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German Pages 298 [300] Year 2012
Wissensformen und Wissensnormen des ZusammenLebens linguae & litterae
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linguae & litterae Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies
Edited by
Peter Auer · Gesa von Essen · Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris) · Marino Freschi (Rom) Ekkehard König (Berlin) Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg) Per Linell (Linköping) · Angelika Linke (Zürich) Christine Maillard (Strasbourg) · Lorenza Mondada (Basel) Pieter Muysken (Nijmegen) · Wolfgang Raible (Freiburg) Monika Schmitz-Emans (Bochum) Editorial Assistant Aniela Knoblich
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De Gruyter
Wissensformen und Wissensnormen des ZusammenLebens Literatur - Kultur - Geschichte - Medien
Herausgegeben von Ottmar Ette
De Gruyter
ISBN 978-3-11-028286-3 e-ISBN 978-3-11-028301-3 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort
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Vorwort
Die Debatte um die Frage nach dem Lebenswissen hat seit dem Jahr 2007 weiter an Fahrt aufgenommen.1 Die im vorliegenden Band versammelten Beiträge versuchen, diese Diskussion entscheidend voranzutreiben und neue Horizonte aktuellen wie künftigen literatur- und kulturwissenschaftlichen Denkens und Handelns aufzuzeigen. Die offene und heitere Atmosphäre des internationalen Symposions, das am 17. und 18. Juli 2010 am Freiburg Institute for Advanced Studies stattfand, hat alle Beiträgerinnen und Beiträger beflügelt und einen Stil wissenschaftlicher Konvivenz geschaffen, der in allen Texten zum Ausdruck kommt. Europäische wie außereuropäische, philologische wie philosophische, fachgeschichtliche wie medienhistorische, erzähltheoretische wie literarästhetische, transkulturelle wie transdisziplinäre Ansätze messen die Dimensionen eines Forschungsgebietes aus, dessen Wissensformen und Wissensnormen es selbst noch näher zu bestimmen gilt. Dieser Herausforderung ist der Band verpflichtet. Die unserer aktuellen Globalisierungsphase mit ihren gleichzeitig ablaufenden Prozessen der Entdifferenzierung und Ausdifferenzierung, der kulturellen Homogenisierung wie der transkulturellen Heterogenisierung aufgegebene Herausforderung besteht heute darin, die Bedingungen für eine Konvivenz im weltweiten Maßstab zu schaffen, die es erlaubt, in Frieden und in kultureller Differenz zusammenzuleben. Schon Goethe wusste, dass simple Toleranz dafür nicht hinreicht, ist sie letztlich doch nicht mehr als Duldung: ein Aushalten des Anderen, nicht selten mit dessen Abwertung, ja Beleidigung verbunden. So heißt es in seinen Maximen und Reflexionen treffend: »Toleranz sollte eigentlich nur eine vorübergehende Gesinnung sein:
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Vgl. hierzu u. a. die Dokumentation wichtiger Aspekte dieser Debatte in Wolfgang Asholt/Ottmar Ette (Hrsg.), Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven, Tübingen 2010; sowie die von Vera M. Kutzinski für den englischsprachigen Raum vorgenommene Darstellung, Übersetzung und Präsentation von Ottmar Ette, »Literature as Knowledge for Living, Literary Studies as Science for Living«. Edited, translated, and with an introduction by Vera M. Kutzinski, in: Special Topic: Literary Criticism for the Twenty-First Century. Coordinated by Cathy Caruth and Jonathan Culler, in: PMLA. Publications of the Modern Language Association of America CXXV, 4 (October 2010), S. 977–993.
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Vorwort
sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.«2 Wo und wie aber können wir die Grenzen unseres Wissens von den Normen und den Formen der Konvivenz erkennen und in der Vielfalt kultureller Prägungen sinnlich nachvollziehen? Gibt es einen experimentellen Bewegungsraum, in dem und von dem aus wir die Brüche und Aporien unseres ZusammenLebensWissens gleichsam testen können? Diesen einzigartigen vektoriellen Raum gibt es, er ist uns seit Jahrtausenden bekannt. Die Literaturen der Welt bieten als offene, vielsprachige und auf fundamental-komplexe Weise viellogische, polylogische Strukturierung weltweiten Zuschnitts nicht nur einen Erprobungsraum, sondern zugleich ein Reservoir an Wissensformen und Wissensnormen des Zusammenlebens, das künftig wesentlich stärker erforscht und zukunftsgerichtet untersucht werden muss.3 Liegt hier nicht die ebenso vielschichtige wie vielversprechende Aufgabe der Philologie? Denn das poetische Wissen der Literatur lässt sich wohl am besten als eine Wissensform verstehen, die ein Begreifen propagiert, ohne auf den Begriff zu bringen, die darauf spezialisiert ist, nicht auf bestimmte Wissensformen spezialisiert zu sein. Es unterläuft damit Wissensnormen des Wissenschaftlichen, ohne doch dessen Wissensformen auszuschließen. Seine Grundlagen sind polylogisch an der Kopräsenz und mehr noch Konvivenz verschiedenartigster kultureller Filiationen ausgerichtet: Sie zielen auf Inklusion, nicht auf Exklusion. Zu Beginn des neuen Millenniums geht es mehr als jemals zuvor darum, nicht zuletzt mit Hilfe der Übersetzung zwischen den Sprachen, zwischen den Diskursen, zwischen den Kulturen die Bedingungen für eine Konvivenz im weltweiten Maßstab zu erproben und zu schaffen, die es auf der Grundlage von Inklusionsprozessen – und translatorische Vorgänge gehören hier in wesentlicher Weise dazu – erlaubt, in grundlegender Achtung vor kultureller (und damit auch sprachlicher) Differenz zusammenzuleben. In diesem Zusammenhang nicht nur angestrebter, sondern für die Menschheit überlebensnotwendiger Konvivenz im globalen Maßstab steht die Frage nach den Wissensformen und Wissensnormen eines ZusammenLebens, die auf der Annahme einer fundamentalen Übersetzbarkeit der Kulturen beruht. 2
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Johann Wolfgang Goethe, Maximen und Reflexionen, Artemis-Gedenkausgabe, Stuttgart 1948ff., Bd. 9, S. 614. In eine derartige Zielsetzung schreibt sich die gesamte und nunmehr abgeschlossen vorliegende Trilogie ÜberLebensWissen ein; vgl. Ottmar Ette, ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin 2004; ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz. Berlin 2005; ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab, Berlin 2010.
Vorwort
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Die Literaturen der Welt stellen mit ihrem über Jahrtausende quer durch die unterschiedlichsten Kulturen fortgeschriebenen ZusammenLebensWissen folglich den idealen Erprobungs- und Experimentierraum für jene Lebensformen und Lebensnormen der Konvivenz dar, der in der Übersetzung des Imaginierbaren ins Denkbare, des Denkbaren ins Schreibbare, des Schreibbaren ins Publizierbare sowie des Lesbaren ins Lebbare und Erlebbare ein prospektives Wissen für die Zukunft zur Verfügung stellt. Es liegt an uns, die Kraft dieses Lebenswissens der Literatur(en) ins Künftige zu wenden und für ein Erkennen jener Wissensformen und Wissensnormen fruchtbar zu machen, die unser ZusammenLeben auch in Zukunft wesentlich bestimmen. Das Symposion bildete den Abschluss der überaus arbeitsintensiven und glücklichen Monate, die ich als External Senior Research Fellow des FRIAS an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg verbringen durfte. Mein großer Dank gilt dem wunderbaren Team von und um Werner Frick, Andreas Gelz und den Freiburger Kolleginnen und Kollegen, Anne Kraume, Gesine Müller, Bastian Hoffmann – und nicht zuletzt meiner Tochter Judith Thamar, deren Studium für mich zum Punctum wurde. Das Erscheinen dieses Bandes begleiten die Hoffnung und die Freude auf eine weitere Intensivierung der Debatte. Ottmar Ette
Freiburg und Potsdam im Juli 2011
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Vorwort
Vorwort
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Inhaltsverzeichnis
Ottmar Ette (Potsdam) Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Wolfgang Asholt (Osnabrück) Von der Philosophie zur Philologie des Über-Lebens. Die Literatur und das Leben des Geistes bei Ernst Robert Curtius . . . . . . . .
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Vittoria Borsò (Düsseldorf) Jenseits der Vernunft des Dritten oder ZusammenLeben als affirmative Lebenspolitik. Überlegungen zu einer Theorie des Zusammenlebens aus Sicht von Literatur und Kunst . . . . .
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Vera Nünning (Heidelberg) Literatur – Erzählen – ZusammenLeben . . . . . . . . . . . . . .
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Claude Coste (Grenoble) Roland Barthes und das Zusammenleben . . . . . . . . . . . . . .
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Richard Eldridge (Swarthmore College) Aus Lyrik über Leben lernen: Literatur, Ethik und Emotion . . . .
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Andreas Gelz (Freiburg) Convivencia – ZusammenLebensWissen als Utopie spanischer Geschichtsschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Sina Rauschenbach (Konstanz) Kulturvermittler ›in die falsche Richtung‹ – Anregungen aus der jüdischen Geschichte am Beispiel Menasse ben Israels und der christlichen Gelehrten des 17. Jahrhunderts . . 103 Hermann Herlinghaus (Pittsburgh) Pharmakon und pharmakos – Annäherung an ein literarisches Feld epistemischer Grenzerweiterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 Judith Kasper (Potsdam/München) Idyllen: Von Blanchot und Kofman zu Loridan-Ivens und Kertész
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X
Inhaltsverzeichnis
Cécile Wajsbrot (Paris) Die Bücher kommen aus anderen Büchern zur Welt . . . . . . . . 154 Joseph Jurt (Basel) Vom Zusammenleben junger Migranten in der Schweiz . . . . . . 163 Yvette Sánchez (St. Gallen) Formen der Symbiose in Literatur und Kunst der US Latinos . . . 173 Gesine Müller (Potsdam) »Nunca se llega a ser caribeño del todo.« ZusammenLebensWissen in transkolonialer Dimension. Oder: karibische Literaturen im 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . 192 Sergio Ugalde Quintana (México-Stadt) Barock, afrokubanische Kultur und Zusammenlebenswissen bei José Lezama Lima . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Ana Pizarro (Santiago de Chile) Kulturen und Kulturen: eine amazonische Erfahrung . . . . . . . 220 Winfried Gerling (Potsdam) upload | share | keep in touch. Fotografen in Gemeinschaften . . 235 Ottmar Ette (Potsdam) ZusammenLebensWissen und Gewalt. Literarische Transformationen der Gewalt am Beispiel der Literaturen Hispanoamerikas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Zu den Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283
Von der Philosophie zur Philologie des Über-Lebens
1
Wolfgang Asholt (Osnabrück)
Von der Philosophie zur Philologie des Über-Lebens Die Literatur und das Leben des Geistes bei Ernst Robert Curtius
Ernst Robert Curtius gehört, wie wir aus berufenem Munde wissen, zu den großen Romanisten des vergangenen Jahrhunderts,1 und dies gilt nicht nur für den deutschen, sondern auch und gerade für den nicht-deutschen Sprachraum. Freilich gründet sich dieser internationale Ruhm vor allem auf das in den Jahren 1936 bis 1947 entstandene, in zahlreiche Sprachen übersetzte Buch Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948), ein opus magnum, das mit seiner Topos-Lehre und der Hinwendung zur mittelalterlichen Literatur zwar auch eine Reaktion auf den an deutschen Universitäten mehr und mehr dominierenden Nationalsozialismus gewesen ist,2 aber zugleich eine Abkehr von seinen »Arbeiten über das moderne Frankreich«3 und damit eine deutliche Distanz zum Leben seiner Zeit bedeutete. Curtius hatte zwar mit einer mittelalterlichen Dissertation promoviert,4 sich dann aber für zwei Jahrzehnte dem gegenwärtigen oder, um es mit seinen Worten zu sagen, »neuen« Frankreich zugewandt, wie zunächst die unter dem Arbeitstitel Ferdinand Brunetière als Kritiker und Historiker der französischen Literatur entstandene Bonner Habilitationsschrift des Jahres 1913 illustriert.5 Nach ihr erscheinen in rascher Folge die von 1910 ab konzipierten Literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich (Potsdam: Kiepenheuer 1919), Maurice Barrès und die geistigen Grundlagen des französischen Nationalismus (Bonn: Cohen 1922), Balzac (Bonn: Cohen 1923; später unter dem Titel Wiederbegegnung mit Balzac), Französischer Geist im neuen Europa (Berlin/Leipzig: DVA 1925), Die französische Kultur. Eine Einführung (Berlin/Leipzig: DVA 1930) und als letztes Werk 1
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5
Hans Ulrich Gumbrecht, Vom Leben und Sterben der großen Romanisten, München 2002. Siehe Frank-Rutger Hausmann, ›Vom Strudel der Ereignisse verschlungen‹. Deutsche Romanistik im ›Dritten Reich‹, Frankfurt a. M. 2000. So Heinrich Lausberg, Ernst Robert Curtius (1886–1956), Stuttgart 1993, S. 94. E. R. Curtius, Li Quatre Livre des Reis nach der ältesten Handschrift kritisch herausgegeben, Halle 1911. E. R. Curtius, Ferdinand Brunetière. Beitrag zur Geschichte der französischen Kritik, Straßburg 1914.
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in diesem Zusammenhang die höchst problematische Streitschrift Deutscher Geist in Gefahr (Stuttgart: DVA 1932). Schon diese Titel lassen erkennen, dass es Curtius sowohl um die »geistigen Grundlagen« wie um das zu seiner Zeit »Neue« geht, und was er darunter versteht, erläutert er während der Arbeit an den Literarischen Wegbereitern in einem Brief an Friedrich Gundolf folgendermaßen: »Es ist die erste Arbeit von mir, die ein selbständiges bewältigen eines neuen lebens- (und nicht nur gedanken- oder geschichts-) stoffes ist, die erste, wo ich hoffe, nicht hinter meinen Fähigkeiten zurückgeblieben zu sein.«6 Wenn Curtius in diesem literaturwissenschaftlichen Werk weniger einen »gedanken- oder geschichts-«, sondern vielmehr einen »neuen lebens-[stoff]« bewältigen will und wenn er dem hochgelobten Jean Christophe von Romain Rolland attestiert: »Das Wissen vom Leben in seiner unmittelbaren Bewegtheit ist das Grunderlebnis von Rolland […] ist die Botschaft, die er bringen will«,7 so liegt ihm offensichtlich am Lebenswissen der Literarischen Wegbereiter und an seiner Verarbeitung und Beeinflussung der Lebenswirklichkeit mehr als an ihrer literarhistorischen oder philosophischen Einordnung und Erklärung.8 Eine solche Hinwendung zum Leben erklärt sich bei Curtius einerseits aus dem manteumatischen Erlebnis einer Begegnung mit dem Meister selbst, auch wenn er später auf Distanz zu Stefan George und dieser zu ihm gehen wird, andererseits aber aus dem zeitgenössischen Kontext, sowohl in philosophischer wie in literaturwissenschaftlicher Hinsicht, und diese Perspektive weist einige Parallelen, aber auch gravierende Unterschiede gegenüber unserer heutigen Situation, 100 Jahre später, auf. Während der Bibliotheks- und Archivarbeiten an seiner Dissertation im Jahre 1909 hatte Curtius die Vorlesungen Henri Bergsons am Collège de France gehört, und in der Wertschätzung des Autors der Evolution créatrice weiß er sich mit Gundolf einig. Zugleich aber war mit Karl Vosslers Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft seit 1904 eine Auseinandersetzung um die sogenannte idealistische Philologie ausgebrochen. Curtius beansprucht zwar in dem genannten Brief an Gundolf, dass »das was ich über diese Dinge zu sagen habe, doch besser ist als was Herr Vossler […] darüber sagen würde«, trotzdem steht er, was die »Dinge« angeht, die für wichtig gehalten werden, der Vossler’schen Richtung näher als dem von ihr bekämpf6 7
8
Zitiert nach Lausberg, Curtius, S. 67. Ernst Robert Curtius: Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich, Potsdam 1923, S. 99. Curtius entspricht damit einer epochalen Atmosphäre; s. Kai Buchholz u. a. (Hrsg.), Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900, 2 Bde., Darmstadt 2001.
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ten Positivismus. Vossler hatte in seiner streitbaren Programmschrift im Gegensatz zur positivistischen Sprachwissenschaft beansprucht, »den Geist als die alleinig wirkende Ursache sämtlicher Sprachformen zu erweisen«, und gefordert, »das Leben der Sprache« zu betrachten.9 Auf Literatur und Literaturwissenschaft übertragen konstatiert er im ersten Jahrgang des Jahrbuchs für Philologie, das im dritten Jahrgang dann als Idealistische Philologie erscheinen wird: »Kann und darf der echte Dichter überhaupt etwas anderes ausdrücken und darstellen als immer nur seine Art die Welt zu sehen, das Leben zu fühlen, die Wirklichkeit zu erfahren?«10 Die Debatte um die »idealistische Philologie« wird (in Curtius’ und Vosslers Abwesenheit) auf dem Neuphilologentag in Halle im Herbst 1920 ausgesprochen kontrovers geführt. Im letzten Kapitel von Geist und Kultur in der Sprache, »Sprache und Dichtung«, formuliert Vossler so etwas wie das Resümee einer »idealistischen Literaturwissenschaft«11: Die als Dichtung erscheinende Sprache ist individuell und universal, national und allgemein menschlich, formal und sachlich […] erlebt und gestaltet […] offen für die unendliche und romantische Mannigfaltigkeit und Zerrissenheit des Lebens und geschlossen zugleich in der Eigengesetzlichkeit ihres intuitiven klassischen Gestaltungswillens,12
kurz: die als Dichtung erscheinende Sprache ist das Leben selbst. Wenn Vossler zudem im Kapitel »Sprache und Leben« fordert, zu erkennen, »wie innig Kunst und Leben, Sprache und Leben miteinander verflochten sind«, und demzufolge feststellen kann: »Anders als mit gläubigen Künstleraugen kann man Lebensvorgänge, welcher Art sie sein mögen, überhaupt nicht sehen«,13 wird zumindest implizit deutlich, dass sich mit der idealistischen Philologie auch die Konzeption eines spezifischen Lebenswissens der Literatur verbindet. Es ist natürlich kein Zufall, wenn Vossler sich in diesem Zusammenhang auf Bergson beruft. Auch wenn Vossler anschließend auf seinen Freund Benedetto Croce verweist, um den Schöpfer des »élan vital« als zu intellektualistisch zu kritisieren, so manifestiert sich noch in dieser Kritik die Wirkungsmächtigkeit des Bergson’schen Impulses. 9
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Karl Vossler, Positivismus und Idealismus in der Sprachwissenschaft. Eine sprachlich-philosophische Untersuchung, Heidelberg 1904, S. 63 und 80. Karl Vossler, »Die Nationalsprachen als Stile«, in: Jahrbuch für Philologie, 1/1925, S. 7. S.a. Viktor [sic] Klemperer, »Positivismus und Idealismus des Literaturhistorikers«, in: Jahrbuch für Philologie, 1/1925, S. 245–268. Im Untertitel deklariert Klemperer seinen Aufsatz als einen »Offenen Brief an Karl Vossler«, (ebd., S. 245). Karl Vossler, Geist und Kultur in der Sprache, Heidelberg 1925, S. 260. Ebd., S. 112.
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Wolfgang Asholt
Welche Auswirkungen die Bergson’sche Philosophie auf Literatur und Literaturwissenschaft der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts gehabt hat, lässt sich kaum überschätzen. Ich will erst gar nicht versuchen, die allgemeine Bedeutung Bergsons für die französische Literatur und seiner komplizierten Rezeption durch die französische Literaturwissenschaft zu analysieren, da das den Rahmen dieses Beitrags sprengen müsste. Stattdessen will ich am Beispiel eines jüngeren Romanisten der damaligen Zeit kurz die deutsche Rezeption skizzieren. Wenn Victor Klemperer in seiner 1930 erschienenen Geschichte der Französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert die ersten 50 Seiten des zweiten, also dem 20. Jahrhundert gewidmeten Teils als »Einführung« »Bergson als Trägergestalt« widmet,14 so illustriert dies deutlich Stellung und Einfluss des Autors der Évolution créatrice. Für Klemperer lässt sich die Bedeutung Bergsons als des eigentlichen und einzigen Überwinders des Positivismus »auch mit Sicherheit aus der gesamten französischen Literatur herauslesen«. Wenn Klemperer der Évolution créatrice attestiert, erstmals gezeigt zu haben, »wie sich, unentstellt vom anmaßlichen und fälschenden Verstande, das wirkliche Leben ausnimmt«, und damit darauf hinweist, dass Bergson den Einfluss von Freud und den Surrealismus vorbereitet, und wenn er diese Funktion des Lebens als eine »mythische Gottheit« qualifiziert,15 so zeigt noch die Stillage, dass Bergsons Einfluss kaum hoch genug einzuschätzen ist. Die Zentralsetzung des »Élan vital« als »Lebensschwung« beruht darauf, dass der menschliche Verstand nicht in der Lage ist, die Essenz des Lebens in seiner Dauer zu erfassen, dies vermag allein die Intuition. Indem Bergson damit auch jede Teleologie ablehnt, trägt er der Komplexitätssteigerung des Lebens Rechnung. Die Intuition wird dank der Kreativität operationalisiert, und zugleich kann dank der Intuition der Verstand gegen sich selbst gewendet werden und das Leben in seiner Gesamtheit erfassen. Wenn die Kunst einen privilegierten Bereich der Kreativität darstellt, fragt sich Bergson zu Recht, »si, en un certain sens, l’art ne précéderait pas la nature«.16 Bergson wird mit solchen Vorstellungen für die ersten Jahrzehnte zu der ›Trägergestalt‹, von der Klemperer spricht. Mit seinem ›Lebensschwung‹ rechtfertigt sich die Präsenz des Lebens, seiner Vielfalt und seiner Komplexität in der Literatur dieser Zeit, und die Literaturwissenschaft trägt dem mit guten Gründen Rechnung. Eben dieser Bergson ist vor einiger Zeit von Gil14
15 16
Victor Klemperer, Geschichte der Französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, Bd. 2, Berlin 1956, S. 3–53. In diesem Band überschreibt Klemperer ein Riou, Charles-Louis Philippe, Rolland, Duhamel und Vitrac behandelndes Kapitel mit »Élan vital«. Ebd., S. 14. L’Évolution créatrice, zitiert nach Klemperer, Geschichte, S. 21.
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les Deleuze ›wiederentdeckt‹ worden, der die Mannigfaltigkeit und die Prozesshaftigkeit der Intuition als eine Alternative zur Phänomenologie betrachtet.17 Hans Ulrich Gumbrecht attestiert Ernst Robert Curtius ein »unhistorisches Verhältnis zur Geschichte«, räumt aber ein, dass dies vor allem für den von uns inzwischen fast ausschließlich wahrgenommenen Curtius der ELLMA gilt, und führt aus: »Wir müssen also gegen Ende der zwanziger Jahre einen Wandel in Curtius’ Denken vermuten, der allerdings kaum den Stellenwert einer ›Richtungsänderung‹ hatte.«18 Ich will mich im Folgenden mit dem Curtius vor diesem Wandel, und insbesondere jenem der Literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich befassen, ohne damit von vornherein behaupten zu wollen, dass dort ein »historisches Interesse an der Geschichte« dominiert. Vielmehr ist dort ein Lebensbegriff omnipräsent, der vielleicht die Voraussetzung für den späteren Wandel darstellt. Denn selbst im Einleitungskapitel der ELLMA spricht Curtius unter Bezug auf Bergson noch davon, dass »die fiktionsbildende Funktion (fonction fabulatrice) dem Leben nötig gewesen ist«.19 Schon die ersten Sätze der »Einleitung« der Wegbereiter sind für Bedeutung und Funktion des Lebensbegriffs bei Curtius symptomatisch: »Das Leben des Geistes verläuft in der Spannung zwischen schöpferischen und verarbeitenden Epochen. In jenen erzeugt er sich neuen Gehalt, in diesen macht er den neuen Gehalt für alle Lebensgebiete fruchtbar.«20 Die Epoche der literarischen Wegbereiter betrachtet Curtius als eine »schöpferischer Geisteserneuerung«, das heißt nach der longue durée des 19. Jahrhunderts, mit der »Auflösung aller Lebensgebilde, Grenzen und Formen«21 durch die Roman17
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Zu erwähnen wären in diesem Zusammenhang die Bergson-Studien von Vladimir Jankélevitch, Henri Bergson, Paris 1959, Leszek Kolakowski, Henri Bergson, ein Dichterphilosoph, München 1985 und Georges Poulet, De Bergson à nos jours, Paris 1990. Gumbrecht, Romanisten, S. 56. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, Bern 1954, S. 18. Curtius, Wegbereiter, S. 5. Ich zitiere im Folgenden unter Angabe der Seitenzahl nach dieser Ausgabe. Erstaunlicherweise fand Joachim Küpper vor kurzem zu diesem Curtius zurück, wenn er in einem ›Kulturwissenschaft‹ überschriebenen Aufsatz, mit dem er den Innovationsanspruch kulturwissenschaftlicher Theoriebildung infrage stellen möchte, auf Curtius als denjenigen referiert, »der unsere gesamte Kulturhistorie als Alternanz von klassischen und manieristischen Phasen sieht«, um zum Schluss zu bilanzieren: »Die Wahrheiten kommen, gehen und re-emergieren in umbesetzter Form.« Joachim Küpper: »Kulturwissenschaft«, in: Poetica 41/2009, S. 5 und 9. Ebd., S. 7.
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tik und der »Preisgabe des Lebens«22 durch Autoren wie Flaubert, ist im Sinne des zyklischen Auf-und-Ab zu Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wieder eine Phase der kreativen Erneuerung gekommen, wobei sich die Grenzen des Curtius’schen Modells allerdings darin zeigen, dass er davon überzeugt ist, dass »die innersten Lebensvorgänge des Volksgeistes ihr Gesetz nur von sich selbst empfangen«.23 In dieser Situation eines selbst-schöpferischen und damit selbst Leben schöpfenden Geistes können dann die »Lebensbücher« geschrieben werden, als die er die Werke seiner »Wegbereiter« Romain Rolland, Paul Claudel, André Gide und Charles Péguy bewertet.24 Er bezeichnet sie als eine »aus dem Leben gewachsene und auf das Leben bezogene Kunst«,25 deren Werke den Vorzug aufwiesen, »irgendwie die Beziehung zum Ganzen der Wirklichkeit zu haben: weil sie aus dem ursprünglichen ungeteilten Leben kommen«.26 Diese »Lebens-Kunst« bedarf jedoch des Wissens, sie stellt einen Lern-Prozess dar: »Man mußte zum Wissen durchdringen«, so stellt Curtius die Voraussetzung des neuen Frankreich dar, »nicht um sich zu rächen oder zu strafen, sondern um die Klarheit wiederherzustellen.« Natürlich schwingen hier Stereotype der französischen Literatur mit, und davon abgesehen, dass es mehr als problematisch ist, ob und vor allem wie die innersten Lebensvorgänge des Volksgeistes ihr Gesetz nur von sich selbst empfangen, stellt sich die Frage, wie die Werke zugleich aus dem ursprünglichen ungeteilten Leben kommen und zugleich ihr Gesetz nur von sich selbst empfangen können. Es sei denn, man setzt dieses (welches?) für ursprünglich und ungeteilt gehaltene Leben mit dem Volksgeist gleich, was eine der gefährlichen Essentialisierungen der idealistischen Philologie darstellt. In durchaus Herder’scher Tradition wird dann die Literatur zum idealen Medium, in dem diese Lebensvorgänge, das, was man Klemperer karikierend als neuen »Lebensaufschwung« bezeichnen kann, sich zu allererst manifestieren: »Zunächst war die junge Literatur das Lebensgebilde, an dem man die Neuorientierung des französischen Geistes ablas.«27 Was an dieser Verbindung von Literatur und Leben im Sinne eines Wissens der Literatur, das zuerst und immer auch ein Lebenswissen repräsen22 23
24 25 26 27
Ebd., S. 9. Ebd., S. 17. So kann Curtius die Dreyfus-Affäre zwar als (äußeren) »Anlaß für die neue geistige Haltung« akzeptieren, lehnt es aber ab, sie als eine »Entstehungsursache der französischen Geisteserneuerung« zu betrachten. Ebd., S. 9. Ebd., S. 18. Ebd., S. 19. Ebd., S. 22. Ebd., S. 23.
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tiert, heute noch faszinieren kann, ist die Selbstverständlichkeit, mit der die Literatur als privilegiertes Medium, als Wegbereiter eines solchen Wissens in Anspruch genommen wird. Freilich war die Situation für Curtius und andere im Vergleich zu unserer 100 Jahre später noch unterkomplex: Mit der Alphabetisierung und den technischen Fortschritten des 19. Jahrhunderts war die Literatur um 1900 erstmals allgemein zugänglich und noch keiner medialen Konkurrenz ausgesetzt. Das lässt die Überzeugung, die Literatur sei der privilegierte Ort des Lebenswissens, leichter und selbstverständlicher vertreten. Und die schon erwähnte, europaweit wirksame Philosophie Henri Bergsons konnte von Curtius mit guten Gründen für seine Konzeption in Anspruch genommen werden. Ebenso identifikatorisch wie Klemperer in seiner Geschichte der Französischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert und vielleicht angesichts seiner Wegbereiter noch näher liegend identifiziert Curtius sich mit dem französischen Philosophen des »Lebensschwungs«: »In Wirklichkeit ist sie [Bergsons Philosophie] eine […] Philosophie des Lebens, die jenseits der alten Antithesen von Sein und Werden steht, und die ihre Ergänzung nur in einer Philosophie des Über-Lebens und des Absoluten haben kann.«28 Wenn Curtius eine ausführliche Darstellung dieser Philosophie des Überlebens ans Ende seiner »Einleitung« stellt und wenn er diese Präsentation mit einem langen, unkommentierten und enthusiastischen Péguy-Zitat, also einem Zitat eines seiner literarischen Wegbereiter, enden lässt, so macht er sie sich zu eigen und geht von einer Homologiestruktur zwischen dieser Philosophie und der Literatur seiner Wegbereiter aus. Die Werke von Rolland, Claudel, Gide und Péguy sind für die Literatur das, was bei Bergson eine »Philosophie des Lebens« genannt wird, und die Philologie, die sich damit auseinandersetzt und den »Lebensschwung«29 der Literatur ihrer Epoche erkennt, kann im Curtius’schen Sinne als eine »Philologie des Über-Lebens« bezeichnet werden. Hans Manfred Bock hat neben dem Einfluss des George-Kreises und jenem der Philosophie Bergsons »das Bewusstsein, einer neuen, in den letzten Vorkriegsjahren beiderseits des Rheins von einem gemeinsamen ›Lebensgefühl‹ getragenen Generation anzugehören«,30 als entscheidende Grundlage der Wegbereiter bezeichnet. Dieses Lebensgefühl ist natürlich auch bio28 29 30
Ebd., S. 34. Ebd., S. 39. Hans Manfred Bock, »Die Politik des ›Unpolitischen‹. Zu Ernst Robert Curtius’ Ort im politisch intellektuellen Leben und in den deutsch-französischen Beziehungen der Weimarer Republik«, in: Ders. (Hrsg.), Kulturelle Wegbereiter politischer Konfliktlösung. Mittler zwischen Deutschland und Frankreich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Tübingen 2005, S. 68.
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graphisch-generationell und kultur-räumlich geprägt, und im Falle von Curtius spielen die erwähnten Einflüsse des George-Kreises, aber auch das deutsch-romantische Denken von Adam Müller und die jugendbewegten Schriften von Hans Blüher,31 die er während des Krieges mit identifizierender Begeisterung liest,32 eine wichtige und durchaus problematische Rolle, die den Deutschen Geist in Gefahr schon vorbereitet. Für die Wegbereiter entscheidend ist jedoch, dass die Literatur als der privilegierte Wegbereiter des Lebensgefühls einer ganzen Generation betrachtet wird und dass die literarischen Werke eines André Gide oder Romain Rolland auf ihren Beitrag zu einer sich ändernden Einstellung dem Leben gegenüber und in Hinblick auf ihr je spezifisches Lebenswissen hin analysiert werden. Insofern teilt Curtius zumindest eine der Thesen der Programmschrift, nämlich die eines besonderen Wissens der Literatur um das Leben, dem sich die Literaturwissenschaft zu öffnen habe. Nun wissen wir nicht erst seit der um die Programmschrift geführten Debatte, wie problematisch die Geschichte von Begriffen sein kann. Es ist also angebracht, auf die nicht nur begriffsgeschichtlichen Verirrungen im Zusammenhang mit einer philologischen Lebenswissenschaft hinzuweisen (und Gleiches gilt für Lebensphilosophie, Willensphilosophie, Vitalismus usw.), wie dies die drei Germanisten, die an dieser Debatte teilgenommen haben (Wolfgang Adam, Klaus Michael Bogdal, Toni Tholen), tun, denen aber auch nicht unbekannt ist, dass es eine Vor-NS-Begriffsgeschichte der Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts gegeben hat. Was diesen Hinweis auf die faschistische Instrumentalisierung jedoch zumindest teilweise als der Fach- oder Allgemeingeschichte geschuldete Pflichtübung erscheinen lässt, ist, dass niemand daran Anstoß zu nehmen scheint, dass größere Bereiche der Naturwissenschaften, die im deutschen Kontext als Nicht-Lebenswissenschaften während der NS-Zeit wirksamer gewesen und wohl auch (siehe Nürnberger Pro31
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In den »Deutsch-französischen Kulturproblemen« (zuerst in: Der neue Merkur, 5/1921) verweist Curtius auf »[d]ie organische Art, das geistige Europa zu denken. Es ist die deutsche Art: die Goethes, Adam Müllers, Rankes«. Curtius, Wegbereiter, S. 319. Dabei bezieht er sich, wie ein Brief an Carl Heinrich Becker vom 5. Juni 1918 nahelegt, wohl ebenso auf Blühers Auffassung von der Erotik in der männlichen Gesellschaft (1917) wie auf dessen im gleichen Jahr erschienenes Werk Führer und Volk in der Jugendbewegung. Curtius lobt den »Atem der Jugend […], aus dem […] das heroische Leben geboren wird«, um zu resümieren: »Es ist schön, dass Blüher alle liberalen und fortschrittlichen Ideen verpönt.« (Ich danke Hans Manfred Bock, mir eine Kopie dieses Briefes zur Verfügung gestellt zu haben.)
Von der Philosophie zur Philologie des Über-Lebens
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zesse) größere Schuld auf sich geladen haben als die Philologien, und seien es jene des »Kriegseinsatzes der Deutschen Geisteswissenschaften«, den unser Freiburger Kollege Frank-Rutger Hausmann vorbildlich dokumentiert hat,33 einen absolut unproblematischen Umgang mit der Selbstbezeichnung als Life Science oder Lebenswissenschaft pflegen. Natürlich ehrt uns die begriffsgeschichtliche Selbstkritik, doch der Hinweis auf Frank-Rutger Hausmann illustriert, dass dies weniger eine begriffsgeschichtliche als vielmehr eine fachgeschichtliche Problematik ist, die es verdient hätte, einen integralen Bestandteil des Lebenswissens jeder geisteswissenschaftlichen Disziplin zu bilden. Wir wissen auch, dass die »politisierende lebenswissenschaftliche Wende« nach 1933 in der Zeit nach 1945 eine Wende zur Lebens-, Geschichts- und Gesellschaftsabstinenz der Literaturwissenschaften zur Folge gehabt hat,34 die erst durch Archäologien des Wissens oder eine bessere Kenntnis der je historischen literarischen Felder überwunden werden konnte. Doch auch in den Archäologien des Wissens stehen die jeweiligen Epistemologien und ihre Wechsel im Zentrum, wobei wir uns auch dem Risiko aussetzen sollten, nicht nur archäologische Diskursanalysen zu praktizieren, sondern uns auf unsere Gegenwart einzulassen. Dieses Risiko ist Ernst Robert Curtius eingegangen, und dies hat ihn in den zwanziger Jahren nicht nur berühmt gemacht, sondern ihm auch erbitterte Gegnerschaft eingebracht, auch und gerade von Vossler und seinen Schülern.35 Wenn Viktor Klemperer in einem programmatischen Aufsatz 1925 als »idealistische Literaturgeschichte« das betrachtet, was »die Geschichte des sprachlich gestalteten nationalen Ideals bezeichnet, die Geschichte dessen, was ein Volk seinem inneren Erleben oder Ersehnen nach ist«,36 oder wenn Karl Vossler im gleichen Jahr postuliert, »dass es für die literaturwissenschaftliche Betrachtung nichts Höheres noch Tieferes geben 33
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Frank-Rutger Hausmann »Deutsche Geisteswissenschaft« im Zweiten Weltkrieg. Die »Aktion Ritterbusch« (1940–1945), Heidelberg 2007. Klaus Michael Bogdal, »Das Biologische und das Historische«, in: Wolfgang Asholt/Ottmar Ette (Hrsg.), Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft, Tübingen 2010, S. 86. Eugen Lerch wirft Curtius u. a. eine fehlende historische Kontextualisierung vor (E. Lerch, »Rezension E.R. Curtius, Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich«, in: Literaturblatt für germanische und romanische Philologie, 3,4/1920, S. 113–120), und Viktor Klemperer spricht vom »Fehlen literarhistorischer Verknüpfung« (V. Klemperer, »Rezension E.R. Curtius, Die literarischen Wegbereiter des neuen Frankreich«, in: Archiv, 73/1919, S. 257). Viktor Klemperer, »Positivismus und Idealismus des Literaturhistorikers«, in: Jahrbuch für Philologie, 1/1925, S. 267.
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kann, als eben das Dichterische«,37 dann lässt dies ahnen, wie umstritten Curtius’ von ihm nie so genannte Philologie des Überlebens in den Literarischen Wegbereitern des neuen Frankreich gewesen sein mag. Wir wissen inzwischen auch, wohin der Curtius’sche Lebensbegriff führen kann und wohin er ihn im auf die Wegbereiter folgenden Jahrzehnt geführt hat. Curtius präzisiert seine wegbereitenden Autoren im »Vorwort« zur ersten Ausgabe der Wegbereiter als »eine Auslese dessen, was auf dem Boden des zeitgenössischen französischen Schrifttums einer gemeinsamen neuen Geisteswelt Europas zuwächst«,38 und in den auf 1921 datierten und der zweiten und dritten Auflage hinzugefügten »Deutsch-französischen Kulturproblemen« hofft er nach Kriegs- und Nachkriegserfahrung, dass Frankreich »die Schranken […] der nationalistischen Selbstverengung zu durchbrechen vermag, um ein geistiges Lebenswort in das abgerissene europäische Gespräch hineinzutragen«.39 So sehr Curtius die Geisteswelt Europas als Adressat der Lebensworte der zeitgenössischen französischen Literatur proklamiert, so wenig lässt sich freilich verkennen, dass es sich um, wenn schon kein deutsches Europa, so doch um ein Europa aus einer sehr deutschen Perspektive handelt. Das »neue Lebensgefühl«, das Curtius in wichtigen Teilen der französischen Gegenwartsliteratur zu finden glaubte, galt als ein Leben und ein Lebenswissen, das sich deutschem »Lebensschwung« anzunähern schien. Diese Anpassungs- oder Homologieerwartung ist schon als solche problematisch, da sie im Fremden vor allem das Eigene wieder zu entdecken sucht, und, wie man sieht, damit aufs Höchste enttäuscht werden kann. Sie ist aber auch insofern gefährlich, als es sich zuvörderst und fast ausschließlich um eine »[selbst-]schöpferische Geisteserneuerung« handelt, bei der die »innersten Lebensvorgänge des Volksgeistes ihr Gesetz nur von sich selbst empfangen«. Indem also die Hoffnung erweckt und bestätigt wird, der französische Volksgeist erneuere sich selbstschöpferisch im Sinne eines Wandels durch Annäherung, wird der Lebensbegriff in gewisser Weise renationalisiert. Und im Deutschen Geist in Gefahr, das heißt in einer Situation, die 1932 als noch gefährlicher und verzweifelter als jene der unmittelbaren Nachkriegszeit empfunden wird, lässt Curtius erkennen, mit welchen Gefahren eine solche Lebensorientierung verbunden sein kann.40 Der »Humanismus als Initiative«, den er den Deutschen anempfiehlt, ist für ihn nun die »Selbstbegegnung des modernen Geistes mit einem Leben, das in dunkler Tiefe des 37 38 39 40
Vossler, Geist, S. 259. Curtius, Wegbereiter, S. 1. Ebd., S. 313. Zu Curtius in den 1920er Jahren: Hans Manfred Bock, Politik, S. 61–122.
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Blutes schlief und sich nun seines Ursprunges versichert«.41 Wir wissen, wohin diese Lebensauffassung geführt hat, und Curtius setzt sich dieser Gefahr auch deshalb aus, weil sein Humanismus sich offen als ein Elitismus proklamiert.42 Doch noch hier erwartet er die humanistische »Erneuerung« »aus stärkster Verdichtung und Intensität des Lebens«43. Man könnte jetzt das Hölderlin-Motto zitieren, das Curtius seinem Essay des Jahres 1932 voranstellt, »Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch.«, doch die Gefahren, die mit dem Curtius’schen Lebensbegriff verbunden sind, sollten nicht vergessen machen, dass die Bedeutung des Lebens für die Literatur durch die Priorisierung des Geistes zwar relativiert wird, dieser Lebensbegriff hier jedoch deutlich als eine zentrale literaturwissenschaftliche Perspektive entwickelt wird, wie die den genannten Autoren gewidmeten Einzelanalysen illustrieren. Damit entsteht bei Curtius einerseits so etwas wie der Vor-Schein einer Philologie des Lebens und des Über-Lebens, und andererseits lehrt uns sein Beispiel, dass dieses Lebenswissen nicht einer Elite vorbehalten sein darf, sondern eine Erfahrung bildet, die jedem Lesenden zur Verfügung steht. Für die Diskussion um Literaturwissenschaft als Lebens- oder ÜberLebenswissenschaft bildet Curtius also eine wichtige, wenn auch in mehrfacher Hinsicht problematische Referenz. Die kritische Bewertung seines von Bergson geprägten Vitalismus wird uns davor bewahren, in der Literatur vor allem das geistige, sich selbst empfangende, begegnende und reproduzierende, also autoreferentielle literarische Leben zu berücksichtigen. Natürlich hat Hans Ulrich Gumbrecht Recht, wenn er in der Diskussion um Ottmar Ettes Programmschrift darauf hinweist, dass auch Theologie oder Philosophie und warum nicht auch die Rechts- oder Geschichtswissenschaften über Wissensbestände verfügen, die nicht nur diskursarchäologisch von Belang sein sollten. Doch die Literatur verfügt mit dem Fiktiven und dem Imaginären über »Verfahren« (der formalistische Begriff ist ein Understatement, denn es handelt sich in hohem Maße um notwendige Bedingungen), die jenseits des empirischen und des metaphysischen ein besonderes, anderen Disziplinen nicht zur Verfügung stehendes Wissenspotential entwickeln und zur Verfügung stellen. Dieses spezifische Wissen der Literatur konnte 41
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E. R. Curtius: Deutscher Geist in Gefahr, Stuttgart/Berlin 1932, S. 107. Curtius fordert für seinen Humanismus das »aristokratische Prinzip der Auslese«: »Auch der Humanismus würde gut tun, nicht zu werben, sondern sich umwerben zu lassen. Er muß sich verdichten, anstatt sich zu verbreiten.« (Ebd., S. 129). Mit diesem humanistischen Elitismus markiert er auch eine gewisse Differenz zum Nationalsozialismus. Siehe seinen Abschnitt: »Masse und Elite«, Ebd., S. 73–78. Ebd., S. 115.
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oder wollte Curtius mit seiner unmittelbaren Rückbindung des literarischen Lebenswissens an das Leben des Geistes nicht berücksichtigen. Christoph Menke hat in seinen »kurzen Bemerkungen« zur Programmschrift darauf hingewiesen, dass die Literatur darin »radikal« sei, dass »sie nicht zur Zirkulation des Lebenswissens beiträgt, sondern sie unterbricht oder aussetzt«.44 Dies repräsentiert mit dem Beharren auf einer radikalen ästhetischen Autonomie die Gegenposition zum Curtius’schen »Über-Lebenswissen« der Philologie und ist ihm zugleich doch relativ nahe. Wenn Curtius dieses Lebenswissen als eine Selbstschöpfung und Selbstfindung des Geistes bestimmt, reklamiert er damit wie Menke, dass »Leben und Wissen niemals einander entsprechen«, freilich mit dem Unterschied, dass der Bonner Romanist beide mittels einer »schöpferischen Geisteserneuerung« wieder zusammenführen will. Vielleicht verstehen wir die Aussetzung der »Zirkulation des Lebenswissens« erst dann richtig, wenn wir davon ausgehen, dass eben diese von der Literatur vollzogene und markierte Aussetzung ihrerseits wieder zu einem Teil des Lebenswissens werden kann und muss; ein solches, durch den »degré zéro de la littérature« gegangenes und von ihm her entwickeltes Lebenswissen steht allerdings nur der Literatur zur Verfügung. Dies ist dann nicht mehr eine Literatur, »die das Leben des Gedankens für das wirklichste gehalten und es jedem anderen vorgezogen ha[t]«,45 wie Curtius André Gide zustimmend zitiert, sondern eine solche, die die damit etablierte Unterbrechung für das Leben instrumentalisiert, und Ansätze zu einer solchen Perspektive lassen sich schon bei Curtius erkennen. Eine Literaturwissenschaft, die von einer solchen Literaturkonzeption ausgeht, könnte erneut, wenn auch nicht mehr national oder nationalistisch perspektiviert, die Frage nach dem ›Sinn des Lebens‹ stellen, also eine ›Überlebenswissenschaft‹ werden, der es nicht mehr oder vor allem um das nationale Überleben geht. Bei Curtius lassen sich in den Analyseteilen, die seinen Autoren (Romain Rolland, Paul Claudel, André Gide, Charles Péguy) gewidmet werden, nicht wenige Vorzeichen einer solchen Lebenswissenschaft finden. Literar-, fach- und allgemein historisch betrachtet, wäre es allerdings anachronistisch, von Curtius gerade in den Literarischen Wegbereitern des neuen Frankreich eine Überwindung der nationalen Perspektive zu erwarten, und die Tragik besteht darin, dass er trotz der von ihm in den 1920er Jahren betonten europäischen Perspektive mit dem Deutschen Geist in Gefahr diesen 44
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Christoph Menke:,»Jenseits von Geistes- und Biowissenschaften. Vier kurze Bemerkungen zu Ottmar Ette: ›Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft‹«, in: Asholt/Ette, Lebenswissenschaft, S. 44. Curtius, Wegbereiter, S. 47.
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Nationalismus exklusiver denn je proklamiert. Zumindest ansatz- und zeitweise ist Curtius aber dem gerecht geworden, was Nietzsche, den Ottmar Ette zu Beginn seiner Programmschrift zitiert, fast 50 Jahre zuvor postuliert hatte: »Das heißt, wir brauchen sie [die Historie] zum Leben und zur Tat, nicht zur bequemen Abkehr vom Leben und von der Tat, oder gar zur Beschönigung des selbstsüchtigen Lebens und der feigen und schlechten Tat. Nur soweit die Historie dem Leben dient, wollen wir ihr dienen.« 46 Curtius braucht die Literaturwissenschaft bewusst und programmatisch zum Leben und zur Tat und lässt damit auch erkennen, dass eine zukünftige lebenswissenschaftliche Literaturwissenschaft sich ihrer historischen Distanzen bewusst sein und aus ihnen lernen und dass sie sich dem Risiko aussetzen muss, wie die Literatur Fragen nach dem Sinn des Lebens zu stellen. Wenn Dominique Rabaté vor wenigen Monaten einen Essay mit dem Titel Le Roman et le sens de la vie veröffentlicht hat47 und wenn er diesem Essay das Zitat aus Benjamins »Erzähler« voransetzt: »Der ›Sinn des Lebens‹ ist in der Tat die Mitte, um welche sich der Roman bewegt«,48 dann zeigt sich, dass Literaturwissenschaft nicht nur eine Lebenswissenschaft sein kann, sondern auch, möglichst bald, werden sollte.
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Ottmar Ette, »Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift zum Jahr der Geisteswissenschaften«, in: Asholt/Ette, Lebenswissenschaft, S. 11. Dominique Rabaté, Le Roman et le sens de la vie, Corti 2010. »Le ›sens de la vie‹, voilà bien, en effet, ce qui est au centre de tout vrai roman.« (Ebd, S. 7). Benjamin fährt allerdings fort: »Die Frage nach ihm ist aber nichts anderes als der eingängliche Ausdruck der Ratlosigkeit, mit der sich sein Leser in eben dieses geschriebene Leben hineingestellt sieht.« Insofern verweist schon Benjamin auf die Menke’sche ›Unterbrechung‹, und noch deutlicher weist er auf die Komplexität des literarischen und literaturwissenschaftlichen Lebenswissens hin, wenn er ausführt: »Einen Roman schreiben heißt, in der Darstellung des menschlichen Lebens das Inkommensurable auf die Spitze zu treiben. Mitten in der Fülle des Lebens bekundet der Roman die tiefe Ratlosigkeit des Lebenden.« (Walter Benjamin, »Der Erzähler«, in: Gesammelte Schriften II, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1977, S. 455 und 443).
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Vittoria Borsò
Vittoria Borsò (Düsseldorf)
Jenseits der Vernunft des Dritten oder ZusammenLeben als affirmative Lebenspolitik Überlegungen zu einer Theorie des Zusammenlebens aus Sicht von Literatur und Kunst
In einem Projekt zu »Lebenswissenschaften zwischen molekularer Medizin und Kulturwissenschaft«1 bewegen sich unterschiedliche Wissenskulturen anhand einer gemeinsamen Fragekonstellation aufeinander zu, die einerseits die Strukturierungsprozesse der vorgegebenen Biomaterialität, andererseits den Widerstand dieser »Materialität« fokussiert, die nicht restlos in kognitive Formen erfasst werden kann.2 Die Dialektik zwischen einem »permanenten Anspruch des Lebens im Lebenden«3 und der Strukturierung des Lebens durch wissenschaftliche Dispositive war ein zentrales Argument der Erkenntnistheorie von Georges Canguilhem, dessen Beiträge zwischen Philosophie und Biologie im heutigen lebenswissenschaftlichen Diskurs vielseitige Beachtung erfahren. Diese Dialektik findet sich im biopolitischen Ansatz seines Schülers Michel Foucault wieder, der eine Reihe transdisziplinärer Forschungsgruppen inspiriert. In einem Sammelband zu Biós und Zoë wird von Nikolas Rose, Leiter des Zentrums BIOS an der London School for Economy, das »Problem des Lebens« als eine Frage nach den Orten, Praktiken 1
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Ich verweise auf die Vorlesungsreihe im WS 2010/2011 mit Wissenschaftlern aus der Medizingeschichte (Norbert Paul, Mainz), Humangenetik (Bernhard Horsthemke, Essen) und Wissenschaftsgeschichte (Hans-Jörg Rheinberger, Dir. des Max Planck-Instituts, Berlin). Die erkenntnistheoretische Grundlage liefert Georges Canguilhem. La Connaissance de la vie [1952]. Paris 1965, 1992; dt. Die Erkenntnis des Lebens, übers. von Till Bardoux. Köln 2009. So Canguilhem in den Vorträgen am Collège philosophique aus den Jahren 1946–47 (Aspects du Vitalisme, Machine et Organisme, Le Vivant et son Milieu): »Si le vitalisme traduit une exigence permanente de la vie dans le vivant, le mécanisme traduit une attitude permanente du vivant humain devant la vie. L’homme c’est le vivant séparé de la vie par la science et s’essayant à rejoindre la vie à travers la science. Si le vitalisme est vague et informulé comme une exigence, le mécanisme est strict et impérieux comme une methode.« (Georges Canguilhem, La connaissance de la vie. Paris 1992, S. 86).
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und Personen konzipiert, in deren Zusammenhang das Lebendigsein (vitality) des Lebens zum Problem wird.4 Es geht ihm dabei um die »Wiederbelebung« des Lebens nach dessen Informatisierung und Mathematisierung durch die Molekularbiologie, wobei vitality nun als materiell-biologische Kategorie zu verstehen ist. Eine solche Fragenkonfiguration soll die Lücke aufnehmen und bearbeiten, die Rose, als Biologe und Sozialwissenschaftler, in der Molekularbiologie selbst feststellt, weil sie u. a. im Zusammenhang mit der Epigenetik – nämlich der Veränderung der genetischen Information im Laufe des Lebens – die genetischen und krankhaften Mutationen nicht voll in den Griff bekommt. So Rose: […] an diesem Beispiel wird deutlich, dass der molekulare Ansatz in der Biologie, der immer mehr um sich greift, es erforderlich macht, produktiv mit Unbestimmbarkeiten und Wahrscheinlichkeiten umzugehen und einzusehen, dass Erkenntnisse auf dem Gebiet der Genomik Unsicherheiten gerade nicht verringern, sondern steigern.5
Das Lösungsdesign von Nikolas Rose – im gleichen Artikel, aber auch in seinen Büchern –6 basiert auf der sozialwissenschaftlichen Deutung der Biopolitik in den letzten Schriften von Michel Foucault, in denen die souveräne Biomacht durch die Dialektik zwischen Regieren und Selbstregieren ersetzt wird. Das Selbstregieren wird als Folge der sich im 19. Jahrhundert etablierenden liberalen Ökonomie, ihrer Praktiken und Techniken zu einem Paradigma, durch das Subjekte zu »Unternehmern ihrer selbst« werden. Diesen Ansatz hat Rose schon 1996 auch auf die Frage der Interaktion zwischen den Menschen bezogen und einen Wandel von der Gesellschaft zur community festgestellt, nämlich einer sozialen Anordnung, die vom Subjekt her verantwortet wird. Das Subjekt ist Unternehmer von Gemeinschaften, deren Organisationsformen vom Habitus, von der Ethnie, von ökonomischen oder virtuellen Räumen, bis hin zu transgender- oder sonstigen Gruppeninteressen abhängen.7 Der contrat social ist also nicht mehr der kollektive, moralische Rahmen, der auch die individuelle Abwägung des eigenen Risikoschutzes orientiert. Vielmehr wird die Sicherheit durch die von Subjekten betriebenen 4
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Nikolas Rose, »Was ist Leben? – Versuch einer Wiederbelebung«, in: Martin G. Weiß (Hrsg.), Biós und Zoë. Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt a. M. 2009, S. 152–178, hier S. 171. Rose, Leben?, S. 162. Z. B. Nikolas Rose, Powers of Freedom. Reframing Political Thought, Cambridge 1999. Nikolas Rose, »Tod des Sozialen? Eine Neubestimmung der Grenzen des Regierens«, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hrsg.): Gouvernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a. M. 2000, S. 72–109, hier S. 77.
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Netzwerke garantiert, welche auch die Bildung von Gemeinschaften steuern. Ähnliches stellt Rose im Gesundheitssektor fest, wo virtuelle Netzwerke von Patienten regelrechte biocommunities bilden sollen, welche als Regulatoren eigener Gesundheitspolitiken ein Gegengewicht zur institutionellen Gesundheitsverwaltung darstellen. Dieses Modell muss in zweierlei Richtungen kritisch kommentiert werden: 1. In seinem Verständnis von Biopolitik akzentuiert Nikolas Rose das Selbstregieren und schwächt die biopolitische Dialektik zum Regieren des Lebens ab. 2. Ein zweiter Aspekt ist für unsere Frage noch wichtiger: Die Mitglieder von communities interagieren zwar netzwerkartig, doch gibt selbst Rose zu, dass die nicht netzwerkfähigen Subjekte neueren Formen der Ausgrenzung ausgesetzt sind. Es ist deshalb zu fragen, inwieweit das »Miteinander«-Leben, das sich in diesem Modell aus Ressourcen subjektiven Unternehmertums speist, für ein Denken des Zusammenlebens ausreicht, das dem Prinzip des Lebens ebenso viele Rechte einräumt wie dem Prozess der Bildung von Gemeinschaft. In meiner Interpretation des Kompositums ZusammenLeben 8 müssten folgende Dimensionen fokussiert werden: – Das Lebendige am Leben als ein Prinzip, das im Wissen über das Leben auch Öffnungen und Unbestimmtheiten impliziert, die sich schon wegen der Zeitlichkeit und Dynamik des »Lebens« ergeben. Auf Unbestimmtheiten treffen auch die Biosciences im Zusammenhang der Epigenetik, einer Dimension der Biogenetik, deren Wissen ebenso vielversprechend wie bisher lückenhaft und umstritten ist. – »Bindungen«, die den zwischenmenschlichen Interaktionen leibliche und existentielle Bedeutsamkeit verleihen. – Nähe als eine Phänomenologie, die die Quasi-Verschmelzung von Leben und Zusammenleben erfahrbar macht und, dies wird zu demonstrieren sein, einen »schwachen« Subjekt-Begriff erfordert. Für eine derartige Komplexitätsstufe finden sich in der Ästhetik von Literatur und Kunst weiterführende Wissensmodelle. Eben die Ästhetik ist aber eine Dimension, die nicht im Fokus von Nikolas Rose und den anderen an den sogenannten Gouvernementalitätsstudien beteiligten Sozialwissenschaftlern steht. In einer zusammen mit italienischen Partnern organisierten, internationalen Tagung zu »Biopolitik, Bioökonomie, Biopoetik im Zeichen der Krisis«9 8 9
Ich beziehe mich auf die von Ottmar Ette vorgeschlagene graphische Form. Die Tagung fand im Januar 2010 an der Universität Düsseldorf statt. Die Akten erscheinen beim Verlag transcript (2011).
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wurde – zum Beispiel durch Thomas Lemke – eingeräumt, dass im Zusammenhang der Suche nach dem Widerstand des Lebens die als Schwerpunkt der Tagung behandelte Ästhetik eine noch zu bearbeitende, wichtige Dimension ist.
I.
Unbestimmtheit und Potentialität
Wenn wir davon ausgehen, dass »Biós« ein offener Prozess und eine Potentialität ist, deren biologische oder kulturelle Formen nachträgliche Materialisierungen sind, so kommt es darauf an, in der Gewinnung des (biologischen und kulturellen) Wissens über Bindungen so viel dessen zu retten, was das lebendige Moment des Lebens darstellt. Die Kulturwissenschaft hat in diesem Zusammenhang bekanntlich beträchtliche Arbeiten vorgelegt. Giorgio Agamben bot zum Beispiel den Begriff der Potentialität an.10 Diese liegt nicht in der »Lebensform«, in der zwar das Bewusstsein von Leben zu sich kommt, sondern in der vorgängigen, materiellen Unbestimmtheit, die besteht, bevor sich das Leben in einem bestimmten Milieu als Form differenziert, eine Differenzierung, die jedoch auf Kosten aller anderen Formen geschieht, die ausgeschlossen werden. Potentialität ist deshalb in der vorgängigen materiellen Unbestimmtheit aufgehoben,11 die – analog der Stammzelle – die Potenz aller möglichen Optionen in sich enthält, welche den ausdifferenzierten For10
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Giorgio Agamben, Potentialities. Collected Essays in Philosophy. Ed. and transl. with an introd. by Daniel Heller-Roazen, Stanford 1999. Es ist ein Teil des Denkens von Agamben, das weniger der Homo-Sacer-Trilogie als dem entspricht, was Agamben mit dem Offenen bespricht. Die zentrale These von L’aperto ist die unbewiesene Grundlage der abendländischen Differenzierungs-Matrix, durch die seit Aristoteles zwischen dem (mit Sprache und Vernunft versehenen) Menschenleben und dem nutritiven Tier-Leben unterschieden wird. Vgl. Giorgio Agamben, L’aperto. L’uomo e l’animale, Torino 2002, S. 43f. Agamben beobachtet in einer Miniatur einer hebräischen Bibel des 13. Jahrhunderts (Ambrosianische Bibliothek, Mailand), dass die Gerechten beim Mahl des letzten Tages mit einem Tierkopf dargestellt werden, und stellt die Frage, ob die messianische Vorstellung des letzten Tages die Wiedergewinnung des Offenen sein könnte: »L’artista […] abbia inteso significare che, nell’ultimo giorno, i rapporti tra gli animali e gli uomini si comporranno in una nuova forma e l’uomo stesso si riconcilierà con la sua natura animale«. (L’aperto, S. 11). Ich verweise auch auf Deleuzes und Agambens Überlegungen zur Potenz des Sagens anhand von Melvilles Bartleby und von Beckett. Vgl. Giorgio Agamben/ Gilles Deleuze, Bartleby, la formula della creazione, Macerata 1993 und Giorgio Agamben, Bartleby oder die Kontingenz. Gefolgt von Die absolute Immanenz, Berlin 1998.
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men zum Opfer fallen.12 Im Sinne dieser Potenz sprechen wir von einer unbestimmten biologischen und kulturellen Materialität des Lebens. Dagegen ist die andere Seite des Denkens von Agamben, nämlich die Konzeption der zerstörerischen Wirkung der differenzierenden Matrix im Kontext der Homo-Sacer-Trilogie, extrem und deshalb kritisierbar. So etwa, wenn die Technik der Biomacht, welche nach Foucault im 18. Jahrhundert die Souveränitätsmacht ersetzt und die Frage des Lebens als eine Entscheidung zwischen »Leben machen und sterben lassen« konfiguriert, von Agamben mit Bezug auf Sicherheitssysteme und heutige genetische Technologien als ständiger »Ausnahmezustand« bezeichnet wird.13 Mit dieser ahistorischen Auslegung unterscheidet Agamben nicht mehr zwischen Biomacht und Biopolitik; vielmehr übersieht er den produktiven Zusammenhang von Regulierungsmacht und Aneignungschance durch die Subjekte.14 Gerade dieses Theorem des späten Foucault ist aber von Judith Butler aufgenommen worden. In Bodies that matter leitet Butler das performative Werden der Geschlechter von einem Rückschritt des Denkens bis hin zur Materialität ohne Matrix (so Butlers Definition der platonischen »Chora« (Timaios) als unbeschriebener Ort15), einer unbestimmten Materialität, in der Differenzierungen nachträglich produziert werden (als Festigkeit, Oberfläche, Dauer), und diese Materialisierung enthält zwar ein Moment der Macht, die sich durch sprachliche Normierung äußert, aber auch der Freiheit durch subjektive Aneignung, die (Gender-Normierung) verändert (so auch die produktive Seite von Foucaults Biopolitik). Der Körper wird zum Raum der Spannung zwischen Verwaltung und kultureller Potentialität.16 12
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Die Rolle des Unbestimmten im Lebensprozess könnte mit Bezug auf die Stammzellen illustriert werden. Letztere sind nicht ausdifferenzierte Zellen, die noch nicht in einer Form vorliegen, die sie für ihre Verwendung in einem bestimmten Organ spezialisiert oder die ihre spätere Verwendung bestimmt. Über das Schicksal der Zellen entscheidet darüber hinaus primär ihr biologisches Milieu. Giorgio Agamben, Stato d’eccezione, Torino 2003. Gemäß der im Begriff assujetissement enthaltenen doppelten Bedeutung von Subjekt (als Unterwerfen und Subjektwerden) ist das Subjekt eine beherrschte und zugleich eine sich in der Unterwerfung autorisierende Instanz. Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. 1976, S. 42; Judith Butler, »Nocheinmal: Körper und Macht«, in: Axel Honneth/Manfred Saar (Hrsg.), Michel Foucault. Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt a. M., S. 52–67, hier S. 63f. Hiermit kritisiert Butler Julia Kristevas Feminisierung dieses Begriffes. Die Potentialität als Lebendigkeit des Lebens ist ebenso eine Grenze für die Regulierung, wie die Regulierung durch das Wissen das Lebendige eingrenzt. In unserem Projekt wird die Grenze des Unbestimmbaren als Teil eines Wissens für das Leben diskutiert.
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Diese Paradoxien sind eine Domäne der Ästhetik. Welche Konstellationen finden wir in Literatur und Kunst, die Wissen über Zusammenleben vermitteln? Wie verbinden sich Subjekte mit den anderen Subjekten und den Dingen der Welt? Anders als in der Utopie von Nikolas Rose und tendenziell auch den sozialwissenschaftlichen Gouvernementalitätsstudien muss das Subjekt als schwache Kategorie gedacht werden, das nicht nur im »Verwaltet-Werden«, sondern auch in der Relation zum Anderen eine Grenze findet, die aber auch die Chance einer anderen Form von Subjektwerdung impliziert. Was bedeutet dies für das Konzept der Bindung? Im Folgenden wird diese Frage anhand von Modellen von Bindung und Subjektivität in zwei verschiedenen historischen Kontexten und Konfigurationen angenähert: a) Die Krise der Bindung zwischen Mensch und Welt sowie zwischen Menschen und Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg b) Die Transformation in einer nomadischen Subjektivität im Kontext aktueller Formen von Globalisierung. Inwieweit dieses Wissen der Literatur in soziologischen Modellen zu finden ist, wird abschließend die Frage sein.
II.
Bindungen und »responsives« Subjekt – Italo Calvino
Nach dem Zweiten Weltkrieg spitzt sich die Krise zu, die sich in der Philosophie als Emanzipation des existentialistischen Subjektes von der Alienation durch die Welt der Dinge, der Waren, später der Technik und Kybernetik, äußert. Auf den Antagonismus von Subjekt und Welt antwortet die Soziologie mit Interaktionstheorien von Individuum und Gesellschaft. Nicht aber Modelle der Interaktion zwischen diesen Polen, sondern die Überwindung der Polarität durch die Bindung von Mensch und Welt sind der Weg aus der Isolation. Gerade die italienische Nachkriegsliteratur sucht nach derartigen Modellen.17 Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs sind verbürgte Bindungen zusammengebrochen – stellt Calvino in »Il midollo del leone« fest.18 Die Suche nach neuen, verantwortlichen Formen der Bindung von Mensch und Welt sowie Mensch und Mensch ist der bisher kaum beachtete 17
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Vgl. Vittoria Borsò, »Materialität und Unbestimmtheit(en) im Neorealismus: Offenheit zum Leben«, in: Dies./Claudia Öhlschläger/Lucia Perrone Capano (Hrsg.): Realismus nach den europäischen Avantgarden. Tagung vom 6. 10.–8. 10. 2010, Paderborn. Italo Calvino, »Il midollo del leone« [1955], in: Ders., Una pietra sopra – Discorsi di letteratura e società, Torino 1980, S. 3–18.
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rote Faden in den so unterschiedlichen Phasen des Schreibens von Calvino. Der als postmoderner Kybernetiker missverstandene, in Argentinien geborene, u. a. in Frankreich lebende, Amerika-verliebte und beinahe dort gestorbene italienische Autor hört nicht auf, die Herausforderung aus dem Labyrinth der Zeichen zugunsten der Diversität und des »Gewichts« der konkreten Welt auf sich zu nehmen.19 Die Suche nach Nähe zur Welt und zu den Anderen drückt sich in seiner Arbeit an der Visualität aus, nämlich als Schwierigkeit und zugleich Willen, diskretes Wissen und unbändiges Fließen, zwischen »disegno« und Dissonanzen des Zusammenlebens, kognitiver Assimilation der Welt und Respekt vor den nicht regulierbaren Bewegungen des Lebens miteinander zu vereinbaren. Es ist die Koexistenz der konzentrischen Zirkel und geraden Linien des Zen-buddhistischen Monuments im Tempel von Ryoanji in Tokio,20 es ist die Paradoxie von Einheit und Vielheit, die die Dramatik der Visualitätsexperimente von Palomar (1983) als Notwendigkeit gestaltet, zugleich die Distanz diskreten Wissens und Nähe von leibgebundener Welterfahrung zu kon-figurieren. Dies betrifft etwa das Verhältnis der Nähe zwischen Menschen und der Ferne der Gesellschaft, ein Verhältnis, das mit der Metapher von Sand und Sandkörnern ausgedrückt wird. Die Konsistenz der Welt und ein »Meer von Objektivität«21 sind zwar eine Grenze für das Ich, aber diese Grenze wird zur Chance, sich in der Bindung zum Anderen/zu den Anderen zu erfahren. In dieser unhintergehbaren Relationalität findet Calvino den Weg zur Solidarität zum Leben, und diese äußert sich als scatto etico, als Impuls zur Verantwortung, zur Selbsterfahrung als antwortendes Individuum. Eine solche Entwicklung lässt sich etwa im namenlosen Protagonisten der Erzählung »La nuvola di Smog«22 feststellen. Von der existentialistischen Einsamkeit des Menschen, der sich in der indus19
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Dieses Ethos ist unmittelbar nach dem Krieg auf die Anregung politischer Handlungen gerichtet; nach der Ernüchterung in Folge der Niederschlagung des Ungarn-Aufstandes 1956 und seinem darauf folgenden Austritt aus der kommunistischen Partei 1957 richtet Calvino den ethischen Impuls auf das Denken über das Verhältnis von Mensch und Welt. Italo Calvino, Palomar, Torino 1983, S. 93–95. So Calvino in dem 1960 erschienenen »Il mare dell’oggettività«, einem Essay, der sich mit dem experimentellen Roman seit dem französischen Existentialismus und dem nouveau roman befasst (Italo Calvino, »Il mare dell’oggettività«, in: Ders., Una pietra sopra, S. 47–68, hier S. 47). Calvino betont den Verlust des Ichs, das Versinken in das Meer der unbestimmten Objektivität (48), d. h. einer Objektwelt, in der das Ich ertränkt wird (49). In die Richtung der Unbestimmtheit geht auch Emmanuel Levinas’ Versuch, die Unendlichkeit jenseits der Sprache der Ontologie, in der Geste des Sagens (»dire«) statt im Logos des »Gesagten« zu positionieren. Italo Calvino, La nuvola di Smog e la formica argentina, Torino 1958.
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triellen und postindustriellen Gesellschaft bis hin zum unsichtbaren atomaren Smog entfremdet und bedroht fühlt, rettet sich der Mensch erst dann, wenn er sich über die Bindung zu den Anderen und zu den Dingen bekennt. Erst dann verliert er die Obsession durch die Wolke aus Smog, eine Metapher für die bedrohliche Umwelt in all den kritischen Dimensionen der postindustriellen Gesellschaft. Die Anderen sind auch die Dinge als Fetische, deren Magie zunächst die Emanzipation bedroht. Im späteren Essay »Redenzione degli oggetti« (1959) aus Collezione di sabbia 23 stellen aber die Dinge eine Rettung für den Menschen dar, weil sie Bedürfnisse hervorrufen und dessen Interaktion mit der Welt ändern. Denn, so Calvino, Dinge »son forme artificiali, ma non arbitrarie; hanno una regola di necessità che è la medesima che governa moti e pianure«.24 Hier werden Oppositionen überwunden, die den Menschen in die Einsamkeit geführt hatten, aber auch die Opposition von Natur und Ding. Dinge reduzieren zwar die Autonomie des Subjektes, binden es aber zur Welt. Die Dinge machen das Subjekt von sich abhängig, aber es ist gerade dieser mit Maurice Merleau-Ponty zu bezeichnende phänomenologische Chiasmus von Subjekt und äußerem Raum, der – wie der Chiasmus des Körperleibs – den Menschen fähig macht, Bindungen zu den Anderen einzugehen. Humanität, sagt Calvino, ist das Bedürfnis zu Bindungen seitens eines »schwachen«, weil profund relationalen Subjektes, nämlich eines sich in Beziehungen erfahrenden Ichs, das auf dieses Bedürfnis durch Zeichen der Kultur antwortet.25 In der Antwort auf ein ihm vorausgehendes Anderes setzt also das Subjekt das unabhängige Selbst aufs Spiel; aber gerade dies ist Anlass zur Produktion von Zeichen, in denen sich die Spuren des Lebens einschreiben. Noch mehr: Erst durch dieses von der Umwelt in der eigenen Autonomie aufs Spiel gesetzte Werden überlebt der Mensch, so Calvino erneut mit der Metapher des Smogs: »Se questa sfera di segni che ci circonda del suo fitto pulviscolo viene negata, l’uomo non sopravvive« (123). Wenn Fetisch und Magie der Dinge eine Bedrohung gegen die Emanzipation des aufgeklärten Subjektes dargestellt haben, so transformiert sich dieses 23
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Calvino kommentiert die These, das menschliche Leben sei nicht auf die krude Natur einer biologischen, vitalistischen, existentiellen, psychologischen oder ökonomischen Entität zu reduzieren (»rifiuto d’ogni riduzione dell’umano alla nuda natura d’ente biologico o vitalistico o esistenziale o psicologico o quantitativamente economico«) (Italo Calvino, Collezione di sabbia, Milano 1990, S. 122). Ebd. »L’umano è la traccia che l’uomo lascia nelle cose, è l’opera, sia essa capolavoro illustre o prodotto anonimo di un’epoca. E’ la disseminazione continua d’opere e oggetti e segni che fa la civiltà, l’habitat della nostra specie, una seconda natura« (Ebd., S. 123).
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Verhältnis; die Dinge werden zur Verkörperung einer unlöslichen Bindung zum Anderen.26 In dieser Bindung befreit sich das Subjekt vom Zwang zur Erstarkung,27 indem es sich zugleich als responsives Subjekt konstituieren kann. Anstelle von Trennungen und Grenzen haben wir hier lebenserhaltende Bindungen. Wir erkennen hier ein Modell, das der französische Soziologe Bruno Latour seit der Theorie des acteur-réseau in den 80er Jahren als eine Art Relativitätstheorie des Ichs28 und später als Vorschlag eines »Parlement des choses« entwickelte.29 Frappierend ist die Präzision, mit der Calvino die radikale Transformation des Status des »Dings« und die Überwindung der Trennung zwischen der Welt der Dinge und der Welt der Menschen vorwegnimmt, die Bruno Latour als Handlungspotential von Dingen beschreibt, welche Bestandteile unserer Netzwerke und unserer Operationsketten sind. In meiner kurzen Präsentation von Calvino30 und dem Hinweis auf den Ersatz der kartesianischen Trennung von Subjekt und Objekt durch das relationale Modell von Mensch und humaner wie nicht-humaner Umwelt im Sinne von Bruno Latour habe ich ein Denken akzentuiert, das auf eine fundamentale Quelle für heutige Versuche hinweist, das Zusammenleben zu denken. Es ist Emmanuel Levinas, dem ich auch hinsichtlich des Titels meines Beitrags »Jenseits des Dritten« verpflichtet bin. 26
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Ich beziehe mich auf Hartmut Böhmes Revision der Moderne anhand der Funktion des Fetischismus (Hartmut Böhme, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek 2006.) Calvino beschreibt sehr präzise jenes produktive Moment, das auch Bruno Latour mit dem Neologismus »faitiche« (als Kompositum von »fait« und »fétiche«) betont, nämlich als Überwindung des Antagonismus von Freiheit (Emanzipation des Subjektes) und Entfremdung (Beherrschung durch die Dinge). Vielmehr sei die Soziologie der »Faitiches« jene über die Möglichkeiten der Vermittlungen und der Qualität der Bindungen, die Handlungen initiieren und Situationen transformieren können (Bruno Latour, »Faktur/Fraktur – Vom Netzwerk zur Bindung«, in: Martin G. Weiß (Hrsg.), Biós und Zoë – Die menschliche Natur im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a. M. 2009, S. 359–385, hier S. 360f.) Erstarkung des Selbst als vernünftige oder moralische Instanz kostet erstmals die Unterdrückung des Körpers und der Leidenschaften, wie Michel Foucault anhand der pastoralen Praktiken zeigte (Michel Foucault, »Introduction«, in: L’usage des plaisirs. Histoire de la sexualité, T. II. Paris 1984, S. 7–45). Bruno Latour, Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie, übers. von Gustav Roßler, Berlin 1995; vgl. auch Bruno Latour, Un monde pluriel mais commun, entretiens avec François Ewald, Paris 2003; Madeleine Akrich/Michel Callon/Bruno Latour (Hrsg.), Sociologie de la traduction: textes fondateurs, Paris 2006. Bruno Latour, Sur le culte moderne des dieux faitiches suivi de Iconoclash, Paris 2009. Zur Ethik von Calvino vgl. Vittoria Borsò, »Die Exteriorität des Blickes oder die Ethik der Rahmenverschiebungen (Calvino, Levinas)«, in: Claudia Öhlschläger (Hrsg.), Narration und Ethik, München 2009, S. 127–144.
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III. Zusammenleben jenseits des Dritten: »Bindung« als Erfahrung der Nähe Im ebenso komplexen wie gewissermaßen umstrittenen Denken von Levinas möchte ich folgende Momente betonen: die unhintergehbare Relationalität von Bewusstsein und Ding, von Subjekt und Anderen, ein radikales Beziehungsgeflecht, durch das das Subjekt als ursächlich responsive Instanz hervorgeht, und zwar so, dass erst im Raum der Medialität der Anrede des Anderen auch die Potenz des Ichs erfahren und geäußert werden kann. Hier sehen wir auch den Unterschied zur spätmodernen Konzeption der Community als einer vom Subjekt als Unternehmer seiner selbst autorisierten und verantworteten Gemeinschaft. Mit Levinas entsteht Gemeinschaft durch Subjekte, die sich im Prozess der Antwort auf den Anderen konstituieren. Die Anderen sind für das Leben und Überleben des Ichs notwendig. Sie schaffen den Raum der Relation, jene Medialität des Sagens, die den Auszug aus der Einsamkeit der Existenz und den Schritt in einen Raum des Zusammenlebens ermöglicht. Levinas erkennt in diesem Raum eine unhintergehbare Sozialität und Relationalität, die es erlaubt, »[a]nders als Sein geschieht« zu handeln.31 Die Relation zwischen Mensch und Welt geschieht anders als in Form eines das »Objekt« erkennenden Subjekts, welches die Autonomie des Dings zerstört und es an das System des Wissens assimiliert. So Levinas im Interview mit Nemo: »Die kühnste und entfernteste Erkenntnis bringt uns nicht mit dem wirklich Anderen in Verbindung; sie ersetzt die Sozialität nicht, sie ist noch und immer Einsamkeit. […] Die Sozialität ist eine Art des Heraustretens, die anders verläuft als über die Erkenntnis«.32 Die Beziehung zum Anderen kann deshalb nicht auf Intentionalität reduziert werden. Selbst die Intentionalität Husserls wird im Andersdenken von Levinas zum »Be31
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Ich beziehe mich auf: Emmanuel Levinas, Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg/München 21998 (Erstausgabe: Emmanuel Levinas, Autrement qu’être ou au-delà de l’essence, La Haye 1974). In dieser Schrift definiert Levinas die Nähe und Bindung zum Anderen als Chance zur Offenheit des Seins: »In dieser passivsten Passivität wird das Sich auf ethische Weise von jedem Anderen und von sich selbst befreit. Seine Verantwortung für den Anderen – die Nähe des Nächsten bedeutet nicht Unterwerfung unter das Nicht-Ich, sie bedeutet die Offenheit, in der das Sein des Seienden in der Inspiration überboten wird – ist eine Offenheit, von der die Atmung eine Modalität bildet oder einen Vorgeschmack gibt oder, genauer, von der ihr ein Nachgeschmack bleibt. In dieser Atmung – der Möglichkeit jeder Art Opfer für die Anderen – gehen, fern aller Mystik, Aktivität und Passivität ineinander über.« (Ebd., S. 254). Emmanuel Levinas, Ethik und Unendliches. Gespräche mit Philippe Nemo, Wien/Köln 1986, S. 47.
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wusstsein-von-etwas«.33 Diese Transformation zeigt das Ding als produktive, weil performative Instanz, die auf das Ich wirkt. Die Implikationen dieser Transformation lassen sich am Begriff des Antlitzes demonstrieren. Antlitz ist kein Bild des Gesichtes, sondern die Nähe zum anderen Menschen. So Levinas: »Wenn man auf die Augenfarbe achtet, ist man nicht in einer sozialen Beziehung zum Anderen«.34 Anhand des Antlitzes erkennen wir die Nähe als eine unverzichtbare Qualität der Bindung. Bindung ist dabei mehr als nur eine Relationalität, da sie das Subjekt in unhintergehbarer Weise und nicht erst über die Ausdifferenzierung bestimmter Beziehungen an den Anderen bindet.35 Wie das Antlitz ist die Bindung bedeutsam ohne Bedeutung, da es kontextlos ist. Die höchste Analogie im Bereich der visuellen Kunst hat diese Nähe mit dem Affektbild, das Gilles Deleuze in L’image mouvement (1983) beschreibt.36 Es ist eine Bewegung, eine Expressivität oder eine Potenz, die noch nicht als spezielle Emotion ausdifferenziert ist. Insofern handelt es sich um eine Ansprache, die affektiert und zugleich Sinnstrukturen permanent entzieht oder temporär aussetzt. Die Ästhetik des Affektbildes und der Unterbrechung sensomotorischer Verkettungen ist relevant für die Fragestellung, wie der Lebensimpuls in einer kritisch gewordenen Gesellschaft gerettet werden kann.37 Weil kontext33
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Ebd., S. 22f. Levinas betont die Bedeutsamkeit des »Objekts«, auf das sich das Bewusstsein bezieht. Dies sei ein Einspruch gegen die Priorität des Theoretischen, den Heidegger in Bezug auf das Werkzeug in aufsehenerregender Weise übernommen habe. Ebd., S. 64. Dem Verhalten des Kindes entsprechend (Lächeln, Festklammern, Zur-MutterKrabbeln, Suchen der Bezugsperson etc.) ist Bindung ein Wunsch nach Nähe oder eine Reaktion in Gefahrensituationen. Bindungsrepräsentationen (als psychoanalytische Repräsentanz oder kognitionspychologisch als Bindungsschemata) entstehen im ersten Lebensjahr (vgl. Karl Heinz Brisch, Bindungsstörungen: Von der Bindungstheorie zur Therapie, Stuttgart 1999; Peter Fonagy, Bindungstheorie und Psychoanalyse, Stuttgart 2006). Im zweiten Bergson-Kommentar bezieht sich Deleuze auf die immanente Dynamik des Materie-Begriffs bei Bergsons Matière et mémoire (1896): »Cet ensemble infini de toutes les images constitue une sorte de plan d’immanence. L’image existe en soi, sur ce plan. Cet en-soi de l’image, c’est la matière: non pas quelque chose qui serait caché derrière l’image.« (Gilles Deleuze, L’image-mouvement, Paris 1983, S. 86). Aus der fließenden, deshalb unstrukturierten visuellen Materie differenzieren sich Bildtypen, so Deleuze. Dabei ist das Affektbild eine Überformung des Materiellen, die – wie die Großaufnahme – kontextlos ist. Es manifestiert sich als eine den Betrachter affizierende körperliche Bewegung oder eine Potentialität. Vgl. Vittoria Borsò, »Materialität und Unbestimmtheit(en). Der italienische Neorealismus«. Beitrag der Tagung Realismus nach den europäischen Avantgarden an der Universität Paderborn 2010. Weitere Beispiele der Bedeutung des Affektbilds für
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los, ungeschützt, ja, »nackt« im Sinne von jenseits der Formgebung durch einen gesellschaftlichen Habitus, ist das Antlitz unbestimmt und in seiner Unbestimmtheit auch verletzlich. Durch seine Ansprache verlangt es Nähe; durch seine Schutzlosigkeit regt es zur Gewalt an. Im Gespräch mit Philippe Nemo kommentiert Levinas die Tatsache, dass in den Makrobeziehungen der Gesellschaft der Schutz vor Gewalt rechtlich geregelt ist und sein muss. Es ist ein Drittes, eine dritte Instanz, die durch die Androhung von Strafen den schutzlosen Anderen vor Gewalt zu retten versucht. Als ein Pharmakon in der Distanz ist die Ordnung des Dritten aber für die Nähe ein Gift. Denn es zerstört die Potenz des Antlitzes. Das Dritte, welches durch eine unhintergehbare Moral Recht setzt, führt zugleich eine andere Form von Gewalt ein, nämlich die Trennung zwischen dem Selben und dem Anderen, dem Eigenen und Fremden, moralisch Gutem und Verächtlichem usw., Trennungen, die den Fehlschluss natürlichen Seins nahelegen.38 Und ebendies zerstört die soziale Beziehung, die das Subjekt erst als Nähe zum Anderen und als Antwort auf diesen konstituiert. Stattdessen übernimmt das Ich die dichotomische und exkludierende Ordnung des Dritten als einer auf der Opposition von Identität und Alterität basierenden Ordnung. Hier wird die Basis des ZusammenLebens entzogen. Strukturen der Ferne, die schon Max Weber als Bedingung der Fremdheit ansah, werden unbewusst auf die Nähe projiziert. Die Anrufung des Anderen verliert ihre Potenz. Unmerklich kommunizieren wir in der Mikrobeziehung über Kategorien der Makrogesellschaft. Zusammenleben wird zum Nebeneinander- oder höchstens Miteinander-Leben, ein Nebeneinander auf der Basis separatorischer Vernunft.
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die Thematik des Zusammenlebens wären das cinema di poesia von Pier Paolo Pasolini (z. B. Accattone), Los Olvidados von Buñuel, Godards »Vivre sa vie« u. a. Neben der Naturalisierung der Ausgrenzungen durch den Bezug auf dritte Instanzen bei der Definition des Selben (Bernhard Waldenfels, »Der Mensch als Grenzwesen«, in: Ders., Grundmotive der Phänomenologie, Frankfurt a. M. 2006, S. 15–33, hier S. 25) bezieht sich diese Argumentation auf Benjamins These der Immanenz von Gewalt bei Grenzziehung im Zusammenhang mit Gerichtsbarkeit: Walter Benjamins Kritik der Gewalt (Walter Benjamin, »Zur Kritik der Gewalt«, in: Ders., Angelus Novus. Ausgewählte Schriften 2. Frankfurt a. M. 1966, S. 42–66; vgl. hierzu meine Analyse in: Vittoria Borsò, »Der Engel der Geschichte zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Gedächtnistheoretische Umschreibungen der Katastrophe (Italien, Frankreich, México, Cono Sur)«, in: Thomas Klinkert/Günter Oesterle (Hrsg.), Katastrophe und Gedächtnis (im Druck).
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IV.
Zusammenleben und Wissen: Das Wissen der Kunst und der Literatur für das Leben
Gaston Bachelard hat pointiert darauf hingewiesen, dass der Konflikt von Ferne und Nähe ein Problem der Epistemologie, also der Formation des Wissens, ist: »conflit intime qu’elle [la science] ne peut jamais apaiser totalement«.39 Auch die Bearbeitung dieses Konfliktes ist eine ausgeprägte Domäne der Ästhetik. Zwei Beispiele, einmal aus der Malerei und einmal aus der lateinamerikanischen Literatur, sollen dies demonstrieren. In Devant l’image, in dem Georges Didi-Hubermann zwischen dem Sehen als vision und dem Sehen als visibilité unterscheidet – ersteres die Potenz des Schauens, zweiteres der Nachvollzug der Ordnung des Sichtbaren durch das Auge –,40 stellt der französische Kunsthistoriker folgende These auf: »On ne saura donc jamais, heuristiquement parlant, regarder un tableau«.41 Heuristisch gesprochen, wird man niemals ein Tableau »schauen« können. Die Betonung liegt auf »Schauen«. Das Tableau kann nicht angeschaut werden; vielmehr rekonstruiert das Auge das Tableau von der Ferne aus, in dem es das Ganze auf der Basis des Wissens über die Ordnung des Sichtbaren zusammenstellt und wieder erkennt. Der Blick, der schaut, ist dagegen ein »voir en detail«, also eine Phänomenologie der Nähe. So wird die Spannung zwischen Ferne und Nähe zum ästhetischen Prinzip der Visualität, aber auch zum Grundproblem des Sehens und des Erkennens: einerseits als kolonialistische Appropriation der diskreten und stabilen Figur, die von der Ferne interpretiert wird, andererseits die Instabilität der Nähe. Diese Unterscheidung konstituiert aber auch den Unterschied zwischen Wissen der Ferne und der ästhetischen Erfahrung der »Quasi-Form« aus der Nähe, wo sich die Spur des Lebens ereignet, deren materielle Unbestimmtheiten sich dem Wissen nicht ganz preisgeben. Didi-Hubermann kommentiert dies anhand des Sturz von Ikarus (1558) von Pieter Bruegel dem Älteren. Im Bildraum erfasst man aus der Ferne zunächst die soziale Szenerie des Bildes, in dem Ackerbauer, Schäfer und Fischer nebeneinander ihrer Tätigkeit friedlich nachgehen. Der eth39 40
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Gaston Bachelard, Essai de la connaissance approchée, Paris 1927, S. 9. So gibt es zwei Modi des Blickes: als Träger eines diskursiven Sinns und der Ordnung der Sichtbarkeit (vision) oder als Ereignis der Visualität, das diese Ordnung u. a. durch die Kopräsenz heterogener Zeiten perturbiert (Georges Didi-Hubermann, Devant l’image, Paris 1990, S. 27f., 46f.). Der erste Modus begründet das Regime der Sichtbarkeit, der zweite jenen der Visualität. Siehe zuletzt Vittoria Borsò, »Audiovisionen der Schrift an der Grenze des Sagbaren und Sichtbaren: zur Ethik der Materialität«, in: Roger Lüdeke u. a. (Hrsg.), Poetische Gerechtigkeit (im Druck). Didi-Hubermann, Devant l’image, S. 273.
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nologische Blick dekodiert damit die archaische Gesellschaft, die den Kontext der Geschichte markiert. Doch das Detail, das dem Bild den Titel gibt, ist zunächst kaum merklich; es erscheint am rechten unteren Rand wie die Wasserperlen der Brandung. Lediglich von der Nähe entdeckt man darin die Füße und Teile der Beine des gerade abgestürzten und noch nicht in die Tiefe versunkenen Ikarus. Dieser scheinbar periphere, kontingente Teil des Tableaus und ein noch kleineres Detail in diesem Feld, nämlich das Detail der Federn, die sich auf der Oberfläche des Meeres um den verschwindenden Körper zerstreuen, sind für die Geschichte und für die Ästhetik des Bildes entscheidend. So führen sie in eine Dramatik ein, die nicht im Tableau, sondern im Detail selbst liegt, auf dessen Spur der Blick einen Wechsel zur Phänomenologie der Nähe vollziehen muss. Nun kommt der Konflikt auf, den Bachelard hervorgehoben hat. Denn dieses Detail gibt einerseits den narrativen Kern der verschwindenden Beine preis, nämlich den Sturz von Ikarus, dessen Federwerk durch die Sonne geschmolzen ist, weshalb er in der Tiefe des Meeres versinkt; andererseits bindet es aber an die Nähe, wo sich aber die kognitive Arbeit ent-differenziert. So Didi-Hubermann: Or, si l’on regarde le comme-si, le quasi, si l’on prête quelque attention à la matière, on constate que les détails nommés ›plumes‹ n’ont aucun trait distinctif déterminant qui les ›sépare‹ tout à fait de l’écume que produit, dans la mer, la chute du corps: ce sont des accents de peinture blanchâtre, des scansions de surface pardessus le ›fond‹ (l’eau) et tout autour de la ›figure‹ (les deux bouts du corps humain qui s’immerge). C’est comme l’écume, et pourtant ce n’est pas cela, tout à fait. Rien, d’ailleurs, n’est là ›tout à fait‹. Tout est quasiment.42
Die figurative Instabilität des Details macht die Entscheidung zwischen »chute de plumes« und »surgissement d’écume« schwierig.43 Gerade diese Unbestimmtheit bindet uns an das Lebendige im Leben, das Leben, das gerade verschwindet, dessen Kraftimpuls wir zugleich im emergenten weißen Schaum der Wellen verspüren. Nach dieser Erfahrung ist aber auch der Blick auf das Tableau verändert. Das Pathos des »Nahe-Blickes« umfasst auch die Figuren des Tableaus, deren Indifferenz oder Bewusstlosigkeit gegenüber dem Schicksal von Ikarus tragisch ist. Der Blick des Betrachters berührt jedenfalls von der Nähe die Gesten des Lebens: die Geste des Ackerbauern, des Schäfers, des Fischers. Erst hier werden wir solidarisch mit dem Drama des sterbenden und lebenden Lebens. Dieses Bild ermöglicht aber auch eine 42 43
Ebd., S. 284. Ebd.: »Décidément, ces accents blancs de peinture nous auront portés à lire ›chute de plumes‹, plutôt que ›surgissements d’écume‹. Mais récupère-t-on pour autant l’évidence descriptive, la stabilité figurative? Non, justement.«
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selbstreflektierende Analyse des Erkennens: Denn je nach Position vor dem Bild können wir das Bild als Symbol der Harmonie Arkadiens lesen oder im Bild den sich eben eröffnenden Abgrund sehen. Die Narration des Details ist eine andere als die des Tableaus. Was heißt also Sehen? Und was heißt Wissen über das Gesehene? Wissen verlangt zuallererst eine analytische Reflexion über die eigene Position des Beobachters, wie auch schon die Systemtheorie gezeigt hatte. Darüber hinaus erkennen wir aber in der hier besprochenen spezifischen Spannung die phänomenologische Differenz zwischen Wissen und der »Quasi-Form«, in der sich die Spur des Lebens ereignet, welche sich dem Wissen nicht ganz preisgibt. Diese Komplexität ist selbstverständlich auch dem Erfahrungswissen der Literatur inhärent, was im Folgenden anhand eines neueren Beispiels demonstriert wird: Lo Anterior44 von der mexikanischen Schriftstellerin Cristina Rivera Garza, Anna-Seghers-Preisträgerin (2005), Migrantin von der Frontera Norte in die Hauptstadt México D.F. und zur Zeit Professorin an der University of California, San Diego. Dieser Roman führt ein verwirrendes Spiel mit dem Narrativ der Liebesbeziehung zwischen Mann und Frau und führt auf diese Weise ein Experiment mit dem Verhältnis von Liebe, Schreiben und Wissen durch. Das Ganze beginne, weil man mehr wissen möchte, so die Erzählerin mit Bezug auf das vorgefundene, zerknitterte Papier mit dem Kernsatz des Romans: »el amor siempre ocurre después, en retrospectiva«,45 ein Papier, das die Protagonistin, eine Photographin auf der Suche nach interessanten Motiven, in der Tasche eines scheinbar Toten findet, der bewusstlos in der Wüste liegt. Sie nimmt den Unbekannten zu sich nach Hause und pflegt ihn, bis er wieder zu Bewusstsein kommt. Der Roman besteht aus wechselseitigen Beobachtungen, stummen oder gesprochenen, kurzen Dialogen, ohne dass wirklich eine sprachliche Kommunikation zwischen den beiden entsteht. Umso stärker wirkt die Intensität der Bindungen, die im Austausch und in der leiblichen Nähe der Protagonisten erfahren wird, wozu auch der Hausarzt gehört, der Dritte in diesem »Liebesdreieck«. Kommentare und innere Monologe der Protagonistin, Dialoge und Beschreibungen entwickeln sich zu einem Laboratorium von Experimenten über die Verbindung von Imaginärem und Realem, über das Spiel mit den Blicken und/oder über die Fokalisierungsmodi im narrativen Diskurs. Das für unsere Frage interessante Moment sind indes Erfahrungen von und Metareflexionen über die Erfahrung von Emergenzen im Werden einer möglichen Liebesbeziehung, 44 45
Cristina Rivera Garza, Lo Anterior, Barcelona 2004. Vgl. z. B. ebd., S. 14.
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im Prozess der Wahrnehmung oder im Werden des Romans. Alles steht in diesem Roman in einem unscharfen Beziehungsgeflecht zueinander, selbst Differenzierungen zwischen »Dingen« und »Menschen« sind schwer. Das eigentliche Thema ist die Emergenz des Bildes im Akt des Wahrnehmens. So befindet sich z. B. am Anfang des Romans der scheinbar tote Körper zwar schon im Sichtfeld, doch er kommt erst nachträglich ins Wahrnehmungsbzw. Bewusstseinsfeld: Al inicio, cuando ya se encontraba en su campo de visión pero no en el de su conciencia, supuso que se trataba únicamente de la sombra de una roca. Se aproximó poco a poco, con el rostro detrás de la cámara, apretando el disparador una y otra vez. Sin saber.46
Die Beschreibungen präsentieren sich als Beobachtungen biomaterieller Bewegungen, die vom Unbestimmten her allmählich Formen von Menschen oder von einer Interaktion zwischen ihnen einnehmen. Man erkennt dabei Splitter einer werdenden Liebesgeschichte, die sich allerdings immer wieder in der Spur einer früheren Existenz materiell verfangen. Auch dies ist die Bedeutung des Kernsatzes »el amor siempre ocurre después, en retrospectiva«, nämlich die unlösbare Verflechtung gegenwärtiger und vergangener Erfahrung einer aufkommenden Liebesgeschichte, die erst nachträglich als solche erzählt werden kann. Der Roman fokussiert eben nicht ein etwaiges Geschehen, sondern versucht, die Emergenz selbst mit all den Unvorhersehbarkeiten und Unbestimmtheiten derselben einzufangen. In diesem Sinne handelt es sich um einen Metaroman über das Verhältnis von Wissen und Erfahrungskomplexität angesichts der Dynamik des Lebens und des Interagierens zwischen Menschen. Zur Komplexität des Erfahrungswissens gehört die Erfahrung der Grenze des Erkennens, die das einzige gesicherte Wissen ist: 1. Lo único cierto Un hombre en el desierto Al inicio, cuando ya se encontraba en su campo de visión pero no en el de su conciencia, supuso que se trataba únicamente de la sombra de una roca. Se aproximó poco a poco, con el rostro detrás de la cámara, apretando el disparador una y otra vez. Sin saber. Capturaba cosas pequeñas: piedras, espinas, grietas. Sólo se paró 46
Ebd., S. 13. Später zeigt der Roman den Blick des Mannes: »Al inicio, cuando ya me encontraba en su campo de visión pero no en el de su conciencia, supuso que se trataba únicamente de la sombra de una roca.« (Ebd., S. 162); eine sich auktorial gebende Erzählerin spricht dann zur Protoganistin, der Photographin: »Al inicio, cuando ya se encontraba en tu campo de visión pero no en el de tu conciencia, supusiste que se trataba únicamente de la sombra de una roca.« (Ebd., S. 165). Am Ende gegenüber beiden: »Al inicio, sólo estás tú solo, en su campo de visión, en su campo de conciencia, deseando saber más« (Ebd., S. 167).
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Vittoria Borsò cuando aparecieron los dedos de una mano en el recuadro. Contuvo la respiración por un momento. Cerró los ojos […] Cuando los volvió a abrir, el hombre todavía estaba ahí, tendido sobre la tierra, medio protegido del sol vespertino por la sombra de una roca gigantesca. Quiso darse la vuelta e regresar a su camioneta como si nada hubiese pasado […] Se quedó inmóvil. Dos estatuas en el desierto. Dos muertos. Tuvo deseos de tomar esa fotografía también. Fue entonces que se le acercó y colocó su oído sobre el pecho. Comprobó que su corazón latía. (2004, 13)
Wie aus La chambre claire von Roland Barthes oder aus den Arbeiten von Susan Sontag und Judith Butler zur Photographie bekannt, ist der Blick der Ferne, die in diesem Romanbeginn auch als soziale Ferne markiert ist, ein mortifizierender Blick, welcher selbst die Schmerzen des Anderen zum voyeuristischen Objekt macht und kolonialisiert.47 So fängt auch in diesem Roman der Blick der Kamera die toten, anorganischen Dinge der Landschaft ein, bis sich die Spur des Lebendigen, ein Detail des Körpers, die Finger einer Hand, in die Landschaft einschieben und den Blick der Photographin »punktieren« – ein körperliches Zeichen ist das Anhalten des Atems, auf das der Text hinweist. Erst hier wird die Protagonistin unruhig, ohne dass sie jedoch auf die Ansprache dieses vorgefundenen, gewährlosen Körpers reagiert. Nur der skopische Trieb des photographischen Studiums führt die Protagonistin dem Körper näher, und erst aus der Nähe entdeckt sie im Herzschlag Spuren des Lebens, auf dessen Ansprache sie antwortet. Diese Erfahrung verändert die Protagonistin, die fortan und im gesamten Roman nicht als souveränes, sondern als responsives, in der Komplexität leiblichen Fühlens eingetauchtes Subjekt handeln wird. Der Diskurs unterstützt diese Erfahrung durch konsequente Entdifferenzierungsprozesse. Figuren, Beziehungen und Räume sind undeterminiert. Man weiß nichts über sie, sie sind eine Art Materie ohne Matrix,48 eine Materialität für Emergenzen möglicher Relationen zwischen den Figuren oder zwischen Menschen und Dingen. Die Protagonisten dieser drei Konstellationen haben keine individuellen Züge und sind eher Potentialitäten; auch der Erzähler kann sich dem ständigen 47
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Roland Barthes, La chambre claire, Paris 1980; Susan Sontag, Über Photographie, Frankfurt a. M. 1980; Judith Butler, »Folter und die Ethik der Fotografie«, in: Linda Hentschel (Hrsg.), Bilderpolitik in Zeiten von Krieg und Terror: Medien, Macht und Geschlechterverhältnisse, Berlin 2008, S. 203–228. Butler formuliert eine Theorie der Subjektivierung, die eine Materialität ohne Matrix voraussetzt, und nennt »Materialität« die Ebene von Konsistenzen, Energien und Affekten (Judith Butler, Körper von Gewicht, Berlin 1995, S. 31). Es geht Butler um die Übergänge der Materialität, in denen Formen erst emergent werden (als Begrenzung, Festigkeit und Oberfläche) – eine mit Luhmann gemeinsame Grundlage (vgl. Niklas Luhmann, »Die Paradoxie der Form«, in: Dirk Baecker (Hrsg.), Kalkül der Form, Frankfurt a. M. 1993, S. 197–212).
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Fließen der Elemente im Raum oder zwischen inneren und äußeren Räumen nicht entziehen. Außer in der Wüste befinden sich die Menschen in einem Zimmer und auf der Terrasse einer Stadt, die die Erzählerin als New Orleans bezeichnet, die aber auch jede andere Stadt des amerikanischen Südens sein könnte. Im Werden der Formen sind Konturen und Trennungen zwischen Außen und Innen, zwischen Imaginärem und Realem, zwischen Materie und Form, fließend – eine Beweglichkeit, die das Lebendige am Leben erfahren lässt. Derartige Impulse und energetische Kräfte entsprechen den Möglichkeiten des Schreibens, das aus (politischen) Trennungen fließende Übergänge macht oder das Entstehen von Formen in einem Dazwischen zwischen den Zeiten erfahren lassen kann. Genau darin sind Momente materiell-sinnlicher Unbestimmtheit enthalten, die Jorge Luis Borges anhand der Erzählung »Der Garten der Pfade, die sich verzweigen«49 als Potenz der Literatur charakterisiert hat, welche Splitter einer unbegrenzten Zahl von Geschichten enthält. Leben ist hier Potentialität; sie kann sich je nach Narrativ als Attraktion oder Spaltung, als Liebe oder Gewalt formen. Entsprechend eines solchen Modells der immanenten Potentialität im Raum der Schrift entwickelt sich dieser Text von Cristina Rivera Garza als eine Studie über die Emergenzen von Liebe und Gewalt und über die Bedeutung der leiblichen oder mentalen Distanz für die Entstehung von Gewalt gegen das Leben. Zugleich restituiert der Roman das Lebendige des Lebens als Anrufung zur Nähe, als Bedürfnis der Bindung zum Anderen. Das Sehen von Unbestimmtheit(en) verlangt eine andere Optik auf den Raum, einen Blick für die Öffnungen im Raum. Cristina Rivera Garza hat mit dem hier kommentierten Modell auch entscheidende Impulse zur Bearbeitung der Komplexität der Frontera Norte zwischen Mexiko und den USA gegeben, nämlich die Grenze als Kreuzungsraum und als Raum der Möglichkeiten, die gegeben sind, bevor sich antagonistische Strukturen bilden.50
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Zur topologischen Dimension dieses in der Erzählung El jardín de senderos que se bifurcan (1941) impliziten Modells vgl. Vittoria Borsò, »Topologie als literaturwissenschaftliche Methode. Die Schrift des Raums und der Raum der Schrift«, in: Stephan Günzel (Hrsg.), Topologie. Zur Raumbeschreibung in den Kultur- und Medienwissenschaften, Bielefeld 2007, S. 279–295. Was als eine politische Demarkation inszeniert wird, enthält auch das Fließen und Zusammenfließen von Formen, ein Prinzip, das Rivera Garza mit Bezug auf Gilles Deleuze als »colindancia« bezeichnet. Ich verweise auf den Erzählband von Cristina Rivera Garza über die Frontera Norte (La frontera más distante, Barcelona 2008).
