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German Pages 288 [289] Year 2021
A
Clara Carus
Heidegger im Ausgang Kants? Heideggers Kantauslegung im Lichte der systematischen Rolle der Zeit in Kant
ALBER PHILOSOPHIE
https://doi.org/10.5771/9783495997796
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Clara Carus Heidegger im Ausgang Kants? Heideggers Kantauslegung im Lichte der systematischen Rolle der Zeit in Kant
ALBER PHILOSOPHIE https://doi.org/10.5771/9783495997796
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Clara Carus
Heidegger im Ausgang Kants? Heideggers Kantauslegung im Lichte der systematischen Rolle der Zeit in Kant
Verlag Karl Alber Freiburg / München https://doi.org/10.5771/9783495997796
Clara Carus Heidegger Following on from Kant? Heidegger’s Kant Critique in Light of the Systematic Role of Time in Kant The present book shows that Heidegger’s principal question concerning the being of Dasein leads into a cul-de-sac, owing to the lack of a determination of authenticity. He attempts to resolve this impasse through his critique of Kant’s philosophy and an interpretation of time therein. To uncover this background, the author distinguishes the concept of time in Kant’s system from Heidegger’s interpretation thereof. It becomes clear that Heidegger’s interpretation of Kant does not ultimately help Heidegger out of his predicament of lacking a determination of time and authenticity. As a result, it is shown why the question of the being of Dasein cannot ultimately be understood to be the fundamental question of philosophy.
The author: Clara Carus is a DFG postdoctoral researcher at Harvard University, having completed her doctorate in Freiburg. Her research focuses on Kant, Heidegger and the Early Modern Rationalists.
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Clara Carus Heidegger im Ausgang Kants? Heideggers Kantauslegung im Lichte der systematischen Rolle der Zeit in Kant Das Buch zeigt, dass Heideggers Leitfrage nach dem Sein des Daseins mit der fehlenden Bestimmung der Eigentlichkeit in eine Ausweglosigkeit gerät, die er durch seine Kantauslegung und eine Interpretation der Zeit daraus zu lösen versucht. Die Autorin zeigt diesen Hintergrund auf, indem sie den Begriff der Zeit in Kants Systematik von Heideggers Interpretation abgrenzt. Es wird dabei deutlich, dass Heidegger seinen Begriff der Zeit und damit der Eigentlichkeit auch durch seine Kantauslegung nicht klären konnte. Als Resultat zeigt sich, warum die Frage nach dem Sein des Daseins letztlich nicht als Grundfrage der Philosophie verstanden werden kann.
Die Autorin: Clara Carus ist nach ihrer Promotion in Freiburg DFG-Postdoktorandin an der Harvard University. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kant, Heidegger und die Rationalisten der frühen Neuzeit.
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Diese Arbeit wurde gefördert durch ein Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes (2014–2018) und ein Promotionsstipendium der FAZIT-Stiftung (2016–2018), in die ich für den Forschungsaufenthalt an der Harvard University als Stipendiatin aufgenommen wurde.
Der Forschungsaufenthalt an der University of Oxford, UK, wurde durch den Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds und die Studienstiftung des deutschen Volkes ermöglicht.
Der einjährige Forschungsaufenthalt an der der Harvard University, USA, wurde durch die großzügige Förderung der FAZIT-Stiftung, des Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds und der Studienstiftung des deutschen Volkes ermöglicht. Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
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Originalausgabe Zugl.: Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde an der Philosophischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2021 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Satz: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN 978-3-495-49138-6
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
I.
Hauptteil: Die Zeit in Kant . . . . . . . . . . . . . . . .
25
1.
Die Zeit in der transzendentalen Ästhetik . . . . . . . .
29
2.
Das A priori der Formen der Sinnlichkeit
. . . . . . . .
35
3.
Das Selbstbewusstsein . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Das transzendentale Selbstbewusstsein . . . . . . . 3.2 Das Verhältnis der Einheit des Selbstbewusstseins als vorgängige Form und des Bewusstseins als inhaltsformende Einheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Das Selbstbewusstsein in Hinblick auf die Objektivität und ihr Verhältnis zum sinnlichen Gegenstand und zur Zeit . . . . . . . . . . . . . .
37 39
Die Zeit in der Analytik der Grundsätze . . . . . . . . . 4.1 Die Aufgabe der Analytik der Grundsätze . . . . . 4.2 Der Schematismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die transzendentalen Zeitbestimmungen – Die Vermittlung zwischen der apriorischen Erkenntnis und dem aposteriorischen Inhalt mittels der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Die Grundsätze des reinen Verstandes . . . . . . . 4.5 Sind die Regeln der transzendentalen Zeitbestimmungen in den Grundsätzen a priori? – Das Beispiel der Kausalität . . . . . . . . . . . . . 4.6 Die Bedingungen des Kausalverhältnisses und seiner Objektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49 49 52
4.
42
45
54 56
59 63
7 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Inhaltsverzeichnis
5. II. 6.
4.7 Die Zeit als vermittelnde Instanz zwischen der apriorischen Erkenntnis und ihrem aposteriorischen Inhalt – Inwiefern ist die Zeit a priori? . . . . . . .
72
Das kantische System im Sinne der Zeit – Zusammenfassung und Ausblick . . . . . . . . . . . . .
76
Hauptteil: Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit . . . . . . . . . . . . .
79
Das erste Hauptstück von Logik: Die Frage nach der Wahrheit und der Übergang zur Kantinterpretation . . 6.1 Die Frage nach der Wahrheit als Frage nach der Falschheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Die Als-Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Das Sich-vorweg-sein als ein Zurückkommen . . 6.4 Die Modifikation der Als-Struktur im Bestimmen gegenüber der Als-Struktur im Bedeuten . . . . . 6.5 Die Wahrheit als Bei-dem-Seienden-Sein und die Möglichkeit von Wahrheit und Falschheit im Sein des Seienden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Die Möglichkeit der Täuschung . . . . . . . . . . 6.7 Die Entdecktheit als Bestimmung des Seins und die Rolle der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . .
.
84
. . .
85 87 89
.
92
. .
95 99
. 101
7.
Prolegomena zu Geschichte des Zeitbegriffs . . . . . . .
8.
Heideggers Vortrag Der Begriff der Zeit . . . . . . . . 8.1 Die Ewigkeit und die Frage nach der Zeit im Sinne einer Vorwissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Die Gründe der Phänomene der Zeit . . . . . . . 8.3 Die Grundstrukturen des Daseins als Aufschluss über die Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9.
. 108 . 108 . 111 . 114
Die Abhandlung Der Begriff der Zeit . . . . . . . . . . 9.1 Das Geschichtlichsein im Horizont der Geschichtlichkeit bei Dilthey und Yorck . . . . . . . . . . . 9.2 Das Verhältnis der Frage nach der Zeit und der Frage nach dem Dasein . . . . . . . . . . . . .
8 https://doi.org/10.5771/9783495997796
106
119 121 125
Inhaltsverzeichnis
9.3 Die Verschränkung des Phänomens des Daseins und des Phänomens der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . 9.4 Die Verlegenheit der Seinsinterpretation . . . . . . 9.5 Der Tod als äußerste Möglichkeit des Daseins . . . . 9.6 Die Fakticität in ihrer möglichen Eigentlichkeit . . 9.7 Das »Wie« als Horizont der Wahl des Daseins . . . 9.8 Das jeweilige Dasein in Eigentlichkeit und die Zeit . 9.9 Das Sein der Uneigentlichkeit als Zeitlichsein . . . 9.10 Die Auslegung der Zeit in der uneigentlichen Zeitlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9.11 Das Verhältnis des eigentlichen und des uneigentlichen Zeitlichseins . . . . . . . . . . . . 9.12 Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit . . . . . . . . . 9.13 Das eigentliche Geschichtlichsein und die Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10. Vorläufiger Überblick über die Idee der Bedeutung der Zeit in Heideggers Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . 11. Heideggers frühe Freiburger Schaffensperiode 1919–1924 11.1 Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11.2 Grundprobleme der Phänomenologie . . . . . . . 11.3 Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft . . .
127 130 133 137 139 142 146 148 149 151 157 161 165
167 176 182
12. Zusammenfassender Überblick über den Zeitbegriff vor 1926 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
185
III.
191
Hauptteil: Heideggers Kantinterpretation . . . . . . . . .
13. Heideggers Versuch einer Bestimmung der Zeit im Erkennen im zweiten Hauptstück von Logik. Die Frage nach der Wahrheit . . . . . . . . . . . . . . 13.1 Die Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.2 Die Idee der phänomenologischen Chronologie und ihr Bezug zu Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . 13.3 Die Freilegung des Seinszusammenhangs des Daseins durch die Sorge . . . . . . . . . . . . . .
194 194 197 201 9
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Inhaltsverzeichnis
13.4 Die Vorbereitung der Temporalität der Sorge . . . 13.5 Die Einbettung der Kantinterpretation mit Blick auf den Zeitbegriff in der Philosophiegeschichte . . . . 13.6 Kant und die Problematik der Temporalität . . . . 13.7 Heideggers Auseinandersetzung mit der transzendentalen Ästhetik . . . . . . . . . . . . . 13.8 Die gegenseitige Angewiesenheit von Gegebensein und Gedachtwerden und das Fundament der Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . 13.9 Das Cartesianische Dogma . . . . . . . . . . . . 13.10 Die Zeit als Erkenntnisquelle . . . . . . . . . . . 13.11 Das Ergebnis der Kantauslegung in Logik. Die Frage nach der Wahrheit für die Temporalität . 14. Die Gründe Heideggers für das Aufsuchen einer Bestimmung der Zeit im Sinne des Erkennens in Kant . . 15. Die Problematik der leitenden Frage der Philosophie in Heidegger in Bezug auf die Kantauseinandersetzung . . 15.1 Sein und Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15.2 Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft . . . . . . . . . . . . . 15.2.1 Das Vorhaben der Vorlesung . . . . . . . . 15.2.2 Die Metaphysik als Ausgangslage für Kants Grundlegung derselben . . . . . . . . . . 15.2.3 Heideggers Begriff der Wissenschaft . . . . 15.2.4 Das Prinzip der Interpretation in der Vorlesung Phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft . . 15.3 Kant und das Problem der Metaphysik . . . . . . .
207 209 212 214
217 219 220 224 227 238 238 245 245 248 250
256 262
IV.
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
269
V.
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . .
277
VI. Literaturverzeichnis
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279
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Vorwort
Am Ende meines Studiums drängte sich aus einer intensiven Kantlektüre die Frage auf, was am Grunde der Problematik, Erscheinungen und Kategorien zusammen zu denken, liegt. Diese Frage führte mich zu Heideggers Kantinterpretation und mit ihr auf den entdeckungsreichen Weg dieser Forschungsarbeit. Ich stellte mir die Frage, ob Heidegger aus der Erkenntnis dieser Problematik in Kant heraus, eine neue Frage in der Philosophie stellt oder ob Heideggers Denken im Grunde genommen unabhängig dieser Wissenschaftsgeschichte steht und die Problematik im Ausgang von Kant offenlässt. Während der dreieinhalbjährigen Arbeit an der Beantwortung dieser Frage, fand ich von vielen Seiten Gesprächsbereitschaft und große Unterstützung. Mein erster herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater Prof. Dr. Hans-Helmuth Gander, ohne dessen verlässliche Begleitung, entschlossene Unterstützung und wertvollen Hinweise diese Dissertation nicht zustande gekommen wäre. Die kollegialen Doktorandenwochenenden auf der Wiesneck werden stets meine Doktorandenzeit in guter Erinnerung erscheinen lassen. Mein ausgesprochener Dank gilt der Studienstiftung des deutschen Volkes, die diese Forschung von Anfang an finanziell und ideell unterstützte. Meine Dankbarkeit möchte ich dabei vor allem auch für die Förderung der zahlreichen Tagungs- und Auslandsreisen, die ohne diese finanzielle Unterstützung nicht möglich gewesen wären, aussprechen. Besonderer Dank gilt dabei meiner Vertrauensdozentin der Studienstiftung Prof. Dr. Gisela Riescher für die offenen Gespräche und die StipendiatInnentreffen in freundlicher Runde. Zwei Forschungsaufenthalte erhellten meine Doktorandinnenzeit. Im Frühjahr 2015 verbrachte ich ein Semester an der University of Oxford unter der Betreuung von Prof. Dr. Joseph Schear, wo ich einen tiefen Einblick in die zentrale angelsächsische Forschung zu Heidegger erhielt. Der Studienstiftung des deutschen Volkes und 11 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Vorwort
dem Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds möchte ich ausdrücklich für die inhaltliche und finanzielle Förderung dieses Aufenthaltes danken. Nicht unerwähnt bleiben darf auch mein Aufenthalt von Januar bis Dezember 2016 als Visiting Fellow an der Harvard University. Danken möchte ich hier vor allem Prof. Sean Kelly, Prof. Peter Gordon und Prof. Matthew Boyle. Erneut gilt mein Dank dem Kölner Gymnasial- und Stiftungsfonds und der Studienstiftung des deutschen Volkes für die Ermöglichung dieses Aufenthaltes. Der FazitStiftung sei besonders gedankt, mich für dieses Projekt als Promotionsstipendiatin aufgenommen zu haben. Ich danke Lukas Trabert und Martin Hähnel sowie ihrem Team des Alber Verlags für die Unterstützung bei der Publikation dieses Buches. Nicht zuletzt möchte ich meinen ausdrücklichen Dank der Böhringer-Ingelheim-Stiftung aussprechen, die mich für den Druck dieser Arbeit großzügig förderte. Gedankt sei auch meiner Zweitgutachterin Prof. Dr. Lore Hühn, meinen Freunden und meiner Familie, sowie den DoktorandInnen und MitarbeiterInnen am Husserl-Archiv für die zahlreichen Gespräche während der Entstehung dieser Arbeit. Cambridge, MA, den 16. Juni 2020
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Einleitung
Niemand versucht es, eine Wissenschaft zustande zu bringen, ohne daß ihm eine Idee zum Grunde liege. Allein in der Ausarbeitung derselben entspricht das Schema, ja sogar die Definition, die er gleich zu Beginn von seiner Wissenschaft gibt, sehr selten seiner Idee; denn diese liegt, wie ein Keim, in der Vernunft, in welchem alle Teile noch sehr eingewickelt und kaum der mikroskopischen Beobachtung erkennbar, verborgen liegen. Um deswillen muß man Wissenschaften, weil sie doch alle aus dem Gesichtspunkte eines gewissen allgemeinen Interesses ausgedacht werden, nicht nach der Beschreibung, die der Urheber derselben davon gibt, sondern nach der Idee, welche man aus der natürlichen Einheit der Teile, die er zusammengebracht hat, in der Vernunft selbst gegründet findet, erklären und bestimmen. Denn da wird sich finden, daß der Urheber und oft noch seine spätesten Nachfolger um eine Idee herumirren, die sie sich selbst nicht haben deutlich machen und daher den eigentümlichen Inhalt der Artikulation (systematische Einheit) und Grenzen der Wissenschaft nicht bestimmen können. 1
So zitiert Heidegger Kant zu Beginn seiner Vorlesung Phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft und setzt dabei ein Ideal für die Auslegung der Wissenschaft: es geht darum, den Verfasser eines philosophischen Werkes »besser [zu] verstehen als er sich selbst verstand.« 2 Um ein solches Verstehen leisten zu können, muss auf die Fundamente eines Werkes eingegangen werden, welche oftmals in den Worten allein nicht ausgedrückt liegen. Es muss zu den Fragen und Prämissen vorgedrungen und so der Standpunkt des Autors ans Licht gebracht werden. Aber 45 Jahre später schreibt Heidegger im Vorwort zur vierten Auflage des Kantbuchs: »In späteren Schriften […] versuchte ich die Überdeutung Kants zurückzunehmen […].« 3 Im Lichte dieser Warnung muss es auch ein Kriterium 1 2 3
KrV, B862; GA 25, 2. GA 25, 3; hier auf Kant bezogen. GA 3, XIV.
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Einleitung
der wissenschaftlichen Auslegung sein, dem Text und der Intention treu zu bleiben, sich an dem Geschriebenen zu orientieren und Fragestellung wie Prinzip eines Werkes zu fassen. Die vorliegende Untersuchung von Heideggers Kantauslegung in Hinblick auf den Zeitbegriff Kants und seiner systematischen Rolle in der Kritik der reinen Vernunft macht sich beide Forderungen, die der Fassung des Prinzips und der Fragestellung und die der richtigen Auslegung des zugrundeliegenden Textes, zum Maßstab. Sie setzt sich zum Ziel, sowohl Kants als auch Heideggers Werk in seiner zugrundeliegenden Idee zu fassen und so das, ›was sie meinen‹ 4 zu offenbaren, auf ihr Prinzip zurückzuführen und ihre Grenzen aufzuzeigen. Die Methode dabei ist, die Schlüsse Schritt für Schritt anhand der Texte aufzuzeigen und dabei Heideggers Ideen deutlich von Kants Begriffen und Prinzipien zu trennen. Diese Methode ermöglicht es, den Zeitbegriff in seiner systematischen Rolle für die Vereinigung von Kategorien und Erscheinungen in Urteilen in Kant und so den Anknüpfungspunkt für Heideggers Kantauslegung bis zur Kehre, in den Blick zu bringen. Die Vorgehensweise dabei ist: 1. Kants Begriff der Zeit innerhalb der Systematik der Kritik der reinen Vernunft und unabhängig von Heideggers Auslegung zu untersuchen. 2. Den Zeitbegriff wie er sich bei Heidegger vor der ersten Kantauslegung entwickelt und mit dem er an Kant herantritt nachzuverfolgen. Eine Hauptfrage, die dabei geklärt wird, ist, welche Bedeutung der Zeitbegriff in Heideggers Entwicklung bis zur ersten Kantauslegung spielt. Und schließlich 3. auf diesem Boden Heideggers Kantauslegung bis zur Kehre chronologisch zu entwickeln. Parallel zu diesen drei Schritten lässt sich anhand des Zeitbegriffs 1. eine wissenschaftliche Fragestellung im Ausgang von Kant aufzeigen, die die Trennung des Apriorischen und des Aposteriorischen in Beziehung auf die Zeit betrifft. 2. Lässt sich untersuchen, ob und inwiefern Heideggers Aufmerksamkeit auf die Zeit in Kant aus dieser wissenschaftlichen Fragestellung im Ausgang von Kant herrührt oder ob sie andere Wurzeln in Heideggers unabhängiger Entwicklung hat. 3. Lässt sich Heideggers wissenschaftlicher Weg bis zur Kehre im Zusammenhang seiner Kantauslegung und die Frage nach seiner prinzipiellen Fragestellung in der Philosophie untersuchen. Insgesamt lässt sich dabei die Frage beantworten, ob Heidegger mit dem Begriff der Zeit eine wissenschaftliche Frage im Ausgang von Kant aufgreift oder nicht. 4
Vgl. GA 3, 3.
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Einleitung
Die Kantauslegung Heideggers im Lichte des Zeitbegriffs ist nicht allein in Hinblick auf die Kantforschung oder die Heideggerforschung für sich genommen interessant. Das Thema vermag die Frage zu klären, ob Heidegger die Philosophie als Wissenschaft aus Kant heraus prinzipiell weiterentwickelt oder ob Heideggers Denkweg die wissenschaftliche Frage im Ausgang von Kant unbehandelt lässt. Heideggers Aufmerksamkeit auf die Zeit in Kant, auf ihre systematische Rolle für die Kritik der reinen Vernunft, auf den Zusammenhang zwischen der transzendentalen Ästhetik mit dem Schematismuskapitel, sowie seine Anmerkungen zum Apriorischen, legen für den Leser die Vermutung nahe, dass Heideggers Interesse an der Zeit, wie es sich z. B. in Sein und Zeit äußert, in einer wissenschaftlichen Frage im Ausgang von Kant gründet. Hat Heidegger im Zeitbegriff eine Problematik in der Kritik der reinen Vernunft erkannt, die die Frage nach dem Dasein, wie Heidegger sie stellt, überkommen soll? Oder knüpft Heidegger mit seiner Auslegung des Zeitbegriffs in Kant nicht wissenschaftlich an das kantische System an, die Frage in Kant in Bezug auf das Apriorische bleibt unbehandelt und Heideggers Frage nach dem Dasein, sowie sein Interesse an der Zeit, hat, allem Anschein entgegen, gänzlich andere Wurzeln? Weder die Kantforschung noch die Heideggerforschung konnte in Bezug auf diese wissenschaftlich hochinteressanten Fragen einen Weg gewinnen. In der Kantforschung als solche wird Heidegger kaum berücksichtigt. Die grundlegende Fragestellung, die sich aus der Untersuchung des Zeitbegriffs und der Vermittlung der Kategorien mit den Erscheinungen aus dem kantischen Werk heraus ergibt, lässt sich zudem nicht einfach aus der Sekundärliteratur heraus erschließen, sondern verlangt eine philosophische Auffassung des kantischen Werkes, wie sie nur einige wenige Autoren erreichen. Ob Hegel zu diesen zählt, wird hier nicht zum Gegenstand. Die Frage ist, ob Heidegger sich bewusst wissenschaftlich an Kant wendet, anstatt an Hegel, und an dessen Zeitbegriff anknüpft, um von Kant aus die Philosophie auf einem neuen Prinzip zu fußen oder ob Heideggers Zeitbegriff und damit auch seine Fragestellung letztlich nicht eine wissenschaftliche Frage aufgreift, wie sie sich über Kant hinaus stellt. Die Heideggerforschung behandelt dessen Kantauslegung, findet sich jedoch hinsichtlich ihrer Bewertung tief gespalten: Die einen sehen in Heideggers Hinwendung zu Kant lediglich eine »Zwischen-
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Einleitung
periode« 5 oder sogar eine Verirrung; ein Anhängsel zu Sein und Zeit oder allein eine philosophiegeschichtliche Auslegung, die keinen weiteren Einfluss auf sein Denken hatte; eine gewaltsame Fehlinterpretation 6 oder schlichtweg eine unverständliche Verwirrung. Die anderen finden in Heideggers Kantinterpretation den eigentlichen Zugang zu seinem Werk oder die Vorbereitung zu Sein und Zeit; 7 eine tiefgehende Kantauffassung oder die erst verständliche Ausführung seiner Ideen; 8 die eigentliche Grundlage seiner Hauptgedanken 9 oder
Die erklärte Intension der heideggerschen Schrift Kant und das Problem der Metaphysik, die Auslegung der Kritik der reinen Vernunft zu nutzen, um die Idee der Fundamentalontologie darzustellen, wurde von der Forschung dahingehend interpretiert, dass Heidegger die Kantinterpretation dazu genutzt habe, einen im Grunde genommen fertigen Gedanken zu präsentieren. So schreibt z. B. Christian Steffen, dass Heidegger Kant als »einen echten Vorgänger des eigenen Ansatzes darstellen« wollte, vgl. hierzu Christian Steffen: Heidegger als Transzendentalphilosoph: seine Fundamentalontologie im Vergleich zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Heidelberg 2005, 70. 6 In vergleichend vorgehenden Untersuchungen, die Heideggers Interpretation im Verhältnis zur kantischen Auslegung betrachten, wird Heideggers eigenwillige und durch sein eigenes Vorhaben geprägte Auslegung zumeist als dem kantischen Werk gegenüber unangemessen und gewaltsam kritisiert. (Vgl. Christian Steffen: Heidegger als Transzendentalphilosoph: seine Fundamentalontologie im Vergleich zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Heidelberg 2005; Emerich Coreth: Heidegger und Kant. In: Johannes Lotz (Hg.): Kant und Scholastik heute. Pullach bei München 1955, 207– 256). 7 Vgl. hierzu z. B. Stephan Käufer: Heidegger’s Interpretation of Kant. In: Daniel O. Dahlstrom (Hg.): Interpreting Heidegger: Critical Essays. Cambridge 2011, 174. 8 Diese Tendenz ist vor allem in der frühen Erforschung der Kantauslegung Heideggers lebendig. Der Theologe und Philosoph Emerich Coreth analysiert bereits in den 50iger Jahren das Verhältnis von Heidegger zu Kant in der frühen Schaffensperiode mit dem erklärten Ziel Heideggers Fundamentalontologie zu erhellen. (Vgl. Emerich Coreth: Heidegger und Kant. In: Johannes Lotz (Hg.): Kant und Scholastik heute. Pullach bei München 1955, 207–256). William J. Richardson beschäftigt sich in den 60iger Jahren mit Heideggers Kantinterpretation. Er versteht diese als verständlichste Erklärung seiner frühen Philosophie und versucht ebenso über die Kantinterpretation das Vorhaben der frühen Schaffensperiode Heideggers zu verdeutlichen. (Vgl.: William J. Richardson: Heidegger. Through Phenomenology to Thought. The Hague 1962, 106). 9 Frank Schalow hebt in diesem Sinne die Zeit in der Kantauslegung in ihrer Rolle für das Seinsverständnis und die begriffliche Fassung desselben hervor: »What Heidegger saw in Kant, then, was a unique approach of time, whose explicit formulation would yield clues to the possibility of understanding being and expressing its meaning in conceptual terms.« Frank Schalow: Departures. At the Crossroads between Heidegger and Kant. Berlin/Boston 2013, 7. 5
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Einleitung
sogar das eigentliche Hauptwerk der frühen Periode. 10 Ein grundlegendes Problem für das Verständnis von Heideggers Kantauslegung in der Forschung ist, dass von Heidegger aus auf Kant zugegangen wird. So lässt sich von Beginn der Betrachtung an nicht erkennen, was sich aus Kant heraus entwickelt und was Heidegger an Kant heranträgt. Heideggers erste Kantauslegung in Logik: Die Frage nach der Wahrheit wird vom Zeitbegriff geleitet und auch in der Folge macht dieser Begriff den Schlüssel zur Kantinterpretation aus. Nun ist sich die Forschung genauso uneinig über die Bedeutung und Rolle von Heideggers Zeitbegriff wie über die Kantauslegung selbst, was die Lage für die Kantauslegung in der Literatur noch komplizierter macht. 11 Während einige Autoren in Heideggers Zeitbegriff die Otto Friedrich Bollnow und Ernst Cassirer gehören zu den Autoren, die sich bereits in den 1930iger Jahren mit Heideggers Kantinterpretation auseinandersetzten. Vgl. hierzu: Otto Friedrich Bollnow: Über Heideggers Verhältnis zu Kant. In: Neue Jahrbücher für Wissenschaft und Jugendbildung, 9, (1933), 222–231 und Ernst Cassirer: Bemerkungen zu Martin Heideggers Kantinterpretation. In: Hans Vaihinger (Hg.) Kant-Studien, Band XXXIV, Berlin 1931, 1–26. Christian Steffen veröffentlichte 2005 eine vergleichende Analyse von Kant und Heidegger in ihrem philosophischen Ansatz als Transzendentalphilosophen. Vergleiche hierzu: Christian Steffen: Heidegger als Transzendentalphilosoph: seine Fundamentalontologie im Vergleich zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Heidelberg 2005. Vergleiche außerdem: Aquino, Thiago: Metaphysik und Selbstheit bei Kant und Heidegger. München 2007. Weitere wichtige Forschungen zu Heideggers Kantauslegung sind: William Blattner: Is Heidegger a Kantian idealist? In: Inquiry, 37 (1994), 185–201; Daniel O. Dahlstrom: The ›Critique of Pure Reason‹ and Continental Philosophy: Heidegger’s Interpretation of Transcendental Imagination. In: Paul Guyer (Hg.): The Cambridge Companion to Kant’s ›Critique of Pure Reason‹. Cambridge 2010, 380–400; Ders.: Heidegger’s Kantian Turn: Notes to His Commentary on the »Kritik der reinen Vernunft«. In: Review of Metaphysics, 45 (1991), 329–361; Chad Engelland: The Phenomenological Kant: Heidegger’s Interest in Transcendental Philosophy. In: Journal of the British Society for Phenomenology, 41 (2010), 150–169; Goldman, Avery: Kant, Heidegger, and the Circularity of Transcendental Inquiry. In: Epoche. A Journal for the History of Philosophy, 15 (2010), 107–120; Han-Pile, Béatrice: Early Heidegger’s appropriation of Kant. In: Hubert L. Dreyfus et al. (Hg.): A companion to Heidegger. Malden, MA 2005, 80– 101; Käufer, Stephan: Heidegger’s interpretation of Kant. In: Daniel O. Dahlstrom (Hg.): Interpreting Heidegger: critical essays. Cambridge 2011, 174–196; Charles M. Sherover: Heidegger’s use of Kant in Being and Time. In: Charles M. Sherover (Hg.): From Kant and Royce to Heidegger. Essays in modern Philosophy. Washington D.C. 2003, 109–124; Martin Weatherston: Heidegger on Assertion and Kantian Intuition. In: The Journal of Speculative Philosophy, Bd. 5 (1991), 276–297. 11 Margot Fleischer versteht ihre Interpretation als kritischen Kontrapunkt zu den in den letzten zwei Jahrzenten überwiegenden affirmativen Arbeiten hinsichtlich Hei10
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Einleitung
eigentliche Ausführung der Daseinsstrukturen sehen, verwerfen die anderen die Zeit als insgesamt für die Frage nach dem Dasein überflüssigen Begriff. Während die einen den eigentlichen Sinn der Seins-
deggers Zeitphilosophie u. a. von Marion Heinz et al. Sie stützt ihre Analyse auf Heideggers Zeibegriff in Sein und Zeit. (Vgl. Margot Fleischer: Die Zeitanalysen in Heideggers »Sein und Zeit«. Aporien, Probleme und ein Ausblick. Würzburg 1991. Vergleiche zum kritischen Verständnis des heideggerschen Zeitbegriffs und seiner Auslegung der Zeitlichkeit außerdem: Gajo Petrovic: Sein und Zeit im Denken von Martin Heidegger. In: Synthesis philosophica 4, (1987), 279–300; Graeme Nicholson: Ekstatic temporality in Sein und Zeit. In: Joseph v. Kockelmans (Hg): A companion to Martin Heidegger’s »Being and Time«. Washington 1986, 208–226; Otto Pöggeler: Heidegger und das Problem der Zeitlichkeit. In: L’héritage de Kant. Mélanges offerts au P. M. Regnier Bibliothèque des Archives de philosophie. Nouvelle série, Nr. 34. Paris 1982, 287–307, insbesondere 293 ff. sowie ders.: Zeit und Sein bei Heidegger. In: Phänomenologische Forschungen, Bd. 14, (1983), 152–191.) Günter Figal schreibt: »Mit einigem Recht läßt sich Heideggers Verzicht auf die Veröffentlichung des dritten Abschnitts von SZ als ein Scheitern seiner frühen Zeitphilosophie interpretieren.« (Günter Figal: Martin Heidegger. Phänomenologie der Freiheit. Frankfurt a. M. 1988, 273). William Blattner äußert sich ebenfalls kritisch gegenüber Heideggers Zeitverständnis, insofern dieses einen zeitlichen Idealismus darstelle, der nicht begründbar sei. Zeit könne ohne Dasein nicht verständlich gemacht werden. (Vgl. William Blattner u. John B. Brough: Temporality. In: Hubert L. Dreyfus und Mark Wrathall (Hg.): A Companion to Phenomenology and Existentialism. Oxford 2009, 127–161). Schließlich ist C. Augustin Corti zu nennen, der von der Annahme ausgeht, dass Heidegger keine vollständige und endgültige Analyse der Zeitlichkeit geliefert habe. (Vgl. C. Augustin Corti: Zeitproblematik bei Martin Heidegger und Augustinus. Würzburg 2006, 16). Als affirmative oder teilweise affirmative Interpreten der Zeitlichkeit bei Heidegger sind dagegen Marion Heinz, Walter Biemel oder Alberto Rosales zu nennen. (Vgl. Marion Heinz: Zeitlichkeit und Temporalität im Frühwerk Martin Heideggers. Elementa Bd. 25. Amsterdam/Würzburg 1982; Walter Biemel: Le concept de Monde chez Heidegger. Louvain/Paris 1950, 119 ff. und Alberto Rosales: Transzendenz und Differenz. Ein Beitrag zur ontologischen Differenz beim frühen Heidegger. Den Haag 1970, 195 ff.). Daniel Dahlstrom argumentiert gegen Fleischers Ansatz, in dem sie zwischen ursprünglicher und eigentlicher Zeitlichkeit unterscheidet und sucht damit ihre daraus resultierende Kritik zu widerlegen. (Vgl. Daniel Dahlstrom: Heidegger’s Concept of Temporality. Reflections on a Recent Critcism. In: The Review of Metaphysics, Bd. 49, Nr. 1 (Sep. 1995), 95–115). Charles Sherover hat sich 1971 mit einem Vergleich des kantischen und heideggerschen Zeitbegriffs auseinandergesetzt und dabei auf die Entwicklung des Begriffs der Zeit in einem philosophiegeschichtlichen Kontext aufmerksam gemacht. Der Vergleich verbleibt jedoch 1971 auf einer allgemeinen Oberfläche. Die Untersuchung von Heideggers Bezugnahme auf Kant im späteren Artikel Heidegger’s Use of Kant fällt weitaus detaillierter und fruchtbarer aus. (Vgl. Charles Sherover: Heidegger, Kant and Time, Ontario 1971; sowie ders.:
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Einleitung
frage in der Zeit sehen, bewerten die anderen Heideggers Zeitverständnis als inkonsistent. 12 Die geschiedenen Auffassungen hinsichtlich der Kantauslegung Heideggers und die Uneinigkeit, die über die Rolle des Zeitbegriffs herrscht, lassen sich aus den Voraussetzungen für die Kantinterpretation und die Entwicklung des Zeitbegriffs sowie aus deren Kontext heraus erklären. Die Probleme, die sich dabei für das Verständnis der heideggerschen Kantinterpretation stellen, sollen hier umrissen werden. Heidegger wendet sich in der Vorlesung Logik: Die Frage nach der Wahrheit im Wintersemester 1925/26 erstmals einer expliziten und intensiven Kantauslegung zu. Der Plan zu betreffender Vorlesung sah jedoch noch zu Beginn der Vorlesungszeit weder eine Bezugnahme auf die Zeit noch auf Kant vor. Nach der Ausarbeitung des Vorlesungsaufbaus wurde im Laufe des Semesters der Inhalt derart abgeändert, dass letztlich gut ein Drittel der Vorlesung auf die Ausarbeitung der phänomenologischen Chronologie (und mit ihr Heideggers Zeitbegriff) sowie ein Viertel darin auf die Auslegung der Zeit in Kant entfällt. Heidegger intendiert in diesem zweiten Hauptstück der Vorlesung, in dem die Kantauslegung statthat, die Temporalität des im ersten Hauptstück erarbeiteten Wahrheitsverständnisses darzulegen und somit die Frage nach der Wahrheit erst eigentlich zu stellen. Die Idee der Temporalität soll sich dabei an dem »negativen Vorbild« in Kants Kritik der reinen Vernunft darstellen lassen. Heidegger hebt hier Kant als denjenigen in der Geschichte der Philosophie hervor, der am weitesten zur Problematik der Temporalität vorgedrungen sei. Gleichzeitig betont Heidegger, dass Kants Zeitbegriff in der Weltzeit verhaftet bleibe und sich von seinem eigenen Zeitverständnis, der Temporalität, welche zum Ausdruck kommen soll, grundsätzlich unterscheide. Das Vorhaben mutet paradox an: Charles M. Sherover: Heidegger’s Use of Kant. In: Ders. (Hg.): From Kant and Royce to Heidegger. Washington D.C. 2003, 109–124). 12 William Blattner schreibt unmissverständlich: »Heidegger’s arguments for originary temporality […] do not work.« (William D. Blattner: Heidegger’s Temporal Idealism. Cambridge 1999, 30). Blattners Argument für seine These ist, dass die Weltzeit oder alltägliche Zeit als Jetzt-Folge (»the ticking away of purely quantitative moments«) nicht aus der ursprünglichen Zeit abgeleitet oder erklärt werden kann und so die ursprüngliche Zeit auch nicht als ursprüngliche Zeit verstanden werden kann. (Vgl. William D. Blattner: Heidegger’s Temporal Idealism. Cambridge 1999, 28). Tugendhat legt dar, dass und warum die These, dass der Sinn des Seins die Zeit sei, nicht aus der Zeitlichkeit des Daseins ableitbar ist (vgl. Ernst Tugendhat: Ausätze. 1992– 2000. Frankfurt/M. 2001).
