast des Getriebes um das tägliche Brot“.
So Hans Werner Richter im Vorwort zu „Deine Söhne Europa“6. Was sie dann schreiben, sind Heimkehrerdramen und -hörspiele noch und noch7. Auch das „Taschenbuch für junge Menschen“, das Peter Suhrkamp 1946 herausgab und aus dem das obige Zitat Rudolf Alexander Schröders stammt, steht fast ausschließlich im Zeichen der Kriegsheimkehrer, wie Suhrkamps eigener Beitrag, „Brief an einen Heimkehrer“8. Und neben religiösen Zurüstungen, wie bei Schröder oder Suhrkamp, findet sich denn auch die zeitgemäß mythische Dimension. So schreibt der bedeutende Gräzist Wolfgang Schadewaldt darin über „Die Heimkehr des Odysseus“9. Die Kriegsheimkehrer dominierten darüber hinaus aber auch ikonisch das Feld der Opfer. Der Stacheldraht avancierte auf ganz eigene Weise zum „Symbol dieser Zeit“, das Richter in ihm erkennen wollte. Kombiniert nämlich mit Elementen der Passion Christi, transformiert in die Dornenkrone, stellten 5 W. Borchert, Generation ohne Abschied, in: W. Borchert, Das Gesamtwerk, Reinbek 1986, S. 59-61, hier S. 60. 6 H.W. Richter, Vorwort, in: H.W. Richter (Hrsg.), Deine Söhne Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener, München 1947, S. 5 f, hier S. 5. 7 Vgl. systematisch R. Trinks, Zwischen Ende und Anfang. Die Heimkehrerthematik der ersten Nachkriegsjahre (1945-1948), Würzburg 2002; vgl. auch H.-G.Winter, Heimkehrerdramen in Hamburger Theatern der frühen Nachkriegszeit. Vom gefährdeten Leben bis zur Lebenshilfe, in: G. Burgess / H.-G. Winter (Hrsg.), ‚Generation ohne Abschied‘. Heimat und Heimkehr der ‚jungen Generation‘ der Nachkriegsliteratur, Dresden 2008, S.59-85. 8 P. Suhrkamp, Brief an einen Heimkehrer, in: P. Suhrkamp (Hrsg.), Taschenbuch, S. 145-174. 9 W. Schadewaldt, Die Heimkehr des Odysseus, ebd., S. 177-224.
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Briefmarken, Gemälde oder Skulpturen die Kriegsgefangenen in christliche Tradition, wie das Zeichen des Verbandes der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen (VdH), ein auf dem Kopf stehendes Dreieck aus Stacheldraht, das die drei Buchstaben VdH rahmt, unmittelbar an die Stoffwinkel der KZ-Häftlinge erinnerte. Bevor jedenfalls im Zuge etwa der Auschwitz-Prozesse die Bilder der KZ-Lager stärker ins Bewusstsein der deutschen Öffentlichkeit rücken konnten, hatte diese Ikonik, vor allem in einer massenhaft besuchten Wanderausstellung über die Kriegsgefangenenlager, das Feld schon besetzt10. Die bildlichen und textlichen Selbstinterpretamente der Kriegsheimkehrer konzentrierten sich noch einmal in der Vorstellung vom Spätheimkehrer, um den Preis für die Spätheimkehrer freilich, dass diese, schließlich heimgekehrt, in der Öffentlichkeit unter diesen vorgeprägten Mustern firmieren mussten und keinen Spielraum mehr für eigene Selbstbilder hatten. So spektakulär nämlich literarisch Wolfgang Borcherts Stück „Draußen vor der Tür“ war, am 13. Februar 1947 als Hörspiel erstgesendet, so ernst das Pathos von Hans Werner Richters Anthologie „Deine Söhne Europa“11, so bildprägend die Heimkehrerfiguren in den frühen Trümmerfilmen, es war speziell der ‚Spätheimkehrer‘ aus russischer Gefangenschaft, der als ein „sozialer Typ in der Nachkriegsgesellschaft“12 signifikant anwesend war – als Märtyrerfigur eines Anderen der Wirtschaftswundergesellschaft und sichtbares Zeichen von Unsichtbaren, von den nicht Heimgekehrten; den Vermissten und Toten. Ihre Bilder, ihre Geschichten, in den Medien wie in den Familien und lokalen Umgebungen waren Stachel, die den anderen Krieg, den Nachkrieg, hinter Stacheldraht präsent hielten, die als Metonymien der Lagergesellschaft der „Zone“ fungieren und zugleich eben die Bilder der Konzentrationslager überdecken konnten. Folgend soll daher am Schlüsselereignis der „Heimholung der Zehntausend“ als ein Ergebnis von Konrad Adenauers Moskau-Reise zu zeigen 10 Vgl. dazu Ch. Beil, Erfahrungsorte des Krieges. Kriegsgefangenen Ausstellungen der Adenauerzeit, in: N. Buschmann / H. Carl (Hrsg.), Die Erfahrungen des Krieges. Erfahrungsgeschichtliche Perspektiven von der Französischen Revolution bis zum Zweiten Weltkrieg, Paderborn u.a. 2001, S. 239-260; vgl. auch E. Schütz, Von Lageropfern und Helden der Flucht. Kriegsgefangenschaft Deutscher – Popularisierungsmuster in der frühen Bundesrepublik, in: W. Hardtwig / E. Schütz (Hrsg.), Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2005, S. 181-203, besonders S. 192 f.; vgl. auch die Abbildungen in F. Biess, Homecomings, S. 103 und 104. 11 H.W. Richter (Hrsg.), Deine Söhne Europa. Gedichte deutscher Kriegsgefangener, München 1947. 12 A. Lehmann, Gefangenschaft und Heimkehr, München 1986, S. 135.
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versucht werden, welche Deutungselemente und -muster damit in der veröffentlichten Meinung verbunden wurden und wie folgend dieser Teil der Nachkriegsgeschichte als abgeschlossen galt – und so eine erneuerte und veränderte Produktion von Bildern der Kriegsgefangenschaft, Lagern und Heimkehrern in Gang setzen konnte.
II. Ein Kern des Adenauer-Mythos Mit der „Heimholung der Zehntausend“, als die Adenauers Reise nach Moskau vom 8. bis 14. September 1955 gefeiert und in die bundesrepublikanische Mythengeschichte einging, fand die Geschichte der Spätheimkehrer zwar noch keinen Abschluss, wie die allermeisten Heimkehrberichte zwar mit der Ankunft in Friedland schlossen, doch damit noch nicht zu Ende waren. Aber jetzt war die Lage für die Öffentlichkeit geklärt: Mehr als die Heimkehr von jenen 9.626, die von der Sowjetunion als „Kriegsverbrecher“ geführt worden waren, war nicht mehr zu erhoffen. Rund Hunderttausend waren mithin in sowjetischer Gefangenschaft gestorben. Und weit über eine Million deutscher Soldaten, die offiziell weiterhin als vermisst geführt wurden, würden ebenfalls nicht heimkehren. Im Gegensatz zum „Mitläufer“ und der „Freiheitsglocke“ sind der Spätheimkehrer und die Lagerglocke von Friedland nicht in die drei Bände der „Deutschen Erinnerungsorte“ eingegangen und auch ins opulente „Jahrhundert der Bilder“ hat es für 1955 zwar der Millionste Volkswagen geschafft, nicht jedoch der erste Schub Spätheimkehrer, wie Konrad Adenauer selbst lediglich über das Wahlplakat von 1957 mit dem Slogan „Keine Experimente!“ darin präsentiert wird – gleichwohl galt im kollektiven Gedächtnis noch bei dessen Tod eben diese Heimholung der Zehntausend als die größte politische Leistung Adenauers13. Sie gehörte fortan, wie Hans Peter Schwarz das formuliert hat, „zum innersten Kern des Adenauer-Mythos“14. Dazu gehört freilich zwangsläufig auch Kritik und Aberkennung. Schon zeitgenössisch. Aus Anlass des fünfzigsten Jahrestages der Freilassung der letzten Gefangenen schrieb 2005 der Kriegsgefangenen-Historiker und Mitarbeiter der Konrad-Adenauer-Stiftung Michael Borchard, dass inzwischen die Versuche, „die Verdienste dieser Identifikationsfigur der christlichen Demokratie in Deutschland in das Land der Legende zu verweisen“, Folgen gezeitigt hätten. 13 Vgl. Jahrbuch der Öffentlichen Meinung 1965-1967, Allensbach / Bonn 1967, S. 187. Hier zitiert nach J. Foschepoth, Adenauers Moskaureise 1955, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 36 (1986), 22, S. 30-46, hier S. 31. 14 Zitiert nach M. Borchard, Das Kriegsende nach dem Kriegsende. Fünfzig Jahre Freilassung der letzten Gefangenen, in: Die politische Meinung. Monatsschrift zu Fragen der Zeit, 50 (2005), 430, S. 69-74, hier S. 69.
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Inzwischen sei die Wirkung der Adenauer-Reise nach Moskau fast völlig auf die Aufnahme der diplomatischen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion reduziert worden15. Der Streit, der sich bis heute hinzieht, geht zum einen darum, ob die Heimkehr schon früher hätte stattfinden können, wenn Adenauer das nur gewollt hätte, zum anderen – von der DDR aus vorgetragen – dass das Verdienst der Freilassung ohnehin der DDR gebühre. Das soll hier nicht weiter im Detail diskutiert werden. Als gesichert kann wohl gelten, dass die westlichen Besatzungsmächte angesichts eigener problematischer Behandlungen der Kriegsgefangenen, vor allem aber schon aus propagandistischen Gründen im Zeichen des Kalten Krieges, kein gesteigertes Interesse an aktiven Bemühungen um Freilassung der sowjetischen Gefangenen hatten, dass wiederum die Sowjetunion kein Interesse hatte, auf die Vorstöße humanitärer Organisationen wie das Rote Kreuz zu reagieren, dass die DDR-Regierung sich im Zwiespalt befand, einerseits gegenüber dem großen Bruder die Verurteilung von Kriegsgefangenen und verschleppten Zivilisten als Kriegsverbrecher schwerlich in Frage stellen zu dürfen, andererseits der eigenen Bevölkerung gegenüber ihr Bemühen um Freilassung zeigen zu müssen. Was nun die genaue Zeitdramaturgie angeht, werden wir auf den einen oder anderen Punkt noch zurückkommen. Einstweilen mag hier die Erinnerung des damaligen Freiburger Professors für Staats- und Völkerrecht und Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes, Initiator der so genannten Hallstein-Doktrin und späteren Botschafters Wilhelm G. Grewe stehen: „Gewiß, Herr Chruschtschow hatte schon der DDR vorher zu erkennen gegeben, daß er bereit war, die Gefangenen freizugeben. Das war auch im Grunde nichts Neues. Aber die Frage war eben, wann und unter welchen Bedingungen. Es hätte sehr gut sein können, daß dies noch ein oder zwei Jahre länger gedauert hätte“16.
III. Vorlauf und Vorspiel Ein paar Zahlen zur Erinnerung vorab: Von den insgesamt im Zweiten Weltkrieg mobilisierten 80 Millionen Soldaten sind 35 Millionen in Kriegsgefangenschaft gekommen, davon, wie eingangs schon gesagt, ca. 11 Millionen Deutsche. Bis zum Jahresende 1948, so sahen es alliierte Vereinbarungen vor, sollten alle deutschen Kriegsgefangenen nach Deutschland zurückgeführt worden sein. Die westlichen Alliierten hatten dieses Versprechen im Wesentli-
Ebd., S. 69 f. Zeitzeugen im Gespräch: Adenauer und Grewe verhandeln in Moskau, in: Haus der Geschichte Magazin, 1 (1995), S. 6-8, hier S. 7. 15 16
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chen bereits bis Ende 1947 erfüllt. Vier Millionen Gefangene hatte Stalin zur Kompensation der Kriegsschäden gefordert17. Am 4. Mai 1945 verlautbarte das Oberkommando der Roten Armee, dass sich insgesamt 3.180.000 deutsche Soldaten in sowjetischer Gewalt befänden18. Von ihnen sind etwa 2 Millionen zurückgekehrt. Im Mai 1950 hatte eine TASS-Meldung die Repatriierung der deutschen Gefangenen als abgeschlossen verkündet, lediglich 9.717 verurteilte Kriegsverbrecher und 3.815 auf ein entsprechendes Verfahren wartende Personen sowie 14 nicht transportfähige Kranke seien noch zurückgeblieben19. Tatsächlich wurden allein im Verlauf des Jahres 1953 noch zwischen 12.000 und 17.000 Personen in die beiden deutschen Staaten entlassen. In der offenkundigen Absicht, „machtpolitische Kompensationsgeschäfte machen zu wollen“, wie Theodor Heuß das charakterisiert hat20, waren, allermeist kurz vor dem vereinbarten Zeitpunkt der allgemeinen Entlassung 1948, in fast durchweg Willkürverfahren etwa 60.000 zu Kriegsverbrechern erklärt und in der Regel pauschal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt worden. Um nun aber die Dimensionen nicht aus dem Blick zu verlieren, sei daran erinnert, dass von den 5.750.000 gefangenen Angehörigen der Roten Armee weit mehr als die Hälfte, nämlich 3.300.000 zu Tode gebracht worden sind. Unbeschadet der skandalösen Verhältnisse und erheblichen Todesopfer in den amerikanischen Notlagern der Rheinauen sowie des wenig humanitären Umgangs der Franzosen mit den Gefangenen, insbesondere im Einsatz zur Minenräumung, galt Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion als besonders hartes Schicksal. Und in der öffentlichen Meinung wurde damals Kriegsgefangenschaft weitgehend mit den russischen Lagern gleichgesetzt. Wenngleich die Zahl der nachweislich in der Sowjetunion Festgehaltenen 1950 nur noch etwa 30.000 betrug, fühlten sich doch im selben Jahr 40% der Befragten einer Allensbacher Studie vom Thema Kriegsgefangenschaft unmittelbar angesprochen, da sie Angehörige in der Sowjetunion verloren hätten oder noch immer dort vermuteten21. So diskrepant Zahlen und Einschätzung scheinen, muss in Rechnung gestellt werden, dass selbst im Jahr 17 Vgl. M. Borchard, Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. Zur politischen Bedeutung der Kriegsgefangenenfrage 1949-1955, Düsseldorf 2000, S. 37. 18 Vgl. ebd., S. 43. 19 Vgl. z.B. A. Hilger, Deutsche Kriegsgefangene in der Sowjetunion 1941-1956. Kriegsgefangenenpolitik, Lageralltag und Erinnerung, Essen 2000, S. 12. 20 Zitiert nach: Geschäfte mit Menschenleben bringen nie Gewinn. Die Ansprache des Bundespräsidenten Theodor Heuss zur Gedenkwoche für die Kriegsgefangenen, in: Die neue Zeitung, 21. Oktober 1952, S. 3. 21 Vgl. z.B. Ch. Beil, Erfahrungsorte des Krieges, S. 246; vgl. auch M. Borchard, Die deutschen Kriegsgefangenen, S. 11.
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1965 noch über 1.170.000 Soldaten als vermisst galten22 – und dies vor allem an den östlichen Fronten. Ich habe andernorts darzustellen versucht, wie im Wechselspiel von Berichten entlassener Kriegsgefangener, Medien, Betroffenenverbänden und politischen Kreisen eine Kultur der permanenten Erinnerung, Mahnung und Forderung entstand und mit allen medialen Mitteln, von Autobiographien über Illustriertenserien, Filme und Romane bis hin zu Gedenkveranstaltungen, Demonstrationen und Wanderausstellungen fortgeschrieben wurde23. Konrad Adenauer selbst nahm daran nicht zum wenigsten teil und Anteil. Ob er nun einer der allfälligen Anthologien ein Grußwort voranstellte: „Ich nehme den eindringlichen Ruf des Buches ‚Stacheldraht – Hunger – Heimweh‘ auf und appelliere erneut an das Gewissen der Welt um Freilassung aller Kriegsgefangenen … Bonn, März 1955 (Adenauer) Bundeskanzler“24. Oder ob er zur Jahreswende 1954 im Lager Friedland versprach: „Wir werden nicht ruhen und rasten, bis der letzte Gefangene, der letzte Verschleppte der Heimat wiedergegeben ist“25, dadurch stand Adenauer von Anfang an unter selbstgesetztem Druck, zumal auch andere vielfältig Druck auf ihn ausübten, tätig zu werden. Mit der Ratifizierung der Pariser Verträge durch den Bundestag am 5. Mai 1955 und dem Beitritt zur NATO vier Tage später geriet aber auch die Sowjetunion unter Druck. Es gab nicht nur unmittelbar darauf Konsultationen mit der DDR-Regierung, sondern am 22. Mai erfolgte eine Einladung der deutschen Fußball-Nationalmannschaft zu einem Freundschaftsspiel nach Moskau26. Angesichts der Gepflogenheiten des Kreml war klar, dass dies als politisches Signal, als Auftakt einer diplomatischen Offensive zu deuten war, in der denn auch vierzehn Tage später die offizielle Einladung an Adenauer zur Verhandlung über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen erfolgte. Das Spiel fand am 21. August in Moskau statt. Das wäre ein eigenes Kapitel wert. Nur so viel: Im Westen heftig umstritten – so weigerte sich der RIAS, das Spiel zu übertragen –, geriet es in den politischen Symbolkampf: Als 22 Guido Knopp spricht sogar von noch heute 1,5 Millionen ungeklärter Schicksale: G. Knopp, Die Gefangenen, München 2003, S. 11. 23 E. Schütz, Von Lageropfern und Helden der Flucht, S. 181-203. 24 Arbeitsgemeinschaft „Stacheldraht – Hunger – Heimweh“ (Hrsg.), Stacheldraht – Hunger – Heimweh. Eine Erinnerung, [Düsseldorf] 1955. 25 Zitiert nach G. Knopp, Die Gefangenen, München 2003, S. 354. Vgl. auch K. Adenauer, Briefe 1953-1955, Briefe 1953 – 1955, bearb. von H.P. Mensing, hrsg. von R. Schwarz und H.-P. Schwarz, Berlin 1998, S. 419 f. 26 Vgl. dazu E. Eggers / M. Kneifl, „Wir sind die Eisbrecher von Adenauer gewesen …“. Das Fußball-Länderspiel Sowjetunion gegen BRD am 21. August 1955 in Moskau im Kontext der bundesdeutschen Außenpolitik, in: Sportzeiten, 6 (2006), S. 109-142.
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Wilhelm Pieck die Ehrenloge betrat, verließen die westlichen Delegierten diese demonstrativ. Wohingegen bundesrepublikanische Medien empört zu berichten wussten, dass Pieck beim Deutschlandlied nicht aufgestanden sei. Damals noch in Lagerhaft gehaltene Deutsche berichteten später von der Verwirrung darüber, dass die einen Fußball spielten, während die anderen noch festgehalten wurden, aber auch, dass sie dies als Zeichen kommender Veränderungen verstanden.27 Ein Schlaglicht auf die damalige Mentalität mag ein Zitat aus den Erinnerungen des Nationalspielers Hans Schäfer (Linksaußen) neun Jahre später liefern. Da heißt es, dass das, was nach der deutschen 2:1-Führung kam, „nur mit der ‚Stalinorgel‘ zu vergleichen“ war. „Die Sowjets stürmten, als wollten sie Berlin noch einmal erobern“28. Und so war die 2:3-Niederlage der Deutschen ein diplomatisch perfektes Vorspiel.
IV. Adenauers Reise und Heimkehr Als Adenauer seine Reise nach Moskau antrat, die er als „Fahrt ins Blaue“ und „Besuch in einer Räuberhöhle“ apostrophiert haben soll, stand er unter extremem Erfolgszwang in der Frage der verbliebenen Gefangenen. „Selten ist ein Staatsmann auf einer Reise zu einem Verständigungsgespräch mit einer anderen Nation von soviel Hoffnungen und Erwartungen einfachster Menschen begleitet gewesen wie jetzt der Bundeskanzler“ – kommentierte damals Erich Dombrowski in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“29. Die Einzelheiten, das Auf und Ab der Verhandlungen, sind immer wieder geschildert worden, von Beteiligten, Journalisten und Wissenschaftlern. Auffällig ist, wie wenig sich dabei zwischen dem ersten Bericht des „Spiegel“, von einem damaligen Leserbriefschreiber gelobt, dem „Metier in Detail-Erzählungen wieder einmal alle Ehre gemacht zu haben“30, und zuletzt Guido Knopps Buch zur Fernsehserie „Die Gefangenen“ in den Schilderungen des Ablaufs und seiner Details geändert hat, ob das nun die jeweiligen Differenzen innerhalb der Verhandlungsparteien anging, die Rolle des Alkohols (und Globkes Gegenmaßnahmen eines vorab verabreichten Löffels Olivenöl) oder prekärer Falschübersetzung (Adenauers Charakterisierung des russischen Verhaltens in Deutschland als „entsetzliche Dinge“ war mit „Greueltaten“ übersetzt worden, was Chruschtschow in Wut versetzte), über die Programmänderung des gemeinsamen Ballett-Besuchs, wo „Boris Godunow“ beziehungsreich Vgl. G. Knopp, Die Gefangenen, S. 334 ff. H. Eickelmann, Die Schäfer-BALLade. So erlebte ich die große Welt des Fußballs, Köln o.J. [1964], S. 40. 29 E. Dombrowski, Nicht nur Kriegsgefangene, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. September 1955, S. 1. 30 A. Schickel, Moskau-Reise, in: Der Spiegel, 21. September 1955, S. 5. 27 28
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durch „Romeo und Julia“ ersetzt wurde31, über Adenauers Handschüttelattacke auf Bulganin bis hin zu der feinen Pointe, dass es ausgerechnet der Sozialdemokrat Carlo Schmid war, der Adenauers Mission rettete, indem er nicht, wie Adenauer bis dahin, von Gerechtigkeit sprach, sondern „an die Großherzigkeit des russischen Volkes“ bzw. an jenen „Großmut, der seit je eine Tugend des russischen Volkes gewesen sei“, appellierte32, und so Adenauer schließlich das Ehrenwort von Bulganin und auch Chruschtschow erhielt. Adenauers Heimkehr war triumphal. Unbezweifelbare Ikone dessen war das Foto jenes „alten Mütterchens“, das Adenauer in gerührter Dankbarkeit die Hand küsste. Zugleich jedoch begann die Kritik daran, dass Adenauer für das Versprechen einer Heimkehr der Gefangenen faktisch den Anspruch auf Alleinvertretung und Wiedervereinigung aufgegeben habe, indes die Russen ein „frivoles Spiel“33 mit ihm trieben34. Diese Kritik ist seither immer wieder vorgebracht und diskutiert worden. Damals jedoch ging sie im Jubel der Bevölkerung und der Medien um die Heimkehrenden unter. Und Adenauer, durchaus medienversiert und -bewusst35, hat selbst alles getan, um sich in Verbindung zur letzten Heimkehr zu halten. Ob er nun an John Foster Dulles im Dezember 1955 schrieb: „Von unseren aus Rußland zurückgekehrten Kriegsgefangenen habe ich wiederholt gehört, auch in ihren Lagern habe sich das Wort bewährt: Wer zu den Russen als Diener kommt, wird als Diener behandelt; den, der als Herr kommt, behandeln sie als Herrn“36. Oder ob er im Januar 1956 indigniert dem Außenminister Heinrich von Brentano vorwarf, dass die Verzögerungspolitik seines Ministeriums im Botschafteraustausch mit Moskau zur „Verzögerungen des Rücktransports unserer Kriegsgefangenen aus Rußland“ geführt habe37, Adenauer sah sich fortan als Befreier der Spätheimkehrer. 31 Vgl. dazu auch G. Schröder, Der dramatische Tag von Moskau, in: Die Welt, 12. September 1955, S. 3 – dazu ein Foto des Händedrucks im Bolschoi-Theater. 32 Vgl. G. Knopp, Die Gefangenen, S. 363; vgl. auch Moskau, in: Der Spiegel, 21. September 1955, S. 9-15, hier S. 13. Vgl. auch den ausführlichen Wortlaut in K. Adenauer, Erinnerungen 1953-1955, Stuttgart 1968, S. 538 f. 33 Der Spiegel, 21. September 1955, hier S. 15. Vgl. auch die Leserbriefreaktionen 28. September 1955! 34 Vgl. dazu auch Die Regierungen der Westmächte stellen sich hinter Adenauer. Geteiltes Echo auf deutsch-russische Vereinbarung, in: Die Welt, 15. September 1955, S. 1 – abgebildet das Foto der „alte[n] Frau“. 35 Vgl. M. Brechtken, „Finden Se dat schön?“ Über die Medienorientierung und Imagebildung Konrad Adenauers, in: K. Hildebrand / U. Wengst / A. Wirsching (Hrsg.), Geschichtswissenschaft und Zeiterkenntnis. Festschrift zum 65. Geburtstag von Horst Möller, München 2008, S. 211-223. 36 K. Adenauer, Briefe, S. 112. 37 Ebd., S. 137.
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V. Die Heimkehr der Zehntausend Am 29. September meldete die Presse die offizielle Freigabe der Gefangenen durch Moskau38. Am selben Tag lud die DDR-Regierung zu einer Pressekonferenz ein, denn man legte Wert darauf, dass es die Fürsprache der DDR-Regierung gewesen sei, der die Heimkehr zu verdanken war. Deren Delegation war ja in unmittelbarem Anschluss an die bundesdeutsche Delegation unter Führung Grotewohls am 14. September nach Moskau gereist39. Die Gefangenen wurden jedoch nicht zuerst in die DDR entlassen, sondern offenbar einfach nach russischem Alphabet in beide Staaten40. Während die eine Schlagzeile die „Ernennung der ersten Offiziere“ der Bundeswehr verkündete, versprach die andere, laut Moskauer Mitteilung seien die „Heimkehrer unterwegs“41. Allerdings schickte man als erstes eine Gruppe von 24 Generälen, darunter auch von Seydlitz, Leiter des „Nationalkomitees Freies Deutschland“42, denen zunächst noch weitere Transporte mit Generalen folgten. „Daß die Sowjets die Generale vorausschicken, mag Zufall sein, oder dahinter mag sich eine propagandistische Absicht verstecken, in keinem Fall war oder ist die Auswahl unsere Sache“ – kommentierte das umgehend die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“43. Immerhin waren es aber dann eben nicht diese am 7. und 8. Oktober Eingetroffenen, sondern die ca. 800 ehemaligen Soldaten vom Sonntag, dem Tag danach, die mit der Überschrift kommentiert wurden: „Sonntag 6.31 Uhr: Eine große Stunde unseres Volkes“44. „Die Welt“ hatte, bevor diese ‚große Stunde‘ kam, da noch einmal in einem großen Bericht an die Rolle des Lagers Friedland erinnert, „Die Endstation des großen Krieges“. Täglich bis zu fünftausend Ankömmlinge, im Jahrzehnt zwischen 1945 und 1955 insgesamt 1,8 Millionen Menschen. „Friedland erwartet jetzt die letzten Heimkehrer … Es ist alles gerichtet. Die Betten sind bezogen, die Zimmer sauber, die Lebensmittel liegen auf Abruf bereit. In der Kasse befinden sich für jeden Mann 300 DM, und niemand wird sich länger als acht Stunden im Lager aufhalten müssen“45. 38 Moskau ordnet Freigabe der Kriegsgefangenen an, in: Die Welt, 29. September 1955, S. 1. 39 Pankower Delegation nach Moskau, in: Die Welt, 15. September 1955, S. 1. 40 Vgl. Entlassungen nach dem russischen Alphabet, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (künftig FAZ), 10. Oktober 1955, S. 3. 41 Die Welt, 4. Oktober 1955, S. 1. 42 Die Welt, 7. Oktober 1955, S. 1. 43 -rt- [Hans Baumgarten], Ungetrübt, in: FAZ, 8. Oktober 1955, S. 1. 44 Die Welt, 10. Oktober 1955, S. 1. 45 J. Besser, Die Endstation des großen Krieges, in: Die Welt, 8. Oktober 1955, S. 3.
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Die Ankommenden vom Sonntag, dem 9. Oktober, waren es denn, deren Bilder in Presse und Wochenschauen als eigentlicher Beginn der Heimkehr verbreitet und späterhin festgeschrieben wurden. Hier auch entstand das Ritual des Empfangs – Menschenmassen am Grenzübergang Herleshausen – Feier in Eschwege, weil die Russen sich dagegen verwahrt hatten, wie zuvor in Herleshausen den Choral „Nun danket alle Gott“ hören zu müssen46. Danach dann Weiterfahrt nach Friedland, empfangen von der Lagerglocke, zur Aufnahme, Einkleidung und Vorbereitung auf die Heimat – soweit noch vorhanden. Zwar war Adenauer selbst nicht dabei, doch keine Rede, die nicht Adenauers großes Verdienst hervorhob47. Das blieb weiterhin so bei den folgenden Transporten, bei denen nun auch Frauen und Kinder waren. Die Berichterstattung, begleitet von empörten Kommentaren dazu, dass die DDR immer wieder versuche, Heimkehrer an der Weiterreise in die Bundesrepublik zu hindern, Befriedigung darüber, dass die allermeisten in den Westen wollten48, ging nun zunehmend zu Namenlisten, Hintergrundberichten49 und Momentaufnahmen über, über den jüngsten, 3 Wochen alten Heimkehrer oder einen, der seine Frau nicht sehen will, ehe er nicht wieder adrett hergerichtet ist, Kameraden, die beim Bier „Oh du schöner Westerwald“ grölen oder ein General, der nach wie vor vom „vorzügliche[n] Material“ seiner Soldaten spricht50. Es beginnen bürokratische Querelen, z.B. über die Behandlung von zurückgekehrten Zivilinternierten51, polnische Schikane bei der Durchleitung52 oder Schüsse bei der Flucht von Heimkehrern über die Zonengrenze53. Zunächst erwartete man alle bis zum 20. Oktober zurück,
46 47
Vgl. Die Welt, 10. Oktober 1955, S. 1. Vgl. Willkommen für die Heimkehrer in Friedland, in: FAZ, 10. Oktober 1955,
S. 1. 48 Vgl. Ein General kam zu Fuß über die Grenze, in: Die Welt, 10. Oktober 1955, S. 8; Nur wenige Heimkehrer gehen in die Sowjetzone, in: Die Welt, 11. Oktober 1955, S. 1, vgl. auch Fürstenwalde hält Heimkehrer fest, in: Die Welt, 13. Oktober 1955, S. 1; Niemand wollte in der Zone bleiben, in: FAZ, 19. Oktober 1955, S. 4. 49 Warum die Sowjets ihre Straflager leeren. Sie hatten auch innenpolitische Gründe, in: FAZ, 12. Oktober 1955, S. 2. 50 Vgl. D. Koch, Jüngster Heimkehrer: 3 Wochen alt, in: Die Welt, 12. Oktober 1955, S. 12, J. Besser, Handkuß an der Bahnhofsrampe, in: Die Welt, 15. Oktober 1955, S. 16. 51 Heimkehrer zu Fuß nach Herleshausen. Zurückgekehrte Zivilinternierte beschweren sich beim Bundeskanzler. Flucht aus der Zone, in: FAZ, 13. Oktober 1955, S. 4. 52 Der verzögerte Heimkehrertransport eingetroffen, in: FAZ, 14. Oktober 1955, S. 3. 53 Wieder ein großer Heimkehrertransport in Sicht, in: FAZ, 15. Oktober 1955, S. 3.
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dann bis zum 1. November. Doch sollte es noch bis ins folgende Frühjahr dauern, ehe die Rückführung offiziell als abgeschlossen galt. Was bis hierher im Wesentlichen der Berichterstattung der überregionalen Tagespresse folgte, lohnt – gerade was die Figur Adenauers angeht – durch einen Blick in die Illustrierten ergänzt zu werden, zumal die schon durch ihr Bildmaterial entschieden plastischer und emotionsgesättigter operieren konnten – und vor allem ein viel breiteres, massenhaftes Publikum ansprachen. Das wusste auch Adenauer. Schon 1953 hatte er mit Helmut Kindler über den Abdruck von Kapiteln einer autorisierten Biographie in dessen „Revue“ verhandelt, die ihm wegen ihrer konservativen Ausrichtung und der Auflage von ca. 600.000 lieber als „Stern“ oder „Quick“ sei54. Damit sind denn auch, zieht man noch „Kristall“ hinzu, die wesentlichen Protagonisten benannt. Zugleich ist es nicht ohne ironische Pointe, dass es in allen Illustrierten Angehörige der früheren Propagandakompanien und führende Mitarbeiter der NS-Propagandaillustrierten „Signal“ waren, die jetzt meist als Fotoreporter berichten. Hilmar Pabel z.B., seinerzeit im Einsatz bei Smolensk, auf der Krim und im Kaukasus, berichtet nun, was ihm im Krieg verwehrt blieb, aus Moskau – für „Quick“ zunächst vom Fußballspiel, dann in journalistischer Begleitung Adenauers. Derweil sein ehemaliger „Signal“-Kollege Hanns Hubmann berichtet: „Nach Moskau sah ich Leningrad“. Auch alle anderen Illustrierten haben ausführliche Fotostrecken sowohl zum Fußballspiel wie zur Adenauer-Reise im Angebot. Für „Revue“ berichtet Benno Wundshammer, zuvor ebenfalls bei „Signal“, für den „Stern“ Henri Nannen, ehedem Kriegsberichterstatter für die Luftwaffe. Eigentümlicherweise hält sich „Kristall“, im Layout am direktesten an „Signal“ anknüpfend, mit einschlägigen Beiträgen zurück. Lediglich ein Bericht „Moskau in Farbe“ mit touristisch-offiziös anmutenden Fotos von Joachim Blume ist zu finden55 und ein Foto von der Pressekonferenz in Moskau, untertitelt: „Dem Tonband entgeht keine Silbe“, Teil eines Artikels mit der Überschrift: „Wir werden belauscht. Eine Höllenmaschine bedroht unsere persönliche Freiheit: das Tonband“56. Ansonsten fallen Differenzen der Illustrierten untereinander kaum ins Gewicht. Am schnellsten ist „Quick“, die am 10. September – neben einer Reklame für „Milkana“-Käseecken – „Bilder die bei Redaktions-Schluß in München eintrafen“ bringt: „Adenauer in Moskau“57. Dazu ein fotografisches Impressionenpotpourri von Hilmar Pabel. Und am 24. September folgt dem ein ausführlicher Bildbericht von Hanns Hubmann unter dem Titel „Moskau 54 55 56 57
Nach M. Brechtken: „Finden Se dat schön?“, S. 216. Moskau in Farbe, in: Kristall, 22 (1955). Wir werden belauscht, in: Kristall, 21 (1955). Quick, Nr. 37, 10. September 1955.
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war ein Anfang“ – aufgemacht mit einem Foto, auf dem sich Bulganin und Adenauer über dem Verhandlungstisch die Hände reichen. Darunter auch ein halbseitiges Foto der handküssenden älteren Dame bei der Heimkehr Adenauers nach Bonn, vorgreifend betitelt: „Zehntausend brachte er heim …“. Indes bringt der „Stern“ am 25. September einen großen Beitrag von Henri Nannen und Ernst Grossar, dazu einen weiteren, kleineren: „Der Stern sprach in Moskau mit einem zurückgehaltenen Kriegsgefangenen“. Der in „Revue“ am 17. September vorangekündigte Bildbericht von Benno Wundshammer erschien dann am 24. September. Alle stellten sie Adenauer gebührend heraus, wobei in der „Revue“ die Berichterstattung von der Serie der „autorisierten Kanzlerbiographie“ von Paul Weymar begleitet wurde, deren Abdruck bereits am 6. August begonnen hatte58. Selbstverständlich berichten die Illustrierten ausführlich von der Ankunft der Spätheimkehrer in Friedland. Präludiert von einem Bericht der „Revue“ vom 3. Oktober: „Ein Kind kam aus Sibirien. Sechsjähriges Mädchen ist die erste von 10.000 Heimkehrern“. Und „Quick“ vom 15. Oktober: „Das Mädchen aus dem Sonderzug. Sie brach ein Russenherz“. Da ging es freilich um die Romanze einer Telefonistin der deutschen Delegation mit einem russischen Leutnant. Dem folgen nun die ausführlichen Bildstrecken aus Herleshausen und Friedland. In „Revue“ z.B. unter dem markanten LiedTitel „Nun danket alle Gott“, am 22. Oktober, ergänzt zum einen um einen Bericht: „Walther von Seydlitz: Politik – abgemeldet“. Dazu ein Foto, auf dem eine stehende Frau einem sitzenden Mann einen Hut vors Gesicht hält. Betextet: „Einer von 9626 Heimkehrern. Der frühere General Walther von Seydlitz-Kurzbach entzieht sich – ‚gut behütet‘ von seiner Frau – der Fotoattacke des QUICK-Reporters“59. Zum anderen ergänzt um eine große Fotostrecke von Hanns Hubmann zu einem Spaziergang mit Adenauer und ihn begrüßenden Passanten, Titel: „Wie geht es dem Herrn Bundeskanzler?“ Der „Stern“ wiederum brachte am 23. Oktober eine große Bildserie: „Heimkehr 55. Zehn Jahre nach dem Krieg kamen die letzten“. Und „Ganz Deutschland blickt in diesen Tagen nach Friedland, wo sich die Tore der Heimat öffneten“. Auffällig und symptomatisch ist in der weiteren Berichterstattung die Konzentration auf Frauenschicksale. So folgt im „Stern“ am 5. November unterm Titel „Gabriela sprach nur noch russisch“ – der Bericht über eine aus der SBZ als ‚Spionin‘ nach Sibirien verschleppte Zivilistin. Und: „Liebe ist überall. Ich kam mit dem letzten Transport. „Stern“ setzt den erregenden Bericht über die Schicksale der Rußland-Heimkehrerinnen fort“. 58 Konrad Adenauer, Paul Weymar schrieb unter Mitarbeit von Dr. Roswitha Theile-Schlüter die autorisierte Kanzlerbiographie, in: Revue, Nr. 37, 6. August 1955. 59 Quick, Nr. 43, 22. Oktober 1955.
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„Revue“ hingegen hatte am 15. Oktober mit dem Abdruck eines Fortsetzungsromans begonnen: „Heimkehr in ein fremdes Bett“. „Der RevueRoman, den das Leben schrieb“, von Sophie Hartmann und Gitta von Cetto, einem auch späterhin bewährten Team für gängige Unterhaltungsware, ist eine wüste Schmonzette, in der der Spätheimkehrer Andreas Kersten unter dem Namen eines Kameraden, der ihm seine Erkennungsmarke mitgab, als Fritz Börner nach Deutschland zurück kommt. Er begegnet Mara, einer jungen Frau, die ihn mit nach Hause nimmt. Kersten alias Börner ist enttäuscht, dass sie den erstbesten Mann bei sich aufnimmt, bleibt aber bei ihr. Währenddem lassen die Eltern von Fritz Börner ihren Sohn suchen … So stark das mit Kolportage aufgeladen ist, referiert es doch auf ein Bündel von Ängsten und Stereotypen, sei es auf die nach wie vor bestehende Ungewissheit der Angehörigen derer, die nicht zurückgekommen sind, sei es die Frage nach der Identität, der authentischen oder gewandelten Persönlichkeit der Heimgekehrten wie deren Misstrauen gegenüber den weiblichen Gefühlen, die sie sich doch wünschen. Das mag überleiten zu dem, was dann kam. In den folgenden Jahren wird es hin und wieder noch Illustriertenberichte über Heimkehrerschicksale geben, insgesamt scheint – soweit aus einstweilen kursorischen Proben zu sagen – das Interesse am Thema Spätheimkehrer stark abzunehmen. Das passt durchaus ins Gesamtbild. Denn die Heimholung der Spätheimkehrer wurde durchaus als Abschluss einer zeitgeschichtlichen Phase der deutschen ‚Unvollständigkeit‘ gesehen. Nun waren alle, die noch da waren, wieder dabei. Zugleich bedeutete das einen wesentlichen Schritt in die Souveränität eines Staates, der vollwertiges Mitglied des westlichen Bündnisses war und zugleich den Anspruch auf den anderen Teil Deutschlands deklaratorisch nicht aufgab, jedoch faktisch dessen Unverfügbarkeit hinnahm. Und gerade in Anspruch und Überlegenheit gegenüber der DDR waren die Spätheimkehrer noch einmal ein besonders starkes Argument, hatten sich doch, wie schon in den großen Wellen von 1953 zuvor, kaum zweitausend der über neuntausend Heimgekehrten für den Osten entschieden. Damit aber war zugleich auch die Funktion der Spätheimkehrer erfüllt. Ihre je einzelnen weiteren Schicksale interessierten kaum noch. Weder, dass überproportional viele von ihnen Mitglieder der SS oder Polizeitruppen waren, dass eine erhebliche Zahl tatsächlich Kriegsverbrechen begangen hatte, noch, welche durchaus erheblichen Unterschiede es machte, relativ früh nach dem Krieg in eine wiederaufzubauende Gesellschaft gekommen zu sein oder nach einem Jahrzehnt übelster Lagerbedingungen traumatisiert in eine Gesellschaft zu kommen, in der das in der Erinnerung festgehaltene Bild der Heimat nicht mehr, stattdessen nicht weniger befremdende Konsumorientierung und Mobilität vorzufinden war.
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Untersuchungen haben zeitgenössisch schon gezeigt, dass es den Spätheimkehrern überproportional schwer fiel, im Arbeitsleben wieder Fuß zu fassen, und dass sie sich besonders ausgeprägt als ‚Deutsche‘ in einer amerikanisierten Gesellschaft verstanden, was sich nicht zuletzt in einem rigiden Antikommunismus und Zustimmung zur Militarisierung ausdrückte60. Für Adenauer jedenfalls sollte sich das alles politisch auszahlen. Und zwar gerade das ‚Menschliche‘, das in alledem stets statt, ja entgegen der Politik beschworen worden war. Das entsprach einer sehr weit verbreiteten, grundsätzlichen Haltung der mangelnden Differenzierung zwischen schlimmer und besserer Politik. Exemplarisch beispielsweise formuliert von Rudolf Alexander Schröder, mit Spitzen gegen Heinrich und Thomas Mann: „Überhaupt scheint es, als ob Freund und Feind uns Deutschen eine Art homöopathischer Kur zudenken. Aus politischen Methoden und Schlagworten ist das Unheil erwachsen; ein neues politisches System, neue Parolen sollen es heilen … der heut unter uns in allen Tonarten und Stimmlagen verkündete Begriff der Demokratie dünkt mich … noch so wenig faßbar, daß ich seine Klärung gern Befugteren überlasse“61.
Im Blick auf die Kriegsgefangenen war ja schon vor Adenauers Reise immer wieder das Humanitäre gegen das Politische ausgespielt worden, so wie etwa von Helmut Bohn 1954 in seinem Buch über das Schicksal der Gefangenen im Osten: „Für das deutsche Volk ist die Heimkehr von allen Gefangenen und die Forderung der Heimkehr auch des Letzten eine rein menschliche Angelegenheit, die sich langsam nun endlich dem Politischen zu entwinden scheint“62. Auch Carlo Schmid hatte dem Rechnung getragen, als er seinem erfolgreichen Appell um Gnade durch das großmütige russische Volk u.a. hinzusetzte: „Ich bitte mir zu glauben, daß diese Frage die Gemüter der Menschen bei uns ohne Unterschied mehr erregt als das, was man gemeinhin Politik nennt“63. Ganz wie es seinerzeit die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ in einem Kommentar beschworen hatte: „Für unser Volk bleibt der Empfang der Heimkehrer eine Herzensangelegenheit. Genau, wie das reine menschliche Gefühl und keine Politik die deutsche Delegation in Moskau dazu veranlasste, mit den Sowjets die Abmachung über die Entlassung zu schließen“64. Eben diese Politik des angeblich Unpolitischen kam Adenauer politisch zugute, so wie die Human-Interest-Stories und Illustrationen der Zeitungen Vgl. F. Biess, Homecomings, S. 210 f. R.A. Schröder, Bekenntnis, S. 100 f. 62 H. Bohn, Die Letzten. Was wurde und was wird aus den deutschen Gefangenen in Sowjetrußland und den anderen Ostblockstaaten?, Köln 1954, S. 13. 63 Nach R.-D. Keil: Mit Adenauer in Moskau. Erinnerungen eines Dolmetschers, Bonn 1997, S. 116. 64 -rt- [Hans Baumgarten]: Ungetrübt, S. 1. 60 61
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und Illustrierten mal mehr, mal weniger subtil das Befremdliche Russlands herausstellten oder einerseits einen sektschlürfenden Sozialdemokraten Carlo Schmid, andererseits einen betenden Christdemokraten Adenauer zeigten65. VI. Jetziger Rückblick und damaliger Nachgang Was nun das Ergebnis und seine mediale Aufbereitung anging, wird man sagen können, dass das alles Adenauer innenpolitisch so festigte, auch in der eigenen Partei, dass er wiederum allen Alliierten als ein verlässlicher Partner erscheinen und von daher den Weg der Wiederbewaffnung und der Westeinbindung zielstrebig weiterverfolgen konnte. Dass die Heimkehr der Zehntausend Adenauers Verdienst gewesen sei, ist ihm, wie gesagt, immer wieder bestritten worden. Der derzeit letzte Versuch stammt vom ehemaligen Landwirtschafts- und Umweltminister der DDR, Hans Reichelt. Für ihn kann Adenauer schon deshalb die Kriegsgefangenen nicht heimgeholt haben, weil es sich eben nicht um solche, sondern um „Kriegsverbrecher“ gehandelt habe66. Sieht man einmal davon ab, dass die Regierenden der späteren DDR tatenlos zusahen, wie Tausende von Bürgern unter einer sowjetischen Willkürjustiz verschleppt wurden, und dass unter den Heimgekehrten nicht wenige eben dieser waren, ist ganz unstrittig, dass sich die DDR-Regierenden tatsächlich um die Freilassung bemüht haben. Und es ist durchaus denkbar, dass unter anderen Umständen die Entwicklung anders hätte verlaufen können. Seit in Moskau die einschlägigen Archivmaterialien zugänglich wurden – wohingegen in der Bundesrepublik die Unterlagen immer noch gesperrt sind67 – hat es eine Reihe wissenschaftlicher Auseinandersetzungen um die Einschätzung des Erfolgs von Adenauers Reise gegeben68. Es liegt nicht in 65 Die entscheidenden Stunden von Moskau, in: Revue, 22. September 1955. Das Bild des betenden Adenauer durfte dann auch in dem offiziösen Bildband zu Adenauer nicht fehlen, wo es am in einer heimischen Variante noch einmal wiederholt wurde. Vgl. L.F. Gruber (Hrsg.): Das Adenauer-Bildbuch, Stuttgart o.J. [1956], S. 120 und 127. 66 Vgl. H. Reichelt, Die deutschen Kriegsheimkehrer. Was hat die DDR für sie getan?, unter Mitarb. von Elisabeth Ittershagen und Frank Schumann, Berlin 2007, S. 126 f. 67 Vgl. jüngst G. Bönisch / K. Wiegrefe, Vertraulich auf ewig, in: Der Spiegel, Nr. 47, 17. November 2008, S. 34-36. 68 Vgl. W. Kilian, Adenauers Reise nach Moskau, Freiburg 2005; H. Altrichter, Adenauers Moskaubesuch 1955. Eine Reise im internationalen Kontext, Bonn 2007; G. Wettig, Die Entlassung der Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion – Folge der Verhandlungen mit Adenauer? Untersuchung auf der Basis neuer Archivdokumente, in: Historisch-politische Mitteilungen, (2007), 14, S. 341-352.
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meiner Kompetenz, deren Ergebnisse detailliert zu bewerten. Indes so viel denn doch: Diese Darstellungen gehen zumeist davon aus, dass die Kriegsgefangenen nur dann nicht, jedenfalls nicht so schnell, freigekommen wären, wenn Adenauer die Aufnahme diplomatischer Beziehungen abgelehnt hätte. Und wer weiß, mutmaßt z.B. Werner Kilian, ob die Sowjets, hätten sie geahnt, welch große Emotionen ihr Versprechen gegenüber Adenauer in der Bevölkerung auslöste, so gehandelt hätten69. Man muss nicht das ein wenig naiv anmutende Vertrauen von Adenauers Dolmetscher Rolf-Dietrich Keil haben, der in seinen Memoiren 1997 schrieb: „Ich hoffe, meine Darstellung hat gezeigt, wie unsinnig alle Gerüchte sind, die Freilassung der Gefangenen und Verschleppten wäre auch ohne Adenauers Bemühungen erfolgt oder gar, sie sei längst vorher insgeheim abgesprochen gewesen. Ein solches Theater erlauben sich sogar Politiker nicht“70. Aber zum einen kann man festhalten, dass der Kairos der Stunde mögliche andere Szenarien verhinderte, dass z.B. „im Vorfeld der nächsten Bundestagswahlen“ die Freilassung erfolgt wäre, „dann allerdings“, wie Josef Foschepoth schon 1987 schrieb, wohl „als ein Geschenk an die DDR oder vielleicht sogar an die SPD“71. Und festhalten kann man auch, dass in dieser Situation nun einmal die Regierenden der Sowjetunion ein größeres Interesse an einer kalkulierbaren Bundesrepublik und weniger Rücksicht auf die ohnehin abhängige DDR zu nehmen hatten. Doch will ich nicht mit diesen Überlegungen enden, sondern noch eine – freilich noch überprüfend auszubauende – spekulative Beobachtung zu den Jahren unmittelbar nach 1955 anfügen. Und zwar zu einer Umkodierung der Kriegsheimkehrer von Opfern zu Überlebenden, von ausgelieferten Märtyrern hin zu selbsthelferischen Helden. Der Verband der Heimkehrer, Kriegsgefangenen und Vermisstenangehörigen (VdH) hatte einen semidokumentarischen Film produziert, in dem Einzelschicksale von Heimkehrern recht melodramatisch nachgestellt wurden. Gerhard Klühs „Die Glocke von Friedland“, 1957 uraufgeführt, bündelte ansonsten noch einmal die medial bekannten Bilder72. Symptomatischer vielleicht als der Film selbst ist das Plakat dazu. Da blickt vom rechten Bildteil ein Mann in Kriegsgefangenenkluft müde und traurig nach links, wo unter einem Wachturm am oberen Bildrand, dem von der Glocke eingenommenen Mittelfeld und einem darunter zur Bildmitte drängenden Panzer, zwei junge Leute, begleitet von einer offenbar dunkelhäutigen Band, sich in wildem
69 Vgl. W. Kilian, Adenauers Reise nach Moskau, S. 303; vgl. auch G. Wettig, Die Entlassung der Kriegsgefangenen aus der Sowjetunion, S. 342. 70 R.-D. Keil, Mit Adenauer in Moskau, S.138. 71 J. Foschepoth, Adenauers Moskaureise 1955, S. 45. 72 Regie Gerhard Klüh, UA 20. November 1957, Länge 68 Minuten.
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Tanz verrenken. Pointiert artikuliert das Plakat so die traumatischen Gefühle von Ausgeschlossenheit der Heimkehrenden von Unterhaltung und Sex in einer amerikanisierten Gesellschaft, an deren Horizont der Ostblock droht. Während dieser Film, dem man formales Misslingen vorwarf, wenig erfolgreich war, hatte ein anderer im selben Jahr 1957 uraufgeführter Film zumindest bei der Kritik großen Erfolg und gilt bis heute als cineastische Perle. Ottomar Domnicks „Jonas“ wurde als besonders avantgardistisch gepriesen und mehrfach mit renommierten Preisen ausgezeichnet. Dessen Hauptfigur wird ständig mit einer extrem verfremdeten, in zeichenhafte Partikel aufgelösten Stadt – Drehort war Stuttgart – konfrontiert. Als er sich, verlockt vom Werbeslogan „Man trägt wieder Hut“, von seiner Mütze trennt und einen Hut kauft, mithin ein Statussymbol der Wirtschaftswunder-Gesellschaft zulegt, wird er von Erinnerungen und Schuldgefühlen heimgesucht. Die gesamte Stadt wird ihm zum Lager, der Fernsehturm zum Wachturm. Erkennbar wird durch innere Stimmen wie Rückblenden, dass er offenbar aus einem Gefangenenlager floh und dabei einen Kameraden zurückließ. Als Jonas mit der ihn liebenden Nanni auf den Fernsehturm steigt und ins Land blickt, kommt es zu folgender Dialogsequenz: „Nanni: ‚Wie weit man hier sehen kann … Sie sollten nicht an früher denken. Ich bin glücklich‘. Jonas: ‚Das ist wie ein Wachturm. Da halten sie Ausschau auf das Lager. Nachts kreisen die Scheinwerfer darüber. Und niemand weiß, warum er gefangen ist‘. Nanni: ‚Es gibt doch keine Lager mehr‘. Jonas: ‚Nein, aber überall Gefangene, Angeklagte, Verfolgte‘. Nanni: ‚Vergessen Sie doch die alten Geschichten‘“.
Jonas indes fühlt sich weiterhin von der Vergangenheit verfolgt und am Ende verschwindet er im Dunkel. Der Film des ausgebildeten Psychiaters Domnick überhöhte Lagerpsychose, Erinnerungsdruck und Schuldgefühle ins Existentialistische, zeigt darin aber umso deutlicher das Gefühl der Spätheimkehrer, in den nicht mehr wiedererkennbaren Städten des begonnenen Wiederaufbaus sich nicht mehr heimisch fühlen zu können, in der Welt der Prosperität und des Konsums deplatziert zu sein. Selbst hier jedoch ist es der zum aktiven Flüchtling umkodierte Kriegsgefangene, der im Zentrum steht. Die in jenen Jahren beim Publikum besonders erfolgreichen Filme zeigen denn auch die Kriegsgefangenen als zähe und findige Überlebenswillige, kulminierend in der erfolgreichen Flucht, oder aber als tapfere Mediziner, die unbeirrt von Terror und unangefochten von Verführungen ihren humanitären Dienst am gefangenen deutschen Soldaten tun.
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Oft basieren diese Filme auf bereits erfolgreichen Romanen mit ihrerseits erfolgreichen Vorabdrucken in Zeitungen und Illustrierten. So etwa, nach einem Roman des markigen Erfolgsautors Heinz Konsalik, „Der Arzt von Stalingrad“, in der Regie von Geza von Radvanyi, 1958, worin der Stabsarzt Dr. Fritz Böhler – angelehnt an die Geschichte des Dr. Ottmar Kohler, der bereits 1953 heimkehrte – als Gefangenenarzt im sowjetischen Kriegsgefangenenlager 5110/47 bei Stalingrad trotz widrigster Umstände unermüdlich mit noch so primitiven Mitteln seinen mitgefangenen Kameraden zu helfen versucht. Wohingegen sich sein Assistenzarzt Dr. Schultheiß in die russische Ärztin Alexandra Kasalinskaja verliebt und so nicht nur seins, sondern auch der Kameraden Leben gefährdet, denn Alexandra ist die Geliebte des Oberleutnants Markow. Ähnlich Wolfgang Liebeneiner, der schon „Draußen vor der Tür“ als „Liebe 47“ verfilmt hatte. Er lässt im ebenfalls 1958 uraufgeführten Film „Taiga“ den Publikumsliebling Ruth Leuwerick als kurzgeschorene, kriegsgefangene deutsche Ärztin bei ihren resignierten Mitgefangenen Lebensmut und Zuversicht erzeugen. Zu nennen wäre etwa noch – allerdings entschieden antisowjetischer – Leopold Lahodas „Der Teufel spielte Balalaika“, von 1960. In einem sibirischen Kriegsgefangenenlager führt die Lagerleitung nach Kriegsende ein unbarmherziges Terrorregiment. Einzig ein russischer Politoffizier und seine Frau, ausgerechnet eine jüdische KZ-Überlebende, zeigen mitmenschliche Gefühle gegenüber den Gefangenen. Wenn in Roy Bakers überwältigendem internationalen Erfolg „Einer kam durch“ von 1957 Hardy Krüger die tollkühne Flucht des Fliegers Franz von Werra aus einem kanadischen Lager durchspielen darf, dann ist zwar klar, dass es ein Pendant für den Osten nicht geben konnte, doch fehlt auch hier nicht das Gegenstück. Zur Ikone des Ostheimkehrers auf eigene Faust wird Clemens Forrell, der Held in Fritz Umgelters Fernseh-Mehrteiler von 1959 „So weit die Füße tragen“, der auf einem bereits 1955 erschienene Roman von Josef Martin Bauer fußte. Dieser auch bei späteren Wiederholungen noch absolute Straßenfeger schildert die dreijährige Flucht aus einem sowjetischen Lager nahe der Beringstraße durch Sibirien, den Ural und den Kaukasus bis schließlich nach Täbris in die Freiheit. Der Film baute auf dem auf, was der Roman, ein internationaler Bestseller, in seinem Nachwort noch einmal suggestiv betont hatte, die Authentizität der erzählten Geschichte: „Als wirklich einziges sind ihm die Narben an seinem Körper und an der Seele geblieben, die Zeichen vom Blei [in dem er gearbeitet hatte], und außer diesen Zeichen jene Furcht, die er drei Jahre lang sich selbst abzuleugnen versuchte. Aus dieser Furcht mag es verstanden werden, daß er seinen wirklichen Namen nicht genannt wissen will“73.
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J.M. Bauer, So weit die Füße tragen (1955), Bergisch Gladbach 2001, S. 478.
„Spätheimkehrer“
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Dagegen steht freilich die lapidare Bemerkung in der Zusammenfassung der „Wissenschaftlichen Kommission für deutsche Kriegsgefangenengeschichte“ von 1974: „Über geglückte Fluchtversuche aus der Sowjetunion ist nichts bekannt“74.
74 H. Robel, Vergleichender Überblick, in: E. Maschke, Die deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges. Eine Zusammenfassung, München 1974, S. 267.
Heimkehr als Gründungsmythos: Walter Kolbenhoff Von Eva Banchelli
„Ich muss ihnen erzählen, wie es dem geht, der wieder nach Hause kommt“1.
I. Trotz des ungebrochenen Interesses für die deutsche Literatur der Trümmerzeit ist Walter Kolbenhoff (1908-1993), einer ihrer bedeutendsten Vertreter, hundert Jahre nach seiner Geburt und fünfzehn nach seinem Tod fast vergessen2. Die Wiederentdeckung, die sich Mitte der 80er Jahre anlässlich der Ausstellung „Trümmerzeit in München“3 1984 und seiner im selben Jahr erschienenen Autobiographie „Schellingstrasse 48. Erfahrungen mit Deutschland“4 anzubahnen schien, betraf jedoch hauptsächlich seine Rolle bei der Gründung der Zeitschrift „Neue Zeitung. Eine amerikanische Zeitung für die deutsche Bevölkerung“5, für die er von 1946 bis 1949 in enger Zusammenarbeit mit dem Feuilletonchef Erich Kästner als Redakteur, Reporter und Übersetzer gewirkt hatte. Angesichts der wohl umstrittenen, aber doch andauernden Resonanz der Gruppe 47, zu deren aktiven Mitbegründern Kolbenhoff gehörte6, verW. Kolbenhoff, Heimkehr in die Fremde, Frankfurt a.M. 1988, S. 13. H. Zimmermann, Walter Kolbenhoff, in: H.L. Arnold (Hrsg.), Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur – CD-Version, München 2002. 3 Vgl. Fr. Prinz (Hrsg.), Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1945-1949, München 1984. 4 W. Kolbenhoff, Schellingstrasse 48. Erfahrungen mit Deutschland. Frankfurt a.M. 1984, Neuaufl. München 2008. 5 Vgl. G. Hay / H. Rambaldo / J. Storck. (Hrsg.), „Als der Krieg zu Ende war“ Literarisch-politische Publizistik 1945-1950, Marbach 1986; W. Schoeller (Hrsg.), Diese merkwürdige Zeit. Leben nach der Stunde Null. Ein Textbuch aus der „Neuen Zeitung“, Frankfurt a.M. 2005. 6 Vgl. H. Lehnert, Die Gruppe 47. Ihre Anfänge und ihre Gründungsmitglieder, in: M. Durzak (Hrsg.), Die deutsche Literatur der Gegenwart. Aspekte und Tendenzen, Stuttgart 1971, S. 37-39. 1 2
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wundert diese verhaltene Aufnahme. Wer sich aber mit der Heimkehr als zentralem Ereignis der Stunde Null beschäftigt7, muss sich mit Kolbenhoffs Werk auseinandersetzen und zwar nicht nur mit seinem bekanntesten Roman „Heimkehr in die Fremde“, sondern mit all seinen Texten aus einer Zeit, die sich für die literarische Verarbeitung und für die sprachlich-rhetorische Darstellung des Themas als höchst paradigmatisch erweist. Seine Sensibilität für die räumliche und geistige Orientierungslosigkeit der Menschen zu Kriegsende, seine Fähigkeit, der „brüchig gewordenen Existenz“ (H.W. Richter) in den konkreten Details des Alltagslebens nachzuspüren, ließen ihn zum Wortführer der sogenannten „jungen Generation“ werden, die ja gerade in der Verarbeitung des Kriegstraumas und in der Erfahrung der Heimkehr den Weg zu einer gemeinsamen politischen und kulturellen Identität suchte8, wie Heinrich Böll 1952 rückblickend zusammenfasste: „Es war Krieg gewesen sechs Jahre lang, wir kehrten heim aus diesem Krieg. Wir fanden Trümmer und schrieben darüber“9. Diese Erfahrung wird bei Kolbenhoff in zahlreichen publizistischen Beiträgen wie auch im erzählerischen Werk zur Chiffre einer geschichtlichen Epoche im Spannungsfeld zwischen der Hoffnung auf einen Neubeginn mit der „unvergleichbare(n) Chance“10 geistiger Neuorientierung und der Ernüchterung durch den anbrechenden kalten Krieg und die fortschreitende Restauration in Deutschland.
II. Kolbenhoff war übrigens selbst ein Heimkehrer aus mehrfacher Ferne11. 1908 in Berlin als Walter Hoffmann geboren, begann der aus proletarischem Milieu stammende, autodidaktisch gebildete Autor seine Laufbahn in der Szene der politisch profilierten Literatur der Weimarer Republik. 1930 trat er in die KPD ein, schrieb zahlreiche neusachliche Sozialreportagen für den „Vorwärts“ und die „Rote Fahne“ und musste 1933 über Holland nach Dänemark emigrieren. Dort schrieb er unter Anregung des ebenfalls nach 7
Vgl. S. Brockmann, German Literary Culture at the Zero Hour, Rochester NY
2004. 8 Vgl. V. Jérôme, Heimkehr in die Fremde. Zur Bewältigung des Front- und Heimkehrererlebnisses in der deutschen Nachkriegsliteratur, in: Y. Shichiji (Hrsg.), Internationaler Germanisten-Kongress in Tokyo. Sektion 15: Erfahrene und imaginierte Fremde, München 1991, S. 433-439. 9 H. Böll, Bekenntnis zur Trümmerliteratur, in: ders., Erzählungen, Hörspiele, Aufsätze, Berlin 1961, S. 342. 10 W. Kolbenhoff, Brief an Sigrid Undset, in: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation, 4 (1946), S.13. 11 Vgl. W. Brand, Der Schriftsteller als Anwalt der Armen und Unterdrückten. Zu Leben und Werk Walter Kolbenhoffs, Frankfurt a.M. / Bern / New York / Paris 1991.