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V.
Vittoria Borsò
Entdifferenzierung als »degré Zero« der Sozialität in globalisierten Gesellschaften
Die Erfahrung der Entortung und Entdifferenzierung hat für sogenannte nomadische Subjekte eine gewisse Evidenz. Als diasporische Gemeinschaften sind die sozialen Strukturen im Verhältnis zur dominanten Gesellschaft kontingent, was eine Chance werden kann. Denn Bindungen zum Anderen oder vom Anderen her sind jeweils auf den medialen Raum von Interaktionen angewiesen. Solche medialen Räume sind das Buch als portatiles Vaterland, Rituale, Gesten, Formen der Sozialität des säkularisierten Judentums, auf das ich – nach Emmanuel Levinas – nicht zufällig zu sprechen komme. Für den Nomaden zwischen den Kulturen sind die Grenzziehungen unstabil. Das Selbst verfügt weder über ein stabiles sprachliches oder psychisches Zentrum noch über einen Raum, in dem es definitiv zu Hause ist. »Natürliche« Grenzen zwischen Identität und Alterität, die den blinden Fleck des Identitätsdenkens darstellt, erscheinen hier als nicht bewiesen und als Fehlschluss. In einer solchen Einstellung zum Status der Grenze sieht Jean-Luc Nancy die Voraussetzung für ein Zusammenleben. Grenzen und politische Räume, so die zentrale Aussage von Nancy in La Création du monde ou la Mondialisation,51 waren schon immer komplexe und dynamische Figuren des Raums. Nun werden sie aber durch globale Bewegungen nicht mehr als feste Größen mit klaren, vorgegebenen Umrissen wahrgenommen. Grenzen sind heute vielmehr ein Index von Proximität und Kontiguität. Sie sind nicht, was uns trennt, sondern was uns vereint. Deshalb ist die »Mondialisation« auch ein sinnliches Ereignis der ständigen Produktion von Welt, und als solche stellt sie auch eine Chance dar. Hatte Nancy bereits in La communauté désœuvrée eine derartige Konfiguration als Voraussetzung für die Bildung von Gemeinschaft gesehen,52 so sind unter dem Einfluss der Globalisierung getrennte Dinge nicht mehr »am Werk«. Als »être en commun« umfasst das Sein vielmehr die Verflechtung von Geist und Körper, wie auch vom Partikulären und vom Allgemeinen, vom Teil und vom Ganzen, von Angestellten und Managern usw.53 Die These 51 52 53
Jean-Luc Nancy, La Création du monde ou la Mondialisation, Paris 2002. Ders., La communauté désœuvrée, Paris 1983. Maurice Blanchots Antwort auf Nancy führte in La communauté inavouable zum Modell von Gemeinschaft als Potentialität, als jeweils spontane, immanente Verbindung. Ein zentrales Moment dieser von der Emergenz der 68er Bewegung inspirierten Potentialität ist das Primat des Begehrens nach Zusammensein: »être ensemble qui rendait à tous le droit à l’égalité par la liberté de parole qui soulevait chacun (sur les murs); quoi donc? Cela importait peu. Le Dire primait le dit. La poésie était quotidienne.« (Maurice Blanchot, La communauté inavouable, Paris 1984, S. 52f.).
Jenseits der Vernunft des Dritten
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einer radikalen Relationalität von Mensch und Ding, von Mensch und Mensch, die von Anfang an in unseren Überlegungen zentral war, zeigt bei Nancy, dass es keine Existenz ohne Koexistenz gibt, eine zentrale These von Etre singulier Pluriel.54 Eine Fortführung dieser Überlegungen zum Zusammenleben fand in der politischen Philosophie Italiens bei Roberto Esposito statt, dessen Zusammenarbeit mit Nancy für Communitas. Origine e destino delle comunità grundlegend war. Esposito versucht hier eine Art Gegengeschichte der politischen Philosophie zu schreiben.55 Nach der Kritik des Negativitätsprinzips des Abwehrens von Risiken (Tod, Gewalt etc.), das westliche Gesellschaften begründet und die Immunität des Einzelnen gewährleistet,56 entfaltet Esposito die Philosophie des Impersonellen,57 mit der die Thanatopolitik des Gesellschaftlichen gestoppt oder umgekehrt werden soll.58 Der Begriff des Impersonellen bietet Ansätze zu einer affirmativen Lebenspolitik an. Ausgehend von der Kritik von Simone Veil an der Koppelung des Guten mit der Idolatrie der Person als zoon politikon, bezweckt das Impersonelle die Blockierung des unmerklichen Übergangs von »ich« zu einem sozialen »wir« oder auch von der Nähe-Beziehung zur Distanz des Gesellschaftlichen. Das Impersonelle setzt dabei den Akzent auf die Autonomie des Lebens von dem Mensch als Person. Es geht um die Autonomie eines »evento impersonale«, eines Sich-Ereignens des bios als Lebenskraft und Kraftfeld.59 Hier kann sich 54 55
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Jean-Luc Nancy, Etre singulier Pluriel, Paris 1996. Ausgehend von der Etymologie von communitas (cum munere) werden die Implikationen des Begriffs bei Hobbes, Rousseau, Kant, Canetti, Arendt und Sartre revidiert. Gemeinschaft ist kein eingegrenztes Territorium oder ein Besitz, sondern ein leeres Zentrum, eine Gabe (munus) und etwas, das man den Anderen schuldet (Roberto Esposito, Communitas. Origine e destino delle comunità, Torino 2006). Vgl. die weiteren Bücher der Trilogie zum Leben und Zusammenleben: Giorgio Esposito, Immunitas. Protezione e negazione della vita, Torino 2002; Ders., Biós. Biopolitica e Filosofia, Torino 2004. Vgl. Roberto Esposito, Terza persona. Politica della vita e filosofia dell’impersonale, Torino 2007. Das Impersonelle ist eine Fortentwicklung von Categorie dell’impolitico, (Bologna [1988] 1999), mit dem Esposito von Carl Schmitts Kategorien des Politischen hinwegführend einen nicht politisch verformten Blick auf die Gesellschaft zu werfen sucht. Die Thanatopolitik stellte juristische Dispositive als Pharmaka gegen die unendlichen Opferpyramiden sicher, an deren Füßen sich auch und gerade in der euroamerikanischen Geschichte Millionen von Toten angesammelt haben (»il rovescio tanatopolitico dei dispositivi giudirici della società contro l’immensa piramide del sacrificio alle falde della quale sono stati accumulati milioni di morti« (Esposito, Categorie dell’impolitico, S. 169)). In Anlehnung an Deleuze und Foucault sind diese Kraftfelder nicht in der Position der ersten oder zweiten Person, sondern in der impersonellen, dritten Person zu finden.
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Vittoria Borsò
das Zusammenleben dem ausgrenzenden Dispositiv der Person entziehen. Durch die Entdifferenzierung der Person wird auch die ursprüngliche Einheit des Lebenden restituiert. Erst hier vermag eine »irreduzible Kon-Figuration«, also eine unhintergehbare Relationalität der Lebenden, entstehen. ZusammenLeben meint also ein AndersSein als MiteinanderSein. Dies setzt ein Subjekt voraus, das sich in der Bindung zum Anderen und vom Anderen her konstituiert, aber zugleich im medialen Raum der Bindung auch eine Ausdruckspotenz findet. Das ZusammenLebensWissen kann deshalb nicht allein kognitiv (philosophisch, wissenschaftlich, soziologisch) gewonnen werden. Es bedarf der Nähe zum Lebendigen am Leben in der ästhetischen Erfahrung und im medialen Raum der Literatur und der Künste. Aber dieses Lebenswissen verändert auch die Disziplinen von Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte. Es verlangt nach einem veränderten Blick, den wir mit Esposito »unpolitisch« (im Sinne von nicht politisch vorgeformt) nennen könnten, und nach Methoden, die uns befähigen, an der Oberfläche der Buchstaben oder der Bilder und in ihrer Materialität Spuren von diesem Leben zu entdecken. Es müssen nämlich Methoden sein, die Leser und Betrachter mit einem Ohr für die Ansprache des Lebens ausstatten und zu einem Wissen für das Leben befähigen.
Literatur – Erzählen – ZusammenLeben
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Vera Nünning (Heidelberg)
Literatur – Erzählen – ZusammenLeben
Dass Literatur und ZusammenLeben eng miteinander verbunden sind, ist offensichtlich und kann problemlos als eine der Prämissen dieses Bandes vorausgesetzt werden. Nicht ganz so offensichtlich erscheint das Hinzunehmen des Erzählens, das, so die zugrunde liegende These, sehr eng und vielschichtig sowohl mit der Literatur als auch mit dem ZusammenLeben verknüpft ist. Entsprechend geht es im Folgenden um die Schnittflächen zwischen den drei großen Bereichen von Literatur, Erzählen und ZusammenLeben. Was ergibt sich aus diesem Zusammenwirken, welche Vorteile hat diese Symbiose? Symbiosis, das ist hier vielleicht einer Erwähnung wert, wird aus den griechischen Wurzeln von syn/sym, also ›zusammen‹, und bios, dem ›Leben‹, abgeleitet.1 In der Biologie bezeichnet es die Lebensgemeinschaft unterschiedlicher Arten, die für beide vorteilhaft ist. Im Spannungsfeld zwischen Biologie und Psychologie entsteht hier eine interessante Ambivalenz: Einerseits wird Symbiose beschrieben als die Vergesellschaftung von Individuen, die sich positiv auswirkt. Andererseits bezeichnet es die Lebensgemeinschaft von selbständigen Wesen, die im ersten Lebensjahr eines Kindes mit seiner Mutter besteht, dann aber zur Individuation des Kindes führen sollte. Bei Beziehungen zwischen Erwachsenen schlägt diese Art der Verbindung ins Negative um: Sie kann zu Hörigkeit, Aggression und Hass führen. Diese Vielschichtigkeit von sym-biosis, das Schillern zwischen Individuation und Vergesellschaftung, zwischen vorteilhaft enger Gemeinschaft und sich negativ auswirkender Abhängigkeit, scheint mir insofern von Belang, als es bereits auf eine weitere Beziehung verweist: die zwischen individuellem Leben und ZusammenLeben. Ob man Symbiose als Prozess der Vergesellschaftung versteht oder als Mangel an Individuation – ein gelungenes ZusammenLeben erfordert Individuen, die nicht nur von der Gemeinschaft abhängig sind, sondern zum ZusammenLeben erforderliche Bereitschaft, Einstellungen und Fähigkeiten haben. In anderen Worten: ZusammenLeben steht in enger Wechselwirkung mit individuellem Leben, Gemeinschaft mit persönlicher Identität. 1
Zu einer ausgezeichneten, wesentlich ausführlicheren Erörterung der Implikationen des Begriffs der ›Symbiose‹ für das Verhältnis zwischen Literatur und ZusammenLeben vgl. den Beitrag von Yvette Sánchez in diesem Band.
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Vera Nünning
Damit wird die bislang stillschweigend vorausgesetzte Beziehung zwischen Leben und ZusammenLeben zu einem weiteren Bereich, den es bei der Beschäftigung mit den Verbindungen zwischen Literatur, Erzählen und ZusammenLeben zu bedenken gilt. Ausgehend von dieser kleinen, aber zentralen Schnittfläche möchte ich in größer werdenden Kreisen vorgehen und mich mit der Beziehung zwischen erzählender Literatur und Leben beschäftigen; im Anschluss daran mit der zwischen Erzählliteratur und ZusammenLeben. Die Verschränkung zwischen Leben und ZusammenLeben wird sich als ein roter Faden durch die folgenden Überlegungen ziehen.
I.
Erzählen – Leben
Über die Beziehung zwischen Leben und Erzählen haben sich Geschichtstheoretiker, Psychologen, Philosophen und unlängst auch einige Narratologen die Köpfe zerbrochen; seit den bahnbrechenden, in vielerlei Hinsicht immer noch grundlegenden Arbeiten von Jerome Bruner hat sich zudem die narrative Psychologie als eigene (Sub-)Disziplin etabliert. Grundsätzlich bestehen zwei Thesen zur Beziehung zwischen Leben und Erzählen. Die eine, die auch ›starke‹ Narrativitätshypothese genannt worden ist, setzt bereits eine narrative Struktur des Lebens voraus, die durch das Erzählen lediglich expliziert, gewissermaßen ausbuchstabiert wird. Die andere, ›schwache‹ Narrativitätshypothese sieht keine Kontinuität zwischen Leben und Erzählen; vielmehr wird dem Leben durch die Narration eine andere, neue Struktur verliehen.2 So weit, so gut. Ein Problem tritt jedoch dann zutage, wenn man sich anschaut, wie die unterschiedlichen Theoretiker das Leben definieren – oder zumindest das, was sie stillschweigend als Leben anzusehen scheinen. So gehen Psychologen und Kognitionswissenschaftler davon aus, dass schon unsere Wahrnehmungen selegiert und gestaltet werden, um überhaupt Orientierung zu erlauben – eine nicht geringzuschätzende Fähigkeit, die schon 2
Zu einer Gegenüberstellung der Positionen vgl. insbesondere Matti Hyvärinen, »Towards a Conceptual History of Narrative«, in: Ders./Anu Korhonen/Juri Mykkänen (Hrsg.), The Travelling Concept of Narrative (= COLLeGIUM. Studies across Disciplines in the Humanities and Social Sciences 1), Helsinki 2006, S. 20–41, hier S. 22–27. Siehe auch Arnulf Deppermann/Gabriele Lucius-Hoene, Rekonstruktion narrativer Identität. Ein Arbeitsbuch zur Analyse narrativer Interviews, Opladen 2002, S. 54, sowie Guy A. M. Widdershoven, »The Story of Life. Hermeneutic Perspectives on the Relationship Between Narrative and Life History«, in: Ruthellen Josselson/Amia Lieblich (Hrsg.), The Narrative Study of Lives. Bd. 1, Newbury Park, CA 1993, S. 1–20, hier S. 3–5.
Literatur – Erzählen – ZusammenLeben
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Säuglingen viel abverlangt. Demzufolge brauchen wir Symbolsysteme, um unserem Erleben, unseren Perzeptionen und Gefühlen Sinn zu verleihen, und erst durch Erzählungen wird es möglich, Leben zu verstehen, zu erinnern und mitzuteilen.3 Verfechter der ›starken‹ Narrativitätshypothese scheinen das Leben jedoch ganz anders zu bestimmen: So konzentriert sich Theodore Sarbin auf die narrative Qualität von Handlungen (und Emotionen), denen schon aufgrund ihrer Intentionalität, des Situationsbezugs und der Zielgerichtetheit eine narrative Struktur zugeschrieben werden kann. Auf dieser Grundlage ergeben sich deutliche Übereinstimmungen zwischen Menschen und Figuren in Erzählungen, an denen sich Menschen in ihrem Leben und Sterben, wie Sarbin ebenfalls zeigt, oft orientieren.4 Dies würden jedoch auch die vermeintlich dem entgegengesetzten Lager zugerechneten Wissenschaftler wohl kaum leugnen, spricht Sarbin doch von bereits gedeutetem Leben, das von den ungeordneten Wahrnehmungen weit entfernt ist. Trotz plakativer, gegensätzlicher Äußerungen darüber, ob Geschichten nun gelebt oder erzählt werden, ob gefunden oder konstruiert, ist eine grobe Gegenüberstellung der beiden Positionen, die momentan in der Fachliteratur vorherrscht, daher nicht unproblematisch.5 Auch das Postulieren einer dritten, mittleren Position, die Donald Polkinghorne im Anschluss an seine Deutung von Paul Ricœur vorgenommen hat, macht die Sache nicht einfacher, denn es wird nicht ganz deutlich, was denn nun die ›pränarrativen‹ Erfahrungen sind, die Polkinghorne zufolge in späteren Erzählungen expliziert werden.6 3
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Die Qualitäten von Erzählungen, die diese zu herausragenden Medien des Verständnisses von Leben werden lassen, werden später deutlich; vorweg geschickt sei hier ihre Fähigkeit, andere Diskursformen zu integrieren. Vgl. Theodore R. Sarbin, »The Narrative Quality of Action«, in: Theoretical and Philosophical Psychology 10/1990, 2, S. 49–65, sowie Ders., »Emotions as Narrative Emplotments«, in: Richard M. Addison/Martin J. Packer (Hrsg.), Entering the Circle: Hermeneutic Investigation in Psychology, Albany 1989, S. 185–201. Sogar Sarbin geht in einem gemeinsam mit Mancuso veröffentlichten Aufsatz (James Mancuso/Theodore Sarbin, »The Self-Narrative in the Enactment of Roles«, in: Theodore Sarbin/Karl Scheibe (Hrsg.), Studies in Social Identity, New York 1986, S. 233–253, hier S. 234) davon aus, dass Menschen den chaotischen Wahrnehmungen Sinn zuweisen müssen, was durch Erzählstrukturen geschieht. Vgl. auch ebd. S. 234f. Zur Postulierung einer mittleren Position vgl. Donald Polkinghorne, »Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein. Beziehungen und Perspektiven«, in: Jürgen Straub (Hrsg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein. Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt a. M. 1998, S. 12–45, hier S. 22; Polkinghorne scheint die ›pränarrativen Erfahrungen‹ jedoch nicht auf der Ebene der Perzeptionen anzusetzen, sondern auf der Ebene alltäglicher Handlungen.
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Im Kern geht es hier um die Bestimmung von Leben, das in der ›starken‹ Narrativitätshypothese teils stillschweigend mit ›gedeutetem Leben‹ gleichgesetzt wird. Dies scheint mir jedoch zu kurz gegriffen. Ich möchte vielmehr vorschlagen, Leben in einer Weise zu konzipieren, die sowohl Er-Leben als auch gedeutetes Leben umfasst. Wenn man Perzeptionen, Bilder, »bare sensations, particular images, disconnected slices of life, ›spots of time‹«7, zum Leben dazu zählt und wenn man eingesteht, dass es traumatische Erfahrungen gibt, die vor ihrer Bewältigung durch und mit Erzählungen gerade nicht erzählt werden können, dann besteht ein Spannungsverhältnis zwischen Erleben und Erzählen; Geschichten und das Verständnis von Erzählungen bekommen somit eine Bedeutung für das Leben, die nicht überschätzt werden kann. Erst durch Reflexion und Interpretation werden pränarrative Wahrnehmungen, werden Transzendenzerlebnisse und Erfahrungen des Erhabenen zu gedeutetem Leben. Damit wird gleichzeitig ein Prozess umgewandelt in eine Form, die gleichwohl immer wieder neu aufgegriffen und verändert wird – nach den Regeln der Erzählung. Diese gestalten Leben durch die Deutung, die sie ihm verleihen; schließlich betonen nicht nur Psychotherapeuten, dass jedes Ereignis auf völlig verschiedene Weisen erzählt und damit interpretiert werden kann.8 Der Sinn, den ich meinen Erfahrungen zuweise, ist von unterschiedlichen Faktoren beeinflusst – und er ändert sich im Laufe der Zeit, wird angepasst an das sich verändernde Selbstbild, an die gegenwärtige Situation und vor allem an die jeweiligen Ziele. Insbesondere jedoch 7
8
Lewis P. Hinchman/Sandra K. Hinchman, »Introduction«, in: Ders./Dies. (Hrsg.), Memory, Identity, Community. The Idea of Narrative in the Human Sciences, Albany 1997, S. xiii–xxxii, hier S. xvi. Diese Perzeptionen werden bei Hinchman und Hinchman jedoch zu ›pränarrativen Erfahrungen‹ im Sinne Polkinghornes gezählt. Bereits die Wahrnehmungen sind gefiltert, obgleich sie relativ unbeeinflusst von aktiver Imagination und Deutung zu sein scheinen. Vgl. dazu Catherine E. Kerr, »Dualism Redux in Recent Neuroscience. ›Theory of Mind‹ and ›Embodied Simulation‹ Hypotheses in Light of Historical Debates About Perception, Cognition, and Mind«, in: Review of General Psychology 12/2008, 2, S. 205–214, hier S. 210, die darauf hinweist, dass bereits die Wahrnehmungen, mit denen wir jede Sekunde konfrontiert werden, einen hohen Grad an Selektion, an ›Filtern‹ (durch bayesian filters) und Gestaltung erfordern, um Orientierung überhaupt zu ermöglichen. Zu einem Überblick über unterschiedliche Forschungsrichtungen, die zu erklären versuchen, wie die Auswahl von salient features bei Perzeptionen erfolgt, vgl. ebd., S. 210ff. Vgl. Roy Schafer, »Narration in the Psychoanalytic Dialogue«, in: Critical Inquiry 7/1980: S. 29–53, insbesondere S. 30 und 40f.; sowie Lucius-Hoene/Deppermann, Rekonstruktion, S. 60; diese Auffassung liegt auch Antonovskys sehr lesenswerten Ausführungen zum ›sense of coherence‹ zugrunde; vgl. Aaron Antonovsky, Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit, Tübingen 1997, S. 34–36.
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wird er geprägt durch die Form der Erzählung, mit der man ein zunächst diffuses Ereignis allererst versteht und damit memorierbar und enkodierbar macht, sowie durch die Form der Lebensgeschichte, in die man das jeweilige Ereignis zum Zeitpunkt der Vergegenwärtigung der Erinnerungen integriert. Das, was häufig die ›weak narrative hypothesis‹ genannt wird, derzufolge die Ereignisse und das Leben zunächst nicht narrativ strukturiert sind, erweist sich demnach als eine sehr starke Hypothese, wenn es um die Bedeutung von Erzählungen geht. Was immer das Leben auf der ›pränarrativen‹ Erfahrungsebene auszeichnet: Die Bedeutung des Lebens kann nur in Erzählungen verstanden und erzeugt werden.9 Erzählungen sind unsere Art und Weise, uns zum Erleben zu verhalten, Sinn zu stiften und Überleben zu sichern. Erzählungen sind etwas fundamental anderes als Erlebnisse; Leben wird gestaltet in Erzählungen.10 Jerome Bruner hat dargelegt, dass Erzählen zugleich eine Denkweise ist, eine Art des Zugriffs auf die Wirklichkeit, der unsere Sicht der Realität – und damit natürlich auch unser Handeln – prägt. Bruner, der auf Einsichten Nelson Goodmans aufbaut, betont, dass wir das Verständnis der physischen Welt sehr differenziert durchleuchtet haben, unser Verständnis des alltäglichen Lebens, unseres Erlebens und unserer Erfahrungen hingegen weitgehend implizit bleibt. Während wir die grundlegenden Zugriffsweisen naturwissenschaftlichen, argumentativen, ›propositionalen‹ Denkens mühsam und bewusst erlernen, ist das ›narrative Denken‹, mit dem wir unser Leben ordnen und verstehen, so ubiquitär und wird so früh erlernt, dass wir uns der Regelhaftigkeit und der Leistungen dieser Denkweise gar nicht bewusst sind. 9
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Vgl. auch die folgende Aussage in einem Aufsatz, der aus narratologischer Sicht streckenweise doch zu kurz greift: »the meaning of life cannot be determined outside of the stories told about it.« Siehe: Widdershoven, Story of Life, S. 2. Erzählungen sind bisherigen Erkenntnissen zufolge insofern universal, als sie in allen Kulturen zu finden sind; ihre Ausprägungen gehorchen jedoch kulturspezifischen und historisch variablen Regeln, die bestimmen, was gesagt werden sollte. Vgl. zur kulturellen und sozialen Gebundenheit von Erzählungen etwa Katherine Nelson, »Narrative and Self, Myth and Memory. Emergence of the Cultural Self«, in: Robyn Fivush/Catherine A. Haden (Hrsg.), Autobiographical Memory and the Construction of a Narrative Self. Developmental and Cultural Perspectives, Mahwah, NJ, 2003, S. 3–28, hier S. 19–21; sowie Jerome Bruner, »Life as a narrative«, in: Social Research 71/1987, 3, S. 691–710. Hinzu kommt, dass in verschiedenen Disziplinen (und Diskursen) unterschiedliche Konventionen für Erzählungen vorherrschen. Vgl. dazu Christian Klein/Matías Martínez (Hrsg.), Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, Stuttgart 2009.
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Und diese Leistungen sind enorm: die Herstellung eines räumlich-zeitlichen Zusammenhangs, die Identifikation und Charakterisierung von Figuren, die Zuschreibung von Handlungsrollen sowie Intentionen und die damit verbundene Konstruktion von Ereignissen – dies sind nur einige der wichtigen Funktionen, die Erzählungen erfüllen.11 Aus narratologischer Sicht sind es vor allem acht Charakteristika, die für Erzählungen maßgeblich sind und das narrative Denken prägen – wobei ich gestehen muss, dass in der Fachliteratur häufig nur die ersten vier genannt werden:12 (1) die Situierung von Erzählungen in einer konkreten Kommunikationssituation (der Adressatenbezug); (2) die Schaffung einer Welt, die Zustandsveränderungen beinhaltet (eine ›story‹, mit Anfang, Mitte und Ende); (3) die lineare Form (die Sequentialität); (4) der subjektive Erfahrungsgehalt (anstelle der Darstellung abstrakter Sachverhalte); (5) die Perspektivierung; (6) die Vielschichtigkeit der Erzählebenen und die darin inhärente Möglichkeit der Distanzierung und Reflexion;13 (7) die Formung durch Genrekonventionen und (8) die inhärente moralische Positionierung (Erzählungen gestalten und vermitteln Werte).14 Alle Charakteristika üben einen großen Einfluss auf die Sinnzuweisung aus, die den Ereignissen durch die Form der Erzählung zugewiesen wird. Dass bereits die Wahl des Anfangs beziehungsweise Ursprungs von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist, wird insbesondere in der Psychotherapie 11
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Vgl. dazu auch Nicolas Pethes, Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien zur Einführung, Hamburg 2008, S. 124f. Zu den ersten vier Charakteristika vgl. auch David Herman, »Narrative Ways of Worldmaking«, in: Sandra Heinen/Roy Sommer (Hrsg.), Narratology in the Age of Cross-Disciplinary Narrative Research (= Narratologia 20), Berlin/New York 2009, S. 71–87, hier S. 74f. Dies betrifft allerdings ›nur‹ Erzählen im Alltag bzw. Erzählliteratur: Dramen, in denen erzählt wird, weisen nicht notwendig verschiedene Erzählebenen auf. Der Begriff ›Erzählebenen‹ umfasst hier die Unterscheidung in die Ebene der Geschichte (der handelnden Charaktere) und die Ebene des Erzählvorgangs (der auf einer anderen zeitlichen und räumlichen Ebene angesiedelt ist). Im Drama findet man nur selten Erzählfiguren, die durch das Geschehen leiten (etwa im epischen Theater bei Bertolt Brecht oder in Peter Shaffers Amadeus (1979)). Eingebettete Erzählungen (in denen auf der Figurenebene Charaktere berichten, was sich zuvor zugetragen hat) sind jedoch auch in Dramen häufig zu finden. Vgl. dazu auch Jerome Bruner, »The Narrative Construction of Reality«, in: Critical Inquiry 18/1991, 1, S. 1–21, S. 15f., sowie Hinchman und Hinchman, Introduction, xxviii, und Vera Nünning, »The Making of Fictional Worlds. Processes, Features and Functions«, in: Dies./Ansgar Nünning/Birgit Neumann (Hrsg.), Cultural Ways of Worldmaking. Media and Narratives, Berlin 2010, S. 215–243, hier S. 223–236, sowie Lucius-Hoene/Deppermann, Rekonstruktion, S. 43.
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beachtet.15 Inwiefern durch das ›narrative Denken‹ Bedeutung erzeugt wird, möchte ich an einem Beispiel verdeutlichen. Vergleichen Sie bitte die folgenden beiden Sätze: Er kaufte sich eine Alarmanlage, und in seinem Haus wurde eingebrochen. In seinem Haus wurde eingebrochen, und er kaufte sich eine Alarmanlage. Schon in solch minimalen Erzählungen wird offensichtlich, dass das bereits von Roland Barthes betonte Prinzip gilt: ›post hoc‹ ist ›propter hoc‹;16 was später erfolgt, ist eine Konsequenz des Früheren. Wir hören eine Sequenz und konstruieren einen temporalen und kausalen Zusammenhang: In Bezug auf die Beispielsätze ist es im ersten Fall Ironie des Schicksals, dass in dem Haus eingebrochen wurde, nachdem gerade eine Alarmanlage angeschafft worden war, im zweiten Fall ist es eine logische Abfolge der Dinge. Die Konjunktion ›und‹ sagt aber nichts über temporale Zusammenhänge aus; noch viel weniger über kausale. Diese Beziehungen werden von uns unterstellt; wir deuten unsere Erfahrungen gemäß den Konventionen von Erzählungen. Die Erzählung ist daher nicht nur irgendeine neutrale Form, in die Erfahrungen ›gegossen‹ werden können; durch die Erzählung nimmt Leben Gestalt an. Wir können das gleiche Ereignis als Komödie und als Tragödie erzählen, uns selbst eine Rolle als Opfer oder als Agens zuweisen. Sehr wichtig für das Verständnis von Leben ist insbesondere ein Aspekt, der in der Forschung meines Wissens bislang völlig missachtet wurde: der Einfluss von Genrekonventionen. Diese mögen zwar den Erzählern ebenso wenig bewusst sein wie den Zuhörern, sie prägen aber dennoch deren Erwartungshaltungen und Handlungen genau so wie die Wahl eines Erklärungsschemas etwa aus der Mikro- oder der Makrobiologie. Zugleich bekommen wir durch Erzählungen die Macht, unser Leben kreativ zu gestalten: »Narrative […] emphasizes the active, self-shaping quality of human thought, the power of stories to create and refashion personal identity.«17 Damit ist schon eine Funktion von Erzählungen benannt, die für unser eigenes Leben maßgebend ist: Wir etablieren unsere Identität durch unsere 15
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Vgl. den sehr guten Aufsatz zu Anfängen von Nils Buch Leander, »To Begin with the Beginning. Birth, Origin and Narrative Inception«, in: Brian Richardson (Hrsg.), Narrative Beginnings. Theories and Practices, Lincoln/London 2008, S. 15–28. Vgl. Roland Barthes, »Introduction to the Structural Analysis of Narratives«, in: Ders. (Hrsg.), Image, Music, Text (Übers. Stephen Heath), New York 1977 [1966], S. 79–124, hier S. 94: »the mainspring of narrative is precisely the confusion of consecution and consequence, what comes after being read in narrative as what is caused by.« Hinchman und Hinchman, Introduction, S. xiv.
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Erzählungen, wir konstruieren und rekonstruieren unser Leben jeden Tag neu: »A self is probably the most impressive work of art we ever produce, surely the most intricate.«18 Wir erschaffen unsere Identität und unser Verständnis von unserem Leben, indem wir unsere Erfahrungen uns selbst und anderen in einer Form erzählen, die einen einigermaßen haltbaren Ausgleich zwischen Kontinuität und Anpassung an die gegenwärtige Situation gewährleistet.19 Leben ist nicht fassbar im Rekurs auf die vergangenen Ereignisse, es wird konstruiert durch einen kontinuierlichen Interpretationsprozess, der in Form von Erzählungen erfolgt; in der Erschaffung unserer Identität betätigen wir uns alle als Künstler.20 Was aber leistet die Erzählung, wenn man absieht von psychologischen Funktionen der Orientierung und Identitätsstiftung?21 Hier kann die Etymologie einen wertvollen Hinweis liefern. Das ›Er-Zählen‹, das das ›Er-Leben‹ in gedeutetes Leben verwandelt, leitet sich her von dem Verb zählen, auflisten, in geordneter Folge sagen, berichten. Dieser Bezug zu messbaren logischen Schritten ist im spanischen ›contar‹ noch offensichtlicher; die Verbindung zur Rationalität wird sehr deutlich in dem lateinischen Substantiv ›narratio‹, die doch lange so behandelt wurde, als ob ihr die Ratio abhanden gekommen sei. Ebenso wie eine grundsätzliche Spannung besteht zwischen Er-Leben und dem gedeuteten Leben, so besteht eine Spannung zwischen einer rationalen, regelgeleiteten Komponente der Erzählung, die sich etwa in 18
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Jerome Bruner, Making Stories. Law, Literature, Life, Cambridge, MA, 2003 [2002], S. 14. Zur Bedeutung von narrativer Anschlussfähigkeit für die Enkodierung von Erlebnissen bzw. Erinnerungen und zur Balance zwischen ›adaptive correspondence and self-coherence‹ vgl. u. a. Martin Conway/Jefferson A. Singer/Angela Tagini, »The Self and Autobiographical Memory. Correspondence and Coherence«, in: Social Cognition 22,5 (2004), S. 491–529, hier S. 522. Vgl. auch Bruner 2003 [2002], S. 64f.: »Self-making is a narrative art.« Völlig frei sind wir in diesem Gestaltungsprozess allerdings nicht; wir handeln immer in kulturellen Rahmen; vgl. Dan P. McAdams, »Identity and the Life Story«, in: Robyn Fivush/Catherine A. Haden (Hrsg.), Autobiographical Memory and the Construction of a Narrative Self: Developmental and Cultural Perspectives, Mahwah, NJ, 2003, S. 187–207, hier S. 196. Zu Funktionen von Erzählungen vgl. auch Jürgen Straub, »Geschichte erzählen, Geschichte bilden: Grundzüge einer narrativen Psychologie historischer Sinnbildung«, in: Ders. (Hrsg.), Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein: Die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, Frankfurt a. M. 1998, S. 81–169, hier S. 126–142, sowie Ders., »Kann ich mich selbst erzählen? Prologomena zu einer Kulturpsychologie des Homo Narrator«, in: Alexandra Strohmaier (Hrsg.), KulturWissen-Narration. Perspektiven transdiziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Graz (im Druck).
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einer inhärenten Ordnungsgebung in Anfang, Mitte und Ende, in verschiedenen Genres und Kausalitätsmustern zeigt, und einer entgegengesetzten Kraft, die von der Erfahrungshaftigkeit ausgeht, die jene Komplexität und Dynamik betont, die aus psychologischer Sicht so wichtig für die Leistung von Erzählungen sind, sowie den ›breach of the canonical‹, der teilweise als maßgebliches Kriterium von Narrationen genannt wird. Bislang habe ich mich vor allem auf das Erzählen als Form und als Denkweise konzentriert; mit Blick auf die Literatur ist aber natürlich auch das Resultat dieser Tätigkeit, die Erzählung, von Interesse. Diese verkörpert nicht nur die Prozesse der Sinngebung, sie dient auch der Vermittlung von Werten und von Handlungsmustern sowie von ›canonical scripts‹, die in einer Kultur kursieren und maßgeblich für deren imaginativen Zusammenhalt verantwortlich sind.22 Erzählungen sind somit zugleich Mittel der Deutung und Gestaltung des Sinns, den wir unserem eigenen Leben zuweisen, und Fundus von Mustern, Vorbildern und Interpretationsmöglichkeiten. Ob als Prozess oder als Produkt: Erzählungen vermitteln Werte, ermöglichen Verständnis und prägen unsere Vorstellung vom Leben. Das ›Leben an sich‹ ist uns nicht zugänglich; wir brauchen Symbolsysteme, um uns ihm zu nähern, und Erzählungen spielen eine besondere Rolle in diesem Prozess. Natürlich ist häufig diskutiert worden, warum gerade Erzählungen für unser Verständnis vom Leben so wichtig sind. Mit Blick auf das Individuum ist unter anderem hervorgehoben worden, dass Erzählungen es ermöglichen, unterschiedliche selves in einer einheitlichen Form zu integrieren. Ob es sich um possible selves handelt oder um ought selves, um ideal oder undesired selves, oder auch um ganz heterogene Rollenmodelle, in einer Erzählung lässt sich alles vereinigen. Narratives Denken »versöhnt Kategorien, die vielfach als unvereinbar gelten: Identität und Verschiedenheit, Einheit und Differenz, Kontinuität und Diskontinuität«.23 Wie literarische Werke, so sind auch Erzählungen auf 22
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Vgl. dazu auch David Novitz, »Art, Narrative, and Human Nature«, in: Philosophy and Literature 13/1989, 2, S. 57–74, hier S. 66: »The fact that life-narratives tend to guide and regulate our behavior is of the greatest social significance.« Auch David Herman, »Stories as a Tool for Thinking«, in: Ders. (Hrsg.), Narrative Theory and the Cognitive Sciences, Stanford, CA, 2003, S. 163–192, hier S. 182 betont: »narrative provides templates for behaviour in physical as well as moral-cultural worlds«. Vgl. Jürgen Straub, »Identitätstheorie, empirische Identitätsforschung und die ›postmoderne‹ armchair psychology«, in: Zeitschrift für Qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 1/2000, 1, S. 167–194, hier S. 173. McAdams, »Identity«, S. 193 verweist nicht nur auf die unterschiedlichen selves, er weist sogar auf die Inkompatibilitäten zwischen unterschiedlichen ideal selves hin, die er imagoes nennt. Als Beispiel gibt er »different personifications of the me – the self-as-loving-wife, the self-as-ardent-feminist« etc.
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Vera Nünning
eine logische Kohärenzierung ihrer einzelnen Bestandteile angewiesen. Sie eignen sich daher besonders für ein Leben, das »von Widersprüchen und vom Zusammenprall verschiedenster Logiken«24 geprägt ist. Um dem Erleben Sinn zu verleihen – und um Widersprüche zwischen entgegengesetzten Logiken und Weltmodellen verhandeln zu können – steht uns eine Vielfalt von Erzählungen zur Verfügung, aus denen wir eine Auswahl treffen und die wir zugleich zu unseren eigenen Zwecken umformen und gestalten können. In einer von Fragmentarisierung, Beschleunigung und Deontologisierung geprägten Welt sichert das Erzählen die Sinnhaftigkeit von Existenz. Erzählungen sind lebenswichtig.25
II.
Literatur – Erzählen – Leben
Was aber geschieht, wenn wir den Kreis zugleich ausweiten und eingrenzen und Literatur mit ins Spiel bringen? Inwiefern verändert sich das Feld, wenn es sich um Fiktion handelt und nicht um Alltagserzählungen? Auf diese Fragen gibt es eine Fülle von Antworten, aus denen ich hier nur einige wenige Aspekte herausgreifen kann. Auch möchte ich den Zusammenhang zwischen literarischem Erzählen und Leben in einer Weise beleuchten, die, vom Individuum ausgehend, den Bezug zum ZusammenLeben durchscheinen lässt und den Blick auf die kognitiven und emotionalen Prozesse lenkt, die Individuen in der Beschäftigung mit literarischen Texten ausprägen können. Um mit einer These zu beginnen: Alle Leistungen des Erzählens als Denkweise, als Mittel der Identitätsherstellung und als Text, der Deutungsweisen für das Leben zur Verfügung stellt, werden auch von Erzählliteratur erfüllt. Entsprechend machen etwa Theodore Sarbin oder Jerome Bruner keinen Unterschied zwischen fiktionalen und nichtfiktionalen Erzählungen, wenn sie deren Wirkung auf das Leben in den Blick nehmen.26 Dies ist natürlich umstritten; so meint etwa Guy Widdershoven, dass Paul Ricœur die 24
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Ottmar Ette, ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin 2005, S. 69. Dass Erzählungen erlauben, entgegengesetzte ›Wahrheiten‹, die in Maximen formuliert werden, auszubalancieren, betont auch Herman, »Stories«, S. 182. Ein Gefühl für die Sinnhaftigkeit von Existenz ist von Aaron Antonovsky als maßgeblicher gesundheitsfördernder Faktor beschrieben worden; vgl. zu Antonovskys auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht sehr interessanten Überlegungen zum ›sense of coherence‹ besonders: Antonovsky, Salutogenese, S. 34–36. Jürgen Straub zufolge bildet die motivierende Kraft von Erzählungen eine von deren Funktionen; vgl. Ders. (im Druck). Vgl. Sarbin, Quality; Bruner, Making Stories, sowie Ders., Narrative Construction.
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Bedeutung von Literatur überschätze, weil dieser der enge Bezug zum Leben fehle. Literarische Erzählungen könnten daher keine Wirkung ausüben.27 Dies ist aber gerade nicht der Fall; beziehungsweise es wird die größere Distanz zum Leben zur Voraussetzung für die engere Beziehung zum Leben. Nun möchte ich nicht postulieren, dass literarische Erzählungen den gleichen Bezug zum Leben aufweisen wie Alltagserzählungen; dafür sind die Unterschiede zwischen fiktionalen und referentiellen Deutungen des Lebens zu offensichtlich. Ausschlaggebend scheint mir in Bezug auf die Wirkung von Literatur auf das Leben, dass literarische Erzählungen nicht in die Alltagskommunikation integriert sind. Leser und Leserinnen sind nicht an die situativ gültigen Normen gebunden; sie müssen sich nicht damit beschäftigen, inwiefern das Erzählte die eigene Deutung ihres Lebens, die gegenwärtigen Ziele und die Rechtfertigung ihres Verhaltens tangiert. Immanuel Kant zufolge rezipieren wir Kunst im Zustand des interesselosen Wohlgefallens: Einerseits wird alles menschliche Vermögen in Gang gesetzt, wir brauchen unseren Verstand, unsere Emotionen und unsere Einbildungskraft. Andererseits sind wir aus den Zwängen und Mustern, die in unserem alltäglichen Leben gelten, herausgelöst; wir können uns auf Sichtweisen einlassen und imaginativ Alternativen ausprobieren, die uns in ›realen‹ Kommunikationssituationen gefährlich werden und schaden könnten.28 Während wir im Alltag ökonomisch mit unserer Zeit umgehen müssen und uns in der Regel auf vertraute Interpretationsmuster verlassen, während wir uns gegen das abschotten müssen, was unseren lieb gewonnenen Sichtweisen zuwiderläuft, können wir in der Beschäftigung mit Literatur alternative Welten imaginieren – Welten, die uns neue Deutungsweisen von Welt erschließen. Der vermeintlich größere Abstand zum Leben führt daher zugleich zu einer größeren Nähe, zu einem größeren Wirkungspotential von literarischen Erzählungen.29 27
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Vgl. Widdershoven, Life, S. 8: »Ricœur seems to forget that stories have to have a foundation in life, if they are to be effective.« Daher müsse Ricoeur sich mehr auf Alltagserzählungen konzentrieren. Vgl. dazu auch Siegfried J. Schmidt, Grundriß der Empirischen Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1991, S. 110–143. Dabei ist vorausgesetzt, dass Erzählungen immer in einem Bezug zum Leben stehen, dass sie Menschen oder menschenähnliche Wesen als Handelnde haben und dass sich diese auf eine Art verhalten, die in irgendeiner Weise für uns verständlich ist. Brian McHale postuliert entsprechend, dass sogar ein Genre wie Science Fiction durch die Bereitstellung von ›case studies‹ wichtige Aussagen über unsere gegenwärtige Lebenswelt trifft; vgl. Brian McHale, »Science Fiction, or, The Most Typical Genre in World Literature«, in: Pirjo Lyytikäinen u. a. (Hrsg.), Genre and Interpretation, Helsinki (im Druck).
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Neben diesem ganz grundsätzlichen Vorzug lassen sich jedoch eine Reihe von weiteren Charakteristika benennen, die in der Literatur wesentlich stärker ausgeprägt sind als in konkreten Gesprächssituationen. Da ist zum einen der kunstvolle Sprachgebrauch zu nennen, die präzise und doch oft ungewohnte Bezeichnung von Gegenständen und Situationen, die uns neue Wahrnehmungsweisen eröffnen kann. Insbesondere in Bezug auf die Darstellung von psychischen Vorgängen und Emotionen kann die genaue Beschreibung zur Grundlage eines besseren Verständnisses von uns selbst und anderen werden: Denn was wir nicht beschreiben können, können wir auch nicht verstehen.30 Ein auch mit Blick auf das ZusammenLeben kaum zu überschätzender Vorteil liegt in den Möglichkeiten der Grenzüberschreitung, die vor allem literarische Werke bereitstellen. So wird es durch Literatur möglich, die eigene Lebenszeit zu transzendieren: Wir erhalten imaginative Einblicke in das, was vor uns geschah und was später geschehen könnte; wir können unser Handeln in einen größeren Zeitrahmen einbetten und mögliche Konsequenzen in den Blick nehmen, die uns sonst verschlossen geblieben wären. Mehr noch: Zeitgrenzen können in Bewegung geraten; »die Erinnerungen an das Vergangene und die Projektionen in die Zukunft [können sich] in einer Unvergänglichkeit vergangener Zukunft überschneiden.«31 Ähnliches gilt für räumliche Grenzen. In fremden Räumen kann durch Erzählungen Vertrautes aufblitzen, Grenzen können verschoben oder durchlässig werden. Gerade für interkulturelles ZusammenLeben bildet die Erfahrung von anderen Räumen und Zeiten, von bis dahin unbekannten kulturellen Werthierarchien und Verhaltensnormen eine wichtige Grundlage. Die wohl wichtigste, für Literatur charakteristische Grenzüberschreitung besteht jedoch in der Überwindung der Schranke, die uns von der Einsicht in die Bewusstseinsvorgänge, in das Denken und Fühlen anderer trennt. Die Entwicklung der Fähigkeit, andere Menschen als intentional handelnde Personen mit ihrem eigenen Werte- und Wissensstand zu erkennen, ist als der Beginn der menschlichen Kultur bezeichnet worden; sie ist gleichermaßen grundlegend für menschliche Kommunikation und für kulturelles 30
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Vgl. Paul Ekman (Hrsg.), Gefühl und Mitgefühl. Emotionale Achtsamkeit und der Weg zum seelischen Gleichgewicht. Ein Dialog zwischen dem Dalai Lama und Paul Ekman (Übers. Matthias Reiss), Heidelberg 2009, S. 43; der Gedanke findet sich schon bei Wilhelm von Humboldt, der in vielen Schriften auf die Bedeutung der Sprache für das Denken hinwies. Vgl. Ette, ZwischenWeltenSchreiben, S. 10. Da Projektionen in die Zukunft immer nur als imaginierte, ›vergangene‹ Zukunft denkbar sind, erweitern Fiktionen den Bedeutungsrahmen für Zukunftsentwürfe in maßgeblicher Weise.
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Lernen.32 Psychologen halten diese Form von ›sozio-kultureller Kognition‹ für ausschlaggebend für die Entwicklung von Intelligenz – und für die Fähigkeit, mit anderen Menschen zusammen zu leben. Zwischenmenschliches Handeln setzt die Fähigkeit voraus, das Verhalten von anderen vorherzusagen und »cognitive skills for understanding psychological states such as goals and perceptions«33 zu entwickeln. Tatsächlich ist es erstaunlich, wie sehr uns dies – zumindest grundsätzlich – immer wieder gelingt.34 Bei Kindern bilden Bezugspersonen die ersten Mittler für die Entwicklung ihrer kognitiven und emotionalen Fähigkeiten; bei Erwachsenen stellt Literatur eine unschätzbare – und bislang weitgehend ungeschätzte – Möglichkeit bereit, die emotionalen und geistigen Fähigkeiten zum ZusammenLeben zu stärken und zu verfeinern. Dies ist besonders einsichtig in Bezug auf die so genannte ›theory of mind‹, die es uns über die durch die Spiegelzellen gelegte Basis hinaus erlaubt, andere als intentional Handelnde mit spezifischen Zielen und Werten wahrzunehmen und ihr Verhalten einzuschätzen.35 Nur in Literatur bekommen wir Einsichten in die Bewusstseinsvorgänge mehrerer beteiligter Charaktere; wir sehen, welche Wirkungen Handlungen und Fehleinschätzungen anderer haben, und wir bekommen die Gelegenheit, das Geflecht von Gefühlen, Erwartungen und Erwartungserwartungen in einigen Fällen kennenzulernen. Die Diskrepanz zwischen Schein und Sein, die Bewusstseinsvorgänge und Gefühle, die hinter Täuschungsversuchen stehen, sind schon seit Jahrhunderten ein zentrales Thema von Literatur; insbesondere im Modernismus wird Leserinnen abverlangt, in 32
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Vgl. Michael Tomasello, »Culture and cognitive development«, in: Current Directions in Psychological Science 9/2000, 2, S. 37–40, hier S. 39: »The new form of social cognition that started the entire process was the understanding of other persons as intentional agents like the self, and the new process of cultural transmission was the various forms of cultural learning.« Esther Herrmann/Josep Call/María Victoria Hernández-Lloreda/Brian Hare/ Michael Tomasello, »Humans Have Evolved Specialized Skills of Social Cognition. The Cultural Intelligence Hypothesis«, in: Science 317/2007, 5843, S. 1360– 1366, hier S. 1361. Vgl. Jerome Bruner, »The Transactional Self«, in: Ders./Helen Haste (Hrsg.), Making Sense. The Child’s Construction of the World, London/New York 1990 [1987], S. 81–96, hier S. 81. Ob die Einsicht in Bewusstseinsprozesse anderer primär auf eine automatische Feuerung von Spiegelzellen zurückzuführen ist oder in erster Linie auf einem kognitiven, selbstreflexiven Prozess beruht, wird sehr kontrovers diskutiert. Aus der Fülle der Literatur sei hier Karsten R. Stueber, Rediscovering Empathy. Agency, Folk Psychology, and the Human Sciences, Cambridge, MA, 2006, herausgegriffen, der eine sehr ausgewogene Einschätzung der Bedeutung der ›Empathy‹ in ihrem Verhältnis zu ›folk psychology‹, ›theory theory‹ und ›embodied simulation‹ vorstellt.
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Bezug auf die wechselseitige Einschätzung von Bewusstseinsprozessen bis an die Grenzen des Vorstellbaren zu gehen. Romanciers wie Virginia Woolf verlangen von uns oft eine Erfassung von acht Beobachterebenen – sie verschieben die Grenzen dessen, was uns vertraut ist, fordern uns auf, scheinbar alltägliche Situationen in einer viel komplexeren Konfiguration wahrzunehmen, als wir es gewohnt sind.36 In Bezug auf die zentrale Fähigkeit, Intentionen und Bewusstseinsprozesse anderer wahrzunehmen, stellt Literatur daher Anschauungsmaterial bereit; sie ermöglicht die Bildung von Hypothesen, die wir dann später im Alltag überprüfen können. Wichtiger noch als dieser kognitive Einblick erscheint mir die Möglichkeit, für eine kurze Zeit und ohne unmittelbare Folgen für die eigene Position die Perspektive von anderen zu übernehmen. Erzählliteratur ermöglicht uns, vertraute und nicht vertraute Szenarien aus der Sicht von anderen wahrzunehmen und zu erfahren, wie sich Dinge für andere darstellen. Dies ist der Philosophin Catherine Elgin zufolge ein zentraler und einzigartiger Vorzug, den Literatur als Gedankenexperiment erfüllen kann: Wir bekommen gerade nicht eine ›objektive‹ Sicht auf die Merkmale eines bestimmten Phänomens, sondern wir erkennen, wie sich das Phänomen für eine bestimmte Figur darstellt. Was diese denkt, mag zwar faktisch falsch sein, aber »[i]t is crucial […] that adopting an alien perspective can be epistemically rewarding even if the adopted perspective is not accurate.«37 Da die Konfrontation mit anderen, subjektiven und oft faktisch nicht ganz korrekten Perspektiven ein Merkmal des ZusammenLebens ist, stellt gerade diese Erfahrung der Perspektivität und Subjektivität einen großen Vorzug von Literatur da. Im Leben sind meist gerade die wichtigsten Merkmale eines Phänomens »the ones the view from some other perspective encloses.«38 Was die Philosophin in ihrem sehr bedenkenswerten Essay außen vor lässt, ist die Bedeutung der emotionalen Interaktion mit dem Text. Wir lernen fremde Perspektiven nicht nur kennen, wir identifizieren uns mit manchen und lehnen andere ab; wir fühlen mit einigen Helden und erfahren so, 36
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Bis zur vierten Beobachterebene (beispielsweise was Charakter a über die Einstellung von Charakter b über die Einschätzung von Charakter a zu Sachverhalt x denkt) fällt uns der Nachvollzug des Sachverhalts empirischen Untersuchungen zufolge relativ leicht; vgl. Lisa Zunshine, Why We Read Fiction. Theory of Mind and the Novel, Columbus 2006, S. 29; zu einer beispielhaften Analyse eines Ausschnitts von Woolfs Roman Mrs. Dalloway in Bezug auf acht Abstraktionsebenen siehe ebd., S. 31–34. Catherine Z. Elgin, »The Laboratory of the Mind«, in: John Gibson (Hrsg.), A Sense of the World. Essays on Fiction, Narrative, and Knowledge, New York 2007, S. 43–54, hier S. 52. Ebd.
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quasi, aber eben doch nicht ganz, ›am eigenen Leib‹, was es bedeutet, etwa ein Opfer von Gewalt zu sein. Literatur ermöglicht damit das, was der Psychologe Paul Ekman als die zentrale Herausforderung zu Beginn des 21. Jahrhunderts genannt hat: die Ausprägung von Mitgefühl. Wir lernen nicht nur, diese Emotion zu identifizieren, wir entwickeln – im Gegensatz zu abstrakten Belehrungen über die Auswirkungen von Gewalt – emotionale Resonanz. Wir sind direkt betroffen, und doch auch nicht; wir behalten eine gewisse Distanz, die uns einen selbstreflexiven Umgang mit unserer Emotion ermöglicht, der bei ›direkten‹ intensiven emotionalen Erfahrungen mit großen Schwierigkeiten verbunden ist.39 Kurz: Wir erweitern unsere emotionale und moralische Sensibilität, wir entwickeln Empathie und legen kognitive und emotionale Grundlagen für die Fähigkeit zum Fremdverstehen. Gleichzeitig ist Literatur ein herausragendes Mittel der Verfremdung. Im Licht fremder Perspektiven gewinnt Vertrautes überraschende Konturen, wir bekommen die Gelegenheit, eingefahrene Denk- und Wahrnehmungsmuster zu modifizieren. Dies geschieht häufig im Prozess des Erzählens, in dem durch immer neue ›breaches of the canonical‹ unerwartete Wendungen vorherrschen.40 In der Gegensätzlichkeit von Charakteristika wie der Einladung zur Identifikation und Mitteln der Verfremdung scheint zudem eine weitere Qualität von Literatur auf, die von großer Bedeutung für das Verstehen von (Zusammen-)Leben ist: Die Komplexität literarischer Werke erfordert Ambiguitätstoleranz, die notwendig ist, um mit Polyvalenz, Widersprüchen und offenen Enden umgehen zu können.
III. Literatur – Erzählen – ZusammenLeben Erzählen, so meint Jerome Bruner, ist mehr ein Mittel der Problemidentifizierung als der Problemlösung.41 In einem kurzen Artikel ist es sicher nicht 39
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Zur Bedeutung von Literatur für die Entwicklung von Emotionen vgl. Richard Eldridge, »What Writers Do. The Value of Literary Imagination«, in: Journal of Literary Theory 3/2009, 1, S. 1–18, der überzeugend auf Hegel zurückgreift. Zur Bedeutung von Mitgefühl vgl. Ekman, Achtsamkeit ; zur Schwierigkeit, aus selbst erlebten emotional bedeutenden Situation zu lernen, vgl. Erika Rosenberg und Paul Ekman, »Coherence between Expressive and Experiential Systems in Emotion«, in: Cognition and Emotion 8/1994, 3, S. 201–229, hier S. 224. Für Theoretiker wie Tsvetan Todorov, Jerome Bruner und David Herman ist dies geradezu ein Merkmal von Narrationen; sie müssen einen Punkt haben, mehr enthalten als das, was ohnehin erwartet wird. Vgl. David Herman, Basic Elements of Narrative, Malden, MA, 2009, S. 133. Vgl. Bruner, Narrative Construction, S. 20.
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möglich, alle offenen Enden zu schließen, alle Widersprüche zu glätten. Zumindest wird der rote Faden, die Verschränkung zwischen Leben und ZusammenLeben, auch meinen größten Kreis durchziehen, die Beschäftigung mit Literatur – Erzählen – ZusammenLeben. Der Blick soll nun zum einen von der Gemeinschaft ausgehend auf das Individuum gerichtet, zum anderen auf die Beschaffenheit von literarischen Erzähltexten gelenkt werden, die als Fundus für Wahrnehmungs- und Deutungsmuster dienen können. Vor allem soll im Folgenden ein literarisches Genre beziehungsweise ein spezifisches Werk im Mittelpunkt stehen. Das 18. Jahrhundert erscheint in Bezug auf das ZusammenLeben, gerade was England angeht, zunächst nicht besonders vielversprechend, jedenfalls dann, wenn man die Beziehungen zu den indigenen Kulturen in den Kolonien sowie das spannungsvolle Verhältnis zu anderen Kolonialmächten außer Acht lässt. Dennoch hoffe ich, zeigen zu können, dass sich selbst in einem solchen angelsächsischen Mikrokosmos – den ich dazu noch auf die Mittelschicht eingrenzen werde – sehr interessante Fragestellungen ergeben. Scheinbar ist alles ganz einfach: Literatur musste unterhalten, aber vor allem belehren; und die arg gering geschätzten Romane waren einem hohen Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Nicht nur sollten sie ›wahr‹ sein, sie sollten auch moralische Prinzipien, christliche Werte und gute Verhaltensweisen vermitteln. Insbesondere in den vielen Vorworten, in denen die Vorteile der Werke in glühenden Tönen geschildert wurden, lag der Fokus ganz deutlich auf der Belehrung; anhand einer anschaulichen Geschichte sollten beispielhaft Prinzipien präsentiert werden, die eine möglichst große Wirkung auf die Psyche der moralisch grundsätzlich etwas suspekten jungen Leserinnen ausüben sollten.42 Zu Recht ist daher betont worden, dass Erzählungen, die um das Erleben von jungen Heldinnen kreisten, weitgehende Übereinstimmungen mit den damals sehr populären conduct books, mit einer Form von Verhaltensratgebern aufweisen.43 Diese Romane standen im Dienst einer zivilisatorischen Funktion: Es galt, das grundsätzlich korrumpierbare Denken, Fühlen und Handeln von jungen Frauen in geregelte Bahnen zu lenken. Da fast allen Frauen der Mittelschicht die Möglichkeit der Er-Fahrungen durch Reisen – wenn 42
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Vgl. zu einem frühen, sehr aussagekräftigen Text das ›Preface‹ zur Gesamtausgabe der Romane von Penelope Aubin, A Collection of Entertaining Histories and Novels, designed to promote the Cause of Virtue and Honour. Principally founded on Facts, and interspersed with a Variety of beautiful and instructive Incidents. In Three Volumes, London 1739, Bd. 1, unpag. Vgl. u. a. Sylvia Mergenthal, Erziehung zur Tugend. Frauenrollen und der englische Roman um 1800, Tübingen 1997.
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auch nur in als bedenklich eingestufte Stadtteile – verschlossen blieb, vermittelten Romane die imaginative Er-Fahrung von potentiell gefährlichen Erlebnissen der Heldinnen und bestätigten ostentativ die bestehenden kulturellen Werthierarchien. Sie wiesen junge Frauen in ihre Rolle in der britischen Gesellschaft ein. Leserinnen wurden daher auf imaginative Weise in imaginierte Gemeinschaften eingeführt: Die Werke präsentierten eine – vermeintlich relativ homogene – Gesellschaft, deren Normen von allen akzeptiert werden mussten. Hier haben wir es mit Werken zu tun, die ihre affirmative Zielsetzung in den Vordergrund stellen mussten, um überhaupt gedruckt zu werden. Literatur steht im Dienst des ZusammenLebens, aber in einem patriarchalisch, restriktiv gedachten Kontext: Was hätte passieren sollen, wenn die junge Frau die sprichwörtliche Teekanne an die Wand geworfen und den Ehemann allein gelassen hätte? Ein höchst konservatives Genre also, aus damaliger Sicht dem ZusammenLeben dienlich, aus heutigem Blickwinkel jedoch in mancherlei Hinsicht suspekt, wird hier doch nicht nur die bestehende Gesellschaftsordnung zementiert, sondern auch die Ungleichheit zwischen Mann und Frau festgeschrieben, die Abhängigkeit und Gehorsamspflicht der Ehefrau betont. Dennoch, so möchte ich argumentieren, sind auch viele Werke aus diesem Genre nicht einfach als systemstabilisierend einzuordnen. Obgleich Autorinnen sich den vorherrschenden Normen selbstverständlich anschließen mussten, handelt es sich bei diesen Texten vielfach nicht um Vorbilder für die Gestaltung von Abhängigkeit und Hörigkeit. Das ZusammenLeben, das hier konturiert wird, entspricht zwar auf inhaltlicher Ebene den gesellschaftlichen Konventionen; auf der Ebene der Erzählung beziehungsweise der formalen Gestaltung werden jedoch ganz andere Perspektiven sichtbar. Ein schillerndes Beispiel für diese Ambivalenz, für dieses Angebot, vorherrschende Normen nicht nur darzustellen, sondern gleichzeitig zu unterlaufen und implizit andere Formen des ZusammenLebens zu privilegieren, bietet Eliza Haywoods Roman Miss Betsy Thoughtless (1751). Haywood, die ihren Lebensunterhalt nach der Trennung von ihrem Mann durch Schreiben verdiente, hatte sich in den 1720er und 1730er Jahren zunächst einen Namen als Verfasserin erotischer Romane gemacht; trotz einiger überraschender Wendungen stilisierte sie sich in dieser Zeit in Anlehnung an Mary Delarivière Manley als eine ›allwissende‹ Erzählerin, deren hauptsächliche Autorität auf ihrer intimen Kenntnis von Liebe gründete. Mit der zunehmenden Moralisierung der englischen Gesellschaft erwies sich diese Art des Schreibens als nicht mehr tragfähig, so dass Haywood nach einer Dekade des Schweigens mit dem Werk Miss Betsy Thoughtless als eine nunmehr geläuterte
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Schriftstellerin zurückkehrte, die – zumindest dem Inhalt nach – alle Erfordernisse von Literatur als ›Verhaltensratgeber‹ erfüllte. Der Inhalt ist schnell erzählt: Betsy wohnt nach dem Tod der Eltern bei einem Vormund, der eine oberflächliche und vergnügungssüchtige Frau geheiratet hat, in London. Dort findet sie Gefallen daran, einen Kreis von Verehrern um sich zu scharen und in immer neue, teils gefährliche Situationen zu gelangen, bis sie schließlich zur Heirat gezwungen und von ihrem Mann sehr schlecht behandelt wird. Nach einer Zeit des Leidens, in der ihr aufrichtigster Verehrer sich mit anderen Frauen vergnügt, wendet sich alles zum Guten: Nach dem Tod ihrer jeweiligen Ehepartner können ›Mr. Trueworth‹ und die nunmehr gründlich geläuterte Heldin heiraten. Auf der Ebene des Plot scheint also alles klar zu sein: Betsy beginnt als eitle coquette, wird durch eine schlechte Heirat bestraft, lernt es, selbst ungerechten Anweisungen des Ehemanns zu gehorchen, akzeptiert sämtliche gesellschaftliche Normen und wird durch eine ›gute‹ Heirat belohnt. Schaut man sich die Erzählung genauer an, so treten jedoch andere Züge hervor. Schon die Tatsache, dass ein junges Mädchen aus der Mittelschicht im Zentrum steht, dass deren ›alltägliche‹ Gewohnheiten, ihre Vergnügungen und ihre Beziehungen zu anderen über mehrere hundert Seiten hinweg verfolgt werden, stellt eine Aufwertung weiblicher Erfahrung44 dar. Die ökonomisch wie politisch belanglosen Tätigkeiten, sogar die Gefühle einer Frau ohne jeden Einfluss und Status sind, wie der Roman zeigt, ganz offensichtlich der Beachtung wert. Zudem werden die vielen Fehler, die Betsy macht, durchweg als subjektiv verständlich dargestellt; ein Mitfühlen mit Betsy wird möglich. So weit entspricht das Werk einer ganzen Reihe von anderen Texten: Es ist wiederholt darauf hingewiesen worden, dass die Heldinnen sich zwar am Ende als voller Reue und Einsicht erweisen, dass die Passagen, in denen sie die Gesellschaft kritisch wahrnehmen und mit deren Normen in Konflikt geraten, quantitativ jedoch bei weitem überwiegen. Dies ist von Winfried Fluck sehr klar in Bezug auf amerikanische Romane formuliert worden: »Weil [Fiktion] das, was diszipliniert werden soll, zunächst einmal darstellungsfähig machen und erzählerisch plausibilisieren muß, ist mit dem Versuch symbolischer Kontrolle zugleich die Gefahr der unterschwelligen
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Dies kann auch als Bestätigung einer Aufwertung gedeutet werden, die schon andere Romane zuvor vorgenommen hatten, wenngleich in so unterschiedlicher Ausgestaltung wie Daniel Defoes Moll Flanders (1722), bei dem es jedoch in erster Linie um den abenteuerreichen Lebenswandel der Heldin als Diebin und Prostituierte geht, und Samuel Richardsons Roman Pamela (1740), der primär um die Gefühlswelt einer jungen Frau kreist.
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Aufwertung des Devianten verbunden.«45 Fluck weist jedoch auch darauf hin, dass abweichende Sichtweisen zugleich von einer Autorität bestätigt werden müssten oder dass zumindest ein Ausgleich mit der Autorität geschaffen werden müsse, um dem Devianten Gewicht zu verleihen.46 Gerade dies bleibt jedoch in Haywoods Roman aus; im Gegenteil: Die Stimme des ›allwissenden‹ Erzählers bekräftigt die sozialen Konventionen, sie spielt immer wieder gegen die Heldin. Dies ist insofern interessant, als die Erzähler in anderen Werken von Autorinnen sich in der Regel nicht gegen die Heldin wenden. Entgegen der häufig anzutreffenden Behauptung, dass englische Autorinnen im 18. Jahrhundert vor allem die Ich-Perspektive, das homodiegetische Erzählen wählten, weil dies den Anforderungen an die private Sphäre, den Verhaltensweisen und dem Mangel an Autorität von Frauen entspreche, sind die Mehrzahl der britischen Romane aus der heterodiegetischen, ›allwissenden‹ Perspektive verfasst.47 Dies hat gute Gründe; hätte eine Beschränkung auf das Erzählen der eigenen Geschichte doch zur Folge, dass von Anfang an auf den Anspruch auf Autorität verzichtet würde: Der bloßen Stimme einer Frau fehlte jegliches Gewicht. Zudem hätte eine ›Ich-Erzählerin‹ – etwa in Anlehnung an die in England von Daniel Defoe initiierte Praxis – ihre eigenen Verhaltensabweichungen aus der Perspektive der ›gereiften‹ Erzählerin kritisieren müssen, um sich nicht völlig gegen die gesellschaftlichen Werte zu stellen.48 Die meisten Autorinnen wählten daher eine Form des ›allwissenden‹ Erzählens, die jedoch auf jegliche Kommentare und Wertungen verzichtet und es Lesern erlaubt, sich ganz auf das gegenwärtige Schicksal der Heldin zu konzentrieren. 45
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Winfried Fluck, Das kulturelle Imaginäre. Eine Funktionsgeschichte des amerikanischen Romans 1790–1900, Frankfurt a. M. 1997, S. 54. Zum Hinweis auf den Gegensatz zwischen moralischem Ende und kritischer Sichtweise vgl. Jane Spencer, The Rise of the Female Novelist. From Aphra Behn to Jane Austen, Oxford 1986, S. 140–180. Vgl. Fluck, Das kulturelle Imaginäre, S. 129. Zu dieser überzeugend vorgetragenen These vgl. vor allem Susan Sniader Lanser, Fictions of Authority. Women Writers and Narrative Voice, Ithaca 1992, S. 45f. Zu einer Argumentation gegen die Auffassung, dass Frauen im 18. Jahrhundert vor allem die homodiegetische (›Ich-Perspektive‹) sowie die Form von Briefen verwendeten, vgl. Vera Nünning, »Gender, Authority and Female Experience in British Novels from the Eighteenth to the Nineteenth Century. A Narratological Perspective«, in: Suzan van Dijk/Liselotte Steinbrügge (Hrsg.), Theorizing Narrative Genres and Gender, Leuven 2010 (im Druck). Einige der hier vorgetragenen Überlegungen zur ›female novel‹ im England des 18. Jahrhunderts orientieren sich – wenngleich anhand eines anderen Beispiels – an diesem Aufsatz. Zudem können heterodiegetische Erzählinstanzen das Bekenntnis zur herrschenden Ideologie glaubwürdiger und bestimmter formulieren als autodiegetische Erzählerinnen.
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Nicht so Eliza Haywood. Sie inszeniert eine ›allwissende‹ Erzählerinstanz, die sich gleich auf der ersten Seite des Romans mit mehreren Sentenzen an die Leser richtet und das weibliche Geschlecht hart kritisiert: Frauen seien mit negativen Urteilen zu schnell bei der Hand, sie kritisierten andere für die eigenen Schwächen und sie sollten weniger Zeit für die toilette verwenden als für die kritische Befragung der eigenen Handlungen und Einstellungen.49 Auch im weiteren Verlauf des Romans hält sich die Erzählinstanz – die durchaus männliche Züge trägt – mit Wertungen und Kommentaren nicht zurück; sie rät Frauen dazu, schnell zu heiraten, und bestätigt den ›double standard‹: So empfindet sie es zwar als völlig normal, dass Männer wie Mr. Trueworth mehrere junge Frauen verführen, kritisiert Frauen für ähnliches Verhalten jedoch in harscher Weise. Selbst wenn die jungen Mädchen ihren Verführer lieben, von ihm belogen wurden und ihn gern heiraten würden, präsentiert der Erzähler sie ganz im Einklang mit vorherrschenden Einstellungen als ›gefallene Frauen‹: [A]s few women who have once lost the sense of honour, ever recover it again, but […] devote themselves to vice […]; Miss Forward could not content herself with the embraces nor allowances of her keeper, but received both the presents and caresses of as many as she had charms to attract.50
Dennoch bleibt die Erzählung, was die Position von Frauen und ihre Pflichten gegenüber Männern angeht, höchst ambivalent. In aller Kürze sei auf zehn Erzählverfahren hingewiesen, die zur Folge haben, dass die Heldin trotz ihrer Fehler als eine liebenswerte Frau dargestellt wird, die unter der ungerechten gesellschaftlichen Machtverteilung zu leiden hat und die Sympathie der Leser auf ihre Seite zu ziehen versteht.51 Die Voraussetzung dafür ist, dass sie im Zentrum der Geschichte steht; alle anderen spielen Nebenrollen, während ihre Gefühle die größte Aufmerksamkeit auf sich ziehen (1). Auch spiegeln und kontrastieren eine Reihe von Nebenfiguren (von guten, 49
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Eliza Haywood, Miss Betsy Thoughtless, Oxford/New York 1997 [1751], S. 9. Paula R. Backscheider, »Literary Culture as Immediate Reality«, in: Dies./Catherine Ingrassia (Hrsg.), A Companion to the Eighteenth-Century English Novel, Oxford 2005, S. 504–38, hier S. 514f. betont ebenfalls, dass der Erzähler Betsy stark kritisiert. Sie postuliert aber, dass es eine nicht näher definierte ›author-function‹ gebe, die in einen Dialog mit dem Erzähler trete (vgl. ebd., S. 515). Haywood, Miss Betsy, S. 191f.; zum Vorherigen vgl. S. 409–410. Deborah Nestor geht allerdings davon aus, dass Haywoods Roman auch in diesem Aspekt subversiv sei, weil in der Geschichte deutlich würde, dass Miss Forward nur durch ökonomische Zwänge in die Prostitution gerät. Vgl. Deborah J. Nestor, »Virtue Rarely Rewarded: Ideological Subversion and Narrative Form in Haywood’s Later Fiction«, in: Studies in English Literature 34/1994, 3, S. 579–598, hier S. 583. Die zehn Verfahren werden näher erörtert in Nünning, »Gender«.
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aber machtlosen Ehefrauen bis zu Prostituierten) ihr Handeln, so dass insgesamt deutlich wird, dass es für Frauen in der bestehenden Gesellschaft keinen besseren Weg gibt (2).52 Zudem werden die Gründe für das Fehlverhalten von Betsy erklärt: Sie hat keine Mutter, ist von Beginn an schlechten Einflüssen ausgesetzt und kann vieles nicht richtig einschätzen (3). Auch ist Betsy eine aus damaliger Sicht liebenswerte junge Frau; sie ist fast perfekt, hat nur ganz wenige Schwächen, die ihr fast zum Verhängnis werden – ihre Eitelkeit und die Neigung, das Leben eine Zeit lang in einem Kreis von Verehrern zu genießen (4).53 Da der Fokus fest auf Betsys Gefühlen bleibt, wird rigoros verdrängt, welchen Schaden sie anderen in ihrer unbedachten Art zufügt (5). Der im Rahmen der Figurenkonstellation ›beste‹ Charakter, Mr. Trueworth, verliebt sich in Betsy: Durch seine Sichtweise sowie Autorität werden die guten Seiten von Betsy betont (6). Kritik kommt hingegen von verabscheuenswerten Figuren, insbesondere von Betsys späterem Ehemann, Munden, der auch als courtier abgewertet wird (7). Das Fehlverhalten der Heldin wird über Gebühr hart bestraft; sie wird gezwungen, mit Munden einen brutalen, unmoralischen und skrupellosen Mann zu heiraten, der alles tut, um ihr zu schaden (8). Insbesondere in den Konflikten mit Munden, in denen Betsy nach moralischen Standards (die ihr von Lady Trusty bestätigt werden) zweifellos Recht hat, tritt die Machtlosigkeit von Frauen offen zutage: Betsy hat keine Möglichkeit, ihr (moralisches) Recht zu bekommen; das lässt ihre rechtliche Position als Ehefrau nicht zu (9). Zudem gibt es punktuell eine relativ subtile Form der Bewusstseinsdarstellung durch den Gebrauch von erlebter Rede, die Betsys kritische Perspektive und die Ausweglosigkeit ihrer Situation betont, denn an ein Befolgen der guten Ratschläge von Lady Trusty ist nach den neuen Schikanen von Mr. Munden nicht mehr zu denken (10): How utterly impossible was it for her now to observe the rules laid down to her by Lady Trusty! Could she, after this, submit to put in practice any softening arts she had been advised, to win her lordly tyrant into temper? Could she, I say, have done this, without being guilty of a meanness, which all wives must have condemned her for?54 52
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Dass Figuren, die die Heldin spiegeln bzw. Alternativen zu ihrem Schicksal aufzeigen, in Haywoods Roman wichtig sind, betont auch Sabine Augustin, EighteenthCentury Female Voices. Education and the Novel, Frankfurt a. M. 2005, S. 48. Selbst dieses Verhalten wird implizit als verständlich präsentiert: Durch den Kontrast mit der späteren Ehe wird deutlich, dass Betsy nur eine kurze Zeit zur Verfügung steht, in der sie ein Minimum an Unabhängigkeit genießt. Aufgrund ihrer Konzeption als ›mixed character‹ ist die Heldin für ihre Zeit außergewöhnlich. Haywood, Miss Betsy, S. 448.
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Hier werden die Sprache des Erzählers und die der Protagonistin in einer Weise vermischt, die – durch den Einschub »I say« des Erzählers noch betont – hervorhebt, dass Betsy sich niederer Gemeinheit schuldig machen würde, gäbe sie den Forderungen ihres Ehemanns nach. Nach solchen Versuchen, Verständnis für Betsys Situation zu wecken und den Ehemann ins Unrecht zu setzen – kurz nach dieser Reflexion bringt er aus purer Boshaftigkeit Betsys Haustier, ein kleines Eichhörnchen, um – wirkt die abschließende Konversion Betsys, auch was den Erzählstil angeht, relativ wenig überzeugend. Diese besteht in einem langen Monolog, in dem Betsy, die sich doch allen Einflussversuchen ihrer Mentoren widersetzt hat, von sich aus alles zurückweist, was sie bislang auszeichnete. Statt für ihr Recht zu kämpfen, bezeichnet sie sich nun als Besitz ihres Mannes: »›Good God!‹ cried she, ›what infatuation possessed me! Am I not married? Is not all I am the property of Mr. Munden?‹«55 In Bezug auf die Ebene der erzählerischen Vermittlung bildet Betsy Thoughtless insofern eine Ausnahme, als ein personalisierter auktorialer Erzähler Stellung nimmt und seine Kommentare – wie im Rahmen der damaligen Vorgaben kaum anders möglich – die gesellschaftlichen Werthierarchien weitgehend bestätigen.56 Diese Kommentare werden jedoch durch die erwähnten Erzählverfahren konterkariert, die – wenngleich in wechselnden Konstellationen und nicht immer vollständig – in fast allen englischen Romanen von Frauen aus dem 18. Jahrhundert zu finden sind.57 Der Roman, der zentrale Werte und Normen für das ZusammenLeben vermitteln soll, die ausschließlich im Dienst des bestehenden Systems stehen, wird daher zu einem höchst ambivalenten Werk, in dem vielfältige entgegengesetzte Kräfte 55
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Ebd., S. 495. Zudem steht diese lange, an Predigten erinnernde Passage in krassem Gegensatz zu früheren Ausrufen von Betsy. Vgl. etwa: »[T]o what have I reduced myself ? Is this to be a wife! […] Call it rather an Egyptian bondage!« (ebd., S. 442.) Entsprechend bemüht sich der Erzähler zu betonen, dass Betsys Gemütswechsel, »great and sudden as it was« (ebd., S. 496), zugleich von Dauer war. Punktuell blitzen jedoch auch andere Deutungsweisen seiner Kommentare auf: Was soll etwa die Gegenüberstellung der Rollen von ›vernünftiger Frau‹ und ›Ehefrau‹ in dem folgenden Zitat, in dem die Heldin ob ihrer Zurückhaltung gelobt wird, weil sie in einer schwierigen Situation schweigt: »[N]ot uttering a single word unbecoming of her character, either as the woman of good understanding, or the wife.« (Ebd., S. 448). Daneben sprechen andere Aspekte auf Figurenebene für eine konservative Deutung. So ist die Konzeption von Weiblichkeit, was die Nebenfiguren angeht, sehr konventionell: Den ›gefallenen Frauen‹ – nicht von ungefähr gleich zwei von ihnen Französinnen – stehen idealisierte und stereotypisierte Angels in the House gegenüber.
Literatur – Erzählen – ZusammenLeben
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wirken. Die imaginative Gemeinschaft, in die Leserinnen durch einen narrativen Verhaltensratgeber eingeführt werden sollen, wird daher zugleich konturiert wie unterminiert: Den expliziten Aussagen des Erzählers zum Trotz bildet sich vielmehr eine imaginative Gemeinschaft zwischen Heldin und Lesern, herbeigeführt durch ein Geflecht von Erzählverfahren, die insgesamt dazu einladen, sich mit der Protagonistin zu identifizieren. Aus literaturwissenschaftlicher Sicht stellt diese literarische Erzählung, die auf den ersten Blick als Zivilisationsinstrument daherkommt, ein Angebot neuer Sinnzuweisung für altbekannte Situationen bereit. Die Anleitung zu einem restriktiv gedachten ZusammenLeben wird ebenso unterspült, wie eine ganz andere Modulierung von ZusammenLeben aufscheint: Durch die Aufwertung der Perspektive der machtlosen, zu Unrecht leidenden Heldin stellt sich die Frage nach alternativen Formen der Ehe, in der Frauen nicht den lordly tyrants auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Eine fremde – oder zumindest eine in der öffentlichen Meinung verdrängte – Sicht auf die vertraute und sakrosankte Institution der Ehe wird möglich. Zurückgebunden an die Möglichkeiten, die durch Literatur eröffnet werden, ergibt sich so für Leser wie für Leserinnen die Chance, sich durch die Herauslösung aus pragmatischen Verwertungszusammenhängen temporär von lieb gewonnenen konservativen Einstellungen zu distanzieren und auf die Perspektive der machtlosen Frau einzulassen; es wird ein Gewebe von Sichtweisen auf Situationen erkennbar, zu denen bislang die eigene Perspektive den einzigen Zugang bildete. Durch die unterschiedlichen Erzählverfahren ergibt sich die Möglichkeit, Mitgefühl mit der Heldin zu empfinden, sich imaginativ mit ihr gegen die Autoritäten – sei es der allwissende Erzähler oder der tyrannische Ehemann – zu wenden. Die moralische Positionierung bleibt gleichwohl ambivalent. Der Roman integriert eine Fülle von widersprüchlichen Einstellungen und Werten, die in verschiedene Richtungen streben, ohne einen gemeinsamen Fluchtpunkt erkennen zu lassen. Dynamik, die von dem Psychologen Jürgen Straub als wichtiges Merkmal von Erzählungen bezeichnet wurde, ist auch diesem Roman inhärent.58 Die radikale Umsemantisierung und Umhierarchisierung, die etwas später im sentimentalen Roman vorgenommen wird, ist diesem Werk fremd, obwohl die Einladung zum Mitgefühl mit der machtlos leidenden Heldin bereits eine Neubewertung sozial benachteiligter Gruppen sichtbar werden lässt. Dies scheint sogar in dem längeren Selbstgespräch auf, in dem die Konversion der Heldin präsentiert wird: Wenn sich die Protagonistin zustimmend als ›Eigentum‹ des Ehemanns bezeichnet, so gibt sie damit die 58
Vgl. Straub, Identitätstheorie, S. 173.
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Rechtssituation der coverture der Ehefrau nicht korrekt wieder; vielmehr verleiht sie einem Gefühl der Sklaverei Ausdruck, das dem britischen Ideal der Freiheitsliebe zutiefst zuwider war und daher auch in Pamphleten für die Gleichstellung der Frau eingesetzt wurde, um Leser für feministische Ziele zu gewinnen.59 Insofern kommt es auch in diesem Werk schon, um den Blick zum Individuum zurück zu wenden, zu einer imaginären Aufwertung des Selbst, zum Angebot einer Selbstwertbildung für junge Frauen, die eine Voraussetzung für ein ZusammenLeben darstellt, in dem Differenzen nicht geglättet und assimiliert, sondern anerkannt werden. Anhand von fünf Punkten werde ich exemplarisch erläutern, wie der Zusammenhang zwischen Literatur, Erzählen und ZusammenLeben in diesem konkreten Fall gestaltet ist. Am Beispiel der analysierten Erzählverfahren, die weibliche Sichtweisen privilegieren, ließ sich zeigen, wie literarisches Erzählen ZusammenLeben nicht nur darstellt, sondern zugleich die Grundlage für ein lebenswerteres ZusammenLeben bieten kann. Zudem werden auf der Ebene der Story eine Vielzahl von Ereignissen, Erlebnissen und Erfahrungen unterschiedlicher Figuren verknüpft und dadurch wird in narrativer Form ZusammenLeben gestaltet. Auch auf der Ebene der erzählerischen Vermittlung werden durch explizite Erzählerkommentare sowie durch Bewusstseinsdarstellung und Fokalisierung immer wieder die wechselseitigen Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle, die die Figuren in ihren subjektiven Erlebniswelten miteinander verbinden, in den Vordergrund gerückt. Darüber hinaus enthalten Genrekonventionen auf unterschiedlichen Ebenen Muster sowie kognitive und kulturelle Schemata für das ZusammenLeben.60 Nicht zuletzt ist auch die Erzählungen inhärente moralische Positionierung insofern aufs engste mit dem Thema ZusammenLeben verknüpft,
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Vgl. Mary Wollstonecraft, A Vindication of the Rights of Woman. With Strictures on Political and Moral Subjects, Ulrich H. Hardt (Hrsg.), Troy, NY, 1982 [1791], S. 23, die verdeutlicht, dass ungebildete Frauen »may be convenient slaves, but slavery will have its constant effect, degrading the master and the abject dependent«. Am Ende des Romans präsentiert sich Betsy in mancher Hinsicht als (prä-)empfindsame Heldin, die auf dem Lande während des Wiedersehens mit Mr. Trueworth die obligatorischen Tränen fließen lässt. Diese These lässt sich schon im Hinblick auf die Unterschiede zwischen Biographie und relationaler Biographie verdeutlichen sowie in Bezug auf die Differenzen zwischen Pikaro- und Bildungsroman, in denen jeweils völlig unterschiedliche Weisen des ZusammenLebens (und des Bezugs zwischen Individuum und Gesellschaft) gestaltet werden. Auf einer untergeordneten Ebene ist auch die Integration und Einbindung von Mentorfiguren von Bedeutung, die in verschiedenen Genres unterschiedlich gestaltet wird.
Literatur – Erzählen – ZusammenLeben
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als Erzählungen immer implizite oder explizite ethische Bewertungen der inszenierten Muster des ZusammenLebens enthalten.
IV.
Literatur – Erzählen – ZusammenLeben – Wissen?
Abschließend möchte ich auf einer höheren Abstraktionsebene versuchen, den Kreis erneut zu queren und mich dem Wert von erzählender Literatur für ZusammenLeben zu nähern, wobei nun, im Unterschied zu den einleitenden Überlegungen zur Beziehung zwischen Leben und Erzählen, das literarische Werk als Produkt im Vordergrund stehen soll. Nun geht es um die Qualitäten von Texten, die kreativ Welten erschaffen und auf diese Weise zu bestehenden Welten Stellung nehmen. Zugleich möchte ich mich einem Problem stellen, das ich bislang umgangen habe: der Beziehung zwischen Literatur und Wissen. Das Wort Narration, beziehungsweise das lateinische narrare, stammt von der indoeuropäischen Wurzel gna, die zugleich ›erzählen‹ und ›wissen‹ bedeutet – wobei beide in einer Weise miteinander verschränkt sind, die sich nicht mehr in ihre Bestandteile trennen lässt.61 Bislang habe ich das ›Wissen‹ von Erzählungen implizit vor allem als prozessuales ›Wissen‹ konturiert, als eine Denkweise, die von existentieller Bedeutung für das Leben ist. Dies scheint problemlos; wie aber steht es um Wissen in literarischen Erzählungen? Philosophische Begriffsbestimmungen von ›Wissen‹ beziehen sich meist auf Prädikate und Propositionen, mithin auf eine konzeptuelle Denkweise, die dem narrativen Denken, so wie es hier bestimmt wurde, entgegengesetzt ist.62 Zudem wird Wissen, wie Catherine Elgin ausführt, in der westlichen Welt meist mit der Übertragung von beziehungsweise dem Zuwachs an Informationen, an diskreten Daten, in Verbindung gebracht – ein Ansatz, der sich für Literatur kaum eignet.63 Wir mögen dem Roman Moby Dick Informationen über den Walfang entnehmen oder Don Quijote Informationen über Windmühlen; dieses Wissen ist es aber gerade nicht, was Literatur auszeichnet. So attraktiv die unter anderem aus der London School of Economics stammende These, dass Literatur teilweise wertvolleres Wissen über das Development und die Wirkung von europäischen Entwicklungsmaß61
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Vgl. Bruner, Narrative Construction, S. 27. Narrare leitet sich ab von dem Adjektiv gnarus, mit der Bedeutung ›einer Sache kundig, bekannt‹. Dies führt zu narrare mit der Bedeutung ›kund machen, erzählen‹. Die indogermanische Wurzel ist ˆgn¯oro mit der Bedeutung von ›kenntlich, bekannt, angesehen‹. Vgl. dazu Tilmann Köppe, »Vom Wissen in Literatur«, in: Zeitschrift für Germanistik 17/2007, S. 398–410, hier S. 400f. Vgl. dazu Elgin, Laboratory, S. 44.
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nahmen in anderen Kulturen enthält als soziologische Abhandlungen, aus literaturwissenschaftlicher Sicht auch ist; die Argumentation ist doch zu impressionistisch, um vorbehaltlos akzeptiert zu werden.64 Wenn wir den Wissensbegriff etwas weiter fassen und auch sogenanntes ›kulturelles Wissen‹ einbeziehen, das den Bestand von Überzeugungen kennzeichnet, die in einer bestimmten Kultur zu einer gegebenen Zeit vorherrschen,65 so ergibt sich ein etwas anderes Bild. Wie auch Bruner und Sarbin zeigen, vermittelt Erzählen – in der Alltagswelt wie auch in der Literatur – Wissen um kulturelle Skripts, um mögliche Vorbilder, um Kausalitätsmuster und um Verhaltensweisen, die dem ZusammenLeben förderlich sind oder auch nicht. Nicht von ungefähr ist seit Horaz immer wieder festgestellt worden, dass literarische Werke Vorbilder bereitstellen und unser Verhalten beeinflussen.66 Auch dies jedoch ist nicht etwas, was Literatur auszeichnet – im Gegenteil: Es handelt sich hierbei um die Vermittlung von abstrakten Konzepten, von typisierten (Anti-)Helden beziehungsweise Schemata, die auf der Grundlage von spezifischen Erzählungen abstrahiert wurden. Solches Wissen ist auch in nicht-literarischen Werken ablesbar; es gehört nicht zu den spezifischen Qualitäten von Literatur. In den Worten von Michael Titzmann: »Soweit die von der Literatur behaupteten Propositionen mit Wissenselementen aus anderen Diskursen übereinstimmen, entsteht zwar kein Problem, ist aber auch die Literatur als Wissensquelle uninteressant.«67 Wenn Erzählliteratur Einfluss auf unser Leben ausübt, wenn literarische Erzählungen Einsichten eröffnen, so handelt es sich, wie ich hoffe gezeigt 64
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Vgl. David Lewis/Dennis Rodgers/Michael Woolcock, »The Fiction of Development. Literary Representation as a Source of Authoritative Knowledge«, in: Journal of Development Studies 44/2008, 2, S. 198–216. Auf die Probleme des Wissensbegriffs sowie auf die Fiktionalitätsthematik und die möglichen Funktionen von Literatur aus kulturwissenschaftlicher Sicht gehen die Autoren leider nicht ein. Vgl. Karl Richter/Jörg Schönert/Michael Titzmann, »Literatur – Wissen – Wissenschaft. Überlegungen zu einer komplexen Relation«, in: Dies. (Hrsg.), Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930, Stuttgart 1997, S. 9–36, hier S. 12–14. Die Verfasser argumentieren überzeugend, dass sich die Bedeutung eines Textes abbilden lässt als »die Gesamtmenge der aus dem Text ableitbaren Propositionen, wobei unterschieden werden kann zwischen explizit in Satz/Satzmenge/Satzfolge repräsentierten und nur implizierten Propositionen«, die in Literatur ›transportiert‹ würden (ebd., S. 18). Vgl. dazu u. a. Herman, »Stories«, S. 182. Michael Titzmann, »Kulturelles Wissen – Diskurs – Denksystem. Zu einigen Grundbegriffen der Literaturgeschichtsschreibung«, in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 99/1989, S. 47–61, hier S. 58. Der Wert von Literatur für die Gewinnung von Einsichten und wertenden Einstellungen ergibt sich erst aus der literarischen Verarbeitung dieser Wissensbestände.
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zu haben, um ein dynamischeres Wissen, um Einsicht in ambivalente, in Bewegung befindliche Konstellationen, die gleichzeitig partikular wie universal sind und keinen direkten Referenzbezug zur physischen Wirklichkeit erlauben. Auf dieser Grundlage stellt Erzählliteratur eine Art Fundus bereit, in dem Möglichkeiten der Gestaltung von Beziehungen aufgezeigt werden, die kein Korrelat in der Wirklichkeit haben und dennoch Einsichten über das ZusammenLeben ermöglichen. Durch die verdichtete Sprache und die radikale Beschränkung auf Dinge, die für ein Verständnis des jeweiligen Zusammenhangs von Belang sind, wird es möglich, neue Einsichten zu gewinnen und Perspektiven zu übernehmen, sich auf fremde Konfigurationen zu konzentrieren, Vertrautes in ungewohntem Licht zu sehen. Dadurch schafft Erzählliteratur Bedeutungsrahmen für die Wahrnehmung, Interpretation und Gestaltung von Leben, sie liefert eine Orientierungshilfe für das Verständnis von komplexen Konstellationen und für das Gestalten von neuen Lebensweisen. Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang vor allem das Ansprechen von kognitiven und emotionalen Fähigkeiten: Durch das emotionale Engagement erhält Literatur ein ganz anderes Wirkungspotential als Verhaltensratgeber oder philosophische Abhandlungen – und dies ganz abgesehen von der Tatsache, dass Literatur in der Regel unterhaltsamer, zugänglicher und damit demokratischer ist.68 Durch die Entpragmatisierung, die die Rezeption literarischer Werke kennzeichnet, eröffnen diese einen größeren Spielraum, eine weiter ausgreifende Imagination alternativer Welten, eine radikalere Infragestellung bestehender Normen. Es wird eine Form der Positionierung zu Werten, Normen und Machtsystemen möglich, die weit über die Möglichkeiten von Alltagserzählungen hinausgeht; die Notwendigkeit der Einbindung der individuellen Erfahrung in kulturell vorgeprägte Plots, bestehende Deutungsmuster und herrschende Moralvorstellungen kann in literarischen Erzählungen viel freier, eigenwilliger und kritischer gehandhabt werden. Die dichte Sprache und die ästhetische Gestaltung ermöglichen selbst bei ostentativer Bestätigung herrschender Machtsysteme eine subtile Unterminierung; unterschiedliche Genrekonventionen erlauben die Distanzierung, Bilanzierung und Neugestaltung von akzeptierten Weisen des (Zusammen-)Lebens. Die in der Literatur zu findenden Erzählweisen und Genres sind daher ebenso wie deren Inhalte vielfältiger als Alltagserzählungen; Literatur eröffnet uns einen größeren und komplexeren Fundus als nicht-fiktionale Werke. 68
Zur größeren Wirksamkeit von Literatur im Vergleich zu soziologischen Abhandlungen vgl. auch Lewis u. a., Fiction of Development, S. 203 u. 209.
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Insbesondere durch die Modulierung der Erzählebenen, durch den teilweise distanzierenden, teilweise identifizierenden Blick auf die Figuren wird die Aufmerksamkeit auf die Wechselwirkung gelenkt, die besteht zwischen dem Bemühen, Sinn aus der Lebenswelt zu machen, und dem Angewiesensein auf diese Lebenswelt, in die das Ich eingebettet ist.69 Zudem ist Literatur in hohem Maße wandlungsfähig und innovativ: Die Erzählmuster literarischer Werke sind vielfältiger als diejenigen, die wir im Alltag oder in der Wissenschaft antreffen. Nicht zuletzt bildet Literatur ein privilegiertes Medium der Reflexion über Umgangsweisen und Kommunikationsformen, ebenso wie der Selbstreflexion. Literatur hat somit einen kaum zu überschätzenden Wert für ein ZusammenLeben, das nicht zur Symbiosis im psychologischen Sinne wird, sondern zu einer Art des Austauschs, der auf der Anerkennung von Differenz beruht und von dem in der biologischen Auffassung des Begriffs beide Partner profitieren. Auf einer noch etwas höheren Abstraktionsebene verspricht die Lektüre literarischer Erzählungen Vertrautheit mit dem wichtigsten Instrument für die Gestaltung von Beziehungen und Einsicht in die Bedürfnisse und Eigenheiten anderer; sie fördert die Ausprägung von Weisen des Denkens und Fühlens, die ZusammenLeben ermöglichen, und sie erlaubt das imaginative Überschreiten von Grenzen zwischen raum-zeitlichen Konstellationen, zwischen Eigenem und Fremden, zwischen unterschiedlichen Kulturen. Damit liefert Erzählliteratur wenn nicht Wissen, so doch unabdingbare Voraussetzungen für kognitiven Fortschritt, für ein tieferes, vielschichtigeres und komplexeres Verständnis von Leben und für verantwortungsbewusstes Handeln. Wenn es im Anschluss an Maurice Merleau-Pontys Verständnis von ›Hyperdialektik‹ keinen philosophischen Weg zu endgültigem Wissen, keine letzte Synthese gibt, die alles in einen einzigen Begriff integrieren könnte, sondern wir uns statt dessen kreuz und quer durch die Lebenswelt bewegen müssen, um uns Wirklichkeit zu eröffnen,70 so bietet Erzählliteratur ein herausragendes Mittel für diese Reisen durch das Leben.
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Vgl. dazu auch Herman, »Stories«, S. 183, der dies für Erzählungen insgesamt postuliert: »narrative at once reflects and reinforces the supra-individual nature of intelligence – i.e., the inextricable interconnection between trying to make sense of and being within an environment that extends beyond the self.« Diese Sicht auf Merleau-Pontys hyperdialektische Methode verdanke ich Polkinghorne, Narrative Psychologie, S. 45.
Claude Coste
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Claude Coste (Grenoble)
Roland Barthes und das Zusammenleben
I.
Ein soziales Lebewesen
Seit Aristoteles wissen wir, dass der Mensch ein »soziales Lebewesen« ist. Es ist die Aufgabe einer jeden Kultur, eines jeden Landes – und auch eines jeden Individuums – diese anthropologische Wahrheit zu aktualisieren und diejenigen ihrer kulturellen Realisierungen vorzuschlagen, die zu dem jeweiligen Ort und Augenblick passen. Im Frankreich der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts schlägt das Werk von Roland Barthes zugleich eine Theorie und eine Praxis dieser Soziabilität vor, dank derer die Menschen auf Gedeih und Verderb Menschen sind. Die Vorgehensweise von Barthes ist zwar einzigartig, aber sie fügt sich deshalb nicht weniger in einen bestimmten Kontext und in eine bestimmte Geschichte ein, nämlich in die Moderne der Nachkriegszeit und allgemeiner in die französische Kultur – eine Kultur, die sie nicht im Sinne einer Essenz, sondern im Sinne einer Dynamik versteht. Um eine spezifisch französische Form der Soziabilität zu definieren, in Bezug auf die sich Barthes mehr oder weniger bewusst verortet, wollen wir hier an zwei grundsätzliche Texte erinnern, die verstehen helfen, warum die ethischen Fragestellungen fortdauern. Jeder (in Frankreich zumindest) wird sich an eine der berühmtesten Seiten aus dem Gargantua von Rabelais erinnern, die in den Handbüchern der Literaturgeschichte an prominenter Stelle aufgeführt wird. Die Beschreibung der Abtei von Thélème stellt eine eigenartige Ordnung des Lebens vor, die dem Optimismus der frühen Renaissance entspricht: Männer und Frauen leben an diesem besonderen Ort in Harmonie zusammen und üben sich frei (»Fais ce que voudra«, so das Motto von Thélème) in den intellektuellen und künstlerischen Disziplinen. Ein Jahrhundert später schlägt Molière in seinem Menschenfeind ein ganz anderes Verständnis der Soziabilität vor. Das Stück spielt in dem Salon von Célimène, das heißt im Herzen des aristokratischen Zusammenlebens, das sich durch eine wesentlich mündliche Kultur auszeichnet, die ihren Höhepunkt in der Kunst der Konversation erreicht. Von Molière angefangen über Balzac bis hin zu Proust begeistert sich ein großer Teil der französischen Literatur für die unterschiedlichen Formen der Weltläufigkeit: Man erinnere sich an den Willen, den der Erzähler von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
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aufwendet, um die Sitten und Gebräuche einer französischen Oberschicht zu durchdringen, die ihn aus der Entfernung fasziniert und aus der Nähe enttäuscht. Hier zeigt sich, wie wenig die »Gesellschaft« inzwischen einem Ideal entspricht, wie sie das noch bei Rabelais getan hatte, und wie sehr sie zum Ort einer kritischen Infragestellung wird, die häufig von der größten Zweideutigkeit gekennzeichnet ist. Der Titel von Molières Stück sagt es ganz deutlich: Alceste, der Menschenfeind, erträgt diese gesittete und scheinheilige Gesellschaft nicht mehr – ohne dass deshalb allerdings seine Leidenschaft für die Offenheit (die ihn vollkommen asozial werden lässt) ein annehmbares Gegenmodell darstellen würde. Aus diesen beiden kanonischen Texten der französischen Literatur lassen sich mehrere Konstanten ableiten, die dazu beitragen können, die Vorgehensweise von Barthes zu erhellen – und zwar sowohl aus einer diachronen als auch aus einer synchronen Perspektive. Die erste bezieht sich auf die Wirklichkeit der in Frage stehenden Personen: Bei Rabelais ebenso wie bei Molière wird die Frage nach dem Zusammenleben mit Blick auf die Eliten aufgeworfen, ob diese nun sozial sein mögen (die Aristokratie) oder intellektuell (die Humanisten), wobei sich die beiden Komponenten natürlich auch problemlos miteinander verbinden können (etwa wenn die Aristokraten die schönen Künste pflegen und wenn die Intellektuellen sich als Aristokratie des Geistes verstehen). Die zweite Konstante stellt einander zwei sehr unterschiedliche Wahrnehmungsformen der Soziabilität gegenüber, auch hier ohne unterschiedliche Kombinationen und Nuancen auszuschließen. Auf der einen Seite ist die utopische Dimension beherrschend, der mehr oder weniger erreichbare Traum von einem glücklichen Zusammenleben; auf der anderen Seite überwiegt der Pessimismus, nach einer Vorstellung, die durch das »Unglück des Menschen« (Pascal) und die Tyrannei der »Selbstliebe« (La Rochefoucauld) gekennzeichnet ist. In anderen Worten: Was wir aus Gargantua und dem Menschenfeind lernen können, ist die Beständigkeit einer französischen Leidenschaft für eine elitäre bzw. elitistische Soziabilität, die zwischen Begehren und Enttäuschung schwankt. Mit Bezug auf die Modernität seiner Zeit aktualisiert das Werk von Barthes aufs Neue diese unveränderlichen kulturellen Größen, die so tief in der nationalen Kultur verwurzelt sind. In gewisser Weise lässt sich dieses Werk wie ein Verbund von Variationen rund um ein und dasselbe moralische Thema lesen: nämlich die schwierige Beziehung des Subjekts zu einem Anderen, ob es sich nun um Individuen, um Gruppen, um Klassen oder Gemeinschaften handeln mag. Aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet, wird die Frage nach der Alterität zuerst politisch in Mythologies (1957), dann sentimental in Fragments d’un discours amoureux (1977), schließlich pädagogisch
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mit den Seminaren an der École Pratique des Hautes Études und den Vorlesungen am Collège de France.1 Alle Bücher von Barthes verweisen auf dieselbe Leidenschaft für die Soziabilität zurück – eine Leidenschaft, die im Wesentlichen in einem intellektuellen Milieu untersucht wird, das zwischen der Lust und dem Unbehagen am Zusammensein schwankt.
II.