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Einleitung
das Verständnis der Zeit als Temporalität im Sinne Heideggers will er selbst durch die Interpretation eines Werkes ausdrücken, in dem dieses Verständnis dezidiert nicht enthalten ist. In diesem Sinne ist festzuhalten, dass das Verständnis der ersten Kantauslegung Heideggers bereits vor einige schwerwiegende Probleme gestellt ist: 1) Erfolgt die Kantauslegung auf der Grundlage des ersten Hauptstückes der Vorlesung, welches inhaltlich erarbeitet werden muss, um den Kontext der Interpretation fassen zu können. 2) Ist die Umarbeitung der Vorlesung einer neuen Einsicht Heideggers geschuldet, die er jedoch nicht ausspricht, und ihr Inhalt ist dementsprechend nicht aus sich selbst heraus erschließbar. Das zweite Hauptstück der Vorlesung setzt so Heideggers gesamtes bis zu diesem Zeitpunkt entwickeltes Zeitverständnis mit dem Begriff der Temporalität voraus. 3) Heidegger nimmt auf Kants Zeitverständnis Bezug, welches er bereits aus seinem eigenen Zeitverständnis heraus interpretiert. Dieser Zeitbegriff in Kant wiederum wird nun von Heidegger im Kontext von Kants gesamtem System ausgelegt. Wollen wir einen offenen Blick auf die Interpretation bekommen, müssen wir so Kants Zeitbegriff und mit ihm die Systematik der Kritik der reinen Vernunft insgesamt unabhängig von Heidegger kritisch untersuchen. Eine ernsthafte und eigentliche Untersuchung von Heideggers erster Kantauslegung, von der alle anderen ihren Ausgang nehmen, muss somit zahlreichen Voraussetzungen entsprechen. Hiermit ist jedoch die Problematik der Untersuchung der Kantauslegung Heideggers noch nicht an ein Ende gekommen. So fällt die Ausarbeitung der Kantauslegung in den Kontext von Heideggers Hauptwerk bis zur Kehre. Die erste Kantauslegung in Logik: Die Frage nach der Wahrheit, fällt in die Schaffensperiode von Sein und Zeit. Die Vorlesung Phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft aus dem Wintersemester 1927/28, in der Heidegger Kant weiter behandelt, erhellt nicht nur Grundgedanken von Sein und Zeit, sondern führt diese auch bis auf die erste Kantauseinandersetzung vor 1925 vor dem Abschluss von Sein und Zeit zurück. Kant und das Problem der Metaphysik 1936 versucht die Fragestellung von Sein und Zeit zu erhellen. Es zeigt sich hiermit an, dass Heideggers Kantauslegung in seiner gesamten Schaffensperiode von 1925 bis 1936 untrennbar mit seinem eigenen Schaffen verbunden ist und sich die Werke dieser Zeit gegenseitig durchdringen. Die Deutung der Kantauslegung Heideggers muss sich damit auf eine breite Textgrundlage stützen und dabei im Detail die einzelnen Stränge der 20 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Einleitung
durch Kant aufgegriffenen Ideen und der in Kant hineingelegten Ideen entwirren. Die nächste Problematik wurde oben bereits angesprochen und bezieht sich auf den inhaltlichen Kern der Kantinterpretation: das heideggersche Zeitverständnis. Heidegger wendet sich dezidiert an Kant, um sein Zeitverständnis im Sinne der Temporalität durch die Auslegung der Kritik der reinen Vernunft zum Ausdruck zu bringen. Die Vorlesung Logik: Die Frage nach der Wahrheit beinhaltet aber zwar die erste ausführliche Kantauseinandersetzung, der Begriff der Zeit jedoch, mit dem Heidegger an Kant herantritt, hat zu diesem Zeitpunkt bereits eine weitreichende Geschichte in Heideggers Entwicklung. Heidegger hat also schon eine Vorstellung von der Bedeutung dessen, was hier unter dem Begriff der Zeit zum Ausdruck kommen soll, bevor Kant überhaupt ausführlich wissenschaftlich thematisch wird. In der Forschung wird der Begriff der Zeit oft isoliert herausgegriffen und in seiner inhaltlichen Konsistenz untersucht, mit dem traditionellen Zeitverständnis der »Jetzt-Zeit« verglichen oder in direkten Kontrast mit dem Zeitbegriff Kants gestellt. Heideggers Zeitverständnis lässt sich jedoch nicht fassen, wenn wir es isoliert von der Entwicklung seines Denkens und der Auslegung der Daseinstrukturen, welche die Zeitlichkeit in ihrem Grunde erst zum Ausdruck bringen, sowie der Rolle für die Daseinsstrukturen analysieren. In diesem Sinne muss Heideggers Zeitverständnis eigens erarbeitet werden, was wiederum nur in Zusammenhang mit der inhaltlichen Entwicklung derjenigen Werke, in denen die Zeit thematisch wird, möglich ist. Heideggers Zeitverständnis ist dabei von einem Verständnis der Daseinsstrukturen, der Geschichtlichkeit, des Vorlaufens in den Tod, dem Verhältnis zur Ewigkeit und vielen weiteren Zusammenhängen abhängig. Vor allem aber muss beantwortet werden, warum und in welchem Sinne die Zeit für Heidegger zu einem für die Philosophie zentralen Begriff wird. Die Untersuchung der frühen Kantauslegung Heideggers ist damit auf eine umfassende Erarbeitung seines Zeitverständnisses, mit dem er an die Kantauslegung herantritt, angewiesen. Zuletzt stellt sich die Problematik von Heideggers Kantauslegung selbst. Heideggers Interpretation der Kritik der reinen Vernunft basiert nicht allein auf der Lektüre des Textes und entwickelt auf dieser Grundlage offene Punkte oder eine Kritik. Vielmehr wendet sich Heidegger mit einer Intention an Kant, eine Intention, die sich spezifisch auf seinen Zeitbegriff bezieht und die sich sowohl aus 21 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Einleitung
Kant als auch aus Heideggers eigenem Denkweg speist. Die Schwierigkeit, der wir uns als Leser stellen müssen und für die diese Arbeit ein Licht im Dunkeln sein soll, ist, dass die Stränge, die in Heideggers Denkweg wurzeln und die Stränge, die ihren Boden in Kants System haben, verworren bleiben bis zu dem Grad, dass Heidegger selbst die leitende Frage seiner Untersuchung undurchsichtig wird. Zum einen bewegen wir uns auf Kants erkenntnistheoretischer Prämisse und fragen von hier aus nach der Konstitution der Erkenntnis oder der Philosophie als Wissenschaft, zum anderen bewegen wir uns auf Heideggers Prämisse des Daseins als Gegenstand der Philosophie und fragen von hier aus, was für die Philosophie eigentlich in Frage steht. Um uns nicht blind in Heideggers Kantauslegung zu verlieren, müssen wir jeden Aspekt auf seine leitende Frage zurückführen. Dazu wird in dieser Arbeit zunächst Kants Kritik der reinen Vernunft eigens behandelt, sodann die Genesis von Heideggers Zeitverständnis untersucht, um in einem dritten Schritt vor diesem Hintergrund beurteilen zu können, wie das Verhältnis von Kant und Heidegger zu bestimmen ist und was die Kantauslegung für Heideggers Zeitverständnis bedeutet. Um eine sachliche Beurteilung von Heideggers Kantauslegung zu schaffen, wird demnach im ersten Hauptteil dieser Arbeit das kantische System in der Kritik der reinen Vernunft anhand des Zeitbegriffs gänzlich unabhängig von Heideggers Interpretation in den Blick gebracht. Aus dieser Interpretation wird einzig die Orientierung am Zeitbegriff übernommen, um so eine Vergleichsgrundlage für die spätere Untersuchung von Heideggers Kantauslegung zu gewinnen und so fragen zu können, ob Heidegger in seiner Aufmerksamkeit auf die systematische Rolle der Zeit in Kant eine Problematik offenlegt, die ihn zu einem neuen Zeitverständnis und mit ihm zu einer neuen Fragestellung in der Philosophie führt. Die Untersuchung der systematischen Rolle der Zeit in der Kritik der reinen Vernunft schreitet sukzessiv von der transzendentalen Ästhetik über eine Darlegung des transzendentalen Selbstbewusstseins im Unterschied zum empirischen Selbstbewusstsein, hin zum Schematismuskapitel und der Analytik der Grundsätze im Ganzen. Im Hinblick auf die transzendentale Ästhetik wird die Zeit als Form der Anschauung im Verhältnis zur Erscheinung thematisch. Die Erläuterung des transzendentalen Selbstbewusstseins trägt ihre Bedeutung in der nachfolgenden Aufklärung der Rolle der Zeit für die Objektivität in Urteilen und innerhalb der Konstitution der Erkenntnis. Die Untersuchung der 22 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Einleitung
Rolle der Zeit in der Analytik der Grundsätze macht das Herzstück der Kantanalyse aus, in dem die transzendentalen Zeitbestimmungen als Schematen, welche die reinen Verstandesbegriffe in den synthetischen Urteilen a priori mit den Erscheinungen vermitteln sollen und hierdurch die Einheit in den Urteilen erst ermöglichen, einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. Dabei wird kritisch gefragt, ob die Kausalität nicht mit durch die reelle Folge konstituiert wird. Die Behauptung der Zeit a priori wird in diesem Zusammenhang ebenfalls untersucht und in Frage gestellt. In einem abschließenden Kapitel werden die Ergebnisse der kritischen Betrachtung der Kritik der reinen Vernunft anhand des Zeitbegriffs vorgestellt. Die kritische Untersuchung des kantischen Systems in seinem eigenen Recht insgesamt bildet den Kontrastpunkt zu Heideggers Kantauslegung, an dem diese ihre Intention, Inhalt und Relevanz offenbaren wird. Im zweiten Hauptteil wird ausgehend vom ersten Hauptstück der Vorlesung Logik: Die Frage nach der Wahrheit rückschreitend Heideggers Zeitverständnis, wie es den Ausgangspunkt für seine erste Kantinterpretation bildet und für diese vorausgesetzt wird, erarbeitet. Die chronologisch umgekehrte Reihenfolge der Werke Heideggers, die die Zeit zum Gegenstand haben, ergibt sich in der Untersuchung daraus, dass wir uns ausgehend von Logik: Die Frage nach der Wahrheit, in welchem Werk die Zeit erstmals im Kontext von Kant thematisch wird, das hier vorausgesetzte Zeitverständnis Heideggers erarbeiten und rückschreitend alle offenen Fragen diesbezüglich klären. Die Untersuchung verfolgt so Heideggers Zeitverständnis von Logik: Die Frage nach der Wahrheit ausgehend zurück über den Vortrag und die Abhandlung mit dem gleichnamigen Titel Der Begriff der Zeit aus dem Jahre 1924 zu Heideggers frühester Schaffensperiode von 1919–1924. Hierbei hält sich die Untersuchung natürlicherweise nicht allein an Heideggers Zeitbegriff fest, sondern bringt jeweils die Hauptintention der Werke in den Blick, insofern sich Heideggers Zeitverständnis jeweils aus der gesamten inhaltlichen Darlegung entwickelt. Im dritten Hauptteil wird Heideggers Kantinterpretation ausgehend von ihrer Fokussierung auf den Zeitbegriff im zweiten Hauptstück von Logik: Die Frage nach der Wahrheit behandelt. Auf die Untersuchung dieses Werkes entfällt ein Großteil des dritten Hauptteils, da sich hier die implizite Intention der Kantauslegung, ihre inhaltliche Relevanz, sowie die Grenzen, die sie in Heideggers Denken aufzeigt, festlegen lassen. Anschließend an die Untersuchung 23 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Einleitung
der ersten Kantauslegung wird diese in einem eigenen Kapitel im Verhältnis zu Kants System, zur Entwicklung des Begriffs der Temporalität und zu den leitenden Fragen und Prinzipien von Heideggers Denken reflektiert. Dabei werden zugleich die Prämissen der Kantauslegung offenbar. Im letzten Kapitel des dritten Hauptteils wird in den nachfolgenden Werken, in denen die Kantinterpretation tragend entwickelt ist bis zur Kehre, das Prinzip der Kantauslegung für Heidegger in seinem Wandel und seinen Auswirkungen auf Heideggers Denken weiterverfolgt. In einem Schlussteil wird das Ergebnis der Untersuchung hinsichtlich der leitenden Fragen zusammengefasst. Diese sind: 1. Wie ist Heideggers frühe Kantauslegung anhand der Zeit in der Kritik der reinen Vernunft zu beurteilen und was verrät sie uns über den Inhalt und die Grenzen von Heideggers Zeitverständnis sowie seiner Leitfrage nach dem Sein des Daseins? 2. Greift die Heideggersche Interpretation eine wissenschaftliche Problematik im Ausgang Kants auf und lässt sich die Interpretation systematisch an Kant anbringen? Insgesamt leistet die Untersuchung eine lang erforderte Kritik der frühen Kantauslegung Heideggers im Kontext seiner Schaffensperiode bis zur Kehre und legt so ein Fundament für die weitere Beurteilung des philosophiegeschichtlichen Anschlusses an Kant auf der einen Seite und die Möglichkeiten und Grenzen von Heideggers leitender Frage nach dem Sein des Daseins auf der anderen Seite.
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I. Hauptteil: Die Zeit in Kant
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Die Zeit in Kant
Die folgende Untersuchung zu Immanuel Kants Zeitbegriff soll die systematische Rolle der Zeit in der Kritik der reinen Vernunft zum Vorschein bringen. Die Auseinandersetzung kommt damit Heideggers Aufforderung nach, die Zeit nicht abgetrennt in den einzelnen Teilen der Kritik der reinen Vernunft, in denen sie jeweils eine andere Funktion übernimmt, zum Gegenstand zu machen, sondern sie als einen Begriff in ihrer Rolle für das System zu erfassen. 13 Die Untersuchung stützt sich dabei jedoch entschiedener Weise nicht auf die heideggersche Kantinterpretation, sondern analysiert das kantische System selbst unabhängig von Heidegger in Hinblick auf den Zeitbegriff und welche Rolle dieser immanent im inhaltlichen Aufbau der Kritik der reinen Vernunft spielt. Dieses Vorgehen ergibt sich, wie in der Einleitung bereits dargelegt, daraus, dass Heidegger ein anderes Zeitverständnis hat als Kant und mit diesem Zeitverständnis von Anfang an eine Intention in die Kantinterpretation hineinträgt. Daher hätten wir ohne eine vorhergehende Analyse der systematischen Rolle der Zeit in der Kritik der reinen Vernunft und der Auswirkungen dieser auf das kantische System keine Grundlage für die Beurteilung der Heideggerschen Interpretation, weder hinsichtlich der Frage, ob sie Kant abschließend kritisch erfasst noch hinsichtlich der Frage, welche Rolle die Kantinterpretation für Heideggers Werk spielt. Diesem Vorgehen ist es nun geschuldet, dass wir zunächst Kants erkenntnistheoretische Fragestellung vorgehen lassen und aus ihr heraus die offenen Fraglichkeiten und Problemstellungen, die sich aus ihr ergeben, entwickeln. Diese Problemstellungen, soviel sei hier bereits vorgegriffen, greift Heidegger nicht als aus dem kantischen System hervorgehende auf, aber sie sind implizit in seinem eigenen Ansatz enthalten. Dass Heidegger nun nicht dieselbe Frage stellt wie Kant und die Problemstellung, wie sie in diesem ersten Hauptteil auf Grundlage des kantischen Systems allein herausgestellt wird, nicht aus Kant heraus entwickelt, macht die unabhängige Untersuchung der Kritik der reinen Vernunft keineswegs überflüssig, insofern das Verstehen Kants im Sinne Kants in Heideggers Auslegung enthalten ist und überall da mitschwingt, wo Heidegger sucht, seine eigene Fragestellung an Kants Werk auszulegen und zu verdeutlichen. Die nachfolgende systematische Untersuchung der Zeit in der Kritik der reinen Vernunft baut auf die Frage nach der Zeit im Verhältnis zum Apriorischen und zum Inhalt der Anschauung auf. Es soll 13
Vgl. GA 21, 271 f.
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Die Zeit in Kant
herausgestellt werden, inwiefern die Zeit – und exemplarisch unter den Kategorien die Kausalität – von dem Inhalt der Anschauung derart bestimmt wird, dass die Anschauung mitkonstituierend für die Zeit und damit für die Objektivität der Kausalität ist – eine Kritik, die sich aus der vorliegenden Analyse des kantischen Systems ergibt. Dabei wird deutlich werden, dass die Zeit eine Schlüsselrolle für die Anwendung der Kategorien auf die Erscheinung bildet. Es zeigt sich damit, dass die Zeit tatsächlich ein Schlüsselbegriff in Kants System ist und dieses anhand des Zeitbegriffs kritisch in den Blick gebracht werden kann. Ob und in welchem Sinne Heideggers Kantinterpretation auf diese Rolle der Zeit in Kant Bezug nimmt, werden wir in den auf diesen ersten Hauptteil folgenden Teilen untersuchen.
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1. Die Zeit in der transzendentalen Ästhetik
Die erste Stelle der Kritik der reinen Vernunft, in der Kant die Zeit behandelt, ist die Transzendentale Ästhetik, in der die Zeit als Form der Anschauung neben dem Raum eingeführt wird. Bereits hier können wir feststellen, dass die Zeit – hier noch in Parallelität zum Raum – eine schlüsselhafte Stellung zwischen Erscheinung und Gemüt einnimmt 14: Der Gegenstand affiziert das Gemüt durch die Empfindung, nur durch die Form der Anschauung (Raum und Zeit) jedoch wird die Empfindung, die einmal äußerlich war, im Gemüt (d. h. innerlich) angeschaut: »die reine Form sinnlicher Anschauungen [wird] überhaupt im Gemüte a priori angetroffen werden, worinnen alles Mannigfaltige der Erscheinungen in gewissen Verhältnissen angeschaut wird.« 15 Die Form der Anschauung ermöglicht es hiermit, dass das, was einmal von außen in uns kam, auch innerlich in formalen Verhältnissen anschaut wird. Diese einfache Bemerkung zu Beginn der Lektüre trägt bedeutende Konsequenzen für die Frage nach der Verknüpfung des ›rein inneren Vermögens‹, des Verstandes, mit der Erscheinung, die von ›außen‹ kommt und unser Gemüt, welches innerlich ist, affiziert. Wie lässt sich in diesem Zusammenhang der transzendentalen Ästhetik die Rolle der Zeit als Form der Anschauung verstehen und welche Fragen ergeben sich auf dieser Grundlage? Kant erklärt zu Beginn der transzendentalen Ästhetik, dass der Verstand sich nur mittels der Anschauung auf Gegenstände zu beziehen vermag. 16 Die Anschauung wiederum findet nur statt, sofern Gegenstände das Gemüt affizieren, d. h. durch die Sinnlichkeit oder Rezeptionsfähigkeit.
Kant schreibt: »Diese [die Anschauung] findet aber nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum […] nur dadurch möglich, daß er das Gemüt auf gewisse Weise affiziere.« (KrV, B33). 15 KrV, B35. 16 Vgl. KrV, B33. 14
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Die Zeit in Kant
Wenn ein Gegenstand nun qua Sinnlichkeit das Gemüt affiziert, so heißt dies Empfindung und die Anschauung, die darauf hin zustande kommt, empirisch. Kant bestimmt den »unbestimmte[n] Gegenstand einer empirischen Anschauung« 17 als Erscheinung. Die Erscheinung konstituiert sich durch die Materie, welche der Empfindung korrespondiert, und durch die Form der Erscheinung. Die Form der Erscheinung bestimmt Kant als das, wodurch das »Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann«. 18 Über die Form der Erscheinung sagt Kant, dass sie »insgesamt im Gemüte a priori bereitliegen« 19 muss. Die Erscheinung als das, was den unbestimmten Gegenstand einer empirischen Anschauung und damit der Sinnlichkeit ausmacht, trägt somit selbst etwas in sich, das nicht der Empfindung, d. h. den sinnlichen Daten, zugehört. Der erstaunliche Punkt, auf den aufmerksam zu machen ist, ist also, dass wir etwas im unbestimmten Gegenstand der empirischen Anschauung, d. h. im Sinnlichen, auffinden, dass selbst nicht sinnlich ist, d. h. nicht in den sinnlichen Daten als solchen vorkommt. Dieses nichtsinnliche Sinnliche nun liegt nirgendwo anders als im Gemüt selbst: Da das worinnen sich die Empfindungen allein ordnen, und in gewisse Form gestellt werden können, nicht selbst wiederum Empfindung sein kann, so ist uns zwar die Materie aller Erscheinung nur a posteriori gegeben, die Form derselben aber muß zu ihnen insgesamt im Gemüte a priori bereitliegen, und daher abgesondert von aller Empfindung können betrachtet werden. 20
Wir können daraus schließen, dass die Form der Erscheinung, die der Erscheinung zugehört, nicht in der Erscheinung ist, sondern im Gemüt. Daraus würde nun konsequenterweise folgen, dass das Gemüt entweder auf gewisse Weise erscheinungshaft ist oder aber die Erscheinung ›gemüthaft‹. Zu dieser Konsequenz schreitet Kant jedoch nicht fort. Was für und in Kant dennoch deutlich wird, ist, dass die Form der Erscheinung sowohl das umfassen soll, was dem Gemüt durch Rezeptivität gegeben wird (da die Form der Erscheinung der Erscheinung angehört) als auch etwas ausmachen soll, das im Gemüt a priori bereitliegt. Kants transzendentale Elementarlehre bestimmt nun die Formen der Erscheinung in Absonderung von allem, das aus der Emp17 18 19 20
KrV, B34. KrV, B34. KrV, B34. KrV, B34.
30 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Die Zeit in der transzendentalen Ästhetik
findung stammt, als reine Formen der Sinnlichkeit. Die reinen Formen der Sinnlichkeit (oder Anschauung) werden, indem alles, was der Empfindung zugehört, abgesondert wird, im Gemüte angetroffen und machen wie bereits eingeleitet, Kant zufolge das aus, »worinnen alles Mannigfaltige der Erscheinungen in gewissen Verhältnissen angeschaut wird«. 21 Die transzendentale Ästhetik geht so vor, dass zunächst alles, was der Verstand leistet, aus der Erkenntnis abgesondert wird, sodass nur die Sinnlichkeit übrigbleibt, um sodann alles, was aus der Empfindung stammt, abzutrennen. 22 Was dabei etabliert werden soll ist Sinnlichkeit a priori, 23 was soviel bedeutet wie das, was unabhängig vom Materiellen, allgemein dem rezeptiven Vermögen und damit dem Gemüt zukommt. Es ist festzuhalten, dass die reine Form der Anschauung also durch eine Abstraktion, nämlich einer Absonderung aller aus Empfindung gewonnenen Erkenntnis, etabliert wird und als solche im Gemüte vorfindlich ist. Das bisher Dargelegte gilt sowohl für den Raum als auch für die Zeit: Die reinen Formen sinnlicher Anschauung als Prinzipien der Erkenntnis a priori sind Zeit und Raum. Welche Rolle aber kommt der Zeit in Abgrenzung vom Raum spezifisch zu? Obwohl die Zeit in der transzendentalen Ästhetik in Parallelität zum Raume behandelt wird, kündigt sich die ausgezeichnete Rolle der Zeit im Hinblick auf das System, spezifischer der Vereinigung der Kategorien mit der Erscheinung, bereits an: Während der Raum die Bedingung a priori aller äußeren Erscheinungen ist und nur die Form äußerer Anschauungen darstellt, ist die Zeit die »formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt«. 24 Dass die Zeit also die Form aller Anschauungen überhaupt ausmacht, liegt darin begründet, dass sie die Form des inneren Zustandes der Seele 25 ist und die inneren Bestimmungen in Verhältnissen der Zeit vorgestellt werden. Weil die Zeit die unmittelbare Bedingung der inneren Erscheinungen (Vorstellungen) ist und äußere Erscheinungen zugleich innere Erscheinungen sind, ist
KrV, B34. KrV, B36. 23 Vgl. KrV, B36. 24 KrV, B50. 25 Hier schreibt Kant, die Zeit sei »eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt, und zwar die unmittelbare Bedingung der inneren [Erscheinungen] (unserer Seele) und eben dadurch mittelbar auch der äußeren Erscheinungen.« (KrV, B50). 21 22
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Die Zeit in Kant
die Zeit mittelbar auch Bedingung der äußeren Erscheinungen. 26 Es erhellt daraus, dass eine zentrale vereinigende Funktion der Erscheinungen mit den Kategorien als Verstandesbegriffe, die innerlich sind, nur der Zeit zugeschrieben werden kann und nicht dem Raum, der die Erscheinungen des inneren Sinnes nicht bedingt. 27 Wenden wir uns hiermit Kants spezifischer Erläuterung des Zeitbegriffs als a priori Form der Anschauung in der transzendentalen Ästhetik zu. Diese finden wir unter dem Titel Metaphysische Erörterung des Begriffs der Zeit (§ 4). Es wird hier als Theorie 28 eingeführt, dass die Zeit kein empirischer Begriff ist, der auf der Grundlage von Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen, also aus der Erfahrung, zustande kommt. 29 Vielmehr kommen Zugleichsein und Aufeinanderfolgen nur dadurch in die Wahrnehmung, dass die Zeit a priori zu Grunde liegt. 30 Kant behauptet demzufolge, dass die Zeit ohne Empfindung, d. h. ohne Materie, vorgestellt werden kann. Er führt in der Folge Argumente dafür an, dass die Zeit eine reine sinnliche Form ist: Erstens konstatiert er, dass alle Erscheinungen aus der Zeit wegfallen könnten, während die Zeit selbst nicht aufgehoben wird. Diese Behauptung bezieht sich darauf, dass jede besondere Erscheinung »weggedacht« werden kann, während nichts ohne Zeit gedacht werden kann, auch wenn das Denken auf Erscheinung angewieKrV, Vgl. B50. Oftmals wird die Tatsache, dass Kant den Raum vor der Zeit behandelt und die metaphysische Erörterung des Begriffs der Zeit an den des Raumes anschließt als Priorität des Raumbegriffs gedeutet. Diese Auffassung kritisiert etwa Heidegger an Hegel. Entgegen der These der Priorität des Raumes kann, neben der Schlüsselrolle der Zeit für das kantische System durch ihre »Funktion« in der transzendentalen Analytik, vorgebracht werden, dass die nachfolgende Erörterung des Begriffs der Zeit in der transzendentalen Ästhetik, durch die »Schlüsse aus diesen Begriffen« (KrV, B49) begründet ist, d. h. der Folgerung, dass die Zeit alle Erscheinungen bedingt. 28 Der Begriff der Theorie ist dem Beginn des Paragraphs 7 entnommen (vgl. KrV, B53). 29 Vgl. KrV, B46. 30 Wie in der Untersuchung der Analytik der Grundsätze deutlich werden wird, ist die Zeit selbst die Beharrlichkeit. Kant schreibt: »Die drei Modi der Zeit sind Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein.« (KrV, B219). In der Folge heißt es: »[…] das Beharrliche ist das Substratum der empirischen Vorstellung der Zeit selbst, an welchem alle Zeitbestimmung allein möglich ist. Die Beharrlichkeit drückt überhaupt die Zeit, als das beständige Korrelatum alles Daseins der Erscheinungen, alles Wechsels und aller Begleitung, aus. Denn der Wechsel trifft die Zeit selbst nicht, sondern nur die Erscheinungen in der Zeit, (so wie das Zugleichsein nicht ein Modus der Zeit selbst ist, als in welcher gar keine Teile zugleich, sondern alle nacheinander sind).« (KrV, B226). 26 27
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Die Zeit in der transzendentalen Ästhetik
sen ist und diese wiederum zeitlich angeschaut wird. Ob die Zeit tatsächlich vorgestellt werden kann, wenn ich »die Erscheinungen aus der Zeit« 31 nehme, ist einer weiteren Diskussion würdig und wird in Kapitel 4.5 und 4.6 thematisiert. Kants zweites Argument geht aus den apodiktischen Grundsätzen von den Verhältnissen der Zeit hervor. 32 Die Zeit kann diesen zufolge nicht aus der Erfahrung gezogen worden sein, da sie Axiome in sich begreift, die streng allgemein und apodiktisch gewiss sind. Kant behauptet demnach, dass die strenge Allgemeinheit und die Tatsache, dass Erfahrung insgesamt nur möglich ist, weil Zeiten nacheinander und nicht zugleich sind, darauf schließen lassen, dass die Zeit selbst nicht aus der Erfahrung gezogen werden kann, in welchem Falle sie eine bloße Beobachtung wäre, was ihrem Begriff widerspräche. Dieses zweite Argument wird in Kapitel 4.6 diskutiert. Kant konkludiert seine Ausführung zum Zeitbegriff in der transzendentalen Ästhetik mit der Darlegung, dass die Zeit allein empirische Realität 33 hat, wogegen ihr absolute oder transzendentale Realität nicht zugestanden werden kann. Kant erläutert dies, indem er darstellt, dass man fälschlicherweise und gängigerweise zwischen der Empfindung und der Form der Empfindung unterscheidet. Man spricht dabei der Form der Empfindung aufgrund ihrer Allgemeinheit, in dem Sinne, dass sie jedem menschlichen Sinn zukommt und der Anschauung wesentlich anhängt, zu, dass sie einen Gegenstand an sich selbst vorstellt. Diese Unterscheidung hat, wie Kant ausführt, keine transzendentale Gültigkeit, da, wenn wir darauf Bezug nehmen, auf welche Gegenstände sich die Form der Anschauung bezieht, wir feststellen müssen, dass sie insgesamt auf die Erscheinung beschränkt ist. 34 Der Zeit kommt damit nach Kant nur empirische Realität zu, während die Erkenntnis der Zeit a priori ist und transzendenKrV, B46. KrV, B47. Auf die Konstitution dieser Grundsätze wird in Kapitel 4.4 dieser Arbeit näher eingegangen. 33 Vgl. KrV, B52 (in Anbetracht der transzendentalen Idealität derselben). 34 Hierauf beruht Kants Urteil, dass wir durch empirische Anschauung immer nur die Erscheinung, nicht aber Gegenstände an sich selbst erkennen (vgl. KrV, B60). Dies bedeutet jedoch keinesfalls, dass die Erscheinung bloßer Schein sei (vgl. KrV, B70Fn.). Die Erscheinung wird als etwas wirklich Gegebenes verstanden; die Unterscheidung zwischen Gegenstand an sich selbst und Erscheinung erfolgt auf der Grundlage dessen, dass die Beschaffenheit, die wir durch Sinnlichkeit wahrnehmen, »von der Anschauungsart des Subjekts in der Relation des gegebenen Gegenstandes zu ihm abhängt« (KrV, B69) und dies vom Objekt an sich unterschieden wird. 31 32
33 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Die Zeit in Kant
tal erschlossen wird. Es kommt damit für Kant ganz darauf an, dass die Zeit a priori, d. h. unabhängig der Empfindung, vorstellig gemacht werden kann, um Sinnlichkeit oder Anschauung a priori unabhängig der Empfindung, d. h. des materiellen Inhaltes, zu behaupten.