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Dänemark exilierten Wilhelm Reich seinen ersten Roman „Untermenschen“, eine illusionslose Darstellung vom Ende der Weimarer Republik und vom Scheitern des organisierten Klassenkampfes in den Zwanziger Jahren, die auf illegalem Weg auch nach Deutschland gelangte. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Dänemark (April 1940) erhielt Kolbenhoff einen Gestellungsbefehl, dem er im Auftrag der KPD Folge leistete; er sollte die Kampfmoral der deutschen Soldaten von innen zersetzen. Er – der militante Pazifist und politische Emigrant – wurde an die jugoslawische und die italienische Front versetzt und geriet 1944 bei Montecassino in amerikanische Gefangenschaft. In dieser Zeit kam es zum endgültigen Bruch mit der KPD, zu der er schon seit dem Erscheinen seines ersten Romans ein höchst problematisches Verhältnis hatte. Durch die Einsicht in die dogmatische Verhärtung des Kommunismus und in die tragische Ohnmacht der organisierten Arbeiterbewegung wurde Kolbenhoff zu einem skeptischen und ideologiefernen Autor, der sich von nun an mit der Widersprüchlichkeit seiner Zeit und mit der Brüchigkeit jeder Orthodoxie auseinandersetzte. Während der Kriegsgefangenschaft in den USA konnte er weiter literarisch aktiv sein, besonders als er im September 1945 im Camp Fort Kearney in Rhode Island den Redakteuren der Lagerzeitung „Der Ruf“ begegnete. Für seinen während der Internierung verfassten Roman „Von unserem Fleisch und Blut“, der die Tage der deutschen Niederlage aus der Perspektive eines fanatisierten jugendlichen Werwolfs erzählt, erhielt er den Preis des US-„Rufs“12. Die Intellektuellen, mit denen er in Fort Kearney verkehrte – Hans Werner Richter, Alfred Andersch, Gustav René Hocke, Walter Mannzen – sollten nur wenige Monate später als die Initiatoren der auferstehenden deutschen Literatur bekannt werden. Mit ihnen traf Kolbenhoff im zerstörten München wieder zusammen, wo er fast zufällig sein erstes Zuhause fand. Diese Begegnung und die Zusammenkünfte in seiner Wohnung in der Schellingstrasse sollten im Frühjahr 1946 zur Gründung der neuen Zeitschrift „Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation“ und ein Jahr später am Bannwaldsee zur legendären Geburt der Gruppe 47 führen. Als 38-jähriger Autor, der nach zwölfjähriger Abwesenheit wieder in Deutschland tätig wurde (er war im Februar 1946 aus dem reeducation camp entlassen worden), gehört Kolbenhoff jedoch eher zu der von Alfred Andersch als „Zwischengeneration“13 bezeichneten Altersgruppe der zumeist 12 Vgl. V.Chr. Wehdeking / G. Blamberger, Erzählliteratur der frühen Nachkriegszeit (1945-1952), München 1990, S. 117-129. 13 A. Andersch, Das Unbehagen in der Politik, in: Frankfurter Hefte, 9 (1947), S. 914.
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zwischen 1905 und 1915 geborenen Schriftsteller, von denen viele schon in der Weimarer Republik politisch aktiv gewesen waren, während der Nazizeit Opposition geleistet und sich oft in antifaschistischer Tätigkeit bewährt hatten. Ihre Selbststilisierung als ,Junge Generation‘ hatte also nicht so sehr mit dem biologischen Alter zu tun als vielmehr mit der Distanznahme zu all denen, die den Aufstieg Hitlers und den Krieg zu verantworten hatten14. Kolbenhoff teilte den Erlebnishorizont dieser Intellektuellengruppe: durch die gezwungene Teilnahme an einem verhassten Krieg kannte er einerseits „das eingesetzte Leben“15, das Schuldgefühl, den Schock über die zertrümmerte Heimat, die materielle und geistige Unsicherheit, die Verabschiedung aller bisher gültigen moralischen, politischen und kulturellen Werte16; andererseits war er aber von der Möglichkeit und der Notwendigkeit einer Erneuerung des geistigen und politischen Lebens in Deutschland überzeugt, die in der apokalyptischen Stimmung der Stunde Null die Palingenese eines „originale(n) Neu-Werdens“17 versprach18. Diese existentielle Situation porträtiert Kolbenhoff schon im Roman „Von unserem Fleisch und Blut“ in der Gestalt eines heimkehrenden Familienvaters, der erst aus der Erkenntnis der eigenen Schuld und Verantwortung für die allgemeine Zerstörung den Mut zum Bau eines neuen Hauses schöpft19. Der in diesem Roman noch als Nebenfigur eingeführte Kriegsheimkehrer wird gleichzeitig zur Verkörperung von Kolbenhoffs humanistischem Credo an eine solidarische Erneuerung Deutschlands, die ihm in der optimistischen Phase der unmittelbaren Nachkriegszeit noch vorschwebte. „Nichts kann mehr sein wie es war“ – erkennt dieser Mann im Namen eines Autors, der sich damit offen auf den Orest aus Sartres „Fliegen“ (dt. 1947) zu berufen 14 Vgl. H.-U. Wagner, Autoren, Foren, Diskussionen – Die „junge Generation“ nach 1945, in: H.-G. Winter (Hrsg.), „Uns selbst mussten wir misstrauen“. Die „junge Generation“ in der deutschsprachigen Nachkriegsliteratur, Hamburg 2002, S. 16-46. 15 A. Andersch, Das junge Europa formt sein Gesicht, in: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation, 1 (1946), 477, S. 1. 16 „[Meine Generation] war an der Front, und die Überlebenden kamen nach Hause und wissen nur, daß sie an nichts mehr glauben und daß alles anders gemacht werden muß“, W. Kolbenhoff, Heimkehr in die Fremde, S. 101. 17 A. Andersch, Deutsche Literatur in der Entscheidung. Ein Beitrag zur Analyse der literarischen Situation (1948), in: G. Haffmans (Hrsg.), Das Alfred Andersch Lesebuch, Zürich 1979, S. 49. 18 Vgl. V.Chr. Wehdeking, Der Nullpunkt: über die Konstituierung der deutschen Nachkriegsliteratur (1945-1948) in den amerikanischen Kriegsgefangenenlagern, Stuttgart 1971. 19 „‚Ich war mit dabei, die Welt in Trümmer zu legen und ich muss sie wieder aufbauen. Ich bin zu schwach gewesen‘ – sagte er stockend. ‚Als sie mich holten, hätte ich Nein sagen und nicht gehen sollen. Ich bin gegangen – sieh dir das Resultat meiner Feigheit an‘“, W. Kolbenhoff, Von unserem Fleisch und Blut, München 1947, S. 84 ff.
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scheint20 – „… Es ist alles anders geworden. Mir ist heute, als gehörten wir alle zusammen, nicht nur du und die Kleine und ich. Nein, wir alle. Wir haben Verantwortung für alle, verstehst du?“21. III. Kolbenhoff war aber nicht nur aus dem Krieg und aus der Gefangenschaft zurückgekehrt. Zuvor war er politischer Emigrant gewesen, hatte also das Schicksal der Exilierten miterlebt, zu dem sich die meisten Vertreter der jungen Generation bekanntlich eher distanziert-misstrauisch verhielten22. Auch dieser ganz besonderen Form der Heimkehr, einem ausgesprochen heiklen Thema in der öffentlichen Debatte der ersten Nachkriegszeit, widmete er im Januar 1946 einen Artikel, der unter dem Titel „Die Verjagten kommen heim“ im zehnten Heft des „Rufs“ erschien, der Zeitschrift, die sich als Sprachrohr der noch schweigenden heimkehrenden Frontsoldaten verstand23. Kolbenhoff liefert hier seinen versöhnlichen Beitrag zur sogenannten „großen Kontroverse“ um Thomas Mann und um äußere und innere Emigration24. Der Text enthält auch eine genaue und einfühlsame Beschreibung der Bedingungen, unter denen sowohl die Prominenten als auch die unzähligen namenlosen „Durchschnittsemigranten“ leben mussten und schließt mit der Aufforderung, alle, die sich auch in der Verbannung mit der Heimat verbunden fühlten, sollten nach Deutschland zurückkehren und beim Neuanfang mitmachen. Der Wiederaufbau Deutschlands war für Kolbenhoff also ohne die aktive Mitarbeit der „Verjagten“ nicht zu denken. Er schreibt in seinem Artikel: „Diese Heimkehr hat oft etwas Tragisches an sich. Man kommt nach Hause und findet sich nicht zurecht. Die Heimat ist einem ebenso fremd geworden wie es das Land war, in das man vor Jahren flüchtete. Man ist endgültig fremd geworden. Doch das trifft nicht auf alle zu. Die, für die die Emigration nichts war als die 20 Erinnert sei hier an die außerordentliche Resonanz von Sartres Stück in Deutschland durch die Inszenierung von Gustav Gründgens im selben Jahr, in dem Kolbenhoffs Roman erschien. Der berühmte Satz „Tout est neuf ici, tout est à commencer“, mit dem das Stück endet, wurde in Deutschland zu einer Art programmatischen Losung des Neubeginns. Vgl. E. Banchelli, Il mito di Oreste tra le macerie: la ricezione de ‚Les Mouches‘ di Sartre nel primo dopoguerra tedesco, in: H. Dorowin / R. Svandrlik / U. Treder, Il mito nel teatro tedesco, Perugia 2004, S. 315326. 21 W. Kolbenhoff, Von unserem Fleisch und Blut, S. 186 f. 22 Vgl. H. Peitsch, Die Gruppe 47 und die Exilliteratur – ein Mißverständnis?, in: J. Fetscher / E. Lämmert / J. Schutte (Hrsg.), Die Gruppe 47 in der Geschichte der Bundesrepublik, Würzburg 1991, S. 108-134. 23 O.N. [H.W. Richter], Warum schweigt die junge Generation?, in: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation, 2 (1947), S. 1 ff. 24 Vgl. J.F.G. Grosser (Hrsg.), Die große Kontroverse – Ein Briefwechsel um Deutschland, Hamburg 1963.
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Vorbereitung auf die Rückkehr, haben übergenug zu tun – die Heimat saugt sie wieder auf. Sie haben Ungeheueres zu leisten“25.
Aber nicht nur die Erfahrung und die Behandlung des Exils trennten Kolbenhoff von den meisten Vertretern der jungen Generation. Seine Sonderstellung, die zum Teil sein Verschwinden aus der literarischen Szene am Ende der 40er Jahre bedingte, tritt auch an einem anderem Punkt deutlich zutage, wo er nämlich auf seine Distanz zu deren radikalen tabula-rasa-Poetik zu sprechen kommt. Obwohl er selbst seine Zeit – nicht ohne nachexpressionistisch geprägtes, die Schärfe seiner Sprache und seines Stils oft stark beeinträchtigendes26 Pathos der „Menschheitsdämmerung“27 – als die eines gewaltigen Umbruchs darstellte, der „die Welt von Grund auf verändern“28 würde, konnte er auf Grund seines Lebenslaufs das von Alfred Andersch beschriebene „Gefühl einer völligen Voraussetzungslosigkeit“29 nicht teilen. „Heimkehr“ – das von ihm oft auch als poetologische Metapher verstandene Schlüsselwort – bedeutete zwar nicht die unmögliche „Rückkehr“ zu den nach der Barbarei unbrauchbar gewordenen „Ewigkeitswerten“ des bürgerlichkonservativen Humanismus, wohl aber die Möglichkeit, mit neuen politischen Zielen und Sprachmitteln wieder an die Tradition der vom Nationalsozialismus verdrängten sozialistischen Tendenzliteratur der 20er Jahre anzuknüpfen, in der er seine Wurzeln hatte und die er in seinen Schriften oft heraufbeschwor30. In ihr wurzelt einerseits Kolbenhoffs sozialkritische und realistische Poetik, andererseits sein Berufsethos, d.h. seine Vorstellung von der Literatur als Aufgabe und Verantwortung gegenüber der Gesellschaft; eine Vorstellung, die W. Kolbenhoff, Die Verjagten kommen heim, in: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation, 10 (1947), S. 6. 26 Vgl. besonders die damalige Kritik Hellmuth von Cubes, der in Kolbenhoffs Rhetorik sogar „das gleiche tragische Pathos, die gleiche Mischung von Larmoyanz und Arroganz, die gleiche Frontsoldaten-Mentalität, de[n] gleiche[n] Appell an Herz und Gewissen … genau das, was vor fünfzehn Jahren die Demagogen und ihr Gefolge von Kleinbürgern gegen die Intellektuellen vorbrachte“ wieder erkannte. Vgl. H. von Cube, Wir kennen die Melodie …, in: Neue Zeitung, 1. Februar 1948. Dazu vgl. H. Glaser, Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. Zwischen Kapitulation und Währungsreform 1945-1948, München / Wien 1985, S. 307-313. 27 Vgl. I. Popov, Expressionismus-Nachfolge in den Texten der jungen Generation und einiger Mitglieder der Gruppe 47, in: H.-G. Winter (Hrsg.), „Uns selbst mussten wir misstrauen“, S. 270-282. 28 W. Kolbenhoff, Gegen die Nebelrufer, in: Der Skorpion (1948), Reprintausg., Göttingen 1991, S. 38. 29 A. Andersch, Deutsche Literatur in der Entscheidung (1948), in: G. Haffmans (Hrsg.), Das Alfred Andersch Lesebuch, Zürich 1979, S. 24. 30 Vgl. Marita Müller, Kontinuität engagierter Literatur vor und nach 1945. Zum Werk Walter Kolbenhoffs, in: J. Hermand / H. Peitsch / K.R. Scherpe (Hrsg.), Nachkriegsliteratur in Westdeutschland, Bd. 2: Autoren, Sprache, Traditionen, Berlin 1983, S. 41-45. 25
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seinen „Pessimismus der Wirklichkeit“31 durch den humanistischen Glauben an die Veränderbarkeit der Welt ausglich. In dieser Nullpunktsituation gewinnt bei Kolbenhoff die aus vorfaschistischer Zeit stammende Konzeption des Engagements durch die Begegnung mit der Gegenwartsliteratur (der Amerikaner, Italiener, Franzosen) und durch seine leidenschaftliche Teilnahme an den zeitgenössischen Kulturdebatten neue Impulse. Besonders der französische Existentialismus sartrescher Prägung half dem nunmehr heimatlosen Linken zu einer Definition der Aufgaben des Intellektuellen nach der Katastrophe; sie entfernte sich kritisch von der überkommenen Vorstellung des klassischen Sozialismus, deren geschichtliches Scheitern er erlebt hatte. Die Kontroversen mit den Vertretern anderer literarischer Positionen – besonders mit der von Wolfdietrich Schnurre verteidigten Abseitigkeit der Literatur32 und mit Ernst Wiecherts „kalligraphischer Ästhetik“ – boten ihm die Gelegenheit, die eigene literarische und ethische Option für einen zeitkritischen Realismus mit politisch relevanter Funktion immer wieder neu zu bestimmen. In einem im unveröffentlichten Probeexemplar der Zeitschrift „Der Skorpion“ im Januar 1948 erschienenen offenen Brief an Wolfdietrich Schnurre prangerte Kolbenhoff die Autoren, die mit ihrem „Lauschen nach innen“, mit ihrer Ästhetik vom „Blümlein im Grase“ den zu gestaltenden geschichtlichen Umbruch verpassten, als „Nebelrufer“, als „Fakire des Abendlandes“ an33. Ihre Sprache – so liest man auch in „Heimkehr in die Fremde“ im offenen Bezug auf Wiechert – sei „zu sehr gebildet“, um das „Schicksal“ der Heimkehrer – „der in gefärbte Uniformen gekleideten Gestalten, die gleich mir durch die Straßen wandelten“34 – erfassen zu können. Diese Position vertrat er auch beim Zweiten Deutschen Schriftstellerkongress im Mai desselben Jahres, der am Vorabend der Währungsreform in einem restaurativen Klima die endgültige Krise einer ihrer Zeit verpflichteten Literatur verkünden sollte35. In seiner Rede, die den Höhepunkt seines Plädoyers zugunsten der littérature engagée und gegen die littérature pure markierte, verteidigte Kolbenhoff noch einmal die Rechte jenes neu zu errichtenden 31 So in dem anonymen Vorwort zu W. Kolbenhoff, Wir wollen leben, in: Der Ruf. Unabhängige Blätter der jungen Generation, 3 (1946), S. 6. 32 Vgl. W. Kolbenhoff, Kunst und Künstler, in: Horizont, 5 (1947). Dazu: A. Nickel, Zwischen literarischer Tradition und existentiellem Neubeginn: Wolfdietrich Schnurres Kontroversen mit Manfred Hausmann und Walter Kolbenhoff, in: W. Erhart / D. Niefanger (Hrsg.), Zwei Wendezeiten. Blicke auf die deutsche Literatur 1945 und 1989, Tübingen 1997, S. 71-94. 33 Vgl. W. Kolbenhoff, Gegen die Nebelrufer, S. 38. 34 W. Kolbenhoff, Heimkehr in die Fremde, S. 19. 35 Vgl. W. Wende, Der Frankfurter Schriftstellerkongress im Jahr 1948, Bern / New York / Paris 1989.
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Humanismus, der die Gründung der Zeitschrift „Der Ruf“ inspiriert hatte und demzufolge „die vornehmste Pflicht“ des Schriftstellers darin bestehe, „seine Kunst in den Dienst der Menschheit zu stellen und das Gewissen seiner Zeit zu verkörpern“ 36. Trotz der traumatischen Erlebnisse vermöge die Sprache als Werkzeug literarischer Arbeit weiterhin Kommunikation zu schaffen, Zeugnis abzulegen, Vergangenheit aufzuarbeiten und Zukunft zu gestalten. Schreiben – wieder schreiben zu können – wird in Kolbenhoffs Poetik zur therapeutischen und kathartischen Verpflichtung, die der Schriftsteller im Namen aller übernimmt. So erklärt der Protagonist der „Heimkehr in die Fremde“: „Ich schreibe an einem Buch … Ich weiß nicht, was mich dazu trieb. Es nahm von mir Besitz, und es drängt mich, alles aufzuschreiben … Ich muß mich selbst schildern, denn ich bin einer von Hunderttausend, ich muß meine Träume schildern, meinen Hunger und meine Sehnsüchte. Sie werden sich vielleicht in mir wiedererkennen, und ich muß ihnen sagen, dass sie nicht verzweifeln sollen, dass sie wieder von vorn anfangen müssen“37.
IV. Auch die Literatur konnte und musste also nach der Katastrophe „heimkehren“, aber nur unter der Bedingung, dass sie sich „die Ehrlichkeit des Wortes“38 zum Ziel der Darstellungsweise setzte. Der nach Diktatur und Krieg noch rettbare Begriff „Heimat“, den die Erfahrung des Heimkehrens impliziert, fällt bei Kolbenhoff mit dieser Sprachauffassung zusammen, die in ihrem militanten Optimismus auch nicht davor zurückscheut, zur Verbreitung ihrer euphorischen Aufbruchstimmung auch aus dem traditionellsten Metaphernreservoir zu schöpfen. Der im Januar 1948 in der „Neuen Zeitung“ erschienene Artikel „Lasst uns Zeit“ ist Kolbenhoffs beherzte Antwort auf die Frage nach dem Schweigen der jungen Literatur. In ihm zeigt er die schwierige materielle und geistige Situation, in der die Literatur der Trümmerzeit nur mit Mühe entstehen konnte, oder besser zu entstehen versuchte. Ihre Autoren werden in diesem pathosgeladenen Aufsatz eindeutig als Heimkehrergestalten porträtiert: „… sie schlichen blutenden Herzens durch die Städte ihres eigenen Vaterlandes, sie krochen durch Schutt und Schlamm, sie fühlten den eisernen Stiefel im Nacken und zerbrachen nicht … Jetzt sind sie frei und versuchen mit allem Ungestüm ihre berstenden Herzen zu befreien. Vielleicht werden ihre Sätze nicht
36 Zitiert in: Fr. Prinz (Hrsg.), Trümmerzeit in München. Kultur und Gesellschaft einer deutschen Großstadt im Aufbruch 1945-1949, München 1984, S. 215. 37 W. Kolbenhoff, Heimkehr in die Fremde, S. 27. 38 Ebd., S. 192.
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so funkeln, und doch bin ich überzeugt davon, dass ihnen die Zukunft gehören wird. Sie sprechen die Sprache dieser Zeit, sie werden das ausdrücken, was in dem gemarterten, verirrten, sehnsuchtskranken Volke, dem sie angehören, bisher unausgesprochen geblieben ist“39.
Kolbenhoff kannte und teilte das beim Wiedersehen mit der zertrümmerten Heimat empfundene lähmende Unbehagen, stellte aber die Ruinenlandschaft als eine „Fremde“ dar, die er der stummen Wir-Gemeinschaft aller „Davongekommenen“ als Ort einer möglichen neuen Identitätsstiftung anbot. Denn gerade dieses Sich-nicht-Zurechtfinden in der „merkwürdig“40 gewordenen Heimat bildete für ihn die Voraussetzung für eine Neuordnung der Verhältnisse und für eine Auferstehung der Literatur in der Nullpunktsituation. Eben hier, in seinem Vertrauen in einen Neuanfang konnte sich Kolbenhoff entschlossen zur jungen Generation bekennen, deren Bewusstseinszustand er in der ersten Person Plural gleichzeitig definieren, ansprechen und vertreten wollte. Der im dritten Heft des „Rufs“ erschienene Aufsatz „Wir wollen leben“ liest sich in diesem Sinn als ein aufschlussreiches Manifest. Dem Text sind als Identifikationsmittel zwei Photos des Autors beigefügt, die ihn in der ersten Spalte als nachdenklichen heimkehrenden Landser und am Schluss als in die Zukunft blickenden Zivilisten porträtieren, der die Integrität und Würde der eigenen Person vollkommen zurück gewonnen hat. Auch ikonisch ist der Text also eingerahmt zwischen der literarisch zu bewältigenden Kriegserfahrung und dem Neuanfang, den es zu gestalten gilt. Im Artikel wird der Begriff von „jung“ und „alt“ nicht mehr im Bezug zur Alterszugehörigkeit bestimmt; er hängt vielmehr mit der Bereitschaft zusammen, „den Schock des Zusammenbruchs“, „die Betäubung des Denkens und der Gefühle“ zu überwinden, um den Anforderungen der gegenwärtigen Zerstörung gerecht zu werden. Erst diese aktive Beziehung zur Nachkriegswirklichkeit war für Kolbenhoff eigentlich „Heimkehr“. Mit seiner aufklärerischen Literaturauffassung setzte er sich bewusst gegen die radikale Negativität anderer zeitgenössischer Autoren, besonders gegen die Positionen eines Borchert, der auch aus den Spalten der „Neuen Zeitung“ sich selbst und seine Altersgenossen als eine „Generation ohne Heimkehr“ vorstellte, „denn wir haben nichts, zu dem wir heimkehren könnten“41.
39 W. Kolbenhoff, Laßt uns Zeit, Zitat aus: W. Schoeller (Hrsg.), Diese merkwürdige Zeit. 40 W. Kolbenhoff, Heimkehr in die Fremde, S. 17. 41 W. Borchert, Generation ohne Abschied, in: Neue Zeitung, 15. April 1948.
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Abb. 1 und 2: Zwei Mal Walter Kolbenhoff (Privatbesitz)
V. Der vitalistische und optimistische Zug der publizistischen Beiträge scheint auf den ersten Blick auch seinen dritten und bekanntesten Roman „Heimkehr in die Fremde“ zu bestimmen, dessen Protagonist in dem schon erwähnten Aufsatz „Lasst uns Zeit“ porträtiert worden war als „[ein] Mensch unserer Zeit, von harten unerbittlichen Faustschlägen in die Knie gezwungen, … verarmt und einsam, … verlassen und trotz allem den Funken des Optimismus in sich tragend – die Dichter dieser Zeit leben mit ihm, und sie wollen seine Sprecher sein“.
In der Tat kann der Ich-Erzähler, ein aus der Kriegsgefangenschaft heimkehrender Schriftsteller, in den letzten Zeilen des Romans während der Arbeit an seinem Manuskript den quälenden Hunger vergessen und seine Verwirrung, die im zertrümmerten München und den harten Lebensbedingungen der Nachkriegszeit ihre Wurzeln hat, literarisch verarbeiten. Doch die Entstehungsgeschichte des Romans wirft auch ein ambivalentes Licht auf seine Botschaft und auf die Rolle des mit autobiographischen Zügen versehenen Protagonisten. „Heimkehr in die Fremde“ wurde zwischen 1947-48 geschrieben und erschien 1949. In dieser Zeitspanne wurden bekanntlich die von der jungen Generation gehegten Erwartungen einer kathartischen Erneuerung Deutschlands durch die politische und soziale Entwicklung im Westen wie im Osten systematisch enttäuscht42. 42 V.Chr. Wehdeking, Anfänge westdeutscher Nachkriegsliteratur: Aufsätze, Interviews, Materialien, Aachen 1989.
Heimkehr als Gründungsmythos: Walter Kolbenhoff
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Das Verbot der Zeitschrift „Der Ruf“ im April 1947, die schweren ideologischen Auswirkungen des kalten Krieges auf das publizistische Leben, die Kolbenhoff und andere Redakteure 1949 zum Austritt aus der „Neuen Zeitung“ zwangen, ließen jede noch verbliebene Hoffnung schwinden, durch das literarische Engagement in die Wirklichkeit eingreifen zu können. Trotz des scheinbaren Neuanfang-Optimismus, der wiederholt verkündet wird, zeugt Kolbenhoffs Roman besonders durch die gewählte Erzähltechnik, die auf eine souveräne und aktive Erzählerinstanz verzichtet, von dieser Klimaveränderung. Der Protagonist wird von Anfang bis zur letzten Seite als einsamer Beobachter dargestellt, der die Trümmerlandschaft um sich aus dem Fenster seiner Schwabinger Mansarde wahrnimmt und dabei das Gefühl einer „wachsenden Einsamkeit“ spürt43. Seine Begegnungen und Gespräche mit den zeittypischen Vertretern gegensätzlicher existentieller und politischer Optionen im Zentrum der Erzählung werden so zu einem Spiegel für die ungelösten eigenen Widersprüche und Ängste, stellvertretend für die der ganzen Heimkehrergeneration, wie Kolbenhoff selbst im rückblickenden Nachwort zur Neuausgabe der Romans betonte44. Besonders durch die Beziehung zu Rinka, dem zynischnihilistischen Intellektuellen, der die „Auferstehung“ aus den Ruinen, den Traum eines neuen Humanismus von Grund auf in Frage stellt, beschwört der Ich-Erzähler auch die eigene Resignation und die Krise einer von der Geschichte verabschiedeten Utopie. Aber auch Hannes, der Heimkehrer aus fünfjähriger Gefangenschaft in Russland, der nichts will als die Trümmer wegräumen, ist angesichts der schleichenden Verdrängungstendenzen in der beginnenden Restauration in Deutschland anders als in „Von unserem Fleisch und Blut“ eine problematische ratlose Gestalt, die die eigene Vergangenheit nicht loslässt. Der Erzähler fragt sich: „War das die Sprache eines heimgekehrten Soldaten? Von Millionen Menschen erträumt, sah sie anders aus. Was blieb aus den Träumen, in qualvoller Einsamkeit entstanden, wenn sie Wirklichkeit wurden? … Es gab Millionen Antworten. Ich kannte meine Antwort, die Antwort Rinkas, und hörte jetzt die Antwort von Steffis Mann, Hannes … Er sagte ‚Ja, damals waren wir noch Kinder. Es ist zuviel geschehen in der Zwischenzeit‘“45.
Der Schriftsteller, der im letzten Bild des Romans trotzdem zu einer „ehrlichen“ Sprache findet, um seinen Zeitgenossen das Bild ihrer spannungsgeladenen Wirklichkeit vorzuhalten, ist in „Heimkehr in die Fremde“ ein einsamer Outsider geworden, dem die eigene Zeit als „ein Niemandsland zwischen den Zeiten“ erscheint, „voller Dunkelheit … in einer seelischen 43 44 45
W. Kolbenhoff, Heimkehr in die Fremde, S. 221. Ebd., S. 225. Ebd., S. 223.
Eva Banchelli
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und geistigen Verwirrung“, um die Worte zu zitieren, mit denen auch die Zeitschrift „Der Skorpion“ 1947 die Situation beschrieb46. Aber auch in dieser illusionslosen Phase der Nachkriegszeit sprach Kolbenhoff für die junge Generation: im 11. Heft von „Der Ruf“, kurze Zeit bevor er mit Alfred Andersch auf die Herausgeberschaft der Zeitschrift verzichten musste, hatte Hans Werner Richter Deutschland als „das Land der versäumten Evolutionen“ beschrieben, das der von Kolbenhoff in „Heimkehr in die Fremde“ evozierten Trümmerlandschaft am Vorabend der deutschen Teilung sehr ähnlich war. Der Versuch, die Heimkehr als Gründungsmythos darzustellen und euphorisch-pathetisch als Chance zu einem Neubeginn zu interpretieren, weicht jetzt einer nüchternen, wortkargen Bestandsaufnahme, auf der die neue Literatur und die neue Sprache aufbauen können. Am Ende des Romans sitzt Kolbenhoffs Protagonist allein in seiner Bude: „Die Birne warf ihren grellen Schein auf das Bett, auf den Stuhl und auf den Tisch … Ich untersuchte die Schublade, aber es war kein Brot drin. Dann setzte ich mich an den Tisch und begann zu schreiben“47.
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H.W. Richter (Hrsg.), Der Skorpion, Reprinausg. Göttingen 1991, S. 9. W. Kolbenhoff, Heimkehr in die Fremde, S. 224.
„Nachdenklich und hungrig“ – Heinrich Böll kehrt aus dem Krieg heim Von Enza Gini
Am 15. September 1945 kehrte der Landser Heinrich Böll, der im Juli 1939 zur Wehrmacht einberufen und im Frühjahr 1945 von amerikanischen Soldaten gefangen genommen worden war, endgültig nach Deutschland zurück. Vier Tage später beschreibt er in einem Brief an Ernst-Adolf Kunz, den er im Gefangenenlager Attichy kennengelernt hatte, den Moment seiner „Befreiung“ und seine Heimkehr: „Nachmittags 16.15 verließ ich endlich den letzten Stacheldraht im Schatten der Bonner Universität … es erfaßte mich ein Schwindel, das Bewußtsein, frei zu sein nach fast 7 Jahren … Ich fuhr nach Siegburg, besuchte noch abends spät … meinen armen kleinen Sohn im Krankenhaus; … von Siegburg fuhr ich mit dem Rad die letzten 30 Kilometer bis zu meiner Frau, die auch inzwischen umquartiert ist. Es war eine ganz tolle Freude, als ich abends spät so unerwartet für immer und ganz endgültig heimkehrte …“1.
Millionen von Soldaten und Überlebenden befanden sich in derselben Lage, der sich der kranke und erschöpfte Böll bei seiner Heimkehr gegenübersah; nachdem sie „durch den Krieg gegangen [waren] wie durch einen Feuerofen“, mussten sie sich ihren psychischen Problemen stellen und in extremer Armut einen Neuanfang versuchen. „Die alte Schwermut des vergangenen langen Soldatenlebens, fürchterliche Erinnerungen an den Krieg, die nun erst heraufkommen, wo man jeden Tag in einem Bett schläft“2. „Wenn nur diese ewigen, bohrenden, widerlichen Sorgen um das tägliche Brot nicht wären. Oft bin ich wirklich fast soweit, daß ich einfach im Bett liegenbleiben möchte, und alles laufen lassen möchte“3. „Mir ist das alles so gleichgültig und erscheint mir nach den Erlebnissen des Krieges und der Gefangenschaft auch ziemlich belanglos, welche Rolle ich in
1 H. Böll, Die Hoffnung ist ein wildes Tier. Briefwechsel mit Ernst-Adolf Kunz 1945-1953 (künftig BBK), hrsg. von H. Hoven, München 1997, S. 11. 2 BBK, S. 18, Brief vom 8. Februar 1946. 3 BBK, S. 22, Brief vom 15. Juli 1946.
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der so sehr erfreulichen menschlichen Gesellschaft spielen soll. Denn ,eine Rolle Spielen‘ ist es ja doch, es ist doch alles lächerlicher Blödsinn“4.
Der Briefwechsel Böll/Kunz ist ein Beleg für den Willen der zwei Heimkehrer, den reinen Überlebenskampf hinter sich zu lassen und im apokalyptischen Szenar der Nachkriegszeit eine Existenz aufzubauen, die ihnen erlauben sollte, an ihr „früheres Leben“ anzuknüpfen. Böll erzählt von der Arbeit in der Schreinerei des Bruders, vom Wiederaufbau des Hauses in der Schillerstraße in der Trümmerstadt Köln; er schreibt über die mühevolle Beschaffung von Brot, Kartoffeln, Tabak und Kaffee, über die ständigen Geldsorgen, über die prekäre Gesundheit: Fragmente eines Lebens, die in die Gestaltung seiner literarischen Figuren einfließen werden. Nur beiläufig erwähnt er das Andauern einer dumpfen Apathie, einer unheilbaren Schwermut, an der auch die Heimkehrer seiner Erzählungen leiden: Darauf musste er nicht näher eingehen, die gemeinsame Vergangenheit war in der Wirklichkeit der Zerstörung und der schrecklichen Erinnerungen noch allzu gegenwärtig, es war etwas „worüber man nicht sprechen kann, außer mit meiner Frau“5. Im Oktober 1945 schrieb sich Böll in einem leidenschaftlichen Brief an Kunz die Qual vom Herzen, dass er dem Leben keinen Sinn mehr zu geben vermochte: „das Leben ist fürchterlich, ich kann es gar nicht begreifen. Tausendmal schon habe ich mich hineingebohrt, um dieses Geheimnis zu sehen, aber es langt niemals. … Oft zerreißen mich Angst und Not und Elend … das Elend ringsum in unserer niedergerrissenen Stadt erdrückt mich jeden Tag aufs neue“6.
Doch trotz der tiefen Niedergeschlagenheit teilt er dem Freund mit, dass er seinen Weg als Schriftsteller machen wolle: „ich habe das Wagnis begonnen und schreibe … im nächsten Jahr hoffe ich Dir einige Ergebnisse vorlegen zu können“7. Wie aus den mit 1946 datierten Manuskripten im Nachlass hervorgeht, hatte Böll aber schon im Mai eine lange Kriegserzählung begonnen, die auf seiner wenn auch nur kurzen Erfahrung an der Ostfront im Jahr 1943 beruhte8. Die BBK, S. 20, Brief vom 2. April 1946. BBK, S. 18, Brief vom 8. Februar 1946. 6 BBK, S. 24, Brief vom 15. Oktober 1946. 7 BBK, S. 24, Brief vom 15. Oktober 1946. 8 Die Erzählung wurde postum unter dem Titel „Der General stand auf einem Hügel“ veröffentlicht, in: Neue Rundschau, 102 (1991), 2, S. 9-31; auch in der Kölner Ausagabe, Bd 2. Bölls Erfahrung an der Ostfront beschränkte sich auf zwei kurze Episoden, denn zwei Mal wurde er verwundet und ins Lazarett gebracht: Drei Wochen auf der Krim im November und Dezember 1943 und zwei Tage in Jassy in Rumänien Ende Mai 1944. Siehe dazu H.Böll, Briefe aus dem Krieg (künftig KB), Köln 2001, Bd. 2. 4 5
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im Nachlass gefundenen Typoskripte eines Romans und 12 unterschiedlich langer Erzählungen9 (die mit 1946 datiert sind und folglich zwischen Mai und Dezember verfasst worden sein müssen) bezeugen, dass Böll trotz der zahlreichen Alltagsschwierigkeiten wie unter einem Zwang schrieb; mit erstaunlichem Eifer, großer Intensität und aus einem emotiven und moralischen Bedürfnis wagte er sich an das heikle Thema seiner Erfahrungen im Nationalsozialismus, im Krieg und während seines Überlebenskampfes in den Trümmern. Am 10. Dezember 1972 machte Böll in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Nobelpreises in Stockholm den Beginn seines langen Weges als Schriftsteller eben mit dem Moment der Heimkehr aus dem Krieg fest: „Der Weg hierhin war ein weiter Weg für mich, der ich, wie viele Millionen, aus dem Krieg heimkehrte und nicht viel mehr besaß als die Hände in der Tasche, unterschieden von den anderen nur durch die Leidenschaft, schreiben und wieder schreiben zu wollen“10.
Noch 1977 kehrt er in einem langen Gespräch mit Jürgen Manthey zu diesem Thema zurück und lässt das Erwachen des Schreibimpulses mit der Empfindung der wiedergefundenen Freiheit nach Krieg und Nationalsozialismus zusammenfallen: „Dieser Impetus, der uns also, mich jedenfalls bewegt hat: sofort hab ich angefangen zu schreiben … Ich glaube, es war der Impetus der Befreiung … Ich wußte, was passiert war … und hab mir keine Illusionen gemacht über den historischen Augenblick 1945. Aber trotz Trümmer, Elend, Schwierigkeiten, Hunger und so weiter, blieb das Gefühl, befreit zu sein, das entscheidende … da hab ich sofort angefangen zu schreiben“11.
Es erstaunt, dass Böll im Rückblick immer wieder den Beginn seiner literarischen Tätigkeit mit dem Kriegsende zusammenfallen lässt; wie man aber bei der Sichtung des Nachlasses feststellen konnte, handelte es sich nicht um einen richtigen „Beginn“, da seine ersten literarischen Versuche auf die Zeit zwischen 1936 und 1939 zurückgehen. Damals hatte er Texte im Umfang von insgesamt etwa 400 Druckseiten geschrieben12. Diese Jugendschriften erwähnte Böll später, erzählte aber, alle seien bei einem Brand verloren gegangen. Und doch kehrt der Autor, wie mehrfach gezeigt wurde13, nach sieben Kriegsjahren 9 H. Böll, Werke. Kölner Ausagabe (künfitg KA), Bd. 2, hrsg. von J.H. Reid, Köln 2002. 10 H. Böll, Rede zur Verleihung des Nobelpreises, in: B. Balzer (Hrsg.), H. Böll Werke. Essayistische Schriften und Reden (künftig ESR), Bd. 2, Köln 1979, S. 622. 11 „Ich habe nichts über den Krieg aufgeschrieben“ in: N. Born / J. Manthey (Hrsg.), Nachkriegsliteratur. Literaturmagazin, 7 (1977), S. 33. 12 KA, Bd. 1, hrsg. von J.H. Reid, Köln 2004. 13 Zu Bölls Jugendschriften siehe auch: H. Vormweg, Heinrich Böll vor 1945, in: B. Balzer (Hrsg.), Heinrich Böll. 1917-1985 zum 75. Geburtstag, Bern u.a. 1992, S. 13-23.
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eben zu diesen Seiten zurück, um sich selbst wiederzufinden und neu zu beginnen. Diese frühen Texte waren aus der Begeisterung für Dostojewskij, Léon Bloy und die französischen Autoren des renouveau catholique entstanden. Der zwanzigjährige Böll hatte als gläubiger Katholik, der aber einer Autorität, die die Würde des Einzelnen erniedrigt und herabsetzt, schon kritisch gegenüber stand, bei diesen Autoren die Worte für ein religiöses Gefühl jenseits aller Prinzipienreiterei und Kompromisse gefunden. Schon in diesen ersten Schriften, auf deren literarischen Wert hier nicht eingegangen wird, zeichnet sich der Wille des Studenten Böll ab, aus der Literatur ein Instrument zu machen, mit dem die dunkle Komplexität der Wirklichkeit durchdrungen werden sollte, mit der die Widersprüche seiner Welt genau betrachtet, aufgezeigt und somit evident, konkret und in ihrer Vielseitigkeit auf den literarischen Blättern erfahrbar gemacht werden sollten. Die Protagonisten dieser Erzählungen sind junge Menschen, die in großer Armut leben, gläubige Katholiken, doch ohne die engstirnige Mentalität der Spießbürgerlichkeit; Künstlernaturen, Ausgestoßene nicht nur wegen ihrer niedrigen sozialen Herkunft, sondern weil sie kritische Stimmen sind gegenüber einer Mentalität, die den Menschen angepasst, unterwürfig und eigennützig sehen wollte. Die Armen, die Religion, die Amtskirche, die sich schon zu sehr mit der politischen Macht eingelassen hatte, die bürgerliche Ordnung mit all ihrer Scheinheiligkeit und die Sexualität sind die Themen dieser Jugendprosa, Projektionen der existentiellen Probleme des zwanzigjährigen Böll, in denen sich schon die zukünftigen thematischen Konstellationen seines „Fortschreibens“ abzeichnen. Nicht nur die Themen und Motive der späteren Werke finden sich ansatzweise in den Erzählungen des Zwanzigjährigen, der sich anschickte, „in einer sich katastrophal pervertierenden Zeit“ Schriftsteller zu werden; nicht nur zeigt sich schon sein Interesse für eine direkte Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit und der Gesellschaft der Zeit, sondern es lässt sich schon in großen Zügen eine Poetik ausmachen, oder zumindest erscheint klar, dass es ihm „um Schreiben [ging] als die allererste menschliche Möglichkeit, Wirklichkeit zu erkunden, ihr auf die Spur zu kommen, sie zunächst sich selbst anschaulich zu machen, ganz ohne ein Schielen aufs Publikum, dem er seine Wirklichkeit gleichwohl auch zum Bewußsein bringen wollte“14. 1945, nach der Heimkehr aus dem Krieg, knüpfte Böll bei seinem Neubeginn an diese ersten literarischen Erfahrungen an; er greift auf die Auffassung von einer Literatur zurück, die aus der ständigen Auseinandersetzung mit der menschlichen und sozialen Wirklichkeit entstehen soll, in die der Autor eingebettet ist, und entwickelt sie in der Überzeugung, dass die Literatur für 14
H. Vormweg, H. Böll, S. 16.
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ihn der Ort sein könne, an dem für „die zukünftige Herstellung menschenwürdiger Lebenssituationen im Alltag von Staat und Gesellschaft“15 gekämpft werden solle. Er weiss noch nicht „wie“, aber er weiss schon, dass das „Was“ sich in der Zerstörung bewegt, im Hunger, in der Angst, der Einsamkeit, der Verzweiflung, dass es auch die Suche nach einem Dach über dem Kopf ist, nach einer guten Nachbarschaft, die Suche nach einer Heimat. Damit will er die existentielle Situation des Menschen aus der damals aktuellen hervortreten lassen, die gegenseitige Abhängigkeit der einzelnen Schicksale sichtbar machen, die moralische Verantwortlichkeit des Einzelnen hinsichtlich seiner Entscheidungen, die sich wellenförmig auf die anderen auswirken, das Gewebe der sich kreuzenden Schicksale aufzeigen als den Humus, auf dem eine solidarischere menschliche Gemeinschaft gepflanzt werden kann und soll. In seinem berühmten Essay „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“ aus dem Jahr 1952 stellt Böll Überlegungen an zu seinen Erfahrungen und denen anderer Schriftsteller unmittelbar nach dem Krieg („wir schrieben also vom Krieg, von der Heimkehr und dem, was wir im Krieg gesehen hatten und bei der Heimkehr vorfanden: von Trümmern“16) und obwohl er in der frühen Nachkriegszeit auf zahlreiche Schwierigkeiten gestoßen war, als er seine Prosatexte über eine angeblich überwundene Wirklichkeit zu veröffentlichen versuchte, verteidigt er hartnäckig seine Literaturauffassung; eine Literaturauffassung, die die Erfahrungen unter dem Nationalsozialismus, im Krieg und in der Trümmerzeit gestärkt hatten, die ihre Wurzeln jedoch in Überlegungen zur menschlichen und sozialen Kondition hatten, die sich im jungen Böll schon vor dem Krieg gebildet hatten. Für den Kriegsheimkehrer Böll bedeutete „wirklich mit Gottes Hilfe ein neues Leben beginnen“ zu können, auf den Buchseiten „alle[m] Irrsinn vergangener Jahre“17 sprachliche Gestalt zu verleihen und Licht zu bringen in das Dickicht von Gewalt, Hass, Angst, Leid, Hilflosigkeit, durch das er gegangen war. Neuanfang bedeutete für ihn, sich bewusst zu sein, was die große Geschichte aus seiner persönlichen Geschichte gemacht hatte und folglich mit offenen Augen auf den Schrecken zu blicken, dem er beigewohnt hatte, und über den Krieg mit seinen Nebenerscheinungen zu schreiben, den Dreck, den Hunger, das Blut, das Leid und den Tod: In den Schriften des Kriegsheimkehrers Böll lässt sich also schon die Überzeugung ablesen, dass der Schriftsteller sich nicht von der Aktualität entfernen dürfe, wenn er das Reale darstellen wolle.
15 K.H. Busse, Zu wahr, um schön zu sein. Frühe Publikationen, in: B. Balzer (Hrsg.), H. Böll. 1917-1985, S. 40. 16 H. Böll, Bekenntnis zur Trümmerliteratur, in: ESR, Bd. 1, Köln 1979, S. 31. 17 BBK, S. 12, Brief vom 19. September 1945.
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Beim Durchblättern der ersten vier Bände der Kölner Ausgabe, in der Bölls Schriften aus den Jahren 1946 bis 1949 enthalten sind18, meint man Einblick zu bekommen in eine Schreibwerkstatt, in der Böll um eine eigene Sprache ringt, die ihm ungeachtet jeglicher ideologischer oder ästethisierender Überlegung zum Gebrauch der Sprache die Möglichkeit geben sollte, seine ganz persönliche Wirklichkeitssicht zum Ausdruck zu bringen, „doch nicht subjektiv, was bedeutet, obwohl gebunden, nicht unterworfen“19. In Bezug auf diese Arbeit schrieb Böll 1948 in einem Brief an Kunz: „Ich werde mir über viele meiner Fehler klar: ich arbeite zu schnell, zu ungeduldig, irgendwie verschwenderisch … diese Burschen verbinden mit mir bestimmte literarische Pläne, eine bestimmte Form, in die sie mich einfach hineinzwängen wollen (die nennen sie ‚verhaltenen Realismus‘), aber ich habe gar keine Lust, ewig ‚verhalten‘ zu bleiben; ich werde bald platzen, vielleicht bin ich schon geplatzt (daher ‚sentimental‘). Nun jedenfalls werden meine neuen Arbeiten anders sein, viel gründlicher, sauberer und mehr durchdacht“ 20.
Wie schon mehrmals in der Sekundärliteratur vermerkt wurde21, hatte der Krieg Bölls Interesse für das Wirkliche nicht brechen können. Im nichtliterarischen Kontext der zahlreichen Briefe an die Angehörigen und die Ehefrau Annemarie, diesen Berichten über das Leben des Soldaten Böll, in denen er Personen und Umfeld beschrieb, scheint er einen „eigenen“ Realismus geübt zu haben. Bei seiner Heimkehr aus dem Krieg konnte Böll also diese Instrumente benützen, um diesem „ganz alterlos[en], ganz namenlos[en], ein[em] unbekannten und unbenannten Geschlecht“22, das die Soldaten für ihn waren, eine Stimme zu verleihen; um über ihr Unglück zu erzählen, über ihre absolute Einsamkeit vor dem Schrecklichen und ihre Todesangst: „Zu abgestumpft und zu mürbe, um noch als Gesamtheit vom Rausch des Angriffs gepackt zu werden … Es war wohl meist Gewohnheit und die Unfähigkeit, als Gesamtheit den Gehorsam zu verweigern, die sie vorwärts trieb; und auch die Ungewißheit, ob der Feind vorne oder der Feind hinten im eigenen Land schlimmer oder besser sei, hielt viele noch im Gespann“23.
Denn das eigentliche Thema der Texte, die Böll in den ersten Monaten nach seiner Heimkehr verfasste, ist der Krieg, den er als individuelles Ereignis 18 Zu den ersten Werken Bölls nach dem Krieg siehe: W. Bellmann, Das literarische Schaffen Heinrich Bölls in den ersten Nachkriegsjahren in: W. Bellmann (Hrsg.), Das Werk Heinrich Bölls. Bibliographie mit Studien zum Frühwerk, Opladen 1995, S. 11-30; K.H. Busse, Zu wahr, um schön zu sein, S. 25-41. 19 H. Böll, Frankfurter Vorlesungen, in: ESR, Bd. 2, S. 35. 20 BBK, S. 101-102. 21 Siehe z.B. H. Vormweg, H. Böll vor 1945. 22 Der General, in: KA, S. 13. 23 KA, S. 21.
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beschreibt, als Erlebnis des Einzelnen, der in eine absurde und tragische Welt geworfen wurde. Bölls Kriegserzählungen, die von allem Anfang an Erzählungen gegen den Krieg sind, beschreiben die Erfahrungen des einfachen Soldaten: Aus nächster Nähe folgt der Blick des Erzählers den durstigen, erschöpften feldgrauen Soldaten, die töten und sich töten lassen, Gefangene sind in einem höllischen Räderwerk; er konzentriert sich auf die Fragmente gemeinsamer Erfahrungen; die Worte, die das Absurde vorzeigen, sind konkret, sind Gerüche, Geräusche, Sinneswahrnehmungen; und die Erzählung entwickelt sich in einem verhaltenen Ton, der ex negativo die wahren Wörter des Todes hervortreten lässt, die sonst von einem heroischen Pathos überlagert sind. Die Texte aus dem Jahr 1946, die Böll ohne Erfolg an verschiedene Zeitschriften schickte24, scheinen in großen Linien den Stufen seines Lebens zu folgen, von der Einberufung zur Wehrmacht bis zur frühen Nachkriegszeit. Dabei benützt er Themen und Motive, die mit zahlreichen Varianten auch in die spätere Prosa Eingang finden sollten: Das Leben des einfachen Soldaten an der Front und in der Schlacht („Der General stand auf einem Hügel“, Mai), die Fahnenflucht („Mitleid“, Oktober, „Der Flüchtling“, November, und „Gefangen in Paris“, Dezember), das Leben in den Trümmern und die Liebe als Hoffnung („Rendezvous in Trümmern“, November, und „Der Schulschwänzer“, Dezember), die Gestalt des Kriegsheimkehrers („Wiedersehen mit B.“, Dezember), die Scheinheiligkeit der Spießbürger und des Klerus („Der Zwischenfall“ und „Veronika“, beide Dezember). Im Roman „Kreuz ohne Liebe“ setzt sich Böll mit dem Thema der Verantwortung des Einzelnen und der historischen Verantwortung des Bürgertums und der Amtskirche gegenüber dem Nationalsozialismus auseinander. Mit diesen Texten hat Böll gleich nach der Heimkehr mühevoll versucht, eine Brücke zur eigenen Vergangenheit zu schlagen: An die Stelle der einfachen Leute in der Jugendprosa, nämlich der Armen, der Leidenden, der Opfer eines von den Mächtigen gespielten Spiels der großen Geschichte, treten die Deserteure, die Überlebenden, die Frauen, die Daheimgebliebenen, an die Stelle der gefährdeten Gesellschaft der großen Wirtschaftskrise tritt die Trümmergesellschaft der Nachkriegszeit. Bölls Blick auf sein „eigentliches Gebiet“ hat sich hier noch nicht dem Einfluss der literarischen Vorbilder seiner Jugend entzogen, in erster Linie 24 In Bölls Briefen an Kunz liest man, dass die Ablehnung der Texte oft mit einer negativen Beurteilung der Form, eines als noch unreif angesehenen Stils begründet worden sei. Noch öfter aber war es die Thematik, die sich auf Erfahrungen und Erlebnisse bezog, die man eigentlich vergessen wollte; Alfred Andersch, der damalige Redakteur beim Hessischen Rundfunk in Frankfurt, drückte es im Juli 1949, als er einige Erzählungen an Böll zurückschickte, ganz unverblümt aus: „Eine Verwendung im Radio … ist bei keiner der Arbeiten möglich, da die technisch geeigneten, also die richtige Länge aufweisenden Erzählungen sich mit Themen befassen, die, augenblicklich gebracht, zu einer Hörer-Revolte führen würden“, in: BBK, S. 408.
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der Menschenauffassung von Léon Bloy25, dessen Lektüre ihn während der Kriegsjahre begleitet und getröstet hatte. Diese Texte sind seine wahre Trümmerliteratur, in der die Bruchstücke seines mit Kriegsbeginn unterbrochenen jungen literarischen Universums wieder aufgenommen worden waren, um zum Fundament seines zukünftigen Werks zu werden. Die Erfahrung im Krieg hatte seinen Entschluss bekräftigt, Schriftsteller zu werden, und zwar ein Schriftsteller, der in Kohärenz und sittlicher Leidenschaft Léon Bloy um nichts nachstehen sollte, wie er in einem Brief von Januar 1942 an Annemarie schrieb: „… dass das wirklich mein Leben und mein Ziel ist, nur zu sagen, meinetwegen nur auf Deutsch zu sagen, was er französisch gesagt hat“26. Schreiben, um Zeugnis abzulegen und ins Gedächtnis zu rufen: Auf den letzten Seiten von „Kreuz ohne Liebe“ treffen sich zwei Freunde, Kriegsüberlebende, in einem „verwüstet[en]“ und „abgebrochen[en]“ Köln. Auf Christophs Frage nach einem Neubeginn antwortet der überzeugte Gläubige Joseph, der persönlich für seine Ablehnung des Nationalsozialismus bezahlt hatte, mit recht programmatischen Worten, die die Richtung anzeigen, die Böll einschlagen wollte: „Beten und arbeiten; uns unserer Freiheit freuen trotz der Gefangenschaft des Hungers; und die Hoffnung auf uns nehmen; und die Wirklichkeit verkünden; jeden Tag unseres Lebens daran denken, daß es kein Traum war, was in diesen sieben Jahren geschehen ist, sondern Wirklichkeit … Wir wollen die Wirklichkeit verkünden“27.
Zum Thema wurde ,Die Wirklichkeit verkünden‘ in der Erzählung „Die Botschaft“, die im August 1947 in der Zeitschrift „Das Karussell“ veröffentlicht wurde: Ein heimgekehrter Soldat überbringt einer Frau die Nachricht vom Tod ihres Mannes, seines Kameraden, wie auch dessen letzte Habseligkeiten. Jahre später, in einem am 13. September 1954 vom NWDR in Köln gesendeten Text, nahm Böll den Begriff der „Botschaft“ wieder auf: „Die Wirklichkeit ist wie ein Brief, der an uns gerichtet ist, den wir aber ungeöffnet liegenlassen. Die Wirklichkeit ist eine Botschaft, die angenommen sein will“28. Eine weitere literarische Entsprechung dieser programmatischen Aussage findet sich in einer Episode des 1992 postum veröffentlichten Romans „Der Engel schwieg“29, 25 G. Sauder, Heinrich Bölls Léon-Bloy-Lektüre: Ursprünge eines radikalen Katholizismus, in: W. Jung / J. Schubert (Hrsg.): ‚Ich sammle Augenblicke‘. Heinrich Böll 1917-1985, Bielefeld 2008. 26 KB, S. 85, Brief vom 9. Januar 1942. 27 H. Böll, Kreuz ohne Liebe, in: KA, Bd. 2, S. 423. 28 H. Böll, Die Zeitgenossen und die Wirklichkeit, in: KA, Bd. 7, hrsg. von R. Schnell, 2006, S. 379. 29 H.Böll, Der Engel schwieg, in: KA, Bd. 5, hrsg. von R.C. Conrad, 2004.
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der zwischen 1949 und 1951 entstanden war; die Mutter des Protagonisten findet in der Post die Einziehungsbefehlskarte und misst ihr anfänglich keine Bedeutung bei; nach längerem Zögern nimmt sie sie schließlich widerwillig in die Hand, als erahne sie den Inhalt: „[Sie] nahm das kleine Stück betippten Papiers in die Hand und nun sah sie plötzlich trotz der Dunkelheit den seltsamen roten Flecken darauf, einen weißen Zettel mit einem roten Rechteck, und in dem roten Rechteck ein schwarzes R wie eine Spinne. Ein unbestimmter Schrecken ergriff sie. Sie ließ die Karte fallen … eine eingeschriebene Postkarte schien ihr etwas äußerst Verdächtiges, das Ding verursachte ihr Angst“30.
Die Episode wird als Erinnerung des Protagonisten erzählt, der bei Kriegsende in seine Heimatstadt zurückkehrt und sich angesichts des Trümmerhaufens, der einmal sein Vaterhaus war, ins Gedächtnis ruft, wie sein Leben als junger Mann geendet und das als Soldat begonnen hatte. Bei seinem Erscheinen 1992, zwei Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung, wurde „Der Engel schwieg“ von den positiven Rezensionen und der Leserschaft als Heimkehrerroman begrüßt, der aber auch als „eine poetische und traurige Geschichte eines Mannes und einer Frau in einer zerstörten Stadt, die überall und jederzeit sein könnte“ gelesen werden könne31. Eine zutreffende Bemerkung, die in einem gewissen Sinn an den Grundgedanken von Bölls Ästhetik des Humanen anknüpft; doch die Umstände der Abfassung und der verhinderten Veröffentlichung des Romans 1951 weisen eher auf eine Nähe zu einem Stoff, der eng verbunden ist mit den persönlichen Erfahrungen Bölls und den Geschehnissen dieser Jahre: Das deklarierte Thema dieses Romans ist nicht der Krieg, sondern es sind die Geschichten derjenigen, die durch den Krieg gegangen sind und durch die Kriegsfolgen weiterhin an den Krieg gemahnt werden. Auch in dieser Hinsicht kann der an der Entstehung des Romans interessierte Leser den Briefen an Kunz viele Informationen entnehmen: „In dieser Zeit … will ich einen neuen Roman fertig haben. Ich muß, muß, obwohl es mir zum Halse heraushängt … Ich habe drei Romane angefangen, aber wenn sie bis auf 30-40 Seiten gediehen waren, war wieder Feierabend, weil ich tage- oft wochenlang unterbrechen mußte“32.
Die durch die großen finanziellen und familiären Probleme verursachten ständigen Unterbrechungen des Schreibens, die zahlreichen, von der Redaktion verlangten Revisionen der einzelnen Kapitel, das gespannte Verhältnis zum Verleger, die Ratschläge der anderen Lektoren, er solle doch die Kriegsthe30 31 32
Ebd. S. 39. U. Greiner, Nicht versöhnt, in: Die Zeit, 28. August 1992. BBK, S. 221, Brief vom 4. August 1949.
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men sein lassen, führten dazu, dass Böll selbst vom Ergebnis nicht mehr so überzeugt war und um die Rückerstattung des Typoskripts bat, nachdem die Veröffentlichung schon angekündigt worden war. Im Nachlass ist ein kurzer Textvorschlag von Böll aufbewahrt, nach dessen Muster die Ankündigung des geplanten Romans verfasst wurde. Böll schrieb: „Die Handlung beginnt am Tage der Kapitulation und blendet im 2. Kapitel zum Anfang des Krieges zurück; es wird nicht von dem Krieg erzählt, kaum etwas von der Nachkriegszeit, diesem Dorado des Schwarzhandels und der Korruption: es zeigt nur die Menschen dieser Zeit, ihren Hunger und berichtet von einer Liebesgeschichte, klar und spröde, die der Phrasenlosigkeit der ‚heimkehrenden‘ Generation entspricht, die weiß, dass es keine Heimat auf dieser Welt gibt“33.
Bölls Versuch, den Leser zu beruhigen, scheint nur der Form halber erfolgt zu sein; aus den „klar und spröde“ vorgebrachten Worten spricht ein unbarmherziges, ausgesprochen kritisches Urteil an der zeitgenössischen Gesellschaft („Dorado des Schwarzhandels und der Korruption“). Ganz offensichtlich will Böll nicht darauf verzichten, die existenzielle Situation der „heimkehrenden Generation“ ins Gedächtnis zu rufen; ohne dass Kriegsereignisse beschrieben werden müssten, ist in den Bildern dieses Romans, in denen sich Fragmente des zeitgenössischen Lebens verdichten, ja ohnehin schon alles gesagt, was zu sagen ist. „Der Engel schwieg“ erscheint als summa der Themen, der Gestalten und der Motive, die Böll bis dahin mit unzähligen Variationen in seinen Prosawerken behandelt hatte, wobei er alle möglichen Facetten ausprobierte, die die Existenz in jenen Jahren „voll biographischer und gesellschaftlicher Unsicherheiten, falscher Hoffnungen und echter Überzeugungen, voll materieller Not und menschlichem Elend“34 annahm. Der Roman beginnt mit einem in Hell und Dunkel gehaltenen, gleichsam expressionistischen Bild, einer männlichen Gestalt, die unter den Trümmern einer Stadt herumgeht, während ferner Feuerschein noch auf Brände hinweist: „Der Feuerschein aus dem Norden der Stadt war stark genug, ihn die Buchstaben über dem Portal erkennen zu lassen … dann ging er langsam weiter, seinem eigenen Schatten entgegen, der oben an einer unversehrten Wand höher stieg und wuchs und breiter wurde, ein schwaches Gespenst mit schlackernden Armen. Das sich aufblähte und dessen Kopf schon über den Rand der Mauer hinweg ins Nichts gekippt war“35.
Die Gestalt, einer von vielen Schatten, ist namenlos, nur das Personalpronomen kennzeichnet sie als männlich; dieses „schwache Gespenst mit 33 34 35
In: KA, Bd. 5, S. 354. K.H. Busse, Zu wahr, um schön zu sein, S. 25. Der Engel, S. 2.
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schlackernden Armen“ macht in der Dunkelheit „eine Gestalt“ aus, unbeweglich in einer Nische mit etwas in der Hand, das ein Stock sein könnte: Die Bewegungslosigkeit und die Stille vermitteln ein Gefühl des Unbehagens und der Angst, im Widerspruch mit der Hoffnung, auf einen anderen Menschen zu treffen, was am schüchternen „Hallo“ des sich Nähernden abgelesen werden kann. Die Gestalt ist die Statue eines Engels; beim Näherkommen hält der Blick auf dem Gesicht aus Stein und versinkt „in den blinden Augenhöhlen“36; die Statue ist bedeckt mit Dreck und Staub aus den Ruinen, den der Unbekannte wegbläst und vorsichtig abputzt: Zum Vorschein kommt eine Gipskopie in grellen Farben, „de[m] grausame[n] Lack der Frömmigkeitsindustrie“37. Dieser unerwartete Beginn weist den Leser unverzüglich auf die doppelte Erzählebene hin: Auf der ersten Ebene werden die konkreten Elemente des Raums aus der Nähe betrachtet, des Raums, in dem sich die Personen bewegen, die Gegenwart desjenigen, der eben in der Zeit der Stille und des Todes in die zerstörte Stadt zurückgekehrt ist; die zweite Ebene ist die symbolische, in der der Blick die darunter liegende Wirklichkeit bloßlegt. Wie der Leser vom Protagonisten selbst erfährt, beginnt die Erzählung am 8. Mai 1945, dem Tag der Kapitulation, und wird in der dritten Person von einem Erzähler geführt, der jeweils den Blickwinkel der einzelnen Gestalten auf die Gegenwart einnimmt. Die unmittelbar zurückliegende Vergangenheit des Kriegs und des Nationalsozialismus ist nie direkt Thema, aber eben weil sie beschwiegen wird, nimmt man sie als allgegenwärtig wahr, in den Situationen, den Gedanken und den Handlungen der Gestalten, sie ist der Rahmen, der die Erzählung zusammenhält und ihren Sinn vermittelt. Hans Schnitzler kommt aus dem Krieg nach Hause zurück – und aus dem Tod: Als Deserteur hätte er hingerichtet werden sollen, doch im letzten Moment gibt sich ein lebensmüder Offizier der Wehrmacht für ihn aus. Die Rückkehr in seine Heimatstadt wird als Abstieg in die Stadt der Toten, in die Katakomben beschrieben: Der erste Ort, an den er gelangt und an dem er auf die gespensterhafte Figur des Engels stößt, ist ein halb zerbombtes Kloster, in dem man ein Notspital eingerichtet hat, ein Ort des Leidens und des Todes, aber auch der Ort, an dem Hans Brot bekommt; das für Böll symbolträchtige Brot wird hier mit einer Wollust beschrieben, die die Lebensmittelknappheit und den von vielen erlittenen Hunger sinnfällig macht: „Er brach schnell eine große Kante von dem Brot ab. Sein Kinn zitterte und er spürte, daß die Muskeln seines Mundes und seine Kiefer zuckten. Dann grub er die Zähne in die unebene weiche Bruchstelle und aß … es schmeckte so süß. Er
36 37
Ebd. Ebd., S. 23.
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grub immer weiter mit seinen Zähnen … Während er mit der rechten Hand aß, hielt er mit der linken den Brotlaib fest“38.
Am folgenden Morgen steht der Kriegsheimkehrer vor den Resten seines Vaterhauses: „Die Stelle, an der das Haus gestanden hatte, fand er sofort, vielleicht war es die Zahl der Schritte, die von der Straßenkreuzung noch zu gehen waren, oder irgend etwas an der Anordnung der Baumstümpfe, die einmal eine hohe und schöne Allee gebildet hatten: irgend etwas veranlaßte ihn, plötzlich haltzumachen, nach links zu sehen, und da war es: er erkannte den Rest des Treppenhauses, stieg über die Trümmer langsam dorthin: er war zu Hause“39.