Der »angemessene Abstand«
Welches Bild entwirft Barthes von der Geselligkeit? Die Antwort auf diese Frage kommt wohl, ohne dass man das hätte erwarten können, den Stachelschweinen zu. In seinem Seminar über die Sprache der Liebe greift Barthes mit Witz diese Geschichte vom Winter und den Stacheln auf, die er von Schopenhauer über Freud übernimmt: Die Stachelschweine, die unter der Kälte leiden, nähern sich einander an, stechen einander natürlich mit ihren Stacheln, entfernen sich wieder und beginnen den zyklischen Prozess aufs Neue, ohne dass das Ende dieses kleinen Balletts absehbar wäre. Und Barthes fasst zusammen: »ces alternatives de rapprochement et d’éloignement durèrent jusqu’à ce qu’ils aient trouvé une distance convenable où ils se sentirent à l’abri des maux.«2 Wir werden zwar die konkrete Lösung niemals erfah1
2
Unter der Leitung von Eric Marty haben die Éditions du Seuil die Veröffentlichung der Vorlesungsskripte von Roland Barthes in Angriff genommen (die im IMEC (dem Institut Mémoires de l’édition contemporaine) in der Abtei von Ardenne, in Caen, aufbewahrt werden): Comment vivre ensemble, Simulations romanesques de quelques espaces quotidiens, cours et séminaires au Collège de France, 1976–1977, texte établi, annoté et présenté par Claude Coste, Paris 2002 (deutsche Übersetzung: Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman, Frankfurt a. M. 2007); Le Neutre, cours au Collège de France, 1977–1978, texte établi, annoté et présenté par Thomas Clerc, Paris 2002 (deutsche Übersetzung: Das Neutrum, Frankfurt a. M. 2005); La Préparation du roman I et II, cours et séminaires au Collège de France, 1978–1979 et 1979–1980, texte établi, annoté et présenté par Nathalie Léger, Paris 2003 (deutsche Übersetzung: Die Vorbereitung des Romans, Frankfurt a. M. 2008); Le Discours amoureux, séminaire à l’École pratique des hautes études, 1974–1976, suivi de Fragments d’un discours amoureux: inédits, présentation et édition de Claude Coste, Paris 2007; Le Lexique de l’auteur, séminaire à l’École pratique des hautes études, 1973–1974, suivi de Fragments inédits du Roland Barthes par Roland Barthes, présentation et édition d’Anne Herschberg Pierrot, Paris 2010. Das »Séminaire sur Sarrasine« (herausgegeben von Claude Coste und Andy Stafford) ist in Vorbereitung. Le Discours amoureux, S. 452. »Dieser Wechsel von Annäherung und Entfernung dauerte solange fort, bis sie einen angemessenen Abstand gefunden hatten, der es ihnen erlaubte, sich vor jedem Übel sicher zu fühlen.«
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ren, die die Stachelschweine gefunden haben, aber mit Sicherheit können wir einen Weg finden, um zu beschreiben, wie Barthes die Soziabilität verstanden hat, wenn wir über diesen Begriff des »Abstandes« nachdenken. Tatsächlich sollte diese drängende Frage nach dem »angemessenen Abstand«, der den sozialen Raum auf eine zugleich konkrete und metaphorische Art und Weise in den Blick nimmt, im darauf folgenden Jahr die erste Vorlesung am Collège de France anregen – eine Vorlesung, deren Titel klar auf ein ethisches Anliegen verweist: Comment vivre ensemble. Simulations romanesques de quelques espaces romanesques.3 Barthes bleibt hier dem atypischen Vorhaben treu, das er in seiner Leçon inaugurale vertreten hatte, und nimmt das Recht für sich in Anspruch, an einem persönlichen Phantasma zu arbeiten, das heißt, an einem Szenario, das ihn umtrieb und von dem ausgehend er dann eine Reflexion von allgemeiner Reichweite entwickelt. Wie er in der einleitenden Sitzung erklärt, hat er bei der Lektüre von L’été grec von Jacques Lacarrière das Wort »Idiorhythmie« entdeckt – ein Wort, das es ihm erlaubte, seine bisher unhaltbare Vorstellung beim Namen zu nennen. Das Wort, das aus dem religiösen Vokabular stammt, bezeichnet die Situation von bestimmten Mönchen, die an ein Kloster angegliedert sind, aber dennoch am Rande der Gemeinschaft leben. Dieser besondere Rhythmus, diese »Idiorhythmie«, zwischen einem Leben als Einsiedler und einem in der Klostergemeinschaft, verweist metaphorisch auf jede soziale Organisation, die versucht, ein Gleichgewicht zu finden zwischen dem Einzelgängertum und dem Kollektiv. Aber aktualisiert Barthes mit dieser Idee, die entfernt an die Abtei von Thélème erinnert, nicht eine alte Wunschvorstellung der Intellektuellen? Gibt er damit nicht der Faszination eines Priestertums des Wissens nach, das ein Leben als Familie oder als Paar ausschließt? Auf sehr viel leichtere Art und Weise beschwört sein Kurs auch ein Haus am Meer herauf, in dem sich eine Gruppe von Freunden für die Ferien zusammenfindet. Jeder hat neben den gemeinsam genutzten Räumen ein Zimmer für sich, und alle finden sich nach Belieben zu den Mahlzeiten und den Freuden des geselligen Zusammenlebens zusammen. Sehr reserviert in Bezug auf sein eigenes Leben (persönliche Beispiele sind äußerst selten) gibt Barthes zahlreiche Werke durch das Sieb seiner Lektüre, um einzelne Stückchen von Soziabilität aufzufangen und sie in den Dienst der neuen Utopie zu stellen, die allmählich zu entwerfen sich seine Vorlesung vorgenommen hat. Sein umfangreiches Korpus, das von Sitzung zu Sitzung neu durchgearbeitet wird, umfasst so die Kirchenväter ebenso wie soziologische Arbeiten, psychoanalytische Texte und natürlich zahlrei3
Wie zusammen leben. Simulationen einiger alltäglicher Räume im Roman.
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che Beispiele aus der Literatur – und sie alle passieren das Sieb: Der Zauberberg von Thomas Mann steht für die Soziabilität des Sanatoriums, Pot-Bouille (Ein feines Haus) von Zola für das düstere Zusammenleben in einem bürgerlichen Mietshaus, und etwas weniger erwartbar wird auch Robinson Crusoe von Daniel Defoe zitiert (Barthes zeigt sehr schön, dass dieser große Roman der Einsamkeit auch ein Gesellschaftsroman ist – die Gesellschaft ist präsent in den Überresten des Schiffbruchs, vor der Ankunft der Wilden und Freitags …) Unter all diesen Werken stellt La Séquestrée de Poitiers ein wirkliches Paradox dar,4 und dieses Paradox wird noch verstärkt durch die wachsende Bedeutung, die das Buch nach und nach bekommt. Fasziniert von einer Zeitungsnotiz, über die seinerzeit viel geredet wurde, protokolliert André Gide in diesem Werk aus dem Jahr 1930 (gewissermaßen ohne selbst einzugreifen) eine Reihe von Zeugnissen zu Mélanie Bastian: Diese Wahnsinnige lebte 25 Jahre lang inmitten von Dreck, von Abfall und Gestank in ihrem Zimmer (nachdem sie zweifellos mit ihrem Einverständnis isoliert worden war) und wurde von ihrer Familie versorgt. Mit einem solchen Text bleiben wir noch im Rahmen der Idiorhythmie, denn Mélanie ist keine Frau, die verlassen oder von den Ihren verfolgt worden wäre. Aber man kann hier klar erkennen, wie sehr die Soziabilität von jetzt an zur Grimasse oder zur Karikatur wird, und in der Tat sind es die Einsamkeit und der Rückzug, die sich Barthes’ Denken jetzt aufdrängen. Nachdem er mit der Ankündigung des Projekts einer idiorhythmischen Utopie begonnen hatte, setzt seine Vorlesung jetzt Schritt für Schritt die Faszination eines Beinahe-Alleinlebens ein. Wie kann man diesen Bedeutungszuwachs von Mélanie Bastian erklären, diese voranschreitende Ernüchterung, die jede Möglichkeit eines idiorhythmischen Lebens zu verwerfen scheint, das sich perfekt in das gewöhnliche eingliedern würde? In den letzten Sitzungen der Vorlesung, als es darum geht, Bilanz zu ziehen, konstatiert Barthes das Scheitern jener Vorstellung, die auf keinen klaren Vorschlag, auf kein präzises Modell hinausläuft. Wie konnte es dazu kommen? Wohl muss man die Schuld, so analysiert es Barthes, der Idee der Utopie selbst geben, das heißt der Art und Weise, wie die abendländische Kultur unweigerlich Utopie und Kollektivität zusammendenkt. Wenn die Idiorhythmie zu keinem Modell führen kann, dann liegt das ganz einfach daran, dass keine Utopie des individuellen Lebens existiert. Fourier mit seinem Phalansterium, Sade mit seinem Leben auf dem Schloss haben sich weitläu4
André Gide, La Séquestrée de Poitiers, Paris, Gallimard, coll. »Ne jugez-pas«, 1930, Paris, Gallimard, coll. »Folio«, 1977.
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fige soziale Strukturen vorgestellt, die das Individuum auf sehr wenig reduzierten oder es mindestens in ein transzendentes Ganzes integrierten. Wir schlagen vor, diese erste Erklärung, die das Individuum auf Gedeih und Verderb seiner Einsamkeit überlässt, zu ergänzen mit einer anderen Begründung, die die Notizen von Barthes andeuten, ohne sie wirklich auszuarbeiten. Es gibt keine Utopie außer in der Kollektivität? Zweifellos – und es ist leicht verständlich, dass jede Idiorhythmie dazu verurteilt ist, sich selbst zu erfinden. Aber es gibt noch eine andere Erklärung, die auf der Seite des Telos zu verorten ist.
III. Das fragliche Telos Comment vivre ensemble ist unterteilt in alphabetisch geordnete Abschnitte. In demjenigen, der mit »Cause« überschrieben ist, wirft Barthes die Frage nach dem Telos auf. Im Grunde ist die Frage einfach: Welche Ursache (»Cause«), welches Telos können das idiorhythmische Leben rechtfertigen? Aus welchen Gründen entscheiden sich die Menschen, sich nach den flexiblen Regeln von Barthes’ Phantasma zusammenzufinden und zusammenzuleben? Auf diese Frage gibt es selbstverständlich viele Antworten. Man kann sich zusammenfinden, um nicht allein zu bleiben, um gemeinsam über die Geselligkeit nachzudenken und um glücklich die Soziabilität des Austauschs zu erleben … Während er die unterschiedlichen Versuche sichtet, die die Gesellschaft und die Literatur vorschlagen (das Sanatorium aus dem Zauberberg, das Mietshaus aus Pot-Bouille, die Insel aus Robinson Crusoe), kommt Barthes’ Kurs dauernd auf die Frage der Motivationen zurück. Dabei bricht nun aber das Paradox schnell hervor: Auf der einen Seite scheint die Idiorhythmie ein verpflichtendes Telos und verpflichtende Richtlinien auszuschließen, auf der anderen Seite kann man sich nur schwer eine Gruppe vorstellen, deren Zusammenkunft nicht einer starken Notwendigkeit gehorchen würde. Anders gesagt: Ist es möglich, sich eine menschliche Gesellschaft vorzustellen, deren einzige Grundlage die Geselligkeit selbst wäre? Auf der Suche nach einer Antwort nimmt Barthes den Fall der Weltläufigkeit des 17. Jahrhunderts in den Blick. In seinem Kurs zitiert er die schöne Beschreibung dieser Weltläufigkeit von Victor du Bled (aus La Société française du XVe au XXe siècles): »Les gens du monde se préoccupent surtout de la socialité. Le monde n’a pour but ni l’amour, ni la famille, ni l’amitié, ni les services à rendre … il réunit les hommes, il veut qu’ils trouvent du plaisir à cette réunion, il a tout réglé en vue de ce plaisir, le reste ne le regarde
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pas.«5 Der Entwurf – und die Art und Weise, wie er in einem Französisch formuliert ist, das einen Teil seines Glanzes von dem großen Stil der Klassik übernimmt – schmückt sich mit allen Verführungen; und man findet vor dieser selbstgenügsamen Gesellschaft die Faszination des Erzählers von Auf der Suche nach der verlorenen Zeit wieder, dieses entfernten Beobachters des Zaubers von Guermantes. In seinem Kommentar des Zitats zeigt sich Barthes für die Schönheit des Modells durchaus empfänglich: Excellente citation, rigoureuse en ce qu’elle évacue nommément toute Cause, tout Télos. Le groupement est défini comme une pure machine homéostatique qui s’entretient elle-même: circuit fermé de charge et de dépense. Vue idyllique de la mondanité: machine sans but, sans transformation, qui élabore du plaisir à l’état pur (cf. les machines sadiennes).6
Mit diesen kurzen Bemerkungen würdigt Barthes fraglos eine menschliche und gesellschaftliche Erfahrung, die der französischen Kultur keine Ruhe lässt. Aber die Zeichen, die auf eine gewisse Distanz schließen lassen, sind ebenso ersichtlich: Auch wenn die Metapher vom »reinen homöostatischen Apparat« in seinem Werk immer wiederkehrt, verbindet die Entmenschlichung, die diese Metapher impliziert, die schöne Autarkie auch mit einer unbestreitbaren Künstlichkeit. Und was die Bemerkung von der »idyllischen Sicht« angeht, so lässt dieser Ausdruck deutlich ein gewisses Nachlassen des Engagements spüren, das uns daran erinnert, dass die Abteien von Thélème nur Konstruktionen auf dem Papier sind. Auf seine Weise war Barthes ein »Mann von Welt«, ein Mann, der wunderbar integriert war in eine oder mehrere Gruppen, die um ihn herum kreisten – und er kannte darum nur zu gut all die Schwächen einer Gesellschaft von Freunden, von Bekannten, von Studenten und von Schülern; einer Gesellschaft, die immer bereit ist, sich in einen Hofstaat oder einen Clan zu verwandeln. Zugleich ähnlich und sehr verschieden von einem mondänen Salon funktionierte sein Seminar (an der 5
6
»Leute von Welt machen sich vor allem Gedanken um die Geselligkeit. Diese mondäne Welt strebt nicht nach Liebe, nicht nach Familie, Freundschaft oder danach, jemandem nützlich zu sein … sie bringt die Menschen zusammen; sie möchte, dass sie an dieser Begegnung Vergnügen finden; sie hat alles auf dieses Vergnügen hin eingerichtet; das Übrige beachtet sie nicht.« (zitiert in: Barthes, Wie zusammen leben, S. 98). Barthes, Comment vivre ensemble, S. 83: »Ein wunderbares Zitat, insofern es konsequent und ausdrücklich jede Ursache, jedes Telos ausschließt. Die Gruppierung wird als reiner homöostatischer Apparat beschrieben, der sich selbst in Gang hält: ein geschlossener Stromkreis von Ladung und Entladung. Eine idyllische Sicht der mondänen Welt: ein Apparat ohne Funktion, ohne Transformation, der nichts als Lust im Reinzustand produziert (vgl. die Sade’schen Maschinen).« (Barthes, Wie zusammen leben, S. 98).
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École pratique des hautes études oder am Collège de France) wie eine geschlossene Welt, zusammengesetzt aus Erwählten, die sich um den Meister herum versammeln, der sich seinerseits selbst von diesen intellektuellen und affektiven Begegnungen ernährt. Wenn die Vorlesung eine zu große Distanz zwischen dem Professor und seinen Zuhörern erzwingt, dann erneuert das Seminar die Bindungen zwischen den Teilnehmern – aber es bewirkt im Gegenzug auch eine Form der Promiskuität, die uns in Erinnerung ruft, wie schwierig es auch in der Lehre ist, den »angemessenenen Abstand« zu finden. Ob sie nun von einem leichten Telos getragen sein mag, wie der mondäne Salon, oder ob sie einer eher gesellschaftlich anerkannten Ursache unterstehen mag, wie das Seminar – jede Gruppe verweist zuletzt auf ein und dieselben Glücksversprechen und auf ein und dasselbe Abdriften in den Konflikt. Müssen wir deshalb jede Vorstellung von einem Telos aufgeben? Eine sehr unerwartete Bezugnahme auf de Sade (»vgl. die Sade’schen Maschinen«) öffnet unerwartete Perspektiven. Das Spiel von de Sade versammelt Partner, die zusammenkommen, um an einem kollektiven Vergnügen teilzuhaben, das nur sich selbst als Rechtfertigung hat. Es schafft tatsächlich den Unterschied ab zwischen dem Begehren und seiner Befriedigung, dem Vorhaben und seiner Verwirklichung, weil es die Risiken des Klatsches und des sentimentalen Missverständnisses vermeidet. Auch wenn dieser Weg überraschend erscheinen mag, so verdient er es doch, erkundet zu werden (wenigstens in intellektueller Hinsicht); aber anstatt sich de Sade zuzuwenden,7 den er als zu arrogant oder als zu hysterisch empfunden haben mag, interessiert sich Barthes eher für Renaud Camus, einen seiner Schriftstellerfreunde. Als dessen Buch Tricks im Jahr 1979 mit einem Vorwort von Barthes erscheint, das seine Wirkung in der Öffentlichkeit garantiert, hat es einen Erfolg, der eher auf seine Merkwürdigkeit als auf seine Skandalträchtigkeit zurückzuführen ist. Getragen von der großen Befreiungswelle von 1968 und dem abrupten Umschlag der Aids-Jahre vorausgehend, besteht das Werk von Camus aus einer Folge von Szenen, die sehr präzise von der Anmache und den sexuellen Beziehungen an verschiedenen homosexuellen Treffpunkten erzählen. Die grelle Schreibweise befriedigt den Voyeurismus eines einigermaßen breiten Publikums, aber wie so oft bei der pornographischen Literatur gerät auch hier über dem Spektakel das Sehen in Vergessenheit. Barthes dagegen zeigt sich in seinem Vorwort sehr sensibel für die Neuheit eines solchen Schreibens, das heißt eines Schreibens, das die Sexualität von jeder metaphysischen Ver7
Barthes’ Sade, Fourier, Loyola erscheint 1971 (in der deutschen Übersetzung bei Suhrkamp 1974).
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suchung, von jedem Gedanken an Schuld und Regelüberschreitung befreit. In anderen Worten: Barthes träumt von einer Sexualität, die bewusst das Universum von Georges Bataille vergisst. Wie soll man von der Sexualität sprechen? In aller Einfachheit, antwortet Barthes in seinem Kommentar zu Camus. So schreibt er: »Refuser l’injonction sociale peut se faire à travers cette forme de silence, qui consiste à dire les choses simplement. Dire simplement relève d’un art supérieur: l’écriture.«8 Das Schreiben von Camus findet die Worte und die Syntax, die es braucht, um eine Sexualität zu beschreiben, die dumpf ist und ohne Transzendenz, und die weder Gefühl noch Phantasievorstellungen ausschließt. In dieser Welt, in der der Genuss die Regel und in der die Gewalt der Vergewaltigung vollkommen ausgeschlossen ist, spielt die Ethik eine unabdingbare Rolle, weil sie die Freiheit und die Gegenseitigkeit als höhere Werte einsetzt. In der geschriebenen Welt von Camus, in diesem orgiastischen Universum, das völlig frei von jeder Faszination für das Böse und dadurch tief moralisch ist, sind Gott und die Sünde vollkommen verschwunden zugunsten des Menschen, seines Begehrens und seiner Lust: on pourrait très bien faire entendre le récit de drague comme la métaphore d’une existence mystique (peut-être même cela a-t-il été fait; car dans la littérature tout existe: le problème est de savoir où). Ni l’une ni ’autre de ces interprétations, apparemment, ne conviennent à Tricks: ni aliénation, ni sublimation; mais tout de même quelque chose comme la conquête méthodique d’un bonheur (bien désigné, bien cerné: discontinu). La chair n’est pas triste (mais c’est tout un art de le faire entendre).9
8
9
Roland Barthes, »Préface à Tricks de Renaud Camus«, Œuvres Complètes, tome V, 1977–1980, nouvelle édition revue, corrigée et présentée par Eric Marty, Paris 2002, S. 684f. »Die Ablehnung dieses gesellschaftlichen Diktats kann über jene Form des Schweigens verlaufen, die darin besteht, die Dinge einfach zu sagen. Das einfach Sagen erfordert eine höhere Kunst: das Schreiben.« (Roland Barthes, »Vorwort zu Tricks von Renaud Camus«, in: Das Rauschen der Sprache, Kritische Essays IV, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 2006, S. 321–325, hier S. 322). »Die Erzählung vom Anmachen ließe sich sehr gut als Metapher einer mystischen Existenz hinstellen (vielleicht ist dies bereits geschehen; denn in der Literatur gibt es alles: man muss nur wissen, wo). Anscheinend wird weder die eine noch die andere dieser Interpretationen den Tricks gerecht: weder Entfremdung noch Sublimierung; aber immerhin so etwas wie der methodische Gewinn eines (genau bezeichneten, genau umrissenen: diskontinuierlichen) Glücks. Das Fleisch ist nicht traurig (dies zu Gehör zu bringen ist jedoch eine ganze Kunst).« (Barthes, Vorwort, S. 324).
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Die Tricks von Camus und das Vorwort von Barthes stellen die einzige wirklich wichtige Frage – und sie lassen zwischen den Zeilen eine negative Antwort darauf erwarten: Ist die Lust ein Selbstzweck? Mit einer Pascal-Parodie könnte man sagen, dass alles Unglück des Menschen daher kommt, dass er unfähig ist, in der Lust selbst die Rechtfertigung für seine Lust zu finden. Die literarische Erfahrung von Camus leistet sich das Glück, eine Welt zu imaginieren, in der die sexuelle Lust, in ihrer unmittelbarsten Dumpfheit verstanden, zusammenfiele mit einer sowohl kollektiven als auch individuellen Entfaltung. Aber all das ist natürlich nur Literatur …
IV.
Die Literatur als »angemessener Abstand«
Jenseits von Camus’ Erfindung einer glücklichen Sexualität ist es in der Tat die Aufgabe der Literatur, jenen »angemessenen Abstand« zu verwirklichen, der jede Art der geglückten Geselligkeit bedingt. Vom Autor zum Leser ist die Verbindung sehr stark, die Nähe vollkommen; zugleich ist aber die Entfernung unermesslich, weil der Empfänger anonym bleibt und der Austausch nur indirekt erlebt wird. Was war in der Sprache zuerst da: die Benennung oder die Verständigung? Haben die Wörter zuerst dazu gedient, die Welt zu bezeichnen oder dazu, die Menschen untereinander kommunizieren zu lassen? Barthes verbindet gewissermaßen die beiden Antworten in ein und derselben Lobrede auf die Literatur als Kunst des Umwegs. Man scheitert immer, wenn man versucht die Welt direkt zu benennen: Das berühmte Vorwort der Essais critiques (1964) erzählt das exemplarische Geschick des Wortes »Beileid«, das zwar eindeutig Sympathie bedeutet, aber dennoch nichts zum Ausdruck bringt, nichts von einem noch zu schreibenden Gefühl vermittelt. Denn genau darum, um das Schreiben, geht es: Mündlich, mit gebrochener Stimme und Tränen in den Augen, begnügt sich das Wort Beileid mit einer Rolle als Hilfsmittel, und das Gefühl kommt in seiner ganzen Materialität zum Ausdruck. Aber schriftlich, nämlich in einem Beileidsschreiben, wenn man nicht mehr auf die Mittel der direkten Kommunikation zählen kann, muss man bereit sein, sich auf den Umweg des Schreibens einzulassen, und das bedeutet »Worte machen«. Wenn die Literatur also eine Kunst der indirekten Benennung ist, dann ist sie gleichermaßen eine Kunst der indirekten Kommunikation. Um sich davon zu überzeugen, genügt es, über den Diskurs der Liebe nachzudenken. Der Austausch zwischen dem liebenden Subjekt und dem geliebten Objekt nimmt bisweilen unerwartete Formen an – das ist das Thema zweier Jahre Seminar und dann eines berühmten Buchs (Fragmente einer Sprache der Liebe,
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1977). In der Tat entscheidet sich Barthes, über einen sehr seltsamen »Diskurs« zu arbeiten, der etwas von einem inneren Monolog hat,10 ohne dass er deshalb auf die Zwiesprache verzichten würde. Der Diskurs der Liebe entspricht so einem gespielten Austausch, denn das Subjekt richtet sich ja an das geliebte Objekt, als wäre es präsent: »Je tiens sans fin à l’absent le discours de son absence; situation en somme inouïe; l’autre est absent comme référent, présent comme allocutaire.«11 Das Aussprechen dieses Diskurses spricht vom Eingeschlossensein in einer einsamen und autarken Rede, und es ist dadurch strukturell vom Scheitern geprägt; aber dadurch, dass er sich an den Leser richtet, überwindet der geschriebene, der literarische Diskurs das Scheitern des Dialogs der Liebe – er tut das, indem er eine Art des indirekten Gesprächs wieder aufnimmt. Der Diskurs der Liebe, zugleich Werkstoff von im Leben ausgesprochenen Worten und von diesem Werkstoff ausgehende ästhetische Ausarbeitung, ist das Scheitern der direkten Kommunikation, das durch die Literatur überwunden wird; er ist das verliebte Selbstgespräch, das angereichert wird durch das Schreiben. Dadurch, dass er einen »angemessenen Abstand« zwischen dem Subjekt (dem Schriftsteller) und dem Anderen (dem Leser) einrichtet, durchläuft Barthes’ Diskurs der Liebe die Verwendung der ersten Person: »C’est donc un amoureux qui parle et qui dit.«,12 so lautet der einleitende Satz, der nach dem Vorwort den Diskurs in Gang bringt, den man in der direkten Rede erwartet; und tatsächlich ist es ein Satz in direkter Rede, der die erste Figur eröffnet: »S’ABIMER«. »JE M’ABIME; JE SUCCOMBE«.13 Aber nach diesem Incipit wird sich die Erklärung in doppelter Hinsicht entwickeln. Das 10
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»Dis-cursus – das meint ursprünglich die Bewegung des Hin-und-Her-Laufens, das ist Kommen und Gehen, das sind ›Schritte‹, ›Verwicklungen‹. Der Liebende hört in der Tat nicht auf, in seinem Kopf hin und her zu laufen, neue Schritte zu unternehmen und gegen sich selbst zu intrigieren. Sein Diskurs existiert immer nur in Gestalt von Sprach-›Anwandlungen‹, die ihm nach Maßgabe geringfügigster, aleatorischer Umstände zustoßen.« (Roland Barthes, Fragmente einer Sprache der Liebe, aus dem Französischen von Hans-Horst Henschen, Frankfurt a. M. 1984, S. 15). Barthes, Fragments, S. 21 (»Ich halte dem Abwesenden unaufhörlich den Diskurs seiner Abwesenheit – eine ganz und gar unerhörte Situation; der Andere ist abwesend als Bezugsperson, anwesend als Angesprochener.« Barthes, Fragmente, S. 29). Barthes, Fragments, S. 13 (»Es ist also ein Liebender, der hier spricht und sagt«, Barthes, Fragmente, S. 23). »ZUGRUNDEGEHEN.« – »Ich gehe zugrunde, ich erliege.« (Barthes, Fragmente, S. 268. In der deutschen Übersetzung steht dieses Fragment, der alphabetischen Ordnung entsprechend, am Ende. (Anm. der Übersetzerin)).
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Argument erwähnt das »verliebte Subjekt« in der dritten Person14 und geht so zu einer Ablösung über, die der rückblickenden Analyse näher steht als dem direkt gesprochenen Wort. Die folgenden Ausführungen schwanken zwischen einem »Ich«, das sein Gefühl direkt ausspricht, und Entwicklungen, in denen das Subjekt einen kritischeren Blick auf sich selbst wirft und die häufig in der dritten Person abgefasst sind. Diese nicht-realistische Besonderheit der Ausdrucksweise, die zwischen unmittelbarer Wiederherstellung und rückblickender Analyse steht, stellt eine Art Riss im Text her. Dadurch, dass er in ein und derselben Bewegung den Monolog und seine diskursive Erklärung anbietet, sich aber bemüht, beide Ebenen sauber voneinander zu trennen, bleibt Barthes der Emotion der Begegnung treu. Manchmal scheint er sich zu widersprechen: So macht die Verteidigung der »dramatischen« Ausdrucksweise den Eindruck,15 er gebe der Theoretisierung keine Chance mehr, und der Text werde in der reinen Kontingenz verharren: »Qu’est-ce que je pense de l’amour? – En somme, je n’en pense rien. Je voudrais bien savoir ce que c’est, mais, étant dedans, je le vois en existence, non en essence. Ce dont je veux connaître (l’amour) est la matière même dont j’use pour parler (le discours amoureux).«16 Aber dann sind da auch wieder viele Seiten in den Fragmenten, die eine solche Verstrickung dementieren. Die Aussage verzweigt sich auf ein analytisches Schreiben hin und schwankt zwischen zwei Polen, ohne das mimetische Vorhaben bis zum 14
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»S’ABIMER. Bouffée d’anéantissement qui vient au sujet amoureux, par désespoir ou comblement.« (»ZUGRUNDEGEHEN. Untergangsanwandlung, die das liebende Subjekt aus Verzweiflung oder Glückserfüllung überkommt.«, Ebd., S. 268). Barthes’ Fragmente beginnen jeweils mit einem solchen »Argument«, das er selbst als »Instrument der Distanzierung« bezeichnet, vgl. ebd., S. 18 (Anm. der Übersetzerin). »Alles ist aus dem folgenden Prinzip erwachsen: daß der Liebende nicht auf ein einfaches symptombehaftetes Subjekt reduziert werden durfte, sondern daß eher vermittelt werden mußte, was in seiner Stimme an Unzeitgemäßem, das heißt sich der Behandlung Entziehendem, mitschwingt. Daher die Wahl einer ›dramatischen‹ Methode, die auf Beispiele verzichtet und sich einzig auf die Wirkungsweise einer Sprache (keiner Metasprache) stützt. Die Beschreibung des Diskurses der Liebe ist also durch seine Nachbildung ersetzt worden, und dieser Diskurs hat seine entscheidende Hauptperson zurückerstattet bekommen, das Ich, und zwar so, daß eine Ausdrucksweise inszeniert wurde, keine Analyse.« (Ebd., S. 15). Barthes, Fragments, S. 71 (»Was ich über die Liebe denke? – Kurz gesagt nichts. Ich möchte zwar wissen, was das ist, aber wenn ich darin befangen bin, nehme ich sie nur in ihrer Existenz, nicht in ihrer Essenz wahr. Was ich erkennen will (die Liebe), ist eben die Materie, die ich zum Sprechen benutze (der Diskurs des Liebenden).« Barthes, Fragmente, S. 243).
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Schluss einzuhalten – dadurch schafft sie einen Zwischentext, eine »dritte Form«,17 eine neue Romanhaftigkeit. Dadurch, dass sie neue Formen erfindet, gelingt es der Literatur Barthes zufolge, die Welt zu sagen und die Menschen untereinander kommunizieren zu lassen. Weil sie eine Kunst des Indirekten und des Umwegs ist, stellt die Literatur die menschliche Antwort auf die Parabel von den Stachelschweinen dar: Sie ist die einzige Möglichkeit, den »angemessenen Abstand« zu finden.*
17
Diesen Terminus verwendet Barthes, um Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit als ein Werk zwischen Essay und Roman zu beschreiben. Vgl. insbesondere »Longtemps, je me suis couché de bonne heure«, Vortrag im Band V der Œuvres Complètes (die deutsche Übersetzung des Textes findet sich unter dem Titel »Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen«, in: Roland Barthes, Das Rauschen der Sprache, Kritische Essays IV, aus dem Französischen von Dieter Hornig, Frankfurt a. M. 2006, S. 307–320).
* Aus dem Französischen von Anne Kraume
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Richard Eldridge (Swarthmore)
Aus Lyrik über Leben lernen: Literatur, Ethik und Emotion
Eine breit angelegte Diskussion über Literatur und Ethik – schon immer ein Thema, von Platon und Aristoteles bis zu Wordsworth, Shelley, Pound – wurde hauptsächlich von Martha Nussbaum in ihrem im Jahr 1990 erschienenen Buch Love’s Knowledge1 eingeführt. Unter besonderer Berücksichtigung von Henry James und Marcel Proust plädierte sie dafür, dass die Literatur fähig sei, dazu beizutragen, »excessively simplistic and reductive approaches to human experience«2 zu vermeiden. Statt in der philosophischen Ethik, wie es oft der Fall ist, nur über sehr abstrakte und unechte Probleme zu theoretisieren – zum Beispiel, ob man einen Hebel betätigen solle, um einen unkontrollierbaren Straßenbahnwaggon umzuleiten, allerdings mit dem Resultat, dass man mit Sicherheit den Tod eines Menschen zu verantworten hätte, wobei zehn jedoch gerettet würden – leistet Literatur Folgendes: »seeing a complex concrete reality in a highly lucid and richly responsive way […] and taking in what is there with imagination and feeling«.3 Nussbaum betont besonders »the plurality and non-commensurability of a well-lived life […] and the importance of contextual complexity and particularized judgment in good deliberation«. Dieser Vorschlag war auf den ersten Blick ziemlich plausibel und attraktiv. Aber es zeigte sich auch ziemlich schnell, dass er ein Dilemma auslöste. Entweder sind die Situationen und Handlungsweisen, die wir in der Literatur dargestellt finden, so komplex und spezifisch, dass wir keine allgemeinen Einsichten davon ableiten können (was bei James und Proust oft der Fall ist), oder die Situationen und Handlungsweisen sind eindeutig hinsichtlich ihrer evidenten moralischen Folgen, dafür sind sie jedoch auch trivial und banal. Wir brauchen keine Romane und Gedichte, um zu erfahren, dass Mord ein Verbrechen ist oder Grausamkeit ein Laster. Außerdem haben Peter Lamar1
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Martha Nussbaum, Love’s Knowledge: Essays on Philosophy and Literature, Oxford 1992. Martha Nussbaum, »Exactly and Responsibly: A Defense of Ethical Criticism«, in: Philosophy and Literature 22/1998, 2, S. 347f. Martha Nussbaum, »Finely Aware and Richly Responsible: Moral Attention and the Moral Task of Literature«, in: The Journal of Philosophy 82/1985, 10, S. 521.
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que und Stein Haugom Olsen betont,4 dass Romane und Gedichte keine echten Argumente vorbringen, und sie stellen auch keine Thesen auf (was Gottlob Frege schon 1892 bemerkt hat).5 Vielleicht gäbe es einen Mittelweg, wenn man sagen könnte, dass Literatur die Anwendungsmöglichkeiten wie auch den »Sitz im Leben« einer moralischen Theorie anschaulich darstellt. Mein erstes Buch On Moral Personhood: Philosophy, Literature, Criticism, and Self-Understanding6 wie auch die weiteren Beiträge von Martha Nussbaum, sind in diese Richtung gegangen. Sehr ausgeprägt war seit 1990 gleichwohl die Beschäftigung mit der Frage: »Was genau geschieht in uns, wenn wir ein literarisches Werk lesen?« Diese Frage war bereits in einem berühmten Aufsatz von 1975 von Colin Radford gestellt worden: »How Can We Be Moved by the Fate of Anna Karenina?«7 (Dieser Aufsatz hat besonders viel Aufmerksamkeit erneut erregt, nachdem die Arbeit von Martha Nussbaum erschienen war.) Radford wirft ein einfaches Paradox auf, das aus drei Thesen besteht, die alle unmittelbar plausibel, aber nicht miteinander kompatibel sind. Diese Thesen lauten: 1. Wir sind von dem Schicksal Anna Kareninas (zum Beispiel) emotional berührt. 2. Anna Karenina existiert nicht, und wir wissen dies. 3. Es ist unmöglich, von etwas emotional berührt zu sein, wenn man weiß, dass es nicht existiert. Welche dieser drei Thesen sollten wir ablehnen, und welche Rolle spielen Gefühle und Emotionen in unserer Leseerfahrung? Gibt es moralische Wahrheiten, die durch Emotionen evident oder anschaulich gemacht werden können (wie Nussbaum es ausdrücklich angenommen hatte)? Die meisten Philosophen, die sich diesem Problem zugewandt haben, halten an These Zwei fest, das heißt, Anna Karenina existiert nicht. Es gibt ein paar Ausnahmen, zum Beispiel Thomas Pavel8 und J. Hillis Miller,9 die über Bewohner sogenannter möglicher Welten reden. Aber da wir über keine Mittel zur Untersuchung solcher Welten verfügen, bleibt auch unklar, was 4
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Peter Lamarque/Stein Haugom Olsen, Truth, Fiction, and Literature, Oxford 1992. Gottlob Frege, »Über Sinn und Bedeutung«, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik, C 1892, S. 25–50. Richard Eldridge, On Moral Personhood: Philosophy, Literature, Criticism, and SelfUnderstanding, Chicago 1989. Colin Radford, »How Can We Be Moved by the Fate of Anna Karenina?« in: Proceedings of the Aristotelian Society, Supplemental Vol. 49/1975, S. 67–80. Thomas G. Pavel, Fictional Worlds, Cambridge 1989. J. Hillis Miller, On Literature, London 1992.
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für eine Bedeutung diese für unser wirkliches Leben haben könnten. Daher ist diese Denkweise auch nicht sehr populär. Vielmehr scheint es unmittelbar plausibel, These Eins abzulehnen. Es ist, laut Kendall Walton10 zum Beispiel, nur eine Illusion, dass wir echte Emotionen in Bezug auf fiktive Wesen haben. Das Lesen ist wie ein Spiel, in dem wir so tun, als ob wir Gefühle hätten. Tatsächlich aber haben wir nur QuasiEmotionen, das heißt körperliche Erregungszustände ohne den Glauben an die Existenz der dargestellten Gegenstände und ohne die Bereitschaft zu handeln, die bei echten Emotionen notwendig vorliegen. Ähnliche Vorschläge in Bezug auf »running emotions offline« wurden von Gregory Currie,11 Jerrold Levinson12 und Susan Feagin13 gemacht. Das Problem, das bei diesen Vorschlägen entsteht, ist aber: Wie ähnlich sind solche Quasi-Emotionen oder Als-ob-Emotionen, die wir bei solchen fiktionalen Spielen und Simulationsvorgängen haben möchten, den echten Emotionen? Entweder sie sind sehr, sehr ähnlich, also fast das Gleiche; in diesem Fall scheint das Paradox sich wieder zu erheben, weil wir wirklich etwas fühlen, in Bezug auf einen Gegenstand, von dem wir wissen, dass er nicht existiert. Oder sie sind ziemlich unähnlich; aber in diesem Fall stellen sich weitere Fragen: Warum sollten wir uns für diese Quasi-Emotionen und ihre Gegenstände interessieren? Und was, wenn überhaupt, lernen wir anhand des Lesens eines Romans oder des Betrachtens eines Dramas? Meiner Meinung nach ist es passender, einfach die dritte These abzulehnen. Es ist nun einmal so, dass wir uns reale Sorgen darüber machen und echte Emotionen fühlen können in Bezug auf Gegenstände, von denen wir schon wissen, dass sie nicht existieren. In der Tat hat Radford selbst diesen Standpunkt verteidigt, obwohl er auch behauptet hatte, dass es irrational und unvernünftig sei, wenn wir so etwas tun. (Deshalb wird unser Umgang mit Fiktionen auch als irrational verstanden.) In seinem Buch Thinking of Others: On the Talent for Metaphor14 hat Ted Cohen ausgeführt, dass es zu der Frage, was wir fiktionalen Wesen gegenüber empfinden, zwei verschiedene Auffassungen gibt. 1. Wir sind nicht fähig, Emotionen gegenüber Wesen zu empfinden, von denen wir wissen, dass sie nicht existieren. 10
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Kendall L. Walton, Mimesis as Make-Believe: On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge 1993. Gregory Currie, The Nature of Fiction, Cambridge 2008. Jerrold Levinson, »Making Believe«, in: Jerrold Levinson (Hrsg.), The Pleasures of Aesthetics: Philosophical Essays, Ithaca 1996, S. 287–305. Susan L. Feigin, Reading With Feeling: The Aesthetics of Appreciation, Ithaca 1996. Ted Cohen, Thinking of Others: On the Talent for Metaphor, Princeton 2008.
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2. Sowohl Laien als auch Experten berichten, dass sie Emotionen gegenüber fiktionalen Figuren fühlen, und sie beschreiben diese Emotionen genau so, wie sie Emotionen im alltäglichen Leben beschreiben.15 Cohen fragt, welche dieser beiden Meinungen künstlicher, rein philosophisch und deshalb weniger vertrauenswürdig sei. Seine Antwort ist, es sei die erste. Es ist genauso normal, Emotionen gegenüber literarischen Figuren zu fühlen, wie Metaphern zu gebrauchen und zu verstehen. Diese Fähigkeiten mögen außergewöhnlich erscheinen, wenn wir naturwissenschaftliche Erkenntnis als unser einziges Vorbild für Wissen und Rationalität betrachten, aber das ist ein Fehler. Wir sollten ohne Vorurteile ernst nehmen, wie Menschen in verschiedenen Bereichen vernünftig handeln können und sollten. Ich finde dieses Argument vollständig zutreffend. Was es aber noch nicht klärt, ist die Frage, wieso wir durch Metaphern, Handlungsstrukturen und ein formales Arrangement der Wörter manchmal von spezifischen Texten emotional angesprochen werden, manchmal jedoch nicht. Welches sind die literarischen Strategien, die besonders erfolgreich sind, die die Aufmerksamkeit und Emotionen eines Lesers einfangen und steuern? Und was hat die Steuerung der Emotionen durch einen literarischen Text damit zu tun, was wir von einem solchen Text in Bezug auf unser moralisches Leben und unsere sozialen Verhältnisse lernen? Um mich den Antworten auf diese Fragen anzunähern, habe ich mich Gedichten zugewendet. Gedichte sind teilweise fiktional. Es ist weder notwendig noch angemessen, einfach anzunehmen, dass die Ereignisse, Gedanken, Bilder usw., die in der Lyrik dargestellt werden, genau so passiert sind. Das hieße, den Kunstcharakter des Gedichts, die sorgfältige, reflektierte Arbeit des Dichters zu unterschätzen. Aber andererseits sind Gedichte oft keine rein erfundenen Fiktionen. Wir lesen sie, als ob sie eine Reihenfolge von Ereignissen, Gedanken und Emotionen darstellten, die tatsächlich passiert sein könnten und in die wir eintreten oder eindringen können und sollen. Wenn wir nur fragten: Was versucht ein Dichter in seinem Gedicht und durch dieses Gedicht zu leisten? – wenn wir also das Problem des moralisch bedeutungsvollen Wissens durch die Literatur und die Gefühle, die sie in uns auslöst, vom Standpunkt des Dichters betrachten –, dann könnten wir vielleicht Fortschritte machen. Eine besonders nützliche Betrachtung der Aufgabe und der Leistung des Dichters ist in Wordsworths Vorspiel zu den Lyrical Ballads16 zu finden. 15 16
Ebd., S. 36. William Wordsworth, »Preface to the Second Edition of Lyrical Ballads«, in: Ders., Selected Poems and Prefaces, ed. Jack Stillinger, Boston 1965. Alle weiteren Verweise auf dieses Werk erfolgen in Klammern im laufenden Text.
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Wordsworth beschreibt den Dichter als »a man who, being possessed of more than usual organic sensibility, [has] also thought long and deeply« (448), als einen Mann, der »endowed with more lively sensibility, more enthusiasm and tenderness, […] than are supposed to be common among mankind« ist und welcher ebenfalls »has acquired a greater readiness and power in expressing what he thinks and feels« (453). Der Dichter stellt sich die Aufgabe »to look steadily at [his] subject« (450), wobei »the feeling therein developed gives importance to the action and situation, and not the action and situation to the feeling« (448). Dies bedeutet, dass die Aufmerksamkeit des Dichters sich nicht einfach ausschließlich auf den Gegenstand, die Handlung oder Situation richtet – wie man es erwarten würde, wenn es darum ginge, einen Gegenstand zu bearbeiten oder theoretisch zu verstehen – sondern auch, und sogar in erster Linie, auf den Gegenstand, die Handlung oder die Situation so, wie das erlebende Subjekt sie emotional wahrnimmt. Die Aufgabe besteht hier darin, Gefühle zu durchleben und zu bejahen, die – obwohl sie den Gegenständen der Alltagserfahrung durchaus naturgemäß angehören – oftmals unterdrückt werden. Und es gilt, dieses aufmerksam aufgespürte Gefühl in diejenigen Worte zu kleiden, die dem Gegenstand angemessen sind: Worte also, die es anderen erlauben werden, denselben Gegenstand in ihrer Vorstellung zu erfassen, und die es ihnen darüber hinaus erlauben werden, dasjenige zu empfinden und zu bejahen, was ein Mensch unter den geschilderten Umständen eben empfinden mag. Die Zielsetzung der Dichtung is truth, not individual and local, but general, and operative; not standing upon external testimony, but carried alive into the heart by passion; truth which is its own testimony, and which gives competence and confidence to the tribunal to which it appeals, and receives them from the same tribunal (454).
Es handelt sich um eine Art emotionale Übungsstunde, die Übungen in der Vorstellungskraft sowohl zum Mittel als auch zum Zweck hat. Um die Einzelheiten dieses Phänomens (falls es sich denn so verhält) zu verstehen, dürfte es nützlich sein, ein kurzes Beispiel heranzuziehen: Es handelt sich um das möglicherweise am häufigsten imitierte und parodierte Gedicht des zwanzigsten Jahrhunderts – »This is Just to Say« von William Carlos Williams (1934). Dieser kurze Text ermöglicht es uns, den performativen Auftritt eines aktiven, um Verzeihung bittenden Menschen zu betrachten, zu verfolgen und emotional nachzuvollziehen; es geht um die rekonstruierende Flickarbeit an einer Beziehung; um die ausdrucksvolle Verbindung von Natur und Kultur. Oder – vielleicht auch: und – wir betrachten und erleben die Geisteshaltung eines arroganten Menschen, der auf aggressive Weise die An-
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sprüche eines Anderen wegwischt, als sei nichts außer seinen eigenen Interessen für ihn von Bedeutung. All dies erleben wir in zwölf kurzen Zeilen. Hier das Gedicht: This is Just to Say I have eaten the plums that were in the icebox and which you were probably saving for breakfast Forgive me they were delicious so sweet and so cold.17
Wenn wir uns diesem Gedicht nähern wollen, so müssen wir versuchen, uns detailliert die Person, die das Gedicht bzw. die kurze Notiz verfasst hat, und ihre Ziele vorzustellen. Wir werden dabei von der Wortwahl, dem Rhythmus und dem Ton des Gedichts geleitet. In den Augen von Charles Altieri the bare facts of the situation [are] that one person, probably living with another, has taken the plums and left a note of apology. Also, if we choose to scrutinize the note, we find ourselves assuming that the relationship it manifests is a fairly close one between equals […]. The warrant for this is strictly grammatical: it would be unlikely for casual relations or relations of different status, like parent and child, intentionally to write notes of apology which another person should read carefully in a qualitative dramatic context.18
Es geht hier nicht nur um eine Entschuldigung bei einer gleichgestellten Person, sondern auch darum, dass sich das Ganze in einem zweckmäßigen und beiläufigen Rhythmus entfaltet. Jede Zeile wirkt wie eine abgeschlossene Kadenz – liest man den Text laut vor, endet jede Zeile mit einer natürlichen Pause – und die Pause wird am Ende größerer syntaktischer Einheiten gravitätischer: »icebox« und »breakfast«. Die etwas schwächere Akzentuierung der Wörter »plums« und »delicious« lässt die folgenden Aussagen als Beschreibung oder im Nachhinein formulierten Gedanken erscheinen. Der Be17
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William Carlos Williams, »This is Just to Say«, in: Ders., The Collected Poems of William Carlos Williams, New York 1991, S. 372. Charles Altieri, »Presence and Reference in a Literary Text: The Example of Williams’ ›This Is Just to Say‹«, in: Ders., Act and Quality: A Theory of Literary Meaning and Humanistic Understanding, Amherst 1981, S. 162.
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zeichnung »that were in / the icebox« folgt eine ganze Strophe von halb entschuldigenden, halb selbst-bezichtigenden Aussagen. Möglicherweise wolltest Du die Pflaumen für das Frühstück aufheben, möglicherweise aber auch nicht, also ist es vielleicht gar nicht so schlimm. »Forgive me« leitet dann den Gedanken ein, dass es sehr wohl zu einer Grenzüberschreitung gekommen ist, aber dass diese Grenzüberschreitung nahe liegend war – »they were delicious / so sweet / and so cold.« Die Pflaumen haben Macht über das lyrische Ich ausgeübt und es als natürliches, körperliches Wesen entlarvt, das den Wogen der Begierde und den Verlockungen der Natur ausgesetzt ist. (Nicht zufällig geht es um Pflaumen. Nicht nur passt das Wort »plum« besser in den Rhythmus eines Gedichtes als etwa »apples«. Pflaumen zeichnen sich durch ihre eigentümliche, hartnäckig-fleischige Konsistenz aus and bleiben auch lange kalt. Es ist eine intensive, spezifische sinnliche Erfahrung, in sie hineinzubeißen.)19 Aber indem sich der Sprecher auf diese Art und Weise zu erkennen gibt, hat er oder sie nicht nur Natürlichkeit und Anfälligkeit für bestimmte sinnliche Versuchungen gezeigt – etwa mit dem Ziel, dem Anderen sympathischer zu werden? –, sondern auch Formulierungskunst. Wir entdecken hier die sorgfältig aufgebaute Hoffnung oder Erwartung, dass, da der Sprecher nun seine naturgegebene Anfälligkeit für Versuchung offen gelegt hat, der direkte, kunstvoll-plumpe Ton der Botschaft dafür sorgen wird, dass der Adressat Urteile und Gedanken nachfühlen wird und die Tat verzeiht. In Altieris Worten: The speaker seems deliberately to avoid casting the apology in a purely conventional light or projecting his appeal for forgiveness on the basis of a typical moral struggle between temptation and obligation. Instead, the person I shall argue is probably the husband performs or projects his apology in terms that skillfully praise the other person’s capacity to understand departures from outmoded moralist postures. The speaker does not begin with his remorse or his sense of obligation. These elements are introduced only by a very casual relative clause in the second stanza and are further distanced by the casuistical ›probably.‹ The point is to grant nature its due and to express qualities of honesty and self-knowledge in the speaker which will ultimately justify his appeal for forgiveness. […] The speaker must refuse to consider himself merely a creature of desire, but he seems to want to do so in a way that will least make him subject to cultural guilt.20
Wir finden hier also sowohl Versuchung als auch Schuldgefühl. Von Anfang an setzt die Aussage »I have eaten« die Handlung des Gedichts in den Kon19
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Ron Moore bespricht das Gedicht und macht sich dabei Gedanken über die sensorischen Eigenschaften von Pflaumen (2007: S. 93–6). Ich danke Stephen Davies für diesen Hinweis. Altieri, »Presence«, S. 163.
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text eines Sündenfalls, heraus aus der naturgegebenen Unschuld, hinein in die aktive Grenzüberschreitung: Das Eigentum eines Anderen wurde ohne Berechtigung entwendet.21 Es wäre niemals zu einer Entschuldigung gekommen, hätte der Sprecher nicht einen doppelten Anspruch ausgemacht – den des Besitzers auf die Pflaumen und seine Verpflichtung gegenüber diesem Besitzer. Indem der Sprecher die Pflaumen aß und die Notiz verfasste, bewegte er sich auch innerhalb der Ordnung der Kultur. Doch das objektive Vorhandensein seiner naturgegebenen Gelüste beeinflusst unter der Oberfläche sein Verhalten innerhalb dieser Ordnung der Kultur: Er nimmt und isst die Pflaumen im vollen Bewusstsein für seine Tat. Und dann schreibt er einen Text. Er verleiht der Hoffnung Ausdruck, dass die verständnisvolle Akzeptanz seines Verhaltens ihn als Naturwesen sogar noch vollständiger in die Ordnung der Kultur einfügt. Es geht um Verständnis für die Anforderungen, die innerhalb einer Beziehung gestellt werden: keine moralischen Erwartungen, sondern ein Einverständnis, zu dem der Adressat eingeladen wird (oder an das er, als bereits gegebenes, erinnert wird), nämlich, das Vorhandensein des Natürlichen und der Versuchung innerhalb der Struktur einer kulturell aufgebauten Beziehung zu akzeptieren. Altieri schreibt: The justness of the speaker’s note is its recognition of his weakness and its lovely combination of self-understanding with an implicit faith in the hearer’s capacity to grasp and to accept his deed, and, beyond that, to accept his human existence as a balance of weakness, self-knowledge, and concern.22
Die Entschuldigung ist also gleichzeitig ein Appell, ein Fallbeispiel und eine Erinnerung. Sie richtet sich an den Adressaten und weist diesen auf die Bedingungen eines Lebens in Gemeinschaft hin, eines Lebens voller naturgegebener Versuchungen und Bedürfnisse, aber auch ein Leben mit der kulturellen Grammatik einer institutionell vermittelten Beziehung. Die Grammatiken der Natur und der Kultur werden austariert. Zumindest, und dies ist der Gegenstand dieser Entschuldigung, sollte diese Balance wahrgenommen und das Beispielhafte an der Situation (die Tatsache, dass die Pflaumen gegessen wurden) anerkannt werden, und zwar von jedem ähnlich eingestellten Menschen. Oder aber – und dies ist die zweite Option – der Adressat ist dem oberflächlichen, arroganten, kaltherzigen Sprecher vollkommen gleichgültig. Nochmals Altieri, der schreibt, dass
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Ich danke Stephen Davies für diese Bemerkung. Altieri, »Presence«, S. 164.
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Richard Eldridge the note could present two acts of aggression – first eating the plums and then recounting the act in a tauntingly casual note, a deliberate refusal of face-toface confrontation which turns empty words asking for forgiveness into an excuse for reveling in the plums as sexual substitutes. […] In this self-absorbed context, ›Forgive me‹ becomes a mocking of civilized manners, a bitter reminder of how ineffectual are the shows of concern in light of the intensity of natural desires and the aggressive impulses of wills to power in tension with one another.23
Die Situation könnte sich auch auf Kaltherzigkeit, Brutalität und die harten Fakten von Begierde und Widerstand beschränken. Welche Schlüsse können wir aus diesen beiden Lektüren ziehen? Es könnte zunächst danach aussehen, als würden sie sich gegenseitig ausschließen, als könne nur eine der beiden die richtige sein und als müsse der Leser sich entscheiden. Aber wenn wir bedenken, dass dieser Text nicht nur, nicht einmal in erster Linie, eine Entschuldigung ist, sondern ein Gedicht – dann wird erkennbar, dass er uns zeigt, in seiner Funktion als Gedicht, wie sehr das Prinzip der Dichtung die Rolle des Lesers mit einbezieht, indem er sich sowohl als aggressive Herausforderung und versöhnliche Geste darstellt. Das Gedicht funktioniert nur, wenn diese hochgradig aufgeladene Einladung an den Leser angenommen und reflektiert wird. Williams’ dichterische Leistung lebt also von einer gewissen Doppeldeutigkeit, die beide Lesarten provoziert und stützt und die darüber hinaus zeigt, wie Aggression und Versöhnung gemeinsam in menschlichen Beziehungen vorkommen können – sowohl zwischen Sprecher und Adressat als auch zwischen Dichter und Leser.24 Das Gedicht ist eine Herausforderung. Die formale Anordnung der Zeilen und die sorgfältige Wortwahl betonen die Tatsache, dass es eine nicht-alltägliche Form von Aufmerksamkeit und Reaktion verlangt. Auf diese Weise gibt uns das Gedicht zu verstehen, wie es uns moderne Lyrik an sich zu verstehen gibt, dass uns ein bestimmtes Wissen oder eine gewisse Erfahrung (noch) fehlen, die dennoch von höchster Bedeutung für uns sind. Sie fehlen uns, so lange wir uns nicht diesem dichterischen Werk und seiner Zielsetzung hingeben oder in das Werk eintreten. Der deutlich markierte Unterschied zur Alltagssprache fordert unser Einfühlungsvermögen heraus. Doch das Gedicht verlässt sich auch – in verdichteter, markierter Art und Weise – auf Elemente der Alltagssprache, um eine Situation wiederzugeben, der wir uns auf unterschiedlichen Wegen nähern können. Die Leser müssen 23 24
Ebd., S. 162f. Ich danke Alex Neill dafür, dass er diesen Punkt in unseren Gesprächen hervorgehoben hat und dass er darüber nachgedacht hat, ob eine derartige Doppeldeutigkeit, die immer neue Lesarten ermöglicht, nicht etwa das entscheidende Merkmal gelungener Dichtung überhaupt ist.
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sich in die Lage des Verfassers oder des Adressaten hineinversetzen, weshalb die beiden oben besprochenen Lektüren die Motivation des Verfassers und die mögliche Reaktion des Adressaten in Betracht ziehen. Das Gedicht lädt uns also dazu ein, an seiner Ordnung begründeter Überlegungen teilzuhaben, unabhängig davon, wie wir uns diese Ordnung und Begründungsstruktur vorstellen. Dies zeigt uns den spezifischen Unterschied zwischen gelungener Dichtung und anderen Formen, kognitive Ergebnisse festzuhalten oder auszudrücken, wie etwa die Abhandlung, den Forschungsbericht oder den mathematischen Beweis. Unabhängig davon, wie wir das Gedicht interpretieren, ist der kognitive und kommunikative Effekt in diesem Fall eindeutig auf Vorstellungskraft und Emotion bezogen. Sollten die Vorstellungskraft und das emotionale Interesse des Lesers nicht angesprochen werden, so wäre auch keine irgendwie bemerkenswerte Wirkung zu verzeichnen, sondern nur leere, unbedeutende Fiktion. Die Aufgabe der Dichtung besteht darin, uns diejenigen Bedingungen menschlichen Lebens und menschlicher Beziehungen vorzustellen, die sich zwischen der Natur (dem Gefühl, dem Rudiment, dem Hintergrund) und der Kultur (dem Ausdrücklichen, dem Gesagten, dem Grammatischen) ansiedeln. Diese Aufgabe kann nur durch ein gleichzeitiges Ablehnen und Einladen gelöst werden, denn die Ordnung der Kultur besteht nicht nur aus materiellen Gegenständen, sondern aus menschlichen Subjekten, die sich in Wechselbeziehungen aus Konkurrenz und Einverständnis bewegen. Die Leistung dieses Gedichts besteht darin, dass es uns zeigt – dass es aus uns herausholt, während wir in seine Worte eintreten, dass wir sehen und fühlen –, wie unsere menschliche Existenz an diesen beiden unterschiedlichen Bezügen beteiligt ist. Es spricht etwas an, das wir bereits erlebt und erfahren haben, auf rudimentäre, unklare und doppeldeutige Weise: die Erfahrungen, die der Leser in seinen Bezügen zu Natur und Kultur gemacht hat. Anders gesagt, im Sinne Altieris, genau wie unsere GedichtNotiz, poetry, too, is an art of implicit meanings, whose justness cannot be argued for, but must be presented as perspicuous organization of aspects of experience which are intelligible and moving because they rely on a sense of culture as a realm of shared concerns […]. Implicit meanings are grounded not in objects but in shared features of a life.25
Die feine Mehrdeutigkeit des Wörtchens »just«, das im Titel des Gedichts auftaucht – es bedeutet sowohl »nur, lediglich« als auch »gerechterweise« –, weist uns darauf hin, dass Dichtung »nur« das nebensächlichste, spontanste 25
Altieri, Presence, S. 168f.
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Richard Eldridge
Ding der Welt sein kann: eine Freizeitbeschäftigung und reine Frage der Gelegenheit, die sich keineswegs mit dem Ernst des Lebens messen kann. Es gibt keine Begründung jenseits der Erfahrungen, die das Gedicht dem Leser ermöglicht, die es plausibel machen könnte, weshalb man dem Gedicht Aufmerksamkeit schenken sollte. Es backt kein Brot, schneidet kein Eis und hat nichts zu bieten, das es uns ermöglichen würde, die äußere Natur besser zu verstehen oder zu beherrschen. Doch wenn das Wort »just« soviel bedeutet wie »angemessen«, »gerecht« und »am Platze«, dann steht es für eine Redensweise, die – wenn man sie richtig interpretiert – dazu geeignet ist, uns die soziale und emotionale Struktur von Menschenleben in der Kultur und in ihren Bezügen zu Anderen oder zu Gegenständen der Erfahrung in all ihrer Ambivalenz und Komplexität zu repräsentieren, zu formulieren und bewusst zu machen. Und das dürfte ausreichen, um eine geistige Leistung zu kennzeichnen, die als eine spezifisch literarische bezeichnet werden kann. Wir erzielen sie, indem wir Ereignisse in der Vorstellung geschehen lassen, Gedanken und Gefühle aufeinander beziehen, und zwar in einer Art und Weise, die für unser Leben von Bedeutung ist.*
* Aus dem Englischen von Mark Minnes
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Andreas Gelz (Freiburg)
Convivencia – ZusammenLebensWissen1 als Utopie spanischer Geschichtsschreibung
Wer heute die Aktualität Américo Castros thematisiert, bezieht sich dabei meist weniger auf den bedeutenden Sprachhistoriker und Lexikographen, der Américo Castro als Schüler von Menéndez Pidal gewesen ist,2 oder auf den Kulturhistoriker des spanischen Mittelalters und der frühen Neuzeit, der mit seinen Büchern España en su historia. Cristianos, judíos y moros von 1948 sowie, mehrfach aufgelegt und stets verändert, La realidad histórica de España von 1954 für Aufsehen gesorgt und mit den darin entwickelten Thesen vom Zusammenleben der drei großen Religionsgruppen der Juden, Christen und Muslime während der Zeit der arabischen Besetzung der iberischen Halbinsel als unhintergehbarem Kern spanischer Identitätsentwürfe eine jahrzehntelange Polemik angestoßen hatte.3 Vielmehr gilt die Aufmerksamkeit 1
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Die Schreibweise des Begriffs orientiert sich an: Ottmar Ette, ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab, Berlin 2010. Vgl. José Portolés, Medio siglo de filología española (1896–1952). Positivismo e idealismo, Madrid 1986; Francisco Abad Nebot, Literatura e historia de las mentalidades, Madrid 1987; ders., »Sobre Menéndez Pidal y su escuela«, in: Ínsula 498/1988, S. 12; Julián Santano Moreno, »Menéndez Pidal y la filología del 98. Estado latente e intrahistoria«, in: Criticón 87–89/2003, S. 787–798, Leoncio López-Ocón Cabrera, »El cultivo de las Ciencias Humanas en el Centro de Estudios Históricos«, in: Revista complutense de educación 1/2007, S. 59–76. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten als Philologe und seit 1910 als Angehöriger des von Ramón Menéndez Pidal geleiteten Centro de Estudios Históricos gehörte u. a. die Lexikographie. Darüber hinaus war er Mitarbeiter bei Pidals Revista de Filología Española seit 1914. Castro erhielt 1915 einen Lehrstuhl für die Geschichte der spanischen Sprache an der Universidad Central, den er bis 1936 inne hatte. Protagonisten dieser Polemik waren neben Américo Castro selbst v. a. Claudio Sánchez-Albornoz (España, un enigma histórico, 1956), Otis Green (Spain and the Western tradition. The Castilian Mind in literature from El Cid to Calderón, 1963–1966), Eugenio Asensio (La España imaginada de Américo Castro, 1992). Vgl. James T. Monroe, Islam and the Arabs in Spanish Scholarship, Leiden 1975; Aniano Peña, Américo Castro y su visión de España y de Cervantes, Madrid 1975; José Luis Gómez-Martínez, Américo Castro y el orígen de los españoles: historia de una polémica, Madrid 1975; Ders. »La ›morada vital‹ y lo historiable en la obra de Américo Castro«, in: Humanitas 17/1976, S. 405–413; José Luis Abellán, Historia crítica del pensamiento español, Madrid 1979; Guillermo Araya, Evolución del pensamiento histórico de Américo Castro.
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dem Kulturtheoretiker avant la lettre, dessen historiographischer Leitbegriff der convivencia, wiewohl am spanischen Beispiel gewonnen,4 zu einem gleichsam allgemeinen kulturhistorischen Modell geworden ist, das auch in aktuellen Kontexten nichts an Attraktivität eingebüßt zu haben scheint. Wann immer es darum geht, emblematische historische Krisenmomente menschlichen Zusammenlebens zu thematisieren, taucht dieser bisweilen normativ gebrauchte Reflexionsbegriff convivencia in der öffentlichen Diskussion auf. So setzt zum Beispiel der Katalog einer Ausstellung, die das jüdische Museum in New York dem Zusammenleben der drei Kulturen im spanischen Mittelalter gewidmet hat, sicher nicht zufällig vor dem Hintergrund der 500-Jahr-Feier der Eroberung Lateinamerikas mit Erörterungen über eben jenen Begriff der convivencia ein: »The word, as we use it here, is loosely defined as ›coexistence‹, but carries connotations of mutual interpenetration and creative influence, even as it also embraces the phenomena of mutual friction, rivalry, and suspicion.«5 Aber auch im aktuellen Kontext erstarken-
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Estructura intercastiza de la historia de España, Madrid 1983; Paulino Garagorri, Introducción a Américo Castro, Madrid 1984; Juan Marichal, »La unidad vital del pensamiento de Américo Castro y su significación historiográfica, Américo Castro y la crítica literaria del siglo XX«, in: Ders. (Hrsg.), Teoría e historia del ensayismo hispanico, Madrid 1984, S. 178–188 und S. 189–200; Ders., »Apología pro Hispania sua: la voluntad reconstructora de Américo Castro«, in: Revista de occidente 50/1985, S. 53–64; Abad, Mentalidades; o.V.; »Dossier Américo Castro«, in: Quimera. Revista de Literatura 169/1998, S. 21–58. Dabei stellt die These Castros von der Koexistenz von Christen, Mauren und Juden, ihrem abrupten Ende nach der abgeschlossenen reconquista samt den problematischen Folgen im von Castro als Edad conflictiva bezeichneten 16. und 17. Jh. u. a. auch ein Echo auf jene Krise im Zusammenleben der Spanier dar, die bereits Teile des 18. und 19. Jh. geprägt hatte (vgl. u. a. das Stichwort der sogenannten »Zwei Spanien«, der »Dos Españas«) und die im blutigen Bürgerkrieg der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts sowie der anschließenden Franco-Diktatur kulminiert war, welche Américo Castro ins Exil getrieben hatte: »El pensamiento siempre simpatizante con las minorías mejores de Américo Castro, más su exilio en la posguerra, se diría que le llevan a desplazar en buena medida el centro de gravedad de la historia hispánica hacia esas minorías actuantes de nuestro pasado, y a reclamar, en definitiva, la tolerancia toda para la convivencia de los españoles« (Abad, Mentalidades, S. 74). Thomas Glick, »Convivencia: An Introductory Note«, in: Vivian B. Mann/Thomas F. Glick/Jerrilyn D. Dodds (Hrsg.), Convivencia. Jews, Muslims and Christians in medieval Spain, New York 1992, S. 1–9. Das Wort geht auf Pidal zurück, der es in Orígenes del español. Estado lingüístico de la península ibérica hasta el siglo XI (1926) im linguistischen Sinn zur Bezeichung einer Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Sprachnormen, einer sogenannten convivencia de normas verwendet, »to characterize the contemporaneous existence of variant forms in the early Romance languages of
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der religiöser Integrismen sowie wieder aufflammender konfliktiver Diskurse über spanische Identität findet der Begriff Verwendung.6 Angesichts des anhaltenden Interesses an Begriff und Konzept von convivencia verwundert es nicht, wenn wiederholt Versuche zu verzeichnen sind, diesen ursprünglich im Bereich von Lebensphilosophie bzw. Vitalismus7 verankerten Castro’schen Begriff auf seine Anschlussfähigkeit und sein Aktualisierungspotential bezüglich neuer Theorieentwicklungen zu überprüfen.8
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the peninsula, for example the diphthongs of the open o, as in Castilian puerto, puorto, puarto. These norms he saw, in conformity with prevailing notions of cultural evolutionism, as competing with one another until all the variants but one were selected out. […] Castro retains something of Menéndez Pidal’s usage, presenting medieval Iberian culture as a kind of a field of interaction among all kinds of cultural elements originating in the different cultural groups that, in his characterization, functioned like castes. […] But Castro’s concept is more idealistic, for he sees the interaction of cultural elements, which for Menéndez Pidal was competitive and mechanistic, as intelligible only if filtered through the collective consciousness of the three castes« (Glick, »Convivencia«, S. 1f.). Zum Einfluss Darwins in Spanien vgl. Thomas F. Glick, »Darwin y la filología española«, in: Boletín de la Institución Libre de Enseñanza 12/1991, S. 35–41. Vgl. Juan Goytisolo, »El ayer, hoy y mañana en la España de Américo Castro«, in: Claves de razón práctica 98/1999, S. 8–10; Ders., »Américo Castro en la España actual«, in: Eduardo Subirats (Hrsg.), Américo Castro y la revisión de la memoria: el islam en España, Madrid 2003, S. 23–37; Juan Ignacio Castien Maestro, »Américo Castro ¿una visión orientalista de la realidad histórica de España?«, in: Víctor Morales Lezcano (Hrsg.), Actas de la Jornada sobre »Orientalismo, Ayer y Hoy«: (entrecruce de percepciones): (Madrid, 12 de marzo de 2005), Madrid 2005, S. 49–72; Manuel Peña Díaz (Hrsg.), Las Españas que (no) pudieron ser: herejías, exilios y otras conciencias (s. XVI–XX), Huelva 2009. Es ist hier nicht der Ort, die Diskussion um den Einfluss Diltheys, Toynbees, Spenglers oder Ortega y Gassets auf Castros Werk aufzuarbeiten – mit Blick auf ähnliche historische Grundkategorien (Diltheys Erlebnisbegriff, Toynbees Vorstellungen von challenge and response, withdrawal and return, living together, Ortega y Gassets morada íntima, Spenglers Begriff vom Zusammenleben, seine Betonung der Bedeutung des Kulturvergleichs), historische Verlaufsmodelle (z. B. Spenglers Pseudomorphose) oder historiographische Erzählmodelle (Spenglers Reflexionen über den Zusammenhang von Geschichte und Literatur etc.). Vgl. u. a. José Luis Gómez Martínez, »Dilthey en la obra de Américo Castro«, in: Abside 4/1973, S. 461–471; Thomas F. Glick, »Américo Castro: la historia como antropología cultural«, in: Anthropos 21–22/1983, S. 84–91; Ders., Darwin; Alberto Moreiras, »La conciencia hermenéutica de Américo Castro«, in: Cuadernos americanos 2/1987, S. 17–26. Vgl. Oriol Pi-Sunyer, »The Historiography of Américo Castro: An Anthropological Interpretation«, in: Bulletin of Hispanic Studies, 49/1972, S. 40–50; Glick, Antropología; Benito Brancaforte, »Américo Castro and Michel Foucaults ›Filosofía del sospetto‹«, in: Joseph Ricapito (Hrsg.), Hispanic Studies in honor of Joseph H. Silverman,
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Die Analyse der Verwendungsweisen, der Exemplifizierungen und Funktionalisierungen dieses zentralen Begriffs vom Zusammenleben im historiographischen Werk von Américo Castro selbst ist hingegen trotz seiner Popularität bislang nur selten unternommen worden. Ein solches Unterfangen scheint mir jedoch mit Blick auf das Thema des ZusammenLebensWissens durchaus relevant: Zunächst einmal ganz naheliegend deshalb, weil der Begriff der convivencia die Problematik des ZusammenLebensWissens vor der longue durée der spanischen Geschichte und ihrer Antagonismen beispiel- und modellhaft thematisiert und weil er aufgrund seiner anthropologischen Grundierung darüber hinaus nicht nur auf die historische Situation in Spanien reagiert, sondern in einer für die spanische Kulturgeschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert typischen geschichtsvergleichenden Manier einen Kommentar zur Moderne als historischer Epoche bzw. als Modell gesellschaftlicher Entwicklung darstellt, von der sich Spanien im 18. und 19. Jahrhundert wiederholt abgekoppelt gefühlt hatte. Castros Reflexionen über convivencia finden darüber hinaus im Kontext weiterer Schlüsselbegriffe statt, die wie morada vital, vividura, vivencia vor lebensphilosophischem Hintergrund den Lebensbegriff thematisieren, womit eine mögliche historische Ableitung geisteswissenschaftlicher Perspektivierungen des Lebensbegriffs zumindest implizit evoziert wird, wenn sie auch hier nicht im Vordergrund stehen soll. Ein weiterer Grund für die Relevanz einer solchen Untersuchung nicht zuletzt für Literaturwissenschaftler liegt in der Tatsache, dass Américo Castro seine Thesen zur convivencia nicht nur mit Blick auf die Geschichte selbst, sondern explizit auch auf sein historisches Werk, also die geschichtliche Narration, ihre Formen wie ihre Funktionen entwickelt und dabei darüber hinaus am Beispiel von Literatur und Malerei auch die ästhetische Dimension von ZusammenLebensWissen im Blick hat. Vor diesem Hintergrund stehen seine Überlegungen zur convivencia vollends im Zentrum der Diskussion um Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft, wenn Castro Formen des Zusammenlebens selbst als Kunstwerk beschreibt: Newark 1988, S. 371–379; Ronald E. Surtz/Jaime Ferrán/Daniel P. Testa (Hrsg.), Américo Castro: The Impact of His Thought. Essays to Mark the Centenary of His Birth, Madison 1988; Francisco Márquez Villanueva, »La historia interdisciplinar de Américo Castro«, in: Eduardo Subirats (Hrsg.), Américo Castro y la revisión de la memoria: el islam en España, Madrid 2003, S. 83–102; Castien Maestro, Américo Castro; J. Ray, »Beyond Tolerance and Persecution: Reassessing Our Approach to Medieval Convivencia«, in Jewish Social Studies 11/2005, 2, S. 1–18; J. I. Pulido Serrano, »La España pensada por Américo Castro. Los conversos en la historia y en la historiografía«, in: Manuel Peña Díaz (Hrsg.), Las Españas que (no) pudieron ser: herejías, exilios y otras conciencias (s. XVI–XX), Huelva 2009, S. 23–38; M. Soifer, »Beyond convivencia: critical reflections on the historiography of interfaith relations in Christian Spain«, Journal of Medieval Iberian Studies 1/2009, 1, S. 19.
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La mera existencia del pueblo español vale ya, sin más, como una obra de arte, como la prodigiosa novela de un personaje histórico sin análogo: nacido en angustia, seguro y vacilante en su conciencia de sí mismo, nunca conoció instantes de serena plenitud; su vida ha consistido en una alternancia de letargos y sobresaltos, y hasta en juzgar vacíos o írritos unos cuantos siglos de su historia. Un hecho así es único y, para quien percibe su sentido, admirable.9
Oder: »Muchos españoles hicieron con sus vidas y con otras inclusas en las suyas, lo que el artista labra en su expresión verbal o pictórica.«10 Die historischen und ethischen Implikationen dieses Rekurses auf im Bereich der Ästhetik angesiedelte Formen gilt es zu untersuchen, dank deren Beobachtungs- und Erkenntnispotential, so Castro, ein umfassender Blick auf die Menschen und die Formen ihres Zusammenlebens möglich wird. Konsequenterweise und in Übereinstimmung mit dieser Geschichtsauffassung bezeichnet er auch seine eigene Geschichtsschreibung als »novela de un personaje histórico«,11 als »proyecto – o torso – de biografía de España«.12 Seine Beschreibung bestimmter Gemälde, die im weiteren Zusammenhang meiner Argumentation von Bedeutung sein werden, von Las Hilanderas, Las Meninas von Velázquez und des Entierro del conde de Orgaz von El Greco, rekurriert ebenfalls auf die Kategorie der Narration, indem er sich fragt, wie man sich diesen Bildern überhaupt anders nähern könnte als über die »categoria existencial del hadit, nueva, novela«.13 Nicht zuletzt aufgrund dieser Perspektivierung des Zusammenhangs von Geschichte und Kunst ist sich Castro der sprachlichen Charakteristika sowie der allegorischen und narrativen Überformungen traditioneller spanischer Identitätsbeschreibungen bewusst, eine Kenntnis, die in einen entmythifizierenden Gestus mündet,14 als dessen Instrument, so könnte man behaupten, das Konzept von convivencia selbst fungiert – nicht als bloßer Untersuchungsgegenstand der historischen Wirklichkeit, sondern auf einer 9 10 11 12
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Américo Castro, La realidad histórica de España, México 1954, S. 621. Ebd., S. 599. Ebd., S. 621. Américo Castro, España en su historia. Cristianos, moros y judíos, Buenos Aires 1948, S. 634. Ebd., S. 639. Castros historische Analyse redet somit keiner Mythisierung spanischer Vergangenheit das Wort, deren sich noch sein Lehrer Menéndez Pidal 1929 in seinem monumentalen Werk La España del Cid bedient hatte – der mittelalterliche Held als Nationalheld, dessen Beispiel Spanien aus der Krise würde führen können –, vielmehr problematisiert er diesen allegorischen Zugriff auf Figur und Körper des Helden und damit zugleich die Grundlage von historischer Erkenntnis und narrativer Sinnzuweisung.
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metahistoriographischen Ebene als ein Dispositiv, das Beobachtung und Selbstbeobachtung von Ausprägungsformen spanischer (Inter-)Subjektivität und der mit diesen Beobachtungsprozessen verbundenen Zuschreibungen ermöglicht.15 Welche narrative Konfiguration, welches Szenario oder Bild entspricht nun Castros Vorstellung von convivencia? Diese Frage muss einem grundsätzlichen Vorbehalt begegnen: Das kollektive Subjekt spanischer Geschichte, auf dessen Charakteristik Castros Geschichtsschreibung abzielt, kennzeichnet dieser mit zahlreichen, schwer zu übersetzenden Neologismen wie dem des »intrapersonalismo castizo«16, des »imperialismo de la persona«; sogar von ihrem »perpetuo solipsismo« ist die Rede,17 ihrer »conducta ›haciadentrista‹«18 oder ihrem »hispánico estar en sí y su sentirse a sí mismo«,19 Eigenschaften, die alle auf die Feststellung historischer Ein-, Ab- und Ausgrenzung nach dem Ende der mittelalterlichen convivencia und dem Triumph der sich selbst absolut setzenden Ideologie der reconquista und ihrer Träger hindeuten, immer in der Gefahr – und hier arbeitet Castro mit dem Vokabular von Differenz und Alterität –, dass die sich selbst als persona absoluta, als absolute Person verstehende Figur im Kontext spanischer Geschichte beziehungslos werden, ihr die Um- und Mitwelt, jener Raum des Zusammenlebens, abhanden kommen könne, »[de] sentirse como extraña y perdida al instalarse en ›lo otro‹ del mundo, en donde corre el riesgo de dejar de ser ella sin llegar a situarse plenamente en ›lo otro‹ […]«, sie Gefahr liefe, »de quedarse sin mundo« da, wo die Mitglieder moderner Gesellschaften vor lauter Geschäftigkeit Gefahr liefen, das Bewusstsein ihrer eigenen Person zu verlieren, »de quedarse sin conciencia de persona«.20 Castro projiziert diese von ihm als Aporien beschriebenen und in Abgrenzung zur Entwicklung anderer europäischer Länder entwickelten Parameter der historischen Entwicklung Spaniens auf unterschiedliche Phäno15
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Ich gehe dabei nicht so weit, einen nominalistischen, konstruktivistischen Américo Castro zu postulieren, aber gerade aufgrund der großen Bedeutung des ›Hineinversetzens‹ und ›Nachbildens‹ bzw. ›Nachlebens‹ von Ausdrucksformen für das Gelingen seiner u. a. am Beispiel literarischer Zeugnisse und bildlicher Quellen realisierten historischen Hermeneutik ist die in seinen Texten vollzogene Rekonstruktion signifikativ, kann sie also auf ihre Merkmale und Widersprüche befragt werden, wie dies am Beispiel seiner Beschreibung und Interpretation von drei Bildern El Grecos und Velázquez’ weiter unten gezeigt werden soll. Américo Castro, Dos Ensayos, México 1956, S. 27. Castro, Cristianos, S. 640. Castro, Ensayos, S. 25. Américo Castro, La edad conflictiva, México 1961, S. 202. Castro, Realidad, S. 626.
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mene spanischer Geschichte wie den sogenannten casticismo, die Figur des hidalgo, den Anarchismus, gar den caudillismo: ›Individualismo‹, en sentido español, apunta al potencial voluntarioso que la persona siente bullir dentro de sí; la proyección o el resultado objetivo de ese potencial importa menos que la conciencia de existir esa tensión interior. Al español le interesa, como persona, el sentirse y creerse capaz de hacer algo, o lo que tiene de suyo lo hecho por él, no la realidad y el valor de lo hecho. El ›individualista‹ español no rompe el cordón umbilical entre lo hecho y su presencia, su conciencia de estar él en lo hecho; de ahí la desproporción entre el volumen del arte español y el de la ciencia, la filosofía o la técnica españolas. Consecuencia del inmanentismo psíquico del español fue la expresión ›yo soy quien soy‹, o ›yo sé quien soy‹; esto le sirvió de fe de vida, porque el casticismo no se fundaba en hacer nada, sino en serlo ya todo la persona. En suma, la conciencia de casticismo, el hidalguismo, el absolutismo de la persona, el no someterse espontáneamente a la ley, la autosuficiencia, el no interesarse en el resultado objetivo y comprobable de las actividades humanas y el peculiar anarquismo español […], son todos ellos aspectos de una misma y radical realidad […].21
Wie ist eine solche Auffassung von Subjektivität überhaupt mit der Vorstellung von convivencia, von Zusammenleben vereinbar? Diese Frage ist umso interessanter, als Castros Geschichtsschreibung als Repräsentation von (kollektiver) Subjektivität die differentielle Sichtweise der Genese spanischer Identität nicht aus dem Blick verliert, und damit ist nicht allein das immer wieder thematisierte Paradigma der convivencia gemeint, sondern die im Allgemeinen weniger beachtete Dialektik von convivencia und conflictividad (vgl. seine Studie La edad conflictiva, 1961).22 Und genau deshalb übernimmt Castro keineswegs, auch wenn es zunächst den Anschein haben könnte, dualistische Geschichtsbilder des 19. Jahrhunderts, weder die nationalkatholische Sichtweise von Spanien als dem Hort religiöser Orthodoxie, dem der Rest der Welt als Skandal erscheint,23 noch Unamunos Oszillieren zwischen den Postulaten einer Europäisierung Spaniens bzw. einer Hispanisierung Europas,24 das dann in eine Suche nach, wie Unamuno es genannt hat, intrahistorischen Wahrheiten eines traditionellen Spaniens einmündet, weder die auf medizinische Vorstellungen zurückrei21 22
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Castro, Ensayos, S. 19. »[…] el proceso vital se daba en una entidad histórica, humana, integrada por una contextura cristiano-arábigo-judía, y en la cual se conjugaban y articulaban (o desarticulaban) esas tres formas de existir.« Castro, Edad, S. 14. Hier haben wir es mit der Artikulation eines Differenzgedankens zu tun, auf den der personalismo als Merkmal spanischer Identität nach der reconquista notwendig bezogen bleibt. Vgl. Marcelino Menéndez Pelayos, Historia de los heterodoxos, Madrid 1880–1882. Vgl. Miguel de Unamuno, En torno al casticismo, 1895.
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chende Auffassung des sogenannten regeneracionismo, noch die genetischen Theorien hispanisch-römischer und keltiberischer Kontinuität, wie sie in Menéndez Pidals sprachwissenschaftlichen Arbeiten bedeutsam werden. Anders als in den beschriebenen historischen Modellen integriert Castros Vorstellung der historischen Identität Spaniens jene Antagonismen, die die spanische Identität auf paradoxe Weise konstituieren. Ihm geht es demzufolge um die Simultanität der »pluralidad y singularidad de esos ›alguién‹«, die die Geschichte verkörpern, um die »función de una vida a la vez singular y colectiva, en la cual, desde la cual va creándose la cultura historiable«,25 Kultur dabei verstanden als intersubjektive Kategorie »[de] un hacer de alguién y un ›para hacer‹ para otros hombres distintos de aquel alguién«.26 Es geht um die »pluralidad diferenciada de modos de existir«27 genauso wie um die Frage nach der Möglichkeit übergeordneter ethischer Kriterien: »Todos los grupos humanos comienzan por crearse y mantener unos peculiares, ›diferenciales‹; pero además hace falta algo, por encima de ellos, para que un grupo pueda agruparse con otros.«28 Wie also gehen die Spanier mit jenem, um den Begriff der convivencia gruppierten Zentralproblem ihrer Geschichte um, der »›conciencia de inseguridad‹, en la necesidad de convivir con personas y cosas que no son como uno desearía, y en rebelarse contra el hecho de que así sea«,29 jenem von Castro immer wieder beschworenen »problematismo« der spanischen Geschichte vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert – nicht zuletzt nach dem Wegfall des identitätsstiftenden Bands der Religion?30 Der Historiker müsse sich dabei der »razón de la sinrazón hispanica«,31 ihrer »unión-desunión« stellen, einem kollektiven »vivir desviviéndose«, dem Wunsch, »de escapar a si mismo«, der »sostenida conciencia de existir como un no existir, de poner una y otra vez a prueba la posibilidad de la imposibi25 26 27 28 29
30
31
Castro, Ensayos, S. 13. Ebd., S. 32. Ebd., S. 16. Ebd., S. 26. Vgl. auch: »Este es uno de los principales motivos […] de que hasta hoy no sea posible entablar diálogos fructíferos entre unos y otros españoles, cuando sale a escena el personaje hispánico. ›¡Telón rápido!‹, exclaman todos. Y cada uno añade nuevos matices y perfiles a lo en él figurado. […] No interesa ejercitarse en tareas de posible convivencia.« (Castro, Ensayos, S. 28f.). »La unión, cuando la hubo, fue de índole regio-religiosa; los individuos estaban recluidos en su personalidad castizo-religiosa de uno a otro extremo de la Península. Cuando los halos mágicos dejaron de actuar desde arriba, las personas se sintieron solas, sin nada que hacer en común.« (Ebd., S. 27). Castro, Cristianos, S. 640.
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lidad«32 – und in genau dieser paradoxen Form gerät ihm die spanische Geschichte zu einem allgemeinen Modell historischer Erfahrung in der Moderne. Wie aber könnte eine Geschichtsschreibung aussehen, die diesem problematismo gerecht würde? Überkommene Formen nationaler Geschichtsschreibung erscheinen Castro dabei eher als Ausdruck des Problems denn als Teil seiner Lösung.33 Hier kommt nun erneut der Begriff der convivencia ins Spiel, dessen Begriffsbedeutung eine radikale Ausweitung erfährt: In seinem programmatischen Aufsatz Descripción, narración y historiografía von 1956 beschreibt Castro convivencia als die Simultanität von »convivir la vida de un pueblo, narrar o historiar su pasado« (21); weiter heißt es, »la tarea de historiar es una forma de conversación, de convivir (33)«. Convivencia bezieht sich damit nicht nur erstens auf die Ebene historischer Praxis, beschreibt nicht nur zweitens eine ethische Problematik, sondern erlangt drittens auch eine erkenntnistheoretische Bedeutung. Der Begriff wird, wie weiter oben beschrieben, für Américo Castro zu einem epistemologischen Modell, das die Möglichkeiten und Grenzen der Beschreibung historischer Wirklichkeit zum Gegenstand hat, ausgehend von der Prämisse, dass der Beobachter der spanischen Nation und ihrer Geschichte Teil der von ihm beobachteten historischen Prozesse ist. Convivencia wird darüber hinaus viertens zu einer dialogischen bzw. kommunikativen Kategorie sowie fünftens zu einem Effekt der Narration, ein starkes Plädoyer Castros für die performative Wirkung von Literatur und Malerei mit Blick auf die historische Selbstbeschreibung einer Gesellschaft, von künstlerischen Ausdrucksformen, die dergestalt nicht nur zu einem Gegenstand von Geschichtsschreibung werden, sondern mit dieser auf einer Ebene angesiedelt werden. In Übereinstimmung mit dieser Auffassung untersuche ich im Folgenden Castros Analyse von drei Gemälden, die seine Auffassung spanischer Wirklichkeit kondensieren34 und die in den verschiedenen Überarbeitungsstufen 32 33
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Castro, Realidad, S. 68. »Ese hermetismo de cada región humana dotada de valores, su resistencia a entender formas de vida extrañas para cada una de ellas y la casi incapacidad para objetivarse cuando el historiador habla de su propio país, todo ello suele dar un leve tinte de aldeanismo infatuado a las llamadas historias ›nacionales‹, incluso a las más altamente concebidas. […] Topamos ahí con un límite de la pobre condición humana, que candorosamente intentan salvar las comisiones internacionales afanadas en escribir libros de historia ›sin prejuicios‹ y capaces de desarrollar buen acuerdo entre los habitantes del planeta.« Ebd., S. 605. Castros Bilddeutung bezieht entscheidende Impulse aus den kunsthistorischen Arbeiten Manuel Bartolomé Cossíos, insbesondere von dessen El-Greco-Studien. El Greco und dem von ihm beeinflussten Velázquez, so Cossío, sei es mit ihren
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seiner Texte wiederholt auftauchen. Es handelt sich um Las Hilanderas (1657) und Las Meninas (1656) von Velázquez sowie El Entierro del conde de Orgaz (1587) von El Greco. Bei allen drei Gemälden steht die Darstellung der convivencia im Vordergrund; in enger Verbindung, dies gilt zumindest für zwei von ihnen, mit einer selbstreflexiv ausdeutbaren Darstellung der Kunst selbst, die einen Blick auf ihren Beitrag zur convivencia zu werfen erlaubt. Das Kunstwerk erscheint Castro dabei zunächst als Ausdrucksform des spanischen personalismo35 und ist dennoch gerade durch die im Bild realisierte Externalisierung und Ausdifferenzierung der prozesshaften, performativen Dimension der Produktion und Rezeption von Kunst in der Lage, Ort einer convivencia, einer Begegnung, und das heißt Beobachtung bzw. Selbstbeobachtung von Subjekten im Medium der Kunst zu sein. Dies bedeutet in letzter Konsequenz, dass ein wesentlicher Gegenstand der Kunstbetrachtung Américo Castros wie seiner Meinung nach der Selbstreflexion von Kunst in der Kunst überhaupt ihr Beitrag zur Problematik der convivencia ist. Hier liegt sicher das größte Verallgemeinerungspotential der Kunstbetrachtung Américo Castros, und hier setzt meines Erachtens der Modellcharakter von Castros convivencia-Begriff jenseits seiner Verankerung in der spanischen Geschichte an. Hier liegt möglicherweise aber auch der utopische Kern dieser aus historischem Erkenntnisstreben realisierten Interpretation von Kunst, die womöglich nur in der ästhetischen Vermittlung bzw. im Modus des Ästhetischen gelungene Formen der convivencia vorstellen kann.
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Bildern gelungen, »a condensar el tipo característico de un pueblo y el ambiente espiritual del mismo, en determinada época de su vida. El entierro del conde de Orgaz es, en efecto, una de las páginas más verídicas de la historia de España« (Manuel Cossío, El entierro del Conde de Orgaz, Madrid 1914, S. 139). El Greco biete nach Cossío die perfekte Synthese verschiedener Kulturen, von »orientalismo y occidentalismo« – eine Vorstellung, die ihn gerade für Castros Analysen prädestiniert. El Greco sei – und dies erinnert an die Ausgangsdefinition der anthropologisch beeinflussten Castro’schen Sichtweise Spaniens – »contra la falsa idea usual del casticismo […] el más grande, el más universal y humano, y por esto el más castizo de los pintores españoles« (Manuel Cossío, De su jornada, Madrid 1929, S. 250). Zur Beziehung von Américo Castro zur generación del 98, zur Institución libre de enseñanza sowie zu verschiedenen geistesgeschichtlichen bzw. philosophischen Strömungen des 19. und frühen 20. Jhs. vgl. Ruben Benítez, »Américo Castro y el siglo XIX español«, in: Cuadernos americanos, 1/1978, S. 146–167; Adolfo Sotelo Vázquez, »Américo Castro y la generación del 14«, in: Cuadernos hispanoamericanos 426/1985, S. 29–50. Es ist daher auch kein Zufall, dass Castro Velázquez und andere Maler in einem Atemzug mit Schriftstellern bzw. religiösen Figuren wie Cervantes und Santa Teresa, insbesondere aber auch mit Hernán Cortéz und anderen Heldenfiguren nennt (Castro, Cristianos, S. 172f.).
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Abb. 1: Diego Velázquez: Las Hilanderas (1657)
Velázquez, so führt Castro aus, sei es in seinem Bild Las Hilanderas nicht um die Darstellung eines Teppichs gegangen, sondern um den »proceso existencial del tapiz« (639), das heißt um die Einheit von Erleben und künstlerischem Ausdruck, um die Inszenierung der Bezüge von Person (Künstler oder Autor) und Werk, die Transformation des Individuums in der und durch die Kunst – und sein Kommentar bezieht sich dabei ausdrücklich und folgerichtig nicht nur auf die Malerei, wenn er ausführt: »Los vigorosos movimientos de la hilandera, de pies y brazos con su carne al aire, son al tapiz, lo que Rodrigo de Vivar […] es a ›Mío Cid, que en buena hora ciño espada‹; lo que Alonso Quijano […] es al Caballero de los Leones, amador de Dulcinea«36 –, des weiteren aber, müsste man diese idealistische Deutung ergänzen, nicht minder um eine Inszenierung der multiplen Perspektiven der Betrachter auf das Werk und damit auf sich selbst und die anderen Betrachter. Auf diese doppelte Weise wird das Bild für Castro in seiner im Verlauf des künstlerischen Prozesses selbst begründeten relationalen Struktur zum bildlichen Ausdruck von convivencia. 36
Castro, Realidad, S. 631.
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Abb. 2: Diego Velázquez: Las Meninas (1656)
In Castros Interpretation von Las Meninas heißt es: »Las meninas, el creador, la creación, lo creado, y el ›vió que era bueno‹ final de quien se contempla a sí mismo como creante en su creación […], corriente circular del fenómeno del mundo y del vivir en el mundo.«37 Diese zirkuläre Auffassung, die den Künstler als gottähnlichen Schöpfer und Betrachter in einer Person im Blick hat,38 erweitert sich jedoch in späteren Versionen erheblich, wenn Castro 37 38
Castro, Cristianos, S. 639. Vgl. ähnlich Américo Castro, Aspectos del vivir hispánico, Madrid 1970, S. 107f.
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von der bestimmenden Gestalt des Schöpfers abstrahiert und in seiner Beschreibung explizit das Kunstwerk und die Betrachter als unabhängige, durch unterschiedliche Betrachtungsebenen und -perspektiven, und das heißt nur durch Repräsentationen, nicht aber durch ›Nacherleben‹ miteinander verbundene Einheiten berücksichtigt. So betont er in Las Meninas die »perfecta expresión de la figura del creador, del tema de su obra, del proceso de realizarla, y de quienes mutuamente la contemplan y se contemplan«.39 Castro skizziert hier eine Form der convivencia, in der auch der Historiker – und seine eigene Bildinterpretation wäre hierfür ein Beispiel – gleichsam als Betrachter bzw. Beobachter zweiter Ordnung seinen Platz finden könnte. Ich lasse einmal beiseite, welche autobiographische Dimension eine solche Kunstauffassung für einen Historiker besitzt, der die Historiographie zugleich als kollektive Biographie konzipiert und für den als Exilanten die Kunst, wie erwähnt, eine der wenigen verbliebenen Formen der convivencia mit der eigenen Nation darstellt. Wenn Castro mit seiner Sichtweise spanischer Malerei als Ausdrucksform von Beobachtung und Selbstbeobachtung von Subjektivität und Intersubjektivität auch einen von Pragmatik, Utilitarismus und Objektivität freien Blick auf das menschliche Leben beschwört,40 stellt sich doch die Frage, ob hier nicht ein Selbstwiderspruch gegenüber den zuvor referierten Thesen Américo Castros vorliegt, denen zufolge die Person als Inbegriff spanischer Subjektivität sich selbst der Kosmos ist, den es zu beobachten gilt, und von der es überdeutlich geheißen hatte, dass ihr jedweder Wille zur convivencia abgehe? Man könnte umgekehrt und im Einklang mit dem bisher Gesagten die Behauptung aufstellen, dass der einzige Punkt, an dem diese Paradoxie spanischer Existenz als Ausdruck jener bereits erwähnten, von Castro postulierten Figur einer »unión-desunión«, einer »pluralidad y singularidad de esos ›alguíen‹« überhaupt repräsentiert werden kann, die Kunst ist als Emanation eines Subjekts, die zugleich dessen Begegnung mit dem Mitmenschen zum Ausdruck bringt.41 Die Zumutung einer 39 40 41
Castro, Realidad, S. 631 (Hervorhebung A.G.). Castro, Cristianos, S. 641. Wenn Castro darauf hinweist, der Künstler erschaffe aus sich heraus eine Welt »dentro de sí, y en soledad creadora« (Castro, Realidad, S. 631), dann deckt sich dies nicht ohne weiteres mit seiner Bildbeschreibung, die einen historischen Raum errichtet, der von Körpern und den sie konstituierenden Betrachtungsperspektiven erfüllt ist, welche sich dem personalen Bewusstsein zu entziehen drohen. Als Gedankenspiel soll hier an die bekannte Interpretation des gleichen Bildes durch Foucault erinnert werden, der in ihm das Sinnbild für den Verlust des Menschen in Verhältnissen reiner Repräsentation gesehen hatte. Dort finden sich bis in die Formulierungen hinein ähnliche Beschreibungen dieses Bildes – so heißt es in Les mots et les choses : »le regardant et le regardé s’échangent sans cesse« (Michel Fou-
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solchen paradoxalen Struktur erkennt man an jenem von Castro in seinen Bildinterpretationen herausgearbeiteten, einer bestimmten Phase der spanischen Geschichte entsprechenden Versuch, die Kontingenz der Repräsentation heterogener Beobachtungsprozesse in der Kunst durch das Anlegen einer transzendenten Perspektive aufzulösen. So fährt er in seiner Interpretation von Las Meninas fort, spanische Geschichte sei ein Proceso de ida y de retorno, eterno y reversible, en el que se incorpora un ›y yo que lo vea‹ y un ›y tú que lo veas‹, expresiones usuales y preñadas de sentido, reflejos de la necesidad hispánica de existir como contemplador y como contemplado, como correlato de un aspecto, de una inmortal epifanía.42
Castro beschwört dabei die Reversibilität historischer Prozesse (»Proceso de ida y de retorno, eterno y reversible«) im Oszillieren personaler Beobachterperspektiven (»la necesidad hispánica de existir como contemplador y como contemplado«) – eine bemerkenswerte Abwandlung zyklischer Konzepte und ein Seitenhieb auf europäische Fortschrittsgeschichte. Zugleich dokumentiert diese Interpretation Castros aber auch den historisch verbürgten Versuch, die problematische Geschichte Spaniens in einer gewissen Weise als »correlato de un aspecto, de una inmortal epifanía« zu fixieren. In der spanischen Geschichte habe es laut Castro nämlich wiederholt den Versuch gegeben, die offene, prekäre dialogische und narrative Form der convivencia als Möglichkeitsbedingung von Beobachtungs-, Selbstbeobachtungs- und Erkenntnisprozessen durch die Annahme einer transzendenten Beziehung semantisch zu stabilisieren, die Oszillation der Beobachterperspektiven festzuschreiben als, wie es im letzten Zitat hieß, Aspekt einer Epiphanie. Der Blick des Betrachters, so heißt es zum Beispiel in Castros Interpretation von El Grecos El entierro del conde de Orgaz, wandert im Bildraum vom »cuerpo celestial de aquel señor toledano al cuerpo corruptible de su cadáver; ambos valen como aspectos contemplados desde el cielo o desde la tierra, pues su existir consiste en aparecer como cuerpo terreno y celestial« (639f.). Die sinnstiftende Dimension der Transzendenz wird laut Castro an die Beobachtung des Körpers angebunden, an den Leichnam des conde de
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cault, Les mots et les choses, Paris 1966, S. 20), »Vus ou voyant?« (Ebd., S. 21), »Pure réciprocité que manifeste le miroir regardant et regardé« (Ebd., S. 29). Bei Castro hingegen werden ausgehend von der strukturell gleichen Beschreibung, aber weniger radikal, gerade umgekehrt Grundlagen der durchaus prekären Konstitution eines Kollektivsubjekts thematisiert. Castro, Cristianos, S. 640.
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Abb. 3: El Greco: El entierro del conde de Orgaz (1587)
Orgaz. In einer späteren Fassung seiner Bildinterpretation rekurriert Castro zusätzlich auf die ebenfalls in El Grecos Gemälde sichtbare, zwischen Himmel und Erde schwebende Figur der Seele des conde, und auch hier taucht der Beobachtungsbegriff wieder auf: »la región gloriosa y la terrena se recrean contemplándose una a otra; el alma del cadáver corruptible las enlaza a ambas en forma de imprecisa figurilla […].« Beide Regionen bildeten eine Ein-
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heit, »como la figura corporal y temporal de San Esteban […] coexiste con la escena de su martirio […] – como conviven en la segunda parte del Quijote la figura visible del héroe y la narrada en la primera parte, inyectada en él«.43 Die Skepsis Castros gegenüber jener die transzendente Konstitution der Betrachterperspektiven plausibilisierenden Funktion des Körpers der Seele, »en forma de imprecisa figurilla«, einer ungenauen Figur, belegen die von ihm gewählten Vergleiche deutlich. Die Gegenwart der Transzendenz in der spanischen Geschichte reduziert sich in dieser Perspektive auf die flatterhafte Gegenwart intertextueller Spuren, wie zum Beispiel auf die Gegenwart des Quijote aus dem ersten im zweiten Teil (»como conviven en la segunda parte del Quijote la figura visible del héroe y la narrada en la primera parte, inyectada en él« [Hervorhebung A.G.]). Und auch Castros zweiter Vergleich, der Versuch, den Körper des Heiligen Stephanus und die Szene seines Martyriums, die Realität zerstückelter Körper mit dem ganzheitlichen Bild intakter Menschlichkeit zusammenzudenken (»como la figura corporal y temporal de San Esteban […] coexiste con la escena de su martirio« [Hervorhebung A.G.]), um den Problematismus der spanischen wie jeder Geschichte zu bewältigen, ist von der Kontingenz heterogener Betrachtungsperspektiven bedroht. Die Ambivalenz, die von der Überblendung beider Erscheinungsformen, des Heiligen Stephanus wie des Quijote, ausgeht, erscheint dabei – die Verwendung der Begriffe im Zusammenhang mit der bildlichen und literarischen Darstellung legt dies nahe – geradezu als ein grundlegender Effekt der Erfahrung von coexistencia oder convivencia selbst. Convivencia als bedeutsamer Moment spanischer Geschichte, convivir als Aufgabe des Historikers als Subjekt und Interpret spanischer Geschichte erscheint bei Castro daher zuletzt, diesseits christlicher Vorstellungen von Transzendenz, als Utopie, als Horizont sinnerfüllter Geschichte.44
43 44
Castro, Realidad, S. 632. Es ist daher kein Zufall, dass Castro in España en su historia. Cristianos, moros y judíos (1948) den Begriff der convivencia noch als Ausnahme im Zusammenleben der Spanier deklariert und stattdessen das Verb »coincidió« benutzt hatte (S. 172f.). Vor diesem Hintergrund erscheint convivencia als eine performative Kategorie.
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Sina Rauschenbach (Konstanz)
Kulturvermittler ›in die falsche Richtung‹ Anregungen aus der jüdischen Geschichte am Beispiel Menasse ben Israels und der christlichen Gelehrten des 17. Jahrhunderts
1650 wandte sich Christoph Arnold, Theologe und späterer Professor am Nürnberger Aegidiengymnasium, an den Amsterdamer Rabbiner Menasse ben Israel (1604–1657).1 Arnold arbeitete an einem Band gelehrter Zeugnisse, die sich mit Flavius Josephus und der Authentizität des Testimonium Flavianum beschäftigten.2 Beim Testimonium Flavianum handelt es sich um eine Passage im achtzehnten Buch der Jüdischen Altertümer, in der Flavius Josephus scheinbar für die Messianität und die göttliche Natur Jesu Zeugnis ablegt.3 Die Autorschaft der Passage war seit dem 16. Jahrhundert umstritten. Von Flavius Josephus wusste man, dass er mit den Römern zusammengearbeitet und die Juden bei der Belagerung Jerusalems verraten hatte. Zur Debatte stand, ob er auch mit dem Christentum geliebäugelt hatte. Im Buch Josippon, einer Zusammenstellung und hebräischen Übersetzung von verschiedenen 1
2
3
Zu Arnold vgl. Frans Blom, Christoph and Andreas Arnold and England. The Travels and Book Collections of two Seventeenth-Century Nurembergers, Nürnberg 1982. Zu Menasse ben Israel vgl. immer noch Cecil Roth, A Life of Menasseh ben Israel. Rabbi, Printer and Diplomat, Philadelphia 1934. Vgl. auch Yosef Kaplan/Henry Méchoulan/ Richard Popkin (Hrsg.), Menasseh ben Israel and his World, Leiden u. a. 1989 und Lionel Ifrah, L’Aigle de Amsterdam. Menasseh ben Israel (1604–1657), Paris 2001. Für eine Bibliographie aller Publikationen von und über Menasse vgl. J. H. Coppenhagen, Menasseh ben Israel, Manuel Dias Soeiro (1604–1657). A Bibliography, Jerusalem 1990. Zu Arnold und Menasse vgl. Mireille Hadas-Lebel, »Une lettre en français de Menasseh ben Israel à propos du Testimonium Flavianum«, in: Revue des études juives 149/1990, S. 125–128, und Herman Prins Salomon, »Menasseh ben Israel, Saul Levi Mortera et le ›Testimonium Flavianum‹«, in: Studia Rosenthaliana 25/1991, 1, S. 31–42. Zu Menasse als Kulturvermittler sowie für Details zu allen im Folgenden angesprochenenen Fragen vgl. Sina Rauschenbach, Judentum für Christen. Vermittlung und Selbstbehauptung Menasseh ben Israels in den christlichen Debatten des 17. Jahrhunderts (im Druck; Berlin: De Gruyter). Der Band wurde 1661 unter dem Titel XXX epistolae philologicae et historicae de Flavii Josephi testimonio, quod Jesu Christo tribuit lib. XIIX. Antiq. cap. IV. in Nürnberg publiziert. Vgl. Flavius Josephus, Jüdische Altertümer, XVIII, III, übers. von Heinrich Clementz, 13. Aufl. Wiesbaden 1998 [1899], S. 515f.