34 https://doi.org/10.5771/9783495997796
2. Das A priori der Formen der Sinnlichkeit
Es stellt sich auf Grundlage dieser Auslegung die Frage, welche Bedeutung es für das kantische System trägt, dass die Zeit als Form der Sinnlichkeit a priori ist. Um diese Frage zu beantworten, müssen wir einen Schritt zurückgehen und uns die Prämissen seines Systems vergegenwärtigen. Kant leitet die Kritik der reinen Vernunft damit ein, dass seine Untersuchung auf die Möglichkeit und den Umfang von synthetischer Erkenntnis a priori hinaus ist. 35 Es geht Kant in Bezug auf die Möglichkeit von Erkenntnis a priori darum, dass es Erkenntnisse gibt, die davon unabhängig sind, was uns durch unsere Sinne durch Empfindung gegeben wird und wir als solche erfahren. Diese Erfahrung steht zu unserem Denken in einem solchen Verhältnis, dass keinerlei Notwendigkeit aus ihr herfließt, wenn wir von der Feststellung der Empfindung aus ein Urteil abgeben. So können wir z. B. sagen, dieser Planet, den ich sehe, hat zwei Henkel. Die Gültigkeit dieses Urteils hängt von der Sinnlichkeit ab und muss in dieser Abhängigkeit verstanden werden. In Bezug auf das Denken hat das Urteil nur Objektivität, insofern der Erscheinung insgesamt, als Gegenstand der Sinne, Objektivität zukommt. Da die Empfindung selbst, also die Tatsache, dass ich z. B. dieses Ding so sehe und nicht anders, keine Notwendigkeit hat, so liegt in dem Urteil, dass der Planet zwei Henkel hat, keine Notwendigkeit. Notwendigkeit kann nur auf der Grundlage des Denkens selbst gedacht werden oder, anders ausgedrückt, in Urteilen, die nicht auf sinnliche Eindrücke gehen. Das Apriori bezeichnet nun diese Unabhängigkeit von sinnlichen Eindrücken in der Erkenntnis, auf der alle Notwendigkeit basiert, und solche Erkenntnis wird in der Kritik der reinen Vernunft untersucht. Bei dieser Untersuchung setzt Kant als Selbstverständlichkeit Vgl. KrV, B2, B24 f. Diese Untersuchung erfolgt selbstverständlich unter der leitenden Frage der Beantwortbarkeit der Fragen nach Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Gott.
35
35 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Die Zeit in Kant
voraus, dass Erkenntnis mit Erfahrung anhebt und ohne Gegenstände, die die Sinne rühren, das Erkenntnisvermögen nicht zur Ausübung geweckt werden könnte. 36 Wenn nun alle Erkenntnis demnach mit Erfahrung durch die Sinne anhebt, die Empfindung es jedoch ist, die als aposteriorisches Element der Erkenntnis der Notwendigkeit entbehrt, so muss es, wenn es Erkenntnis a priori geben soll, etwas in der Erfahrung geben, das nicht aus den Eindrücken der Sinne herstammt, sondern aus unserem Erkenntnisvermögen selbst. Kant schreibt: Wenn aber gleich alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht eben alle aus der Erfahrung. Denn es könnte wohl sein, daß selbst unsere Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus dem sei, was wir durch Eindrücke empfangen, und dem, was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergibt […]. 37
Nun setzt Kant, wie sein berühmter Satz »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« 38 pointiert, als selbstverständlich voraus, dass jede Erkenntnis nur durch Anschauung (Sinnlichkeit) und Denken zustande kommen kann. Kant erläutert, dass unsere gesamte Erkenntnis aus zwei Grundquellen des Gemüts entspringt: Zum einen der Rezeptivität (der Eindrücke), d. h. das Vermögen Vorstellungen zu empfangen, wodurch uns ein Gegenstand gegeben wird; zum anderen der Spontanität (der Begriffe), d. h. das Vermögen Gegenstände zu erkennen, wodurch wir den Gegenstand in Bezug auf die gegebene Vorstellung denken. 39 Wenn beide Stämme der Erkenntnis notwendig gemeinsam jedwede Erkenntnis konstituieren, so muss es also nunmehr, wenn es Erkenntnis a priori geben soll, ein Element in der Anschauung (Sinnlichkeit) geben, das unabhängig der Empfindung ist. Dieses Element der Sinnlichkeit, das a priori ist, ist, wie bekannt, die Form der Sinnlichkeit, welche wiederum in den äußeren Sinn (Raum) und den inneren Sinn (Zeit) zerfällt. Es stellt sich für uns nun die Frage, was die hervorgehobene Rolle der Zeit in der Folge für das kantische System bedeutet und welche Konsequenz die Apriorizität der Zeit sowie die Bestimmung der Zeit als innerer Sinn trägt. 36 37 38 39
KrV, B1. KrV, B1. KrV, B75. Vgl. KrV, B74.
36 https://doi.org/10.5771/9783495997796
3. Das Selbstbewusstsein
Um die Zeit im kantischen System zu verankern und ihr Verhältnis zum apriorischen Vermögen des Verstandes offen zu legen, ist es nötig auf das seinem System zugrundeliegende Prinzip einzugehen, welches alle Erkenntnis der Erfahrung erst möglich macht. Dieses Prinzip ist das transzendentale Selbstbewusstsein, das den Verstand a priori begründet und die Bedingung dafür ist, die formale Konstitution des Bewusstseins erklären zu können. So kann das Bewusstsein als durch den reinen Verstand bedingt und das Mannigfaltige der Anschauung vermittelt durch die Zeit beinhaltend thematisiert werden. Das Verhältnis des reinen Verstandes zu der reinen Anschauung, Zeit, wird dadurch ans Licht treten. Die Zeit spielt eine wesentliche Rolle für die Konstitution des Bewusstseins und steht in einem wichtigen und bestimmten Verhältnis zur synthetischen Einheit der Apperzeption. Einen ersten Hinweis darauf finden wir schon in der Anmerkung II zur transzendentalen Ästhetik, bevor Kant in der transzendentalen Logik die Kategorien und deren Deduktion behandelt. Wenden wir uns daher zunächst der zweiten Anmerkung zur transzendentalen Ästhetik zu. Hier erläutert Kant zur Bestätigung der transzendentalen Idealität der Zeit, dass durch Raum und Zeit nur Verhältnisse vorgestellt werden, Verhältnisse jedoch niemals das bestimmen können, was eine Sache an sich selbst ist. Was bestimmt werden kann, sind also nur die Verhältnisse der Gegenstände in der Vorstellung des Subjekts, nicht aber das, was der Gegenstand an sich ist. Für die Zeit gilt diese Idealität genauso wie für den Raum, erklärt Kant. Die Zeit enthält als Form Verhältnisse, namentlich das Nacheinander, das Zugleichsein und das, was mit dem Nacheinander zugleich ist. 40 Kant erläutert:
40
Vgl. KrV, B67.
37 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Die Zeit in Kant
Nun ist das, was als Vorstellung, vor aller Handlung irgend etwas zu denken, vorhergehen kann, die Anschauung, und, wenn sie nichts als Verhältnisse enthält, die Form der Anschauung, welche, da sie nichts vorstellt, außer sofern etwas im Gemüte gesetzt wird, nichts anderes sein kann, als die Art, wie das Gemüt durch eigene Tätigkeit, nämlich dieses Setzen ihrer Vorstellung, mithin durch sich selbst affiziert wird, d. i. ein innerer Sinn seiner Form nach. 41
Durch das Setzen der Anschauung in ihrer Form (Selbstaffektion) entsteht also ein innerer Sinn (Zeit), was nichts anderes bedeutet, als dass das Subjekt eine Vorstellung der Form nach setzt. Diese Anschauung ist also bedingt durch die Form des inneren Sinnes selbst – die Zeit. Das, was dabei im Subjekt vorstellig wird, ist also jederzeit der Zeit unterworfen und, sofern es gegeben wird, Erscheinung. Nun deutet diese Anmerkung bereits auf das komplexe Thema der Konstitution des Selbstbewusstseins voraus: Es ist offenbar, dass ein Inhalt der Sinnlichkeit gegeben werden muss, um überhaupt etwas denken zu können, da ohne dies keine innere Vorstellung vorgestellt werden könnte. Aber dass das Subjekt sich konstitutiert, d. h. eine Vorstellung der Form nach entwirft, entstammt der reinen Anschauung. Desweiteren ist das, was das Selbst im Selbstbewußtsein ist, sofern es in der Vorstellung der Zeit bestimmt wird, auch eine Erscheinung, denn es betrifft ein Mannigfaltiges in der Anschauung, nicht etwa wie es sich selbst hätte, wenn es sich selbst selbsttätig vorstellen könnte. Kant schreibt: Wenn das Vermögen sich bewußt zu werden, das, was im Gemüte liegt, aufsuchen (apprehendieren) soll, so muß es dasselbe affizieren, und kann allein auf solche Art eine Anschauung seiner selbst hervorbringen, deren Form aber, die vorher im Gemüte zugrunde liegt, die Art, wie das Mannigfaltige im Gemüte beisammen ist, in der Vorstellung der Zeit bestimmt, da es sich denn sich selbst anschaut, nicht wie es sich selbst unmittelbar selbsttätig vorstellen würde, sondern nach der Art, wie es von innen affiziert wird, folglich wie es sich erscheint, nicht wie es ist. 42
Das Thema des Selbstbewusstseins betrifft die Konstitution des Denkens, d. h. des Bewusstseins überhaupt, sowie das Verhältnis, bzw. die Einheit, von Gegebenem und Spontanität (Sinnlichkeit und Verstand) darin. Wir haben festgestellt, dass die Zeit 1) als Form des inneren
41 42
KrV, B67. KrV, B68 f.
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Das Selbstbewusstsein
Sinnes fungiert, 43 dass aber die Zeit 2) zugleich die Form der Erscheinung ausmacht, die der Erscheinung demzufolge auch angehören muss. Die Zeit stellt ein merkwürdiges Element der Erkenntnis dar, das sowohl mit dem inneren Bewusstsein seiner selbst verknüpft ist, apriori ist, und in der Folge mit dem Verstand selbst verknüpft ist, als auch mit dem Gegebenen und damit der Sinnlichkeit zugehört. Als solche wird sie die zentrale Rolle für die Erklärung der Möglichkeit der Vereinigung von Kategorie und Erscheinung in einem Urteil im Schematismus Kapitel spielen, wie wir im folgenden Kapitel sehen werden. In der Analyse der Konstitution des Selbstbewusstseins wird jedoch bereits deutlich werden, warum und inwiefern Kant in der Zeit diese Scharnierstellung 44 zwischen Verstand und Sinnlichkeit, bzw. zwischen Denken und Erscheinung sieht. Wir werden dabei zugleich auf die Problematik dieses Verhältnisses aufmerksam und können damit die Problemstellung und die offenen Fragen, wie sie aus dem kantischen System hervorgehen und die Heideggers Interpretation ermöglichen und vorbereiten, offenlegen. Wenden wir uns also der Konstitution des transzendentalen Selbstbewusstseins in Kant als prinzipielles, formgebendes Selbstbewusstsein zu.
3.1 Das transzendentale Selbstbewusstsein Wenn wir hier das transzendentale Selbstbewusstsein behandeln, so ist gleich zu Beginn sein Unterschied zum empirischen Selbstbewusstsein hervorzuheben: das transzendentale Selbstbewusstsein in Kant ist kein Bewusstsein des Selbst in der Anschauung und bezeichnet damit nicht das Vermögen, sich selbst oder seine (empirischen) Vorstellungen darin zum Gegenstand zu machen. Das transzendentale Selbstbewusstsein ist vielmehr ein konstitutives Prinzip des Verstandes. 45 Als solches ist das transzendentale SelbstbewusstInteressanterweise muss die Verbindung der Vorstellung, die mittels der Form der Zeit als innerer Sinn ermöglicht wird, letztlich dem Verstande zugeschrieben werden, d. h. die Ordnung, die die Zeit ermöglicht, ist nicht als solche Verbindung. Siehe KrV, B129 f. 44 Diese Ausdrucksweise ist gewählt, da Kant die Zeit zwar der Sinnlichkeit zuspricht, die transzendentalen Zeitbestimmungen jedoch zwischen den Kategorien (d. h. dem Verstand) und den Erscheinungen vermitteln sollen. 45 Das Selbstbewusstsein in Kant wurde in der Forschung ausführlich im Kontext der Frage, wie wir uns selbst als selbst vorstellen, diskutiert. Die Diskussion dreht sich 43
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Die Zeit in Kant
sein, wie sich zeigen wird, eine Aktivität und ein Prinzip der Erkenntnis, welches das Vermögen zu Urteilen, d. h. Vorstellungen zu verbinden und zu vereinigen, grundlegt. Kant identifiziert das transzendentale Selbstbewusstsein als Wurzel unserer Erkenntnis von Gegenständen mit dem »Ich denke« und dessen Objekt als synthetische Einheit der Vorstellungen. Kants berühmter Satz diesbezüglich lautet: »Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können«. 46 Wie ist nun diese erkenntnisfundierende Rolle des »Ich denke« zu fassen? Der Akt des Denkens als »Ich denke« muss alle meine Vorstellungen von sinnlichen Gegenständen begleiten, insofern dieselben Vorstellungen von sinnlichen Gegenständen gar nicht möglich wären, wenn sie nicht zugleich ›mir‹ angehören würden, was wiederum nur dadurch möglich ist, dass sie von mir ›gedacht‹ werden. In anderen Worten bedeutet dies, dass das Mannigfaltige der Anschauung ein Verhältnis im ›Ich denke‹ haben muss, welches Verhältnis es erst ermöglicht die Vorstellung zu denken und dass die Vorstellung zugleich mein Gedanke ist. Diese Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung im »Ich denke« kann nun nicht durch Sinnlichkeit gegeben sein, da Anschauungen als solche, so Kant, nichts in sich tragen, was sie zusammensetzt und vereinigt, insofern Anschauungen uns als unverbundene Daten 47 gedabei im Kern um die Frage, was das ›Selbst‹ an der Wurzel des Selbstbewusstseins ist. Doch Kants Projekt das transzendentale Selbstbewusstsein betreffend untersucht die Form des Verstandes in Bezug auf die Konstitution der Erkenntnis von sinnlichen Gegenständen und stellt nicht die Frage nach dem ›Selbst‹ in dieser Hinsicht. Die Diskussion um die Vorstellung des Selbst umgeht daher Kants Konzeption des transzendentalen Selbstbewusstseins. Stephen Engstrom (Self-consciousness and the Unity of Knowledge. In: Dina Emundts et al. (Hg.): Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Berlin 2016, 25–48, hier 34) ist einer der wenigen Autoren, die darauf hinweisen, dass der größte Teil der Forschung die empirische Konzeption des Selbstbewusstseins als primäre Bedeutung des Selbstbewusstseins setzt, was sich aus einer mangelnden Hinterfragung der kantischen Wortbedeutung ergeben mag. Die hier vorliegende Analyse des Selbstbewusstseins sucht dagegen deutlich zu machen, was Kant unter dem transzendentalen Selbstbewusstsein versteht und zeigt damit auf, welche Rolle das Selbstbewusstsein für die Konstitution der Erkenntnis und der damit einhergehenden Frage der Objektivität spielt. So kann in der Folge gezeigt werden, dass die Zeit den Verstand und den Inhalt der Sinnlichkeit, also die Kategorien mit den Erscheinungen, verbindet. 46 KrV, B132; Hervorhebung im Original. 47 »Unverbunden« meint im Sinne der Einheit. Ob und inwiefern die Anschauungen bereits durch die Formen der Anschauung einer gewissen »Ordnung« unterliegen, wird in Kapitel 4.5 f. dieser Arbeit behandelt.
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Das Selbstbewusstsein
geben werden. 48 Die Verbindung des Mannigfaltigen der Anschauung zum »Ich denke« sowie das »Ich denke« selbst muss daher ein Akt des Verstandes sein. Die Vereinigung aller Vorstellungen in einem »Ich denke«, welches allererst die Vorstellungen zu meinen Vorstellungen macht, ist in Kant also eine spontane Leistung des Verstandes. 49 Kant bezeichnet diesen Verstandesakt im Unterschied zur Wahrnehmung (Perzeption) als ursprüngliche Apperzeption. 50 Er macht hierdurch deutlich, dass Vorstellungen wahrgenommen werden, wie sie uns gegeben werden, sie jedoch zugleich als uns zugehörig apperzipiert werden, wobei sie durch letzteres gedacht, d. h. reinen Begriffen untergeordnet werden. Dieser letztere Akt, der gleichzeitig mit der Wahrnehmung erfolgt, gehört dem Verstande an. Kant schreibt: Synthetische Einheit des Mannigfaltigen der Anschauungen, als a priori gegeben, ist also der Grund der Identität der Apperzeption selbst, die a priori allem meinem bestimmten Denken vorhergeht. Verbindung liegt aber nicht in den Gegenständen, und kann von ihnen nicht etwa durch Wahrnehmung entlehnt und in den Verstand dadurch allererst aufgenommen werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes, der selbst nichts weiter ist, als das Vermögen, a priori zu verbinden, und das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen unter Einheit der Apperzeption zu bringen, welcher Grundsatz der oberste im ganzen menschlichen Erkenntnis ist. 51
Die ursprüngliche Apperzeption oder das transzendentale Selbstbewusstsein, welches die Vorstellungen zu meinen Vorstellungen macht und die Einheit aller Vorstellungen in mir ermöglicht, ist demnach die erste und primäre Bedingung und das oberste Prinzip allen Denkens; es ist ein Akt, wodurch das »Ich denke« notwendig jede Vorstellung begleitet und der alle Vorstellungen in einem Bewusstsein vereinigt. Man kann insofern zurecht behaupten, dass die ursprüngliche Apperzeption das Herz des Verstandes ist, sein erster Akt, jeder weiteren Bestimmung des Bewusstseins zugrunde liegt und sein Prinzip ausmacht. Diese herausgehobene Rolle der ursprünglichen Apperzeption für die Erkenntnis ergibt sich aus der wichtigen und scheinbar trivialen Tatsache, dass das »Ich denke« die
Die Synthesis der Einbildungskraft ist nicht dieselbe wie die synthetische Einheit des Verstandes, wie Kant wiederholt betont (vgl. KrV, B151, B156–157). 49 NB: Das ›ich denke‹ gibt zugleich die Möglichkeit ab, dass eine Vorstellung ein Gedanke ist. 50 Vgl. KrV, B132. 51 KrV, B134 f. 48
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Die Zeit in Kant
Identität und Aktivität des Bewusstseins begründet, indem hierdurch alle Vorstellungen zu einer Einheit, einer Seele, gehören. Machen wir uns den hier theoretisch ausgelegten Zusammenhang konkret verständlich. Zunächst ist zu vergegenwärtigen, dass die Vorstellung des Mannigfaltigen als solches – z. B. die Rötlichkeit als sinnliche Empfindung oder die Bläulichkeit als sinnliche Empfindung darin – nichts in sich trägt, was das Mannigfaltige trennt oder verbindet. Um diese Vorstellungen als ›rot‹ oder ›blau‹ zu verstehen, bedarf es jedoch einer Verbindung der Vorstellung der Rötlichkeit oder der Bläulichkeit mit anderen Vorstellungen. Die unterschiedlichen sinnlichen Vorstellungen der Farbe müssen miteinander verbunden sein, um als spezifische Farbe benannt und um zusammen oder getrennt in einem Bewusstsein wieder angewandt werden zu können. Diese Benennung der Farbe ermöglicht es in Verbindung mit einer Substanz (durch die Kategorie) die Farbe als eine Eigenschaft zu verstehen und sie demzufolge als Eigenschaft auf etwas anderes zu beziehen, wie z. B. ein Auto oder eine Blume. Die Verbindung wird über die Relation von Subsistenz und Inhärenz erst ermöglicht, die mittels des Verstandes erfolgt und die Inhärenz als Farbe mit einer Subsistenz als Substantiv verbindet; diese Verbindung macht die Vorstellung jedes Mannigfaltigen in der Anschauung erst verständlich. Jede Vorstellung gehört demnach zu einem Bewusstsein, welches die Vorstellungen der Rötlichkeit jeweils einheitlich zu nennen vermag. Um Anschauungen denken zu können, müssen sie also in eine bestimmte Beziehung gebracht werden und diese Verbindung wiederum verlangt, dass sie ursprünglich in einer Einheit enthalten sind. Diese transzendentale Einheit nennt Kant Selbstbewusstsein.
3.2 Das Verhältnis der Einheit des Selbstbewusstseins als vorgängige Form und des Bewusstseins als inhaltsformende Einheit Es stellt sich auf dieser Grundlage die Frage, wie sich das Verhältnis von Selbstbewusstsein und Bewusstsein, d. h. dem Bewusstsein von etwas, genauer gestaltet. Kant zufolge geht die Einheit des Selbstbewusstseins als Akt 52 und Prinzip 53 strukturell jedem spezifischen 52 53
Vgl. KrV, B132. Vgl. KrV, B136.
42 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Das Selbstbewusstsein
Denkakt voran. Die Einheit des Bewusstseins ist im Grunde genommen dieselbe Einheit der Apperzeption (Selbstbewusstsein), jedoch in Hinblick auf die tatsächliche Vereinigung der Vorstellungen in einem Gegenstand. Das Bewusstsein bezieht sich auf den Akt der ursprünglichen Apperzeption und ist dabei selbst der konkrete Akt, einen Gegenstand als objektive Einheit im Verhältnis der reinen Begriffe zu denken. Letztendlich ist es das Ich, welches den Gegenstand durch einen Akt der Verbindung des Mannigfaltigen einer gegebenen Anschauung konstituiert, indem es das zugrundeliegende Subjekt der Einheit ausmacht. Kant schreibt: »Verstand ist, allgemein zu reden, das Vermögen der Erkenntnisse. Diese bestehen in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Objekt. Objekt aber ist das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist.« 54 Insofern also nur auf Grundlage eines einheitlichen Bewusstseins aller Vorstellungen diese Vereinigung des Mannigfaltigen zu einem Objekt zustande kommen kann, ist das Ich in der ersten Instanz die Bedingung für jedwede Erkenntnis. In der zweiten Instanz aber sind ›Ich‹ und ›Gegenstand‹ Begriffe, die sich gegenseitig bedingen, insofern ohne die Realität einer Erkenntnis das Ich als ihre Bedingung nichts wäre. Die sinnlichen Vorstellungen werden durch die Kategorien in eine Einheit des Bewusstseins gebracht. Die Kategorien machen dabei die ›innere verbindende Ordnung‹ der Einheit aus. Kant schreibt: »Ein Mannigfaltiges, das in einer Anschauung, die ich die meinige nenne, enthalten ist, wird durch die Synthesis des Verstandes als zur notwendigen Einheit des Selbstbewusstseins gehörig vorgestellt, und dieses geschieht durch die Kategorie.« 55 Das transzendentale Selbstbewusstsein selbst bleibt unbestimmt im Sinne eines objektiven (gegenständlichen) Inhaltes, da es nur ein Akt ist, der dem Bewusstsein als eine Einheit der Vorstellungen Form verleiht und so eine Einheit ausmacht, in der das Mannigfaltige kategorisch gedacht wird. Welche Rolle kommt nun den Kategorien, in ihrer Verbindung zum Selbstbewusstsein und zum Bewusstsein, genauer zu? Die Kategorien sind nach Kant prinzipielle Funktionen, denen gemäß das Mannigfaltige ursprünglich unter die Einheit der Apperzeption gebracht wird. In anderen Worten: durch die Kategorien kann das Mannigfaltige der Anschauung zu einem Objekt werden. Kant schreibt: 54 55
KrV, B137. KrV, B144.
43 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Die Zeit in Kant
Das mannigfaltige in einer sinnlichen Anschauung Gegebene gehört notwendig unter die synthetische Einheit der Apperzeption, weil durch diese Einheit der Anschauung überhaupt möglich ist. (§ 17). Diejenige Handlung des Verstandes aber, durch die das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen (sie mögen Anschauungen oder Begriffe sein) unter eine Apperzeption überhaupt gebracht wird, ist die logische Funktion der Urteile. (§ 19). Also ist alles Mannigfaltige, sofern es in Einer empirischen Anschauung gegeben ist, in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen bestimmt, durch die es nämlich zu einem Bewußtsein überhaupt gebracht wird. Nun sind aber die Kategorien nichts anderes, als eben diese Funktionen zu urteilen, sofern das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung in Ansehung ihrer bestimmt ist. (§ 13). Also steht auch das Mannigfaltige in einer gegebenen Anschauung notwendig unter Kategorien. 56
Veranschaulichen wir uns diesen Zusammenhang: Das Mannigfaltige, d. h. jede einzelne sinnliche Vorstellung, wird durch die Funktionen, die darauf angewendet werden zur Einheit des Bewusstseins gebracht. So wird z. B. die Rötlichkeit in meiner Vorstellung unter die objektive Einheit des Bewusstseins gebracht, indem es als Einheit, Realität, Existenz und Inhärenz in Verbindung zu einer Subsistenz (z. B. einer Rose) gedacht wird. Die Urteile haben ihre Objektivität daher durch und ausschließlich durch die notwendige Verbindung der Vorstellungen zur objektiven Einheit der ursprünglichen synthetischen Apperzeption, welche im Bewusstsein in Hinblick auf die Vorstellungen grundlegend ist. Urteile sind daher nur objektiv im Hinblick auf ihre Form, dergemäß die Vorstellungen unter die objektive Einheit der Apperzeption gebracht werden. Es ist in diesem Sinne und bedeutsamerweise festzuhalten, dass die Objektivität in Kant durch die Formen des Verstandes, die im Subjekt vorliegen, ermöglicht wird und daher durch die Weise, wie wir denken. Die Verbindung zwischen dem Gegenstand der Sinne und dem Subjekt als ein denkendes muss von Kant gewährleistet werden und dafür muss der Zusammenhang zwischen den Kategorien und der Erscheinung aufgezeigt werden. Das transzendentale Selbstbewusstsein als konstituierend für den Verstand ermöglicht uns zu zeigen, dass die Verstandesgesetze auch für das Mannigfaltige gelten - für das Objekt der Erkenntnis in Beziehung auf den Verstand. Die Frage ist jetzt, wie sich diese Objektivität mit dem Sachverhalt, mit dem sinnlichen Gegenstand, verbindet. 56
KrV, B143.
44 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Das Selbstbewusstsein
3.3 Das Selbstbewusstsein in Hinblick auf die Objektivität und ihr Verhältnis zum sinnlichen Gegenstand und zur Zeit Wie oben erläutert, beinhaltet das transzendentale Selbstbewusstsein einen spontanen Akt, das »Ich denke«, welcher im Subjekt die Bedingung für alles Denken ist und als ursprüngliche synthetische Apperzeption das Prinzip des Denkens als eine formale Bedingung aller Erkenntnis des Mannigfaltigen, das in der Vorstellung gegeben wird, abgibt. Kant erklärt, dass Vorstellungen durch die Kategorien gedacht werden, welche die Objektivität des Urteils ausmachen. Der Gegenstand der Vorstellung muss demnach auf solche Weise (wie die Kategorien sind) gedacht werden, welche Kategorien die Einheit des Bewusstseins ausmachen. Die Einheit des Bewusstseins wiederum wird durch das »Ich denke« und die ursprüngliche Einheit der Apperzeption ermöglicht. 57 Jede Vorstellung wird durch die Kategorien nach der Einheit des Bewusstseins gedacht. Kant zeigt damit, wie die Funktionen in Urteilen in Hinblick auf bestimmte Vorstellungen angewandt werden. Auf diese Weise ist z. B. mein Urteil, dass der Wind verursacht hat, dass der Blumentopf von der Mauer gefallen ist, mehr als eine arbiträre Wahrnehmung – das Urteil ist nicht nur auf der Grundlage einer wiederholten Erfahrung zustande gekommen. Durch den formalen Inhalt von Urteilen im transzendentalen Selbstbewusstsein wird Objektivität konstituiert, insofern eine Analyse desselben zeigt, dass Anschauungen gemäß notwendigen Regeln gedacht werden. Die Objektivität ist dabei nicht in erster Hinsicht im Sinne dessen verstanden, ob Urteile richtig oder falsch sind, sondern hinsichtlich der Tatsache, dass in unserer Erfahrung Notwendigkeit liegt und sie nicht lediglich das Ergebnis einer wiederholten Wahrnehmung ist. Das transzendentale Selbstbewusstsein in Kant zeigt so auf, dass unsere gesamte Erkenntnis, im besonderen die der Sinnesgegenstände, inhärent durch den Verstand konstituiert ist und dass Objektivität im formalen Element der Urteile durch die Weise wie wir denken konstituiert ist. Bei Kant wird nun die ursprüngliche Einheit der Apperzeption, die die Bedingung der begrifflichen Bestimmung des gegebenen Mannigfaltigen in der Anschauung ist, auf der Grundlage der Spontanität des Verstandes postuliert. Die synthetische Einheit des BeDas »ich denke« ist letztlich als »ich« und »denke« konstituierend für die ursprüngliche Einheit der Apperzeption.