Das den Augen Unsichtbare wird auf einer tiefer liegenden Ebene identifiziert, denn der Ort ist auch die Welt der Kindheit, der man angehört hat und immer angehören wird; in seiner Erinnerung kehrt Hans Schnitzler zum Tag seiner Einziehung zurück, in sein Zimmer, zu den Düften aus der Küche, zur Wärme der Hand der Mutter, zu ihrem Gesicht, in dem sich das schmerzliche Bewusstsein vom bevorstehenden Krieg spiegelt; und die Leere, die das zusammengestürzte Haus gelassen hat, wird ausgefüllt von der Präsenz einer Heimat, die es nicht mehr gibt. Im folgenden Kapitel führen die Schritte des Heimkehrers den Leser durch die Mondlandschaft der zerbombten Stadt bis zum Haus des Offiziers, mit dem er das Leben getauscht hat: „Die meisten Straßen waren nicht zu begehen. Schutt und Dreck türmten sich bis zu den ersten Stockwerken der leergebrannten Fassaden, und aus manchen Straßenzügen kam noch Qualm in großen dichten schweren Schwaden. Er kletterte vorsichtig über die Trümmer in die Rubensstraße hinein. Irgendwo schrie ein Säugling hinter den Fenstern, die mit schmutzigen Brettern verschalt waren“40.
Der folgende Weg führt Hans zum Haus von Regina, wo er Unterschlupf finden wird, Verständnis, Wärme und mit der er sich ein auf Respekt und wechselseitiger Solidarität beruhendes Zusammenleben vorstellen kann. Erschöpfung, Lethargie, Apathie, Orientierungslosigkeit, ein ständiges Gefühl von Entwirklichung bilden den Seelenzustand des schwermütigen Heimkehrers, an dem Böll die realen Gefühle (Schuld, Wut, Frustration, Verzweiflung, unter der Oberfläche einer fieberhaften Wiederaufbautätigkeit aufzeigt41; Armut, Hunger, Krankheit, Tod bilden die existentielle Situation, die Böll an den Massen der Entrechteten aufzeigt, die auf eine „tierische“ Ebene zurückgeworfen nur mehr ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen trachten: 38 39 40 41
Ebd., S. 25. Ebd., S. 35. Ebd., S. 50. Vgl. S. Hermanns, Trümmer (in) Erinnerung, Bielefeld 2006, S. 65-99.
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„Sie kauten unermüdlich, es schien ihm endlos wie sie kauten, … sehr lange Zeit hörte er dieses trockene kaninchenhafte Muffeln, mit dem sie Brot aßen im Dunkel … Zuletzt tranken sie: er hörte sehr deutlich das glucksende Geräusch, wenn sie aus der Flasche tranken … Essen schien keine schöne Notwendigkeit mehr, sondern ein finsteres Gesetz, das sie zwang, zu verschlingen, um jeden Preis zu verschlingen“42.
Über eben diese Geschöpfe schrieb er am 8. Februar 1946 an Kunz: „Ach, es ist qualvoll, sich mit diesem völlig demoralisierten, selbstsüchtigen, geschwätzigen Gesindel herumzuschlagen, das man vielleicht Volk nennen könnte“. Die verhinderte Veröffentlichung des Romans „Der Engel schwieg“ brachte Böll wahrscheinlich dazu, in seinem berühmten Essay „Bekenntnis zur Trümmerliteratur“ die Verteidigung der „Trümmerliteratur“ in Angriff zu nehmen. Der Essay wurde im Mai 1952 in der Zeitschrift „Die Literatur“ und im Dezember des selben Jahres in leicht veränderter Fassung unter dem Titel „Das Auge des Schriftstellers“ in „Deutsche Studentenzeitung“ veröffentlicht. Am 23. Juli hatte ihn Böll selbst bei einem der sogenannten „Mittwochsgespräche“43 in der Wartehalle des Kölner Bahnhofs öffentlich gelesen; Titel der Veranstaltung war: „Warum Trümmerliteratur?“. Im Roman, der nach der Währungsreform geschrieben wurde, ist der Heimkehrer nicht mehr bloß Zeuge und Sprecher einer verlorenen und durch das Trauma sprachlos gewordenen Generation, sondern wird zur Gedächtnisfigur im Rahmen der Produktion eines Autors, der überzeugt war, dass die Literatur unvergesslich zu machen habe, „was die Geschichte so gern vergißt: Die Reibung, die der einzelne zu ertragen hat, indem er die Geschichte macht und sie erlebt“44.
Ebd., S. 79. Die Lesung und die darauf folgende Debatte wurden am 29. September 1993 vom Westdeutschen Rundfunk ausgestrahlt, das Protokoll der Veranstaltung findet sich in: KA, Bd. 6. 44 H. Böll, Die Stimme Wolfang Borcherts in: ESR, Bd. 1, S. 164. 42 43
„Ich weiß, ich werde alles wiedersehn, Und es wird alles ganz verwandelt sein.“ Carl Zuckmayers Rückkehr nach Deutschland Von Cecilia Morelli
„Es sind nicht die Ruinen, nicht der Wiederaufbau, nicht die schwere Aufgabe vor uns, von denen ich sprechen möchte … Ich erzähle die Geschichte, die mich erschüttert hat – so dass ich sie erzählen muss. Es ist die Geschichte von Menschen, wie ich sie gesehen habe, wie sie mitten in unserer zivilisierten Welt im Winter 1946/47 lebten und starben“1.
Im April 1933 reist Carl Zuckmayer von Berlin nach Hennendorf im Salzburgischen Land ab. Es ist für ihn keine ungewöhnliche Reise: Seit 1926 besitzt der Autor eine alte Mühle im österreichischen Dorf, wo er lange Monate mit seiner Familie zu verbringen pflegt und seine schriftstellerische Tätigkeit am liebsten und produktivsten betreibt. Doch beginnt in jenem Frühling nach Hitlers Machergreifung für Carl Zuckmayer das Exil. Die Aufführung seiner Werke war von den nationalsozialistischen Behörden sowohl in Deutschland als auch im Ausland schon verboten worden und Zuckmayers Stücke gehörten zu den Büchern, die am 10. Mai 1933 in Flammen gesetzt wurden2. In den ersten Jahren zeigt sich das Exil allerdings nicht in seiner völligen Härte: Der vertraute und geliebte Zufluchtsort kann noch dazu beitragen, das Gefühl der Entwurzelung zu bändigen. Es sind zwei weitere Etappen, die Carl Zuckmayer das Elend der Heimatlosen stark vergegenwärtigen: Die Flucht in die USA (Mai 1939) und der düstere Ablauf des Zweiten Weltkrieges. Die Hoffnung auf eine mögliche Heimkehr verblasst allmählich und endgültig: Während der ersten Jahre des Konflikts überschlagen sich die Nachrichten 1 C. Zuckmayer, Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika, hrsg. von G. Nickel, J. Schrön und H. Wagener, Frankfurt a.M. 2007, S. 70-71. 2 J. Becker, Carl Zuckmayer und seine Heimaten. Ein biographischer Essay, Mainz 1989, S. 41.
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über die siegreichen Feldzüge der deutschen Armee und wecken das Gespenst eines von den Nazis beherrschten und für die Exilierten weiterhin gesperrten Europas. Als es aber deutlich wird, dass die Alliierten den Krieg gewinnen werden, verknüpft sich für Zuckmayer – wie für viele andere, die sein Schicksal teilen – die Erwartung der deutschen Niederlage mit der Angst vor ihren ungeheuren Folgen: Was ohnehin das Ende des Naziregimes bedeuten wird, wird ein maßloses Unglück für Deutschland und das deutsche Volk mit sich bringen. Ließe sich auch nun eine physische Rückkehr nach Deutschland als möglich erachten lassen, so bliebe der Zugang zur Heimat wie man sie einst gekannt, erlebt und geliebt hat, dennoch eine unerreichbare Chimäre: „Die Fahrt ins Exil ist ‚the journey of no return‘. Wer sie antritt und von der Heimkehr träumt, ist verloren. Er mag wiederkehren – aber der Ort, den er dann findet, ist nicht mehr der gleiche, den er verlassen hat, und er ist selbst nicht mehr der gleiche, der fortgegangen ist. Er mag wiederkehren, zu Menschen, die er entbehren mußte, zu Stätten, die er liebte und nicht vergaß, in den Bereich der Sprache, die seine eigene ist. Aber er kehrt niemals heim“3.
Nachdem Carl Zuckmayer sich während der langen Kriegsjahre bemüht hatte, ein neues Leben in den USA anzufangen, schenkte ihm der Frühling 1945, zusammen mit der willkommenen Nachricht vom Kriegsende, das glühende Verlangen der Heimkehr nach Deutschland. 1946 bewirbt sich der Schriftsteller um eine Stelle bei der Civil Affairs Division im amerikanischen Kriegsministerium, in der Hoffnung, sich auf diesem Weg eine Reise nach Deutschland zu ermöglichen4. Am 4. November 1946 beginnt tatsächlich für ihn eine fünfmonatige Reise, die ihn als Kulturbeauftragter der Reorientation Branch in die wichtigsten Städte Deutschlands und Österreichs führt: Er soll für die amerikanische Regierung Informationen zum Stand der kulturellen Institutionen in diesen Ländern sammeln und Vorschläge zu einer Erneuerung des geistigen Lebens unterbreiten, die der re-education des deutschen Volkes nach der jahrelangen Diktatur und dem Krieg nützlich sein konnten. So entsteht Zuckmayers „Deutschlandbericht für das Kriegsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika“, der zugleich einem Plädoyer für Deutschland ähnelt und Zeugnis von der überwältigenden Begegnung des Schriftstellers mit seiner alten und geliebten Heimat ablegt. 3 C. Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir. Erinnerungen, Frankfurt a.M. / Hamburg 1969, S. 389. 4 In seiner Autobiographie klärt Zuckmayer auf, welche Schwierigkeiten sich damals seinem Traum widersetzten: „… es war in den ersten Nachkriegsjahren fast unmöglich, nach Deutschland zu kommen, wenn man nicht zu den Truppen der Besatzungsmächte gehörte oder von diesen in einem besonderen Auftrag zugelassen war. Deutschland und Österreich waren unterm Besatzungsstatut von der Welt abgeschlossen, es konnte nur in den seltensten Fällen und unter schwierigen Bedingungen jemand von dort aus- oder dorthin einreisen“, C. Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir, S. 456.
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Hier soll unsere Aufmerksamkeit vor allem diesem Text gelten, da er ebenso vielfältige und differenzierte Aspekte seiner Verarbeitung dieser so wichtige Reise bietet wie seine Einstellung zum Land erkennen lässt, das ihn einmal vertrieben und ausgebürgert hatte. Zuckmayer ist sich nach der ersten Wiederbegegnung mit dem Nachkriegsdeutschland der Schwierigkeiten und heimtückischen Fallen wohl bewusst, die dem geistigen und kulturellen Wiederaufbau hinderlich zu sein drohen. Diese werden in seinem Bericht minutiös und kritisch wiedergeben: die größere materielle Not, die die seelische verschärft, die Verwirrung eines Volkes, in dem die Ideologie der nationalsozialistischen Vergangenheit nicht ausgestorben ist, die Sonderlage der jüngeren Generation, die dieser Verwirrung besonders ausgeliefert zu sein scheint. „Was wir den Deutschen heute antun, werden wir uns selbst antun“5, ermahnt Zuckmayer die amerikanischen Regierungsbehörden, die entscheidende Qualität jener Zeit betonend. Und doch bemüht er sich einen Weg zur Durchführung des Auftrags aufzuzeigen, mit dem die zivilisierte Welt6 konfrontiert wird. Ermutigende Signale, so lässt sich der Haupteindruck seiner ersten Reise in Nachkriegsdeutschland zusammenfassen, sind vorhanden. Oder, um es mit den Worten Dieters – eines jungen „Geschäftsmanns“ vom Frankfurter Schwarzmarkt, der für sich eine ganz andere, anständigere Zukunft plant – „Wir kommen aus dem Dreck heraus“7. Diese Art konstruktiven Optimismus, der die Komplexität der Lage und der bevorstehenden Aufgabe nicht übersieht, sich aber von ihr nicht beirren lassen will, beseelt den gesamten Bericht. Der Text überrascht durch Lebensgenuss8; er enthüllt auf diese Weise seine Vielseitigkeit: wo man vielleicht einen bürokratisch verfassten Bericht erwartet hätte, findet man ein literarisches Produkt, das sich schwer in eine bestimmte Gattung einordnen lässt. Merkmale von Reiseliteratur, Tagebuch und Reportage verschmelzen miteinander in eine anekdotische Form; die Erzählung vom Nachkriegsdeutschland verwandelt sich hier in die Erzählung von Menschen, die dieses erschütterte Land bewohnen. Zuckmayers Bericht liefert dem (bewusst angesprochenen amerikanischen aber auch dem vielleicht unerwarteten heutigen) Leser ein Mosaik von verschiedenen Schicksalen, die für viele andere deutsche Schicksale stehen, Splitter schmerzlicher Tatsachen, C. Zuckmayer, Deutschlandbericht. S. 76. Ebd. 7 Ebd., S. 155. 8 Die schätzenswerte literarische Qualität Zuckmayers Bericht wurde auch in den meisten Rezensionen hervorgehoben, die den Text kommentierten; dazu vgl. G. Scholdt, Zuckmayers in neuer Sicht, in: G. Nickel (Hrsg.), Carl Zuckmayer – Alexander Lernet-Holenia Briefwechsel und andere Beiträge zur Zuckmayers Forschung, Wallstein 2005, S. 377-397. 5 6
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die auf eine weitere, kompliziertere, nuanciertere Wirklichkeit hinweisen. Der Stil ist schlicht und fesselnd, das Werkzeug eines Autors, der als Beobachter nach Deutschland geschickt wurde und keineswegs auf seine erzählerische Begabung verzichtet: manche Stellen scheinen zu einem Roman, oder einer autobiographischen Schrift zu gehören – so, zum Beispiel, beginnt die Einleitung zum Bericht: „Unser Flugzeug landete auf dem Rhein-Main-Flughafen in der Nähe von Frankfurt, und man sagte uns, daß der Berliner Flughafen wegen schlechten Wetters geschlossen sei. Es war ein Sonntagnachmittag im November. Feuchter Nebel bedeckte die Ruinen mit einem blassen, gespenstischen Licht. Frankfurt war die erste Großstadt, die ich als Kind gesehen hatte. Jetzt war es die erste Stadt, die ich in Trümmern liegen sah. Eine Frau beobachtete mich, wie ich bewegungslos in der Mitte dessen stand, was von Römerberg, dem berühmten historischen Platz in der Altstadt, noch übrig war, und auf die Ruinen starrte. ‚Ja‘, sagte sie in dem Dialekt, den ich in meiner ganzen Kindheit gehört hatte, ‚so haben wir’s ja gewollt – und so ist es gekommen‘“9.
Schon an dieser Stelle sind einige der wesentlichen Charakteristiken und Themen Zuckmayers Bericht erkennbar: die bildhafte Sprache, die kurze Nahaufnahmen vom Nachkriegsdeutschland liefert, die Begegnung mit den Menschen, die heikle Frage der Verantwortung des deutschen Volkes für die Gräuel des Zweiten Weltkrieges, die zentrale Figur Zuckmayers in der Ökonomie seiner Erzählung. In den verschiedenen Etappen seiner Reise lernt der Schriftsteller viele Menschen kennen und trifft alte Freunde wieder, die überlebt haben. In seinem Bericht strömen die Eindrücke, die Geschichten, die Fragen, die solche Begegnungen mit sich bringen und die immer von Zuckmayer verarbeitet werden. Der Text wird auf diese Weise mit Gestalten wie dem Sohn von Zuckmayers ehemaligem Chauffeur belebt, der sich mit vier weiteren jungen Zahnärzten in den Überresten eines Hauses in Berlin eine Praxis eingerichtet hat, oder Frau N., deren Mann wegen „Hochverrates“ von den Nationalsozialisten hingerichtet wurde, und die – wie viele andere – jetzt keine Hilfe von den Behörden bekommt, oder dem alten Freund Peter Suhrkamp, der wie durch ein Wunder die Haft in einem Nazi-Konzentrationslager überlebt hat und nun trotz einer schweren Erkrankung und unter äußerst schwierigen Lebensbedingungen versucht, seine verlegerische Arbeit fortzusetzen. Es meldet sich aber auch Jolanthe zu Wort, die hübsche Kellnerin, die keinen deutschen Freund haben möchte und an ihrem freien Abend in ein Berliner Nachtlokal geht, um „die feinen Herren“ kennenzulernen (alliierte Offiziere, die sie später mit in ihr Elternhaus bringt), oder die Wirtin Doris
9
C. Zuckmayer, Deutschlandbericht. S. 69.
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von M. – früher einmal eine Schauspielerin – die entdeckt hat, dass ihr Sohn stiehlt und nicht weiß, was sie dagegen unternehmen kann. Zuckmayers Text verleiht dem deutschen Volk Gesichter, Namen, individuelle Stimmen, damit es für den amerikanischen Leser seines Berichtes kein abstraktes, entferntes und fremdes Wesen bleibt. Der Erzählstil des Intellektuellen verkörpert den ersten Grundsatz seines Vorschlags für ein erneutes, besseres Deutschland: die gegenseitige Kommunikation zwischen Deutschen und den Besatzungsbehörden. Während seiner Reise kann Zuckmayer feststellen, wie groß und gefährlich der Abstand zwischen den zwei Seiten ist. Aus diesem Grund denkt er sich eine Rolle als Mittler zwischen zwei verschiedenen Kulturen, Mentalitäten, Erfahrungskomplexen und Nachkriegslagen aus. In der Zeit heißer Debatten über eine vermeintliche kollektive deutsche Schuld, die sich mit der Frage eines moralischen und kulturellen Wiederaufbaus vom zerbombten und erniedrigten Deutschland zu befassen versuchte, und die – wie bekannt – viele deutsche Emigranten harte Urteile gegenüber der ehemaligen Heimat aussprechen sah10, war Zuckmayers Einstellung eine andere: nicht als Richter wollte er nach Deutschland zurück, sondern als ein Helfer, dem bewusst ist, dass es viel zu tun gibt: „Deutschland ist schuldig geworden vor der Welt. Wir aber, die wir es nicht verhindern konnten, gehören in diesem großen Weltprozess nicht unter seine Richter. Zu seinen Anwälten wird man uns nicht zulassen. So ist denn unser Platz auf der Zeugenbank, auf der wir Seite an Seite mit unseren Toten sitzen, und bei aller Unversöhnlichkeit gegen seine Peiniger und Henker, werden wir Wort und Stimme immer für das deutsche Volk erheben“11.
In seinem Bericht entwickelt Zuckmayer eine raffinierte rhetorische Strategie, die seiner Sache dienen soll und sowohl strukturelle als auch thematische Elemente miteinander verbindet. Um die notwendigen Bedingungen für eine erfolgreiche „Begegnung“ deutscher und amerikanischer Seiten auf gemeinsamem Boden zu schaffen, ist die Arbeit an zwei Fronten unverzichtbar. Der Schriftsteller erzählt an verschiedenen Stellen ausführlich, wie er sich vor allem mit Jugendlichen über sein Leben in den USA unterhält und die Werte von Freiheit und individueller, autonomer Selbstbestimmung lobt, die er während seines Exils als für die amerikanische Gesellschaft kennzeichnend zu schätzen gelernt hat. Andererseits bemüht er sich auch immer wieder darum, seinem amerikanischen Leser zu unterstreichen, wie hoch das Potential für eine ausgeglichene und intelligent geführte Umerziehungspoli10 Dazu vgl. G. Scholdt, Was soll nur aus diesem Deutschland werden? Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller zwischen 1938 und 1949, in: G. Nickel (Hrsg.), Literarische und Politische Deutschlandkonzepte 1938-1949, Göttingen 2004, S. 11-45. 11 C. Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir, S. 452, und zitiert auch in G. Scholdt, Was soll nur aus diesem Deutschland werden?, S. 41.
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tik im Nachkriegsdeutschland sei. Wie aus mehreren der in seinem Bericht erzählten „Schicksale“ zu entnehmen ist und auch klar in den Überlegungen des Erzählers formuliert wird, seien die meisten Deutschen vom Nationalsozialismus angewidert und verlangten nach dem Gräuel des Krieges nach einem neuen Anfang. In dieser Perspektive sind die ständigen Hinweise auf einen richtigen Kulturhunger anzusiedeln, der nicht weniger als der körperliche Hunger die Nachkriegszeit in Deutschland bestimmt. Als Mann des Theaters und Kulturbeauftragter schenkt Zuckmayer diesem Aspekt selbstverständlich seine größte Aufmerksamkeit: er berichtet von einer lebhaften Theaterwelt, die sich von allen möglichen konkreten Schwierigkeiten, Theater zu machen und zu besuchen, nicht entmutigen lässt und für die geistige Vitalität der Deutschen spricht. Der Schriftsteller will den amerikanischen Behörden auch „das andere Deutschland“ zeigen, das Deutschland des Widerstands und der Nazigegnerschaft, das Land derer, die vor Kriegsende die Diktatur bekämpft haben und jetzt an einer Zukunft demokratischer Freiheit mitarbeiten möchten: „Sie beklagen sich nie; sie halten es für absolut gerecht, dass sie die Folgen des Kriegs und der Niederlage mit allen anderen Deutschen mittragen müssen; sie sind voller intellektueller, künstlerischern und geistiger Interessen und Ideen; sie werden ihr Leben lang für Freiheit und Anständigkeit kämpfen; und sie glauben, dass wir ihnen dabei helfen wollen“12.
Vielsagend erinnern die Stichworte „Anständigkeit“ und „Freiheit“ hier an die geschätzten Seiten der amerikanischen Erfahrung. Zuckmayer tritt offensichtlich als Verteidiger seiner deutschen Heimat auf, und dies nicht, weil er ihre Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg unterschätzt oder zu mindern sucht13. Den Blick auf Morgen, auf einen nicht nur materiellen Wiederaufbau gerichtet, will er beweisen, dass es zwischen den „zwei Welten“ der Besatzungsarmee und des besiegten Volkes eine Brücke von gemeinsamen Werten und Zielen geben kann, die von beiden Seiten begehbar ist und zur effektiven Mitarbeit an einem gemeinsamen Projekt führen kann. Auch die prominente Rolle, die die deutsche Jugend in diesem Bericht spielt, und Zuckmayers klar geäußerte Stellungsnahme gegen die herkömmliche Auffassung einer „verlorenen Generation“, tragen zu seinem Vertrauen bei, dass man eine positive Wende in Nachkriegsdeutschland bewirken kann. Zuckmayer, ein Deutscher mit amerikanischer Staatsbürgerschaft, ein bekannter Theaterautor, der der deutschen Literatur und Kultur angehört C. Zuckmayer, Deutschlandbericht. S. 87. Zu diesem Punkt vgl. G. Scholdt, Was soll nur aus diesem Deutschland werden? Stellungnahmen deutschsprachiger Schriftsteller zwischen 1938 und 1949, in: G. Nickel (Hrsg.), Literarische und Politische Deutschlandkonzepte 1938-1949, Göttingen 2004, S. 11-45. 12 13
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und in den schweren Zeiten des Exils die USA kennen gelernt und dort die Chance zu einem neuen Leben dankbar genutzt hat, bietet sich als ideeller Mittler an zwischen der amerikanischen Regierung und dem deutschen Volk, als jene so notwendige Brücke, die bereits erwähnt wurde. Der Autor versucht keineswegs seine Position als beobachtendes, nachdenkendes und schreibendes Subjekt zu tarnen – im Gegenteil. Die Rhetorik des Mittlers ist eng mit der des Zeugen verbunden: im „Deutschlandbericht“ werden mehrere Episoden durch Ausdrücke eingeführt, die das Dasein des Intellektuellen und seine Begegnungen mit der jeweiligen Person hervorheben und den ‚Akt des Erzählens und Hörens‘ bezeichnen14. Zudem begnügt sich der Text nicht mit der Wiedergabe von dem, was der Theatermensch auf seiner Reise erfahren hat: Der Bericht bietet oft die Erzählung der Erzählung, die Darstellung von den Dialogen zwischen dem Mittler/Zeugen und seinen Gesprächpartnern. Auf diese Weise ergibt sich die Notwendigkeit der Kommunikation zwischen Amerikanern und Deutschen auf der Ebene wünschenswerter Vorsätze und zeigt sich als eine konkrete, exemplarisch verwirklichte Möglichkeit. Zuckmayers rhetorische Strategie gilt vor allem dem effektiven Adressaten seines Berichts, der Reorientation Branch, Civil Affairs Division des amerikanischen Kriegsministeriums, der an mehreren Stellen in einem „wir“ auftaucht, das den Autor ‚und‘ seinen amerikanischen Leser umfasst, ihre gemeinsame Interessen besiegelnd. Ist der Dialog zwischen dem Schriftsteller und den alten und neuen deutschen Bekannten eines der wichtigsten Leitmotive im Text, so kommt einem der Bericht selbst als eine Fortsetzung der konstruktiven Auseinandersetzung mit der amerikanischen Behörden vor, die schon in Deutschland und während der Reise angefangen hat15. Zuckmayers Glaubwürdigkeit als Experte für deutsche Kultur und geistiges Leben bedarf keiner spezifischen Beweise und wird durch den ihm erteilten Auftrag implizit anerkannt. Der Schriftsteller verspürt aber das Bedürfnis, der Adoptivheimat gegenüber deutlich seine Treue auszusprechen. Wie bereits erwähnt, bemüht er sich vor allem, jungen Leuten seine Erfahrung mit der 14 Nur einige Beispiele seien hier zitiert: „Da ist Frau von Hassel, die Witwe des früheren Botschafters von Hassel … Sie zeigte mir die verbeulten alten Teekästen, in denen sie sein politisches Tagebuch versteckt und dann unter den Bäumen im Garten vergraben hatten, und ich sah die Seiten, die in einer klaren, gerade Handschrift abgefasst waren, manche von ihnen aufgeweicht und von nasser Erde befleckt“, S. 102; „Aber ich habe auch mit solchen Menschen gesprochen, deren Namen nie in Zeitungen erwähnt wurden“, S. 108; „Ich war dort“, S.153 [eigene Hervorhebung]. 15 Viel Raum wird in Zuckmayers Bericht den Gesprächen des Intellektuellen mit amerikanischen Offizieren gewährt, die im Feld „Deutschland“ tätig sind. Auch solche Begegnungen fügen sich in das rhetorische Komplex einer möglichen, unverzichtbaren Kommunikation und werden vom Autor stets als Gelegenheiten positiver Konfrontation und wechselseitiger Bereicherung skizziert.
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amerikanischen Wertvorstellung zu vermitteln, was natürlich sowohl die Möglichkeit einer gegenseitigen Verständigung zwischen Deutschen und der US-Besatzungstruppe als auch Zuckmayers Lage dem amerikanischen Adressaten gegenüber verstärkt. Besonders bemerkenswert ist in dieser doppelten Hinsicht die Episode der Pressekonferenz in Frankfurt, in dem dem Mann des Theaters die „Gretchenfrage“16 gestellt wird: „‚Kehren Sie für immer zurück? Oder sind Sie kein Deutscher mehr?‘ … ‚Wenn man amerikanischer Staatsbürger wird‘, sagte ich, ‚schwört man einen Eid … Ich habe den Eid geschworen, nicht nur, weil die Vereinigten Staaten mir Zuflucht gewährten, als ich von meinem eigenen Volk vertrieben und heimatlos gemacht wurde, sondern auch, weil das Land mir die Chance bot, zu einer Gemeinschaft freier Menschen zu gehören, für die Rechte freier Menschen einzustehen und zu kämpfen, die in keinem anderen menschlichen Dokument so gut formuliert sind wie in der amerikanischen Verfassung … Ich verleugne meine Abkunft, meine Muttersprache und meine Verwandte nicht. Das braucht kein Amerikaner zu tun. Aber wenn Sie eine einfache Antwort auf Ihre Frage haben wollen, dann schreiben Sie auf, daß ich Amerikaner bin und es bleiben werde‘“17.
Das Bemühen Zuckmayers, sich die Gunst seines amerikanischen Auftraggebers zu gewinnen – und zu behalten – zieht sich durch seinen ganzen Bericht. Es bestimmt auch die Modalität der Kritik am Auftrag der amerikanischen Besatzungsarmee in Deutschland. Wenn der Intellektuelle Mängel oder Fehler in der Tätigkeiten der US-Behörden festzustellen hat, so gehen seine Bemerkungen immer von der Voraussetzung aus, dass die Amerikaner – und die anderen Alliierten – unter äußert ernsten, konkreten Schwierigkeiten und in einer extrem komplizierten und neuartigen Lage handeln müssen. Jeder (sehr ernstzunehmende) Vorwurf wird in Anbetracht dieser Tatsache abgemildert. Und selbst wenn es um grundsätzliche Probleme geht (wie das Fehlen eines echten Kontaktes zwischen Amerikanern und Deutschen, das das Scheitern jedes Umorientierungveruchs droht), werden positive Einzelfälle gemeldet, die sich der düsteren Haupttendenz widersetzen. An jenen Stellen werden bestimmte amerikanische Offiziere genannt, die Zuckmayer während seiner Reise kennen gelernt hat, welche aus eigener Initiative versuchen, die Lücke des organisatorischen Systems zu füllen. Eine mögliche Verbesserung ist im Keim vorhanden und die Anerkennung von dem, was bereits erreicht wurde, will die konstruktive Kritik nicht verschleiern, sondern subtil annehmbarer – und daher wirkungsvoller – machen. Die Hochachtung Zuckmayers den USA gegenüber ist nicht einfach eine diskursive List, um seinen Argumenten mehr Überzeugungskraft zu verleihen. „Ich hoffe damit meiner neuen Heimat Amerika, das mir und vielen anderen in schwerster Stunde eine Zuflucht gewährt und einen neuen Lebensboden geschenkt 16 17
C. Zuckmayer, Deutschlandbericht, S. 126. Ebd.
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hat, ebenso zu dienen und zu nützen wie dem Land und dem Volk meiner Muttersprache, in der meine Arbeit wurzelt“18.
Wenn Zuckmayer seinen Bericht unter anderem mit diesen Worten einleitet, drückt er eine tief empfundene Doppelangehörigkeit aus, die seine Reise ins Nachkriegsdeutschland zuspitzt. Vor seiner Abreise im November 1946 erlebt der Schriftsteller einen Abschied, der sich schmerzlicher erweist, als er je gedacht hätte: „Ich konnte, zum letzten Wochenende, noch einmal nach Hause fahren. Nach Hause – das war die Farm“19. Die Farm in Vermont war das wertvolle Herz seiner amerikanischen, hart eroberten „Wahlheimat“20, wo Zuckmayer und seine Familie ein neues inneres Gleichgewicht finden konnten. Für den Theatermann, der sich lang erfolglos in New York und Hollywood bemüht hatte, einen eigenen Platz im amerikanischen Kulturleben zu finden, bedeutete die Farm zuerst eine neue, anstrengende körperliche Arbeit, die Schwelle zu einem fremden, willkommenen Alltag. Gerade dort auf der Farm aber erfährt er die „wiedergeschenkte Gnade“21 des Schreibens, wo „Des Teufels General“ im Winter 1942/43 entsteht. In der schweren Zeit der Entwurzelung erlischt aber der Gedanke an Deutschland nicht und sogar die Vorstellung einer Rückkehr lässt sich mit ahnungsvollen Worten umreißen: Ich weiß, ich werde alles wiedersehn, Und es wird alles ganz verwandelt sein. Ich werde durch erloschne Städte gehn, Darin kein Stein mehr auf dem andern Stein. Und selbst wo noch die alten Steine stehen, Sind es nicht mehr die altvertrauten Gassen. Ich weiß, ich werde alles wiedersehen, Und nichts mehr finden, was ich einst verlassen. … Ich weiß, ich werde zögernd wiederkehren, Wenn kein Verlangen mehr die Schritte treibt. Entseelt ist unseres Herzens Heimbegehren, Und was wir brennend suchten, liegt entleibt. Leid wird zu Flammen, die sich selbst verzehren, Und nur ein kühler Flug von Asche bleibt – Bis die Erinn’rung über dunklen Meeren Ihr ewig Zeichen in den Himmel schreibt22.
Die Seiten des „Deutschlandberichts“ sind von Zuckmayers Streben nach Heimkehr durchdrungen, von seiner Liebe zu einer Heimat, die sich ihm Ebd., S. 56-57. C. Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir, S. 460. 20 J. Becker, Carl Zuckmayer und seine Heimaten, S. 53. 21 C. Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir, S. 452. 22 C. Zuckmayer, Elegie von Abschied und Wiederkehr, in: ders., Als wär’s ein Stück von mir, S. 455. 18 19
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versagt hatte und sich ihm versagen wird, tief verletzt, für immer verändert, wie der Autor schon 1938, in seiner berühmten Elegie, befürchtet hatte. Die überzeugenden Behauptungen einer amerikanischen Zugehörigkeit, wenn auch ernst gemeint, verschweigen die unerträgliche Last des „SprachHeimwehs“, das „für einen Schriftsteller im Exil die schmerzhafteste Form des Heimwehs“23 ist. Die Reise nach Deutschland hat in dieser Hinsicht eine überwältigende Auswirkung24. In der Einleitung zu seinem Bericht, erzählt Zuckmayer – kurz nach der bereits erwähnten Episode vom Römerberg in Frankfurt und von den Worten der Frau, die ihn sich als einen Fremden hatte fühlen lassen – von dem Portier seines Hotels, der ihn als den Autor vom „Fröhlichen Weinberg“ und „Hauptmann von Köpenick“ erkannte25: Das erwartete Entfremdungsgefühl kann vielleicht doch durch das Theater, dank der „unverlierbaren Heimat: der Kunst“26 besiegt werden. Dies ist mehr als Hoffnung, ein Zeichen des Vertrauens in das versöhnliche Potential der Kunst, und jener aktiven Teilnahme am Theaterleben, die Zuckmayer so schmerzlich in den USA vermisst hatte. Im Dezember 1946 (also während dieser ereignisreichen, ersten Deutschlandreise) erlebt der Intellektuelle die Uraufführung in Zürich vom Stück mit, von dem er sagte, er habe geglaubt, es „für die Schublade“ geschrieben zu haben27. Die 23 C. Zuckmayer, Die Brüder Grimm. Ein deutscher Beitrag zur Humanität, zitiert in: G. Scholdt, Zuckmayer im Exil, in: A.M. Keim (Hrsg.), Exil und Rückkehr. Emigration und Heimkehr: Ludwig Berger, Rudolf Frank, Anna Seghers und Carl Zuckmayer, Mainz 1986, S. 137-157, hier S. 154. 24 „Mein erster Eindruck von dem Wiedersehen mit Berlin? Mit Deutschland? Es ist so, dass ich eigentlich erst einmal sechs Monate schweigen möchte. Nicht nur, weil mich die Zerstörung, das Elend, die Not, erschüttert, die Hitler über Deutschland gebracht hat. Es ist auch eine andere, ich möchte sagen, positive Erschütterung. Die Wiederbegegnung mit dem Land der eigenen Sprache. Nach mehr als sieben Jahren, in denen wir eine neue Welt, Amerika, verstehen und lieben lernten. Jetzt geht man durch eine Strasse, und hört die Leute deutsch sprechen. Es ist manchmal fast wie ein Schreck“, C. Zuckmayer, Deutschlandbericht, S. 55. 25 Ebd., S. 69; diese Begegnung wird auch in Zuckmayers Autobiographie wiedergegeben: „Als ich meinen Quartierschein vorwies, auf dem mein Name stand, starrte mir der alte, verhungert aussehende Portier ins Gesicht. Und dann sagte er, im schönsten Franfurterisch: ,Ei sin Sie womöschlisch der vom Fröhlische Weinbersch?‘ Und als ich nickte, packte er meine Hände. ,Ei was e Freud‘, sagte er immer wieder, ,ei was e Freud, daß Sie haamkomme sin! Wissese was? Sie krische e weiss Handtuch ins Zimmer, das gewwe mir nämlich sonst net, die Herrn lasses als mitgehe. Awwer Sie krische e Handtuh un zwei Kisse!‘. Das war meine Begrüßung in der Heimat“, vgl. C. Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir, S. 461. 26 Ebd., S. 150; diesen Begriff drückte Zuckmayer im September 1943 in New York bei einer Festrede zu Max Reinhardts 70. Geburtstag aus. 27 C. Zuckmayer, Als wär’s ein Stück von mir, S. 452.
Carl Zuckmayers Rückkehr nach Deutschland
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deutsche Premiere von „Des Teufels General“ fand 1947 in Hamburg statt, und damals ahnte man noch nicht, dass das Stück eines der berühmtesten und meist aufgeführten der ersten Nachkriegsjahre werden sollte28. Zu der Zeit seines Deutschlandberichts konnte Zuckmayer noch an die Möglichkeit einer effektiven Heimkehr glauben und seine Reise als erste Etappe dieser Heimkehr betrachten. Bekanntlich brachten die folgenden Jahre nach einem langen Pendeln zwischen Europa und den USA und der späteren Ansiedlung der Zuckmayers in Saas-Fee in der Schweiz eine andere Erkenntnis, die sich mit einem stetigen Schicksal abfinden musste: „Also immer noch und immer wieder ‚Emigrant‘“29.
28 Vgl. C.M. Denman, Nostalgia for a Better Germany, in: The German Quarterly, 76 (2003), 4, S. 369-380, S. 370. 29 Carl Zuckmayer, zitiert in: J. Becker, Carl Zuckmayer und seine Heimaten, S. 65.
„Herzlich willkommen“ – Walter Kempowskis „erzwungene“ Heimkehr Von Raul Calzoni
Die Figur Walter Kempowskis bietet eine Perspektive sui generis, aus der heraus sich die Frage der Heimkehr analysieren lässt. Als der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, befand sich der Schriftsteller weder an der Front, noch in alliierter Kriegsgefangenschaft, so wie ein großer Teil der männlichen Bevölkerung Deutschlands1. Ebenso wenig befand sich Kempowski in einem Konzentrationslager oder war Teil einer der großen Flüchtlingsströme, die das von den Bombenangriffen zerstörte Deutschland umherirrend auf der Flucht vor der vorrückenden Roten Armee durchquerten2. Am ersten Mai 1945 befand sich der Autor auf der Terrasse seines Geburtshauses in Rostock – seiner Heimatstadt – und erwartete zusammen mit seiner Mutter und dem Großvater mütterlicherseits das Einrücken der russischen Soldaten in die Hafenstadt in Norddeutschland. Dies geht aus dem Schluss des Romans „Tadellöser & Wolff“ hervor, der den zentralen Band Kempowskis „Deutschen Chronik“ darstellt3. In diesem Roman fasst der Schriftsteller in wenigen Zeilen sein Erstaunen beim Anblick des ersten Russen in Rostock folgendermaßen zusammen: „‚Ich glaube, nun sind die da.‘ Einzelne Schüsse in der Ferne. Ich ging nach vorn und kuckte aus dem Fenster, da stand ein Motorrad mit Beiwagen, ein Russe darauf. Den Beiwagen voller Schuhe, vom Schuster nebenan geholt. Vgl. H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 4 Bde., München 2003, hier Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, S. 942 f. 2 Vgl. S. Aust / S. Burgdorff, Die Flucht: Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, München 2005. 3 W. Kempowski, Die deutsche Chronik, 9 Bde., München 1999. Die Bände im Einzelnen: Aus großer Zeit. Roman, Hamburg 1978; Schöne Aussicht. Roman, Hamburg 1981; Haben Sie Hitler gesehen? Deutsche Antworten, München 1973; Tadellöser & Wolff. Ein bürgerlicher Roman, München 1971; Uns geht’s ja noch gold. Roman einer Familie, München 1972; Haben Sie davon gewußt? Deutsche Antworten, Hamburg 1979; Ein Kapitel für sich. Roman, München 1975; Schule. Immer so durchgemogelt. [zuerst, Immer so durchgemogelt. Erinnerungen an unsere Schulzeit], München 1974; Herzlich willkommen. Roman, München 1984. 1
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Schnell die Gardine zufallen lassen und auf den Balkon zurück. ‚Ja, nun sind sie da.‘ Eigentlich hätte man ja hinunterlaufen müssen und sie begrüßen. ‚Hurra‘ schreien oder ‚Bravo‘. Lieber oben bleiben, die wären gewiß furchtbar wütend auf uns. Das Schießen kam näher. ‚Oh Himmel‘, sagte meine Mutter, stand auf und begoß die Tradeskantie. Und nun auch in der Nähe, einzelne Schüsse, wohl Freudenschüsse. Und da fuhr: zäng! auch einer durch den Birnbaum. Blütenblätter segelten herab. ‚Wie isses nun bloß möglich‘, sagte meine Mutter. ‚Ich glaub‘, wir gehen ,rein‘“4.
Was ist also Kempowskis Bezug zum Thema „Heimkehr“? Augenscheinlich scheint es zunächst gar keinen zu geben, wenn man die Heimkehr nach der Kapitulation Deutschlands meint. Die Bedeutung dieses Themas für Kempowski, die hier näher betrachtet werden soll, manifestiert sich erst in den 50er Jahren, genauer gesagt im Jahr 1956. An dieser Stelle ist es notwendig, kurz auf die Biografie des Schriftstellers einzugehen, um die Wichtigkeit dieses Jahres im Leben der Familie Kempowski zu verstehen und in ihm zumindest den Beginn eines „Heimkehr“-prozesses des Autors zu erkennen, der sich im Verlauf der Nachkriegsjahre immer stärker in Formen einer „Rückkehr“ zu den kulturellen Wurzeln eines unwiederbringlich verlorenen „Heims“ entwickelt: Das Rostock aus Walters Kindheit, in dem die bürgerliche Familie von Schiffsmaklern Kempowski seit der „Großen Zeit“ des 19. Jahrhunderts gelebt hatte und welches nach dem totalen Krieg nicht mehr existierte5. Wenngleich auch die alliierten Luftangriffe tatsächlich zur Zerstörung der norddeutschen Hafenstadt und somit zur Unterhöhlung des Fundaments der Überlebensmöglichkeiten des reichen Hansebürgertums, zu dem die Familie des Schriftstellers wie auch die Familie Mann und somit die „Buddenbrooks“ gehörten, geführt hatten, so erwiesen sich jedoch vor allem die drei Jahre zwischen 1945 und 1948 als entscheidend für die Zukunft von Walter, Robert und Margarethe Kempowski. Der zweite Roman der „Deutschen Chronik“, der nicht nur zufällig den ironischen Titel „Uns geht’s ja noch gold“ trägt, erzählt von der schrittweisen Verarmung der Familie in den Nachkriegsjahren und den Hoffnungen auf einen sozialen Wiederaufstieg, den sie in der Zukunft anstrebt und die auch nach der Nachricht vom Tod von Karl Kempowski, Walters Vater, der noch wenige Tage vor Kriegsende an der Ostfront fiel, genährt wurden. Aber in „Uns geht’s ja noch gold“ werden wir auch über die illegalen Aktivitäten von Walter und Robert informiert, die mit dem Schwarzmarkt und dem illegalen Besitz sowjetischer Frachtbriefe zu tun hatten und zu einer Internierung der Mutter in einem der sowjetischen Speziallager führen sollten. Walter und sein Bruder Robert W. Kempowski, Tadellöser & Wolff, S. 478-479. Vgl. W. Kempowksi, Aus großer Zeit. Eine ausführliche Biografie von Kempowski findet sich bei: D. Hempel, Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie, 3. erw. Aufl., München 2007. 4 5
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wurden schon am 8. März 1948 mit dem Anklagevorwurf der Spionage von den Russen verhaftet. Zunächst wurden sie nach Schwerin überführt und dann in Bautzen inhaftiert, wo der Besitz der bereits genannten Frachtbriefe zu einer Verurteilung zu einer Haftstrafe von 25 Jahren führte, die später aufgrund einer Amnestie auf die Dauer von 8 Jahren reduziert wurde6. Kempowski konnte den Strafvollzug aus diesen Gründen am 7. März 1956 verlassen, aber nach seiner Entlassung aus der Haftanstalt der DDR durfte er aus politischen Gründen nicht in seine Heimatstadt Rostock zurückkehren, sondern Walter ging zu seiner Mutter nach Hamburg. Um die Erlebnisse dieses heimgekehrten Sohns – der andere Sohn Margarethe Kempowskis, der ebenfalls in Bautzen inhaftiert war, wurde erst im September 1956 freigelassen –, entwickeln sich die vier Teile des Romans „Herzlich willkommen“, in denen der Leser mit den „physischen“ und kulturellen Heimkehretappen des alter ego von Kempowski konfrontiert wird. Die Heimkehr, von welcher der Schriftsteller im Roman erzählt, gestaltet sich jedoch vom Beginn der Erzählung an als unnatürlich und „erzwungen“, wiewohl Walter ja nicht in seine „Heimatstadt“ zurückkehrt, sondern nach Hamburg fährt, eine Stadt die trotz allem keine Wahlheimat ist. Hierher, in die Stadt der mütterlichen Wurzeln, d.h. die der Familie De Bonsac, war Margarethe gezogen, um die überlebenden Familienmitglieder zu erreichen, nachdem sie 1954 aus dem Strafvollzug von Hoheneck7 entlassen wurde, in dem sie eine 1949 verhängte Haftstrafe unter der Anklage des „Nichtanzeigens“ der illegalen Geschäfte ihrer Söhne zu Schaden der Russen verbüßt hatte. Obschon „Herzlich willkommen“ eindeutig autobiografischer Natur ist, beginnt der Roman mit folgenden Worten: „Jede Ähnlichkeit mit lebenden Personen ist rein zufällig“, die eine „ironisch garantierte Distanz“8 zwischen 6 Vgl. S. Hattig / S. Klewin / C. Liebold / J. Morré, Geschichte des Speziallagers Bautzen. 1945-1956. Katalog zur Ausstellung der Gedenkstätte Bautzen, hrsg. von der Stiftung Sächsische Gedenkstätte, Dresden 2004. Zu einer umfassenderen Darstellung der sowjetischen Speziallager und ihre Anwendung in den Nachkriegsjahren vgl. S. Mironenko / L. Niethammer / A. von Plato (Hrsg.) in Verbindung mit V. Knigge / G. Morsch, Sowjetische Speziallager in Deutschland 1945-1950, 2 Bde. (Bd. 1: Studien und Berichte; Bd. 2: Sowjetische Dokumente zur Lagerpolitik. Eingeleitet und bearbeitet von R. Possekel) Berlin 1998. 7 Bevor Margarethe Kempowski nach Hoheneck überführt wird, wird sie im Konzentrationslager der Nazis Sachsenhausen inhaftiert, das sofort nach Kriegsende von den Russen zu einem sowjetischen Speziallager umfunktioniert wurde. Interessante Betrachtungen zur Geschichte dieser Lager finden sich bei O. Gröhler, Integration und Ausgrenzung von NS-Opfer in der Sowjetischen Besatzungszone Deutschlands bis 1949, in: G. Morsch (Hrsg.), Von der Erinnerung zum Monument. Die Entstehungsgeschichte der Nationalen Mahn- und Gedenkstätte Sachsenhausen, Berlin 2001, S. 87-92. 8 H. Seele, Ironische Distanz und leise Melancholie, in: Rhein-Neckar-Zeitung, 13.-14. Oktober 1984, S. 18.
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dem Autor und der Hauptfigur des Romans schafft, die wie er selbst Walter Kempowski heißt. Einem rhetorischen Kunstgriff entsprechend, der typisch für die Romane der „Deutschen Chronik“ ist, sollen die erzählten Fakten vom Leser wie ‚aus der Luft gegriffen‘ interpretiert werden, auch wenn sie in weiten Teilen auf den Erlebnissen von Kempowski basieren. Dergestalt gehört „Herzlich willkommen“ zu jenem Genre von „quasi-autobiographischen Ich-Romanen, in welchen der Ich-Erzähler den Mittelpunkt der Geschichte bildet“ und in denen, wie Franz Stanzel in seinen „Typischen Formen des Romans“ anführt, „es die Spannung zwischen dem erlebten Ich und dem erzählende Ich [ist], die das Sinngefüge bestimmt“9. Bereits in der kurzen Einführung zu den 24 Kapiteln des Romans, der in vier Teile gegliedert ist, wird die Überlagerung zwischen dem Schriftsteller und dem erzählenden Ich in „Herzlich willkommen“ deutlich. Sie führt mit einer trockenen und unpersönlichen Sprache den Handlungsort ein, nicht ohne auf die Figuren und die Handlungszeit des Romans Bezug zu nehmen. Mit dem Anliegen, den Text der „Deutschen Chronik“ chronologisch einzufügen, eröffnet Kempowski die Erzählung seiner „realistischen Variante zu ‚Draußen vor der Tür‘“10, indem er Bezug auf das Ende des „Ein Kapitel für sich“ nimmt – des Romans, der in der Sammlung vor „Herzlich willkommen“ steht – , und indem er die ärmlichen Bedingungen der neuen Wohnstatt von Walters Mutter im Hamburger Bezirk Wandsbek folgendermaßen beschreibt: „FRÖHLICHE OSTERN! Wandsbek, Bärenstraße, 7a: Eine Baracke mit Pappwänden, drei Zimmer, Küche, Klo“11. Um die Figuren des Romans vorzustellen, bedient sich Kempowski darüber hinaus einer ekphrastischen Technik, indem er einige von der Mutter Margarethe aufbewahrten Fotografien aus der Vergangenheit beschreibt. „In den Schreibschrank sind Fotos gepinnt, ein wenig verkantet, die Schreibplatte ist heruntergeklappt, damit man die Fotos sieht: Der Familienvater eher peripher, ‚Klare Sache und damit hopp!‘, gefallen auf dem Felde der Ehre, das Blumenpflückbild der Tochter so halb da drauf, und in der Mitte die beiden Söhne, bei Wertheim aufgenommen, in Rostock noch vor dem Krieg. Man hatte gealbert an jenem Tag, und hinterher hatte es Kuchen gegeben im Erfrischungsraum, an einem runden Marmortisch. Die Bilder der beiden Söhne: Einer ist heimgekehrt, auf den anderen muß noch gewartet werden“12.
„Herzlich willkommen“ ist darauf ausgerichtet, die Einzigartigkeit der Rückkehr dieses „heimgekehrten Sohnes“ von Margarethe Kempowski in die Heimat hinsichtlich weiterer „Formen der Heimkehr“ hervorzuheben, die im Verlauf der Erzählung ebenso erwähnt werden. Kempowski stellt dem Leser 9 10 11 12
F.K. Stanzel, Typische Formen des Romans, 2. Aufl., Göttingen 1987, S. 31. W. Kempowski, Sirius: eine Art Tagebuch, München 1990, S. 91. W. Kempowski, Herzlich willkommen, S. 7. Ebd., S. 7-8.
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sechs verschiedene soziale Gruppen der BRD- und Wirtschaftswundergesellschaft13 durch den Roman vor, welche unterschiedliche Facetten des kollektiven Gedächtnisses an den Zweiten Weltkrieg repräsentieren und durch die weitere Bedeutungen des Konzepts der Heimkehr sichtbar werden. Es sind: (1) die Juden, die die KZs überlebt haben; (2) die Flüchtlinge und die Vertriebenen aus dem Osten; (3) die Soldaten von der Front; (4) die Kriegsgefangenen, die von den Alliierten aus den Internierungslagern entlassen wurden; (5) die Mitläufer des Naziregimes; (6) die Entlassenen aus den sowjetischen Gefängnissen. Mit diesen sozialen Gruppen des kollektiven Gedächtnisses nimmt Kempowski gleich auf den ersten Seiten des Romans den Dialog auf, als er Hamburg mit einem sich konkret gesetzten Ziel erreicht: „Hamburg: das Tor zur Welt – das Leben der Vorväter studieren und Kontakt aufnehmen zu den Lebenden. Sich einreihen in den lebendigen Strom: Vor sie hintreten und sagen: Ich bin wieder da. – Und angenommen werden von ihnen wie der verlorene Sohn“14. „Dies Zurückkehren in die Stadt der Väter“15 ist jedoch nicht so einfach, wie Walter es sich vorgestellt hatte, und zudem wird er auch nicht wie der wieder gefundene „verlorene Sohn“ empfangen. Die Verwandten, denen er Besuch abstattet, mögen Walter überhaupt nicht, sie bezichtigen ihn gar, am Gefängnisaufenthalt seiner Mutter Schuld zu sein, wie es aus den Worten von Tante Helga hervorgeht, die sie direkt nach seiner ‚erzwungenen‘ Heimkehr nach Hamburg an den Protagonisten des Romans richtet: „,Und die Mutter noch mit hingeingerissen, Junge, schämst du dich nicht? Tapfer, so tapfer deine Mutter, nicht ein einziges Wort der Klage, Zähne zusammengebissen und durch!‘ Und krank gewesen dort, im Lager, – ‚Lager‘, dieses Wort gebrauchte 13 Vgl. M. Halbwachs, Das Gedächtnis und seinen sozialen Bedingungen, Frankfurt a.M. 2006, und ferner die Definition von kollektivem Gedächtnis als „Gruppengedächtnis“ in: M. Halbwachs, Das kollektive Gedächtnis, Frankfurt a.M. 1991, S. 72: „Die historische Welt ist gleich einem Ozean, in dem alle Teilgeschichten einmünden … Die Geschichte kann als das universale Gedächtnis des Menschengeschlechtes erscheinen. Aber es gibt kein universales Gedächtnis. Jedes kollektive Gedächtnis hat eine zeitlich und räumlich begrenzte Gruppe zum Träger. Man kann die Totalität der vergangenen Ereignisse nur unter der Voraussetzung zu einem einzigen Bild zusammenstellen, daß man sie vom Gedächtnis jener Gruppen löst, die sie in Erinnerung behielten, daß man die Bande durchtrennt, durch die sie mit dem psychologischen Leben jener sozialen Milieus verbunden waren, innerhalb derer sie sich ereignet haben, und daß man nur ihr chronologisches und räumliches Schema zurückbehält“. 14 Ebd., S. 11. 15 Ebd.
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sie – die liebe Grethe! Wüßt’ ich das überhaupt? Der ganze Unterleib, ausgenommen wie eine Pute, im Lagerlazarett, unter weiß was für Verhältnissen? – Was ein Mensch alles durchstehen kann, das ist eigentlich erstaunlich“16.
Der Protagonist des Romans „Herzlich willkommen“ stellt für die Familienmitglieder jedoch auch den Anlass für eine direkte Auseinandersetzung mit den Schatten der nationalsozialistischen Vergangenheit der Kempowskis dar. In dem Moment, in dem dieser „ghost of the past“17 wieder in ihre Leben tritt, versuchen sie, ihn unter allen Umständen zum Schweigen zu bringen18. Das Erzählfragment, welches unmittelbar dem gerade zitierten Ausschnitt folgt, gibt die zensorische Haltung der Familienmitglieder in Bezug auf Walter perfekt wieder, aber es erzählt ebenso davon, dass es dem jungen Mann sehr wohl bewusst ist, dass sie weder seine Geschichten aus den Gefängnissen noch jedwede Anspielung auf das Leben der Kempowskis während des Naziregimes hören wollen: „Was ich da erlebt hätte im Lager, das sei gewiß auch fürchterbar. Aber das wollten wir man jetzt auf sich beruhen lassen, all’ diese schrecklichen Geschichten!“19. Eine direkte Folge dieser Absicht, die Gefängnisgeschichte Walters dem Vergessen anzuvertrauen, stellt auch der Ratschlag Tante Helgas an diesen Heimkehrer sui generis dar: „Der Mensch muß auch vergessen können. Und: Irgendwie ja selbst schuld, nicht? würde sie sagen, oder?“20. Wenn in Hamburg der Mensch in Nietzsche’scher Manier vergessen muss, um (weiter-)leben zu können21 – deshalb niemand die Erinnerungen an den Ebd., S. 13. A. Riley, Walter Kempowski’s „Deutsche Chronik“: A Study in Ironic Narration, Frankfurt a.M. u.a 1997, S. 158 18 Vgl. D. Hempel, Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie, S. 89: „Er hatte sich vorgestellt, dass man ihn als Helden empfangen würde, als Kämpfer für Recht und Gerechtigkeit. Nun war er ein Wohlfahrtsempfänger, auf den niemand gewartet hatte“. 19 W. Kempowski, Herzlich willkommen, S. 13. 20 Ebd. 21 F. Nietzsche, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“, in: Sämtliche Werke, Bd. 1, Ab. III., hrsg. von G. Colli / M. Montinari, München / New York 1988, S. 269: „Hier wird es deutlich, wie nothwendig der Mensch, neben der monumentalischen und antiquarischen Art, die Vergangenheit zu betrachten, oft genug eine dritte Art nöthig hat, die kritische: und zwar auch diese wiederum im Dienste des Lebens. Er muß die Kraft haben und von Zeit zu Zeit anwenden, eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können: dies erreicht er dadurch, daß er sie vor Gericht zieht, peinlich inquirirt, und endlich verurtheilt; jede Vergangenheit aber ist werth verurtheilt zu werden – denn so steht es nun einmal mit den menschlichen Dingen: immer ist in ihnen menschliche Gewalt und Schwäche mächtig gewesen. Es ist nicht die Gerechtigkeit, die hier zu Gericht sitzt; es ist noch weniger die Gnade, die hier das Urtheil verkündet: sondern das Leben allein, jene dunkle, treibende, unersättlich sich selbst begehrende Macht“. 16 17
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Zweiten Weltkrieg und an die Gefängnisse von Walter hören will –, so manifestiert auch Walters Schwester Ulla in Dänemark, seit 1943 verheiratet mit dem Dänen Sven Soresen und wohnhaft in Kopenhagen, die gleiche Neigung zum Schweigen und zum Vergessen des Vergangenen. Seit dem Beginn seines kurzen Aufenthaltes in Kopenhagen 1956, von dem das sechste Kapitel in „Herzlich willkommen“ erzählt, enttäuscht Ulla vehement alle Erwartungen Walters, von seiner Vergangenheit erzählen zu können: „Vom Russeneinmarsch in die Heimatstadt wollte ich ihr berichten, wie auf der Landkarte sich zunächst ein Pfeil von Westen (die Engländer!) der Stadt genähert hatte, deutlich zu verfolgen, sodann jedoch ein Pfeil von Osten, und zwar drohend. Dies wollte ich breit und plastisch von mir geben, die Schwester jedoch stoppte die Sache, damit wartete ich am besten, bis auch Sven da sei, sonst müsse ich ja alles zweimal erzählen“22.
Walter wird es in diesen Tagen, die er im Ausland verbringt, nie gelingen: „zu berichten von der unheimlichen Stille, die über der Stadt gelegen habe, als die Russen einmarschiert seien“23. Dergestalt wird eine klare Opposition zwischen dem Willen zum Vergessen der Familienmitglieder Kempowski und der Neigung Walters zur Erinnerung aufgebaut. Die Erinnerung ist für Walter seit den ersten Tagen seiner Inhaftierung eine Aufgabe, wie es auch Dirk Hempel wie folgt beschreibt: „Rekonstruktion der Vergangenheit als Überlebensstrategie. Szenen seiner Autobiographie sieht er sich an wie einen Farbfilm. … Da ist es, das große Thema, das ihn sein Leben lang beschäftigen wird. Hier, in der Schweriner Einzelzelle des MWD, am tiefsten Punkt seines Lebens, das einmal in behüteter Bürgerlichkeit begann, nimmt das große Erinnerungswerk, die Geschichte der Kempowskis, die auch eine Geschichte des deutschen Bürgertums ist, seinen Anfang“24.
Im Gegensatz zur „äußerlichen Abwehr“25 der Vergangenheit seiner Familienmitglieder, aber auch anderer Rostocker in Hamburg und vieler Heimkehrer und Spätheimkehrer, bekräftigt Walter im Roman seine Absicht, die Vergangenheit nicht vergessen zu wollen, mit folgenden Worten: „Die Vergangenheit rekonstruieren: alles aufschreiben, solange das Gedächtnis noch Kleinigkeiten hergibt, die bösen, einsamen Stunden der Untersuchungshaft, in denen es jedoch Lichtblicke gegeben hatte, und auch die guten Stunden, später dann in Bautzen, die allerdings gleichzeitig sehr beschissen gewesen waren“26. Die W. Kempowski, Herzlich willkommen, S. 67. Ebd., S. 72 24 D. Hempel, Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie, S. 10. 25 D. Garbe, Äußerliche Abwehr, Erinnerungsverweigerung und „Vergangenheitsbewältigung“: Der Umgang mit dem Nationalismus in der frühen Bundesrepublik“, in: A. Schildt / A. Sywottek (Hrsg.), Modernisierung im Wideraufbau. Die Westdeutsche Gesellschaft der 50er Jahre, Bonn 1993, S. 693-716. 26 W. Kempowski, Herzlich willkommen, S. 57. 22 23
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Heimkehr Walters gestaltet sich also nicht nur ‚erzwungen‘, sondern auch ‚zwingend‘, da er mit seiner Anwesenheit die Familie dazu zwingt, sich mit ihrer nationalsozialistischen Vergangenheit auseinanderzusetzen, an die sich jedoch die Kempowskis nicht erinnern wollen. Mit seiner unerwünschten Präsenz in Hamburg verkörpert Walter somit die ‚Rückkehr des Unheimlichen‘ für alle Kempowskis.27 Das drückt sich auch über seinen Sprachgebrauch aus, der im Gegensatz zu dem seiner Verwandten, nicht zögert, sich explizit auf die ‚Barbarei‘ der Judenverfolgung und auf den Schmerz der ganzen Familie während des Zweiten Weltkrieges zu beziehen. Wie „ein moderner Sisyphus“28 streift Kempowski durch die norddeutsche Stadt und zeigt dabei sein schmerzvolle und „unsichtbare Fluchtgepäck“29, das nicht nur seine Familie nicht sehen will, sondern auch jene Rostocker, die in der Nachkriegszeit hierher gezogen sind und sich gegenseitig dazu auffordern, Walter mit dieser Haltung abzulehnen. Besonders bedeutungsvoll erscheint in diesem Zusammenhang die Szene, die Kempowski in seinem Roman beschreibt, als seine Mitbürger sich im Hamburger Café Rose, eine Art umgebauter „Zwiebelkeller“, „jeden ersten Mittwoch des Monats“30 versammeln, um sich „Geschichten von vor und nach dem Zusammenbruch …, vom ‚Zusammenbruch‘, der auch ‚Umwälzung‘ genannt wurde, und von vor und nach der Währung“31 zu erzählen. Im Gegensatz zu dem, was sich in dem von Günter Grass in „Die Blechtrommel“ beschriebenen „Zwiebelkeller“ ereignet, wo „der Saft [der Zwiebel] es schaffte, … was die Welt und das Leid dieser Welt nicht schafften: die 27 Vgl. hierzu was Freud über die Rolle der „Aufdeckung der Widerständen“ als Strategie der Aufarbeitung der Vergangenheit schreibt: „Die entscheidende Tatsache ist, nämlich, daß die Abwehrmechanismen gegen einstige Gefahren in der Kur als Widerstände gegen die Heilung wiederkehren. Es läuft darauf hinaus, daß die Heilung selbst vom Ich wie eine neue Gefahr behandelt wird … Der Analytiker ist jetzt für den Patienten nur ein fremder Mensch, der unangenehme Zumutungen an ihn stellt, und er benimmt sich gegen ihn ganz wie ein Kind, das den Fremden nicht mag und ihm nichts glaubt. Versucht der Analytiker, dem Patienten eine der in der Abwehr vorgenommenen Entstellungen aufzuzeigen und sie zu korrigieren, so findet er ihn verständnislos und unzugänglich für gute Argumente. So gibt es wirklich einen Widerstand gegen die Aufdeckung von Widerständen und die Abwehrmechanismen verdienen wirklich den Namen, mit dem wir sie anfänglich bezeichnet haben, ehe sie genauer erforscht wurden; es sind Widerstände nicht nur gegen die Bewußtmachung der Es-Inhalte, sondern auch gegen die Analyse überhaupt und somit gegen die Heilung“, S. Freud, Die endliche und die unendliche Analyse, in: Gesammelte Werke, Bd. 16, Frankfurt a.M. 1950, S. 83. 28 S. Kunckel, Abschied vom Leser. Interview mit Walter Kempowski, in: Welt am Sonntag, Nr. 37, 14. September 2003, S. 59. 29 L. Leonhardt, Das unsichtbare Fluchtgepäck. Kulturarbeit ostdeutscher Menschen in der Bundesrepublik, Köln / Berlin 1972. 30 W. Kempowski, Herzlich willkommen, S. 34. 31 Ebd., S. 35.