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Passagen aus den aramäischen Originaltexten der Jüdischen Altertümer, die man im 17. Jahrhundert ebenfalls noch Josephus zuschrieb, war Jesus nicht erwähnt. Waren die Autoren beider Bücher identisch, so war unverständlich, warum das eine den entscheidenden Hinweis gab und das andere ihn zurückhielt. Handelte es sich um unterschiedliche Autoren, so bestand die Möglichkeit, dass das Testimonium nicht apokryph war und Flavius Josephus tatsächlich für die Messianität Jesu gezeugt hatte.4 Menasse, den Arnold um seine Meinung in der genannten Auseinandersetzung anging, sollte die jüdische Stimme zu der Frage beitragen. Der Rabbiner antwortete vorsichtig, aber bestimmt. Er bestand zum einen auf der Identität der Autoren der Jüdischen Altertümer und des Josippon. Zum anderen betonte er nachhaltig Josephus’ Integrität und sein Festhalten am Judentum. Dabei führte er ein beachtliches Argument an: Wenn Josephus jemals in seinem Judentum geschwankt hätte, hätten Römer und Juden keine Gelegenheit ausgelassen, ihm dieses Schwanken vorzuwerfen.5 Beide nämlich seien ihm wegen seiner Nähe zu Vespasian feind gewesen. Dass in der Literatur keine Spuren von derartigen Vorwürfen zu finden seien, bestätigte, Menasse zufolge, Josephus’ Integrität. Menasse ben Israel wusste, warum er so viel Energie darauf verwandte, Flavius Josephus zu verteidigen. Wie Josephus trat Menasse als Vermittler zwischen der jüdischen und der nichtjüdischen Welt seiner Zeit auf. Wie Josephus wurde Menasse wegen seiner Grenzgänge von Juden und Christen, Anhängern der eigenen und Anhängern der fremden Religion, diskreditiert.6 Und wie Josephus befand sich Menasse in einer prekären Situation, weil er eben nicht von der fremden in die eigene, sondern von der eigenen in die fremde Welt vermittelte. Diese Vermittlungsrichtung war in der Frühen Neuzeit besonders, und sie brachte besondere Schwierigkeiten und Verdächtigungen mit sich. Da diese Schwierigkeiten nicht nur für die jüdische Geschichte, sondern auch für die Geschichte frühneuzeitlicher Kulturkontakte – 4
5 6
Zu den verschiedenen Übersetzungen und Bearbeitungen des Textes wie auch zur Geschichte der jüdischen und christlichen Kritik am Testimonium Flavianum vgl. Robert Eisler, Iesus basileus u basileusas. Die messianische Unabhängigkeitsbewegung vom Auftreten Johannes des Täufers bis zum Untergang Jakobs des Gerechten nach der neuerschlossenen Eroberung von Jerusalem des Flavius Josephus und den christlichen Quellen dargestellt, 2 Bde., Heidelberg 1929–1930, Bd. 1, S. 3–87, bes. S. 9–24. Arnold, XXX epistolae philologicae, S. 163f. Für eine ähnliche Klage Menasses, die seine eigene Situation betraf, vgl. De creatione problemata XXX, Amsterdam 1635, Menasseh Ben-Israel Lectori salutem, S. 4v.–5r. Wenn es darum gehe, so Menasse an dieser Stelle, Gründe zu finden, um denjenigen zu verurteilen, der Erfolg und Einfluss habe, begegneten sich Juden und Christen, Anhänger der eigenen und Anhänger der fremden Religion, in ihrem Eifer und ihrem Einsatz.
Kulturvermittler ›in die falsche Richtung‹
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oder im Sinne dieses Bandes für das frühneuzeitliche ZusammenLebensWissen – von Bedeutung sind, möchte ich das jüdische Beispiel nutzen, um gleichzeitig auf allgemeinere Phänomene aufmerksam zu machen. Dabei eröffnen sich auch zusätzliche Möglichkeiten, jüdische Geschichte und Kulturtransferforschung miteinander zu verbinden.7 Um die Bedeutung meines Beispiels herauszustellen, beginne ich mit einer Einführung in den Kontext christlicher Hebraica und einigen kurzen Bemerkungen zu Rabbinern, die wie Menasse ebenfalls mit christlichen Gelehrten zusammenarbeiteten. In einem zweiten Teil werde ich Menasse selbst vorstellen und auf seine Strategien im Umgang mit der christlichen Gelehrtenwelt hinweisen. Schließlich werde ich in einem dritten Teil Überlegungen zu frühneuzeitlichen Kulturvermittlern und Parallelen zwischen Aspekten der Missionsgeschichte und Menasses Dilemma als Kulturvermittler ›in die falsche Richtung‹ anstellen.
I.
Christliche Hebraica und die Kooperation von Rabbinern
In der christlichen Gelehrtenwelt des 17. Jahrhunderts herrschte rege Nachfrage nach jüdischem Wissen. Seit der Reformation war üblich, dass sich christliche Theologen jüdischen Lehrern zuwandten, um bei ihnen die hebräische Sprache zu studieren und einen neuen Zugang zu den biblischen Originaltexten zu finden. Zu dem Interesse an der hebräischen Bibel hinzu trat bei einigen Theologen ein Interesse am Talmud oder insgesamt an den rabbinischen Kommentaren und Texten der mittelalterlichen jüdischen Philosophen. Dieses Interesse unterschied sich wesentlich von demjenigen der meisten mittelalterlichen Hebraisten. Bereits im 13. Jahrhundert hatten Dominikaner in Katalonien und Aragonien begonnen, unter der Anleitung von Konvertiten Hebräisch und Aramäisch zu studieren. Zu Beginn des 14. Jahrhunderts hatte Clemens V. (1260–1311) die Strategien der Dominikaner unterstützt und auf dem Konzil von Vienne (1311–1312) die Einrichtung von Lehrstühlen für orientalische Sprachen an den Universitäten von Paris, Oxford, Bologna und Salamanca angeordnet. Doch die spanischen Mönche hatten wesentlich darauf gezielt, ihre Missionsstrategien zu verbessern, und sie hatten ihre neuen Kenntnisse vor allem genutzt, um in großen Zwangsdisputationen zwischen dem 13. und dem frühen 15. Jahrhundert Rabbinern 7
Für eine neuere Forderung nach einer derartigen Einbindung vgl. Wolfgang Schmale/Martina Steer (Hrsg.), Kulturtransfer in der jüdischen Geschichte, Frankfurt a. M. u. a. 2006.
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aus dem Talmud und ihren eigenen Schriften zu beweisen, dass der Messias erschienen und ihr Gesetz abgeschafft war.8 Die Hebraisten der Frühen Neuzeit waren ebenfalls an der Konversion der Juden interessiert, aber sie waren auch bestrebt, aus den jüdischen Quellen Reste der hebraica veritas zu rekonstruieren, einer alten, im Laufe der Jahrhunderte verloren gegangenen Wahrheit, deren Kenntnis ihnen helfen sollte, ihre eigene Religion besser zu verstehen.9 Hierzu trugen einerseits die philologischen Ansprüche der Humanisten und ihre Neubewertung der drei antiken Sprachen Latein, Griechisch und Hebräisch bei. Andererseits hatte die Kontroverstheologie, die in der Folge der Reformation entstand, einen entscheidenden Anteil. Dabei war von Bedeutung, dass sich Theologen aller Konfessionen auf den Ursprung des Christentums aus dem Judentum besannen, um in der Auseinandersetzung mit Theologen anderer Konfessionen die Authentizität ihrer eigenen Lehre zu begründen.10 Zwar waren auch die neuzeitlichen Hebraisten keinesfalls Philosemiten, und auch sie standen zeitgenössischen Rabbinern, wo sie ihnen begegneten, kritisch bis feindlich gegenüber. Im Gegensatz zu ihren Vorgängern aber maßen sie den jüdischen Quellen einen unbekannten Wert bei, und sie öffneten die Türen für ausgiebige Hebräisch-Studien, die überall dort, wo gelehrtes Wissen produziert, 8
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Die wichtigsten dieser Disputationen fanden 1263 in Barcelona und 1413–1414 in Tortosa statt. Für Übersetzungen des hebräischen Protokolls zur Disputation von Barcelona vgl. Hans-Georg von Mutius (Hrsg.), Die christlich-jüdische Zwangsdisputation zu Barcelona, nach dem hebräischen Protokoll des Moses Nachmanides, Frankfurt a. M. 1982 und Nachmanides, La Dispute de Barcelone, übers. von Eric Smilévitch (Hrsg.), Lagrasse 1984. Für Literatur wie auch allgemein zur Missionsstrategie der Dominikaner im spanischen Mittelalter vgl. Jeremy Cohen, The Friars and the Jews. The Evolution of Medieval Anti-Judaism, Ithaka 1982 und Robert Chazan, Daggers of Faith. Thirteenth-Century Christian Missionizing and Jewish Response, Berkeley 1989. Für die lateinischen Protokolle der Disputation von Tortosa vgl. Antonio Pacios López (Hrsg.), La Disputa de Tortosa, Bd. 2, Madrid u. a. 1957. Für einen Überblick und weitere Literaturangaben vgl. Sina Rauschenbach, Josef Albo. Jüdische Philosophie und christliche Kontroverstheologie in der Frühen Neuzeit, Leiden u. a. 2002, S. 11–61. Für Einblicke in die Geschichte christlicher Hebraica in der Frühen Neuzeit vgl. Jerome Friedman, The Most Ancient Testimony. Sixteenth-Century Christian-Hebraica in the Age of Renaissance Nostalgia, Athens, OH, 1983, Frank Manuel, The Broken Staff. Judaism through Christian Eyes, Cambridge, MA, u. a. 1992 und neuerdings Allison P. Coudert/Jeffrey S. Shoulson (Hrsg.), Hebraica veritas? Christian Hebraists and the Study of Judaism in Early Modern Europe, Pennsylvania 2004. Zu Judentum und Reformation vgl. neuerdings Dean Philipp Bell/Stephen G. Burnett (Hrsg.), Jews, Judaism, and the Reformation in Sixteenth-Century Germany, Leiden u. a. 2006. Zum Umgang mit den jüdischen Quellen in den unterschiedlichen Konfessionen vgl. z. B. Achim Detmers, Reformation und Judentum. Israel-Lehren und Einstellungen zum Judentum von Luther bis zum frühen Calvin, Stuttgart u. a. 2001.
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verhandelt oder vermittelt wurde, zu neuen Schwerpunkten, Projekten und Kooperationen führten. Eine wichtige Rolle bei diesen Hebräisch-Studien spielten zunächst die Gelehrten und Rabbiner in den italienischen Kleinstaaten der Renaissance.11 Bereits im 15. Jahrhundert entdeckten im Florenz Lorenzo de Medicis (1449–1492) Neuplatoniker und Theosophen, unter ihnen Pico della Mirandola (1463–1494), die Kabbala als Quelle zur Erkenntnis einer universellen, allen späteren Religionen vorangehenden Weltweisheit.12 Später wurden Soncino, Sabbionetta, Venedig, Cremona, Genua, Mantua, Fano, Pesano, Rimini, Rom und Bologna zu europäischen Zentren des hebräischen Buchdrucks. In den Druckereien – wie auch in den Zensurbehörden der Römischen Inquisition – kam es zu wichtigen jüdisch-christlichen Kooperationen.13 Jüdische Gelehrte wie Abraham Farissol (1451–1525) oder Joseph Delmedigo (1591–1655) beteiligten sich an geographischen und naturphilosophischen Diskussionen, die die christliche Gelehrtenrepublik beschäftigten.14 Andere wie Obadia Sforno (um 1470–1550), David de Pomis (1525–1593) oder – im 17. Jahrhundert – Leone Modena (1571–1648) und Simone Luzzatto (1583–1663) begannen, wenn auch zumeist in apologetischen Kontexten, auf Latein oder auf Italienisch für eine christliche Leserschaft zu publizieren. 11
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Für einen alten, aber nach wie vor lesenswerten Überblick über die Geschichte der Juden in Italien vgl. Cecil Roth, The History of the Jews of Italy, Philadelphia 1946. Zur Geschichte der Juden in Venedig vgl. neuerdings Robert C. Davis/Benjamin Ravid (Hrsg.), The Jews of Early Modern Venice, Baltimore u. a. 2001. Zu Livorno vgl. Francesca Trivellato, The Familiarity of Strangers. The Sephardic Diaspora, Livorno, and Cross-Cultural Trade in the Early Modern Period, New Haven u. a. 2009. Für einige ausgewählte Porträts von jüdischen Gelehrten, die im frühneuzeitlichen Italien mit Christen kooperierten, vgl. David Ruderman/Giuseppe Veltri (Hrsg.), Cultural Intermediaries. Jewish Intellectuals in Early Modern Italy, Philadelphia 2004. Der erste Christ, der eine kabbalistische Abhandlung verfasste, nachdem er die florentinischen Gelehrten auf einer Italienreise besucht hatte, war Johannes Reuchlin (1455–1522). Für neuere Literatur zu Reuchlin vgl. Peter Schäfer/Irina Wandrey (Hrsg.), Reuchlin und seine Erben. Forscher, Denker und Spinner, Ostfildern 2005. Vgl. neuerdings Amnon Raz-Krakotzkin, The Censor, the Editor, and the Text. The Catholic Church and the Shaping of the Jewish Canon in the Sixteenth Century, Philadelphia 2007 [Jerusalem 2005]. Farissol integrierte erstmals eine Beschreibung der Neuen Welt in ein hebräisches Buch. Delmedigo, der ursprünglich von Kreta kam und später von Italien nach Amsterdam ging, bezog sich als Erster in einem hebräischen Text auf Galileo Galilei. Sein Sefer Elim wurde 1629 von Menasse ben Israel gedruckt. Zu Farissol vgl. David Ruderman, The World of a Renaissance Jew. The Life and Thought of Abraham ben Mordechai Farissol, Cincinnati 1981. Zu Delmedigo vgl. Isaac E. Barzilay, Yoseph Shlomo Delmedigo (Yashar of Candia). His Life, Works and Times, Leiden u. a. 1974.
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Gleichzeitig zählten sie zu den ersten Juden, die nicht nur Grammatiken oder lexikalische Schriften für Christen verfassten, sondern christlichen Lesern darüber hinaus schriftlich Grundlagen des Judentums erläuterten.15 Insbesondere Modena spielte eine herausragende Rolle, weil er nicht nur mit zahlreichen christlichen Gelehrten seiner Zeit in regem Austausch stand, sondern mit seiner Historia de gli riti hebraici (Geschichte der jüdischen Riten; 1637) auch den ersten Beitrag eines Rabbiners zum Genre jüdischer Ethnographien leistete.16 In Amsterdam, wo zu Beginn des 17. Jahrhunderts nach venezianischem Vorbild die wichtigste jüdische Gemeinde in den frühneuzeitlichen Niederlanden entstand,17 war Menasse ben Israel der erste Rabbiner, der auf die 15
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Zu Obadia vgl. u. a. Saverio Campanini, »Un intelletuale ebreo del rinascimento. Ovadya Sforno e i suoi rapporti con i Cristiani«, in: Maria Giuseppina Muzzarelli (Hrsg.), Verso l’epilogo di una convivenza. Gli ebrei a Bologna nel XVI secolo, Bologna 1996, S. 99–128, und Roberto Bonfil, »Il Rinascimento. La produzione esegetica di O. Servadio Sforno«, in: Sergio Sierra (Hrsg.), La lettura ebraica delle Scritture, Bologna 1995, S. 261–277. Zu De Pomis vgl. Alessandro Guetta, »Ebraismo come natione e come religione universale. Forme del pensiero ebraico in Italia tra ’500 e ’700«, in: Italia 19/2009, S. 23–42, besonders S. 36–39. Für neuere Erkenntnisse über Luzzatto vgl. Giuseppe Veltri, Renaissance Philosophy in Jewish Garb. Foundations and Challenges in Judaism on the Eve of Modernity, Leiden 2009, S. 195–225. Zu Luzzatto als Vermittler vgl. auch Guetta, »Ebraismo come natione e come religione universale«, bes. S. 25–36. Zu Modena vgl. David Malkiel (Hrsg.), The Lion Shall Roar. Leon Modena and his World. Jerusalem 2003. Zu Modenas Riti vgl. Mark R. Cohen, »Leone da Modena’s Riti. A Seventeenth-Century Plea for Social Toleration of the Jews«. in: David B. Ruderman (Hrsg.), Essential Papers on Jewish Culture in Renaissance and Baroque Italy, New York u. a. 1992, S. 429–473. Zu den jüdischen Ethnographien vgl. Ya’akov Deutsch, »›A View of the Jewish Religion‹. Conceptions of Jewish Practice and Ritual in Early Modern Europe«, in: Archiv für Religionsgeschichte 3/2001, S. 273–295, und Ders., »›Von der Juden Ceremonien‹. Representations of Jews in SixteenthCentury Germany«, in: Dean/Burnett, Jews, Judaism, and the Reformation, S. 335–356. Für einen Überblick vgl. z. B. Yosef Kaplan, »The Jews in the Republic until about 1750. Religious, Cultural, and Social Life«, in: J. C. H. Blom/Rena G. Fuks-Mansfeld/I. Schöffer (Hrsg.), The History of the Jews in the Netherlands, Oxford u. a. 2002 [Amsterdam 1995], S. 116–163. Für Monographien zur Amsterdamer sefardischen Gemeinde im 17. Jahrhundert vgl. z. B. Miriam Bodian, Hebrews of the Portuguese Nation. Conversos and Community in Early Modern Amsterdam, Bloomington/ Indianapolis 1997, Rena Fuks-Mansfeld, De Sefardim in Amsterdam tot 1795. Aspecten van een joodse minderheid in een Hollandse stad, Hilversum 1989 und Daniel Swetschinski, Reluctant Cosmopolitans. The Portuguese Jews of Seventeenth-Century Amsterdam, London 2000. Wichtige Aufsätze finden sich darüber hinaus in Yosef Kaplan, An Alternative Path to Modernity. The Sephardi Diaspora in Western Europe, Leiden 2000, Jozeph Michman (Hrsg.), Dutch Jewish History, 3 Bde., Jerusalem 1984–1993 und
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Nachfrage der christlichen Hebraisten systematisch reagierte. Auch Menasse publizierte gezielt lateinische Schriften für eine christliche Leserschaft, und er entwickelte etwas im Austausch mit der christlichen Gelehrtenrepublik, was ich in meinem Buch als ›Annäherung an eine gemeinsame Theologie‹ bezeichnet habe.18 Dabei profitierte Menasse einerseits von seiner besonderen Herkunft: Wie die meisten Sefarden, Juden iberischer Provenienz, stammte auch er von conversos ab (das heißt von Christen, deren Vorfahren mehrheitlich im späten 14. oder 15. Jahrhundert aus dem Judentum konvertiert waren),19 und wie die meisten Sefarden war Menasse durch seine Vergangenheit mit der Religion und Kultur christlicher Gesprächspartner besser vertraut als andere Rabbiner, die selbst immer als Juden gelebt und keine ähnlichen Brüche in ihren Biographien zu verzeichnen hatten.20 Andererseits war die christliche Welt, in der Menasse lebte, eine besondere, und die Kultur christlicher Hebraica war in ihr auf außergewöhnliche Art und Weise ausgeprägt.21
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Irene E. Zwiep/Alisa Meyuhas Ginio/Marcelo Dascal (Hrsg.), Uprooted Roots. Amsterdam and the Early Sephardic Diaspora – Studia Rosenthaliana 35/2001, 2. Zur Orientierung der Amsterdamer Sefarden an den Sefarden in Venedig vgl. z. B. Jonathan Israel, »The Jews of Venice and their Links with Holland and with Dutch Jewry (1600–1710)«, in: Gaetano Cozzi (Hrsg.), Gli Ebrei e Venezia secoli XIV– XVIII, Milano 1987, S. 95–116. Sina Rauschenbach, Judentum für Christen (im Druck). Die meisten Konversionen in Spanien standen im Zusammenhang mit den Pogromen von 1391 und dem Vertreibungsedikt von 1492. Vgl. hierzu besonders die zahlreichen Publikationen, die 1992 anlässlich des 500. Jahrestags der Vertreibung erschienen sind. Für eine detaillierte Darstellung zur Vertreibung sowie für weitere Literatur vgl. z. B. Haim Beinart, The Expulsion of the Jews from Spain, Oxford u. a. 2002 [Jerusalem 1994]. Allgemein zur Geschichte der Juden im christlichen Spanien vgl. immer noch Yitzhak Baer, Historia de los judíos en la España cristiana, übers. von José Luis Lacave, Barcelona 1998 [Tel Aviv 1945, span. Übers. Madrid 1981]. Genau ihre Vertrautheit mit Christen wurde den Sefarden von Aschkenasen zum Vorwurf gemacht. Vgl. H. J. Zimmels, Aschkenazim and Sephardim. Their Relations, Differences, and Problems as Reflected in the Rabbinical Responsa, London 1958, S. 276–279. Zur besonderen Kultur der spanisch-portugiesischen conversos vgl. z. B. David M. Gitlitz, Secrecy and Deceit. The Religion of Crypto-Jews, Philadelphia 1996. Vgl. neuerdings auch die anregende, aber provokative Darstellung von Yirmiyahu Yovel, The Other Within. The Marranos–Split Identity and Emerging Modernity, Princeton u. a. 2009. Zur Kultur christlicher Hebraica in den frühneuzeitlichen Niederlanden vgl. z. B. Aaron L. Katchen, Christian Hebraists and Dutch Rabbis. Seventeenth Century Apologetics and the Study of Maimonides’ Mishne Torah, Cambridge, MA, u. a. 1984 und Peter T. van Rooden, Theology, Biblical Scholarship and Rabbinical Studies in the Seventeenth Century. Constantijn l’Empereur (1591–1648), Professor of Hebrew and Theology at Leiden, Leiden 1989.
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Hier spielte eine Rolle, dass die offizielle Kirche in den nördlichen Niederlanden seit dem späten 16. Jahrhundert reformiert war und reformierte Theologen durch ihr unterschiedliches Bundesverständnis unter den frühneuzeitlichen Hebraisten eine Sonderstellung einnahmen.22 Gleichzeitig war von Bedeutung, dass die sieben nördlichen Provinzen der Niederlande sich seit dem späten 16. Jahrhundert im bewaffneten Aufstand gegen ihre spanischen Regenten befanden und dass die Notwendigkeit, ihr Vorgehen zu legitimieren, einen politischen Denkstil hervorbrachte, der wesentlich von Bezugnahmen auf das Alte Israel lebte.23 Zu diesem Denkstil gehörte auch, dass die Respublica Hebraeorum, der Staat, den Moses nach der Offenbarung am Sinai begründet hatte, zu einem politischen Modell avancierte, an dem sich niederländische Gelehrte immer wieder orientierten, wenn es darum ging, Antworten auf beunruhigende Fragen und Lösungen für dringende Probleme zu suchen.24 Trotz der günstigen Voraussetzungen hatte der Austausch von jüdischen und christlichen Gelehrten im frühneuzeitlichen Amsterdam aber eine problematische Seite. Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, dass die Amsterdamer Rabbiner immer unter der Bedrohung lebten, neu zugewanderte Gemeindemitglieder könnten sich ihrem strengen Regiment nicht fügen, heterodoxe Lehren und hybride Formen des Judentums verbreiten oder schließlich so weit gehen, die Inquisition auf der iberischen Halbinsel um Absolution anzugehen und wieder in ihre alten christlichen Leben zurück-
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Vgl. Detmers, Reformation und Judentum. Vgl. Simon Schama, Überfluß und schöner Schein. Zur Kultur der Niederlande im Goldenen Zeitalter, München 1988 [London 1987], bes. S. 38–65 und S. 112–143, und neuerdings Theodor Dunkelgrün: »›Neerlands Israel‹. Political Theology, Christian Hebraism, Biblical Antiquarianism and Historical Myth«, in: Laura Cruz/Willem Frijhoff (Hrsg.), Myth in History. History in Myth, Leiden u. a. 2009, S. 201–236. Für eine der bekanntesten Schriften in diesem Zusammenhang vgl. Petrus Cunaeus, De republica Hebraeorum libri III, Leiden 1617. Für einen neuen Nachdruck des ersten Teils mit einer zeitgenössischen englischen Übersetzung vgl. Petrus Cunaeus, De republica Hebraeorum (The Commonwealth of the Hebrews), Lea Campos Boralevi (Hrsg.), Florenz 1996. Für eine neue englische Übersetzung vgl. Petrus Cunaeus, The Hebrew Republic, Arthur Eyffinger (Hrsg.), Jerusalem 2006. Allgemein zum Modell der Respublica Hebraeorum vgl. u. a. Sina Rauschenbach, »›De Republica Hebraeorum‹. Geschichtsschreibung zwischen ›hebraica veritas‹ und Utopie«, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 26/2004, S. 9–35. Für die neueste Darstellung mit aktueller Literatur vgl. Eric Nelson, The Hebrew Republic. Jewish Sources and the Transformation of European Political Thought, Cambridge, MA, 2010.
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zukehren.25 Entsprechend standen die Oberhäupter der Amsterdamer Sefarden Kontakten von Juden und Christen häufig kritisch gegenüber. Verstärkt wurde ihre Kritik durch die Tatsache, dass der Bestand der Gemeinden in der Stadt nie völlig gesichert und immer an die Voraussetzung gebunden war, dass die Sefarden sich in keine religiösen Streitgespräche mit Christen verwickelten.26 In Anbetracht dieser Tatsache waren gelehrte Diskussionen zwischen Rabbinern und Christen eine potentielle Gefahr für alle Gemeindemitglieder, und es ist verständlich, warum die Gemeindeoberhäupter sich gegen sie aussprachen, als sie 1639 ihre Statuten neu bestimmten.27 Die Rabbiner wieder reagierten, indem sie christlichen Versuchen der Kontaktaufnahme aus dem Weg gingen oder zumindest darauf bestanden, Auseinandersetzungen mündlich auszutragen.28 Hier begegneten sich die Amsterdamer Sefarden mit allen anderen Juden, die, wo sie Christen unterrichteten, dies meist im direkten Gespräch taten und sich immer bemühten, nicht offen ge25
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Für einen Überblick vgl. z. B. Bodian, Hebrews of the Portuguese Nation, S. 96–131. Zu Rückkehrern zum Christentum vgl. auch Nikolaus Böttcher, »Beziehungen zwischen Conversos in Spanien und spanischen Juden in Amsterdam in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts«, in: Trumah 4/1994, S. 25–49, bes. S. 40–48, oder Yosef Kaplan, »Amsterdam, the Forbidden Lands and the Dynamics of the Sephardi Diaspora«, in: Ders. (Hrsg.), The Dutch Intersection. The Jews and the Netherlands in Modern History, Leiden u. a. 2008, S. 33–62. Allgemein zum Phänomen der Re-Konvertiten vgl. David L. Graizbord, Souls in Dispute. Converso Identities in Iberia and the Jewish Diaspora (1580–1700), Philadelphia 2004. Vgl. zu dieser Voraussetzung z. B. das Gutachten (in: J. J. Meijer [Hrsg.], Remonstrantie nopende de ordre dije in de Landen van Hollandt ende Westvrieslandt dijent gestelt op de Joden, Amsterdam 1949, S. 116–121), das die Staaten von Holland 1610 bei Hugo Grotius in Auftrag gegeben hatten, um eine endgültige rechtliche Regelung für die Ansiedlung der Sefarden zu finden. Allgemein zur rechtlichen Stellung der Amsterdamer Sefarden vgl. z. B. Arend H. Huussen, »The Legal Position of the Jews in the Dutch Republic (c.1590–1796)«, in: Jonathan Israel/Reinier Salverda (Hrsg.), Dutch Jewry. Its History and Secular Culture (1500–2000), Leiden u. a. 2002, S. 25–41. Vgl. »Ascamoth ou Regulamento da unica Congregação que ficou subsistindo«, in: J. Mendes dos Remédios, Os Judeus portugueses em Amsterdam, Coimbra 1911, S. 189–197, hier S. 195. Die neuen Statuten waren die Folge der Vereinigung der drei bestehenden sefardischen Gemeinden zur Gemeinde Talmud Tora. Unter anderem wies auch Menasse ben Israel auf das Disputationsverbot hin, als Jean d’Espagne ihn 1656 zum Briefwechsel über Fragen der christlich-antijüdischen Polemik drängte. Vgl. »Eine freundliche und ohne vorhergehendes Bedencken gehaltene Conferentz oder Unterredung zwischen dem berühmten Rabbi Menasseh ben Israel und Joanne d’Espagne […] so geschehen den 2. Maji 1656«, in: D’Espagne, Gesamte Schrifften und Wercke, Sigismund Hosmann (Hrsg.), Frankfurt a. M. u. a. 1699, S. 45–56, hier S. 55f.
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gen christliche Lehren zu argumentieren. Menasse ben Israel brach mit diesen allgemeinen Tendenzen, und er wurde so zu beidem: einem der wichtigsten jüdisch-christlichen Vermittler seiner Zeit und einer tragischen Figur, die am Ende immer anders gesehen und gedeutet wurde, als sie selbst gesehen und gedeutet werden wollte.
II.
Menasse ben Israel – Übersetzung und Lektüre
Menasses Leben verlief zunächst in ähnlichen Bahnen wie dasjenige der meisten Sefarden, die zu Beginn des 17. Jahrhunderts in den nördlichen Niederlanden lebten. 1604 als Sohn einer converso-Familie auf Madeira geboren und auf den Namen Manoel Dias Soeira getauft, kam Menasse um 1614 nach Amsterdam. Die Familie, die vor drohenden Verfolgungen durch die Inquisition geflohen war, kehrte zum Judentum zurück.29 Menasse wurde in der Schule Isaac Uziels ausgebildet und übernahm beim Tod seines Lehrers einen Teil von dessen Funktionen in der Gemeinde Newe Shalom (Wiege des Friedens). Danach begann seine Karriere als Rabbiner, Drucker und Diplomat, wie Cecil Roth seine einschlägige Biographie von 1934 betitelt hat.30 1627 gründete Menasse die erste jüdische Druckerei in Amsterdam.31 1631 stieg er zum Rabbiner auf. 1655 führte er mit Oliver Cromwell und dem Parlament in London Verhandlungen über die Wiederzulassung der Juden nach England. Diese Verhandlungen machten Menasse berühmt, und ihnen verdankt der Rabbiner seinen Ort in allen Darstellungen zur Geschichte der Juden im frühneuzeitlichen Europa.32
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Zur Geschichte von Menasses Familie vgl. ergänzend Herman Prins Salomon, »The Portuguese Background of Menasseh ben Israel’s Parents as Revealed through the Inquisitorial Archives at Lisbon«, in: Studia Rosenthaliana 17/1983, 1, S. 105–146. Vgl. Roth, A Life of Menasseh ben Israel. Zu Menasse als Drucker hebräischer Bücher vgl. Fuks/Fuks-Mansfeld, Hebrew Typography in the Northern Netherlands. Zu Menasses England-Verhandlungen vgl. v. a. David Katz, Philo-Semitism and the Readmission of the Jews to England, Oxford 1982. Für eine neuere Arbeit, die allerdings Katz in wesentlichen Aspekten folgt, vgl. Lionel Ifrah, Sion et Albion. Juifs et puritains attendent le Messie, Paris 2006. Für einen Nachdruck von Menasses England-Schriften vgl. Lucien Wolf (Hrsg.), Menasseh ben Israel’s Mission to Oliver Cromwell. Being a Reprint of the Pamphlets Published by Menasseh ben Israel to Promote the Re-admission of the Jews to England 1649–1656, London 1901.
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Doch die England-Verhandlungen machen nur einen Teil, genauer gesagt: den Abschluss und Höhepunkt von Menasses Leben und von seinem Vermittlungsprojekt aus. Bereits 1633 wandte sich Menasse mit der lateinischen Übersetzung seines Conciliador an eine christliche Öffentlichkeit.33 Danach folgten bis 1656 mindestens sieben, wenn nicht noch mehr, heute aber nicht mehr erhaltene Bücher, in denen Menasse unmittelbar für ein christliches Publikum schrieb:34 Zu diesen Büchern gehörten De creatione problemata XXX (1635; Dreißig Probleme, die Schöpfung betreffend) und De la resurreccion de los muertos libros III/De resurrectione mortuorum libri III (1636; Drei Bücher über die Auferstehung der Toten), in denen Menasse Lehren verteidigte, die Judentum und Christentum miteinander verbanden.35 Zu ihnen gehörten die Abhandlungen De termino vitae (1639; Über das Ende des Lebens) und De la fragilidad humana/De fragilitate humana (1642; Über die menschliche Schwäche), in denen er zu Auseinandersetzungen Stellung bezog, die die christlichen Gelehrten seiner Zeit spalteten.36 Und zu ihnen gehörte die Esperança de Israel/Spes Israelis (1650; Hoffnung Israels), in der Menasse in die christlichen Debatten über die Abstammung der amerikanischen India33
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Menasse ben Israel, Conciliator sive De convenientia locorum S. Scripturae, quae pugnare inter se videntur, Amsterdam 1633. Für das spanische Original vgl. Menasse ben Israel, Conciliador o De la conveniencia de los lugares de la S. Escriptura que repugnantes entre si parecen, Bd. 1, Amsterdam 1632. Für die lateinische Übersetzung war Dionysius Vossius (1612–1633) verantwortlich. Für eine englische Übersetzung des Conciliador vgl. Menasse ben Israel, The Bible Conciliator. A Reconcilement of the Apparent Contradictions in Holy Scripture, übers. von E. H. Lindo (Hrsg.), 2 Bde., Glasgow 1902 [London 1842]. Inzwischen sind alle Werke des Rabbiners digitalisiert und über die Seite der Amsterdamer Bibliotheca Rosenthaliana zugänglich: http://cf.uba.uva.nl/nl/collecties/ rosenthaliana/menasseh/boeken.html (Stand: 01. 02. 2011). Für Werke, die offenbar verloren gingen, vgl. z. B. Menasse ben Israel, Thesouro dos dinim, Bd. 5, Ao Lector, S. A4v.–A5r., oder Ders., Vindiciae Judaeorum, S. 40f., in: Wolf, Menasseh ben Israel’s Mission, S. 146f. Insbesondere wandte sich Menasse mit seinem Auferstehungsbuch gegen Uriel da Costa. Vgl. hierzu sowie für neuere Literatur Sina Rauschenbach, »Über die Auferstehung der Toten. Uriel da Costa, Menasse ben Israel und die christliche Respublica litteraria«, in: Wilhelm Schmidt-Biggemann/Georges Tamer (Hrsg.), Kritische Religionsphilosophie. Eine Gedenkschrift für Friedrich Niewöhner, Berlin 2010, S. 167–191. Für einen Überblick zu Da Costa vgl. z. B. Uriel da Costa, Examination of Pharisaic Traditions [1624], übers. von Herman Prins Salomon and I. S. D. Sassoon (Hrsg.), Leiden u. a. 1993, S. 1–50. Vgl. auch immer noch Die Schriften des Uriel da Costa, eingel. von Carl Gebhardt (Hrsg.), Amsterdam 1922. Für eine französische Übersetzung von De la fragilidad humana mit einer ausführlichen Einleitung vgl. Menasse ben Israel, De la fragilité humaine et de l’inclination de l’homme au peché, übers. von Henry Méchoulan (Hrsg.), Paris 1996.
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ner eingriff.37 Kurze Zeit später wurde das Buch auch ins Englische übersetzt.38 1655 und 1656 schließlich folgten mit The Humble Addresses und Vindiciae Judaeroum (Rettung der Juden) die beiden Schriften, mit denen Menasse vor Oliver Cromwell und dem Parlament für die Anerkennung einer jüdischen Gemeinde in London eintrat.39 Wie aus der Aufstellung erkenntlich wird, erschienen die meisten von Menasses Büchern zwischen 1632 und 1650 in zwei (oder mehr) Sprachen: Im Regelfall publizierte Menasse eine spanische Version für die Amsterdamer Sefarden, die mit dem Judentum nicht völlig vertraut waren und durch die Abhandlungen in die wichtigsten Traditionen eingeführt werden sollten. Eine lateinische Version richtete sich an die christliche Gelehrtenwelt, die etwas über das Judentum lernen und diesem einen Ort in den Debatten ihrer Zeit einräumen sollte.40 Die Übersetzungen fertigte Menasse zum Teil alleine, zum Teil mit der Unterstützung christlicher Gelehrter an.41 Dabei 37
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Für eine französische Übersetzung der Esperança de Israel mit einer ausführlichen Einleitung vgl. Menasseh ben Israel, Espérance d’Israel, übers. von Henry Méchoulan/Gérard Nahon (Hrsg.), Paris 1979. Für eine neuere Edition der englischen Übersetzung vgl. The Hope of Israel. The English Translation by Moses Wall, 1652, Henry Méchoulan/Gérard Nahon (Hrsg.), Oxford 1987. Für die Bedeutung der Diskussion über die amerikanischen Indianer in der englischen Wiederzulassungsdebatte vgl. Sina Rauschenbach, »Von der gelehrten zur intellektuellen Debatte. Die Indianer und die englische Diskussion über die Wiederzulassung der Juden im 17. Jahrhundert«, in: Rainer Bayreuther/Meinrad von Engelberg/Sina Rauschenbach/Isabella von Treskow (Hrsg.), Kritik in der Frühen Neuzeit. Intellektuelle avant la lettre, Wiesbaden 2011, S. 165–189. Für Menasses England-Schriften vgl. Wolf, Menasseh ben en Israel’s Mission. Mit Blick auf De creatione problemata XXX und De termino vitae libri III ist anzunehmen, dass ebenfalls spanische Versionen existierten, es ist jedoch unklar, ob sie gedruckt wurden. Für die entsprechenden Hinweise vgl. Samuel Sorbière, Sorberiana, ou Bon mots, rencontres agreables, pensées judicieuses, et observations curieuses, de M. Sorbiere, Amsterdam 1694, »Menasses ben Israel«, S. 124f., hier S. 125, und Henry Méchoulan, »Le problème du latin chez Menasseh ben Israel et quelques implications religieuses et politiques à propos d’une lettre inédite à Beverovicius«, in: Studia Rosenthaliana 14/1980, 1, S. 1–6. Nachdem Dionysius Vossius Menasses Conciliador übersetzt hatte, war der Barlaeus-Schüler Antonius Zilius (gest. 1655) an der lateinischen Fassung von Menasses Schöpfungsbuch beteiligt. Vgl. Jeremias Meijer Hillesum, »Bijdrage tot de bibliographie van Menasseh Ben Israel’s geschriften«, in: Het Boek 16/1927, S. 353–363, hier S. 353–358. Von den übrigen lateinischen Werken des Rabbiners ist unbekannt, wer sich an den Übersetzungen beteiligte. Wichtig und entscheidend für meine Argumentation ist, dass Menasse nach dem Conciliador an allen Übersetzungen seiner Bücher wesentlich beteiligt war und für das, was er in seinem Verlagshaus publizierte, immer persönlich verantwortlich zeichnete.
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verbanden sich unterschiedliche Formen der Übersetzung miteinander und gingen nahtlos ineinander über: Einerseits übersetzte Menasse fremde und eigene Texte, andererseits übersetzte er zwischen unterschiedlichen Sprachen oder – in derselben Sprache – zwischen unterschiedlichen Kulturen.42 Schließlich übersetzte Menasse auch sich selbst43 und die Strukturen seiner Schriften44 in die Kontexte, in denen er als Vermittler auftrat. In allen Fäl-
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Zur Übersetzung zwischen Kulturen bzw. zum Konzept der kulturellen Übersetzung, das aus der Verbindung einer textorientierten Kulturwissenschaft und einer Kulturorientierung der Übersetzungsforschung hervorgegangen ist, vgl. Doris Bachmann-Medick, »Translational Turn«, in: Dies., Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, neu bearbeitete Auflage 2009, S. 238–283. Es muss aber bemerkt werden, dass in der vorliegenden Darstellung trotz aller Hybridität der Kultur der Amsterdamer Sefarden von einer Unterscheidbarkeit zwischen Ausgangs- und Zielkultur ausgegangen wird, die grundlegend für die Existenz von Brückenbauern oder Grenzgängern ist. Vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 254. Für die frühneuzeitliche Perspektive vgl. Peter Burke/Ronni Po-chia Hsia (Hrsg.), Cultural Translation in Early Modern Europe, Cambridge 2007. Hier geht es allerdings wieder wesentlich um Übersetzungen zwischen unterschiedlichen Sprachen. In seinem Thesouro dos dinim und seiner Piedra gloriosa, die an eine ausschließlich jüdische Leserschaft gerichtet waren, nannte sich Menasse einen Rabbiner (hòakham). In den Fortsetzungen seines Conciliador seit 1641 und in seiner Esperança de Israel bezeichnete sich Menasse als ›jüdischen Theologen und Philosophen‹ (theologo y philosopho hebreo). Seine Humble Addresses unterschrieb er als ›Theologe und Arzt, im Namen der jüdischen Nation‹ (A Divine, and Doctor of Physick,in behalfe of the Jewish Nation). Für den ersten Punkt sind besonders der Conciliator und De creatione problemata XXX von Bedeutung, weil Menasse sich mit ihnen deutlich in ältere scholastische Traditionen einschrieb. Als Vorbilder könnten Werke wie Johannes Mercerius’ Conciliator sive ars conciliandorum, quae in jure contraria videntur, utendique iis quae vere contraria sunt (1587) hergehalten haben, die in der Jurisprudenz seit dem 16. Jahrhundert dazu dienten, strittige Gesetze zu versöhnen. Conciliatores waren allerdings auch in der Medizingeschichte – und hier bereits seit dem Mittelalter – bekannt, wie der Conciliator differentiarum philosophorum et medicorum in primis (nach 1308) des Padovaner Professors Pietro d’Abano (Petrus Abanus; um 1250–um 1315) belegt, der 1520 erstmals in Venedig gedruckt wurde. Bezeichnend ist, dass Pietro d’Abano auch einen Kommentator zu den pseudo-aristotelischen Problemata verfasste. Allgemein für eine Diskussion der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Problemata-Literatur vgl. Joan Cadden, »Preliminary Observations on the Place of the Problemata in Medieval Learning«, in: Pieter de Leemans/Michèle Goyens (Hrsg.), Aristotle’s Problemata in Different Times and Tongues, Löwen 2006, S. 1–18, und Ann Blair, »The Problemata as a Natural Philosophical Genre«, in: Anthony Grafton/Nancy Siraisi (Hrsg.), Natural Particulars. Nature and the Disciplines in Renaissance Europe, Cambridge, MA, 1999, S. 171–204.
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len waren Menasses Übersetzungen rezeptionsorientiert.45 Bereits im spanischen Conciliador, seinem ersten selbständigen Werk, machte Menasse deutlich, dass er nicht davor zurückschreckte, Zitate anderer Autoren zu vereinfachen, wenn ihm dies für die Lesbarkeit der Texte nötig schien.46 Später passte sich Menasse stilistisch und inhaltlich den Kenntnissen und Interessen seiner Leser an.47 Konkret bedeutet dies, dass sich Menasse erstens in den spanischen Texten kolloquialer und einfacher, in den lateinischen gelehrter und komplizierter ausdrückte. Zweitens betrieb Menasse eine strenge Selbstzensur, der insbesondere in den lateinischen Schriften alle Kommentare zum Opfer fielen, die antichristlich gedeutet werden konnten. Und drittens übersetzte er Argumente und Probleme, die entweder nur im Judentum oder nur im Christentum verhandelt werden konnten, gezielt in eine Zwischenwelt, in der sie sowohl für den jüdischen als auch für den christlichen Diskurs fruchtbar gemacht werden konnten. Insbesondere auf den dritten Fall, der außergewöhnlich ist und wichtige Rückschlüsse zulässt, soll an dieser Stelle etwas näher eingegangen werden. Exemplarisch sollen Menasses Bücher De fragilitate humana herangezogen werden, die 1642 sowohl in einer spanischen als auch in einer lateinischen Version erschienen. Menasse verfasste seine Darstellung über die menschliche Schwäche im Zusammenhang einer Auseinandersetzung, die zwischenzeitlich zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen in den Vereinigten Niederlanden führte. Konkret ging es um verschiedene Möglichkeiten, die calvinistische Prädestinationslehre auszulegen. Seit dem Beginn des 17. Jahrhunderts wurden diese Möglichkeiten zwischen zwei Leidener Theologieprofessoren und ihren Anhängern erbittert diskutiert. Auf der einen Seite standen die Arminianer oder Remonstranten, die in Anlehnung an Jacobus Arminius (1560–1609) dem Menschen bei der Verfolgung seiner Glückseligkeit einen gewissen Handlungsspielraum eingestanden. Auf der anderen Seite standen die Gomaristen oder Kontraremonstranten, die dem Menschen in Anlehnung an Franciscus Gomarus (1563–1641) genau diesen Handlungsspielraum verweigerten und 45
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Zur rezeptionsorientierten Übersetzung vgl. Katharina Reiß/Hans J. Vermeer, Grundlegung einer allgemeinen Translationstheorie, Tübingen 1984, bes. S. 95–104, und die zeitgleich entwickelten Descriptive Translation Studies von Gideon Toury, In Search for a Theory of Translation, Tel Aviv 1980. In beiden Fällen wird das Äquivalenzkonzept, das zuvor grundlegend für das Verständnis und die Beurteilung von Übersetzungen war, in Frage gestellt, und Übersetzungen werden grundsätzlich als kontextgebunden angesehen. Vgl. Menasse Ben Israel, Conciliador, Al Lector, S. (a)2v.–(a)3r. Für eine genaue und detaillierte Analyse aller Übersetzungsstrategien vgl. Rauschenbach, Judentum für Christen (im Druck).
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alles auf eine Entscheidung zurückführten, die Gott, wie ein Teil von ihnen meinte, zeitgleich mit der Schöpfung getroffen habe.48 Da die jeweiligen Auslegungen immer auch mit den Deutungen von Erbsünde und göttlicher Gnade verbunden waren, war offensichtlich, dass es sich um mehr als eine harmlose Anfrage handelte, als Menasse 1642 von einem christlichen Freund gebeten wurde, die jüdische Position zu den genannten Lehren zu erläutern. Doch die Anfrage war für Menasse nicht nur gefährlich – seit der Synode von Dordrecht 1618/19 folgte die niederländische Kirche offiziell der Linie der Kontraremonstranten, und sein Freund, Gerbrand Anslo (1612–1642), gehörte der unterlegenen Seite an. Sie war auch problematisch. Im Judentum gab es weder eine besondere Erbsünden- noch eine besondere Gnadenlehre, und entsprechend war es unmöglich, eine jüdische Position zu beiden zu formulieren. Menasse löste das Problem, indem er die christlichen Diskussionen in Diskussionen übersetzte, die auch die Juden beschäftigten, und sich dann erst im Zusammenhang dieser anderen, ›neuen‹ Diskussionen zu den jeweiligen Fragen äußerte. Konkret bedeutet das, dass Menasse nicht die Erbsünde und die göttliche Gnade behandelte, sondern, wie es im Titel seine spanischen Buches heißt, die menschliche Schwäche und die Neigung des Menschen zu sündigen: De la fragilidad humana y inclinacion del hombre al peccado. Sein lateinisches – und an eine christliche Leserschaft gerichtetes – Buch betitelte Menasse als Dissertatio de fragilitate humana ex lapsu Adami deque divino in bono opere auxilio (Abhandlung über die aus dem Fall Adams entstandene menschliche Schwäche und die göttliche Hilfe bei einer guten Tat). Damit hielt er an einer Formulierung fest, in der auf Erbsünde und Gnade hingewiesen wurde, beide aber nicht explizit erwähnt waren. Menasses Hinweise wieder waren so, dass sie trotz aller Bezüge eine Distanz zu christlichen Lehren erkennen ließen oder – anders herum gesprochen – mit jüdischen Positionen und Interessen vereinbart werden konnten: Aus dem Sündenfall folgte für Menasse nicht die grundsätzliche menschliche Verdorbenheit, sondern die menschliche Schwäche und – mit ihr verbunden – die menschliche Neigung zu sündigen. Anstelle nur von gratia sprach Menasse zusätzlich von auxilium und deutete damit auf eine göttliche Gnade, die den mensch48
Für einen neueren Überblick über die Debatte und weitere Literaturangaben vgl. z. B. Jan Rohls, »Calvinism, Arminianism and Socinianism in the Netherlands until the Synod of Dort«, in: Martin Mulsow/Jan Rohls (Hrsg.), Socinianism and Arminianism. Antitrinitarians, Calvinists and Cultural Exchange in Seventeenth-Century Europe, Leiden 2005, S. 3–48. Zum Arminius vgl. neuerdings auch Th. Marius van Leeuwen (Hrsg.), Arminius, Arminianism, and Europe. Jacobus Arminius (1559/60–1609), Leiden u. a. 2009. Zu Gomarus vgl. nach wie vor G. P. van Itterzon, Franciscus Gomarus, Den Haag 1930.
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lichen Willen nicht ersetzte oder überflüssig machte, sondern ihm entgegenkam.49 Die Debatte, die Menasse führte, war am Ende allen beteiligten Parteien von Nutzen. Sie nutzte den Amsterdamer Juden, die nach der spanischen Erfahrung selbst dabei waren, ihre Identität zu finden und genau zu bestimmen, und sie nutzte den Remonstranten, den Gegnern der calvinistischen Orthodoxie in der Prädestinationsdebatte, die in der Debatte über die Erbsünde und die göttliche Gnade ähnlich reduzierte Positionen vertraten wie der Amsterdamer Rabbiner. Menasses Strategie ging insofern auf, als seine Vermittlungsbemühungen in der christlichen Welt ein breites Echo fanden und er selbst zu einem der bekanntesten Rabbiner des 17. Jahrhunderts avancierte. Womit Menasse allerdings nicht gerechnet hatte, war, dass die Gelehrten, die ihn rezipierten, seine Informationen ihrerseits übersetzten und dass nur die wenigsten ihn als den Vermittler sahen und anerkannten, der er sein wollte. Entweder man nahm Menasse als einen Juden wahr, der sich so weit von allen anderen Juden abhob, dass unverständlich wurde, warum er überhaupt noch als Jude lebte, oder Menasse war eben ein Rabbiner wie andere Rabbiner, das heißt mit allen negativen Charakteristika, die Juden von Christen in der Frühen Neuzeit vorgeworfen wurden.50 Dabei bezogen sich paradoxerweise dieselben Gelehrten, die Menasse vorwarfen, nichts als Aberglauben und antichristliche Lehren zu verbreiten, positiv auf ihn, wenn es darum ging zu zeigen, dass der Schritt zur Taufe für einen Juden nicht so weit sei, wie es manchmal scheine. Symptomatisch ist hier die Reaktion des Leidener Theologen Johannes Hoornbeek (1617–1666): Einerseits verurteilte Hoornbeek Menasse dafür, dass er dazu beitrage, ›jüdische Fehler‹ zu verfestigen. Andererseits zog 49
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Vgl. z. B. Menasse ben Israel, Dissertatio de fragilitate humana, Amsterdam 1642, II, § XIV, S. 116. Mit Blick auf Menasses Unterscheidung zwischen auxilium und gratia ist darauf hinzuweisen, dass der Rabbiner möglicherweise auch aus der katholischen Auseinandersetzung schöpfte, die Luis de Molina und Domingo Báñez am Ende des 16. Jahrhunderts auf der iberischen Halbinsel miteinander ausgetragen hatten. Diese Auseinandersetzung strahlte besonders auf die südlichen Niederlande aus, wo sie während des 17. Jahrhunderts von den Jesuiten und den Jansenisten weitergeführt wurde. Für einen Überblick vgl. z. B. Louis Cognet, Le Jansénisme, Paris 1964. In den nördlichen Niederlanden wurde dieselbe Auseinandersetzung am Ende des 17. Jahrhunderts von der calvinistischen Orthodoxie genutzt, um die Remonstranten als verkappte Jesuiten zu diffamieren. Vgl. hierzu z. B. Melchior Leydekker, De historia Jansenismi libri VI, Utrecht 1695. Samuel Sorbière z. B. war offensichtlich überrascht, dass Menasse noch als Jude lebte, und erwähnte entsprechend mit Nachdruck, dass der Rabbiner an einem Ostertag, an dem er ihm im Haus von Simon Episcopius begegnet sei, pedantisch die Speisegebote befolgt habe. Vgl. Sorbière, Sorberiana, S. 125.
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er Menasse – mit Berufung auf seine Abhandlung De fragilitate humana – als jüdischen Gewährsmann für die Existenz einer jüdischen Erbsünden- und Gnadenlehre heran, die sich von der christlichen nicht wesentlich unterscheide.51 Alle genannten Reaktionen liefen deutlich daran vorbei, was Menasse eigentlich bewirken wollte: Diejenigen Gelehrten, die seine Vermittlungsbemühungen anerkannten, stellten seine Zugehörigkeit zum Judentum in Frage und behandelten den Rabbiner wie einen Konvertiten, der nur den Schritt der Konversion noch nicht unternommen hatte.52 Diejenigen, die Menasse nicht von seinen Amsterdamer Glaubensgenossen unterschieden, erkannten seine Vermittlungsbemühungen nicht an und sahen in den Schriften des Rabbiners die üblichen Zeugnisse ›jüdischer Verbohrtheit‹. Ausnahmslos rezipierten die christlichen Leser nur, um mit Todorov zu sprechen, was sie in ihre eigenen Diskurse einpassen konnten: Für die einen war und blieb die Verschiedenheit Menasses Grundlage seiner Ungleichheit, für die anderen führte das Bedürfnis nach Gleichheit zur Annahme einer Identität, die ebenfalls falsch war.53 Auch Christoph Arnolds Reaktion – um noch einmal auf den Anfang dieses Beitrags zurückzukommen – passte in dieses allgemeine Schema: Als der Nürnberger Theologe nämlich erkannte, dass er Menasse in der Frage des Testimonium Flavianum nicht zu einem Zugeständnis 51
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Vgl. z. B. Johannes Hoornbeek, Teshuvat Yehuda sive Pro convincendis et convertendis Judaeis libri octo, Leiden 1655, Prolegomena, S. 10, sowie ebd., IV, II, S. 353. Zu Hoornbeek vgl. Johannes Wynand Hofmeyr, Johannes Hoornbeek as polemikus, Kampen 1975. Für einen anderen Theologen, der sich in ähnlicher Weise wie Hoornbeek auf Menasse bezog, vgl. Antonius Hulsius, Riv Yahwe im Yehuda sive Theologiae iudaicae pars prima de Messia, Breda 1653. Für einen ähnlichen Kommentar über Menasse vgl. z. B. Pierre Daniel Huet, Commentarius de rebus ad eum pertinentibus, Den Haag 1718, S. 133f. Zu ergänzen wäre, dass Menasse nicht der einzige jüdische Gelehrte war, der als ›verkappter Konvertit‹ wahrgenommen wurde. Für diesbezügliche Stellungnahmen zu Elijah Levita (um 1468–1549), Azariah dei Rossi (gest. nach 1577) oder Simone Luzzatto vgl. Christoph Daxelmüller, »Zwischen Kabbala und Martin Luther. Elija Levita Bachur, ein Jude zwischen den Religionen«, in: Ludger Grenzmann/Thomas Haye/ Nikolaus Henkel/Thomas Kaufmann (Hrsg.), Wechselseitige Wahrnehmung der Religionen im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, Bd. 1: Konzeptionelle Grundfragen und Fallstudien (Heiden, Barbaren, Juden), Berlin 2009, S. 231–250, hier S. 250, Cecil Roth, »Luzzatto, Simone ben Isaac Simhah«, in: Geoffrey Wigoder u. a., Encyclopaedia Iudaica. CD-ROM-Edition, Jerusalem 1996 und Joanna Weinberg, »Azariah dei Rossi. Towards a Reappraisal of the Last Years of His Life«, in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa. Classe di Lettere e Filosofia 3/8/1978, 2, S. 493–511, bes. S. 496. Tzvetan Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, 10. Aufl. Frankfurt a. M. 2008 [Paris 1982; dt. Übers. Frankfurt a. M. 1985], S. 177.
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bewegen konnte, das für ihn von Nutzen war, zitierte er den Rabbiner, ließ ihn aber danach durch einen anderen Rabbiner – in diesem Falle Isaac Abravanel (1437–1508) – widerlegen. Damit spielte Arnold zwar nicht Menasse gegen die Juden, aber die Juden gegen Menasse aus und stellte seinerseits seine Zugehörigkeit in Frage.54 Unvermeidlich war, dass die christlichen Reaktionen Auswirkungen auf Menasses Stellung in der eigenen Gemeinde hatten: Während im einen Fall nicht die verzerrte Wahrnehmung des Rabbiners, wohl aber die verzerrte Lektüre und Instrumentalisierung seiner Schriften für christliche antijüdische Polemiken anderen Rabbinern ein Dorn im Auge sein musste, war im anderen die vermeintliche Nähe Menasses zum Christentum bedrohlich. Zu sehr wurde das Bild des Mittlers zwischen Judentum und Christentum mit dem Bild des Konvertiten in Verbindung gebracht, und zu verhasst waren die Konvertiten, als dass das Ansehen dessen, der in ihre Nähe gestellt wurde, nicht gelitten hätte.55 Bereits die Rabbiner, die vor Menasse Christen Hebräisch-Stunden erteilt hatten, waren mit dem Misstrauen und der Kritik ihrer Kollegen konfrontiert gewesen.56 Menasse ging noch einen Schritt wei54
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Arnold, XXX epistolae philologicae, S. 174. Der Schachzug hätte Menasse deshalb besonders geschmerzt, weil er zu seinem großen Stolz mit einer Frau aus der Abravanel-Familie verheiratet war. Für eine Stelle, an der Menasse selbst diesen Stolz bekundet, vgl. z. B. De termino vitae libri III, Amsterdam 1639, S. 236. Zu den Konvertiten gibt es inzwischen eine breite Literatur. Allerdings gehen nur die wenigsten dieser Werke auf die Frage nach Konvertiten als Kulturvermittlern ein. Für ein Standardwerk vgl. Elisheva Carlebach, Divided Souls. Converts from Judaism in Germany (1500–1750), New Haven u. a. 2001. Für zwei mittelalterliche Werke, in denen Konvertiten für Christen das Judentum beschrieben, vgl. z. B. Alfonso de Valladolid [Abner de Burgos], Mostrador de justicia, Walter Mettmann (Hrsg.), 2 Bde., Opladen 1994–1996 oder Pablo de Santa Maria, Scrutinium Scripturarum, Straßburg [um 1474]. Für das wichtigste diesbezügliche Werk der Frühen Neuzeit vgl. Antonio Margaritha, Der gantze Jüdisch Glaub, Frankfurt a. M. 1544. Für weitere Anregungen zu Konvertiten als Kulturvermittlern vgl. neuerdings David Ruderman, Early Modern Jewry. A New Cultural History, Princeton 2010, S. 180–186. Vgl. z. B. David Kaufmann, »Elia Menachem Chalfan on Jews Teaching Hebrew to Non-Jews«, in: The Jewish Quarterly Review O.S. 9/1897, S. 500–508. Auch Elijah Levita verteidigte sich in der Vorrede zu seinem Buch Masoret ha-masoret gegen die Angriffe von Juden, die seinen Umgang mit christlichen Gelehrten missbilligten. Vgl. Uebersetzung des Buchs Massoreth Hamassoreth, unter Aufsicht und mit Anm. von Joh. Salomo Semler, Halle 1772, Erste Vorrede des Elias, S. 19–22, hier S. 22. Grundlage für die Kritik von Rabbinern an der Unterrichtung von Christen war das talmudische Verbot, sich mit Nichtjuden über die Tora auszutauschen. Vgl. b. Chagiga 13a, in: Der Babylonische Talmud, übers. von Lazarus Goldschmidt (Hrsg.), 12 Bde, Sonderausgabe Darmstadt 2002 [Frankfurt a. M. 1996 nach der Ausgabe Berlin 1930–1936], Bd. 4, S. 275.
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ter, und er wurde als Übersetzer zugleich auch immer der potentielle Verräter. So kam es, dass der Rabbiner zwar unter christlichen Gelehrten als einer der wichtigsten Männer der Amsterdamer Synagoge galt.57 In den Amsterdamer Gemeinden aber begegneten Kollegen Menasse immer wieder mit Distanz.58 Außerhalb Amsterdams war Menasses Publikationen in jüdischen Kreisen ebenfalls nicht der Erfolg beschieden, den der Rabbiner sich erhofft hatte.59 Erst spätere Generationen jüdischer Historiker, die bereits durch neue Vorstellungen geprägt waren, wie sich Juden über ihr Wissen in den christlichen Gesellschaften, in denen sie lebten, positionieren sollten, kamen dazu, Menasse gerade für seine Vermittlungstätigkeit zu schätzen.60 Diese Historiker distanzierten sich allerdings von anderen zeitgenössischen Amsterdamer Rabbinern,61 und so setzte sich fort, was zu Lebzeiten Menasses 57
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Vgl. z. B. Paul Felgenhauer, der sein Bonum nuncium Israelis Menasse 1655 mit den Worten zuschrieb: »Ad Virum Clarissimum, Philosophum atque Theologum Hebraeum MANASSE BEN ISRAEL. Synagogae Judaeorum, quae est Amstelredami, Rabbinum Primarium, Amicum suum in DEO Israelis« (Dedicatio, unpaginiert). Vgl. hierzu z. B. Gerhard Johannes Vossius, der in einem Brief an Simon van Beaumont vom 14. November 1632 (in: Gerardi Joan. Vossii et clar. virorum ad eum epistolae, Paulus Colomesius (Hrsg.), Augsburg 1691, no. 185, S. 229) berichtete, dass Menasse wesentlich engere Verbindungen in die christliche Welt als in die jüdische habe und dass er genau deswegen große Probleme in der Amsterdamer Gemeinde erlebe. Menasse ließ sich zeitweilig sogar seine Post von christlichen Freunden über christliche Gewährsmänner zukommen, um Anfeindungen aus dem Weg zu gehen. Vgl. hierzu seinen Brief an John Dury vom 14. Juli 1650, in: Ernestine van der Wall, »Three letters by Menasseh ben Israel to John Durie. English PhiloJudaism and the ›Spes Israelis‹«, in: Nederlands Archief voor Kerkgeschiedenis 65/1985, 1–2, S. 46–63. Vgl. hierzu z. B. die relative Bedeutungslosigkeit von Menasses Werk in der zeitgenössischen Responsen-Literatur, auf die Asa Kasher, »How Important Was Menasseh ben Israel?«, in: Kaplan/Méchoulan/Popkin, Menasseh ben Israel and his World, S. 220–227, hinweist. Eines der besten Beispiele in diesem Zusammenhang liefert David Franco Mendes (1713–1792), der seine Chronik über die Amsterdamer sefardische Gemeinde bis 1772 nutzte, um Menasse explizit für seine Kontakte zu christlichen Gelehrten zu loben. Vgl. Memorias do estabelecimento e progresso dos judeos portuguezes e espanhoes nesta famosa citade de Amsterdam. A Portuguese Chronicle of the History of the Sephardim in Amsterdam up to 1772 by David Franco Mendes, Leo Fuks/Rena Fuks-Mansfeld (Hrsg.), Assen 1975, S. 22–25. Beispielhaft sei hier auf das 1813 von Sabbatia Joseph Wolff geäußerte Unverständnis darüber hingewiesen, dass Salomon Maimon (um 1753–1800) Menasse nicht ausgenommen habe, als er mit den Amsterdamer Rabbinern des 17. Jahrhunderts zu Gericht gegangen sei. Vgl. Sabbatia Joseph Wolff, Maimoniana oder Rhapsodien zur Charakteristik Salomon Maimons, Martin L. Davies/Christoph Schulte (Hrsg.), Berlin 2003, S. 99.
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die Regel gewesen war: Entweder man begegnete Menasse mit Vorsicht, oder man tadelte seine Kollegen. In jedem Falle unterschied man, und in jedem Falle sprach man Menasse ab, was er war: ein Rabbiner, der nach neuen Formen des Zusammenlebens von Juden und Christen suchte und der gleichzeitig alle traditionellen Werte des Judentums bewahrte.
III. Kulturvermittler ›in die falsche Richtung‹ Das Beispiel Menasse ben Israels hilft nicht nur, die christlichen Hebraica und mit ihnen die frühneuzeitliche Gelehrtenrepublik besser zu verstehen. Es hilft auch, die Probleme von frühneuzeitlichen Vermittlern neu zu beleuchten.62 Dabei ist vor allem der Vergleich mit Konvertiten von Interesse, dem Menasse immer wieder unterzogen wurde. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Vermittlungsrichtung, die bisher vornehmlich in der Missionsforschung von Interesse war, in der Kulturtransferforschung jedoch nur wenig Beachtung gefunden hat.63 Sieht man nämlich von Missionaren ab, so 62
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Für neuere Literatur zu frühneuzeitlichen Kulturvermittlern vgl. Andreas Höfele/ Werner von Koppenfels (Hrsg.), Renaissance Go-Betweens. Cultural Exchange in Early Modern Europe, Berlin 2005. Für eine Typologie kultureller Mittler vgl. z. B. Michel Espagne, »Die Rolle der Mittler im Kulturtransfer«, in: Hans-Jürgen Lüsebrink/ Rolf Reichardt (Hrsg.), Kulturtransfer im Epochenumbruch. Frankreich-Deutschland 1770–1815, Bd. 1, Leipzig 1997, S. 309–329. Zum frühneuzeitlichen Übersetzer als Vermittler vgl. Peter Burke, »The Renaissance Translator as Go-Between«, in: Höfele/Von Koppenfels, Renaissance Go-Betweens, S. 17–31, und Peter Burke, »Cultures of Translation in Early Modern Europe«, in: Burke/Hsia, Cultural Translation, S. 5–38, bes. S. 11–16. Zur Kulturtransferforschung, die sich ursprünglich auf die Zeit nach dem 18. Jahrhundert und nationale Kulturen beschränkt hat, vgl. z. B. Michel Espagne, Les transferts culturels franco-allemands, Paris 1999 oder Lüsebrink/Reichardt, Kulturtransfer im Epochenumbruch. Für einen neueren Überblick mit weiteren Literaturangaben vgl. Hans-Jürgen Lüsebrink, Interkulturelle Kommunikation. Interaktion, Fremdwahrnehmung, Kulturtransfer, Stuttgart u. a. 2005, bes. S. 129–170. Zur Übertragung und Anwendung des Konzepts auf die Frühe Neuzeit vgl. z. B. Wolfgang Schmale (Hrsg.), Kulturtransfer. Kulturelle Praxis im 16. Jahrhundert, Innsbruck 2003 und Michael North (Hrsg.), Kultureller Austausch. Bilanz und Perspektiven der Frühneuzeitforschung, Köln u. a. 2009. Die Frage nach der Richtung ist in der Kulturtransferforschung zwar insofern prominent, als seit dem Durchbruch der Postcolonial Studies die Reziprozität von Kulturtransferprozessen in den Blick genommen und dabei jeweils auch zwischen den Dispositionen der ›Geber-‹ und ›Nehmerkulturen‹ unterschieden wird. Sie wird jedoch im Allgemeinen nicht auf die Vermittlungsrichtung der Übersetzer im Verhältnis zu ihrer eigenen kulturellen Zugehörigkeit bezogen.
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vermittelten Kaufleute und Reisende, Handwerker und Künstler, Diplomaten und Gesandte, Drucker, Lehrer oder Gelehrte in der Frühen Neuzeit in den meisten Fällen von der fremden in die eigene Kultur. Diejenigen, die in fremden Ländern gelebt hatten, brachten Sprachen, Erfahrungen und Produkte mit nach Hause. Andere schrieben in Tagebüchern, Reiseberichten oder gelehrten Abhandlungen von den Ländern, die sie besucht oder zu neuen Wohnsitzen erkoren hatten. Wieder andere übersetzten fremde Texte in die eigene Sprache oder druckten sie kommentiert in ihren originalen Sprachen nach. Dass die Vermittlung nicht gleichermaßen in beide Richtungen erfolgte, hing nicht zuletzt damit zusammen, dass das Wissen in der Frühen Neuzeit anderen Autorisierungsmechanismen gehorchte als heute und seine Glaubwürdigkeit stark an die Zugehörigkeit des Überbringers zur eigenen Kultur gebunden war. Augenzeugenschaft, die auf der persönlichen Erfahrung des Zeugen basierte, begann sich überhaupt erst seit dem 16. Jahrhundert als epistemischer Wert durchzusetzen. Selbst dann aber stand sie immer wieder zur alten Form der ethischen Zeugenschaft in Konkurrenz.64 Deutlich wurde diese Konkurrenz vor allem in den Diskussionen, die weit über das 17. Jahrhundert hinaus über die Beschreibung der Neuen Welt geführt wurden. Hier ging es genau um die Frage, wie viel Autorität und wie viel intime Landeskenntnis nötig seien, damit ein Autor glaubwürdig oder unglaubwürdig sei: Einerseits wurde früh die für heutige Leser selbstverständliche Forderung erhoben, dass diejenigen, die sich in ihren Büchern mit der Neuen Welt auseinandersetzten, diese auch bereist und intime Bekanntschaft mit ihr geschlossen haben mussten.65 Andererseits stand außer Frage, dass alle Zeugnisse, die von Angehörigen nichteuropäischer Kulturen
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Andrea Frisch, The Invention of the Eyewitness. Witnessing & Testimony in Early Modern France, Chapel Hill 2004. Frisch unterscheidet zwischen dem ethischen Augenzeugen (ethical eyewitness) und dem Augenzeugen aus Erfahrung (experiental eyewitness). Zur Bedeutung ethischer Augenzeugenschaft in der frühneuzeitlichen Wissenschaftsgeschichte vgl. z. B. Steven Shapin, »A Scholar and a Gentleman. The Problematic Identity of the Scientific Practitioner in Early Modern England«, in: History of Science 29/1991, S. 279–327. Richtungsweisend war hier vor allem Bernal Díaz del Castillo, der sich 1568 mit ähnlichen Argumenten gegen Francisco López de Gómara wandte und dessen Historia general de las Indias (1552) die eigene Historia verdadera de la conquista de la Nueva España (gedruckt 1632) gegenüberstellte. Für einen Überblick über den Konflikt zwischen den Wahrnehmungen des Auges und denjenigen des Ohres in den Beschreibungen außereuropäischer Länder und besonders der Neuen Welt vgl. Ottmar Ette, Literatur in Bewegung. Raum und Dynamik grenzüberschreitenden Schreibens in Europa und Amerika, Weilerswist 2001, S. 119–192.
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stammten, unglaubwürdig waren.66 Tendenzen, auch ›die Stimme des Anderen‹ bei der Beschreibung fremder Welten und Kulturen hinzuzuziehen, begannen erst im 18. Jahrhundert,67 und sie wurden erst im 19. Jahrhundert einschlägig und bedeutend.68 Eine Folge war, dass Vermittler, die im 17. Jahrhundert ›mit der Stimme des Anderen‹ sprachen oder gar selbst zu ›den Anderen‹ gehörten, unter hohem Legitimationsdruck standen. Häufig mussten sie besondere Übersetzungsstrategien anwenden, um bei ihren Lesern Glaubwürdigkeit zu finden, und in ihren eigenen Kulturen mussten sie sich wegen dieser Übersetzungsstrategien gegen den Vorwurf verteidigen, verwässerte oder – in besonders harten Fällen – abtrünnige Positionen zu vertreten. Waren alle Übersetzer, die rezeptionsorientiert arbeiteten, darauf angewiesen, ihre Botschaften weiterzuschreiben, damit diese verstanden würden, und beinhaltete dieses Weiterschreiben in allen Fällen die Gefahr, dass das Original in der Bewegung verloren ging, so war die Situation mit der ›geänderten Vermittlungsrichtung‹ noch verschärft.69 Besonders deutlich wird dies im Falle von Missionaren, die wie Menasse mit besonderen Übersetzungsstrategien arbeiteten.70 66
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Offensichtlich war die kulturelle Fremdheit hier von größerer Bedeutung als die Tatsache, dass diejenigen, die aus anderen Kulturen heraus über sich selbst berichteten, die Forderung des ›Dort-Seins‹, welche mit der neuen, erfahrungsbezogenen Form von Zeugenschaft verbunden war, vollkommener erfüllten als alle Reisenden. Zum Wechsel zwischen ›Hiersein‹ und ›Dortsein‹ in den unterschiedlichen Zeugenschaften vgl. Frisch, The Invention of the Eyewitness, S. 114. Vgl. z. B. Hans-Jürgen Lüsebrink, »Wissen und außereuropäische Erfahrung im 18. Jahrhundert«, in: Richard van Dülmen/Sina Rauschenbach (Hrsg.), Macht des Wissens. Die Entstehung der modernen Wissensgesellschaft, Köln u. a. 2004, S. 629–653, bes. S. 633–635. Ottmar Ette schreibt diese Veränderung vor allem und zuerst den transkulturellen Projekten und Forschungsansätzen Alexander von Humboldts zu. Vgl. hierzu neuerdings sein Alexander von Humboldt und die Globalisierung, Frankfurt a. M. 2009. Für literarische Übersetzungen erläutert Ottmar Ette, »Translationen. Mit Worten des Anderen: Die literarische Übersetzung als ZwischenWeltenSchreiben«, in: Ders., ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin 2005, S. 103–121, diese Problematik. Für einen neueren Überblick zum Übersetzen im Spannungsfeld zwischen Verfremdung und Entfremdung vgl. auch Mary SnellHornby, »Übersetzen«, in: Jürgen Straub/Arne Weidemann/Doris Weidemann (Hrsg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Grundbegriffe – Theorien – Anwendungsfelder, Stuttgart u. a. 2007, S. 86–94, bes. S. 88f. Zur christlichen Mission als kultureller Übersetzung sowie für einige der folgenden Grundüberlegungen vgl. Lamin Sanneh, Translating the Message. The Missionary Impact on Culture, New York 1989. Für einen neueren Überblick mit Hinweisen auf Auseinandersetzungen über die jesuitischen Anpassungsstrategien in der For-
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Der Anspruch, in die Missionsarbeit auch nur einführen zu wollen, würde an dieser Stelle zu weit gehen. Es lohnt sich aber, an einigen Beispielen auf Parallelen hinzuweisen. Hier sind vor allem Jesuiten von Interesse, die wie Alessandro Valignano (1539–1606), Matteo Ricci (1552–1610) oder Roberto de Nobili (1577–1656) während des 16. und 17. Jahrhunderts in Japan, China und Südindien tätig waren.71 Im Gegensatz zu den Jesuiten (oder auch den Missionaren anderer Orden) auf dem amerikanischen Kontinent, die als Repräsentanten der herrschenden Kolonialmächte auftraten, mussten die genannten Männer in Asien als Vertreter einer Minderheit ohne den Schutz einer Kolonialregierung grundsätzlich um Anerkennung und Vertrauen der herrschenden Oberschichten kämpfen. Die besondere Achtung, die sie den Kulturen entgegenbrachten, mit denen sie konfrontiert waren, wie auch ihre Auffassung, dass sich die Menschen in Japan, China oder Indien allgemein durch eine höhere Rationalität und einen höheren ›Zivilisationsgrad‹ vor den Menschen in Neu-Spanien oder insgesamt in den Vizekönigreichen der Neuen Welt auszeichneten, trugen dazu bei, dass Valignano, Ricci und Nobili von der Forderung anderer Ordensbrüder nach einer einseitigen Anpassung Abstand nahmen und stattdessen einen Weg der gegenseitigen Annäherung beschritten.72 Nicht nur zählten die drei Männer zu den Ersten,
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schung vgl. Joan-Pau Rubiés, »The Concept of Cultural Dialogue and the Jesuit Method of Accomodation. Between Idolatry and Civilization«, in: Ders., Travellers and Cosmographers. Studies in the History of Early Modern Travel and Ethnology, Aldershot 2007, IX, S. 237–280. Für einen Überblick über die Übersetzungsstrategien der genannten Männer vgl. Lamin Sanneh, Translating the Message, S. 93–105. Für den neuesten Forschungsstand zu Ricci vgl. Ronnie Po-chia Hsia, A Jesuit in the Forbidden City. Matteo Ricci 1552–1610, Oxford u. a. 2010. Zu Riccis Übersetzungsstrategien vgl. schon früher Hsia, »The Catholic Mission and Translations in China, 1583–1700«, in: Burke/ Hsia, Cultural Translation, S. 39–51. Für einen Überblick über die Forschung zu Valignano vgl. neuerdings Adolfo Tamburello (Hrsg.), Alessandro Valignano S.J. Uomo del Rinascimento. Ponte tra oriente e occidente, Rom 2008. Zu Nobili vgl. Iris Zupanov, Disputed Mission. Jesuit Experiments and Brahmanical Knowledge in Seventeenth-Century India, New Delhi u. a. 1999 und Matteo Sanfilippo (Hrsg.), Roberto de Nobili (1577–1656). Missionario gesuita poliziano, Perugia 2008. Vgl. z. B. Peter Burke, »Kultureller Austausch«, in: Ders., Kultureller Austausch, Frankfurt a. M. 2000, S. 9–40, bes. S. 24–26. Vgl. ebenfalls Rubiés, »The Concept of Cultural Dialogue«. Einer der ersten Missionare, die zwischen unterschiedlichen ›Zivilisationsgraden‹ unterschieden und hier den Asiaten Vorzüge vor den indigenen Bevölkerungen anderer Kontinente einräumten, war José de Acosta (1539–1600). Vgl. dessen De procuranda Indorum salute [1588], Luciano Pereña/ V. Abril u. a. (Hrsg.), 2 Bde., Madrid 1984–1987, Bd. 1, S. 60–69. Für den Hinweis wie auch für andere hilfreiche Anmerkungen danke ich Christian Windler (Bern).
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die für alle Jesuiten in den asiatischen Missionen ein intensives Sprachstudium forderten, sie übersetzten ebenfalls ihr Auftreten und ihre Lehren in die Kulturen, Hierarchien und Denkwelten von Konfuzianismus, Buddhismus oder Hinduismus. Gleichzeitig übertrugen sie reziprok wieder Kulturen, Hierarchien und Denkwelten aus dem Konfuzianismus, Buddhismus oder Hinduismus in ihre eigenen Zusammenhänge.73 Dabei vermittelte Ricci zusätzlich geographisches, mathematisches und astronomisches Wissen von der westlichen in die östliche Welt und verschaffte sich so eine Anerkennung, die ihm später für seine Missionstätigkeit zugute kam.74 Hier ähnelte sein Vorgehen demjenigen Menasses, der sich ebenfalls an zeitgenössischen Debatten beteiligte, um sich über sie in der christlichen Gelehrtenrepublik zu positionieren und aus seiner Position wieder Vorteile für seine Rolle als politischer Vermittler der Sefarden in den christlichen Ländern ihrer Zerstreuung zu ziehen. Schließlich waren Valignano, Ricci und Nobili wie Menasse mit erheblichen Problemen konfrontiert, weil sie zu rezeptionsorientiert oder – im Sinne dieses Aufsatzes – zu bemüht ›in die falsche Richtung‹ vermittelten. Bereits Valignano hatte sich für seine Initiative, Jesuiten in Japan zum Studium der japanischen Sprache anzuregen und Japaner, die konvertierten, gleichberechtigt in die jesuitische Missionstätigkeit zu integrieren, dem Widerstand seines Vorgängers in der Japan-Mission zu stellen. Nobilis und Riccis Vermittlungsstrategien führten während ihres Lebens zu ähnlichen Konfrontationen und nach ihrem Tod zum bekannten Ritenstreit, in dessen Folge Rom schließlich jegliche Adaption des Christentums an lokale Bräuche und Traditionen bis ins 20. Jahrhundert hinein verurteilte.75 73
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Insbesondere Seán Golden, »›God’s Real Name is God‹. The Matteo Ricci-Niccolo Longobardi Debate on Theological Terminology as a Case Study in Intersemiotic Sophistication«, in: The Translator 15/2009, 2, S. 375–400, weist auf den reziproken Charakter der jesuitischen Übersetzungsleistung hin, indem er im Falle Riccis mehr noch als von einer Adaption des Christentums von einer Domestizierung des Buddhismus spricht. Für ähnliche Beobachtungen vgl. Nicolas Standaert, The Interweaving of Rituals. Funerals in the Cultural Exchange between China and Europe, Seattle u. a. 2008. Exemplarisch ist hier wieder Ricci zu nennen, der mathematisches, geographisches oder astronomisches Wissen aus dem Westen nach China vermittelte. Zum geographischen Wissen vgl. Golden, »God’s Real Name is God«, bes. S. 377f. Zum astronomischen und mathematischen Wissen vgl. Rubiés, »The Concept of Cultural Dialogue«, S. 256f. Für einen Überblick über neuere Forschungen zum Ritenstreit vgl. z. B. D. E. Mungello (Hrsg.), The Chinese Rites Controversy. Its History and Meaning, Nettetal 1994. Für weitere Darstellungen zu den Vermittlungsstrategien der Jesuiten in China vgl. z. B. Walter Demel, Als Fremde in China. Das Reich der Mitte im Spiegel frühneuzeitlicher europäischer Reiseberichte, München 1992, bes. S. 257–286, Jacques Gernet,
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Natürlich muss bei einem Vergleich hervorgehoben werden, dass die Situation zwischen den jesuitischen Missionaren und den frühneuzeitlichen Rabbinern sich in einem wichtigen Punkt unterschied: Im Judentum gab – und gibt – es keinen Missionsauftrag und daher auch keine Notwendigkeit, Lehren oder Gesetzesvorschriften an Nichtjuden weiterzugeben. Diejenigen, die jüdisches Wissen in die christliche Gelehrtenwelt vermittelten, waren in den meisten Fällen Konvertiten, das heißt, sie vermittelten ›in die richtige Richtung‹: von der jüdischen Welt, die sie verlassen hatten, in die christliche, der sie angehörten. Dass Rabbiner ähnliche Vermittlungsbemühungen unternahmen, ohne gleichzeitig zu konvertieren, war selten und entsprechend schwieriger. Doch das Beispiel Menasse ben Israels macht deutlich, dass die Frage nach angemessenen und unangemessenen Adaptionsstrategien auch in den jüdisch-christlichen Beziehungen der Frühen Neuzeit von Interesse war, und es könnte sein, dass die angedeuteten Parallelen zur Missionsgeschichte insgesamt neue Perspektiven öffnen. Konkret könnten Untersuchungen zur Geschichte der außereuropäischen Mission in der Frühen Neuzeit zur Untersuchung der Rolle frühneuzeitlicher Rabbiner als Vermittler in der christlichen Gelehrtenwelt beitragen, und Untersuchungen zur Geschichte der frühneuzeitlichen Rabbiner könnten den Blick für Probleme schärfen, die für die Missionsgeschichte – oder allgemeiner für die Geschichte frühneuzeitlicher Kulturtransferprozesse – von Interesse sind, bisher aber wenig thematisiert wurden. Insbesondere die Frage nach der Vermittlungsrichtung wäre ein denkbares Bindeglied. Schließlich würde die Auseinandersetzung mit Kulturvermittlern ›in die falsche Richtung‹ nicht nur Möglichkeiten eröffnen, jüdische Geschichte und Kulturtransferforschung an einer kaum beachteten Stelle zusammenzuführen. Es würden auch Disziplingrenzen aufgebrochen, weil alle Grenzgänger, aber besonders diejenigen, die ›falsch herum‹ vermittelten, nie anders als grenzüberschreitend untersucht werden können76 und weil Narrative, die in grenzüberschreitenden Kontexten stehen, ZusammenLebensWissen nicht nur schaffen und weitergeben, sondern es immer auch von ihren Lesern fordern.
76
Christus kam bis nach China. Eine erste Begegnung und ihr Scheitern, Zürich u. a. 1984 [Paris 1982] oder ebenfalls D. E. Mungello, Curious Land. Jesuit Accommodation and the Origins of Sinology, Stuttgart 1985. Zu den Konsequenzen, die der Ritenstreit für das europäische Religionsverständnis hatte, vgl. Rubiés, »The Concept of Cultural Dialogue«, S. 263–279. Für eine Ausführung und Weiterentwicklung ähnlicher Überlegungen vgl. Bachmann-Medick, Cultural Turns, S. 256–260.
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Hermann Herlinghaus
Hermann Herlinghaus (Pittsburgh)
Pharmakon und pharmakos Annäherung an ein literarisches Feld epistemischer Grenzerweiterung
Ein inter- und transamerikanischer Horizont markiert den Fluchtpunkt der folgenden Fragestellungen. Dieser soll weniger das Thema der Betrachtungen bezeichnen als auf ihren Ausblick hindeuten. Mein Aufsatz möchte einen bisher kaum wahrgenommenen Ansatz vorstellen, der helfen soll, den seit wenigen Jahren in beiden Amerikas zirkulierenden Suchbegriff der narconarrativas (›Rauschgifterzählungen‹) ansatzweise in eine vergleichende, sowohl genealogische wie modernekritische Perspektive zu rücken. Hierfür scheint mir ein komparatistisches Herangehen angezeigt, das zunächst neuralgische Stellen der europäischen Begriffsgeschichte in den Blick nimmt. Lassen sich mit Hilfe des pharmakon nicht nur emergierende Tendenzen lateinamerikanischer Erzähl- und Filmkunst, sondern perspektivisch auch wichtige Teile europäischer Literatur in ein neues oder anderes Licht setzen? Es ist kein Zufall, dass mein begrifflicher Streifzug Aspekte antiker Kultur einbegreift. Wie ich in einer Reihe von Bezügen andeuten möchte, begleitet der griechische Begriff des pharmakon vielfältig die literarisch und kulturell konnotierten Erfahrungen menschlichen Zusammenlebens. Ist von ›Lebenswissen‹ die Rede, so lässt sich ein Gedanke variieren, mit dem Ottmar Ette der Literatur ein Erlebenspotential zugesprochen hat, das uns vom historischen Leben verwehrt ist.1 Der Lebensbegriff wird, so scheint mir, in besonderem Maße von den Paradoxien der Immanenz durchzogen. Welche Einblicke vermittelt Literatur in Räume, Figuren, Affektivitäten und Körperlichkeiten jener großen Ökologie, die ›die Menschen lebt‹? Wie kontrastieren die Dispositive ›ich lebe‹ und ›ich werde gelebt‹ untereinander? Durch welche Kräfte und Konflikte, Motive und Phantasien hindurch lebt das Leben der Menschen, und wie können uns solcherart Fragen zu einer immanenten Reflexivität verhelfen? Das Interesse am Begriff des pharmakon bedarf eines einleitenden Kommentars. Eine ›pharmakologische Sorge‹ – um Foucaults ›Sorge um sich‹ zu 1
Ottmar Ette, ZusammenLebensWissen, Berlin 2010.
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variieren – lässt sich als anhaltendes, der Moderne inhärentes Moment ›kulturell-physiologischer‹ Selbstbefragung auffassen, das eng mit den Problemen sowohl der ›Ekstase‹ wie des ›Maßhaltens‹ verbunden ist. Allerdings hat der Blickwinkel des zwanzigsten Jahrhunderts eine Verengung erfahren, die aus der unheimlichen Nähe solcher Begriffe wie ›Arznei‹, ›Narkotikum‹, ›Selbstbeherrschung‹, ›Rausch‹ und – um den das Wort Gesundheit vereinnahmenden Anglizismus nicht zu übersehen – ›fitness‹ herzurühren scheint. In den vergangenen Jahrzehnten hat der häufig in einer Sackgasse endende Diskurs über Narkotika – gute Drogen versus böse Drogen – eine Problematik in den Hintergrund gedrängt, die Walter Benjamin und andere vor und nach ihm mit einer Modernität des Rausches umschrieben haben.2 Es geht nicht in erster Linie um Drogen. Von Interesse ist ein weiter, nicht zuletzt neurowissenschaftlich relevanter Begriff des ›Rausches‹, der konstitutiv mit den zeitgenössischen Erfahrungen, Phantasien und Bedürfnissen nicht nur von Dichtern und Künstlern, sondern auch der kosmopolitischen oder schlicht ›bürgerlichen‹ Individuen verbunden ist.3 Metaphorisch und praktisch gesprochen, stellt sich heute die ›Pharmazeutik‹ als Gewährsinstanz eines regulierten, wissensorientierten Einsatzes ›medizinischer‹ Konditionierung im Interesse menschlichen Zusammenlebens dar. Der Gedanke der Pharmakologie geht auf das griechische Wort pharmakon zurück, das einst die doppelte Bedeutung von Heilmittel und Zaubermittel (auch Gift) besaß. Wir wissen es nur nicht mehr. Zwischen dem pharmakon und der heutigen Pharmazie liegt eine viele Jahrhunderte währende, das heißt christliche, neuzeitliche und moderne Phänomenologie der Auseinandersetzungen sowohl um Heilmittel qua Drogen wie zugleich um jene heterogenen, Körper und Geist aktivierenden ›Lebens-Mittel‹, die auf die eine oder andere widersprüchliche Weise mit der Konstitution des ›modernen Subjekts‹ verbunden sind. Wenn wir Freuds Unbehagen in der Kultur als eine der ›zivilisatorischen‹ Sublimierung eingeschriebene Notwendigkeit und zugleich als ein Defizit verstehen, dann erscheint als ein Hauptkonflikt, dessen Regulierung die Moderne vom Christentum erbt, eine ›Erotik menschlichen Zusammenlebens‹. Diese ist einerseits mit der Unüberwindbarkeit und andererseits mit der Nichterfüllbarkeit des Lustprinzips verbunden. Anders gesagt, eine im Zeichen des Drogendiskurses heute häufig enggeführte Problematik wäre in ihren genealogischen 2
3
Hermann Herlinghaus, »In/Comparable Intoxications: Walter Benjamin Revisited from the Hemispheric South«, in: Discourse 32/2010, 1, S. 16–36. Hermann Herlinghaus, »From Transatlantic Histories of Intoxication to a Hemispheric War on Affect«, in: Melissa Bailar (Hrsg.), Emerging Disciplines, Houston 2010, S. 25–44.
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Verbindungen zum antiken pharmakon, zusammen mit dessen weiter, kulturell reicher Semantik sichtbar zu machen. Diese Semantik ist voller Paradoxa und narrativer Schlüsselfiguren, auf deren Sichtung eine zeitgenössische Reflexion meines Erachtens nicht verzichten kann. Zunächst sei Platons Gebrauch des griechischen Terminus pharmakon angesprochen. Lassen Sie mich an den Schauplatz – die dialogische Urszene – erinnern, von der Platons Text »Phaidros« seinen Ausgang nimmt. Als Sprecher treten Sokrates und Phaidros auf. Mit der listigen Geste der Beiläufigkeit ergründet Sokrates die Neuigkeiten des Athener Lebens. Phaidros kommt just von Lysias, dem berühmten attischen Redner, und bringt eine von diesem verfasste Liebesrede mit. Sokrates geht nun daran, ihm die Rede zu entlocken, um ihren Argumenten später zu widersprechen – eine gängige Übung in der Kunst der Rhetorik. Lysias, so ist von Phaidros zu erfahren, hat diese Rede als ein gelehrtes, lebensnahes Traktat zum Thema des Liebhabers geschrieben, so »als ob ein schöner Knabe gewonnen werden sollte«.4 Indes soll der Topos jugendlichen homosexuellen Eros als ›Inspiration‹ auf der Suche nach sublimen Wahrheiten hier vernachlässigt werden – das Aufleuchten der ›Idee‹, das bei Sokrates mit der Bewunderung der schönen Knaben verbunden ist – denn Xenophon und weitere Bezüge wären hierzu erforderlich.5 Der Text des Phaidros ist heterologisch interessant, er ergründet sowohl Weisheit wie rauschhafte Begierde, während er die Unentscheidbarkeit zwischen beiden Extremen der Liebe einerseits rhetorisch-argumentativ (im Interesse ideeller Einheit und Identität) überwindet, sie dramaturgisch jedoch entfaltet. Über die eigentümlichen Fertigkeiten, die die Liebe zum Liebeswerk machen – hier im Falle des Gewinnens eines Geliebten – soll Lysias dafür gesprochen haben, dass einem Nichtverliebten als Akteur im Liebesspiel die Triumphkarte zufiele. Gestattet sei ein kleiner Streifzug von Zitaten auf der Grundlage von Schleiermachers Übersetzung ins Deutsche. ›Liebe‹ bedürfe in der Figur des gönnerhaften, väterlichen Akteurs eines Nichtverliebten, um von Erfolg, Dauer und Freundschaft gekrönt zu sein. Die Argumente sind zahlreich. »Liebhaber pflegen dann zu bereuen, was sie Gutes erwiesen haben, sobald ihre Begierde gestillt ist; für andere aber gibt es keine Zeit, in der ihnen anderen Sinnes zu werden geziemte. Denn nicht notgedrungen, sondern freiwillig … erweisen sie nach ihrem Vermögen Gutes.«6 4
5 6
Platon, »Phaidros«, in: Werke in acht Bänden griechisch und deutsch, Bd. 5, griechischer Text von Léon Robin, Auguste Diès und Joseph Souilhé, dt. Übersetzung von Friedrich Schleiermacher und Dietrich Kurz, Darmstadt 1990, 227 b. Friedrich Kittler, »Dionysos Revisited«, in: Lettre International 89/2010, S. 1114. »Phaidros«, 231a.
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Weiter heißt es aus Lysias’ Rede, Liebhaber seien im Allgemeinen mehr krank als bei voller Besinnung. »Wie also könnten sie wohl, wenn sie wieder gut bei Verstand sind, dasjenige für wohlgetan halten, was sie in solcher Verfassung wollten?«7 Überdies, »wenn du aus den Liebhabern dir die besten wähltest, hättest du immer nur unter wenigen die Wahl; wenn aber aus den übrigen den dir selbst angemessensten, dann unter vielen. So dass weit mehr Hoffnung ist, unter den vielen wirklich den anzutreffen, der deine Freundschaft verdient.«8 Auch habe man von den Verliebten viel zu fürchten, denn »vieles ist, was sie betrübt, und von allem glauben sie, dass es ihnen zum Nachteil geschehe. Daher sie auch den Umgang ihrer Geliebten mit anderen verhindern, aus Furcht«, andere mögen sie übertreffen. »Die aber nicht als Liebhaber erlangt, sondern durch ihre Tugend sich erworben haben, was sie wünschten, werden nicht deine Gesellschafter eifersüchtig beneiden, sondern eher hassen, die es nicht sein wollen, in der Meinung, von diesen geringschätzig übersehen zu werden.«9 Solcherart Erwägungen bekunden ein nicht nur hellenistisches ›Lebenswissen‹. Die Tendenz zum philosophisch-männlichen Ordnungswillen mit pädophiler Neigung, dies auf Kosten der Rolle der Frau,10 ist unverkennbar. Unser Rekurs auf die Liebeskunst ist zwar der Neugierde auf die Geheimnisse des Zusammenlebens geschuldet, doch gilt es, ein weites Konzept des Rauschs im Auge zu behalten, um auf der Suche nach dem pharmakon nicht zu schnell der Macht des Vorurteils zu erliegen. Phaidros’ Gesprächspartner gibt sich beeindruckt, und wir kürzen den Fortgang des Dialogs ab. Sokrates erwidert, ein wenig ironisch, er finde sich durch diese Rede in bacchantische Ekstase versetzt. Letztlich verstehe er von diesen Dingen ja weniger als die geübten Redner und Denker, dennoch wisse er es besser. Er beginnt mit der weltlichen Feststellung, das Leben aller Menschen sei von zwei Grundprinzipien und deren Wechselspiel geprägt: dem angeborenen Verlangen nach Genuss und dem angelernten Urteil über das Maß der Dinge. Seinem Begehren ohne Rücksicht auf Vernunft zu folgen, sei Zügellosigkeit (hybris). Doch er vollzieht eine Wendung und verblüfft seinen Zuhörer Phaidros durch die Aporie, denn er wird Lysias’ Auffassung nun widersprechen. Ehe er sich gegen die Götter versündige, ziehe er, Sokrates, es vor, dem Gott Eros zu huldigen. Wenn Liebe etwas Göttliches sei, dann könne sie doch auch in ihren vernunftfernen Ausuferungen nichts Verwerfliches darstellen. Nun wendet sich Sokrates der Liebe als einer Form des 7 8 9 10
Ebd., 231d. Ebd., 231e. Ebd., 232c,d. Kittler, Dionysos, S. 11f.
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Wahnsinns zu. Wäre Wahnsinn rundheraus abzulehnen, dann käme den vorgetragenen Argumenten Angemessenheit zu, doch Wahnsinn als ein Geschenk der Götter vermöchte uns auch besondere Fähigkeiten zu verschaffen. Der Arten göttlichen Wahnsinns seien vier: Da wäre erstens die von Apoll empfangene Wahrsagekunst. Zweitens hätten wir es mit den mystischen Riten des Dionysos zu tun. Drittens beglückt uns das Geschenk der Musen, die Poesie. Und viertens ist da die überwältigende Gabe von Eros und Aphrodite – der Liebesrausch. Zentrale, die Moderne präfigurierende Motive scheinen hier auf, die unser literarisches und kulturelles Wissen nicht nur wie magische Spuren durchziehen, sondern auch auf den merkwürdigen Begriff des pharmakon zurückverweisen. Derrida hat 1972 seinen Text ›La pharmacie de Platon‹ verfasst, zuerst veröffentlicht in Tel Quel.11 In ihm wendet er sich unter Bezugnahme auf Platons »Phaidros« dem griechischen Wort pharmakon zu, das den Doppelsinn Gift und Heilmittel, Arznei und Zaubertrank (oder auch Zauberspeise) trägt. Es mag kein Zufall sein, dass Übersetzer des »Phaidros« aus dem Griechischen die semantische Unentscheidbarkeit des pharmakon zugunsten schlüssiger Sinngebung überwinden wollten. Ein Blick in die Schleiermacher’sche Übersetzung, die abgesehen von einigen Anpassungen und Korrekturen von den Herausgebern der Ausgaben bei Rowohlt und der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft übernommen wurde, mag dies verdeutlichen. Das Gespräch zwischen Sokrates und Phaidros ist reich an thematischen und konzeptionellen Bezügen. Ein Streitpunkt ist allenthalben der Status kunstvoll gestalteter und dargebotener Rede, der mit dem minderen Wert eines in sich festgefügten und daher leblosen Schrifttextes verglichen wird. Da heißt es in den Anfangspassagen des Textes – Sokrates ist gerade bemüht, Phaidros die Liebeshymne des Lysias zu entlocken –: – Phaidros zu Sokrates: »Du […], wunderbarer Mann, zeigst dich ganz seltsam. […] einem Fremden gleichst du, der sich umherführen lässt, und nicht einem Einheimischen. Sowenig wanderst du aus der Stadt über die Grenze, noch auch selbst zum Tore scheinst du mir hinauszugehen.« – Daraufhin Sokrates: »Dies verzeih mir schon, o Bester. Ich bin eben lernbegierig, und Felder und Bäume wollen mich nichts lehren, wohl aber die Menschen in der Stadt. Du indes, dünkt mich, hast, um mich herauszulocken, das rechte Mittel gefunden. Denn wie sie mit vorgehaltenem Laub oder Getreide hungriges Vieh führen, so könntest du gewiss, wenn du mir solche Rollen mit Reden vorzeigtest, mich durch ganz Attika herumführen.«12 11 12
Jacques Derrida, »La pharmacie de Platon«, in: Tel Quel 32, 33/1972. »Phaidros«, 230d,e.
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»Phaidros« stellt vermutlich Platons einzigen Dialog dar, der Sokrates außerhalb der Stadtmauern Athens zeigt – in trunken machender Landschaft, die von Geistern und Nymphen bevölkert ist. Dies ließe sich auch als Anspielung auf das latente Omen der ›Verbannung‹ lesen. In der Schleiermacher’schen Übersetzung ist das griechische Wort pharmakon unkenntlich, es wird in deutsch zum »rechte[n] Mittel«, um Sokrates wie Vieh aus der Stadt zu führen. ›Rechtens‹ ist das Mittel nur bedingt, denn es handelt sich mit der Liebesrede um ein Lockmittel, womöglich gar ein mächtiges Täuschungsmittel. Es müsste in der deutschen Übersetzung demnach heißen: »Du indes, so scheint es mir, hast, um mich herauszulocken, die ›rechte Medizin‹ oder das ›geeignete Zaubermittel‹ gefunden.« Was hat es mit dieser Medizin auf sich? Kurz zuvor im Text bezeichnet sich Sokrates als einen, der krank ist an Sucht, Reden anzuhören, und er sieht Phaidros zugleich die Entzückung an, die die Liebesrede des Lysias bei diesem bereits verursacht hat. Die gelungene Rede, ein Hybrid aus Rhetorik und Dialektik, mit der Sokrates konkurriert, um sie zu widerlegen, erscheint im semantischen Fokus des pharmakon, in einem Lichte, das unsere heutige Reflexion merkwürdig berührt. Aus dem »Phaidros« stammt gleichfalls die Sage vom ägyptischen König Thamus, auf die sich Sokrates listig beruft, um die Logographie in ihre Schranken zu weisen. Ihr zufolge soll der Gott Teuth dem König Thamus die Schrift als Geschenk, als Schriftkunst für dessen Volk dargeboten haben, denn sie sei das beste Heilmittel gegen das Vergessen und zugunsten wachen Verstandes. In der Übertragung des pietistischen Romantikers Schleiermacher heißt es erneut, lakonisch verengend, »das Mittel«. König Thamus soll Teuth, dem Vater der Buchstaben erwidert haben, dass die Effekte der Schrift tatsächlich die gegenteiligen seien, denn aufgezeichnete Erinnerungen böten nur einen äußeren Anschein, ein Simulakrum von memoria, und bewirkten somit Vergessen, während die aus dem Innern der Erinnerung stammende Weisheit sich stets mündlich, lebensnah zu erneuern habe. Wörtlich äußert Thamus seinen Einwand gegen die Gabe des ägyptischen Gottes wie folgt: O kunstreichster Teuth … So hast auch du jetzt als Vater der Buchstaben aus Liebe das Gegenteil dessen gesagt, was sie (die Schreibkünste) bewirken. Denn diese Erfahrung wird den lernenden Seelen eher Vergessenheit einflößen aus Vernachlässigung des Gedächtnisses, weil sie im Vertrauen auf die Schrift sich nur von außen vermittels fremder Zeichen, nicht aber innerlich sich selbst und unmittelbar erinnern werden. Nicht also für das Gedächtnis, sondern nur für die Erinnerung hast du ein Mittel gefunden.13
13
Ebd., 274d.