57
45 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Die Zeit in Kant
wusstseins gründet, in Hinblick auf den vorstelligen Inhalt des Urteils, auf den reinen Verstandesbegriffen, auf den Kategorien. Die Kategorien werden jedoch auf die Vorstellung des Mannigfaltigen der Anschauung in Raum und Zeit angewandt, welche auf irgendeine Weise mit den Kategorien homogen sein müssen, da die Kategorien anderenfalls den Inhalt der Vorstellungen nicht bestimmen könnten. Es stellt sich daher die Frage nach der Beziehung zwischen dem Subjekt des Urteils, als das was durch die Synthesis in der Apperzeption im Selbstbewusstsein die Synthesis formt, und dem Objekt als verbunden mit der Vorstellung des Mannigfaltigen in der Anschauung. Kant behandelt die Verbindung zwischen den Kategorien und den Erscheinungen (und damit dem Inhalt der Anschauung) in der Analytik der Grundsätze und führt die Zeit als das verbindende Element ein. Das Problem der Beziehung zwischen dem Subjekt, als das was die Objektivität konstituiert und dem ›Gegenstand‹ der Anschauung, als bestimmt durch Raum, Zeit und eine Synthesis der Einbildungskraft ist von großer Bedeutung für die Frage nach der Konstitution der Objektivität wie für Kants System insgesamt. 58 Das Problem wird in der Forschung, allerdings lediglich in Ansätzen, diskutiert. Paul Guyer greift das Problem auf und weist in diesem Zusammenhang auch auf einen Unterschied zwischen der ersten und zweiten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft hin. Paul Guyer: The Transcendental Deduction of the Categories. In: Ders.: The Cambridge Companion to Kant. Cambridge 1992, 123–61, insbesondere 151 ff. Vgl. zu diesem Thema auch Henry Allison: Kant’s Transcendental Idealism: An Interpretation and Defense. New Haven 2004. Emilia Angelova schreibt zu diesem Thema: »The task of the B deduction is deducing the objective validity of the categories as something subjective in its origin and yet as necessarily applying to objects that are distinct from the self.« Emilia Angelova: Desubjectivation of Time and Self-Affection: Kant in Heidegger. In: Stefano Bacin et al. (Hg.): Proceedings of the XI International Kant-Kongress / Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. New York 2013, 653–664, hier 658. Vgl. hier auch den Verweis auf Burkhard Tuschling: Apperception and Ether: On the Idea of a Transcendental Deduction of Matter in Kant’s Opus Posthumum. In: Eckart Förster (Hg.): Kant’s Transcendental Deductions. The Three Critiques and the Opus Posthumum. Stanford 1989, 193–217. Paul Crowther sieht eine Problematik in der Weise, wie sich die Kategorien zu der synthetischen Einheit des Verstandes verhalten. Er zeigt detailliert und in Hinblick auf das Problem der Objektivität im Selbstbewusstsein, dass die transzendentale Deduktion darauf hinaus ist zu zeigen, dass die objektive Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung, die durch die Kategorien bestimmt wird, von der ursprünglichen Einheit der Apperzeption abhängig ist und andersherum. Er macht, indem er auf Kants Schematismus und die transzendentalen Zeitbestimmungen hinweist, auf die Bedeutung der Synthesis der Einbildungskraft für das objektive Wissen aufmerksam. Vgl. Paul Crowther: The Kantian Aesthetic: From Knowledge to Avant-Garde. Oxford 2010. Stephen
58
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Das Selbstbewusstsein
Betrachten wir das Problem genauer: Objekte und Objektivität werden durch die Anwendung des Verstandes auf ein gegebenes Mannigfaltiges auf der Basis einer synthetischen Einheit der reinen Apperzeption im Selbstbewusstsein ermöglicht. Eine jede gegebene Vorstellung wird durch die Kategorien unter diese synthetische Einheit gebracht. Die Anwendung der Kategorien und die Synthetisierung von Vorstellungen in einer ursprünglichen Einheit sind demnach also sich wechselseitig bedingende Akte des Verstandes. Aber wie ist diese transzendentale Konstellation möglich? Kant gibt keine Erklärung für die Tatsache an, dass die Kategorien als logische reine Begriffe in Urteilen das Mannigfaltige unter die ursprüngliche Einheit der Apperzeption bringen und gleichzeitig die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption die Bedingung dafür darstellt, dass sich die Kategorien auf ein Mannigfaltiges im Urteil beziehen können. Ist eine »Vor-Bestimmung« des Mannigfaltigen in der Anschauung, auf der beide Akte des Verstandes beruhen, nicht das einzige, dass diese wechselseitig bedingende Beziehung erklären kann? Ist eine Homogenität zwischen dem Mannigfaltigen der Anschauung in der Vorstellung und der synthetischen Einheit in der Anwendung des Verstandes auf das Mannigfaltige der Anschauung nicht eine Voraussetzung für die Bestimmung des Objekts als Einheit im Urteil? Kant sieht die vereinheitlichende Bedingung der zwei heterogenen Vermögen in der Einbildungskraft, oder genauer in den ZeitEngstrom weist in seiner facettenreichen Analyse des kantischen Selbstbewusstseins auf das Problem des materiellen Wissens hinsichtlich der Beziehung des Wissens auf sein Objekt hin. Vgl. Stephen Engstrom: Self-consciousness and the Unity of Knowledge. In: Dina Emundts et al. (Hg.): Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus. Berlin 2016, 25–48. Corey Dyck weist darauf hin, dass das Ich nicht vom Denken abgelöst werden kann und dass die reine Vorstellung des Selbst nicht ohne vorherige Synthesis des Mannigfaltigen in der Anschauung gedacht werden kann. Dyck schreibt: »As Kant writes in the A Deduction, ›this unity of consciousness would be impossible if in the cognition of the manifold the mind could not become conscious of the identity of the function by means of which this manifold is synthetically combined into one cognition‹ (A108), and the same point is made in the B Deduction, where Kant claims that ›the thoroughgoing identity of self-consciousness could not be thought‹ without the synthesis of the manifold of intuition (B135). This is to say that we cannot initially think the unity of the subject of thought; that is, we cannot conceive of the I think, other than in connection with a manifold of intuition, and so there is an important sense in which the I think, the condition of thinking in general, is nonetheless conditioned.‹ Hervorhebungen von Corey Dyck. Corey Dyck: Kant and Rational Psychology. New York/Oxford 2014, 74. Vgl. dazu auch Ebd. 78.
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Die Zeit in Kant
bestimmungen, die die Verbindung der Vorstellungen den Kategorien gemäß durch Schemate ermöglichen. Kant schreibt: [D]as Schema eines reinen Verstandesbegriffs […] ist nur die reine Synthesis, gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt, und ist ein transzendentales Produkt der Einbildungskraft, welches die Bestimmung des inneren Sinnes überhaupt, nach Bedingungen ihrer Form, (der Zeit,) in Ansehung aller Vorstellungen, betrifft, sofern diese der Einheit der Apperzeption gemäß a priori in einem Begriff zusammenhängen sollten. 59
Die transzendentalen Zeitbestimmungen als Schema sind also durch die Kategorien bedingt und leisten nicht durch sich selbst die einheitsschaffende Verbindung zwischen Vorstellungen. 60 Daher muss abermals die Frage gestellt werden, was die synthetische Einheit konstituiert und ob das räumlich und zeitlich gegebene Mannigfaltige der Anschauung als das Material, was als Objekt bestimmt wird, nicht schon in einer solchen Weise gegeben werden muss, damit es durch die Kategorien bestimmbar ist und unter die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins gebracht wird. Es deutet sich somit die Frage an, ob die Objektivität auch mit dem Inhalt der Vorstellungen im Objekt zu tun hat und nicht nur mit deren Form im Subjekt (oder besser im Verstand).
KrV, B181. Kant schreibt: »Die Schemate sind daher nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln, und diese gehen nach der Ordnung der Kategorien auf die Zeitreihe, den Zeitinhalt, die Zeitordnung, endlich den Zeitinbegriff in Ansehung aller möglichen Gegenstände. Hieraus erhellt nun, daß der Schematismus des Verstandes durch die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft auf nichts anderes, als die Einheit alles Mannigfaltigen der Anschauung in dem inneren Sinne, und so indirekt auf die Einheit der Apperzeption, als Funktion, welche dem inneren Sinn (einer Rezeptivität) korrespondiert, hinauslaufe.« (KrV, B184 f.)
59 60
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4. Die Zeit in der Analytik der Grundsätze
Kant behandelt die oben eingeleitete Frage, wie sich die beiden heterogenen Vermögen des Verstandes und der Sinnlichkeit zu einem Urteil verbinden können in der Transzendentalen Doktrin der Urteilskraft, welche von Kant aufgrund der transzendentalen Grundsätze a priori, die hierin aufgestellt werden, auch als Analytik der Grundsätze bezeichnet wird. In der Untersuchung der Analytik der Grundsätze wird sich in Anbetracht des bisher Dargestellten die systematische Bedeutung der Zeit für das kantische System herauskristallisieren. Zugleich wird sich zeigen, dass sich durch die Untersuchung der systematischen Rolle der Zeit in der Kritik der reinen Vernunft zentrale Aspekte des kantischen Systems insgesamt offenbaren. Im Laufe dieses Kapitels wird sich daher aufzeigen lassen, welche Problemstellungen die Kritik der reinen Vernunft in ihrer Systematik offenlässt und welche Fragenstellungen sich hieraus an Kants philosophischen Ansatzpunkt ergeben. 61
4.1 Die Aufgabe der Analytik der Grundsätze Kant legt in der Lehre der Urteilskraft dar, wie der Verstand auf die Erscheinung insgesamt angewandt werden kann. Diese teilt sich in zwei Hauptstücke auf: das erste Hauptstück betrifft die Schematen, das zweite die synthetischen Urteile a priori. Kant schreibt: Diese transzendentale Doktrin der Urteilskraft wird nun zwei Hauptstücke enthalten: das erste, welches von der sinnlichen Bedingung handelt, unter welcher reine Verstandesbegriffe allein gebraucht werden können, d. i. von dem Schematismus des reinen Verstandes; das zweite aber von denen synthetischen Urteilen, welche aus reinen Verstandesbegriffen unter diesen Diesen Ansatzpunkt würde Heidegger als Kants hermeneutische Situation ausmachen. Vgl. GA 64, 93; sowie Kapitel 9.12 dieser Arbeit.
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Die Zeit in Kant
Bedingungen a priori herfließen, und allen übrigen Erkenntnissen a priori zum Grunde liegen, d. i. von den Grundsätzen des reinen Verstandes. 62
Wie können wir die übergeordnete Aufgabe dieser beiden Hauptstücke verstehen? Kant gibt Auskunft hierüber in seinen einleitenden Worten zur Analytik der Grundsätze. Er schreibt: »Die Analytik der Grundsätze […] lehrt, die Verstandesbegriffe, welche die Bedingung zu Regeln apriori enthalten, auf Erscheinungen anzuwenden.« 63 Zuvor wurden die Kategorien als reine Verstandesbegriffe den logischen Funktionen des Verstandes in Urteilen gemäß aufgestellt. Die Kategorien sind die »reinen Begriffe« des Verstandes selbst, wodurch der Verstand überhaupt Erkenntnisse von Erscheinungen erlangen kann. In der Analytik der Grundsätze soll nun die konkrete Anwendung dieser Verstandesbegriffe auf die Erscheinung dargestellt werden. Die Frage, wie die Kategorien auf die Anschauung bezogen werden können, stellt sich für Kant, da die Kategorien Begriffe sind, die auf Anschauungen angewendet werden müssen (d. h. Vorstellungen unter sich begreifen müssen), um überhaupt zu einer Erkenntnis zu führen und damit eine Bedeutung zu erlangen. In anderen Worten lautet die Frage: wie können die reinen Begriffe des Verstandes a priori einen aposteriorischen und sinnlichen Inhalt betreffen und bestimmen? Kant formuliert diese essenzielle Frage für die Kritik der reinen Vernunft in Beziehung auf die Naturerkenntnis wie folgt: Nun sind aber reine Verstandesbegriffe, in Vergleichung mit empirischen (ja überhaupt sinnlichen) Anschauungen, ganz ungleichartig, und können niemals in irgendeiner Anschauung angetroffen werden. Wie ist nun die Subsumtion der letzteren unter die erste, mithin die Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich, da doch niemand sagen wird: diese, z. B. die Kausalität, könne auch durch Sinne angeschaut werden und sei in der Erscheinung enthalten? Diese so natürliche und erhebliche Frage ist nun eigentlich die Ursache, welche eine transzendentale Doktrin der Urteilskraft notwendig macht, um nämlich die Möglichkeit zu zeigen, wie reine Verstandesbegriffe auf Erscheinungen überhaupt angewandt werden können. 64
Die Frage, wie in einem Urteil die reinen Begriffe des Verstandes eine Einheit mit dem sinnlichen Inhalt bilden können, geht also von einem fundamentalen Problem aus: Die reinen Begriffe des Verstandes sind a priori, intellektuell und produktiv, während die Materie der Er62 63 64
KrV, B175. KrV, B171. KrV, B176 f.
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Die Zeit in der Analytik der Grundsätze
scheinung a posteriori gegeben wird. Der eigentliche Sinn von Begriff ist jedoch, dass die Vorstellung eines Objekts, das darunter subsumiert wird, homogen mit dem Begriff (als Vorstellung) ist. Was unter einem Begriff gedacht wird, muss mit der Vorstellung des Objekts homogen sein – der Begriff »Tisch« muss das vorgestellte Objekt beinhalten, das in dem Begriff gedacht ist. Die reinen Begriffe werden aus Funktionen in Urteilen heraus deduziert. In dem Urteil »Die Tische wurden vom Wind umgeweht« muss der reine Begriff des Verstandes, z. B. Vielheit oder Kausalität, den sinnlichen Gegenstand, der vorgestellt wird, mitkonstituieren und der Gegenstand soll aber darin enthalten sein. Kausalität oder Vielheit z. B. müssen daher auf irgendeine Art in der Vorstellung des Gegenstandes enthalten sein, damit der reine Begriff des Verstandes darauf bezogen werden kann oder gar den Gegenstand mitkonstituieren kann. Doch der eigentliche sinnliche Inhalt, das Aposteriorische, besteht Kant zufolge lediglich aus sinnlichen Daten, die in sich keine eigentliche Relation oder Quantität haben. Kants erster Schritt zur Auflösung des Problems ist, dass es irgendetwas Vermittelndes zwischen den zwei heterogenen Erkenntnisquellen geben muss: etwas, das mit den Kategorien auf der einen Seite und den Erscheinungen auf der anderen Seite homogen ist. Diese vermittelnde Instanz in einem Urteil muss einerseits rein, also ohne alles Empirische, d. h. ohne etwas, das aus der Erfahrung gezogen ist, sein – wie die Kategorien. Und während es intellektuell und a priori ist, um mit den Kategorien homogen zu sein, muss es auch sinnlich sein, wie die Erscheinungen. 65 Es wird hier klar, dass es eine vermittelnde Instanz zwischen Kategorie und Anschauung geben muss, die der Kategorie ihre Anwendung auf Erscheinungen ermöglicht und ihr damit ihren Inhalt überhaupt erst verleiht. Von dieser auf die Sinnlichkeit bezogenen Bedingung, unter welcher reine Verstandesbegriffe allein gebraucht werden können, handelt, so Kant, der Schematismus.
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Vgl. KrV, B177.
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Die Zeit in Kant
4.2 Der Schematismus Kant schreibt in seinem ersten Hauptstück der Kritik der Urteilskraft das Schema betreffend: »Das Schema ist an sich selbst jederzeit nur ein Produkt der Einbildungskraft.« 66 Trotz der Zugehörigkeit zur Einbildungskraft ist das Schema, wie in der Folge dargelegt werden wird, jedoch zugleich immer durch den Verstand bedingt. Kant erklärt nun, dass es zwei Formen des Schemas gibt: das Schema der reinen Begriffe und das Schema der sinnlichen Begriffe. 67 Er erläutert, dass allen unseren Begriffen, also reinen Begriffen und empirischen Begriffen, Schemate zugrunde liegen, welche es erst ermöglichen, sinnliche Vorstellungen unter Begriffen zu fassen. Kant erklärt, was das sinnliche Schema ist, anhand eines Tellers und eines Zirkels – allen sinnlichen Begriffen (z. B. Teller) liegen Schematen (in diesem Fall der Zirkel) zu Grunde. Anders als das sinnliche Schema, ist das Schema der reinen Begriffe kein Bild, sondern ein Repräsentant, das jetzt näher erläutert wird. Da in der Anschauung nach Kant allein ein Bild (bzw. Ton etc.) gegeben ist, das weder eine Einheit bildet, die unter einem Begriff gefasst werden kann, noch nach einer allgemeinen Regel begriffen werden kann, muss das Schema das Allgemeine und die Einheit im Sinnlichen selbst hergeben und damit ermöglichen, dass Verstandesbegriffe überhaupt auf Erscheinungen angewendet werden können. Dieses Allgemeingültige im Sinnlichen erklärt Kant nicht am Sinnlichen selbst, d. h. nicht an der einzelnen sinnlichen Empfindung. Es kommt in Verbindung mit dem Verstand durch ein weiteres inneres Vermögen zustande, welches das Mannigfaltige unter bestimmten Regeln a priori fasst. Das Vermögen, das diese Einheit schafft, ist der innere Sinn, der zur Einbildungskraft gehört. Kant erklärt: »Was ist aber nun dieses Dritte als das Medium aller synthetischen Urteile? Es ist nur ein Inbegriff, darin alle unsere Vorstellungen enthalten sind, nämlich der innere Sinn und die Form desselben a priori, die Zeit.« 68 Die Schemate der reinen Begriffe, welche also das vermittelnde Glied zwischen Kategorie und Erscheinung ausmachen sollen, sind, so Kant, transzendentale Zeitbestimmungen, welche nach Regeln,
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KrV, B179. KrV, B181. KrV, B194.
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Die Zeit in der Analytik der Grundsätze
die gemäß den Kategorien zustande kommen, aber zugleich auf die Erscheinung gehen sollen, bestimmt sind. Kant schreibt: Die Schemate sind daher nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln, und diese gehen nach der Ordnung der Kategorien, auf die Zeitreihe [Quantität/Zahl], den Zeitinhalt [Qualität/Beharrlichkeit], die Zeitordnung [Relation/Sukzession], endlich den Zeitinbegriff [Modalität/Bedingungen der Zeit] in Ansehung aller möglichen Gegenstände. 69
Die Schemate der reinen Begriffe selbst werden also durch die Zeit als Form des inneren Sinnes ermöglicht. Mittels der Zeit also werden die Kategorien auf Erscheinungen angewandt. 70 Die Zeit ist demnach für das Schema konstitutiv und ist als solche die Vermittlungsinstanz zwischen dem Verstand und der Erscheinung, bzw. dem Inhalt der Anschauung. Wir können die Schemate also als Brücken zwischen den Kategorien und der Erscheinung durch die Zeit betrachten, wobei es die Zeit ist, der etwas Sinnliches gegeben wird. Die Zeit ist damit einerseits als Bestimmung des Inneren (Gemüts) und als durch den Verstand unmittelbar bestimmt eingeführt und andererseits als Bestimmung des Inhalts der Erscheinung. Es muss der Zeit etwas Empirisches gegeben werden und die Kategorie »wirkt« mittels der Zeit darauf. Aber Kants Konzeption, dass durch die Zeit Grundsätze der Erfahrung a priori, d. h. ohne Einfluss des Inhaltes der Sinnlichkeit, zustande kommen können, welche die Naturerkenntnis grundlegen, ist mit der problematischen Frage konfrontiert, ob die Zeit durch die Erscheinung auf irgendeine Art bestimmt sein muss, um ihre Rolle, die Kategorien mit den Anschauungen zu vermitteln, erfüllen zu können. In der weiteren Untersuchung der Analytik der Grundsätze wird die Rolle der Empfindung für die Zeit untersucht und die a priori Vermittlung der Kategorien und der Erscheinung über die Zeit damit problematisiert. Wir wollen in diesem Sinne weiterfragen, wie sich die versuchte Verbindung zwischen Kategorien und Erscheinungen über die Zeit bei Kant gestaltet.
KrV, B184 f. Kant schreibt in diesem Sinne: »[…] reine Begriffe a priori, außer der Funktion des Verstandes in der Kategorie, [müssen] noch formale Bedingungen der Sinnlichkeit (namentlich des inneren Sinnes) a priori enthalten […], welche die allgemeine Bedingung enthalten, unter der die Kategorie allein auf irgendeinen Gegenstand angewandt werden kann.« (KrV, B179)
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Die Zeit in Kant
4.3 Die transzendentalen Zeitbestimmungen – Die Vermittlung zwischen der apriorischen Erkenntnis und dem aposteriorischen Inhalt mittels der Zeit Kommen wir damit zurück zu den Schematen und der genaueren Konstitution der transzendentalen Zeitbestimmungen. Kant erklärt, wie die Zeit, die die transzendentalen Schemate abgibt, sowohl sinnlich als auch intellektuell sein kann, indem er, interessanterweise, auf das Mannigfaltige, das sinnlich gegeben wird, näher eingeht. Die Instanz, die die reine Form der Zeit mit der Sinnlichkeit verbindet, ist das Mannigfaltige selbst. Kant schreibt: »Die Zeit, als die formale Bedingung des Mannigfaltigen des inneren Sinnes, mithin der Verknüpfung aller Vorstellungen, enthält ein Mannigfaltiges a priori in der reinen Anschauung.« 71 Das vermittelnde transzendentale Schema ist eine transzendentale Zeitbestimmung, insofern diese auf der einen Seite homogen mit der Kategorie und allgemein ist, während sie auf der anderen Seite mit der Erscheinung homogen ist, da alle Erscheinung (in diesem Fall das Mannigfaltige der Sinnlichkeit) in Verhältnissen der Zeit gegeben wird. Um das Apriori der Zeitbestimmung zu erhalten, welches notwendig ist, um die transzendentalen Grundsätze als a priori behaupten zu können, worauf demnach gleichsam das kantische System ruht, behauptet Kant, dass die inhaltliche Bestimmung der Zeitbestimmungen gemäß durch die Kategorien konstituierte Regeln zustande kommt, während die Erscheinungen lediglich »in die Zeit« fallen – diese die eigentliche Bestimmung der Zeitbestimmung also nicht ausmachen. 72 Um uns dies zu verdeutlichen, müssen wir die apriorische Regel, die die transzendentale Zeitbestimmung ausmacht, näher untersuchen. Kant erklärt, dass die apriorischen Regeln der transzendentalen Zeitbestimmungen aus den Kategorien hervorgehen und entstehen, indem die Einbildungskraft eine reine Synthesis mittels des inneren Sinnes (Zeit) bildet. Diese Synthesis ist für die Verbindung aller unserer Vorstellungen notwendig, insofern diese in einem Begriff aufKrV, B177. Hier sei angemerkt, dass es um die Bestimmung der Zeitbestimmungen geht. Kant lehrt die empirische Realität der Zeit, d. h. dass die Zeit nur an den Gegenständen, die unsere Sinne rühren oder sie rühren mögen, d. i. der Erscheinung, Realität hat (vgl. KrV, B51 f.). Dies bedeutet für Kant aber nur, dass die Realität der Zeit auf die Erscheinung beschränkt ist. Die Bestimmung der Zeit nach a priori Regeln geht nach Kant aus den Kategorien hervor.
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Die Zeit in der Analytik der Grundsätze
einander bezogen werden müssen. Es fragt sich daher, was die apriorischen Regeln, die aus diesem Verhältnis hervorgehen, sind und damit verbunden, wie die transzendentalen Zeitbestimmungen zu denken sind. Was die apriorischen Regeln sind und welche Rolle die Zeitbestimmungen für die Erkenntnis der Erscheinungen spielen, kann am besten anhand des Verhältnisses der unterschiedlichen Zeitbestimmungen zu den einzelnen Kategorien offengelegt werden. Kant erläutert die Zeitbestimmungen, indem er zeigt, auf welche Weise die Zeit für die Anwendung jeder Kategorienrubrik und jeder einzelnen Kategorie auf die Erscheinung notwendig ist. In der vorliegenden Ausführung ist die Rubrik der Relation von besonderer Relevanz, da die Kausalität in der Folge dazu dienen wird, aufzuzeigen, inwiefern die transzendentale Zeitbestimmung a priori vorstellbar ist und inwiefern etwa nicht. Schauen wir uns also die transzendentalen Zeitbestimmungen im Einzelnen näher an. Kant zufolge ist die Zeit in der Verbindung der Kategorien der Qualität mit der Erscheinung eine notwendige Bedingung, insofern die Vorstellung von etwas in der Zeit oder die Vorstellung von etwas, das nicht in der Zeit ist, eine Voraussetzung ist, um Realität oder Negation zu denken. Die Kategorie der Realität korrespondiert nach Kant mit der transzendentalen Materie und hat einen Grad bis zu welcher sie in der Zeit da ist und zu welcher sie nicht in der Zeit da ist, was zugleich den Gedanken der Limitation möglich macht. 73 Es zeigt sich also hier, dass die Zeit den Inhalt der Kategorie ausmacht, d. h. die Zeit verbindet die Kategorie mit der Materie derselben. Für die Verbindung der Kategorien der Modalität mit der Erscheinung ist die Zeit bedingend, sofern das Schema, das die Kategorie der Möglichkeit ermöglicht, die Bestimmung der Vorstellung eines Dinges zu irgendeiner Zeit ist, das Sein in einer bestimmten Zeit zur Bestimmung des Daseins dient und das Schema der Notwendigkeit das Dasein von einem Gegenstand zu aller Zeit ist. Unsere oben gestellte Frage zur Apriorizität der Zeit betreffend, ist für die Verbindung der Kategorien der Relation zur Erscheinung die Zeit folgendermaßen gedacht: Die Vorstellung, dass die Substanz in der Zeit beharrt, während alles andere wechselt, ist eine Voraussetzung für das Denken der Inhärenz und Subsistenz. Als solches nennt Kant das Schema der Substanz die Vorstellung einer Beharrlichkeit des
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Vgl. KrV, B182.
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Die Zeit in Kant
Realen in der Zeit. 74 Das Schema der Kausalität ist, dass dem Realen jederzeit etwas folgt. Kant erklärt, dass das Schema der Kausalität »also in der Sukzession des Mannigfaltigen liegt, insofern sie einer Regel unterworfen ist.« 75 Wir brauchen die Zeit, um die Kausalität zu denken, insofern die Vorstellung, dass ein Zustand zeitlich vor einem anderen war, eine Voraussetzung für den Gedanken der Kausalität ist. Für die Verknüpfung der Kategorien der Quantität mit der Erscheinung ist die Zeit bedingend, weil die Zeit eine Messung des Grades der Empfindung ermöglicht. Auf die einzelnen Kategorien unter dem Titel der Quantität und ihre Schemate geht Kant hierbei nicht ein. Kant hält fest, dass jedes Schema, welches den Kategorien ermöglicht, sich auf Erscheinungen zu beziehen, eine Zeitbestimmung nach einer Regel a priori ist, die also jeweils durch die Kategorie bestimmt ist. 76 Doch inwiefern sind die hier bestimmten Regeln tatsächlich a priori bestimmt? Diese Frage soll exemplarisch an der Kategorie der Kausalität beantwortet werden und an dem ihr zugeordneten Schema der Sukzession als ein Aufeinanderfolgen des Realen in der Zeit. Hierfür müssen wir im nächsten Unterkapitel zunächst auf die Grundsätze der Erfahrung eingehen, da in der Untersuchung dieser synthetischen Urteile, die durch die transzendentalen Zeitbestimmungen als Schemate ermöglicht werden sollen, die Konstitution der transzendentalen Zeitbestimmungen und ihrer Regeln, die daraus hervorgehen, erst eigentlich deutlich werden.
4.4 Die Grundsätze des reinen Verstandes Die Grundsätze des reinen Verstandes sind Grundsätze der synthetischen Erkenntnis a priori, die für die Anwendung des Verstandes auf Erscheinungen bestimmend sind. Die Grundsätze kommen auf Grundlage der Kategorien zustande, insofern diese auf mögliche Erfahrung bezogen werden. Wie dies grundsätzlich möglich sein soll, zeigte sich in Kapitel 4.2, welches den Schematismus zum Gegenstand hatte. Die Grundsätze behandeln die Verstandeserkenntnis a priori in ihrer Beziehung auf Erscheinungen überhaupt und werden
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Vgl. B183. KrV, B183. Vgl. insgesamt hierzu KrV, B182 ff.
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Die Zeit in der Analytik der Grundsätze
selbst als Grundsätze a priori bezeichnet. Kant schreibt in Bezug auf die Grundsätze als die Grundlage synthetischer Urteile a priori: Also zugegeben: dass man aus einem gegebenen Begriffe hinausgehen müsse, um ihn mit einem anderen synthetisch zu vergleichen, so ist ein Drittes nötig, worin allein die Synthesis zweier Begriffe entstehen kann. Was ist nun aber dieses Dritte, als das Medium aller synthetischen Urteile? Es ist nur ein Inbegriff, darin alle unsere Vorstellungen enthalten sind, nämlich der innere Sinn, und die Form desselben a priori, die Zeit. Die Synthesis der Vorstellungen beruht auf der Einbildungskraft, die synthetische Einheit derselben aber (die zum Urteile erforderlich ist) auf der Einheit der Apperzeption. 77
Die synthetische Einheit der Apperzeption legt also die Erfahrung Grund, jedoch nur sofern sie mittels des inneren Sinnes auf das Mannigfaltige derselben bezogen werden kann. Dieser Bezug zwischen der Synthesis des Verstandes und der Synthesis der Einbildungskraft mittels der Zeit ermöglicht es erst, die Synthesis der Grundsätze der Erfahrung entstehen zu lassen. Die Grundsätze gehen nur mittelbar auf mögliche Erfahrung, weil sie die Synthesis a priori selbst schaffen, sind aber immer auf die Erscheinung als Stoff der äußeren Erfahrung bezogen – die äußere Erfahrung macht erst ihre mögliche Objektivität aus: »daher sich jene reinen synthetischen Urteile, obzwar nur mittelbar, auf mögliche Erfahrung oder vielmehr auf diese ihre Möglichkeit selbst beziehen, und darauf allein die objektive Gültigkeit ihrer Synthesis gründen.« 78 Kant will also die objektive Gültigkeit der Verstandesbegriffe als Bedingungen der Naturerkenntnis darlegen und daher mit den Grundsätzen erklären, wie sich der Verstand auf den Inhalt seiner Erkenntnis, die Erscheinungen, überhaupt beziehen kann. Die Grundsätze sollen dabei aber auf solche Art und Weise gedacht werden, dass sie nicht durch die Erscheinung bedingt sind, insofern hierdurch ein aposteriorisches Element in die Grundlegung der Erkenntnis käme, welches Kant zufolge den Anspruch dieser Grundlegung auf strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit nicht erfüllen könnte. 79 Die Grundsätze sollen daher also für das kantische System a priori gedacht werden – als solche KrV, B194. KrV, B196. 79 Zudem würde die Einmischung eines aposteriorischen Elements in die Grundlegung der Erkenntnis den Weg, den Kant zur Trennung zwischen Denken und Erscheinung nimmt, in Frage stellen. 77 78
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Die Zeit in Kant
muss die Konstitution der synthetischen Urteile, die die Naturerkenntnis begründen, a priori ohne Bestimmung durch die Erscheinung selbst (Empfindung, Gegebenes) gedacht und dargelegt werden können. Hierfür sind nun, wie wir gesehen haben, die transzendentalen Zeitbestimmungen als Schemate zentral. Die Zeit, wie sie in der Transzendentalen Ästhetik eingeführt wurde, nämlich als Form der Anschauung, ist dabei schlüsselhaft. Inwiefern? In unserer Untersuchung der Transzendentalen Ästhetik konnten wir feststellen, dass die Zeit als Form der Anschauung zugleich die Form aller Erscheinungen überhaupt, des inneren sowohl als mittelbar auch des äußeren Sinnes, ist, insofern auch äußere Anschauungen innerlich vorgestellt werden. Die Zeit kann demnach sowohl als Form der Anschauung (in Parallelität zum Raum) als auch als Form der Erscheinung überhaupt (hierdurch vom Raum, der lediglich die Form äußerer Anschauungen ist, unterschieden) gefasst werden. Die Einführung der Zeit als Form der Erscheinung ermöglicht Kant nun eine doppelte Argumentation: Da wo es nötig ist zu zeigen, dass sich die Kategorien mit der Erscheinung in einem Urteil verbinden können, gehört die Form der Erscheinung der Erscheinung an (allen Erscheinungen); insofern die Form der Erscheinung (die Zeit) die Verbindung mit der Kategorie ermöglicht, gehört sie aber nicht der Erscheinung an, insofern sie eine streng allgemeine Regel hergibt. Dass die strenge Allgemeinheit aber nicht aus der Erscheinung herstammen kann, setzt Kant in seiner Trennung des Apriorischen und Aposteriorischen voraus. Er kann nun zeigen, dass die Form der Erscheinung auch durch die Kategorien bestimmt ist, insofern z. B. das Nacheinander durch das Denken der Kausalität erst seine objektive Notwendigkeit erhält, die Form der Erscheinung (die Zeit) muss jedoch zugleich auch durch die Erscheinung konstituiert sein (und wird sie), wie im nächsten Kapitel dargelegt werden wird, schon allein weil sie die Erscheinung und die Kategorien vermitteln soll und sie dies nur kann, wenn ihre Bestimmung durch die Erscheinung mitbestimmt ist: Denn wie wäre die Verbindung der Kategorien auf die Erscheinungen denkbar, wenn die Erscheinungen sich auf gänzlich andere Weise geben würden als es die Ordnung für die Kategorie verlangt? Das »Wie« sich die Erscheinungen geben gehört für Kant nicht zum Inhalt der Erscheinung, sondern liegt a priori als Form der Anschauung im Gemüt. 80 Doch wäre dies der Fall und die Bestimmung 80
Hierbei ist die Form der Erscheinung als Form der Anschauung nicht Erscheinung,
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Die Zeit in der Analytik der Grundsätze
der Form der Anschauung wäre nicht durch den Inhalt der Erscheinungen mitbestimmt, so müssten die Kategorien für jedes Spiel der Einbildungskraft genauso gelten wie für die objektive Naturerkenntnis. Es ist hier bereits vorweggenommen, dass die transzendentalen Zeitbestimmungen schon allein aus systematischer Perspektive nicht leisten können werden, was von den transzendentalen Grundsätzen a priori erwartet wird und dies die Trennung zwischen Apriori und Aposteriori im kantischen System insgesamt problematisiert. Doch um die Bedeutung dessen für die kantische theoretische Philosophie beurteilen zu können, müssen wir näher auf die Verbindung zwischen reinem Verstand und Erscheinungen durch die Zeit eingehen. Wir müssen uns fragen, wie die Zeit in Beziehung auf die Erscheinung konzipiert werden kann und wie die Kategorien gedacht werden können? Von hier aus können wir sodann den systematischen Ansatzpunkt der Kritik der reinen Vernunft in den Blick bringen und uns fragen, ob wir in der Philosophie eine grundlegendere Frage stellen können in Bezug auf die Beziehung zwischen dem Gegenstand der Erkenntnis und dem Subjekt der Erkenntnis, d. h. ob die reinen Verstandesbegriffe nicht durch den direkten Zusammenhang zum Gegenstand der Sinne bestimmt werden. Wenden wir uns für diese inhaltliche Untersuchung der Verbindung von reinem Verstand und Erscheinung durch die Zeit nun exemplarisch dem Grundsatz der Kausalität zu.