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runde Menschliche Träne“32, enthüllen sich im Café Rose die Rostocker als paradigmatische Vertreter dieses „tränenlose[n] Jahrhundert[s], obgleich soviel Leid allenthalben“33, von denen der Schriftsteller aus Danzig im Roman erzählt. Im Gegensatz zu den traurigen Ereignissen im Zwiebelkeller, wird im Café Rose gelacht: „– Gott, wie konnten all’ die Rostocker lachen, war das ein Gekreische und Gejuche, und die Münder rissen sie auf nach allen Seiten, und sie zeigten ihre nagelneuen Gebisse. Nee, wir Rostocker lassen nix anbrennen, wir trinken jetzt mal einen Doppelkümmel“34. Während der mittwochs stattfindenden Treffen geben sich die Rostocker dem Erzählen von Anekdoten und Scherzen hin, obwohl ernste Gespräche über die schmerzvollen Erfahrungen während der Hitlerzeit im Café Rose vermieden werden. Es mag also nicht verwundern, dass auch in dieser Umgebung Walters Anwesenheit nicht unbedingt Begeisterung hervorruft. Das geht u.a. auch aus dem Verhalten einer Exilrostockerin zum erzählenden Ich in „Herzlich willkommen“ hervor: „Frau Amtsgerichtsrat Warkentin hatte mir nur die Linke gereicht, die hatte mir nur eben von der Seite gemustert: Mit solchen Leuten wollte sie nichts zu tun haben, mit Leuten, die ihre Mutter nicht raushalten aus ihren Maleschen“35. Das Motto der Rostocker – „Das Leben aus vollen Zügen genießen!“ – wie es von Kempowski im Roman wiedergegeben wurde, vermittelt dem Leser in vollen Zügen die Absicht der Exilanten, die Vergangenheit vergessen zu wollen. Sie wenden sich daher mit entsprechend vulgären Schimpfworten an Walter: „‚Eine Cola für das arme Schwein!‘, riefen sie und meinten mich damit … ‚Eine Cola für das arme Schwein!‘ Dem armen Schwein wurde auch ein Rum spendiert“36. Und etwas später ebenso: „Zwei hanseatische Herren am Nebentisch wurde gefragt: Ob sie begreifen könnten, daß dieser arme Hund hier, der hier neben ihnen am Tisch sitzt, volle acht Jahre im Knast gesessen hat, für nichts und wieder nichts? Und man selbst sieben und sechs, das macht zusammen einundzwanzig?“37. Dem von Grass für die Figur Oskar entwickeltem Modell folgend, hat Kempowski Walter eine „naive“ und kindliche Haltung in Bezug auf die ihn umgebende Umwelt zugeschrieben38. Wenn einerseits die Beschreibungen G. Grass, Die Blechtrommel. Roman, München 1993, S. 629. Ebd. 34 W. Kempowski, Herzlich willkommen, S. 35. 35 Ebd. 36 Ebd., S. 36. 37 Ebd. 38 Kempowski selbst berichtet über den Einfluss von Günter Grass’ „Blechtrommel“ auf die „Deutsche Chronik“ in einem Interview, das er Manfred Durzak gab: „Ich selbst hatte ja den guten Grass zum Vorbild. Mit Hilfe dieser genialen Erfindung, dieses Oskar Matzerath, war es erstmals möglich geworden, locker über die Nazi-Zeit zu sprechen“, M. Durzak, Die Ergänzung der Literatur durch die Fernsehadaptation: 32 33
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der Gesellschaft des „Wirtschaftswunders“ von der typischen Ironie der „Deutschen Chronik“ durchdrungen sind, so enthüllen sie doch andererseits auch das materialistische Substrat der BRD der 50er Jahre, wie es aus dem folgenden Erzählfragment ersichtlich wird: „Draußen hatte es aufgehört zu regnen. Ich sah mir die Läden an: Buchhandlungen mit Bücherbergen, Schlachtereien mit Wurstbergen, Musikgeschäfte mit Radiobergen. Schließlich auch ein Uhrengeschäft, vor dem blieb ich etwas länger stehen. ,Ich geben Ihnen Ihre Zeit zurück …‘“39. Welches sollte diese Zeit sein, die die ausgestellten Uhren in der Lage zu sein schienen, Walter zurückgeben zu können, wenn nicht jene, die er mit seiner Familie in der wahren Heimat, bzw. im Rostock seiner Kindheit, verbracht hatte? Im Gegensatz zu den Flüchtlingen aus Rostock, die Walter in Hamburg trifft, gehört er nicht zur „Generation, die unfähig ist, zu lernen“40, wie Benedikt Erenz die Exilrostocker in „Herzlich willkommen“ definierte. Aus diesem Grunde ist auch Walters Beziehung zur Mutter wichtig. Ihr gegenüber fühlt er ein starkes Schuldbewusstsein, wie er mehrfach im Roman explizit ausführt: „So gut wie jetzt sei es ihr noch niegegangen. Sie rührte in der Schmalzpfanne herum, und es war daran zu denken, daß es ihr vor gar nicht allzu langer Zeit sehr schlecht gegangen war. ‚Und du warst schuld‘, sagte ich zu mir, und sie dachte das vielleicht auch, aber sie sagte es nicht“41. Mehr als einmal versucht Margarethe mit Walter über die eigene Gefängniszeit zu sprechen, aber der Protagonist des Romans wird ihr nie zuhören. Soweit die Fiktion, Kempowskis Realität sah anders aus. Das kann man in einem Artikel nachlesen, der 1987 vom Schriftsteller verfasst und folgendermaßen betitelt wurde: „Das Ruderboot: ein Beispiel für die Beteiligung des Unbewußten an einem literarischen Prozeß“. Hier wird es klar, dass seine „unbewusste Integration“ in die deutsche Gesellschaft des „Wirtschaftswunders“ erst dann möglich gewesen sei, als er die Auseinandersetzung mit der Mutter zu diesem Aspekt in der Vergangenheit zuließ42.
Gespräch mit Walter Kempowski, in: Literatur auf dem Bildschirm: Analysen und Gespräche mit Leopold Ahlsen, Rainer Erler, Dieter Forte, Walter Kempowski, Heinar Kipphardt, Wolfdietrich Schnurre und Dieter Wellershoff, Tübingen 1989, S. 208. Vgl. in diesem Zusammenhang auch das ausführliche Buch von A. Fischer, Inszenierte Naivität: Zur ästhetischen Simulation von Geschichte bei Günter Grass, Albert Drach und Walter Kempowski, München 1992. 39 W. Kempowski, Herzlich willkommen, S. 62. 40 B. Erenz, Alles in Brand stecken, in: Die Zeit, Nr. 43, 9. November 1984, S. 89. 41 W. Kempowski, Herzlich willkommen, S. 297. 42 Vgl. W. Kempowski, Das Ruderboot: ein Beispiel für die Beteiligung des Unbewußten an einem literarischen Prozeß, in: W. Solms (Hrsg.), Seiltanz auf festen Versesfüßen: neun Autoren an der Marburger Universität, Marburg 1987, S. 43-56.
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Aber die Integration Kempowskis in das soziale Gefüge der BRD der 50er Jahre beschränkt sich nicht nur auf die Erinnerung, auf die Wiederholung und die anschließende Aufarbeitung der Gefängnisjahre der Mutter, eine Schuld, die er als eine Brandmarkung auf der Haut trug. Wie weiterhin aus dem Beitrag des Schriftstellers zur eigenen „Beteiligung des Unbewußten an einem literarischen Prozeß“ hervorgeht, war aber die Trauerarbeit zum Verlust seines Vaters, Karl Kempowski, der 1945 kurz vor der Kapitulation Deutschlands in der äußersten Verteidigungslinie der Wehrmacht an der Ostfront fiel, für seine Integration in die Nachkriegsgesellschaft ebenso entscheidend. Verschiedene Stellen in „Herzlich willkommen“ enthüllen, wie heftig in jenen Jahren noch Kempowskis Schmerz über den Verlust des Vaters war. Diesem Schmerz wurde noch die Tatsache hinzugefügt, dass Kempowski in der BRD nie der Status eines politischen Häftlings zuerkannt wurde. Auf diese Situation wird an verschiedenen Stellen im Roman explizit Bezug genommen, in denen der Schriftsteller in der literarischen Fiktion die Rechtmäßigkeit für die eigene Empörung beansprucht: „Zum Beispiel meine nicht erfolgte ‚Anerkennung‘ als politischer Häftling. Jahr um Jahr gesessen – oh! er könne sich das gut vorstellen! – stolz gesessen, im Bewußtsein, sich nicht ergeben zu haben, wie die graue Masse des Volkes es in fatalistischem Masochismus seit je praktisiere, sondern gehandelt, wo Handeln gefordert war. Unrecht aufdecken, in einer Zeit, die auf die Herrschaft des Unrechts gefolgt sei …“43.
Die Verweigerung der Anerkennung als politischer Häftling ist emblematisch einer Haltung gegenüber den Entlassenen aus den sowjetischen Speziallagern, die eine Widerspiegelung in der deutschen DDR Gesellschaft der 50er Jahre findet: „In der SBZ/DDR war das Thema Speziallager tabu. Es wurde den meisten Häftlingen bei der Entlassung nahegelegt, nicht über ihre Lagererlebnisse zu sprechen, aber es war ohnehin klar, daß diese Lagerhaft keine günstige Visitenkarte für die SBZ und DDR sein würde“44. Walter kann demnach als ein Opfer der Geschichte betrachtet werden, aber die Wahrnehmung der Ereignisse verändert sich, wenn man nicht nur die Familie, sondern auch die katholische Gemeinschaft der „Casa Zwingli“ in Locarno zu überzeugen hat, wo Walter sich dank einer Einladung, die ihm von einem „Studentenpfarrer der Universität Hamburg“, der „zwei Einladungen an einem Tag in seinem Briefwechsel fand“45 übermittelt wurde, aufhalten durfte. Nachdem der Studentenpfarrer für sich entschieden hatte, von den
W. Kempowski, Herzlich willkommen, S. 295. A. von Plato, Lebensgeschichte und Geschichte: Ein Beispiel aus der Opferkonkurrenz des kalten Krieges, in: Kursbuch, 148 (2002), (Die Rückkehr der Biographien) S. 149-162. 45 W. Kempowski, Herzlich willkommen, S. 95. 43 44
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beiden Einladungen die nach Kalifornien anzunehmen, überlässt er Walter die für die Schweiz: „Ein blasser, schlecht rasierter Heimkehrer sah ihn erst an – vielleicht könnte man ihn nach Locarno reisen lassen? Das fiel den jungen Pfarrer ein in diesem Augenblick: Zur seelischen Gesundung? Und vielleicht könnte man mit einer solchen guten Tat auch noch die letzten Spuren dieses Schicksals tilgen im Gehirn? Gutes tun und gleichzeitig Nutzen davon haben fürs Gewissen?“46.
Aber ausgerechnet in Locarno muss Walter erfahren, wie lang die Schatten der Nazivergangenheit auch auf ihn fallen47, und wie die Kollektivschuld für die verübten Verbrechen des Naziregimes auf jedem einzelnen Deutschen lastet, der die Hitlerzeit miterlebt hat48. Abgesehen von der tatsächlichen individuellen Beteiligung am Machtregime Hitlers, zählt für die katholische Gemeinschaft in Locarno nur, dass Walter aus Deutschland stammt49. Das reicht aus, um in ihm einen ‚NS-Mitläufer‘ auszumachen, wie es während des ersten Abendessens des Protagonisten von „Herzlich willkommen“ in der Casa Zwingli klar wird: „Der Gast aus Deutschland möge die Hand heben, damit wir ihn uns ansehen können: Dieser junge Mann dort, der vermutlich einmal Hitlerjunge war und alte Menschen ‚Friedhofsgemüse‘ genannt hat, kommt aus Deutschland, einem Land, das Juden vergast hat, und er erhält hier jetzt ein Taschengeld von acht Franken fünfzig pro Tag, und die Fahrkosten werden ihm erstattet, obwohl, wie gesagt, sein Land Unheil über die Welt gebracht hat“50.
Die in Locarno gemachten Erfahrungen erweisen sich dermaßen funktional in der Ökonomie des Romans, Walter die in der BRD von den Alliierten angewandten Umerziehungsmaßnahmen kennenlernen zu bringen51. Der zweite Teil von „Herzlich willkommen“ ist folglich dem Thema der Bildung Ebd. Vgl. J. Friedrich, Die kalte Amnesie. NS-Täter in der Bundesrepublik, Berlin 2007, S. 1: „Die ersten drei Dezennien der Bundesrepublik Deutschland standen unter dem Ruch der Verdrängung der Vergangenheit; es ist bis heute ihr Stigma geblieben. Das Urteil wurde sprichwörtlich, es begleitete sie von Anbeginn als düsterer Schatten; Republik und Schattenriß waren eines“. 48 Zur Debatte über die deutsche Schuldfrage in den 1950er, vgl. D. Barnouw, Zeitlichkeit und Erinnerung: Überlegungen zur Problematik der Schuldfrage, in: U. Heukenkamp (Hrsg.), Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit, 2. Bde, Amsterdam u.a. 2001, Bd. 2, S. 659-674. 49 Zur Haltung der Schweizer in den 1950er gegenüber Deutschland und das Naziregime, vgl. J. Tanner, Die Schweiz in den 1950er Jahren. Prozesse, Brüche, Widersprüche, Ungleichzeitigkeiten, in: J.-D. Blanc / C. Luchsinger (Hrsg.), achtung: die 50er Jahre! Annährungen an eine widersprüchliche Zeit, Zürich 1994, S. 19-48. 50 W. Kempowski, Herzlich willkommen, S. 97. 51 Vgl. hierzu A. Schildt, Moderne Zeiten. Freizeit, Massenmedien und „Zeitgeist“ in der Bundesrepublik der 50er Jahre, Hamburg 1995, insbesondere S. 29 f, und ferner: A.M. Birke, Nation ohne Haus: Deutschland, 1945-1961, Berlin 1989, S. 82-96. 46 47
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(nicht nur) von Walter in der Gesellschaft des Wiederaufbaus und des Wirtschaftswunders gewidmet. Noch auf Veranlassung der „Casa Zwingli“, die daher im Verlauf der Einweihung Kempowskis in der Bildungsanstalt auf Burg Hatzfeld eine der ‚Turmgesellschaft‘ aus Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ vergleichbare Rolle übernimmt, bekommt Walter seine erste Arbeitsstelle als Lehrer. Hier muss Walter bereits nach kurzer Zeit feststellen, dass die Lehrmethoden der 50er Jahre direkt auf denen des ‚Dritten Reiches‘ aufbauen. Diese lineare Weiterführung manifestiert sich auch in den Spuren des Nationalsozialismus im Gebäude der Burg: „Deutlich waren hier und da noch Spuren von sogenannten Hoheitsabzeichen auszumachen, grob herausgemeißelt aus der Wand. Unter den Suppentellern, wenn man sie umdrehte, stand noch das Hakenkreuz“52. Im Ausland in die Riege der ‚Mitläufer‘ des Naziregimes gestellt, in der Familie als ‚Täter‘ oder zumindest als ,Verantwortlicher‘ für die Verhaftung der Mutter angeklagt, und in der Heimat als ‚Opfer‘ nicht anerkannt – die Anerkennung als „politischer Häftling“ wurde Kempowski nie zugesprochen – sucht Walter in „Herzlich willkommen“ den Weg in die gesellschaftliche Integration über das Studium und die Neugewinnung der literarischen und kulturellen deutschen Tradition. Als perfekter Stellvertreter des Vaters wird der neue Lebensgefährte der Mutter, Cornelli, die Bildung Walters in eine bestimmte Richtung lenken und daher seinen Umzug nach Göttingen organisieren. Im Gegensatz zur Beschreibung Hamburgs, mit welcher der Roman eröffnet wird, vermittelt die erste Darstellung der Universitätsstadt in Niedersachsen einen Eindruck von Ruhe, weil der „Pandektenstall“ – wie Heine Göttingen 1826 abwertend in dem berühmten Ausschnitt der Harzreise nannte53 – sich in „Herzlich willkommen“ als idealer Ort für einen ‚Neubeginn‘ erweist. Der dritte Teil des Romans beginnt also mit folgender Beschreibung der Stadt und der neuen Wohnung Walters: „In Göttingen schien die Sonne. Mein Zimmer lag in einer stillen Straße, am Hang des Hainbergs, und die Straße hieß Am Bachgraben, weil hier einmal ein reißender Bach zutal geflossen war, in früheren Zeiten, und er floß noch heute, allerdings nicht mehr reißend, mehr rinnsalartig, aber immerhin. Über bemooste Steine hüpfte er hinunter in die Stadt, von gewaltigen Buchen überragt. Am Bachgraben standen die sogenannten Professorenburgen, Zweifamilienhäuser, mit kleinen Türmen und Erkern versehen“54.
In Göttingen beginnt Walter seine Ausbildung zum Grundschullehrer, eine Berufung, die er bereits während der Gefängnisjahre spürte, die er 52 53
W. Kempowski, Herzlich willkommen, S. 135. H. Heine, Die Harzreise, in: ders., Sämtliche Schriften. Bd. 2, München 1997,
S. 105. 54
W. Kempowski, Herzlich willkommen, S. 189.
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aber erst in einer anderen Stadt als Hamburg verwirklichen konnte, das heißt an einem Ort fern von den Familienmitgliedern und von der Abwehr der Vergangenheit. Und erst in diesem „Ersatzrostock“55, wie Kempowski Göttingen nannte, fühlt sich der Protagonist aus „Herzlich willkommen“ in die psychologische Ausgangssituation versetzt, um ein neues Leben anfangen zu können: „in diesem schönen Stadtteil durfte ich einen neuen Anfang machen mit meinem Leben, und ich traf es damit gut“56. Die Tatsache, dass Walter sich in Göttingen wohl fühlt, geht auch aus einer ganzen Reihe von außertextuellen Verweisen hervor, die ebenso mächtig wie versteckt von Kempowski in die Kapitel verwebt wurden und die der Stadt gewidmet sind. Wenngleich der Hinweis auf den Beginn der „Harzreise“ von Heine versteckt ist, ist er dennoch leicht in den üblichen Anspielungen auf die Leine, die durch Göttingen fließt, und auf die Professoren, die in der Universitätsstadt leben, erkennbar. Offensichtlich ist dagegen der Verweis auf Gottfried Benns Gedicht „Reise“ (1916), von der Kempowski die ersten zwei Strophen zitiert. Aus ihnen steigt die Hoffnung an ein neues „Licht“, das wie die Sonne Göttingens das neue Leben von Walter erhellt: O dieses Lichts! Die Insel kränzt sternblaues Wasser um sich her, am Saum gestillt, zu Strand ergänzt, und sättigt täglich sich am Meer. Es muß nichts zueinander hin, die Alke, das gelappte Laub erfüllen sich; es liegt ihr Sinn im Mittelpunkt, den nichts beraubt. Auch ich zu: braun! Ich zu: besonnt! Zu Flachem, das sich selbst benennt! Das Auge tief am Horizont, der keine Vertikale kennt. Schon schwindet der Verknüpfungsdrang, schon löst sich das Bezugssystem und unter dunklem Hautgesang erhebt sich Blut-Methusalem57.
Auch aus diesen wenigen Beispielen wird deutlich, dass Kempowskis Umsiedlung nach Göttingen sich zur Konstruktion einer „Heimat im Wort“58 55 W. Kempowski, Tagebuch vom 26.12.1986, in: Stiftung Archiv der Akademie der Künste, Berlin, Walter-Kempowski-Archiv, 500, zitiert nach D. Hempel, Walter Kempowski. Eine bürgerliche Biographie, S. 91. 56 W. Kempowski, Herzlich willkommen, S. 189. 57 G. Benn, Reise, in: Gesammelte Werke, Bd. 1 (1912-1920), Wiesbaden 1960, S. 43. 58 R. Görner (Hrsg.), Heimat im Wort. Die Problematik eines Begriffs im 19. und 20. Jahrhundert, München 1992.
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und zur Rückkehr zur deutschen Sprache und Kultur gestaltet, die dem Schriftsteller das Gefühl einer Zugehörigkeit und Identität vermitteln können, welche ihm mit der Nicht-Anerkennung als politischer Häftling verweigert worden waren. Einerseits vollendet sich hier die Ausbildung des Schriftstellers, aber andererseits ist es gerade in Göttingen, wo sich Kempowski über die Verlobung und spätere Heirat mit Hildegard Jannsen in die Gesellschaft des Wirtschaftswunders einfügt. Indem er familiäre und kulturelle Stabilität wiedererlangt, die bereits die Jugendjahre Walters in Rostock gekennzeichnet hatten, vollzieht sich die endgültige Heimkehr Kempowskis in das Deutschland der Nachkriegszeit. Zum Abschluss sei an das erinnert, was Kempowski selbst anlässlich seiner ‚effektiven‘ Heimkehr 1990 nach Rostock ausführt. In „Hamit“, dem Tagebuch des Schriftstellers aus jenem Jahr, das 2006 veröffentlicht wurde, kann man darüber das Folgende lesen: „Rostock ist im wahrsten Sinne des Wortes eine ‚Heimat‘-Stadt, sie hat etwas von Heimat an sich, ganz allgemein, wie Göttingen etwa, man kann nicht begreifen, daß es Menschen gibt, die diese Stadt nicht mögen: die alten Kirchen und Tore, die Universität … Die See nicht zu vergessen! – So wenig wie man es versteht, wenn Menschen sagen: ‚Heimat? Ich bin überall zu Haus‘. Leute ohne eine Bindung an Heimat sind mir verdächtig. Immer bin ich in Rostock gewesen, auch in den Jahren der Trennung. Ich habe diese Stadt vor und zurück beschrieben, Fotos gesammelt, ja, ich bin sogar so weit gegangen, sie in Papier nachzubauen! Sehnsucht ist gar kein Ausdruck!“59.
Damit wird Rostock zu jener „pädagogischen Provinz“60 – welcher Kempowski seine Dankesrede anlässlich der laurea honoris causa, die ihm am 13. November 2002 von der Universität seiner Heimatstadt verliehen wurde, gewidmet hat –, von der der Schriftsteller gelernt hat, sich mit der Nazivergangenheit auseinanderzusetzen.
W. Kempowski, Hamit. Tagebuch 1990, München 2006, S. 7. W. Kempowski, Rostock als pädagogische Provinz, in: Ehrenpromotion der Philosophischen Fakultät 2002 (Rostocker Universitätsrede, NF 10), Rostock 2003, S. 37-47. 59 60
„Sie lauschten dem echten Jazz …“ Generationsnarrationen in Paul Schallücks „Ankunft null Uhr zwölf“ und Hans Benders „Eine Sache wie die Liebe“ Von Michele Vangi
1947 versucht der Publizist und Romanautor Erik Reger die Entwicklung der deutschen Nachkriegsgesellschaft anhand der Generationssituation vorherzusehen: „Wir rechnen fünfzehn bis zwanzig Jahre Vorbereitungszeit für eine deutsche Demokratie. Daß es sich um eine Vorbereitungszeit handelt, kann der Generation zwischen fünfzehn und dreißig nicht oft genug wiederholt werden. Diese Generation kann man im politischen Leben des Volkes nicht einfach ausfallen lassen, und die Rolle, die sie darin zu spielen hat, rechtfertigt die Anstrengungen. Dennoch sollte man sich bewußt sein, daß ihre Rolle, was das künftige Deutschland betrifft, nur sekundär sein kann. Sie hat nun einmal das Hitlerische Zeitalter bewußt erlebt, und die Spuren davon werden nie gänzlich zu tilgen sein“1.
Galt Regers Hoffnung hier vor allem den Kindern, die zu jener Zeit jünger als zehn Jahre alt waren, so liegt das daran, dass diese in einer Atmosphäre des politischen Pluralismus – ähnlich dem der Weimarer Republik – aufwachsen würden. Die politische Atmosphäre des Hitlerzeitalters, in dem die Menschen „sozusagen keinen Schatten mehr“2 geworfen hätten, und vor allem die Schulbildung, die in Hitlers „Kasernen“ erfolgt ist, hätten das Schicksal der Jugendlichen, die unmittelbar nach dem Krieg fünfzehn bis zwanzig Jahre alt waren, gänzlich anders bestimmt. Dieses beinah unbarmherzige Urteil über die Rolle der Kinder der Hitlerjahre für die sich entwickelnde Bundesrepublik soll hier einen kritischen Abgleich finden mit zwei weiteren – literarischen – Generationsdarstellungen 1 E. Reger, Zwei Jahre nach Hitler, 2. Aufl., Berlin 1986, S. 7. Hermann Dannenberger (1893-1954), bekannt unter seinem Pseudonym Erik Reger, hatte im Juni und Juli 1947 als Mitglied der Redaktionsleitung und späterer Herausgeber des Berliner „Tagespiegel“ sieben politische Beiträge geschrieben, die im Herbst desselben Jahres unter dem Titel „Zwei Jahre nach Hitler“ im Rowohlt-Verlag erschienen sind. 1931 war Regers bekanntester Roman „Union der festen Hand“, in dem der Autor das Bündnis zwischen Großindustrie und Nationalsozialisten denunzierte, erschienen. 2 Ebd., S. 12.
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jener Zeit. Dazu werden wir uns im Folgenden zwei typischen Vertretern dieser vorgeblich benachteiligten Generation widmen: Hans Bender und Paul Schallück. Folgt man der Periodisierung, die Reger selbst vorschlägt, dann gehören diese beiden Autoren schon rein biographisch zur beschriebenen Generation. Beinah gleichaltrig – 1919 wurde der aus dem Rheinland stammende Bender geboren, 1922 der Westfale Schallück – sind beide Kriegsheimkehrer. Bender war Soldat und Kriegsgefangener in Russland von 1940 bis 1949, Schallück kämpfte an der West-Front und erlitt 1944 im Gefecht mit französischen Widerstandskämpfern eine schwere Schussverletzung, die eine Beinverkürzung nach sich zog und ihn so ein Leben lang begleitete. Beide Heimkehrer erleben – auch literarisch – die „Stunde Null“, treten in Kontakt mit der Gruppe 47: Schallück nimmt bis 1962 an den Lesungen der Gruppe regelmäßig teil, von Bender ist die enge Zusammenarbeit mit Walter Höllerer – einem der wichtigsten Kritiker der Gruppe – bekannt, mit dem er ab 1954 die Literaturzeitschrift „Akzente“ begründet und herausgibt. Dem Leser bieten beide in ihren Romanen und Erzählungen der fünfziger Jahre – vollkommen im Sinne der „Kahlschlagliteratur“ – eine antikalligraphische Darstellung des Nachkriegsalltages, die die Verstrickungen der Gegenwart mit der nationalsozialistischen Vergangenheit aufzeigen soll: Benders selbsterlebte Kriegserfahrungen etwa werden ganz plastisch in „Wunschkost“3, wo nüchtern ein Kriegslazarett im russischen Gefangenenlager beschrieben ist. Schallück thematisiert das Wiederauftauchen der Vergangenheit, die freilich noch nicht aufgearbeitet ist: In seinem bekanntesten Roman muss sich der von der Westfront in die Heimat zurückkehrende Lehrer Engelbert Reineke4 mit genau den Menschen auseinandersetzen, die seinen Vater verleumdet und damit ins Konzentrationslager gebracht hatten. Die Frage, der hier nachgegangen werden soll, betrifft jedoch nicht die ganz offensichtlichen und teils selbstverständlichen Parallelen dieser beiden Biographien, werden jene Werke doch im gleichen historischen und geopolitischen Koordinatensystem, der BRD der Nachkriegszeit, geschrieben. Es geht hier vielmehr darum zu begreifen, welche Rolle die Beschreibung der eigenen Generation in den Romanen der fünfziger Jahre von Bender und Schallück spielt. Die Bewertung dieser Selbstreflexionen kann zu einem tieferen Verständnis der emotionalen Problemlage jener Jugendlichen der unmittelbaren Nachkriegszeit beitragen. Ohne einen in den Sozialwissenschaften ohnehin umstrittenen Begriff neu zu diskutieren, wird hier mit einem Generationsbegriff operiert, der nicht als 3 4
H. Bender, Wunschkost, München 1959. P. Schallück, Engelbert Reineke, Frankfurt a.M. 1959.
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Instrument einer gesellschaftsgeschichtlich relevanten Periodisierung dient, sondern als (Selbst-)Deutungsinstrument verstanden wird, weil das erzählende Subjekt seine eigene Biographie in einen kollektiven Erfahrungsraum einordnet. In kultur- und literaturwissenschaftlichen Studien der jüngeren Zeit wird „Generation“ als kognitives Paradigma verstanden, als fragile und diffuse Konstruktion. Sie bezeichnet dabei weniger eine klar einzugrenzende Epoche als ein Repertoire an kulturellen Phänomenen, Werten und Ereignissen, das von einer Altersgruppe als identitätsstiftend anerkannt wird5. In dieser Studie wird das Generationsparadigma als „Generationsnarration“ zwar auch kognitiv erfasst, dem Begriff „Repertoire“, der an eine beliebige Ansammlung diverser Elemente erinnert, wird jedoch der Begriff „Narration“, der im Folgenden näher bestimmt werden soll, vorgezogen. Mit Blick auf die Emotionsforschung sei auf die narrative Strukturierung der eigenen Erfahrung verwiesen: Sie ist ein grundlegender – nicht nur literarischer – Prozess des kognitiven und emotionalen Lebens jedes Einzelnen. Sarah E. Worth formuliert dies in Anlehnung an Roger Schank so: „Schank argues that one of the primary ways that we make sense of our world is through narrative discourse. He suggests that when someone experiences something in the world, she has a set of scripts that she uses as general reference points. For example, I have a restaurant script that allows me to go to a restaurant and have a certain, reasonable set of expectations of how this event is going to go, and what the expectations are of me if I want to be served food. We have these general scripts for all kinds of activities in our lives, everything from brushing our teeth to going to the grocery store to engaging in romantic relationships. If we did not have these scripts, then every situation would be new every time, and we would constantly be bombarded with new information that is unstructured by habit, social mores, and practical knowledge“6.
5 Alexander Honold schreibt dem Generationsparadigma eine Integrationsfunktion zu, die zur Bildung des sich in der Zeit veränderndem Kanons beiträgt, vgl. A. Honold, Die Zeit als kanonbildender Faktor: Generation und Geltung, in: R. von Heydebrand (Hrsg.), Kanon Macht Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, Stuttgart / Weimar 1998, S. 560-580. Andreas Schulz untersucht die Funktion der Generationszugehörigkeit in der autobiographischen Literatur, vgl. A. Schulz, Individuum und Generation – Identitätsbildung im 19. und 20. Jahrhundert, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, 52 (2001), S. 406-414. Einen guten Beitrag zur Begriffsklärung leistet N. von Zimmermann, Geschichte aus der Jazz-Zeit. Die ,verlorene Generation‘ in der dänischen Literatur (Wiener Studien zur Skandinavistik, 18), Wien 2006, S. 28-41. 6 S.E. Worth, Narrative Understanding and Understanding Narrative, in: Contemporary Aesthetics http://www.contempaesthetics.org/newvolume/pages/article. php?articleID=237/, (2007), S. 8. Vgl. auch R. Schank, Tell me a Story – A New Look at Real and Artificial Memory, New York 1990. Zum Begriff der „Narration“ vgl. H.P. Abbott, The Cambridge Introduction to Narrative, 2. Aufl., Cambridge 2008.
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Diese Skripte, die – bilden sie doch unseren Erwartungshorizont – wir als kognitive Orientierung im Alltag nutzen, werden nicht nur in subjektiven Einzelerfahrungen, sondern auch kulturell kodiert und tradiert: Das „Skript der romantischen Liebe“ beispielsweise ist durch eine jahrhundertlange, größtenteils literarische Tradition geformt und beeinflusst – oft unbewusst – das Liebesleben vieler Menschen. Derlei Skripte beinhalten eine narrative Achse, eine dispositio von Phasen bzw. Etappen. An dieser Stelle sei die These erlaubt, dass auch Generationen sich kulturell kodierter Skripte bedienen, um ihre eigene Geschichte zu verstehen und zu erzählen; diese Skripte sollen hier „Generationsnarrationen“ genannt werden. Unter „Generationsnarration“ versteht man also ein kollektives narratives Muster, das aus einer vergleichenden Analyse von Einzelnarrationen – literarischer oder anderer Art – der Vertreter dieser Generation deduziert werden kann; eine Generationsnarration zeichnet sich durch Konstanten oder typische Entwicklungen aus. Eine Generationsnarration ihrerseits unterliegt wiederum einem umfassenderen ‚narrativen‘ Rahmen einer ganzen Epoche. Durch Geschichtsschreibung sowie durch Literatur- und Mediendarstellung entsteht in der Bundesrepublik jener Jahre eine Selbstwahrnehmung der eigenen Zeit, die durch bestimmte Ereignisse geprägt wird: die Heimkehr der Frontsoldaten, das Drama der aus den deutsch besiedelten Gebieten Vertriebenen, die Aufteilung Deutschlands unter den Alliierten, die Deutschland zum Spielball des Ost-West-Gegensatzes macht, der rasche Wiederaufbau in der BRD, der mit dem sagenhaften Wirtschaftswunder einhergeht. In diesen Ereignissen ist eine gemeinsame narrative Dynamik erkennbar, die durch einen deutlichen Gegensatz zwischen Vergangenheit und Gegenwart gekennzeichnet ist7: von der verlorenen zur wieder- oder neugefundenen Heimat, vom Elend zur Fülle, von der Zerstörung zum Aufbau, von der autoritären Unterdrückung zur demokratischen Freiheit. Damit aber die Komplexität der erwähnten Ereignisse nicht auf den gemeinsamen Nenner der Erfolgsgeschichte reduziert wird, muss hinzugefügt werden, dass die Aufarbeitung der Kriegsvergangenheit ein im öffentlichen Diskurs der Nachkriegszeit durchaus präsentes Thema war, sodass viele Bezüge zur unmittelbaren Vergangenheit nicht komplett verdrängt werden konnten. Ganz bildhaft wird dieser Sachverhalt, wenn man in Betracht zieht, dass die Ruinen deutscher Städte – gleichsam als unbestechliche Erinnerungsorte – erst dann aus dem Blickfeld und damit dem öffentlichen Bewusstsein entschwan-
7 Ein ganz eigenes narratives Muster dürfte sich indes in Hinblick auf die deutsche Teilung herausstellen; dieses hätte eine spezielle Untersuchung verdient.
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den, als sich in der zweiten Hälfte der 50er Jahre das Wirtschaftswunder deutlicher abzuzeichnen begann. Beide Thesen sind heftig umstritten und auch von einigen Zeitzeugen in Frage gestellt worden, doch soll hier bewusst nicht näher darauf eingegangen werden8. In vorliegender Analyse wollen wir vielmehr einen großen ‚narrativen‘ Rahmen einer Epoche annehmen, vor dessen Hintergrund eine Generation – eben die der in den 20er Jahren Geborenen – ihre eigene Narration schreibt, deren Stoff aus Werten, Idealvorstellungen, Vorbildern, Verhaltensweisen und Moden besteht. Die Dynamik der ‚Erfolgsgeschichte‘, die den narrativen Rahmen der 50er Jahre charakterisiert, wird in der Generationsnarration reflektiert oder bewusst konterkariert. Als eingängiges Beispiel für diese These kann ein Phänomen dienen, das sich ab der zweiten Hälfte der 50er Jahre zeigt: die „Halbstarken“. Diese Gruppen von Jugendlichen, die Lederjacke und Jeans tragend mit ihren Motorrädern durch deutsche Städte ziehen, Comics lesen und Rockmusik hören, kurzum dem american way of life folgen, entwickeln eine Generationsnarration, die in einem ambivalenten Verhältnis zum narrativen Rahmen ihrer Epoche steht: Einerseits entspricht ihr konsumorientierter Lebensstil im ‚materiellen‘ Sinne der Erfolgsgeschichte der Wunderjahre, andererseits aber ist ihre genussüchtige Verhaltensweise eine Absage an die bürgerliche Welt, die noch in den 50er Jahren – gerade vielleicht weil sie die Zeit der Armut kennt – Werte wie Fleiß, Mäßigung oder korrekte Umgangsformen zu wahren sucht9. Zeittypische Romane – wie „Ankunft null Uhr zwölf“ (1953) von Paul Schallück10 oder „Eine Sache wie die Liebe“ (1954) von Hans Bender11 – sind Teil ihrer Generationsnarration(en): Zum einen variieren sie bewusst 8 Vgl. die vielbeachtete und -debattierte Züricher Vorlesung von W.G. Sebald, Luftkrieg und Literatur, München / Wien 1999, in der Sebald die These der Verdrängung aus dem literarischen Horizont – selbst der sogenannten „Trümmerliteratur“ – des Leidens vertritt, das den deutschen durch die Zerstörung der Städte und des elenden Lebens unter den Ruinen zugefügt worden ist. Man denke hier nur an die ständige Auseinandersetzung von Paul Schallück mit den Kontinuitätselementen zwischen Nazi-Vergangenheit und Nachkriegsvergangenheit, die ein Gegenbeispiel für die These der Verdrängung darstellt. Vgl. auch S. Hermanns, Trümmer (in) der Erinnerung. Strategien des Erzählens über die unmittelbare Nachkriegszeit, Bielefeld 2006, S. 9-24. 9 Vgl. K. Maase, Establishing Cultural Democracy. Youth, „Americanization“, and the Irresistible Rise of Popular Culture, in: H. Schissler (Hrsg.), The Miracle Years. A Cultural History of West Germany, 1949-1968, Princeton NJ 2001, S. 428-450. 10 P. Schallück, Ankunft null Uhr zwölf, Köln 1977. 11 H. Bender, Eine Sache wie die Liebe, Frankfurt a. M. 1991.
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und kritisch diese narrativen Muster, zum anderen nehmen sie Bezug auf den allgemeinen narrativen Rahmen ihrer Epoche, die wir den „Rahmen der Erfolgsgeschichte“ genannt haben. Bereits Schallücks erster Roman diente der Darstellung einer Schicksalsgemeinschaft junger Menschen: Schon der Titel dieser Studentengeschichte, „Wenn man aufhören könnte zu lügen“ (1951)12, verrät programmatisch die Existenzproblematik der Nachkriegsgeneration, der der Autor selbst angehört. „Einige Erfahrungen im Nachkriegsmilieu“, erklärt Schallück, „spielen selbstverständlich eine Rolle. Aber Autobiographisches ist nicht eingeflossen in die Geschichte vom Studenten, der bis zum Selbstmordversuch erproben will, ob man ohne Lüge, verbal und existentiell, in unseren Tagen leben kann“13. Die Erfahrungen des Krieges haben aus dem Studenten Thomas, dem Protagonisten der Geschichte, einen Nihlisten und Existentialisten gemacht: Überall sieht er Verlogenheit und Mittelmäßigkeit und versucht deshalb, seine Liebesbeziehung mit der geheimnisvollen Marion nach seinen – bis ins Extreme durchgehaltenen – Prinzipien zu gestalten. Der Literaturwissenschaft ist der Beitrag dieses Romans zu der Generationsnarration nicht entgangen: „‚Wenn man aufhören könnte zu lügen‘ ist die Geschichte einer Generation, für die es keine moralischen Wahrheiten mehr gibt, nur Trieb, Trug und Enttäuschung. Die Sehnsucht nach Mitmenschlichkeit ist übermächtig da, doch wie kann sich nach ihrer radikalen Zertrümmerung Mitmenschlichkeit wieder entwickeln? Wer verstehen will, warum existentialistische Philosophien einen so großen Einfluss auf viele junge Intellektuelle nach dem zweiten Weltkrieg hatten, dem bietet dieses Buch einige Erklärungen“14.
Selbst die Tatsache, dass Thomas sich überraschenderweise gegen den Freitod entscheidet, ist ohne weiteres im existentialistischen Sinne zu deuten, als Behauptung einer nur auf individueller Verantwortung beruhenden Freiheit. Das Ende von „Wenn man aufhören könnte zu lügen“ stellt gleichsam den Ausgangspunkt für Schallücks zweiten Roman „Ankunft null Uhr zwölf“ dar. Zwar handelt es sich hier nicht um einen „Campusroman“, der vorwiegend das studentische Milieu thematisiert, doch sind in dieser Familiengeschichte Portraits von Jugendlichen enthalten, die in einem Klima bundesrepublikanischen Wertepluralismus und politischer Desillusion aufwachsen. Dieses P. Schallück, Wenn man aufhören könnte zu lügen, Köln 1977. P. Schallück, Selbstporträt, in: Autorennachlass (noch unveröffentlicht), Aktennummer 50, zitiert in: W. Gödden, Romane schreiben aus Passion, in: W. Gödden / J. Griwatsch (Hrsg.), „Wenn man aufhören könnte zu lügen“. Der Schriftsteller Paul Schallück (1922-1976), S. 61-124, hier S. 66 f. 14 F. Viehbahn, Paul Schallück, in: H.L. Arnold (Hrsg.), Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, München 1978, Bd. 8, zitiert in: W. Gödden, Romane schreiben, S.74. 12 13
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Klima soll im Folgenden anhand zweier Themenkomplexe näher beleuchtet werden, die für die Generationsnarration dieser Zeit repräsentativ sind: die Jazzmusik und das Liebesleben. Die sich in einer trostlosen Großstadtlandschaft abspielende Geschichte von „Ankunft null Uhr zwölf“ erzählt von den verzweifelten Versuchen des verwitweten Familienvaters Herrn Richards, seine erwachsenen Kinder an das Sterbebett der jüngsten Tochter zu holen. In einer auf wenige Stunden komprimierten Haupthandlung gelingt es Schallück durch gekonnte Anwendung von Schnittechnik und Rückblenden, die Lebensläufe nicht nur der sieben Kinder Richards’ überzeugend darzustellen, sondern auch weiterer, gleichaltriger Figuren. Dabei entsteht das Portrait einer Generation, die noch desillusionierter und einsamer ist als in Schallücks erstem Roman: „Es herrscht Eiszeit der Gefühle …“, so Walter Gödden, „eine kaputte Generation stellt sich selbst zur Schau. Jeder denkt nur an sich und ist auf der Suche nach seinem kleinen bescheidenen Glück. Es sind bemitleidenswerte Gestalten, die sich in der elterlichen Wohnung unfreiwillig wieder begegnen; Muster an Hilflosigkeit und enttäuschten Hoffnungen … Der Leser begegnet, wie in „Wenn man aufhören könnte zu lügen“, Protagonisten einer verlorenen Generation, die sich vor den Kulissen der grellen Reklamewelt der Trümmerzeit neu zu orientieren versuchen“15. Schallück greift also auf die Narration der verlorenen Generation zurück, die an eine der bekanntesten Generationszuschreibungen des zwanzigsten Jahrhundertes erinnert: Das Schlagwort lost generation enstammt bekanntlich einem Ausspruch Gertrude Steins, die sich damit ursprünglich auf die amerikanischen Autoren bezog, die in den 20er Jahren in Paris lebten: Ernest Hemingway, F. Scott Fitzgerald, John Dos Passos. In weiterem Sinne fand der Ausdruck dann aber auch Anwendung auf die gesamte Generation derjenigen, die – in den 1890er Jahren geboren – die traumatischen Erfahrungen des Ersten Weltkriegs und der Wirtschaftskrise von 1929 erlebt hatten und die die tradierten Moral- und Wertvorstellungen in Frage stellten: Alkohol- und Sexexzesse sind typische Ausdrücke des Lebensstils dieser Generation. Prägnanterweise ist es auch gerade Georg, als erster Sohn des Herrn Richards einer der Protagonisten in „Ankunft null Uhr zwölf“, der – durch die Hölle des Kriegs gegangen und sein Leben fürderhin als alkoholabhängiger Lebemann dahinbringend –, die Versuche des Vaters, ihn an das Sterbebett der Schwester zu holen, als Gefühlsduselei abstempelt16. Man sieht hier, wie sich mit über zwanzig Jahren Verspätung auch in Deutschland eine lost generation herausbildet; und ganz ähnlich der Generation der 20er und 30er Jahre begeistert sie sich für den Jazz. 15 16
Ebd., S. 82. Vgl. N. von Zimmermann, Geschichten aus der Jazz-Zeit, hier S. 43 f.
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Der Jazz feierte zuerst in den 20er Jahren in Deutschland großen Erfolg, doch als er begann, sich nicht nur als Vergnügungsmusik, sondern bewusste Stilrichtung durch eigene Performer und Fan-Community, durch Schallplatten- und Notensammler, Jazzlokale und Fanzeitschriften zu profilieren, wurde ihm durch die NS-Staatsraison der Garaus gemacht. Jazz passte freilich nicht in die Kulturpolitik der Nationalsozialisten: Allein seine afrikanischen Einflüsse, gepaart mit seiner Vorliebe für Improvisation und Solo, um nur zwei Charakteristika zu nennen, mussten ihn in den Augen der Nazis als unaufführbar erscheinen lassen. 1945 jedoch kehrt auch Jazz wieder nach Deutschland zurück und vor allem in den amerikanischen Besatzungszonen entwickelt sich eine lebendige Jazzszene, die sich vornehmlich in US-Kasernen und GI-Clubs abspielt, wo nicht selten deutsche Bands zusammen mit amerikanischen Musikern auftraten17. Noch vor solchen Live-Performances war es jedoch das Radio, das die junge Generation mit Jazz bekannt machte18. Die emphatische Wirkung, die ein solcher Jazz-Radiosender entfalten konnte, zeigt die Beschreibung des Freundeskreises von Peter, einem weiteren Sohn von Herrn Richards. Jeden Abend fanden sich die jungen Leute im Hinterzimmer einer Apotheke ein und „… saßen alle gebannt auf ihren Sitzen und lauschten zum Radio hin, das hektische Märchen fremder Völker erzählte. Das Trompetensolo rundete sich, verlor an Schärfe, schwebte weich und wolkig über die lärmende Fläche hin, verdichtete sich wieder, stieg noch einmal hoch und drehte sich dann langsam aus der Luft herab … Sie liebten den einsamen Mut, sie wurden größer, bekamen dunkel leuchtende Augen und sanken mit der herablaufenden Kurve und dem verhallenden Echo wieder in sich zusammen … Negro-Spiritual, ferne Gesänge, Männer- und Frauenstimmen voller Sehnsucht, Urwaldtrauer und das Rauschen des Mississippi; kleine Holzhütten, fromm, unerlöste vox humana in der christlichsten aller Demokratien. Sehnsucht, Ballade, Traum – übers Land hin, über den Ozean, durchs westliche Europa in die Apotheke, wo Fromm-sein nicht gedieh, nur der Rausch und die Sehnsucht und die Traurigkeit ihrer Zeit. Und es sah aus, als ob sie Heimweh hätten. Aber sie kannten ihre Heimat nicht. Sie lauschten dem echten Jazz, der Musik ihres Lebens. Sie wussten, dass sie ihre Grundmelodie finden mussten: sie wollten zugleich Komponisten und Ausführende ihres Lebens sein, ihre Melodie bis in die letzten Möglichkeiten zu variieren verstehen. Leben war ihnen unbegrenzt-endliche Möglichkeit. Und sie sahen alle aus, als ob sie Heimweh hätten“19. 17 Vgl. W. Knauer (Hrsg.), Jazz in Deutschland (Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, 4), Hofheim 1996, S. 712. 18 Michael Naura, ein Jazzmusiker, der in den 50er Jahren in Berlin zu musizieren begann, erinnert sich in einem Interview an die Jahre nach dem Krieg: „Nach dem Kriege, 1945 … Ich habe im Prenzlauer Berg in Berlin gelebt, und zwar im sowjetischen besetzten Teil Berlins. Da war erst mal tabula rasa, es war nichts, es war grauenhaft … Es gab nichts – es gab keine Noten, es gab keine Schallplatten. Es gab nur das Radio …, ein wunderbares Medium, das war sozusagen die Initialzündung für mich als Musiker“, W. Knauer (Hrsg.), Jazz in Deutschland, S. 159-160. 19 P. Schallück, Ankunft null Uhr zwölf, S. 50-51.
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Interessieren soll hier weniger Schallücks idealisierende und simplifizierende Darstellung der Jazzmusik als der Stellenwert des Jazz in der Generationsnarration und dem übergreifenden allgemeineren narrativen Rahmen dieser Epoche: In der fremden Musik, die frei von jeder nationalistischen Rhetorik ist, finden Peters Freunde eine Art geistiger Heimat. Ähnlich wie die Jazzmusik, die unbegrenzte kompositorische Freiheiten ermöglicht, empfinden die Jugendlichen „die Musik ihres Lebens“,– vor allem auch weil die bisher gültigen Werte ihrer Heimat zur Gänze verloren scheinen – als Zukunftsmusik, die mit unendlichen Möglichkeiten und gleichsam als einsame Schöpfung geschrieben werden kann. In Schallücks Roman wird diese Beschreibung der Leidenschaft für die Jazzmusik in ein Gespräch über frustrierte Liebesgefühle eingebettet: Charlotte, die Apothekertochter und zukünftige Freundin von Peter, unterhält sich mit einem Jungen, der einfach „der Volkswirt“ genannt wird. Der „Volkswirt“, dem die Werteskepsis von Peters Clique zuwider ist und der sich nach Charlottes Liebe sehnt, versucht, sie vor den Gefahren der Gefühllosigkeit ihrer Freunde zu warnen: „Die wehren sich sogar gegen ihre Gefühle. Sie haben keinen Standpunkt, daran liegt es, sie sind haltlos … So kann man doch nicht durchs Leben kommen. Du gehörst nicht hierher, Lotte“20. Charlotte behauptet, nicht zu wissen, was Verliebtsein bedeute. Bezeichnenderweise ist der Volkswirt ein Kriegsheimkehrer, seit einem Jahr aus der Gefangenschaft zurück: Nach dem in jungen Jahren erlebten Grauen sehnt er sich nach Klarheit der Gefühle, die er als Basis für eine Liebesbeziehung begreift. Bei Charlotte erweckt er damit nur Mitleid, und von Peter wird das mit einem Achselzucken quittiert. Das Zurückbesinnen auf Werte erweist sich in Schallücks Darstellung seiner eigenen Generation als minoritäre Position, und eine nihilistische Haltung seiner Figuren gegenüber den traditionellen Werten der Ehe und der Familie überwiegt. Dies ist in anderen zeitgenössischen Romanen nicht immer der Fall. Die desillusionierte Haltung der Mehrheit wird von Charakteren derselben Generation konterkariert, die stark von traumatischen Kriegs- und Fluchterfahrungen gezeichnet sind: Sie sind diejenigen, die in den traditionellen Werten der Ehe Halt und Orientierung suchen. Helmut Peitsch hat beobachtet, dass in vielen Zeitromanen Ende der 40er und Anfang der 50er Jahre von Eheschließungen die Rede ist, wie u.a. im Albin Steubs „Der Wahre Jakob“ (1949), Walter Bauers „Besser zu zweit als allein“ (1950), Josef Martin Bauers „Am anderen Morgen“ (1949) oder Jürgen von Hollanders „Eine Handvoll Zeit“ (1952): „Mit der Gründung einer Familie endet in diesen Büchern der Weg des Helden, der durch Krieg und insbesondere Nachkrieg geprägt wird: An die Stelle des
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Chaos tritt die Ordnung, die Krise der wirren Jahre soll sich als bewältigt erweisen. Oftmals steht am Ende der Haltung nicht nur die Heimkehr des Mannes in das von der geliebten Frau repräsentierte private Zuhause, sondern auch der Wunsch nach einem Kind, der gewissermaßen die Zukunftsträchtigkeit der Lösung unterstreichen soll“21.
In diesem Fall korreliert die Generationsnarration aufgrund dieser hoffnungsvollen Charaktere junger Heimkehrer mit dem allgemeinen narrativen Rahmen der Erfolgsgeschichte. Die Erfolgsgeschichte, die sich durch eine Dynamik der Kontraposition zwischen Nazi-Vergangenheit und Gegenwart auszeichnet, konkretisiert sich in der schon erwähnten Variante, die das Epos des Wiederaufbaus nur durch den Rückhalt der Werte des bürgerlichen Ethos als möglich beschreibt. Auch Schallück stellt interessanterweise in der Endszene von „Ankunft null Uhr zwölf“ die bisher illusionslosen Figuren in ein anderes Licht, da er neue Beziehungsszenarien erahnen lässt: Charlotte kommt nach einem gescheiterten Versuch, im kommunistischen Ost-Deutschland eine Stelle als Ärztin zu finden, um null Uhr zwölf aus Berlin am Bahnhof an. Peter holt sie dort ab, beide gehen Arm im Arm aus dem Bahnhof hinaus und teilen den Wunsch, nicht mehr allein sein zu wollen. Paradebeispiel für die Idee einer glücklichen Integration eines jungen Kriegsheimkehrers ist Josef Martin Bauers Roman „Am Anderen Morgen“. Der ehemalige Soldat Kaspar Silex kann nicht anders als staunen über die fremd gewordene Heimat. Die neue Tanzmusik erlebt der konservative Protagonist als Zeichen des Sittenverfalls, dem er die Kirchenmusik entgegensetzt. Seinen Prinzipien entsprechend nimmt sich Silex ein Mädchen aus dem Dorf und arbeitet in seinem alten Beruf als Gemälderestaurator22. Das Motiv der Liebe ist also in der Generationsnarration jener Nachkriegsepoche oft mit dem sozialen Phänomen der Musik verknüpft, insbesondere der Jazzmusik, die in jener Zeit zu einer Massenverbreitung gelangte und die Mischung aus Faszination und Ablehnung gut verkörperte, die der amerikanische Lebensstil auf die deutsche Gesellschaft ausüben musste. Dies ist nicht anders in Hans Benders Roman „Eine Sache wie die Liebe“, der zum großen Teil der Liebe in der Zeit des Jazz gewidmet ist. In Benders buntem Generationenfresko ist die Jazzmusik als swingende Soundkulisse im Leben einer Studentenstadt überall präsent. In dieses Leben taucht der Held, Robert, Sohn eines anständigen Wirtes aus der Provinz, am 21 H. Peitsch, Vom Faschismus zum kalten Krieg – auch eine deutsche Literaturgeschichte: Literaturverhältnisse, Genres, Themen, Berlin 1996, S. 317-322, hier S. 318. 22 Vgl. ebd., S. 318-319.
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Anfang zögerlich, dann immer neugieriger ein. Im Gegensatz zu Schallücks Roman ist Jazz hier nicht nur das private Vergnügen eines engen, sehnsuchtsvollen Freundeskreises, sondern wichtiger Teil des sozialen Lebens einer ganzen Generation: Jazzmusik begleitet die unendlichen Abende in den amerikanischen Bars, wird wild getanzt und mitgesungen und ist neben den Jeanshosen, Zigaretten und exotisch anmutenden Drinks Ausdruck eines konsumfreudigen Lebensstils, der Gefühlen keinen Platz einräumt. Genauso wie man die Produkte der Konsumwelt genießt, wird Sexualität als bloße Notwendigkeit unter anderen aufgefasst. Die emanzipierte Annette, Schwester von Roberts Freundin Margret, die er in der Provinz zurückgelassen hatte und die nicht mit ihm schlafen wollte, bringt diese Lebenseinstellung zum Ausdruck: „,Du hast eine Vorstellung von der Liebe wie Margret oder Mama‘, sagt sie zum noch unerfahrenen Robert, ,eine uralte Vorstellung wie in den Geschichten von Gottfried Keller und Theodor Storm. Das war einmal – wenigstens für uns hier. Die Liebe? Vor allem ist sie kein Problem. Wir empfinden nicht mehr so viel, sie zum Problem werden zu lassen. Wir halten Kameradschaft, Henry und ich, Kurt und ich, Kurt und Lilo, Henry und einige von den Amerikanern, die an der Theke klebten wie die Fliegen am Leim. Wir trinken zusammen, wir tanzen und schlafen auch manchmal zusammen, aber wir reden keinen UFA-Filmdialog dabei. Vor allem geben wir uns kein Versprechen für die Ewigkeit. Das ist besser so. Man wird nicht krank davon. Was zwischen Mann und Frau geschieht, ist nicht so wichtig: Eine Tätigkeit im Bett. Man braucht’s. Vorbei‘“23.
Mit einem gewissen Schematismus, der sich durch den ganzen Roman zieht, identifiziert Bender die noch ländliche Kultur der deutschen Provinz mit Werten, die auf dem neuen großstädtischen way of life nur zu Lasten sein können24. Auch wenn die coolness des Jazz den Ton einer Generationsnarration angibt, entscheidet sich Robert am Ende für die alte Welt der Gefühle, die durch Margret verkörpert wird: „Margret hatte ihn geliebt. Das wusste er nun genau … Die Stunden, die er mit diesen Schwätzern und Nichtstuern verbrachte. Die vergeudete Zeit mit Annette und Henry, mit Lilo, Kurt, den Negern und den Amis in der Bar. Ihre Gespräche, die ihn am Anfang so begeistert hatten, waren leeres Stroh. Gespräche über Filmstars, Sportler, Jazzmusiker, über Kleider, Hosen, Schuhe, über Autos und Tonbandgeräte“25.
H. Bender, Eine Sache wie die Liebe, S. 104. Nicht zufällig entstammt Margret einer aus dem Osten vertriebenen Familie. Eine verständliche Reaktion auf die Entwurzelung ist der Wertekonservativismus: Da sie ihre Heimat und sämtliche Besitztümer verloren hat, besinnt sie sich auf traditionelle und „bodenständige“ Werte. „Alles was früher war, war für Margret gut. Da war die Heimat, der Vater, die Stadtwohnung mit den geräumigen Zimmern und die Ferien in Goldacker“, ebd. S. 14. 25 Ebd., S. 154-155. 23 24
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Auch in diesem Fall lehnt der Held die Verdinglichung der Liebe ab und besinnt sich auf bürgerliche Werte wie Mäßigung, Monogamie, Aufrichtigkeit der Gefühle, Hilfsbereitschaft26. Bei Bender werden – viel dezidierter als bei Schallück – zwei Generationsnarrationen im Laufe des Romans bewusst entgegengesetzt: zunächst die Narration der konsumfreudigen, aber innerlich zerrissenen Generation, die den neuen Moden und Tendenzen aus Amerika folgt, dann aber die schon erwähnte Narration des Helden, der sich nach den Verwirrungen in der Konsumwelt für eine Ethik entscheidet, die aus dem Gleichgewicht von Werten und Gefühlen besteht und sich in der noch unkorrumpierten Provinz am besten verwirklichen lässt. Wohl aufgrund dieses simplen Antagonismus vermag die Umkehr des Helden letztlich nicht zu überzeugen27. In „Ankunft null Uhr zwölf“ überwiegt hingegen trotz des vorsichtig hoffnungsvollen Finales die Narration der lost generation: Das Schicksal der jungen Romanfiguren zeigt – bei jeder Figur auf individuelle Art und mit unterschiedlicher Intensität – eine Dynamik der orientierungslosen Flucht aus der materiellen und moralischen Niederlage der Eltern; eine neue Heimat, in der ein friedliches Leben auch auf der Eintracht zwischen den Generationen beruht, ist für diese Jugendlichen noch nicht in Sicht: Diese Helden erleben eine „Heimkehr in die Fremde“, wie der Titel eines 1949 erschienenen Romans von Walter Kolbenhoff lautet28. Ist nun also das eingangs zitierte Urteil Erik Regers über die sekundäre Rolle der ersten Nachkriegsgeneration im öffentlichen Leben der frühen Bundesrepublik auch aus einer „innergenerationellen“ Perspektive bestätigt? Man möchte diese Frage hier aus zwei Gründen verneinen: Erstens sind die beiden hier besprochenen Romane, die von zwei Autoren, die bei ihrer Abfassung kaum älter als zwanzig Jahre waren, allein schon authentische und perspektivenreiche Darstellungen des Alltagslebens der ersten Jahre der Nachkriegszeit, die dem narrativen Rahmen des Wirtschaftswunders skeptisch
26 Gleichsam ein Läuterungsprozess aus den Exzessen seines Lebens ist Roberts Entscheidung, sich freiwillig zu Bergungs- und Aufräumungsarbeiten in einigen griechischen Inseldörfern zu melden, die von einem Erdbeben zerstört worden sind. Vgl. ebd., S. 157-158. 27 Der antagonistischen Konstruktion des Romans erlegen, formuliert Helmuth Peitsch, dass die Beschreibung des amerikanisierten Lebens der Protagonisten „in einem auffallenden Kontrast zu der moralischen Konstruktion des Romans“ stehe, als ob sich diese dann auch in ähnlich polarisierter Form sprachlich hätte ausdrücken müssen. Besser ließe sich die Frage stellen, ob antagonistische Generationsnarrationen bereits im Intratext des Romanes konfligieren, vgl. H. Peitsch, Vom Faschismus zum kalten Krieg, S. 319. 28 Vgl. W. Kolbenhoff, Heimkehr in die Fremde, Frankfurt a.M. 1988.
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gegenüberstehen; zudem fallen Schallücks und Benders Urteile über die Narrationen der eigenen Generation oft sogar ganz (selbst-)kritisch aus29. Zweitens muss hier eindrücklich auf den politischen Wert hingewiesen werden, den auch vorgeblich unpolitische Positionen annehmen können. Die vermeintliche Coolness der Jazzgeneration impliziert eine sozial relevante Ästhetik: Die Kunst – losgelöst von sozialen Verpflichtungen – wird nicht nur als Vergnügen, sondern als Selbstentfaltung betrachtet, die von zu restriktiven moralischen Normen befreit. Sowohl für die Popkultur, die den folgenden Generationen identitätsstiftend wurde, als auch für die 68er-Bewegung, die sich zuvörderst durch ihre besondere „Umwertung der Werte“ auszeichnete, wurden die Weichen schon in den ersten Jahren der Nachkriegszeit gestellt.
29 Eine ähnliche Position vertritt Silke Hermanns in Bezug auf den moralischen Wert realistischer Literatur der Trümmerzeit, wie z.B. in Kolbenhoffs „Heimkehr in die Fremde“. Vgl. S. Hermanns, Trümmer (in) der Erinnerung, S. 32-64.
Verweigerte Identitäten Die Geschichte des Valentin Senger (1918-1997), Jude, Kommunist und Heimkehrer ohne Vaterland Von Elena Agazzi
1995 wird vom Verlag Luchterhand in München ein etwas mehr als hundert Seiten langer Text mit dem Titel „Der Heimkehrer“ veröffentlicht. Der Untertitel lautet: „Eine Verwunderung über die Nachkriegszeit“1. Obgleich man annehmen könnte, es handele sich dabei um eine um den Prototypen des Heimkehrers angesiedelte Erzählung gemäß den bereits bekannten Kategorien des Flüchtlings oder des Vertriebenen, oder etwa des Landsers, so erkennt man sehr bald, dass dagegen ein autobiographischer Ausschnitt aus dem Leben von Valentin Senger dieses Werk repräsentiert. Senger ist ein Mensch, der seine sonderbare Familiengeschichte und seine persönliche Geschichte in einer wirklich außergewöhnlichen Weise zu erzählen vermag. Während der ganzen vom Nationalsozialismus beherrschten Zeit gelingt es Senger, dem Sohn eines russischen Juden, mit seinen Eltern und den beiden Brüdern mitten im Stadtzentrum von Frankfurt, in der Kaiserhofstraße 12, unweit des Sitzes der Organisation „Kraft durch Freude“, zu überleben. Sei es, dass der Vater, ein Revolutionär der ersten Stunde, 1905 aus Russland geflohen war, um sich der Zwangseinweisung der Juden wegen dem Krieg gegen die Japaner zu entziehen (so die Version der Mutter), sei es, um den Repressalien des russischen Militärs gegenüber den Revolutionären zu entkommen (so die Version des Vaters), Tatsache ist, dass die Eltern mit Papieren in Deutschland landen, die sie als Staatenlose ausweisen. In Frankfurt nimmt das Epos dieser Familie seinen Anfang, die mit der kommunistischen Partei in Verbindung steht und zugleich ihre eigene jüdische Identität verbergen muss, um den nach 1938 immer zahlreicher werdenden Razzien zu entkommen. Aber die detaillierte Geschichte der Ausflüchte, die sich die Sengers ausdenken müssen, um am Leben zu bleiben, wird in dem autobiographischen Werk von 1978, „Kaiserhofstraße 12“2 weit ausführlicher geschildert. Dieses Werk kann auch V. Senger, Der Heimkehrer. Eine Verwunderung über die Nachkriegszeit, München 1995. 2 V. Senger, Kaiserhofstraße 12, München 1978. 1
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als eine „Familiengeschichte“ definiert werden: Darin wird die Erfahrung der Heimkehr in den fünf Kapiteln, beginnend mit der Überschrift ‚Der Herzfehler‘ bis zu ‚Der amerikanische Kommandant‘3, vorweggenommen. „Der Heimkehrer“ stellt also einen autonomen autobiographischen Bestandteil mit Bezug auf das Jahr 1944 dar, das Jahr, in dem Valentin Senger aufgrund seiner neutralen Dokumente bezüglich seines bürgerlichen und religiösen Status zu einer Ausbildung als Kanonier der Schweren Artillerie in Fritzlar (Hessen) berufen, dank eines gottgewollten Fleckfiebers der Sendung an die Ostfront entkommen kann. Wir haben es hier folglich mit einem außergewöhnlichen Fall des Heimkehrers zu tun, dem eines russischen Juden, der, wenn auch nur kurz in den Reihen der einzigen wahren Feinde, der Deutschen, gekämpft hat und der weder aus den Gefangenenlagern, noch aus den östlichen Kolonien und auch nicht von der Front nach Hause zurückkehrt, sondern aus dem Lazarett des Ursulinenklosters in Fritzlar. Sein eigentlicher Krieg hatte drei Viertel seines Lebens mit seinen Papieren in der Hand stattgefunden. Zunächst, um nicht als Jude und Kommunist identifiziert zu werden, dann, um von den Amerikanern nicht für einen Sowjetspion und von den Russen nicht als Kollaborateur der Amerikaner gehalten zu werden und schließlich zum Erhalt der deutschen Staatsbürgerschaft, die ihm erst 1981 zugestanden wurde. Diese letzten beiden Kapitel über seine Schicksalsschläge sind auch deutlich im zweiten Teil seiner Autobiographie, „Kurzer Frühling“4 wahrnehmbar, in dem die Geschichten des Heimkehrers den Prolog abgeben, welcher das erste Kapitel von „Kurzer Frühling“ mit der Überschrift „Höhenflug“ überlagert. An dieser Stelle fehlt es nicht an jener bitteren Ironie, die Senger stets freigiebig verteilt und die der etwas zögerlichen Einsicht entspringt, dass die Ideologien wie zweischneidige Schwerter sind. Am Ende fügen sie gar dem vorsichtigsten und geschicktesten Kämpfer Wunden zu: „Die aus der Emigration Zurückgekehrten, aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern Befreiten und die Überlebenden des Widerstands setzten sich zusammen und überlegten, was zu tun, wie in den Trümmern ein neues Leben zu beginnen sei. Aber nicht nur die Kommunisten rührten sich, auch die Sozialdemokraten und Christdemokraten. Nicht mehr getrennt wie in der Vergangenheit, gemeinsam wollten wir den Grundstein für ein besseres Leben legen“5.