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Auch hier müsste es präziser etwa heißen, »für die Erinnerung hast du ein Heilmittel gefunden, für das Gedächtnis aber ein Gift«. In Thamus’ Verständnis erscheint Schrift für das mnemonische Rekapitulieren als Arznei, für das Gedächtnis aber als benebelndes Surrogat. Das heißt, Schreiben kontaminiere wahrhaftiges Gedächtnis und setze verschriftlichte Erinnerung und Tod an die Stelle von ›Präsenz‹ und lebendiger Memoria. In Derridas Lesart des »Phaidros« heißt es: Solcherart und im Namen authentischer, lebender Erinnerung und im Namen der Wahrheit klagt die Macht die Schrift, diese schlechte Droge, als ein Narkotikum an, das nicht nur zum Vergessen führt, sondern auch zur Verantwortungslosigkeit. Schrift ist Verantwortungslosigkeit selbst, das Waisendasein eines wandernden und spielenden Zeichens. Schrift ist nicht nur eine Droge, sie ist auch ein Spiel, paidia, und ein schlechtes Spiel, wenn sie nicht vom Streben nach philosophischer Wahrheit geleitet ist.14
Es verwundert nicht, dass Derrida in seiner Lektüre des klassischen Textes zu einer Habilitierung der Schrift antritt, Schrift im Sinne von Intention und Präsenz, nicht von Repräsentation. Da sich eine Analogie von pharmakon und Ambivalenz herstellen lässt, wäre das arbiträre (Schrift-)Zeichen (Saussure) Ausdruck eines unvorgänglichen Zustands, etwa eines Zustands anhaltender Kontamination. Im Kontrast dazu ist menschliche Rede vom Tode her gesehen endlich, so dass Präsenz auf die eine oder andere Art stets durch Zeichen vorgeprägt wäre – Zeichen aber seien unrein. In dieser Denkart erschiene das pharmakon als jenes Medium, in dem Oppositionen von Anfang an dynamisch miteinander im Spiele wären, und wir könnten hinzufügen: ganz wie dies im Leben selbst der Fall ist. Im pharmakon begegneten Gegensätze wie innen/außen, sprechen/schreiben, gut/böse, Körper/Geist einander. Damit stünde das pharmakon als Bewegung und Spiel der Ambivalenz als etwas einmalig Unvorgängliches da. Aufschlussreich an Derrida ist uns der genealogische Aspekt. Es geht darum, das pharmakon erkennbar zu machen, es gleichsam wieder zu entdecken. Erst dann ließe sich das Spiel der Ambivalenz in einem Denkbild fassen, ohne den modernen Kategorien der Repräsentation folgen zu müssen. Derrida zufolge eigne sich pharmakon auch als metaphorische Figur, um die Dialektik des Parasiten auf einen Punkt zu bringen. Wie jeder ›gute Parasit‹, so heißt es, ist das pharmakon sowohl zufällig wie essentiell, es wirkt von außen wie von innen, womit ein Konstrukt gewonnen ist, das der Vitalisierung des Gedankens der Dekonstruktion zugute 14
Jacques Derrida, »The Rhetoric of Drugs«, in: Anna Alexander/Mark S. Roberts (Hrsg.), High Culture: Reflections on Addiction and Modernity, Albany 2003, S. 20–36, hier S. 24.
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komme: »Dekonstruktion ist stets dieser unzerstörbaren Logik des Parasiten zugewandt. Als ein Diskurs ist Dekonstruktion immer Diskurs über den Parasiten und so selbst ein Medium, das parasitisch dem Subjekt des Parasiten aufsitzt, ein Diskurs über Parasiten und in der Logik des ›Superparasiten‹«.15 Die kritische Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen westlichen Phonozentrismus, die Derridas Interesse am pharmakon durchzieht, soll hier nicht näher thematisiert werden. Auch Jorge Luis Borges hat bereits vor Derrida die einschlägigen Passagen in Platons »Phaidros« paraphrasiert und im Sinne einer etwas andersartigen ›Dekonstruktion‹ problematisiert – mit einem ironischen Blick auf den Schrift- und Bücherkult der Modernen. Kurz zurück zu Platon oder besser: zu Sokrates. Wenn genealogische Spuren des Begriffs des Rausches und dessen Status in der Moderne zur Diskussion stehen, kann es nicht allein um das Verhältnis von Rede und Schrift gehen. Wie steht es um die ›vorgängige‹ Eigenart des pharmakon in weiteren, kulturanthropologischen Bezügen? Derrida selbst scheint semantische und narrative Kraftfelder wahrzunehmen, die maßgeblich vor Platon zurückreichen und die auf ›theatralische‹, rituelle und machtpolitische Aspekte verweisen. Doch er bleibt beim Bezugspunkt Sokrates, wenn er fragt: Ist Sokrates – jener Philosoph, der nicht schreibt – nicht auch Meister des pharmakon? Sollten wir Sokrates in seinen korrisiven Eigenarten nicht als pharmakeus denken, das heißt als Zauberer, Magiker, ja sogar als einen ›Vergifter‹? Nun folgt eine bezeichnende, auf Platons Symposium rekurrierende Passage: Sokrates hat in Platons Dialogen oft das Gesicht des pharmakeus. Das ist der Name, der Eros von Diotima gegeben wurde. Doch man kommt nicht umhin, hinter dem Portrait von Eros die Züge des Sokrates zu erkennen, als ob Diotima bei seinem Anblick dem Sokrates das Bild des Sokrates präsentieren würde (Symposium, 203c, d, e). Eros, der weder reich noch schön, noch zart ist, verbringt sein Leben mit dem Philosophieren …; er ist ein furchterregender Zauberer …, Magier (pharmakeus), und Sophist … Als Gestalt, die von keiner Logik in einer nichtwidersprüchlichen Definition gefasst werden kann, ein Individuum der dämonischen Art, weder Gott noch Mensch, weder unsterblich noch sterblich, weder lebend noch tot, wird er zum »Medium der prophetischen Künste, der priesterlichen Opferriten, der Initiation und Verhexung, der Magie und Thaumatologie«. (Ebd., 202e)16
Diese Worte deuten zuspitzend auf den Nexus von Eros – pharmakon – Rausch. Das heißt, Derrida ist nichts anderem als dem auf der Spur, was wir eingangs als die ›pharmakologische Sorge der Moderne‹ bezeichnet haben. 15 16
Ebd. Jacques Derrida, »Plato’s Pharmacy«, in: Dissemination, Chicago – London 1981, S. 63–171, hier S. 117.
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Zweierlei ist im Kontext unserer Fragestellung anzumerken. Die Reflexion führt von der ›Substanz‹ des pharmakon auf die kreatürliche Dimension, nämlich die des pharmakeus zurück. Dies ermöglicht eine Dezentrierung der Schrift-Rede-Problematik insofern, als uns hier nicht primär die Derrida’sche Rettung des arbiträren Schriftzeichens als Ursprungsmedium der Ambivalenzen und Oppositionen interessiert. Stattdessen ergibt sich die Frage: Welche symbolisch-narrativen und kulturgeschichtlichen Untergründe waren im sokratischen Kontext aktiv, die es philosophisch und lebensweltlich zu domestizieren galt? Gerade der Figur des pharmakeus wäre weiter nachzugehen. Sokrates ereilte das Athener Todesurteil wegen angeblicher Häresie und Korruption der Jugend. Die Verbindung des kritischen Philosophen, Rhetorikers und ›Magiers‹ war offenbar zu explosiv nicht nur für die Athener Verhältnisse im fünften Jahrhundert vor Christi Geburt. Man denke auch daran, dass Sokrates in Europa seit dem 18. Jahrhundert als Christus der Philosophie wieder aufzuleben begann.17 Dieser Identifizierung wohnt im Sinne der Pathosfigur ein Interesse am Philosophen als Märtyrer und unter Umständen als Sündenbock inne. Die genealogisch-imaginären Verbindungen zwischen Märtyrer und pharmakeus scheinen auf ein ebenso interessantes wie teilweise noch unaufgearbeitetes Kapitel im kulturellen Gedächtnis der Moderne zu verweisen. Von Edgar Wind ließe sich ein Impuls für die Frage gewinnen, ob das paradoxe Bild des ›Verbrecher-Gottes‹ – eine vorchristliche Figur – im Vergleich von Sokrates und Christus widerhallt. Wind, der Aby Warburg nahestand, hat bezugnehmend auf Texte der Cambridger Anthropologen der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts versucht, Christi Kreuzigung als Umschlagpunkt im Rahmen einer umfassenderen, zunächst heidnisch konnotierten Narration beziehungsweise Mythengeschichte plausibel zu machen. Der Verkürzungen seiner Darstellung auf der Grundlage motivischer Mythendeutung eingedenk, fällt das Bemühen symbolischer Relektüre im Spannungsfeld von Christentum, Affekt und Gewalt auf. So imaginiert der Autor die Passion Christi als Umwertung und zugleich immanente Reinszenierung einer Tradition, die vom primitiven Symbol des göttlichen Königs als einer Mischung aus Souverän und Opferfigur zu einer sukzessiven rituellen Aufwertung der Figur des (›kriminellen‹) Sündenbocks führt, welchem angeblich mit der Besetzung der Opferrolle eine Katalysatorfunktion in gesellschaftspolitischen Konflikten zufalle.18 Die französische Sozio17 18
Ich danke Martin Treml für den Hinweis auf J. G. Hamann und Edgar Wind. Siehe Edgar Wind, »The Criminal-God«, in: Journal of the Warburg Institute 1/1937–38, S. 243f.
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logenschule und die strukturalistische Anthropologie haben ausführlicher über derartige kulturgeschichtliche Analysemodelle archaischer und frühmoderner Gesellschaften nachgedacht. In unserem Zusammenhang ist auf die merkwürdige genealogische Nähe und zugleich Unschärfe beziehungsweise semantische Überlappung solcher Figuren wie ›Verbrecher‹, ›Verbannter‹, ›Aussätziger‹, ›Heiliger‹ und pharmakeus hinzuweisen. Von da aus wäre weiter darüber nachzudenken, inwieweit frühe Vorstellungen des pharmakeus ein Komplexitätspotential enthalten, das zur kritischen Historisierung etwa der Problematik von Kriminalität und Gewalt, aber auch von ›Rausch‹, Affektivität und containment19 in der Moderne beitragen kann. In Platons Texten findet sich der Ausdruck pharmakeus, doch wir begegnen in den Quellen der griechischen Religionsgeschichte schnell dem Synonym – dem pharmakos. So berichtet A. Le Marchant unter Berufung auf Harpokration, ohne den prekären Status der überlieferten Texte außer Acht zu lassen, von zwei Männern, ›Schurken‹, genannt pharmakoi, die zur Zeit des Athener Thargelia-Festes in einer Zeremonie aus der Stadt gebracht und geopfert wurden. Die Männer hatten zuerst eine Phase der Konsekration/ Weihe zu durchlaufen, während der sie heilige Speisen (pharmaka) vorgesetzt bekamen. Der Opfertod selbst wurde als Akt mimetischer Magie vollzogen – als Nachinszenierung einer Legende vom Manne Pharmakos, den man zu Tode steinigte, weil er angeblich Tassen oder Gefäße von Apollon gestohlen haben sollte.20 In der Verbannung des pharmakos aus der Gemeinschaft und seiner anschließenden Exekution verkörpere sich, Jean Paul Vernant zufolge, eine Ausweisung/Austreibung des Bösen aus der Stadt auf doppelter Ebene: zum einen der Bedrohung durch eine übelwaltende ›höhere‹ Gewalt und zum anderen durch eine Gefährdung von ›unten‹.21 Wie sich zeigt, trägt der pharmakos, ähnlich dem pharmakon eine Indeterminanz oder Ambivalenz in sich, die ihn zum Beispiel dazu ›prädestiniert‹, als Sündenbock ritualistisch hergerichtet zu werden, um überindividuelle affektive Energien und Konfliktszenarien zu verwalten. Mit der doppelten oder komplementären Austreibung des Übels durch die Schindung des pharmakos, so Vernant, bestimmt sich die Stadt oder die Gemeinschaft in Beziehung zu dem, was das Bekannte (Wissen und Erfahrung) transzendiert. Ziel ist die Herstellung eines ›menschlichen Maßes‹, oder besser einer sozialen, ›lebenstechnischen‹ Norm, mit de19
20 21
Der englische Begriff des containment scheint semantisch flexibler zu sein als Konzepte wie Vernunft und prudentia, um kulturelle Kodierungen des modernen Subjekts in der Spannung von Selbst- und Fremdbeherrschung zu fassen. A. Le Marchant, Greek Religion to the Time of Hesiod, Manchester 1923, S. 25–27. Jean Paul Vernant, »Ambiguity and Reversal: On the Enigmatic Structure of Oedipus Rex«, in: New Literary History 10/1978, 3.
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ren Hilfe sich der Gegensatz zum ›Göttlichen und Heroischen‹ einerseits in einen Abstand zum ›Bestialischen und Monströsen‹ andererseits überträgt.22 Le Marchant verweist in prinzipiell ähnlicher Denkart wie Wind darauf, dass solche und ähnliche Bräuche in Abwandlungen und unabhängig von den Athener Überlieferungen in die verschiedensten symbolischen und geschichtlichen Kontexte eingehen und von langer Lebensdauer sind.23 In der modernen literaturgeschichtlichen Betrachtung ist der Figur des pharmakon vor allem in den Diskussionen um die Tragödie Aufmerksamkeit zuteil geworden. Northrop Frye sieht den pharmakos in der Spanne von Kafkas Prozess und dem biblischen Hiob als Grundmodell des typischen Opfers oder Sündenbocks: We meet a pharmakos figure in Hawthorne’s Hester Prynne, in Melville’s Billy Budd, in Hardy’s Tess, in the Septimus of Mrs. Dalloway, in stories of persecuted Jews and Negroes, in stories of artists whose genius makes them Ishmaels of a bourgeois society. The pharmakos is neither innocent nor guilty. He is innocent in the sense that what happens to him is far greater than anything he has done provokes, like the mountaineer whose shout brings down an avalanche. He is guilty in the sense that he is a member of a guilty society, or living in a world where such injustices are an inescapable part of existence. The two facts do not come together; they remain ironically apart.24
Und Frye kommentiert, dass es mitunter erforderlich ist, die ›praktische Ironie‹ der Mythen zu verstehen, um aus einem literarischen Text, der inkongruent und unwahrscheinlich daherkommt, Sinn zu gewinnen. Verstünden wir als Leser die Ironie von Geschichten, in denen der ›Gott der einen Person‹ als der ›pharmakos einer anderen‹ auftreten mag, oder Frye abwandelnd, Geschichten, die zeigen, wie das Begehren des Gottes die grausige Inszenierung des pharmakos erfordert, dann stellten sich Querverbindungen zwischen scheinbar fremden und dispersen Texten als simpel und einleuchtend heraus.25 Neben der Fülle von Fragen, die sich für die moderne Literatur aus einer Reproblematisierung des pharmakon und des pharmakos gewinnen lassen, ist 22 23
24 25
Ebd. »There is the record of an actual Pharmakos sacrifice at Marseilles, preserved by Servius ad Verg. […]. He says the Gauls had a custom, which was followed at Marseilles, that if a pestilence befell the city one of the poor people offered himself to the city. He was kept at the public charge and fed upon pure diet. Afterwards he was arrayed in holy garments, adorned with flowers, and led through the city, and the populace all cursed him as he went, so that the evil of the city might fall upon him. Then he was cast down headlong.« (Le Marchant, Religion, S. 28). Northrop Frye, Anatomy of Criticism: Four Essays, New York 1966, S. 41f. Ebd., S. 43.
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diejenige nach dem hermeneutischen und ästhetischen Status der Figur des Sündenbocks bei Frye bereits angeklungen. Allerdings reicht diese Frage über das Modell der Tragödie in seinen aristotelischen und anderen Varianten hinaus. Es geht – verwiesen sei etwa auf Deleuzes listige Abhandlung zum Masochismus –26 weniger um literarische Beschreibungen der Welt, sondern um das Verständnis jener ›anderen‹, insbesondere imaginären und künstlerischen Sphären, die den Umgang mit den Exzessen und den Gewaltformen der Welt lehren, ohne der aristotelischen Katharsis allzu sehr vertrauen zu können. Insofern kann ›Erotik‹ im Zusammenhang von Gewalt und Imagination als der ›gesprungene Spiegel‹ aufgefasst werden, in dem sich die transgressiven Kräfte der kulturellen Existenz der Menschheit ›spirituell‹ einfangen, nicht oder nicht nur zugunsten Freud’scher Sublimierung, sondern im Interesse einer paradoxen, affektiv geschulten Reflexionsfähigkeit. Wie ich in einer Monographie zum Thema Ästhetik der Gewalt, Affektivität und Globalisierung dargelegt habe, fordern Impulse aus der zeitgenössischen lateinamerikanischen (und zum Teil US-amerikanischen) Literatur, dem Film und der Musik dazu heraus, ungewohnten Fragen in den symbolischen Räumen emergenter globaler Literaturen Aufmerksamkeit zu schenken.27 Hier ist zum Beispiel zu vermuten, dass ›Rausch‹ und ›Nüchternheit‹ im Zuge eines erst einsetzenden remapping der komparatistischen Felder globaler Literatur in absehbarer Zeit den Status von ästhetischen Leitbegriffen erhalten werden. Als interessant erscheinen unter dem Gesichtspunkt konzeptionellen Nachdenkens nicht allein die neuen, zum Teil spektakulären Themenfelder ›global lokalisierter‹ Literaturen. Andernfalls würden wir uns darauf beschränken, an gängigen typologischen, repräsentationalen und soziokritischen Katalogen weiterzuarbeiten. Im Falle der sogenannten lateinamerikanischen und interamerikanischen narconarrativas hieße dies, den auf der westlichen Halbkugel in besonders krassen Formen manifesten Drogenkrieg (the war on drugs) in einschlägige Modelle und Genres literarischer und filmischer Dramatisierung übersetzt zu finden beziehungsweise den Referenzrahmen für die sozialkritische Funktion der Literatur auf das zeitgenössische hemispherische Konfliktpanorama auszudehnen. Den solcherart vorgehenden Darstellungen sei keineswegs das Existenzrecht abgesprochen. Neue literarische Formationen harren der vielfältigen Untersuchung und werden auf bekannte komparatistische Modelle ein verändertes Licht werfen. Mir 26 27
Gilles Deleuze, Présentation de Sacher-Masoch, Paris 1967. Hermann Herlinghaus, Violence Without Guilt: Ethical Narratives from the Global South, New York 2008.
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geht es vor allem darum, auf den paradoxen – die genealogischen Nervenzentren der Moderne berührenden – Aspekt ›pharmakologischer Erfahrung‹ als einer existentiellen, politischen und epistemologischen Grundbefindlichkeit – ein gleichsam latentes, regeneratives Spannungsfeld – der westlichen Kulturgeschichte hinzuweisen. Denn es ist dieser Konnex, mit dessen Hilfe sich heute durch die Linse der lateinamerikanischen narconarrativas hindurch ein erweiterter Blick auf die Historizität der globalen Welt und die Untergründe unserer transatlantischen Moderne eröffnen kann. Ohne die Konfliktgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts genauer beleuchten zu wollen, lässt sich sagen, dass im Globalisierungsgeschehen der vergangenen zwei bis vier Jahrzehnte die zum Teil weniger ›rituellen‹, aber doch lebensweltlichen Konventionen, die Vernant einst als Praktiken der Herstellung ›menschlichen Maßes‹ umschrieb, erneut erschüttert worden sind. Wenn wir die spannungsvolle Mehrdeutigkeit der in unserer Abhandlung diskutierten Begriffe nicht als Anfangs- oder Endzustand, sondern als bewegliches Medium für das Verständnis von Konflikträumen verstehen, dann sind die Sphären des Irdisch-Monströsen und der ›höherwaltenden‹, gefährlichen Mächte heute keineswegs gleich weit voneinander entfernt. In Frage steht auch, ob dies jemals der Fall war, gleichviel, ob die mythen- und kulturgeschichtlichen Figuren adäquate Repräsentationen anthropologischer, existentieller und sozialer Realitäten waren oder nicht. Trotzdem bergen diese Figuren und Fabeln epistemische Weisheiten, die auch heute nicht zur Gänze erforscht sind. »Gleich weit voneinander entfernt« assoziiert ein Denkbild vor dem Hintergrund eines antiken Schauspiels, dessen Funktion auf die ›Gesunderhaltung‹ eines Gemeinwesens oder einer Mehrheit auf der Grundlage ritueller Absonderung jenes pharmakos hinauslief, in dessen Gestalt der Sprengstoff einer exzessiven, nicht mehr akzeptablen Ambivalenz konzentriert wurde. Indem sie diese Figur des Sündenbocks entsorgte oder gewaltsam vernichtete, suchte die Gemeinschaft, in der sich nicht zufällig das Morgengrauen des römischen Gesetzes ankündigte, die grausame Nähe der Extreme zu überwinden und in einer wechselseitigen – gleichwohl imaginären – Distanzierung auszubalancieren. Merkwürdigerweise hat sich das kulturelle Unterbewusstsein der modernen Gesellschaften von diesen real-imaginären Figuren nicht befreien können. Wird die eingangs benannte ›pharmakologische Sorge‹ der Moderne nicht just von jenen Geistern des pharmakon und des pharmakos geplagt – sei es im Sinne des Superlativs, der ›göttlichen Begierde‹, oder des Traumas, das die Toten nicht zur Ruhe betten kann –, die uns Sokrates noch heute vertraut machen? Anders gefragt: Ist es möglich, Bilder und Visionen einer Gesellschaft zu imaginieren, die das pharmakon entdämonisiert und es auf neue
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Weise in ein ökologisch und ethisch bestimmtes Lebenswissen eingehen lässt? Komplizierter vielleicht: Ließe sich eine Erotik ohne pathologische Hilfsinstrumente denken, besonders ohne eine latente Faszination an der Gewalt und ihren Projektionen? Schließlich: Wie und wo wären Narrative zu ergründen, die helfen, die Praktiken und Konstruktionen des pharmakeus/ pharmakos reflexiv aufzuarbeiten? Und vielleicht am schwierigsten: Ließe sich in der globalen Moderne ein ›Maß‹ für symbolische Ordnungen finden, das die bald versteckte, bald öffentlich inszenierte Körper- und Gestalthaftigkeit des Sündenbocks erübrigen könnte? Ein narrativer Kreis rundet sich insofern, als unsere Überlegungen auf das Wissen der Literatur zurückführen möchten, auch wenn dieses Wissen nicht mit vertrauter Stimme zu uns spricht.
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Judith Kasper
Judith Kasper (Potsdam/München)
Idyllen Von Blanchot und Kofman zu Loridan-Ivens und Kertész
I. In ihren Überlegungen zum Zusammenleben der Texte stützt sich Cécile Wajsbrot auf zwei Bilder: Das erste nimmt die klassische Metapher des Penelope-Fadens auf, der Texte webt, wieder auflöst, um sie immer wieder von neuem zu gestalten; das zweite stellt Literatur als eine riesige Spiegelgalerie vor, in der sich die Texte, die darin gespiegelt sind, in unzähligen Reflexen ins Unendliche auflösen: »Jeder Erzähltext enthält andere Erzähltexte […] [Die Literatur] bildet eine Art unermeßlicher Spiegelgalerie, in der die Spiegelungen ins Unendliche auf andere Spiegelungen verweisen. Wie sollte man unter diesen Bedingungen einen Anfang oder ein Ende ausmachen?«1 Die beiden Bilder sind nicht einfach austauschbar, sie zeugen vielmehr von einer spezifischen Differenz, von einem ungesagten und vielleicht unsagbaren Bruch. Dort, wo der Faden zerschnitten ist, Löcher im Gewebe entstanden sind, die nicht mehr geflickt werden können, geht entweder etwas zu Ende, oder aber es wird tatsächlich über den Abgrund hinweg etwas – im doppelten Sinne – reflektiert. Für das Zusammenleben der literarischen Texte vor und nach der Vernichtung der europäischen Juden scheint mir die Vorstellung von Literatur als in sich gebrochener Spiegelung, die Vorstellung vom Verhältnis der Texte untereinander als reflet, wie Wajsbrot in der französischen Originalfassung ihres Essays schreibt, das heißt als Schein, Schimmer, Widerschein, Abglanz, Abspiegelung, Lichtreflex, besonders aufschlussreich.
II. Inmitten dieser riesigen Spiegelgalerie ohne Anfang und ohne Ende einen Reflex herausgreifen – willkürlich, vergeblich, in der Vergeblichkeit nichtsdestoweniger sinnfällig: Es ist die kurze Erzählung L’Idylle von Maurice
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Vgl. den Beitrag von Cécile Wajsbrot in diesem Band, S. 154–162.
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Blanchot aus dem Jahre 1936.2 Wie der Titel schon suggeriert, handelt es sich nicht um eine Idylle, die sich in die seit der Antike bestehende Gattung der Idylle einreihen ließe, sondern um die Idylle schlechthin. Der Titel drückt einen paradigmatischen Anspruch aus, der zugleich schon eine spezifische Absetzung impliziert.3 Insofern der Titel gleichsam eine lange Tradition und Gattungsgeschichte aufruft, weckt er sogleich Assoziationen. Es sind charakteristische Eigenschaften, die auch und gerade für einen Leser, der sich nicht im Einzelnen mit der Gattungsgeschichte der Idylle auseinandergesetzt hat, einen hohen Wiedererkennungswert besitzen: ein Liebespaar in Grotte, Laube oder stilisierter Felslandschaft. Dazu gehören bukolische Elemente. Man stellt sich vor: Harmonie zwischen den Menschen und zwischen Mensch und Natur. Man assoziiert Glück.4 Bis in unsere Zeit kennen wir die Idylle in Kunst und Literatur als utopischen, meist ins Innerliche gewendeten Gegenentwurf, als Zufluchtsort vor einer als immer unwirtlicher erlebten Gegenwart. Damit wird sie zur Momentaufnahme des perfekt harmonischen Zusammenlebens. Perfekt heißt aber immer auch schon zeitlich abgeschlossen, vergangen. Die Idylle bezeichnet also im Wesentlichen einen Zustand, keine Bewegung, einen Zustand, der nur anhält, um zu enden.5 Das Wort Idylle kommt, folgt man der Etymologie, von eidyllion, der Verkleinerungsform von eidos. Renate Böschenstein hat darauf hingewiesen, dass diese Herleitung oft fälschlich übersetzt und verstanden worden ist: nämlich als Bild und mithin Abbild, während, ich folge hier ihren Ausführungen, to eidos zunächst einmal das Bild als äußere Gestalt bezeichnet, als das, »was ins Auge fällt«, mithin als »Augenschein«. Während Bild und Abbild im Sinne der Repräsentation eine Sache adäquat wiederzugeben beanspruchen, weist uns die wörtliche Bedeutung von to eidos einen anderen Weg: »etwas springt ins Auge« meint zunächst einmal, dass etwas aufblitzt, dass einem etwas entgegen springt, vielleicht ein durch Spiegelung hervorgebrachter Reflex. 2
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Verfasst 1936–37, erstmals veröffentlicht, gemeinsam mit der Erzählung Le dernier mot als Le ressassement éternel, Paris 1951, dann in Après coup précédé par le ressassement éternel, Paris 1983. Die nachfolgenden Angaben beziehen sich auf die letztgenannte Ausgabe. Von Interesse wäre hier, die paradigmatische Geste von L’Idylle vor dem Hintergrund von Goethes Märchen zu betrachten. Die Glücksidee ist ein durchgehendes Moment in der Gattungsgeschichte der Idylle. Sie hält sich selbst da, wo es der Idylle nicht an tragischen Momenten, wie z. B. bei Vergil, fehlt. Vgl. dazu Renate Böschenstein-Schäfer, Idylle, Stuttgart 1977, S. 9f. Vgl. zum statischen Aspekt der Idylle ebenfalls Böschenstein, Idylle, S. 9.
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III. In Blanchots Idylle trifft der Leser auf Pierre und Louise, die in einer scheinbar ›perfekten Ehe‹ miteinander leben. Beide stehen dem hospice vor,6 in das aus Hygienegründen jeder Fremde, der die Stadt betreten möchte, zunächst einmal eingeliefert wird. Dieses hospice trägt Züge eines Auffanglagers, eines Gefängnisses, aber auch diejenigen einer utopischen Gemeinschaft. Bemerkenswert ist der allegorische Charakter der ganzen Erzählung, der sich in der durchgängigen Verwendung der bestimmten Artikel – »l ’idylle«, »l ’hospice«, »la ville« etc. – ausprägt.7 In dieses hospice gerät der zunächst namenlose Fremde – »l ’étranger« –, dem später der ebenfalls allegorische Name Alexandre Akim zugeteilt wird.8 Dieser erliegt im hospice der ostentativen Zurschaustellung des Glücks, dem »spectacle de bonheur«,9 wie es gleich zu Beginn der Erzählung heißt, und er hält bis zuletzt, obwohl sich dieses Glück sehr bald als Unglück erweisen wird, an der Idee fest, der zufolge das Zusammenleben zwischen Pierre und Louise eine Idylle verkörpert. Die kurze Erzählung führt den Leser mit seinem Protagonisten vom vorübergehenden Glauben an dieses Glück zur Ungläubigkeit und schließlich zur Anerkennung, dass genau diese Unentscheidbarkeit zwischen Glück und Unglück die Idylle ausmacht. Auch wenn die Erzählung sehr schnell Voreinstellungen und Erwartungen des Lesers, die an das Wort Idylle (bis heute) geknüpft sind, unterläuft (die Erzählung sich also als Antiphrasis geriert), bedient sie doch zugleich diese Vorstellungen ex negativo immer noch, um sich schließlich als einzigartige und zugleich beispielhafte Idylle zu etablieren: und zwar genau in der Unentscheidbarkeit zwischen Phrasis und Antiphrasis zur Idylle im herkömmlichen Sinne. Die Idylle bezieht sich in der Erzählung nicht nur auf Pierre und Louise, sondern auch auf die Realität des hospice. Beide Bereiche, der private des 6
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Hospice, von lat. hospitium, Herberge, könnte in diesem Zusammenhang am ehesten mit dem Wort ›Anstalt‹ wiedergegeben werden, um in der Schwebe zu lassen, um welche Art von geschlossener Einrichtung es sich handelt. Im Folgenden wird aber das französische Wort beibehalten, in dem die Ambivalenz zwischen Gastfreundschaft und Ausschließung besonders deutlich erkennbar wird. Es sei angemerkt, dass Böschenstein als einen Hauptcharakterzug der Idylle das Allegorische hervorhebt, vgl. dort S. 12. Auf die allegorische Dimension der Namen in Blanchots Erzählung L’Idylle geht Sarah Kofman in ihrem Essay Paroles suffoquées, Paris 1987 ausführlich ein, vgl. dort S. 27: »Alexandre: d’alexo, écarter, que l’on peut rapprocher d’elauno, repousser, malmener, pourchasser […] Alexandre: l’homme du dehors […] Alexandre Akim: l’exilé, le misérable, le vagabond que la loi veut arrêter, immobiliser (akim, d’akinéo?).« Blanchot, Après coup, S. 9.
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Direktorenpaares einerseits, der Alltag der Insassen andererseits, in dem es keine private Sphäre mehr gibt, beruhen auf dem Schein des Glücks. Dieser Schein springt ins Auge, er blendet, er strahlt ab auf alle Manifestationen von Gewalt, Hass und Ungerechtigkeit, an denen es im hospice wahrlich nicht mangelt. Realisiert wird dieses Vexierspiel durch eine Reihe von binären Strukturen, die einander durchkreuzen und sich darum in ihrer Binarität auch immer schon relativieren: Da ist zunächst die Opposition zwischen dem Direktorenpaar und der Gesellschaft im hospice. Auch wenn beide klar abgetrennt voneinander erscheinen, sind sie eng aufeinander bezogen, zumal die Anstalt ja durch Pierre und Louise verwaltet wird und umgekehrt der Blick auf die Paaridylle stets durch die Insassen des hospice realisiert wird. Zudem sind beide Bereiche von den Leitisotopien Liebe und Hass, Zuneigung und Gewalt, Glück und Unglück durchzogen. Zuletzt steht dann der Welt des hospice die Stadt (»la ville«) gegenüber, womit eine weitere räumliche Binarität angedeutet wird, wie sie im Übrigen für die Tradition der Idylle insgesamt bezeichnend ist. Doch während in der traditionellen Idylle unterschiedlichen Räumen klar unterschiedene Wertvorstellungen zugeordnet sind, wird gerade eine solche Zuordnung in Blanchots Erzählung unterlaufen. Dies geschieht insbesondere durch den ständigen Blickwechsel, von den Anstaltsinsassen auf die Stadt und umgekehrt von den Stadtbewohnern auf die Anstalt. Jedem erscheint gerade der jeweils andere Raum als der verheißungsvolle. All diese Räume erschließen sich dem Leser allein durch den Blick von Alexandre Akim sowie anderer Anstaltsinsassen, die von Alexandre befragt werden. Was es mit dem Glück in Pierres und Louisens Ehe auf sich hat, steht dabei als Frage im Zentrum. Dass dieses Glück Schein ist, wird dem Fremden gleich zu Beginn der Erzählung mitgeteilt. Der Wächter warnt ihn: »[N]e vous fiez pas aux apparences«10, zugleich wird ihm schon prophezeit, dass auch er sich dem »spectacle du bonheur«11 nicht entziehen können werde. In der Tat erliegt Alexandre sehr schnell dem Zauber, der von Pierre und Louise ausgeht. Und der hospice-Älteste versucht vergebens mit dem Hinweis auf den lang währenden stillen Hass in dieser Beziehung dem Neuling Alexandre das idyllische Bild auszutreiben12. Alexandre lässt sich nicht so leicht vom Gegenteil überzeugen, versucht aber dem eklatanten Widerspruch zwischen seiner eigenen Vorstellung und der Aussage des hospice10 11 12
Ebd., S. 9. Ebd. »Écoute, lui dit le vieillard en le poussant dans un coin, tu t’en es déjà aperçu, le directeur et sa femme se haïssent. C’est une haine silencieuse, sans motif, un sentiment terrible qui bouleverse la maison et n’a besoin d’aucune violence pour s’exprimer.« (Ebd., S. 20).
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Ältesten auf den Grund zu gehen. So befragt er schließlich auch den dienstältesten Wächter. Dessen erschütternde Rede berichtet davon, dass unmittelbar nach der Hochzeit »etwas Schreckliches« passiert sei: »Tout était en ordre et cependant je savais déjà que quelque chose d’horrible s’était passé.«13 Was dieses »horrible« impliziert, bleibt ungesagt. Jedenfalls wird die Hochzeit des perfekten Paares nachträglich mit dem Schrecken in Verbindung gebracht. Das Ende von Alexandre Akim selbst wird dabei schon vorweggenommen: Dessen von Pierre und Louise arrangierte Hochzeit wird sich schließlich als Fest seiner Exekution entpuppen. Der Wärter schildert indessen das lange und grundlose Schweigen zwischen Pierre und Louise: Ils étaient assis à l’écart l’un de l’autre, ne se regardaient rien du tout. Il n’y avait rien à lire sur leur visage; seulement un air vide qui me fit détourner la tête. Oui, un air qui expliquait ce silence, morne et embrouillé, indifférent au malheur, sans acrimonie pour personne.14
Daraufhin folgt Alexandres befremdliche Schlussfolgerung: Mais ce que vous décrivez là, c’est le bonheur calme, quelque chose d’extraordinaire, le sentiment qui est au cœur de toute idylle, un véritable bonheur sans paroles. […] Eh bien, je crois que leur mariage a été une véritable idylle. J’ai rarement rencontré d’unions aussi parfaites.15
Schließlich wird Alexandre Zeuge davon, wie sich Louise von ihrem Mann zu Tode bedroht fühlt. »Il va me tuer«, mit diesen Worten sucht sie Schutz bei Alexandre. Daraufhin erscheint Pierre, »le visage plus pâle encore que celui de sa femme, un manteau jeté sur les épaules«. Als nichts weiter geschieht, kein Wortgefecht, keine Manifestation körperlicher Gewalt, fällt Louise in Ohnmacht. »Est-ce une idylle? Est-ce vraiment une idylle?«, diesmal wirft Pierre, gleich einem Spiegel, die Frage an Alexandre zurück. Dessen Antwort wird durch den einsetzenden Erzählerbericht aufgeschoben: Geschildert wird, wie die beiden Männer in feierlichem Lichtschein – »les lumières brillaient dans la maison. On eût dit une fête nocturne où les grappes de feu jetaient entre le plafond et le sol des fleurs épanouies«16 – Louise in einen Sessel betten. Erst in diesem vom Erzähler zugefügten Glanz ereignet sich dann Alexandres bestätigende Antwort, in der die Frage aber immer noch bestehen bleibt: »Une idylle? Oui, pourquoi pas?«17
13 14 15 16 17
Ebd., S. 37. Ebd., S. 38. Ebd., S. 40. Ebd., S. 44. Ebd.
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Die kommentierten Passagen zeigen, dass dem Text eine gleichsam perverse Logik zugrunde liegt: Je öfter das Wort ›Idylle‹ im Text ausgesprochen wird, desto unangebrachter erscheint es. Und dennoch wird der Leser gezwungen, genau dieses Wort als adäquate Bezeichnung für die geschilderte Wirklichkeit anzuerkennen, auch weil der Erzähler hier keine orientierende, übergeordnete Position bezüglich seines Protagonisten einnimmt und in Alexandres Rede das Wort widerhallt, unter dem die gesamte Erzählung steht. Vergleichbar oszillierend zwischen Glück und Terror erscheint auch das Leben in der Anstalt. Die dem hospice buchstäblich eingeschriebene Gastfreundschaft zeigt sich hier in janusköpfiger Gestalt. Erzähltechnisch wird dies durch abrupte Sprünge realisiert: »Bonjour, ne craignez rien, la maison vous est ouverte«18 – so wird Alexandre gleich zu Beginn von Louise begrüßt. Der biblische Wortlaut verbirgt nur notdürftig, dass es hier doch etwas zu befürchten gibt. Unmittelbar nach der Begrüßung wird er in einen riesigen Duschraum gedrängt. »Lavez-vous bien; ici, nous nous intéressons à l’hygiène.«19 Alexandre schreit, nachdem die Tür hinter ihm geschlossen wurde, dass er Hunger habe, und als zehn Duschen auf einmal losgehen, wird ihm so übel, dass er sein Bewusstsein vorübergehend verliert. Wenig später wird er von Pierre begrüßt: »Soyez le bienvenu parmi nous. J’espère que vous n’aurez pas à vous plaindre de votre séjour«. »Tout de suite après« – so heißt es übergangslos – wird er zur Zwangsarbeit in den Steinbruch geschickt.20 Nichtsdestoweniger erscheint die Anstalt als gerechtes und vernünftiges System: eine Mischung aus Strenge und Sanftheit, aus Freiheit und Zwang, die einem das Gefängnis als freien Raum erscheinen lässt und die Freiheit draußen zu einer Scheinfreiheit relativiert: »Naturellement, […] il est dur d’être privé de liberté. Mais est-on jamais libre? Peut-on faire ce qu’on veut? […] Chacun ici a sa prison, mais dans sa prison chacun est libre.«21 Und auch Alexandres Frage »Est-ce un privilège, est-ce une malédiction que de vivre à l’hospice?«22 bleibt unentschieden. »Privilège« und »malédiction« fallen zusammen, so auch am Ende der Erzählung, als Alexandre Elise, die Tochter des hospice-Ältesten heiraten soll,
18 19 20 21 22
Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 15. Ebd., S. 18f. Ebd., S. 27.
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deren Name sicherlich nicht zufällig anagrammatisch aus »Louise« hervorgeht.23 Mit der Hochzeit, so das Versprechen, werde Alexandre die Freiheit wiederfinden. Doch Alexandre unternimmt in der Nacht vor der Hochzeit einen Fluchtversuch, »pour y mettre fin«24: In diesem unbestimmten Pronomen klingt das Ungreifbare an, eben das unendliche Vexierspiel aus Schein und Wirklichkeit, in dem Alexandre gefangen ist und an das er nun durch die Hochzeit für immer gebunden werden soll. Alexandre bricht allerdings auf der Flucht in die Freiheit, von der unklar bleibt, wo sie beginnt, erschöpft zusammen. Er wird in die Idylle zurückgeführt; diese erweist sich als erbarmungslos gegen denjenigen, der immer an sie geglaubt hat und nichtsdestoweniger ihr Gesetz missachtet. Innerhalb dieser Logik ist es nur folgerichtig, dass seine Hochzeit zu seiner Exekution wird, auf der bis zuletzt ein feierlicher Glanz zu liegen scheint. Die Idylle wird in dieser Schlussszene nicht zerstört, vielmehr zerstört sie, zur Aufrechterhaltung ihres unerschütterlichen Gesetzes. So ist es nur konsequent, dass sich Louise nach der vollzogenen Exekution erhebt und ihren Pflichten als Herrin des hospice nachgeht: »[M]algré la mort et les larmes, aux reflets [ ! ] d’une foi inébranlable, elle [Louise] se leva pour remplir ses devoirs de maîtresse de maison.«25 – Mit diesem Schein, dem idyllischen Reflex, endet die Erzählung.
IV. Blanchot hat diese frühe Erzählung zunächst 1951, dann 1983 zusammen mit der ebenfalls 1935/36 verfassten Erzählung Le dernier mot herausgegeben und beide mit dem Titel Le ressassement éternel überschrieben. Der Ausgabe von 1983 ist ein Nachwort hinzugefügt, das den Titel Après coup trägt. Das Textensemble erscheint unter dem Titel Après coup précédé par Le ressassement éternel. Die beiden übergeordneten Titel Après coup und Le ressassement éternel deuten auf zwei komplexe, aus der Freud’schen Psychoanalyse bekannte Zeitfiguren – Nachträglichkeit und Wiederholungszwang –, die hier eng aufeinander bezogen sind und zeitlich das formulieren, was Wajsbrot mit der Spiegelgalerie bildlich gefasst hat. Was bleibt, ist in der Tat eine unendliche
23
24 25
Kofman leitet Louise aus lat. lux, lex ab, was, etymologisch fragwürdig, durch die Erzählung absolut gerechtfertigt scheint, vgl. Kofman, Paroles suffoquées, S. 25f. Ebd., S. 50. Blanchot, Après coup, S. 56.
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Reflexion von Vorgängigem und Nachträglichem in der Endlosschleife der Wiederholung. Eine Position der Nachträglichkeit erscheint problematisch angesichts einer endlosen Wiederholung, einer geschichtlichen Bewegung, die nie zur Ruhe kommt und die auch noch jede Nachträglichkeit durchkreuzt. Oder anders gewendet: Im Zeichen der endlosen Wiederholung gibt es keine Nachträglichkeit, die nicht selbst schon wieder dem Wiederholungszwang geschuldet wäre. Dieses Zeitgefüge problematisiert mithin schon immer, was im Nachwort Après coup der Erzählung L’Idylle scheinbar klärend hinzugefügt wird, nämlich die nachträgliche Verortung von L’Idylle in eine Vorzeitigkeit, die nun heißt: »d’avant Auschwitz«: »L’Idylle, récit d’avant Auschwitz […] À quelque date qu’il puisse être écrit, tout récit désormais sera d’avant Auschwitz.«26 In diesem Passus klingt nochmals der kategorische Imperativ an, den Blanchot schon 1949 am Ende der Erzählung Un récit? (später veröffentlicht als La folie du jour) formuliert hatte: »Un récit? Plus jamais de récit.«27 In Après coup wird diese Absage wiederholt. Es könne keine Erzählung über Auschwitz geben, weil jeder Erzählung das idyllische Gesetz innewohne. Selbst in der unglücklichsten Erzählung triumphiere noch das Glück des Erzählens. Zugleich aber publiziert Blanchot L’Idylle – Prototyp des récit –, nachdem er das Diktum »plus jamais de récit« schon längst ausgesprochen hat; er schreibt diese Erzählung ein in die Dynamik des »ressassement éternel«, von der fraglich ist, ob sie vor dem ›letzten Wort‹ Auschwitz Halt macht. Ähnlich ambivalent gestaltet sich auch Sarah Kofmans Auseinandersetzung mit der Idylle im Allgemeinen und mit Blanchots Idylle im Besonderen, die im Zentrum ihres 1987 veröffentlichten Essays Paroles suffoquées steht. Paroles suffoquées ist Kofmans erster philosophischer Versuch, sich der Vernichtung und deren traumatischen Folgen für ihr eigenes Leben anzunähern. Paroles suffoquées, das sind ihre Worte, die, das Gedenken suchend, im Gas ersticken, das ihren eigenen Vater getötet hat. Dass in diesem Kontext die Auseinandersetzung mit der Idylle steht, muss zunächst befremden. Jedoch: Der Leser von 1983, von 1987, von 2012 etc. kann nicht umhin, in L’Idylle Züge auszumachen, die an das Konzentrationslager gemahnen. Blanchot und Kofman gehen beide auf diese nachträglichen Assoziationen ein. So heißt es in Après coup :
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Ebd., S. 99. Erstmals in der Zeitschrift Empédocle 1949 mit dem Titel Un récit? veröffentlicht, dann 1971 bei Fata Morgana als La folie du jour.
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[D]ifficile, après coup, de n’y pas songer. Impossible de ne pas évoquer ces travaux dérisoires des camps concentrationnaires, quand ceux qui y sont condamnés transportent d’un endroit à l’autre, puis ramènent au point de départ, des montagnes de pierre, non pas pour la gloire de quelque pyramide, mais pour la ruine du travail, ainsi que des tristes travailleurs. Cela eut lieu à Auschwitz, cela eut lieu au Goulag.28
Und bei Kofman klingt derselbe Gedanke an, wenngleich sie ihn vorsichtiger formuliert: Lavez-vous bien, ici, nous nous intéressons à l’hygiène, lui dit-elle [Louise zu Alexandre Akim], tout en le poussant dans une vaste installation de douches – qui pourrait évoquer, en effet, d’autres douches sinistres.29
Blanchot spricht après coup vom unerklärlich prophetischen Charakter des Textes, im Modus der Vergangenheit eine schon vorhandene Zukunft verkündet zu haben.30 Es ist eine Prophezeiung, die nur und erst après coup ins Auge springt. Kofman folgt diesem Gedanken und nimmt dies zugleich zum Anlass, vehement der Möglichkeit zu widersprechen, Auschwitz zu antizipieren. »Un récit-fiction sur Auschwitz est insoutenable et cet événement ne saurait avoir été ›anticipé‹ par aucune littérature. Par exemple par ce récit, L’Idylle.«31 Freilich antizipiert L’Idylle nicht Auschwitz, das wäre nicht nur vermessen, das wäre grundsätzlich falsch. Wie anders kann aber dann begrifflich gefasst werden, was sich an dieser Stelle nachträglich aufdrängt, also après coup ins Auge springt?32 Was springt ins Auge? In der riesigen Spiegelgalerie ist es das Unfassbare, das Nie-Gegenwärtige, das einen von allen Seiten anschaut. In Freud’schen Begriffen ist es das Traumatische, das sich überhaupt erst in der späteren sprachlichen Umarbeitung manifestiert, ohne darin je wirklich gesagt zu werden. Es ist also, als wohne der Idylle selbst eine traumatische Dimension inne, die sich gerade in der Wiederholung immer wieder neu manifestiert und bis in die Realität von Auschwitz hinein reflektiert. Blanchots und Kofmans Überlegungen stehen dabei jenseits der Diskussion um die Repräsentierbarkeit der Vernichtung, aber es geht ihnen sehr wohl um die Frage, in welchem Verhältnis die Idylle und Auschwitz zueinander stehen. Worin der Unterschied in der Fragestellung besteht, wird beson-
28 29 30 31 32
Blanchot, Après coup, S. 95f. Kofman, Paroles suffoquées, S. 26. Vgl. Blanchot, Après coup, S. 94. Kofman, Paroles suffoquées, S. 22. Das Springende tritt im französischen Ausdruck deutlicher hervor als im deutschen ›nachträglich‹.
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ders deutlich, sobald man die Idylle, das eidyllion, nicht als Bild oder Abbild versteht, sondern im buchstäblichen Sinne des Ins-Auge-Springens, des reflet, der, wo er das Auge trifft, es zum Schauen auffordert und es zugleich blendet. Es ist an dieser Stelle nicht uninteressant zu erwähnen, dass Kofman in ihrem autobiographischen Text Rue Ordener, Rue Labat von 1994 das Wort ›Idylle‹ noch einmal aufgreift. Diesmal um ihre Beziehung zu mémé zu beschreiben, jener Frau, die an der Seite der leiblichen Mutter einen gewichtigen Platz einnimmt, gleichsam in die Leerstelle eingesetzt wird, die der deportierte Vater zurückgelassen hat.33 Die Mutter und ihre Kinder verdanken mémé ihr Überleben, aber das Überleben hat mit der irreparablen Entfremdung von der eigenen Mutter und vom Judentum einen hohen Preis für Sarah.34 Rue Ordener, Rue Labat zeugt davon, dass der Verlust und die traumatische Zerrissenheit zwischen mémé und der Mutter auch zum Zeitpunkt des Schreibens nicht überwunden sind, ja im Text fortgetragen werden. So wird Sarahs Wiederbegegnung mit mémé, nachdem die Mutter sie dieser gewaltsam entrissen hatte, als idyllique bezeichnet: Nos retrouvailles furent idylliques. Nous savions que nous avions peu de temps à demeurer ensemble. Malgré un arrière-fond d’angoisse, notre joie fut intense et pendant toute cette période, à peu près un mois, nous dormîmes dans le même lit, dans sa chambre, pour n’être plus, cette fois, séparées ni de jour ni de nuit.35
Der schillernde Charakter des Idyllischen tritt hier besonders deutlich zutage. Was zunächst als schiere Wiedergabe einer Verschmelzungsphantasie erscheint, erweist sich erst durch den Rückverweis auf Kofmans Auseinandersetzung mit der Idylle in Paroles suffoquées acht Jahre zuvor als kritische Analyse einer symbiotischen Konstruktion, in der sich kein Leben entwickeln kann. Und zugleich erscheint auch hier die Idylle als Ausdruck für jene Zone der Unentscheidbarkeit zwischen Glück und Schrecken, die bis an Auschwitz heranreicht.
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Mémé ist im Französischen geläufig für Oma, deutet aber in der Verdopplung der Silbe mé auch schon die Verdopplung des Mutterbezugs an. Zwischen mémé und Sarah entwickelt sich eine sehr enge affektive Bindung, die pathologische Züge der Einverleibung trägt. Da mémé Nicht-Jüdin ist, verleitet sie unter anderem Sarah dazu, sich nicht mehr an die jüdischen Speiseregeln zu halten, die im Elternhaus – zumal durch die Rolle des Vaters, der Rabbiner war – eine wichtige Rolle gespielt haben. Kofman, Rue Ordener, Rue Labat, Paris 1994, S. 79.
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V. Die Idylle liegt weder vor noch nach Auschwitz, sie ist in einer unendlichen Wiederkehr begriffen, die alle Bereiche und Zeiten zu durchqueren scheint. Das Lager als Idylle, das ist die Provokation, die sich hier notwendig anschließt und vor der jüngere Werke nicht zurückschrecken. Dabei geht es nicht um eine idyllische Erzählung über Auschwitz – wie sie zum Beispiel Spielbergs Melodrama Schindlers Liste darstellt – sondern darum, das Lager als Idylle zu übersetzen, es gleichsam als Idylle auszubuchstabieren. In exemplarischer Weise gelingt dies der Regisseurin Marceline Loridan-Ivens in ihrem autobiographischen Spielfilm La petite prairie aux bouleaux aus dem Jahre 2003. Der verfremdende französische Titel verweist präzise auf seinen Inhalt, lässt seine eigentliche Referenz aber erst après coup, nach der Vision des Films, erkennen. La petite prairie aux bouleaux bedeutet rückübersetzt ›die kleine Au von Birken‹, ›Birkenau‹. Die buchstäbliche Übertragung bringt dabei nichts anderes als eine Idylle hervor. Der Film erzählt von Myriam, einer Überlebenden, und ihrer Rückkehr nach Birkenau Jahrzehnte nach ihrer Deportation. Das riesige Gelände der Vernichtung verniedlichend als »petite prairie« zu bezeichnen, nimmt dabei nicht zuletzt in kritischer Weise die sprachliche Verschleierungstaktik der Nationalsozialisten wieder auf, ebenso wie die Problematik der Erinnerungsorte selbst, die dort, wo sie von Terror und Gewalt zeugen, selbst durchaus ›idyllisch‹ sind.36 Der idyllische Reflex trifft in der Spiegelgalerie der Literatur nicht zuletzt auch Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen, der Sarah Kofmans Formulierung »dans la fiction idyllique rien n’est vraiment malheureux«37 gleichsam einmal um die Achse spiegelt. Kertész stellt nicht die Frage nach dem Glück des idyllischen Erzählwerks, sondern die Frage, was dieses Glück ist, das nicht einmal vor dem Lager Halt macht: Denn sogar dort, dort bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnelte. Alle fragen mich nur nach Übeln, den ›Greueln‹: obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müßte ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen …38 36
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Erinnert sei in diesem Zusammenhang an vielkommentierte polemische Sätze Ruth Klügers über die Gedenkstätte Dachau: »Da war alles sauber und ordentlich […] Das Holz riecht frisch und harzig, über den geräumigen Appellplatz weht ein belebender Wind, und diese Baracken wirken fast einladend. Was kann einem da einfallen, man assoziiert eventuell eher Ferienlager als gefoltertes Leben.« (Ruth Klüger, weiter leben. Eine Jugend, Göttingen 1992, S. 78). Kofman, Paroles suffoquées, S. 39f. Imre Kertész, Roman eines Schicksallosen, Reinbek 1996, S. 287.
Idyllen
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Mit dieser Einsicht endet der Roman, der erzählt wird von einem, der immer noch einmal Glück gehabt hat, dem das Glück – Empfindung von Glück zu mancher Abendstunde im Schatten der Krematorien – zum Trauma wird, das nicht aufhört, sich als Idylle immer wieder neu zu manifestieren. Allein das Erzählen davon wird nun immer wieder aufgeschoben. Der récit, dem Blanchot und Kofman zufolge das Glück als Gesetz innewohnt, kann nun gerade davon nichts mehr sagen.
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Cécile Wajsbrot
Cécile Wajsbrot (Paris)
Die Bücher kommen aus anderen Büchern zur Welt
Das Wesen, in sich ungenügend, sucht sich nicht mit einem anderen zu verbinden, um eine Substanz der Integrität zu bilden. Das Bewußtsein des Ungenügens stammt aus seiner eigenen Infragestellung, die den Anderen oder einen anderen zum Vollzug benötigt. Alleine schließt sich das Wesen, schläft ein und beruhigt sich.1
Mit diesen Worten kommentiert Maurice Blanchot einen Teil des Werkes von Georges Bataille, wobei dieser Kommentar seinerseits einem Text von 1971 mit dem Titel La Communauté inavouable (Die nicht einzustehende Gemeinschaft) entstammt, in dem er verschiedene Typen von Gemeinschaften erforscht, die vom Kommunismus bis zur Gemeinschaft der Liebenden reicht. Zusammenleben. Zusammenlebenswissen. Bei der Gemeinschaft der Liebenden spricht er von Marguerite Duras, von jenem kurzen und mysteriösen, zugleich auch schneidenden Text, der den Titel La Maladie de la mort (Die Krankheit des Todes) trägt und vielleicht den ersten literarischen Text darstellt, der von Aids handelt, ohne noch die Krankheit beim Namen zu nennen. Von Bataille bis Duras durchquert Blanchot die Bücher und das Leben, umarmt beide mit derselben Bewegung, spinnt sie zusammen, so wie sie stets miteinander verwoben sind, denn die Bücher kommen aus anderen Büchern und dem Leben zur Welt, die Bücher kommen aus anderen Leben und aus dem Buch zur Welt. Die Krankheit des Todes beschreibt ein Wesen, das zur Liebe unfähig ist, das eine Frau auffordert, jeden Tag oder eigentlich jede Nacht zu kommen, um den Versuch zu unternehmen. Sie will gerne, aber gegen Geld. Er geht aus Gewohnheit vielleicht mit anderen Männern. Vor allem aber würde er gerne wissen, was das ist: lieben. Sie fragen, wie das Gefühl zu lieben eintreten könnte. Sie antwortet Ihnen: vielleicht aus einer plötzlichen Spalte in der Logik des Universums. Sie sagt: vielleicht aus einem Fehler. Sie sagt: niemals aus einem Wollen. Sie fragen: Könnte das Gefühl zu lieben noch durch andere Dinge eintreten? Sie flehen sie an, es zu sagen. Sie sagt: aus allem, aus einem Nachtvogelflug, aus einem Schlaf, aus dem Traum von einem Schlaf, aus der Annäherung an den Tod, aus einem Wort, aus einem Verbrechen, aus sich heraus, aus sich selbst heraus, urplötzlich, ohne daß man wüßte wie. 1
Alle Übersetzungen von Ottmar Ette.
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Die Dinge existieren zusammen in einer gewissen Harmonie, zumindest in einer Ordnung, in einer Logik, und plötzlich vollzieht sich ein Bruch, eine Erschütterung, eine Entgleisung des Gewöhnlichen, und da, im Intervall, im Zwischenraum, geschieht etwas. So ist das Leben, so ist die Literatur, alles folgt seinem Lauf, und eines Tages tritt die Überraschung – die Begegnung – ein, solange man ihr ein wenig Platz gibt, solange man ihr ein wenig Anerkennung zollt. Ein Vogelflug, ein Traum, ein Wort – das heißt etwas, das mit der Ausdehnung bricht. Eine Überraschung mit zwei Gesichtern, die vielleicht auch sehr wohl eine Bedrohung sein kann, so wie das Bild, das Bernard in The Waves (Die Wellen) von Virginia Woolf benutzt, das Hinausschwimmen in die Ausdehnung des Wassers, was der Annäherung an den Tod ähnelt, eine Bedrohung oder der Beginn einer Geschichte. Wie der Andere sein kann, zu sein scheint, eine Bedrohung für die Integrität oder dem Gefängnis des Seins entschlüpft, ein letzter Ausdruck des Selbst oder alles zusammen. Denn sind die Fäden erst einmal gewoben, heißt sie dann aufzulösen nicht, sich dem Risiko eines tragischen Endes auszusetzen, das William Wilson erreicht? Nach der Zusammenkunft mit seinem Homonym, in der Klasse und viel später im Erwachsenenleben, aus Zufall, nach der Verfolgung des einen durch den anderen, entscheidet William Wilson, der Erzähler der Geschichte, mit dieser Verfolgung im eigentlichen Sinne Schluss zu machen. Man vergleiche die letzte Seite. Ein breiter Spiegel – in meiner Verwirrung erschien mir dies zunächst so – stand genau dort, wo ich zuvor keine Spur davon gesehen hatte; und da ich voller Schrecken auf diesen Spiegel zuging, bewegte sich mein eigenes Bild, aber mit bleichem Gesicht und blutverschmiert, auf die Begegnung mit mir mit unsicherem Schritt zu. So ist mir das Ding erschienen, sagte ich, aber es war nicht so. Es war mein Gegner – es war Wilson, der sich vor mir befand in seiner Agonie […]. Kein Faden seiner Kleidung – keine Linie in seinem ganzen charaktervollen und so besonderen Gesicht –, der nicht der meinige, die nicht die meinige gewesen wäre; […] Ich hätte glauben können, daß ich selbst es war, der zu mir sprach, als er mir sagte: Du hast gewonnen, und ich unterliege. Doch von nun an bist auch Du tot – tot für die Welt, für den Himmel und für die Hoffnung! In mir existiertest Du – und sieh nun durch meinen Tod, sieh nun durch dieses Bild, welches das deinige ist, wie Du Dich selbst auf radikale Weise ermordet hast!
Ein realer Tod? Ein symbolischer Tod? Die Existenz einer Erzählung, die William Wilson als Erzähler besitzt, scheint anzuzeigen, dass es sich eher um eine Metapher handelt, ganz so wie die Worte des Opfers William Wilson. »In mir existiertest Du«, sagte er, und nicht, in mir lebtest Du. Aber was heißt leben, ohne zu existieren? Man kann sich den Mörder William Wilson vorstellen, der wie Peter Schlemihl in der Welt ohne seinen Schatten umher irrt. In mir existiertest Du, den anderen zu erreichen heißt, den einen zu errei-
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chen, sich selbst zu erreichen – die Grenzen sind nicht mehr so sicher, nicht so dicht, wie man glauben möchte, warum sollte man sonst so viele Kontrollen, so viele Hindernisse und Zöllner in Uniform schaffen, so viele Über-Bedeutungen einer Differenz? Victor Hugo im Vorwort zu seinen Contemplations (Kontemplationen): Niemand von uns hat die Ehre, ein Leben zu haben, das ihm gehört. Mein Leben ist das Ihre, Ihr Leben ist das meine, Sie leben, was ich lebe, das Schicksal ist ein einziges. Nehmen Sie also diesen Spiegel und betrachten Sie sich darin. Man klagt bisweilen über Schriftsteller, die ich sagen. Erzählen Sie uns von uns, schreit man sie an. Ach, wenn ich Ihnen von mir erzähle, dann erzähle ich von Ihnen. Wie sollten Sie dies nicht spüren? Ach, Du Tor, der Du glaubst, daß ich nicht Du bin!
Die wunderbare Abwandlung der Pronomen in dieser Passage zeigt es. Die menschliche Erfahrung ist zugleich einzigartig und universell. Gewiss, das Ich steht auf der Seite des schreibenden Dichters. Er sagt mein Leben, das meinige, er sagt: ich lebe, er spricht von den Schriftstellern, die ich sagen – so wie er. Gegenüber, auf der anderen Seite des Spiegels, eine Menschenmasse, die mit einem kollektiven Sie bezeichnet wird, eine Gemeinschaft, jene der Leser, die sich bisweilen entfernt, wenn sie protestiert – oder sich beklagt, das unbestimmte ›man‹ –, die glaubt, nicht wahrgenommen zu werden. Und dieses ›man‹ wird präziser, wird zu einem Wir – »Erzählen Sie uns von uns«, das Sie ist diesmal ein Sie der Höflichkeit, vielleicht des Respekts, aber vor allem der Distanzierung, und in der Wiederholung, »erzählen Sie uns von uns«, sieht man wohl, dass dieses Wir leer kreiselt, dass es gewiss eine Gesamtheit bildet, aber eine Gesamtheit, der etwas fehlt, oder eigentlich, der jemand fehlt, eben jener, dem sie sich noch widersetzen, jenes Ich, das sie nicht anerkennen, weil sie sich das Gesicht verhüllen, weil sie sich weigern, den Spiegel zu ergreifen, sich des Spiegels zu bemächtigen, den ihnen der Dichter hinhält. Warum fühlen Sie dies nicht? Und in der verzweifelten Anstrengung, sich verständlich zu machen und sich zu vereinigen – denn das wahre Wir setzt sich nicht aus einem Wir und einem Sie, sondern aus einem Ich und einem Du zusammen, aus einem einen und einem anderen – entschlüpft der Ausruf »Ach, Du Tor, der Du glaubst, dass ich nicht Du bin«, ein konstruierter Ausruf, gewiss, es handelt sich um einen Alexandriner, und überdies noch um einen regelmäßigen, aber jegliche Schreibweise ist Konstruktion, selbst jene eines Vorworts, vor allem jene eines Vorworts, die Inszenierung einer Sammlung, die ihrerseits eine Sammlung ist mit ihrer Struktur beiderseits des Abgrunds, dem Tod von Léopoldine, mit ihrem dem Anfang des vierten Buches eingeschriebenen Datum, am 4. September 1853, und eine einfache Linie mit Pünktchen, der Tod, der ein Leben suspendiert, mit den Daten der Komposition der Gedichte, die oft verfälscht wurden, damit das,
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was zuvor geschrieben worden war, als danach geschrieben erschiene, und nach einem anderen Echo hallt. Der Ausruf »Ach, Du Tor, der Du glaubst, dass ich nicht Du bin« – konstruiert, gewiss, aber so schön und auf jenem Wort endend – Du. Denn die menschliche Erfahrung, zugleich einzigartig und universell, ist teilbar, und die Literatur ist der Ort dieses Teilens. Jeder Schriftsteller ist zuallererst ein Leser, weil man das Lesen vor dem Schreiben lernt, aber auch, weil Bücher aus anderen Büchern zur Welt kommen. Jeder Erzähltext enthält andere Erzähltexte – die Geschichte der Literatur ähnelt dem langsamen Weben der Penelope, die Tag um Tag, Jahr um Jahr ihr Werk erschafft, abschafft und neu schafft. Aber anders als das Webstück der Penelope, das nach drei Jahren unter dem Zwang der Dinge zu einem Ende kam, wird das Werk der Literatur niemals abgeschlossen und wohl auch niemals völlig abgeschafft. Sie bildet eine Art unermesslicher Spiegelgalerie, in der die Spiegelungen ins Unendliche auf andere Spiegelungen verweisen. Wie sollte man unter diesen Bedingungen einen Anfang oder ein Ende ausmachen? Selbst der erste Schriftzug ist niemals wirklich der erste. Es existiert immer etwas davor. Selbst Aischylos, der – wie Engels formulierte – Vater der Tragödie, den Kadaré in seinem schönen Buch mit dem Titel Eschyle ou l’éternel perdant (Aischylos oder der ewige Verlierer) zitierte, gab an, sich selbst »von den Brotkrumen des Festgelages von Homer« zu ernähren, ja hätte dies auf jeden Fall gesagt, und andere vor ihm hatten zweifellos Texte geschrieben, die man deutlich als Tragödien bezeichnen könnte, wenn sie auf uns gekommen wären, von denen man aber jede Spur verloren hat. »Die griechische Tragödie hat ihre Entwürfe gehabt, die ihrerseits von noch älteren Entwürfen inspiriert wurden, und so weiter und so fort.« In der Literatur gibt es keinen Urgrund, es gibt keinen ersten, es gibt keinen letzten, aber stets einen Anfang vor dem Anfang und ein Ende nach dem Ende. Die Bücher kommen aus anderen Büchern zur Welt. Mary Shelley erzählte die Geschichte der Geburt von Frankenstein – der Spaziergänge am Ufer des Genfer Sees mit Percy Shelley und Lord Byron, der abendlichen Gespräche und der Idee, dass jeder doch eine phantastische Geschichte schreiben könnte. Ein Buch, das aus Gesprächen geboren wird, aus einem Austausch, aus einer Wette – und in diesem Falle wird uns davon berichtet, aber von wie vielen Fällen wissen wir nichts? Was wissen wir von den Geburtsbedingungen eines Buches, vom Anteil des Zufalls und der Notwendigkeit, von Begegnungen, Beobachtungen und vor allem von Unfällen? Und könnte der Autor selbst die Anzahl dieser Augenblicke zählen, der Funken, der Vogelflüge und der Träume, die zu diesem unglaublichen Objekt führen, das ein Buch ist, von dem bloß ein Teil dem Bewusstsein zugänglich ist?
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Im Vorwort zu Peter Ibbetson, einem Roman, den er selbst übersetzt hat, berichtet Raymond Queneau von der Textgenese. Man erzählt, daß Du Maurier eines Abends, beim Spaziergang mit Henry James, diesem ein Romansujet nahelegte. James lehnte das Angebot ab, aber ermutigte seinerseits Du Maurier. Der machte sich an die Arbeit, und 1891 erschien Peter Ibbetson, der zu einem großen Erfolg wurde.
Von dieser Szene berichtet Dennis Taylor, der amerikanische Komponist und Schöpfer einer Oper, die von dem Roman inspiriert wurde und sich ebenfalls Peter Ibbetson nennt. Sie wird auch von Henry Miller in The Books of My Life erzählt. Und wird schließlich, diesmal aus dem Blickwinkel der Fiktion, in dem aus dem Jahre 2004 stammenden Roman von David Lodge Author, Author beschrieben – wo Henry James die Hauptfigur ist. 1891 – 2004. Die Bücher kommen aus anderen Büchern zur Welt. Ihr Leben erstreckt sich weit über sie selbst und ihre Autoren hinaus, sie sind da und ihre Präsenz wird eines Tages von einem Leser erwähnt, der seinerseits Schriftsteller wird, von einem Filmschaffenden – wie Henry Hathaway, der 1935 den Film Peter Ibbetson drehte, einen Film, der André Breton wie eine Erscheinung vorkam, so dass er ihn zwei Jahre später in L’Amour fou als »wundervoll« bezeichnete –, die Bücher sind da, stehen jedermann zur Verfügung, warten wie Dornröschen darauf, vom Prinzen aus dem Schlaf gerissen und wachgeküsst zu werden. So weckt sie jede Lektüre auf, ruft sie, insgeheim und in der Einsamkeit des menschlichen Seins – da wir beim Lesen allein sind und die Bücher folglich zu uns sprechen oder uns vielmehr die Geschichten und Symbole zuraunen, die wir zu dechiffrieren suchen –, oder lässt sie bei Tag wieder erscheinen, an die Oberfläche des Wassers gelangen, wo sie wieder für alle sichtbar werden, bevor sie in die Unendlichkeit der Meere abtauchen. Wenn ich bei Peter Ibbetson, seinem Werdegang und der von ihm geschaffenen Genealogie verweile, dann nicht nur, um die beispielhafte Verkettung von Fakten und Ideen, von Imaginationen abzuschreiten, sondern auch, weil in dem, was Peter Ibbetson erzählt, etwas danach drängt, über die unerwarteten Modalitäten eines Zusammenlebens nachzudenken. Peter Ibbetson ruft gleich zu Beginn den Charme jenes Paris vor Haussmann, vor Napoléon III. und vor allem jenes Viertels wach, das man heute das sechzehnte Arrondissement nennt, mit Auteuil, Passy und dem Bois de Boulogne. Das Haus, in dem der Erzähler als kleiner Junge wohnt, ist von einem schönen Garten umgeben, der sich seinerseits auf andere Gärten öffnet, und der Junge entdeckt eine Welt von Bäumen und Blumen, von Toren und Gittern, die Geheimnisse und Rätsel verbergen, die niemals unüberwindlich sind und wo sich alles in der Kontinuität des Vorhergehenden wie-
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derfindet. Diese verzauberte Welt, die zum Zeitpunkt der Niederschrift des Romans verschwand, ist wie die musikalische Exposition eines Motivs, dessen allmähliche Entfaltung, sehen wir von anderem einmal ab, die Gesamtheit des Romans darstellt: die Enthüllung der Existenz einer Welt, die parallel zu der unseren verläuft und mit der sie Verbindungsstücke unterhält, solange man darin initiiert ist. »Ich befand mich in der Gesellschaft einer Dame mit weißen Haaren und jungem Gesicht – einem sehr jungen und sehr schönen Gesicht.« Beim Erwachen ist das Rätsel des Traumes komplett, selbst wenn sich der Traum in Rekurrenzen ergeht, doch wird die Erklärung eines Tages von jenem Bild ausgehen, welches in sich die Zeit enthält – das Vergangene, das Gegenwärtige, das Künftige miteinander vermischend. Nach sieben Jahren des Glücks in Paris muss Pierre Pasquier aufgrund des Todes seines Vaters, unter die Aufsicht eines Verwandten seiner Mutter, des Colonel Ibbetson, gestellt, nach London zurückkehren, dabei seinen Namen ändern und fortan Peter Ibbetson heißen. Dunkle Jahre sind es, die er dank einer einzigen Tröstung übersteht. »Ich besaß jedoch eine innere Welt, die mir persönlich gehörte und deren Hauptstadt Passy war.« So ist die Welt aus zu überschreitenden Schwellen gemacht, in den Städten und in den Wäldern wie bei den Menschen, aber der natürliche Zustand der Tore ist ihr Geschlossensein, und der Sinn des Lebens besteht darin zu lernen, wie man sie öffnet. Dieser Lernprozess gilt nicht nur für das Zugehen auf den Anderen in einer Dimension, die man als horizontal, in jedem Falle als räumlich bezeichnen könnte, sondern auch für das Durchqueren der Zeit. Einige Zeit, nachdem er durch die Erscheinung der Herzogin von Towers zunächst an einem Abend in London, dann im Hotel in Paris, nach einem flüchtigen Blick auf sie im Park von Saint-Cloud, zutiefst bewegt wurde, schläft Peter ein und träumt von den Orten seiner Kindheit. Der Zugang zum Gitter der Avenue wird ihm von Zwergen verwehrt. Dann erscheint die Herzogin von Towers und reicht ihm die Hand. »Haben Sie keine Angst«, sagt sie, »diese kleinen Wesen existieren nicht.« Es beginnt ein anderes Leben, in dem der Erzähler seine Vergangenheit im Traum unversehrt wiederfindet, wenn auch unter der Bedingung, nichts zu berühren. Die Herzogin von Towers lehrt ihn, wie man »wahr träumt« – dies ist ihr Ausdruck dafür. Im wahren Leben oder vielmehr im äußeren Leben wird er schließlich der Herzogin von Towers, die er immer nur flüchtig gesehen hatte und die er nur aus dem wahren Traum kannte, vorgestellt, um bald herauszufinden, dass sie das kleine Mädchen ist, mit welchem er in Passy spielte, wobei sich die beiden in einem schönen Dialog den gemeinsamen Traum erzählen, den sie träumten und in dem sie sich begegneten. »Träumen Sie niemals«, folgert sie, »das darf nicht sein.« Denn die Überschreitungen von Schwellen müssen teuer bezahlt wer-
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den – Orpheus hat uns gelehrt, dass er aus der Unterwelt nicht gemeinsam mit Eurydike zurückkehren kann. Die Ordnung der Dinge muss unversehrt, zumindest ihr Schein gewahrt bleiben. Die Gefahr ist zu groß. Aber Peter Ibbetson erträgt sein monotones Leben immer weniger. »Denn jetzt waren die Träume – die wahren Träume – für mich zur einzigen Realität geworden.« Was dann folgt, ist tragisch. Als er erfährt, dass er der uneheliche Sohn von Colonel Ibbetson ist und welchen Schaden dieser seiner Familie zugefügt hat, tötet Peter den, der sein Vater ist. Aus dem Gefängnis schreibt er einen Brief an die Herzogin, die er seit ihrer Begegnung, bei der sie sich wiedererkannten, nicht mehr wiedersah, einen Brief, in dem er von seinem Verbrechen und seiner Verurteilung zum Tode berichtet. Die Herzogin lässt den Richterspruch in eine lebenslange Gefängnisstrafe umwandeln, und von nun an teilt Peter sein Leben zwischen dem Tag im Gefängnis und der Nacht im Traum, wo er die Herzogin wiederfindet, die ihn ebenso an die Orte ihrer Vergangenheit führt wie er sie an die seinen. Aber wenn das Verbrechen die prosaischen Gründe des äußeren Lebens besitzt, wie sollte man darin dann nicht die unvermeidliche Konsequenz der Transgression, der Überschreitung der Schwelle, der Tore aus Elfenbein oder Horn sehen, von denen Nerval zu Beginn von Aurélia spricht, wie sollte man darin nicht die Abschaffung jeglicher Differenz von Raum und Zeit, die Zusammenlegung dessen, was einander entgegengesetzt ist, erblicken? Die Geschichte hört hier nicht auf – ebensowenig die Kette der Werke, deren arbiträrer Anfang auf 1891 festzulegen wäre, als der Roman Peter Ibbetson erschien; doch welche Bücher hatte George du Maurier gelesen, damit seine Erzählung diese Ufer erreichen konnte? 2009 erscheint ein Essay von Hélène Cixous unter dem Titel Philippines, der von einem Buch spricht oder vielmehr eine Serie konzentrischer Kreise um dieses Buch beschreibt. »Jeder von uns hat ein geheimes Buch«, sagt Hélène Cixous, und ihres ist Peter Ibbetson. Plötzlich hellen sich in diesem Licht bestimmte Dinge im Werk von Hélène Cixous auf, etwa die Präsenz von Traumberichten, die ihre Schriften durchziehen, ja selbst das Buch Rêve je te dis (Traum sage ich dir), das solche Berichte ausschließlich enthält. Könnte man sagen, dass Peter Ibbetson ein Roman ist und Philippines ein Essay, der aus dessen Lektüre geboren wurde? Die Schwellen, die Hélène Cixous überschreitet, sind Tore aus Elfenbein oder aus Horn, und Philippines ist im selben Maße ein Spaziergang durch die Orte der Vergangenheit der Erzählerin – in diesem Falle Algeriens –, die sie uns wie eine Herzogin von Towers durchqueren lässt, Türen und Fenster öffnet, die Gitter öffnet, damit wir eintreten und alles sehen können, so wie der Band auch einen traumhaften Spaziergang durch die realen oder wieder aufgesuchten Orte und durch die Orte und Verbindungswege des Buches
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Peter Ibbetson darstellt. So dass die überschrittene Schwelle wohl auch die Grenze zwischen den literarischen Gattungen ist, Roman/Essay, Fiktion/ Nicht-Fiktion, gelebt und gelesen, alles fügt sich in einem riesigen Kessel zusammen, aus dem sich das Schreiben bedient. Hélène Cixous liefert den metaphorischen Schlüssel zu Peter Ibbetson, der wie der Schlüssel von Alice endlich die richtige Größe besitzt, die es erlaubt, das Tor zum Wunderland aufzuschließen. Ich lebe in der Hypothese, dass es einen einzigen riesigen Garten gibt, vom Anfang der Zeiten an, dessen kreisförmige Einfriedung die Gesamtheit G der Gärten enthält, die in den Zeiten der Zeiten kreisen und sich hier und dort im Augenblick eines fremden Gartens niederlassen.
Im Augenblick eines fremden Gartens, dies bedeutet nicht, dass Raum und Zeit sich vereinigten, sondern dass der Raum die Zeit ist. Die Geschichte hört niemals auf – die Bücher kommen aus anderen Büchern zur Welt, seien sie genannt oder verschwiegen, diesseits oder jenseits der Schwelle des Bewusstseins. Der Ursprung des französischen Romans oder, sagen wir, sein arbiträrer Anfang ist der Roman von Chrétien de Troyes, die Gralsgeschichte, die man auch unter dem Titel Parzival kennt. Über ein gutes Jahrzehnt zwischen 1181 und 1191 entstanden, erzählt der Roman die ritterliche Bildungsgeschichte Parzivals mit Hilfe einer Serie von Szenen, die oft rätselhaft bleiben. So etwa die Prozession des Grals, an der Parzival schweigend teilnimmt und die, wenn er die Bedeutung des Zuges erfragt hätte – ein junger Mann mit einer Lanze, an deren Ende ein Blutstropfen perlt, zwei andere, die Leuchter tragen, und schließlich ein Mädchen, das einen goldenen, mit kostbaren Steinen besetzten Gral trägt, der das Zimmer erhellt –, wenn er also die Bedeutung des Zuges erfragt hätte, dann hätte er seinen Gast, den Fischerkönig, gerettet. Indem er aber schweigt, führt er die Bewohner des Schlosses in den Ruin, doch rettet er die Literatur und schafft den Roman, mit seinem Mysterium, seinen Lücken, seinem Schweigen, das sich mit dem ursprünglichen Schweigen Parzivals noch vergrößert. Hätte Parzival nicht den Gral entschwinden lassen, so hätte es keine Suche gegeben, keine Romane, so hätte es nicht den Roman gegeben, nicht diese Texte, die im Verlauf des dreizehnten Jahrhunderts aufeinander folgen, mit unterschiedlichen Autoren, die einen einzigen Namen tragen oder anonym bleiben und unermüdlich diese Geschichte verfolgen, wobei sie das Schweigen vergrößern, die Erzählungen variieren, um sie mit dem Zyklus von Lancelot zu vereinigen, wobei sie schließlich das erschaffen, was man als das Bonner Manuskript bezeichnet, acht Romane, die man unter dem generischen Titel des Gralsromans vereinigt hat.
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Cécile Wajsbrot
Wer wenig aussät, erntet auch wenig. Wer eine schöne Ernte wünscht, der wirft seine Aussaat auf einen so guten Boden, daß Gott sie ihm zweihundertfach vergilt, denn auf Boden, der nichts wert ist, trocknet und verkommt auch die beste Aussaat. Hier läßt Chrétien einen Roman, den er angefangen, zu Samen werden und sät ihn an so gutem Ort, daß dies nicht ohne Gewinn sein kann.
Jetzt ist alles gesagt, die Bücher kommen aus anderen Büchern zur Welt, jeder Text, jedes Wort ist eine ins Meer geworfene Flaschenpost, deren sich jemand eines Tages bemächtigt.*
* Aus dem Französischen von Ottmar Ette
Vom Zusammenleben junger Migranten in der Schweiz
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Joseph Jurt (Basel)
Vom Zusammenleben junger Migranten in der Schweiz
Der vorliegende Sammelband gilt den Wissensformen des Zusammenlebens. Eine wichtige Wissensform über die gesellschaftliche Realität ist zweifellos die Literatur; ich denke, es handelt sich dabei um die komplexeste Wissensform, die in einer dichten, persönlichen Weise etwas zum Ausdruck bringt, das nicht nur persönlich ist. Jean-Jacques Rousseau hat das in lapidarer Form am Anfang seiner Confessions zum Ausdruck gebracht. »Je sens mon cœur et je connais les hommes.« Wenn man die Situation der jungen Migranten in der Schweiz, die wir Secondos/Secondas nennen, wenn man ihr Zusammenleben mit den Einheimischen beleuchten will, kann man sich sehr gut auf literarische Zeugnisse stützen, oder auch auf filmische. Auch Schweizer Autoren haben dieses Zusammenleben – relativ spät – thematisiert. Es gibt vor allem auch eine bemerkenswerte deutschsprachige Literatur von Secondas und Secondos in der Schweiz. Ich habe darüber schon an einer früheren Tagung gesprochen. Ich möchte mich nicht wiederholen.1 Ich stütze mich hier auf eine andere Wissensform, auf wissenschaftliche Untersuchungen, die ähnlich wie die Literatur von einer libido sciendi getragen sind und wie die Literatur zu einfache Vorstellungen, zu stereotype Ansichten differenzieren oder in Frage stellen. 1
Joseph Jurt, »Die Literatur der Secondos/Secondas in der Schweiz«, in: Wolfgang Asholt/Marie-Claire Hoock-Demarle/Linda Koiran/Katja Schubert (Hrsg.), Littérature(s) sans domicile fixe. Literatur(en) ohne festen Wohnsitz. Tübingen 2010, S. 145–160; zur Migrationsliteratur in Deutschland: Ders., »Heimat-, Exil-, Migrationsliteratur«, in: Rolf Günter Renner/Marisa Siguan (Hrsg.), Selbstbild und Fremdbild. Aspekte wechselseitiger Rezeption in der Literatur Deutschlands und Spaniens, Madrid 1999, S. 208–232; gekürzte Fassung: Ders., »Die Fremde als Metapher. Zur Literatur von Ausländern in Deutschland«, in: Vittoria Borsò (Hrsg.), Moderne(n) der Jahrhundertwenden. Spuren der Moderne(n) in Kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2000, S. 261–282; als Fallstudie: Ders., »Die Fremde als Verlust, die Fremde als Gewinn. Zu José F. A. Olivers Lyrik«, in: Thomas Keller/Freddy Raphaël (Hrsg.), Lebensgeschichten, Exil, Migration. Récits de vie, exil, migration, Berlin 2006, S. 223–250. Martina Kamm, Bettina Spoerri, Daniel Rothenbühler, Gianni D’Amato, Diskurse in die Weite. Kosmopolitische Räume in den Literaturen der Schweiz, Zürich 2010.
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I.
Joseph Jurt
Ein Einwanderungsland
Die Schweiz ist ein Einwanderungsland. Der Bestand der ständigen ausländischen Wohnbevölkerung betrug 2009 1,8 Millionen Personen. Das sind 22, 9 % der Gesamtbevölkerung. Nur Luxemburg weist in Europa einen höheren Ausländeranteil auf. Jeder vierte Arbeitnehmer in der Schweiz ist Ausländer.2 Die größte Ausländer-Gemeinschaft stellen 2009 die Italiener dar (289.000). An zweiter Stelle folgen die Deutschen (250 000), mit einer Zuwachsrate von 7,3 % im letzten Jahr, dann die Portugiesen (205 000), die Serben (149 000) und schließlich die Türken (71 000). Jeder dritte Bewohner der Schweiz ist aus dem Ausland eingewandert oder ist Nachkomme von Migranten. Diese Entwicklung ist relativ neu. Früher war die Schweiz ein klassisches Auswanderungsland. Die Einwanderungswelle begann vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg. Wenn die Schweiz bereits 1910 einen Ausländeranteil von 14,7 % auswies, so ging dieser Anteil sukzessive zurück. Der Ausländeranteil stieg dann von 6,1 % im Jahre 1950 auf 17,2 % 1970 und beträgt heute, wie gesagt, mehr als 22 %. Ab den 1960er Jahren erkannten Behörden und Wirtschaft, dass der Bedarf an ausländischen Arbeitskräften nicht bloß ein konjunkturelles, sondern ein strukturelles Phänomen darstellt. Deshalb wandte man sich vom Rotationsprinzip ab und orientierte sich in Richtung einer auf Integration und Assimilation ausgerichteten Politik. Man dachte darüber nach, wie das Zusammenleben von Einheimischen und Migranten, die nicht mehr bloß Kurzaufenthalter waren, zu organisieren sei. Wenn sich das Bruttosozialprodukt pro Einwohner in der Schweiz zwischen 1950 und 1973 fast verdoppelt hat, so vor allem dank dem Rückgriff auf ausländische Arbeitskräfte. Aufgrund ihrer Sozialstruktur (vor allem jüngere, arbeitsfähige Altersgruppen) verursachten sie für den Staat geringe Kosten. Die Ausbildung ging zu Lasten des Herkunftslandes. Die Schweizer Volkswirtschaft profitiert in hohem Maße von den dort lebenden Ausländern/-innen.3 Das wird oft verkannt.
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Im OECD-Raum ist die Zahl der permanenten Immigranten im Jahr 2006 um 5 % gestiegen. In Deutschland nahm jedoch die Zahl der Immigranten im selben Jahr um 10 % ab und in Österreich um 18 %. In der Schweiz stieg 2006 die Zahl der Immigranten um 10 %. Relativ waren die Zuzüge dreimal so hoch wie im OECDDurchschnitt. Mit einem Anteil der im Ausland geborenen Bevölkerung von 24 % nimmt die Schweiz eine Spitzenposition ein (nach Ug, »Einwanderung löst aktuelle Probleme«, Neue Zürcher Zeitung, 11. September 2008, S. 25). Eduard Gnesa, Neue Zürcher Zeitung, 6. Februar 2003.
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Wenn die ausländischen Arbeitskräfte sehr oft bei Schweizern verpönte Stellen besetzten, so wurden sie doch von jenen, die den sozialen Aufstieg nicht geschafft hatten (den sogenannten Modernisierungsverlierern), als Rivalen betrachtet. Seit den 1960er Jahren manifestierte sich in gewissen Kreisen der Schweiz eine diffuse ausländerfeindliche Tendenz. Bei Kantonsund eidgenössischen Wahlen traten Listen gegen die sogenannte Überfremdung auf. Rechte Gruppen außerhalb der traditionellen Parteien machten das Thema zu ihrem Zugpferd. In den 1990er Jahren übernahm eine traditionelle Partei, die Schweizerische Volkspartei (SVP), das Erbe der Überfremdungsbewegung.4 Zwischen 1965 und 1988 wurden sechs Volksbegehren lanciert, die alle die Zahl der Ausländer plafonieren wollten. Alle diese Initiativen wurden vom Volk verworfen. Über alle Parteigrenzen hinweg ist man sich der Notwendigkeit der Integration bewusst.5 Im November 2006 stand das Thema als Hauptpunkt auf der Tagesordnung der Gespräche der Schweizer Regierungsparteien. Das erklärt sich aus der Einsicht, dass viele soziale Probleme oft mit Integrationsdefiziten der Migrationsbevölkerung verknüpft sind. Eingewanderte sind in vielen sozialen Belangen schlechter gestellt. Ausländische Arbeitskräfte verdienen oft weniger als schweizerische, stehen häufiger in prekären Arbeitsverhältnissen und sind doppelt so häufig von Erwerbslosigkeit betroffen (Die Arbeitslosenquote der ausländischen Erwerbsbevölkerung betrug 2009 7,2 % und lag somit deutlich über jener der Schweizer [3,1 %]). Es gibt allerdings große Unterschiede zwischen den einzelnen Kategorien von Ausländern. In gewissen Bereichen übertrifft die wirtschaftliche und soziale Stellung »west- und nordländischer« Zugewanderter diejenige der Schweizer.6 Nachdem das liberale Modell der Integrationspolitik, die auf Eigenverantwortung und freiwilligem Engagement beruhte, nicht die erhofften Resultate zeitigte, setzte man ab Mitte der 1990er Jahre auf eine aktive Integrationspolitik auf der Basis eines eigenen in die Verfassung eingeführten ›Integrationsartikels‹. Unterschieden wird dabei zwischen drei Säulen der Integrationspolitik: die strukturelle Integration (Erziehungs- und Bildungswesen, Sozialwerke), die politische Integration (politische Partizipation, Einbürgerung) und die kulturelle Integration (Freizeitbereich). Mit Blick auf die Migranten bedeutet dies nach Simone Prodolliet, »dass sowohl die Zugewan4
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Siehe dazu Gianni D’Amato/Damir Skenderovic, Mit dem Fremden politisieren. Rechtspopulismus und Migrationspolitik in der Schweiz, Zürich 2008. Simone Prodolliet, »›Integration‹ als Zauberformel«, Widerspruch, Nr. 51, 2006, S. 85–94. Ebd., S. 86.
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Joseph Jurt
derten sich darum bemühen, sich in die schweizerische Gesellschaft zu integrieren, als auch die Einheimischen gewillt sind, Offenheit, Respekt und Anerkennung gegenüber Eingewanderten zu praktizieren«.7
II.
Die Secondos/Secondas
Das Bevölkerungswachstum in der Schweiz geht fast ausschließlich auf die ausländischen Mitbürger zurück, bei denen man einen Geburtenüberschuss von 25 % feststellen kann. Die durchschnittliche Geburtenziffer der ausländischen Frauen beträgt 1,9 Kinder, die der Schweizerinnen bloß 1,3. 25 % der Kinder unter sechs Jahren sind Ausländer, in den fünf Großstädten sind es gar 45 %. Ein gutes Fünftel der Ausländer (21,4 %) sind in der Schweiz geboren, zählen zur zweiten oder zur dritten Generation. Bei der italienischen und türkischen Bevölkerung sind sogar 30 % in der Schweiz geboren. Die Kinder von Ausländern, die schon in der Schweiz geboren sind, werden Secondos bzw. Secondas genannt, ein Begriff, der nur in der Schweiz gebräuchlich ist. Die Secondos/Secondas sind aber von ihrer Nationalität her nicht notwendigerweise Ausländer, fast die Hälfte besitzt den Schweizer Pass. Es handelt sich nicht um einen pejorativen Begriff, sondern um einen, der von den Vertretern selber verwendet wird. So findet man im Internet ein »Netzwerk Secondo Informationsplattform für die Zweite Generation« (http://www.secondo.net) sowie »Second@s Plus – politisch engagierte Secondas« (http://www.secondos-plus.ch/), ein Netzwerk, das sich jetzt auch entschieden gegen eine restriktive Einbürgerungspraxis engagiert. Die zweite Generation ist sprachlich voll integriert, sie lebt in der Kultur ihrer Eltern und Großeltern und in der Kultur des Landes, in dem sie wohnt. Die unterschiedlichen Erwartungen schaffen oft ein Dilemma, das die ansässigen Einheimischen bisweilen schwer verstehen. Secondo ist keine soziologische Kategorie, sondern ein von Italienern und Spaniern der zweiten Generation selber gewählter Begriff.8 Gemäß einer Untersuchung in einer Zürcher Realschulklasse nehmen auch kosovo-albanische Jugendliche gerne diese Bezeichnung an, weil sie sich dadurch mit den besser akzeptierten Italienern gleichsetzen können. Eine einheitliche oder verbindliche Definition des Begriffs Secondo oder Seconda gibt es nicht. Im öffentlichen Bewusstsein dient er als Sammelbegriff für Kinder von Einwanderern, ungeachtet dessen, ob sie in der Schweiz ge7 8
Ebd., S. 88f. Neue Luzerner Zeitung, 13. Mai 2003.
Vom Zusammenleben junger Migranten in der Schweiz
167
boren worden sind oder nicht. Andere grenzen den Begriff stärker ein und meinen damit nur die Kinder der Einwanderer aus den sechziger und siebziger Jahren. Aufgrund dieser diffusen Begrifflichkeit wird in Fachkreisen die Bezeichnung ›Zweite Generation‹ bevorzugt, die auch das Schweizer Bundesamt für Statistik (BfS) gebraucht. Demnach handelt es sich um Personen, welche als Kinder von Immigranten und Immigrantinnen in der Schweiz geboren wurden – unabhängig davon, ob sie in der Zwischenzeit das Schweizer Staatsbürgerrecht erworben haben oder nicht. Im Rahmen der letzten Volkszählung 2000 konnte die Zahl der so definierten Secondos/ Secondas auf knapp eine halbe Million Personen festgelegt werden, was rund sieben Prozent der Gesamtbevölkerung der Schweiz ausmacht. Von diesen wiederum ist rund ein Drittel, etwa 170 000 Personen, eingebürgert.9 Barbara Hauser-Suess, die Kommunkationsbeauftragte des Bundesamtes für Migration, weist zu Recht darauf hin, dass die statistische Orientierung am Geburtsort integrationspolitisch nicht relevant ist: Tatsächlich ist […] nicht ersichtlich, worin beispielsweise der Unterschied zwischen einem in der Schweiz geborenen Kind kosovo-albanischer Eltern und einem im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern aus dem Kosovo in die Schweiz gezogenen Kind besteht. Beide werden ihre Hauptsozialisierung in der Schweiz erleben und auf die gleichen (Integrations-)Herausforderungen stoßen, ungeachtet dessen, dass der Eine statistisch der zweiten, der Andere hingegen der ersten Generation zugerechnet wird.10
Das Faktum der Geburt in unterschiedlichen Ländern ist nach derselben Autorin für eine erfolgreiche Integration zweitrangig. Dass Personen der zweiten Generation hinsichtlich Bildungs- und Berufserfolg, Gesundheit, Wohnsituation oder Straffälligkeit ähnliche Werte wie gleichaltrige Schweizerinnen und Schweizer erreichten, habe vielmehr mit der konkreten familiären Situation und mit dem sozioökonomischen Hintergrund des Haushalts zu tun. Wie die meisten Ausländerinnen und Ausländer leben auch die Secondos/Secondas vorwiegend in urbanen Kontexten. Es müsse vor allem zwischen verschiedenen Einwanderungsphasen und zwischen den unterschiedlichen Nationalitäten unterschieden werden. So haben Secondos aus Italien und Spanien, deren Eltern in den sechziger und siebziger Jahren in die Schweiz eingewandert sind, sowohl beträchtliche (Aus-)Bildungserfolge wie auch Berufskarrieren vorzuweisen. Insbesondere die eingebürgerten Secondos liegen diesbezüglich teilweise sogar vor ihren Schweizer Altersgenossen.11 9
10 11
Brigitte Hauser-Suess, »Wer sind die Secondos in der Schweiz?«, Die Politik, Februar 2006, S. 3. Ebd. Ebd.
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Joseph Jurt
III. Eine Motivationselite Das wurde im Übrigen durch eine SNF-Studie belegt, die den Werdegang von Secondos und Secondas, die von spanischen und italienischen Gastarbeitern abstammen, untersuchte. Die Studie erschien 2003.12 Die meisten Secondos arbeiten, gemäß dieser Untersuchung, als qualifizierte Angestellte mit mittleren Löhnen – und nicht etwa überwiegend in handwerklichen Jobs. In Schule und Beruf sind sie mindestens ebenso erfolgreich wie gebürtige Schweizer. So absolvieren junge Italiener und Spanier eher eine weiterführende Ausbildung als junge Schweizer. Außerdem sind sie in universitären und selbstständigen Berufen besser vertreten. Was Heirat und Familie betrifft, unterscheiden sich Secondos und Secondas wenig von ihren Schweizer Altersgenossen. Zwar ziehen sie etwas später von zu Hause aus und leben weniger häufig im Konkubinat. Hingegen gibt es bei der Rollenverteilung kaum Unterschiede. Im Gegenteil: Junge Frauen ausländischer Abstammung bleiben nach der Geburt ihres ersten Kindes eher berufstätig als junge Schweizerinnen. Sie können bei der Kinderbetreuung auf die Hilfe der Großeltern zählen. Soziologische Studien, welche Sandro Cattacin, Direktor des Schweizerischen Forums für Migrationsstudien an der Universität Neuenburg, zitiert, zeigen, dass Secondos eine Art Motivationselite darstellen. Sie lernen bereits als Kinder, dass sie sich mehr anstrengen müssen, um von den Einheimischen anerkannt zu werden. Das belegt auch eine neuere SNF-Studie über die Wahrnehmung der Bildungschancen der Secondos/Secondas aus bildungsfernen oder mittleren Bildungsmilieus.13 Im Nationalen Forschungsprogramm 52 zur intergenerationalen Bildungs- und Einkommensmobilität in der Schweiz wurden junge Schweizer und Migranten verglichen. Generell stellt man einen großen Einfluss des Bildungsniveaus der Eltern auf die Bildungsmobilität der Kinder fest. Die Wahrscheinlichkeit eines Schweizer Kindes aus bildungsfernem Elternhaus, eine Maturitätsschule zu besuchen, liegt bei 10,7 %, diejenige bei Kindern der zweiten Ausländergeneration bei 18,6 %. Auch bei Kindern, deren Eltern ein mittleres Bildungsniveau aufweisen, sind die Bildungschancen von Ausländerkindern der zweiten Generation mit 27 % höher als bei Schweizer Kindern. Nur bei Kindern aus bildungsnahem Elternhaus (hohe Ausbildung der Eltern) hat ein Schweizer 12
13
Claudio Bolzman/Rosita Fibbi/Marie Vial, Secondas – Secondos. Le processus d’intégration des jeunes adultes issus de la migration espagnole et italienne en Suisse, Zürich 2003. »Intergenerationale Bildungs- und Einkommensmobilität in der Schweiz – ein Vergleich zwischen Schweizern und Migranten«, in: Die Volkswirtschaft. Das Magazin für Wirtschaftspolitik, 7, 8/2007, S. 18–21.
Vom Zusammenleben junger Migranten in der Schweiz
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Kind mit 57 % eine höhere Wahrscheinlichkeit, eine Maturitätsschule zu besuchen, als ein Kind nicht schweizerischen Ursprungs (54 %). Fazit: Ausländerkinder der zweiten Generation aus der bildungsfernen oder der mittleren Bildungsschicht nutzen ihre Chancen besser als Schweizer Kinder aus derselben sozio-kulturellen Kategorie. Das trifft allerdings nicht zu auf Ausländerkinder aus Ex-Jugoslawien und der Türkei.14 Ähnliches lässt sich im Sport feststellen. Von den 23 aufgebotenen Spielern der Schweizer Fußballnationalmannschaft für die Weltmeisterschaft 2010 waren mehr als die Hälfte Secondos. Ihre Namen belegen das auf den ersten Blick: Benaglio, Behrami, Senderos, Barnetta, Fernandes, Hakan, Deriyok, Nkufo, Leoni, Inler, Shakiri. Als man Gelson Fernandes, dessen Eltern aus den Kapverden stammen und der im Wallis aufgewachsen ist, in einem Schweizer Magazin fragte, wie er in seiner Jugend die Disziplin für die harte Trainingsarbeit aufbrachte, gab er die bezeichnende Antwort: »Weil ich nicht zuschauen wollte, wie meine Mutter jeden Tag früh aufsteht, um putzen zu gehen. Sie war Putzfrau, meine Mutter.«15 Noch offensichtlicher war der Erfolg einer Schweizer Mannschaft, die vor allem aus Secondos bestand, bei der U17-Weltmeisterschaft in Nigeria im November 2009: Sie wurden Weltmeister. Da konnte man sogar in der Badischen Zeitung16 den Titel finden »Schweiz gewinnt U17-WM – ein Triumph der Secondos«, und der Kommentator schrieb dann: Wer nach dem Siegestaumel von Abuja »Hoppla« sagt, dann aber […] die Rückkehr zum Ernst des Lebens anmahnt, der übersieht ein nicht unwichtiges Detail am ersten Schweizer WM-Titel der Fußballgeschichte. Im Einsatz waren die Herren Siegrist, Martignoni, Gonçalves, Chappuis, Veseli, Hajrovic, Rodriguez, Xhaka, Nimeley, Buff, Kasami, Kiassumbua, Ben Khalifa und Seferovic. Letzterer, Haris Seferovic aus Zürich, ein Sohn bosnischer Muslime, erzielte den Siegtreffer. Internationaler geht es nicht unter dem weißen Kreuz.
Im Artikel wird dann ganz korrekt der Begriff Secondo erklärt: Mehr als die Hälfte der neuen Weltmeister sind »Secondos«. So heißen in der Schweiz die Kinder von Einwanderern. Die zweite Generation sozusagen: in der Regel eingebürgert, besser integriert als die Eltern, im Idealfall sogar bereit, das Land, das ihre Eltern aufnahm, zum Weltmeister zu machen. Erst seit etwa acht Jahren ist »Secondo« in Gebrauch, ein positiv belegter Begriff. Längst verwenden ihn auch die Ausländerkinder selbst, weil darin Anerkennung mitschwingt für ihren täglichen Spagat zwischen der Kultur ihrer Eltern und der Kultur jenes Landes, in dem sie sich aufhalten. 14 15 16
Ebd. Das Magazin, Nr. 21, 24. Mai 2008, S. 25. Badische Zeitung, 17. November 2009.
170
IV.
Joseph Jurt
Integrationshindernisse
Die Aussagen dürfen aber keineswegs dazu führen, die Situation zu idealisieren. Ein wichtiges Problem stellt so das hürdenreiche Einbürgerungsverfahren dar. In der SNF-Studie von 2003 wies man explizit darauf hin: 80 % der Secondos wurden in der Schweiz geboren, 90 % haben fast ihr ganzes Leben hier verbracht. Obwohl die Einbürgerung für sie einfacher ist als für die Generation der Eltern, sind 57 % der Befragten noch immer Ausländer. Und 43 % wollen das auch bleiben.17 Als Gründe dafür nennen sie das schwerfällige Verfahren, den drohenden Militärdienst oder auch die Angst, ihren EU-Pass zu verlieren. Aufhorchen ließ die Autoren ein neues Argument: Das Gefühl der jungen Secondos/Secondas, sie müssten aufgrund ihrer umfassenden Beziehungen zur schweizerischen Gesellschaft das Bürgerrecht automatisch erhalten. Wenn man gemäß der Studie von 2003 bei den Secondos/Secondas aus der italienisch-spanischen Immigration einen großen Grad an wirtschaftlicher Integration feststellen kann, so mangelt es doch an der politischen Integration, was à la longue zu einer wachsenden Entpolitisierung der Gesellschaft führen kann. Die Secondos/Secondas der späteren Einwanderungsphase, die schwerpunktmäßig aus den Balkanstaaten oder der Türkei in die Schweiz gelangt sind (die allerdings eine Minderheit darstellen; fast zwei Drittel der Ausländer in der Schweiz stammen aus einem Mitgliedsland der EU oder der EFTA), weisen im Durchschnitt (noch) tiefere Ausbildungsniveaus auf und sind dementsprechend in eher schlecht bezahlten Branchen wie dem Bau- und Gastgewerbe tätig. Bei den Immigranten dieser Einwanderungsphase kommt zudem das Geschlecht als zusätzliches Selektionsprinzip hinzu. Für Frauen aus diesen Einwanderungsgruppen ist auch aus kulturellen Gründen der Zugang zu weiterführenden Bildungsgängen besonders erschwert.18 Es gibt immer noch erhebliche Integrationshindernisse; so zum Beispiel gibt es Probleme für Secondos/Secondas, Lehrstellen zu bekommen. Dazu existiert eine neuere SNF-Untersuchung, die auf einer Langzeituntersuchung von 45 Secondas/Secondos in einer Agglomerationsgemeinde beruht, was ihre Repräsentativität allerdings etwas einschränkt. Unterstützt vom Schweizerischen Nationalfonds und vom Bundesamt für Migration, haben die Soziologinnen Eva Mey und Miriam Rorato (Hoch17 18
Bolzman/Fibbi/Vial, Secondas – Secondos. Hauser-Suess, »Wer sind die Secondos«, S. 3.