4.5 Sind die Regeln der transzendentalen Zeitbestimmungen in den Grundsätzen a priori? – Das Beispiel der Kausalität Kant behandelt den »Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität« 81, d. h. das synthetische Urteil a priori, welches auf Grundlage der Kausalität in Anbetracht der Erscheinung insgesamt zustande kommt, in der zweiten Analogie der Erfahrung. Das synthetische Urteil, welches den Grundsatz der Zeitfolge nach dem Ge-
obwohl sie als Form der Erscheinung, in die das Mannigfaltige fällt, der Erscheinung zugehört. Die Zeit als Form der Erscheinung (Anschauung) gehört in Kants Argumentation einmal der Erscheinung selbst, insofern diese durch den Inhalt der Erscheinung bestimmt ist, an, ein anderes mal nicht. 81 KrV, B232.
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Die Zeit in Kant
setz der Kausalität ausmacht, lautet: »Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung.« 82 Kant führt nun über zahlreiche Seiten hinweg aus, wie in diesem Satz die Verbindung der Kategorie als reiner Begriff (letztlich auch Funktion) des Verstandes mit der Erscheinung so zu denken ist, dass dieser Satz selbst ein a priori synthetisches Urteil ist. Diese Auslegung betrifft insgesamt die eigentliche Auslegung der transzendentalen Zeitbestimmung, d. h. die Frage, wie durch die Zeit und in Anbetracht der Zeit der genannte Grundsatz a priori zustande kommen soll. Wie also erläutert Kant die Verbindung der Kausalität mit der Erscheinung durch die Zeit? Kant leitet seine Erläuterung des Grundsatzes nach seinem Beweis desselben mit folgenden Worten ein: »Die Apprehension des Mannigfaltigen in der Erscheinung ist jederzeit sukzessiv. Die Vorstellungen der Teile folgen aufeinander. Ob sie sich auch im Gegenstande folgen, ist ein zweiter Punkt der Reflexion, der in dem ersteren nicht enthalten ist.« 83 Was Kant mit diesen einleitenden Worten unterscheidet, ist die Sukzession unserer (inneren) Vorstellungen und dem »was dem Mannigfaltigen an den Erscheinungen selbst für eine Verbindung in der Zeit« 84 zukommt. Die Sukzession muss in diesem zweiten Fall objektiv dargelegt werden können und als solche vom ersten Fall unterschieden sein, da die Kategorie der Kausalität sonst gleichermaßen allein subjektiven Einbildungen zukommen würde wie der objektiven Naturerkenntnis. Wie also kommt die Objektivität der Sukzession im Grundsatz zustande? Zunächst ist festzuhalten, dass das Verhältnis der Erscheinungen in der Zeit (die Sukzession) einer Notwendigkeit bedarf. Kant schreibt diesbezüglich: Nun kommen zwar in der Erfahrung die Wahrnehmungen nur zufälligerweise zueinander, so, dass keine Notwendigkeit ihrer Verknüpfung aus den Wahrnehmungen selbst erhellt, noch erhellen kann, weil Apprehension nur eine Zusammenstellung des Mannigfaltigen der empirischen Anschauung, aber keine Vorstellung von der Notwendigkeit der verbundenen Existenz der Erscheinungen, die sie zusammenstellt, im Raum und Zeit in derselben angetroffen wird. Da aber Erfahrung ein Erkenntnis der Objekte durch Wahrnehmungen ist, folglich das Verhältnis im Dasein des Mannigfaltigen,
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KrV, B232. KrV, B234 f. KrV, B243.
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nicht wie es in der Zeit zusammengestellt wird, sondern wie es objektiv in der Zeit ist, in ihr vorgestellt werden soll, die Zeit selbst aber nicht wahrgenommen werden kann, so kann die Bestimmung der Existenz der Objekte in der Zeit nur durch ihre Verbindung in der Zeit überhaupt, mithin nur durch a priori verknüpfende Begriffe, geschehen. Da diese nun jederzeit zugleich Notwendigkeit bei sich führen, so ist Erfahrung nur durch eine Vorstellung der notwendigen Verknüpfung der Wahrnehmungen möglich. 85
Die Zeit selbst ist also lediglich verantwortlich für die Vermittlung der sinnlichen Empfindung in einer gewissen Ordnung, wie wir bereits der transzendentalen Ästhetik entnehmen konnten, ist aber selbst als innerer Sinn nicht dazu bestimmt, die Objektivität dieses Inhaltes zu sichern – dies ist das Geschäft des Verstandes. Der Inhalt für den Verstand zu diesem Zwecke ist aber die Zeit (das Zeitverhältnis), so Kant, insofern die Zeit es ist, die als Form der Anschauung unmittelbar mit dem Erscheinungsinhalt verbunden ist. Für den Verstand gilt wiederum, dass alles Denken des Verstandes auf die Anschauung abzwecken muss, insofern ihm sonst kein Inhalt gegeben werden kann. Obwohl also die Erscheinungen in der Zeit – und somit dem Gemüt – gegeben werden, kommt die Form nach der und in der die Erscheinungen bestimmt werden, z. B. in ihrer Kausalität, nach Kant durch den Verstand zustande. Es muss demnach etwas dem Verstande, dem Apriorischen, zugehören, das die Identität mit der Form der Erscheinung sichert. Dies geschieht, wie bereits dargelegt, durch die Zeit – nur dass die Kausalität (der Verstand) ausschließlich die Erscheinung als Gegenstand der Erfahrung selbst bestimmt, die Zeit aber auch und ›nur‹ für das Mannigfaltige, das in einer beliebigen Reihe, d. h. subjektiv, nach Art der Apprehension gefasst wird. Wie wird diese Sukzession der Zeit, die beliebig ist, nach Kant durch den Verstand zu einer Notwendigkeit? Die Sukzession als Modus 86 der Zeit, so erklärt Kant, ist von der Beharrlichkeit als Modus der Zeit abhängig. Die Beharrlichkeit als eigentliche Bestimmung der Zeit 87 ist insofern eine Bedingung für KrV, B219. »Die drei Modi der Zeit sind Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein.« (KrV, B219). Die Sukzession ist an den Erscheinungen die Folge und die Simultanität der Erscheinung das Zugleichsein. Kant schreibt: »Nur in dem Beharrlichen sind also Zeitverhältnisse möglich (denn Simultanität und Sukzession sind die einzigen Verhältnisse in der Zeit).« (KrV, B226). Diese Verhältnisse betreffen das Dasein der Erscheinungen. 87 »Die Zeit verläuft sich nicht, sondern in ihr verläuft sich das Dasein des Wandel85 86
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Die Zeit in Kant
das Nacheinander, dass es eines Wechsels oder einer Veränderung an der Substanz bedarf, um von einem Nacheinander zu sprechen. 88 Kant behauptet nun, dass das Nacheinander am Objekt vom Verstand aus bestimmt wird und zwar derart, dass es kausal verstanden werden kann. Doch hängt das objektive Nacheinandersein nicht trotz seiner Bestimmung durch eine Regel, die vom Verstand ausgeht, auch vom Anschauungsinhalt ab? Wir erinnern uns daran, dass die Bestimmung der transzendentalen Zeitbestimmungen nach Kant, d. h. die streng allgemeingültige Regel, auf Grundlage der Kategorie, d. h. des Verstandes, zustande kommt. Die Zeit als Form der Erscheinung überhaupt ist auf diese Weise einer a priori Bestimmung durch den Verstand unterworfen und ist mit diesem homogen. Die Zeit als Form der Erscheinung für sich genommen ist eine Form der Erscheinung und die Bestimmung dieser Form, der Zeit, wird daher in der transzendentalen Ästhetik noch gar nicht thematisiert. Die Erscheinung wird gegeben und obwohl die Form der Erscheinung nach Kant nicht als solche gegeben wird, hängt sie von der Gegebenheit der Erscheinung ab. Die Bestimmung der Form der Erscheinung soll also nach Kant nun unabhängig davon sein, wie die Erscheinungen gegeben werden, denn sonst läge ein Element der Bestimmung selbst (und damit der Grundlegung der Erkenntnis) in der Erscheinung, in der Gegebenheit. Doch: ist die Zeitfolge selbst, dieses Nacheinander, tatsächlich a priori, d. h. ohne den Inhalt der Sinnlichkeit als Empfindung im Gemüt als Form der Erscheinung vorzufinden? Das Problem bezieht sich hier auf den Begriff des Apriorischen, nicht darauf, dass für das Kausalitätsurteil ein Verstandesbegriff gebraucht wird. Es muss als Grundlage dieser Auslegung zudem klar sein, dass bei Kant die Kausalität als der reine Begriff von Ursache und Wirkung auftritt und nicht als ein Nacheinander – es geht uns also um die Frage, wie die Kausalität objektiv wird und was die Bedingungen für das Kausalverhältnis sind. Gehen wir einen Schritt zurück und schauen uns das Zustandekommen der Objektivität im Kausalverhältnis noch einmal an.
baren. Der Zeit also, die selbst unwandelbar und bleibend ist, korrespondiert in der Erscheinung das Unwandelbare im Dasein, d. i. die Substanz, und bloß an ihr kann die Folge und das Zugleichsein der Erscheinungen der Zeit nach bestimmt werden.« (KrV, A144). 88 Vgl. KrV, B226.
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4.6 Die Bedingungen des Kausalverhältnisses und seiner Objektivität Unser Augenmerk liegt auf Kants Behauptung der Objektivität, die durch die Anwendung der Kategorien auf die Erscheinung mittels der Zeit gesichert werden soll. Der Kernsatz, der die Zeit für die Regeln der Grundsätze des reinen Verstandesgebrauchs thematisiert, geht aus der hier behandelten zweiten Analogie der Erfahrung hervor, welche die Kausalität als Objektivitätskriterium der Erkenntnis der Erscheinung erklärt. Er lautet: In der Reihe dieser Wahrnehmungen [Kant erklärt, dass unterschiedliche Merkmale eines Hauses wie die Türe und das Fenster der Reihe nach beliebig in der Wahrnehmung betrachtet werden können] war also keine bestimmte Ordnung, welche es notwendig mache, wenn ich in der Apprehension anfangen müsste, um das Mannigfaltige empirische zu verbinden. Diese Regel aber ist bei der Wahrnehmung von dem, was geschieht, jederzeit anzutreffen, und sie macht die Ordnung der einander folgenden Wahrnehmungen (in der Apprehension dieser Erscheinung) notwendig. 89
Der Kernpunkt ist hierbei der Begriff des »Geschehens«. Das Problem für Kant ist im Grunde genommen, zu erklären, wie das Geschehen als Geschehen bestimmt werden soll, ohne auf die empirische Erfahrung selbst Bezug zu nehmen. Die Folge ist in Kant, wie oben bereits eingeführt, durch die Apprehension bestimmt, wobei die Apprehension empirisch ist und nur durch den Grundsatz der Analogien der Erfahrung a priori notwendig wird. Es stellt sich in diesem Sinne die Frage, ob die Folge nicht eine Bedingung für den Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetz der Kausalität ist und das äußere Verhältnis daher für die Verbindung als Gesetz mitbestimmend ist. 90 Ist es in diesem Sinne nicht für die Verbindung der Kausalität mit der Erscheinung notwendig, ein Geschehen an der Erscheinung selbst festzustellen? Die Antwort, die wir aus Kant auf diese Frage entnehmen könKrV, B238. Hervorhebung hinzugefügt. »Nun sind nur zwei Wege, auf welchen eine notwendige Übereinstimmung der Erfahrung mit den Begriffen von ihren Gegenständen gedacht werden kann: entweder die Erfahrung macht diese Begriffe, oder diese Begriffe machen die Erfahrung möglich.« (KrV, B166 f.). Es ist natürlich eine Voraussetzung in diesem Satz enthalten, denn bei der Gegenüberstellung »Begriff – Erfahrung« oder »Erfahrung – Begriff« wird von dem Resultat der Erfahrung als Begriff ausgegangen; es ist bereits vorausgesetzt, dass die Erfahrung Begriffe gebildet hat und diese werden zum Ausgangspunkt der Untersuchung der Konstitution der Erfahrung.
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Die Zeit in Kant
nen, ist vielschichtig. Es steht bereits fest, dass das Geschehen bei Kant in Hinblick auf die Objektivität allein im Subjekt begründet wird. Die Zeit wird jedoch in der Apprehension durch die Wahrnehmung bestimmt, insofern die Folge in der Zeit mit einem objektiven Wert, dem Raum und einem Erscheinungsbild, das wechselt, behaftet ist. Wie wir bereits gesehen haben, ist diese Folge der Wahrnehmungen isoliert betrachtet nach Kant subjektiv und ohne Notwendigkeit. Die objektive Folge als Kausalfolge ist nicht dasselbe wie die subjektive Sukzession, wie Kant durch die Gegenüberstellung der Synthesis der Apprehension und der Synthesis der Apperzeption zeigen will. Die Synthesis der Apprehension ist empirisch, wohingegen die Synthesis der Apperzeption intellektuell und gänzlich a priori ist – letztere macht nach Kant die Folge erst notwendig. Die beiden Synthesen sind, mittels der Apperzeption, aufeinander bezogen und es ist die Kategorie als reiner Begriff eines jeden Urteils, die die Objektivität der Behauptung erst ermöglicht. 91 Die Kausalität wird also a priori und objektiv behauptet, indem sie durch das Subjekt für die Folge im Objekt als objektive Folge einer Wirkung aus einer Ursache verantwortlich gemacht wird. Die Zeit kann also in Kant die Regel, die die Objektivität der Erkenntnis sichert und uns Gegenstände denken lässt, nicht ausmachen. Obwohl die Zeit für die Grundsätze, d. h. für die Urteile, die in der Erfahrung gefällt werden, notwendig ist, macht sie für Kant nicht selbst den eigentlichen Boden des Grundsatzes und des Objektivitätsanspruchs desselben aus. Der Verstand ist es, der die Objektivität des Geschehens in der Zeit sichert, d. h. dass die Sukzession auch an der Erscheinung als Gegenstand der Erfahrung stattfindet. An der zusätzlichen Tatsache, dass die Sukzession der Zeit selbst durch den Verstand konstituiert wird, 92 zeigt sich deutlich, dass die innere Verbindung zwischen der Zeit und dem Verstand bei Kant vom Verstand her zu betrachten ist. Auch die synthetisierende Verbindung der Vorstellungen der Verhältnisse der Erscheinung, die in der Sukzession Vgl. KrV, B162. Die Form des inneren Sinnes ist allererst sukzessiv zu bestimmen, indem in Gedanken eine Linie gezogen wird. Kant schreibt: »[…] die Synthesis des Mannigfaltigen im Raume, wenn wir von diesem abstrahieren und bloß auf die Handlung achthaben, dadurch wir den inneren Sinn seiner Form gemäß bestimmen, bringt sogar den Begriff der Sukzession zuerst hervor. Der Verstand findet also in diesem nicht etwa schon eine dergleichen Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor, indem er ihn affiziert.« (KrV, B154).
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der Zeit gegeben sind, wird vom Verstand her bedingt. Die Objektivität des Geschehens, die das, was in der Zeit ein Nacheinander ist, als Folge fasst, ist also in Kant durch die Kausalität des Verstandesbegriffs bedingt. Es sind demnach zwei Aspekte des Verhältnisses des Verstandes zur Zeit in Kant deutlich geworden: zum einen ist es eine intellektuelle Leistung des Verstandes, die für die Zeit selbst bestimmend ist und zum anderen ist es der reine Begriff, der die Verbindung der einen Vorstellung mit anderen ausmacht, wodurch die Vorstellungen sich auf eine Art und Weise zueinander verhalten, die nicht durch die Form der Zeit selbst ermöglicht wird. Die Form der Zeit kann diese Verbindung zwischen den Vorstellungen nicht ausmachen (Begriff), sondern enthält nur Vorstellungen in sich (Anschauung) – das Verhältnis, das in der Zeit gegeben ist, ist daher notwendig durch einen reinen Begriff in Beziehung auf die Vorstellungen zu bestimmen, da ohne diesen die Verhältnisse der Zeit für die Vorstellungen der Erscheinung unbestimmend bleiben würden. Es geht Kant also darum zu zeigen (und dies spitzt sich in der zweiten Analogie der Erfahrung zu), dass die subjektive Folge der Apprehension eine ›objektive Folge‹ an den Erscheinungen sein kann. Die objektive Folge geht von einer Ordnung des Mannigfaltigen aus, die aber in der Regel der Grundsätze auf solche Weise ›enthalten‹ (und gedacht) ist, dass die Objektivität des Urteils (bei der Kausalität als ein Geschehen) gesichert wird. Kant erklärt, dass die Apprehension selbst kein Kriterium der Objektivität abgeben kann und somit für die Erkenntnis der Gegenstände der Erfahrung nicht gelten kann – soll die Erkenntnis in der Erfahrung objektiv dargetan werden, muss es also ein anderes Kriterium der Objektivität der Erkenntnis der Erscheinung als Erfahrung geben. Darum geht es Kant nun, nämlich zu zeigen, dass die Folge an den »Erscheinungen selbst« 93 statthat. Kant will somit sagen, dass die Folge der Erscheinung nicht von der Apprehension, die sinnlich ist, ohne Regel unterschieden werden kann, da nichts notwendig aus dem anderen kausal erfolgen würde. Doch – und dies geht auf die Frage nach der Folge im Ausgang des letzten Unterkapitels zurück – die Folge am Gegenstand ist eine Bedingung für die Kausalität, die zwar selbstverständlich ein Gedanke ist und nicht aus der Folge, welche sie betrifft, zu erschließen ist, aber dennoch nur als Folge am Gegenstand zu denken ist. Die subjektive
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KrV, B235.
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Folge der Wahrnehmungen, wie sie in der Zeit als Form der Erscheinung für sich genommen gegeben ist, gibt bei Kant nicht die Bestimmung der Objektivität ab, wird aber für die Bestimmung durch die Kategorie benötigt. In der Bestimmung der Kategorie wird die Zeit dabei als abstrakte Sukzession, als ein Nacheinander, welches durch keinen Inhalt bestimmt ist, vorgestellt. Doch kann die Zeit allein durch eine abstrakte Sukzession der Vorstellungen als Folge begründet und vorgestellt werden? Hängt die Bestimmung der Zeit nicht vom Inhalt der Zeitvorstellung ab? Und ist dieser nicht selbst in einer bestimmten Reihe vorzufinden, eine Reihe, die schon eine Notwendigkeit mit sich bringt? 94 Es stellt sich die Frage, ob die Bestimmung der Zeit als Form der Erkenntnis der Gegenstände der Erfahrung nicht durch den Inhalt derselben bedingt ist – anders als die Zeit durch sich selbst, als abstrakte Reihe, als vorgestellte Linie oder durch den Verstand bestimmt sein kann. Kant schreibt, dass die Regel die Ordnung der Wahrnehmungen am Objekt gültig macht: Es kommt also darauf an, im Beispiele zu zeigen, dass wir niemals selbst in der Erfahrung die Folge (einer Begebenheit, da etwas geschieht, was vorher nicht war) dem Objekt beilegen, und sie von der subjektiven unserer Apprehension unterscheiden, als wenn eine Regel zum Grunde liegt, die uns nötigt, diese Ordnung der Wahrnehmungen vielmehr als eine andere zu beobachten, ja dass diese Nötigung es eigentlich sei, was die Vorstellung einer Sukzession im Objekt allererst möglich macht. 95
Es ist interessant, dass die Folge in der Zeit allein also nicht als Objektivität gefasst wird – die Kausalität dagegen eine Begebenheit auf eine Regel hin bestimmt, die den Begebenheitsmoment in der Zeit zu einer bestimmten Zeit macht, die also keine andere Zeitstelle ist. Die Begebenheit und die Behauptung der Objektivität derselben ist jedoch nur im Zusammenhang der Erfahrung möglich – eine bestimmte Erfahrung muss der Behauptung zugrunde liegen. Natürlich kann die Vorstellung nicht mehr anders bestimmt werden, da sie ihre Stelle in der Zeit gefunden hat, eine Zeitstelle, die aber von dem, was den Zeitmoment ausmacht, abhängt – der sinnliche Gegenstand selbst. Das Argument, das eine Kritik an Kant ist,
Die Frage nach der Objektivität der Zeit, d. h. der Abhängigkeit der Zeit von der Sukzession des Daseins der Erscheinung, wird im nächsten Kapitel behandelt. 95 KrV, B242. 94
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ist: Die Bestimmung mittels der Kategorie soll nicht von dem Gegenstand der Sinne abhängig sein, denn sie ist a priori (und verständig), doch sie ist von einer bestimmten Folge sehr wohl abhängig und somit dadurch mitkonstituiert. Kant will jedoch aufgrund der Deduktion der Kategorien aus den Funktionen des Verstandes in Urteilen die Kausalität nur auf die Zeit a priori beziehen und kann die direkte Verbindung der Kategorie zum Inhalt der Sinne nicht zulassen. Der reine Begriff der Kausalität als Kausalitätsgedanke muss daher in seinem System das einzige Kriterium der Objektivität des Geschehens sein. Die Bestimmung des Objekts der Erkenntnis ist für Kant, obwohl sie den äußeren sinnlichen Gegenstand betreffen soll, immer noch innerlich – der äußere Gegenstand ist jedoch, wie sich zeigen lässt, eine Bedingung für die innerliche Bestimmung des Äußeren. Selbstverständlich ist die Stelle in der Zeit durch eine gedachte Festsetzung dessen, was geschieht, notwendig im Geschehen eingeordnet – das liegt daran, dass die Kausalität reell ist. Kant sagt schon folgendes: Ich brauche also ein Reelles, um etwas als aus einem anderen erfolgend zu bestimmen – und dieses, was aus einem anderen kommt, als objektiv notwendig zu bestimmen, bedeutet nicht, es so zu bestimmen, wie ich es in der Vorstellung allein (ohne tatsächliche Abfolge am Gegenstand) bestimmen könnte. Die Bestimmung der Kausalität geht also nicht auf beliebige Vorstellungen. Das Kausalverhältnis wird nach Kant in Verbindung mit einem Gegenstand durch den Gedanken bestimmt. Das Ding wird für Kant nicht dadurch bestimmt, dass es in einer Folge ist, sondern das »woher« oder »wodurch« gedacht zu haben, ist notwendig, um sagen zu können, dass es objektiv gültig ist (also gedacht). Das Problem ist aber, dass dieses »Woher« aus dem, wie die Dinge selbst sind, hervorgeht, denn ich kann mir in der Vorstellung wohl irgendetwas als aus einem anderen kommend vorstellen, aber was von außen kommt, ist von außen bestimmt und hat eben dadurch – und nur dadurch – einen anderen Charakter als das rein Vorgestellte. Die Problematik des für Kant möglichen Umkehrschlusses wird aus dem folgenden Satz offensichtlich: Wenn wir untersuchen, was denn die Beziehung auf einen Gegenstand unseren Vorstellungen für eine neue Beschaffenheit gebe, und welches die Dignität sei, die sie dadurch erhalten, so finden wir, dass sie nichts weiter tue, als die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art notwendig zu machen, und sie einer Regel zu unterwerfen; dass umgekehrt nur da-
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durch, dass eine gewisse Ordnung in dem Zeitverhältnisse unserer Vorstellungen notwendig ist, ihnen objektive Bedeutung erteilt wird. 96
Die Zeitordnung ist demnach notwendig in einem Verhältnis gegeben. Bei Kant ist es jedoch allein der Verstand, der die Zeitstelle zu einer notwendigen Zeitstelle der Verknüpfung von Vorstellungen der Gegenstände macht: Dieses geschieht nun dadurch, dass er [der Verstand] die Zeitordnung auf die Erscheinungen und deren Dasein überträgt, indem er jeder derselben als Folge eine, in Ansehung der vorhergehenden Erscheinungen, a priori bestimmte Stelle in der Zeit zuerkennt, ohne welche sie nicht mit der Zeit selbst, die allen ihren Teilen a priori ihre Stelle bestimmt, übereinkommen würde. 97
Der Verstand verbindet die Zeit mit der Erscheinung, obwohl die Erscheinung erst durch die Zeit für den Verstand bestimmbar wird. Im folgenden Zitat wird der Kern des Unterschiedes zwischen der Zeit und dem Verstand für die Bestimmung dessen, was objektiv ist und somit der Erscheinung als solcher angehört, von Kant ausgesprochen: Zu aller empirischen Erkenntnis gehört die Synthesis des Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft, die jederzeit sukzessiv ist; d. i. die Vorstellungen folgen in ihr jederzeit aufeinander. Die Folge aber ist in der Einbildungskraft der Ordnung nach (was vorgehen) und was folgen müsse gar nicht bestimmt, und die Reihe der einen der folgenden Vorstellungen kann ebensowohl rückwärts als vorwärts genommen werden. Ist aber diese Synthesis eine Synthesis der Apprehension des Mannigfaltigen einer gegebenen Erscheinung, so ist die Ordnung im Objekt bestimmt, oder, genauer zu reden, es ist darin eine Ordnung der sukzessiven Synthesis, die ein Objekt bestimmt, nach welcher etwas notwendig vorausgehen, und wenn dieses gesetzt ist, das andere notwendig folgen müsse. 98
Kant schreibt in obigem Zitat: »es ist darin eine Ordnung der sukzessiven Synthesis, die ein Objekt bestimmt« – folglich geht Kant implizit davon aus, dass es der Inhalt der Anschauung ist, der in dieser Bestimmung enthalten ist und mittels der Zeit nach einer Regel bestimmt wird, was wiederum das Hervorgehen der einen Vorstellung aus der anderen bestimmt. Der Verstand bestimmt das im Zeitverhältnis Gegebene als eine aus der anderen kommenden Vorstellung. 96 97 98
KrV, B242. KrV, B245. KrV, B246.