Die Verwunderung ist also ganz in diesem eindringlichen Wort „Erstaunen“ zusammengefasst, auf das wir zu Beginn seiner Geschichte stoßen, wo er sich nach Hause begibt, nämlich nach Frankfurt. Dort trifft er in der noch intakten Wohnung seinen Vater und seine Schwester wieder, nicht aber seine 3 4 5
Ebd., S. 253-300. V. Senger, Kurzer Frühling. Erinnerungen, Hamburg / Zürich 1984. Ebd., S. 7.
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1944 an einem Herzinfarkt verstorbene Mutter und seinen Bruder Alex, der in den letzten Kriegsjahren an der Ostfront ums Leben gekommen war: „Fünfzig Jahre danach ist der Schrecken verdrängt, das Grauen verblasst, und übriggeblieben in meiner Erinnerung ist das Verrückte und Absurde dieser Tage. Heute, fünfzig Jahre danach, zittere ich nicht mehr, wenn ich daran denke, wie sehnlich ich die Vernichtung Hitlerdeutschlands herbeigewünscht hatte und wie ich die Befreiung erlebte. Dennoch löst die Rückschau noch immer Erstaunen aus, Erstaunen darüber, dass ich auch die letzten Wochen und Monate des Zitterspiels zwischen Leben und Tod, zwischen Lüge und Verstellung, das ein Jahrzehnt gewährt hat, überlebt habe“6.
Sengers Erstaunen vermischt sich ständig mit einer starken Ausprägung an Schuldbewusstsein: Den Vernichtungslagern nämlich entgangen zu sein, nichts gegen die Erkrankung der Mutter getan zu haben, die von den Familienpflichten, den politischen Aufgaben und vom Überlebenskampf überfordert war, und weil er nicht für seinen jüngeren Bruder an der Ostfront hatte kämpfen können, der zuerst als verschollen gegolten hatte, dann als verstorben erklärt worden war.
I. Der Text über die Heimkehr als Vermächtnis Senger unterteilt „Den Heimkehrer“ in Erzählabschnitte, wobei er sich der Erinnerungen an jenes schreckliche Jahr 1945 bedient, als er paradoxerweise Gefahr lief, ein „Opfer der Befreiung“ zu werden und wo er die seiner Heimkehr in die Kaiserhofstraße 12 vorausgehenden Episoden sowie Tagebuchauszüge rekonstruiert. Bei der Abfassung des Textes kommen gegebenenfalls 1994 formulierte Überlegungen (die Nachträge) hinzu7. Das kurze autobiographische Werk findet in der Gedenkfeier am Jahrestag der Befreiung von Hitlers Joch seine Umsetzung, als nämlich die Erleichterung über die überwundene Gefahr dennoch der Sorge um eine spürbare Zunahme des antisemitischen Geistes Raum lässt, der man sich nach Meinung des Autors in Deutschland nie entledigt hat. Das Klima, das er während seiner langsamen Heimkehr antrifft, ist genau das, was Hans-Ulrich Wehler im vierten Teil seiner „Deutschen Gesellschaftsgeschichte“ beschreibt: V. Senger, Der Heimkehrer, S. 5. Ich kann ein Beispiel zum Wert dieser Nachträge anführen anhand eines Mottos, das Senger sich in der Nachkriegszeit gemerkt hatte, und zwar „Stadtluft macht frei“. Nach 1945 verstand man darunter, dass die Unkenntnis dessen, was in den bürgerlichen Kommandozentralen vor sich ging, was die Einwohner auf dem Land betraf, durch eine Rückkehr in die Stadt kompensiert werden konnte. Senger bemerkt eigentlich erst fünfzig Jahre später, dass das historische und soziale Gedächtnis der Bürger auch in der Stadt durch einen Konservatismus belastet ist, der jeden Augenblick in Faschismus auszuarten droht, S. 40. 6 7
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„So unleugbar der Mai 1945 eine Befreiung von der nationalsozialistischen Diktatur bedeutete, von der die Deutschen sich selber nicht hatten befreien können, so verständlich ist es, dass die Niederlage mit ihren Folgen aus der Sicht der meisten deutschen Zeitgenossen als deprimierende Katastrophe empfunden wurde. Hatte unlängst noch das ,Großdeutsche Reich‘ vom Nordkap bis nach Nordafrika, von der Atlantikküste bis zur Krim sein Herrschaftsgebiet ausgedehnt, hatten sich Hitlers Deutsche bereits als künftiges Herrenvolk der Welt gefühlt, erlebten sie seit diesem Frühjahr 1945 den Absturz in den Abgrund der Besiegten, die endlich auch mit dem Menschheitsverbrechen des Judenmords konfrontiert wurden. Das war das Ende aller kriegerischen Exzesse und aller aberwitzigen Träume. Finis Germaniae? Das glaubten damals nicht wenige“8.
Diese „nicht wenigen“, die an Deutschlands Ende glaubten, mussten dennoch die Niederlage vor der Instanz des eigenen Gewissens zur Kenntnis nehmen. Folgt man den Überlegungen von Jaspers, so waren sie noch weit davon entfernt, die Konsequenzen der Schuld zu begreifen9, die sie im Deutschland nach dem Nationalsozialismus zu ‚Buße‘ und ‚Erneuerung‘ hätten führen können. Senger trifft auf seinem Weg auf die deutlichen Anzeichen des unbeugsamen deutschen Stolzes, den man bis zur letzten Stunde vor der Kapitulation noch an den Tag legte, wie beispielsweise das Schild am Hals eines von einer Heldenklau (bzw. Wehrmachtspatrouille) wegen Fahnenflucht Hingerichteten, den man in Frankenberg auf einem Heuboden gefunden hatte10. Das ist der Anfang seiner Pilgerreise unter den die Landschaft Hessens bevölkernden Ängstlichen und Verschwiegenen, den Renitenten und Opportunisten. Dazu gezwungen, hinter der Fassade seines Lügengebäudes Zuflucht zu finden, muss er von Mal zu Mal den Ausdruck von Antisemitismus oder den unerschütterlichen Glauben an das Vaterland bei Frauen ertragen, die zu Hause in oftmals hoffnungsloser Erwartung auf die Heimkehr ihrer Männer ausharrten: „Da saßen nun drei Frauen, die nach wie vor zum Hitlerregime standen, in einem abgelegenen Jagdhaus zusammen, wurden von Plünderern in Zivil und vor marodierenden deutschen Soldaten, die sich auf heilloser Flucht befanden und auch gegenüber den eigenen Landesleuten keine Rücksicht mehr kannten, von einem
8 H.-U. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkriegs bis zur Gründung der beiden deutschen Staaten 1914-1949, 2. Aufl., München 2003, Tl. 7: Das Kaiserreich im Ersten Weltkrieg 1914-1918, S. 941-950, hier S. 941 f. 9 K. Jaspers, Die Schuldfrage. Ein Beitrag zur deutschen Frage, Zürich 1946. Zu einer interessanten Analyse des Problems der Schuldfrage mit Bezug zu Jaspers’ Text vgl. J. Vogt, Schuldverschreibung? Vom schwierigen Umgang unserer Literatur mit der „Vergangenheit, die nicht vergehen will“, in: G. Eifler / O. Saame (Hrsg.), Die Frage nach der Schuld (Mainzer Universitätsgespräche Sommersemester 1987 und Wintersemester 1987/1988), Mainz 1988, S. 211-231. 10 V. Senger, Der Heimkehrer, S. 7 f.
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Juden beschützt. Von einem Juden, den jede der drei Frauen, hätten sie seine wahre Identität gekannt, auch jetzt noch bedenkenlos der Gestapo ausliefern und damit in den sicheren Tod schicken würde“11.
Nichtsdestoweniger gehören die Misstrauischen und die Unerschütterlichen zu den repräsentativsten Kategorien der Deutschen, die Senger in seinem Werk anführt. Den ersteren gelingt es nicht, den logischen Zusammenhang zwischen der deutschen Uniform, die Valentin noch trägt, und der Tatsache, zu erfassen, dass er sich zugleich als staatenlos erklärt. Die Letzteren suchen vor allem in Sengers Uniform ein Alibi, um ein Loblied auf die Nation anzustimmen, und die Abrechnung mit der Justiz aufzuschieben. Herbert Marcuse hat einmal gesagt: „Nicht das Bild einer nackten Frau, die ihre Schamhaare entblößt, ist obszön, sondern das eines Generals im vollen Wichs“. Diesem Gedanken scheint insbesondere die Episode mit dem Titel „Der Ritterkreuzträger“ gewidmet zu sein. Bei Senger weitet sich die Reflexion über den Ruhm des Kämpfers noch aus, vom speziellen Treffen mit einem Kriegsordensträger bis zu Überlegungen bezüglich der Frage der Gedenktage, der öffentlichen Demonstrationen militärischer Art und der bürgerlichen Anlässe zur Wiederbelebung des Nationalstolzes: „Damals, 1945, hätte ich es als den Ausfluss eines kranken Gehirns bezeichnet, hätte mir jemand vorausgesagt, dass Ritterkreuzträger schon sehr bald, zusammengeschlossen in einer ,Ordensgemeinschaft‘, jährlich mit großem Pomp ihre Heldentaten feiern würden, von Bürgermeistern und Bundeswehrgenerälen begrüßt und von Bundeswehrkapellen beschallt. Und allen Trägern baumelt bei solchen offiziellen Gelegenheiten vor der Brust das Ritterkreuz, am schwarz-weiß-roten Band sorgsam um den Hals geknüpft, der Orden, den genau in der Mitte ein dickes, nicht zu übersehendes Hakenkreuz schmückt“12 .
In dieser Hinsicht sehen wir uns dazu veranlasst, uns Svetlana Boyms Theorie über die beiden Formen der Nostalgie anzuschließen, der „guten“, nämlich, und der „schlechten“, die auch eine andere Erscheinungsform und einen unterschiedlichen Eindruck der Zugehörigkeit zur kollektiven Identität beschreiben. Boym definiert die erste Form als restaurative (bezogen auf das nostos), die zweite als reflexive Nostalgie (bezogen auf die algia): „Die restaurative Nostalgie akzentuiert das nostos und versucht den verlorengegangenen Raum zu rekonstruieren und die Leere des Gedächtnisses zu kompensieren. Die reflexive Nostalgie stellt die algia, das Verlangen und den Verlust, den unvollendeten Erinnerungsvorgang in den Mittelpunkt. Bei der ersten Kategorie sehen sich die Nostalgiker nicht als solche: Sie sind der Überzeugung, dass Ihr Vorhaben der Wahrheit entspricht. Diese Art von Nostalgie kennzeichnet die nationalen und nationalistischen Revivals in aller Welt, welche sich mit der Schaffung von antimodernen geschichtlichen Mythen durch eine Rückkehr zu den Symbolen und nationalen Mythen beschäftigen, und das hin und wieder anhand 11 12
Ebd., S. 11. Ebd., S. 31.
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zirkulierender verschwörerischer Theorien … Die konspirative Vision der Welt basiert auf einem einzigen transhistorischen Stoff, einem manichäischen Kampf zwischen Gut und Böse und der unvermeidbaren Rückführung auf den mythischen Feind als Sündenbock. Die Ambivalenz, die Komplexität der Geschichte und die Besonderheit der modernen Lebensumstände werden daher eliminiert und die moderne Geschichte wird als Verwirklichung einer alten Prophezeiung gedeutet“13.
Unter der ideologisch noch verschwommenen großen Anzahl der Kriegsheimkehrer aus der deutschen Niederlage, sind die Ordensträger aus Sengers Sicht das pars pro toto derer, die das patriotische Empfinden mit dem Stolz auf die Rolle eines Repräsentanten der Aufopferung für die rechte Sache des Dritten Reiches auf schuldhafte Art verwechselt haben. Aber der Aspekt, der den Leser am stärksten trifft, ist, dass Senger es aus der gegenwärtigen Perspektive heraus versteht, mit feinstem psychologischen Einfühlungsvermögen den Gefühlsseismographen des mit Orden ausgezeichneten Kriegsheimkehrers nachzuvollziehen. Dabei handelt es sich um den Typen des wegen der Niederlage Enttäuschten, der sich nicht vom Ehrenkreuz zu befreien vermag, auch wenn dieses nunmehr keine Bedeutung mehr hat. Im verschwenderischen Bemühen seine Angelegenheiten auch nur seinem einzigen Zuhörer, dem Heimkehrer Senger, zu erzählen, kündigt sich bereits seine „Lust am Erzählen“ mit kathartischer Valenz an, was in endlosen Variationen in den Kameradschaftsabenden seine Fortsetzung findet. An diesen Abenden gedenken die „unverdrossenen Krieger“ stets aufs Neue ihrer Heldentaten, bis zur Überzeugung, dass noch eine Befreiung möglich sei. Senger ist sich durchaus bewusst, dass die Vergangenheit, wie Dagmar Barnouw in einem interessanten Artikel mit dem Thema „Zeitlichkeit und Erinnerung: Überlegungen zur Problematik der Schuldfrage“ „immer wieder besucht werden [kann] und [muss] – aber nicht ohne das kritische Bewusstsein des Besuchers aus der Gegenwart, dass er die Vergangenheit niemals unverändert zurücklassen, d.h. immer, wenn auch zu verschiedenem Grade, auf seine Weise entstellt haben wird“14. Senger hat im Laufe seines Lebens mehrmals festgestellt, wie sehr die Feier eines bestimmten Ereignisses, das ein Teil der öffentlichen Meinung und des Wiederholungsritus werden soll, den anderen Teil der Wahrheit entstellt. Diese Ritualisierung erscheine als herrschendes Gedächtnis auf Kosten des Stillschweigens über die internen Dynamiken, die dem schwächeren Teil beim 13 S. Boym, Ipocondria del cuore: nostalgia, storia e memoria, in: F. Modrzejewski / M. Sznaiderman (Hrsg.), Boym, Lubonja, Trenker et al., Nostalgia. Saggi sul rimpianto del comunismo, Mailand 2003, S. 1-88, hier S. 49 und 51. 14 D. Barnouw, Zeitlichkeit und Erinnerung: Überlegungen zur Problematik der Schuldfrage, in: U. Heukenkamp (Hrsg.), Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961), Amsterdam 2001, S. 659-673.
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Kampf um das geteilte Gedächtnis eine Niederlage bereitet haben15. Sein Mahnruf an die Verantwortlichkeit gegenüber der Instanz der Geschichte gilt folglich auch für die Vertreter der jüdischen Gemeinschaft. Diese nehmen an der Gedenkfeier des sogenannten Widerstandes gegen das Hitlerregime teil, den Männer wie Goerdeler, Beck und von Hassel nach dem gescheiterten Attentat vom 20. Juli 1944 mit ihrem Leben bezahlt haben, ohne dabei deren ideologische Einstellung den Juden gegenüber zu hinterfragen: „Und was die Verschwörung vom 20. Juli betrifft, muss im Interesse historischer Lauterkeit gefragt werden: Kann man es wirklich Widerstand nennen, elf Jahre lang mit den Nazis mitzumarschieren, ihre millionenfachen Untaten in allen eroberten Ländern mitzutragen, sie stillschweigend zur Kenntnis zu nehmen und erst Zentimeter vor dem Abgrund, Sekunden vor dem totalen militärischen Zusammenbruch noch zu versuchen, einen einzigen Schuldigen, Hitler, zu beseitigen, um noch zu retten, was nicht mehr zu retten war?“16.
Senger beschuldigt die jüdischen Gemeinschaften des bewussten Vergessens der verschiedenen Ausprägungen des antifaschistischen Widerstandes, den die Arbeiterbewegung, die Kommunisten und die Sozialdemokraten von 1933 an leisteten und die bis Anfang der 90er Jahre wegen der nachhaltigen Auswirkung des Kalten Krieges in Vergessenheit gerieten. Er führt an, dass die Verantwortlichen des Putsches, die als „Retter in höchster Not“ bezeichnet wurden, eine unzweifelhaft antisemitische Ideologie vertreten haben. Auch im Falle eines erfolgreichen Attentates hätten sie sich höchstens bemüht, die Konzentrationslager in Auffanglager für heimatlose Juden umzubauen. Die Reflexion Sengers kommt folgendermaßen zum Abschluss: „Selbst für die jungen Offiziere im inneren Kreis des 20. Juli, die den Massenmord an den Juden entschieden missbilligten und sich darum dieser Gruppe anschlossen, hätte es im Nachkriegsdeutschland eine ,Judenfrage zu lösen‘ gegeben. Umso unverständlicher ist es, dass jüdische Repräsentanten diesen Tag als den amtlichen Gedenktag des Widerstandes akzeptieren und ohne Vorbehalt an den Gedenkfeiern teilnehmen Bei aller Kritik an den Verbrämungen der deutschen Vergangenheit steht jedoch außer Frage, dass kein Verschwörer gegen Hitler in Vergessenheit geraten darf, dass man aller Opfer gedenken muss, die gebracht wurden, um Hitler zu beseitigen. Kein Name darf verloren gehen“17.
15 Vgl. A.L. Tota, Memoria, patrimonio culturale e discorso pubblico, in: E. Agazzi / V. Fortunati (Hrsg.), Memoria e saperi. Percorsi transdisciplinari, Rom 2007, S. 101-116. 16 V. Senger, Der Heimkehrer, S. 46. 17 Ebd., S. 48.
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II. Sengers jüdische Identität Senger war nicht nur ein Heimkehrer besonderer Art, sondern auch ein Jude, dessen kommunistische Überzeugung stets die Grundsätze und Regeln der jüdischen Gemeinschaft bedeckt nachgestellt hat. Nach 1935 nötigt ihn seine Situation als „Unsichtbarer“ dazu, zusammen mit seinem Vater auf die Teilnahme an den Feierlichkeiten des Pessach, Sukkot und Jom Kippur zu verzichten. Vor allem ist er gezwungen sich von Beziehungen zu Frauen fernzuhalten, die in einem intimen Verhältnis seine wahre Identität entdecken könnten, und auch um verfängliche Arztbesuche möglichst zu vermeiden. Da er seine wahre jüdische Identität nicht enthüllen kann, entzieht er sich rein aus Prinzip jeder Art von Lügen und versucht vor allem die Gedanken und Stimmungen der Menschen zu ergründen, die er gegen Ende des Krieges auf seiner Reise durch Hessen antrifft. Beispielsweise fragt er ohne Umschweife eine Bäuerin aus Allendorf, ob in der Vergangenheit Juden in ihrem Dorf gewohnt hätten. Die Antwort ist: „Natürlich haben hier früher Juden gewohnt. Sie sind alle ausgewandert“18. W.G. Sebald hat uns nahegebracht, wie bedeutungsträchtig und mehrdeutig der Begriff „ausgewandert“ ist. In seinem gleichlautenden Buch hat er Geschichten über die Auswanderung und Vertreibung von Individuen erzählt, die die Schrecken des Krieges überlebt haben, die jedoch insgeheim gefühlsmäßig „ausgewandert“ sind und daher des Gefühls einer Sehnsucht nach einer Rückkehr ins Vaterland beraubt wurden. Das ist bei Dr. Selwyn der Fall. Andere sind verrückt geworden und somit im Geiste ‚ausgewandert‘, wie der Onkel Adelwarth in der psychiatrischen Klinik in Ithaka19. Seinen idealen Dialog mit einer Welt der Toten unter Lebenden hat Sebald innerhalb des Konzeptes der Migration konstruiert, aber diese sind dennoch immer nur moralisch gesehen Flüchtlinge in der deutschen Gemeinschaft. Dieser ideologische Zugang, der zur Partitur wird, auf deren Grundlage Sebald an der Tragödie des Holocausts als Nicht-Jude teilhat, ist genau zwischen Sengers Verhältnis der Hassliebe zu Deutschland und der algia von Johannes R. Becher angesiedelt. Dieser glaubt zutiefst an die Werte der Heimat und „an des Volkes Auferstehungskraft“, wie aus dem Gedichtband von 1946, „Heimkehr. Neue Gedichte“20 hervorgeht. Viele eigentlich emphatische Verse beziehen sich auf das Treffen mit den zuhause Gebliebenen, den Überlebenden unter Entbehrungen jeder Art, aber auch auf die Toten, deren Andenken in der Stunde des wieder gefundenen Friedens einen Dialog ermöglicht. Hier scheint
18 19 20
Ebd., S. 36. W.G. Sebald, Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, Frankfurt a.M. 1994. J.R. Becher, Heimkehr. Neue Gedichte, Berlin 1946.
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für die „Ausgewanderten“, an die Senger denkt, kein Platz mehr zu sein, auch wenn Becher mit letzterem die Freude über das Ende des Krieges teilt: Es kehren heim auch die im Land verblieben. Wer war aus seiner Heimat nicht vertrieben? Zu Heimatlosen machte uns ein Wahn. Wir kommen wieder in der Heimat an. Wir nahmen mit die Toten, die Gefährten. Sie kehrten heim mit uns, den Heimgekehrten. Wir sind daheim und ziehen nicht mehr aus. Die Toten wohnen mit in unserm Haus. Euch gilt mein Gruß, die ihr noch seid gefangen. Uns alle treibt ein großes Heimverlangen. Die Heimat ruft euch zu: „Gedenket mein. Der Tag der Heimkehr soll ein Festtag sein“21.
Sengers Beziehung zur Heimat stimmt nicht mit der Auffassung von Vaterland überein, auf die man bei Autoren wie Becher stößt, welche lange Zeit weit von Deutschland entfernt lebten und deshalb ein echtes Gefühl der Sehnsucht nach ihrem Land entwickelt hatten. Er hegt vielmehr den Wunsch nach dem lang ersehnten Statut als Staatsbürger, der Wiedererlangung einer ihm seit seiner Geburt verwehrten Identität, aber auch nach dem Versuch einer erneuten Annäherung an das Judentum, ohne dabei das politische Anliegen aus den Augen zu verlieren. Der Kommunist Senger hatte stets Vorrang vor dem Juden Senger. „Die Kommunistische Partei der Nachkriegsjahre war mehr als nur ein politischer Standort für sozialistische Ideen und revolutionäre Begeisterung,“ – schreibt Senger – „sie war eine Heimat, eine Großfamilie, der ich mich zugehörig fühlte“22. Dies ungeachtet der Parabel der fortschreitenden Desillusionierung eines überzeugten Militanten, eines „Missionars“ des Kommunismus, wie er sich mehrmals in „Kurzer Frühling“ bezeichnet, dessen Credo durch verschiedene Ereignisse erschüttert wird. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen: a) die Entdeckung einer absurden Unnachgiebigkeit von Seiten angeblicher Freunde und Parteigenossen, wie des Berliners Hermann, die Senger ein, nicht mit den Leitlinien des Kommunismus in Einklang stehendes Verhalten vorwerfen23; b) die aufgrund der Zeugenaussage von Johannes, eines der Mittäterschaft mit den Nationalsozialisten angeklagten Freundes gemachte Entdeckung der 21 J.R. Becher, Euch, die ihr heimkehrt, in: ders., Heimkehrer. Neue Gedichte, S. 16-18, hier, S.16. 22 V. Senger, Kurzer Frühling, S. 53. Senger erklärt, dass 1946 mit der sich zwischen dem Osten und Westen abzeichnenden Zäsur viele Mitglieder der kommunistischen Partei ihr Parteibuch abgaben und aus persönlichen Gründen austraten, was gerade bei denjenigen zu einem intensiveren „Gefühl einer Blutsbrüderschaft“ (!) führte, die dagegen der Sache treu geblieben waren. 23 Ebd., S. 78 ff.
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Verfolgungen deutscher nach Russland ausgewanderter Kommunisten durch die Russen und deren Entsendung in die Arbeitslager Sibiriens oder ins Gefängnis, damit man sie später via Brest-Litowsk der Gestapo ausliefern oder die Juden unter ihnen in den Vernichtungslagern (1940) umbringen konnte24; c) die moralische Unterdrückung der Sympathisanten des Sozialismus Titos und ihres unerklärlichen ideologischen Rückziehers unter dem Druck des Vorstandes der KPD25; d) die aufschlussreiche Entdeckung, dass Chruschtschows Behauptung von 1956 hinsichtlich der stalinistischen Säuberung der Wahrheit entsprach26. Dennoch wird es bei Senger nie wieder zu einer Annäherung an die jüdische Gemeinschaft kommen. Denn der 1950 oder 1951 unternommene Versuch des Journalisten und seiner Schwester als Mitglieder in die Gruppe der Frankfurter Juden aufgenommen zu werden scheitert an dem, was Senger „Übertreibungen“ nennt. Dies ist der Bericht der Begegnung mit dem Rabbiner Weinberg: „Wir schilderten ihm bedenkenlos – und auch ein wenig blauäugig –, dass wir Mitglieder der Kommunistischen Partei seien und, auf seine Nachfrage hin, nicht die Absicht hätten, aus ihr auszutreten. Wir hielten ihre politischen Ziele für richtig und hofften, mit ihr auch der Verfolgung der Juden für immer ein Ende zu setzen. Das wollte Rabbileben partout nicht verstehen. Es schalt uns naiv und fand sehr böse Worte über den Kommunismus schlechthin. Ich widersprach. Keineswegs heftig, denn mir lag es fern, seinen Unmut noch weiter anzustacheln. Aber seine innere Erregtheit steigerte sich, ich merkte es deutlich an seinen unruhigen Händen, so sehr er sich bemühte, nach außen Ruhe und Konzilianz zu zeigen. Schließlich verstieg er sich zu der Behauptung, in der Sowjetunion und in anderen von Kommunisten regierten Ländern habe man die jüdische Kultur vernichtet und damit letztendlich das Judentum genauso rigoros zerstört …“27.
In einer interessanten Dissertation von 1992 mit dem Titel „Jüdisches Leben in Deutschland (BRD und DDR) 1945-1999“, stellt Erica Burgauer anhand von Statistiken fest, dass seit 1945 unter den Dunkelziffern der Juden auf westdeutschem Gebiet all diejenigen aufgeführt werden, die nie in einer jüdischen Gemeinschaft aufgezeichnet wurden. Unter Berücksichtigung der Zeitspanne von den Nachkriegsjahren bis Anfang der 90er Jahre, lässt sich aufgrund dieser Tatsache ihre Anzahl auf insgesamt 8000 bis 20000 Personen schätzen. Senger, gestorben 1997, ist in dieser Dunkelzone geblieben, jedoch nicht wegen der „Assimilation“, noch aufgrund „des Fehlens eines Bekenntnisses“, erst recht nicht „wegen der fortwährenden Angst, sich als Jude zu
24 25 26 27
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
183 ff. 204 ff. 275 ff. 69.
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deklarieren“. Vielmehr deshalb, weil die Unvereinbarkeit zwischen seiner politischen Überzeugung und der jüdischen Identität ihn endgültig von der Frankfurter jüdischen Gemeinde entfernten. Aus „Kurzer Frühling“ geht übrigens hervor, dass orthodoxe Juden und Kommunisten, die in den Redaktionen der Parteizeitungen tätig waren, oft zu regelrechten Formen einer gegenseitigen Sabotage fanden28.
III. Über den Einzelfall hinaus Argumentiert man gemäß der von Barbro Eberan29 vorgeschlagenen generationsbedingten Kategorien, welcher die Debatte über die Schuldfrage von 1945 bis 1949 analysiert und eine Bestandsaufnahme von Zeitungsartikeln aus den Besatzungszonen erstellt hat, befände sich Senger an der Grenze zwischen den so genannten „Wundergläubigen“, den Angehörigen des Jahrgangs 1911 und 1918, von den Marxisten als auch von der älteren Generation (der „verlorenen Generation“ 1895-1910) des Nihilismus angeklagt und den „Kumpeln“, geboren zwischen 1919 und 1927, die dagegen angesichts der Dringlichkeit keine Hemmungen hätten, über die Schuldfrage zu diskutieren. Man beachte, was der Protagonist aus Walter Kolbenhoffs Roman „Heimkehr in die Fremde“ schreibt, indem er erklärt, er gehöre einer Generation an, die dazu imstande sei, sich von den Ideologien loszusagen und einer Vergangenheit vor 1933 keinesfalls nachtrauere. Die Welt der Älteren habe sich, wie er sagt, aufgelöst; die Generation der Jugendlichen sei zu „zynisch und pessimistisch“ als dass sie auf die Dringlichkeiten der Gegenwart ohne
28 „Und auch solche gab es, die sich so weit von ihrem Volk entfernten, dass sie regelrecht zu Antijuden wurden. Einer von ihnen war Walter Bloch, der Chefredakteur der Sozialistischen Volkszeitung, mit dem ich einige Jahre zusammenarbeitete. Er steigerte seinen jüdischen Selbsthaß bis zur Maßlosigkeit und verband ihn dabei noch mit einem penetranten Zynismus. So lehnte er es ab, im lokalen Teil der kommunistischen Tageszeitung Meldungen und Berichte zu bringen, die im Zusammenhang mit der Jüdischen Gemeinde standen, zum Beispiel die Eröffnung eines jüdischen Gemeindezentrums, eines Altersheims, die Aufstellung eines Gedenksteins für eine von den Nazis zerstörte Synagoge oder das Gastspiel einer jüdischen Theatertruppe. Mit hämischem Unterton in der Stimme erklärte er, für solche Meldungen sei Platz genug in den bürgerlichen Zeitungen … Auch die Staatsgründung Israels passte ihm nicht. In Birobidschan [seit 1924 Autonomes Gebiet der Juden im Fernen Osten der Sowjetunion, nahe der chinesischen Grenze mit ca. 60000 Einwohnern], so sagte er, würden die Juden weit größere Entfaltungsmöglichkeiten haben als in dem neuen Judenstaat auf dem Boden Palästinas“; V. Senger, Kurzer Frühling, S. 75 f. 29 B. Eberan, Luther? Friedrich „der Große“? Wagner’ Nietzsche ?…?…? Wer war an Hitler Schuld? Die Debatte um die Schuldfrage 1945-1949, München 1983, S. 188 f.
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die Hilfe von jemandem wie dem Ich-Erzähler, der der mittleren Generation (und zwar der „verlorenen Generation“) angehöre, reagieren könnte30. Wenn also Sengers Erfahrung mit einer Dunkelziffer beschreibbar ist, wodurch er von jeglicher Statistik ausgeschlossen wird, so liegt das auch daran, dass die Historiker bis in die 70er Jahre der Frage des Widerstandes der Juden in Deutschland wenig Aufmerksamkeit geschenkt haben. Dabei wurden sie von den Leitern der jüdischen Kulturinstitute noch zum Stillschweigen ermutigt. Auf keine geringen Schwierigkeiten stieß man beim Thema eines antifaschistischen Aktivismus, der ganz klar in einem „sowjet-freundlichen“ Sinn ausgelegt wurde, oder der in Erwägung zog, in anderen Wirkungskreisen der jüdischen Gemeinschaft einen gemeinsamen „Aufbau im Untergang“ zuzulassen. Die vorsichtige Art, mit der Arnold Paucker 1944 dieses Argument in seinem aufschlussreichen Aufsatz mit dem Titel „Jüdischer Widerstand in Deutschland“31 in Angriff nahm, lässt erahnen, welches Ausmaß an politischem und religiösem Interesse mit dieser Fragestellung verbunden war (nicht zuletzt der Dissens der Zionisten). Lässt übrigens erahnen, inwieweit die main stream Literatur zum Holocaust – in erster Linie durch eine Darstellung der Juden als „wehrlose Opfer des Nazismus“ gekennzeichnet – noch ihr Übriges dazu beigetragen hat, die geheimen Erscheinungsformen des aktiven Widerstands in diesen zwölf unheilvollen Jahren zu verschleiern. Die Tatsache, dass Senger keiner bestimmten Generation zuzuordnen ist, ist weit weniger relevant als die Identifizierung der Bewegung, zu deren Anhänger er aus einer Familientradition heraus geworden war. Diesbezüglich liefert uns Paucker in der nachfolgenden Betrachtung wesentliche Anhaltspunkte: „Der antifaschistische Aktivismus wurde überwiegend von jüdischen Jugendlichen getragen, die sich in erster Linie der deutschen Arbeiterbewegung und nicht der jüdischen Gemeinschaft verpflichtet fühlten, obwohl jüdische Gesichtspunkte auch unter ihnen stärker hervorzutreten begannen. Viele von diesen jungen Sozialisten und Kommunisten waren Atheisten und sind eher als ,Randjuden‘ zu bezeichnen. Die deutschen Juden waren in ihrer Mehrheit eine religiös und politisch liberale Gemeinschaft … Das Hauptkontingent des jüdischen Widerstandes waren jugendliche Kommunisten. Sie standen zunächst gänzlich außerhalb einer Gemeinschaft, die in der Weimarer Republik zu 95% den Kommunismus verneint hatte und für eine revolutionäre Umwälzung der bestehenden Gesellschaftsordnung ohnehin nicht zu haben war. Und es waren eben gerade die Kommunisten, die z.B. die jüdischen Jugendverbände unterwanderten und für ihre Ziele benutzten“32.
W. Kolbenhoff, Heimkehr in die Fremde, Frankfurt a.M. 1988, S. 65. A. Paucker, Jüdischer Widerstand in Deutschland, in: A. Lustiger, Zum Kampf auf Leben und Tod! Das Buch vom Widerstand der Juden 1933-1945, Köln 1994. 32 Ebd., S. 50. 30 31
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Die biographische Erfahrung des Menschen und Journalisten Senger wird nachvollziehbar, wenn man sich nochmals an seine Ankunft in einem in Trümmern liegenden Frankfurt erinnert. Dabei ist er voller widersprüchlicher Gefühle. Zum einen überrascht es ihn, auf den Gesichtern der dem Bombardement entkommenen Einwohner kein Zeichen von Erleichterung sehen zu können, zum anderen empfindet er Verachtung für die Opportunisten, die eine Komplizenschaft zu den Juden suchten, indem sie schworen, keine Ahnung von der sich abzeichnenden Tragödie gehabt zu haben. Wiederholt lässt sich feststellen, dass die wesentliche Zielsetzung von Sengers Text im Erfassen von Anzeichen des Abdriftens zu einem erneut aufkommenden Antisemitismus besteht als auch im Benennen derjenigen, die an diesem Phänomen direkt und indirekt Schuld haben. Unter den indirekt Schuldtragenden war Hans Meyer seiner Meinung nach Urheber einer „Verharmlosung des vorhandenen verkappten Antisemitismus“33. Bei seiner Rückkehr aus Leipzig hatte er nämlich einmal versucht, seine Enttäuschung über einen fehlgeschlagenen Versuch der Integration in die DDR mit der Behauptung zu kompensieren, er habe in der BRD nie irgendeine Form des Ressentiments den Juden gegenüber bemerkt. Ebenso hatte er mitgeteilt, dass er für die Einladung dankbar sei „als Jude“ die Festrede anlässlich des Jubiläums des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg halten zu dürfen34. Der Heimkehrer Senger, der Melancholikern wie Kolbenhoff oder Optimisten wie Becher in keiner Weise ähnlich ist, will lernen, die Aufrichtigen von den Verrätern zu unterscheiden, selbst wenn er dafür den Finger noch tiefer in die Wunde seiner ungeklärten jüdischen Identität legen müsste. Gegen Ende dieser biographischen Reise in die deutsche Nachkriegszeit soll daher nicht versäumt werden zu erwähnen, dass Senger mit seinem Familienroman, „Die Buchweilers“ einen literarisch nachvollziehbaren und bemerkenswerten Beitrag zum Problem des fehlenden Anpassungsvermögens leistet. Der Roman spielt im 19. Jahrhundert und findet seinen Höhepunkt in der Revolution von 1848. Gegen Ende des Werks wird der junge Saul, der Sohn eines Juden, der sich aus Rache an dem ungerechten von der jüdischen Gemeinde seines Dorfes praktizierten Scherbengericht zum Briganten entwickelt (in der Figur des Vaters David ist das Vorbild des Michael Kohlhaas erkennbar), zum Freiheitskämpfer. Seine Beweggründe und Absichten machen Senger hundert Jahre später in jeder Hinsicht zu einem derart unbequemen
V. Senger, Kurzer Frühling, S. 332 f. Ebd., vgl. H. Peitsch, Der „junge“ Hans Mayer in den ersten westdeutschen Nachkriegsjahren, in: H. Siebenpfeiffer / U. Wölfel, Konfigurationen der deutschsprachigen Literatur (1940-1965), Berlin 2004, S. 39-64. Hier taucht auf S. 39 überraschenderweise Sengers Name auf. 33 34
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Mitbürger, dass die Literaturkritik seinem Werk nahezu keine Beachtung schenkte: „Als sich Saul den revolutionären Demokraten anschloss, entfernte er sich damit gleichzeitig weit von seinem Judentum, auch wenn er es öffentlich nicht zeigte. Dabei wollte er doch gerade durch diesen Schritt mit dazu beitragen, das jahrhundertelange Elend der Juden zu lindern und seinem Volk zu den Rechten verhelfen, die ihnen noch immer verweigert wurden. Und doch war er ein Jude geblieben, nicht nur, weil das so in der Thora stand, er war kein Abtrünniger geworden“35.
35
V. Senger, Die Buchweilers. Roman, Frankfurt a.M. 1994, S. 381.
1946: Anmerkungen zu einigen frühen Heimkehrer-Filmen Von Matteo Galli
Wir schreiben das Jahr 2048. Küstrin und Magdeburg wurden gerade von Berlin eingemeindet. Die Hauptstadt verfügt über einem Riesenflughafen, der sich da befindet, wo vor einem Jahrhundert der Grunewald gewesen sein soll. Eine Off-Stimme kündigt einen Rückblick auf das Berlin im Jahre 1948 an, ohne sich große Gedanken zu machen über die erzählerische Plausibilität eines solchen Übergangs. Die Kamera schwenkt über eine Trümmerlandschaft, ein zerlumpter Kerl tritt ins Bild und die Off-Stimme kommentiert ironisch: „Ach je, werden die Kinobesucher von damals gesagt haben, als sie diese Bilder sahen, ach, schon wieder ein Heimkehrerfilm, denn solche Aufnahmen sah man damals alle Tage“. Der zerlumpte und hagere Kerl, vom nachmaligen, um gute 30 Pfund dickeren, hier kaum wieder erkennbaren Interpreten des Auric Goldfinger, Gert Fröbe gespielt, trägt in der Fiktion des vorliegenden Films den geläufigen Namen „Otto“ und den weniger geläufigen Nachnamen „Normalverbraucher“. „Berliner Ballade“, dieser späte Trümmerfilm aus dem Jahre 1948 gilt als eines der letzten Beispiele dieser Gattung, er reflektiert mit einem ausgesprochen satirischen und ein wenig grotesken Ton über die typischen Merkmale der Gattung, indem er aber die klassischen Peripetien des Heimkehrers in der zerstörten Stadt rekapituliert: besetzte Wohnungen, Hunger, Schikanen, Mangelwirtschaft, Schiebereien, sogar erste Ansätze des kalten Kriegs. In der Tat gibt es etliche zwischen 1946 und 1948 gedrehte Filme im Westen wie im Osten, die den Heimkehrer im Mittelpunkt haben. Peter Pleyer, Autor eines alten doch noch gut lesbaren Standardwerks zum Nachkriegsfilm behauptet, in mehr als 25% der Filme käme solchen Heimkehrerfiguren in der Gesamterzählung eine wichtige Rolle zu. Als Nebenfiguren kämen sie darüber hinaus zumindest bis Ende 1948 in etwa zwei Drittel aller Filme vor1. Das immer wiederkehrende Gerüst der Fabel hat Sabine Hake 2002 in ihrer Geschichte des deutschen Films treffend zusammengefasst: „Ein Mann kommt nach Kriegsende in seine Heimat zurück, sieht sich mit den allgegenwärtigen Zeichen der Zerstörung konfrontiert und zugleich gezwungen,
1
P. Pleyer, Deutscher Nachkriegsfilm 1946 bis 1964, Münster 1965, S. 139-159.
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seiner eigenen und gleichsam als Verallgemeinerung – der Tragödie Deutschlands einen Sinn zuzuschreiben. Die Ruinen veranschaulichen dabei die ersehnte Auslöschung der Vergangenheit und das Versprechen eines Neuanfangs, der im Mythos der Stunde null chiffriert war. Die Ruinenlandschaft der Großstadt gab aber vor allem die Kulisse für den notwendigen Schritt von Verzweiflung und Resignation zu Hoffnung und Selbstvertrauen ab“2.
Das Thema und die Figur des Heimkehrers im deutschen Film wurden im Rahmen allgemeiner Ausführungen zum Nachkriegsfilm immer wieder gestreift, ein spezifisches Standardwerk darüber steht jedoch bis heute noch aus. Befasst damit haben sich in der Hauptsache Forscher und vor allem Forscherinnen, die das Thema und die Figur im Hinblick auf die Re-Definition geschlechtlicher Rollen im Nachkriegsdeutschland behandelt haben (außer dem bereits erwähnten Peter Plener möchte ich auf die Untersuchungen von Bettina Greffrath3 und Heide Fehrenbach4 im Jahre 1995, auf einen Aufsatz von Erica Carter5 im Jahre 2000 und auf das Buch von Anja Horbrügger6 im Jahre 2007 hinweisen). Zu erwähnen sei noch eine Potsdamer Dissertation aus dem Dezember 1985 von Bernd Reuter aus Königsberg, die „Die Widerspiegelung gesellschaftlich-politischer Probleme – insbesondere der Heimkehrer und Umsiedler – im DEFA-Spielfilm 1946-1949“ heißt, der erste Gutachter ist Lothar Bisky7. Anders verhält es sich im internationalen Panorama. Hier sei wenigstens Emmett Earlys Studie aus dem Jahre 2003 zitiert „The War Veteran in Film“, ein US-amerikanisches Buch, das sich aber nur mit amerikanischen Filmen befasst8. Ich habe nicht vor, hier diese Forschungslücke zu füllen. Ich habe mich für einen filmkomparatistischen Ansatz entschieden und mich dazu entschlossen, mich auf einige Heimkehrer-Filme zu konzentrieren, die ein weiteres Merkmal gemeinsam haben, nämlich dass sie ihre Premiere S. Hake, Film in Deutschland. Geschichte und Geschichten seit 1895, Reinbek 2004, S. 166-167. 3 B. Greffrath, Gesellschaftsbilder der Nachkriegszeit. Deutsche Spielfilme 19451949, Pfaffenweiler 1945. 4 H. Fehrenbach, Cinema in Democraticizing Germany: Reconstructing National Identity after Hitler, Chapel Hill NC 1995. 5 E. Carter, Sweeping up the Past. Gender and History in the Post-War German „Rubble-Film“, in: U. Sieglohr (Hrsg.), Heroines Without Heroes: Reconstructing Female and National Identities in European Cinema 1945-1951, London 2000, S. 91110. 6 A. Horbrügger, Aufbruch zur Kontinuität – Kontinuität im Aufbruch. Geschlechterkonstruktionen im west- und ostdeutschen Nachkriegsfilm von 1945 bis 1952, Marburg 2007. 7 B. Reuter, Die Wiederspiegelung gesellschaftlich- politischer Probleme – insbesondere der Heimkehrer und Umsiedler – im DEFA-Spielfilm 1946-1949, Diss. Humboldt-Universität Berlin-Ost, 1985. 8 E. Early, The War Veteran in Film, Jefferson NC 2003. 2
1946: Anmerkungen zu einigen frühen Heimkehrer-Filmen
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im Jahre 1946 erlebt haben, es handelt sich also um sehr frühe HeimkehrerFilme. Gewählt wurden deutsche, amerikanische und italienische Filme. Mein Anliegen ist, einige typologische Konstanten und Unterschiede des frühen internationalen Heimkehrer-Films herauszuarbeiten. Ich werde mich vor allem mit drei Aspekten befassen, die ich kurz erwähnen möchte: erstens mit dem sogenannten PTSD, zweitens mit der filmischen Darstellung der Zerstörung bzw. der Trümmer, drittens mit der Neu-Verhandlung geschlechtlicher Rollen.
I. „Posttraumatic disorder“ Ich fange direkt mit dem ersten Aspekt an, nämlich mit dem sogenannten PTSD, einer Abkürzung, die für „Post-Traumatic Stress-Disorder“ steht. „Symptoms of PTSD“, schreibt Emmett Early in der zitierten Studie, „that are common in war veterans relate to a sense of having no future, experiencing heightened startle response … night terrors, nightmares, other forms of sleep disturbance, intrusive recollections and dissociative flashbacks to wartime experiences. Other common symptoms include grief, dysphoria, … feelings of emptiness or hopelessness … and guilt about surviving when friends and comrades have died, or guilt about participating in the ravages of combat … irritability, fear of repetition of hostilities, and a feeling of being fated to die, are also among symptoms of the disorder not uncommon among many veterans …“9.
Fast alle 1946-Heimkehrerfilme, von denen hier die Rede ist, inszenieren irgendwann auch die jeweiligen Traumata, und wenn es darum geht, die Symptome darzustellen, erleben auch eher realistisch oder neo-realistisch veranlagte Filme einen gewaltigen ästhetischen Dramatisierungsschub in expressionistischer Richtung. Im Wylers „The Best Years of Our Lives“, wo es um die Heimkehr, dreier Soldaten in die fiktionale Boone City, ein Städtchen im Midwest geht, ist paradoxerweise der Marine Homer, derjenige, der Schlimmeres, nämlich die Amputation beider Hände erlebt hat (genauso wie der Schauspieler Harold Russell, der die Rolle spielt), auch der einzige, der psychisch einigermaßen heil davonkommt. Der zweite, der Al heißt, von Frederic March gespielt wird, und der von seiner bürgerlichen Familie wieder bestens aufgenommen wird, neigt zu einer gefährlichen Alkoholsucht und der dritte, Fred, gespielt von Dana Andrews, leidet unter Alpträumen wegen des verstorbenen Kommilitonen, der sich nicht retten konnte. Erst gegen Ende des Films kann er sein Leben wirklich neu anfangen, erst nachdem er ein letztes Mal wieder auf ein Flugzeug steigt und das Trauma gleichsam verarbeitet. Der Protagonist von George Marshalls „The Blue Dahlia“ Johnny Morrison (gespielt von Alan Ladd) scheint den Krieg bestens überlebt zu haben, eine wichtige Nebenfigur aber, Buzz Wanchek, gespielt von William Bendix, leidet 9
Ebd., S. 11-12.
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seitdem an gewaltigen Halluzinationen, da ihm aufgrund einer Kriegsverletzung eine Platte aus Metall implantiert wurde (das gleiche finden wir übrigens bei Edward Dmytryks „Till the End of Time“, wo der Figur des William Tabeshaw, gespielt von Robert Mitchum etwas Ähnliches passiert ist), bei einem weiteren amerikanischen Film Joseph Mankiewicz’ „Somewhere in the Night“ leidet der Protagonist George W. Taylor (gespielt von John Hodiak) aufgrund einer schweren Kriegsverletzung an einer totalen Amnesie, sein ganzes vergangenes Ich ist gelöscht, er weiß buchstäblich nicht mehr, wer er ist, was die ganze kriminalistische Handlung des Films in Gang setzt. In Wolfgang Staudtes „Die Mörder sind unter uns“ sind bei Hans Mertens (gespielt von Ernst Wilhelm Borchert) die posttraumatischen Symptome schon in den Eingangssequenzen sehr deutlich, am Anfang eher in dystrophischer Richtung mit evidenter Neigung zur Trinksucht – „Dystrophie“ bzw. „Dysphorie“ war übrigens auch im psychiatrischen deutschsprachigen Diskurs der Nachkriegszeit der häufigste Terminus im Hinblick auf die Pathologie der Kriegsheimkehrer10 – später, als die Re-Aktualisierung des Traumas durch den zufällig wiedergefundenen Brief von Brückner beschleunigt wird, werden die Symptome noch auffälliger. Durch die Liebe zu und von Susanne zu neuer Hoffnung geweckt, geht Mertens ins Krankenhaus, um seinen alten Beruf wiederaufzunehmen. Hier, beim Anblick leidender Menschen, leidet er aber an einem alptraumartigen Anfall. Nichts dergleichen ist jedoch Susanne Wallner anzumerken, obwohl sie auch eine Heimkehrerin ist. Einiges aufzuarbeiten hätte sie wahrscheinlich auch, da sie in einem KZ gelebt hat. Wenn ich abschließend auf den dritten und letzten Aspekt eingehen werde, werde ich noch auf diese Frage zurückkommen. Nur um klassische dysphorische Symptome geht es auch bei Paul Iller, dem Kriegsheimkehrer aus Gerhard Lamprechts „Irgendwo in Berlin“, gespielt von Harry Hindemith. Es gibt nur eine Szene, wo er total außer Kontrolle gerät, und diese hat selbstverständlich mit traumatischen Kriegserlebnissen zu tun. Es handelt sich um die Szene, in der er das Spielzeug des Sohns Gustav mit den Füßen zertritt, auch in diesem Fall verursacht die Re-Aktualisierung einen expressionistischen Dramatisierungsschub in der Art der Darstellung. Vergleichen könnte man diese Szene mit einer kurzen Sequenz aus „The Best Years of Our Lives“, in der Al, der ältere Soldat, der gerade aus der Pazifik zurückkommt sogar Geschenke mitbringt, als hätte er bloß eine Vergnügungsreise hinter sich, in dem Fall einen Samurai-Schwert, was den eher aufgeklärten Sohn dazu bewegt, dem ignoranten, desinformierten Vater in puncto Hiroshima ein paar Fragen zu stellen: „We’ve been having lectures in atomic energy at school, and Mr. McLaughlin, he’s our physics teacher, 10 F. Biess, Männer des Wiederaufbaus – Wiederaufbau der Männer. Kriegsheimkehrer in Ost- und Westdeutschland 1945-1955, in: K. Hagemann / S. SchülerSpringorum, Heimat-Front. Militär und Geschlechterverhältnisse im Zeitalter der Weltkriege, Frankfurt a.M. / New York 2001, S. 345-365.
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he says that we’ve reached a point where the whole human race has either got to find a way to live together, or else uhm …“. Es handelt sich bei diesen sechs Filmen um kriegerische Traumata ganz unterschiedlicher Art: In den vier amerikanischen Filmen geht es in drei Fällen um ein direkt erlittenes Trauma (Buzz in „The Blue Dahlia“, Tabeshaw in „Till the End of Time“, George Taylor in „Somewhere in the Night“) oder um ein Trauma, bei dem ein Kommilitone tödlich verunglückt (Fred in „The Best Years of Our Lives). Vom Leiden der anderen ist nie die Rede. Bei den zwei deutschen Filmen stehen die Dinge schon anders: Mertens’ Trauma hat mit dem Leiden unschuldiger Bürger, vor allem Kinder und Frauen zu tun, Illers Trauma ist eher undefiniert und allgemeiner Art, einfacher Ekel gegen den Krieg – noch keine direkte Erwähnung von den Verbrechen der deutschen Wehrmacht und der Waffen-SS, noch kein KZ, doch immerhin eine deutliche anti-kriegerische Haltung, die in den vier frühen amerikanischen Beispielen weniger präsent ist. Ja, und wie steht’s mit den italienischen Filmen? Hier ist in den filmischen Beispielen, mit denen ich mich befasst habe, erstaunlicherweise gar kein PTSD zu spüren. Ernesto, der Protagonist von Alberto Lattuadas „Il bandito“, kommt zwar nach 35 Monaten deutscher Gefangenschaft nach Turin, sein Kommilitone Carlo ist zwar an einem Fuß verletzt, aber diese Erlebnisse scheinen keine großen Spuren hinterlassen zu haben, die beiden scheinen keine großen Traumata aufarbeiten zu müssen – weder vom Krieg noch von der Gefangenschaft, noch, wie wir gleich sehen werden, im Hinblick auf das, was sie, vor allem Ernesto, nach ihrer Rückkehr vorfinden. Die einzige Erwähnung eines Kriegsvorkommnisses findet statt, als Carlo seiner Familie die Art und Weise erzählt, wie er nach seiner Fußverletzung von Ernesto gerettet worden ist, sie ist jedoch lediglich für eine nähere und äußerst larmoyante Erklärung ihrer freundschaftlichen Beziehung funktional. Psychische Störungen jedweder Art wird man im „Bandito“ vergeblich suchen. Noch paradoxer ist die Situation bei Max Neufelds „Un uomo ritorna“. Der Film weist zwar die zeitliche Dreiteilung auf, die für spätere Heimkehrerfilme typisch sein wird, mit einem Abschnitt in der Zeit „vor dem Krieg“, einem Abschnitt in der Zeit „während des Kriegs“ und einem Abschnitt in der Zeit „nach dem Krieg“, die Kriegszeit wird jedoch bloß durch die schnell Überblendung von Zeitungsartikeln inszeniert. Und genauso schnell wie sie vom Regisseur Neufeld gezeigt wird, wird sie auch vom Protagonisten Sergio aufgearbeitet, wenn man in seinem Falle von „Aufarbeitung“ reden kann. Der gute und sehr wohl ernährte Sergio kommt in sein – wie wir bald sehen werden – brutal zerstörtes Städtchen im Latium zurück und zögert keine Sekunde, die Ärmel wieder hochzukrempeln und gegen die Passivität und die Lethargie seiner Mitbürger und Verwandten sowie der staatlichen Institutionen aktiv zu kämpfen.
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Exkurs: Institutionen Bevor ich zum zweiten Punkt übergehe, nämlich zur Darstellung der traumatisierten Städte und Orte, lohnt es sich, einen kleinen Exkurs zu machen und kurz bei den Institutionen zu verweilen, denn auch da sind einige interessante Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzumachen. In den – wie wir sehen werden – gattungsmäßig radikal unterschiedlichen amerikanischen Filmen wird die Rolle der Institutionen positiv betont: Vor der Entlassung wird der jeweilige Soldat mit den Schwierigkeiten der Rückkehr ins bürgerliche Leben ernsthaft konfrontiert, ihm wird auch finanziell geholfen, Arbeitslosen wird möglicherweise eine Arbeitsstelle vermittelt – ähnliche Szenen sieht man in „The Best Years of Our Lives“, in „Till the End of Time“ und auch in „Somewhere in the Night“ von Joseph L. Mankiewicz. Anders ist die Situation in Deutschland und in Italien. In „Die Mörder sind unter uns“ ist die einzige erwähnte Institution das Gericht, an das man sich wenden sollte, um Gerechtigkeit walten zu lassen, anstatt Selbstjustiz zu betreiben, man braucht sich nur an den von der sowjetischen Zensurbehörde verlangten Schlussdialog zwischen Hans Mertens und Susanne Wallner zu erinnern: „SUSANNE: Hans, wir haben nicht das Recht zu richten“, worauf HANS: „Nein, Susanne. Aber wir haben die Pflicht, Anklage zu erheben, Sühne zu fordern im Auftrag von Millionen unschuldig hingemordeter Menschen!“. Das Gericht bleibt zwar eine extra-textuelle Instanz im Film, aber die Evozierung gleichsam im Nachspann spielt eine hoch symbolische Rolle. In „Irgendwo in Berlin“ fällt das vollkommene Fehlen jedweder staatlicher Institution auf, die den Heimkehrern zu einer positiven Re-Integration verhelfen könnte, auch die Polizei scheint gar keinen Schutz für die armen Bürger gegen Schieberei, Diebstahl und Verbrechen anbieten zu können. Noch schlimmer geht es in den italienischen Filmen zu. Hier wären die Institutionen zwar da, aber sie stehen dem guten Willen der Heimkehrer regelrecht im Wege. Dies zeigen beide Filme auf eine plakative Weise. In „Il bandito“ ist gerade das Schikanöse der Institutionen der erste Schritt eines Leidenswegs, der Ernesto in die Arme des Verbrechens führt. In „Un uomo ritorna“ wirkt der komplizierte Behördengang des armen Sergio, der ja bloß eine offizielle Genehmigung für den Wiederaufbau des zerstörten Elektrizitätswerks beantragen möchte, sogar als Vorwegnahme ähnlicher komischer Situationen in der sogenannten „commedia all’italiana“ der Fünfziger und Sechziger Jahre.
II. Trümmer und Ruinen Kommen wir nun zum zweiten Punkt: die filmische Darstellung der zerstörten Städte und Orte. So banal es aussehen mag, gilt hier Folgendes: je zerstörter das Land desto auffälliger die Trümmer in den jeweiligen Filmen
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und in den jeweiligen nationalen Kinematographien. Die amerikanischen Kriegsheimkehrer kommen in eine unzerstörte Welt zurück, es ist vielleicht einfacher, die erlittenen Traumata aufzuarbeiten oder auch bloß zu verdrängen, wenn man keine Trümmerhaufen, sondern intakte Reihenhäuser, Drugstores und Bars umgeben ist. Eine interessante Lösung bietet Wyler in „The Best Years of Our Lives“ an. In der langen Sequenz in der Vogelperspektive, die die Rückkehr der drei Soldaten per Flugzeug schildert, wird zwar die wiedergefundene amerikanische Heimat, das Dorf von oben detailliert gezeigt, aber gleichzeitig auf Bilder der Zerstörung metonymisch hingewiesen, da wo die Kamera auf einen gespenstischen Flugplatz mit lauter Flugzeugsrümpfen schwenkt, gleichsam auf die amerikanische Version der Trümmer. Wenn wir nun die Rolle der Trümmer in den deutschen und in den italienischen Filmen vergleichen, so muss man gleich feststellen, dass es sich dabei nicht nur um einen rein quantitativen Unterschied handelt: Veranschaulichen Trümmer in den deutschen Filmen „die ersehnte Auslöschung der Vergangenheit und das Versprechen eines Neuanfangs“, um noch einmal auf Sabine Hakes Worte zurückzukommen, oder stehen sie als bedrohliches Szenario vor allem für die seelischen Zerstörungen, die der Krieg, d.h. das Vergangene in den Menschen angerichtet hat, wie Bettina Greffrath behauptet hat, so spielen Trümmer in den beiden italienischen Filmen, von denen hier die Rede ist, eine eher beiläufige Rolle und stiften keine überzeugende Interaktion mit den Heimkehrern, aus deren Perspektive sie betrachtet werden. Ich will nicht behaupten, dass in den deutschen Filmen die Ruinenlandschaft ständig auf die symbolische Ebene verweist, auch in diesen Filmen ist hie und da – vor allem im Hinblick auf die Kameraposition – eine deutliche formalistische Faszination zu spüren, die auf den Archetypus des Erhabenen zurückgeführt werden könnte, Bilder also, die ins Ästhetizistische driften und driften, die Trümmer werden gleichsam zu Ruinen – man denke an die Eingangssequenz von „Die Mörder sind unter uns“ oder an die Unfallszene in „Irgendwo in Berlin“. In den italienischen Filmen wirken aber die jeweiligen kurzen Ruinenpassagen fast ,nur‘ als formalistische Einlagen, als Hommagen, als exercises de style ohne großen moralischen Impetus. Dies möchte ich vor allem anhand einer kurzen aber in der Filmforschung berühmten Szene aus dem „Bandito“ zeigen. Die Szene ist in der Filmforschung berühmt, weil ihr kein Geringer als André Bazin eine halbe Seite im Rahmen seines klassischen Aufsatzes zum neo-realistischen Film aus dem Jahre 1948 gewidmet hat (mittlerweile ist die neo-realistische Zugehörigkeit von Lattuadas Film in der Filmforschung sehr fraglich geworden). Im Aufsatz, der „Le réalisme cinématographique et l’école italienne de la Libération“11 heißt, schreibt Bazin über diese kurze Sequenz:
11 A. Bazin, Le réalisme cinématographique et l’école italienne de la Libération, in: Qu’est-ce que le cinéma, Paris 1962, S. 28.
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„Dans Il Bandito, le prisonnier rentrant d’Allemagne découvre que sa maison est détruite. Il ne reste plus du pâté d’immeubles qu’un amas de pierres entouré de mur en ruines. La caméra nous montre le visage de l’homme, puis, suivant le mouvement des ses yeux, elle fait un long panoramique de 360 degrés qui nous révèle le spectacle. L’originalité de ce panoramique est double: 1° au départ, nous sommes extérieurs à l’acteur puisque nous le regardons par le truchement de la caméra, mais durant la panoramique nous nous identifions naturellement à lui, au point d’être surpris quand les 360 degrés bouclés, nous redécouvrons un visage saisi par l’horreur; 2° la vitesse de ce panoramique subjectif est variable. Il débute par un long ‚filé‘ puis s’arrête presque, contemple lentement les murs délabrés et brûles au rythme même du regard de l’homme comme mû directement par son attention“.
Abgesehen davon, dass ich kein „horreur“ in Ernestos Augen sehe, finde ich Bazins formalistischen Ansatz sehr überzeugend. Dass ich diese Sequenz als eine Einlage bezeichnet habe, hat damit zu tun, dass später die Zerstörungen in der Stadt im Film gar keine Rolle mehr spielen, dass Trümmer überhaupt nicht mehr zu sehen sind (der Film dauert noch 65 Minuten) und dass der Protagonist den vermeintlichen Schock ziemlich bald vergessen zu haben scheint. Die im Grunde einzige wenn auch zweideutige politische Aussage dieser Szene ist m. E. nur in der verfremdenden Funktion des Soundtracks: Der 360-Grad-Schwenk wird von leichter amerikanischer SwingMusic begleitet. Sind die Amerikaner gleichzeitig als Befreier und Zerstörer der italienischen Städte zu sehen? Mag sein. Diese Kombination soll – dies erzählt der Filmkritiker Maurizio Porro in einem Interview im DVD-Bonus von „Il Bandito“ – übrigens der sowjetischen Delegation in Cannes sehr gut gefallen haben. Pierre Sorlins Versuch, den Begriff Trümmerfilm zu erweitern, ihn gleichsam zu europäisieren, und „Il bandito“ auf einen gemeinsamen Nenner mit „Die Mörder sind unter uns“ zu bringen, überzeugt mich demnach überhaupt nicht12: Nur bei deutschen Filmen oder sagen wir bei in Deutschland spielenden Filmen (denken wir an Rossellinis „Germania anno zero“ aus dem Jahre 1948) spielen Trümmer auf der einen Seite eine klare strukturbildende Rolle und können auf der anderen Seite als bildliches Analogon der seelischen Verwüstung gesehen werden. Dies beweist auch der zweite italienische Beitrag „Un uomo ritorna“. Trümmer kommen nur in zwei kurzen aufeinanderfolgenden Szenen vor: in der ersten, in der der Protagonist Sergio das zerstörte Elektrizitätswerk besucht, hier bleibt die Kamera ziemlich unbeweglich an den geschädigten Maschinen haften und die Verwüstung wird eher von den Figuren mit Worten beschrieben als von der Kamera mit Bildern gezeigt. Direkt danach geht Sergio ins zerstörte Dorf, doch ist die
12 P. Sorlin, La cinematografia europea al tempo della ricostruzione, in: G.P. Brunetta (Hrsg.), Storia del cinema mondiale, Bd. 1/1, Turin 1999, S. 737-740.