Vom Zusammenleben junger Migranten in der Schweiz
171
schule Luzern) insgesamt 45 Jugendliche mit Migrationshintergrund vertieft zum Übertritt ins Erwachsenenalter befragt. Die zwischen 16 und 19 Jahre alten, in Emmen lebenden Secondos/Secondas sind überwiegend in der Schweiz geboren und aufgewachsen, besitzen jedoch die Staatsbürgerschaft ihrer größtenteils aus dem Balkan und Südeuropa eingewanderten Eltern. Die Ergebnisse der qualitativen Längsschnittstudie sind für Agglomerationsgemeinden mit einem hohen Ausländeranteil gültig. Die Soziologinnen kommen zum Schluss, dass bei vielen Befragten die berufliche Eingliederung von Ernüchterung und Enttäuschung überschattet wird, obschon diese bereit sind, sich in die schweizerische Gesellschaft einzubringen. Noch im letzten Schuljahr formulieren sie zuversichtlich ihre Berufswünsche. Drei Jahre später räumen sie ein, dass sie sich etwas anderes erhofft hätten. Selbst wenn sie großen Einsatz zeigten und schulisch gute Leistungen erbrachten, mussten sie ihre Hoffnungen oft aufgeben. Sie wollten Verkäuferin oder Mechaniker werden und arbeiten jetzt als Pflegerin oder auf dem Bau. Das vom Schulamt organisierte Brückenangebot funktioniert eher als Trichter: Es platziert die Secondos/Secondas auf dem Arbeitsmarkt dort, wo die wenig attraktiven Stellen frei geblieben sind. Die Forscherinnen fanden bei den Jugendlichen unterschiedliche Anpassungsmuster: Während die einen sich in ihre Außenseiterposition einfügen, sind andere entschlossen, den sozialen Aufstieg zu schaffen, und wollen gesellschaftlich anerkannt werden. Wenn dies aber nicht gelingt, ist die Enttäuschung umso größer. Sie scheint frühere Demütigungen im Alltag zu bestätigen, etwa die aufreibende Lehrstellensuche, das lange Warten auf die Einbürgerung oder den verwehrten Zutritt zu gewissen Clubs und Diskotheken.19 Die Einheimischen müssen auch begreifen, dass Integration, nicht aber Assimilation ein erstrebenswertes Ziel darstellen kann. So schreibt der schon erwähnte Sozialwissenschaftler Sandro Cattacin zu Recht: »Heute gibt es keine Assimilation der Ausländer mehr. Ob sie in zweiter, dritter oder vierter Generation leben, sie werden immer eine eigene, in Bezug auf ihre Herkunft erweiterte Identität vertreten.« Die Situation der jungen Migranten in der Schweiz ist nicht einfach. Man kann hier nicht von einer homogenen Gruppe ausgehen. Es gibt Unterschiede zwischen den Secondos/Secondas der ersten und der zweiten Einwan19
Eva Mey/Miriam Rorato, Jugendliche mit Migrationshintergrund im Übergang ins Erwachsenenalter. Eine biographische Längsschnittstudie. Schlussbericht zuhanden des Praxispartners Bundesamt für Migration / Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, 2010; siehe dazu auch »Gebremste Secondos«. Wire.myScience.ch (Stand: 08. 06. 2010).
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Joseph Jurt
derungsphase, Unterschiede bezüglich der Herkunftsländer und dem jeweiligen Bildungsniveau der Eltern. Die Situation ist nicht einfach; für viele ist sie eine Herausforderung, die sie motiviert; für andere sind die größeren Schwierigkeiten und die implizite oder explizite Diskriminierung demotivierend. Die große Präsenz der Migranten ist vor allem eine Herausforderung für die aufnehmende Gesellschaft. Es ist entscheidend für die Zukunft des Landes, dass die Integration gelingt, dass gute Formen des Zusammenlebens zwischen den Einwanderern und den Einheimischen gefunden werden.
Formen der Symbiose in Literatur und Kunst der US Latinos
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Yvette Sánchez (St.Gallen)
Formen der Symbiose in Literatur und Kunst der US Latinos I.
Demographischer Umbruch
Obwohl der prozentuale Anteil an Secondas und Secondos in den Vereinigten Staaten ähnlich hoch ausfällt wie in der Schweiz,1 sind die Dimensionen im hier zu behandelnden Fall zahlenmäßig natürlich nicht vergleichbar mit der zwerghaften Confoederatio Helvetica. Das pauschalisierende Label bzw. Konstrukt US Latinos meint eine Art pan-ethnisches, demographisches Konglomerat aus Untergruppen (von über zwanzig Staaten und heterogenen ethnischen Gemeinschaften), welche einen derart hohen und rasant wachsenden Bevölkerungsanteil stellen, dass die Einwanderung und das Zusammenleben mit der anglophonen Einwohnerschaft zur wachsenden Herausforderung in einem panamerikanisierenden Verflechtungsprozess auf dem Kontinent werden. Im Gegensatz zur von der Verwaltung, dem Census Bureau diktierten Bezeichnung Hispanics hat sich durch ein erwachtes Selbstbewusstsein der großen Minorität das Etikett Latinos von der Basis aus etabliert. Sowohl in einer intellektuellen und künstlerischen Elite als auch in der Populärkultur ist der Begriff positiv konnotiert. Man denkt generalistisch und partikularistisch, zum Beispiel als Latino und Quechua. Aber trotz Aufbruchstimmung und der instrumentellen Aneignung eines vagen kulturellen gemeinsamen Nenners von Werten, Verhaltens- und Denkmustern können die negativen Seiten des Labelings nicht vergessen werden. Die Massenmedien zum Beispiel betonen eine Kultur der Armut mit hohen Kriminalitätsraten, vielen Sozialhilfeempfängern, alleinerziehenden Müttern, Drogen, AIDS oder einer besonders hohen Schulabbrecherquote.2 Demographische Daten aus dem Census 2010 beziffern die riesige Einwanderergruppe aus der südlichen Hemisphäre des Kontinents mit rund 50 Millionen, zusätzlich zu den rund 11 Millionen Latinos ohne Aufenthaltsbewilligung. Diese über 60 Millionen Menschen lassen Demographen be-
1 2
Vgl. den vorhergehenden Beitrag von Joseph Jurt in diesem Band. Diese ist doppelt so hoch wie die der afroamerikanischen Minderheit, dreimal so hoch wie die der Anglo Whites.
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Yvette Sánchez
rechnen, dass bereits gegen Mitte dieses Jahrhunderts jeder dritte Einwohner der USA lateinamerikanischer Abstammung sein wird. In einigen Ballungszentren im Süden des Landes, in Miami oder in Regionen des Südwestens stellen die Latinos bereits heute eine deutliche Mehrheit.3 Bei all diesen Berechnungen darf selbstverständlich nie die Generationenfrage innerhalb der Latino-Gemeinschaft außer Acht gelassen werden. Dieser Fehler ist Samuel Huntington in seinem Buchkapitel »The Hispanic Challenge«4 bei einer allzu selektiven Präsentation demographischer Daten über die assimilierungsunwilligen Mexikaner – wohl nicht ganz unbeabsichtigt – unterlaufen. Mit jeder Generation schreitet die Anpassung an die Mainstream-Kultur voran. Wie entwickelt sich das Spanische in ständigen Sprachkontaktsituationen mit dem Englischen? Sprachbewahrung (Spanish retention), Code-switching (Spanglish), Sprachverschiebung oder -assimilierung? Die letzte Volkszählung im Jahr 2000 nannte folgende Zahlen: 75 % der Latinos sprachen damals zu Hause Spanisch. Die Sprachbewahrung bewegte sich von 30 % vor allem in urbanen Gebieten bis zu 90 % in ländlichen Gebieten entlang der mexikanisch-amerikanischen Grenze.5 Und was den gene3
4
5
2050 werden es nach Schätzungen 133 Mio (bei einer US-Gesamtbevölkerung von 439 Mio.) und somit die größte Spanisch sprechende Bevölkerungsgruppe sein, die sich zwischen 2008 und 2050 verdreifacht haben wird. Noch 1950 waren es 4 Mio., 1970 9 Mio. und 1980 15 Mio. Der massive Zuwachs ist bedingt durch die hohen Einwanderungsströme und die Geburtenrate (3,0 gegenüber 1,8 für nicht hispanische Weiße). Die Latinos gehören zur jüngsten Bevölkerungsgruppe der USA mit einem Durchschnittsalter von 25,8 Jahren – über 10 Jahre jünger als die Gesamtbevölkerung. 1,5 Mio legale. und eine Vielzahl illegale (vielleicht 300 000) Einwanderer überqueren jährlich die Grenze; dazu kommen 750 000 Latino-Geburten. Für diese und detailliertere Daten sei auf das US Census Bureau verwiesen (http://www.census.gov/population/www/documentationtwps0056/twps0056. html#desc). Auch die Aufteilung nach Ursprungsländern ist dort zu finden. Man zählt rund 30 Mio. mexikanische Immigranten in den Vereinigten Staaten. Ein Fünftel der Mexikaner und ein Viertel der Kubaner (2 Mio.) lebten 2004 in den USA. 3,5 Mio. Puertorikaner leben auf der Insel, 2,5 Mio. in den USA (vor allem in New York – Brooklyn, Spanish Harlem und der südlichen Bronx). Und die dominikanischen Migranten ziehen seit ein paar Jahren nach: Bei 7 Mio. auf der Insel, findet sich 1 Mio. alleine in New York wieder. Samuel Huntington, »The Hispanic Challenge«, in: Ders., Who Are We? The Challenges to America’s National Identity, New York 2004, S. 30–45 (Siehe auch Ders., »José, can you see?« Vorabdruck in seiner Zeitschrift Foreign Policy, März/April 2004, S. 30–45, mit paronomastischem Verweis im Titel auf die Landeshymne der USA, »Oh say, can you see?«, kombiniert mit dem Bedauern darüber, dass in Kalifornien José den Michael als häufigsten Namen abgelöst hat). http://www.census.gov/population/www/socdemo/hispanic/hispanic_pop_ presentation.html oder http://en.wikipedia.org/wiki/Hispanic. Die verschiede-
Formen der Symbiose in Literatur und Kunst der US Latinos
175
rationalen Akkulturationsprozess und Abbau des Spanischen betrifft, so verwenden die Enkelkinder der Immigranten oft nur Englisch, gerade einmal 17 % sprechen fließend Spanisch, in der vierten Generation sind es noch 5 %. Der Soziologie-Professor Rubén Rumbaut aus UC Irvine, Mitautor einer Studie über ›Language Retention‹ in Kalifornien, nannte die USA einen »Sprachen-Friedhof.«6 Für den weiteren Verlauf der Sprachkontakt-Situation, auch nach Erhalt weiterer Anhaltspunkte der diesjährigen Volkszählung, wagt man kaum Prognosen zu stellen. Die generelle Lateinamerikanisierung der Vereinigten Staaten wird zügig voranschreiten – nicht nur rein demographisch oder etwa populärkulturell (Essen, Sport, Unterhaltungsindustrie), sondern auch, was den politischen und juristischen Einfluss anbelangt. Im Mai 2009 ernannte Präsident Obama – in einem für diese Entwicklung symbolischen Akt – Sonia Sotomayor zur Obersten Richterin des Supreme Court. Sie wuchs in einer Sozialwohnung in der Bronx auf, mit einer alleinerziehenden Mutter; ihr Vater, ein puertorikanischer Fabrikarbeiter, der nicht Englisch sprach, starb, als sie neun Jahre alt war. Mit Stipendien gelangte die brillante Schülerin an die Elite-Universitäten Yale und Princeton. Immer mehr einflussreiche Posten werden von Latinos besetzt, auf nationaler Ebene, aber auch regional. In Universitäten und Unternehmen sind sie ebenfalls auf dem Vormarsch.7
6
7
nen Einwanderer-Schichten von der ersten bis zur vierten Generation werden durch zahlreiche Begriffsbildungen reflektiert, z. B. den, auf dem Bindestrich lebenden Cuban-Americans, den »One-and-a-Halfers« nach Gustavo Pérez-Firmat, Life on the Hyphen: The Cuban-American Way. University of Texas Press, 1994. Pérez-Firmat behandelte damals, vor gut fünfzehn Jahren, die interkulturellen Zwischenräume, die Fugen der Cuban-Americans zwischen Ursprungs- und Gastland und ihre permanente Reterritorialisierung. – In der kubanischen Diaspora spricht man etwa auch von der ABC Generation (American Born Cubans). Der Generación Ñ (oder Generation Mex) gehören zweisprachige Berufsleute der Mittelklasse an: »[…] middle class professionals, not deculturated, although pro-US, the privileged part of ABC Generation«. Paul Allatson, Key Terms in Latino/a Cultural and Literary Studies. Malden/Oxford 2007, sub verbo »ABC Generation«. Allatsons wertvolles Glossar erfasst aktuellere Begriffe einer Forschergeneration der Latino Studies nach Pérez-Firmat. Rubén G. Rumbaut/Douglas S. Massey/Frank D. Bean, »Linguistic Life Expectancies: Immigrant Language Retention in Southern California«, in: Population and Development Review 32/2001, 3, S. 447–460. Die Anzahl der Doktorate der Kubaner an den Universitäten im südlichen Florida ist fast schon gleich hoch wie die der Angloamerikaner. Und in Unternehmen sucht man vermehrt bilinguale Mitarbeitende, die dank ihrer Zweisprachigkeit besser verdienen.
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Yvette Sánchez
Die eindrücklichen, in Europa eher weniger bekannten Dimensionen halten für kulturtheoretische Debatten der kommenden Jahrzehnte reiches Forschungsmaterial bereit. Das Präfix Trans-, welches ein ständiges Hin und Her, das selbstverständliche Crossing oder Switching einer ausgeprägten Pendlerkulturalität meint, auch Ottmar Ettes TransArea,8 lässt sich daran bestens veranschaulichen. Postkoloniale Ent- und Reterritorialisierungsmechanismen als Prozesse des Kulturkontakts zwischen den beiden Hemisphären – anstatt eines illusionären Identitätsdenkens – sind gemeint, das heißt, wenn überhaupt Identitäten, dann nicht deren intakte, statische, sondern schwankende, aufgesplittete, rhizomatische Ausformungen.9 Anstatt eines vagen Identitätsbegriffs entspräche der Prozess der Identifikation der Situation viel eher. An die Stelle des kultursynthetischen Mestizaje oder homogenisierenden Multikulturalismus, des Schmelztiegels treten bewegliche Grenzen, die ihrerseits schmelzen. Zumindest mit der Kunst bzw. Literatur möchte man sich – dem Thema dieses Bandes folgend – die Utopie eines Zusammenlebens der Kulturen über ein kontinentales, panamerikanisches Wissen ohne normatives Zentrum der Macht vorstellen. Jüngste – zumindest wirtschaftliche – Entwicklungen lassen darauf schließen, dass auf dem amerikanischen Kontinent die Karten in den nächsten Jahrzehnten neu gemischt werden könnten. The Economist insinuiert in seiner Nummer über Nord- und Lateinamerika und unter dem Titel »Nobody’s backyard«10 einen kartographischen Rollentausch zwischen der nördlichen und der südlichen Hemisphäre, da – allen lateinamerikanischen Ländern voran – der BRIC-Staat Brasilien an weltwirtschaftlichem Einfluss gewinnt. Durch die wachsende gesellschaftliche Partizipation der lateinamerikanischen Immigranten in den USA, ihr steigendes Selbstvertrauen sowie den Drang nach künstlerischem Ausdruck und Etablierung wandeln sich die US Latinos von einer Minderheiten- und Subkultur mehr und mehr zu einer Pa8
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Vgl. Ottmar Ette, »Alexander von Humboldt: The American Hemisphere and the Trans-Area Studies«, in: Iberoamericana. América Latina – España – Portugal 5/2005, 20, S. 85–108. Diese bereits etablierten Leitbegriffe wurden 1975 von Gilles Deleuze und Félix Guattari geprägt (Kafka. Pour une littérature mineure, Paris 1975); Néstor García Canclini nahm sie 1989 auf in Culturas híbridas (México: Grijalbo). Der Identität stiftende und sichernde Standort, der Nationalstaat als Territorialstaat, verliert an Bedeutung. »Nobody’s backyard. Latin America’s new promise – and the need for a new attitude north of the Rio Grande«, in: The Economist, 9. September 2010, Titelseite und S. 13.
Formen der Symbiose in Literatur und Kunst der US Latinos
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Abb. 1: Titelseite The Economist vom 09. 09. 201011 11
rallelkultur. Man fühlt sich kontinental heimisch, erobert sich Raum (zurück) und verändert Nordamerikas kulturelles, soziopolitisches, ethnisches, wirtschaftliches – vielleicht sogar geographisches – Profil. Das abgebildete, ebenfalls mit der Kartographie provozierende Werbeplakat rief nicht nur unter den WASPs einigen Unmut hervor.
II.
Der Begriff der Symbiose
Der Symbiosebegriff metaphorisiert die gegenseitige Abhängigkeit – die einen können nicht mehr ohne die anderen – besonders augenfällig im wirtschaftlichen oder politischen Bereich des Südwestens der USA, wo die Sektoren der Landwirtschaft und der Dienstleistungen ohne die billigen Arbeitskräfte aus dem Süden zusammenbrechen würden. Diese entschließen sich ihrerseits durch den Pull-Faktor des mindestens fünfeinhalbmal höheren Lohns in den USA zur Emigration. Sergio Araus Spielfilm A Day without a Mexican (2004) führt die Abhängigkeit seitens des Nordens auf humorvolle und anschauliche Weise vor, indem das bedauernswerte und chaotische Bild entworfen wird, welches die angloamerikanische Gesellschaft abgibt, wenn
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http://www.plataformaurbana.cl/wp-content/uploads/ 2011/01/1296518610_backyard_copy.jpg.
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Yvette Sánchez
Abb. 2: Die »Reconquista« in der Werbung12
durch einen phantastischen Kunstgriff die eingewanderten mexikanischen Arbeiterinnen und Arbeiter für 24 Stunden spurlos verschwinden. 12 Ebenso zeugen die Überweisungen von einer symbiotischen, gegenseitigen Gebundenheit, werden doch allein nach Mexiko gigantische Summen gesandt, die dem Land mehr Devisen bringen als der Erdölexport.13 Nachdem Ottmar Ette mit Nachdruck die vermehrte Koppelung zwischen naturwissenschaftlichem und kultur-, sozial- und literaturwissenschaftlichem Lebenswissen propagiert hat, wage ich es, Anschauungsmaterial aus den (naturwissenschaftlichen) Life Sciences zum Zwecke der metaphorisierenden Verdichtung beizuziehen. Bisherige Leihgaben für Kulturkontaktsitua-
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http://bertaenmedio.wordpress.com/2009/04/17/in-an-absolut-world-lo-socialvende/. Diese stiegen zwischen 2002 und 2006 von 10 auf 23 Milliarden US -Dollar an. 2005 waren es für ganz Lateinamerika 46 Milliarden. World Bank (2006): Global Economic Prospects 2006: Economic Implications of Remittances and Migration.
Formen der Symbiose in Literatur und Kunst der US Latinos
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Abb. 3: Transport-Protein Kinesin; Filmstill aus einem Video (A) und graphische Darstellung (B)14
tionen waren nach der Mangrove etwa das Pendel oder das Möbiusband; nun sollen sich die Synapse im neuronalen Kreislauf oder vor allem die Zellmigration mit dem Transport-Protein Kinesin (einer Gruppe von Motorproteinen in Zellen) dazugesellen. Das Kinesin ist besonders attraktiv, weil die beiden Partner im Kontakt sich anschaulich vorwärts bewegen, und zwar so, dass sie sich in der Führerposition gut organisiert ständig abwechseln und gegenseitig – symbiotisch – ankurbeln. Allerdings blendet diese Metapher die in Kulturkontaktsituationen immer auch präsenten Machtasymmetrien aus. 14 Der Begriff des Zusammenlebens legt – schon etymologisch – nahe, auch die verschiedenen Formen der Symbiose (zwischen Koexistenz und Konkurrenz) genauer zu betrachten15 und hier vor allem auf künstlerische Ausdrucksformen der US Latinos zu applizieren. Wie in den zahlreichen Fällen der für beide Partner vorteilhaften Symbiose in der Natur geht das eine irgendwie nicht ohne das andere. Den Symbionten erwächst durch die wechselseitige Abhängigkeit ein Nutzen. Beide Teile leben zusammen oder verschmelzen gar – nach dem traditionellen, assimilationistischen Konzept des melting pot, in welchem zwei Kulturen zu hybriden Mischkulturen, zur Symbiose zusammengeführt werden. Ursprünglich, im 19. Jahrhundert, wurde die Symbiose sehr offen definiert und meinte jegliches Zusammenleben von artverschiedenen Organis-
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Zur Illustration möge ein computeranimiertes Video dienen, das unter folgendem Link zu finden ist: http://www.youtube.com/watch?v=4TGDPotbJV4 (Stand: 15. 06. 2010). Die statische Graphik: http://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/ NBK19729/figure/A13650/?report=objectonly (Stand: 15. 06. 2010). Vera Nünning weist in ihrem Aufsatz in diesem Band ebenfalls kurz auf diese etymologische Verbindung hin.
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Yvette Sánchez
Abb. 4: A) Blattschneiderameisen bei der Pflege ihres Pilzgartens.16 B) und C) Mehrere Clownfische leben hier in einer Seeanemone17
men. Später wurde nach dem Grad der wechselseitigen Abhängigkeit oder der körperlichen Nähe unterschieden: In der lockersten Verbindung kooperieren die Symbionten in einer relativ autonomen Allianz; auf der nächsten Stufe unterhalten sie eine regelmäßige Beziehung; und in der dritten Form ist das Zusammenleben obligatorisch – die Blattschneiderameise kann nicht ohne Pilze, die Seeanemone nicht ohne Clownfische und vice versa. 1617 Symbiosen in Flora und Fauna dienen drei wichtigen Funktionen: der Fortpflanzung (Transport von Pflanzensamen durch Tiere, Bienen und Blütenpflanzen), der Ernährung (bei Flechten aus Algen und Pilzen) und dem Schutz vor Feinden (Ameisen schützen Blattläuse und erhalten zur Belohnung eine süße Flüssigkeit); weiter gibt es Putzsymbiosen bei Großfischen und Großsäugern (Elefanten, Nilpferde): des einen Nahrung, des anderen Körperhygiene. Symbiotische Systeme werden von der Psychologie auf menschliche Abhängigkeitsformen übertragen, von normalen Mutter-Baby-Beziehungen bis zu pathologischen Fällen zwischen Erwachsenen. Die Biologen ihrerseits greifen auf eine sozialwissenschaftliche Metapher zurück und sprechen von der ›Vergesellschaftung‹ jeweils zweier artverschiedener Organismen, aus denen mindestens einer der beiden einen Nutzen zieht, ohne dass der andere Partner geschädigt wird. Anstatt nun Fälle soziologischer, anthropologischer, politischer oder wirtschaftlicher Aspekte des Sym (›Zusammen‹)-Bios (›Lebens‹) von Anglo White Americans und Latinos aufzugreifen und die Symbioseformen aus der Natur verklärend auf eine symbiotische Gesellschaft zu übertragen, möchte ich mich in diesem Rahmen auf Kunstformen der besonderen Zusammensetzungen und Lebenszusammenhänge einer sich lateinamerikanisierenden Gesellschaft der USA konzentrieren. 16
17
Quelle: Hubert Herz/Christian Ziegler, www.naturphoto.de, http://idw-online.de/ pages/de/news304387 (Stand: 15. 07. 2010). http://www.scalare-fulda.de/nemo3.jpg (Stand: 15. 06. 2010).
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III. Symbiosen in der neueren Latino-Kunst Als Ausgangspunkt dienen Rohmaterialien, die im Bereich der bildenden Künste zusammengeführt werden, als ob sie das Zusammenleben von artverschiedenen Organismen mit einem Augenzwinkern biopoetisch18 zelebrieren wollten, was wiederum erlaubt, Rückschlüsse auf gesellschaftliche Konstellationen zu ziehen. Diese Referentialität bezieht sich auch auf die Dynamik, die Kondition der ständigen Bewegung, denn als Leitmotiv aller nun vorzustellenden Kunstwerke fungieren Transportmittel, oder sie sind in Transitzonen angesiedelt. Eine besondere Entdeckung konnte ich in der Walter Macías Gallery in Culver City, Los Angeles machen: Margarita Cabrera hat in Bezug auf die mexikanisch-amerikanische Grenzzone künstliche, textile Kakteen geschaffen – aus ausrangierten grünen Grenzwächter-Uniformen. Damit lässt sich natürlich auch die Idee der Tarnung oder Mimikri kombinieren, die durchaus einer der Gründe für eine Symbiose sein kann. Die Verwendung der in der Wüste an der Grenze von Border Patrols ausgetragenen Uniformen zur Erschaffung der emblematischen Pflanze des mexikanisch-amerikanischen Grenzraums, des Kaktus, und die karnevaleske Umkehrung des Artefakts der latenten Macht, über den Vorgang des Recycling und der Domestizierung, zur Schaffung einer künstlichen, wehrlosen Pflanze, deren einzige Waffe, die Stacheln, zu nutzlosen, weichen, nicht vernähten Fäden mutiert sind, insinuiert, dass die Materialien sich irgendwie miteinander arrangieren. In dieser ironisch-subversiven Spitze gegen die Machthaber der Abschottung an der Grenze verweisen nur noch die Aufnäher als Insignien der Dominanz auf die ursprüngliche Funktion des Kleidungsstücks, das nun ausgedient hat und als Rohmaterial für den Kaktus im Topf herhalten muss. Die Künstlerin, Margarita Cabrera, arbeitet auch in anderen Werken mit dem Kontrast bzw. der Symbiose zwischen harten Facts und weichen Materialien, wenn sie etwa die Transportmittel der Border Patrol an der Grenze (Hummer oder VW) aus weichem Vinyl herstellt und somit die Autos, genauso wie die Grenzbeamten in ihren Uniformen, ins Lächerliche zieht; sie
18
Der Literaturwissenschaftler Karl Eibl aus München erklärt die »Entstehung der Poesie« evolutionsbiologisch; er untersucht »innerste«, »proto-poetische« Verfahren und Praktiken von Literatur und Kunst. Karl Eibl/Katja Mellmann/Rüdiger Zymner (Hrsg.), Im Rücken der Kulturen, Paderborn 2007.
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Yvette Sánchez
Abb. 5: A) Nopal can Tunas #3, 2006, Grenzwächter-Uniform, Faden und Terracotta-Topf, 39" × 46" × 46".19 B) Peludita 1, 2007, Grenzwächter-Uniform, Faden und Terracotta-Topf, 26" × 20" × 18". (Foto Yvette Sánchez)
192021
erhalten eine cartoon-artige, irgendwie deprimierende und surreale Form. Die Komik täuscht nicht darüber hinweg, dass der Kontext tragisch sein kann, wenn man die existentielle, bedrohliche Situation des Grenzübertritts durch die Wüste bedenkt. Die Künstlerin ist in Monterrey geboren und
Abb. 6: A) Hummer, 2006, Vinyl, Rohbaumwolle, Faden und Autoteile, 84" × 180" × 96".20 B) Vocho (Yellow), 2004, 60" × 72" × 78", William J. Hokin Collection, Chicago. ©Margarita Cabrera, Foto Sara Meltzer Gallery21.
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http://m-impressions.blogspot.com/2010/02/margarita-cabrera.html. http://paigewest.typepad.com/art_addict/if_i_lived_in/. http://www.margaritacabrera.com/?cat=4.
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Abb. 7: A) Ayate Car – Insite 97. Colonia Libertad, Tijuana.22 B) Aliento para rodar, getrocknete Rosenblätter auf Autorad, 1997.23 2223
wohnt in El Paso, Texas, das heißt in der hoch problematischen mexikanisch-amerikanischen Grenzzone. Auch die Materialien der folgenden Kunstwerke verknüpfen sich in einer idealisierenden Harmonie oder Symbiose beim migratorischen Grenzübertritt. Der mit zarten, weichen Rosenblättern beengend vollgestopfte, außen auch mit typischen Blumenmotiven dekorierte Ayate Car von Betsabeé Romero und die Rosenblätter-Reifen, die mit dem harten Asphalt kontrastieren, wurden an der realen mexikanisch-amerikanischen Grenze installiert. Die Künstlerin verwendet Reifen, Karosserien, Altblech von Fahrzeugen und verwandelt diese Symbole des Transports und der Bewegung in statische, karnevaleske Gebilde. Das Oxymoron der ›statischen Migration‹ erscheint im festgefahrenen Ayate Car an der Grenzmauer. Dahinter posiert oder patrouilliert ein Hummer der Grenzwache in Colonia Libertad, einer Gemeinde außerhalb des Zentrums von Tijuana, Ausgangspunkt so vieler Migranten. Auch die stecken gebliebene, tief eingesunkene, eingefrorene Karawane aus alten Karosserien, schwer beladenen, prekären Autohüllen spricht von diesem grotesken Paradox der bewegungslosen Migration in der Grenzzone, das die Künstlerin so kommentiert:
22 23
http://www.arte-mexico.com/betsabee/ayate-car/ayate.htm. http://www.arte-mexico.com/betsabee/catalogo/catalogo.html.
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Abb. 8: Exodo, El Faro de Oriente, 2007
Die Migration als grenzüberschreitendes Phänomen und die Grenze als ein Begriff, der die geographische Dimension überwunden hat, sind Aspekte, die zu erforschen mich interessierten – in dieser Installation, die von einem permanenten Zustand der Migration in den Grenzzonen Mexico Citys spricht und wie die Grenzposten für die Immigranten des Südens des Landes oder gar Kontinents funktioniert […].24
Auch Julio César Morales zeigt in Undocumented interventions fiktionales Design von möglichen Verstecken für heimliche, unerlaubte Grenzübertritte. Hier taucht erneut das Motiv der Tarnung auf; der Migrant ohne Papiere hat sich optimal in den ihm zugewiesenen Platz einzupassen. Die Ironie ist beklemmend. Nicht der Übertritt auf dem Landweg, sondern die nicht minder gefährliche Überquerung des Meeres von kubanischen Flüchtlingen in behelfsmäßig konstruierten Booten hat drei weitere Künstler zu ihren Arbeiten inspiriert. Meist werden die Materialien der Balsas irgendwie im Kunstwerk gespiegelt. So sammelte der kubanische Künstler Kcho (Alexis Leyva) Strandgut und fertigte daraus seine Flotte von Booten, die auf den ersten Blick wie Kinderspielzeuge anmuten; zusätzliche Distanz von den traumatisch konnotierten Flüchtlingsbooten erhält die Installation durch den ironischen – ja sarkastischen – Titel Regatta. Und Armando Mariños Fluchtboot – das Auto trägt
24
»La migración como un fenómeno transfronterizo y la frontera como un concepto que ha rebasado la dimensión geográfica son aspectos que me interesó explorar en esta instalación que habla del estado migratorio permanente de las zonas fronterizas de la Ciudad de México que funcionan como las garitas para los inmigrantes del sur del país y hasta del sur del continente […].« http://textoblanco.blogspot.com/ 2009/01/betsabe-romero-ciudades-habitadas.html (Stand: 02. 10. 2009).
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Abb. 9–11: Undocumented Intervention, 200725 25
durchaus authentische Züge, verwenden doch die Bootsbauer immer wieder auch Karosserien als Rohmaterial – weist in eine ähnliche Richtung.26 Die kubanische Künstlerin Sandra Ramos setzt direkt eine behelfsmäßige, prekäre Balsa mit der Insel Kuba gleich, die vor sich selber flüchtet und Schiffbruch erleiden könnte. Zudem spielt sie auf die Gefährlichkeit von Insel und Flucht an, indem sie die Insel symbiotisch die Form eines Hais annehmen lässt, einer der Gefahren für Balseros auf offener See.27 Die Zusammenführung, die Verquickung von artfremden Materialien, die sich symbiotisch geben, mag – in ihrer autobiographischen Dimension – auf das Postulat des gesellschaftlichen, ethnischen Zusammenlebens und der Auflösung geopolitischer Grenzen verweisen. Genauso, wie die Material-Symbiose oder -Amalgamierung bei den Kakteen von Margarita Cabrera karnevalesk gedacht ist, ist sie es auch bei den letzten zwei Latino-Künstlerinnen, deren Arbeiten vorgestellt werden sol-
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http://www.f lickr.com/photos/9453185@N08/3361260092/inset72157615329841397. Julio Cesar Morales, Undocumented Interventions, 2005–2007, http://www. flickr.com/photos/catheadsix/2548676097/in/photostream/, http://www. flickr.com/photos/catheadsix/2548676095/, http://universes-in-universe.de/ car/singapore/esp/2006/tour/city-hall/img-27–3.htm. Silvia Spitta bearbeitet das Werk der Künstlerin ausführlich im Kapitel »Sandra Ramos and the Cuban Diaspora«, in: Silvia Spitta, Misplaced Objects. Migrating Collections and Recollections in Europe and the Americas, Austin 2009, S. 181–198. Vgl. auch Iván de la Nuez’ Anwendung der Balsa-Metapher auf Kuba. La balsa perpetua. Soledad y conexiones de la cultura cubana, Barcelona 1993.
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Yvette Sánchez
Abb. 12: A) Kcho (Alexis Leyva), Regatta.28 B) Armando Mariño, La patera (2002).29 C) Sandra Ramos, La balsa (1994).
len, die nun aber nicht mehr direkt das Motiv der Transportmittel und der Transiträume verwenden. 2829 Auf die kubanisch-amerikanische Künstlerin María Magdalena CamposPons bin ich in der eindrucksvollen Bernice Steinbaum30 Gallery in Miami gestoßen. Campos-Pons erlernte, nachdem sie herausgefunden hatte, dass einer ihrer Vorfahren Chinese war, die Technik der chinesischen Porzellan-Malerei, verwendet dabei aber genuin kubanische Motive, wie auf der folgenden Abbildung unschwer zu erkennen ist: Fidel Castro in perfekter Symbiose mit einem traditionellen chinesischen Krieger auf chinesischer Keramik. Die gleiche hybride Konstellation von entfremdetem Handwerksmaterial, hier traditioneller Gobelin-Stickerei, kombiniert mit dem Motiv einer nackten Frau, mit Pop-Ikonen, wie zum Beispiel Pete Doherty, oder mit Osama bin Laden stammt von der Künstlerin María E. Piñeres, einer in Los Angeles lebenden Latina aus Medellín. Man kann ihre Serie Palindromes durchaus als Chiffre für die Situation der US Latinos betrachten, die permanent zwischen zwei Kulturen pendeln, oszillieren müssen – hier über der Spiegelachse. Diese Symmetrien (man ist an den symbiotischen Extremfall siamesischer Zwillinge erinnert) führen uns wieder zur Metapher des Endlosbands.
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http://www.f lickr.com/photos/9453185@N08/3361260092/inset72157615329841397. http://hotparade.tumblr.com/post/745472373/the-raft-la-patera-2002-armandomarino. Bernice Steinbaum unterbrach ihre universitäre Laufbahn, um in New York eine erfolgreiche Galerie zu führen. Vor gut zehn Jahren zog sie nach Miami und eröffnete ebenfalls im Design District pionierhaft und noch bevor die Art Basel nach Miami kam, eine neue Galerie für Gegenwartskunst in einem ehemaligen Möbelgeschäft.
Formen der Symbiose in Literatur und Kunst der US Latinos
IV.
187
Material-Symbiose in der neueren Latino-Literatur
Die rhetorische Figur des Palindroms bringt uns zum letzten Teil dieses Aufsatzes, einem verwandten literarischen Übertritt der transarealen Grenzzonen zwischen Süd- und Nordamerika. Den Text hat ein kubanisch-amerikanischer Autor aus dem südöstlichen Latino-Ballungszentrum Florida geschrieben: der von Buch zu Buch zwischen Spanisch und Englisch pendelnde Roberto Fernández. Fernández’ Kurzgeschichte »The August Flower« (spanisch »Kon Tiki«) bezieht sich auf die wet foot, dry foot policy, welche die Clinton-Administration 1995 einführte, nach der mit Kuba vereinbart wurde, dass die USA keine auf offener See aufgefundenen Flüchtlinge (wet foot) aufnehmen dürfen, sondern diese wieder nach Kuba oder in ein drittes Land ausschiffen müssen. Wenn es ein Flüchtling aber bis zur Küste schaffe (dry foot), so dürfe er in den Vereinigten Staaten bleiben und später eine Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung beantragen. In »The August Flower« schildert ein Ich-Erzähler den Versuch, seinen Aufenthalt und den von vier weiteren Hotelangestellten in Miami Beach zu legalisieren, nachdem sie von einer großen Razzia gegen ›Illegale‹ in einem benachbarten Hotel gehört haben. Die multikulturelle Gruppe mexikanischer, honduranischer und haitianischer Abstammung wagt eine transnationale Kuba-Inszenierung, indem sie sich sehr überzeugende Stories als boat people bzw. balseros ausdenken und ihre Identitäten, Namen und Nationalitäten gegen kubanische Erfindungen eintauschen. Sie studieren nicht nur ihre neuen Identitäten und Sprachvarietäten ein, sondern setzen sich, um echt zu wirken, auch drei Tage lang Sonnenbränden und Mosquitobissen aus31. Vor allem aber entwerfen sie mit einem perfektionistischen Echtheitsanspruch ein rudimentäres Boot aus Palmholz, Sperrholzstücken, alten Lastwagenreifen und großen PET-Flaschen, um mit dieser Konstruktion angeblich nach einer ›beschwerlichen Überfahrt‹ aus Kuba, in Wahrheit direkt von der Küste Floridas aus startend, an der selben Küste ein paar Kilometer weiter unten wieder zu landen. »Cuban dry feet get to stay, Cuban wet feet go away.«32 31
32
Jesús Díaz hat sich in seinem Roman Dime algo sobre Cuba, México 1998, eine sehr ähnliche Geschichte ausgedacht, indem sich sein Protagonist beim Versuch, eine Aufenthaltsbewilligung zu ergattern, auf der Dachterrasse seines Bruders in Miami absichtlich einen starken Sonnenbrand holt und damit eine Balsero-Identität simuliert. Ich zitiere aus dem auf http://www2.fiu.edu/~sabar/enc1102/The%20Augustflower.doc publizierten Manuskript des Autors auf Englisch, »The August Flower«. Das spanische Original, »Kon Tiki«, ist erschienen in: La Gaceta de Cuba 5/2004 und in der Anthologie Cuba Entre dos aguas, La Habana 2007.
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Yvette Sánchez
Abb. 13 und 14: Figur Bernice Steinbaum Gallery, Design District, Miami (Fotos Yvette Sánchez).
Aber ach, das Holz der Königspalme war eine allzu artifizielle DrittweltSimulation: Das Boot sinkt, bevor es an die gelobte Küste gelangt, weil sich das Palmholz sofort mit Wasser vollsaugt. Ich zitiere die englische Fassung, weil Ironie und pointierte Wortwahl und -spiele noch etwas besser zur Geltung kommen als im spanischen Original: das Homophon der ›müden Autoreifen‹, die ›Bühne des amerikanischen Debüts‹, welches die Simulation und die Inszenierung spiegelt, oder danach die Metapher des Whirlpools, für den der Kutter der Küstenwache mit dem zu den ›Flüchtlingen‹ passenden semantischen Feld der Hotellerie zuerst gehalten wird. In that precise moment, the fucking stage for our American debut was sinking. The tires, tired of keeping the drenched royal palm trunks afloat were giving up. In my great quest for authenticity, I had selected the wrong tree. Our American dream was capsizing in front of our very eyes. […] The raft embraced the waters as we saw a whirlpool heading our way.33
Nur ein Mitglied der gefälschten ›kubanischen‹ Besatzung hat sich gewitzt und pragmatisch vorbereitet, indem er seine Füße mit effizienterem Material bedeckt hatte: zwei »Publix Supermarket plastic bags fastened to his feet with two purple rubber bands that had kept broccoli spears in a bundle.« Dieser prosaische letzte Satz der Erzählung unterstreicht die Absurdität der US-amerikanischen Flüchtlingspolitik. Solche fiktionalen Visionen wollen die entkolonialisierende Modifizierung in transhemisphärischen Kulturkontakten und Beziehungen bewusst machen, wie sie sich auf internationalisierten, panamerikanisierenden Terrains abspielt. Fernández mokiert sich in seiner in einem Pastiche des kolonialen Diskurses gehaltenen Erzählung und dem Vergleich zum triumphalen Kon-Tiki-
33
Ebd.
Formen der Symbiose in Literatur und Kunst der US Latinos
189
Abb. 15 und 16: María Magdalena Campos-Pons, My Mother Told Me I Am Chinese, 2008 (Multimedia Installation aus Plexiglas, Porzellan, DVD). (Fotos Yvette Sánchez)
Experiment34 über das vollkommene Scheitern der vorgetäuschten ›Expedition‹ seines Protagonisten und gleichzeitig über das romantisierende und homogenisierende Heyerdahl’sche Vorbild. Die karnevaleske, verkehrte Welt taucht auch in anderen Erzählungen von Roberto Fernández wieder auf.35 Auch Tijuanas Autor Luis Humberto Crosthwaite befasst sich in nahezu all seinen Texten mit der Thematik des Crossing (›die Grenze überqueren‹ und ›durchmischen‹), wie schon seine Titel deutlich machen, etwa Misa fronteriza oder Instrucciones para cruzar la frontera. In seiner Erzählung »Marcela y el rey«36 34
35
36
Kon-Tiki, ein alter Name der Inka-Sonnengottheit Viracocha, spielt natürlich auf die bekannte Expedition des Norwegers Thor Heyerdahl an, der 1947 beweisen wollte, dass ein simples Boot, eine Balsa aus der präkolumbischen Ära, die ganze Überfahrt (7000 km) vom amerikanischen Kontinent nach Polynesien schaffen könne. Heyerdahl verwendete lokale Materialien und folgte der indigenen Bautechnik, die von den spanischen Eroberern überliefert worden war. Für die sichere Überquerung des pazifischen Ozeans brauchte er 101 Tage. Roberto G. Fernández, En la Ocho y la Doce, Boston/New York 2001, S. 86–99. »La gira«, »Die Rundfahrt«, schildert den grotesken Ausflug eines Latino-Ehepaars aus Miami ins Reservat der WASPs, wo es zu erkunden gilt, wie die früheren, aus der Stadt vertriebenen Bewohner gelebt hatten. Zweisprachige Führer leiten die beiden Besucher durch das Reservat, das sich in einem Mangrovenwald befindet. Auch hier ähnelt der (satirische) Erzählstil ebenso wie die dicke Mauer und die mysteriöse, beunruhigende Aura, die das Reservat umgeben, deutlich den Chroniken von Entdeckern und Eroberern aus der Kolonialzeit. Luis Humberto Crosthwaite, Marcela y el Rey al fin juntos, México 1988.
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Abb. 17: A) María E. Piñeres, Nudes (2006). B) Palindromes/ dohertytrehod. C) Palindromes/ osamamaso (2006). (Foto Yvette Sánchez)37
sieht sich King Elvis’ Geist schon in einem Comeback auf den Bühnen von Las Vegas, als ihn die Grenzwache bei dem Versuch, die Grenze zurück in die USA zu überqueren, mit Helikoptern und Scheinwerferlicht verfolgt, nachdem er in Tijuana nur einmal kurz einen authentischen mexikanischen Taco genießen wollte. 37 Die verkehrte Welt, das Palindrom, das Endlosband bilden neue transhemisphärische Konfigurationen der Kunst der US Latinos, die zu einem Zusammenleben in permanenter Bewegung anregen. Ihre Transgressionen in mehr oder weniger improvisierten Gefährten über Land oder zu Wasser zielen auf Symbiose nicht als Verschmelzung, sondern – unter Beibehaltung einer gewissen Autonomie – auf mögliche Veränderungen. »When things move, things change«, lautet die Prämisse, die Silvia Spitta ihrem bereits zitierten Buch Misplaced Objects voranstellt.38 Das Zusammenleben mit seinen paradoxen, unvorhersehbaren, unbestimmbaren Eigenschaften lässt uns auch danach fragen, ob Kulturkontakt zu beider Nutzen in Migrationssituationen die Lebensgemeinschaften stabilisiert oder nicht. Zudem sollten bei aller Zusammenführung immer die einseitigen (auch gewaltsamen, mitunter tragischen oder gar tödlichen) Dynamiken, die durch asymmetrische Konstellationen und die Abschottung vor allem an der mexikanisch-amerikanischen Grenze entstehen, mitgedacht werden: die Einbahn-Symbiose des parasitären, vampirisierenden Schmarotzertums. Dennoch: Die neuen Latino-Autoren schaffen Plots, die Auswege aus der Gewalt signalisieren und nicht mehr lamentierend den Kampf eines Minderheitendaseins des Immigranten inszenieren, sondern subversiv, humorvoll, pikaresk, spielerisch, ideenreich und mit ironischer Distanz Alltagssituationen spiegeln und oft karnevalesk travestieren. Ein Paradigmenwechsel führt 37 38
http://www.mariaepineres.com/index3.php. Das Zitat erscheint auf dem Buchumschlag.
Formen der Symbiose in Literatur und Kunst der US Latinos
191
die interamerikanischen Pendler, deren literarische Szene sich langsam mit Frische zu konstituieren beginnt, weg von der nostalgischen Rückbesinnung auf das Ursprungsland. Anstelle der klassischen, autobiographisch-lebensweltlich geprägten Latino-Literatur, der situativen, referentiellen Familienchroniken, Entwicklungsromane und ›growing-up-stories‹, die Akkulturationsprozesse immer mit nostalgischem Blick zurück in die wahre Heimat schildern,39 tritt ein innovativerer, experimentellerer Diskurs, der das ständige, dynamische Zusammentreffen und die Grenzüberschreitungen der beiden Bevölkerungsgruppen weniger auf dem Bindestrich als auf dem Möbiusband aufnimmt und in andere diskursive Schwingungen versetzt.
39
Unter demselben Paradigma figurieren verschiedene Subgenres der halbdokumentarischen Testimonio- und der Memoirenliteratur, Tagebücher, Chroniken, Briefe oder Bekenntnisse.
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Gesine Müller
Gesine Müller (Potsdam)
»Nunca se llega a ser caribeño del todo.« ZusammenLebensWissen in transkolonialer Dimension. Oder: karibische Literaturen im 19. Jahrhundert
Kulturtheoretische Versuche, ein Zusammenleben in Frieden und Differenz programmatisch zu fassen, spielen vor allem im begonnenen 21. Jahrhundert eine Rolle.1 Sie werden entwickelt als Antwort auf eine missglückte Etikettierung von Multikulturalismus oder als Absage an einen essentialistischen Identitätsbegriff. Dass aktuelle Debatten zu diesem Thema auch intensiv von Intellektuellen der Karibik und ihrer Diaspora geführt werden, liegt aus verschiedenen Gründen nahe. Die literarisch sehr reiche Region2 hat sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich zu einem der privilegierten Orte für Theorieproduktion emporgeschwungen: Négritude, Créolité, Relationalité – in dieser chronologischen Abfolge wird versucht, das Zusammenleben in der Karibik und ihrer Diaspora konkret in den Blick zu nehmen beziehungsweise von dort aus universale Kategorien zu entwickeln, wie es vor allem Édouard Glissant3 und Benítez Rojo4 unternommen haben. Dabei stellt sich bis heute immer wieder die Frage, wie ethnische Differenz zu fassen ist, ohne in Essentialismen zurückzufallen. Ähnlich wie die Kritik am Multikulturalismus durch führende Intellektuelle in der angelsächsischen Tradition, wie Arjun Appadurai5 oder Paul Gilroy6, bemerkt Walter Mignolo rückblickend recht kritisch über die Creolité-Diskurse: 1
2
3 4
5 6
Vgl. zu den besonders großen Herausforderungen nach Grundlagen und Bedingungen des Zusammenlebens im weitweiten Maßstab in der vierten Phase beschleunigter Globalisierung Ottmar Ette, ZusammenLebensWissen. List, Last und Lust literarischer Konvivenz im globalen Maßstab, Berlin 2010, S. 169f., 183. Die Karibik hat sich in besonderer Weise als privilegierte Region von »Literaturen ohne festen Wohnsitz« einen Namen gemacht. Vgl. Ottmar Ette, ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin 2005, S. 123–156. Édouard Glissant, Poétique de la relation, Paris 1999. Antonio Benítez Rojo, La isla que se repite, Barcelona 1998. Das Zitat im Titel dieses Beitrags »Nunca se llega a ser caribeño del todo« stammt gerade aus diesem Buch. Vgl. ebd., S. 266. Arjun Appadurai, Die Geographie des Zorns, Frankfurt a. M. 2009. Paul Gilroy, After Empire. Melancholia or convivial culture?, London 2004.
»Nunca se llega a ser caribeño del todo.«
193
Criollos, caribeanidad y criollidad son todavía categorías que se soplan pero que pertenecen a diferentes niveles. Ser o definirse a uno mismo como criollo significa identificarse con un grupo de gente y diferenciarse de otro. Así, decir que »ni europeos, ni africanos, nos proclamamos criollos«7 es identificarse en relación con un territorio y con los procesos históricos que crearon ese territorio.8
Was aber wird dieser Kritik entgegengehalten? Glissant nennt sein alternatives Modell Kreolisierung: Sie ist eine Mischung, insbesondere eine Mischung der Kulturen, die Unvorhersehbares herstellt. Die Kreolisierung, die in der Karibik stattfindet und die auf die anderen Anteile Amerikas übergreift, wirkt auch überall auf der ganzen Welt. Ich behaupte also, dass die Welt sich kreolisiert. Schlagartig und dabei in vollem Bewusstsein werden die Kulturen der Welt miteinander in Kontakt gebracht, verändern sich in ihrem Austausch, was häufig zu unabwendbaren Zusammenstößen, erbarmungslosen Kriegen führt, aber es sind auch Vorposten des Bewusstseins und der Hoffnung erkennbar.9
Da die heutige, spezifisch postkoloniale Situation karibischer Gesellschaften nicht ohne eine Auseinandersetzung mit ihren kolonialen Dimensionen möglich ist – bereits Benítez Rojo sprach in La isla que se repite von einer gegenseitigen Bedingtheit von heutigen Creolité/Criollidad-Diskursen und historischer Plantagenwirtschaft10 – soll nun eine besonders spannende und komplexe Phase des Kolonialismus in der Karibik in den Blick genommen werden: das 19. Jahrhundert. Worin liegt der spezifische Gehalt eines literarischen Potentials von ZusammenLebensWissen karibischer Literaturen im 19. Jahrhundert?11 Bei der Anlehnung an den Titel des Bandes sind zwei Ebenen zu unterscheiden: Wissensnormen von Zusammenleben. Darunter verstehe ich die explizite Vermittlung eines Programms vom guten oder idealen Zusammenleben. 7
8 9
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11
Jean Bernabé/Patrick Chamoiseau/Raphaël Confiant, Éloge de la Créolité [1989]. Paris 2002, S. 75, zit. nach Walter Mignolo, Historias Locales/Diseños Globales. Colonialidad, conocimientos subalternos y pensamiento fronterizo, Madrid 2003, S. 197. Mignolo, Historias, S. 197. Édouard Glissant, Kultur und Identität: Ansätze zu einer Poetik der Vielheit. Aus dem Französischen von Beate Thill, Heidelberg 2005, S. 81. Der kubanische Kulturtheoretiker Antonio Benítez Rojo hat in seinem zum Klassiker avancierten Essay La isla que se repite dargestellt, dass zu jedem Verständnis von Kreolität eine Auseinandersetzung mit dem System der Plantagengesellschaft notwendigerweise gehört: »Bien, entonces, ¿qué relaciones veo entre plantación y criollización? Naturalmente, en primer término, una relación de causa y efecto; sin una no tendríamos la otra. Pero también veo otras relaciones.« Benítez Rojo, Isla, S. 396. Vgl. Ette, ZusammenLebensWissen, S. 80.
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Gesine Müller
Wissensformen von Zusammenleben. Darunter verstehe ich die Vermittlung eines literarischen Gehalts von Zusammenleben,12 eine Ebene, die explizit oder implizit lesbar sein kann.13 Dass im 19. Jahrhundert mit der Etablierung von Rassismusdiskursen die Frage des Zusammenlebens besonders dicht verhandelt wird, liegt auf der Hand, war ja das Konzept »Rasse« in der Ausgestaltung der politischen Anatomie des 19. Jahrhunderts entscheidend. Indem dieses Konzept wissenschaftlich wurde, blieb es ein wichtiger Aspekt der europäischen Geopolitik auf dem Weg zu einer globalen Vorherrschaft, die durch die Anwendung von Darwins Erkenntnissen unterstützt und legitimiert wurde.14 Angesichts der epochalen Dominanz dieser allgegenwärtigen Ausprägung ethnischer Differenz soll nun Zusammenleben durch die Linse eines ethnographischen Blicks eingefangen werden. Während aktuelle Versuche, wie die von Mignolo oder Glissant, darum bemüht sind, frühere Identitätskonzepte als essentialistisch zu entlarven, stellt sich für das 19. Jahrhundert bereits im Vorfeld die herausfordernde Frage, inwiefern es möglich ist, Konstruktionen von Essentialismen kritisch zu hinterfragen in einer Epoche, die gerade als Blütezeit des Rassismus in die Geschichte einging. Kann ein geschärfter Blick auf Repräsentationen von Zusammenleben dazu führen, kanonisierte Referenzrahmen im 19. Jahrhundert wie Rasse und Nation zu relativieren? Denn die Frage nach dem Zusammenleben sucht differenziertere Antworten, als beispielsweise eine ethische Dimension des abolitionistischen Romans und seinen Beitrag zur Abschaffung der Sklaverei hervorzuheben. Genauso wenig kann es global darum gehen, etwa die Beschwörung eines transkulturellen Kuba durch einen Gründungsroman wie Cecilia Valdés zu betonen. Kurz, es geht um mehr als um engagierte Literatur. Meine Beispiele situieren sich in chronologischer Abfolge über das 19. Jahrhundert hinweg, das heißt konkret zwischen 1789 und 1886. Damit wird ein Bogen gespannt von der Lancierung des Gleichheitsgedankens der Französischen Revolution bis zur Abschaffung der Sklaverei auf der letzten Karibikinsel, auf Kuba. Dieser Zeitrahmen verweist also auf den grundlegenden Wandel des Menschen- und Gesellschaftsbildes, der sich im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzieht und der sich umformend in die kolonialen Räume hinein übersetzt. Eine zentrale Scheidelinie bildet das Jahr 1848, 12
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Es geht also um ein Wissen, »das stets im Kontakt mit der außerliterarischen Lebenswelt steht, [das] aus der spezifischen Eigengesetzlichkeit und dem EigenSinn der Literatur heraus verstanden […] werden kann.« Ebd., S. 114. Vgl. Ottmar Ette, Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft, in: Lendemains 2007, S. 7–32, hier S. 27. Gilroy, After Empire, S. 6.
»Nunca se llega a ser caribeño del todo.«
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das im französischen Kolonialreich die Sklaverei beendet. Damit gruppieren sich die Texte um ein Ereignis, das die Gesellschaften radikal verändert beziehungsweise – im Falle der spanischen Kolonien – die Frage nach Abolition durch die unmittelbare Nachbarschaft nochmals präsenter macht. Die Frage nach Wissensformen und -normen des Zusammenlebens schließt den Akt des Lesens immer mit ein. Ohne hier den Versuch einer rezeptionsorientierten Untersuchung zu wagen, ist festzuhalten, dass fast alle Textbeispiele literarische Zeugnisse einer schreibenden kreolischen Oberschicht sind, die zwar nicht annähernd den »ganzheitlichen Zustand« einer Gesellschaft spiegelt, die aber allein entscheidend verantwortlich war für die Etablierung herrschender Diskurse, also im Sinne einer »écriture blanche« schreibt15 und entsprechend von einer kleinen Minderheit gelesen wird.
I.
Voraussetzungen: Wer ist Mensch?
Begeben wir uns in die Hochphase der karibischen Plantagenwirtschaft, am Vorabend der Französischen Revolution. Entscheidend für die Frage nach dem Zusammenleben der Menschen war nicht so sehr das Wie, sondern die Frage, wer sich überhaupt Mensch nennen durfte. Hier hat Michel-Rolph Trouillot auf ein entscheidendes Ereignis hingewiesen und die anthropologische Dimension kolonialpolitischer Konstellationen in Paris zu jenem Zeitpunkt auf den Punkt gebracht.16 Er beschreibt, wie im Juli 1789, wenige Tage vor der Erstürmung der Bastille, Pflanzer aus Saint-Domingue in Paris zusammenkamen, um die neue französische Nationalversammlung dazu aufzufordern, zwanzig Deputierte aus der Karibik in ihren Reihen aufzunehmen.17 Die Pflanzer hatten diese Zahl genau mit denjenigen Methoden errechnet, die auch in Frankreich zur Zuteilung der Deputierten benutzt wurden, nur dass sie ganz bewusst die schwarzen Sklaven und die gens de couleur zur Inselbevölkerung hinzugezählt hatten, obwohl sie natürlich niemals daran dachten, diesen Nichtweißen das Wahlrecht einzuräumen. Honoré 15
16
17
Vgl. Thomas Bremer, »Haiti als Paradigma. Karibische Sklavenemanzipation und europäische Literatur«, in: Hanns-Albert Steger/Jürgen Schneider (Hrsg.), Karibik. Wirtschaft, Gesellschaft, Geschichte, Frankfurt a. M. 1982, S. 319–340, hier S. 336. Ich orientiere mich für diesen Teilaspekt direkt an den grundlegenden Ausführungen von Michel-Rolph Trouillot. Vgl. Michel-Rolph Trouillot, »Zur Bagatellisierung der haitianischen Revolution«, in: Sebastian Conrad/Shalini Randeria (Hrsg.), Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften, Hamburg 2002, S. 84–115. Vgl. ebd., S. 90.
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Gabriel Riquetti, Comte de Mirabeau, ergriff in der Sitzung vom 3. Juli 1789 das Wort, um die aberwitzigen Berechnungen der Pflanzer zu entlarven: Zählen die Kolonien ihre Neger und ihre gens de couleur zur Klasse der Menschen oder zu derjenigen der Lasttiere? Wenn die Kolonien die Neger und die gens de couleur als Menschen gezählt wissen möchten, sollten sie ihnen zuerst das Wahlrecht geben, so dass alle wählen und alle gewählt werden können. Falls nicht, bitten wir sie zu beachten, dass wir bei der Verteilung der Anzahl der Deputierten auf die Bevölkerung Frankreichs weder die Anzahl unserer Pferde noch diejenige unserer Maultiere in Betracht gezogen haben.18
Es ging Mirabeau darum, die französische Nationalversammlung davon zu überzeugen, die philosophische Position der Menschenrechtserklärung mit ihrer politischen Haltung gegenüber den Kolonien in Einklang zu bringen. Allerdings sprach die Erklärung von den »Rechten des Menschen und Bürgers«, ein Titel, der bereits widersprüchlich ist. Trouillot stellt heraus, wie im vorliegenden Fall der Bürger den Sieg über den Menschen davontrug, zumindest über den nicht-weißen Menschen. Die Nationalversammlung erlaubte den Zuckerkolonien der Karibik nur sechs Abgeordnete. Dies war mehr, als man ihnen aufgrund der Anzahl an weißen Bewohnern zugestanden hätte, aber deutlich weniger, als herausgekommen wäre, hätte die Versammlung die vollen politischen Rechte von Schwarzen und gens de couleur anerkannt. Nach den Rechenmaßstäben der Realpolitik brachte eine halbe Million Sklaven auf Saint-Domingue/Haiti und mehrere Hunderttausend in den anderen Kolonien genau drei Deputierte, die natürlich weiß waren.19 Vor dem Hintergrund einer hochgradigen Verunsicherung bezüglich der Frage, wer überhaupt Mensch sei, verwundert es nicht, dass die Autoren der folgenden Textbeispiele sehr stark mit ethnischen Zuordnungen beschäftigt sind.
II.
Wissensnormen von Zusammenleben oder utopische Gesellschaftsmodelle
In dem 1835 veröffentlichten Roman Outre-mer des aus der französischen Kolonie Guadeloupe stammenden Béké-Autors Maynard de Queilhe wird die Utopie einer friedlichen Sklavengesellschaft gezeichnet. Der Protago18
19
Archives Parlementaires 1789, Bd. 8, S. 186, zit. nach Trouillot, Bagatellisierung, S. 90. Vgl. Trouillot, Bagatellisierung, S. 91.
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nist Marius, ein Mulatte, reproduziert die während seines Paris-Aufenthaltes aufgeschnappten Gleichheitsparolen und echauffiert sich über den Rassenwahn in seinem Herkunftsland, nur um nach seiner Rückkehr nach und nach festzustellen, wie unrealistisch die egalitären Ideen der Französischen Revolution seien und wie sehr sie vorbeigehen an der kolonialen Wirklichkeit und an der tatsächlichen Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der Menschen unterschiedlicher Hautfarbe und Abstammung. Anfangs nehmen seine Worte fast spätere Positionen der Négritude vorweg, was so weit geht, dass er eine schwarze Frau kauft und befreit, um sie zu heiraten. Doch schnell wird er auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt, und ihm wird klar, dass sie Welten trennen. Marius lernt, dass er nur eine »echte Frau« lieben kann: eine Weiße. In einem Läuterungsprozess im Sinne des klassischen Bildungsromans gelangt er mühsam zu der Einsicht, dass die philanthropischen Ideen aus bestimmten Zirkeln in Paris und London das wohletablierte Plantagensystem zu Unrecht diskreditieren. On lui avait dit qu’on les exposait aux intempéries des saisons, sans défense, sans vêtements; et il apprenait que ces hommes recevaient par an deux casaques et deux caleçons, les femmes deux casaques et deux jupes: que si parfois on les voyait à moitié nus c’est que cela leur était plus agréable. […] A ces travaux ne se joignaient ni douleurs ni peines. Par intervalles certes le fouet retentissait, mais en l’air et non sur le dos de l’esclave et c’était uniquement pour exciter l’ardeur des endormis ou pour se faire entendre des plus éloignés. La terre n’était point arrosée de leurs sueurs mais peut-être du sirop qu’on ne leur refuse en aucun temps, et qu’ils ont l’habitude de boire délayé dans l’eau […] On lui avait annoncé beaucoup de cris et de gémissements, et il ne les entendait que rire et jaser.20
Das Beispiel repräsentiert das Modell eines idealen Zusammenlebens auf der Grundlage einer Gesellschaftsordnung, in der jeder seinen Platz hat und in der die Sklaven bestens behandelt werden. Während die Pro-Sklaverei-Haltung eines Maynard de Queilhe symptomatisch ist für die Pflanzer-Schriftsteller der französischen Antillen, gibt es durchaus auch utopische Zukunftsprojekte, die die Vermischung der »Rassen« positiv sehen. Es ist kein Zufall, dass diese oft in den kolonialen Zentren entstehen. So kann man ein Jahr nach dem Erscheinen von Outre-mer in der sklavereikritischen Revue des colonies von der Utopie einer neuen gemischten Rasse lesen:
20
Louis de Maynard de Queilhe, Outre-mer. 2 Bde., Paris 1835, Bd. 1, S. 105f.
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De ces blancs, de ces noirs, de ces rouges, il se fondera une race mélangée d’Européens, d’Africains et d’Américains, qui en quelques générations et au travers des croisements divers, arrivera, par le brun, le carmélite, le prune – monsieur, l’orangé, à un jaune pâle, légèrement cuivré. Toutes ces singularités, toutes ces merveilles de civilisation qui élèvent et intéressent notre cœur et notre esprit, sont plus ou moins prochaines.21
Dank der bevorstehenden Vermischung, die noch unvorhersehbare Ergebnisse mit sich bringen wird, sind Zivilisationswunder zu erwarten – eine für die Zeit sehr ungewöhnliche Wissensnorm von Zusammenleben, die in diesem Zitat vermittelt wird. Nochmals einen anderen Blick auf ethnische Konstellationen vermittelt ein repräsentatives Beispiel aus der spanischen Karibik: Ein Zitat aus einem Briefwechsel zwischen Domingo del Monte und Tanco y Bosmeniel mag paradigmatisch für die Kategorien stehen, innerhalb deren in der ersten Jahrhunderthälfte gedacht und diskutiert wurde. Es zeigt, dass klare Rassenzuschreibungen zwar auch auf Kuba funktionierten, dass dabei aber, im Unterschied zur frankophonen Karibik, das positive Potential der Schwarzen als Quelle romantischen Schreibens betont wird. So schreibt Domingo del Monte 1850 an Félix Tanco: Y qué dice V. de Bug Jargal? Por el estilo de esta novelita quisiera yo que se escribiese entre nosotros. Piénselo bien. Los negros en la isla de Cuba son nuestra poesía, y no hay que pensar en otra cosa; pero no los negros solos, sino los negros con los blancos, todos revueltos, y formar luego los cuadros, las escenas, que a la fuerza han de ser infernales y diabólicas; pero ciertas y evidentes. Nazca por nuestro Víctor Hugo, y sepamos de un avez lo que somos, pintados con la verdad de la poesía, ya que conocemos por los números y el análisis filosófico la triste miseria en que vivimos.22
Ab ca. 1860 tritt in der spanischen Karibik eine neue Gruppe in Erscheinung: Die puertoricanischen Intellektuellen Ramón Emeterio Betances und Eugenio María de Hostos sowie der Kubaner Antonio Maceo hatten festgestellt, dass sie die gleiche Geschichte teilen.23 Antonio Maceo24 war ein über21 22
23
24
Revue des colonies, Juli 1836, S. 20f. Brief von Félix Tanco an Domingo Del Monte vom 13. 02. 1836. Zit. nach: Gertrudis Gómez de Avellaneda, Sab. Mary Cruz (Hrsg.), Havanna 1976, S. 46. Antonio Gaztambide Geigel, La geopolítica del antillanismo en el Caribe del siglo XIX, 2010, http://www.uninorte.edu.co/publicaciones/memorias/memorias_8/articulos/gaztambide.pdf (Stand: 20. 02. 2010). Antonio Maceo Grajales, Papeles de Maceo. 2 Bde., Havanna 1948; Ders., Ideología política: Cartas y otros documentos, 2 Bde., Havanna 1950. Vgl.: Philippe Zacair, »Haiti on his mind: Antonio Maceo and Caribbeanness«, in: Caribbean Studies 33/2005, S. 47–78. Diese drei erwähnten Intellektuellen waren nicht die einzigen, die derartige Debatten führten, treten aber besonders prominent in Erscheinung.
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zeugter Antirassist. Er war gegen die Sklaverei, gegen eine Ungleichheit der Rassen und gegen jede Form von Unterdrückung. Sein Einsatz für bessere humanitäre Voraussetzungen war an den Kampf um eine koloniale Unabhängigkeit von Spanien gebunden. Das implizierte für ihn ein Engagement für die »Würde der schwarzen Rasse«. Und dies wiederum führte Maceo, genau wie Betances, zu einer starken Orientierung an Haiti. Auch Haiti sollte Teil der neuen karibischen Föderation sein. Antirassistische und pro-karibische Haltungen verschmelzen bei Maceo zu einem Programm, das einen Namen hat: Caribeanidad. Für den Puertoricaner Eugenio María de Hostos waren die Antillen ein abstraktes Szenarium, das er bis zu seiner Rückkehr aus Spanien nicht mehr betreten würde. Seine Rede vor dem Ateneo de Madrid im Jahre 1868 zeigt seinen klaren Bruch mit den spanischen Liberalen. Indem er davon spricht, dass die Föderation die »república absoluta« sei und die »alianza libérrima de todas las parcialidades nacionales«, verschmelzen bei ihm Puertorriqueñismo, Antillanismo, Latinoamericanismo und Americanismo. Gemeinsam ist allen Konzeptionen bei Hostos, dass sie sich nicht nur auf ein rein geographisches Territorium beziehen, sondern sich auch als utopisches Konstrukt verstehen:25 »¿qué son las Antillas? El lazo, el medio de unión entre la fusión de tipos y de ideas europeas de Norte América y la fusión de razas y caracteres dispares que penosamente realiza Colombia [la América Latina]«.26 Während seines Aufenthalts in New York gibt er eine klare geopolitische Definition: […] medio geográfico natural entre una y otra parte del Continente, elaborador también de una fusión trascendental de razas, las Antillas, son, políticamente, el fiel de la balanza, el verdadero lazo federal de la gigantesca federación del porvenir; social, humanamente, el centro natural de las fusiones, el crisol definitivo de las razas.27
Die Vorstellung eines Zusammenlebens der Rassen hat bei Hostos sowohl eine politische als auch eine kulturelle Seite: »unidad de la libertad por la federación de las naciones; unidad de las razas por la fusión de todas ellas.« Er proklamiert »la confederación de todas las Antillas y, como fin por venir, la liga de la raza latina en el nuevo continente y en el archipiélago del Mar Caribe«.28 25 26
27 28
Gaztambide Geigel, Antillanismo. Eugenio María de Hostos, Diario, 28 de marzo de 1870; zit. nach Gaztambide Geigel, Antillanismo, S. 8. Ebd. Brief an J. M. Mestre – 7 de noviembre de 1870; zit. nach Gaztambide Geigel, Antillanismo, S. 65.
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Die Idee des friedlichen Zusammenlebens der ethnischen Gruppen verschmilzt unmittelbar mit jener der Antillanischen Konföderation29 in seiner Rede »En el Istmo«. Das Konzept der Rasse ist bei Hostos, wie bei seinen Kollegen, nicht wirklich differenziert entwickelt und in sich sehr widersprüchlich. Die essentialistische Dimension bleibt auch bei ihm die Basis für ein Zusammenleben. Auf der einen Seite identifiziert er eine »verdadera raza de las Antillas« als eine Fusion aus afro-/latino-/amerikanischen Elementen. Auf der anderen Seite beinhaltet sein Diskurs von raza blanca und subrazas den rassistischen Diskurs aus Europa. Diskurse der Differenz machen zwar das Denken von Hostos, Betances und Maceo aus, jedoch werden sie im Gegensatz zu früheren Texten produktiv umgesetzt. Die Caribeanidad eines Maceo will Differenz auflösen. Dass diese Idee als Utopie ganz im Sinne von Hostos über den karibischen Archipel hinausgeht, spricht für die universale Dimension.
III. Wissensformen von Zusammenleben Ein ethnographisches Suchen oder die Frage der Distanz und des Abstands zum Anderen30 Wenden wir den Blick nun weg von normativen Versuchen, Zusammenleben zu projizieren, und konzentrieren uns auf Wissensformen. Diese manifestieren sich im Bemühen um Selbstverortung oder Verortung des Anderen, entweder explizit beschreibend oder als implizite Suche. So nimmt Levilloux, ein Schriftstellerkollege von Maynard de Queilhe aus Guadeloupe, in Les créoles ou la vie aux Antilles (1835) das ethnische Kastensystem durchaus kritisch unter die Lupe. Les blancs laissent tomber le mépris sur les mulâtres. Ceux-ci laissent à leurs pères la haine de l’envie et se vengent sur les noirs de la nuance dégradante d’épiderme dont ils sont héritiers. De leur côté, les nègres reconnaissent la supériorité des blancs, repoussent les prétentions de la classe de couleur, conspirent contre les uns parce qu’ils sont maîtres, et haïssent les autres parce qu’ils aspirent à le devenir.31
Hier wird deutlich, dass das oft als normativ proklamierte ethnische Kastensystem von allen beteiligten Gruppen ständig in Frage gestellt wird. Von 29
30 31
Zur Idee einer antillanischen Konföderation vgl. Frauke Gewecke, Der Wille zur Nation. Nationsbildung und Entwürfe nationaler Identität in der Dominikanischen Republik, Frankfurt a. M. 1996, S. 111. Vgl. Ette, Lebenswissenschaft, S. 28. J. Levilloux, Les créoles ou la vie aux Antilles [1835], Morne-Rouge, Martinique 1977, S. 9f.
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allen Seiten versucht man, die Barrieren aufzubrechen. Aufschlussreich ist auch Levilloux’ Darstellung der Weißen: »Les créoles, descendants des colons européens: intelligences légères, en général incultes, mais vives, pénétrantes, enthousiastes du merveilleux, dédaigneuses des connaissances philosophiques de l’Europe.«32 Der Ist-Zustand, die Selbstverständlichkeit definitorischer Schärfe, erfährt eine Relativierung durch die erstaunliche Selbstkritik eines weißen Autors aus Guadeloupe: den eingestandenen Mangel an Intelligenz. Hier wird klar: Weiß ist nicht gleich weiß. Wer sind Kreolen? Welcher Weiße schreibt für welche Weißen? Bei Levilloux zeigt sich an einer Stelle, inwiefern die Unsicherheit des Weiß-Seins unmittelbar an eine Angst der kreolischen Oberschicht gekoppelt ist, meist eine Angst, die Privilegien der guten alten Zeiten zu verlieren: »Les hommes sentaient le vieux monde s’abîmer sous leur pieds et se jetaient déjà vers cet avenir si prochain où devait se reconstruire une nouvelle société.«33 Die gute alte Zeit ist vorrevolutionär, und in Erinnerung an das Trauma der Französischen Revolution fühlt man sich am Vorabend der Abschaffung der Sklaverei im französischen Kolonialreich an den Vorabend von 1789 erinnert. Man befürchtet, dass sich in der Zukunft neue Formen von Zusammenleben entwickeln werden. Das Unvorhersehbare macht Angst. Gerade im Versuch, das undefinierbare Dazwischen der gesellschaftlichen Position und identitären Selbstverortung des Mulatten zu fassen, zeigt sich die Anstrengung der Weißen, weiß zu sein: Le mulâtre, il ne faut pas l’oublier, ce n’était pas un homme comme un autre. C’était une image de ces fortes natures où les précipices, les plantes vénéneuses et les animaux malfaisants abondent, mais où néanmoins on doit aller chercher les merveilles les plus estimées de cet univers.34
Selbst aus Sicht der Schwarzen werden die Mulatten bedauert und als in einem erbärmlichen Dazwischen wahrgenommen: So hat die Kräuterheilerin Iviane aus Les créoles ou la vie aux Antilles Mitleid mit dem Protagonisten Estève, was Levilloux durch bewusst fehlerhaftes Französisch inszeniert – eine Relativierung der Hochsprache, als die verbindliche normgebende Instanz. Interessanterweise spielt hier der Nationsbegriff eine Rolle. »Moi possédée de Dieu seul, répliqua la vieille. Vous mulâtre, moi negresse. Nation à moi est grande dans un grand pays. Vous pas avoir une nation, vous.«35
32 33 34 35
Ebd., S. 19. Ebd., S. 21. Maynard de Queilhe, Outre-mer, S. 16. Levilloux, Les créoles, S. 104.
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Ebenfalls auf der Suche nach einer treffenden Beschreibung des Mulatten äußert sich die Revue des colonies: Le nègre est issu d’un sang pur; le mulâtre est au contraire issu d’un sang mélangé; c’est un composé du noir el du blanc, c’est une espèce abâtardie. D’après cette vérité, il est aussi évident que le nègre est au-dessus du mulâtre, qu’il l’est que l’or pur est au-dessus de l’or mélangé.36
Ein forcierter Wahrheitsanspruch muss herhalten, um eine Grenzziehung zwischen Schwarzen und Mulatten durch »das Blut« zu erreichen. Die bereits als Wissensnorm von Zusammenleben in dem Pro-SklavereiZitat von Maynard de Queilhe vorgestellte literarische Textstelle zum Thema der Unmöglichkeit des Ideentransfers zwischen Metropole und Kolonie erfährt als Wissensform von Zusammenleben in Les créoles ou la vie aux Antilles eine neue Ausprägung. In einem Brief an seinen Sohn warnt der Vater vor den Ideen der Französischen Revolution. Gleichheit kann es in den Kolonien nicht geben: Il est important, mon fils, de te prémunir contre les maximes et les théories qui envahissent maintenant tous les esprits, et auxquelles la candeur de ton âge te rend plus accessible. Songe que tu dois retourner bientôt à la Guadeloupe, où tu trouveras une société, qui, tout en permettant de se nourrir spéculativement de ces idées d’égalité, défend de mépriser ouvertement des préjugés conservateurs. J’ai cru deviner, par tes lettres, une tendance marquée à t’exalter pour ces dogmes que tu nommes régénérateurs, mais qui ne peuvent l’être qu’après nous avoir tués. C’est ici le moment de te dire un mot des liaisons que le hasard pourrait te faire contracter avec des jeunes gens de couleur que des blancs envoient en Europe. Ne t’arrête pas aux signes extérieurs, ils sont souvent trompeurs. Sonde, questionne tous les créoles, tes camarades. Le nombre ne doit pas être grand ainsi sera-t-il plus facile de découvrir les origines et d’échapper à des dangereuses amitiés qui deviendraient une source de regrets et de contrariétés à venir, ne pouvant jouir d’une entière liberté dans vos rapports à votre retour dans les colonies. Quelle que soit l’énergie de ta volonté à cet égard, tu ne pourras lutter contre la société qui pèsera sur toi de tout le poids de ses usages et de ses idées incarnées. Songes-y, mon fils, et tout en accordant ta bienveillance, garde-toi de t’égaler par des liens d’amitié à des compatriotes de couleur. Je n’en dis pas davantage; que ta raison t’éclaire.37
Aufschlussreich für unsere Fragestellung ist hier, dass sich die Wissensform eines Zusammenlebens zwischen ethnischen Gruppen, aber auch zwischen weißen Philanthropen in Paris und weißen Kreolen, die in den Kolonien leben, als Balanceakt zwischen Wissensnorm und -form von Zusammenleben darstellt. Eine Vereinbarkeit der als Dogmen benannten philanthropischen Ideen mit den Lebensumständen in der Kolonie ist nur im Tod vorherseh36 37
Revue des colonies, Nov. 1838, S. 277. Levilloux, Les créoles, S. 23.
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bar. Die Klarheit der Vision, die das Gegenteil von Zusammenleben inszeniert, wird als definitorische Vorhersehbarkeit im Akt des Lesens erlebbar. Wenden wir uns schließlich wieder der spanischen Karibik zu, genauer gesagt dem bereits erwähnten Eugenio María de Hostos. Wie in den zitierten Reden ist auch im Roman La peregrinación de Bayoán die Idee einer pan-antillanischen Konföderation tragend. Diese Idee wird über eine Suche und Irrfahrt inszeniert, die bis zum Schluss offen ist und nicht klar beantwortet wird. So sieht sich der Protagonist als konstant suchenden Pilger in einem Zwischenraum: »Yo soy un hombre errante en un desierto, y mi único oasis eres tú [er wendet sich an seine Herkunftsinsel]. Yo soy un peregrino … ¿Necesito peregrinar? Pues, ¡adelante!«38 Pilgern als vieldimensionale Suche, als Ausdruck von Offenheit, aber auch von Fremdheit, als Zielgerichtetheit, aber auch mit dem Weg als Ziel; eine Kreisstruktur, die vielfach gebrochen ist. Einige Aufzeichnungen schreibt Bayoán an Bord, daher auch die an Kolumbus angelehnte Bezeichnung Diario de a bordo. Das Schiff stellt so eine Art Schwellenraum dar. Es kann gleichsam als Vehikel betrachtet werden, das die Grenzen der Zeitebenen passiert und den Protagonisten von einer Ebene in die andere befördert – quasi ein Pendeln zwischen Zeitebenen und Räumen: »El viento empujaba a la fragata, y la fragata andaba como ando yo, empujado por un viento que aún no sé si lleva a puerto.«39 Das Oszillieren zwischen den Wellen und damit auch zwischen offenen Räumen relativiert die Bestimmtheit eines Caribeanidad-Diskurses.
IV.
Fazit
In einem Zeitalter, in dem erst diskutiert werden muss, wer sich überhaupt Mensch nennen darf, wäre eine bewusste Bejahung des unvorhersehbaren Potentials, das jedem Zusammenleben zu eigen ist, unmöglich. Dennoch werden vor der Folie heutiger Diskussionen um Zusammenleben neue Lesarten historischer Texte möglich. Die Beispiele haben gezeigt, dass kulturelle Repräsentationsformen der Karibik im 19. Jahrhundert ein ganzes Arsenal an Wissensnormen von Zusammenleben bieten: zum Beispiel das utopische Modell der Sklavengesellschaft eines Maynard de Queilhe oder den Entwurf einer mischrassigen Gesellschaft in der Revue des colonies. Die Fokussierung 38
39
Eugenio María de Hostos, »La peregrinación de Bayoán« [1863], in: Ders., Obras completas, Julio López (Hrsg.), Río Piedras 1988, S. 18. Hostos, Peregrinación, S. 192.
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auf diese Konstellationen eines Zusammenlebens hat eine neue Dimension fruchtbar gemacht: welche Anstrengungen die Weißen unternehmen müssen, um ihr Weiß-Sein zu verteidigen. Während die ethnische Differenz vor 1848 vor allem binäre Strukturen reproduziert – sei es als für alle Beteiligten bestens funktionierendes Sklavereimodell, sei es als frühe Utopie eines melting pot –, ändern sich nach 1848 die normativen Modelle: Besonders in der hispanophonen Karibik werden Zukunftsmodelle einer pan-karibischen Konföderation entwickelt. Für alle normativen Projektionen eines Zusammenlebens bleibt entscheidend, dass trotz utopischer Relationalitätskonstellationen essentialistische Identitätskonstruktionen bestimmend sind. Wie sieht es aber mit den Wissensformen des Zusammenlebens aus? Sie finden sich häufiger in literarischen Texten als in anderen Textgattungen. Zusammenleben gestaltet sich dort oft als unsicherer Erprobungsraum,40 als ein Ausloten der Grenzen, als ein Dazwischen, das sich viel weniger klar definieren lässt als in normativen kulturellen Repräsentationsformen. So kommt es nicht von ungefähr, dass im Zusammenhang eines nur scheinbar klar artikulierbaren Ideals des Weiß-Seins häufig um die Definition des Mulatten gerungen wird: Die Unbestimmbarkeit des Anderen provoziert Angst. Zudem werden Verunsicherung und Angst geäußert, die alten Privilegien zu verlieren. Wirft man einen genaueren Blick auf das Thema »Unmöglichkeit des Ideentransfers«, wird deutlich, wie unabdingbar Wissensnormen- und formen zusammenhängen. Das zeigt sich besonders anschaulich bei Hostos, der normativ das Ideal einer pan-antillanischen Konföderation formuliert, in seinem zeitgleich erschienenen Roman jedoch eine Suche nach Caribeanidad inszeniert, deren Ende durchaus vager formuliert ist als in seinen Reden. Wenn die Essentialismen zwar aus programmatischen Schriften des 19. Jahrhunderts nicht wegzudenken sind, relativieren sich doch die etablierten Referenzrahmen wie Rasse und Nation dank des Blicks auf Wissensformen. Bezeichnenderweise sind es gerade die literarischen Texte, bei denen eine klare Trennung zwischen Wissensnormen und -formen von Zusammenleben nicht immer möglich ist. Literatur wird ihrer Rolle als interaktives Speichermedium von ZusammenLebensWissen gerecht.41 Wenig erstaunlich also, dass der bereits zitierte Hostos dieses Ineinander von Wissensnorm und -form eines Zusammenlebens so anschaulich vorführt, hat er doch in Moral social explizit formuliert: 40 41
Ette, Lebenswissenschaft, S. 27. Ebd., S. 31.
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La novela, género que aún dispone de vida, porque aún dispone de contrastes entre lo que es y lo que debe ser la sociedad humana, puede contribuir a que el arte, siendo verdadero y siendo bueno, sea completo. Entonces será un elemento de moral social. Cumpla con su deber, y lo será. Mientras tanto, no lo es, entre otros, por ese motivo final: porque no cumple con su deber.42
Die Caribeanidad-Diskurse können als Vorstufen heutiger konzeptioneller Debatten über Zusammenleben aufgefasst werden. Wenn auch aus der Karibik einige wertvolle Ansätze kamen, um über ZusammenLebensWissen nachzudenken, so wird in den aktuellen Debatten dort bisher der Begriff nicht definitorisch verwendet. Doch gibt es durchaus Anzeichen, dass der von Ottmar Ette geprägte und diesem Band und der vorausgehenden Tagung zugrunde gelegte Begriff in naher Zukunft von dort auch konzeptionell rezipiert werden wird. Immerhin gründete sich auf Martinique eine Organisation im Zuge der dortigen landwirtschaftlichen Krise im Januar 2009, die den kreolischen Namen Lyannaj kont pwofitasyon (LKP) trägt. Lyannaj bedeutet Zusammenleben.43 Und so nimmt es nicht wunder, dass Glissant diesen Begriff zum Anlass nahm, um über Vivre-ensemble nachzudenken. »Projetons nos imaginaires dans ces hautes nécessités jusqu’à ce que la force du Lyannaj ou bien du vivre-ensemble, ne soit plus un ›panier de ménagère‹, mais le souci démultiplié d’une plénitude de l’idée de l’humain.«44
42 43
44
Eugenio María de Hostos, Moral social, sociología, Caracas 1982, S. 248. Der Generalstreik in Guadeloupe wurde von einer Koalition von 50 Organisationen und Bewegungen geführt. Der Name des Streikbündnisses lautet Lyannaj kont pwofitasyon (LKP); der Prozess des Sich-Vereinheitlichens im Kampf erinnert an den Liebesakt; Liane ist das männliche Geschlecht. Vgl.: Manifeste pour les »produits« de haute nécessité, Martinique–Guadeloupe–Guyane–Réunion, signataires: Ernest Breleur, Patrick Chamoiseau, Serge Domi, Gérard Delver, Édouard Glissant, Guillaume Pigeard de Gurbert, Olivier Portecop, Olivier Pulvar, Jean-Claude William, Paris 2009. http://www.tlaxcala.es/detail_artistes.asp?lg=fr&reference= 300 (Stand: 20. 07. 2010). Vgl. ebd.
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Sergio Ugalde Quintana
Sergio Ugalde Quintana (México-Stadt)
Barock, afrokubanische Kultur und Zusammenlebenswissen bei José Lezama Lima
I.
Das Haus und der Text
Ein sehr bekanntes Foto Lezamas zeigt den kubanischen Dichter sitzend in seinem Haus in der Calle Trocadero 162 in der Altstadt von Havanna. Auf den ersten Blick erkennt man eine typische Bibliothek hispanoamerikanischer Intellektueller Mitte des 20. Jahrhunderts. Wenn wir jedoch die Dekoration genauer betrachten, entdecken wir viele persönliche Spuren des Hausherrn. An der Wand, oben, wo keine Regale und Bücher die Sicht verstellen, hängen etwa ein Dutzend Bilder verschiedener Maler. Unter den Bildern befindet sich das Bild einer Frau, gemalt von René Portocarrero, ein Bild von Mariano Rodríguez und eines von Arístides Fernández. Die drei Maler waren Freunde und Mitarbeiter von Lezama im Kuba der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Auf mittlerer Höhe der Wand schaut uns eine totonakische Maske an, die Lezama sicherlich auf seiner Reise nach Mexiko gekauft hat. Dazu gesellt sich eine chinesische Keramikschale. Auf den Regalen ruhen eine Menge prähispanischer Statuetten, Gefäße mit griechischer Bemalung, eine kleine Nofretete, ein Lao-tse, ein Konfuzius, ein griechischer Narziss, ein Cupido, ein paar Drachen sowie ein Becher aus mexikanischem Silber. Zwischen all den Dingen, in der Mitte der Wand, entdecken wir nach längerem Betrachten das Bild des kubanischen Dichters und Unabhängigkeitskämpfers José Martí. Die Bücher erheben sich auf dem Tisch als Mauer und schützen den Besitzer dieser Objekte. Sitzend im Mittelpunkt dieses chaotischen Universums, sieht Lezama Lima in den Fotoapparat. Der Eindruck dieses Raumes, den Severo Sarduy als »un amontonamiento de cuadros y muebles coloniales« definierte,1 wäre nichts anderes als ein anachronistisches und malerisches Bild,2 wenn es nicht eine Metapher lezamischer Texte enthalten würde. In den Essays, Romanen und Gedichten von Le1
2
Severo Sarduy, »Paradiso y la cuestión de la novela«, in: Antología, FCE, México, 2000, S. 147. Enrique Pérez Cristóbal, La imagen anacrónica. Alrededores de Lezama Lima, 2010, http://www.habanaelegante.com/Spring_Summer_2010/Dicha_PerezCristobal. html (Stand: 06. 07. 2010).
Zusammenlebenswissen bei José Lezama Lima
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zama, wie in seinem Haus, erkennt man das Zusammenleben von Fragmenten der chinesischen, ägyptischen, griechischen und prähispanischen Kulturen, mit Zitaten von Proust, Thomas Mann, Platon, Góngora, Quevedo und natürlich von Goethe. Der Raum der Bibliothek von Lezama ist ein Spiegel der textuellen Dynamik seiner Werke. Die räumliche Dynamik, die dieses Bild repräsentiert, ist eine Ankündigung der textuellen Dynamik. Das Studienzimmer verwandelt sich in einen Text-Raum. Das Haus wird ein Zeichen des Schreibens.
II.
Der Barock, das Ajiaco und das Zusammenleben
1937 publizierte Lezama Muerte de Narciso (Tod des Narziss), sein erstes Gedicht, in dem man neben dem Einfluss Góngoras und Valérys ein literarisches Universum erkennt, das Mythen und Symbole verschiedener Kulturen zusammenleben lässt. Der erste Vers des Gedichtes zeigt eine griechische Göttin in einem ägyptischen Umfeld: »Dánae teje el tiempo dorado por el Nilo.«3 Die Dichte des poetischen Projekts Lezamas zeigt sich nicht nur in einem komplexen System der hochgelehrten Hinweise, sondern auch im Zusammenleben verschiedener Mythen. Dieser enigmatische Vers ist der Anfang eines Werkes, das viele Kritiker mit dem Begriff Barock identifizierten.4 3
4
José Lezama Lima, »Muerte de Narciso«, in: Verbum, 2/1937, S. 29. Jahre später, 1976, sagte der Dichter über dieses Werk: »La Muerte de Narciso me hizo un poco conocido, conocido como desconocido, […] Se publicó […] en una revista que yo hacía en la Universidad que se llamaba Verbum. Ahí se ven ya las influencias que predominan en mí siendo casi adolescente. La influencia de Don Luis de Góngora, mi maestro, la influencia de Stefan Mallarmé, la influencia de Paul Valéry, la influencia de los simbolistas franceses, del neogongorismo español […]. El poema, pudiéramos decir, es una despedida de mi adolescencia […] tiene en germen como toda la posibilidad del desarrollo de mi obra futura.« Iván González Cruz (Hrsg.), Diccionario vida y obra de José Lezama Lima, Valencia 2000, S. 320. Es gibt eine umfangreiche Bibliographie über die Beziehung zwischen Lezama und dem Barock; ich nenne einige Titel: Severo Sarduy, »Dispersión, falsas notas / Homenaje a Lezama«, in: Eugenio Suárez Galbán (Hrsg.) Lezama Lima el escritor y la crítica, Madrid 1987, S. 116–140; Severo Sarduy, Barroco, Buenos Aires 1974; Roberto González Echevarría, »Apetitos de Góngora y Lezama«, in: Revista Iberoamericana, 41/1975, S. 479–491; Ders., »Lezama, Góngora y la poética del mal gusto«, Hispania, 84/2001, S. 428–440; Irlemar Chiampi, »El barroco en el ocaso de la modernidad«, in: Ders. (Hrsg.), Barroco y modernidad, México 2000, S. 17–41; Julio Ortega, »De Lezama Lima a Severo Sarduy: el barroco latinoamericano«, in: o. V., Identità e metamorfosi del Barroco Ispanico, Neapel 1987, S. 199–212; Juan Goytisolo, »La Metáfora erótica: Góngora, Joaquín Belda y Lezama Lima«, in: Revista Ibero-
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Lezama ist sicherlich in einem Umfeld ausgebildet worden, in dem eine neue Lektüre des hispanischen Barocks begünstigt wurde. Während der Modernismo und die Lateinamerikanische Avantgarde in der Literatur der Siglos de Oro eine Quelle von rhetorischer Erneuerung gefunden hatten, haben im Gegenteil Lezama und seine Generation im Barock nicht nur ein künstlerisches Universum gefunden, sondern auch eine gegenwärtige Lebensform, ein Ethos, im Sinne von Bolívar Echeverría.5 In seinen ersten Essays hat Lezama die Beziehung zwischen kubanischer Nationalkultur und anderen Kulturen untersucht. In einem Dialog mit dem spanischen Schriftsteller Juan Ramón Jiménez hat Lezama die Insularität als eine mythische Sensibilität definiert: »Me gustaría que la sensibilidad insular se mantuviese solo con la mínima fuerza secreta para decidir un mito.«6 Lezama suchte einen Mythos der Sensibilität, der alle Traditionen umfasste. Während dieser Zeit definierte Lezama sein kulturelles Programm der Insel in seiner Zeitschrift Espuela de Plata wie folgt: »La ínsula distinta en el Cosmos, o lo que es lo mismo, la ínsula indistinta en el Cosmos.«7 Die am besten geeignete Ästhetik, um dieses Universum der Universen, um diese Auflösung des Kosmos, um diesen Zusammenfluss verschiedener Kulturen zu äußern, war freilich der Barock: La generación de pintores del 25 nació bajo la égida del esprit nouveau, la generación del 40 [hizo] peculiar detenimiento, en pintura y poesía, en las manifestaciones estilísticas del barroco […]. En realidad, esa apreciación del barroco era una vuelta al planteamiento estilístico de lo que debía ser el arte americano en función de arte universal. Es decir, un rico material cuantitativo, tomado de todos los aportes […] que laboraba sobre la forma […]. Esa síntesis […] es necesaria para integrar el barroco.8
Der Begriff Barock bei Lezama ist innerhalb einer geistigen Strömung zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Zu dieser Zeit wurden die Bücher Renaissance und Barock (1888) sowie Kunstgeschichtliche Grundbegriffe (1915),
5 6
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americana, 42/1976, S. 157–175; Carmen Ruiz Barrionuevo, »Góngora y Garcilaso en los comienzos de Lezama Lima: El secreto de Garcilaso«, in: o.V., Las relaciones literarias entre España e Iberoamérica. XXIII Congreso Internacional de Literatura Iberoamericana, Madrid 1987, S. 537–543; Ester Gimbernat de González, »La curiosidad barroca«, in: Eugenio Suárez Galbán (Hrsg.), Coloquio Internacional sobre la obra de José Lezama Lima, Bd. 1, Madrid 1984, S. 59–66. Bolívar Echeverría, La modernidad de lo barroco, México, 1998. José Lezama Lima, »Coloquio con Juan Ramón Jiménez«, in: Ders. Obras completas, Bd. 2, México 1977, S. 51. José Lezama Lima, »Razón que sea«, in: Espuela de Plata, 1/1939, S. 1. José Lezama Lima, Diccionario vida y obra de José Lezama Lima, ed. Iván González Cruz, Generalitat Valenciana, Valencia, 2000, S. 41.
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beide von Heinrich Wölfflin, rezipiert. Das durch die Bücher aufkommende Interesse richtete sich auf die Wiedererschließung einer noch im gesamten 19. Jahrhundert abgelehnten Ästhetik. In den zwanziger und dreißiger Jahren folgte eine Publikationsschwemme sowohl im historischen Feld wie auch im theoretischen. Lezama verfolgte mit Aufmerksamkeit diese Diskussionen, indem er die spanischen Übersetzungen der Artikel und Werke las. Die Übersetzungen erschienen in den spanischen Verlagen Espasa-Calpe und Revista de Occidente auf Anregung von José Ortega y Gasset.9 Im Werk Lezamas finden sich ab den dreißiger Jahren zwei klare Leitideen zum Thema Barock. Die erste dreht sich um den historischen Stil als solchen und die zweite um den Geist einer Kultur. Wenden wir uns der ersten Leitidee zu. Im Jahre 1937 benutzt Lezama, vielleicht zum ersten Mal, den Begriff Barock in dem Essay »El secreto de Garcilaso«, der in der Zeitschrift Verbum erschien. Lezama zeigt in dem Artikel die Parallelen zwischen der frühen Renaissance-Dichtung des Garcilaso de la Vega und der beginnenden barocken Dichtung Luis de Góngoras im spanischen Kulturraum. Lezama beschäftigt sich aufgrund des vierhundertsten Todestages mit Garcilaso, gleichzeitig studiert er Góngora. Die Kernidee des Essays war provokativ. Er stellte hier Góngora nicht als Vertreter eines theologisch-poetischen Barocks dar, sondern als Nachfolger Garcilasos. Mit anderen Worten: Góngora war ein Dichter der Post-Renaissance. »Góngora es sin duda no un barroco, en el sentido de ser arrastrado por una fuerza poético-religiosa que nace sin resignarse a constituirse en expresión, como familia de sirenas que pudiesen vivir sin respirar. Es un barroco posrenacentista.«10 Im Essay widerspricht Lezama Wilhelm Worringer, der den Barock als entartete Gotik deutete. Die Poesie Garcilasos sei, so Lezama, kein entartetes gotisches Werk, sondern »el centro del cual van a surgir Lope y Góngora.«11 Immer wieder vergleicht Lezama hierzu die poetische Ausdrucksweise und Bilder der beiden Autoren, um Parallelen und Kontinuitäten zwischen Barock und Renaissance herauszuarbeiten: »Mientras Góngora endulza su estructura, abrillanta su esqueleto y enrojece al vivo su connatural viveza que aduerme voluntariamente un solo ojo, Garcilaso orgánicamente resuelve la antinomia Medioevo-Renacimiento, Toledo-Roma.«12 Ein weiteres Essay erschien 1951, erneut über Góngora. In 9
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Heinrich Wölfflin, Conceptos fundamentales de la historia del arte, Madrid 1924; Wilhelm Worringer, La esencia del estilo gótico, Buenos Aires 1942; Werner Weisbach, El barroco: arte de la contrarreforma, Madrid 1942. José Lezama Lima, »El secreto de Garcilaso«, in: Ders., Obras completas, Bd. 2, México 1977, S. 16. Ebd., S. 15. Ebd., S. 41.
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diesem Aufsatz vergleicht der kubanische Dichter die Ausdrucksweise von Calderón de la Barca und Góngora. Jeder der beiden Dichter steht für einen besonderen hispanischen Barockstil: »el barroco concentrado e incandescente de Góngora, […] y el barroco curvo, suelto y lánguidamente sucesivo de Calderón«.13 Lezama schreibt in dem Text über den Stil Góngoras, die hedonistische Weltanschauung des Dichters, die Gegenstände und die Strahlkraft seiner Verse. Aber in Góngoras Werk fehle es, so Lezama, an Dunkeltönen: »la noche oscura de san Juan«. Er wiederholt in diesem Essay seine Deutung des hispanischen Barockstils als die Kunstform einer gesamten Epoche. Wenn Lezama sich aber auf den Barock des amerikanischen Kontinents bezieht, redet er nicht mehr von einem Stil, sondern von einer tragenden Säule der dortigen Kultur. Der Barock der neuen Welt ist also keine Form, sondern Teil des diese hervorbringenden Substrates. Diese Auffassung kündigte Lezama bereits 1948 in einem Text über den Maler Roberto Diago an. Dort definiert der Dichter den hispanischen Barock als »un humus fecundante que evaporaba cinco civilizaciones.«14 Wenn der hispanische Barock eine Synthese aus fünf Kulturen sei, so nehme der amerikanische die indianische und die afrikanische hinzu und müsse daher komplexere Ausdrucksweisen ermöglichen. 1957 hielt Lezama in Havanna eine Vortragsreihe. Im zweiten der fünf Vorträge stellt er die amerikanischen Künstler Kondori und Aleijadinho vor. Der erste, dessen Existenz unsicher ist, hatte indianische Wurzeln,15 der zweite war ein Mulatte aus Minas Gerais. Das barocke Werk, welches Kondoris Namen trägt, führt den europäischen Stil mit der typischen indianischen Weltanschauung zusammen: 13
14
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José Lezama Lima, »Sierpe de Luis de Góngora«, in: Ders. Obras completas, Bd. 2, México 1977, S. 193. José Lezama Lima, »En una exposición de Roberto Diago« in: Ders., Obras completas, Bd. 2, México 1977, S. 745. Die tatsächliche Existenz von Kondori wurde in Frage gestellt. Es scheint, dass das Werk im Kollektiv geschaffen wurde. Wenn Lezama über Kondori und Aleijadinho spricht, entnimmt der Dichter Informationen von Ángel Guido, Redescubrimiento de América en el arte, Buenos Aires 1944. Esther Gimbernat de González schreibt: »Lo paradójico es que estudios posteriores han invalidado las teorías de Guido sobre la iglesia de Potosí y el indio Condori. Mario Buschiazzo dice que lo de Condori ›no se basaba en documento alguno; era una simple conjetura, o mejor dicho, fantasía, cuyo valor diluía al saberse que Condori es el más popular de los apellidos quechuas […] Guido aceptó sin titubeos lo que dijera Subieta Sagárnagay levantó todo el andamiaje de su teoría indigenista sobre ese nombre indocumentado‹«. Vgl. Esther Gimberat de González, »La curiosidad barroca«, in: Coloquio Internacional sobre la Obra de José Lezama Lima, Bd. 1, Madrid 1984, S. 61f.
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[Kondori] Había estudiado con delicadeza y alucinada continuidad las plantas, los animales, los instrumentos metálicos de su raza, y estaba convencido de que podían formar parte del cortejo de los símbolos barrocos en el templo […] igualaba la hoja americana con la trifolia griega, la semiluna incaica con los acantos de los capiteles corintios, el son de los charangos con los instrumentos y las renacentistas violas de gamba. Ahora gracias al heroísmo y revivencia de sus símbolos, precisamos que podemos acercarnos a las manifestaciones de cualquier estilo sin acomplejarnos ni resbalar, siempre que insertemos allí los símbolos de nuestro destino y la escritura con que nuestra alma anegó los objetos.16
Die Entwicklung bleibt nicht bei der indianischen Kultur stehen, sondern ergreift vielmehr die afroamerikanische Kultur und integriert sie in den europäischen Stil. Das Werk von Aleijadinho lässt das komplexe kulturelle Zusammenleben in der Neuen Welt erkennen. Lezama schreibt über ihn: Su madre era una negra esclava. Su padre un arquitecto portugués. Ya maduro el destino lo engrandece con la lepra, que lo lleva a romper con una vida galante y tumultuosa, para volcarse totalmente en sus trabajos de piedra. Con su gran lepra, que está también en la raíz proliferante de su arte, riza y multiplica, bate y acrece lo hispánico con lo negro.17
Der kulturelle Assimilationsvorgang kann nicht nur als stilistischer, sondern muss als kultureller Umsturz (als Subversion) der Sprache der Kunst gesehen werden. Der Barock ist mitnichten nur eine Form der Gegenreformation, wie Heinrich Weissbach ihn definiert, sondern in Amerika ist er die Kunst der Gegeneroberung. Da der amerikanische Barock andere kulturelle Elemente aufnehmen kann, steckt in ihm ein latenter Keim der Unabhängigkeit. Der Barock der Neuen Welt ist also eine Auflehnung. Die Auffassung des Barocks als kulturelle Synthese verweist auf den Begriff »Transculturación«, der in dieser Zeit in Kuba aufkam. Als Lezama die Barockästhetik als kulturelles Programm und Lebensprogramm zu schätzen begann, hat der kubanische Anthropologe Fernando Ortiz – in Vorträgen und Essays – eine bedeutende Idee für die folgenden Überlegungen über die insulare Kultur entwickelt. Niemand, so Ortiz, bewahrt in der kubanischen Kultur unberührt seine kulturelle Identität. Alle – Weiße, Chinesen, Afrikaner, Indianer – tragen irgendein Element für die vielfältige Bildung der kubanischen Nationalität bei. Der Anthropologe benutzte eine kulinarische Metapher, um sich auf diesen Prozess des kulturellen Zusammenlebens zu beziehen: das Ajiaco (das kubanische Nationalgericht, bei dem sich alle Zutaten miteinander mischen). Die kubanische Nationalität, so Ortiz, war das 16
17
José Lezama Lima, La expresión americana, Irlemar Chiampi (Hrsg.), México 1998, S. 104. Ebd., S. 106.