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Der Verstand geht also auf eine notwendig reelle und von sich aus bestimmte Vorstellung zu. Kant thematisiert in der zweiten Analogie der Erfahrung die Art und Weise, wie die Vorstellungen einander folgen und bestimmt dabei, dass die Notwendigkeit in der Kausalität als Folge der Vorstellungen liegt und nicht im Objekt, das ich wahrnehme – aber die Folge der Vorstellungen ist in der Apprehension notwendig verknüpft, sofern sie kausal gedacht wird. Das Kausalverhältnis wird in Zusammenhang mit der Folge der Erscheinung gedacht und es stellt sich daraus hervorgehend die Frage, ob die Kausalität, obwohl diese selbst selbstverständlich gedacht ist, nur mit der Folge zusammen (nämlich dieser konkreten Folge) vorgestellt werden kann und daher dadurch mitkonstituiert wird. Der eigentliche Begriff der Folge (in der Apprehension) ist in Kant nur eine bestimmte Zeitstelle und das Kausalverhältnis ist darauf bezogen. Ich kann dabei eigentlich nicht wissen, ob etwas aus etwas anderem notwendig folgt – außer in Beziehung auf meine Vorstellungen. Folglich kann nicht ausgemacht werden, ob das Schiff in Kants Beispiel wirklich flussabwärts schwimmen muss, auch wenn es in diesem Fall so geschwommen ist. 99 Kant will jedoch, wie Eingangs dargelegt, die subjektive Sukzession der Vorstellungen, die im Spiel der Einbildungen ebenfalls gegeben ist, von der objektiven Sukzession der Erscheinungen unterscheiden, um die Erfahrung objektiv grundlegen zu können. Er schreibt in Bezug auf die Notwendigkeit, die in der Folge der Erscheinung gegeben sein muss und durch eine Regel bedingt wird: Nach einer solchen Regel also muss in dem, was überhaupt vor einer Begebenheit vorhergeht, die Bedingung zu einer Regel liegen, nach welcher jederzeit und notwendigerweise diese Begebenheit folgt; umgekehrt aber kann ich nicht von der Begebenheit zurückgehen, und dasjenige bestimmen (durch Apprehension) was vorhergeht. 100
Kant behauptet also, dass die Regel, die in diesem Fall in der Kausalität begründet liegt, das Kriterium der Objektivität des Folgens abgibt und dass die Apprehension selbst, die das Wahrgenommene als ein Nacheinander auffasst, allein kein Kriterium für die Objektivität der Folge abgeben kann. 101 Aber die Kausalität als Gedanke, dass nämlich Vgl. KrV, B237. KrV, B239. 101 Kant schreibt: »Also geschieht es immer in Rücksicht auf eine Regel, nach welcher 99
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etwas aus dem anderen wirklich folgt, ist von der Apprehension bei Kant abhängig, da wir sonst nicht wissen, ob etwas, das nur »in uns zeitlich« erfolgt auch ein Folgen am Objekt ist. Ich kann z. B. sagen: die Wahrnehmung der Türe hat kein Kausalverhältnis zum Wahrnehmen des Fensters am Haus, d. h. die Türe ist nicht Ursache für das nachfolgende Wahrnehmen des Fensters – diese Feststellung Kants stimmt also – aber ich kann nicht sagen, dass der Strom die Ursache für die Bewegung des Schiffes ist, ohne das Vorhergegangene mit dem Nachhergekommenen zu verknüpfen und also kausal zu verbinden – das Kriterium der Kausalität zur Bestimmung der Objektivität ist also vom Wahrnehmen abhängig. Die Kausalität ist aber in dem Fall abhängig davon, dass das eine aus einem anderen hervorgeht, – es ist das Wesen der Kausalität dieses zu bestimmen. Es ist also durch die Kausalität nicht gesagt, dass das Geschehen in der äußeren objektiven Welt erfolgt ist, ohne den Inhalt des Kausalverhältnisses für das Kausalgesetz verantwortlich zu machen. Wenn ich jetzt also sagen würde: es gab eine Ursache, warum ich zuerst die Türe und dann das Fenster betrachtet habe, ist die Tatsache objektiv und kausal; wenn ich desweiteren sage: meine Einbildung von diesem Gegenstand zu dem anderen überzugehen, hatte einen Grund und zwar, dass das Ding in der Einbildung selbst die nachfolgende Vorstellung auslöste, habe ich innerlich eine Form der Ursachenfolge und somit ein Kausalverhältnis. Es ist also hier kein Kriterium für die Unterscheidung zwischen einem »inneren« Erfolgen und einem »äußeren« Erfolgen gegeben, ohne die Tatsache hinzuzunehmen, dass etwas aus dem anderen tatsächlich erfolgt ist und die Kausalität darauf bezogen ist; somit bestimmt die Kausalität die Tatsache des Folgens, sofern das Folgen nach Art der Kausalität verknüpft ist. Kant will aber, um die Kausalität von dem Spiel der Einbildungen abzusetzen, die Kausalität an der Materie festmachen, an der das Geschehen erkannt wird und auf Grund des Gedankens an diesem Geschehen die Verstandeskategorie der Kausalität Grund der Objektivität nennen: 102 Dafür soll die die Erscheinungen in ihrer Folge, d. i. so wie sie geschehen, durch den vorigen Zustand bestimmt sind, dass ich meine subjektive Synthesis (der Apprehension) objektiv mache, und, nur lediglich unter dieser Voraussetzung allein, ist selbst die Erfahrung von etwas, was geschieht, möglich.« (KrV, B240). 102 Kant will sogar behaupten, dass die Objektivität gesichert wird, dadurch dass die Folgen immer gleichbleiben, dass ich also Kausalität als ein Prinzip der Erscheinung erkennen kann, weil die Dinge immer auf diese Art und Weise erfolgen. Er schreibt »Widrigenfalls, wenn ich das Vorhergehende setze, und die Begebenheit folgte nicht
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Kausalität als transzendentale Bestimmung der Gegenstandserkenntnis der Erfahrung der Zeit selbst als beliebige innerliche Sukzession gegenübergestellt werden. Es geht jedoch in der Frage um die Objektivitätsbehauptung der Erkenntnis nicht um die Frage, ob eine Vorstellung innerlich gefasst werden kann, die nicht mit Kausalität gedacht werden kann, denn diese Feststellung gibt keinen Grund an, warum die Gegenstände nicht im Subjekt auch kausal erfolgen und gedacht werden könnten. Nun würde von Kant ausgehend argumentiert werden, dass er nicht behaupte, die Vorstellungen seien nicht notwendig in dieser Reihenfolge erfolgt. Nach der kantischen Auffassung kann aber wiederum nicht behauptet werden, dass die Notwendigkeit der Folge von der Apprehension abhängt, (die nach unserer Erklärung ein Kausalverhältnis bedingt und auf die die Kausalität »wirkt«). So kann Kant aber nicht zwischen dem Inhalt der Apprehension und dem Inhalt der Einbildung adäquat unterscheiden (sofern sie ein Kausalverhältnis »abgibt« und die Kausalität darauf wirkt), wenn nicht stattdessen die Abhängigkeit des Kausalverhältnisses von der Wahrnehmung anerkannt werden würde und die Kausalität etwas bestimmt, das kausal ist. Das notwendige Erfolgen müsste bereits ursprünglicher, in dem was in der Wahrnehmung steckt, zu finden sein und nicht erst in der Begriffsvorstellung des Folgens. Die eigentliche Folge wird, so wurde offensichtlich, durch die Wahrnehmung festgelegt und für die Kausalität als Kausalität ermöglicht anstatt durch den reinen Begriff, der darauf angewandt wird (und der selbstverständlich die Kausalität erst denken lässt). Das Erfolgen der Kausalität ist ein Folgen, weil die Folge überhaupt erst den Gedanken eines Vorher und Nachher als ein ›Woraus‹ entstehen lässt. Das Folgen ist ein Nacheinander und zugleich an der Sache und durch die Sache objektive Folge-Kausalität, die einer objektiven Tatsache zugesprochen wird. Die Folge ist nicht objektiv durch die Kausalität, die dem sinnlichen Gegenstand aufgrund eines notwendigen Folgens auf ein Vorhergegangenes zugesprochen wird.
darauf notwendig, so würde ich sie nur für ein subjektives Spiel meiner Einbildungen halten müssen, und stellte ich mir darunter doch etwas Objektives vor, sie einen bloßen Traum nennen.« (KrV, B247).
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4.7 Die Zeit als vermittelnde Instanz zwischen der apriorischen Erkenntnis und ihrem aposteriorischen Inhalt – Inwiefern ist die Zeit a priori? In der Analytik der Grundsätze wird die Beziehung zwischen den Kategorien und der Erscheinung mittels der Zeit behandelt und es wurde im vorhergehenden Kapitel gezeigt, dass die Kausalität selbst auf die Folge angewiesen ist und an der bestimmten Folge (der Erscheinung) erst gedacht werden kann. Es wurde dabei auch gezeigt, dass die Objektivitätsbehauptung ebenso von der bestimmten Folge an den Erscheinungen abhängt und dass die Kategorie, die Kausalität, daher nicht allein für eine solche Bestimmung hinreichend ist. Ein ähnliches Problem, das aus dieser Kritik an Kant erfolgt, betrifft die Zeit selbst, denn obwohl die Zeit eine vermittelnde Rolle zwischen den Kategorien und der Erscheinung spielt, ist Kants Behauptung, dass die Zeit rein a priori ist, wie im Folgenden gezeigt wird, problematisch. In diesem Unterkapitel wird dargelegt, dass die vermittelnden Zeitbestimmungen nicht rein a priori vorgestellt werden können, insofern sie sich durch Wahrnehmungen konstituieren. Die Zeit und ihre transzendentalen Bestimmungen sind die einzige Instanz in der Kritik der reinen Vernunft, in der die notwendige Korrelation zwischen dem apriorischen Aspekt der Erkenntnis und ihren aposteriorischen Inhalt näher erklärt werden muss. Daher wird die Frage nach dem apriorischen Charakter der Zeit und ihrer Beziehung auf ihren aposteriorischen Inhalt geeignet sein, um zugleich das Verhältnis der Distinktion des Apriorischen und des Aposteriorischen im kantischen System insgesamt in den Blick zu bringen. Damit die Kategorien rein und a priori, d. h. rein intellektuell und in Absonderung von der Sinnlichkeit, betrachtet werden können und in dieser Apriorizität unmittelbar mit der Zeit identisch sind, muss die Zeit und die transzendentalen Zeitbestimmungen als Vermittlungsinstanz zwischen den Kategorien und der Erscheinung dieselbe modale Bestimmung tragen. Es besteht kein Zweifel darin, dass dies ein Grund ist, warum Kant hervorhebt, dass die Regeln, auf welchen die Zeitbestimmungen beruhen, so wie die Zeitbestimmungen selbst, a priori sind. Die essenzielle Frage, die es also zu klären gilt, ist, wo diese Regeln a priori in den Zeitbestimmungen herrühren, bzw. ob sie von den Kategorien her bestimmt werden? Können sie von den
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Kategorien allein herstammen, in Isolation von den Erscheinungen, wie Kant behauptet? 103 Um diese Frage zu beantworten, wenden wir uns erneut dem Nacheinander und der Folge zu. Dabei steht nicht in Frage, dass die Kausalität als die vereinheitlichende Synthesis, die das Nacheinander im Sinne von Ursache und Wirkung verbindet, gedacht werden muss, d. h. eine Einheit ist, die durch das Denken erzeugt wird. Doch das Nacheinander, das Eins-nach-dem-anderen, muss dem Denken gegeben werden, um Kausalität zu denken und die Folge bestimmen zu können. Es ist in Kants Darlegung nicht anzuzweifeln, dass die Einbildungskraft das Nacheinander aus unterschiedlichen und noch unverwandten Erscheinungen allererst synthetisiert und die Einheit derselben Synthesis dabei als vereinheitlichende Verbindung von der Kategorie ausgehen muss, d. h. vom Verstand. Diese Begriffsbildung macht es der Einbildungskraft möglich, die bis jetzt unverbundenen Erscheinungen einheitlich zu einem Nacheinander zu synthetisieren, wodurch die Kausalität reell gedacht wird. Also hat Kant in diesem Sinne recht, zu sagen, dass die Regel, auf der die Zeitbestimmung beruht, a priori ist, insofern die Regel als Regel durch den reinen Begriff, die Kategorie, erzeugt wird. Doch es bleibt hierbei ein Problem bestehen: Weder der Verstand noch die Einbildungskraft noch ihre Korrespondenz kann das Einsnach-dem-anderen ohne einen spezifischen Inhalt and einen anderen spezifischen Inhalt, der darauf folgt, erzeugen. Wie ist das Nacheinander, das Eins-nach-dem-anderen, ohne die sinnliche Empfindung denkbar, die sich ändert? Anders ausgedrückt stellt sich die Frage, wie es überhaupt möglich ist, dass etwas aus einem anderen folgt? Ein reines X, das überhaupt nichts enthält oder innehat und ein anderes reines X, welches diesem folgt, ist nicht denkbar, da es keinen Unterschied zwischen den zwei Xs gibt, d. h. kein eigentliches Verhältnis, besonders nicht eines der Folge – und daher auch keine unterschiedlichen Zeitpunkte, die einander folgen. Unterschiedliche Zeitpunkte nacheinander, d. h. das Eins-nach-dem-anderen, wird durch den Wechsel oder die Veränderung spezifischer Anschauungen erst einmal erzeugt, so wie Kant auch die Erscheinung durch die Form und den Inhalt derselben konstituiert. Die Abstraktion von diesem Inhalt in der Erzeugung eines Nacheinanders zum Zwecke der aprio103
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rischen Bestimmung der Zeit kann niemals eine eigentliche Folge erzeugen, da eine Folge immer reell geschieht. Es ist hier klar, dass für Kant die eigentliche Folge erst durch die Kausalität, also durch den Verstand, und dann als »in der Zeit«, also objektiv, gefasst werden kann; die Zeit ist kein Kriterium der Objektivität. Das Nacheinander selbst aber, wie an der Bestimmung der Veränderung zu ersehen ist, ist notwendig mit dem empirischen Inhalt verknüpft, auch wenn die Sukzession in abstracto darstellbar sein kann, wie z. B. im Allgemeinen anhand einer Linie. 104 Die Erscheinungen müssen demnach einenach-der-anderen gegeben werden, damit die Regel des Nacheinanders als Folge und als Kausalität erklärbar wird. Die Synthesis des Nacheinanders durch die Einbildungskraft ist damit nicht nur von der Kategorie abhängig, im Sinne einer »dienlichen« Synthesis für den Verstand, (die Synthesis der Einbildungskraft selbst ist eine Leistung der Synthesis des Mannigfaltigen im Bereich der Anschauung), sondern auch vom Wahrnehmen eines Gegenstandes im Sinne der Tatsache des Eins-nach-dem-anderen. Dies nun ist nicht als Sinnlichkeit a priori bestimmbar, da die Konstitution des ›Eins-nach-dem-anderen‹ nicht ohne den spezifischen Empfindungsinhalt zustande kommen kann. Bereits zu Beginn seines erkenntnistheoretischen Systems, in der transzendentalen Ästhetik, hatte Kant selbst hervorgehhoben, dass Zeit und Raum ohne Erscheinungen nichts sind, im Verhältnis zu welchen sie das sind, was sie sind: Formen der Anschauung. Kant legt dar, dass das Eins-nach-dem-anderen durch die Form, in welcher die Erscheinungen angeschaut werden, konstituiert wird und diese Form, die Zeit, a priori ist. Aber die ›Form‹, in der die Erscheinungen angeschaut werden und die konstitutiv für die Regel der transzendentalen Zeitbestimmung ist, ist nur dadurch reell, dass wir Erscheinungen wahrnehmen, insofern uns nur hierdurch ein Inhalt in der Weise des Eins-nach-dem-anderen gegeben wird. Die Form des Wahrnehmens und das Wahrnehmen der Gegenstände sind unabtrennbar und die Form der Anschauung ist keine Form, die vom Inhalt der Anschauung isoliert werden kann. Die Form, in der wir Erscheinungen wahrnehmen, ist nicht etwas, das in uns ruht und auf einen Inhalt wartet, zu dem sie intrinsisch unverwandt ist. Obwohl das Nacheinander erst durch die gedankliche Bestimmung eine Notwendigkeit Kant führt zur Erläuterung des Apriori der Zeit die Linie »figürlich« und als »Analogie« an. Vgl. KrV, B50l, B292, A102.
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für das Subjekt erhält, ist die Notwendigkeit des Nacheinanders für diese gedankliche Bestimmung auch gegeben. Die Form der Erscheinungen ist die Weise, wie Erscheinungen uns gegeben werden und sind – sie ist letztlich, um unkantisch zu sprechen, die Allgemeinheit der Sinnlichkeit oder des Wahrnehmens. Wahrnehmung ist demnach nicht einfach eine subjektive Bedingung, sondern auch eine objektive. Die Zeit ist die Allgemeinheit im Wahrnehmen. Das Wahrnehmen kann nicht als durch den Wahrnehmenden in Unabhängigkeit vom Wahrgenommenen konstituiert gedacht werden, da das Wahrnehmende und das Wahrgenommene niemals ohne einander sind. Wir brauchen die aktuelle sinnliche Materie, den Inhalt, der wirklich in unserer Wahrnehmung wechselt, zum Zwecke der Konstitution der Regel, welche Regel die transzendentale Zeitbestimmung mitbestimmt und in diesem Fall der Kausalität auf dem Eins-nach-dem-anderen fußen lässt. Die Regel, die die Zeitbestimmung und die Zeit selbst bestimmt, ist damit nicht a priori im kantischen Sinne, weil sie von den Gegenständen unserer Wahrnehmung letztlich mitbestimmt wird. Warum übersieht Kant die Tatsache, dass die Synthesis, die durch die Einbildungskraft auf der Basis der Kategorien erzeugt wird, für ihre synthetische Produktion auf aktuelle einzelne Erscheinungen in ihrer allgemein gegebenen Weise bezogen werden muss? Von Kant aus ließe sich argumentieren, dass die absolute Allgemeinheit des Eins-nach-dem-anderen and der Gedanke der Kausalität nicht von spezifischen Inhalten abhängig ist, da es nicht relevant ist, was der Inhalt der Sinnlichkeit ist. Da jedoch die Allgemeinheit durch unser Wahrnehmen der Erscheinungen konstituiert wird, nämlich in der Weise des Eins-nach-dem-anderen und dieses Wahrnehmen in der Weise des Eins-nach-dem-anderen nicht möglich ist ohne den spezifischen Inhalt, der auf einen anderen spezifischen Inhalt bezogen ist, steckt das Allgemeine und Notwendige doch auch in dem Erscheinungsinhalt, wenn es auch in der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit erst durch den Verstand gedacht werden muss.
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5. Das kantische System im Sinne der Zeit – Zusammenfassung und Ausblick
Bereits zu Beginn des letzten Kapitels, welches die Zeit im Kontext der Analytik der Grundsätze behandelte, wurde durch den Rückblick auf die Zeit in der transzendentalen Ästehtik in Frage gestellt, ob die Zeit ihre Rolle, das Apriorische mit dem Aposteriorischen zu verbinden, sodass der Verstand als apriorisches Vermögen die Erscheinung bestimmen kann, erfüllen kann. Es wurde dabei auch gefragt, ob die Objektivität tatsächlich durch den Verstand erst ermöglicht wird oder ob die Wahrnehmung, bzw. die Anschauung, dafür mitkonstituierend ist. Diese Fragen brachten die kantische Systematik in den Blick und stellten die Weise der Konstitution der Zeit und des Verstandes in Frage. Wir wendeten uns, abermals in Hinblick auf die Zeit (genauer in Hinblick auf die transzendentale Zeitbestimmung), einer inhaltlichen Untersuchung der Verbindung des Verstandes mit der Erscheinung zu. In der Untersuchung der Regel, die die transzendentale Zeitbestimmung der Kausalität ausmacht, zeigte sich, dass die Kausalität ein Gedanke ist, der selbst nicht aus der Sinnlichkeit gezogen werden kann. Die Kausalität muss gedacht werden und macht den Zeitpunkt der Folge (Wirkung) und der Ursache erst erkennbar, da die Zeitstelle nur in einem notwendigen Verhältnis gedacht werden kann. Nun zeigte sich, dass diese notwendige Stelle, die durch den Gedanken der Kausalität ermöglicht wird, zugleich nur durch die notwendige Zeitstelle selbst ermöglicht werden kann. Es folgt daraus über Kant hinausgehend, dass die Kausalität tatsächlich ein Gedanke ist zur Bestimmung der Notwendigkeit, d. h. also der Objektivität des Geschehens, dieser jedoch mit durch die reelle Folge bestimmt ist. Das heißt der Gedanke der Kausalität muss auch durch die reelle Folge zustande kommen und die reelle Folge, also die Zeitsukzession, kann nur an einem empirischen Gegenstand stattfinden. Kant konnte den Gedanken der Kausalität fassen, indem er ihn gegen die sinnlichen Eindrücke abgrenzte – wir denken etwas, das nicht durch die sinnlichen 76 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Das kantische System im Sinne der Zeit – Zusammenfassung und Ausblick
Eindrücke und ihre Verknüpfung selbst denkbar ist. Kant bestimmt den Gedanken damit negativ: das was Gedacht ist, ist etwas, das nicht sinnlich ist. In der Fundierung seines Systems geht er nicht weiter auf die Entstehung des Gedachten selbst ein – er stellt nicht die Frage, wie das Gedachte als Gedachtes zu denken ist, sondern die Frage, was das Gedachte ausmacht. Das Gedachte wird damit und für die Folge der Systematik als das »Apriori« bestimmt und damit negativ in Abgrenzung der Sinnlichkeit. Den Einfluss der reellen Folge auf die Kausalität anzuerkennen, hätte nun auf dieser Prämisse bedeutet etwas anzuzweifeln, von dem Kant wusste, dass es nicht anzuzweifeln war: der Gedanke der Kausalität – dass die Kausalität ein reiner Begriff ist und nicht durch den Inhalt der sinnlichen Erkenntnis bestimmt wird. 105 Wir können nun, indem wir die Konstitution des Gedachten selbst im Blick haben, das Gedachte nicht allein durch sein Nichtsinnlichsein, bzw. dem, was nicht aus der Sinnlichkeit selbst gewonnen wird, fassen. Wir können nach der Konstitution des Gedachten selbst fragen und zulassen, dass das Sinnliche, zumindest als Gegenstand des Denkens, wie sich an unserem Beispiel der Kausalität zeigen ließ, an der Konstitution des Denkens teilhat. Was konnten wir hierüber ausmachen? Die Frage nach der Objektivität der Sukzession am Gegenstand, die Kant selbst stellt und am Verstand allein festmacht, zeigte, dass wenn die Folge nicht durch den Gegenstand bestimmt wird, die Folge auch nicht notwendig am sinnlichen Gegenstand ist. Die Kausalität ist auch wiederum von der Zeitbestimmung, also von der Zeitstelle und der Folge in der Zeit, abhängig, insofern die Kausalität sonst auch anderweitig vorstellig zu machen wäre (im Spiel der Einbildungen), sie damit aber keine Objektivität hätte. Es zeigte sich, dass die Objektivitätsbehauptung durch Kausalität als reiner Begriff allein nicht standhält. Es offenbarte sich hier zweierlei: erstens zeigte sich, dass Kant eine ›phänomenale Wahrheit‹ für die Objektivität voraussetzt, dass er nämlich einen Unterschied zwischen der Naturerkenntnis und dem Spiel der Einbildungen begründen will. Zweitens zeigte sich, dass durch die alleinige und wesentliche Bestimmung des Gedachten als Nichtsinnliches der sinnliche Inhalt nicht in der Konstitution der Selbstverständlich ist nicht nur die Kausalität ein Verstandesbegriff, aber Kant wählt die Kausalität für zahlreiche exemplarische Auslegungen der Kategorien und hier wurde im Anschluss daran, die Kausalität im Verhältnis zu den anderen Kategorien am ausführlichsten untersucht.
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Die Zeit in Kant
Erkenntnis selbst, des Gedachten selbst, berücksichtigt wurde. Die Objektivität konnte daher, wie sich im Kapitel, das das Selbstbewusstsein behandelt, zeigte, nur formal durch die Funktionen der Urteile begründet werden. In der Untersuchung des Grundsatzes der Erfahrung, der die Kausalität betrifft, zeigte sich, dass auch Kant die Objektivität der Erkenntnis auf ihren (sinnlichen) Inhalt erstrecken will. Er versucht daher also zu erklären, dass durch die Regel, die von der Kategorie ausgeht, eine Objektivität in der Sukzession der Erscheinung bestimmt werden kann, die sich von der Sukzession meiner Einbildungen unterscheidet. Es zeigte sich jedoch, dass er das, was von der Erscheinung als sinnlicher Gegenstand her in die Objektivität hereinspielt, prinzipiell aus der Objektivität ausgeschlossen hatte. In Bezug auf die Kausalität zeigte sich, dass der Gedanke der Kausalität in seiner Bestimmung der Notwendigkeit eines »vorher« und eines »nachher« zum Zwecke des Denkens der Ursache und der Wirkung auf die Folge in der Anschauung zugreift. Diese Erkenntnis führte uns dazu, die Zeit selbst erneut in den Blick zu nehmen und zu fragen, was diese nun für das Denken der Kausalität hergibt und wodurch sie selbst dabei konstituiert ist. Es zeigte sich dabei, wie bereits durch die Untersuchung der Verbindung von Folge und von Kausalität vermutet, dass die Sukzession in der Zeit tatsächlich durch die Wahrnehmung mitkonstituiert wird und es dieses Eins-nach-demanderen der Wahrnehmung und somit der Anschauung ist, das, indem was es selbst ist, als Folge notwendig bestimmt wird.
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II. Hauptteil: Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit
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Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit
Nach der vorliegenden Kantuntersuchung und mit einigen Vorkenntnissen von Heideggers Werk sowie seiner Kantauslegung, drängen sich dem Leser vielleicht dieselben Fragen auf wie mir zu Beginn dieser Arbeit. Heidegger nimmt in seiner Kantauslegung auf die Zeit in der Kritik der reinen Vernunft und ihre systematische Rolle Bezug. Für Heidegger steht die Zeit in einem direkten Zusammenhang zur Seinsfrage und dem Dasein. Wird durch Heidegger die Zeit auf solche Weise grundlegend neu verstanden, dass durch den Begriff die Philosophie insgesamt auf Prämissen geführt wird, die über Kant hinausgehen? Heidegger nimmt auf die Systematik der Kritik der reinen Vernunft Bezug und will die Erkenntnisse in dem Werk unabhängig dieser Systematik entbergen. Steht Heideggers Philosophie im Ausgang Kants, insofern er ein zugrundeliegendes Problem in Kant erkennt und dieses in seinem eigenen Ansatz aufhebt? Entwickelt Heidegger über das Dasein und die Zeit einen philosophischen Ansatz, der nicht auf die Grundlegung der Naturerkenntnis eingeschränkt ist und zuallererst fragt, was es ist, das in Bezug auf das Sein des menschlichen Wesens und damit in der Philosophie in Frage steht? Kann Heideggers Ansatz hierdurch als wissenschaftliche Neubegründung der Philosophie verstanden werden? Oder zielt Heideggers Zuwendung zur Zeit nicht auf die Problematik der Vermittlung der Kategorien mit der Anschauung? Lässt sich Heideggers Werk nicht als philosophische Neubegründung im Anschluss an Kant fassen? Bleibt die Frage nach dem, worum es in der Philosophie geht, in Heidegger letztlich unbeantwortet? Alle diese Frage bauen letztlich in ihrer Beantwortung darauf, zum einen Heideggers Kantauslegung zu verstehen und zum anderen zu verstehen, wie sich Heideggers eigene Vorstellungen zu seinem philosophischen Werk vor und mit der Kantauslegung entwickeln. Wir werden im dritten Hauptteil und im Schlussteil auf diese Fragen zurückkommen, aber um die Grundlage für ihre Beantwortung zu schaffen, müssen wir zunächst Heideggers Kantinterpretation, die Rolle der Zeit für Heidegger und die Entwicklung seines eigenen Werkes im Zusammenhang der Zeit und der Kantinterpretation inhaltlich im Detail untersuchen. Die erste detaillierte und ausführliche Auseinandersetzung mit Kants Zeitbegriff (und mit Kant insgesamt) finden wir in Heideggers Vorlesung Logik: Die Frage nach der Wahrheit, die er 1925/26 in Marburg hielt und die unter gleichnamigem Titel 1976 in der Gesamtausgabe als Band 21 erschien. Die Kantauseinandersetzung 81 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit
schließt sich hier an Heideggers Auslegung des Wahrheitsproblems in der Antike, insbesondere bei Aristoteles, an und wird eingeführt, um das erarbeitete Verständnis der Wahrheit (und der Falschheit) in ihrem Verhältnis zur Zeitlichkeit zu verstehen, welches Verhältnis Heidegger zufolge im antiken Wahrheitsverständnis bereits implizit ist, jedoch nicht im eigentlichen erkannt wurde. Die Vorlesung ist dementsprechend in zwei Hauptstücke gegliedert, deren erstes dem antiken Wahrheitsverständnis gewidmet ist. Die Kantinterpretation kommt im zweiten Hauptstück zu tragen, in dem Heidegger die Frage nach der Wahrheit erneut stellt, indem er die Falschheit in Hinblick auf ihre Temporalität analysiert. Dies soll zugleich eröffnen, was es bedeutet, Sein aus der Zeit zu verstehen. Der Übergang zwischen beiden Teilen – der Begriff der Zeit – wird erst auf den letzten Seiten des ersten Hauptstücks explizit, wo Heidegger über das Verständnis des Seins als Anwesenheit eine Brücke zur Gegenwärtigkeit schlägt, die er wiederum als ein Charakter der Zeit versteht. Es wird hier deutlich, dass sich der innere Zusammenhang der beiden Hauptstücke aus Heideggers Idee von der Rolle der Zeit ergibt: In Hinblick auf die Philosophiegeschichte stehen die Hauptstücke separat – das erste Hauptstück ist der Antike, das zweite Kant gewidmet – doch Heidegger hat einen Grund für sein ungewöhnliches Vorgehen Aristoteles Metaphysik und Kants Kritik der reinen Vernunft in einer Vorlesung zu behandeln. Dieser Grund ist mit der Interpretation der beiden Texte verknüpft, geht aber nicht allein aus ihr hervor. Dies ist schon allein an dem unvermittelten Übergang der beiden Hauptstücke ersichtlich, zeigt sich aber eindeutig daran, dass die Zeit als Begriff in der Auslegung des antiken Wahrheitsverständnisses selbst gar nicht vorkam. Der Grund für die Einbringung der Kantauslegung in die Vorlesung, die mit einer Interpretation der Wahrheit und Falschheit in der Antike anhob, liegt so auch oder vor allem in Heideggers eigener Idee und er hat, soviel ist auf den ersten Blick deutlich, mit dem Begriff der Zeit zu tun. Die Zeit spielt für Heidegger also bereits eine Rolle in der Intention, sich Kant zuzuwenden – ihre Bedeutung für Heidegger ist also nicht erst aus dieser Kantauslegung gewonnen. Wenn wir verstehen wollen, welche Rolle die Zeit in Kant für Heideggers Werk spielt, dürfen wir daher nicht hoffen, Heideggers Zeitbegriff allein aus seiner Kantinterpretation zu ziehen. Wir müssen zunächst Heideggers Idee der Zeit, als welche sie den Rahmen und inneren Zusammenhalt der Vorlesung gibt, nachgehen und so den Weg zu dem Zusammenhang, der die Kantinterpretation be82 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit
gründet, finden. Wenden wir uns in diesem Sinne dem ersten Hauptstück von Logik: Die Frage nach der Wahrheit zu und fragen, was den Boden für das Interesse an der Zeit hier bereitet.
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6. Das erste Hauptstück von Logik: Die Frage nach der Wahrheit und der Übergang zur Kantinterpretation
Die zwei Hauptstücke der Vorlesung Logik: Die Frage nach der Wahrheit folgen einer Einleitung und einer Vorbetrachtung, welche deutlich machen, dass und warum die Logik im Interesse des Wahrheitsproblems untersucht wird. 106 Die zeitgenössische Logik baut ihre Fundamente Heidegger zufolge auf einer vermeintlichen Selbstverständlichkeit – der Satzwahrheit, der Wahrheit im Sinne der Geltung von Aussagen. 107 Im ersten Hauptstück wird dieser Wahrheitsbegriff ins Wanken gebracht und gezeigt, dass und inwiefern sich ein bedeutsam tiefer liegendes Wahrheitsproblem für die Philosophie stellt – ein Wahrheitsproblem, das seine Anfänge in der Antike hat. Das erste Hauptstück ist daher einer Darstellung des Wahrheitsproblems in der Antike gewidmet, welche Exposition unabhängig einer verfälschenden oder »schlechten« Tradition vollzogen werden soll. Es geht im ersten Hauptstück dementsprechend darum, einen offen Blick für die Anfänge des Wahrheitsproblems zu gewinnen. Mit der Interpretation des Wahrheitsproblems in der Antike sollen Heidegger zufolge »vorbereitende Anhalte herausgearbeitet sein« 108, um im zweiten Hauptstück die Frage radikalisieren zu können und nun tatsächlich zu fragen: »Was ist die Wahrheit?« 109 Im zweiten Hauptstück sollen die erarbeiten Thesen über die Wahrheit, die Falschheit, die Aussage und die Synthesis aus dem ersten Hauptstück auf das Phänomen der Zeit zurückbezogen werden und durch die Offenbarmachung dieses Verhältnisses zur Zeit soll die Frage nach der Wahrheit in ihrem eigentlichen Sinne erst ermöglicht werden. Wenden wir uns also Heideggers Darlegung der Anfänge des Wahrheitsproblems in der AntiEine Auslegung über den Begriff der Logik und dem Zusammenhang von Logik und Wahrheit findet sich in der Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie aus dem Wintersemester 1919/20. Vgl. hierzu GA 58, 72–75. 107 Vgl. GA 21, 25. 108 GA 21, 25. 109 GA 21, 25. 106
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Das erste Hauptstück von Logik
ke zu, um dieser Zuspitzung des Wahrheitsproblems auf das Phänomen der Zeit auf den Grund zu gehen.
6.1 Die Frage nach der Wahrheit als Frage nach der Falschheit Heidegger führt in § 11 darauf hin, dass die Wahrheit als Entdecken verstanden werden muss und die Bedeutung der Rede oder Aussage nur fassbar wird, wenn wir sie in Bezug auf dieses Wahrheitsverständnis verstehen. Es wird darin deutlich, dass der Satz nach Heidegger nicht das ist, was Wahrheit ermöglicht, sondern vielmehr »die Wahrheit der Ort des Satzes« 110 ist. Der Satz hat damit ein eigentümliches Verhältnis zur Wahrheit, nämlich ein solches, dass er die Möglichkeit trägt, wahr oder falsch zu sein, nicht selbst jedoch die Wahrheit oder Falschheit ist. Dies nun wirft die Frage auf, die Heidegger in § 12 einführt: »Was macht es, daß der λόγος falsch sein kann, d. h. überhaupt verdecken kann?« 111 Diese Frage nach der Möglichkeit der Falschheit ist zugleich mit der Falschheit selbst bedeutsam für das Verständnis der Wahrheit, denn es geht daraus hervor, dass der λόγος nicht per se entdeckend oder wahr ist, sondern vielmehr auch verdeckend sein kann. Diese Möglichkeit, so Heidegger, ist aber nur dadurch verstehbar, dass es eine Struktur des λόγος gibt, die der Wahrheit oder Falschheit vorhergeht. Diese Struktur nennt Heidegger »Als-Struktur«. Wie ist also Verdeckung in dieser Als-Struktur des λόγος möglich? Heidegger zitiert zur Beantwortung dieser Frage Aristoteles de anima 6, 430b1, und interpretiert ebendiese Stelle dahingehend, dass Verdecken immer ein Zusammensetzen ist, wobei nicht jede zusammensetzende Rede verdeckend sein muss, sondern sie auch entdeckend sein kann. Dies impliziert, dass das Falsche, das Verdecken, nicht das Zusammensetzen ist, sondern das Zusammensetzen vielmehr die Möglichkeit des Verdeckens birgt. Was aber ist dieses Zusammensetzen? Auch hier führt Heideggers Interpretation von Aristoteles Über die Seele weiter: »Wo jedoch sowohl Verdeckung als Entdeckung sein kann, da ist schon so etwas wie Zusammensetzung des Gemeinten, des in den Vorstellungen Vorgestellten, als sei es gleichsam eins. Synthesis ist sonach Fundament für
110 111
GA 21, 135. GA 21, 135.