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Wirkung der Trümmer auf sein Gemüt sehr kurzlebig, er will so schnell wie möglich wieder alles aufbauen lassen und sich an die Arbeit setzen. Nach dieser Sequenz sind keine Trümmer mehr zu sehen, auch nicht in Rom, wo ein Großteil des Films spielt.
III. „Gender anxiety“ Abschließend möchte ich mich kurz mit der Neu-Besetzung geschlechtlicher Rollen in den frühen Heimkehrer-Filmen befassen. Historische, kulturgeschichtliche, kulturwissenschaftliche, soziologische Untersuchungen der letzten 20 Jahre haben aus unterschiedlichen Gesichtspunkten wiederholt das bewiesen, was Heide Fehrenbach 1995 ein wenig plakativ mit folgenden Worten zusammengefasst hat: „It seemed that the war had emasculated men and masculinized women“13. Bezüglich der deutschen Frauenbilder stellt Anja Horbrügger in ihrem 2007 erschienen Buch fest14, dass in den deutschen Medien zwei Modelle koexistieren: zum einen der Mythos der integren Trümmerfrau, die Wiederaufbau und familiäre Versorgung gewährleistete, zum anderen das Bild der moralisch zweifelhaften Frau, die sich angesichts der Versorgungslage prostituierte oder sich mit männlichen Besatzern einließ, das was im Westen pejorativ als „Amiliebchen“ bezeichnet wurde15. Diesen Übergang kann man exemplarisch an den Rollen von Hildegard Knef beobachten, wie es Ulrike Sieglohr in ihrem schönen Aufsatz aus dem Jahre 2000 getan hat: Von der mütterlichen, engelhaften Susanne Wallner hin zur Sünderin des gleichnamigen Films von Willy Forst aus dem Jahre 195116. In den deutschen Filmen, die hier in Betracht gezogen wurden, ist wie kaum anders zu erwarten zunächst einmal nur der eine Typus besetzt: Sowohl Grete Iller, die Frau des Kriegsheimkehrers aus „Irgendwo in Berlin“ als auch, vor allem, Susanne Wallner entsprechen der Typologie der treuen deutschen Frau, die den jeweiligen physisch und psychisch zerstörten Männern in schützender, ja fast mütterlicher Attitüde beistehen – egal, ob die Beziehung schon ,vor‘ dem Krieg bestand – wie im Falle der Familie Iller – oder erst danach zustande kommt, wie im Falle der zwei Protagonisten von Staudtes Film. In ihrem aufschlussreichen Aufsatz hat Erica Carter „Die Mörder sind unter uns“ als „pivotal text in German film“ unter der Gender-Perspektive bestens H. Fehrenbach, Cinema in Democratizing Germany, S. 97. A. Hörbrugger, Aufbruch zur Kontinuität, S. 28-37. 15 E. zur Nieden, Erotische Fraternisierung. Der Mythos von der schnellen Kapitulation der deutschen Frauen im Mai 1945, in: K.Hagemann / S. Schüler-Springorum, Heimat-Front, S. 313-325. 16 U. Sieglohr, Hildegard Knef: From Rubble Woman to Fallen Woman, in: U. Sieglohr (Hrsg.), Heroines Without Heroes, S. 113-127. 13 14
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analysiert17: Hervorgehoben wird u.a. die grundsätzliche Re-Definition der Rollen im Hinblick auf das Gedächtnis-Thema, das in diesem Film von großer Bedeutung ist. Verkörpern Frauen im „classical cinema“ die Hüterinnen des „cyclical, repetive memory time“, so passiert hier genau das Gegenteil: durch ihre Teilnahme, was auch zur erstmaligen „obliteration of female memory“ führt, verhilft Susanne dem traumatisierten Mertens zu ‚seinen‘ Erinnerungen, zu ‚seiner‘ Vergangenheitsbewältigung sowie zu einer korrekten d.h. juristisch vertretbaren Lösung des Falls Brückner. Von der substantiellen Gattungszugehörigkeit der jeweiligen amerikanischen Filme hängen im Endeffekt auch die Zuschreibungen der jeweiligen Frauenfiguren ab. Vereinfachend gesagt lassen sich die hier in Betracht gezogenen Filme unter zwei größeren Hauptgattungen des amerikanischen Films subsumieren: das romantic drama und der film noir. In „The Blue Dahlia“ z.B. sind beide Frauenfiguren ganz eindeutig auf das Klischee der dark lady zurückzuführen, sowohl die Frau des Kriegsheimkehrers, gespielt von Doris Dowling als auch die ehemalige Frau des Rivalen, gespielt von einer der dark ladies par excellence nämlich Veronica Lake. Dass die Entstehung und vor allem die Konsolidierung der Figur der dark lady als Männer-Phantasie und Projektion im amerikanischen Film der Vierziger Jahre mit „gender anxiety“, die vom Krieg herrührt, zu tun hat, darauf hat die Forschung mehrmals hingewiesen. Mit der bewussten Torpedierung des Erwartungshorizonts spielt hingegen „Somewhere in the Night“: Die weibliche Hauptfigur Christy stellt sich zunächst einmal als emanzipierte Dark Lady vor, die als Sängerin und Pianistin in einem Nachtlokal arbeitet, sie entpuppt sich aber im Laufe des Films als die beste Helferin des Protagonisten auf der Suche nach seiner Vergangenheit und nach sich selbst. Auch in „The Best Years of Our Lives“ werden zwei Typologien gegenübergestellt: auf der einen Seite die Typologie der treuen Frauen, Mütter und Töchter, die in den Kriegsjahren schwere Aufgaben übernommen haben, jedoch sofort bereit sind, in die Schranken ihrer traditionellen Rolle wieder zu schlüpfen, sobald der Mann, Vater, Sohn wieder zu Hause ist (dieser Typologie entsprechen die Frau und die Tochter des Al, die nicht zufälligerweise als Krankenschwester arbeitet, sowie die ehemalige Freundin Wilma des Kriegsversehrten Homers), auf der anderen Seite steht die Frau des halluzinierten und versagenden Fred, die zwar nicht als dark lady bezeichnet werden kann, aber jeglicher schützenden Rolle völlig entbehrt. Egal, ob sie schützend oder drohend wirken, weisen Frauenfiguren auf eine substantielle Re-Definition der geschlechtlichen Rollen und der Machtverhältnisse in den amerikanischen Familien nach dem Zweiten Weltkrieg hin.
17 E. Carter, Sweeping up the Past. Gender and History in the Post-War German „Rubble-Film“, in: U. Sieglohr (Hrsg.), Heroines Without Heroes, S. 91-110, siehe vor allem S. 100-110.
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Dieses Phänomen scheint im frühen italienischen Heimkehrerfilm nicht präsent zu sein. Die „masculinized women“ sind hier nicht vertreten, die patriarchalische Struktur der Gesellschaft wurde während des Kriegs und nach dem Krieg nicht grundsätzlich in Frage gestellt, in der italienischen Gesellschaft stehen Frauen, die erst 1946 wählen dürfen, noch vor der Emanzipation – wohl auch im italienischen Film. Auch im Repertoire des neo-realistischen Films wird der Emanzipation der Frau keine wichtige Rolle zugewiesen. Emanzipieren soll sich zunächst einmal das Volk, und das Volk ist bekanntlich nicht gender-konnotiert. Wenn im „Bandito“, der wie gesagt nur mittelbar als neorealistischer Film zu betrachten ist, doch noch eine Spur von Emanzipation zu sehen ist, geschieht dies wohl nur aufgrund der Tatsache, dass Lattuada bekanntlich ein großer Kenner und Verehrer des amerikanischen Films war – vor allem des gangster movie, die Handlung des „Bandito“ weist übrigens einige Parallelen mit Howard Hawks’ „Scarface“ auf. Lidia – gespielt von Anna Magnani – entspricht zwar dem Klischee des gangster baby, jedoch erheblich reifer und mit einigen mütterlichen und auch populären Konnotationen, die Anna Magnani sicherlich von „Roma città aperta“ mitnimmt, und in das populäre Melodrama der Fünfziger Jahre weitertragen wird. Sie ist aber nicht die einzige Frau im Film. Der wiederkehrende Ernesto erfährt, dass anlässlich eines Bombenangriffs die Mutter mit Sicherheit und die Schwester mit großer Wahrscheinlichkeit gestorben sind. Eines Abends aber fängt er an, einer Frau hinterher zu laufen, die – wie es sich bald herausstellt – in einem Bordell arbeitet. Er wartet solange, bis die Frau wieder frei wird, und zu seiner großen Bestürzung entdeckt er, dass sie die tot geglaubte Schwester Maria (gespielt von Lattuadas damalige Frau Carla Del Poggio) ist, was die kriminelle Laufbahn des Ernesto in Gang setzt. Die Schwester Maria entspricht dem Modell der traviata, der im Kern, unschuldigen Frau, die sich in einer während des Kriegs gesetzlos gewordenen Gesellschaft verloren hat. In der Parallelgeschichte, in deren Mittelpunkt der Freund Carlo steht, ist das weibliche so gut wie unbesetzt, da alles um die melodramatische Vater-Tochter-Beziehung kreist. Sieht man von der alten Mutter des Kriegsheimkehrers Sergio ab, die ja eine nebensächliche Rolle spielt, dann entsprechen die zwei wichtigsten Frauenfiguren in „Un uomo ritorna“ jeweils einem äußerst populären Klischee: Die Schwester Luciana, gespielt von Lucia Poselli, entspricht dem sogenannten „Amiliebchen“ – eine Typologie, die sich im italienischen Film früher als in Deutschland herauskristallisiert hat, wahrscheinlich auch weil die amerikanischen Soldaten einfach früher in Italien waren als in Deutschland verursacht. Die andere Frauenfigur Adele, gespielt von Anna Magnani, verkörpert die leidende und verzweifelte Mutter (ihr Sohn wurde von den faschistischen Repubblichini ermordet), die sich eines großen Ruhms im populären Melodrama der frühen Fünfziger Jahre erfreuen wird.
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Das Thema ließe sich in vielerlei Richtungen produktiv erweitern: z.B. auf der Suche nach typologischen Unterschieden in der Darstellung verschiedentlicher Arten von Kriegsheimkehrern aus dem Zweiten Weltkrieg (sogenannte POW, Prisoners of War, einfache Soldaten, KZ-Insassen), oder im Hinblick auf Konstanten und Unterschiede zu Heimkehrern aus anderen Kriegen, oder auch im Hinblick auf die Transformationen des Themas im deutschen, europäischen und amerikanischen Film der späten vierziger und in den fünfziger Jahren und in den folgenden Jahrzehnten.
Das Gestern im Heute: Inversion und Zukunftsversprechen Zur Ästhetisierung von Ruinen in Film und Fotografie nach 1945 Von Wolfgang Kabatek
Ungezählt sind die Einzelschicksale derer, die – wie in Wolfgang Borcherts Stück „Draußen vor der Tür“ – „nach Hause kommen und die dann doch nicht nach Hause kommen, weil für sie kein Zuhause mehr da ist“1. Nicht zufällig wird in diesem als Schlüsselwerk und Inkunabel der Trümmerliteratur geltenden Text, in dessen Zentrum ein Kriegsheimkehrer namens Beckmann steht, das Morphem „Heim“ nur ein einziges Mal mit dem Affix „Weh“ angesprochen. „Heimweh!“2 ruft Beckmann aus und benennt damit jenes Gebrechen, das als „tödlich verlaufende Krankheit“3 im Französischen unter dem Begriff der maladie du pays oder auch der maladie allemande firmiert. In diesem Sinn sind die Konzepte von „Heim“ mit denen von „Heimat“ verzahnt, die beide nicht zuletzt auf die zukunftsoffenen Möglichkeitsräume vergangener Kinderjahre verweisen. Obgleich imaginiert, eignet diesen Räumen konstitutiv eine Örtlichkeit, wie unbestimmbar diese auch sein mag. Kein Ort ist wie das Heim/die Heimat, aber das Heim/die Heimat hat auch keinen Ort, oder genauer: ist mit einer topografischen Bestimmung nur unzureichend erfasst. Das anklagend exklamierte Weh in Borcherts Heimkehrer-Text beschwört das Vergangene gleichermaßen als Wunder wie als Wunde. So verstanden ist dieser schmerzhafte Schrei folgerichtig mit dem Such- und Sehnsuchtsbild der
1 W. Borchert, Draußen vor der Tür. Ein Stück, das kein Theater spielen und kein Publikum sehen will, in: ders., Das Gesamtwerk, Reinbek 2007, S. 99-165, hier S. 102. 2 Ebd., S. 145. 3 L. Harig, Heimweh. Ein Saarländer auf Reisen, München u.a. 1979, S. 13. Vgl. dazu auch S. Bunke, Heimweh. Studien zur Kultur- und Literaturgeschichte einer tödlichen Krankheit, Freiburg im Breisgau 2009. Heimweh sei das „eigentliche Heimatgefühl“, behauptet Bernhard Schlink und führt weiter aus: „Die Erinnerungen machen den Ort zur Heimat, die Erinnerungen an Vergangenes und Verlorenes, oder auch die Sehnsucht nach dem, was vergangen und verloren ist, auch nach den vergangenen und verlorenen Sehnsüchten. Heimat ist ein Ort nicht als der, der er ist, sondern als der, der er nicht ist“; B. Schlink, Heimat als Utopie, Frankfurt a.M. 2000, S. 33.
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Mutter sowie mit dem Hunger nach Schwarzbrot verflochten. Vornehmlich die Erinnerungen an die von einfachen, vertrauten und somit ‚heimatlichen‘ Dingen angefüllten Zeit- und Raumvorstellungen der Kinderjahre machen das Heim zu jenem „Nullpunkt des Koordinatensystems, womit wir die Welt überziehen, um uns in ihr zurechtzufinden“4. „Heim ist nicht bloß Heimstatt … sondern alles, wofür es steht“, so präzisiert Alfred Schütz bewusst approximativ in seiner 1945 verfassten Studie zu amerikanischen Veteranen des Zweiten Weltkriegs diesen Orientierungspunkt unserer „kognitiven Karten“5. Es ist dieser hohe Grad begrifflicher Unschärfe, der „Heim“ – sowie den Kollateralbegriff „Heimat“ – zum „Assoziationsgenerator“6 und vielfältig verwendbaren Substitut werden lässt. Schütz zufolge steht das Heim idealiter zunächst einmal für das verlässliche Wissen über ein mit Anderen geteiltes, kulturelles oder zivilisatorisches Muster, dass ein hoch konformes „Relevanzsystem“7 bildet und in der „Gemeinschaft von Raum und Zeit“8 gründet. Mögen günstigenfalls die zurückgelassenen Lebensumstände noch weitgehend intakt sein, so können die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Zurückkehrenden dennoch bestenfalls noch einen Wohnort im topografischen Sinn vorfinden. Wenn selbst für den zurückkehrenden Reisenden oftmals „das Gewohnte zu Hause verfremdet“9 ist, so ist die ersehnte Rückkehr – zumindest in die kriegszerstörten Städte – eher eine in Bitterkeit denn eine im Glück. Die lebensweltlichen, Sicherheit und Orientierung gewährenden Bindungen, die vielleicht einmal Geborgenheit, Ruhe und Vertrauen gegeben haben, sind nach dem vehementen Umbruch der Gesellschaftsordnung in dieser Form nicht mehr auffindbar. Die Heimkehr aus dem Krieg restituiert somit oftmals weniger ein Heim als dass sie den Menschen eine Kehre abgenötigt. Wenn es im Folgenden um das Thema der Heimkehr in Trümmerfilm und – fotografie geht, so ist dies nicht ausschließlich auf die von den Schlachtfeldern oder aus der Gefangenschaft zurückkehrenden Soldaten bezogen, sondern weiter gefasst im Sinne Heinrich Bölls als eine Heimkehr aus dem Krieg verstanden. Dieser hatte in seinem 1952 veröffentlichten „Bekenntnis
4 A. Schütz, Der Heimkehrer (1945), in: ders., Gesammelte Aufsätze, Den Haag 1971, S. 70-84, hier S., hier S. 72. Das folgende Zitat ebd. 5 R.M. Downs / D. Stea, Kognitive Karten. Die Welt in unseren Köpfen, New York 1982. 6 G. Gebhard / O. Geisler / S. Schröter, Heimatdenken. Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007, S. 9-56, hier S. 9. 7 A. Schütz, Der Heimkehrer, S. 73. 8 Ebd., S. 75. 9 E. Bloch, Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1985, S. 433.
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zur Trümmerliteratur“10 als deren Gegenstand Menschen ausgemacht, die „aus dem Kriege (kamen), Männer und Frauen in gleichem Maße verletzt, auch Kinder“. Trümmerliteratur handele, so Böll weiter, von all denen, die auf die eine oder „andere Weise heimatlos geworden waren“ und beschäftige sich „mit der Generation, der wir angehörten und die sich zu einem großen Teil in einer merk- und denkwürdigen Situation befand: sie kehrte heim. Es war die Heimkehr aus einem Krieg, an dessen Ende kaum noch jemand hatte glauben können“. Indem Böll den Rahmen der Heimkehr auf die vom Krieg geprägte Generation erweitert, konstruiert er damit im Sinne Karl Mannheims den „Generationszusammenhang“ einer „imaginierten Gemeinschaft“11. Die generationalen Konturen diffus und unbestimmt lassend amplifiziert Böll den Deutungsrahmen der Heimkehr. Weder lässt sich dieser zeitlich auf ein Ankunftsszenario, noch auf einen topografischen Geltungsbereich – etwa Wohn – oder Geburtsort, Orte des Glücks, der Familie oder der Freunde – beschränken, immer aber inhäriert der Heimkehr das Moment einer ersehnten Zugehörigkeit. Die herbeigewünschte Heimkehr aus dem Krieg mag im Einzelfall durchaus positiv als Zeitenwende erlebt worden sein. Die millionenfachen Schicksale der aus den Lagern oder anderen Formen der Unfreiheit Befreiten, der Remigranten, der Repatriierten und ihrer Nächsten, der Kriegsflüchtlinge und Vertriebenen dürfte jedoch angesichts der unüberschaubaren nachkriegsbedingten Lebensverhältnisse mehrheitlich von Enttäuschung oder sogar von Hoffnungslosigkeit geprägt worden sein. Wie ist eine Heimkehr aus dem Krieg realisierbar? Welche Zugänge zum jüngst vergangenen Gestern sind aus der Gegenwart der Nachkriegszeit möglich? Welche Konsequenzen lassen sich daraus für die Zukunft ziehen? „Der Vordereingang ist jetzt hinten“, wird der aus der Schweiz nach München zurückkehrende Remigrant im ersten amerikanisch lizenzierten Spielfilm belehrt. Mit diesem permutierten Raumzugang verbindet sich ein signifikantes, titelgebendes Verhältnis zur Zeit: „Zwischen gestern und morgen“ (D 1947, R: Harald Braun). Implizit markiert der Titel eine zeitliche Leerstelle nach dem materiellen Ruin der Städte. Nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Herrschaftssystems suchen die orientierungslosen Filmfiguren in zertrümmerten Lebensverhältnissen nach Neuausrichtung. Diese Lebensumstände – materiell wie ideell – haben den ersten deutschen Nachkriegsproduktionen ihre filmhistorische Bezeichnung gegeben. Im Trümmerfilm figurieren die Überreste kriegszerstörter Städte nicht bloß als zeithistorisches Kolorit, sondern bilden an zentralen Stellen ihrer narrativen Architektur hoch verdichtete Merkzeichen, von denen angemessener als Ruinen zu sprechen 10 H. Böll, Bekenntnis zur Trümmerliteratur (1952), in: ders., Werke. Kölner Ausgabe, Köln 2007, S. 58-62, hier S. 58. Alle weiteren Zitate ebd. 11 B. Anderson, Imagined Communities. Reflections on Origin and Spread of Nationalism, London 1993.
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wäre. Wenngleich Trümmer oder Ruinen im Hinblick auf die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs oftmals synonym verwandt werden, so lassen sich beide dahingehend unterscheiden, dass Trümmer gemeinhin auf gewaltsam destruierte, Ruinen jedoch auf eingestürzte, zerfallene Bauwerke referieren. Für Hartmut Böhme obwaltet in der Ruine „eine besondere Weise der Erfahrbarkeit von Zeit: … Die Ruine dimensioniert sich in allen drei Modi der Zeit, genauer: nicht die Ruine, sondern der reflexive Blick, in welchem sich die Ruine als ästhetischer Gegenstand bildet“12. Ruinen resultieren jedoch nicht etwa unabwendbar aus partiellen Zerfallsprozessen oder kriegsbedingten Zerstörungen von Bauwerken. Das Apperzeptionsobjekt „Ruine“ konstituiert sich erst als Ergebnis eines die materiellen Überreste der Vergangenheit synthetisierenden Wahrnehmungs- und Semantisierungsprozesses, dem eine wirkmächtige kunsthistorische Tradition inhäriert13. Solchermaßen werden Ruinen zu komplexen Geschichtszeichen, die als zeiträumliches momentum, als verdinglichtes Zeichen der Zeit zwischen dem Nicht-mehr und dem Noch-nicht geortet werden. Ihnen eignet eine temporale Ambiguität. Einerseits repräsentieren sie mit ihrem Verfall das Vergehen der Zeit, andererseits zeugen sie als Überreste der Vergangenheit von deren Fortdauern. In der Ruine fügen sich retro- und prospektive Elementen aneinander, die sich mit der Figur der Inversion fassen lassen. In dieser spezifischen temporalen Ordnung der Ruinenzeit markieren Bruchstücke des Vergangen in der Gegenwart einen Wirkungsbereich, der sich in die Zukunft spannt. Der Konnex von Heimkehr, Ruine und Inversion wird im Folgenden an drei exemplarischen Bildentwürfen der Nachkriegszeit zu erläutern sein.
I. … unter uns Wolfgang Staudtes bis in die heutige Zeit zurecht kontrovers diskutierter Film „Die Mörder sind unter uns“ verknüpft das Problem der Heimkehr mit dem moralischen und juristischen Diskurs über Schuld und Verantwortung individueller Personen. Als der Film in Berlin am 15. Oktober 1946 als erste Nachkriegsproduktion „Unter den Linden“ in der „Deutschen Staatsoper“ mit einer großen Premiere uraufgeführt wird, liegt die Urteilsverkündung gegen die 24 als Hauptkriegsverbrecher angeklagten Vertreter der nationalsozialistischen Führungselite gerade zwei Wochen zurück. Die Geschichte 12 H. Böhme, Die Ästhetik der Ruinen, in: D. Kamper / C. Wulf (Hrsg.), Der Schein des Schönen, Göttingen 1989, S. 287-304, hier S. 288. 13 Zum Konnex von Stadt und Ruinen vgl. A. Böhn / C. Mielke (Hrsg.), Die zerstörte Stadt. Mediale Repräsentationen urbaner Räume von Troja bis SimCity, Bielefeld 2007.
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dieses ersten Spielfilms der DEFA erzählt von dem Arzt Dr. Hans Mertens (Ernst Wilhelm Borchert), der nach seinem Kriegsdienst nicht mehr ins zivile Leben zurückfindet. Durch Zufall erfährt er vom Überleben seines ehemaligen Vorgesetzten, der an der Ostfront die Erschießung wehrloser Zivilisten angeordnet hat und nun – unbehelligt von diesem Kriegsverbrechen – als jovialer Fabrikant von zu Kochtöpfen umgearbeiteten Soldatenhelmen vom Wiederaufbau profitiert. Er beschließt, diese ungeahndete Gräueltat in Selbstjustiz zu vergelten. Im letzten Moment kann die ihn liebende Frau – die Grafikerin Susanne Wallner (Hildegard Knef) – sein ungesetzliches Ansinnen verhindern. Die Einsicht in eine notwendig juristische Aufarbeitung der Vergangenheit beschließt den Film. „Tag um Tag hat der DEFA-Regisseur W[olfgang] St[audte] nach den Ruinen gesucht, zwischen denen er eine der wichtigsten Szenen seines Films ‚Die Mörder sind unter uns‘ drehen könne … Einen so starken Eindruck hatten die zerrissenen Fronten der ‚Kleinen Andreasstraße‘ auf Staudte gemacht, … daß er die Arbeiter, die er mit einem Wasserrohrbruch beschäftigt fand, beschwor, dort doch ja nichts ‚kaputt zu machen‘“14.
So weiß ein Drehbericht im Berliner „Morgen“ mitzuteilen. Der angesichts der Ruinen zunächst paradox anmutende Appell Staudtes an die Arbeiter der Berliner Wasserwerke, nichts kaputt zu machen, verweist auf eine Haltung gegenüber den Zeitläuften, die im Sinne Walter Benjamins als allegorische bezeichnet werden könnte. Im Bruchstück eines gewesenen Ganzen bestehe dieses weiterhin fort. Obgleich es als Fragment von Geschichte überdauert habe, sei es jedoch wie diese im „Vorgang unaufhaltsamen Verfalls“15. In den „zerrissenen Fronten“ findet Staudte gewissermaßen das „hochbedeutende Fragment, das Bruchstück“16, an dem der Film das Leidvolle und Verfehlte der Geschichte hervortreten lässt. Dass in „Die Mörder sind unter uns“ die architektonischen Zerstörungen immer auch mit der Zerrissenheit seines männlichen Protagonisten, dass die Ruinen der Stadt mit dessen menschlichen Ruin verbunden sind, daran lässt der Film von Anbeginn keinen Zweifel. Die Titelsequenz endet in einer Schwarzblende, mit der Ernst Rother seine dramatische Filmmusik nochmals einen Halbtonschritt tiefer mit dominanten Viola- und Kontrabassklängen orchestriert: Dann in die Dunkelheit des Kinosaals eine Einblendung „Berlin 1945“, ergänzt durch einen kurz darauf erscheinenden Untertitel: „Die Stadt hat kapituliert …“. Beinahe im Telegrammstil markieren die ersten, ungegenständlichen Filmbilder mit großen serifenlosen Lettern das Leben nach der 14 Der Morgen (Berlin), 29. Juni 1946, zitiert nach G. Vogt, Die Stadt im Kino. Deutsche Spielfilme 1900-2000, Marburg 2001, S. 419. 15 W. Benjamin, Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders., Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M. 1991, S. 203-430, hier S. 353. 16 Ebd., S. 354.
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‚Fraktur‘. Aufblende: Die vielstimmig instrumentierte Musik der Exposition weicht einem regsamen, fast nervös wirkenden Klavierspiel, das aus der Ferne des Bildraums zu hören ist. Eine bodenwärts gerichtete Kamera zeigt in Naheinstellung die Stirnseite erst kürzlich aufgehäufter Soldatengräber in einem bildfüllenden Anschnitt. Die kurze Brennweite des Eingangsbilds belässt die Umgebung der zwei Grabhügel im Schemenhaften. Zum einen wird dadurch nach der prononcierten Nennung von Ort und Datum jede weitere zeiträumliche Orientierung verweigert, zum anderen wird das Audiovisuelle in ein Spannungsverhältnis zum Buchstäblichen gerückt. Angesichts des Gewichts der Schrift, der Last der Schlagworte, könnte die initiale filmische Einstellung metaphorisch als gesenkter Blick, als niedergeschlagene Augen gefasst werden. Erst im Verlauf eines langsam einsetzenden Schwenks erschließt sich eine von Gefechten zerfurchte Straßenansicht. In mattem Gang und mit nach innen gekehrtem Blick, nähert sich eine männliche Gestalt dem Bildvordergrund. Der Blick des Mannes schweift umher, ohne dabei Notiz von der Umwelt zu nehmen. Symbolisch verdichtet lässt das Auftrittsszenario des Protagonisten eine mehrdeutige Neige gewahr werden: als Verlust der für die Orientierung elementaren Horizontlinie, als mit der bedingungslosen Kapitulation zu Ende gegangener Zeitabschnitt und schließlich als bitteren, kläglichen Rest einer ehemals metropolitanen Stadt. Die gefilmte Stadt Berlin war immer auch ein Ort verkehrsreicher Straßen, nunmehr sind es schuttgesäumte, von hoch aufragenden Wohnhausruinen umgrenzte Pfade, die ihr Bild prägen. Staudte setzt den Auftrittsort seines von der psychischen und physischen Ausnahmesituation des Krieges gezeichneten Heimkehrers als ein aus dem Rahmen fallendes Tableau in einer realen Schreckenskulisse in Szene. Mit beträchtlichem bildgestalterischem Aufwand steigert die Regie eine von vielen Menschen bei der Heimkehr zum Ausdruck gebrachte Derealisierung und Orientierungslosigkeit auf den Ruinenfeldern, die der Zweite Weltkrieg hinterlassen hat. So sieht etwa Alfred Döblin überall starrende „KulissenStraßen“17, deren Erscheinungsbild von ‚Häuserskeletten‘ dominiert werden oder Borchert lässt seinen Heimkehrer „einen ganz tollen Film“ erleben, der sich schnell als ein „ganz alltäglicher“18 herausstellt. Dass Gefühl des Fremdwerdens des vormals Vertrauten ist jedoch keineswegs auf Rückkehrer zu limitieren, die eine geraume Zeit abwesend waren. Vielmehr handelt es sich um einen angesichts der kriegszerstörten Städte weitverbreiteten Wahrnehmungseindruck. „Was uns umgab erinnert in keiner Weise an das Verlorene. Es hatte nichts damit zu tun. Es war etwas anderes, es war das Fremde, es war das eigentlich Nicht-Mögliche“19. A. Döblin, Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis, Frankfurt a.M. 1949, S. 412. W. Borchert, Draußen vor der Tür, S. 102. 19 H.E. Nossack, Der Untergang. Hamburg 1943 (mit Fotos von E. Andres), Hamburg 1981, S. 68. 17
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In „Die Mörder sind unter uns“ steht das Ankunftsszenario der Protagonistin in einem deutlichen Gegensatz zum Auftritt der männlichen Hauptperson. In einem völlig überfüllten Zug ist soeben Susanne Wallner nach Berlin zurückgekehrt, nachdem sie 1942 in ein KZ deportiert worden war. Die Kamera begleitet sie auf ihrem Weg durch die dicht gedrängte Menschenmenge auf dem Stettiner Bahnhof, von dessen Sonderbahnsteig G früher einmal alle KdF-Züge zu den Ostseebädern abfuhren. Während sie aufmerksam ihre Umgebung musternd in den Wartesaal tritt, beginnt sich die Kamera von ihr zu lösen. In langsamer Fahrt nähert sie sich einem alten Mann, der seinen Rücken zur Kamera dreht, sich müde an die Wandrudimente des Wartesaals lehnt, um seinen Blick auf die Ruinenlandschaft zu richten. Indessen rückt die Kamera ein Plakat mit der Aufschrift „Das schöne Deutschland“ zunehmend formatfüllend ins Bildzentrum. Der touristische Werbeträger mit seiner fotografischen Reminiszenz an das Vergangene markiert diese Zeit überdeutlich als verblichen: lediglich an einem Punkt befestigt, droht das Plakat vollends abzustürzen und zitiert mit seiner gekippten Horizontalen die Bildkomposition der ersten Einstellung. Die anschließende transitorische Überblendung von historischer Fotografie und zeitgenössischer Ruine ist dabei gleichermaßen kontinuierlich wie kontrastiv. Kontinuierlich, weil zwischen den Türmen des auf dem Plakat gezeigten Fachwerkbaus und den Pilasterresten der Ruine in der Vertikalen eine visuelle Analogie besteht, kontrastiv, da mit dem Bild des Alten die unversehrte Bausubstanz der Vorkriegsjahre als bildliche Folie aufgerufen wird, von der sich die gegenwärtige Zerstörung in deutlichem Gegensatz abhebt. Mit dieser Bilderfolge etabliert der Film seinen zentralen Handlungsraum, der im späteren Verlauf den Rahmen für eine Heimkehr aus dem Krieg bildet. Es ist dies der Ort, an dem die beiden Protagonisten ihrer gegenseitigen Liebe gewahr werden, der Ort, an dem sich für beide ein Bund fürs Lebens andeutet und damit die gemeinsame Überwindung vergangener Schrecken sowie eine hoffnungsfrohe Zukunft aufscheint. Verschiedentlich komponiert Staudte in „Die Mörder sind unter uns“ die Überreste der Stadt zu symbolisch verdichteten Orten, an denen er seinen desillusionierten Kriegsheimkehrer schrittweise zu einem zuversichtlichen Humanisten sich wandeln lässt. Neben der ruinenumsäumten Stätte des Liebesgeständnisse, wird der aus dem Krieg heimgekehrte Arzt an einem ebensolchen Ort an seinen hippokratischen Eid erinnert und schließlich wird auch die Klimax des Films inmitten einer Kirchenruine initiiert, in der am ersten Heiligabend der Nachkriegszeit die frohe Botschaft des Friedens verkündet wird. Die christliche Friedensbotschaft, der mit der Geburt Jesu ansetzende Nullpunkt der Zeitrechnung wird in Staudtes Film zum Ausgangspunkt einer ganz eigensinnigen Interpretation einer Stunde Null. Im Namen eines abstrakt bleibenden Wir fordert Mertens mit christlich inspirierten Verkündungspathos für die Opfer des Kriegs von den Mördern Sühne. In Staudtes Film geht die Heimkehr aus dem Krieg nicht in einer örtlichen Ankunft auf. Heimkehr scheint die Revision des vormalig
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gültigen konsensuellen Rahmens sowie der persönlichen Bindungen innerhalb einer imaginierten gemeinschaftlichen Umgrenzung zu bedürfen. Am Ende des Films ist der anfänglich ‚gesenkte Blick‘ der Kamera auf die Toten des Weltkriegs einer ‚aufrechten‘ Einstellung auf die Überlebenden gewichen, die ihre wiedergefundene Stimme „im Namen der Menschlichkeit“ erhebt. „[W]ir haben die Pflicht“, führt Hans Mertens aus, „Anklage zu erheben. Sühne zu fordern im Auftrag von Millionen unschuldig hingemordeter Menschen.“ Wenngleich er seinen Blick während dieser eindringlich akzentuierten Worte dem linken Off – und damit gemäß einer kinematografischen Bewegungslogik der Vergangenheit – zuwendet, so ist dieser gleichwohl kein rückwärtsgewandter, sondern einer auf eine gerechtere Zukunft geöffneter. Auch die Ruinen der Vergangenheit sind in der letzten Sequenz in den Hintergrund gerückt und lediglich als Reflexion auf den Sprossenfensterscheiben einer Fertigungshalle angedeutet, bevor eine Coda den Film mit einem Defilee von Kriegsopfern beschließt. II. … über uns Wenngleich mit unterschiedlichem Fokus, werden auch in Joseph von Bakys Trümmerfilm „… und über uns der Himmel“ (D 1947) individuelle Transformationsgeschichten der Heimkehr erzählt und in einen gesellschaftlichen Rahmen überführt. Dieser erste nach Kriegsende mit amerikanischer Lizenz gedrehte Film handelt von dem ehemaligen Kranführer Hans Richter (Hans Albers), der nach kurzer Orientierungsphase schnell mit den geänderten Lebensverhältnissen zurechtkommt und durch Schiebergeschäfte auf dem Schwarzmarkt ein ansehnliches Auskommen findet. Freudig begrüßt er nach geraumer Zeit seinen bereits todgeglaubten Sohn Werner (Paul Edwin Roth), muss jedoch erkennen, dass dieser an der Front eine schockbedingte Blindheit erlitten hat. Nach einigen Wochen erholt sich Werner von seinem Kriegstrauma und gewinnt sein Augenlicht zurück. Auf den Straßen bekommt er nun erstmals das Elend der Nachkriegszeit zu sehen. Hierüber gerät er mit seinem Vater ob dessen unmoralischer Lebensführung in Konflikt. Wenngleich sich Hans durch die Kritik seines Sohnes ungerecht behandelt sieht, ist er daraufhin dennoch in seinem Tun verunsichert. Schließlich findet er über die Zeitumstände, die ihn zu einem – stets verständnisvoll gezeichneten – Schwarzmarkthändler werden ließen, auch wieder zu einer anständigen Tätigkeit zurück. Der erste Bildkader des Films zeigt ein Wolkenbild20. Im Kontext des Luftkriegs ist der Blick in den Himmel dem apparatetechnisch armierten 20 Zur Repräsentation von Wolken in der Kunstgeschichte: H. Damisch, Théorie du nuage. Pour une histoire de la peinture (1972), Paris 2001; K. Weschenfelder /
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airplane eye komplementär, mit dem die „Welt zur Fläche“21 transformiert wird. Während der aviatische Blick die Wahrnehmungsfläche amplifiziert und überschaubar werden lässt, weitet sich der himmelwärts gerichtete Blick ins Infinite und geht damit sowohl eines archimedischen Punkts, einer verlässlichen räumlichen Orientierung sowie zeitlicher Indikatoren verlustig: Ungeachtet der daraus folgenden Ortlosigkeit des Himmels22, stellt sich bei den ersten Bildern dieses Films für das damalige Publikum dennoch unmissverständlich ein zeitgenössischer Zusammenhang her. Erreicht wird dies durch das von Hans Albers im larmoyanten Ton vorgetragene, titelgebende Lied aus der Feder Theo Mackebens, in dem die Nachkriegszeit als schicksalhafte besungen wird. Wie schon in „Die Mörder sind unter uns“ kann auch hier zwischen der visuellen Ambiguität der ersten Filmbilder und deren sprachlicher Ebene ein Spannungsverhältnis festgestellt werden. In einer Zeit, da neue Werte am Horizont noch nicht auszumachen sind, korrespondiert die Verweigerung einer raumorientierenden Horizontlinie in beiden Filmanfängen in gewisser Weise mit dem Wegfall des vor Kriegsende gültigen moralischen Koordinatensystems. Wie bereits am Beispiel von „Die Mörder sind unter uns“ skizziert, werden auch in „… und über uns der Himmel“ die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs zum Ausgangspunkt einer Zeitlichkeit, die als chronologische Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur unzureichend beschrieben wäre. Vielmehr ermöglicht der reflexive Blick auf Ruinen eine Zeiterfahrung, mit der Vergangenes in der Gegenwart als etwas in die Zukunft Wirkendes erlebt wird. von Baky erzielt diesen Effekt, indem er beiden Heimkehrern eine Rückblende in Form einer eigenzeitlichen, außerhalb des HandlungsU. Roeber (Hrsg.), Wasser, Wolken, Licht und Steine. Die Entdeckung der Landschaft in der europäischen Malerei um 1800 (Kataloge. Mittelrhein-Museum Koblenz, 1), Heidelberg 2002; B. Hedinger (Hrsg.), Wolkenbilder. Die Entdeckung des Himmels (Publikationen des Bucerius-Kunst-Forums, 6), München 2004; S. Kunz / J. Stückelberger / B. Wismer (Hrsg.), Wolkenbilder. Deutungen des Himmels in der Moderne Paderborn 2007. Einen kulturgeschichtlichen Überblick bietet: L. Engell / B. Siegert / J. Vogl (Hrsg.), Wolken (Archiv für Mediengeschichte), Weimar 2005. Fotogeschichtlich liegen vor allem zahlreiche, theoretisch komplexe Arbeiten zu den Wolkenfotografien von Alfred Stieglitz vor. Zu diesen equivalents vgl. u.a. R.E. Krauss, Stieglitz’ Äquivalente (1979), in: dies., Das Photographische. Eine Theorie der Abstände (1990), (Bild und Text) München 1998, S. 127-137; P. Dubois, Der fotografische Akt, Dresden / Basel 1998, S. 199-213, sowie B. Stiegler, Theoriegeschichte der Photographie, München 2006, S. 170-183. 21 C. Asendorf, Super Constellation – Flugzeug und Raumrevolution. Die Wirkung der Luftfahrt auf Kunst und Kultur der Moderne, Wien / New York 1997, S. 35. 22 „Die Perspektive nimmt einzig die Dinge zur Kenntnis, die sie in ihre Ordnung übersetzen kann, die Dinge, die einen Ort besetzt halten und deren Kontur durch Linien bestimmt wird. Doch der Himmel hält keinen Ort besetzt, er ist maßlos …“, H. Damisch, Die Geschichte und die Geometrie, in: L. Engell / B. Siegert / J. Vogl (Hrsg.), Wolken, S. 24.
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verlaufs stehenden Bilderfolge gewährt. Mit der ersten Rückblende werden einige Facetten aus dem Vorkriegsleben Hans Richters vorgeführt. In seiner halbzerstörten Wohnung holt dieser aus einer Kiste einige ihm noch verbliebene Fotografien hervor. Diesen Erinnerungsakt – zu nächtlicher Stunde mit bedeutungsvoll ausgeleuchtetem Gesicht in Szene gesetzt – nimmt die Regie zum Anlass, eine Reihe privater Begebenheiten Revue passieren zu lassen. Mit diesem Defilee wird der Protagonist in der Zeit vor dem Krieg als ‚Hans im Glück‘ vorgeführt. Den Anfang markiert eine unbekümmerte sommerliche Tretbootfahrt, bei der er seine spätere Frau kennenlernt. Daran reiht sich ein Biergartenbesuch, der uns Hans – sich rührend um den im Kinderwagen liegenden Walter kümmernd – vor einer imposanten Berliner Weißen sitzend zeigt. Abschließend sehen wir ihn gemeinsam mit seinem inzwischen herangewachsenen Sprössling im Zoo einen Schimpansen füttern. Mithin also eine Reihe von Preziosen aus dem unbeschwerten Paradies des privaten Familienglücks, das von politischen Verwerfungen der Zeit vollkommen losgelöst erscheint. Dabei kommentieren intermittierende Zwischenschnitte auf das sich zunehmend melancholisch verfinsternde Gesicht des Erinnernden den schmerzlichen Verlust dieser ehemaligen Unbeschwertheit. Diese konventionelle, leicht eingängige Rückblende bildet in mehrfacher Hinsicht einen Kontrast zu jener, mit der von Baky seine zweite kinematografische Retrospektion ins Werk setzt. Ausgangspunkt ist eine Autofahrt zu der Augenklinik, in der Werners Kriegserblindung behandelt werden soll. Die découpage der Fahrt besteht aus wechselnden Einstellungen, die entweder die Fahrenden – Hans, Werner sowie ihre Nachbarin Edith – oder deren Blickperspektiven zeigen. Die Binnenkadrierung beider Einstellungssettings gibt den vorbeiziehenden Ruinen eine fast monumentale Größe. Die Regie unterstützt diesen Eindruck, indem sie diese Bildfolgen von gedämpften, symphonischen Klängen begleiten lässt und den Dialog fast gänzlich reduziert. Auf dem Weg zur Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche entsteht auf diese Weise zwischen den Ruinenbildern und den mimischen Reaktion von Hans und Edith ein nahezu kontemplatives Spannungsverhältnis, das die Folie für den mit einer beiläufigen Frage Werners initiierten Rückblick bildet: „Wo sind wir denn jetzt?“. Mit der Antwort – „In der Potsdamer Straße“ – wird eine Vergangenheitsschau in Gang gesetzt, die sukzessiv den durch das Erinnerungssubjekt vermittelten Bezugsrahmen verlässt. So bleibt das Gesicht des Protagonisten anfänglich in einer Überblendungssequenz unter den Vergangenheitsbildern präsent, auch wenn sich diese bereits topografisch und inhaltlich von der gezeigten Autofahrt gelöst haben. Nach und nach beginnt die Kamera zu vagabundieren und erschließt sich in Joseph von Bakys Film einen erweiterten städtischen Imaginationsraum, der an vergleichbare Sequenzen in „Menschen am Sonntag“ (1929) denken lässt. Dadurch wird die Retrospektive in zunehmendem Maße aus der ohnehin nur minimalen individualpsychologischen Perspektive gelöst
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und veräußerlicht. Für eine kurze Zeitspanne werden die Kamerabilder aus ihrem narrativen Korsett und dramaturgischen Dienstverhältnis zur Unterstützung des Protagonisten entlassen. Mittels einer Reihe schlagbildartiger Topoi des Berliner Großstadtlebens werden die Vergangenheitsbilder symbolisch überformt. Wenn die Bilderfolge dieser Rückblende den begrenzten individuellen Wahrnehmungskreis des Agierenden überschreitet, dann erweitert sich zum einen die Perspektive des Films, zum anderen gelangen die Filmbilder zeitlich in einen invertierten Horizont, der die Vergangenheit nicht als etwas Fernes, vor der Gegenwart Liegendes, sondern als etwas in ihr weiterhin Wirkendes aufruft. Die extradiegetischen Erinnerungsbilder dieses von frei flottierenden Berlin-Topoi geprägten Bildersturzes lassen das Vergangene in die Gegenwart ein. Als invertierte Zeitenfolge, als Gestern im Heute wird somit Vergangenheit in der Gegenwart, im Präsentischen der filmischen Erzählung manifest. In diesen Bildern geht nicht das Gespenst einer nichtvergangenen Vergangenheit um. Vielmehr inhäriert die von ihrer narrativen Unterstützungsfunktion freigestellte Retrospektion – indem sie sich von den gegenwärtigen Zerstörungen löst – eine prospektive Aussicht. Von der Last des individuellen Gedenkens an unwiederbringlich Zerstörtes befreit, zieht der Film für seine Protagonisten eine verhaltene Zuversicht aus diesen Bildern. Dies zeigt sich zum einen am durchlässiger und nachdenklicher werdenden Minenspiel der von Hans Albers verkörperten Figur sowie an der wechselnden musikalischen Klangfarbe des letzten Teilstücks der Autofahrt. Wenn in „… und über uns der Himmel“ am Schluss der Blick in Himmel und Wolken wieder aufgenommen wird, so lässt sich an dieser Rahmung eine bedeutsame Differenz feststellen, da nunmehr ein durch das Bild schwenkender Kranausleger in zweifacher Hinsicht Orientierung ermöglicht. Zum einen erhält die Bildkomposition dadurch eine Objektreferenz, zum anderen beantwortet der Film die anfangs vom Liedtext23 fast beiläufig gestellte Frage nach kollektiver Identität am Beispiel Hans Richters als tröstliche, kinematografische Wunscherfüllung eines Wiederaufbaus. Mit dieser Heimkehr aus dem Krieg wird von Bakys Protagonist zu dem, der er war: ein ‚Hans im Glück‘. Privat als Vater und Ehemann und im Beruf als zupackender Optimist, der mit seinem unbändigen Aufbauwillen im Sinne des leitmotivischen Liedtextes dafür sorgt, dass ‚es weitergeht‘. Wenn in diesem Schlussbild das „Es weht der Wind von Norden / Er weht uns hin und her / Was ist aus uns geworden? / Ein Häufchen Sand am Meer / Der Sturm jagt das Sandkorn weiter / dem unser Leben gleicht / Er fegt uns von der Leiter / Wir sind wie Staub so leicht / Was soll nun werden? / Was soll nun werden? / Es muss doch weitergehn / Noch bleibt ja Hoffnung für uns genug bestehn / Wir fangen alle von vorne an / weil dieses Dasein auch schön sein kann / Der Wind weht von allen Seiten / So lass den Wind doch weh‘n / Denn über uns der Himmel / lässt uns nicht untergehn“ [Hervorhebungen, W.K.]. 23
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bedrohlich wirkende Cumulusgewölk des Filmbeginns nunmehr sanfteren Zirren gewichen ist, so könnte man fast geneigt sein, diesen Blick in höhere Himmelsschichten gewissermaßen als vorgreifende Resonanz des Wirtschaftswunders zu verstehen.
Abb. 1: Eingangssequenz „… und über uns der Himmel“ (Josef von Báky, Obiektiv Film GmbH 1947)
Abb. 2: Schlusssequenz „… und über uns der Himmel“ (s. Abb. 1)
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III. Vater unser … Hermann Claasens 1947 in Düsseldorf erstmalig veröffentlichtes Fotobuch „Gesang im Feuerofen. Köln – Überreste einer alten deutschen Stadt“ lässt selbst für einen bibelunkundigen Leser eine religiös inspirierte ApokalypseAllusion im Titel erkennen. Berühmt wurde dieses zu den populärsten Bildbänden der Nachkriegszeit zählende Buch insbesondere für die Bildserie einer als Pfeilermadonna der Stadtpfarrkirche St. Kolumba bekannt gewordenen Skulptur, die mit vergleichsweise geringen Schäden die nahezu vollständige Zerstörung des Gotteshauses beim letzten Bombenangriff auf Köln am 2. März 1945 überstanden hatte. Claasen knüpft mit diesem Bildmotiv an ein bereits in der Weimarer Republik geschätztes Sujet an24, das überdies mit seiner sich erst in der Gotik entwickelnden Ikonografie als Standfigur25 auf eine Zeit verweist, die in der konservativen Mittelalterbegeisterung der Zwischenkriegszeit nicht nur für einen historischen Stil steht, sondern als Orientierungsbegriff figuriert, in dessen Rahmen sich die Konturen einer idealen Vergangenheit rekonstruieren ließen. Gotik steht in diesem Deutungsrahmen für eine Zeit, deren Ausdrucks- und Gemeinschaftsideale gewissermaßen prästabilisiert aufeinander bezogen waren, in der Kunst sich „aus einer noch wirklich vorhandenen künstlerischen Massenseele (hob), als die natürliche Sprache ihrer inneren Einheitlichkeit.“26 Claasens fotografische Serie der Ruinenmadonna nimmt ein Motiv auf, das in den Bildkompositionen der Geburt Christi seit dem 16. Jahrhundert in der Malerei einen festen Platz einnimmt. Hier fungiert die Ruine als Sinnbild der alten vorchristlichen Welt im Kontrast zu der mit Christi Geburt markierten Ankunft einer neuen Weltordnung. Die sukzessive Engführung des Bildausschnitts mittels der langen Brennweiten des Teleobjektivs stellt das Gesicht 24 A. Goldschmidt, Gotische Madonnenstatuen in Deutschland, Augsburg 1923. Ikonografisch und medienhistorisch verweisen Claasens Aufnahmen auf eine Reihe kunstgeschichtlicher Fotobücher, die in der Weimarer Republik mit sehr unterschiedlichen Absichten auf Porträts mittelalterliche Sakralfiguren rekurrieren: R. Hamann, Deutsche Köpfe des Mittelalters. Auswahl nach Aufnahmen des kunstgeschichtlichen Seminars, Marburg 1922; H. Wilm, Gotische Charakterköpfe, München 1925; W. Hege / W. Pinder, Der Naumburger Dom und seine Bildwerke, Berlin 1925; dies., Der Bamberger Dom und seine Bildwerke, Berlin 1927. 25 Diese Ikonografie entwickelt sich in Frankreich, den Niederlanden, Deutschland und Italien. Während im Italien des Quattrocento die Standfigur der Maria immer seltener wird, erlebt diese Darstellungsform in Deutschland nachgerade eine Blüte. Im Rinascimento permutiert die himmelwärts aufstrebende Statue der Mutter Jesu zu einer sitzenden, menschlichere Züge tragenden Gestalt. 26 So 1926 der Kunsthistoriker Wilhelm Pinder in seiner Einführung zum Bamberger Dom (hier zitiert in der 2. Aufl.: W. Pinder, o.T. [Einführung], in: W. Hege / W. Pinder, Der Bamberger Dom, S. 5-61.
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von allen architektonischen Zusammenhängen sowie zeitgenössischen Bezügen frei und verleiht dem nach innen gerichteten Madonnenblick eine symbolisch aufgeladene Eigenzeit. In ikonografischer Hinsicht durchaus konventionell verweist die solchermaßen auf die Mariengestalt ausgerichtete Bilderfolge zum einen auf das christliche Heilsversprechen. Bedenkt man die herausgehobene Stellung der Mutter Jesu im Gefüge römisch-katholische Heiligenfiguren, so hebt in der Formation Gott-Welt-Mensch diese Fokussierung zum anderen den Aspekt bescheidener, gottesfürchtiger Menschlichkeit hervor, denn „[n]ie stand eine Erdenmagd so im Blickfeld der Weltgeschichte“27.
Abb. 3: Fotoserie „Pfeilermadonna“ von St. Kolumba (H. Claasen, Gesang im Feuerofen, Schwann, Düsseldorf 1947, S. 60 f.)
Die schrittweise Annäherung28 an die „Muttergottes von St. Kolumba“ kann als Versuch gelesen werden, sich der Frömmigkeit der spätmittelalterlichen Zeit anzunähern. Mit dieser rückkehrenden Bewegung ist jedoch das Bemühen verbunden, den – freilich unterstellten – Geist dieser ordo-geprägten Zeit als Versprechen für eine zukünftige religiöse Erneuerung produktiv zu machen. Damit wird gewissermaßen ein invertierendes Vorhaben ins Werk 27 Carl Sonnenschein, o.T. [Vorwort], in: ders., Madonnen. Hundertundvier Kupfertiefdrucktafeln (Anmerkungen zu den Bildern von Dr. Leopold Zahn), Berlin 1928, S. VII-X, hier VIII. 28 Eine in einzelne Aufnahmen aufgelöste Näherungsbewegung an eine fotografisch porträtierte Skulptur – über ein das Gesamtensemble erfassendes Bild, einer Ganzkörperaufnahme sowie einem Bildausschnitt, der den Ausdruck des Gesichts fokussiert – führt Walter Hege beispielgebend in seiner Fotoserie zur Naumburger Kreuzigungsgruppe vor; W. Hege / W. Pinder, Naumburger Dom, Tafel 45-52, besonders Maria 45, 49, 51.
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Abb. 4: Fotoserie „Pfeilermadonna“ von St. Kolumba (H. Claasen, Gesang im Feuerofen, Schwann, Düsseldorf 1947, S. 62 f.)
gesetzt, das die gegenwärtigen „bitteren Jahre“29, „das abgründige Elend unserer heutigen Existenz“ – von denen Franz Alfons Hoyer im Vorwort zu Claasens Fotobuch andeutungsreich spricht – zu überspringen beabsichtigt. Die kulturgeschichtliche Tradition der Ruinenästhetik weiterschreibend führt Hoyer in seinem „Geleitwort“ weiter aus, es klinge „fast wie ein Widersinn, daß nun in dieser Zerstörung Schönheiten sichtbar werden, die man vorher so nicht gesehen“. „Ist jetzt, in diesem neuerlichen UnvollendetSein, nicht erst ihre eigentliche „Form“ erreicht?“, fragt Hoyer weiter. Die kriegsbedingten Zerstörungen der spätmittelalterlichen Skulptur würden ihr jenen Zug „unmäßiger Menschenhybris“ nehmen, der in der Sicht des Autors jeglicher „Werkvollendung“ anhafte. Eine ähnliche Position vertritt auch der Architekturhistoriker Eberhard Hempel, wenn er behauptet, Ruinen verliehen „Bauten häufig eine Schönheit …, die sie früher bei meist mannigfach dekoriertem Bewurf und vielen unwesentlichen Einzelheiten nicht besessen haben“30. Beider Argumentationen sind der Georg Simmels verwandt, der im 29 F.A. Hoyer [Geleitwort], in: H. Claasen, Gesang im Feuerofen. Köln – Überreste einer alten deutschen Stadt Düsseldorf 1949, S. VII-XII, hier S. VIII. Die folgenden Zitate ebd., S. X. 30 E. Hempel, Ruinenschönheit, in: Zeitschrift für Kunst. Vierteljahreshefte für künstl. Gestaltung, Malerei, Plastik, Architektur, Kunsthandwerk, 2 (1948), 2, S. 7691, hier S. 76.
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Abb. 5: Fotoserie „Pfeilermadonna“ von St. Kolumba (H. Claasen, Gesang im Feuerofen, Schwann, Düsseldorf 1947, S. 64 f.)
Bezug auf die Ruinenwahrnehmung feststellt, dass hier „die Zerstörung der geistigen Form …, jene Umkehr der typischen Ordnung, als Rückkehr … empfunden wird … Zwischen dem Nochnicht und dem Nichtmehr liegt ein Positives des Geistes … gleichsam als das Gegenstück des „fruchtbaren Moments“, für den jener Reichtum ein Vorblick ist, den die Ruine im Rückblick hat“31. In Classens sechs Fotografien umfassender Serie der als Madonna in den Trümmern bekannt gewordenen Skulptur vermeint Hoyer das „überaus hoheitsvolle Antlitz der Frau, die in das maßlose Leid der Tage blickt, in ein Leid, um dessen letzte Wirklichkeit einzig sie allein wissen kann“ zu erkennen. Aus heutiger medienhistorischer Perspektive zeigt sich an dieser Interpretation ein aufschlussreiches methodisches Moment. Denn keineswegs wird mit diesem als mutig bezeichneten Buch „einer Wirklichkeit ins unverhüllte Gesicht“32 gesehen. Vielmehr wird mittels der Kombination aus dem „Blick durch den Sucher, Vertrieb und Publikation der Aufnahmen für ein bestimmtes Publikum“33 die Betrachtung der randlos gedruckten, tableauartig wirkenden Fotografien zu einer Bearbeitungsweise des historischen
31 G. Simmel, Die Ruine (1915), in: ders., Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, Leipzig 1919, S. 125-133, hier S. 129. 32 F.A. Hoyer, Geleitwort, S. VII. 33 C. Brink, Ikonen der Vernichtung. Öffentlicher Gebrauch von Fotografien aus nationalsozialistischen Konzentrationslagern nach 1945, Berlin 1998, S. 19.
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Geschehens. Erst der mediale effet de réel 34 gestattet es Hoyer, seine wegweisenden Geleitworte mit einem entschiedenen Bekenntnis zur christlichen Erneuerung abzuschließen. „Dies Buch ist also ein Buch der Besinnung. Es … bekennt sich … zu der Stimme, die seit je auch über den dunkelsten Abgründen und im grellsten Schein der Vernichtungsbrände noch zu singen vermochte – den Gesang der Kreatur nämlich, die unterwegs ist zur Heimkehr in die großen Ordnungen der Schöpfung Gottes“35.
Die religiös geprägte Vergangenheit als Quelle einer zukünftigen, heilsgeschichtlich überwölbten Rettung: in diesem theologischen Umfeld wird die „Telescopage der Vergangenheit durch die Gegenwart“36 der MadonnenFotoserie zu einem – wenn auch medientechnischen – Blick zurück in die Zukunft des Glaubens. Insbesondere in diesem Verhältnis zur (Heils-) Geschichte kann mit Hubert Damisch die Fotografie als „révélateur“37 und als „ein Instrument der Offenbarung“ verstanden werden. In der „Heimkehr des modernen Menschen“ zur christlichen Religion erkennen die Stichwortgeber der katholischen Erneuerungsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg „die Möglichkeit und Kraft der inneren Erneuerung“38. Dieser Deutungsrahmen lässt die Fotoserie zu einer reclamatio, zu einem Gegenschrei und Neinsagen zu einer Entwicklung werden, die im Exkulpationsdiskurs der Nachkriegszeit unter dem Schlagwort der Säkularisierung firmiert. Im Kontext der zeitgenössischen deutschen Theologie avanciert diese Losung zum „Generalnenner der weltgeschichtlichen Katastrophe Europas“39 und damit zu einer Universallösung, die das „deutsche äußere und innere Verderben“40 als „ein Symptom für die gesamte Menschheitssituation“ zu 34 R. Barthes, L’effet de réel, in: Communications, (1968), 11, S. 84-89. Im Schlusssatz der „Hellen Kammer“ führt Roland Barthes grundsätzlich aus, dass man bei der Fotografie „die Wahl (habe) ihr Schauspiel dem zivilisierten Code der perfekten Trugbilder zu unterwerfen“ oder aber sich „in ihr dem Erwachen der unbeugsamen Realität zu stellen“; R. Barthes, Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M. 1989, S. 130 f. Dass es sich in dem Fotoband „Gesang im Feuerofen“ um Fotografien handelt, die nach allen Regeln der Kunst aufgenommen worden (Barthes würde von „Zähmung“ sprechen), zeigt sich an dieser Bildserie deutlich. 35 F.A. Hoyer, Geleitwort, S. XII. 36 W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Frankfurt a.M. 1991, S. 588. 37 H. Damisch, The Origin of Perspective, Cambridge u.a. 1995, S. 245 sowie ders., Fixe Dynamik. Dimensionen des Photographischen, Berlin 2004, S. 29. 38 W. Künneth, Der große Abfall. Eine geschichtstheologische Untersuchung der Begegnung zwischen Nationalsozialismus und Christentum, Hamburg 1947, S. 308. 39 Vgl. H. Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg i.Br. u.a. 2003, S. 109 ff. 40 W. Künneth, Der große Abfall, S. 19. Die folgenden Zitate ebd., S. 8 sowie S. 3.
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Wolfgang Kabatek
deuten gestattet. Deshalb müsse man „den ‚großen Abfall‘ der Menschheit von Gott als die Quelle der anhebenden Weltkatastrophe erkennen“. So zeigt sich der Theologe Walter Künneth denn auch überzeugt, dass die „christliche geschichtstheologische Schau“ das „Fundament des christlichen Glaubens“ als einzig tragfähige Basis erweisen wird, um von dort aus „gleichsam den Schutt wegzuräumen und mit einem neuen Ansatz unseres deutschen Lebens zu beginnen.“ Die Menschheit, so wird im „Film ohne Titel“ (D 1948) festgestellt, habe die „Ehrfurcht vor Gott“ verloren: „… so traurig es ist, alles was heute geschieht ist nur folgerichtig; äußerer Verfall der dem inneren zwangsläufig folgt.“ Wenn in Rudolf Jugerts Trümmerfilm mit diesen Worten die Zerstörungen der letzten Kriegswochen kommentiert werden, so zeigt dies, dass es sich bei der Säkularisierungsthese keineswegs um eine lediglich auf dem Feld katholischer Theologie kursierende Gedankenfigur ex cathedra handelt. Derartig großräumige Deutungsrahmen für die Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs bezogen ihre Attraktivität nicht zuletzt aus der inhärenten Entlastung.
Frauen auf der Flucht „Nacht fiel über Gotenhafen“ (1959), „Die Flucht“ (2007) und „Die Gustloff“ (2008) im Vergleich Von Alexandra Tacke und Geesa Tuch
Anlässlich der Ausstrahlung des Fernsehdramas „Die Gustloff“ im März 2008 schrieb der Politiker Uwe-Karsten Heye einen Artikel in der „Süddeutschen Zeitung“ mit der Überschrift „‚Die Gustloff‘ – Konjunktur des Untergangs“1 und traf damit unwissentlich den Kern eines erinnerungskulturellen Phänomens. Der ZDF-Zweiteiler „Die Gustloff“ (Joseph Vilsmaier, 2008) über den Untergang des gleichnamigen deutschen Flüchtlingsschiffs im Jahr 1945 sowie der ARD-Zweiteiler „Die Flucht“ (Kai Wessel, 2007), in dem eine junge Gräfin vor der Roten Armee aus Ostpreußen fliehen muss, reflektieren nicht nur ein wiederkehrendes Bedürfnis, die Leiden der deutschen Zivilbevölkerung im Zweiten Weltkrieg zu vergegenwärtigen, sondern produzieren durch ihre Darstellung des Kriegsendes als katastrophaler Bruch auch einen erinnerungspolitischen Mehrwert, der an die Gründerjahre der Bundesrepublik erinnert. Die „Konjunktur des Untergangs“ beschreibt im Grunde die Wiederkehr einer Erinnerung in der Logik ihrer Verwertbarkeit, wobei die wirtschaftliche Verwertbarkeit von Erinnerung angesichts der aufwändig produzierten und gut verkauften Fernsehdramen durchaus mitzudenken ist. Im westdeutschen Film der fünfziger Jahre wurde das Kriegsende oft als Untergang visualisiert2. So ist z.B. schon 1959 die „Gustloff“ vollbesetzt mit Frauen und Kindern auf deutschen Kinoleinwänden gesunken. Der Film „Nacht fiel über Gotenhafen“ (Frank Wisbar, 1959), der offensichtlich als Vorlage für die Fernsehfilme „Die Flucht“ und „Die Gustloff“ gedient hat, thematisierte sowohl die Flucht aus Ostpreußen als auch den Untergang des ehemaligen Kraft-durch-Freude-Dampfers „Wilhelm-Gustloff“. Selbst das in „Nacht fiel über Gotenhafen“ eingeschnittene Wochenschaumaterial ist in „Die Gustloff“ wieder verwendet worden. Der Regisseur Frank Wisbar, der 1 U.-K. Heye, Die Gustloff – Konjunktur des Untergangs, in: Süddeutsche Zeitung, 1./2. März 2008. 2 Vgl. z.B. „Der letzte Akt“ (G.W. Pabst, 1955), „U47-Kapitänleutnant Prien“ (Harald Reinl, 1958), „Haie und kleine Fische“ (Frank Wisbar, 1957).