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Ergebnis eines kulturellen Ajiaco, bei dem alle Anteile in einem gleichen Zeit-Raum zusammenlebten und sich miteinander verknüpften.18 1940 entwickelte Ortiz seine Meinungen im Buch Contrapunteo cubano del tabaco y del azúcar. In diesem Werk nennt Ortiz das kulturelle Ajiaco »Transculturación«. Es ist nicht schwierig zu sehen, dass es zwischen der Auffassung vom Barock bei Lezama und der Metapher vom Ajiaco bei Ortiz eine enge Beziehung gibt.19 Der Barock bei Lezama, wie die República transcultural bei Ortiz, ist eine Antwort auf die Realität der Insel. Die barocke Dekoration seines Studienzimmers, mit Fragmenten von chinesischen, amerikanischen, ägyptischen und griechischen Kulturen, ist eine Metapher seiner Texte, aber auch eine Allegorie der karibischen Insel. Es handelt sich nicht um Exotik, sondern um eine Nachforschung verschiedener Schichten, die die kubanische Kultur und Realität begründen. Die fragmentarische und vielschichtige Inszenierung verschiedener Kulturen in Lezamas Foto, und in seinen Texten, ist nur in der räumlichen Dynamik der Insel zu verstehen. Die kubanische Insel und der karibische Archipel sind ein Raum des Zusammenflusses aller dieser imaginären Universen. In der hispanischen, englischen und französischen Karibik leben indigene Bevölkerungen mit westlichen Projekten zusammen, afrikanische Kulturen, die wegen der Sklaverei entwurzelt wurden, mit importierten chinesischen und indischen Gemeinden (die sogenannten coolies). Bevölkerungen aus vier Kontinenten – Amerika, Europa, Afrika und Asien – leben in einem fragmentierten Raum im karibischen Archipel zusammen. Der Zusammenfluss aller dieser Kulturen bezeichnet den literarischen Rhythmus der karibischen Schriftsteller. Deswegen bezog sich Derek Wal18
19
Fernando Ortiz, »Los factores humanos de la cubanidad«, in: Isaac Barreal Fernández (Hrsg.), Etnia y sociedad, Havanna 1993. César Augusto Salgado schreibt darüber: »Lezama Lima’s reinvention of the baroque as New World hybrid is thus indebted to the theory of ›transculturation‹ postulated by his fellow countryman Fernando Ortiz in Cuban Counterpoint: Tobacco and Sugar (1947). With ›transculturation,‹ Ortiz did not consider colonial contact between ›advanced‹ European and ›primitive‹ indigenous societies in America as a process of erasure of the ›weak‹ and assimilation into the ›strong‹; looking at how Spanish colonists adopted taino (Caribbean indigenous peoples of Arawak descent) tobacco rituals and consumption that added an alien, ›demoniac‹ dimension to their Catholic mores and behavior, Ortiz argues that so-called extinct cultures always survive by infecting and refashioning the symbols of the dominating culture (1947). This is what the New World transculturation of the baroque in Lezama Lima’s theory allows: the survival of Otherness piggy-backing on the unsuspecting signs of Empire.« Vgl. César A. Salgado, »Hybridity in New World Baroque Theory«, in: The Journal of American Folklore, 112/1999, 445, S. 324.
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cott, als er 1992 den Nobelpreis bekam, auf die Realität der Karibik als einen Raum, wo Fragmente des kulturellen Gedächtnisses aus Asien, Afrika, Europa und Amerika zusammenleben. I was entitled like any Trinidanian […] to the feast of Husein, to the mirrors and crêpe-paper temples of the Muslim epic, to the Chinese Dragon Dance, to the rites of that Sephardic Jewish synagogue […] the love that reassembles the fragments is stronger than that love which took its symmetry for granted when it was whole […]. It is such a love that reassembles our African and Asiatic fragments […]. This gathering of broken pieces is the care and pain of the Antilles […]. Antillean art is the restoration of our shattered histories, our shards of vocabulary, our archipelago becoming a synonym for pieces broken off from the original continent.20
Die scheinbar exotische, exzentrische und eigenartige Vorliebe Lezamas für unterschiedliche Kulturen inszeniert eine kulturelle Bewegung: Die Insel repräsentiert einen transkulturellen Schauplatz mannigfaltiger Vorstellungen. Von dieser Perspektive aus wechselt das Bild vom exotischen Gelehrten. Die Programmkunst bei Walcott, als eine Wiederherstellung der Fragmente, und die Auffassung des Barocks bei Lezama, als ein Stil, der alle Stile aufnimmt, sind als eine Zusammenlebensform der Karibik zu verstehen. Ein Beispiel klärt den Prozess der Aufnahme alles Imaginären in Lezamas Werk auf.
III. Lezama und die afrokubanische Kultur Als Lezama seine ersten Gedichte publizierte, war die poetische Literaturgemeinde der Insel in zwei Lager gespalten. Im ersten Lager sammelten sich die Vertreter der Art Pure um Mariano Brull, im zweiten finden sich Dichter wie Ramón Guirao, Emilio Ballagas und Nicolás Guillén, die die »Poesía Negrista« entwickelten. In einer nationalistischen Atmosphäre formierten sich beide Gruppen. Am ehesten stimmte Lezama mit den Ideen von Valéry überein, obwohl er seiner sehr rationalistischen Dichtkunst misstraute.21 Le20
21
Derek Walcott, »The Antilles: fragments of Epic Memory«, in: What the Twilight Says, London 1998, S. 69. In einem Beitrag von 1944 zeigt Lezama die Faszination für und die kritische Distanz zu Valéry: »[era] uno de los últimos representantes de un estilo que convertía al poeta en centro y dominio de un sistema de inmensas coordenadas […]. Llegaba así Valéry a ser para toda nuestra generación un maestro doblemente venerable. En nuestra adolescencia nos había llenado de inquietud, nos llevaba el paso del tiempo a rendirle el mayor de los homenajes: el de nuestra inconformidad con su obra.« Vgl. José Lezama Lima, »Conversación sobre Paul Valery«, in: Iván González Cruz (Hrsg.), Archivo de José Lezama Lima. Miscelanea, Madrid 1998, S. 368 u. 370.
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zama schrieb auch gegen die Negrismobewegung des anderen Lagers Anfang der dreißiger Jahre an. In seinem 1937 publizierten Text »Coloquio con Juan Ramón Jiménez«, schreibt er: Entre nosotros, la poesía, cuyo principal hallazgo ha sido la incorporación de la sensibilidad negra y, más frecuentemente, la incorporación del vocablo onomatopéyico, se resiente de haber estado de espaldas […] a lo que debe responder toda poesía […] Más claro, un elemento percutible, en su más elemental forma musical no produce más que una poesía anecdótica.22
Auf der Suche nach einer persönlichen poetischen Sprache interessierte ihn die bewusste Einbeziehung der afrokubanischen Kultur wenig. Im selben Text, einige Seiten weiter, präzisiert Lezama seine Vorbehalte gegen die Ausdrucksweise der poetischen Strömung des »Mestizen«, die genau diese afrokubanische Kultur mit einbeziehen wollte: Una realidad étnica mestiza, no tiene nada que ver con una expresión mestiza. Entre nosotros han existido mestizos que han intentado expresarse dentro de los cánones del parnasianismo, y gran parte de la poesía afrocubana, en cambio, es de poetas de raza blanca. Se ve que una cosa es el mestizaje y otra abogar por una expresión mestiza. Una expresión mestiza es un eclecticismo artístico que no podrá existir jamás.23
Ein starkes Einigungsmoment der um Lezama entstehenden Gruppe findet sich in der gemeinsamen Ablehnung der Poesía negrista. Die Meinungen der Künstler, die in Lezamas Zeitschriften veröffentlichten, waren zu dieser Zeit anti-afrokubanisch geprägt. José Ardevol, ein bekannter Komponist, schreibt in Espuela de Plata, der zweiten von Lezama geleiteten Zeitschrift: La creencia que comparten muchos, de que lo ›afro-cubano‹ es la única solución posible de los problemas que en la actualidad tiene plateados el arte cubano, me parece francamente errónea […] hoy lo más sano sería dejar a un lado todo lo típico, todo exagerado localismo y exotismo […] (Quizá sea interesante advertir que en la poesía cubana el ›afrocubanismo‹ no se ha adueñado de casi todas las voluntades, como en la música, sino que, por el contrario, hay y ha habido siempre en los poetas cubanos un grupo, integrado por algunos de los mejores, que siempre ha considerado al ›afrocubanismo‹ como un fenómeno fundamental temporal, de vida efímera.24
Gleichwohl öffnete Lezama seine Zeitschriften auch zwei Vertretern des Negrismo. Emilio Ballagas und Ramón Guirao veröffentlichten einige Ge22
23 24
José Lezama Lima, »Coloquio con Juan Ramón Jiménez«, in: Obras completas, Bd. 2, México 1977, S. 51. Ebd., S. 57. José Ardévol, »Agua clara en el caracol del oído«, in: Espuela de Plata, 1/1939, S. 10.
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dichte in Verbum und Espuela de Plata.25 Die noch in den dreißiger Jahren kritische Haltung Lezamas änderte sich langsam im Laufe der Zeit. Eigene Gedanken und einige Personen begleiteten diese Wandlung – unter ihnen die kubanische Schriftstellerin Lydia Cabrera. Während ihrer Jahre in Frankreich publizierte sie 1936 ein Buch mit afrokubanischen Erzählungen auf Französisch: Contes nègres à Cuba. Vier Jahre später, 1940, kehrte sie nach Kuba zurück. In etwa zur gleichen Zeit kam auch der Maler Wifredo Lam nach Kuba zurück, der zuvor viele Jahre in Spanien und Frankreich verbracht hatte. Eines des ersten gemeinsamen Projekte von Cabrera und Lam bestand in der Übersetzung und Veröffentlichung eines Gedichts, das später für die Negritude-Bewegung wesentlich werden sollte: Cahier d’un retour au pays natal (Zurück ins Land der Geburt). Der Autor des Gedichtes war der auf Martinique geborene Dichter Aimé Césaire.26 Während der vierziger Jahre begann Lydia Cabrera anthropologische Forschungen über die Religiosität der afrokubanischen Gemeinde. Hierbei unterstützte sie ihr Schwager Fernando Ortiz. Während desselben Jahrzehnts trat sie auch mit Lezama in Kontakt. Ihren ersten Text in der von Lezama geleiteten Zeitschrift Orígenes veröffentlichte sie 1945. Das Gewebe des Textes nimmt afrokubanische Mythen und Legenden auf.27 In der gleichen Zeitschrift veröffentlicht Cabrera auch einige durch afrokubanische Mythen und religiöse Themen geprägte Erzählungen sowie ein Essay über den religiösen Synkretismus auf Kuba.28 Über das Werk Cabreras schreibt María Zambrano, eine spanische Philosophin, ein Essay.29 Auf die Veröffentlichung von Cabreras Werk El Monte reagiert Lezama in der Zeitschrift Orígenes mit einer von Francis Miomandre geschriebenen Rezension.30 Lezama scheint die Arbeiten Cabreras an den afrokubanischen My25
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30
Emilio Ballagas, »Soneto sin palabras«, in: Verbum, 2/1937, S. 14; Emilio Ballagas, »Playa«, in Espuela de Plata, 2/1940, S. 7; Ramón Guirao, »Soledad«, in: Espuela de Plata, 1/1940, S. 17. Guirao veröffentlichte auch kleine Prosatexte in Espuela de Plata: Ramón Guirao, »El tigre, el mono y la venado (fábula Lucimí)«, in: Espuela de Plata, 1/1939, o.S.; Ramón Guirao, »Vida de niño«, in: Espuela de Plata, 3/1941, S. 22–25. Aimé Césaire, Regreso al país natal, Havanna 1940. Lydia Cabrera, »La virtud del árbol Dagame«, in: Orígenes, 7/1945, S. 9–18. Lydia Cabrera, »Jicotea esta noche fresca …«, in: Orígenes, 9/1946, S. 28–31; Dies., »La Jicotea endemoniada«, in: Orígenes, 24/1949, S. 3–9; Dies., »La ceiba y la sociedad secreta Abakuá«, in: Orígenes, 25/1950, S. 16–47; Dies., »El sincretismo religioso de Cuba. Santos Orishas Ngangas. Lucumís y Congos«, in: Orígenes, 36/1954, S. 8–18; dieser letzte Essay ist Lezama gewidmet. María Zambrano, »Lydia Cabrera: poeta de las metamorfosis«, in: Orígenes, 25/1950, S. 11–15. Francis Miomandre, »Sobre El monte de Lydia Cabrera«, in: Orígenes, 39/1955, S. 75–78.
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then aufmerksam zu beobachten und schreibt 1956 schließlich ein Essay über die Sprichwortsammlung Cabreras. Lezama lobt hier die Schriftstellerin und ihre Forschungsarbeit: El nombre de Lydia Cabrera está unido para mí a ciertas mágicas asociaciones del iluminismo […]. El refranero allegado por [Cabrera] […] …, tiene la imprescindible nobleza de aclarar el cuestionario que debe situarse en la introducción a nuestra cultura. La sabiduría de los dioses debe espejear en la de los efímeros.31
Die fünfziger Jahre eröffnen dem Dichter, unter dem Einfluss des Werkes Cabreras, die Welt der afrokubanischen Religiosität. Lezama stellt in seinem Buch La expresión Americana die Ausdrucksweisen der amerikanischen Kulturen dar. In einem Abschnitt geht er explizit auf den barocken Künstler Aleijadinho, wie gesagt ein Mulatte, ein. Das Buch muss daher im Kontext dieser Öffnung interpretiert werden. Die afrokubanische Kultur begann in den sechziger Jahren im Werk Lezamas eine zunehmend wichtige Rolle zu spielen. Über den Vorläufer der »Poesía Negrista«, Bartolomé José Crespo, schrieb er 1946: Hemos situado a Bartolomé José Crespo, que firmaba con el seudónimo de Creto Gangá entre los poetas populistas, como precursor de la poesía negra. Se publica también una colección de cantos negros anónimos, porque aclaran, en su raíz puramente popular, las zonas de nuestra sensibilidad. Es una poesía ritual, mágica, a veces de simples exorcismos, pero que va pasando a la gran síntesis etnográfica y sensible de nuestro país. Ya esa poesía popular negra aparece estrechamente unida a la música negra. Está acompañada de un ritmo, la música y la poesía se entrelazan en tal forma que sus contornos se borran.32
Die ablehnende Haltung der dreißiger Jahre ist verflogen. Jetzt schätzt der Dichter sogar die »Poesía Negra« als einen Grundbestandteil kubanischen Empfindens. In ihren Erzählungen benutzt Lydia Cabrera die Figur des Taita, des weisen, alten, beratenden Sklaven. 1968 verwendet Lezama nun diese Figur in einem Essay. Er erkennt die große Bedeutung des kulturellen Zeugnisses dieses ›Archetypen‹ Taita für die kubanische Kultur und erhebt ihn auf die gleiche Stufe wie den Dichter José Martí. Für ihn verkörpert der Taita das gesammelte Lebenswissen der Gemeinschaft: En Cuba solamente ha sido alcanzada la sabiduría por el taita, el negro esclavo al llegar a su ancianidad, y [por] […] José Martí. Estos estilos de sabiduría surgen del hombre que se desenvolvió en circunstancias extremadamente hostiles y de muy 31
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José Lezama Lima, »El nombre de Lydia Cabrera« (1956), in: Ders., Obras completas, Bd. 2, México 1977, S. 529–533. José Lezama Lima, Diccionario, S. 411.
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difícil desciframiento […]. Cuando se llega a ser un taita, se ha sufrido mucho desde la niñez […]. En sus ochenta años, el taita irradia como un monarca […]. Aconseja, da la receta para cortar la fiebre y une el destino de los enamorados. Señala la llegada de las lluvias y el peligro por la calcinación por el rayo. Conoce el zumbido de la cañada del río y el relincho peculiar del caballo cuando se acerca enmascarado el ciclón. Señala la mañana para la recogida del sembradío y la de la maldición en la estación estéril. Dice la sentencia hermosa como una canción y el plañido para acompañar la caducidad inevitable. El que se le acerca siente que vuelve a nacer y oye en sus dictados a la pitia délfica que nos repite que lo bello es lo más justo y la salud lo mejor. El taita vive en una cabaña, apartado, con pequeños animales graciosos […]. Dice la palabra de prudencia o inicia la gran rebeldía. Es un rey, un sabio, un hechicero, cuando muere parece como si un toro benévolo se lo llevase de paseo a la región de los lagos […]. La sabiduría del taita es la que ya Martí atesora en su diario.33
Während der sechziger Jahre sind die Einflüsse der afrokubanischen Kultur auf das Werk Lezamas am stärksten. In der Person Ynaca Eco Licario legt Lezama Mythen der Etrusker, Römer, Griechen und Christen übereinander. Dennoch gibt es eine Schicht, in der archäologischen Bedeutung des Wortes, die bisher noch nicht vollständig aufgedeckt worden ist. In verschiedener Hinsicht verweist Ynaca nämlich auf das symbolische Universum von Yemayá, der Göttin des Meeres und der Fruchtbarkeit in der kubanischen Santería.34 Im letzten Kapitel des Romans Paradiso schildert Lezama die folgende Szene: José Cemí, die Hauptfigur des Romans, geht zu dem Begräbnis seines Freundes und Lehrmeisters Oppiano Licario. Er lernt dort Mal Ynaca, die Schwester des Verstorbenen, kennen. Die Fassade des Bestattungsunternehmens ist mit Bildnissen von Tintenfischen und Kraken, typischen Symbolen des Meeres, verziert.35 Diese Tiere stehen bei der Santería für die Gottheit »Orisha« Yemayá. Dieses Detail der Textstelle könnte als unwesentlich angesehen werden, nehmen wir aber die Fortsetzung des Buches Paradiso, das 33
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José Lezama Lima, »La pintura y la poesía en Cuba (siglos XVIII y XIX)«, in: Ders., Obras completas, Bd. 2, México 1977, S. 969–970. Die Santería ist eine kubanische Religion, die Elemente des Katholizismus mit afrikanischen Religionen mischt. Über die Santería bei Lezama siehe den interessanten, trotzdem bisweilen fragwürdig argumentierenden Text von Alicia E. Badillo: »La santería como base epistemológica de algunos personajes homoeróticos en Paradiso«, in: Exégesis, Revista de la Universidad de Puerto Rico en Humacao, 41/2001, S. 53–60. »En lo alto de la columnas chorreaban calamares, los que se retorcían a cada interpretación marina para receptar los consejos lunares […]. Una mezcla de pulpo y estalactita trepaba por aquellas columnas inundadas de reflejos plateados.« José Lezama Lima, Paradiso, Cintio Vitier (Hrsg.), México 1988, S. 455.
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Werk Oppiano Licario, welches 1977 unvollendet in Mexiko und Havanna aus Anlass von Lezamas Tod erschien,36 zur Hand, so finden wir weitere Andeutungen der Göttin Yemayá. Es erscheint nochmal Ynaca Eco Licario; sie wird hier mit weiteren Elementen des Yemayá-Mythos verknüpft. Für die nächste Stelle ist wichtig zu wissen, dass sowohl die Farbe Blau als auch die Transparenz Attribute der Yemayá sind. Im Kapitel fünf von Oppiano Licario sucht Cemí Ynaca, da er mit ihr sprechen will. Er sucht sie in dem Beerdigungsunternehmen, wo er sie das letzte Mal gesehen hatte. Hier ist sie nicht anzutreffen. Auch Ynaca ist auf der Suche nach Cemí. Sie sucht in der Bibliothek des »Castillo de la Fuerza« (Schloss der Kraft). Am nächsten Tag begegnen sich beide nach ihrer erfolglosen Suche am Schlosstor. In dieser Situation wird Ynacas Kleidung beschrieben: »venía cubierta con telas de color tan transparente que a Cemí le recordaron los colores que aparecen en algunos retratos de Gaingsborough […]. La falda era de una azul muy atenuado y la blusa blanca con encajillos cremosos.«37 Man könnte einwenden, dass die Eigenschaften der Kleidung für das Textverständnis unwesentlich seien, einige Seiten später werden die Attribute jedoch noch einmal wiederholt. Dies ist umso erstaunlicher, wenn man weiß, dass die Kleidung der Personen in Lezamas Werk sonst kaum Erwähnung findet. »Ya en la biblioteca [Cemí] divisó a Ynaca Eco acostada en un anchuroso sofá de mimbre. Cubría su cuerpo con una azulosa seda oscura que se doblaba a la manera del Hymation griego.«38 Lezama geht nun im folgenden Text über die Attribute der Kleidung hinaus und geht explizit auf den Ritus in der Santería ein. Auch hier scheint Yemayá im Mittelpunkt zu stehen. In der Szene am Schlosstor spricht Ynaca über die erfolglose Suche des vorigen Tages so: »Yo lo hubiera esperado en la torre donde Isabel esperaba la llegada fantasmal de Hernando de Soto – dijo Ynaca entre abriendo su sonrisa – ayer lo estuve esperando, acompañándolo hasta que se interpusieron las piedras.«39 Die rätselhafte Erwähnung der Steine wird vom Erzähler wiederholt: »aquel se interpusieron las piedras alcanzó una vibración no previsible, como si hubieran chocado dos longitudes de ondas separadas por una clavija de metal transparente.«40 Einige Seiten danach enthüllt Cemí, indem er nochmals von den Steinen spricht, den Sinn: 36
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José Lezama Lima, Oppiano Licario, Havanna, 1977; Ders., Oppiano Licario, México 1977. José Lezama Lima, Oppiano, S. 117 (zitiert wird nach der in México erschienenen Ausgabe). Ebd., S. 150. Ebd., S. 117. Ebd.
Zusammenlebenswissen bei José Lezama Lima
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›Me gustaría que tironeásemos la primera expresión que le oí cuando nos encontramos en el puente del Castillo de la Fuerza‹, comenzó diciendo Cemí: ›yo lo hubiera encontrado si no se interpusieran las piedras. Podía quedar en su simple potencia oracular, como dicha por un babalao reglano o por una pitia délfica‹.41
Offenbar findet sich hier eine Gleichsetzung zwischen der Pythia und dem Babalao, dem Priester und Wahrsager im Ritus der Santería. Die erwähnten Steine gehören zu einem Orakelspruch. Um sie zu verstehen, müssen wir in der Welt der Santería suchen. Im Ritus der Santería stehen katholische Heilige und Madonnen für afrikanische Gottheiten. Die Steine enthalten oft göttliche Kräfte.42 Ein »Babalao reglano« steht im Dienst der Virgen de Regla, und in der synkretistischen Santería ist diese Heilige die Fruchtbarkeitsund Meeresgöttin Yemayá. Der den Steinen innewohnende Wille der Göttin trennte die beiden Figuren und ließ sie nicht zusammenkommen. Eine letzte Zwischenhandlung verstärkt die Beziehung zwischen der afroamerikanischen Gottheit und der Person des Romans. Nach dem Treffen am Schlosstor will Ynaca, im Kapitel 6, Cemí nach Hause einladen. Die Schwester Oppianos verfasst daraufhin eine verschlüsselte Einladung, voller Symbole der Meeresgöttin Yemayá. Nachdem Cemí die Nachricht erhalten hat, durcheilt er die von einem Orkan bedrohte Stadt Havanna. Im Haus angekommen, erblickt er sie, wie sie nackt unter einer blauen Decke auf ihn wartet. Indem sie seine Kleider verbrennt, kabalistische Zeichen malt, seine Genitalien bewässert und einen magischen Kreis entweiht, feiert sie einen Ritus. Sie erbittet damit, ein Kind von Cemí zu empfangen. Der Fertilitätsritus und der drohende Sturm erinnern daran, dass Yemayá die Hauptgöttin der Santería ist und als Königin des Meeres und der Fruchtbarkeit über allen anderen Orishas steht. War die ablehnende Haltung für den frühen Lezama typisch, so ist die afrokubanische Kultur ein lebendiger Bestandteil des späten Lezama. Der Barockstil Lezamas erlaubt das Zusammenleben der Kulturen, welches zu anderen Zeiten und in anderen Räumen undenkbar wäre. Das Studienzimmer, seine Bibliothek, mit den überschwänglichen Dekorationen, ist mehr als eine bloße Sammlung von Objekten, Büchern und Texten. Es ist vielmehr ein Labor des kulturellen Zusammenlebens, ein Raum voller verschiedener Weltsichten: »Die Lust des Tausendfüßlers ist die Kreuzung.« – »El gozo del ciempiés es la encrucijada.«43 * 41 42
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Ebd., S. 128. Vgl. Lydia Cabrera, »El sincretismo religioso de Cuba. Santos Orishas Ngangas. Lucumís y Congos«, Orígenes, 36/1954, S. 8–18. José Lezama Lima, »Playas del árbol«, in: Ders., Obras completas, Bd. 2, México 1977, S. 510.
* Aus dem Spanischen von Sergio Ugalde Quintana und Philipp von Bülow
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Ana Pizarro
Ana Pizarro (Santiago de Chile)
Kulturen und Kulturen Eine amazonische Erfahrung
Als ich begann, mich der literarischen Produktion des Amazonasgebietes zu nähern, stand ich vor einer Reihe von Herausforderungen. Wenn hier vom Amazonasgebiet die Rede ist, dann werden die Gebiete von acht Ländern berücksichtigt, wobei das größte zu Brasilien gehört. Außerdem natürlich Gebiete, in denen Spanisch und auch andere Sprachen gesprochen werden. Meine Idee, das Amazonasgebiet aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive zu betrachten, wäre zum Scheitern verurteilt gewesen, wenn ich nicht bereits langjährige Erfahrung mit der historiographischen Diskussion über die lateinamerikanische Kultur gehabt hätte. Im Ergebnis ist das Buch Amazonía: el río tiene voces vor einigen Monaten in Chile erschienen.1 Um theoretische Diskussionen, die nicht in das Konzept meines Vorhabens passen, zu vermeiden, entschied ich mich für die Verwendung des Begriffes ›amazonische Stimmen‹. Zu diesen zähle ich sowohl die ästhetischen Diskurse westlicher Prägung als auch die Diskurse der indigenen Ästhetik, der Volkskultur mit der ihr eigenen Ästhetik und all jene, die keiner Ästhetik zuzuordnen sind. Aus unterschiedlichen Gründen, vor allem aber wegen ihrer engen Naturbeziehung, kann man diesen Diskursen eine eigene Qualität zusprechen. Eine erste Gruppe der Diskurse bezieht sich auf die Perspektive der Reisenden. Es handelt sich hierbei um die Chroniken der Eroberung von Carvajal und Acuña, die über das Schicksal des sogenannten Eroberers des Amazonas, Francisco de Orellana, im Jahr 1542 und das des ersten Portugiesen Pedro Texeira berichten, der als Erster ein Jahrhundert später den Fluss befahren hat – stromaufwärts von der Flussmündung bis nach Quito. Hierzu gehören auch die Briefe des Lope de Aguirre und vor allem derjenige, den er an den spanischen König adressiert hat, um festzustellen, dass er sich angesichts der exzessiven Ausbeutung sowie der unbotmäßigen Bereicherung und des Machtmissbrauchs nicht als dessen Untertan betrachten konnte. Natürlich musste hier eine Auswahl der Reisebeschreibungen dieser Periode getroffen werden, aus der es zweifellos noch andere interessante Dokumente gibt. Kriterium für meine Auswahl war die Bedeutung dieser Berichte für das 1
Ana Pizarro, Amazonía. El río tiene voces: imaginario y modernización, Santiago 2009.
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Bild des Amazonasgebiets. Die Idee, die dieser Arbeit zugrunde liegt, ist die These, dass das Amazonasgebiet als ein diskursives Konstrukt betrachtet werden muss. Die ersten Reiseberichte waren überwiegend Schilderungen des Verlaufs der Fahrt, in denen die militärischen Strategien, die Beschreibungen des Flusslaufes, die Existenz indigener Gruppen und ihr Charakter sowie ihre strategische Bedeutung im Zusammenhang mit den wirtschaftlichen Möglichkeiten für die europäische Welt dargestellt wurden. Aber der wichtigste Aspekt dieser Texte war für uns der Bereich der Vorstellungswelten. Hier drehte sich alles um die Reise und deren Fähigkeit, Erwartungen zu wecken. Das ist für uns gleichzeitig ein Ansatz, Zugang zu tieferen Schichten des kollektiven Unbewussten zu erhalten. Eine solche Befragung des Unbekannten ist immer reizvoll, aber vor allen Dingen in einem solchen Augenblick der Erkundung neuer Räume. Diese Annäherung stützte sich bereits auf Bekanntes. Der Reisebericht verwies auf eine Welt, die in ihrer Faszination bereits zuvor von anderen Reisenden gekennzeichnet worden war, mit ihren Topologien und Bestiarien, ihrer phantastischen Zoologie und den unglaublichen Abenteuern, seit Pierre d’Ailly mit seinem Imago Mundi, Mandeville und Marco Polo. Das heißt, um mit Ottmar Ette zu sprechen, jedes Abenteuer hat eine ihm vorausgehende Erinnerung, jede Reise verweist auf eine andere Reise. So wurden alte Ungeheuer wiederbelebt und damit auch die Gefühle dieses Universums der Ängste, als das das europäische Mittelalter gesehen wurde. Auch die in einer Welt eingebildeter Wesen und weniger Frauen allgegenwärtigen erotischen Triebe wurden in den Berichten manifest. So entstanden die Amazonen mit ihrem im Dunkeln der Geschichte liegenden Ursprung, die aber im Unbewussten der Krieger allgegenwärtig sind; so erfand man auch den iwaipanoma, den Kopflosen, in dessen Begleitung sie vermehrt gesehen wurden, und so entstand die Illusion des Reichtums, der Mythos des El Dorado, welcher in Orellanas Bericht den Namen des País de la Canela (Land des Zimtes) annimmt, um nur einige Beispiele zu nennen. Das heißt, sie führen eine phantastische europäische Vorstellungswelt mit sich und erweitern diese auf die amazonische Natur. Dort haben die Kosmogonien einen anderen Charakter und fließen durch andere Zeiten. Die Ordnung der Kolonisierung war damit von den Götzen der Unterworfenen durchdrungen und wurde durch sie pervertiert. So wie die Eroberer hatten auch die wissenschaftlichen Reisenden, die ihnen folgten, die Naturforscher, eine bestimmte Art von Wahnvorstellungen. Sie hatten sich auf den Weg gemacht, im Laufe einiger Jahrhunderte die Flaggen ihrer Länder ergriffen und unter dem Zeichen der Vernunft und der Wissenschaft über die anderen Formen der Vorstellungswelt berichtet. Ihre
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Leitvorstellung war die der positivistischen Räson. Sie wurden meist im Zusammenhang mit einer neuen Entdeckung auf Reisen geschickt, denn Wissen und Erkenntnis ist eine Macht. Sie vergewisserten sich der Überlegenheit der europäischen Moderne über die Barbarei und errichteten die Vormachtstellung ihrer Kultur in einem Umfeld, das sich teilte in ihre Befürworter, meistens die Inhaber der lokalen Macht, und diejenigen, die die Logiken dieses neuen Diskurses nicht nachvollziehen konnten, weil er sich außerhalb dessen befand, was sie als ihre Art, die Welt zu verstehen, bezeichneten. Die Stimmen der Alterität wurden noch immer nicht vernommen. Sie werden erst in dem Augenblick gehört, als sie sich mit der Vormachtstellung der regatoes, der ›Kautschukbarone‹, der coronéis da borracha auseinandersetzen. Diese Auseinandersetzung wird auf der einen Seite von Intellektuellen wie Euclides da Cunha in Brasilien und Carlos Valcárcel in Peru oder von Schriftstellern wie José Eustasio Rivera und anderen in Kolumbien geführt, auf der anderen Seite aber auch in der Volkskultur, insbesondere in Form der literatura de cordel, welche die Migranten des Nordostens in dem Dreiländereck von Brasilien, Peru und Kolumbien praktizierten. In der indigenen Kultur findet man sie in den Erinnerungen wieder, die durch die Zeugnisse und mythischen Gestalten zum Ausdruck kommen. In den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts entstehen neue diskursive Konfigurationen, die durch verschiedene Stimmen sichtbar werden. Sie alle sind geprägt durch die Veränderungen, die die Politik der Modernisierung der Militärregierung in Brasilien verursacht. Nach dem Militärputsch gegen João Goulart werden die Märkte für nationales und internationales Kapital geöffnet, mit Hilfe der lokalen Herrscherklasse entstehen neue Raumentwürfe, und die Lebensbedingungen der Bevölkerung verbessern sich durch den Ausbau von Landstraßen und den Bau von Staudämmen. Die von der Herrscherklasse angeregten Projekte und die Bewohner des Amazonas werden jedoch durch die Zentralmacht überrollt, und die Zone wird durch die radikalen Umgestaltungen beeinträchtigt. Nicht mehr der Fluss organisiert das Leben, da die herrschenden Interessen, die durch die Büros des Südens vertreten werden, sich in erster Linie auf den Abbau der Bodenschätze konzentrieren. Für die Erschließung dieses Reichtums wurden Modernisierungsmaßnahmen im Bereich Straßen und Energiewesen eingeleitet, die das große nationale und internationale Kapital anziehen sollten. All das ging jedoch zu Lasten der lokalen Bevölkerung und des normalen Funktionierens des Ökosystems. Es bedeutete aber gleichzeitig die Mitwirkung neuer Sektoren und die Entstehung neuer Probleme. In dem Maße, in dem wir uns der Gegenwart nähern, werden vielfältige, durch die Hegemonie verdeckte Stimmen hörbar. Man vernimmt diese un-
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terdrückten Stimmen, so als ob sie mühsam aus den Spalten, den Rissen hervordringen. Dieses Panorama erklärt ansatzweise die Vielfalt der Bewohner, der Berufe, der Wissensarten, der Geschichte – indigene Gemeinschaften mit einer großen Anzahl unterschiedlicher Sprachen: Caboclas-Gemeinschaften; Gruppen der schwarzen Bevölkerung, die als remanescentes de quilombos bezeichnet werden; Frauen, die Kokosnüsse sammeln; Uferbewohner; Menschen, die vom Abbau der Bodenschätze leben; Einwanderer und neu hinzugekommene, vorübergehende Migranten; urbane Bevölkerung in unglaublichen Mischungen. Multiple Bevölkerungen, die eine Vielzahl an Berufen, Wissen und Geschichte und unterschiedliche Erfahrungen im Umgang mit der Natur, mit den Ökosystemen besitzen. Die neue Situation erzeugt insgesamt das Bild eines Gebietes, in dem sich verschiedenste Arten von Vorstellungswelten befinden, in dem unterschiedliche Ästhetiken zum Ausdruck kommen, aber auch einer Region, in der direkte, unvermittelte Diskurse aus den Stimmen der Bewohner entstehen. Es ist nicht einfach, diese Vielfalt zu sortieren. Man kann einige Arten der aktuellen amazonischen Diskursivitäten anreißen. Die erste Art wäre der aufgeklärten (illustrierten) Ästhetik – der Dichtung, der Erzählung, dem Theater, dem Essay – zuzuordnen. In ihr ist die Darstellung der amazonischen Wirklichkeit in die Form des Romans, der Erzählung, der Chronik, in einen illustrierten bildhaften Ausdruck gegossen. An zweiter Stelle befindet sich der mündliche Diskurs des einfachen Volkes, das seine Vorstellungswelten mit phantastischen Wesen bevölkert, die mit dem Wasser und dem Urwald verbunden sind. In dieser Mündlichkeit sind die amazonischen Arbeiter ebenfalls als soziale und individuelle Subjekte gestaltet. In der Pluralität finden sich auch die indigenen Kosmovisionen wieder, die wesentlich in der Mündlichkeit verankert sind. Es ist unmöglich, hier alle Ausdrucksformen, Verbindungen und Mischungen zu berücksichtigen. Es soll genügen, kurz die narrativen Diskurse zu beobachten, die im Zusammenhang mit einigen der zentralen Themen in diesem Universum stehen. Einen Aspekt möchte ich hier betonen: Ich bin der Meinung, dass das Amazonasgebiet eine Art Kern symbolischer Dichte darstellt, wenn man es im Zusammenhang mit der Geschichtsschreibung betrachtet. Das heißt, dass bestimmte historische Momente – die Französische oder die mexikanische Revolution zum Beispiel – oder geographische Räume – Paris, Neuspanien – Orte oder geschichtliche Phasen sind, die in stärkerem Maße symbolisch aufgeladene Vorstellungswelten erzeugen als die meisten anderen Orte oder geschichtlichen Phasen. Im Amazonasgebiet konzentriert sich ein so dichter Diskursraum, dass selbst diejenigen, die nie dort gewesen sind, ihn
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für sich nutzten und über ihn schrieben, wie Jules Verne in La Jangada (1881); und auch diejenigen sich auf ihn stützten, die sich nur auf der Durchreise befanden, wie Mario de Andrade in Macunaima (1928) oder Raúl Bopp in Cobra norato (1931). Weiterhin prägt er jene, die das Amazonasgebiet als lange Lebenserfahrung verinnerlicht haben, wie der Portugiese Ferreira de Castro in La Selva (1930); oder die über ihn in Form eines langen Reiseberichts geschrieben haben, wie El Río von Wade Davis (2005), und auch jene, die in einer Art Reisechronik auf der Suche nach dem Pfad von Evans Schultes, dem Erforscher der Drogen, ihre Erfahrungen wiedergaben. Eine zweite Einstiegsmöglichkeit in die Fiktion ist die Konzentration auf historische Themen: Unter den vielen Beispielen befinden sich Marcio Soua mit Mad María (1980) und Galves o Emperador no Acre sowie der Kolumbianer William Ospina mit einer Trilogie, zu der Ursúa (2005) und El País de la Canela (2008) gehören. Zu nennen wäre aber auch der Text Fordlandia, des Argentiniers Eduardo Guiglia, in dem das gescheiterte Abenteuer des Henry Ford beschrieben wird. Im Zentrum der amazonischen Erzählung findet man wichtige Beschreibungen der indigenen Welt: Es sprechen die Anthropologen als Vermittler – Darcy Ribeiro in Maíra 1976. Man lässt den Einheimischen reden, seine Vorstellungswelten und Rituale werden dann aus der westlichen Perspektive dargestellt, konstruiert wie in Quarup (1967) von Antonio Callado. Mario de Andrade erstellt seinen Text, indem er sich auf die ethnographischen Studien von Koch Grünberg stützt. Heute wird auch die eigentlich mündlich tradierte indigene Kultur von den Einheimischen in Schriftform festgehalten und publiziert: Ein Beispiel sind die beiden Autoren des Dessana-Stammes, die ihre Vorstellungswelten unter dem Titel Antes ao mundo não existía 1980 veröffentlichten. Heutzutage gibt es an mehreren Orten die Möglichkeit, dies zu tun. Die Stadt ist ein durchaus wichtiger Ort für den Schaffensprozess; das zeigen Beispiele wie Dalcidio Jurandirs Santa María de Belém do Grão Pará in der Mitte des 20. Jahrhunderts oder heute Milton Hatoum mit seinen Erzählungen über die arabische Migration in Manaos, unter anderem Relato de un cierto Oriente und Dos hermanos. Eine weitere Art amazonischer Diskursivität beschäftigt sich mit den Stimmen des Wassers und des Urwalds. Es sind vielfältige Stimmen: die Vorstellungswelt einer bruchstückhaften und spannungsgeladenen Gesellschaft. Hier liegt die Dauerhaftigkeit – die Oralität der alltäglichen mündlichen Vorstellungswelt. Es handelt sich um eine mächtige Vorstellungswelt, eine Art profanen Heiligtums der Natur, die durch ihr Dasein die ganze Zone mit verschiedenen Wesen bevölkert: mit der Madre de la Selva (Mutter des Urwalds),
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dem curupira (Zwerg mit flammend rotem Haar und verdrehten Füßen, Beschützer der Natur), auf der andinen Seite dem chullachaqui (Waldgeist), dem Delphin und vielen anderen. Sie dienen keineswegs ornamentalen Zwecken, sie artikulieren vielmehr das Leben der amazonischen Gesellschaften. Es ist die Welt des hombre-lobo (Wolfsmenschen), des Matinta Perera und der sogenannten encantados, die auswandern, wenn die Modernisierung ihren Lebensraum erreicht. Hier stellt sich die Frage nach der Bedeutung dieser verschiedenen Diskurse aus einer Perspektive der kulturellen Vorgänge. Wie in jedem kulturellen Prozess handelt es sich um eine Dynamik, die strukturiert, auswählt, Strukturen abbaut, neue Verknüpfungen hervorruft, die Formen auf unterschiedlichen Ebenen – man könnte sagen: mit einer fraktalen Reproduktivität und unterschiedlichen Eigenschaften – restrukturiert und jeder Gruppe ihre historische Tiefe verleiht. Deswegen reicht die transkulturelle Mechanik, wie sie von Ortiz und später von Rama verwendet wurde, für unsere Zwecke nicht aus. Beziehungsweise sie nützt uns nur für einen der Vorgänge, die in der Komplexität eines noch komplexeren Gewebes entstehen als dasjenige, das Rama in seiner Zeit und aus der Warte der Kultur erkennen konnte, der er entstammte. Aus einer gemeinsamen Diskussion über Literaturgeschichtsschreibung mit Rama ergab sich, dass jeder Kritiker geneigt ist, seine Position zu formulieren und Vorschläge aus der Warte seines eigenen Kulturkreises zu machen, das heißt, aus seinem eigenen kulturellen Umfeld. Cornejo Polar äußert sich aus einem Kulturkreis mit starkem indigenen Einfluss, Rama aus einer Gesellschaft heraus wie der des Rio de la Plata, die seit dem 19. Jahrhundert eine überragende Entwicklung genommen hat. Im Fall von Rama und auch in dem von Ortiz denke ich, dass sie aus der Perspektive einer Kultur sprechen, die sich selbst in dualer Qualität betrachtet: europäisch/indigen oder afrikanisch/europäisch, und daher enthüllen ihre Arbeiten grundlegende Mechanismen in einem wichtigen Augenblick der Entwicklung der Kritik in Lateinamerika, in einem Augenblick, in dem die Risse in den kulturellen Verflechtungen noch nicht so empfunden wurden, wie es heutzutage der Fall ist. Deswegen wage ich zu behaupten, dass das Phänomen der Transkulturation, auf das sie sich beziehen, im Fall der amazonischen Diskurse, die ich gerade beobachte, nur ein Rad in dem Getriebe ist, das mit diesem Mechanismus läuft, aber gleichzeitig durch viele andere Vorgänge am Laufen gehalten wird. Es kann aber auch sein, dass der Prozess der Transkulturation als globales Phänomen, wenn er von einer kulturellen Situation in eine andere übergeht, erst von der Dynamik der Zeiten und der verschiedenen Elemente im Zusammenfluss zersetzt werden muss.
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Die verschiedenen Bestandteile der Kulturen nehmen unabhängig voneinander und gemeinsam an einer Aushandlung teil. Ausgehend von ihrem spezifischen Charakter verbinden sie sich. Die Gesamtheit des Areals funktioniert dann in einer Dynamik, in der zwei oder mehr Kulturen für einige Augenblicke oder längere Zeitabschnitte zusammenfließen, um sich später wieder zu trennen und neue Begegnungen mit neuen Wirkungen zu ermöglichen. Dies ist vergleichbar mit den Verflechtungen der Flüsse, die das Becken des Amazonas kennzeichnen. Sie kommen aus unterschiedlichen Richtungen und finden während ihres Laufes in verschiedenen Augenblicken zueinander, sie empfangen andere Zuflüsse und bilden gleichzeitig in diesem Zusammenfließen eine Einheit getrennter Wasser. Auf der einen Seite in Nebengewässern – igarapés (Lagunen), furos (Löcher) – in denen parallel zwei Farben sichtbar werden, die damit die Dualität der Begegnung aufzeigen. Die Veränderungen spiegeln sich auch in den Veränderungen der Namen wider: Río Negro, Solimões, Amazonas. Doch am Ende wird sich dieser augenscheinlich einzige Verlauf nicht nur verdrehen und immer wieder neue Formen annehmen, sondern er wird beginnen sich zu öffnen, um das Meer mit vielen Mündungen zu erreichen und, in mindestens zwei Arme geteilt, die Insel Marajó umspülen. Er wird große Ladungen Sedimente mit sich führen, die dann als Vorhut neuer Territorien dort abgelegt werden; sie werden sich dem Salzwasser anpassen unter der Vormachtstellung des Ozeans, nachdem der Fluss selber igarapés und furos mit einem ungewissen Schicksal entstehen ließ. Während ich über die Metapher nachdenke, bemerke ich das Fehlen anderer Dimensionen. Mir fällt auf, dass der Fluss vom Grundwasser, das in der Region in sehr großen Mengen vorhanden ist, gespeist wird und dass er wiederum das Grundwasser speist. Gleichzeitig oder aber in unterschiedlichen Abschnitten wird er von den Regenfällen gespeist, zu deren Entstehung er immer wieder beiträgt. Aber da ist noch etwas anderes: Die Strömung des Flusses wird ebenfalls von der Vorstellungswelt der Menschen angetrieben. Sie verleihen ihr Größe und Mysterium, Schönheit und Grauen, das Gefühl des Erhabenen gegenüber dem Leben und dem Tod. Sie erbauen aus ihr einen Mythos, sie bevölkern sie mit Lebewesen wie in den Seekarten, oder sie verleihen ihr die Form einer Schlange, zentrale Figur in der Vorstellungswelt des Gebietes, wie es in der beeindruckenden, unter dem Namen Mundus Novus bekannten Karte des Portugiesen Diogo Homem von 1558 zu sehen ist. Das heißt, es handelt sich hierbei um eine komplexe Kultur mit einer Vielzahl von Abläufen, die auf der Kombination vieler Elemente beruhen. Sie verbinden sich auf unterschiedliche Weise, verhaftet in unterschiedlichen
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Zeiten, aber das Wichtige daran ist, dass alles in einem Augenblick geschieht. Natürlich sind die Ursprünge mannigfaltig – hier wäre das Bild des Rhizoms zutreffend –, sie haben eine unterschiedliche Dichte, einige sind stärker ausgeprägt als andere; es gibt hegemonische und untergebene, und die Entwicklung ist, wie schon Benítez Rojo für die Karibik aufzeigte, in ihrer Zusammensetzung und in ihren Bewegungen unvorhersehbar. Auch wenn in der Karibik vielschichtige Kulturen offenbar werden, ist es doch im Falle des kulturellen Geflechtes des Amazonasgebiets ab dem 20. Jahrhundert noch komplexer. Wir reden von afrikanischen Kulturen und sehen sie dann als ein Ganzes, obwohl das Sklavenkontingent, das Amerika erreichte, seinen jeweiligen Ursprung in den unterschiedlichen Ethnien hatte, die an der westlichen und später östlichen Küste Afrikas ansässig waren: Gruppen, die das spätere Benin, Kongo, Guinea und schließlich Mosambik bevölkerten. Ähnliches kann man über die europäischen Kulturen sagen, die sich als global betrachten und in Wahrheit sehr unterschiedlich sind: die spanische, französische, holländische, englische usw. Es vereinte sie in unterschiedlichem Grade eine Geschichte, und doch besitzen sie nicht in gleicher Weise die Erfahrung der Modernisierung. Außerdem begegnen sich Kulturen mit unterschiedlichen Artikulationen: Beispiele in der Gegenwart sind die Tupi, die Arahuacos oder die Aymará. Sie gehören einer Gemeinschaftskultur an, die sich an Saat- und Erntezeiten, dem Ansteigen und Fallen der Flüsse, an Regen- und Trockenzeit orientiert und mit Gesellschaften einer Stadt wie Manaos und ihrer westlich geprägten chronologischen Wahrnehmung kapitalistischer Modernität kollidiert. Drittens ist die Beziehung gekennzeichnet durch die unterschiedlichen Stufen des historischen Fortschritts, in denen die Kulturen sich befinden. Es ist nicht das Gleiche, wenn die Baniva mit der venezolanischen Gesellschaft zusammentrifft, eine Gesellschaft, die einen relativ großen technologischen Fortschritt aufweist, oder wenn man die Beziehung der Yanomani im brasilianischen Amazonasgebiet zu den amerikanischen Missionen mit ihrem hypertechnologisierten Fortschritt betrachtet. Viertens findet man Beziehungen in unterschiedlichen Situationen der Unterwerfung vor: Ein solcher Moment ergibt sich während der Kolonisierung und ein völlig anderer in der Gegenwart. Der Charakter, die Auswirkungen und der Kolonialcharakter der Macht sind unterschiedlich. Es handelt sich hier nicht um die Begegnung der Spanier und der indigenen Völker (auch eine Vereinfachung), durch die man zum Beispiel eine Charakterisierung des andinen Bereiches vornehmen wollte. Die kulturellen Ursprünge und die Vermischungen sind hier vielseitiger.
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Wie oben erwähnt, trugen nicht nur Spanier und/oder Portugiesen zur Mischung bei – die ihrerseits starken arabischen und jüdischen Einflüssen ausgesetzt waren –, die Region wurde seit der Kolonialzeit von verschiedenen europäischen Kulturen entweder sektoriell dominiert oder durchdrungen: die holländische und die französische hatten über bestimmte Zeiträume einzelne Regionen in ihren Besitz genommen. Auch Engländer, Iren und Deutsche kamen hinzu. Das Amazonasgebiet erschien immer als ein offenes Gebiet, außer zu dem Zeitpunkt, als Brasilien durch protektionistische Maßnahmen den Eingang der Modernität verhindern wollte, als die Monarchie Humboldt die Einreise in das Amazonasgebiet verweigerte. Es war und ist auch heute ein Migrationsgebiet, in dem die westlichen Kulturen in unterschiedlicher Form präsent sind: Kolonien, Firmen, Kirchenverbände etc. Es festigt sich das Bild des ›demographischen Vakuums‹ als eine Idee der Kolonisierung, die alles erlaubt. Das Geflecht – ich benutze hierfür den Ausdruck cañamazo von Rama – ist nicht einfach gewebt, und das hat unterschiedliche Gründe: unter anderen die Vielfalt seiner Komponenten und ihrer Beziehungen zueinander, die Verschiedenartigkeit der Momente und der Länge des Kontaktes sowie die Gleichzeitigkeit ganz unterschiedlicher und im Grunde doch sehr ähnlicher Situationen. Im Falle der heutigen indigenen Kulturen handelt es sich um Hunderte unterschiedlicher kultureller Gruppen, die in einigen Fällen sehr abgeschlossen leben, manchmal sogar monolithisch, die sich gegenüber dem Fremden sehr bedeckt halten, so dass es dort Fälle gibt, in denen der Kontakt minimal ist. Diese Gruppen haben unterschiedliche Identitäten, unterschiedliche Sprachen, die manchmal und besonders im 18. Jahrhundert das neenghatu oder eine ›allgemeine Sprache‹ zur Verständigung untereinander verwendeten, aber sie identifizieren sich heutzutage mit der jeweils eigenen Sprache, obwohl die ›allgemeine Sprache‹ mancherorts noch überlebt hat. Möglich ist auch eine Verwestlichung, besonders bei den jungen Menschen, die in die Städte auswandern. Bis vor einigen Jahrzehnten war dieser Prozess nicht rückgängig zu machen, heutzutage gibt es Forderungen, diese jungen Menschen auf verschiedene Art wieder stärker in ihre Gruppe einzugemeinden. Das heißt, dass es indigene Kulturen auf allen Stufen der Verwestlichung gibt. Auf der anderen Seite ist die Cabocla-Kultur eine Mischkultur zwischen Einheimischen und Spaniern, der aber auch eine Komponente der Schwarzen zugerechnet wird. Tatsächlich wird die Caboclo-Variante zu den afro-brasilianischen Ritualen gezählt. Diese lässt sich bei den ribereños, den Bauern, beobachten. Gerade die Unbestimmtheit des Begriffs zeigt das Vorhanden-
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sein unterschiedlicher Vermischungen. Das heißt, hier sind mindestens drei Kulturen im Spiel. Außerdem wäre noch die afrikanische Komponente der afro-amerikanischen Kultur hervorzuheben, aus der eine Mulatten-Kultur hervorgeht, die, von verschiedenen ethnischen Gruppen stammend, zu einem bestimmten Zeitpunkt viel afrikanischer war als in der Gegenwart, wo sie sich auf unterschiedlichen Stufen des kulturellen Mestizierungsprozesses befindet. Dieser Vielfalt kultureller Ausdruckformen muss unter vielen anderen und auf unterschiedliche Weise noch die asiatische hinzugefügt werden, die europäische aus neuen Wellen der Auswanderung, die jüdische und die arabische. Um ein konkretes Beispiel für die Dichte dieses kulturellen Geflechts aufzuzeigen, können wir uns auf die Geschichte einer der Kulturen beziehen, die ihren Höchststand an Komplexität im 16. Jahrhundert erreichte und heute Untersuchungsgegenstand der Archäologie ist: die Kultur der Insel Marajó. Weit entfernt davon, ein Ausgangspunkt zu sein, wie es vielleicht der Reisende meinen könnte, der die Überreste beobachtet, war die Insel Marajó ein Ankunftsort, der einen Höhepunkt erlebte – dies ist offensichtlich in der Keramik der unterschiedlichen Arten von Grabgefäßen, rituellen Schemeln, Münzschalen aus Keramik und anderen Elementen, die die Archäologen ausstellen –, sich dann nach der Ankunft der Portugiesen im 16. Jahrhundert aber auflöste. Eine Forscherin beschreibt den Ursprung dieser Kultur folgendermaßen: Man weiß nicht, welche Sprache sie sprachen oder welcher ethnischen Gruppe sie angehörten. Von dem ausgehend, was in der Kolonialzeit über sie in Erfahrung gebracht werden konnte […], kann man schlussfolgern, dass sie nicht den Sprachfamilien der tupí oder arawak zugehörten; es ist wahrscheinlicher, dass das Volk der marajoara aus multiethnischen und multilinguistischen Gruppen bestand, die in unterschiedlichen Epochen auf die Insel kamen und sich dort niederließen. Die marajoara-Kultur war dann das Bindeglied zwischen den Völkern, deren Beziehungen auf Zusammenarbeit und Konkurrenz fußten.2
Es gibt nicht nur das Problem der Herkunft. Die Kulturen befinden sich in permanenten Entwicklungsdynamiken. Daher tauchen in den Formen der Mestizierung ebenfalls Unterschiede auf. Wir wissen, dass die ethnologischen Studien und die Archäologie die Austauschbeziehungen durch Handel hervorgehoben haben; Beziehungen, die auch zwischen verschiedenen Gruppen der Amazonas- und der Andenregion bestanden haben können. Das heißt, dass unter den präkolumbischen Kulturen überraschende Austauschbeziehungen existiert haben müssen. So schreibt die für die Beobachtungen der marajó zuständige Wissenschaftlerin: 2
Denise Pahl Schaan, Cultura marajoara, Sao Paulo e Pará 2009, S. 197.
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Da die Insel Marajó nur aus Sedimentablagerungen besteht und keine harten Felsen aufweist, müssen alle gefundenen Schmuckstücke aus Stein aus einem Austausch mit anderen Völkern des Amazonasgebiets und sogar der Karibik stammen. Die Schmuckstücke wurden bereits im fertigen Zustand dort hingebracht; wir wissen, dass nicht die Rohstoffe für die Fertigung geliefert wurden, denn in diesem Fall hätten wir Rückstände in Form von Splittern und Resten gefunden, nebst dem Werkzeug, das für ihre Herstellung benötigt wurde. Die nächstgelegenen Orte mit Felsgestein befinden sich im Staat Maranhão und im Westen des Pará-Staates, in der Region des Oberlaufs der Flüsse Trombetas und Tapajós. Die künstlerische Ähnlichkeit einiger antropomorpher Anhänger aus Rohstoffen der San Agustín-Kultur (800–200 v. Ch.) legt nahe, dass es einen Austausch mit Kolumbien gegeben hat.3
Offensichtlich hatten dieser Austausch und spätere Beziehungen während der Kolonisierung einen sowohl auf gleichen als auch auf ungleichen kulturellen Beziehungen beruhenden Handelscharakter, wodurch differenzierte kulturelle Formen hervorgebracht wurden. Aber nicht alles ist Verbreitung und Vielfalt. Es gibt auch Artikulationsdynamiken. Ab dem 15. Jahrhundert ist die Kolonialität der Macht, colonialidad del poder, wie sie Aníbal Quijano untersucht hat, ein Prozess, der unseren Gesellschaften eigen ist. Im Amazonasgebiet hat er große Bevölkerungsbewegungen begünstigt und folglich die Entwicklung bis dahin unbekannter kultureller Konstellationen, die charakteristisch für die Region sind. Aber es gibt Prägungen, die es gestatten, von einem kulturellen Areal des Amazonas zu sprechen. Eines dieser prägenden Elemente ist die Beziehung zur Umwelt: Der Amazonaswald ist ein Ökosystem, das sich durch seine Vielfalt und seine Empfindlichkeit auszeichnet und unmittelbar das Leben der Bewohner der Region beeinflusst. Die Natur ist nicht nur die Überlebensgrundlage, sondern beeinflusst ebenso das gesellschaftliche Leben. Dieses Phänomen ist in unterschiedlicher Intensität in den verschiedenen Regionen des Amazonas beobachtbar.4
Ein weiteres wichtiges Element der Verbindung ist, wie schon in einer vorausgehenden Publikation angesprochen,5 die Herausbildung einer gemeinsamen amazonischen Vorstellungswelt, die das gesamte Areal quert. Bei allen Variationen, die es im mündlichen Diskurs immer gibt, besitzt sie grundsätzliche Gemeinsamkeiten, die sich in den Wesen, Erzählungen und Strukturen ausdrücken. Die Berichte über Amazonen, Wolfs-Männer, curupi3 4
5
Ebd., S. 213. Ulrike Tiemann-Arsenic, »Recursos naturais e perspectivas de futuro em comunidades ribeirinhas e assentados: uma pesquisa de campo«, in: Willi Bolle et al. (Hrsg.), Amazonia. Regieo universal e teatro do mundo, Sao Paulo 2010, S. 124. Pizarro, Amazonía.
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ras oder Figuren, die über den Urwald wachen, den verführenden Delphin, die Kobra, die Mutter des Urwalds, den Fluss wiederholen sich in unterschiedlichen Regionen. Das Amazonasgebiet ist ein Raum der kulturellen Querungen und unterschiedlichen Migrationen, und in ihm sind Dispersions- und Artikulationsbewegungen beobachtbar. Seit dem 19. Jahrhundert wurden große Einwanderungswellen in der Region beobachtet, besonders im Zusammenhang mit dem Kautschukfieber, da die Nachfrage im 20. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs sehr hoch war. In Bezug auf diese Episode haben sich auf peruanischer Seite, an der Grenze zu Kolumbien, am Putumayo, Ereignisse abgespielt, die erst jetzt, nach fast einem Jahrhundert des Schweigens, erforscht werden. Aus der gesamten Zone wurde die indigene Bevölkerung – besonders die Bora und Huitoto – vertrieben, um sie, im Zustand der Sklaverei, für die Kautschukgewinnung einzusetzen. Es hat Folter und Massenmorde gegeben, in die ranghohe englische Verwalter verwickelt waren. Als Informationen über diese Ereignisse an die Öffentlichkeit gelangten, sah man sich genötigt, eine große Untersuchung einzuleiten, der dann eine Reihe von Veröffentlichungen folgte. Die Geschichte der Kautschukgewinnung im Amazonas ist geprägt durch unglaubliche Grausamkeiten und hat außerdem noch Denkmäler entstehen lassen, die an diese Schande erinnern, wie das Theater in Manaus, das erbaut wurde, als diese Stadt noch die Bezeichnung ›Paris der Tropen‹ trug. Auf der brasilianischen Seite waren es die Wanderarbeiter aus dem Nordosten Brasiliens, die sogenannten retirantes, die vor der Trockenheit flohen und ihre Erinnerungen an diesen Ort in Form von cordel-Versen hinterließen, die der Kultur des Nordostens angehören. So bringt es ein Gedicht aus der Epoche zur Sprache: Quem de lá volta com vida E quatro contos na mala, Escapou do beriberi, Da emboscada, da bala, Pode creer que tododia Com Deus e os anjos fala.6
In den Andenländern wurden viele tausend Menschen ermutigt, das bolivianische, peruanische und ekuadorianische Hochland zu verlassen und sich gen Osten zu bewegen. Sie wurden getrieben durch die Politik des Staates 6
»Wer lebend zurückkehrt mit vier Erzählungen in der Tasche, entkam der Beriberikrankheit, dem Hinterhalt, der Kugel, der kann noch glauben, dass er jeden Tag mit Gott und den Engeln redet.« (Übersetzung R.M.S. de M.).
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oder dessen Willen, die Grenze auszuweiten, das Gebiet zu kontrollieren, indem man, ohne Rücksicht auf die Existenz der autochthonen Völker, die ›Modernität‹ dorthin bringen wollte. Als Ansporn diente immer der vacío poblacional, das ›Bevölkerungsvakuum‹, oder der Mythos des schnellen Geldes. Die Wirklichkeit der Kolonisierung in Brasilien war kaum anders, und die Geschichtswissenschaftler betonen immer wieder, dass Familien von der Regierung allein gelassen wurden, nachdem eine Rückkehr unmöglich war. Sie lieferte diese Familien einem ungewissen Schicksal aus, und in vielen Fällen endeten sie als garimpeiros, Abenteurer auf der Suche nach Gold. In Peru gab es schon im 19. Jahrhundert Angebote der Kolonisierung des Amazonas. Ein Angebot von 1852 versprach, eine Ausländerkolonie am Unteren Marañón, der Grenze zu Brasilien, einzurichten. 1853 kamen dann Italiener, Nordamerikaner, Schotten und ein Chilene. Der Deutsche Mauricio Kiechbach bot sich 1860 an, 20 000 deutsche Siedler zu holen. Er hatte kein Glück mit seinem Projekt, doch all das zeigt nur die Öffnung des Territoriums zu Kolonisierungszwecken. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wanderten unterschiedliche Gruppen in das Amazonasgebiet aus: Nordamerikaner, deren immerwährende Präsenz unterschiedliche Formen annahm, unter den offensichtlichsten die der Missionare; Araber, die in den Berichten vom Anfang des Jahrhunderts erwähnt werden und die die Hintergrundkultur in den Romanen eines der großen Schriftsteller der Gegenwart darstellen: Milton Hatoum. Bedeutend ist auch die jüdische Präsenz, die, wie die arabische, im Handel zu beobachten ist. Bemerkenswert ist auch die chinesische Migration, besonders in Peru und im Norden Chiles. Sie kamen Ende des 19. Jahrhunderts in diese Länder, überwiegend als Opfer betrügerischer Verträge, durch die sie versklavt wurden. Eine Wissenschaftlerin, die sich dieses Themas angenommen hat, bestätigt, dass sie keineswegs passive Zuschauer waren, sondern einen wichtigen Beitrag zum Aufbau des amazonischen Raumes leisteten. Die Stadt Iquitos, eine der drei aufgrund der Gewinnung und Vermarktung von Kautschuk am meisten entwickelten Städte, trug zu diesem Zeitpunkt einen kosmopolitischen Anstrich und Züge der Belle Epoque, deren Überreste noch in der Gegenwart zu erahnen sind. Mit dem Rücken zur Hauptstadt, mit der sie keine direkte Verbindung unterhielt, weil es keine Wege gab (auch heute gibt es noch keine), hielt Iquitos seine Verbindung mit Europa durch eine englische Seehandelsfirma aufrecht, deren Schiffe den gesamten Amazonas hinuntersegelten, mit Kautschuk beladen die brasilianische Seite durchquerten, um im Gegenzug für die lokale Belle-Epoque-Kultur Waren aus London und Paris zu bringen. Dies hatte kulturelle Auswirkungen, wie folgende kritische Charakterisierung von Iquitos in jener Zeit
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besagt: »Hier lebte eine ziemlich gemischte Rasse ohne erkennbare nationale Zugehörigkeit; es fanden sich Personen zusammen, die sich nur um Arbeit und Geld kümmerten, aber gleichgültig jeder moralischen Aufgabe und jeder religiösen Idee gegenüber waren.«7 Von den Zensuszahlen, die die Forschung bereit gestellt hat, interessiert uns die Vielfalt der Einwohner, die in dieser wichtigen Stadt des Amazonasgebietes existierten: Außer einer relativ geringen Zahl von Einheimischen wird die große Anzahl von Chinesen, Brasilianern, Spaniern, Portugiesen, Italienern, Deutschen, Engländern, Franzosen, Marokkanern, Kolumbianern, Ekuadorianern vermerkt.8 Die Nachrichten heutzutage berichten auch über die Verschiebung von Bevölkerungsgruppen in das Amazonasgebiet. In einer kürzlich erschienenen Nachricht wurde über das Vorhaben der bolivianischen Regierung berichtet, zweitausend Familien aus den Bezirken Potosí, Beni, Oruro, La Paz und Cochabamba in die Region des Pando, an die Grenze zu Brasilien, zu bringen.9 Der interkulturelle Prozess ist unaufhaltsam und besitzt außerdem, im Falle der ausländischen Firmen und der Ausbeutung der Ölquellen, der Pharmaindustrie, des Baus von Staudämmen, die unter anderem das Land der Ureinwohner fluten, einen konfrontativen Charakter. All dies führt dazu, dass der transkulturelle Prozess nicht immer als ein Schritt zweier Kulturen in eine dritte dargestellt werden kann, sondern dass es eine selten friedliche, sondern eher sehr spannungsgeladene Koexistenz von Parallelkulturen gibt, wie es bei vielen Eingeborenengruppen gegenüber der europäischen oder dominanten westlichen Kultur der Fall ist. Diese spannungsgeladene Diversität wurde von Edna Castro, einer der großen Wissenschaftlerinnen dieser Region, folgendermaßen beschrieben: Pseudointegration der unterschiedlichen Welten, der Moderne und Nicht-Moderne, ist die Identifizierung mit der bäuerlichen Bevölkerung, dem Indianer, dem Caboclo, dem Flussbewohner, dem Pantaneiro und dem Sertanejo weitaus größer, beide vereint durch Konfliktprozesse.10 7
8
9 10
Isabelle Lausent Herrera, »Los inmigrantes chinos en la Amazonasgebiet peruana«, in: Bulletin de l’Institut Francais d’Ethnologie Andine, 15/1986, 3–4, S. 56. 1899 war die chinesische Kolonie der Anzahl ihrer Bewohner nach die wichtigste in Iquitos und ohne Zweifel der ganzen Region Loreto. Ein im selben Jahr vom Coronel Portillo durchgeführter provisorischer Zensus ergab folgendes Resultat: Gesamtbevölkerung: 9438, darunter 522 Ausländer: 346 Chinesen, 260 Brasilianer, 130 Spanier, 80 Portugiesen, 90 Italiener, 55 Deutsche, 28 Engländer, 43 Franzosen, 40 Marokkaner, 46 Kolumbianer, 40 Ekuadorianer. Ebd., S. 55. La Paz, 9 de agosto de 2009, Infolatam/EFE. Edna Castro, »Políticas de Estado e atores sociais na Amazonia contemporanea«, in: Bolle, Amazonia, S. 110.
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Offensichtlich besitzt die westliche Kultur die nötige Macht, um diese Kulturen zu zerstören, und in der Tat gibt es eine Art ideologischen Terrorismus, den einige protestantische Missionen aus Nordamerika entwickeln. Auf der anderen Seite sind es die Instrumente und Aktionen der internationalen Ökonomie, welche dieses spannungs- und konfliktgeladene Miteinander hervorrufen. Das sind die Bedingungen, aus denen man die Zukunft der Beziehungen voraussagen kann. Daher kann man anhand des kulturellen Geflechts, das in den Vorstellungswelten der amazonischen Vielfalt aufzuspüren ist, die unterschiedlichen Vorgänge deutlich machen. Parallel zu der Abfolge von transkulturellen Prozessen, die einer dieser Vorgänge sein kann, erzeugt das kulturelle Geflecht auch eine spannungsvolle Begegnung der Kulturen, aus der keine dritte hervorgeht, sondern die sie in der Konfrontation, Gegenüberstellung verharren lässt. Auch gibt es im Bereich der interkulturellen Beziehungen verschiedene Ebenen, die gerade nicht nur von zwei Kulturen beeinflusst wurden, sondern von mehreren und in unterschiedlichen Formen. All das ist, wie bereits erwähnt, kein reines Nacheinander von Vorgängen, sondern ein Phänomen der Gleichzeitigkeit. Schließlich gibt es dämonische Elemente, die diese kulturelle Vielfalt verbinden und die Existenz und die Möglichkeit einer Auslöschung scheinbar erklären. Es sind dies der Reichtum an Bodenschätzen und die Schönheit des Urwalds, die Biodiversität und die Eignung des Amazonasgebiets als großes Wasserreservoir des Planeten, seine Existenz als ein nicht erforschter und nicht ausgebeuteter Ort. Es ist das Vorrücken dessen, was man ›die Grenze‹ nennt, die Verpflichtung, diesem unbenannten Raum einen Namen zu geben, mit einer Marke und einem Handelslogo. Edna Castro bilanziert, dass in Kolumbien, in Venezuela, Bolivien oder Brasilien, im gesamten Amazonasgebiet die Marken dieses Vorrückens zu finden sind, mit neuen Firmen, die aufeinander folgen in der Ausbeutung des Urwalds, der Ölquellen, der Produkte der Biodiversität, des Agrobusiness, der Fischerei, der Pharmaindustrie. Alles gesteuert, füge ich hinzu, von fehlendem Respekt vor der Umwelt und von Geldgier. Ich beende den Text mit einem Zitat: »Der Prozess der Zivilisierung nimmt seinen Lauf und bewegt sich hin zu den letzten erforschbaren Grenzen des Planeten. Der Urwald bleibt eine Herausforderung, ein Ort, den die Zivilisation noch domestizieren und besiegen wird.«11 * 11
Ebd., S. 108.
* Aus dem Spanischen von Jens Häseler und Rosa María Sauter de Maihold
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Winfried Gerling (Potsdam)
upload | share | keep in touch Fotografen in Gemeinschaften
I.
Prolog
Am 18. 05. 1818 um 12:00 mittags trägt Kapitän John Ross auf seiner ersten Expedition zur Entdeckung der Nord-West-Passage neben einigen anderen Beobachtungen wie selbstverständlich die Wetterdaten in das Logbuch der HMS Isabella ein. Das Führen von Logbüchern war 1731 Pflicht geworden: »Wind: SWbW; Barometer: 29.83 in.; Hygrometer: 6,67; Light breezes; Foggy; Sea surface temperature: 45; Air Temperature: 45; Latitude: 57,29 N; Longitude: 32,12 W.«1 Da er von der Reise wiederkam und die Daten mit nach England brachte, ist uns heute bekannt, was er im Logbuch vermerkte. Diese seit 200 Jahren mehr oder weniger vergessenen, aber archivierten Daten werden seit jüngerer Vergangenheit wieder recherchiert und an der Universität von Colorado im Corral Project (UK Colonial Registers and Royal Navy Logbooks) in Tabellen beziehungsweise Datenbanken eingetragen. Diese Tabellen sind für die Klimaforschung interessant, da Logbücher sehr genau geführt wurden und durch sie bestimmte Wetterphänomene auf der Basis konsistenter Daten nachträglich präziser erklärbar geworden sind. Es handelt sich um Primärdaten und nicht, wie so oft in der zurückschauenden Klimaforschung, um Sekundärdaten, die zum Beispiel aus Eiskernbohrungen oder aus Baumringen abgeleitet werden müssen.
II.
Einleitung
Die Zahl der in Online-Gemeinschaften organisierten Fotografen ist kaum noch zu überblicken, allein bei Flickr sind derzeit ca. 40 Millionen User gemeldet. Dies übersteigt bei Weitem die Zahl der in Foto-Clubs und über Vereine oder in sonstigen Gemeinschaften organisierten Amateur-Fotografen. 1
http://www.corral.org.uk/digitised-logbook-observations/hms-isabella-1818/ ADM_55_82_Isabella_0397_0625.xls?attredirects=0 (Stand: 14. 09. 2010).
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Abb. 1: Seite eines reich illustrierten, aber sonst typischen Logbuchs des 18. Jahrhunderts von Kapitän Nicholas Pocock. National Maritime Museum, Greenwich
Abb. 2: World Heat Map, zeigt die Georeferenz der Bilder mit Geodaten bei Flickr. David Crandall, Lars Backstrom, Dan Huttenlocher und Jon Kleinberg, 2009, http://www.cs.cornell.edu/ ~crandall/photomap/
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Abb. 3: Webseite Flickr.com
In meinem Beitrag möchte ich über eine besondere Art der Wissensproduktion sprechen, die durch sogenannte Web-2.0-Technologien ermöglicht wird, ein Wissen, das über Bilder bzw. mit Bildern generiert wird. Hierfür dienen mir Foto-Communities im Netz als Beispiel. Als besonders prädestiniert erscheint hier die Plattform Flickr.com, da sie die größten Nutzerzahlen auf sich vereint und so exemplarisch für die Effekte stehen kann, die derartige Plattformen zeitigen.
III. Eine ganz kurze Geschichte von Flickr Flickr ist 2004 von der in Vancouver ansässigen Firma Ludicorp (2002 gegründet) zuerst als Multiuseronlinespiel (Neverending) mit Fotofunktionen entwickelt worden; ein Fokus lag von Anbeginn auf dem Austausch von Fotos in Echtzeit mittels eines Chatrooms. Dieser Service wurde unerwartet intensiv genutzt und bestimmte die weitere Entwicklung des Spiels. Ludicorp wurde 2005 von Yahoo gekauft und sämtliche Daten in die USA migriert. Seit dieser Zeit sind die grundlegenden Funktionen von Flickr entwickelt
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(Userprofile, Tags, Sets, Favorites, Kommentare etc.). Wesentliche Weiterentwicklungen und Änderungen waren die Einführung des Geotagging (August 2006) – die Annotation von Geodaten – und im Jahr 2009 eine Kooperation mit Getty-Images. Die beiden zuletzt genannten Änderungen sind auch die, auf die ich hauptsächlich in meinem Beitrag eingehen werde. Ich möchte einige Zahlen nennen, die die Dimension dieser Community sehr gut veranschaulichen: ungefähr 40 Millionen User weltweit, ca. 4 Milliarden Fotos, davon am 04. 07. 2010 106 830 050 mit Geotags versehen. Am 01. 07. 2010 besuchten 2,3 % aller Internetuser weltweit die Seite, und am 08. 07. 2010 war Flickr die Nr. 32 der meistbesuchten Seiten.
IV.
Das digitale Bild – der kleine Unterschied
Es herrscht wohl inzwischen Einigkeit darüber, dass das digitale Bild ein veränderbares Objekt ist, dessen Bilddaten (Pixel) variabel2 (interpretierbar) sind und das damit den letzten Anschein des Authentischen verloren hat, zumindest in den Theorien zur Fotografie beziehungsweise dem digitalen Bild. Diskursiv steht dagegen die immer wieder behauptete Zeugenschaft der Fotografie, dass sie eben doch auf etwas Wirkliches referenziere: Dieser scheinbar unsymbolische, objektive Charakter der technischen Bilder führt den Betrachter dazu, sie nicht als Bilder, sondern als Fenster anzusehen. Er traut ihnen wie seinen eigenen Augen. Und folglich kritisiert er sie auch nicht als Bilder, sondern als Weltanschauungen (sofern er sie überhaupt kritisiert). Seine Kritik ist nicht die Analyse ihrer Erzeugung, sondern Weltanalyse. Diese Kritik muß sich als gefährlich herausstellen in einer Lage, wo die technischen Bilder daran sind, die Texte zu verdrängen.3
Im alltäglichen Gebrauch der Fotografie, wie die Fotografie in Magazinen und anderen Massenmedien, insbesondere aber auch bei sogenannten Amateuren,4 spielt die Frage der Authentizität immer wieder eine zentrale Rolle. Zumindest wird in den Diskussionsforen der entsprechenden Communities 2
3 4
Siehe hierzu z. B.: Peter Lunenfeld, »Digitale Fotografie. Das dubitative Bild«, in: Herta Wolf (Hrsg.) Paradigma Fotografie – Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt a. M. 2002, S. 158–177 und Lev Manovich, Language of New Media, Cambridge, MA, 2002, S. 36–45. Vilém Flusser, Für eine Philosophie der Fotografie, Göttingen 2000, S. 14. Mit Amateur ist hier der Einfachheit halber der Fotograf gemeint, der sein Tun als eine Praxis versteht, die im Verhältnis zu anderen Fotografen/Fotografien steht, sowohl ästhetisch als auch technisch. Er ist also ein Produzent und nicht ein nur privater ›Knipser‹.
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immer wieder unterschieden zwischen Fotografien, die authentischen Charakter hätten, und denen, die durch Software wie zum Beispiel Adobe Photoshop beeinflusst seien. Dabei wird nicht reflektiert, dass jede Einstellung einer digitalen Kamera schon algorithmisch in die Bildproduktion eingreift und sogar das Betrachten der Bilder am Computer von Bildschirmprofilen beeinflusst wird und somit bei jedem Betrachten eigentlich ein verändertes beziehungsweise neues Bild entsteht.5 Dieser Aspekt der digitalen Fotografie wird mich im Folgenden aber nicht zentral interessieren, da er in den letzten Jahren hinreichend reflektiert wurde, sondern eine andere wesentliche Neuerung der digitalen Fotografie gegenüber der analogen, die meines Erachtens in der aktuellen Auseinandersetzung um digitale Fotografie unterrepräsentiert ist. Das, was uns hier interessieren soll, sind Daten (Metadaten), die neben denen zur Bilddarstellung (Auflösung, Farbwerte, Farbprofile etc.) besonders wichtig sind. Die folgende Aussage von Bernd Stiegler bekommt in diesem Zusammenhang eine neue Bedeutung: »Wir glauben nicht länger an die Objektivität der Fotografie, wohl aber daran, dass Fotografien in spezifischer Weise unsere Wirklichkeit sind.«6 Jedem Bilddatensatz, der heute mit einer handelsüblichen Digitalkamera aufgenommen wird, wird eine so genannte EXIFDatei eingeschrieben.7 Diese Daten beinhalten sämtliche technische Informationen des Bildes wie Blende, Belichtungszeit, Kameramodell, Datum, Uhrzeit, aber auch die individuelle Seriennummer der Kamera und seit jüngerer Vergangenheit, je nach Kamera-Modell, immer öfter auch GPS-Daten. Mit diesen Daten werden digitale Fotografien, die als noch indexikalisch zu bezeichnen sind (im Gegensatz zu rein algorithmisch generierten Bildern), auf eine weitere Weise an die Realität gebunden: erstens an die Realität des Machens im Sinne einer Nachvollziehbarkeit der Kameraeinstellungen, und zweitens als neuer Authentifizierungsgestus an Geodaten (physikalische Realität), die einen bestimmten Ort auf der Welt adressieren beziehungsweise auf ihn referenzieren – ein zweiter – nichtbildlicher – Index, der auf der Basis nachvollziehbarer wissenschaftlicher/technischer Verfahren be5
6
7
Das wirft auch ein anderes Licht auf die immer wieder behauptete identische Reproduktion von digitalen Bildern. Siehe hierzu Lev Manovich, »Die Paradoxien der digitalen Fotografie«, in: Hubertus von Amelunxen/Stefan Iglhaut/Florian Rötzer (Hrsg.), Fotografie nach der Fotografie, Dresden 1995, S. 58–66, hier S. 60. Bernd Stiegler, »Fotografie im digitalen Zeitalter«, in: Ders. (Hrsg.), Texte zur Theorie der Fotografie. Stuttgart 2010, S. 343. Exchangeable image file format for still cameras; letzte Version 02. 03. 2010, entwickelt und publiziert von der Standard of the Camera & Imaging Products Association, siehe: http://www.cipa.jp/english/ (Stand: 17. 06. 2010).
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Abb. 4: William Henry Fox Talbot, Boulevard des Capucines, Paris 1843
ruht. Das Barthes’sche »Es ist so gewesen!«8 kann um ein »Es ist dort gewesen!« und ein »Es wurde so gemacht!« ergänzt werden. Selbstverständlich sind aber auch diese Daten als digitale Daten variabel, und schon die falsch eingestellte Uhrzeit in der Kamera kann zu irritierenden Effekten bei der Archivierung von Bildern führen.
V.
Georeferenz
So entsteht ein neues, vermeintlich präzises und reproduzierbares Wissen über den Ursprung dieser Bilder. In den Anfängen der Fotografie notiert William Henry Fox Talbot noch akribisch die Daten zu seinen Bildern und erweitert damit den Bildraum auch in Richtung Karte/Stadtplan: »Diese Ansicht wurde aus einem der oberen Fenster des Hotel de Douvres aufgenom-
8
Roland Barthes, Die helle Kammer, Frankfurt a. M. 1980, S. 86–92.
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men, das an der Ecke der Rue de la Paix liegt. Der Betrachter schaut nach Nordosten. Es ist Nachmittag.«9 Heute ist es mit den EXIF-Daten sehr leicht möglich, den genauen Ort und die Art der Aufnahme zu erschließen, und es sind über die individuelle Kamera (Seriennummer, Kameratyp, GPS-Daten etc.) auch Rückschlüsse auf den Autor und seine Bewegung möglich. So erlebt das Reisefoto im Kontext der Sammlungen von Fotos auf den Seiten der verschiedenen Communities eine Renaissance. Es wird durch das Geotagging zu einem Medium, das nicht mehr nur die physikalische Erscheinung des Lichts aufzeichnet, sondern auch Breiten- und Längengrade sowie die Höhe und – wie erwähnt – vieles mehr. Die digitale Fotografie wird wörtlich auch zur Geografie, der Fotograf zum Geofotografen, zum Entdecker der Welt, der sie in dritter Generation – nach Alexander von Humboldt und den Reisefotografen des 19. Jahrhunderts – vermisst. Bruno Latour hat im Kontext der Vermessung der Welt durch die ersten Entdecker die bei der Kartierung entstehenden Medien in seinem Aufsatz »Die Logistik der immutible mobiles« folgendermaßen beschrieben: Wie kann man aus der Distanz Einfluss auf fremdartige Ereignisse, Orte und Menschen nehmen? Antwort: Indem man diese Ereignisse, Orte und Menschen irgendwie nach Hause bringt. Wie kann dies erreicht werden, wo sie doch weit entfernt sind? Indem man Mittel ersinnt, die (a) diese transportabel machen, damit sie zurückgebracht werden können; die (b) diese stabil machen, damit sie hin- und herbewegt werden können, ohne dass es zu zusätzlicher Verzerrung, Zersetzung oder zum Verfall kommt, und die (c) sie kombinierbar machen, damit sie, egal aus welchem Stoff sie bestehen, aufgehäuft, angesammelt oder wie ein Kartenspiel gemischt werden können. Wenn diese Konditionen erfüllt sind, dann werden eine kleine Provinzstadt oder ein unbedeutendes Labor oder eine mickrige kleine Garagenfirma, die zunächst so schwach wie jeder andere Ort waren, zu starken Zentren, die aus der Distanz viele andere Orte beherrschen.10
Diese letzte Aussage Latours zielt sicherlich auf den amerikanischen Garagen-Mythos unter anderem der Firma Apple, was in unserem Fall nur bedingt stimmt, denn Flickr ist zwar ein aufgekauftes Kleinunternehmen, aber meines Wissens nicht in einer Garage gegründet worden. Allerdings können die weiterhin gemachten Feststellungen auf die Geofotografie unter den Bedingungen der Fotocommunity Flickr angewandt werden. 9
10
William Henry Fox Talbot, »The Pencil of Nature«, zitiert nach Hubertus von Amelunxen, Die aufgehobene Zeit. Die Erfindung der Photographie durch William Henry Fox Talbot, München 1989, S. 44. Bruno Latour, »Die Logistik der immutible mobiles«, in: Jörg Doring/Tristan Thielmann (Hrsg.), Mediengeografie. Theorie – Analyse – Diskurse, Bielefeld 2009, S. 111–144, hier S. 124.
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Abb. 5: Eines von vielen Beispielen, wie über die EXIF-Daten in Verbindung mit Userdaten die Georeferenz ausgewertet werden kann. Hier die unterschiedliche Bewegung von Einheimischen und Touristen in Berlin, Eric Fischer, http://www.flickr.com/photos/walkingsf/ 4671578001/sizes/o/
Im Zentrum des fotografischen Auftrags steht also die Akkumulation eines an Bilder gekoppelten Wissens, das quasi unmittelbar produziert und distribuiert werden kann: Flickr ermöglicht über Smartphones den direkten Upload von Bildern auf die Webseite. Das kommt dem Phantasma eines Zugriffs auf die bildliche Oberfläche unserer Welt in Echtzeit sehr nahe, den zum Beispiel Google Earth/Google Maps durch seinen dynamischen Zugriff auf die Weltkarte suggeriert. Ramón Reichert beschreibt diese Wissenstechnik des Zugriffs über Karten in seinem Buch Amateure im Netz als eine postdisziplinäre Wissenstechnik:
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[…] – die Überlagerung von Personendaten mit der Medienästhetik des kartografischen Überflugs über die Welt auf der Basis von Geodaten von Satellitenaufnahmen, Luftbildern, computerunterstützten Routenplanern und GPS-Navigationssystemen hat eine visuelle Kontrollkultur der Sichtbarmachung kultureller und sozialer Praktiken im Alltagsleben verankert.11
Und weiter bemerkt er: […] die Postdisziplinarität der Wissenstechniken ist doppeldeutig. Einerseits sind sie Bestandteil von Freiheitstechnologien, die selbstverantwortliche Subjekte als Unternehmer/-innen ihrer selbst adressieren: Aktivierung, Selbstverantwortung und Eigeninitiative markieren Chiffren gegenwärtiger Transformationsprozesse. Andererseits überschreiten sie wissenschaftliche Grenzen und streben nach einer Auflösung fachbezogener Wissensproduktion.12
Ging es einer Bildproduktion vor der Georeferenz darum, Bilder eines bestimmten Ortes zu erzeugen, blieb dieser im weitesten und besten Sinne imaginär. Die Georeferenz verleiht dem Bild etwas vermeintlich Reproduzierbares beziehungsweise Überprüfbares, was vorher nur bei Bildern weithin bekannter Orte möglich war. Sehe ich Bilder auf der Weltkarte angeordnet, bilde ich mir ein, sie seien an diesem eindeutigen/spezifischen Ort gemacht und ich könnte mir aufgrund der Bilder und deren Anordnung auf der Karte diesen Ort vorstellen.13 Ich reise dann dorthin und bin möglicherweise genauso irritiert wie im Fall des Reisekataloges, wenn ich die Bilder mit der Realität abgleiche. Dies liegt natürlich daran, dass Bilder Bilder hervorbringen beziehungsweise Fotografen Bilder reproduzieren, die sie gesehen haben respektive sehen möchten.14 Es wird so etwas wie eine bildliche Normalität erzeugt, die mehr oder weniger statistischen Ursprungs ist, worauf später einzugehen sein wird. Dieser Vorgang schließt an einen paradigmatischen Wandel des Internets zum Geoweb an: Die Vorstellung eines parallel existierenden virtuellen 11
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14
Ramón Reichert, Amateure im Netz. Selbstmanagement und Wissenstechnik im Web 2.0, Bielefeld 2008, S. 151. Ebd., S. 152. In diesem Zusammenhang könnte Google Streetview als das ultimative Medium für georeferenzierte Fotos gesehen werden. So gibt es z. B. fast keine Bilder der Pyramiden von Gizeh mit den umliegenden Siedlungen, die fast bis an die Pyramiden reichen. Jeder Fotograf richtet seine Kamera auf die allseits bekannte Standardperspektive der Pyramiden in der Wüste und eben nicht auf den Stadtrand. Zur Unterstützung dieser Vorstellung von sauberen Bildern kann der findige Fotograf auch Software wie den ›Tourist Remover‹ (http://www.snapmania.com/info/de/trm/index.html) verwenden, der aus einer Reihe von Bildern desselben Ortes alle beweglichen Objekte entfernt, das heißt vorwiegend Touristen bzw. Personen.
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Abb. 6: Suchergebnis zum Tag »Gizeh« auf der Weltkarte von flickr.com
(Daten-)Raumes, vormals oft Cyberspace genannt, kann immer mehr zugunsten einer georeferenzierten Datenwelt aufgegeben werden. Lev Manovich bezeichnet das in seinem Aufsatz »Die Poetik des erweiterten Raums: von Prada lernen« als den »erweiterten Raum« im Verhältnis zu »virtuellem Raum«.15 Die Durchdringung des physikalischen Raums mit digitalen georeferenzierten Daten wird auf allen Ebenen der Erschließung von Informationen sichtbar. Dazu tragen mobile digitale Endgeräte einen wesentlichen Anteil bei.16
VI.
Techniken der Auswahl
Techniken, die Flickr zugrunde liegen, sind in vielem typisch für Web-2.0Anwendungen. Durch schnellen und einfachen Zugriff auf die zugrunde liegende Web-Software wird dem Nutzer die Mitgliedschaft leicht gemacht. Wenige Formularseiten reichen aus, um direkt am großen Bilderkosmos von Flickr produktiv mitzuwirken, respektive sein persönliches Profil zu erzeugen. Dieser Vorgang basiert auf vermeintlicher Freiwilligkeit, und durch unmit15
16
Lev Manovich, »Die Poetik des erweiterten Raums: von Prada lernen«, in: Ders. (Hrsg.), Black Box – White Cube, Berlin 2005, S. 105–143, hier S. 114. So wird als einfachstes Beispiel schon bei einer Google-Suche der Standort des anfragenden Rechners ausgewertet und Suchergebnisse bezogen auf den Ort ausgegeben. Soziale Netzwerke wie z.B Foursquare und Google Latitude nutzen den Standort als zentralen Teil ihrer Kommunikationskonzepte.
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telbare Gratifikationseffekte wird jeglicher Zweifel hinweggefegt, ob und welche Art von Datenbild das persönliche Profil erzeugt. Die hochgradige Standardisierung der Formulare schafft dann eine datentechnische Grundlage (gerne auch Datenkonsistenz genannt), die es überhaupt erst ermöglicht, mit einer derartigen Anzahl von Datensätzen umzugehen. So oszillieren diese persönlichen Darstellungen immer zwischen standardisiertem Selbstmanagement und einem möglichen äußeren Kontrollregime. Was in den siebziger Jahren unter dem Begriff Rasterfahndung oder später mit der Volkszählung für großen Protest gesorgt hat, ist heute freiwillig erzeugte datentechnische Grundlage eines jeden sozialen Netzwerkes. Ramón Reichert beschreibt diesen Vorgang folgendermaßen: Soziale E-Netze bestehen hauptsächlich aus grafischen Rasterformen und ihren logisch vorstrukturierten Texten mit slot und filler-Funktionen zur Erfassung, Verwaltung und Repräsentation von Wissensbeständen. Die grafische Rasterform und die determinierende Vereinheitlichung der Tabellenfelder etablieren Standards der informationellen Datenverarbeitung: Sie machen aus subjektiven Erzählformen einheitliche Informationsbausteine, die der formallogischen Verarbeitung der Datenbanksysteme zugeführt werden.17
Die oben erwähnte unmittelbare Gratifikation ist der schnelle Nutzen, der dem User versprochen wird: »keep in touch«. In Verbindung bleiben – Freunde, Familie und Kontakte Auf Flickr können Sie ganz einfach nette Leute kennenlernen. Wenn Sie jemanden als Kontakt hinzufügen, können Sie außerdem festlegen, ob Sie die jeweilige Person als Freund oder Familienmitglied (oder beides) hinzufügen.18
Vor dem Hintergrund dieser Aussage wird schnell die Doppelbödigkeit des Anliegens sichtbar: Einerseits kann man »einfach nette Leute kennenlernen« (Gratifikation), andererseits werden datenbanklogisch Einordnungen in Kategorien wie Familie oder Freund notwendig. Einen Zwischenraum gibt es nicht, es sei denn, jemand ist Freund und Familie. Diese Arten von Kategoriensystemen führen zwangsläufig zu Unschärfen bzw. zu einer Normalität, die überkommene Muster von Geschlecht und Rasse affirmieren. Wie problematisch diese Art von Einteilung sein kann, haben viele Nutzer von Facebook schmerzlich feststellen können, wenn zum Beispiel die Anfrage des Chefs, ihr Freund sein zu wollen, angenommen oder abgelehnt werden muss. Ein weiterer Automatismus des Web 2.0 ist das Sammeln von Aufmerksamkeit: Freunde, Follower etc. Bei Flickr geht es darum, mit seinen Bildern andere Nutzer zu gewinnen, die ein Bild als Favorite bezeichnen, in anderen 17 18
Reichert, Amateure, S. 94. http://www.flickr.com/tour/keepintouch/ (Stand: 04. 07. 2010).
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Abb. 7: In Verbindung bleiben – Erläuterung zur Funktion von Flickr.com
Galerien aufzutauchen, möglichst oft betrachtet zu werden beziehungsweise möglichst viele Kommentare zu einem Bild zu bekommen. Der größte Coup, den man landen kann, ist, auf der Startseite von Flickr mit seinem Bild aufzutauchen. Dies funktioniert nach einem bewusst geheim19 gehaltenen Modus/Algorithmus, der bei Flickr Interestingness20 heißt. Dieses Heischen nach Aufmerksamkeit entwickelt eine eigene Logik, die zu einer spezifischen Bildproduktion führt und auch dazu, die Bilder in einer bestimmten Weise zu bezeichnen (zu taggen). Diese Logik der Aufmerksamkeit scheint in einem hohen Maß ästhetisch und technisch ähnliche Bilder hervorzubringen. Die Bilder werden auf diese Logik hin optimiert: hohe Farbsättigung, klassische Bildkomposition, im weitesten Sinn technisch perfekt. 19
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Natürlich gibt es etliche Seiten, die Techniken zur Optimierung der eigenen Bilder oder Galerien anbieten. Insgesamt ist das dem Google-PageRank-Verfahren sehr ähnlich, mittels dessen die Wichtigkeit einer Seite im World Wide Web bewertet wird und dadurch deren Position im Suchergebnis bestimmt wird. http://www.flickr.com/explore/interesting/ (Stand: 19. 02. 2011).
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In diesem Zusammenhang wundert es dann auch kaum, dass GettyImages, neben Corbis der weltweit größte Anbieter für Stockfotografie, auf Flickr aufmerksam wurde und 2009 eine Kooperation eingegangen ist. Seit dieser Zeit werden Fotografien von Getty ausgewählt und seit jüngerer Zeit können Fotografen ihre Bilder via Flickr der Getty Collection auch anbieten. So werden Amateure zu Profis und Knipser zu Amateuren – ein sehr anschauliches Beispiel dafür, wie User Generated Content produktiv gemacht werden kann,21 und auch ein gutes Beispiel für die veränderten Ökonomien der Medienbranche im Zeitalter des Internets (unter den Bedingungen des Web 2.0) und der Prosumer Culture. Bilder ähneln sich, umso mehr sie für eine Community produziert sind: »Real life. In real time. You see it again and again. Too posed. Too faked. Too model-y. Our flickr collection gives you a fresh look at stock photos. With authentic images capturing real life around the world including your own backyard.«22 Die vermeintliche Authentizität (»authentic images«) wird durch massenhaft typische Bilder aus der Flickr-Community natürlich genauso fragwürdig wie die »ohne Models«23-Aktion in den letzten Ausgaben der Frauenzeitschrift Brigitte24 – ein zum Scheitern verurteilter Versuch, allerdings nicht im Sinn der Ökonomie. Günstig eingekaufte Bilder können günstig verkauft werden, und so schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: auf der einen Seite stolze Fotografen und auf der anderen Seite glückliche Agenturen, die vermeintliche Authentizität günstig einkaufen. Matthias Bruhn hat in sei21
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Das Konzept, welches diesem Prozess zugrunde liegt, nennt sich im Jargon der Medienbranche User Generated Content (UGC) und wurde zeitweilig eine Art Heilsversprechen für die Innovation diverser vernetzter massenmedialer Formate. http://www.gettyimages.com/creative/frontdoor/flickrphotos (Stand: 04. 07. 2010). Aus der Presseinformation von Brigitte: »BRIGITTE gibt es ab 02. Januar 2010 nur noch OHNE MODELS. Ab heute werden sämtliche Fotostrecken in BRIGITTE, von der Mode über die Beauty bis hin zu Living und Fitness, nicht mehr mit Models produziert – sondern mit Frauen wie Ihnen und uns. Weil Frauen keine Stellvertreter brauchen. Sie lassen sich nichts mehr vorschreiben. Weil Kleidung heute keine Frage von Trends, sondern von Persönlichkeit ist. Weil neue Looks nicht nur auf dem Laufsteg entstehen, sondern auf den Straßen, in der Schule, auf Konzertbühnen, im Kino, im Café um die Ecke. Weil wir Mode und Beauty in Zukunft an Frauen zeigen wollen, die nicht den oft perversen Gesetzen des Modelgeschäfts unterworfen sind, sondern mitten im Leben stehen. Weil es nichts Schöneres gibt als FRAUEN.« http://www.brigitte.de/mode/ohne-models/ohne-models1037114/ (Stand: 08. 07. 2010). Hier scheinen Techniken der Selbstoptimierung, der Selbstkontrolle und des Selbstmanagements eine große Rolle zu spielen: sich vergleichen mit anderen, genauso gute oder bessere Bilder machen, gut genug aussehen für das Titelbild.
248
Winfried Gerling
Abb. 8: Startseite der Flickr-Collection bei gettyimages®
nem Buch Bildwirtschaft. Verwaltung und Verwertbarkeit der Sichtbarkeit 25 sehr anschaulich die Ökonomien beschrieben, die mit der Stockfotografie einhergehen, und insbesondere auf die zeitliche Komponente bei der Auswahl von Bildern durch Art-Direktoren bzw. Bildredaktionen hingewiesen, die es ihnen kaum ermöglicht, das Besondere zu finden, sondern eher immer wieder ein anderes Beispiel für den jeweils gesuchten Bildtypus. Er nennt diese Art von Bild »Symbolbild«.26 Insofern ist Stockfotografie per se möglichst nicht individuell, sondern eben typisch beziehungsweise konsensbasiert, höchstens unterschieden durch das Image verschiedener Marken, in diesem Fall von Fotoagenturen. Ein wesentliches Moment dieser Normalisierung von bildlichen Inhalten ist die Repräsentation der Bilder durch Verschlagwortung beziehungsweise Tags. Es wird nicht über Bildlichkeit gesucht, sondern über statistisch auswertbare Begriffe. 25
26
Matthias Bruhn, Bildwirtschaft. Verwaltung und Verwertbarkeit der Sichtbarkeit, Weimar 2003. Ebd., S. 70.
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249
Abb. 9: Flickr-Tags vom 04. 07. 2010
VII. Statistische Unschärfe – Produktion von Normalität Es handelt sich hier also um ein originär statistisches Phänomen, das allen Repräsentationsformen von digitalen Datenbanken, die auf entscheidungslogischen Formulareingaben basieren, zugrunde liegt. In welcher Weise das problematisch ist, klang oben schon an und soll hier noch einmal ausgeführt werden. Christine Hanke bemerkt zu statistischen Prozessen in ihrem Aufsatz »Rastern und Unbestimmtheit: Physische Anthropologie um 1900« Folgendes: Statistik zeichnet sich […] dadurch aus, dass aus einzelnen, individuellen Daten kollektive Daten ermittelt werden, es geht um die Identifikation von ›Typen‹, ›Typischem‹, ›Normalem‹. Der Fokus metrisch-statistischer Verfahren in der physischen Anthropologie etwa richtet sich auf das ›Typische‹, das ›Normale‹ Maß von ›Rassen‹ und ›Geschlechtern‹, das aus den Einzeldaten von Messungen an Individuen gewonnen wird. Diese Form der Identifizierung abstrahiert und generalisiert also vom Einzelnen – sie ›aggregiert‹ aus den Daten Einzelner neue Gegenstände. Statistik tut dies, indem sie Datenhäufungen anvisiert, also jene Bereiche der Messskala, in denen sich die meisten gemessenen Maße befinden. Aus solchen Datenhäufungen ermittelt sie die ›typischen‹ bzw. ›normalen‹ Maße. Die statistische Bearbeitung erscheint (nicht nur) in der Anthropologie als Verfahren, das die »Eigenschaften des [Daten-]Aggregats veranschaulicht« das einen »Überblick« und ein »klares Bild« verschafft – darüber hinaus werden auf diese Weise überhaupt erst die Kategorien und Gegenstände gebildet. Statistik operiert in einem Hybrid-Modus von Bild und Zahl – schon der Begriff der ›Häufung‹ verweist auf das visuelle Register.27
27
Christine Hanke, »Rastern und Unbestimmtheit: Physische Anthropologie um 1900«, in: Andrea Sick/Katharina Hinsberg/Dorothea Mink (Hrsg.), Raster und Fadenkreuz. Zur Musterung von Verbrechen. Kritik und ku·nstlerische Untersuchungen einer Medientechnik, Bielefeld 2009, S. 116–143, hier S. 124.
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Winfried Gerling
Abb. 10: Beispiel für Einschränkung der Suchfunktion bei gettyimages® unter anderem nach Geschlecht und Rasse
Die hier für die frühe Anthropologie angeführten Prinzipien lassen sich vollständig übertragen auf die Erzeugung der so genannten Tag Cloud bei Flickr – ein Hybrid zwischen Bild und Zahl. Das ist die begriffliche Normalität, die hinter den Bildern steckt: Häufungsdiagramme, in diesem Fall generiert durch millionenfache Autorschaft. Verfolgen wir die digitalen Kategorisierungssysteme der Bilddatenbanken weiter, erkennen wir in der Bilddatenbank von Getty-Images ein System, das in seinem Kategorisierungszwang ganz offensiv und selbstverständlich mit der (Wieder-)Erzeugung von Rasse und Geschlecht umgeht. Dass diese Art von Normalitätsproduktion für sämtliche Userprofile im Social Web gilt, ist naheliegend und muss kaum weiter ausgeführt werden. Allein die grafisch strukturierten Oberflächen von Facebook, Myspace, Twitter, Youtube und auch Flickr lassen ein begrenztes Maß an Vielfalt zu, und man ist spätestens mit der Wahl des Profilbilds im Modus des Identitätsmanagements.
VIII. Epilog Hier kommen wir zur Eingangserzählung zurück: Die EXIF-Daten der Bilder auf Flickr lassen, wie die Logbuchdaten auf das Wetter, ungeahnte Rückschlüsse auf die Beschaffenheit unserer Welt zu. Der Flickr-User Krazydad (Jim Bumgardner) hat einige erstaunliche Grafiken28 aus den Metadaten der Flickr-Bilder erzeugt, zum Beispiel zeigt er in 28
http://www.flickr.com/photos/krazydad/sets/140323/ (Stand: 13. 09. 2010).