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Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit
Falsch- und Wahrheit – d. i. hier solche Wahrheit, an deren Stelle auch Falschheit sein kann, d. h. Aussagewahrheit.« 112
Fragen wir jetzt abermals nach der Möglichkeit der Wahrheit und Falschheit im Sinne des Entdeckens, so gilt es Heidegger zufolge demnach ein Phänomen zu erfassen, welches erstens ein Verbinden und ein Trennen zugleich ist, zweitens vor sprachlichen Ausdrucksbeziehungen und deren Zusprechen oder Absprechen liegt und drittens die Bedingung der Möglichkeit dessen, daß der λόγος wahr oder falsch, verdeckend oder entdeckend sein kann, ausmacht. Aristotles nun und mit ihm die antike Philosophie sind Heidegger zufolge nicht über das Verbinden und Trennen als letzte Strukturen hinausgekommen, haben demnach also nicht den Blick auf ebenjenes Phänomen freigeben können. Auch die weitere Entwicklung der Philosophiegeschichte kann Heidegger zufolge nicht weiterhelfen. Wenn Heidegger schreibt, dass sich mit dem Verbinden und Trennen »in unseliger Weise die [Interpretation] von analytischen und synthetischen Urteilen verschlungen« hat und dies seiner Diagnose nach dazu führt, dass »in der scheinbar fertigen und sicheren Wissenschaft der Logik im Grunde nichts ins reine gebracht ist« 113, so ist die Anspielung auf Kant eindeutig – anstatt das gesuchte Phänomen aufzudecken, verstellt die Lehre der analytischen und synthetischen Urteile, so müssen wir diesen Hinweis verstehen, den Blick auf das, was hier eigentlich in Frage steht. Die Logik als ebenjener Teil der Kritik der reinen Vernunft, in dem, wie wir gesehen haben, die Zeit ihre ausgezeichnete Rolle im System zugesprochen bekommt, ist keineswegs »fertig« und »sicher«, wie sie den Anschein vermittelt, sondern verfehlt eine ursprüngliche Fragestellung, die sie, so stellt sich Heidegger hier gegen Kant, beantworten muss, will sie eigentlich sich selbst gerecht werden. Doch Heidegger nähert sich dem gesuchten Phänomen in einer Auslegung der antiken Philosophie an, weil hier für ihn vor einer philosophiegeschichtlichen Verstellung der Weg frei liegt, um dieses in den Blick zu bekommen. Wenn nach Heidegger in der antiken Philosophie explizit auch nicht hinter die Strukturen des Zusammensetzens und Auseinandernehmens hinaus gefragt wurde, so geht er doch einem Hinweis auf das Phänomen, das Zusammensetzen und Auseinandernehmen in einem ist und als solches die Aussage als wahre 112 113
GA 21, 136; Heidegger bezieht sich hier auf de anima 6, 430a27 f. GA 21, 141 f.
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Das erste Hauptstück von Logik
oder falsche erst ermöglicht, nach. Dieser Hinweis ist der λόγος in seiner Grundfunktion als sehenlassende, aufzeigende Rede.
6.2 Die Als-Struktur Um diesen Hinweis auf das Phänomen, das den Ursprung des Zusammensetzens und Auseinandernehmens und damit der Wahrheit oder Falschheit der Aussage ausmacht, auszulegen, verweist Heidegger auf Platons Sophistes. Hier sei auf die Frage, was das Zusammen der Wörter, die aufeinander folgen, ausmache, geantwortet, dass der λόγος λόγος τινός ist. Heidegger interpretiert diese Aussage so, dass die Einheit sich aus dem Beredeten selbst her konstituiert und von da her verständlich wird. 114 Mit diesem Hinweis auf die Einheit, die sich aus dem Beredeten selbst her gibt, wendet sich Heidegger nun in § 12 einer Interpretation dieser Einheit als dem λόγος zugrundeliegend oder vielmehr einer Erläuterung derselben im Sinne seines eigenen Verständnisses zu und zwar unter dem Titel der »Als-Struktur«. Heidegger geht an dieser Stelle von seiner Auslegung des griechischen Verständnisses des λόγος als »aufweisendes Sehenlassen des beredeten Seienden« 115 aus und legt eine hermeneutische Interpretation desselben vor, um die Struktur des λόγος, die ihn gleichsam erst möglich macht, ans Licht zu bringen. Heidegger erläutert, dass im bestimmenden Sehenlassen als ein Modus der Rede oder des λόγος, welches zunächst mit der Aussage angesprochen war, das »Worüber« herausgehoben wird. Dieses »Worüber« ist aber nicht etwas, das durch die Aussage allein konstituiert werden kann, sondern vielmehr eine Hebung, ein Zugänglichermachen des »Worüber«. Das »Worüber« selbst muss schon anwesend sein, schon zugänglich sein, damit es in der Rede gehoben werden kann. Heidegger veranschaulicht dies am Beispiel der schwarzen Tafel, die im Vorlesungssaal, so müssen wir uns beim Lesen des Textes vergegenwärtigen, wirklich gegeben war. Wenn ich, so Heidegger, das Schwarzsein der Tafel ausspreche, wie es in der Aussage »Die Tafel ist schwarz« geschieht, so hebe ich ein »Worüber« heraus und bestimme es. Es muss aber bereits ein »Worüber«, eine schwarze Tafel, gegeben sein, damit ich ein »Worüber« Vgl. GA 21, 142. Heidegger gibt an dieser Stelle nicht an, auf welche Textpassage er sich bezieht. 115 GA 21, 143. 114
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Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit
herausheben kann. Heidegger schließt daher: »Dasein ist an ihm selbst von Hause aus welt-offen, offen für die Welt, die ihrerseits aufgeschlossen ist. Und die primäre Weise dieser Aufgeschlossenheit ist der Aufschluß dessen, was zunächst befragt ist.« 116 Heidegger erläutert diese Aufgeschlossenheit des Daseins und der Welt. Im hinweisenden Ansprechen der Dinge um uns herum – Heidegger wählt als Beispiele die Tafel, das Fenster, die Kreide, die Tür – wir wählen nun Beispiele, die uns gleichermaßen nah sind wie es Heideggers Beispiele ihm und den Studierenden waren – das Buch, das Zimmer, das Fenster, die Türe – sind diese bereits aufgeschlossen. Wir verstehen diese Seienden aus dem »Wozu ihrer Dienlichkeit« 117 und dieses Verstehen, für das Heidegger den Terminus »Entdecken« wählt, um es von der Unterscheidung eines verständigen oder vernünftigen Verstehens im Gegensatz zu einer sinnlichen Auffassung auszunehmen und zu schützen, ist primär. Heidegger schreibt: »Und das ist nicht so zu verstehen, als wäre zunächst ein bedeutungsfreies Etwas gegeben, dem eine Bedeutung angeklebt würde, sondern was zuerst – in einem noch zu bestimmenden Sinne – gegeben ist, ist das zum Schreiben – zum Aus- und Eingehen – zum Beleuchten – zum Sitzen; d. h. Schreiben, Aus- und Eingehen, Sitzen und dgl. sind etwas, worin wir uns von vornherein bewegen: was wir kennen, wenn wir uns auskennen und was wir lernen, sind diese Wozu.« 118
Und die Fußnote, d. h. Heideggers handschriftliche Notiz, besagt: »Tafel – unverständlich – als solche gar nicht vorhanden – verborgen, wenn nicht verständlich zum Schreiben. Tür – ebenso – zum Aus- und Eingehen! Diese verständlich, weil wir es selbst sind, darin uns bewegen, so selbstverständlich, daß wir solches in seiner Grundstruktur für die Konstitution der Dinge überhaupt vergessen.« 119
Diese Auslegung ist wesentlich für Heideggers Philosophie, insofern jede weitere Daseinsanalyse mehr oder weniger explizit damit verbunden ist: Das »Wozu« der Dinge ist konstitutiv für das, was die Dinge sind – sie sind nicht etwas vor oder über das hinaus, als was wir sie verstehen. Diese Struktur, die unser Entdecken und unser orientiertes Sein zu den Dingen und Menschen prägt, nennt Heidegger 116 117 118 119
GA 21, 143. GA 21, 144. GA 21, 144. GA 21, 144 Fn.
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»Als-Struktur«. Sie bedeutet nichts anderes, als dass ich alles, was ich vor mir habe, als etwas vor mir habe – das Buch als zum Lesen, das Fenster als zum Licht hineinlassen, etc. – und ich es nur so entdecke; es sonst kein Buch, kein Fenster für mich gibt. Der Als-Charakter wird nicht ausdrücklich in allem, was ich ständig vor mir habe, ist aber doch, oder gerade deshalb, unserem Erfassen primär, indem wir die Dinge nehmen, wie sie sind als Buch, Fenster, Stift etc. 120
6.3 Das Sich-vorweg-sein als ein Zurückkommen Das »Als-was« ist in dem Sinne, dass es dem Entdecken primär ist, immer schon verstanden, so Heidegger. Dies bedeutet, dass das, was mir begegnet, erst überhaupt aus diesem Als-haften heraus, aus dem Wozu, verständlich wird. 121 Es ist also in diesem Sinne so, dass das Begegnende als solches nicht primär im Erfassen ist, sondern zunächst als ein »Wozu« erfasst wird. 122 Heidegger legt auf dieser Grundlage weiter aus, dass wir im Verstehen immer schon weiter sind als das, was im extremen Sinne gerade gegeben ist. Indem wir also immer alles primär als ein »Wozu«, als ein »Als-was« entdecken, erfassen wir es dabei eben nicht in erster Linie als ein einfach Gegebenes oder Begegnendes. Mein primäres Sein ist damit als besorgendes »In-der-Welt-zu-tun-haben« charakterisiert, in dem ich mir selbst vorweg bin. Wenn ich diese Umweltdinge nun schlicht erfassen will, man könnte sagen eigentlich erfassen oder so wie sie sind, so muss ich Heidegger grenzt sich mit dieser Auslegung deutlich von der erkenntnistheoretischen Tradition, wie sie sich z. B. in Kant oder Hegel findet, ab. Diese Abgrenzung macht er explizit, indem er darauf hinweist, dass es kein bedeutungsfreies »Etwas« gibt, dem im Nachhinein eine Bedeutung angeklebt wird (Vgl. GA 21, 144), dass sich die Dinge nur durch die Als-Struktur konstituieren (Vgl. GA 21, 144 Fn.) und dass ein als-freies Erfassen wie z. B. eine reine Empfindung nur als Absehen, als Privation, des Als-haften denkbar ist, wodurch deutlich wird, dass das Als-hafte das Primäre ist (Vgl. GA 21, 145). 121 Das Als-hafte wird nicht selbst thematisch in meinem alltäglichen Erfassen der Dinge, in dem ich lebe. 122 Heidegger schreibt hierzu pointiert: »Wenn wir also jetzt schärfer zusehen, dann zeigt sich, daß ein sogenanntes schlichtes Da-haben und Erfassen wie: diese Kreide hier, die Tafel, die Tür, strukturmäßig gesehen gar nicht ein direktes Erfassen von etwas ist, daß ich, strukturmäßig genommen, nicht direkt auf das schlicht Genommene zugehe, sondern ich erfasse es so, daß ich es gleichsam im vorhinein schon umgangen habe, ich verstehe es von dem her, wozu es dient.« (GA 21, 147). 120
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Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit
aus dem »Wozu« der Dinge, in dem ich sie primär erfasse, zurückkommen. In Bezug auf dieses Zurückkommen schreibt Heidegger nun: »Es zeigt sich hier schon eine immanente Struktur des schlichten Erfassens, des als-mäßigen Verhaltens, die nun bei genauerer Analyse sich herausstellt als die Zeit. Und dieses Sich-vorweg-sein als Zurückkommen ist eine eigentümlich Bewegung, wenn ich so sagen darf, die das Dasein selbst ständig macht.« 123
Die Einführung der Zeit an dieser Stelle, die den Kern unseres Entdeckens der Welt betrifft, muss für unsere Frage nach der Zeit ins Auge fallen. Doch wie kommt Heidegger an dieser Stelle auf die Zeit zu sprechen? Es ergibt sich aus unserem herkömmlichen Verständnis der Zeit oder aus dem Aufbau der Vorlesung nicht, warum die herausgestellte Struktur Zeit sein soll. Was so zunächst verspricht, unsere Frage nach der Idee, die der Zeit ihre Bedeutung für Heidegger gibt und den Zusammenhalt der Vorlesung leistet, zu erhellen, scheint ein Hinweis zu sein, der uns allererst weiter in ein Dickicht unausgesprochener Bedeutungen führt. Schauen wir uns in diesem Sinne an, wie die Zeit hier eingeführt wird, um so für Heideggers nachfolgende Überlegungen gewappnet zu sein. Wir haben eine Struktur herausgearbeitet, nach der das Erfassen der Umweltdinge primär in einer Als-Struktur statthat, insofern wir die Dinge in ihrem »Wozu« erfassen und zwar so, dass das Ding selbst nicht von diesem »Wozu« abgetrennt ist, sondern sich das Ding durch das »Wozu« konstituiert und ohne es gar nicht erfasst werden kann. Wenn ich nun in der Aussage ein »Worüber« ausspreche, so komme ich auf etwas zurück, dem ich in meinem Erfassen immer schon voraus bin. Diese Struktur des Erfassens als ein Zurückkommen aus dem Sich-vorweg-sein ist die Zeit. Doch inwiefern? Es fehlt jeder Hinweis. Wir müssen an dieser Stelle die Einführung der Zeit also als Fragezeichen stehen lassen und hoffen, dass wir mit neu gewonnenen Kenntnissen auf die Einführung der Zeit an dieser bedeutsamen Stelle zurückschauen und ihr Bedeutung verleihen können. Wenden wir uns in diesem Sinne Heideggers nachfolgender Bemerkung zu, die für uns abermals von besonderem Interesse ist, insofern er die herausgearbeitete Struktur, die er nun mit der Zeit identifiziert hat, in Zusammenhang mit einem Krux-Moment für das 123
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kantische System bringt. Ich zitiere die entsprechende Stelle, der Relevanz für unser vorliegendes Thema wegen, ausführlich: »Also bei einem schlichten Erfassen gerade der natürlichsten Dinge, die ich nicht thematisch erfasse, sondern mit denen ich zu tun habe, sehe ich nicht z. B. ein weißes Ding, an dem ich dann durch irgendwelche Manipulationen herausbekomme, daß es Kreide ist, sondern im vorhinein lebe ich schon in Zusammenhängen des Wozu, ich halte mich hier auf in einer bestimmten Umwelt, die orientiert ist auf bestimmtes Verhalten und Besorgen, und aus diesem Besorgen und Verhalten her verstehe ich dieses Ding als Kreide. Auch wenn ich die feinst ausgebildete Sinnlichkeit hätte im Sinne der Sinneswahrnehmung und Sinneswerkzeuge, also die feinst ausgebildete empfindungsmäßige Rezeptivität gegenüber einem solchen Ding, und wenn ich dazu den reichsten Schatz von Verstandesbegriffen hätte, es bliebe in alle Ewigkeit unverständlich, wie es dazu kommt, daß ich schlicht eine Kreide sehe, unverständlich so lange nicht dieses Grundverhalten des Daseins im Sinne des Zu-tun-habens-mit als Besorgen mit der besagten Struktur zur Interpretation herangezogen wird.« 124
Heidegger bringt hier die Als-Struktur, die als Sich-vorweg-sein und Zurückkommen näher verstanden und als solches mit der Zeit identifiziert wurde, in Zusammenhang mit dem Problem, das wir in Kants Schematismus-Kapitel aufzeigen konnten. Es stellt sich, wie wir gesehen haben, in der Analytik der Grundsätze für Kant die Frage, wie die Kategorien als Verstandesbegriffe auf Erscheinungen angesichts ihrer Ungleichartigkeit überhaupt angewandt werden können. Seine Antwort sucht Kant in der Zeit, genauer in den transzendentalen Zeitbestimmungen, die er im Schematismuskapitel ausarbeitet. Heideggers Anmerkung hier ist demgemäß so zu verstehen, dass Kants Versuch, die Verstandesbegriffe mit der Sinnlichkeit zu einen, nicht gelungen ist, insofern aus der Verbindung, wie Kant sie vorgestellt hat, die einfache Entdeckung eines Gegenstandes in seiner Konstitution nicht erklärbar wird. Wenn wir weiter fragen, warum dies Heidegger zufolge so ist, finden wir einen weiteren Hinweis. Wenn Heidegger vorwegweist, dass ebendieses schlichte Entdecken eines Dinges, der Kreide, verständlich werden kann durch ein Grundverhalten des Daseins als ein Zu-tun-haben-mit, als ein Besorgen mit der Struktur des Sich-vorweg-seins und Zurückkommens, – kurz: durch die Zeit wie Heidegger sie versteht – so wird deutlich, dass Kants Hinwendung zum Phänomen der Zeit Heidegger zufolge nicht 124
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sein Problem gewesen sein konnte, sondern dies vielmehr einen Weg zu einer Lösung bereitet. Es ist also für Heidegger vielmehr problematisch wie Kant die Zeit selbst verstanden hat, als das, was er in der Zeit gesehen hat und die Rolle, die er ihr zusprach. Es ergibt sich damit eine bemerkenswerte Interpretationslage in Bezug auf Heideggers Vorhaben: Das, was Kant als Zeit verstand, ist nicht das, was Heidegger unter Zeit verstehen will. Aber dennoch soll die Rolle, die die Zeit in Kant spielt, so wie Kant selbst sie verstanden hat, uns auf die Zeit wie sie eigentlich zu verstehen ist und ihre Bedeutung hinweisen. Dies sei an dieser trefflichen Stelle lediglich angemerkt – wie diese Interpretationslage genauer zu deuten ist, muss im Zusammenhang von Heideggers Interpretation der Zeit bei Kant im dritten Hauptteil geklärt werden.
6.4 Die Modifikation der Als-Struktur im Bestimmen gegenüber der Als-Struktur im Bedeuten Kommen wir nach der Anmerkung, die die Zeit an dieser bedeutsamen Stelle einführte, auf den weiteren Verlauf des ersten Hauptstücks der Vorlesung zurück. Für uns stellt sich die Frage, inwiefern die Als-Struktur als das »Schon-Sich-vorweg, das zurückkommt aus etwas und im Zurückkommen aufschließt« 125 nun in Zusammenhang mit dem Zusammensetzen und Auseinandernehmen in Aristoteles steht. Heidegger erläutert, dass in der so verstandenen Als-Struktur das, von wo aus gedeutet wird, mit dem »Was« der Deutung zusammengebracht werden muss. Insofern dieses Zusammenbringen zugleich auch eines Auseinanderhalten des »Woher« des Deutens und des zu Deutenden bedarf, kann nun die Als-Struktur als ein Schonsich-vorweg-sein, das auf etwas zurückkommt, Heidegger zufolge tatsächlich im Sinne des ausgelegten aristotelischen Wahrheitsbegriffs verstanden werden. Die Als-Struktur selbst als eine Einheit, die das Zusammensetzen und Auseinandernehmen gleichermaßen umfasst, ist allerdings, so Heidegger, nur in den Blick zu bringen, wenn man über die formale Bestimmung des Zusammensetzens und Auseinandernehmens und damit über Aristoteles hinausgeht. Heidegger möchte in diesem Sinne die Einheit des Zusammensetzens und Auseinandernehmens offenlegen, um den eigentlichen Sinn des 125
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Verhaltens, das Heidegger ›Bedeuten‹ nennt, zu verstehen. Das Phänomen des Bedeutens soll dafür nun in den Blick genommen werden. Um über eine formal-leere Bestimmung (der Wahrheit) hinaus zu kommen, müssen wir uns nach Heidegger fragen, was das Bedeuten uns ist, d. h. als welches Phänomen es sich zeigt. Heidegger schreibt, dass die Als-Struktur und das »Zu-tun-haben-mit als schlichtes Haben und Nehmen« unser Sein zur Welt und »in weitem Ausmaße auch unser Sein zu uns selbst« bestimmt. 126 Aber diese Struktur selbst kann nur deshalb eine Grundart unseres Seins ausmachen, weil das Dasein verstehendes Dasein ist, so Heidegger. Verstehend ist hier nicht im Sinne eines rationalen oder vernünftigen Verstehens eingegrenzt, sondern meint das verstehende Bedeuten, welches hiermit als Seinsweise des Daseins expliziert wird, insofern es der Vorstellung entgegenhält, dass wir primär existieren und danach, als eine Möglichkeit, die etwa in der Zeit oder absolut ausbleiben könnte, in einem zweiten Schritt verstehen. 127 Das Dasein lebt, so Heidegger, vielmehr im verstehenden Bedeuten und hat darin Aufschluss über seine Welt und Umwelt. Der ›Aufschluss‹ ist dabei nicht von der Anwesenheit der jeweiligen Bewandtnis abhängig, sondern kann aufbewahrt werden und macht so ein Verständnis aus, in dem wir uns bewegen. Das Bedeuten in diesem Sinne, insofern es sich nicht auf etwas richtet, arbeitet Heidegger als die primäre Als-Struktur heraus. In der Aussage nun haben wir es Heidegger zufolge mit einer Modifikation der Als-Struktur zu tun. Das »Als-was« wird nicht aus dem »Wozu« her gewonnen, sondern aus dem Angesprochenen selbst. Heidegger macht hier deutlich, dass sich die Als-Struktur dadurch nicht aufhebt, sondern vielmehr hebt. 128 Heidegger fasst drei Momente der Modifikation der Als-Struktur im Bestimmen, d. h. in der Aussage, gegenüber dem schlichten Verstehen zusammen: Erstens wird das »Als-was« im Sinne des Besorgens in der Aussage gehoben, zweitens ist die Orientierung dieser Hebung nicht ein »WoGA 21, 149. Heidegger schreibt: »Das verstehende Bedeuten richtet sich primär weder auf Einzeldinge noch auf allgemeine Begriffe sondern lebt in der nächsten Umwelt und Welt im Ganzen. In diesem Bedeuten hat das Dasein Aufschluß über seine Welt; der Aufschluß selbst ist die Entdeckung der jeweiligen Bewandtnis, in welcher das Seiende als Seiendes anwesend ist.« (GA 21, 150). 128 Heidegger schreibt: »Es ist der eigentliche Sinn der Aussage d. h. des Aussprechens von etwas als etwas, aus dem Angesprochenen das Als-was, aus dem es bestimmt werden soll, ausdrücklich zu haben.« (GA 21, 155.) 126 127
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zu«, ein anderes, sondern das Angesprochene selbst und drittens konzentriert sich die Aussage auf das, worüber die Rede ist als Vorhandenes. Dieser dritte Punkt ist von Heidegger gegenüber dem schlichten Verstehen abgehoben, insofern das »Worüber« im schlichten Verstehen, in meinem Benutzen der Tastatur, nicht thematisch wird. In der Aussage aber wird ein Vorhandenes, die Tastatur, einem »Worüber« nähergebracht, das seinerseits ebenfalls ein Vorhandenes ist, der Computer. Wir weisen also ein Vorhandenes auf in der Weise, in der es vorhanden ist und dies ist, was Heidegger zufolge mit ›Bestimmen‹ eigentlich gemeint ist. Wenn wir nun beachten, dass das »Wozu«, das Schreiben, worin die Tastatur ursprünglich verstanden war, in der Aussage zurückgedrängt wird, so wird deutlich, dass die Aussage in der Tendenz, das Vorhandene als Vorhandenes für das Erfassen näher zu bringen, zugleich etwas verdeckt. Das »In-Sein […] als Sein bei« des schlichten Verstehens, wenn ich schreibe oder sage, die Tastatur klemmt, und damit meine, dass sie mich am Schreiben hindert, ist im Bestimmen verdeckt. Wenn ich einem Ding eine Eigenschaft zuspreche, so nivelliere ich Heidegger zufolge seinen unmittelbaren Seinscharakter als Gebrauchsding. 129 Weil dieses Bestimmen die ursprüngliche Als-Struktur als ein schlichtes Verstehen der Dinge in ihrem »Wozu« voraussetzt, kann es selbst nie das primäre Entdecken sein. Es wird hier deutlich, dass Heidegger auf einen anderen Anfang für das philosophische Denken hinaus will. Die Bestimmung oder das Urteil, ist kein primäres Entdecken, das wir für die Untersuchung voraussetzen können oder das ungefragt im Zentrum des Fragens steht. Heidegger bringt pointiert zum Ausdruck: »Daher [aufgrund seiner Abhängigkeit von der ursprünglichen Als-Struktur] ist das aussagende Bestimmen nie ein primäres Entdecken, das aussagende Bestimmen bestimmt nie ein primäres und ursprüngliches Verhältnis zum Seienden, und deshalb kann es, dieser Logos, nie zum Leitfaden gemacht werden für die Frage, was das Seiende sei.«
Heidegger schreibt: »Dadurch also, daß das Aussagen im Sinne des aufweisenden Bestimmens so gleichsam über die zunächst gegebenen Umweltgegenstände kommt, die primär auf den Gebrauch orientiert sind, werden die Umweltdinge, die Gebrauchsdinge oder überhaupt alles, was auf das Besorgen im Sinne des nicht-theoretischen Verhaltens orientiert ist, nivelliert auf bloß vorhandene Dinge, so daß sie sich nun in Hinsicht darauf, daß sie Gebrauchsdinge sind und zugeschnitten auf bestimmte Verrichtungen, nicht mehr unterscheiden.« (GA 21, 159).
129
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Das erste Hauptstück von Logik
Die Bestimmung oder das Urteil kann demnach Heidegger zufolge und entgegen Kant keinen zufriedenstellenden Ansatzpunkt für die Philosophie bilden und dies nicht aufgrund von sich daraufhin ergebenden systematischen Schwierigkeiten, sondern weil das Urteil das, was in den Blick kommen soll, nicht in den Blick bringen kann, weil es mit dem Verpassen der ursprünglichen Als-Struktur das ursprünglichste Verhältnis zum Seienden überspringt und auf solche Weise sich den Weg zur Frage nach dem Seienden verbaut. Dies jedoch ist, Heidegger zufolge, nicht erst und nicht zuletzt in Kant der Fall. Die Philosophiegeschichte von der Antike bis Husserl hat, Heidegger zufolge, das Bestimmen zum Leitfaden der Frage nach dem Sein gemacht und damit das Seiende als einen Gegenstand der Bestimmung verstanden. Das Bestimmen ist also bereits in Platon und Aristoteles das, woraus Sein verstanden werden soll. Insofern das Bestimmen aber Heideggers Auslegung zufolge nicht primär ist, kann es nicht zum Ausgang für die Frage nach dem Sein gemacht werden; kann das Seiende nicht als Gegenstand der Bestimmung verstanden werden. 130 Es folgt daraus, dass das Zusammensetzen, in dem Aristoteles den λόγος verstanden hat, formal bleiben muss, insofern das »Als-was« des Bestimmens nur das Vorhandene in den Blick bringt und die eigentliche Als-Struktur verdeckt – die Kreide wird als weiß verstanden, aber dieses Zusammensetzen im Sinne der Prädikation entbehrt als solche einem Inhalt. Aus dieser Tendenz heraus, die sich bereits bei Aristoteles zeigt, das Sein im Sinne der Bestimmung zu verstehen, den λόγος im Bestimmen aufzuweisen und das Zusammensetzen, das sich nun vor das Auseinandernehmen geschoben hat, ohne Beziehung zur Als-Struktur des »Wozu« rein formal zu sehen, ergibt sich die Seinsvergessenheit, die sich Heidegger zufolge durch die philosophische Tradition zieht.
6.5 Die Wahrheit als Bei-dem-Seienden-Sein und die Möglichkeit von Wahrheit und Falschheit im Sein des Seienden Heidegger geht nun noch einmal zurück zu Platon und Aristoteles und zeigt, dass die Seinsvergessenheit in der Orientierung am Bestimmen zwar in der Antike bereits ihre Tendenz hat, hier jedoch ein 130
Vgl. GA 21, 159 f.
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Wahrheitsverständnis entwickelt war, das den Weg zu einer eigentlichen Frage nach dem Sein noch offen hielt. Wahrheit war in diesem Sinne nicht verstanden als ein Abbild oder ein Verhältnis zwischen zwei Seienden, einem physischen und einem psychischen. Das Aufweisen war verstanden als beim Seienden sein. Das Seiende muss dabei nicht leibhaft anwesend sein; das Seiende ist daher auch nicht »auf der anderen Seite« zu einem Abbild im Sinne eines korrelativen Gegenüber reduziert. Heidegger schreibt über das Phänomen der Wahrheit an dieser Stelle: »Es ist – wenn man überhaupt so sagen kann – das Verhältnis des Daseins zu seiner Welt selbst, die Weltoffenheit des Daseins, dessen Sein zur Welt selbst, die in und mit diesem Sein zu ihr aufgeschlossen, entdeckt ist.« 131 Wenn die Wahrheit sich nicht durch ein Verhältnis von zwei Seienden bestimmt, sondern im Grunde genommen ein Bei-dem-Seienden-Sein ist, so liegt damit die Möglichkeit der Falschheit (und der Wahrheit) im Seienden selbst und nicht in einem Subjekt, welches ein Verhältnis falsch bestimmt. Die philosophische Tradition, die die Wahrheit im Sinne des Bestimmens verstanden hat, hat den Irrtum und die Täuschung Heidegger zufolge als etwas Subjektives verstanden – der Irrtum hat der Tradition nach seinen Ursprung in einem Denken, das die Gesetze verletzt. Mit der Wahrheit, so zeigt Heidegger mit Aristoteles, muss aber auch die Falschheit, der Auffassung dieser Tradition entgegen, »aus dem Seienden selbst und dessen Sein bezüglich dessen der λόγος das ist, was er ist« und aus dem »daseinsmäßigen Verhalten selbst« entspringen. 132 Um zu klären, was das Phänomen ist, das Wahrheit und Falschheit ermöglicht, führt Heidegger damit auf die Frage nach dem Sein und dem Seienden hin. Es geht, so Heidegger, darum zu fragen, wie das Seiende seinsmäßig so gefasst werden kann, dass es Wahrheit und Falschheit ermöglicht. Aristoteles’ Antwort sucht Heidegger in Kapitel 10 der Metaphysik auf, für das er in der Vorlesung eine eigene Übersetzung vorlegt. In Heideggers Interpretation des betreffenden Kapitels lautet Aristoteles’ Antwort auf diese Frage, wie das Seiende auf solche Weise gefasst werden könne: »Sein besagt ›Beisammen‹ und Einheit (dieses Beisammen). Nicht-sein Unbeisammen und Mehrerleiheit. Und zwar ist das die Seinscharakteristik für das Seiende, das immer ist, was und wie es ist, die άδύνατα ἄλλως ἔχειv, 131 132
GA 21, 164. GA 21, 169.