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aus dem ostpreußischen Tilsit stammt und den Krieg im amerikanischen Exil verbracht hat, wollte in „Nacht fiel über Gotenhafen“ „alle Schrecknisse vorführen, die der Krieg für Frauen bereithält“3. Warum Frank Wisbar in „Nacht fiel über Gotenhafen“ gerade daran gelegen war und wieso „Die Flucht“ und „Die Gustloff“ erneut deutsche Kriegserfahrungen für ein heutiges Publikum zugänglich zu machen versuchen, soll im Folgenden untersucht werden. Ausgehend von der These, dass die aktuellen Fernsehdramen die Erzählungen der fünfziger Jahre wiederaufnehmen, gilt es zu fragen, welche Figuren, Motive und narrative Strategien im beginnenden 21. Jahrhundert wieder bemüht werden und welche Funktion ihnen im Hinblick auf eine kollektive Erinnerung des Kriegsendes zukommt? Welche Kontinuitäten lassen sich erkennen? Worin liegen die Abweichungen und Umschreibungen? Warum richtet sich der Fokus so häufig auf Frauen? Welche Hoffnungen sind an die Untergangsphantasien geknüpft? Was für Identifikationsstrukturen werden angeboten und welche Identitäten sollen dadurch etabliert werden? Zweifelsohne sind es Narrationen, „die kollektiven nationalen Gedächtnissen zugrunde liegen und Politiken der Identität bzw. Differenz konstituieren. Kulturen sind immer auch als Erzählgemeinschaften anzusehen, die sich gerade im Hinblick auf ihr nationales Reservoir unterscheiden.“4
I. Der Schleier des Tabus5 1997 hatte W. G. Sebald mit seinen Zürcher Poetikvorlesungen über „Luftkrieg und Literatur“6 eine Debatte über die mangelnde kulturelle Repräsentation ziviler Kriegserfahrung in Deutschland angestoßen. Ausgehend von Sebalds These vom Versagen der Literatur zentrierte sich die öffentliche Diskussion bald um ein vermeintliches Verbot über die deutschen Leiden im Zweiten Weltkrieg zu sprechen. Scheinbar tabuisierte Themen wie Massenvergewaltigungen oder Luftkrieg, aber auch Flucht und Vertreibung wurden wieder diskursfähig. Die Formen des kollektiven Gedenkens an die nationalsozialistische Vergangenheit veränderten und verschoben sich nach der Wende deutlich und schrieben nicht selten die Deutschen in einen (bedenklichen) Opferdiskurs ein. In ihrem Buch „Der lange Schatten der Vergangenheit“ 3
4
Der Spiegel, Nr. 3, 1960, S. 59. W. Müller-Funk, Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien 2002,
S. 14. 5 A. Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006, S. 185. 6 W.G. Sebald, Luftkrieg und Literatur, Frankfurt a.M. 2002.
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untersucht Aleida Assmann die jüngsten Opfernarrative detailliert, wobei sie auf die Problematiken hinweist, die solche Narrative mit sich führen können, wenn auch nicht müssen.7 Hier seien nur einige genannt: wie z.B. Aufrechnung (Verbrechen an den Deutschen versus Gräuel der Deutschen) oder Verdrängung von anderen Opfernarrativen. Nicht unwesentlich zur ‚Enttabuisierung‘ von Flucht und Vertreibung beigetragen, so Assmann, habe der Nobelpreisträger Günter Grass. Mit dem Erscheinen seiner Novelle „Im Krebsgang“ (2002) wäre Schreiben und Sprechen über Flucht und Vertreibung, ebenso wie über den Untergang der mit deutschen Flüchtlingen voll besetzten „Wilhelm Gustloff“ auf einmal wieder möglich gewesen. Dass die Novelle als ein Tabubruch gelesen werden sollte, ja als solcher von Grass geradezu konstruiert worden war, wird im Text mehrfach deutlich. So fordert beispielsweise die Mutter des Ich-Erzählers diesen wiederholt auf, alles aufzuschreiben, was sie selbst damals auf der Flucht und beim Untergang der „Gustloff“ erlebt hat: „‚Wie aisig die See jewesen is und wie die Kinderchen alle koppunter. Das musste aufschraiben. Biste ons schuldig als glicklich Ieberlebender. Wird ech dir aines Tages erzählen, klitzeklain, ond denn schreibste auf …‘ Aber ich wollte nicht. Mochte doch keiner was davon hören, hier im Westen nicht und im Osten schon gar nicht. Die ‚Gustloff‘ und ihre verfluchte Geschichte waren jahrzehntelang tabu, gesamtdeutsch sozusagen“8.
Die Tragweite dieses verordneten Schweigens wird in Grass’ Novelle mit Hilfe des rechtsradikalen Sohns des Erzählers ausgelotet, der sich so besessen am „Schicksal der ‚Gustloff‘“ abarbeitet, dass er am Ende sogar einen Mord begeht. Dabei ist der ‚Tabubruch‘ „Im Krebsgang“ offensichtlich Teil einer Textstrategie, die die öffentliche Aufmerksamkeit gleichermaßen erfolgreich auf das Thema Flucht und Vertreibung wie auf den vermeintlichen ‚Tabubrecher‘ Grass zu lenken verstanden hat. Dass die Strategie des literarischen Tabubruchs in diesem Zusammenhang ebenso wenig neu ist, wie die Auseinandersetzung mit dem Thema Flucht und Vertreibung machen nicht zuletzt Björn Schaals Studie zu „Jenseits von Oder und Lethe“9 sowie Axel Dornemanns Bibliographie zu „Flucht und Vertreibung“10 deutlich. Akribisch zeichnen beide die ‚Konjunkturschwankungen‘ der literarischen Beschäftigung mit dem Thema seit 1945 nach. Vgl. A. Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. G. Grass, Im Krebsgang. Eine Novelle, Göttingen 2002, S. 31. 9 Vgl. B. Schaal, Jenseits von Oder und Lethe. Flucht, Vertreibung und Heimatverlust in Erzähltexten nach 1945, Trier 2006, S. 185. 10 Vgl. A. Dornemann, Flucht und Vertreibung aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten in Prosaliteratur und Erlebnisbericht seit 1945. Eine annotierte Bibliographie, Stuttgart 2005, S. VII-XXXII. 7 8
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Dennoch hielt sich in der Folge von Grass’ Novelle lange die Vorstellung, die jüngsten literarischen und filmischen Auseinadersetzungen mit Flucht und Vertreibung seien eine neue Errungenschaft. So widmete der „Spiegel“ nicht nur dem Erscheinen der Grass’schen Novelle am 4. Februar 2002 seine Titelgeschichte: „Die deutsche Titanic. Die verdrängte Tragödie der ‚Wilhelm Gustloff‘“, sondern lancierte gleich einen Monate später eine vierteilige Serie über die Flucht11. Auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen reagierte auf das verstärkte Interesse. Neben der Dokumentar-Reihe mit dem Titel „Die große Flucht“ (Guido Knopp, 2002) gaben ARD und ZDF zwei TV-Ereignisse in Auftrag, die beide einen herausragenden Quotenerfolg erzielen sollten. Die ARD verfilmte „Die Flucht“ nach der gleichnamigen Romanvorlage von Tatjana Gräfin Dönhoff und Gabriele Sperl12. Das ZDF beauftragte Joseph Vilsmaier, den Regisseur von „Stalingrad“ (1991), mit die „Die Gustloff“. Guido Knopp wurde zudem mit einem Dokumentarfilm über den Untergang des Schiffes beauftragt. Im Gegensatz zum Literaten Grass geht Knopp in seiner Dokumentation kaum auf die Geschichte der „Gustloff“ ein, die das KdF-Traumschiff der Nazis gewesen war. Wo Grass sich auf Spurensuche begibt und berichtet, wie das Schiff, das eigentlich nach Adolf Hitler benannt werden sollte, zu seinem Namen kam, befragt Knopp hauptsächlich Überlebende nach ihren Erlebnissen, ohne diese als historisch-politische Subjekte näher einzuordnen. Eine politische Vorgeschichte scheinen die Interviewten kaum zu haben, der Dokumentarfilm setzt dafür – ebenso wie die zwei „TV-Ereignisse“ – auf Emotionen. Das Neuartige an den aktuellen Beiträgen zum Thema Flucht und Vertreibung war u.a., wie Ulrike Vedder richtig bemerkt hat, dass sie erstmals das Zeug dazu hatten, „intensive Debatten auszulösen“13. Auch die Fernsehdramen beanspruchten Teil öffentlicher Geschichtsreflexion zu sein und wurden im Kontext eines crossmedial organisierten Begleitprogramms ausgestrahlt. Fernseh- und Zeitungsdokumentationen, Talkshows und Zeitzeugengespräche suggerierten eine erinnerungspolitische Relevanz des Gezeigten und sollten den Authentizitätswert der aufwendig produzierten Hochglanzdramen steigern. Dabei war die an den internationalen Blockbuster-Markt angepasste 11 Vgl. Der Spiegel, Nr. 13-16, 2002. Die Überschrift der Spiegel-Serie lautete: „Die Flucht. Spiegel-Serie über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten“. Diese vierteilige Serie erschien in erweiterter Form als Spiegel-Spezial im Juni 2002 unter dem Titel „Die Flucht der Deutschen“. 12 T. Gräfin Dönhoff / G. Sperl, Die Flucht. Roman, Berlin 2007. 13 U. Vedder, Luftkrieg und Vertreibung. Zu ihrer Übertragung und Literarisierung in der Gegenwartsliteratur, in: C. Caduff / U. Vedder (Hrsg.), Chiffre 2000 – Neue Paradigmen der Gegenwartsliteratur, München 2005, S. 59-80, S. 59.
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Ästhetik von „Die Gustloff“ und „Die Flucht“ nicht unerheblich für die gefühlte Aufwertung der deutschen Kriegserinnerung verantwortlich. War die Aufarbeitung der Geschichte des Nationalsozialismus in den siebziger und achtziger Jahren vor allem ein intellektuelles Projekt14 gewesen, folgten die neusten deutschen Flucht-Melodramen dem ‚Privileg‘ des amerikanischen Mainstream-Kinos, historische Ereignisse ungebrochen zu emotionalisieren: Echte tear jerker sollten Emotionen produzieren und der filmischen Erfahrung universelle Bedeutsamkeit verleihen. Diese erinnerungskulturelle Entwicklung wurde im Wesentlichen auf die deutsche (Wieder-)Vereinigung zurückgeführt. Mit der politischen ‚Wende‘ sei auch eine ‚Wende des Erinnerns‘15 einhergegangen, die das Sprechen über Massenvergewaltigungen durch die Rote Armee, die Erfahrungen des Bombenkriegs sowie von Flucht und Vertreibung erst ermöglicht habe. Die Rückkehr deutscher Opfererinnerung nach 1989 ist somit nicht nur durch die Abwesenheit politischer Zwänge, sondern auch in der Notwendigkeit eine neue Identität zu konstruieren geschuldet. Aleida Assmann vermutet, dass sich die deutsche Leidens- bzw. Opfergeschichte als „willkommenes Narrativ erweist, das die ost- und westdeutsche Erfahrung umspannt und sich damit als eine wichtige emotionale Klammer gegenüber den vielen und fortgesetzten Trennungsgeschichten anbietet. Indem man zu diesem gemeinsamen Fundus an Erfahrungen zurückkehrt, betont man eine untergründige Verbundenheit der beiden deutschen Teilstaaten jenseits aller politischen Grenzen und Differenzen. Die Opfergeschichte bietet sich an als neuer nationaler Mythos, der Ost und West verbindet“16. Selbstverständlich ist das nicht die einzige Erklärung für das wiedererwachte Interesse an Flucht und Vertreibung17, auch Assmann diskutiert in ihrem Buch die Rolle, die der Generationswechsel dabei spielt, sowie die 14 Vgl. z.B. Rainer Werner Fassbinders „Deutschland Trilogie“ (Lili Marleen, 1980; Lola, 1981; Die Sehnsucht der Veronika Voss, 1982). 15 B. Beßlich / K. Grätz / O. Hildebrand (Hrsg.), Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin 2006. 16 A. Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit, S. 193. 17 Die Erinnerungswende lässt sich nach Ulrike Vedder erklären „zum einen aus der unerwarteten Aktualisierung längst vergangener Vertreibungs- und Bombenkriegserfahrungen durch die nahen Kriege im Europa der 90er Jahre, in Jugoslawien bzw. im Kosovo; zum zweiten aus der Dynamik von Traumatisierungen, in deren Perspektive mehrere Jahrzehnte des Verharrens im Trauma keine lange Zeit sind und deren Auflösung bzw. Zum-Sprechen-Bringen ohne Emotionen undenkbar ist; zum dritten aus den familiären Verstrickungen, die mit der neuen Perspektive auf die Eltern- und Großelterngeneration und deren Täter- und Opferbereitschaft einhergehen und die sich besonders in der Literatur erkennen lassen, die in den letzten Jahren so auffällig oft Geschichte als Familiengeschichten – und als deutsche Opfergeschichten – erzählt“, U. Vedder, Luftkrieg und Vertreibung, S. 70.
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Bedeutung der Zeitstruktur kollektiver Traumata18. Die These vom gesamtdeutschen Gründungsmythos benennt aber eine wesentliche Funktion der deutschen Film- und Fernsehdramen. Wider Erwarten bringt dabei die neue historische Situation Deutschlands nach 1989 im Fernsehen keinerlei neuartiger erinnerungskultureller Formen hervor, sondern es wird an alte Erzählformen der fünfziger Jahre angeknüpft. So beziehen sich beispielsweise beide Fernsehfilme über die Flucht der Deutschen aus Ostpreußen deutlich auf „Nacht fiel über Gotenhafen“ und nehmen narrative und visuelle Stereotype der Nachkriegszeit auf. Im Folgenden sollen zunächst einzelne Aspekte des westdeutschen fünfziger Jahre Films anhand von „Nacht fiel über Gotenhafen“ analysiert werden, um anschließend an neueren Fernsehproduktionen wie „Die Flucht“ und „Die Gustloff“ zu überprüfen, ob und wie diese im wiedervereinten Deutschland eingesetzt und umgewertet werden.
II. Nacht fiel über Gotenhafen „Nacht fiel über Gotenhafen“ erzählt die Geschichte der jungen Radiomoderatorin Maria (Sonja Ziemann), die zu Kriegsbeginn 1939 eine Kreuzfahrt auf der „Wilhelm-Gustloff“ unternimmt und am 30. Januar 1945 als Flüchtling auf dem Schiff untergeht. Obwohl Maria verheiratet ist, gibt sie nach einem Luftangriff dem Drängen eines Verehrers (Erik Schumann) nach und wird schwanger. Sie verlässt daraufhin ihren Mann und zieht nach Ostpreußen, wo sie ihr Kind zur Welt bringt. Doch noch vor der Taufe erreicht die Rote Armee das Dorf. Mit einem Treck kämpft sich Maria zusammen mit der resoluten Gräfin von Reuss (Brigitte Horney) bis nach Gotenhafen durch. An Bord der „Gustloff“ treffen die junge Mutter, ihr nun schwer verwundeter Ehemann Kurt und der verschmähte Kindsvater Schott wieder aufeinander. Das Schiff wird von russischen Torpedos getroffen und sinkt. Nur wenige können gerettet werden, unter ihnen Marias Kind und die Gräfin von Reuss. Die blickt vom sicheren Begleitboot zurück auf das untergehende Schiff: „Es reißt einem das Herz aus dem Leib, aber bedauern dürfen wir uns nicht. Wir Frauen sind ja selber Schuld. Immer wieder halten wir den Rücken hin, auf dem die Männer ihre Kriege austoben und machen nichts, um es zu verhindern. Das alles hier ist ja morgen längst vergessen. Bis dann wieder so ein Schiff untergeht, vielleicht eines so groß wie die ganze Welt“.
Wichtiger als der Appell, nicht zu vergessen, ist die Konstruktion einer spezifisch weiblichen Schuld. Die zentrale Figur dieser Schuld ist die verführte Frau. Das „Frauenschicksal“ begründet sich demnach weniger in den Erlebnissen auf der Flucht als in einer sexuellen Anfälligkeit. Eine solche
18
Vgl. u.a. A. Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit.
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Darstellung zielt, wie gezeigt werden soll, nicht auf die Auseinandersetzung mit „realer“ Kriegserfahrung, sondern der rückwirkenden Selbsterklärung eines nationalen Kollektivs. Denn im Gegensatz zum klassischen Kriegsmelodram, in dem der Krieg Katalysator individueller Gefühlsschlachten ist, wird das Einzelschicksal in „Nacht fiel über Gotenhafen“ stellvertretend für das Schicksal eines Volkes im Krieg inszeniert. In „Nacht fiel über Gotenhafen“ wird die Verführbarkeit der Frau vorgeführt und gleichzeitig um Verständnis für ihre Schwäche geworben. Maria hat Hans Schott mehrmals einen Korb gegeben, bevor er ihr ungebeten in die Wohnung einer Freundin folgt. Hier werden die beiden von einem Fliegeralarm überrascht. Der Dachstuhl des Hauses wird getroffen, Schott löscht die Flammen und Maria sitzt zitternd auf dem Bett. Als er das Feuer endlich besiegt hat, sinkt sie in seine Arme. In der Ausnahmesituation wird Schott zum Helden, Maria erliegt wehrlos seinem‚ (Liebes-)Feuer‘. Das Fremdgehen bleibt in „Nacht fiel über Gotenhafen“ ein einmaliger Ausrutscher, dessen Ursache in der weiblichen Überforderung durch den Kriegsalltag zu suchen ist. Marias Fehltritt spielt zwar auch auf die reale weibliche Untreue im Krieg an, dient aber vor allem einem umfassenden Entlastungsnarrativ. Die Verführung wird mit der jüngsten deutschen Geschichte parallelisiert. Dazu wird die Spielhandlung öfters durch Wochenschaumaterial unterbrochen und mit einem Off-Kommentar unterlegt. So folgen einem unerwünschten Sylvesterkuss Bilder von Panzern und Soldaten: „Das Jahr 1944 wurde das Jahr des Rückzuges an allen Fronten. Die verführten Massen begriffen, dass der Krieg nicht zu gewinnen war. In epischer Wucht und Größe begann der Marsch des deutschen Volkes in den nationalen Selbstmord“.
So wie Maria ist auch das deutsche Volk verführt worden. Hitler muss in diesem Zusammenhang nicht namentlich genannt werden, denn die Rede vom großen Verführer Adolf Hitler ist im Deutschland der Nachkriegszeit ein geläufiger Topos. West- und ostdeutsche Politiker bedienen sich einer sexualisierten Metaphorik, um das Verhältnis der Deutschen zu Hitler zu erklären. Das Volk wird als weiblicher Körper imaginiert, in den die Nationalsozialisten eingedrungen sind. Hitler und die Nationalsozialisten sind demnach nicht Teil des Volkes, sondern dessen Schänder19. Der erinnerungspolitische Gewinn der Parallelisierung von Frau und Volk liegt in „Nacht fiel über Gotenhafen“ darin, dass Maria im Rahmen der eigentlichen Verführungserzählung moralisch entlastet wird und diese auf der Handlungsebene hergestellte Kohärenz die Ebene der historischen Darstellung überformt. 19 Vgl. I. Eschebach, Geschlechtsspezifische Symbolisierungen im Diskurs über Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg, in: U. Heukenkamp (Hrsg.), Schuld und Sühne? Kriegserlebnis und Kriegsdeutung in deutschen Medien der Nachkriegszeit (1945-1961), Amsterdam 2001, S. 635-642.
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Wenn also keine der Figuren in „Nacht fiel über Gotenhafen“ sich das Recht herausnimmt, über Maria zu richten, soll auch das Urteil über das deutsche Volk an eine höhere Instanz delegiert werden. Der Untergang der „Wilhelm-Gustloff“ am Ende des Films ist folglich als Strafe Gottes zu verstehen: Eine Welt in der Unschuldige schuldig werden muss vernichtet werden. Politische Zusammenhänge und historische Prozesse lösen sich in diesem zur apokalyptischen Vision gesteigerten „Frauenschicksal“ auf. Die Auseinandersetzung mit der deutschen Kriegserfahrung wird in „Nacht fiel über Gotenhafen“ von dem Bedürfnis dominiert, Schuld zu definieren und zu bewältigen. Dazu dient vor allem weibliche Passivität. Charakteristisch für die Erinnerungskultur der fünfziger Jahre ist jedoch, dass die weibliche Ohnmacht immer wieder durch das souveräne Handeln der Gräfin von Reuss konterkariert wird. Die „verzweifelte Frau“ konkurriert mit dem Heldentum der Frau, „die ihren Mann steht“20. Der Zweite Weltkrieg muss im ersten Nachkriegsjahrzehnt Schauplatz deutscher Tugenden bleiben: Kameradschaft, Tapferkeit und Durchhaltevermögen sind in den westdeutschen Filmen dieser Jahre unantastbar und so muss auch ein Film über die Flucht eine „Offenbarung wahren Heldentums“21 sein. Die Schwierigkeit einen angemessenen Modus zu finden, um die Kriegserfahrungen zu repräsentieren, zeigt sich insbesondere in dem Stimmungswechsel zwischen Spiel- und Dokumentarszenen. Das in den Dokumentarsequenzen erzeugte Pathos, bricht sich wiederholt an dem heiteren Rhythmus der Spielszenen. Während der Off-Kommentar eine „Völkerwanderung, so trostlos wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte“ beschwört, schwatzen die Figuren von „Brandbömbchen“. Potentiell traumatische Erfahrungen verschwinden in „Nacht fiel über Gotenhafen“ in einem erhöhten Erzähltempo. So nehmen die Ankunft der Roten Armee – eine Szene, in der eine Vergewaltigung angedeutet wird und Marias beste Freundin von russischen Soldaten erschossen wird –, der Abschied von der Heimat, und die Wanderung nach Gotenhafen zusammen ebensoviel Zeit in Anspruch wie der Untergang der „Gustloff“. Die Auseinandersetzung mit individuellem Leid wird zugunsten einer kollektiven Opfererinnerung verdrängt, die politisch anschlussfähig ist, und das in zweifacher Hinsicht. Die Deutschen sind Opfer Hitlers und die der Sowjetunion. Auf der einen Seite steht der Verführer, auf der anderen der Vergewaltiger, dazwischen ein geschundenes Volk. 20 „Nacht fiel über Gotenhafen“ wurde im Kino mit dem Slogan „Den deutschen Frauen gewidmet in Gedenken an eine Zeit in der sie ihren Mann stehen mußten” beworben. Vgl. Zusatz-Material auf DVD. 21 Rezension in der Zeitschrift „Wochenende“, Nr. 2, 1960.
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Auch die Geschichte der jüdischen Opfer des Nationalsozialismus wird in „Nacht fiel über Gotenhafen“ in das deutsche Opfernarrativ eingebunden. Die Judenverfolgung wird über das Moment des Heimatverlusts mit der deutschen Flucht aus dem Osten parallelisiert. In einer Szene, die unter Offizieren spielt und nicht weiter in die Handlung des Films integriert ist, verhaftet die SS eine jüdische Frau (Marlene Riphahn) und ihren Vater. In einem kurzen Monolog spricht die Jüdin über die Etappen ihrer Flucht, über Heimatlosigkeit und darüber, dass sie stets auf das Glück und den guten Willen fremder Menschen angewiesen sei. Im Anschluss an diese Szene müssen die Protagonisten des Films Hab und Gut packen, um ihre Heimat für immer zu verlassen. Anlässlich einer notdürftigen Beerdigung unterwegs spricht der Dorfpfarrer: „Wir, die wir selbst kein Zuhause mehr haben, unser Land ist wüst, unsere Städte sind mit Feuer verbrannt, Fremde verzehren unsere Äcker vor unseren Augen, über uns steht tiefe Nacht und Finsternis ist über uns gekommen. In ruheloser Erde musst du ruhen, denn wir sind die Gejagten“.
Das jüdische ‚Schicksal‘ dient in „Nacht fiel über Gotenhafen“ als Platzhalter für das deutsche, das Leiden der jüdischen Nachtclubbesitzerin wird dabei allerdings in seiner optischen und zeitlichen Präsenz von der Flucht der Protagonist/innen aus Ostpreußen übertroffen.
III. Die Flucht Fast 50 Jahre nachdem „Nacht fiel über Gotenhafen“ in den westdeutschen Kinos anlief, haben zwei Fernsehproduktionen die Themen Flucht und Vertreibung sowie den Untergang der „Gustloff“ wieder aufgenommen und überraschend ähnlich umgesetzt. Beim näheren Hinsehen werden hinter den vermeintlichen Ähnlichkeiten aber auch neue Paradigmen der „Vergangenheitsbewältigung“ sichtbar, die sich insbesondere in die Darstellung der Geschlechter einschreiben. In dem 2007 ausgestrahlten Zweitteiler „Die Flucht“ kehrt die Gräfin Lena von Mahlenberg (Maria Furtwängler) 1944 in ihre ostpreußische Heimat zurück, um das väterliche Gut zu verwalten. Traditionsbewusst verlobt sie sich mit dem NS-affinen Sohn des Nachbarguts, Heinrich (Tonio Arango), verliebt sich später jedoch in den französischen Kriegsgefangenen François (Jean-Yves Bertelot)22. Lange glaubt Lena der Radiopropaganda und hält den Vormarsch der Roten Armee für ein Gerücht, François hingegen bereitet heimlich alles 22 In „Nacht fiel über Gotenhafen“ musste der französische Kriegsgefangene noch mit der Magd Vorlieb nehmen, im Jahr 2007 hat er eine Hochschulbildung und wird erst zum engsten Vertrauten und dann zum heimlichen Liebhaber der Hauptfigur.
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für eine Flucht vor. Auf dem Weg nach Westen müssen sich die beiden trennen und Lena führt ihren Treck alleine bis nach Bayern. Monate später steht François vor ihrer Tür, nun in einer französischen Uniform. Er arbeitet für den alliierten Kontrollrat, um „die Schuldigen von den Unschuldigen zu unterscheiden.“ Endlich können Lena und François sich öffentlich zueinander bekennen. Während ihres ersten Kusses in der neuen Freiheit setzt ein Sommerregen ein. Die Vergangenheit wird vom Regen weggespült und Lena ist endlich in einer besseren Welt angekommen. Endete die Vorlage aus den fünfziger Jahre in diffusen Andeutungen einer besseren Zukunft, vollendet sich die apokalyptische Vision des Untergangs in dem aktuellen Film mit der glücklichen Ankunft in einer neuen Heimat. Auch hier wird die Flucht zum kathartischen Moment, das die nationalsozialistische Vergangenheit von der Bundesrepublik abtrennt: „So ungewiss unsere Zukunft war, so sicher wusste ich, dass sie nichts mehr mit der Welt zu tun haben würde, aus der wir gekommen waren“, spricht Lena aus dem Off, als der Treck in Bayern ankommt und die Überlebenden ein neues Leben beginnen können, das stellvertretend für die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik steht. Selbstverständlich kommen die Ostpreußen in „Die Flucht“ in Westdeutschland an. Ihr Weg durch die spätere DDR ist komplett ausgeklammert. Auch 2007 ist das Schicksal der Frau paradigmatisch für die Geschichte des deutschen Volkes, nur wird diese nicht von den Nationalsozialisten verführt, sondern sie verliebt sich in einen (späteren) Alliierten. Verwirrte in „Nacht fiel über Gotenhafen“ der Krieg die Gefühle der Protagonistin, schafft er in „Die Flucht“ Klarheit. Lena wird konfrontiert mit der Grausamkeit und Willkür der Nazis und den Schrecken von Krieg und Flucht. Als sie mit ansehen muss, wie einer ihrer Kriegsgefangenen erschossen wird, löst sie sich von der ostpreußischen Tradition und der durch die Nazis korrumpierten väterlichen Ordnung und wendet sich stattdessen dem bürgerlichen Franzosen zu. Die deutsche Frau verlässt ihren deutschen Verlobten, weil der Franzose ihm moralisch überlegen ist. Nicht Schwäche und Verführbarkeit, sondern Einsicht und Anpassungsfähigkeit sind die weiblichen Eigenschaften, die in „Die Flucht“ bemüht werden, um die deutsche Geschichte in das aktuelle deutsche Selbstbild zu integrieren. Es geht 2007 offensichtlich nicht mehr darum, Schuld abzuwehren, sondern darum, die Überwindung der schuldhaften Vergangenheit vorzuführen. Die Vätergeneration bekennt sich in „Die Flucht“ nicht nur für schuldig, sie richtet auch über sich selbst. Marias Vater (Jürgen Hentsch) erschießt sich, als russische Soldaten sein Haus stürmen, Heinrichs Vater (Hanns Zischler) erhängt sich nach der Ankunft der Roten Armee, weil ihn „der Kreislauf der Schuld“ eingeholt hätte. Die junge Frau, zu jung um 1933 Hitler gewählt zu haben, beweist hingegen Willen zu reeducation und zur Westintegration.
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In „Die Flucht“ wird zudem nicht nur die Neugründung der deutschen Nation erzählt, sondern auch das europäische Einigungsprojekt allegorisch heraufbeschworen. Das Liebespaar Lena und François konstruieren ein ‚Wir‘, das gemeinsam am Krieg gelitten hat. Die Opfererfahrung ist eine geteilte und der Zweite Weltkrieg wird zum Kern eines europäischen Friedens stilisiert. Zusammengehalten wird die in „Die Flucht“ angedeutete europäische Gemeinschaft durch eine gemeinsame christliche Tradition. Die Kriegsgefangenen feiern genau wie ihre Gutsleute Erntedank und Weihnachten. Lena und François begegnen sich in der Kirche, wo sie beide für ihre gefallenen Brüder beten“. „Die Flucht“ imaginiert ein europäisches Bündnis, das von der Hauptachse Frankreich-Deutschland bestimmt und eindeutig über sein christliches Fundament definiert wird.
IV. Die Gustloff Die in „Die Gustloff“ erzählte Geschichte ist hingegen eine von deutschen Opfern und deutschen Helden. Hier geht es um kein europäisches Projekt, sondern um ‚die‘ deutsche Katastrophe. Die Handlung des Films beschränkt sich auf die Geschehnisse zwischen dem 28. und 31. Januar 1945 und beginnt somit bereits mit dem Ausnahmezustand: Es werden erfrorene Flüchtlingskinder, verzweifelte Mütter und erbarmungslose Feldjäger, die alte Männer und kleine Jungen für den Volkssturm verhaften, gezeigt. Der Protagonist des Films, Kapitän Hellmuth Kehding, ist neu in Gotenhafen, gesandt mit dem Auftrag, möglichst viele Menschen zu retten. Und wie wiederholt gezeigt wird, ist dies auch das innere Anliegen des jungen Mannes. Gespräche zwischen Kehding, seiner Verlobten und seinem Bruder, offenbaren, dass er schon immer gegen den Krieg gewesen ist. „Die Gustloff“ ist also ebenso wie „Die Flucht“ aus der Perspektive einer Figur erzählt, die das historische Bewusstsein der Produktionsgegenwart repräsentiert. So entwickeln sich die Figuren in „Die Gustloff“ auch nicht. Kehding und seine Verlobte werden eingeführt als unbeirrbare Gutmenschen. Der Film zeigt ihre guten Taten. Innere Konflikte, wie sie Lena oder Maria noch austragen mussten, haben sie nicht. Die weibliche Hauptfigur in „Die Gustloff“ spiegelt nicht die Entwicklung des deutschen Volkes im Zweiten Weltkrieg wider, sondern bildet den Kern einer unerschütterbaren Moral, an die nach dem Untergang nahtlos angeknüpft werden kann. Verkörperte Lena in „Die Flucht“ Entwicklung, steht Erika für Kontinuität. Folgerichtig sind Erika auch zwei Mütter an die Seite gestellt, für die sie sich stark macht und denen sie rührend hilft. Wurde in „Die Flucht“ noch die deutsche Geschichte um den Preis der deutschen Männlichkeit als Erfolgsgeschichte erzählt, wird am Ende der „Gustloff „der deutsche Kapitän zum Vater eines Kindes ernannt, das im Rettungsboot geboren wurde. Das Vertrauen in die deutschen Väter
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bleibt somit ungebrochen und die Überlebenden der Katastrophe, die zwei ‚Gutmenschen‘ Kehding und Erika, werden gleichsam als Ursprungsfamilie der zukünftigen Bundesrepublik inszeniert. Anders als in „Nacht fiel über Gotenhafen“ wird in diesem Film die Ursache des Untergangs thematisiert: Zwietracht auf der Kommandobrücke, Sabotage und Fahrlässigkeit könnten zur Katastrophe beigetragen haben, wie der Film nahe legt. Außerdem suggerieren verschiedene Handlungsstränge wie die „Gustloff“ überhaupt in das Sichtfeld eines russischen U-Boots geraten konnte. So wird der Untergang ein Stück weit aus der tragisch-religiösen Überhöhung herausgelöst und vermeintlich in einen historischen Faktenhorizont eingebettet – dies allerdings nur um in der Logik eines simplen Gut-gegen-Böse-Plots aufzugehen. Denn wie bereits in den fünfziger Jahren kämpfen in „Die Gustloff“ gute Deutsche gegen böse Nazis. Versuchten die Filme der fünfziger Jahre noch die Ehre der Wehrmacht zu retten, gehören die Militärs heute ausnahmslos zu den Bösen. Kehding hat – im Gegensatz zu seinem Bruder – in seinem Leben ausschließlich Handels- und Kreuzfahrtschiffe geführt, ist damit also ein Zivilist. An Bord der „Gustloff“ ist eine – in „Nacht fiel über Gotenhafen“ nicht erwähnte – U-Boot-Einheit stationiert, deren verschrobener Kommandant Petri (Karl Markovics) zum sofortigen Kriegseinsatz seiner Männer drängt und den die Flüchtlinge nicht interessieren. Außerdem ist Kehdings verbitterter Bruder (Heiner Lauterbach), der vor seiner Verwundung bei der Kriegsmarine war, an Bord. Nach einer Reihe von Streitigkeiten zwischen Kehding und der militärischen Besatzung des Schiffs fährt die „Gustloff“ schließlich auf Petris Geheiß in tiefen Gewässern, noch dazu beleuchtet. Kehding protestiert, das sei zu riskant, in Küstennähe sei man vor feindlichen U-Booten geschützt. Aber er kann sich nicht durchsetzen und wird der Kommandobrücke verwiesen. Kurz darauf wird die „Gustloff“ torpediert. Der entscheidende Unterschied zwischen „Nacht fiel über Gotenhafen“ und der Verfilmung von 2008 ist, dass das Fernsehdrama die Notwendigkeit des Untergangs in Frage stellt. Hätten die anderen Kapitäne auf Kehding gehört, wäre das Schiff vielleicht heil in Kiel angekommen. Insofern ist der Untergang nicht Strafe, sondern symbolische Aufwertung des aufrechten Deutschen, der hilflos zusehen muss, wie andere falsch handeln und deswegen Tausende ertrinken müssen. Weil sich die guten Deutschen (repräsentiert durch die Identifikationsfigur Kapitän Kehding) niemals auf den Nationalsozialismus eingelassen haben, braucht in diesem Film keine Schuld getilgt zu werden. Für Wisbars Erzählung war die Schuldfrage zentral, bei Vilsmaier spielt sie keine Rolle mehr, denn dieser Film ist für eine Generation produziert, die nicht die eigenen Erfahrung bewältigen muss, sondern die ihrer Großeltern nacherleben möchte. Ihr geht es um die Frage einer positiv definierten
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Herkunft, wobei sich subjektive und familiäre Perspektive mit kollektivem Erinnerungsanspruch zu vermengen scheinen. An die Stelle der wehrlosen Verführten von damals ist derzeit der verhinderte Retter getreten. Ohnmacht muss in „Die Gustloff“ nicht mehr weiblich codiert werden, weil sich die Parameter der Erinnerungskultur verschoben haben. Während sich die nationale Erinnerung im Deutschland der fünfziger Jahre im Wesentlichen um das heroische Opfer23 (sacrificium) zentrierte und passive Opfer (victima), wie oben beschrieben, selbst mittels geschlechtspezifischer Codierung nur widersprüchlich dargestellt werden konnten, gilt das erinnerungspolitische Interesse heute den passiven Opfern24. Heldentum wird vor diesem Hintergrund in beiden Fernsehdramen an moralischer Standfestigkeit und historischem Weitblick gemessen. Und Kehdings Mut wird ähnlich wie Lenas Entscheidung belohnt. So ist beispielsweise auch auf einer Texttafel am Ende des Films zu lesen, dass Kapitän Kehding nach dem Untergang der „Gustloff“ 50.000 Flüchtlinge sicher „nach dem Westen“ gebracht hat. Es sind diese „neuen“ Heldinnen und Helden, die im Mittelpunkt der Fernsehdramen über die Flucht stehen. Die visuelle Darstellung deutschen Leidens im Zweiten Weltkrieg ist zwar detaillierter und nimmt mehr Raum ein als in „Nacht fiel über Gotenhafen“, aber die Opferperspektive scheint für die Geschichtserzählung im „TV-Ereignis“-Format ebenso ungeeignet, wie die der Täter25. Im Hinblick auf die erinnerungskulturelle Funktion der Filme ist somit deutlich geworden, dass die Erzählung der Neugeburt der Bundesrepublik die Darstellung von „realer“ Kriegserfahrung dominiert. Die Katastrophe markiert heute wie in den fünfziger Jahren einen Bruch mit dem nationalsozialistischen Deutschland. Nur ist diese heute nicht als Strafe, sondern als Überwindung der deutschen Geschichte inszeniert. Die kathartische Reinigung bleibt zwar Voraussetzung der neuen deutschen Erfolgsgeschichte, ist aber nicht mehr unmittelbar mit der Schuldfrage verknüpft. Folgte noch in „Nacht fiel über Gotenhafen“ dem Untergang nicht mehr als das Versprechen einer Wiederauferstehung, schließen die jüngsten Fernsehdramen von 2007 und 2008 dagegen gleichermaßen optimistisch wie konventionell mit einem Happy End. Die Liebespaare haben überlebt und können nun ein gemeinsames Leben beginnen. Wird in „Die Flucht“ sogar 23 Vgl. z.B. „U47 – Kapitänleutnant Prien“ (Harald Reinl, 1958) oder „Des Teufels General“ (Helmut Käutner, 1955). 24 Vgl. A. Assmann, Der lange Schatten der Vergangenheit. 25 Vgl. Evelyn Fingers Aussage zu „Die Flucht“: „Da bleibt der Film ganz der Logik des Affektfernsehens verhaftet: Die Gräfin ist nur als Heldin, nicht als Opfer und schon gar nicht als Täterin vorstellbar“, E. Finger, Die Ohnmacht der Bilder, in: Die Zeit, 1. März 2007. Vgl. auch http://hermes.zeit.de/pdf/archiv/2007/10/TVDie-Flucht.pdf, 22.11.2008.
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eine europäische Zukunft angedeutet, präsentiert „Die Gustloff“ eine moralisch unerschütterbare Familie als Keimzelle des neuen deutschen Staates. Die Frage der Schuldbewältigung bleibt aus der Logik beider Filme ebenso ausgeschlossen, wie die Geschichte der Flüchtlinge nach ihrer Ankunft im Westen. Ähnlich wie in den Heimatfilmen26 der fünfziger Jahre wird eine schnelle und glückliche Integration in die „zweite Heimat“ suggeriert. Nicht das städtische Auffanglager, sondern „blühende Landschaften“ beenden die Flucht in den Westen. Die Fernsehdramen sind also nicht so sehr Erzählungen über den Verlust von Heimat, als die selbstbewusste Neuaneignung nationaler Gründungsmythen. Die deutsche Opfergeschichte bietet sich tatsächlich auch im beginnenden 21. Jahrhundert als nationaler Mythos an, nicht nur weil sie Ost und West verbindet, sondern auch weil sie – wie die Fernsehereignisse zumindest suggerieren – überwunden ist. 65 Jahre nach Kriegsende scheinen sich die Deutschen zu den Siegern der Geschichte (nicht des Zweiten Weltkriegs!) zählen zu wollen, wobei sich diese Lesart der Geschichte, wie vor allem „Die Flucht“ zeigt, insbesondere durch Frauenfiguren vermitteln lässt. Das Weibliche ist nicht mehr der schwache Punkt der Nation, sondern Symbol ihrer Neuorientierung.
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Vgl. z.B. „Grün ist die Heide“ (Hans Deppe, 1951).
Männer und Frauen Die BRD-Trilogie von Rainer Werner Fassbinder Von Simone Costagli
Zu den repräsentativen Werken über die Nachkriegszeit in Deutschland gehören ohne Zweifel die drei Filme von Rainer Werner Fassbinder „Die Ehe der Maria Braun“ (1979), „Lola“ (1981) und „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ (1982). Obwohl sie nicht als eine herkömmliche „Serie“ bezeichnet werden können – dazu fehlen sowohl eine kontinuierliche Erzählung als auch wiederkehrende Figuren – hat man seit ihrem Erscheinen aufgrund vieler Übereinstimmungen in diesen Filmen eine kohärente Einheit erkannt. Unter diesen Übereinstimmungen stellen das Vorkommen weiblicher Protagonistinnen und der stilistische Rekurs auf das Melodram keinen Sonderfall in Fassbinders Filmen dar, denn sie gehören zu den sofort erkennbaren Markenzeichen des Regisseurs. Eine viel wichtigere Gemeinsamkeit ist die genaue und überzeugende Rekonstruktion der Nachkriegszeit Deutschlands, die zur kollektiven Definition „BRD-Trilogie“ geführt hat1. Komplexe Zusammenhänge der damaligen deutschen Gesellschaft werden in diesen Filmen berücksichtigt. Zum Beispiel lässt sich die Zentralrolle der Frauen nicht nur mit der Vorliebe Fassbinders für weibliche Charaktere erklären. Diese entspricht zugleich einem zeittypischen Phänomen, weil Frauen innerhalb der nach Kriegsende brüchig gewordenen patriarchalischen Struktur von unerwarteten Freiheitsräumen profitierten. Die Handlung von „Die Ehe der Maria Braun“ zeigt genau, dass die Heimkehr der Männer dieser Ausnahmesituation ein Ende setzte. Mehrfach wurde von der Kritik sowie vom Regisseur selbst jedoch darauf hingewiesen, die Trilogie solle nicht allein als historische Rekonstruktion, sondern zugleich als Interpretation der jüngsten deutschen Geschichte vom Standpunkt der späten siebziger und frühen achtziger Jahre verstanden werden. Im Folgenden wird die aus diesen Prämissen entstehende ungleichzeitige Zeitdimension in der metafilmischen sowie in der figurentypologischen Rekonstruktionsebene untersucht.
1 Fassbinder hat selbst diese Interpretation gesteuert, indem er „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ und „Lola“ mit den Untertiteln BRD 2 und BRD 3 versehen hat, und damit diese Filme als Fortsetzung von „Die Ehe der Maria Braun“ definierte.
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Als „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ erschien, erklärte Fassbinder, durch seine dauerhafte Beschäftigung mit der Nachkriegszeit wolle er „so etwas wie eine Ergänzung in Geschichte geben“2. Er war der Überzeugung, „daß wir in Deutschland so wenig von deutscher Geschichte gelernt haben, daß wir einiges nachzuholen haben an erster Information“3. Die Gründungsjahre der Bundesrepublik werden als der rote Faden angesehen, der diese Filme miteinander verbindet und sie vom Rest der Produktion dieses Regisseurs abgrenzt. Die historische Darstellung überzeugte derart, dass sie mehr Interesse auf sich zog als die Liebesthematik, welche die erste Handlungsebene dieser Filme charakterisiert4. Typisch für die BRD-Trilogie ist die Gegenüberstellung von kollektiver Historie und privaten Schicksalen, welche stark von der Liebesthematik geprägt sind5. Die Bezüge zu der ersten Ebene sind unterschiedlicher Natur. Erstens geht es um mediale Einschübe in die alltäglich-private Welt der Figuren: Radio-Ansprachen Adenauers, Kanzlerporträts, oder Radioübertragungen der Fußball-WM6. Am auffälligsten setzte der Regisseur diese präzise Rekonstruktion des Alltags der Nachkriegszeit anhand einer sorgfältig inszenierten mise en scène um, bei der das Dekor sowie die Bekleidung der Figuren den Stil dieser Epoche imitierte7. Auch Verweise auf die alltägliche und populäre Kultur (z.B. Schlager) werden einbezogen. Das war wohlgemerkt in der Zeit, als diese Filme gedreht wurden, keine Selbstverständlichkeit wie heute, wo die langen „fünfziger Jahre“ „attraktiv … als Sujet der Unterhaltungsindustrie, als „Stil“, aber auch als alltagsweltlicher Vorraum unserer Gegenwart und als gesellschaftliches Orientierungsprogramm“ geworden sind8. Abgesehen von 2 Anom., Geschichtsergänzung. Gespräch mit Rainer Werner Fassbinder, in ARD Fernsehspiel, S. 60, zitiert nach A. Kaes, Deutschlandbilder. Die Wiederkehr der Geschichte als Film, München 1987, S. 82. 3 Ebd. 4 Es handelt sich um Varianten von Dreiecks-Konstellationen: Die von drei Männern umworbene „Lola“ im gleichnamigen Film, das doppelte Dreieck (MariaHermann-Bill und Maria-Hermann-Karl) in „Die Ehe der Maria Braun“, und die noch komplexere Variante, welche die Liebes- bzw. Hörigkeitsbeziehungen in „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ ausmacht. 5 Vgl. A. Kaes, Deutschlandbilder, S. 89; Th. Elsaesser, Rainer Werner Fassbinder, Berlin 2001, S. 165; S. Pott, Film als Geschichtsschreibung bei Rainer Werner Fassbinder: Fassbinders Darstellung der Bundesrepublik Deutschlands anhand ausgewählter Frauenfiguren in der BRD-Trilogie, Frankfurt a.M. u.a. 2002, S. 20. 6 T. Elsaesser, Rainer Werner Fassbinder, S. 171 f. 7 A. Kaes, Deutschlandbilder, S. 89: „In der ,Ehe der Maria Braun‘ garantiert die detailgetreue Rekonstruktion der Bilderwelt der Zeit die Wahrhaftigkeit der historischen Fiktion. Von dem getreu nachgebildeten Bahnhofswartesaal von 1945 zur Wohnzimmereinrichtung der fünfziger Jahre, von den Uniformen der Alliierten zu den Kleidermoden der Frauen“. 8 Vgl. N. Frei, Die langen fünfziger Jahre, in: Die Zeit, 8 (2006).
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diesen äußerlichen und oberflächlichen Elementen, die einen unmittelbaren „Erkennungseffekt“ garantieren9, lassen sich dann weitere Ebenen erkennen, auf denen sich die historische Dimension vergegenständlicht. In den Mittelpunkt ihrer Handlung stellen die drei Filme eine Reihe von Figuren, die als typische Repräsentanten dieser Zeit gelten können10. Darüber hinaus trägt die metafilmische Ebene vor allem beim filmerfahrenen Publikum wesentlich dazu bei, die Illusion der Zeitrekonstruktion zustande zu bringen. Fassbinder hat in einem Interview sein poetologisches Prinzip der Epochenrekonstruktion als eine Nachahmung des für die jeweilige Epoche charakteristischen kinematographischen Stils bezeichnet: „Ich versuche tatsächlich ganz bewusst, mich am Aussehen der Filme, die in der Zeit, die ich rekonstruiere, gedreht wurden, zu orientieren. Ich versuche mir vorzustellen, wie die Leute damals Film sahen, und gebe mir dann ganz bewusst Mühe, meine Geschichten mit ähnlichen Mitteln zu erzählen. Das ist eine Methode, um bestimmte zeitliche Epochen transparenter zu machen“11.
Das erklärte der Regisseur in Bezug auf „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ und – erstaunlicherweise – auch auf einen Film wie „Fontane Effi Briest“, der in einer Zeit spielt, in der es noch kein Kino gab. Nach diesem Prinzip sollten also typische Merkmale des Kinos der vierziger und fünfziger Jahre bewusst eingesetzt werden, um den Stil der Filme der BRD-Trilogie an die erzählte Zeit anzupassen. In „Die Ehe der Maria Braun“ greift Fassbinder zwar auf einige Bild- und Erzählmotive der Trümmerfilme sowie der Hollywoodfilme der gleichen Epoche zurück12. An den Trümmerszenen lässt sich am besten A. Kaes, Deutschlandbilder, S. 90. Vgl T. Elsaesser, Rainer Werner Fassbinder, S. 164 f.; A. Kaes, Deutschlandbilder, S. 83; J. Rheuban, The Marriage of Maria Braun. History Melodrama, Ideology, in: S. Frieden / R.W. Mc Cormick / V.R. Petersen / L.M. Vogelsang, Gender and German Cinema. Feminist Interventions, Bd. 2: German Film History / German History on Film, Providence RI 1993, S. 212 f. 11 P. Pawlikowski, Filme als Antwort auf bestimmte Entwicklungen. Rainer Werner Fassbinder über „Die Sehnsucht der Veronika Voss“, in: R. Fischer (Hrsg.), Fassbinder über Fassbinder. Die ungekürzten Interviews, Frankfurt a.M. 2004, S. 585. 12 Vgl. A. Kaes, Deutschlandbilder, S. 88: „Der Film zögert nicht, die klassischen Erzählmotive des Hollywoodschen Melodrams aus den späten vierziger und frühen fünfziger Jahre – Liebe und Mord, Treue, Verrat, sehnsüchtiges Warten, Leid und Tod – in einen Film ‚über‘ die vierziger und fünfziger Jahre zu reproduzieren“. Thomas Elsaesser ergänzt dieses hollywoodsche Modell mit Hinweisen auf die „Frauenfilme der Nazi-Zeit, insbesondere Detlef Siercks Zarah-Leander-Melodramen, die „Durchhaltefilme“ der frühen vierziger Jahre und die „Schnulzen“ der unmittelbaren Nachkriegszeit“; T. Elsaesser, Rainer Werner Fassbinder, S. 144; Elsaesser nennt ebenfalls „die Wochenschauen, ‚Trümmerfilme‘ wie ‚Zwischen gestern und morgen‘ [1947; R: Harald Braun], aus dem einige Bildkompositionen exakt zitiert werden, die Skandalfilme der Adenauerära wie ‚das Mädchen Rosemarie‘ [1958; R: Rolf Thiele] und sogar der film noir der Emigranten“, ebd. 9
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untersuchen, wie das Verhältnis mit den filmischen Vorbildern funktioniert. Mag deren Bildkomposition von „Zwischen Gestern und Morgen“ beeinflusst worden sein, wie Elsaesser bemerkt13, stehen die Trümmer jedoch in Fassbinders Film symbolisch für etwas ganz anderes: Es bedeutet selbstverständlich einen großen Unterschied, existierende Ruinen zu benutzen, statt sie im Studio zu rekonstruieren. Sie lassen in dieser Form nicht jenes Pathos zum Ausdruck kommen, das sie in den Trümmerfilmen besaßen, in denen die Ruinen als „Kulissen für deutsche Innerlichkeit“ direkt die vorhandene materielle und geistige Situation in Deutschland symbolisierten14. In „Die Ehe der Maria Braun“ sind die Trümmer sorgfältig inszenierte Kulissen in eigentlichem Sinne, die aus der Perspektive der späten siebziger Jahre im deutschen Publikum unheimliche Erinnerungen erwecken sollten. Solche filmischen Anspielungen stiften kaum einen neuen Sinn in der Narration, und funktionieren als Erzählte-Zeit-Indices meist genauso wie die anderen zeittypischen Elemente in der Ausstattung, welche „eine Assoziationskette in Gang [setzen]“15. Das gilt im Allgemeinen ebenfalls für die anderen Teile der Trilogie. Das Verfahren ist zum Beispiel in „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ ähnlich, in dem, wie der Autor des oben zitierten Interviews feststellt, „die Trickblenden, die Schatten im Vorspann und so weiter die Filmsprache der Fünfziger wieder[geben]“16. Dieser Film könnte mehr Gelegenheit für Spekulationen über intertextuelle Bezüge zum Nachkriegskino bieten, denn sein Ausgangspunkt ist die letzte Phase der Karriere der in der Weimarer Zeit und im Dritten Reich bekannten aber in den fünfziger Jahren in Vergessenheit geratenen Schauspielerin Sybille Schmitz. Die Film-im-Film Szene am Anfang zeigt jedoch nicht Sybille Schmitz in einem ihrer alten Filme, wie man sie sich hätte vorstellen können, hätte es sich um ein Hommage an sie gehandelt. Im Gegensatz zu einer möglichen intertextuellen Deutung lässt sich die Anfangsszene als Vorausdeutung des ganzen Geschehens interpretieren, denn man hat mit einer von Fassbinder gedrehten Szene zu tun, in der Veronika Voss (die nach dem Vorbild Sybille Schmitz gestaltete Hauptfigur des Films) eine Psychotherapeutin um Drogen bittet: Eine Situation, die im späteren Verlauf des Films mehrmals vorkommt. Obwohl der Film versucht, den Produktionskontext des deutschen Kinos Mitte der fünfziger Jahre zu thematisieren, lassen sich eher Ähnlichkeiten im Plot mit Billy Wilders Hollywoodfilmklassiker „Sunset Boulevard“ (1950) feststellen, „der gleichfalls von der Siehe Anm. 12. Th. Brandlmaier, Von Hitler zu Adenauer. Deutsche Trümmerfilme, in: H. Hoffmann / W. Schobert (Hrsg.), Zwischen Gestern und Morgen. Westdeutscher Nachkriegsfilm, Frankfurt a.M. 1989, S. 33. 15 T. Elsaesser, Rainer Werner Fassbinder, S. 165. 16 P. Pawlikowski, Filme als Antwort auf bestimmte Entwicklungen, S. 585. 13 14
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faszinierten Begegnung eines jüngeren Mannes mit einem ehemaligen Filmstar erzählt, die (noch) immer ihr Comeback erwartet und vorbereitet“17. Allerdings gab es im deutschen Kino dieser Zeit kaum Filme, welche das Kino selbst thematisierten bzw. Geschichten von persönlichem Verfall erzählten, und die von Fassbinder also als Inspiration genutzt werden konnten18. Anders verhält es sich mit „Lola“. Dieser Film hätte sich aufgrund seines ironischen Blicks auf die falsche Moral der deutschen Gesellschaft am Ende der fünfziger Jahre an Filme jener Jahre anlehnen können, als sich eine kleine satirische Welle im deutschen Kino mit „Wir Wunderkinder“ (1958) und „Das Mädchen Rosemarie“ (1958) verbreitete. Dieser zweite Film, der auf den Mordfall der Prostituierten Rosemarie Nitbritt zurückgeht, hat nicht nur Mario Adorf in der Besetzung, sondern auch das Thema Prostitution und Macht mit „Lola“ gemeinsam19. Direkte Verweise sowohl in der Handlung als auch auf der visuellen Ebene gehen jedoch vielmehr auf Joseph von Sternbergs „Der blaue Engel“ (1930) zurück. Das ist umso selbstverständlicher, wenn man bedenkt, dass die ursprüngliche Vorlage für „Lola“ Heinrich Manns „Professor Unrat“ war20. Abgesehen vom Namen der Protagonistin, ist auch auf die Sequenz hinzuweisen, in der Lola „Die Caprifischer“ in Anwesenheit von Bohms singt, die deutlich an die Sequenz von „Ich bin vom Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ in von Sternbergs Film erinnert. Als Fassbinder die Trilogie drehte, war der deutsche Nachkriegsfilm fast in Vergessenheit geraten. Bis zur zweiten Hälfte der achtziger Jahre gab es dar-
17 T. Elsaesser, Rainer Werner Fassbinder, S. 176. Man muss jedoch darauf hinweisen, dass Fassbinder sich durch die Hinwendung zu Themen wie die Morphiumsucht und die deutsche Geschichte von diesem Modell weit genug entfernt, als dass man von einem Remake sprechen kann. 18 Als weitere Inspirationsquellen werden der amerikanische film noir, vgl. ebd. oder der expressionistische Film genannt, von dem „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ einige Motive aufnimmt; vgl. Lardeu, zitiert nach ebd. Entfernt ist der Film durch das Motiv des Vampirismus, das in „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ verdeckt in der Drogenabhängigkeit der Protagonistin sowie in der Beziehung zur Psychotherapeutin Dr. Katz auftaucht, mit Carl Th. Dreyers „Vampyr“ (1932) verwandt, in dem Sybille Schmitz spielte. 19 Vgl. dazu ebd. S. 117-120. 20 Nach Aussage Fassbinders geht die Idee von „Lola“ auf einen Vorschlag Dirk Bogardes zurück, der nach Despair dem Regisseur sagte, er wolle noch einen Film mit ihm machen, „und zwar Heinrich Manns ‚Professor Unrat‘ … Mich interessierten halt die fünfziger Jahre. Insbesondere, weil ich mich entschlossen hatte, eine Gesamtgeschichte der Bundesrepublik Deutschland aus meiner Sicht zu machen. So haben wir uns überlegt, wie die Geschichte in die fünfziger Jahre passen würde“, Rainer Werner Fassbinder über seinen Film ‚Lola‘, in Tobis-Pressemitteilung zitiert nach U. Bessen, Trümmer und Träume, Bochum, 1989, S. 386.
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über kaum filmgeschichtliche Untersuchungen21. Einer sowie in filmischer als auch politischer Hinsicht militanten Kritik kamen ihre Filme suspekt vor: Als Ausdruck einer Tendenz, schlechte Streifen für den unmittelbaren Konsum zu drehen, die dem Publikum den Weg zur Flucht aus der Misere und aus der Verantwortung in den apolitischen Glauben zeigen sollten22. In der Regel wird das deutsche Kino zwischen Kriegsende und Oberhausener Manifest als „sekundär“ wahrgenommen23. Man kennt es „eher aus Be- und Verurteilungen als aus eigner Anschauung“; seine Filme sind „in den Köpfen der Zuschauer und Kritiker kaum präsent“24. Das heißt, dass sie keine mediale Relevanz besitzen, also kein direktes Bild der deutschen Gesellschaft nach dem Krieg vermitteln können. Zwar nimmt Fassbinder Elemente auf, etwa einige visuellen Suggestionen in „Die Ehe der Maria Braun“ oder die Darstellung des kinematographischen Milieus in „Die Sehnsucht der Veronika Voss“. Wie er sich thematisch und stilistisch dem Fünfziger-Jahre-Film ansatzweise annähert, kann außerdem an die „Kehrtwende“ erinnern, die sich seit Ende der achtziger Jahre festzustellen ist, „wonach unisono kritisierte Phänomene des Fünfziger-Jahre-Films … einen fast nostalgischen Anstrich bekommen“25. Die Widerspiegelung dieser Epoche in der Filmsprache konnte jedoch nicht ausschließlich auf diese Elemente reduziert werden, sondern musste mit Verweisen auf unterschiedliche Epochen nicht nur des deutschen Films – zu nennen ist selbstverständlich der Einfluss von Douglas Sirk – erweitert werden26. 21 Vgl. W. Uka, Modernisierung im Wiederaufbau oder Restauration? Der bundesdeutsche Film der fünfziger Jahre, in: W. Faulstich (Hrsg.), Die Kultur der 50er Jahre, München 2002, S. 71. 22 Beispielhaft für die Haltung der Kritiker in den siebziger Jahren über den deutschen Nachkriegsfilm können folgende negative Urteile von Ulrich Gregor und Enno Patalas stehen: „Der Ausgang des Krieges befreite den deutschen Film von der Kunstdiktatur ‚Dritten Reiches‘, nicht aber vom Konformismus und von der Sterilität seiner Autoren und Regisseure“; U. Gregor / E. Patalas, Geschichte des Films, München 1973, S. 281, und weiter „Der blinde Optimismus der ersten Konjunkturjahre verbannte jede kritische Äußerung von der westdeutschen Leinwand. Der passiv-sentimentale Charakter der Filme dieser Zeit enthüllte sich in ihrer Gestaltung wie in ihrer Handlungsführung“; ebd., S. 378. 23 F. Göttler, Westdeutscher Nachkriegsfilm. „Land der Väter“, in: W. Jacobsen / A. Kaes / H.H. Prinzler (Hrsg.), Geschichte des deutschen Films, 2. aktualisierte und erweiterte Aufl., Stuttgart / Weimar, 2004, S. 167 f. Das 1962 von 26 jungen Filmemachern während der „Westdeutschen Kurzfilmtage“ unterzeichnete Oberhausener Manifest wird mit seinem Aufruf „Papas Kino ist tot“ als Abschiedserklärung von den produktiven und stilistischen Konventionen des westdeutschen Nachkriegsfilms und als Beginn des jungen deutschen Films angesehen. 24 Ebd., S. 168. 25 W. Uka, Modernisierung im Wiederaufbau oder Restauration?, S. 73. 26 Die Film-im-Film-Szene an Anfang von „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ demonstriert, wie wenig konsequent sich Fassbinder am Prinzip der Epochenwider-
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Bei den Figuren der BRD-Trilogie lässt sich auch von keinem konsequenten Zeitbezug sprechen. Als Hauptfiguren werden Frauen gezeigt, die zunächst als zeittypisch und als realistisch wahrgenommen werden können27. Jedoch entsprach diese Zentralrolle der Frau dem „feministischen Zeitgeist“ am Ende der siebziger Jahre28. Es muss stellvertretend auf Maria Braun hingewiesen werden, die in gewisser Weise ein Prototyp für die anderen Hauptfiguren ist. Für „feministisch orientierte Interpretationen“ würde das Schicksal Maria Brauns eine Parallele zu dem „Schicksal vieler Frauen“ darstellen, „für die der Krieg und die unmittelbare Nachkriegszeit eine Form der Freiheit [erbracht] hatte, ehe die Männer aus dem Krieg zurückkehrten, ihre patriarchalische Positionen in der Öffentlichkeit einklagten und sofort begannen, den Frauen ihre Freiheiten wieder zu nehmen“29.
Man kann allerdings fragen, ob Maria Braun als Repräsentantin der Trümmerfrauen anzusehen ist, denn sie erlangt ihre Handlungsfreiheit eher durch Anziehungskraft als durch Arbeit. Auf jeden Fall thematisiert die BRD-Trilogie den Austausch der Geschlechterrollen in der Nachkriegsgesellschaft, indem Frauen gezeigt werden, die aktiv als Protagonistinnen der Geschichte handeln. Die drei weiblichen Hauptfiguren sind nicht nur in dem Sinne Protagonistinnen, dass die Erzählung auf sie konzentriert ist, sondern auch, weil diese sich als metaphorische Projektionen der damaligen deutschen Gesellschaft verstehen. So regte Maria Brauns Laufbahn von einer vermutlichen Kriegswitwe zur erfolgreichen Geschäftsfrau vor allem im Ausland allegorisierende Deutungen an, die auf eine Übereinstimmung mit dem Aufstieg der BRD von der Kriegs-
spiegelung durch die Filmsprache gehalten hat. In ihr verbindet der Regisseur verschiedene filmische Epochenstile. Er verwendet die für den Stummfilm typische Ein- und Ausblendungen, gleichzeitig aber auch Ton und Schwenks, die auf spätere Entwicklungen verweisen; S. Pott, Film als Geschichtsschreibung, S. 170. Darüber hinaus soll man die Szene als Auszug aus dem Film „Schleichendes Gift“ verstehen, dessen Dreharbeiten mit Veronika Voss in der folgenden Sequenz gezeigt werden. Es handelt sich also um einen filmischen Anachronismus, denn sie respektiert nicht den für die erzählte Zeit (das Jahr 1955) typischen Stil. 27 Eine sehr verbreitete Lesart fasst zum Beispiel die Frauenfiguren als zeittypisch auf, indem sie als „ganz unbedeutende Menschen“ definiert, durch deren Schicksale Fassbinder „einen deutschen historischen Zustand [vermittelt]“. Deshalb sind die Protagonistinnen „Schüsselikonen der jeweiligen gesellschaftliche Situation“; S. Pott, Film als Geschichtsschreibung bei Rainer Fassbinder, S. 20 f. 28 T. Elsaesser, Rainer Werner Fassbinder, S. 161. 29 Ebd., S. 162; vgl. auch J. Rheuban, The Marriage of Maria Braun, S. 225: „Maria has been playing a role in someone else’s scenario – one composed by men. The obvious parallel between Maria and German women of the wartime extends this notion to the film’s historical context. Fassbinder’s comparison suggests that these women, too, were put back in their places in home or returned or unskilled or menial tasks on the soldiers’ return“.