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Abb. 11: Auswertung von Flickr-Bildern nach dem Tag »Accident«, Jim Bumgardner, http://www.flickr.com/photos/krazydad/293168687/in/set-140323/
einer Grafik die Auswertung aller Bilder der Community mit dem Tag Brunches oder Accident und trägt sie auf der Basis ihres Erzeugungsdatums in einen temporal organisierten Graphen ein, der auf der x-Achse den Jahresverlauf in Monaten und auf der y-Achse einen 24-stündigen Tagesverlauf darstellt. So werden Häufungen von Unfällen zum Beispiel am Thanksgiving-Tag sichtbar, die sich allerdings bei genauerem Hinsehen als Fotos ein und desselben Fotografen herausstellen, der dasselbe Unfall-Ereignis mehrfach fotografiert hat. Könnte es sein, dass Kapitän John Ross verantwortlich ist für eine falsche Datierung der kleinen Eiszeit?
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Ottmar Ette
Ottmar Ette (Potsdam)
ZusammenLebensWissen und Gewalt Literarische Transformationen der Gewalt am Beispiel der Literaturen Hispanoamerikas
I.
Im Labyrinth der Gewalt
Was ist Gewalt? Und wie können wir mit Gewalt umgehen? C’est un problème vieux comme le monde: comment limiter la violence, autrement que par une autre violence? C’est une sorte d’impasse qui finit par avoir une dimension d’ordre religieux. Cela fait beaucoup de difficultés et il faut accepter d’être, devant ce mot, en quelque sorte impuissant. C’est un mot insoluble.1
Mit diesen Worten umschreibt der französische Zeichentheoretiker, Schriftsteller und Philosoph Roland Barthes in einem am 2. September 1978 in der protestantischen Zeitschrift Réforme abgedruckten Interview die Schwierigkeiten, mit dem so schillernden Wort »Gewalt« umzugehen. Das Problem, das so alt sei wie die Welt, bestehe darin, dass Gewalt immer eine Gegen-Gewalt erzeugt, so wie ein Diskurs der Gewalt immer einen Diskurs der GegenGewalt hervorbringt, der seinerseits auf Gewalt setzt. Damit aber entsteht eine sich selbst verstärkende und in der Regel sich weiter beschleunigende »Spirale der Gewalt« zwischen einem enkratischen Diskurs und einem akratischen Diskurs, also einem Diskurs, der sich an der Macht befindet und diese ausübt, und einem anderen, der diese Macht bekämpft und direkt angreift. Beide stützen sich in ihrer Gewaltausrichtung wechselseitig. Kommt es zu einem Wechsel der Macht – sei es auf revolutionärem oder anderem Wege –, so verwandelt sich der akratische in einen enkratischen Diskurs, von dem wiederum dieselbe Gewalt auszugehen vermag. Denn beide sind Teile desselben Paradigmas. Die Gewalt, ein unlösbares Problem? Der vielleicht leidenschaftlichste literarische Text, der sich aus hispanoamerikanischer Perspektive mit dieser Problematik auseinandersetzt, ist eine Mikroerzählung mit dem schlichten Titel MONSTRUO. Es handelt sich um
1
Roland Barthes, »Propos sur la violence«, in: Ders., Œuvres complètes, Paris 1993–1995, Bd. 3, S. 903.
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eine Mikroerzählung, die sich auf einem separaten Blatt in der Firestone Library in Princeton findet;2 sie wurde von Reinaldo Arenas sicherlich zunächst separat verfasst, bevor der kubanische Schriftsteller seine Mikroerzählung in Otra vez el mar und damit den dritten und zentralen Roman seines Romanzyklus der Pentagonía einmontierte.3 Die Mikroerzählung stellt auf der Inhaltswie auf der Ausdrucksebene ein Fraktal dar, das trotz seiner hohen Verdichtung hier nur ausschnitthaft zitiert werden kann: En aquella ciudad también había un monstruo. Era una combinación de arterias que supuraban, de tráqueas que oscilaban como émbolos furiosos, de pelos encabritados y bastos, de cavernas ululantes y de inmensas garfas que comunicaban directamente con las orejas siniestras – De manera que todo el mundo elogiaba en voz alta la belleza del monstruo. Imposible de mencionar serían las odas compuestas por todos los poetas de renombre (los demás no pudieron ser antologados) en homenaje al delicado perfume que exhalaba su ano […]. Pero un día ocurrió algo extraño. Alguién comenzó a hablar contra el monstruo. Todos, naturalmente, pensaron que se trataba de un loco, y esperaban (pedían) de un momento a otro su exterminio. El que hablaba pronunciaba un discurso ofensivo que comenzaba más o menos de esta forma: »En aquella ciudad también había un monstruo. Era una combinación de arterias que supuraban, de tráqueas que oscilaban como émbolos furiosos« … Y seguía arremetiendo, solitario y violento, heroico … Algunas mujeres, desde lejos, se detuvieron a escuchar. Los hombres, siempre más civilizados, se refugiaron tras las puertas. Pero él seguía vociferando contra el monstruo: »sus ojos siempre rojizos y repletos de legañas« … En fin, como nadie lo asesinaba todos comenzaron a escucharlo; luego, a respetarlo. Por último, lo admiraban y parafraseaban sus discursos contra el monstruo. Ya cuando su poder era tal que había logrado abolir al monstruo y ocupar su lugar, todos pudimos comprobar – y no cesaba de hablar contra el monstruo – que se trataba del monstruo.4
Die Frage der Gewalt innerhalb totalitärer Gesellschaftsstrukturen, die für den Zyklus der Pentagonie von entscheidender Bedeutung ist, wird in dieser Mikroerzählung bis in die Begrifflichkeit hinein insofern paradigmatisch vorgeführt, als enkratischer und akratischer Diskurs wortgenau übereinstimmen und sich nur auf der Ebene der Intentionalität der diskursiven Instanzen dadurch unterscheiden, dass sie auf der einen Seite das Ungeheuer be2
3
4
Die Princeton University Library kaufte Arenas bereits zu Lebzeiten alle Manuskripte ab; die Mikroerzählung gehört zum Fonds Arenas; ich habe sie im November 1985 in der dortigen Sammlung (Box 1–4) konsultiert. Vgl. hierzu Ottmar Ette, »La obra de Reinaldo Arenas: una visión de conjunto«, in: Ders., (Hrsg.), La escritura de la memoria. Reinaldo Arenas: Textos, estudios y documentación, Frankfurt a. M. 1992, S. 107f. Reinaldo Arenas, Otra vez el mar, Barcelona 1982, S. 323f.
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Ottmar Ette
singen und stützen und auf der anderen Seite das Ungeheuer bespucken und stürzen wollen. Kein Ausweg scheint sich aufzutun, denn es gibt in diesem von einer kalten Verzweiflung getriebenen Text nichts außerhalb dieses Paradigmas. Die Mikroerzählung verdichtet mit einer ungeheuren Konzision, was Tausende von Romanseiten in immer neuen Geschichten, in immer neuen Wendungen der Gewalt mit der Leserschaft am kubanischen Fallbeispiel durchexerzieren. Es gibt keinen Ausweg aus einer Gewalt und ihren Diskursen, wenn die Gegen-Diskurse nur solange gegen Macht und Gewalt opponieren, bis sie selbst enkratisch werden und den Gegen-Diskurs als rhetorisches Mittel zur Sicherung ihrer nunmehr errungenen Macht gebrauchen. Reinaldo Arenas’ oft gebrauchte Wendung scheint auch hier zu gelten: No hay escapatoria. Roland Barthes erblickte in dieser Sackgasse eine geradezu religiöse Dimension, nicht zuletzt insofern, als sie den Menschen mit seiner eigenen Ohnmacht, mit seinem eigenen Unvermögen, dieses Problem zu lösen, konfrontiert. Das Heil, so scheint es, ist für viele bestenfalls noch in einer Transzendenz zu finden, die uns aus der Sackgasse einer labyrinthischen Gewalt, in der am Ende ein Ungeheuer, ein Minotaurus auf uns wartet, noch erretten könnte; aber: »comment en sortir?«5 Zu Beginn seines Interviews hatte Barthes darauf aufmerksam gemacht, dass es sehr unterschiedliche diskursive Herangehensweisen an das Phänomen der Gewalt gebe, dass Gewalt den Körper erfasse (was von den meisten mit Abscheu, von einigen aber auch mit Befriedigung wahrgenommen werde), und dass sie schließlich ein Problem ebenso auf der Ebene von Staaten, von gesellschaftlichen Gruppen (collectivités) wie von Individuen sei.6 Die Religionen hätten sich daher stets der Gewalt angenommen und diese entweder zur Vertreterin des Bösen gemacht oder aber sie assimiliert, indem etwa archaischere Religionen die Gewalt als Ausdrucksform des eigenen Rechts angesehen und eingesetzt hätten.7 Wolle man aber das Problem der Gewalt außerhalb der Religion angehen, so sei es notwendig, so Barthes, dafür einen eigenen Schlüssel zu finden. Wie aber könnte dieser Schlüssel aussehen? Roland Barthes differenziert zunächst zwischen zwei verschiedenen Typen von Gewalt: erstens der Gewalt, die in jeglichem Zwang liegt, den eine Kollektivität auf Individuen ausübt, also eine Gewalt des Gesetzes und des Staates, die als »violence de la contrainte«8 bezeichnet werden kann; und 5 6 7 8
Barthes, Propos sur la violence, S. 904. Ebd., S. 903. Ebd. Ebd.
ZusammenLebensWissen und Gewalt
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zweitens der Gewalt, die auf die Körper von Individuen ausgeübt wird, wobei dies eine »violence carcérale« oder eine »violence sanglante« sein könne,9 die Körper wegsperrt, foltert oder vernichtet. Häufig werde eine Gewalt des ersten Typs mit einer Gewalt des zweiten Typs beantwortet. Daraus aber ergebe sich ein »système infini«, insofern die Gewalt sich ständig neu generiere.10 Auch wenn Barthes eine Unterscheidung zwischen dem Substantiv »Gewalt« und dem Adjektiv »gewalttätig« einführt, wobei das Substantiv eine Essenz verkörpere und das Adjektiv auch einer kreativen, produktiven Tätigkeit beigelegt werden könne, argumentiert er doch klar gegen jegliche Gewalt, die im Dienste einer Sache steht und von einem »alibi doctrinal«11 getragen wird. Barthes führt hier einen Calvinisten des 16. Jahrhunderts, Castellion, an, dem die gegen Calvin selbst gemünzte Aussage zugeschrieben wird, einen Menschen zu töten sei keine Verteidigung einer Lehre, sondern die Tötung eines Menschen. Jede wie auch immer begründete Absicht, die Buchstäblichkeit des Ausdrucks »einen Menschen töten« aufzugeben, um ihn durch einen Lehrsatz, eine Doktrin zu ersetzen, erscheint Barthes als etwas gegenüber dem Leben Unhaltbares.12 Es gelte daher, eine »pensée du non-pouvoir« zu entwickeln, die sozial übersetzt eine »pensée de la marge absolue« sei.13 Wer gegen die Gewalt sei, müsse sich auf einer ethisch wohlfundierten Grundlage außerhalb der Macht situieren und nicht an ihr partizipieren. Damit stelle (er) sich die Frage, ob man denn teilweise gegen die Gewalt sein könne, sich also generell gegen die Gewalt stellen und sie zugleich teilweise rechtfertigen dürfe. Entweder man nimmt sich das Recht – und so mache es die Welt –, über die Inhalte bestimmter Formen der Gewalt zu richten, also einige zuzulassen und andere zu verdammen. Oder man erleidet die Gewalt am eigenen Körper und lehnt dafür jegliches Alibi ab – eine Haltung, die freilich nur in Grenzzonen der persönlichen Moral möglich sei.14 Was aber bedeutet dies auf der Ebene der Weltgesellschaft? Je ne vois pas que la société mondiale actuelle prenne le chemin d’une résolution générale du problème de la violence. Le monde apparaît sans espoir au niveau de l’organisation générale: les Etats se multiplient et chaque Etat multiplie sa force de contrainte, son pouvoir. Les issues socialistes paraissent complètement bloquées, 9 10 11 12 13 14
Ebd. Ebd., S. 904. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 905.
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Ottmar Ette
bouchées: tel est l’enseignement des cinquante dernières années, et c’est de cela d’ailleurs que nous souffrons beaucoup. Imaginer un monde sans violence paraît une utopie, qui n’est même plus amusante, si je puis dire, tellement elle s’alimente mal à notre réalité. Le sujet qui vit dans cette société-là est obligé de se replier sur des solutions ou des conduites individuelles.15
Hier liegt zweifellos der Grund dafür, dass Barthes sich für Lösungsansätze interessiert, die auf der Ebene unterschiedlichster Formen des Zusammenlebens ein mehr oder minder strukturiertes Wissen davon ausgebildet haben, wie man ohne Gewalt miteinander leben kann.16 Daher wird für Roland Barthes der Text zum eigentlichen Erprobungsraum eines derartigen Zusammenlebens, sei er doch in der Lage, einen Sprachraum auszubilden, der jegliche Gewalt unterlaufe, sich jeglicher Gewalt entziehe. In seiner experimentellen Literatur- und Kulturtheorie, die Barthes 1973 in Form von Mikrotexten veröffentlichte, die sich unter dem Titel Le Plaisir du texte zu 46 Figuren anordnen, wurde in der Figur Communauté (Gemeinschaft) betont, dass die Sprache der Gewalt die wohl am stärksten kodierte sei, so dass sie sich nicht einmal mehr zu erfinden vermöge. Daher habe die Zurückweisung von Gewalt auf der sprachlichen Ebene eine fundamentale Wirkung: En refusant la violence, c’est le code même que je refuse […]. J’aime le texte parce qu’il est pour moi cet espace rare de langage, duquel toute »scène« (au sens ménager, conjugal du terme), toute logomachie est absente.17
Der Text wird hier zum Experimentierraum des gezielten Versuchs, die kodierteste aller Sprachen, die Sprache der Gewalt, hinter sich zu lassen und Szenerien jenseits der »Szene« der Gewalt experimentell zu erkunden, die in anderen Bereichen des gesellschaftlichen Diskurses nicht (mehr) bestehen. Ist die öffentliche Logosphäre, also all das, was auf unserem Planeten gesprochen wird, all das, was uns diskursiv wie in einer Atmosphäre unausweichlich umgibt, letztlich von einer Logomachie beherrscht, aus der es keinen Ausweg zu geben scheint, so bildet der Text im Sinne Roland Barthes’ jene Chance, die anderswo längst verspielt ist: gegenüber der Gewalt nicht eine Utopie, sondern eine Atopie zu entwickeln. Diese Atopie muss sich weder auf einen enkratischen noch auf einen akratischen Diskurs einlassen. Man könnte sie auch als eine nicht stillzustellende, nicht fest-stellbare Bewe15 16
17
Ebd. Vgl. Roland Barthes, Comment vivre ensemble. Simulations romanesques de quelques espaces quotidiens. Notes de cours et de séminaires au Collège de France 1976–1977, Paris 2002. Roland Barthes, »Le Plaisir du texte«, in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, S. 1501f.
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gung charakterisieren, die sich dem scheinbar allmächtigen Paradigma der Gewalt entzieht. Dabei ist es spannend anzumerken, dass Barthes für diesen Experimentierraum gerade nicht das Modell des Dialogs wählt, das doch im Rückgriff von Julia Kristeva auf Michail Bachtins Dialogbegriff zum Ausgangspunkt der Texttheorie der Gruppe rund um die Zeitschrift Tel Quel wurde. Er bevorzugt überraschenderweise – und ohne dies näher zu erläutern – das Modell der Insel, des »îlot«,18 also eines Inselchens, das keiner mächtigen Landmasse angehört. Wo liegen die Gründe für diese Entscheidung? In ihrer doppelten Bewegungslogik als in sich abgeschlossener Insel-Welt und als weltweit sich immer wieder neu vernetzender archipelischer Inselwelt gibt die kleine Insel genau jene radikal offene Strukturierung wieder, die Le Plaisir du texte selbst bestimmt: eine fundamental-komplexe Anlage von Mikrotexten, die sich zu unterschiedlichen und immer wieder wechselnden Figuren bilden und konfigurieren. Sie können auf den verschiedenartigsten Parcours miteinander verbunden und in immer neue Zusammenhänge gebracht werden. Eine Hauptinsel ist hier nicht in Sicht: kein Ort – und auch kein Nicht-Ort einer Utopie –, von dem aus irgendeine Kontrolle, irgendein Zwang und damit irgendeine Gewalt ausgeübt werden könnte. Von hier aus, so scheint mir, könnte man mit Barthes gegen Barthes argumentieren, der in seinem Interview von 1978 auf der Ebene der Philosophie allein den Ausweg sah, einen – wie er meinte – skandalösen Weg in eine Philosophie des Individualismus, eine »philosophie de la non-grégarité« (also die Philosophie eines zweifellos nietzscheanisch inspirierten Nicht-Herdentriebs) anzutreten.19 Nicht von einer derartigen Philosophie, die in gewisser Weise eine Philosophie der im Subjekt abgeschlossenen Insel-Welt wäre, sondern vom Erprobungsraum des literarischen Textes ginge dann aus, was Barthes – der von sich sagte, er versuche, sich Stück für Stück »von allem, was mir intellektuell aufgezwungen ist«, zu befreien – für sich wie für die Zukunft erhoffte: »Il faut laisser faire ce travail de transformation …«20 Es gilt daher, den Bewegungsraum der Literatur nach solchen Möglichkeiten der Transformation von Gewalt – und der Beschleunigung derartiger Transformationen – zu untersuchen. Dieser vektorisierte Raum ist mit dem Leben auf intimste Weise verbunden und besitzt doch seine Eigenlogik: die fundamental-komplexe Strukturierung des Viel-Logischen, eines Poly-Logischen, das keiner öffentlichen Logomachie unterworfen sein muss. So wird 18 19 20
Ebd. Barthes, Propos sur la violence, S. 905. Ebd.
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der literarische Text zum Erprobungsraum dessen, was in der Gesellschaft – und mehr noch auf der Ebene der Weltgesellschaft – längst schon aufgegeben ist und nicht einmal mehr ein amüsiertes Achselzucken auslöst: Er wird zum Versuch, ja mehr noch zur Versuchsanordnung, wie denn dem unentrinnbaren Labyrinth der Gewalt und seinem Ungeheuer, seinem Minotaurus, doch noch entronnen werden kann.
II.
Transformation der Gewalt als Grundlage des Erzählens
Wo und wie lässt sich ein derartiger Erprobungsraum finden? In einer der berühmtesten Rahmenerzählungen der Literaturgeschichte, die unter dem Titel Tausendundeine Nacht das abendländische Bild des Orients seit Anfang des 18. Jahrhunderts nachhaltig mitprägte und die auf eine höchst komplexe Genese zurückverweisenden über dreihundert erhaltenen Erzählungen indischer, persischer, arabischer, altbabylonischer, syrischer, ägyptischer und nicht zuletzt europäischer Herkunft zusammenfügte, versuchte Scheherazade, die Tochter des königlichen Wesirs, den fatalen Entschluss des Königs zu durchbrechen, sich wegen der Untreue seiner Gemahlin jeden Abend mit einer anderen Frau zu vermählen, um sie am folgenden Morgen sogleich töten zu lassen. Gibt es eine literarisch modellierte Grundfigur der Gewalt in den Erzählungen unserer Welt, so ist es diese. Das aus mehreren Erzähltraditionen zusammengesetzte Zentralmotiv der Rahmenhandlung stammt wohl aus der indischen Literatur und ist in Teilen über zweitausend Jahre alt.21 In diesem Motiv wird die Transformation der Gewalt zur Grundlage eines Erzählens, das – der patriarchalischen Gewalt sich entziehend – seine eigene gewaltige Kraft entfaltet. Diese aber ist die Kraft des Ästhetischen,22 die ihre Widerständigkeit demonstriert. Es gilt für die in allen Fassungen stets als wagemutig in Szene gesetzte Erzählerin mithin, in der auf keinen eigentlichen Urtext zurückgehenden und wohl erstmals im Zweistromland zusammengetragenen Sammlung von Tau21
22
Vgl. hierzu Muhsin Mahdi, »Nachwort«, in: Tausendundeine Nacht. Nach der ältesten arabischen Handschrift in der Ausgabe von Muhsin Mahdi erstmals ins Deutsche übertragen von Claudia Ott, München 2007, S. 642f. Auf die Bedeutung von Scheherazade für ein neues Verständnis der Grundproblematik des Erzählens habe ich aufmerksam gemacht in Ottmar Ette, »Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften«, in Lendemains 32/2007, 125, S. 7–32. Vgl. hierzu Christoph Menke, Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008.
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sendundeiner Nacht das herrschaftlich angeordnete Alternieren von Liebe und Tod, von »kleinem Tod« und »großem Tod«, zu durchbrechen und zu transformieren. Die Befreiung von der alten Last des männlichen Glaubens an die generelle Untreue der Frauen kann nur dank einer List gelingen, welche den Weg zur Lust eröffnet – auch einer Lust, die vielleicht auf dem Vektor jener Ästhetik der Lust liegt, die Roland Barthes in Le Plaisir du texte vorschlug. Die List aber muss ihre Bedingungen reflektieren: Denn Geschichten erzählen kann nur, wer die erzählten Geschichten (und möglichst auch das Erzählen dieser Geschichten) überlebt. Unabhängig von den sehr unterschiedlich überlieferten und umgestalteten Fassungen, die bis heute im Umlauf sind und noch weiter vermehrt werden, verwundert es daher nicht, dass ebenso die List wie auch die von ihr ermöglichte Lust primär narrativer, in eine erzählerische Abfolge oder Sequenz integrierter Natur sind. Das Erzählen von Geschichten öffnet sich auf das Erzählen weiterer Geschichten, so dass eine hochkomplexe Schachtelungsstruktur23 entsteht, in der die verschiedenen narrativen Ebenen aufeinander verweisen und zugleich stets das Erzählen von Geschichten mit dem Überleben der Erzähler(innen) koppeln. Narrative Spielräume werden zu Räumen des Überlebens, in denen sich weitere narrative Spielräume auftun, wo zusätzliche Lebensgeschichten zu Überlebensgeschichten werden. Kein Wunder also, wenn dieses Kultbuch weiterlebt und auch im Abendland seit dem Erscheinen von Antoine Gallands erster französischer Übersetzung im Jahre 1704 immer noch weitere Geschichten an sich zog.24 Die Erzählformel von Tausendundeiner Nacht scheint wie deren Finderin und Erfinderin gegen den Tod wie gegen die Gewalt gut gerüstet. Woran liegt dies? Eine erste Antwort könnte – wie wir sahen – lauten: an der Kraft des Erzählens. So schafft die Nachricht des Wesirs an seinen Herrscher, seine Tochter wolle in Kenntnis aller möglichen Konsequenzen die Nacht beim König, beim Sultan verbringen, einen (erotisch-narrativen) Spielraum, innerhalb dessen das Oszillieren zwischen Lieben und Leben (im Sinne des Überlebens) an das Erzählen rückgekoppelt wird: Schehersad freute sich sehr, machte alle ihre Sachen zurecht, ging zu ihrer jüngeren Schwester Dinarsad und sprach zu ihr: »Höre, meine Schwester, was ich dir anempfehle: wenn ich bei dem Sultan bin, werde ich nach dir schicken; wenn du dann kommst und siehst, daß der Sultan sich nicht mehr mit mir beschäftigt, so sage zu mir: O Schwester! wenn du nicht schläfst, so erzähle uns von deinen schö23
24
Vgl. u. a. Claudia Ott, »›Tausendundeine Nacht‹ als Kultbuch der arabischen Literatur«, in: Rudolf Freiburg/Markus May/Roland Spiller (Hrsg.), Kultbücher, Würzburg 2004, S. 20f. Ebd., S. 16.
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nen Geschichten, damit wir die Nacht dabei durchwachen! Dies wird meine und der Welt Rettung von diesem Unheil verursachen und den König von seiner unseligen Gewohnheit abbringen.« Jene sagte zu, und als es Nacht war, begab sich Schehersad zu dem König. Dieser empfing sie in zärtlicher Weise und begann mit ihr zu scherzen, sie aber weinte. – Als er sie fragte, warum sie weine, antwortete sie: »O König der Zeit! ich habe eine Schwester, von der ich diese Nacht noch Abschied nehmen möchte.« Der König schickte nach Dinarsad. Diese wartete, bis der Sultan sich an ihrer Schwester ergötzt und etwas geschlafen hatte, dann seufzte sie und sagte: »O meine Schwester! wenn du nicht schläfst, so erzähle uns von diesen schönen Geschichten, daß wir die Nacht dabei durchwachen, vor Tagesanbruch will ich dir dann Lebewohl sagen, denn ich weiß ja nicht, wie es morgen mit dir enden wird.« Schehersad fragte den Sultan um Erlaubnis, und als er diese erteilte, ward sie hocherfreut und begann […].25
In einer noch heute faszinierenden Rahmenerzählung, die schon für ein zeitgenössisches arabisches Publikum in einer sagenhaften, nur schemenhaft nach Osten, nach Samarkand, Indien und China projizierten Welt spielte,26 wählte die mutige Scheherazade eine raffinierte Vorgehensweise, von der man noch lange Jahrhunderte später lernen kann. Ihr Plan, im Dreieck zwischen Last, List und Lust einen Ausweg zu finden, besteht in wesentlicher Weise – und dies ist das zentrale Gnosem ihres Überlebenswissens – darin, in die gewalttätige und letztlich mörderische Bipolarität zwischen Mann und Frau, zwischen Liebe und Opferung des Lebens – und dies ist ein geradezu Barthesianischer Gedanke – einen dritten Term einzuführen, der weder alles in sich dialektisch aufhebt noch eine hohe Stabilität besitzt. Denn die Einführung einer offenen narrativen Logik zwischen die fatalen Binomien und Antagonismen der Geschlechter wie zwischen die Pole von Lieben und (Über-)Leben/Tod unterläuft die Statik eines unausweichlichen Schicksals und vermag es, dem »König der Zeit« immer neue Zeit – und damit eine Erzählzeit, für die die erzählte Zeit eine Vergegenwärtigung des Aufschubs ist – abzutrotzen. Das Erzählen führt damit zu einem Verschieben der Gewalt, nicht zu einem Gegen-Diskurs zur Gewalt. Ein an seinem Beginn höchst prekärer Pakt zeichnet sich ab: Erzählen gegen Leben. So wird das narrative Wissen der glänzenden Erzählerin zu einem Überlebenswissen, das seinerseits auf einem in der Tat pragmatischen Lebenswissen der literarischen Figur Scheherazade – ihr Name ist wie bei allen Rahmenfiguren persischen Ursprungs und bedeutet ›die Glanzgeborene‹ – fußt.27 Wir wohnen der Schaffung eines binnenliterarischen Erprobungsrau25
26 27
Tausend und eine Nacht. Arabische Erzählungen. Gesamtausgabe in zwei Bänden mit 378 Illustrationen der Erstausgabe von Gustav Weil, Bd. 1, Stuttgart o.J., S. 16f. Vgl. hierzu Mahdi, »Nachwort«, S. 642. Ebd.
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mes bei, innerhalb dessen Grenzüberschreitungen gerade auch an der Scheidung von Leben und Tod getestet werden. Lässt sich Gewalt durch gewaltiges Erzählen aufschieben, ja auflösen? Scheherazade weist einen Weg, aber dieser erzählerische Weg ist weder einfach noch linear. Dem Diskurs der (männlichen) Gewalt antwortet kein Diskurs der (weiblichen) Gegen-Gewalt. Vielmehr Überschneidungen und Friktionen überall: zwischen Finden, Erfinden und Erleben, zwischen Lieben, Lesen und Leben, einem stets prekären Überleben, das narrativer Aufschub zwischen Leben und Tod ist. Wenn es also, wie gleich zu Beginn der Einführung beschworen, eine durch die Lektüre zu vermittelnde Lehre gibt – »Das Leben der Früheren ist eine Lehre für die Spätern«28 –, dann besteht dieses Gnosem des Überlebenswissens in erster Linie darin, die simplen Oppositionen und Binomien zu unterlaufen, um in die Liebessituation wie in die Erzählsituation gleichsam einen dritten Term einzuführen, der eine Bewegungsfigur darstellt und herstellt. Dieser dritte Term – le neutre, so könnten wir mit Roland Barthes sagen29 – sprengt das Paradigma, neutralisiert die Gegensatzpaare, die sich in eine unausweichliche Diachronie (erst lieben, dann töten) verfestigt haben, und unterläuft, verflüssigt gleichsam die Asymmetrie der männlichen, patriarchalischen Macht und Gewalt, indem eine dritte, weibliche und zugleich genealogisch neutralisierte Figur ins Spiel gebracht wird. Denn Dinarzade ist nicht Scheherazade und doch deren schwesterliche Verdoppelung, sie oszilliert zwischen dem Selben und dem Anderen. Mit ihr wird die männliche Gewalt in ihrer scheinbar unumkehrbaren tödlichen Abfolge von Lieben und Töten durchkreuzt. Damit ist ein erstes Gnosem der Neutralisierung von Gewalt gefunden. Doch es gibt mehr. Denn ein zweites Überlebensgnosem, also ein zweites Grundelement und Verfahren des Überlebenswissens, zielt auf die Komplexifizierung der Zeit. Der Sultan als Herr der Zeit ist Herr über die Lebensfäden aller jungen Frauen, die unter seiner Gewaltherrschaft nur linear und 28
29
Tausendundeine Nacht, S. 5. Auch in anderen als der hier angeführten Ausgabe finden sich diese Dimensionen einer Vermittlung von Lebenswissen sehr deutlich. So heißt es etwa in der Vorrede zu Tausendundeiner Nacht in der deutschen Übertragung der von Muhsin Mahdi edierten Ausgabe: »Dieses Buch erzählt auch prachtvolle Lebensgeschichten, durch die jeder, der sie hört, Menschenkenntnis erwirbt, so daß ihn keine Hinterlist mehr treffen kann.« (ebd., S. 7.) Die Varianten zwischen den in deutscher Übersetzung zugänglichen Editionen sind für die hier vorgetragene Argumentation nicht relevant. Vgl. Roland Barthes, Le Neutre. Notes de cours au Collège de France 1977–1978, Paris 2002.
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irreversibel ablaufen können. Mit dem Beginn der Zärtlichkeiten und des Liebesspiels wird unerbittlich eine eng begrenzte und gerichtete Temporalität in Gang gesetzt, die am nächsten Morgen für die jeweils in der Nacht noch geliebte Frau abläuft. Weder die Unterwerfung noch die Auflehnung vermögen das Leben der Frauen nach solch singulärem one-night stand beim Herrscher zu schützen. Was tun? Eine Komplexifizierung der Zeit – dies wird bereits auf der Ebene der Rahmenerzählung deutlich – ist nur möglich, indem zusätzliche Erzählebenen und damit nicht-lineare Abläufe eingeführt werden, die auch jenseits von Prolepsen und Analepsen zugleich jede scharfe Trennung zwischen dem Vorgefundenen und dem Erfundenen durch die Einführung eines Erlebens konterkarieren, so dass die Erzählzeit und die Erzählzeiten das Lebewohl der beiden Schwestern immer weiter aufschieben. Erzählen erweist sich als Aufschub eines Endes, eines Todes, der das Resultat einer Gewalt ist, die vom Staatskörper – gleichsam a cuerpo de rey – auf die Körper der schönsten Untertaninnen ausgeübt wird. Anders gesagt: Als Erzählkunst – und dies heißt: als Kunst des Aufschubs und des Verstellens – kann Literatur Leben retten. Erzählkunst ist eine Zeitkunst. Und diese Kunst des Umgangs mit der Zeit ermöglicht es, aus diesem Stoff im Angesicht des Sultans, des »Königs der Zeit«, eine Überlebenskunst zu weben. Ihre Bedingung und Bestimmung ist die Transformation von Gewalt. Der astronomischen, planetarischen Zeit, die zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang feste Grenzen setzt und die Nacht nur scheinbar unausweichlich in die Zeit der Liebe (die sonst zugleich die Zeit des nahenden Todes wäre) verwandelt, wird eine komplexe, durch vielfache Schleifen verwobene narrative Zeit entgegengesetzt, die nicht mehr enden soll, die nicht mehr enden will. »Doch alle Lust will Ewigkeit –, / will tiefe, tiefe Ewigkeit!«30 Dies gilt nicht nur für die Lust der Liebe, sondern gerade auch für die Lust des Erzählens, dem stets die Aufgabe gestellt ist, in einer eng begrenzten Zeit gleichsam ein Stückchen Ewigkeit – in einem Proust’schen Sinne die Zeit im Reinzustand – zu schaffen. Scheherazade erweist sich hier als die eigentliche Königin der Zeit. Ihre Kunst ist als Zeitkunst die Transformation zeitlicher Gewalt. Mit Hilfe des hier skizzierten ÜberLebenswissens, dessen listige Mechanik dem Lesepublikum gleichsam live vor Augen geführt wird, hat Scheherazade ihren Kopf aus der Schlinge gezogen. Erzählen ist stets gestundete Zeit. Doch dieses ÜberLebenswissen bildet erst die Voraussetzung für ein 30
Friedrich Nietzsche, »Also sprach Zarathustra«, in: Ders., Werke in drei Bänden, Bd. 2, Karl Schlechta (Hrsg.), München 1999, S. 558.
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ZusammenLebensWissen, als Wissen von den Möglichkeiten, der tödlichen, stringenten Logik des Sultans und seiner unerbittlichen Staatsgewalt zu entgehen. Scheherazade wusste, dass sie mit ihrer List nicht nur sich selbst retten würde: »Dies«, so hatte sie formuliert, »wird meine und der Welt Rettung von diesem Unheil«31 sein. Wie hätte das Erzählen, wie hätte die Literatur eine anspruchsvollere Aufgabe als die, »der Welt Rettung« zu bringen, übernehmen können? So transportiert Literatur zugleich jene Hoffnung, die den unterschiedlichsten wissenschaftlichen Diskursen über die Gewalt längst abhanden gekommen zu sein scheint: eine Transformation der Gewalt ins Werk zu setzen, die nicht auf der Gewalt beruht.
III. Chronik einer angekündigten Gewalt Crónica de una muerte anunciada32 zählt sicherlich zu den berühmtesten Erzähltexten der hispanoamerikanischen Literatur. Die Begleitumstände des Erscheinens dieser literarischen Chronik einer angekündigten Gewalt sind vielfach dargestellt worden, gehen sie doch auf ein spektakuläres Ereignis kollektiver Gewalt zurück. Denn mit diesem aus fünf Teilen bestehenden Kurzroman brach Gabriel García Márquez 1981 effektvoll sein jahrelanges schriftstellerisches Schweigen, mit dem er ein Zeichen gegen das von den USA unterstützte Andauern der Diktatur Augusto Pinochets in Chile hatte setzen wollen. Die ausgeklügelte internationale Marketingstrategie, die durch die Zusammenarbeit von vier verschiedenen Verlagen eine weltweite Startauflage von insgesamt bis zu anderthalb Millionen Exemplaren ermöglichte, rückte eine spezifische »Lateinamerikanität« im Zeichen des realismo mágico ins Zentrum und sorgte dafür, dass sich die Rezeption über einen langen Zeitraum auf bestimmte Aspekte konzentrierte: den zentralen Handlungsstrang des Mordes wegen verletzter Familienehre,33 die Bluthochzeit einer neutestamentarisch semantisierten lateinamerikanischen beziehungsweise kolumbianischen Familientragödie,34 die genrespezifische Bedeutung von Elementen
31 32 33
34
Tausend und eine Nacht, S. 16. Gabriel García Márquez, Crónica de una muerte anunciada, Barcelona 1981. In neuerer Zeit nahm dieses Thema wieder auf Stanislav Zimic, »Pundonor calderoniano en Hispanoamérica (con ilustración en ›Crónica de una muerte anunciada‹ de García Márquez), in: Acta Neophilologica, 34/2001, 1–2, S. 87–103. Vgl. neuerdings u. a. Rubén Pelayo, »Chronicle of a Death Foretold (1981)«, in: Ders., Gabriel García Márquez. A Critical Companion, Westport 2001, S. 111–133.
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des Kriminal- und Detektivromans35 oder die komplexe narrative Strukturanlage dieses überaus spannend zu lesenden Erzähltextes.36 In einer früheren Untersuchung, an die sich diese Überlegungen anschließen, habe ich zu zeigen versucht,37 wie wichtig die dadurch in den Hintergrund gedrängte arabamerikanische Dimension für das Verständnis einer Geschichte ist, die im Kontext der massiven Einwanderung aus der arabischen Welt – und insbesondere aus dem Bereich des heutigen Syrien, des Libanon und Palästinas – angesiedelt ist. Mit ihr setzte sich Gabriel García Márquez (der mit Mercedes Barcha die Tochter eines ägyptischen Ingenieurs heiratete, der von General Rafael Reyes zur Durchführung bestimmter Projekte ins Land geholt worden war38) intensiv auseinander. Kein Wunder also, dass es Araber in Macondo gibt. Der zentrale Handlungsstrang, den García Márquez erzähltechnisch in medias res angeht und durch eine kunstvolle Abfolge von Prolepsen und Analepsen Stück für Stück entfaltet, kreist um die Tatsache, dass der zugereiste und ungewöhnlich reiche Bayardo San Román die junge Angela Vicario zu seiner Braut machen will, zur Heirat zwingt, mit ihr ein rauschendes Hochzeitsfest, zu dem der ganze Ort eingeladen ist, feiert, die Braut aber noch in der Hochzeitsnacht verstößt und an ihre Familie zurückgibt, da sie keine Jungfrau mehr sei. Diese im ganzen Ort rasch bekannt gewordene Familienschande wird am Morgen der »Rückgabe« selbst von ihren so apostolisch benannten Brüdern Pedro und Pablo mit dem Blut jenes Mannes abgewaschen, den Angela Vicario als den vermeintlich Schuldigen benennt: Santiago Nasar. Ihn trifft, was Stunden zuvor überall angekündigt, aber von niemandem verhindert wird: eine in mehrfachem Sinne öffentliche Hinrichtung, die mit äußerster Brutalität an dem Sohn eines arabischen Einwanderers vollzogen wird.
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Vgl. u. a. Hubert Pöppel, »Elementos del género policíaco en la obra de Gabriel García Márquez«, in: Estudios de Literatura Colombiana, 4/1999, S. 23–46. Verwiesen sei hier lediglich auf die detaillierte und aufschlussreiche narratologische und intermediale Analyse des Romans und seiner Verfilmung bei Sabine Schlickers, Verfilmtes Erzählen. Narratologisch-komparative Untersuchung zu ›El beso de la mujer araña‹ (Manuel Puig/Héctor Babenco) und ›Crónica de una muerte anunciada‹ (Gabriel García Márquez/Francesco Rosi), Frankfurt a. M. 1997, S. 280–373. Vgl. Ottmar Ette, ZwischenWeltenSchreiben. Literaturen ohne festen Wohnsitz, Berlin 2005, S. 205–237. Vgl. Jorge García Usta, »Arabes en Macondo«, in: Deslinde, 21/1997, S. 137. Dort findet sich auch der Hinweis auf Beziehungen des Schriftstellers etwa zu den arabischstämmigen Familien Mattar, Janne, Kusse und Cassij während seiner Zeit in Sucre.
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Auch hier also stehen der – freilich frustrierte – kleine Tod und der große, endgültige Tod in einer fatalen und allen bekannten Abfolge. Und doch scheint diesmal kein Kraut gegen die am Körper des Opfers mit verzweifelter Gewalt ausgeführte Bluttat gewachsen zu sein. Crónica de una muerte anunciada erzählt die Geschichte einer Gewalt, die sich entlang längst vergessen geglaubter ethnokultureller Konfliktlinien aufbaut, die unaufhaltsam zu sein scheint und an der – auch wenn von den Brüdern der Verstoßenen gleichsam als Ritualmord ausgeführt – die gesamte Bevölkerung des Ortes nicht nur gaffend Anteil hat. Gleichwohl gilt es an dieser Stelle auch zu betonen, dass es im Roman gerade nicht zu einem Kampf der Kulturen kommt, obwohl die Familie der Mörder wie auch offizielle Stellen ständig befürchten, dass es zu Mordanschlägen auf die Familie Vicario oder zu Übergriffen gegen die Bevölkerung von nicht-arabischer Provenienz kommen könnte. Doch dank seines guten historischen Überblicks hatte der Erzähler bereits früh signalisiert, dass die arabischen Einwanderer der ersten wie der zweiten Generation sich sehr gut integriert hätten: Los árabes constituían una comunidad de inmigrantes pacíficos que se establecieron a principios del siglo en los pueblos del Caribe, aun en los más remotos y pobres, y allí se quedaron vendiendo trapos de colores y baratijas de feria. Eran unidos, laboriosos y católicos. Se casaban entre ellos, importaban su trigo, criaban corderos en los patios y cultivaban el orégano y la berenjena, y su única pasión tormentosa eran los juegos de barajas. Los mayores siguieron hablando el árabe rural que trajeron de su tierra, y lo conservaron intacto en familia hasta la segunda generación, pero los de la tercera, con la excepción de Santiago Nasar, les oían a sus padres en árabe y les contestaban en castellano. De modo que no era concebible que fueran a alterar de pronto su espíritu pastoral para vengar una muerte cuyos culpables podíamos ser todos.39
Die hier auf wenigen Zeilen entworfene Geschichte der arabischen Einwanderung in den karibischen Raum projiziert das Bild einer durch sprachliche, onomastische, kulturelle, ökonomische und matrimoniale Bindungen eng liierten Minderheit, deren kulturelle Ausrichtung und sozioökonomische Integration es in den Augen des Erzählers als nicht wahrscheinlich erscheinen lässt, dass sie als Gruppe Rache für einen Mord an einem der Ihren nehmen könnten. Zugleich wird deutlich, dass die Frage der Gewalt nicht dadurch zu lösen ist, dass die Brüder Vicario dafür verantwortlich gemacht und verurteilt werden: Denn im Grunde sind alle Einwohner, die von dem bevorstehenden Mord wussten, an der Gewalttat zumindest mitschuldig geworden.
39
Ebd., S. 130f.
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Schnell wird allen Beteiligten klar: Die arabische beziehungsweise arabamerikanische Gemeinschaft hat an einer gewaltsamen Auseinandersetzung keinerlei Interesse, sondern ist darum bemüht, Zeichen der Versöhnung auszusenden und zu einem friedlichen Zusammenleben zurückzukehren, als hätte nie etwas diesen Frieden gestört. Keine Spirale der Gewalt also, sondern bewusste Deeskalierung. Und immer wieder kommt die Fähigkeit des karibischen Raumes zum Ausdruck, als migratorische Drehscheibe seit der ersten Phase beschleunigter Globalisierung einen (zweifellos über weite Strecken im Zeichen der Sklaverei schmerzhaften und menschenverachtenden, zugleich aber bei aller Gewalt auch integrativen) Prozess der Transkulturation in Gang gesetzt und fortentwickelt zu haben. Gleichzeitig zeigt Crónica de una muerte anunciada sehr schön auf, dass die einzelnen ethnokulturellen Gruppen und Gemeinschaften durchaus auch noch in der dritten Generation in ihrer Differenz zu erkennen sind. Neben den stark patriarchalischen Zügen der arabischen Gemeinschaft treten hierbei vor allem die Heiratsregeln der sich untereinander verheiratenden Familien sowie die gegensätzlichen Spielregeln für das Ausleben der Sexualität von Männern und Frauen hervor. Auch Santiagos Vater Ibrahim Nasar verkörpert innerhalb seiner Familie den Typus des Patriarchen. Er war – wie der Erzähler zu berichten weiß – mit den letzten Arabern am Ende der Bürgerkriege in den Ort gekommen40 und hatte das Speicherhaus am Hauptplatz umgebaut, das nutzlos geworden war, weil die großen Schiffe den im Binnenland liegenden und versandenden Flusshafen nicht mehr anlaufen konnten. Die sich hier andeutenden grundlegenden wirtschaftlichen Veränderungen vermochte er für sich zu nutzen, eine Viehhacienda aufzubauen und zur Führungsschicht des Ortes aufzusteigen. Binnen weniger Jahre scheint die gesellschaftliche Integration gelungen: Die Nasars sind innerhalb der arabamerikanischen Gemeinschaft wie auch im Rahmen der gesamten Sozialstruktur des Ortes geachtet und verfügen über Macht, Einfluss und Gewalt. Dies schließt auch und gerade die Gewalt über Frauen mit ein. Wie sein Vater Ibrahim greift sich Santiago die Tochter von Victoria Guzmán, die in ihrem eigenen Leben hatte erfahren müssen, von Santiagos Vater zwar als Geliebte geschätzt und benutzt, nicht aber als Ehefrau akzeptiert, sondern zur Dienstmagd degradiert zu werden. Victoria – die lange Stunden vor Santiago Nasars Ermordung schon weiß, dass die Vicario-Brüder mit ihren Messern hinter dem jungen Mann arabischer Herkunft her sind – sieht, wie ihrer schönen Tochter Divina Flor nun eine Generation später dasselbe 40
Ebd., S. 21.
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Schicksal droht, und greift ein, als der Sohn Ibrahims in der Küche gegenüber ihrer Tochter handgreiflich wird: Santiago Nasar la agarró por la muñeca cuando ella iba a recibirle el tazón vacío. – Ya estás en tiempo de desbravar – le dijo. Victoria Guzmán le mostró el cuchillo ensangrentado. – Suéltala, blanco – le ordenó en serio –. De esa agua no beberás mientras yo esté viva.41
Der hier aus Gründen der sozialen Stellung als »Weißer« (blanco) bezeichnete Santiago aber wird schon bald zum Ziel (blanco) nicht des blutigen Küchenmessers von Victoria Guzmán, sondern der Brüder Angela Vicarios. Doch die »Szene« häuslicher, alltäglicher Gewalt deutet an, wie schnell eine Situation, die mit dem männlichen Versuch, über einen weiblichen Körper Gewalt auszuüben, beginnt, zu eskalieren vermag. Alle Ingredienzien dieser Gewaltszene – von den generationell sich wiederholenden Geschlechterverhältnissen über den Ort der Küche, an dem Santiago schließlich zusammenbrechen wird, bis hin zur blutbespritzten Messerklinge – deuten an, dass es sich hier um eine mise en abyme, ein Fraktal des gesamten Erzähltextes handelt. Kein Zweifel: Die Geschlechterbeziehungen bilden eine wichtige Generierungsebene gewaltsamer Konflikte in einer – Crónica de una muerte anunciada wird nicht müde, die Beispiele dafür aufzuhäufen – zutiefst machistischen und von Bürgerkriegen geprägten Gesellschaft. Mag Santiago Nasars kultureller Hintergrund auch vielschichtiger sein als der anderer Bewohner der Ortschaft, mag er anders als die meisten zweisprachig aufgewachsen sein, mag er auch andere gastronomische Vorlieben besitzen, so ist er doch verstrickt in jene patriarchalische Wertewelt, die er mit Bayardo San Román, mit den Vicario-Brüdern oder dem Erzähler unhinterfragt und unhinterfragbar teilt. Sie alle üben ganz selbstverständlich Gewalt aus über ihre Frauen, über ihre Geliebten oder über ihre Schwestern: Gewalt, die sich stets auch als Gewalt über den weiblichen Körper äußert. Dies bedeutet freilich keineswegs, dass diese machistische Wertewelt einschließlich ihrer spezifischen Problemlösung durch Gewalt nicht auch von den Frauen geteilt und unterstützt würde. Die Verlobte eines der beiden Mörder gibt später zu Protokoll, sie hätte Pablo Vicario niemals geheiratet, wenn dieser nicht so gehandelt und durch den Mord an Santiago Nasar die Familienehre gerettet hätte. Sie vertraut dem Erzähler ohne Umschweife an: »Yo sabía en qué andaban – me dijo – y no sólo estaba de acuerdo, sino que nunca me hubiera casado con él si no cumplía como hombre.« Antes de abandonar la cocina, Pablo Vicario le quitó dos secciones de periódicos y le dio una al hermano 41
Ebd., S. 19.
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para envolver los cuchillos. Prudencia Cotes se quedó esperando en la cocina hasta que los vio salir por la puerta del patio, y siguió esperando durante tres años sin un instante de desaliento, hasta que Pablo Vicario salió de la cárcel y fue su esposo de toda la vida.42
Wieder wird die Küche zum Brennpunkt der Projektion einer Gewalttat, die hier freilich wie ein stillschweigendes Eheversprechen entzifferbar ist. Die hombría Pablos besteht in den Augen Prudencias darin, den vermeintlichen Entjungferer seiner Schwester so abzuschlachten, wie ein gelernter Schweineschlächter es eben tut. Die Mörder Santiago Nasars sind Legion, und sie sind nicht nur männlich. Nicht umsonst hatte Purísima del Carmen, die Mutter von Angela Vicario, der verstoßenen Braut, in ihrer geschlechterspezifisch klar getrennten Erziehung darauf geachtet, zur Wahrung der Familienehre eine strikte sexuelle Überwachung der Töchter durchzuführen, denn: »Los hermanos fueron criados para ser hombres. Ellas habían sido educadas para casarse.«43 Kein Wunder also, wenn die Mutter des Erzählers davon überzeugt ist, dass diese Frauen ihre Männer glücklich machen würden, seien sie doch von Anfang an zum Leiden erzogen.44 Gewalt ist in diesem »unendlichen System«,45 das selbstgenerierend ist, stets einkalkuliert. So ist die Gewalt, die an Santiago Nasar verübt wird, in den Augen der meisten Bewohner gerechtfertigt; und gerade auch jene, welche die Bluttat mit größerem oder geringerem Engagement zu verhindern suchen, kennen nicht nur die Spielregeln der Gewalt, sie erkennen sie auch an. Der Diskurs der Gewalt ist omnipräsent, die Ankündigung der Bluttat ist nicht zu überhören – und sie siedelt sich sowohl auf der Ebene der ethnokulturellen wie der Geschlechterdifferenz an. Doch zeigt diese Chronik einer angekündigten Gewalt zugleich, dass es jenseits dieses Paradigmas der Gewalt keinen Diskurs und keine Mechanismen gibt, die der Gesellschaft zur Verfügung stünden, um die auch zeitlich erbarmungslos ablaufende Logik noch außer Kraft zu setzen, über einen dritten Term zu destabilisieren, über eine zeitliche Komplexifizierung Aufschub und Zeit zu gewinnen. Die Bewohner des Ortes sind handelnde Gehandelte, die sich ein Außerhalb dieses Paradigmas der Gewalt nicht vorstellen können. Damit ist die Unendlichkeit dieses Systems, an dem die wohl eher von der Mehrheit erzwungene Zurückhaltung der arabamerikanischen 42 43 44 45
Ebd., S. 102. Ebd., S. 51. Ebd., S. 52. Barthes, Propos sur la violence, S. 904.
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Minderheit nichts ändert, geradezu garantiert. Die sich zyklisch wiederholenden Bürgerkriege Macondos lassen grüßen. Bayardo San Román, Santiago Nasar und die Zwillingsbrüder Vicario sind Täter und Opfer eines Schauspiels der Gewalt, in dem die Rollen von Beginn an verteilt waren. Dass es ein Außerhalb des Schauspiels gibt – dies zeigt García Márquez in seinem narrativen Lehrstück sehr präzise auf –, blieb ihnen allen unbekannt. So lief eine Mechanik des Todes ab, die im Experimentierraum der Literatur mit allen Details durchgespielt wird. Doch dieser Bewegungsraum der Literatur öffnet sich erst, nachdem der Vorhang der Tragödie längst gefallen ist: Anders als Scheherazade greift der Erzähler mit seinem Erzählen nicht in ein Geschehen ein, sondern spielt das vor langen Jahren Geschehene durch. Und er zeigt in dieser Versuchsanordnung deutlich auf, dass Gewalt immer dann erfolgreich ist, wenn es zum Paradigma der Gewalt keine denkbaren Alternativen zu geben scheint. Crónica de una muerte anunciada ist die Chronik einer Verkündigung, die ohne Erlösung bleibt. Indem sie in ihrer verdichteten Erzählstruktur aber diese Ausweglosigkeit, diese Sackgasse der Gewalt in einem Land demonstriert, das wie Kolumbien seit Jahrzehnten um die violencia-Problematik kreist, macht sie jene Mechanismen für eine Leserschaft erlebbar, die es mit List zu deregulieren gilt.
IV.
Die Listen der Vermissten und die Listen der Geschichte
An das Ende seines im Jahre 2007 veröffentlichten Debütromans Lost City Radio stellte der 1977 in Lima geborene und im Alter von drei Jahren mit seinen Eltern und vier Geschwistern in die USA ausgewanderte Daniel Alarcón eine Danksagung, die nicht zufällig vielen unterschiedlichen, aber anonym bleibenden Geschichtenerzählern gewidmet ist: Since 1999, when I began researching this novel, many people have shared their stories of the war years with me. There is no way to repay this generosity and trust.46
Wenn Alarcóns in drei Teile und fünfzehn fortlaufend nummerierte Kapitel gegliederter Roman auf der Ebene der vom Autor angestellten Forschungen 46
Daniel Alarcón, Lost City Radio, New York/Toronto 2007; ich zitiere nach der aktuellen Taschenbuchausgabe von Lost City Radio, London/New York/Toronto 2008, S. 259. Verwiesen sei auf die deutschsprachige Ausgabe von Ders., Lost City Radio, Berlin 2008. Ich danke Marco Bosshard für den Hinweis auf diese Ausgabe und ihren Autor.
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folglich aus vielen Geschichten gefertigt ist, welche »die Kriegsjahre« betreffen, so darf man aufgrund der peruanischen Herkunft des weit überwiegend in englischer Sprache47 publizierenden und zweifellos den Literaturen ohne festen Wohnsitz48 zugehörenden Schriftstellers sicherlich spekulieren, ob sich die historische Hintergrundfolie auf den Guerrillakrieg des peruanischen Sendero Luminoso bezieht. Doch muss man zugleich zur Kenntnis nehmen, dass im Paratext der »Acknowledgments« wie im eigentlichen Text des Romans jegliche Identifizierung des Romangeschehens mit einem konkreten Krieg oder Bürgerkrieg sorgsam vermieden wird. Denn der Text kreist um die Frage der Gewalt in einem ganz allgemeinen Sinne. Auch wenn sich viele Beziehungen zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in Alarcóns Geburtsland Peru zweifellos herstellen lassen: Es geht in Lost City Radio nicht um die literarische Aufarbeitung eines besonderen Krieges, sondern um einen allgemeinen Entwurf einer Darstellung derartiger Kriege, wobei die Suche nach diesem Allgemeinen sich auf der Rechercheebene der vielen Geschichten bestimmter Menschen bedient und die Frage der Begründbarkeit von Gewaltanwendung ins Zentrum rückt. Lost City Radio ist ein Roman über das Leben unter den Bedingungen von Diktatur, Krieg und Gewalt und nicht die romanhafte Darstellung einer besonderen geschichtlichen Wirklichkeit, selbst wenn diese immer wieder als Vorlage und Modell gedient haben mag. Die im Roman in Szene gesetzten Taktiken, Strategien und gewaltsamen Vorgehensweisen lassen sich folglich auf die unterschiedlichsten guerrillaund bürgerkriegsähnlichen Konflikte beziehen. Es gibt ein gleichsam ererbtes Szenario für derartige Konflikte, wie sie auch Rey, der männlichen Hauptfigur von Lost City Radio, vertraut sind: Over the years, Rey had developed an intuitive understanding of the plan. Coordinated attacks on the more vulnerable symbols of government power: remote police outposts, polling places in distant villages. A campaign of propaganda that included the infiltration of newspapers and radio stations; the maintenance of camps in the jungle for arms training, in preparation for an eventual assault on the capital. Meanwhile, in the city, kidnappings and ransons, in order to finance the purchase of weapons and explosives facilitated by supporters abroad. Daring prison breaks to impress the average man. No one had ever shown him a manual, nor did Rey know who decided which targets would be destroyed. Communiqués were signed simply THE CENTRAL COMMITTEE and appeared on city streets suddenly, as if dropped from the skies. The violence was ratcheted up: encircle 47
48
Dies gilt etwa für seinen 2006 erschienenen Erzählband War by Candlelight ; zugleich ist Daniel Alarcón aber Mitherausgeber der in seiner Geburtsstadt Lima erscheinenden Zeitschrift Etiqueta Negra. Vgl. hierzu Ette, ZwischenWeltenSchreiben.
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the city, instill terror. The campaign depended upon military escalation from the forces of order, drew strength and purpose from the occasional massacre of innocents, or the disappearance of a prominent and well-liked sympathizer. What did it all mean?49
Strategisches Ziel der Guerrilleros ist die Eskalation von Gewalt, um das herrschende System zu destabilisieren. Die hier beschriebenen Taktiken ließen sich so oder in Abwandlungen ebenso bei den Barbudos um Fidel Castro wie bei den Tupamaros am Río de la Plata, bei Widerstandskämpfern in den peruanischen Anden wie bei Revolutionären im mittelamerikanischen Dschungel, ja bei den bürgerkriegsähnlichen Erhebungen in Afrika oder den Gotteskriegern in Afghanistan, Pakistan oder im Irak beobachten. Das Drehen an der Gewaltspirale ist so einfach wie effizient. Und alle Beteiligten wissen dies. Dabei stellt sich dem männlichen Protagonisten angesichts der eskalierenden Gewalt, deren Opfer er selbst werden wird, die Sinnfrage immer wieder mit unerbittlicher Wucht; denn der Text der Gewalt ist zugleich leicht lesbar und unentzifferbar: What does a car bomb say about poverty, or the execution of a rural mayor explain about disenfranchisement? Yet Rey had been a party to this for nine years. The war had become, if it wasn’t from the very beginning, an indecipherable text. The country had slipped, fallen into a nightmare, now horrifying, now comic, and in the city, there was only a sense of dismay at the inexplicability of it. Had it begun with a voided election? Or the murder of a popular senator? Who could remember now?50
Längst bestimmen nach dem Ende des Kalten Krieges die kleinen, asymmetrischen Kriege unsere Gegenwart weltweit. Herfried Münkler hat vor diesem Hintergrund auf die besondere Bedeutung des Bürgerkriegs in der aktuellen Entwicklung unserer Weltgesellschaft aufmerksam gemacht: Der Bürgerkrieg ist auf diese Weise zum Inbegriff des nichtregulierten, mit gesteigerter Grausamkeit geführten Krieges geworden. Vor allem gilt er als der Krieg, in dem die Gewaltanwendung prinzipiell keinen Reziprozitätsstrukturen unterliegt, wo nicht Soldaten gegen Soldaten bzw. Krieger gegen Krieger kämpfen, sondern die Gewalt unspezifisch ist und sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung richtet.51
49 50 51
Alarcón, Radio, S. 198. Ebd., S. 199. Herfried Münkler, »Geleitwort«, in: Isabella von Treskow/Albrecht Buschmann/ Anja Bandau (Hrsg.), Bürgerkrieg. Erfahrung und Repräsentation. Mit einem Geleitwort von Herfried Münkler, Berlin 2005, S. 8.
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Gewalt von seiten eines totalitären Staates wie Gegen-Gewalt durch die Guerrilla-Organisation der Illegitimate Legion beherrschen in Daniel Alarcóns Lost City Radio das Bild. Dabei ist auf beiden Seiten längst schon das Stadium einer blutigen Gewalt erreicht. Attentate werden durchgeführt, Rachefeldzüge werden konzipiert, Entführungen ins Werk gesetzt, ganze Landstriche von der einen oder der anderen Seite aus stets guten Gründen dem Erdboden gleichgemacht. Die Mehrzahl der Romanfiguren sind gehandelte Handelnde, sind Täter, die zu Opfern werden, und umgekehrt: Lost City Radio hält keine simplen Kategorien und Einteilungen, aber auch keine einfachen Lösungen bereit. Es ist eine Welt ubiquitärer Gewalt, die aus der Perspektive mit unterschiedlichstem Lebenswissen ausgestatteter Figuren nacherlebbar gestaltet ist. Und am Ende des Romans treibt Rey, der wegen einer von Zahir, einer eigentlich unbeteiligten Randfigur, erfundenen Geschichte – Fiktionen können töten – von Regierungssoldaten umgebracht wird, den Fluss einer namenlosen Geschichte hinunter, die einen Erzähltext beschließt, der sich inmitten der von ihm entfalteten Natursymbolik einer tropischen Dschungellandschaft weigert, einer sich rhizomartig in alle Lebensbereiche hineinfressenden Gewalt irgendeinen geschichtlichen, kollektiven Sinn zu verleihen. Nichts wird gerechtfertigt, nichts glorifiziert. Der Ethnobotaniker Rey ist die zweifellos komplexeste Figur des Romans. Er verbindet nicht nur – wie dies in freilich wesentlich geringerem Maße auch Reys Sohn Víctor und dessen Lehrer Manau tun – romandiegetisch das Leben in der namenlosen Hauptstadt52 mit dem Leben im Dschungel, sondern auch bürgerliches und revolutionäres Leben sowie die Liebe der weißen, urbanen Norma mit der Liebe der indigenen Adela. Früh hat er gelernt, sein privates von seinem politischen Leben zu trennen, wobei er im verborgenen Teil seines Doppellebens freilich nie die Fäden in die Hand bekommt, sondern wie eine Marionette ferngesteuert wird: Sein Name, »Rey«, ist eine königliche, souveräne Ironie seines Schöpfers. Als naiver Handlanger der IL verbirgt er seiner großen Liebe, der Radiosprecherin Norma, nicht nur seine Untergrundaktivitäten, sondern auch die Tatsache, dass er in Dorf 1797 – alle historischen Ortsnamen sind in einem Akt der »Modernisierung« von der Militärdiktatur getilgt worden – mit seiner 52
Zu Formen literarischer Darstellung des Lebens in der spanischen Hauptstadt in der Zeit des Spanischen Bürgerkriegs vgl. den schönen Beitrag von Dieter Ingenschay, »La capital dividida entre las dos Españas. Madrid en la literatura de la Guerra Civil«, in: Gero Arnscheidt/Pere Joan Tous (Hrsg.), »Una de las dos Españas …« Representaciones de un conflicto identitario en la historia y en las literaturas hispánicas. Estudios reunidos en homenaje a Manfred Tietz, Frankfurt a. M., Madrid 2007, S. 327–349.
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Geliebten Adela einen Jungen namens Víctor gezeugt hat. Erst lange Jahre nach Reys nie offiziell bestätigtem Tod wird Víctor in die Stadt kommen, um der mittlerweile berühmten Radiosprecherin Norma von seiten der Dorfbewohner eine Liste mit den Namen aller Verschwundenen zu überreichen. Erst ab diesem Zeitpunkt bringen Norma und Víctor etwas Licht in Reys Doppelleben. Während der Jahre nach dem Bürgerkrieg ist Norma dank ihrer samtenen, sinnlichen Stimme zu jener medialen, akustischen Figur des Radioprogramms Lost City Radio geworden, in der sich ein vom Krieg zerrissenes Land wiedererkennt und auf eine Zeit der Zusammenführung, der Gemeinschaft, kurz: auf eine Zeit nach der Diktatur, nach der Gewalt hofft. Denn in ihrer sonntäglichen Sendung, in der sie all jene Anrufer zu Wort kommen lässt, die Namen ihrer Vermissten in der Hoffnung nennen, sie auf diesem Wege wiederfinden zu können, wird gleichsam ein Land zusammengeführt, das nach dem Ende des Krieges nur noch eine einzige, offizielle Geschichte besitzt, aus der die Geschichte der Anderen, der Unterlegenen getilgt wurde. Norma ist zur »mother to them all«,53 zur medialen Mutterfigur einer ganzen Nation geworden. Sie gibt den nicht Gehörten eine Stimme und sorgt zugleich für eine Normalisierung des Ausnahmezustands, der unser 20. Jahrhundert auf fundamentale Weise bestimmt hat.54 Hinter den Listen der Vermissten verbirgt sich keine Subversion, die der Militärdiktatur gefährlich werden könnte, sondern die List einer Junta, die hinter der Stimme Normas ihr Gesicht verbirgt und Ruhe im Land wünscht. Während der langen Jahre des Konflikts war der Krieg im Land von Rey und Víctor, Norma und Adela, in der Stadt wie im Dschungel fast unbemerkt zu einem »way of life«55 geworden. Denn die Geschichte des namenlosen Landes ist eine Geschichte namen- und sinnloser Guerrillakriege: The country’s history was dotted with guerrilla episodes of varying intensities: here and there, a ragtag militia fired by an empty ideology or a provincial grievance, a lightly armed band led by a quixotic upper-crust dropout – it happened all the time, twice a generation, and ended the same way: the insurgents marched themselves to starvation, were felled by malarial fevers. They played at war on the fringes of the nation-state, then gave up as soon as the shooting began.56
Zweimal pro Generation geführte Bürgerkriege bilden das Gerüst, aus dem die Geschichte des Nationalstaates gezimmert ist. Der Krieg als Quelle der 53 54 55 56
Ebd., S. 21. Vgl. Giorgio Agamben, Stato di eccezione. Homo sacer, II, 1. Turin 2003. Alarcón, Radio, S. 236. Ebd., S. 46.
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Nation, als Mutter aller Geschichten – warum? In ihrem im Jahr 2008 erschienenen Essayband L’espèce fabulatrice hat die im kanadischen Calgary in einem englischsprachigen Kontext geborene, aber in französischer Sprache schreibende Nancy Huston die Funktion des Krieges weniger auf einer politischen, ideologischen oder ökonomischen Ebene angesiedelt als auf der Ebene einer narrativen Bedürftigkeit der Gattung Mensch: Oui: l’une des fonctions fondamentales de la guerre humaine est bien d’engendrer des récits palpitants, bouleversants, mémorables. On ne se lasse jamais de la raconter, de la regarder, de la commenter. Epopées, pièces de théâtre, romans, films de fiction ou documentaires, reportages, journaux télévisés … Sans les guerres, l’histoire de l’espèce humaine manquerait singulièrement de relief, de piquant, de suspens et de rebondissements … en un mot, de tout ce qui fait une bonne histoire.57
Lässt sich der Krieg daher als eine unermüdliche Maschinerie zur Erzeugung von Geschichten begreifen, so ist zugleich unübersehbar, dass es im Krieg – wie bei der Deportation, der Versklavung oder dem Genozid – im Kern zugleich darum geht, den Anderen seiner Geschichten und damit seiner Geschichte zu berauben.58 Den Besiegten werden nicht allein die materiellen Dinge, Eigentum und Besitz, sondern vor allem die eigenen Geschichten, die eigenen Fiktionen entwendet, welche doch die so sicher geglaubten »assises identitaires«59 bildeten. Und in der Tat: Eine Geschichte kann, wie wir sahen, nur erzählen, wer sie auch überlebt hat. So stoßen wir im Kern allen Geschichtenerzählens – wie schon bei Scheherazade in Tausendundeiner Nacht – auf die Gewalt und das Begehren, sie narrativ zu transformieren und produktiv zu machen: das Erzählen als Transformation von Gewalt. Geschichtenerzählen gerät so zu einer Überlebenstechnik, in der ein stets bedrohtes Leben reflektiert wird. Denn die anthropologische Tatsache, dass unserem bewussten menschlichen Erleben der Anfang wie das Ende des eigenen Lebens entzogen sind, führt zu dem Bedürfnis, (Lebens-)Geschichten zu konstruieren, in denen wir Anfang und Ende, incipit und excipit, Geburt und Tod immer wieder von neuem reflektieren und bearbeiten können – und damit die Geschichte und ihre Gewalt überleben. Die Listen, die Norma in Lost City Radio verliest, sind Listen von Namen, die stets ihre eigene Lebensgeschichte bergen und vor dem Ausgelöschtwerden schützen. Es sind Listen der Geschichte(n) im Kampf ums Überleben 57 58 59
Nancy Huston, L’espèce fabulatrice, Arles 2008, S. 117. Ebd., S. 125. Ebd., S. 126.
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und zugleich Ausdrucksformen eines Überlebenswissens, das sich der Ubiquität von Gewalt bewusst ist. Die Auslöschung des Dorfnamens durch die Militärs ist der Versuch, Macht über die Geschichten anderer zu bekommen – und doch ist selbst im neuen Dorf-Namen 1797 eine Lebensgeschichte verborgen, verweist er doch mit einem leichten Zahlendreher auf das Geburtsjahr Daniel Alarcóns. Die Arbeit von Norma als Nachrichtensprecherin und als Moderatorin der Sendung Lost City Radio zeigt es: Die Differenz zwischen Fiktion und Realität in einer Welt, in der die Nachrichten schlecht erfundene Fiktionen einer Militärdiktatur sind, ist nahezu inoperativ. Lebbar wird das Leben unter den Bedingungen totalitärer Gewalt vor allem dadurch, dass das Vorgefundene mit dem Erfundenen in ein Leben und Erleben übersetzt wird, in dem die Transformationen der Gewalt kreativ werden. Welche Funktion kommt den Erfindungen, den guten Fiktionen aber dann zu? Man könnte hier mit Mario Vargas Llosa durchaus von einer Gegen-Macht der Fiktion gegenüber einem unbefriedigenden und stets bedrohten Leben sprechen: Pero la imaginación ha concebido un astuto y sutil paliativo para ese divorcio inevitable entre nuestra realidad limitada y nuestros apetitos desmedidos: la ficción. Gracias a ella somos más y somos otros sin dejar de ser los mismos. En ella nos disolvemos y multiplicamos, viviendo muchas más vidas de la que tenemos y de las que podríamos vivir si permaneciéramos confinados en lo verídico, sin salir de la cárcel de la historia. Los hombres no viven sólo de verdades; también les hacen falta las mentiras: las que inventan a su libre albedrío, no las que les imponen; las que se presentan como lo que son, no las contrabandeadas con el ropaje de la historia. La ficción enriquece su existencia, la completa, y, transitoriamente, los compensa de esa trágica condición que es la nuestra: la de desear y soñar siempre más de lo que podemos alcanzar. […] De esa libertad nacen las otras. Esos refugios privados, las verdades subjetivas de la literatura, confieren a la verdad histórica que es su complemento una existencia posible y una función propia: rescatar una parte importante – pero sólo una parte – de nuestra memoria: aquellas grandezas y miserias que compartimos con los demás en nuestra condición de entes gregarios.60
Gegen das Gefängnis der Geschichten wird eine Wahrheit der Lügen in Stellung gebracht, die wie ein Gegen-Diskurs zu funktionieren scheint. Aber sollten wir nicht die Transformationen der Gewalt, die uns die Literatur und ihre Erfindungen lebendig vorführen, als etwas anderes als einen Gegen-Diskurs zur Gewalt denken? Denn dieser würde letztlich nur die Gewalt weiter am Leben erhalten, so wie die Gewalt der Guerrilla in Lost City Radio nur die Gewalt der 60
Mario Vargas Llosa, Cervantes y la ficción – Cervantes and the Craft of Fiction, Basel 2001, S. 19f.
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Militärjunta retroalimentiert. Die Macht der Fiktion dürfte darin zu sehen sein, das Vorgefundene und Erfundene so mit dem Leben und Erleben zu verbinden, dass es zu einem Ausscheren aus dem Antagonismus und zu einer Ver-Stellung kommt, die erst einen Spiel- und Reflexionsraum jenseits des Gewaltparadigmas eröffnet: dort, wo ein beständiges Oszillieren zwischen erfundenem Leben und gelebter Erfindung alles in Bewegung setzt.
V.
Findung und Erfindung menschlichen Materials
El material humano von Rodrigo Rey Rosa beginnt mit einer Feststellung in eigener Sache: »Aunque no lo parezca, aunque no quiera parecerlo, ésta es una obra de ficción.«61 Doch der Text endet mit einer weiteren Nota: »Algunos personajes pidieron ser rebautizados.«62 Was dazwischen liegt – also der gesamte Text zwischen diesen beiden Paratexten – oszilliert zwischen Fiktion und Diktion. Die Selbstbezeichnung als Fiktion und deren Einschränkung verweist uns sowohl darauf, dass die textinterne erste Person Singular mit dem realen, textexternen guatemaltekischen Autor eine Vielzahl von Biographemen teilt, die ein Spiel mit einer identifizierenden Funktion der Erzählerstimme in Gang setzen, die wir gleichwohl nicht mit Rodrigo Rey Rosa gleichsetzen sollten, als auch auf die Tatsache, dass die sehr unterschiedlichen Textsorten, die von Karteikarten der Polizei und staatlichen Dokumenten über Aufzeichnungen von Polizeieinsätzen und Gesprächsprotokollen bis hin zu Tagebucheintragungen verschiedener Personen reichen, nicht einfach nichtfiktional gelesen werden dürfen. Und in der Tat: El material humano ist ein hochgradig friktionaler Text, für den eine klare Scheidung zwischen Fiktion und Realität grundlegend inoperativ ist, weil letztlich Anspruch auf beide Pole erhoben wird. Der im Jahr 2009 erschienene Band erzählt von der investigativen Arbeit eines aus dem Exil nach Guatemala-Stadt zurückgekehrten Schriftstellers, der nach dem Ende der jahrzehntelangen Bürgerkriege im Zeichen einer Aufarbeitung der Gewalt, die in seinem zentralamerikanischen Land Hunderttausende das Leben gekostet hat, in einem Archiv zuvor nicht zugängliche Unterlagen zur Arbeit der Staatsorgane erforscht. Die langen Jahre der guerra interna zwischen 1960 und 1996 haben tiefe Gräben in eine Gesellschaft gerissen, die sich nicht davor sicher fühlen kann, dass sich erneut Ge61 62
Rodrigo Rey Rosa, El material humano, Barcelona 2009, S. 9. Ebd., S. 181.
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neräle an die Macht putschen. Dann könnte wieder eine Guerrilla-Bewegung entstehen, die wie in der Vergangenheit an Brutalität kaum hinter jener der Regierungstruppen zurücksteht, auch wenn die violencia der staatlichen Sicherheits-Organe im historischen Rückblick weit höhere Opferzahlen forderte. Vergessen wir darüber nicht: Auch die Friedenszeit, in der die Nachforschungen des Schriftstellers angesiedelt sind, ist eine Zeit der Gewalt; Auftragsmorde an politisch Andersdenkenden, Anschläge auf Diplomaten anderer Länder, Entführungen von Erwachsenen oder Kindern, für deren Freilassung hohe Lösegeldforderungen erhoben werden, sind an der Tagesordnung. In den Albträumen des Erzähler-Ichs wie in den Gesprächen mit Freunden und Weggefährten wird immer wieder deutlich, dass das Leben in Guatemalas Hauptstadt ein Leben auf Abruf ist und dass sich, wer Nachforschungen anstellt, auch leicht die Finger verbrennen und selbst zum nächsten Opfer, zum Menschenmaterial für blinde Gewalt werden kann. Sind telefonische Todesdrohungen nicht alltäglich? Die Arbeit des Ichs im Archiv, das ansonsten nur bezahlten Archivaren und Archivarinnen offensteht, konzentriert sich auf das Gabinete de Identificación, das 1922 von einem gewissen Benedicto Tun gegründet und ab 1970 in veränderte, von den USA mitgeprägte Verwaltungsstrukturen überführt wurde. So fällt der Blick des Erzählers auf ein halbes Jahrhundert polizeilicher Repression und Kontrolle, die sich in Abertausenden von Karteikarten niederschlug. Aus diesem ungeheuren Datenmaterial wird in der Segunda libreta zitiert, die freilich den in der Folge aufgelisteten Texten der fichas ein Zitat von Jorge Luis Borges durch Adolfo Bioy Casares vorausschickt: »El destino es siempre desmedido: castiga un instante de distracción, el azar de tomar a la izquierda y no a la derecha, a veces con la muerte.«63 Stehen die Namen von Borges und Bioy Casares für eine hochgradig friktionale Schreibweise, wie sie Borges etwa in seinen als solchen deklarierten Ficciones entwickelte, so lässt die Rede vom Zufall an jenes bekannte Diktum von Honoré de Balzac denken, das den Zufall mit dem Roman in eine innige Verbindung setzt: »Le hasard est le plus grand romancier du monde: pour être fécond, il n’y a qu’à l’étudier.«64 Eben dies tut das Erzähler-Ich. So lassen die zufällig ausgewählten und in El material humano aufgenommenen Karteikarten von der Polizei Festgenommener das Leben eines Nationalstaates wiedererstehen, der schon zu Zeiten der Gründung des Gabinete de Identificación zutiefst von einer ubiquitären Gewalt gezeichnet ist. Die fichas 63 64
Ebd., S. 21. Honoré de Balzac, »Avant-propos«, in: Ders., La Comédie humaine, Bd. 1, Paris 1976, S. 11.
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erzählen in wenigen Stichworten vom Leben der hier – im doppelten Wortsinn – Festgehaltenen, wobei die verknappte narrative Anordnung die Lebensdaten in ein Schicksal transformiert. Die Identifizierung als Verbrecher führt bei den zumeist jungen Guatemaltekinnen und Guatemalteken zu einer Identität als Verbrecher. So gerät der Einbau der gefundenen Lebensdaten in der Verbindung mit literarischen Gestaltungsformen des Erfundenen zu einem immer wieder anders konfigurierten Lebenswissen, das dank der Vermittlung durch die Literatur zu einem über die Lektüre angeeigneten Erleben führt. In den Geschichten, die aus polizeilich gesammelten Daten entstehen, wird eine Geschichte lebendig. So wird in den Listen all jener, die polizeilich erfasst, den Delitos políticos oder Delitos comunes zugeteilt, inhaftiert und misshandelt wurden, weil sie ohne Genehmigung Schuhe putzten, weil sie am falschen Ort Tango tanzten, weil sie ihre Körper in unerlaubter Weise prostituierten oder Widerstand gegen die Staatsgewalt leisteten, die fundamentale List der Literatur erkennbar, Gewalt in Geschichten zu transformieren, um jenseits einer (wissenschaftlichen) Geschichte der Gewalt eine gewaltige erzählerische Kraft zu entfalten, die keine Ästhetik des Widerstands, wohl aber die Widerständigkeit des Ästhetischen vor Augen führt. Die Literatur tut dies selbst und gerade auch dort, wo die brutalste Gewalt nicht Fingerabdrücke, sondern Fingerkuppen abheftet, um dieses menschliche Material Jahrzehnte später in seiner geradezu ästhetischen Wirkung vorzuführen, wie es der folgende Nachsatz zu den Listen der katalogisierten Delinquenten vorführt: En un sobrecito adjunto a esta ficha encontré una tira de papel con el diagrama impreso para marcar las huellas digitales. Y allí, en lugar de las típicas manchas de tinta, estaban unos trocitos de tejido que que recordaban pétalos de rosa secos, con dibujos dactilares. Examinados más de cerca resultaron ser piel humana.65
So ist aus dem menschlichen Gewebe der Haut das menschliche Gewebe eines Textes geworden, der die auf den Körper gerichtete Gewalt buchstäblich in Kunst transformiert. Was aber ist die Gewalt? Doctor Gustavo Novales weiß darauf eine Antwort, ist der aus dem Exil nach Guatemala Zurückgekehrte doch ein Spezialist in Sachen »›sociología de la violencia‹«.66 So gibt er in seinem Kurs über Gewalt, den der Erzähler in Zusammenhang mit seinen Archivarbeiten besucht, zu Protokoll:
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Ebd., S. 34. Ebd., S. 43.
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›Sólo el ser humano puede ser violento. La depredación de las fieras no implica violencia‹, dice. Dicta los siguientes axiomas: – Todo acto de violencia es un acto de poder. – No todo acto de poder es un acto de violencia. – La violencia implica el uso de la fuerza física. – No es necesaria la fuerza en todos los casos; la amenaza puede bastar, como las ›pintas‹ de una mano blanca en los años sesenta y setenta en Guatemala en las casa de los supuestos comunistas.* – Un Estado débil necesita ejercer el terror.67 * ›Mano blanca‹ era el nombre de una organización vinculada con el ejército y dedicada al exterminio de comunistas y sus simpatizantes. [Nota del narrador]
Allein: Die Axiome des Wissenschaftlers helfen dem Schriftsteller nicht viel weiter. Und als das Ich die implizite Vorgehensweise des Doktors dadurch hinterfragt, dass auch die Stellung der Guerrilla zur Gewalt beleuchtet und gefragt wird, ob denn je die Strategie, den bewaffneten Kampf gerade auf die von indigener Bevölkerung bewohnten Gebiete auszuweiten, auch mit den Mayas oder Cachiqueles abgesprochen wurde – eine Frage, die nur zähneknirschend mit »Nein« beantwortet werden kann –, wird deutlich, dass hier ohne jede wissenschaftliche Fundierung zwischen guter und schlechter Gewalt – und die letztere ist allein auf seiten des Staates zu suchen – unterschieden wird.68 Eine so verstandene Gewaltsoziologie hilft nicht weiter. Denn am Problem der Gewalt verändert sie nichts, indem sie Gewalt hier strikt ablehnt, dort aber rechtfertigt. Der simple Gegen-Diskurs zementiert die Gegen-Gewalt, die – wie die zahlreichen in El material humano aufgelisteten Hinrichtungen, Entführungen und Morde durch die Guerrilla zeigen – vom akratischen rasch in den enkratischen Diskurs umschlagen kann. Auf diese Weise wird das Ungeheuer der Gewalt nicht nur nicht attackiert, sondern zusätzlich alimentiert. Währenddessen gestaltet sich die Arbeit im Archiv zunehmend labyrinthisch. Doch schon bevor dem Ich ein weiterer Zugang zum Archiv verwehrt wird – weil unter anderem Gerüchte kursieren, der Schriftsteller wolle mit seiner Arbeit lediglich den Versuch unternehmen, die lange Jahre zurückliegende Entführung seiner eigenen Mutter aufzuklären –, notiert das Ich in einem auf den 7. Februar 2007 datierten Eintrag in die Tercera libreta:
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Rodrigo Rey Rosa, La materia humana, S. 43f. Ebd., S. 46f.
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Inesperadamente me pregunto qué clase de Minotauro puede esconderse en un laberinto como éste. Tal vez sea un rasgo de pensamiento hereditario creer que todo laberinto tiene su Minotauro. Si éste no lo tuviera, yo podría caer en la tentación de inventarlo.69
Nicht umsonst trägt eine der fleißigen Archivarinnen den Vornamen Ariadna. Die Anspielung auf die Tochter des Minos und der Pasiphaë reiht sich ein in zahlreiche Verweise auf den griechischen Mythos, in dem das schöne Mädchen mit Hilfe eines Wollknäuels – und damit eines Gewebes, eines Textes – Theseus den Rückweg aus dem Labyrinth des Minotaurus ermöglichte. Im Labyrinth des Archivs wird aber erst spät erkennbar, dass die sechsmonatige Entführung der Mutter ein durchaus vorhandenes Motiv für den Schriftsteller darstellt, sich der Frage von Gewalt und Gegen-Gewalt in Guatemala intensiver zu widmen. Denn auch, wenn die Familie lange Zeit davon überzeugt gewesen war, dass die Mutter des Erzählers im Auftrag korrupter rechtsgerichteter Regierungskreise entführt worden war, um so ein hohes Lösegeld zu erpressen, deuteten doch neue Informationen direkt aus Kreisen, die mit der linksgerichteten guatemaltekischen Stadtguerrilla engstens liiert waren, doch seit einiger Zeit auf die Tatsache, dass die Entführung nicht auf das Konto eines staatsterroristischen Kommandos, sondern einer kleineren Gruppe entschlossener Stadtguerrilleros ging. Dem Ich fällt es keineswegs leicht, sich mit einer so veränderten Sachlage anzufreunden. Gleichwohl wird die Recherche intensiviert. So wächst neben der Arbeit an der großen Geschichte der Gewalt ganz nebenbei eine kleine Geschichte der Gewalt, in deren Zentrum die ihrem Lebensende nahe Mutter und die Frage stehen, wer für ihre Entführung die Verantwortung trägt. Durch Einblendungen aus dem Tagebuch ihrer Gefangenschaft, vor allem aber durch hartnäckig immer wieder vereinbarte Treffen und Telefonanrufe schält sich am Ende heraus, dass der Minotaurus im zuvor undurchschaubaren Labyrinth dieser Entführung ein völlig zweitrangiger Ex-Guerrillero ist: Pienso en Lemus: patético, sombrío. Éste era entonces el Minotauro que me esperaba en el fondo del laberinto del Archivo. De tal laberinto, tal Minotauro. Probablemente me tiene tanto miedo como yo a él. ¿Si lo atacara – me pregunto – se defendería?70
Doch in El material humano kommt es zu einem solchen Kampf gerade nicht. Weder mit Vertretern von Polizei oder Militär noch mit dem für Menschenrechtsfragen zuständigen Chef des Archivs, der in seiner Zeit in der Guerrilla 69 70
Ebd., S. 56. Ebd., S. 177.
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selbst zahlreiche Hinrichtungen anordnete, wird der Konflikt gesucht. Es kommt zu keinem Showdown zwischen Jäger und Gejagtem: Am Ende steht keine Gewaltszene, sondern ein Gespräch mit der fünfjährigen Tochter, die ihren Vater – und auch dies sollte uns davor warnen, das Schriftsteller-Ich mit Rodrigo Rey Rosa zu identifizieren – nirgendwo in der Geschichte finden kann. Geht hier der Erzähltext nicht einfach einem Konflikt, einer eigenen beherzten Stellungnahme aus dem Wege? Man könnte diese Frage mit einer Gegenfrage beantworten. Enthält nicht jeder Akt einer Identifizierung schon einen Akt der Gewalt? Hatte nicht Benedicto Tun, der Gründer des Gabinete de Identificación, in einem Schreiben vom 22. Januar 1945 an den Generaldirektor der Guardia Civil schon die Rolle dieser Einrichtung innerhalb des »engranaje policial« erläutert: Dos son los campos amplios que se ofrecen al trabajo del Gabinete de Identificación. El primero es el material humano que ingresa día tras día en los Cuarteles de la Policía por delitos o faltas graves, y que hay necesidad de identificar por medio de la ficha, la cual constituye, por así decirlo, la primera página del historial del reo, donde en lo sucesivo figurarán los datos de su reincidencia. El otro ámbito en donde actúa el Gabinete de referencia es el que toca a los laboratorios de la Policía Técnica propiamente, es decir, la pesquisa por los medios científicos hasta hoy conocidos y que se concretan, por una parte, a descubrir al delincuente por las trazas que pueda dejar en el lugar donde opera; por otra, una vez descubierto o capturado, a suministrar las pruebas de su culpa.71
Auch die Literatur könnte zu einem derartigen Gabinete de Identificación werden – und gewiss: Sie ist es unter dem Druck politischer Verhältnisse auch schon oft geworden. Doch Rodrigo Rey Rosas friktionale und komplexe Reflexion über die Gewalt in Guatemala vermeidet jegliches thesenartiges Denken, übt keine simplen Schuldzuweisungen aus, bietet aber auch keine einfachen Lösungsmöglichkeiten an, wie denn das Problem der Gewalt in Zentralamerika gelöst werden könnte. Der 2009 erschienene Text ist kein Identifizierungskabinett: Er warnt vielmehr vor einfachen Formeln. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass der Text in Beliebigkeit verfiele oder die Probleme, die er aufwirft, nicht klar benennen würde. El material humano versucht vielmehr entschlossen, menschliche Leben nicht in menschliches Material zu verwandeln und damit jene Gewalt weiterzuschreiben, die sich im Sinne Roland Barthes’ so leicht in ein »système infini«72 verwandelt, in eine Sackgasse, in ein Labyrinth, aus denen nicht mehr herauszufinden ist. Dem Text gelingt es, dem Paradigma der Gewalt auf eine Weise den Rücken zu kehren, die verhindert, dass zwischen einem enkratischen und einem 71 72
Ebd., S. 57 (kursiv im Original). Barthes, Propos sur la violence, S. 904.
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akratischen Diskurs gewählt werden muss und dass das Erzählen zu einer Fortführung des Krieges, zu einer Fortführung der Gewalt mit anderen, mit literarischen Mitteln wird. Der – im Sinne Roland Barthes’ – höchst festgelegte Code der Gewalt wird nicht ignoriert, sondern missachtet. Gewalt ist zwar der narrative Motor von El material humano, doch beruht das Überlebenswissen dieses Textes gerade auf der Verabschiedung aus dem Gewalt-Paradigma, auf einer Transformation der Gewalt in die gewaltige Kraft eines Erzählens, das sich nicht im Labyrinth des von Reinaldo Arenas entworfenen Ungeheuers verirrt. Der Erzähltext von Rodrigo Rey Rosa ist ein durchaus riskantes Experiment: Er unternimmt den Versuch, die Grundlagen des Erzählens aus der Transformation, nicht aber aus der Transmission von Gewalt zu ziehen. Damit setzt er nicht auf Gewalt, sondern auf Zeit – und damit auf die ureigenste Kraft der Literatur.
Zu den Autorinnen und Autoren
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Zu den Autorinnen und Autoren
Wolfgang Asholt ist seit 1997 Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Osnabrück. Er war von 1995 bis 2004 MitHerausgeber des Frankreich-Jahrbuchs und ist seit 2000 Herausgeber der Zeitschrift »Lendemains«. Gastprofessuren in Orléans, Paris IV – Sorbonne, Paris III – Sorbonne Nouvelle, Clermont-Ferrand. Im Sommersemester 2012 Fellow am FRIAS (Freiburg Institute for Advanced Studies). Jüngste Veröffentlichungen: Hrsg. mit Ottmar Ette: Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven, Tübingen 2010 (edition lendemains Nr. 20); Hrsg. mit Mireille Calle-Gruber und Dominique Combes: Assia Djebar. Littérature et transmission, Paris 2010; Hrsg. mit Marc Dambre: Un Retour des normes romanesques dans la littérature française contemporaine, Paris 2011; Hrsg. mit Didier Alexandre: France-Allemagne, regards et objets croisés. La littérature allemande vue de France – La littérature française vue d’Allemagne, Tübingen 2011 (edition lendemains Nr. 24). Vittoria Borsò hat seit 1998 den Lehrstuhl Romanistik I (Französische, Italienische, Spanische Literaturwissenschaft) an der Heinrich-Heine-Universität, Düsseldorf inne. Feodor-Lynen-Stipendium der Humboldt-Stiftung für Forschungen in den USA (Rice University, Houston, und University of Texas at Austin). Jüngste Publikationen: Benjamin – Agamben. Politics, Messianism und Kabbalah (2010); Migraciones culturales – Topografías transatlánticas (im Druck). Aktuelle Forschungsschwerpunkte: Biopolitik, Poetik und Epistemologie des Lebens in Literatur und visuellen Medien; Gedächtnistheorien im Spannungsverhältnis zwischen Kultur- und Neurowissenschaften. Mitglied des Steering Committee der U.C. Research Group on Mexican and Cultural Studies der Universitäten von Kalifornien. Antragstellerin beim bewilligten Graduiertenkolleg 1678 »Migration und Produktion« der DFG. Claude Coste ist seit 2003 Professor für französische Literatur an der Université de Grenoble 3. Er ist Mitglied der Ecole Doctorale AlgéroFrançaise und verantwortlich für die équipe Barthes (ITEM-CNRS). Seine Forschungsinteressen sind: Roland Barthes, Literatur und Musik, die französischsprachige Literatur des Maghreb sowie die Literatur des 21. Jahrhunderts. Jüngere Publikationen: Les Malheurs d’Orphée. Littérature et musique au XXe siècle, Paris 2003; als Herausgeber: Comment vivre ensemble. Simulations romanesques de quelques espaces quotidiens, cours de Roland Barthes au Collège de
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Zu den Autorinnen und Autoren
France, Paris 2002 und Le Discours amoureux, séminaire de Roland Barthes à l’École Pratique des Hautes Études, suivi de Figures inédites de Fragments d’un discours amoureux, Paris 2007. Richard Eldridge ist Charles and Harriett Cox McDowell Professor of Philosophy am Swarthmore College. Er war als Gastprofessor u. a. in Freiburg, Erfurt, Bremen und Stanford tätig. Publikationen: Literature, Life, and Modernity, Columbia 2008; An Introduction to the Philosophy of Art, Cambridge 2003; The Persistence of Romanticism, Cambridge 2001, Leading a Human Life: Wittgenstein, Intentionality, and Romanticism, Chicago 1997; On Moral Personhood: Philosophy, Literature, and Self-Understanding, Chicago 1989. Als Herausgeber: The Oxford Handbook of Philosophy and Literature, Oxford 2009; mit Bernard Rhie: Stanley Cavell and Literary Studies: Consequences of Skepticism, New York/ London 2011. Ottmar Ette wurde 1956 im Schwarzwald geboren. Seit Oktober 1995 hat er den Lehrstuhl für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam inne (venia legendi: Romanische Literaturen und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft). 1990 Promotion an der Universität Freiburg im Breisgau; 1995 Habilitation an der Katholischen Universität Eichstätt. Mehrfach Gastdozenturen in verschiedenen Ländern Lateinamerikas sowie in den USA. Von 2004 bis 2005 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Mitantragsteller des DFG-Graduiertenkollegs »lebensformen + lebenswissen« (ab WS 2006/2007) sowie des Internationalen DFG-Graduiertenkollegs »Zwischen Räumen« (ab WS 2009/2010) und des DFG-Graduiertenkollegs »Sichtbarkeit und Sichtbarmachung« (ab 2010). Ottmar Ette ist Mitbegründer des ForLaBB (Forschungsverbund Lateinamerika BerlinBrandenburg). Von April bis Juli 2010 war er Fellow am FRIAS (Freiburg Institute for Advanced Studies), und seit 2010 ist er ordentliches Mitglied der Academia Europaea. Jüngste Veröffentlichungen: LebensZeichen. Roland Barthes zur Einführung, Hamburg 2011; Hrsg. mit Werner Mackenbach, Gesine Müller und Alexandra Ortiz Wallner: Trans(it)Areas. Convivencias en Centroamérica y el Caribe. Un simposio transareal, Berlin 2011; ÜberLebenswissen I–III, Berlin 2004–2010 (drei Bände); Alexander von Humboldt und die Globalisierung. Das Mobile des Wissens, Frankfurt am Main 2009. Andreas Gelz ist seit 2007 Inhaber des Lehrstuhls für Romanische Philologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg (französische und spanische Literaturwissenschaft), Stellvertretender Sprecher des Graduiertenkollegs »Faktuales und fiktionales Erzählen« (ab WS 2012/2013). Publi-
Zu den Autorinnen und Autoren
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kationen u. a.: Tertulia: Literatur und Soziabilität im Spanien des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 2006; als Herausgeber: Computer, Internet und Literatur in Frankreich und der Frankophonie. Schwerpunktnummer der Zeitschrift Lendemains. Études comparées sur la France/Vergleichende Frankreichforschung, 3–4 (2006). Aktuelle Forschungsprojekte: »Eine andere Geschichte der Moderne? Der Skandal als Schlüsselbegriff der spanischen Kulturgeschichte« und »Das Fremde im Eigenen: Die Figur des indiano in der spanischen Literatur- und Kunstgeschichte«. Winfried Gerling ist seit 2000 Professor für Konzeption und Ästhetik der Neuen Medien an der Fachhochschule Potsdam/Fachbereich Design im Kooperationsstudiengang Europäische Medienwissenschaft der Fachhochschule und Universität Potsdam. Ausgewählte Publikationen: Hrsg. mit S. Diekmann: Freeze Frames – Zum Verhältnis von Fotografie und Film, Bielefeld 2010. Hrsg. mit NGBK: Multitasking – Synchronität als kulturelle Praxis, Berlin 2007. Hrsg. mit S. Diekmann, B. Kohler, W. Pauleit: FotoKino. Fotografen und Fotografie im Spielfilm, Ausgabe 8 des Online-Magazins Nach dem Film 2005. Hermann Herlinghaus ist Professor für lateinamerikanische Literatur an der Universität Freiburg und International Adjunct Professor der University of Pittsburgh. Seine Arbeitsgebiete umfassen lateinamerikanische Literatur und Kulturmoderne, interamerikanische Studien und Globalisierung, lateinamerikanischen Film sowie Aspekte der politischen Philosophie. Zu seinen zahlreichen Buchpublikationen gehören Violence Without Guilt: Ethical Narratives from the Global South, New York 2008 und Narcoepics: A Global Aesthetics of Sobriety, New York 2012 (im Druck). Joseph Jurt wurde 1940 in Willisau (Schweiz) geboren. Studium der Romanistik und der Geschichte an der Universität Fribourg und an der Sorbonne. 1981–2005 Professor für Französische Literaturwissenschaft an der Universität Freiburg im Breisgau. Mit-Gründer und Vorsitzender des Frankreich-Zentrums der Universität Freiburg (1993–2000). Gastdozenturen an der Haute Ecole en Sciences Sociales (Paris), an der Sorbonne Nouvelle, an der Bundes-Universität Rio de Janeiro. Ab 2006 Lehraufträge an der PHZ Luzern, an den Universitäten Basel und St. Gallen. Mitglied und dann Vizepräsident des Schweizerischen Wissenschaftsrates (SWTR) (2000–2007). Neuere Veröffentlichungen: Das literarische Feld. Das Konzept Pierre Bourdieus in Theorie und Praxis (1995); Absolute Pierre Bourdieu (2003,
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Zu den Autorinnen und Autoren
2007); Grundwissen Philosophie. Bourdien (2008); Frankreichs engagierte Intellektuelle. Von Zola bis Bourdien (2012); als Herausgeber: Unterwegs zur Moderne (2004); Die Literatur und die Erinnerung an die Shoah (2005); Champ littéraire et nation (2007). Judith Kasper ist Dozentin für französische und italienische Literaturwissenschaft an der Universität München. Derzeit arbeitet sie an der Universität Potsdam an ihrem Projekt »Der traumatisierte Raum. Topographien, Dissemination und Übertragungen des Holocaust«. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der italienischen und französischen Literatur des 20. Jahrhunderts, der Literaturtheorie und der Psychoanalyse. Veröffentlichungen u. a.: Sprachen des Vergessens. Proust, Perec und Barthes zwischen Verlust und Eingedenken, München 2003; Trauma e nostalgia. Per una lettura del concetto di ›Heimat‹, Milano 2009. Gesine Müller leitet seit 2008 die Emmy-Noether-Nachwuchsgruppe »Transkoloniale Karibik« (DFG) am Institut für Romanistik der Universität Potsdam. Promotion 2003 an der Universität Münster zum Thema Die Boom-Autoren heute: García Márquez, Fuentes, Vargas Llosa, Donoso und ihr Abschied von den »großen identitätsstiftenden Entwürfen«, Frankfurt am Main 2004. 2005–2008 Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Martin-Luther-Universität Halle; Habilitationsschriftschrift Die koloniale Karibik zwischen Bi-polarität und Multirelationalität. Transferprozesse in frankophonen und hispanophonen Literaturen (erscheint 2012 bei de Gruyter, Reihe Mimesis). Vera Nünning ist seit 2002 Professorin für Englische Philologie an der Universität Heidelberg. Mit-Herausgeberin der Zeitschrift English Studies (seit 2007) sowie von drei Buchreihen: WVT-Handbücher zum literaturwissenschaftlichen Studium, ELCH: Studies in English Literary and Cultural History/ ELK: Studien zur Englischen Literatur- und Kulturwissenschaft und CAT: Cultures in America in Transition, jeweils WVT Verlag, Trier. Zuständig für Auswahl, Betreuung und Redigierung von Artikeln zur englischen Literatur in Kindlers Neues Literaturlexikon. Kurzzeit-Gastprofessuren an der Universidad de Zaragoza, Spanien; der Universidade Católica Portuguesa, Lissabon, Portugal und der Helsingin Yliopisto (Universität Helsinki), Finnland; 2011–2012 Fellow am Marsiliuskolleg der Universität Heidelberg. Jüngste Buchveröffentlichungen: Hrsg. mit Ansgar Nünning und Birgit Neumann: Cultural Ways of Worldmaking. Media and Narratives, Berlin/New York 2010. Hrsg. mit Ansgar Nünning und Birgit Neumann: The Aesthetics and Politics of Cultural Worldmaking, Trier 2010. Hrsg. mit Ansgar Nünning: Methoden der literatur- und
Zu den Autorinnen und Autoren
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kulturwissenschaftlichen Textanalyse. Ansätze, Grundlagen, Modellanalysen, Stuttgart/Weimar 2010. Ana Pizarro studierte Pädagogik an der Universidad de Concepción/ Chile; sie legte das Staatsexamen in Französisch an der Universidad de Chile ab und promovierte danach in Paris in Literaturwissenschaft. Ihre Forschungsinteressen umfassen die Literatur und Kultur Lateinamerikas und der Karibik. Jüngere Projekte: seit 2000 zur Kultur des Amazonasgebiets; 2010 zu kulturellen Diskursen der Kolonialgeschichte; 2000 zu lateinamerikanischen Schriftstellerinnen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts; 1996–1998 zur chilenischen Literatur der postdiktatorialen Ära. Jüngste Publikationen: Gabriela Mistral: el proyecto de Lucila, Santiago de Chile 2005; Silencio, zumbido, relámpago: la poesía de Gonzalo Rojas, Santiago de Chile 2006; Amazonía. El río tiene voces: imaginario y modernización, Santiago de Chile 2009. Sina Rauschenbach, geb. 1971, Studium der Mathematik und Philosophie an der Freien Universität Berlin, 1996 Diplom in Mathematik, 2000 Promotion in Philosophie, 2008/09 Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin, seit 2009 Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fach Geschichte an der Universität Konstanz, seit 2010 ebendort Privatdozentin für Neuere und Neueste Geschichte, zurzeit Fellow am Kulturwissenschaftlichen Kolleg des Konstanzer Exzellenzclusters »Kulturelle Grundlagen von Integration«. Forschungen zur jüdisch-christlichen Geschichte und zur frühneuzeitlichen Philosophieund Wissensgeschichte mit besonderem Interesse an den Niederlanden und der iberischen Halbinsel. Yvette Sánchez wurde 1957 in Maracaibo/Venezuela geboren. Studium, Promotion (1987) und Habilitation (1997) an der Universität Basel. Habilitationsschrift Coleccionismo y literatura (1999) zu den vielfältigen Zusammenhängen von Sammeln und Literatur. Seit Oktober 2004 Lehrstuhl für Spanische Sprache und Literatur an der Universität St. Gallen. Gegenwärtige Forschungsfelder neben der Kultur und Literatur der US-Latinos: Transkulturalität in den Kultur- und Sozialwissenschaften; der spanische Autor Enrique Vila-Matas. Jüngste Herausgeberschaften: Poéticas del fracaso (2009), Fehler im System (2008), Die Schweiz ist Klang (2007), La poética de la mirada (2004). Sergio Ugalde Quintana wurde 1971 in Mexiko-Stadt geboren. Seit 2011 Professor an der Philosophischen Fakultät der Universidad Nacional Autónoma de México (UNAM). 2002–2005 DAAD-Stipendiat an der Universität Potsdam. 2006 Promotion am Colegio de México. Publikationen: La
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Zu den Autorinnen und Autoren
poética del cimarrón. Aimé Césaire y la literatura del caribe francés, México 2007; Un amigo en tierras lejanas. Correspondencia Alfonso Reyes/Werner Jaeger (1942–1958), México 2009; La biblioteca en la isla. Una lectura de La expresión americana de José Lezama Lima, Madrid 2011. Cécile Wajsbrot wurde 1954 in Paris geboren. Sie war zuerst acht Jahre lang Lehrerin, bevor sie anfing, als freie Journalistin für Zeitungen und beim Radio zu arbeiten. Heute lebt sie als Schriftstellerin und Übersetzerin (hauptsächlich aus dem Englischen, aber auch aus dem Deutschen) in Paris und Berlin. Sie ist eine begeisterte Leserin von Proust, Balzac, Marguerite Duras und Virginia Woolf. Das Schreiben ist ihr ein elementares Bedürfnis. Ihre Romane haben einen geschichtlichen und politischen Nachhall im weitesten Sinne – dadurch, dass sie nach der Verschränkung von individueller und kollektiver Geschichte fragen. Sie laden ihre Leser dazu ein, die wirklich wichtigen Fragen zu stellen – diejenigen, die nachhaltig an dem vermeintlich ruhigen Gewissen schürfen. Ihre letzten Veröffentlichungen sind: Conversations avec le maître (2007); L’île aux musées (2008) und L’Hydre de Lerne (2011).