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misere zum Wirtschaftswunder hinausliefen30. Ebenso allegorisch kann man in der Morphiumsucht des ehemaligen Stars des Nazifilms Veronika Voss eine Allegorie des schizophrenen Verhältnisses der Deutschen zu ihrer Vergangenheit sehen. Lola trifft als Prostituierte im Bordell auf Politiker, Funktionäre, skrupellose Bauspekulanten und hoffnungslose Idealisten. Am Ende gelingt ihr der Coup, eine respektable Vermögensbesitzerin zu werden. Auch in ihrem Fall kann man von einer Darstellung sozialer Verhältnisse des Wirtschaftswunders sprechen, die von moralischer Heuchelei, Opportunismus und Korruption bestimmt waren. Vergleicht man Fassbinders Gegengeschichte der frühen Jahre der Bundesrepublik nochmals mit dem Nachkriegsfilm, zeigt sich, wie diese zentrale Rolle der Frauen in der BRD-Trilogie eine Revision des Narrativen im damaligen deutschen Kinos darstellt. Die Filme der Adenauerzeit konnten von diesem Austausch nur zögerlich und ansatzweise zeugen. Zwar sind weibliche Figuren in den Trümmerfilmen – meistens von Hildegard Knef gespielt – „vielschichtig und vielseitig, so wie es sie in der Wirklichkeit gibt: praktische, tüchtige, mutige Frauen“31. Im Mittelpunkt steht jedoch immer der vom Krieg heimgekehrte Mann, neben dem eine verliebte und hingebungsvolle Frau steht, wie es etwa in Wolfgang Staudtes „Die Mörder sind unter uns“ (1947), dem bekanntesten unter den Trümmerfilmen, der Fall ist. Wie man aus den Reaktionen auf Willi Forsts „Die Sünderin“ (1951) schließen kann, führte einerseits die Darstellung einer selbstbewussten und selbstständigen Frau, andererseits die Thematisierung der Prostitution als Überlebensmittel sowie des Freitods (alles Elemente, die Maria Braun ebenfalls aufweist) zu Skandalen und sogar zu Zensurdrohungen32. Eine Situation vom Rollenaustausch gibt es in Helmut Käutners Episodenfilm „In jenen Tagen“ (1947): In der vorletzten Episode arbeitet eine Frau in den letzten Kriegsmonaten als Mechaniker. Aber auch ambivalente Beispiele, wie das Mädchen Kat in „Zwischen gestern und morgen“, sind zu finden. Einerseits wird diese Figur idealisiert und auf ein Stereotyp Vgl. A. Kaes, Deutschlandbilder, S. 99. U. Bessen, Trümmer und Träume, S. 205. 32 In offensichtlicher Anlehnung an Billy Wilders „Sunset Boulevard“ (1950), erzählt eine weibliche Stimme rückblickend ihr Leben, insbesondere wie sie zum Entschluss gekommen ist, ihren erblindeten Liebhaber und sich selbst zu vergiften. Der Film löste einen öffentlichen Skandal aus, der dadurch motiviert wurde, dass hier die erste Nacktszene im deutschen Film zu sehen ist. Nach neueren feministisch orientierten Analysen bestand die für die Kirche und die konservativen Gruppen unerträgliche Provokation dieses in seiner Handlung oft unglaubhaften Melodrams jedoch gerade darin, dass hier die von den Nachkriegsfrauen errungene Unabhängigkeit gezeigt wird, von ihrer Sexualität in einer „demaskulinisierten“ Gesellschaft Gebrauch zu machen; vgl. H. Fehrenbach, ,Die Sünderin‘ or Who Killed the German Male: Early Postwar Cinema and the Betrayal of Fatherland, in: S. Frieden / R.W. Mc Cormick / V.R. Petersen / L.M. Vogelsang (Hrsg.), Gender and German Cinema, S. 136 f. 30 31
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reduziert – etwa wenn sie wie eine lächelnde Sirene in Männerhose im Schutt des zerbombten Grand Hotels nach verlassenen Objekten wühlt, die sie dann auf dem Schwarzmarkt verkauft – anderseits wird diese Figur realistisch dargestellt, wenn sie sich um den kleinen Bruder kümmert. Die vielleicht interessanteste Ausnahme stellt „Liebe 47“ von Wolfgang Liebeneier (1949) dar. In diesem Film, der auf Wolfgang Borcherts Drama „Draußen vor der Tür“ basiert, erzählen wechselseitig ein Mann und eine Frau über ihre Erfahrungen während und nach dem Krieg. Die Vorlage wird also dadurch modifiziert, dass das „Mädchen“ als eigenständige und gleichberechtigte Figur neben dem Heimkehrer Beckmann über ihr Schicksal sprechen darf. Betrachtet man die glaubwürdige und überzeugende Darstellung des Rollenaustauschs in der BRD, kann man wohl daraus schließen, dass diese erst dann möglich geworden ist, als das deutsche Kino sich mit der Frauenfilmbewegung von Geschlechterstereotypen emanzipiert hatte und ein eigenständigerer Autor wie Fassbinder auftauchte. In der Figur von Maria Braun wird einerseits direkt auf das Phänomen des Aufstiegs der Frauen in der Nachkriegsgesellschaft hingewiesen, gleichzeitig aber auch die Frauenemanzipation der siebziger Jahre reflektiert. Auch die Charakterisierung der männlichen Figuren entwickelt sich meist entgegen der Erwartung, d.h. an Klischees der fünfziger Jahre erinnernd und sich zugleich von ihnen aus der Perspektive der siebziger Jahre distanzierend. Die Funktion Hermanns ist zum Beispiel keineswegs als so realistisch aufzufassen, dass durch ihn das Leid der Heimkehr thematisiert werden sollte, wie das bei den Heimkehrern im Nachkriegsfilm der Fall ist33. Hermann ist in der Handlung ja oft abwesend. Zuerst gilt er als verschollen, dann als tot. Nach seiner ersten Heimkehr wird er verhaftet und flieht, nachdem er freigelassen wird, nach Kanada. Mit der Gegenwart hat Hermann deshalb eigentlich sehr wenig zu tun, abgesehen davon, dass er die Schuld für die Ermordung Bills auf sich nimmt. Was seiner Figur Bedeutung verleiht, ist einzig, dass er Maria Braun geheiratet hat. Das ist jedoch aus dem Blickwinkel der Nachkriegszeit ein schon relativ in der Vergangenheit liegendes Ereignis. Darüber hinaus weiß man überhaupt nichts über Hermann, was er vor dem Krieg getan hat, wie lange er und Maria sich gekannt haben usw. Zweifellos ist Hermann die geheimnisvollste Figur des Films. Im Gegensatz zu Marias lebendigem und abwechslungsreichem Ausdruck zeigen seine Nahaufnahmen zumeist ein starres und ernsthaftes Gesicht. Seine symbolische Charakterisierung ist in der Sequenz seiner ersten Rückkehr aus Russland am deutlichsten zu sehen: Hermann bleibt lange unbeweglich und still auf der Schwelle zum Schlafzimmer wie ein Gespenst stehen und sieht zu, wie Maria Bill die Kleider auszieht.
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Vgl. dazu den Aufsatz von Matteo Galli in diesem Band.
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Mit Hermanns letzter Rückkehr am Tag des Endspiels in Bern schließt der Film. Die Zeilen des Schlagers „Die Caprifischer“, zu dem die Familie der Protagonistin tanzt, sind als ironischer Kommentar zum gesamten Geschehen zu verstehen. Der Refrain „Bella, bella, bella Marie, bleib mir treu, ich komm’ zurück“ kann als Motto für das Verhältnis zwischen Ehemann und Ehefrau interpretiert werden, denn es enthält Bezüge auf zwei wichtige Motive des Films: Die Treue und die Rückkehr. Als Rückkehrer aus dem Tod, als „Revenant“, deutet Hermann symbolisch auf die Rückkehr der Vergangenheit als Gespenst hin. Und sicherlich lässt sich nicht als Zufall interpretieren, dass die endgültige Rückkehr Hermanns am Tag stattfindet, an dem Deutschland Weltmeister wird. In „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ wird dasselbe Motiv der unbewältigten Vergangenheit mit der ebenfalls für die siebziger Jahre typischen Debatte über die Antipsychiatrie verwoben. Die biographische Basis der Schauspielerin Sybille Schmitz wird durch eine Reihe fiktionaler Figuren und Situationen erweitert, die ein kompliziertes, nach psychologischen Kategorien wie Hörigkeit, Trauma und Verdrängung zu untersuchendes Verhältnis mit der Vergangenheit reflektieren. Die filmische mise-en-abyme wird also um die Erhellung des Unterbewussten der bundesrepublikanischen Nation benutzt. Der Sportreporter Krohn wird mit Merkmalen ausgestattet, die ihn als eine typische soziale Figur der fünfziger Jahre erscheinen lassen. Wenn er auch etwas älter wirkt, kann Krohn in seiner Grundhaltung zum Leben als Vertreter der so genannten „skeptischen Generation“ angesehen werden. Er präsentiert sich von Anfang an „ohne Pathos, Programme und Parolen“34. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem er Veronika Voss kennen lernt, konzentriert sich sein Leben auf den Beruf und auf den typischen Zeitvertreib jener Jahre, den Fußball35. In einem Dialog mit Veronika im Restaurant sagt Krohn, dass er für sich keine Siege und keine Niederlagen mehr erwartet. Dieser skeptischen, gegenwartsorientierten Haltung widerspricht die Anteilnahme, mit der Krohn sich der Geschichte von Veronika Voss annähert, und die symbolisch als Faszination für eine geheimnisvolle und dunkle Vergangenheit zu interpretieren ist36. Genauso gespenstisch wie Hermann Braun erscheint die Schauspielerin dem Chronisten als eine Figur der Vergangenheit, die sich nicht an die Gegenwart anpassen kann. Durch seine mit Tüchern bedeckten Sessel, durch seine weißen Statuen und seine verlassenen Räume wirkt das Haus der Schauspielerin wie 34 H. Schelsky, Die skeptische Generation. Eine Soziologie der deutschen Jugend, 2. Aufl., Düsseldorf / Köln 1958, S. 488. 35 Vgl. ebd., S. 490: „Die Dienste, die diese Generation der Gesamtgesellschaft und Öffentlichkeit zu leisten bereit ist, liegen in den Tätigkeitsbereichen, die sich noch als privates und persönliches Anliegen verstehen und vollziehen lassen: in Beruf und Konsum“. 36 T. Elsaesser, Rainer Werner Fassbinder, S. 178.
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ein Spukhaus – auch das eine Erinnerung an das Haus Norma Desmonds in „Sunset Boulevard“. Dieser Umgang mit einer Vergangenheit, die sich nicht bewältigen lässt, und die in der Gegenwart wieder traumatisch ans Licht tritt, verbindet sich im Film mit dem Motiv der sozialen Kontrolle. Um das kritische Unruhepotential zu kontrollieren, das durch dieses Trauma ausgelöst werden kann, gibt die Gesellschaft den Psychotherapeuten freie Hand, auch mit Drogen freizügig umzugehen, wie Dr. Edel im Dialog mit Krohn explizit zugibt. „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ zeigt eine Gesellschaft, die die Trümmer gerade beiseite geschafft hat, in der Fritz und Ottmar Walter Helden sind, und wo die Lichter der Filmstudios die Gesichter der Stars erhellen, unter denen Veronika Voss wieder ihren Platz sucht. Die dunkle Hälfte dieser scheinbar wieder heil gewordenen Welt findet sich in der Praxis der Nervenärztin Dr. Katz, die sich darauf spezialisiert hat, mit Morphium die Angst von Patienten zu lindern, und sie dann hörig zu machen. Alle diese Patienten leiden unter Pathologien, die auf die nationalsozialistische Vergangenheit zurückgehen. Das gleiche Schicksal erfahren sowohl die ehemalige Schauspielerin des Nazifilms Veronika Voss als auch das jüdische Paar, das nach Treblinka deportiert wurde, und das nun ebenfalls von Dr. Katz behandelt wird. Im dritten Teil der Trilogie ist die Vergangenheit praktisch kein Thema mehr. Die Darstellung ist ausschließlich auf die Gegenwart der fünfziger Jahre fokussiert. Einzig beim Baudezernenten von Bohm, der aus Ostpreußen vertrieben wurde, lassen sich Bezüge zu den Kriegsereignissen herstellen. Jedoch ist seine Herkunft hier kein Anlass zur Analyse einer von traumatischen Erfahrungen determinierten Existenz, wie es bei Hermann der Fall war. Sie weist vielmehr auf die Fremdheit dieser Figur in der provinziellen Welt der kleinen Stadt Coburg hin. Von Bohm wird als ehrlich und seriös, praktisch und arbeitsbesessen charakterisiert. Als Repräsentant einer anderen Zeit und eines anderen Orts scheint ihm das heuchlerische Verhalten anderer Stadtbewohner fremd zu sein. Seine Eingliederung in die soziale Struktur des Wirtschaftswunders bildet einen der Haupterzählstränge im Film. Als er erfährt, dass seine Geliebte „Lola“ in einem Bordell arbeitet und sie außerdem mit dem Bauspekulanten Schuckert liiert ist, erlebt von Bohm eine Wandlung, die ihn fast als einen Rebellen aus verlorener Ehre erscheinen lässt37. Er schließt sich einer Gruppe pazifistischer Demonstranten an, und nimmt in letztem Moment die Genehmigung für den Bauplan „Lindenhof“ zurück. von Bohm, der laut Schuckert zugleich beruflich modern und privat 37 Sabine Pott weist in dieser Hinsicht korrekterweise auf „deutliche Parallele bei Heinrich Manns Charakter Professor Unrat“ hin, der „durch die Bekanntschaft mit der Nachtclubsängerin Rosa Fröhlich aus seinen gesellschaftlichen Rahmen geworfen [wird]“; S. Pott, Film als Geschichtsschreibung, S. 110.
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altmodisch sei, verkörpert die widersprüchlichen, „janusköpfigen“ Tendenzen zwischen Restauration und Modernisierung dieser Jahre. Obwohl er als ein etwas humorloser, zurückhaltender, moralischer Mensch charakterisiert wird, handelt von Bohm modern, wenn er versteht, dass die Marktwirtschaft mit der Korruption gekoppelt sein kann. Wie der scheinbar anständige von Bohm zugibt, sei Spekulation nach den Regeln der Marktwirtschaft unentbehrlich. Wenn man eine Revolution aus Prinzip ablehne, sagt der Dezernent, dann müsse man die Krähen und die Raubvögel wie Schuckert doch akzeptieren. Schuckert bekommt die Genehmigung, als Lola sich entscheidet, von Bohm zu heiraten. Der fast operettenartige und scheinbar glückliche Ausgang zeigt, wie die Ordnung der sozialen Marktwirtschaft mit der Vereinigung vom Kapital und Staat im Bordell wieder hergestellt wird. „Lola“ spielt in einer Epoche, in der nicht nur die Trümmer fortgeschafft wurden. Auch die Traumata, die in „Die Sehnsucht der Veronika Voss“ wieder auftauchten, scheinen endgültig vergessen. Vielleicht deswegen sind die Jahre zwischen 1955 und 1960, wie Fassbinder sagte, „quasi die amoralischsten Jahre, die es je in Deutschland gegeben hat“38. Aus der ursprünglichen Idee, Heinrich Manns „Professor Unrat“ in die fünfziger Jahre zu übertragen, erwuchs eine ganz neue Figurenkonstellation, die nach Fassbinder und seinen Mitautoren eine Prostituierte, einen Baudezernenten und einen Bauunternehmer miteinschließen sollte39. Schuckert wird durch übermäßige Ironie, Schmeichelei und Opportunismus charakterisiert, die ihm dazu helfen, Geschäfte zu machen, ohne auf Wettbewerbsregeln zu achten. Ein weiterer sozialer Typ dieser Jahre, der Lola umwirbt, ist Esslin, der Mitarbeiter von Bohms, der – sich selbst als Humanist bezeichnet – an den Demonstrationen gegen die Wiederbewaffnung Deutschlands teilnimmt. Er wird als oppositioneller Geist gekennzeichnet, der sich gegen die herrschenden Verhältnisse in der Stadt auflehnen will, und der trotzdem nicht über eine allzu oberflächige und unwirksame Empörung hinauskommt40. So zeittypisch diese Figuren auch wirken mögen, ist dieser Film auch hier wieder als Vorwegnahme von Entwicklungen der deutschen Gesellschaft aus dem verfremdeten Standpunkt der fünfziger Jahre anzusehen. Der unmittelbare Bezug ist auch hier zugleich ein Gegenwartsthema, denn Bauspekulationen standen im Mittelpunkt von Fassbinders umstrittenem Projekt „Der Müll, die Stadt und der Tod“ und tauchten ebenfalls als Motiv in „In einem 38 Gespräch mit Rainer Werner Fassbinder, zitiert nach U. Bessen, Trümmer und Träume, S. 386. 39 Ebd. 40 So definiert Fassbinder Esslin: „Da ist noch eine andere Figur sehr wichtig geworden – der Mitarbeiter des Baudezernenten, Esslin, ein übrig gebliebener Wolfgang Borchert, der nicht gestorben ist, also einer, den das Kriegserlebnis schon sehr kaputt gemacht hat, aber der, weil er leben muß, letztlich auch überlebt“, ebd. S. 388. Vgl. auch S. Pott, Film als Geschichtsschreibung, S. 108.
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Jahr mit 13 Monden“ (1978) auf41. In dieser Hinsicht lässt sich Schuckert als satirische Variation des „Reichen Juden“ im Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ oder des Spekulanten Seitz in dem einige Jahre früher gedrehten „In einem Jahr mit 13 Monden“ verstehen. Somit ist die mittlere Position zwischen persönlicher Stellungnahme und objektiver Geschichtsschreibung sowie zwischen Annäherung und Distanz nochmals demonstriert, mit der Fassbinder sich der Nachkriegszeit annähert.
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Vgl. dazu ebd., S. 161.
Wiedersehen mit der Familie, Wiedersehen in der Heimat „Söhne“ von Volker Koepp* Von Andrea Rota
„Kaum hatte man die Oder hinter sich, da gab es wieder den Kindheitssommer, den du für unwiederbringlich dahin hieltest“1.
I. Der vorliegende Beitrag setzt sich mit dem Dokumentarfilm „Söhne“2 (2007) des Regisseurs Volker Koepp – 1944 in Stettin geboren und später in Ostberlin aufgewachsen – auseinander. Angesichts einer komplexen Familiensaga, die zugleich einzigartig und beispielhaft für eine ganze Generation ist, wird in diesem Dokumentarfilm eine sehr aktuelle Auslegung des Heimkehrbegriffes geschildert. Im Mittelpunkt stehen hier die Heimatsuche und der Heimatbesuch jenseits der Oder-Neiße-Linie bzw. der östlichen Bundesgrenze, mit denen sich die letzte, heute noch lebende Generation deutscher Kriegsvertriebener des Öfteren befasst. Am Beispiel der Brüder Paetzold – Vertreter der sogenannten „Kriegskindergeneration“ – dokumentiert Koepp das verbreitete Bedürfnis vieler Aussiedler, mindestens einmal nach Kriegsende an die eigenen Herkunftsorte zurück zu reisen. Über den Einzelfall hinaus gestaltet sich also in „Söhne“ eine besondere Art von gegenwärtiger, sinnstiftender Heim-kehr,
* Salzgeber Filmverleih / Edition Salzgeber sei hier für die baldige Bereitstellung einer DVD on demand von „Söhne“ sowie für die nette Genehmigung gedankt, Bild- und Textmaterial aus dem Dokumentarfilm und aus der Webseite http://www. salzgeber.de/presse zu veröffentlichen. Die DVD des Dokumentarfilms „Söhne“ ist im Handel erhältlich. Alle in diesem Beitrag angegebenen Hyperlinks ergaben sich als gültig am 31. März 2009, letztem Abrufsdatum vor dem Abdruck. 1 C. Wolf, Kindheitsmuster (1976), in: dies., Werke, Bd. 5, München 2000, S. 124. 2 V. Koepp (Regie), Söhne. Drehbuch: Volker Koepp, Barbara Frankenstein; Kamera: Thomas Plenert; Musik: Rainer Böhm; Produktionsleitung: Fritz Hartthaler; Produktionsjahr: 2007; Länge: 111 Minuten. Ausgewählte Pressestimmen abrufbar unter http://www.salzgeber.de/presse/kritiken/ soehne_kritiken.pdf.
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die zwar auf keine langfristige Rücksiedlung deutscher Vertriebener in der alten Heimat hinweist, jedoch höchstsymptomatisch für die noch ungelöste Bindung mit den östlichen Abstammungsorten ist. Wegen der zumeist begrenzten Besuchsdauer deutscher Aussiedler im ehemaligen West- und Ostpreußen, Schlesien oder Sudentenland wird der Begriff „Heimatbesuch“ heute nicht selten als kommerzielle Erscheinung von silberhaarigem „Heimwehtourismus“ stigmatisiert oder sogar als pathetischer Ausdruck einer politisch suspekten Nostalgie bagatellisiert3. Der in „Söhne“ dokumentierte Heimatbesuch hat freilich mit larmoyanter Nostalgie revanchistischer Vertriebenenverbände oder mit touristischer Oberflächlichkeit nichts zu tun. Ganz im Gegenteil. Indem Koepp zusammen mit den Brüdern Paetzold zu ihren Lebens- und Erinnerungsorten zurückreist und somit eine dokumentarische Heimkehr jenseits der Oder unternimmt, lotet er – im Zeichen der gegenseitigen Versöhnung – eine ganze Familiengeschichte und einen wichtigen Abschnitt deutsch-polnischer Nachkriegsgeschichte zugleich aus. An der Wiederentdeckung der Familienwurzeln und der Geschichte nehmen in „Söhne“ auch Angehörige und Kinder der vier Brüder durch ihre Äußerungen teil: Deutsche und polnische Kinder, die mittlerweile selbst erwachsen sind und deren Worte neue Perspektiven auf die Familienhistorie sowie auf die vielschichtige Auffassung des Heimatbegriffes eröffnen.
II. Wer Volker Koepps Filme kennt – von seiner mehrteiligen Serie über Wittstock bis zu „Kalte Heimat“ (1995), „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ (1999), „Kurische Nehrung“ (2001), „Schattenland“ (2005) oder „Holunderblüte“ (2007)4 – weiß, dass der Regisseur in Fachkreisen als höchst 3 Die Heimatreisen nach Polen, Russland, Ungarn und in die Tschechische Republik sind jedenfalls nicht abzuschätzen, denn sie verweisen „auf die Folgen einer lebendigen Tradition des Erzählens zwischen den Generationen“, so A. Lehmann, Im Fremden ungewollt zuhause. Flüchtlinge und Vertriebene in Westdeutschland 1945-1990, München 1991, S. 109. Lehmann weist zurecht darauf hin, dass der heutige Heimwehtourismus zunehmend auch aus Angehörigen der dritten Nachkommensgeneration Heimatvertriebener besteht, d.h. aus Menschen, die von Anfang an westlich der Oder-Neiße-Grenze aufwuchsen und sich nun ein eigenes Bild der verlorenen Heimat ihrer (Groß)Eltern im Osten machen wollen. Vgl. diesbezüglich auch D. Stennert, Reisen zum Wiedersehen und Neuerleben. Aspekte des Heimwehtourismus dargestellt am Beispiel der Grafschaft Glatzer, in: K. Dröge (Hrsg.), Alltagskulturen zwischen Erinnerungen und Geschichte (Beiträge zur Volkskunde der Deutschen in und aus dem östlichen Europa, 6), München 1995, S. 83-94. 4 Für einen Überblick über Volker Koepps Filmographie, vgl. unter anderem B. Heinrich-Polte / A. Hölger, Volker Koepp. Menschen-Landschaften. Filme von
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geschätzter „Chronist des Ostens“ gilt, der sich in allen seinen Werken mit der engen Verflechtung von kollektivem Geschichtsbewusstsein und individuellen Erfahrungen auseinandersetzt. Auf der ständigen Suche nach den Spuren der Geschichte porträtiert er immer wieder Biographien, die mit den Landschaften sowie mit den komplexen, oft tragischen Nachkriegsgeschehnissen Ostdeutschlands und Osteuropas im engsten Sinne verwoben sind. Mit besonders feinem Taktgefühl schildert er die soziale Umwelt und ihre Einwohner, Menschen, die er vor der Kamera über eigene Erlebnisse sowie gesellschaftliche Ereignisse frei erzählen lässt. Durch Wort und Bild erzeugen also Volker Koepps Dokumentarfilme eine anschauliche Aura zwischen Gegenwart und Vergangenheit, ohne dass der Regisseur in irgendeiner Art auf medialen Pomp und Effekt zurückgreift. Viel lieber verlässt er sich ganz auf seine Protagonisten; er lässt sie ausführlich berichten und gibt dem Zuschauer auf diese Weise die notwendige Zeit, über das Gehörte und das Gesehene selbst nachzudenken. Das alles fällt in vorbildlicher Weise im international ausgezeichneten5 Dokumentarfilm „Söhne“ auf: Hier wird das ungeschminkte Porträt von fünf Männern, einer Mutter und das ergreifende Schicksal einer Familie entworfen, das die Zuschauer an die Stätten der familiären Geschehnisse und Erinnerungen in Polen und Deutschland führt. Einmal mehr widmet sich der Regisseur seinen miteinander eng verbundenen Herzensthemen: Heimat und kulturelle Identität. Vor dem Hintergrund der deutschen Nachkriegszeit und sechs Jahrzehnte nach Kriegsende schildert Koepp das bedeutungsträchtige Treffen der deutsch-polnischen Brüder Paetzold an ihrem ursprünglichen Herkunftsort im ehemaligen Westpreußen. Dort knüpfen die zwischen 1938 und 1944 geborenen Brüder den zerrissenen Faden ihrer außergewöhnlichen Familiengeschichte mit dem der nunmehr unwiederbringlich verlorenen Heimat wieder zusammen. Es ist die Suche nach Familienspuren, die die Paetzolds aus Polen und der Bundesrepublik zu ihrem Elternhaus in Celbau – heute Celbowo – zurückführt. Dort halten sie sich für das erste Mal seit Kriegsende alle zusammen auf, auch wenn nur für eine kurze Zeit. Obwohl keiner der Paetzolds zum Entschluss gelangt, nach Celbau zu ziehen und dort den Rest des Lebens zu verbringen, hat der von Koepp dokumentierte Heimatbesuch mit dem schon erwähnten „Heimwehtourismus“ – und dies soll hier noch einmal Wittstock bis Czernowitz, Berlin 2004; P.W. Jansen, Ostwärts. Hinterm Horizont geht’s weiter. Die Filme des Volker Koepp, in: apropos. Film 2004 (Jahrbuch der DEFA Stiftung), Berlin 2004, S. 110-128. Vgl. auch die Informations- und Bestellseite www. koepp-kollektion.de. 5 Diesbezüglich sei hier unter anderem der Grand Prix Visions du Réel in Nyon erwähnt, eine sehr wichtige Auszeichnung des Schweizer Internationalen Filmfestivals, die das Kinodebüt von „Söhne“ begleitet hat.
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unterstrichen werden – wenig Gemeinsames. In „Söhne“ stellt die Reise nach Celbau vielmehr den Höhepunkt eines ganz privaten – und unter Aussiedlern noch sehr verbreiteten – Bedarfs an einer geistigen Heimkehr dar, die sich durch die nachträgliche Erinnerungsfahrt zumindest als gemeinsame, äußerst wichtige (Wieder)Entdeckung6 der Familienorte und -wurzeln verwirklicht.
Abb. 1: Auf den Spuren der Familiengeschichte: Die fünf Brüder zusammen in Celbowo7
Trotz ihrer zeitlichen Begrenzung stellt also der selbstethnologische8 Heimatbesuch der Brüder Paetzold ein durchaus fundamentales Kapitel9 ihres Familienepos dar, das im Mündungsgebiet der Weichsel – einer Landschaft 6 In einem Interview unterstreicht Volker Koepp den ‚Entdeckungs‘wert der Reise in die Heimat für die Brüder: „Es war dann doch auch eine Entdeckungsreise, auch für die fünf Brüder, weil sie lange nicht so intensiv zusammen waren und sich so Sachen gesagt haben, die sie auch gar nicht voneinander wussten. Insofern war es immer wieder eine Entdeckung“. Das Interview mit dem Regisseur kann unter den folgenden Weblinks als Streaming-video gesehen werden: http://www.vimeo. com/1819553 und http://www.youtube.com/watch?v=ma0RdXxxpl0. 7 Alle Abbildungen sind aus der DVD direkt entnommene Einzelbilder, vgl. die Angaben auf S. 257 (Ausnahme: Bild 2). 8 Vgl. C. Kraft Alsop, Home and Away. Self-Reflexive Auto-/ethnography, in: Forum. Qualitative Sozialforschung/Social Research (online journal), 3 (2002), 3, http://www.qualitative-research.net/index.php/fqs/article/view/823/1789. 9 „Am Schluss des Films sagen sie [die Brüder], ganz unabhängig von einander, dass diese Reise an den Ort ihrer Kindheit, nach Celbau, für sie ein ganz großes Erlebnis war, durch den Film ausgelöst“, bestätigt Volker Koepp im schon erwähnten Interview (vgl. Anm. 6).
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zwischen dem früheren Hinterpommern und Ostpreußen – beginnt. Die Familie Paetzold bestand ursprünglich aus deutschen Gutsbesitzern mit polnischer Staatsangehörigkeit, deren Schicksal ein zentrales Stück europäischer Geschichte des 20. Jahrhunderts reflektiert, von der Tragödie des Zweiten Weltkrieges bis zu den politischen Errungenschaften der aktuellsten EU-Gegenwart. In Danzig und Celbau wurden alle vier Brüder Paetzold geboren: Klaus, Wolf, Friedrich und Rainer. In ständigem Zusammenhang mit den dramatischen Ereignissen der frühen Nachkriegszeit konzentriert sich der Dokumentarfilm auf ihre Lebenswege, die sich seit 1945 in der Bundesrepublik und Polen abspielen; es sind äußerst verwickelte Lebenswege, die sich während der schwierigen ersten Nachkriegsjahre sehr voneinander entfernt haben, ohne aber von ihrem gemeinsamen Ursprung unwiederbringlich getrennt worden zu sein. In „Söhne“ begleitet Volker Koepp die Paetzolds zu ihren westpreußischen Wurzeln zurück, zu jenen gemeinsamen Wurzeln, die der Strudel der Ereignisse für lange Zeit verdeckt, aber sicher nicht abgeschnitten hat10. III. Am Anfang des Dokumentarfilms erklärt der Regisseur wie die vier Brüder, 1945 auf der Flucht vor der Roten Armee, auseinandergerissen wurden: Vor dem Anmarsch der sowjetischen Truppen fürchtete ihre Mutter, der Flucht mit vier Kindern nicht standzuhalten. Aus diesem Grund nahm sie die schwierige Entscheidung auf sich, nur mit Klaus und Wolf, ihren zwei älteren Söhnen, das Geburtshaus in Celbau zu verlassen und in Richtung Südwesten, nach Baden-Württemberg, zu fliehen. Die anderen zwei Kinder Elisabeth Paetzolds – die jüngeren Friedrich und Rainer – sollten vorübergehend noch in ihrer Heimat bleiben, in der Obhut ihrer Großeltern auf Gut Heinrichshof. Elisabeths Hoffnung, die zwei Kinder später nachzuholen, wurde jedoch schnell zerstört. Die Frau hatte mit der Dramatik der Geschichte nicht gerechnet, denn schon kurz vor Kriegsende, infolge der bevorstehenden Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus westpreußischen Gebieten, starben beide Großeltern. Die zwei kleinen, allein gebliebenen Paetzolds wurden dann von polnischen Pflegefamilien aufgenommen und unter anderen Namen als Polen großgezogen. Elisabeths jüngste Söhne, Friedrich und Rainer, wuchsen nicht weit von Danzig auf. Von einem streng-räumlichen Gesichtspunkt aus gesehen, wurden sie eigentlich nicht vertrieben. Die Orte ihrer Geburtsheimat mussten sie 10 Für eine ausführliche Zusammenfassung der ganzen Familiengeschichte vgl. auch J. Künemund, (Pressbetreuung): Söhne. Ein Film von Volker Koepp (Presseheft, Edition Salzgeber), Berlin 2007, abrufbar unter: http://www.salzgeber.de/presse/ pressehefte/soehne_ph.pdf.
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tatsächlich nicht verlassen; es war dennoch ihre Heimat selbst, die einen baldigen, radikalen Abschied von ihnen genommen hatte. Am Kriegsende waren für Westpreußen alle Ansprüche auf Deutschtum unwiederbringlich verloren. Bekannterweise wurden alle preußischen Gebiete östlich der Oder entschieden „polonisiert“: Die rigorose Entdeutschung von Dörfern und Städten in Westpreußen und Schlesien wurde nicht nur auf die systematische Vertreibung ihrer bisherigen Einwohner beschränkt. Städtische sowie ländliche Siedlungen mussten unwiderruflich „entgermanisiert“ werden, „zusammen mit [ihren] Denkmälern, Straßennamen, Schildern und anderen Überresten aus der deutschen Vergangenheit“11. Selbst deutsche Friedhöfe und Kirchen blieben an manchen Orten von der geplanten Polonisierung nicht verschont: Nicht selten wurden die Begräbnisstätten in Parks umgewandelt und die protestantischen Kirchen katholisiert12. Die Dämonisierung der deutschen Identität im Nachkriegspolen wird von Elisabeth Paetzold selbst in einem Erfahrungsbericht wie folgt beschrieben: „Ich war ja in ihren Augen ‚nur‘ eine Deutsche! Das war so, als wäre man aussätzig oder hätte die Pest! … ‚Die Deutschen sind ja alle Tiere‘, das hatten sie selbst zu mir gesagt … Bei mir würde das Kind nur hungern in Deutschland, ich würde aus ihm einen ‚Nazi‘ machen, es ganz verderben“13.
Seit Beginn dieses radikalen, verbreiteten „Entdeutschungsprozesses“ geriet die deutsche Sprache schnell und fast selbstverständlich in Ungunst. Kein Wunder also, dass der kleine Friedrich in einem solchen Nachkriegszusammenhang seine Muttersprache zugunsten des Polnischen verlernte und dass sein jüngerer Bruder Rainer von Anfang an nur Polnisch sprach. Mit der Heimatsprache vergaßen – oder verdrängten – die zwei Kinder natürlich auch vollkommen ihre deutsche Abstammung. Bei den kleinen Paetzolds wurde praktisch die enge Bindung der Begriffe „Ursprung“, „Heimat“ und „Muttersprache“ binnen kürzester Zeit völlig auf den Kopf gestellt14. Erst richtig verkomplizierte sich aber das Familienabenteuer im Laufe der ersten Nachkriegsjahre: Sobald Frau Paetzold erfuhr, dass ihre zwei jüngeren Kinder vermisst seien, ließ sie die zwei älteren Söhne in Baden-Württemberg – 11 K. Ruchniewicz, Warum Wrocław nicht Breslau ist. Überlegungen zur Nachkriegsgeschichte der niederschlesischen Hauptstadt, in: R. Schulze / R. Rohde / R. Voss (Hrsg.), Zwischen Heimat und Zuhause. Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene in (West-)Deutschland 1945-2000, Osnabrück 2001, S. 256-275, hier S. 264. 12 Ebd., S. 264-266. 13 Elisabeth Paetzold, zitiert in: J. Künemund, Söhne. Ein Film von Volker Koepp, S. 5. 14 Friedrich spricht immer noch nur gebrochenes Deutsch und kann die emotionalsten Teile seiner Geschichte nur auf Polnisch erzählen. Auch Rainer, der seit Ende der Siebziger Jahre in Deutschland lebt, hat einen unüberhörbaren polnischen Akzent in seiner Aussprache behalten.
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ihrer neuen deutschen Heimat, wo sie sich trotz allem so schnell wie möglich einleben mussten – und kehrte illegal nach Polen zurück, um die beiden noch fehlenden Kinder zu suchen. In der alten, nun nur polnischen Heimat kam es jedoch zu immer größeren Schwierigkeiten: Erst nach einer zweijährigen Odyssee konnte die mutige Mutter einen der zwei Brüder finden, den sie irrtümlicherweise für ihren jüngsten Sohn Rainer hielt und den sie 1947 in die neue süddeutsche „Zwangsheimat“ mitnahm. „Irrtümlicherweise“, muss es hier unterstrichen werden. Aus dem Off hören die Zuschauer Volker Koepps Stimme erklären, dass der tatsächliche Rainer Paetzold erst zwölf Jahre später im ehemaligem Westpreußen wieder auftauchte, und dass seine Mutter ab diesem Zeitpunkt statt ‚vier‘ plötzlich ‚fünf‘ Söhne hatte. Drei von ihnen lebten in Deutschland: Klaus, Wolf und der ‚falsche‘ Rainer, der noch heute aber ganz selbstverständlich zu den Mitgliedern der geteilten Familie zählt. Die zwei jüngeren Söhne blieben dagegen in Polen: Der ‚richtige‘, leibliche Rainer – nun Jerzy – siedelte erst 1977 nach Deutschland um. Friedrich, als Stanislaw aufgewachsen, wurde 1955 als Dreizehnjähriger bei seiner Pflegemutter in Warschau gefunden, weigerte sich jedoch entschieden, seine Pflegefamilie zu verlassen. Er fasste deshalb den Entschluss, sein Leben für immer in Polen zu verbringen15. IV. Die familiären Begebenheiten der Brüder Paetzold mögen heute wohl überraschend scheinen, fast wie von einem Romanschriftsteller erdacht; trotzdem rekonstruiert Volker Koepp nur eine der vielen, dramatischen Familiengeschichten, die während und nach dem Krieg den deutschen Vertriebenen und den späteren Heimkehrern widerfahren sind. Was „Söhne“ von vielen anderen Film- und Literaturzeugnissen im Kern unterscheidet, ist eigentlich nicht (nur) die Komplexität des dargestellten Schicksalsgeflechts; es geht vielmehr um die nüchterne, unpathetische Darstellungsart des Dokumentarfilmes. Dem Regisseur gelingt die Vermeidung einer bloß larmoyanten oder revanchistischen Rhetorik, die sonst die Thematisierung des deutschen Heimatverlusts, sowie die Auseinandersetzung mit der späteren Rückreise in die Heimat, hätte prägen können. Wie die Filmkritik einstimmig betont hat, herrscht in „Söhne“ die bewundernswerte Überwindung eines jeglichen nationalistischen Grolls oder eines bloßen Heimwehs auffällig vor. Das erzielt Volker Koepp, indem er nicht den ,üblichen‘, 1945 schon erwachsenen und handlungsfähigen Tätern und Opfern das Wort erteilt. Durch die Paetzolds lässt 15 Für eine ausführliche Zusammenfassung der ganzen Familiengeschichte vgl. auch das Presseheft (Pressebetreuung: Jan Künemund für die Edition Salzgeber), abrufbar unter: http://www.salzgeber.de/presse/pressehefte/soehne_ph.pdf.
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er vielmehr die sogenannte „vergessene Generation“16 damaliger Kriegskinder über ihre eigene Geschichte, über ihren Heimatbegriff während und kurz nach dem Zweiten Weltkrieg ausführlich berichten. Es handelt sich um eine „unauffällige Generation“17 von Vertriebenen, die zur apokalyptischen Zeit der binnendeutschen Nachkriegswanderungen noch gar keine selbstbewusste Eingriffsmöglichkeit in das eigene und in das nationale Lebensschicksal hatte.
Abb. 2: Kriegskinder: Klaus, Wolf und Friedrich Paetzold in Celbau, 194418
V. Anhand ihrer Familiensaga lässt der Regisseur die damaligen Kriegskinder Paetzold – heute alle gut etablierte Sechzig- und Siebzigjährige – über ihr schwieriges Verhältnis zur Heimat sprechen. Somit widmet sich Koepp an jene Generation von Aus- und Umsiedlern, die im ehemaligen Ost- und Westblock zum Wiederaufbau Deutschlands und Europas wesentlich beigetragen hat; eine Generation, die in nicht seltenen Fällen erst am Anfang ihres Ruhestands – oder kurz davor – begonnen hat, die eigene Bindung mit der 16 S. Bode, Die vergessene Generation. Die Kriegskinder brechen ihr Schweigen, München 2005. 17 Ebd., S. 30. 18 Abbildung abrufbar unter http://www.salzgeber.de/presse/bildarchiv/gross/ soehne05.jpg.
Wiedersehen mit der Familie, Wiedersehen in der Heimat
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Heimat offen zu problematisieren. Diese Bindung ist des Öfteren noch mit latenten Kriegsereignissen verwoben, mit schmerzlichen Vertreibungstraumata, die bis heute – so wichtige sozialpsychologische Studien19 – nicht immer oder nicht ganz aufgearbeitet wurden und erst seit einiger Zeit in Buchveröffentlichungen und auf Kongressen Beachtung finden. Der Dokumentarfilm macht die Komplexität des Heimatbegriffs bei diesen ehemaligen Kriegskindern ganz deutlich. Angesichts der Rückreise nach Celbau und des dortigen Familientreffens erforscht Koepp wie in einem Experiment, was „Heimat“ für jeden einzelnen Paetzold bedeutet, bzw. bedeutet hat. In den Interviews deuten die Brüder das sonderbare Gefühl an, seit Kriegsende immer zwischen Heimat und Zuhause20 gelebt zu haben. Infolge der familiären Trennung auf beiden Seiten der Oder-Neiße-Grenze konnten die zwei älteren Brüder ihre Heimkehr jahrzehntenlang eigentlich nur in Form einer immateriellen Erinnerungsreise gestalten. Wie Wolf diesbezüglich zugibt, bestand trotz der Erinnerungen und der selbsterzählten Vergangenheitsgeschichten die Gefahr, dass Heimatbilder aus der früheren Kinderzeit allmählich blasser wurden. Nicht zufällig scheint das Wort „Heimat“ die beiden älteren Brüder Klaus und Wolf immer noch zu einem tiefen, inneren Zwiespalt zurückzuführen, die gewissermaßen fortbestanden hat. Aus dem Fluss der Erinnerungen taucht noch das vergangene, widersprüchliche Bedürfnis auf, sich in den unbekannten Ankunftsorten so schnell wie möglich neu be-‚heimaten‘ zu müssen, ohne jedoch ihren westpreußischen Ursprung vergessen zu wollen – oder zu dürfen. Die neue Beheimatung im Südwesten der Bundesrepublik scheint in „Söhne“ erfolgreich stattgefunden zu haben. Trotz der schwierigen Anfänge scheint sich der materielle Wohlstand der Brüder Paetzold an beiden Seiten der Oder nicht von dem der Einheimischen zu unterscheiden. „Alle Indikatoren, die gemeinhin für eine erfolgreich verlaufene Eingliederung genommen werden, sind ohne Frage vorhanden“21; dennoch erklärt Wolf, dass er sich – dreißig Jahre nach seiner Ankunft in Heidelberg – nicht als Heidelberger fühle; mindestens ein viertel seiner Identität bleibe immer noch in Westepreußen. Solche Äußerungen weisen im Dokumentarfilm auf eine mehrfache Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart, auf eine
Vgl. H. Lorenz, Kriegskinder. Das Schicksal einer Generation, Berlin 2005. Vgl. R. Schulze / R. Rohde / R. Voss (Hrsg.), Zwischen Heimat und Zuhause. Deutsche Flüchtlinge und Vertriebene in (West-)Deutschland 1945-2000, Osnabrück 2001. 21 R. Schulze, Zwischen Heimat und Zuhause? Einige Anmerkungen zu einer Diskussion, die noch lange nicht beendet ist, in: R. Schulze / R. Rohde / R. Voss (Hrsg.), Zwischen Heimat und Zuhause, S. 288-298, hier S. 288. 19 20
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Mischung der Gleichzeitigkeit von alter Heimat und aktuellem Zuhause hin, die typisch für die meisten Flüchtlinge und Vertriebenen ist22. Materiell haben sich Wolf und Klaus in Baden-Württemberg zwar endgültig eingelebt, jedoch vergaßen sie nie ihre Heimat; ihre Sehnsucht nach Familienspuren an den Kindheitsorten blieb seit 1945 immer präsent. Die Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit manifestiert sich auch bei ihrem Heimatbesuch jenseits der Oder: Emotional bewegen sich die Brüder ständig zwischen Celbau und Celbowo, von Westpreußen nach Polen und zurück23. Zwischen den Kindheitserinnerungen von Celbau und den gegenwärtigen Bildern des polnischen Celbowo liegt für sie ein Ort, der bei den zwei Brüdern ambivalente, sich gegenseitig widersprechende Gefühle zugleich erweckt: Einerseits erinnert ihr westpreußisches Dorf an den Heimatverlust, andererseits spricht es für das Wiedersehen mit der Heimat und für die dortige Wiederherstellung des Familienkreises. Das Gespräch mit einem dort gebliebenen, nun alt gewordenen Gärtner, die alten Bäume, die westpreußische Ostseeküste, die bekannten Alleen, die Ahnengräber, die Altbauten, alle diese Spuren des für immer vergangenen Alltags werden in Celbau wieder lebendig; sie fungieren als materielle Katalysatoren von Erinnerungen an die lokale Bindung, an den gemeinschaftlich gefärbten Sozialzusammenhang in einer Welt, die als Heimat erkennbar ist, und jedoch nicht mehr als Zuhause gilt.
Abb. 3: Gespräch mit dem alten Gärtner in Celbowo (s. Anm. 7) Vgl. ebd., S. 292. Eine ähnliche Erfahrung beschreibt auf beispielhafte Weise Christa Wolf 1976 in ihrem Roman „Kindheitsmuster“. Bei einem 46-stündigen Heimatbesuch bewegt 22 23
Wiedersehen mit der Familie, Wiedersehen in der Heimat
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Abb. 4: Die Brüder Paetzold vor dem neugotischen Bauten in Celbowo (s. Anm. 7)
VI. Der Heimatbesuch löst bei den älteren Brüdern eine ganze Konstellation längst verstummter Erinnerungen an die Kindheit und an den westpreußischen Familienursprung aus, den aber die jüngeren, nun polnischen Brüder Paetzold anfänglich kaum akzeptieren konnten. Innerhalb der artikulierten deutsch-polnischen Familiengeschichte rekonstruiert also der Dokumentarfilm die verschiedenen Heimatgefühle ihrer Mitglieder; unterschiedliche Heimaterlebnisse und -auffassungen, die jedenfalls keine Reibung erzeugen, jeder nationalen und sprachlichen Grenze zum Trotz. Die Brüder Paetzold sind in dieser Hinsicht aufgeklärte Vertreter einer Nachkriegsgeneration, bei der das Wort „Heimat“ noch heute eher einen lang unterdrückten, gemeinsamen Klärungsbedarf auslöst, als bloße Nostalgie für die unwiederbringliche, von ihnen nicht mythisierte Vergangenheit24. Nach und nach findet diese Klärung in „Söhne“ durch Gespräche, auf Reisen, bei Besuchen in den Familien statt: Koepp stößt nicht auf offene Wunden, aber doch gut sichtsich die Hauptfigur Nelly zwischen L. (Landsberg an der Warthe) und G. (Gorzòw Wielkopolski). Der Wechselgebrauch des deutschen und des polnischen Namens für den selben Ort weist im Roman auf die Zeitspanne hin, die zwischen Heimatverlust (1945) und Wiederbegegnung mit der Heimat (1971) liegt. Vgl. dazu E. Pachura, Polen – Die verlorene Heimat. Zur Heimatproblematik bei Horst Bieneck, Leonie Ossowski, Christa Wolf, Christine Brückner, Stuttgart 2002, S. 132 ff. 24 In Bezug auf die Mythisierung der Heimat bei deutschen Vertriebenen und Umsiedlern, vgl. J. Joachimsthaler: „Die Semantik des Erinnerns. Verlorene Heimat – mythisierte Landschaften“, in: E. Mehnert: Landschaften der Erinnerung. Flucht und Vertreibung aus deutscher, polnischer und tschechischer Sicht (Studien zur Reiseliteratur und Imagologieforschung, Band 5), Frankfurt a.M. 2001, S. 188-227.
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bare Narben25. Klaus und Wolf berichten über die Kindheitserfahrung von Ausgrenzung, Fremdheit und materieller Not, die sie in der Bundesrepublik mit anderen Flüchtlingskindern jener Zeit teilen. Friedrich und Rainer schildern ihre existentielle Verunsicherung, als sie von ihrer deutschen Identität erfuhren: Bei der Wiederentdeckung ihrer wirklichen Familiengeschichte bzw. ihrer deutschen Abstammung mussten sie sich mit der Zugehörigkeit zur Feindnation, zu den Gegnern ihrer polnischen Pflegefamilien auseinandersetzen. Obwohl das ihnen selbstverständlich nicht leicht fiel, kann heute Jerzy, der ‚richtige‘, Rainer, behaupten: „Ich fühle mich so, als ob ich zweimal gelebt hätte. Da ist ein polnisches Leben und da ist ein deutsches. Und beide sind richtig“. Der ‚falsche‘ Bruder Rainer, der bis heute nichts über seine tatsächliche Herkunft weiß, beschreibt den Zwiespalt seiner Rolle innerhalb der ‚erworbenen‘ Familie und stellt schließlich über sich einfach fest – Ausnahme unter den Brüdern – dass „es manch einem nicht gegeben ist, ein Heimatgefühl zu entwickeln“. Das gegenseitige Erzählen, und insbesondere die schmerzlich-schöne, gemeinsame Rückkehr an die Erinnerungsorte um Danzig helfen den Paetzolds, die Geschichte ihrer Väter wieder präsent werden zu lassen. Im Laufe der Jahre hatten sie sich schon alle wiedergesehen, aber Koepp führt sie erstmals zusammen nach Celbau, wo das Gutshaus der Großeltern mit seinem alten Esskastanienbaum, sowie ein paar ältere Bekannte immer noch da sind. Dort finden die Brüder ihre gemeinsamen Wurzeln wieder, ‚Familien‘-wurzeln, die sich wie jene des großen Kastanienbaums weit und unsichtbar ausgebreitet haben. Das ist ein riesiger Baum, den der Urgroßvater hier gepflanzt hatte und den sie heute – wie die bedeutungsträchtige Anfangsszene zeigt – nur ‚zusammen‘ umarmen können.
Abb. 5: Umarmung des alten Kastanienbaums (s. Anm. 7) 25 Vgl. P. Bühler, Söhne. Kriegskinder, in: Fluter.de. Magazin der Bundeszen-trale für politische Bildung, 31/05/2007, http://film.fluter.de/de/213/kino/6021/?tpl=162.
Nachwort Vom 27. bis 29. November 2008 fand am Italienisch-Deutschen Historischen Institut der Fondazione Bruno Kessler eine Tagung zum Thema „Heimkehr. Kulturfragen und Generationenperspektiven in Deutschland (1945-1961)“ statt, unter der wissenschaftlichen Leitung von Elena Agazzi (Universität Bergamo) und Erhard Schütz (Humboldt Universität zu Berlin). Der ehemalige Direktor des Instituts, Gian Enrico Rusconi, hatte in seinem Einleitungswort das besondere Format der Initiative hervorgehoben, nämlich die nicht nur rein zeitgeschichtliche Dimension der Heimkehr-Thematik, sondern auch ihre Rezeption in der Literatur- und Filmkultur. In der Tat hatte diese Tagung ihren Anlass in einer von dem Ateneo Italo-Tedesco und dem DAAD geförderten Projekt, das unter dem Titel „Kultur im Wiederaufbau – Wiederaufbau der Kultur (1945 bis 1961)“ für die Jahre 2008-2009 finanziert worden ist und an dem ein gutes Dutzend italienische und deutsche Mitarbeiter beteiligt sind. Dieses Projekt wird im Jahr 2011 mit der Publikation eines Handbuchs abgeschlossen werden, das bei de Gruyter unter dem Titel Nachkriegskultur. Literatur, Sachbuch und Film in Deutschland (1945-1961) erscheinen wird. Die Tagung brachte einen Teil der am Projekt beteiligten Nachwuchswissenschaftler aus Bergamo und Berlin mit gestandenen Historikern, Literatur- und Medienwissenschaftlern aus verschiedenen Universitäten zusammen. Die Verantwortlichen der Tagung, Elena Agazzi und Erhard Schütz, möchten sich an dieser Stelle sehr nachdrücklich bei der Leitung des AteneoItalo Tedesco und beim ehemaligen Direktor des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts, Gian Enrico Rusconi, für die freundliche Aufnahme bedanken, ganz besonders aber für die Gelegenheit, die Tagungsbeiträge in der Reihe „Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient“ veröffentlichen zu dürfen. Einen ausdrücklichen Dank schulden sie auch der vormaligen Sekretärin des Instituts, Frau Karin Krieg, für die unermüdliche organisatorische Unterstützung, vor allem aber auch Frau Dr. Chiara Zanoni Zorzi und Frau Friederike Oursin, die die Publikation auf das Sorgfältigste betreut haben!
Elena Agazzi und Erhard Schütz
Personenregister Abusch, Alexander 59 Adenauer, Konrad 83, 95-115, 244, 250 Adorf, Mario 247 Adorno, Theodor W. 16 Albers, Hans 218-219, 221 Andersch, Alfred 119, 122, 128, 135 Andrews, Dana 201 Arango, Tonio 237 Arendt, Erich 59 Assmann, Aleida 41, 231, 233 Baker, Roy 114 Baky, Josef von 14, 218-219, 220, 221 Bamm, Peter 11 Barthes, Roland 227 Bauer, Josef Martin 48, 114, 179, 180 Bauer, Walter 179 Bazin, André 205, 206 Becher, Johannes R. 59-60, 62, 192, 193, 197 Beck, Ludwig 191 Bender, Hans 171-183 Bendix, William 201 Benjamin, Walter 59, 215 Benn, Gottfried 13, 168 Bergengruen, Werner 14 Bergstraesser, Arnold 71, 79-94, Bertelot, Jean-Yves 237 Bisky, Lothar 200 Bismarck, Otto von 72, 75 Bloch, Ernst 16, 30, 59 Bloch, Walther 195 Bloy, Léon 134, 136 Blume, Joachim 107 Böhme, Hartmut 214 Bohn, Helmut 110 Böll, Annemarie 134, 136 Böll, Heinrich 118, 129-141, 212-213 Boockmann, Hartmut 38 Borchard, Michael 99 Borchert, Ernst Wilhelm 215 Borchert, Wolfgang 32, 97-98, 125, 202, 211, 215-216, 251 Borsody, Eduard von 18
Boym, Svetlana 189 Brandt, Willy 16 Brauchitsch, Manfred von 47 Brauer, Max 16 Braun, Franz 59 Braun, Harald 213 Brecht, Bertolt 16, 69, 60-61, 63, 66 Bredel, Willi 58-59, 66 Brentano, Heinrich von 104 Brüning, Elfriede 65 Bulganin, Nikolai Alexandrowitsch 104, 108 Burgauer, Erica 194 Carossa, Hans 14 Carter, Erica 200, 207 Cetto, Gitta von 109 Chruschtschow, Nikita 100, 103, 104, 194 Churchill, Winston 24 Claasen, Hermann 223, 225 Claudius, Eduard 47 Cubes, Hellmuth von 122 Damisch, Hubert 227 Del Poggio, Carla 209 Dissel, Werner 52 Dmytryks, Edward 202 Döblin, Alfred 216 Dombrowski, Erich 103 Domnick, Ottomar 113 Dönhoff, Tatjana 232 Dornemann, Axel 231 Dos Passos, John 177 Dostojewski, Fjodor Michailowitsch 132 Dowling, Doris 208 Dulles, Allen Welsh 73 Early, Emmett 200-201 Eberan, Barbro 195 Eden, Anthony 24 Eich, Günter 57 Emmerich, Wolfgang 59 Enßlen, Gottlob 21 Eschenburg, Theodor 85
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Personenregister
Fassbinder, Rainer Werner 243-255 Fehrenbach, Heide 200, 208 Fitzgerald, F. Scott 177 Forst, Willy 209, 250 Forster, Georg 63 Forte, Dieter 19 Foschepoth, Josef 112 Foster, Dulles John 104 Fraenkel, Ernst 70-71, 77, 85 Freud, Sigmund 162 Friedrich, Carl-Joachim 71, 81 Fröbe, Gert 199 Fürnberg, Louis 59 Furtwängler, Maria 237 Geschonneck, Erwin 53 Glaser, Hermann 7 Globke, Hans Josef 103 Gödden, Walter 177 Goebbels, Joseph 81 Goerdeler, Friedrich Carl 191 Goethe, Johann Wolfgang von 61, 82, 167 Gollwitzer, Helmut 96 Gotsche, Otto 44, 46 Grass, Günter 19, 38, 39, 162-163, 231, 231 Greffrath, Bettina 200, 205 Grewe, Wilhelm G. 100 Grossar, Ernst 108 Grotewohl, Otto 105 Gründgens, Gustav 121 Grunenberg, Antonia 45 Gumbel, Emil Julius 80 Habe, Hans 18 Hädrich, Rolf 49 Hagelstange, Rudolf 14 Hake, Sabine 199, 205 Hallstein, Walter 100 Hartmann, Sophie 109 Hasenclever, Walter 59 Hassel, Ulrich von 191 Hättich, Manfred 83 Hawks, Howard 209 Heine, Heinrich 167-168, 240 Hemingway, Ernest 177 Hempel, Dirk 161 Hempel, Eberhard 225 Hennis, Wilhelm 85 Hentsch, Jürgen 238 Hermlin, Stephan 59 Herzfelde, Wieland 59
Heuß, Theodor 101 Heye, Uwe-Karsten 229 Heym, Stefan 59 Hindemith, Harry 52, 202 Hippler, Fritz 81 Hitler, Adolf 22-23, 25, 52, 58, 73, 120, 143, 163, 166, 171, 187, 188, 191, 232, 235, 236, 238 Hocke, Gustav René 119 Hodiak, John 202 Hollander, Jürgen von 179 Höllerer, Walter 172 Honold, Alexander 173 Horbrügger, Anja 200, 207 Horney, Brigitte 234 Hoyer, Franz Alfons 225-226 Hubmann, Hanns 107-108 Huchel, Peter 60, 62-63 Iggers, Georg G. 81 Joho, Wolfgang 65 Jugert, Rudolf 228 Kasprzik, Hans-Joachim 50 Kästner, Erich 117 Käutner, Helmut 250 Keil, Rolf-Dietrich 112 Keller, Herbert 55 Kempowski, Walter 19, 155-169 Kilian, Werner 112 Kindler, Helmut 107 Klüh, Gerhard 112 Knef, Hildegard 207, 215, 250 Knopp, Guido 103, 232 Koepp, Volker 257-268 Koeppen, Wolgfang 13 Kohler, Ottmar 116 Kolbenhoff, Walter (geb. Hoffmann) 20, 117-128, 182, 195, 197 König, René 18 Konsalik, Heinz 114 Korbschmitt, Hans-Erich 49 Krauss, Marita 15, 17 Krüger, Hardy 114 Künneth, Walter 228 Kunz, Ernst-Adolf 129-130, 134-135, 137, 141 Ladd, Alan 201 Lahoda, Leopold 114
Personenregister
Lake, Veronica 208 Lamprecht, Gerhard 13-14, 202 Langner, Maria 47 Lattuada, Alberto 203, 205, 209 Lauterbach, Heiner 240 Leonhard, Rudolf 59 Leonhard, Wolfgang 49 Lessing Gatthold, Ephraim 63 Leuwerick, Ruth 114 Liebeneier, Wolfgang 251 Luther, Martin 73 Mackeben, Theo 219 Maetzig, Kurt 46 Magnani, Anna 209 Maier, Hans 83 Mankiewicz, Joseph L. 202, 204 Mann, Heinrich 247, 254 Mann, Thomas 13, 18, 110-121 Mannheim, Karl 213 Mannzen, Walter 119 Manthey, Jürgen 131 March, Frederic 203 Marchwitza, Hans 47, 59, 65 Marcuse, Herbert 189 Markovics, Karl 240 Marshall, George 201 Meinecke, Friedrich 78, 81 Mitchum, Robert 202 Morgenthau, Henry 72 Mühsam, Erich 59 Mundstock, Karl 65-66 Murphy, Robert 17 Mussolini, Benito 16 Nannen, Henri 108-109 Naura, Michael 178 Neufeld, Max 203 Neukrantz, Klaus 59 Neumann, Franz L. 71 Nietzsche, Friedrich 160 Oberndörfer, Dieter 83 Ossietzky, Carl von 59 Pabel, Hilmar 107 Paucker, Arnold 196 Peitsch, Helmut 179 Petersen, Jan 59 Petershagen, Rudolf 47, 50 Pieck, Wilhelm 16, 103
273
Pleyer, Peter 199 Plievier, Theodor 59 Polgar, Alfred 17, 18 Porro, Maurizio 206 Poselli, Lucia 209 Radvany, Geza von 114 Reger, Erik 171-172, 182 Reichelt, Hans 111 Reisch, Günther 50 Renn, Ludwig 59 Reski, Petra 32, 33 Reuter, Bernd 200 Reuter, Ernst 16 Richter, Hans Werner 20, 97-98, 118119, 128 Rie, Robert 16 Rilke, Rainer Maria 62 Riphahn, Marlene 237 Roosevelt, Franklin Delano 24, 75 Rosenberg, Hans 77 Rossellini, Roberto 206 Roth, Paul Edwin 218 Rother, Ernst 215 Rothfels, Hans 71, 72-88 Russell, Harold 201 Sartre, Jean Paul 121 Schaal, Björn 231 Schadewaldt, Wolfgang 97 Schäfer, Hans 103 Schallück, Paul 171-183 Schank, Roger 173 Scharrer, Adam 59 Schieder, Theodor 73 Schiller, Friedrich 95 Schlink, Bernahard 211 Schmid, Carlo 106, 110-111 Schmitz, Sybille 246, 252 Schnurre, Wolf Dietrich 14, 123 Schröder, Rudolf Alexander 97, 110 Schulz, Andreas 173 Schumann, Erik 234 Schütz, Alfred 8, 212 Schwan, Alexander 83 Schwarz, Hans Peter 99 Sebald, W.G. 7, 19, 192, 230 Seghers, Anna 16, 59, 63-65, 67 Senger, Valentin 185-198 Seydlitz-Kurzbach, Walther von 105, 108 Sieglohr, Ulrike 207
274
Personenregister
Simmel, Georg 225 Sirk, Douglas 248 Six, Alfred 81 Sontheimer, Kurt 83 Sorlin, Pierre 206 Sperl, Gabriele 232 Srbik, Heinrich von 73 Stadelmann, Rudolf 73 Stalin, 22, 25, 101 Stanzel, Franz 158 Staudte, Wolfgang 202, 207, 214-217, 250 Stein, Gertrude 177 Sternberg, Joseph von 247 Steub, Albin 179 Strauß, Franz Josef 85 Suhrkamp, Peter 9, 14, 97, 146
Van le Fort, Gertrud 14 Vedder, Ulrike 232 Venatier, Hans 18 Viertel, Berthold 16 Vilsmaier, Joseph 229, 232, 240
Thiess, Frank 18 Tito 194 Toller, Ernst 59 Toscanini, Arturo 16 Tucholsky, Kurt 59
Wehler, Hans-Ulrich 187 Wehner, Herbert 16 Weiner, Erich 59 Weiskopf, Franz-Carl 59 Weizsäcker, Richard von 39 Wessel, Kai 229 Wessely, Paula 23 Weymar, Paul 108 Wiechert, Ernst 123 Wiegler, Paul 62 Wilder, Billy 246 Wisbar, Frank 229-230, 240 Wolf, Christa 257 Wolf, Friedrich 59, 66 Worth, Sara E. 173 Wundshammer, Benno 107-108 Wyler, William 201, 205
Ucicky, Gustav 22 Uhlig, H. 49 Uhse, Bodo 59 Ulbricht, Walter 53 Umgelter, Fritz 49, 114
Ziemann, Sonja 234 Zischler, Hanns 238 Zuckmayer, Carl 16, 18, 143-153 Zweig, Arnold 59, 65 Zweig, Stefan 59
Verzeichnis der Autoren
Elena Agazzi, Bergamo Eva Banchelli, Bergamo Arnd Bauerkämper, Berlin Raul Calzoni, Bergamo Fabrizio Cambi, Trento Simone Costagli, Ferrara Matteo Galli, Ferrara Enza Gini, Pavia Wolfgang Kabatek, Berlin Cecilia Morelli, Bergamo Andrea Rota, Bergamo Erhard Schütz, Berlin Rainer Schulze, Essex Alexandra Tacke, Berlin Geesa Tuch, Zürich Michele Vangi, Loveno di Menaggio Henning Wrage, Berlin