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was seinem Seinssinne nach nicht anders sein kann. Und auf dem Hintergrunde des ἀεὶ ον wird das ἐνδεχόμενον ἄλλως bestimmt, was bald beisammen, bald unbeisammen, bald Einheit des Beisammen, bald Mehrerlei des Unbeisammen ist.« 133
Es ist damit ausgesprochen, dass es ein Seiendes gibt, das immer ist, was und wie es ist, welches Seiende das Beisammen und Unbeisammen, sowie die Einheit des Beisammen und die Mehrerleiheit des Unbeisammen begründet. Dieses Seiende ist nun Heidegger zufolge selbst ein Unbeisammen, als welches es, da es kein Beisammen hat, keine Möglichkeit hergibt, ein anderes an ihm zu sehen, als nur es selbst. Dieses Seiende »ist vorhanden lediglich an ihm selbst und ›als‹ es selbst.« 134 Es ist also ein Seiendes an der Wurzel des Seins und Nichtseins, der Wahrheit und Falschheit, welches kein Nichtsein, keine Falschheit zulässt – ein Begegnendes an ihm selbst. Heidegger schreibt: »Das Sein dieses Seienden – soll es bestimmt werden am Leitfaden von Entdeckung – kann nur gewonnen werden im Hinblick darauf, wie dieses Seiende von ihm selbst her sich zeigt in diesem Entdecken, das das begegnende Seiende ganz und gar freigibt. Der Hinblick geht jetzt einzig auf das zu Fassende selbst, geht nicht auf ein anderes, aus dem her die Bestimmung möglich werden könnte, sondern das Hinblicken ist selbst das reine Entdecken, so daß es nicht nur keiner Bestimmung bedarf, sondern nicht bedürfen kann.« 135
Dieses Sehenlassen des Seienden wird nun, so Heidegger, von Aristoteles mit der Frage nach der Wahrheit implizit verschränkt, insofern die Beantwortung der Frage nach der Wahrheit zugleich die Beantwortung der Frage nach dem Sein ist. Das schlichte Sehenlassen des Begegnenden, das keine Falschheit kennt, hält sich an das »Betasten«. Wir würden dies aber grundsätzlich falsch verstehen, wenn wir es mit modernen Augen als »sinnlich« deuten. Es geht vielmehr um ein schlichtes Haben, ein Entdecken, das kein Verdecken kennt. Heidegger spitzt dies »roh«, wie er seine eigene Pointierung bezeichnet, zu als eine Identifikation von Sein und Denken. 136 Was heißt dies also ontologisch für die betreffenden Seienden, für das, was jeder Möglichkeit einer Täuschung entbehrt? Es bedeutet für Heidegger, dass 133 134 135 136
GA 21, 180. GA 21, 180. GA 21, 181 f. Vgl. GA 21, 182.
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diese Seienden, aus denen sich jedes andere Seiende ergibt, schlechthin vorhanden sind und zwar so, dass ihre Unvorhandenheit unmöglich ist. Sie sind auch notwendigerweise so vorhanden, wie sie es sind. 137 Von dieser Auslegung des Phänomens am Grunde der Wahrheit und Falschheit, das nun als ein besonderes Seiendes (oder mehrere), bzw. ein Entdecken, für das es kein Verdecken gibt, in den Blick kam, geht Heidegger nun erneut auf die Frage zu, was dies für die Möglichkeit der Wahrheit und der Falschheit bedeutet. Insofern das einfache Entdecken dessen, für das es kein Verdecken gibt, kein Zugehen auf etwas hat, kommt Heidegger zu der Auslegung, dass es der Tendenz, etwas zu erfassen oder der Meinung etwas selbst zu treffen und zu haben bedarf, um getäuscht werden zu können. Die »Seienden sind nie nicht so vorhanden, wie sie es sind«, heißt in diesem Zusammenhang, dass sie keine Möglichkeit der Verstellung enthalten. Es ist keine Täuschung möglich, insofern diese Seienden mit nichts zusammengebracht werden können, mit nichts beisammen sind und so nicht als etwas aus- und vorgegeben werden können. Was ist so ein Seiendes? Heidegger gibt ein Beispiel aus dem Feld der sinnlichen Wahrnehmung. Er schreibt: »Also z. B. die Beziehungen und Unterschiede aller Farben außer Rot ergäben nie die Erfassung des Rot; ich erfasse es nur, wenn ich mich aufmache, um es selbst zu sehen, alle Beziehung zu andern Farben hilft nicht; es ist ein solches Seiendes, das nur erfaßt wird, sofern es rein an ihm selbst genommen wird; ebenso mit Wesen, Bewegung, Zeit u. dergl.« 138
Nach Heidegger gibt es also ein Entdecken, das keine Täuschung als sein Gegenteil kennt und dieses Entdecken ist in einem Unbeisammen des Seienden gegründet, das nicht vermeint wird. Die Möglichkeit der Täuschung liegt damit bei einem Seienden, das beisammen ist. Dieses Seiende ist dabei folglich zugleich etwas, das nur ist, was es ist, insofern es mit anderem beisammen ist. 139 Die Möglichkeit der Vgl. GA 21, 183: »Diese Einfachen, diese letzten Seienden, aus denen jedes Seiende sich bestimmt, sind schlechthin vorhanden und nicht und nie etwa noch nicht vorhanden, also einmal unvorhanden. Ihr Sein schließt jede mögliche Unvorhandenheit aus in dem, was und wie sie sind; diese Seienden sind nie nicht so vorhanden, wie sie es sind.« 138 GA 21, 184 f. 139 Vgl.: GA 21, 185: »Soll Verstellung und Verdeckung überhaupt möglich sein, muß das Seiende selbst eine solche Seinsverfassung haben, daß es auf Grund seines Seins, als dieses Seiende, das es ist, die Möglichkeit eines Beisammen mit anderem hergibt und solches Beisammen fordert, d. h. in der Einheit eines solchen nur ist, was es ist.« 137
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Täuschung muss also, wie auch das einfache Entdecken, das keine Täuschung kennt, Heidegger zufolge im Sein des Seienden wurzeln – das Seiende muss seinsmäßig auf eine Art und Weise verfasst sein, dass es die Entdeckung und die Täuschung ermöglicht. Doch inwiefern?
6.6 Die Möglichkeit der Täuschung Heidegger macht auf dieser Grundlage drei Strukturbedingungen der Falschheit aus. Diese lauten: »1. Die Tendenz zur Entdeckung von etwas – das vorgängige Meinen und Haben des Worüber. 2. In diesem entdeckenden Grundverhalten als von ihm durchherrscht und geführt ein Sehenlassen des Worüber vom anderen her, denn nur auf Grund dieser Struktur besteht die Möglichkeit des Ausgebens von etwas als etwas. 3. Dieses Sehenlassen vom anderen her gründet zugleich in der Möglichkeit des Beisammen von etwas mit etwas.« 140
Heidegger zeigt diese Bedingungen eindringlich anhand eines Beispiels, in dem ich im dunklen Wald ein Reh zu sehen glaube, es aber sodann als Strauch ausmache, auf. Die Veranschaulichung macht die drei Bedingungen sehr verständlich, weshalb es sinnvoll ist, Heideggers Beispiel hier kurz nach zu skizzieren: Zunächst ist es für die Täuschung notwendig, dass ich etwas auf mich Zukommendes habe, etwas das mir schon vorgängig vorgegeben ist. Dieses Zukommende ist es, das Anhalt dafür gibt, überhaupt etwas »auszugeben als«. Heidegger bezeichnet dies als »vorgängige Erschlossenheit von Welt.« 141 Zweitens bedarf die Täuschung, dass ich dieses Zukommende als etwas nehme, d. h. dass es bereits unausdrücklich verstanden ist. Heidegger schreibt: »Nur sofern ich das überhaupt Begegnende aus Hinblicknahme auf etwas (Reh) begegnen lasse, kann es sich als dieses zeigen.« 142 Heidegger macht hier deutlich, dass ich nicht da stehe, gewissermaßen auf der einen Seite, und etwas einfach vor mir habe: ich sehe nicht ein »etwas«, sondern deute das Begegnende als ein Reh, das auf mich zukommt. Das Zukommende ist somit etwas, das vorausgelegt ist und im Bezug des Daseins zur Welt erwartet wird. Die dritte Bedingung für die Täuschung ist, dass im Seienden selbst (und 140 141 142
GA 21, 187. GA 21, 187. GA 21, 187 f.
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zwar im besonderen) die Möglichkeit dieses Beisammen besteht. In Hinblick auf die konkrete Täuschung ist diese Möglichkeit sachlich orientiert, d. h. ergibt sich aus einem »Umkreis von Vorzeichnungen«. 143 Heideggers Erläuterung ist eingängig: »[F]aktisch werde ich im oben genannten Falle nicht meinen, der Schah von Persien komme auf mich zu, obzwar an sich so etwas möglich wäre; es ist ein Seiendes, das in einem deutschen Wald nachts zwischen den Tannen auftreten könnte, während es ausgeschlossen ist, daß ich dort so etwas wie die dritte Wurzel aus 69 auf mich zukommen sehe.« 144
Die drei Bedingungen der Falschheit sind nun offensichtlich miteinander verbunden, aber die Frage stellt sich, wie diese Verbindung genau zu verstehen ist. Wenn wir der einheitlichen Verwurzelung der drei Bedingungen auf den Grund gehen, können wir den Ursprung der Falschheit Heidegger zufolge radikaler verständlich machen. Der Zusammenhang zwischen der zweiten und der ersten Bedingung besteht darin, dass »die Entdeckungstendenz der Aufweisung […] im vorhinein das Worüber des Bestimmens im Blick« hat. 145 Das »Worüber« ist in der zweiten Bedingung noch kein Bestimmen, das Begegnende ist unabgehoben, so Heidegger. Die zweite Bedingung bewegt sich in der ersten, insofern sich das »Worüber« im Begegnenden, im im vorhinein schon Entdeckten ergibt. Wie hängt die dritte Bedingung, die Seinsstruktur des Beisammen, nun mit der ersten Bedingung zusammen? Heidegger schreibt: »Der Seinscharakter, der dem im θιγεῖν begegnenden Seienden nicht zukommt, das Beisammen, wurde von Aristoteles zugleich als ἕν, Einheit gefaßt; was besagt das? Die Einheit eines Vorhandenen und eines Mitvorhandenen. Das Beisammen ist Mitvorhandenheit, die selbst nur möglich wird innerhalb einer Einheit von Vorhandenheit, die ihr zugrunde liegt.« 146
Wie ist dies in Hinblick auf unser Beispiel zu verstehen? Die Mehrerleiheit als Begegnendes, das Reh, ist nur, was sie ist, in der »Einheit einer sie umgreifenden Vorhandenheit.« 147 Die Mitvorhandenheit, das Beisammen, ist nur aufgrund einer primären Vorhandenheit möglich. 143 144 145 146 147
GA 21, 188. GA 21, 188. GA 21, 189. GA 21, 189 f. GA 21, 190.
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Heidegger hat mit der inhaltlichen Untersuchung des Zusammenhangs der Bedingungen herausgestellt, dass die zweite Bedingung in einer vorgängigen Entdecktheit der ersten Bedingung wurzelt und dass die dritte Bedingung ihrerseits in einer vorgängigen Vorhandenheit der ersten Bedingung gründet. Wie hängen nun die vorgängige Entdecktheit und die vorgängige Vorhandenheit in der ersten Bedingung miteinander zusammen? Heidegger schreibt: »Die vorgängige Vorhandenheit des Einfachen, des Seins des begegnenden Etwas, verhält sich wie zu der die Hinblicknahme tragenden vorgängigen Entdecktheit des begegnenden Etwas. Aristoteles sagt: das Sein ›ist‹ die Entdecktheit.« 148 Die Aufsuchung der Wurzel der Falschheit im Seienden hinsichtlich seiner Seiendheit, hat Heidegger hiermit darauf geführt, dass das Seiende hinsichtlich seines Seins aus der Entdecktheit interpretiert werden muss.
6.7 Die Entdecktheit als Bestimmung des Seins und die Rolle der Zeit Aristoteles hat Heidegger zufolge die Frage, »warum Entdecktheit, Wahrheit, die Bestimmung und die eigentlichste Bestimmung von Sein ist und sein kann« nicht gestellt, sondern diese Bestimmung einfach vollzogen. Es geht nun für Heidegger darum, die unausgesprochenen Voraussetzungen für diese Bestimmung aus einem nicht expliziten Seinsverständnis der Griechen heraus verständlich zu machen. Es geht für ihn darum, den phänomenalen Zusammenhang ausdrücklich zu machen und seine Voraussetzungen methodisch ans Licht zu bringen. Und dies ist nun die Stelle, an der Heidegger die Rolle und Bedeutung der Zeit einführt und zwar über die »Anwesenheit« oder Präsenz. Heidegger schreibt: »Unsere Frage ist: Was besagt Sein, damit Wahrheit als Seinscharakter verstanden werden kann? Es wurde schon angedeutet, die Seinsbestimmung des Beisammen, die Aristoteles in Kapitel Θ 10 einführt, bedeutet Vorhandenheit, nämlich im Sinne des Mitvorhandenseins von etwas mit etwas in der Einheit eines Vorhandenen. Diese, nämlich die im vorhinein die Mitvorhandenheit fundierende primäre Vorhandenheit muß aber verstanden werden als Anwesenheit, Präsenz.« 149 148 149
GA 21, 190. GA 21, 191.
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Heidegger legt weiter aus, dass insofern das Sein als Anwesenheit verstanden wird, das Verhalten zum Seienden als Seiendem einen präsentischen Charakter haben muss. Dieser präsentische Charakter ist nun aber nicht nach Art eines psychischen Vorkommnisses, als welcher er nicht von der Präsenz eines Dinges unterschieden wäre. Vielmehr ist die Präsenz des Verhaltens für Heidegger eine grundsätzlich von der Präsenz des Dinges oder der Präsenz der Vorstellung unterschiedene, – sie ist ein Präsentieren oder »Gegenwärtigen«. 150 Das Gegenwärtigen ist demzufolge bei Heidegger die besondere Weise des Entdeckens, die keine Täuschung kennt, insofern sie einem Seienden begegnet, welches schlichtweg vorhanden ist. Es ist nun Heidegger zufolge so, dass die Griechen das Sein bereits als Anwesenheit und Gegenwart bestimmt haben, aber die Gegenwart dabei nicht als ein Charakter der Zeit erfasst haben. In der Antike wurde daher Heidegger zufolge nicht gesehen, dass Sein als Anwesenheit zu verstehen zugleich bedeutet, Sein aus der Zeit zu verstehen. 151 Mit dieser Diagnose leitet Heidegger nun in den zweiten Hauptteil der Vorlesung über. In diesem soll expliziert werden, daß und inwiefern es Falschheit nur gibt, insofern es Zeitlichkeit gibt. 152 Erinnern wir uns daran, dass Heidegger zufolge die Falschheit mit der Wahrheit in einem Sein des Seienden gründet, welches nunmehr als Anwesenheit (Präsenz) bestimmt wurde, so deutet die so gefasste Aufgabe darauf hin, dass auch das Sein des Seienden und die Wahrheit nur durch das Phänomen der Zeitlichkeit offenbar werden können. Auf diesem Boden ist es nun, dass die Kantinterpretation im zweiten Hauptteil statthat und dies aus zwei Gründen: Aus der Entwicklung des inneren Zusammenhangs des Seinsverständnisses aus der Zeit, wie er im ersten Hauptteil der Vorlesung deutlich geworden sein sollte, ergibt sich erstens Heidegger zufolge die Orientierung, Vgl. GA 21, 192. In der frühen Aristotelesinterpretation der Freiburger Vorlesung Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zur Ontologie und Logik aus dem Jahre 1922 spricht Heidegger in Bezug auf Aristoteles von »Zeitigung« und »zeitigen«, welche er mit dem Vollzug in Verbindung bringt (Vgl. GA 62, 42). Diese legt Heidegger selbst am Ende der Vorlesung auf die Zeitlichkeit um (Vgl. GA 62, S. 259 ff.). 152 Heidegger schreibt: »Für uns entsteht die Aufgabe, aus dem Einblick in diesen inneren Zusammenhang von Wahrheit, Entdecktheit als Gegenwart und Sein als Anwesenheit nun erst deutlich zu machen, inwiefern die drei Bedingungen der Möglichkeit der Falschheit in sich zusammenhängen, um dann zu zeigen, daß es Falschheit überhaupt nur gibt, sofern es Zeitlichkeit gibt.« (GA 21, 194 f.) 150 151
102 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Das erste Hauptstück von Logik
unter der die Philosophiegeschichte überhaupt sinnvoll in den Blick gebracht werden kann. Es ist also das Seinsproblem angesichts der Zeit, welches durch eine Kritik der Philosophiegeschichte offenbar werden soll. 153 Das Sein soll dabei nicht, wir erinnern uns, von der Bestimmung her gefasst werden. Zweitens sieht Heidegger nun einzig in Kant eine Ahnung, d. h. einen Hinweis, auf »den Zusammenhang des Verstehens des Seins und der Seinscharaktere mit der Zeit.« 154 Doch wie zufriedenstellend ist dieser Boden für die Kantinterpretation für uns? Hinsichtlich des zweiten Grundes haben wir bereits auf die Eigentümlichkeit der Interpretationslage hingewiesen. Diese können wir nun verdeutlichen. Heidegger begründet seine Hinwendung zu Kant am Ende des ersten Hauptteils ausdrücklich in Bezug auf die Rolle der Zeit in Kants Kritik der reinen Vernunft. Gleichzeitig diagnostiziert Heidegger, dass es gerade Kants Begriff der Zeit ist, der ihm den Weg zu einem eigentlichen Seinsverständnis versperrt. Heidegger zufolge findet Kant auf dem Boden eines Verständnisses der Zeit als Weltzeit oder Ordnung der Naturdinge »nicht den eigentlichen Boden, um den Schematismus der Verstandesbegriffe der ›Kritik der reinen Vernunft‹, in dem die Zeit den eigentlichen Grundbegriff bildet, zusammenzubringen mit der Grundfunktion des Bewußtseins, der transzendentalen Apperzeption.« 155 Es zeichnet sich hier ab, dass es die Problemkonstellation, die Kant im Schematismus der Verstandesbegriffe untersucht, selbst ist, welche, insofern sie durch die Zeit aufgelöst werden soll, für Heidegger darauf hinweist, dass Kant eine Verbindung zwischen Seinsverständnis bzw. den Seinscharakteren und der Zeit sah. Es ist damit die Rolle der Zeit und das, was sie phänomenal hergibt, was für Heidegger in Kant bereits die Verbindung der Zeit mit den Seinscharakteren und mit dem Verständnis des Seins vorzeichnet. Wir haben hiermit einige Vorzeichen gewonnen, unter denen die Interpretation der Zeit in Kant für Heidegger statthat. Gleichzeitig sind wir auf eine tieferliegende Schwierigkeit gestoßen als es sich zunächst angesichts des Vorlesungsaufbaus hätte Vgl. GA 21, 194: »Hat man diese Problematik des inneren Zusammenhangs des Seinsverständnisses aus der Zeit einmal verstanden, dann hat man freilich gewissermaßen eine Leuchte, um nun in die Geschichte des Seinsproblems und in die Geschichte der Philosophie überhaupt zurückzuleuchten, so daß sie nun Sinn bekommt.« 154 GA 21, 194. 155 GA 21, 194. 153
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Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit
vermuten lassen: Insofern Kants Zeitbegriff Heidegger zufolge gerade das ist, was ihm im Wege stand, um die Verbindung der Zeit zur Einheit der Apperzeption zu denken und damit einen eigentlichen Zugang zur Seinsfrage zu gewinnen, können wir erstens nicht davon ausgehen, dass Heidegger seinen Zeitbegriff durch Kant entwickelt und zweitens nicht einmal den gleichen Begriff der Zeit in Anschlag bringen. Mehr noch: wir wurden darauf hingewiesen, dass mit dem Zeitbegriff in Kant und mit dem Zeitbegriff in Heidegger etwas grundsätzlich anderes gemeint sein könnte, so grundsätzlich, dass wir nicht über eine Divergenz innerhalb der Begründung eines Begriffs sprechen, sondern das Wort Zeit jeweils etwas gänzlich Verschiedenes bezeichnet. So sind wir vor die Schwierigkeit gestellt, dass sich Heideggers Zeitbegriff als eine Voraussetzung für seine Kantinterpretation herausstellt und dies führt uns zum ersten oben genannten Grund, der Heidegger zur Kantinterpretation leitet. Hinsichtlich des ersten Grundes ergibt sich die Frage, wie deutlich der Zusammenhang des Seinsverständnisses mit der Zeit, welches ein eigentliches Seinsverständnis erst ermöglichen soll, im ersten Hauptstück von Logik: Die Frage nach der Wahrheit überhaupt wurde. Das Seinsverständnis bis hin zur Anwesenheit wurde im ersten Hauptteil der Vorlesung, wie wir nachvollzogen haben, explizit thematisch und eingängig ausgelegt. Die Präsenz und Gegenwärtigkeit wird von Heidegger als ein Modus der Zeit verstanden und somit wird die Zeit tragend für die Frage nach der Wahrheit und mit ihr für das Seinsverständnis. Aber hieraus erklärt sich nicht, warum sich »Aussage, Wahrheit, Falschheit und Synthesis, einheitlich auf diesen phänomenalen Zusammenhang der Zeit zurückbeziehen« 156, warum die gesamte bisherige Erkenntnis im Sinne der Zeit verstanden werden muss und warum der zeitliche Aspekt der Anwesenheit wesentlich für das Seinsverständnis sein soll. Die Zeit wird vielmehr auf den letzten Seiten der Auslegung eingeführt und dabei so, dass ihre Bedeutung vorausgesetzt wird. Der Zeit soll dabei die gewichtige Aufgabe zukommen, ein Seinsverständnis zu verdeutlichen, dass seinen Anfang im Entdecken eines primär Vorhandenen nimmt, anstelle der Bestimmung und damit die Philosophie letztlich allererst eigentlich zu fassen. Der Übergang vom ersten in das zweite Hauptstück der Vorlesung und die rasche Einführung der Zeit legt also nahe, dass Heidegger eine Idee der bedeutungsvollen Rolle der Zeit hat, die dem 156
GA 21, 197.
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Das erste Hauptstück von Logik
Gang der Vorlesung vorausgeht und nicht als solches oder wenigstens nicht allein aus der Annäherung an ein Wahrheitsverständnis durch die Interpretation der altgriechischen Texte hervorgeht. Diese Annahme stützt sich außerdem auf die Tatsache, dass Heidegger 1925 eine Vorlesung unter dem Titel Die Geschichte des Zeitbegriffs hält und 1924, also ein Jahr vor unserer behandelten Vorlesung, seine Abhandlung Der Begriff der Zeit verfasst, sowie einen gleichnamigen Vortrag vor der Marburger Theologenschaft hält, welche beide nicht im Kontext des antiken Wahrheitsverständnisses stehen. Es wird hier deutlich, dass Heideggers Interesse an der Zeit mindestens eine weitere Wurzel hat, wenn nicht insgesamt anderen Ursprungs als der Zusammenhang unserer Vorlesung ist. Es zeigt sich hiermit, dass die Heideggersche Interpretation des Kantischen Zeitbegriffs, sich auf ein Zeitverständnis Heideggers stützt, welches sich bereits vor der Vorlesung 1925/26 entwickelt. Wenden wir uns also rückschreitend vom ersten Hauptteil der Vorlesung Logik: Die Frage nach der Wahrheit 1925/26 den Voraussetzungen des hier angebrachten Zeitverständnisses in Heideggers früheren Werken zu.
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7. Prolegomena zu Geschichte des Zeitbegriffs
Im Sommersemester 1925, also unmittelbar vor der Vorlesung Logik: Die Frage nach der Wahrheit im Wintersemester 1925/26, hält Heidegger eine Vorlesung mit dem Titel Geschichte des Zeitbegriffs. Prolegomena zu einer Phänomenologie von Geschichte und Natur, welche insgesamt drei Hauptteile umfassen sollte. Heidegger gelangte jedoch lediglich zur Ausführung des ersten Hauptteils und auch hier nur zu zwei Abschnitten, wobei der letztere stark gerafft vorliegt. 157 Da Heidegger nicht zur Ausführung der betitelten Thematik gelangt, der Geschichte des Zeitbegriffs, erscheint die Vorlesung in der Gesamtausgabe Band 20 1979 unter dem abgeänderten Titel Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs. Aus dem ursprünglich gewählten Titel lässt sich absehen, dass die Zeit von Heidegger bereits als zentrale Thematik erkannt wurde – doch inwiefern? Die Zeit kommt hier zunächst in einer ihrer Seinsweisen phänomenologisch in den Blick, nämlich als das, was die Abgrenzung bestimmter Seinsgebiete ausmacht. Heidegger schreibt: »Dieser zeitlichen Gesamtwirklichkeit [der Geschichte und der Natur] pflegt man die außerzeitlichen Bestände gegenüberzustellen, die z. B. in der Mathematik Thema der Forschung sind. Neben diesen außerzeitlichen Beständen der Mathematik kennt man überzeitliche der Metaphysik oder der Theologie als Ewigkeit.« 158
Als ein solcher Index der Seinsgebiete sieht Heidegger im Zeitbegriff selbst die Möglichkeit, Aufschluss über die Art und Wirklichkeit der Abgrenzung der Seinsgebiete zu erhalten. Der Zeitbegriff ist durch die Abgrenzung der Seinsgebiete in der Philosophiegeschichte »der Leitfaden für die Frage nach dem Sein des Seienden und seinen möglichen Regionen« 159, dies jedoch so, dass der Zeitbegriff selbst in die157 158 159
Vgl. Nachwort des Herausgebers Petra Jaeger; GA 20, 443. GA 20, 8. GA 20, 8.
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Prolegomena zu Geschichte des Zeitbegriffs
ser seiner Rolle nicht zu Bewußtsein kommt. Insofern die Philosophie nach dem Sein des Seienden fragt, ist der Zeitbegriff damit für Heidegger mit der Grundfrage der Philosophie verbunden. In diesem Sinne ist für Heidegger die Geschichte des Zeitbegriffs identisch mit der Geschichte der Philosophie, insofern die Philosophiegeschichte in diesem Bewusstsein ihrer Bestimmung durch die Zeit betrachtet wird. 160 Wir haben damit bereits auf den ersten Seiten der Einleitung einen Hinweis darauf, warum Heidegger weniger als ein Drittel der geplanten Vorlesung ausgeführt hat: insofern die Philosophiegeschichte ihm zufolge unvermögend war, die Frage nach dem Sein neu zu stellen, ist die Geschichte des Zeitbegriffs, die Heidegger hier zum Thema macht, gleichbedeutend mit der Destruktion der gesamten Philosophiegeschichte. Nicht nur das: um einen positiven Anhaltspunkt für diese Destruktion zu gewinnen, muss Heidegger ein Zeitverständnis vorlegen, welches erklären kann, was der Zeit und dem Verständnis ihrer die eigentümliche Funktion zur Scheidung der Wirklichkeitsgebiete in zeitliche, außerzeitliche und überzeitliche zukommen lässt. Dieses Vorhaben, wie es in der Einleitung ausgesprochen wird, macht Heideggers Intention und die Rolle des Zeitbegriffs deutlich. Unser Aufschluss über die Bedeutung der Zeit für Heidegger bleibt damit aber in der Einleitung stecken, insofern nun so weit ausgeholt wird, dass auf die Zeit überhaupt nur noch vereinzelt Bezug genommen und stattdessen die Situation der Wissenschaften und Philosophie, insbesondere der Phänomenologie, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Detail untersucht wird. 161 Heidegger selbst bezeichnet seine Einleitung in die Rolle der Zeit bezüglich der Scheidung der Seinsgebiete als roh und verweist uns damit abermals auf die Frage, woher die Bedeutung der Zeit inhaltlich motiviert ist.
»Die Geschichte des Zeitbegriffs ist dann aber die Geschichte der Entdeckung der Zeit und die Geschichte ihrer begrifflichen Interpretation, d. h. diese Geschichte ist die Geschichte der Frage nach dem Sein des Seienden, die Geschichte der Versuche, das Seiende in seinem Sein zu entdecken, getragen von dem jeweiligen Verständnis der Zeit, von der jeweiligen Stufe der begrifflichen Ausarbeitung des Zeitphänomens.« (GA 20, 8) 161 Zwar finden sich im zweiten Abschnitt Die Freilegung der Zeit selbst, welcher lediglich 21 der insgesamt 442 Seiten umfassenden Vorlesung ausmacht, einige Hinweise darauf, welche Bedeutung der Zeitbegriff trägt und wie er sich phänomenologisch ausdeuten lässt, doch diese lassen sich weitaus besser in den beiden Schriften mit dem Titel Der Begriff der Zeit auslegen. 160
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8. Heideggers Vortrag Der Begriff der Zeit
Im Jahre 1924 hält Heidegger einen Vortrag vor der Marburger Theologenschaft mit dem Titel Der Begriff der Zeit und im selben Jahr entsteht die gleichnamige Abhandlung, die 2004 erstmals erscheint und als Band 64 der Gesamtausgabe veröffentlicht ist. Wir wenden uns an dieser Stelle zunächst dem Vortrag zu, der sich in genanntem Band ebenfalls abgedruckt findet, aber bereits 1989 durch Heidegger selbst im Niemeyer Verlag veröffentlicht wurde. Wir untersuchen diesen Text zuerst, da Heideggers erste Fußnote zum Kapitel Dasein und Zeitlichkeit in der Abhandlung, in der er darauf hinweist, dass einiges aus betreffendem Kapitel im gleichnamigen Vortrag dargelegt worden sei und die Eingangspassagen zitiert werden, darauf schließen lässt, dass die Ausarbeitung der ausführlicheren Abhandlung zur Zeit des Vortrags noch nicht abgeschlossen war. 162 Der Zusammenhang zwischen den beiden gleichnamigen Schriften wird nach der Behandlung der Abhandlung in den Blick kommen.
8.1 Die Ewigkeit und die Frage nach der Zeit im Sinne einer Vorwissenschaft Heideggers Auseinandersetzung mit der Zeit steht in dem Vortrag Der Begriff der Zeit unter der Frage nach der Ewigkeit. Die Ewigkeit ist dabei das, was durch die Untersuchung der Zeit offenbart wird, d. h. die Nachforschung über die Zeit bringt uns zu einem Verständnis der Ewigkeit. 163 Gleichzeitig ist die Ewigkeit Heidegger zufolge Vgl. GA 64, 45. Es wird hier deutlich, dass die Bedeutung des Todes und mit ihm der Sterblichkeit für Heideggers Denken nicht gleichsam die Frage nach der Ewigkeit ersetzt oder auslöscht. In diesem frühen Werk Heideggers zeigt sich vielmehr an, dass das Vorlaufen in den Tod eine andere Art und Weise ist, die Ewigkeit in den Blick zu bringen. Dies deckt sich damit, dass die Zeitlichkeit des Menschen nicht ein In-der-Zeit-Sein ist und
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das, worin die Zeit ihren Sinn findet. 164 Mit dieser Einleitung zeigt Heidegger an, warum er überhaupt nach der Zeit fragt, warum der Begriff der Zeit von Interesse ist, nämlich im Sinne der Ewigkeit. Aber für was ist die Zeit, insofern sie in der Ewigkeit ihren Sinn findet, von Interesse? Heidegger macht sogleich deutlich, dass es nicht die Philosophie ist, die das Interesse nach der Zeit auf diese Weise im Sinne der Ewigkeit bestimmt. Es ist auch nicht das Interesse der Physik an der Zeit, nicht das der Geschichte oder das der Theologie. Es ist das Interesse des Vortrags, Heideggers Interesse, ein Interesse, das sich zunächst nicht in das Prinzip einer Wissenschaft einbinden lässt. Die Wissenschaften fragen Heidegger zufolge bereits auf ihre eigene Art und Weise nach der Zeit und die Philosophie unter ihnen fragt nach der Zeit auf eine solche Art und Weise, dass die Ewigkeit daraus nicht erschlossen werden kann. Es klingt hier also bereits an, dass Heidegger unter seiner Frage nach der Zeit im Sinne der Frage nach der Ewigkeit eine Frage versteht, die vor das Prinzip der überlieferten Philosophiegeschichte hinausgeht und es zugleich fraglich werden lässt. In diesem Sinne bezeichnet Heidegger den Vortrag als eine Vorwissenschaft, die gleichzeitig mit der Frage nach der Zeit im Sinne der Ewigkeit den Sinn der Philosophie selbst zum Gegenstand hat. 165 Anders ausgedrückt, geht es darum herauszufinden, was die Hauptfrage der Philosophie ist, wonach gefragt werden soll. Heidegger schreibt in diesem Sinne, es ginge in dem Vortrag darum, »Nachforschungen darüber anzustellen, was mit dem, was Philosophie und Wissenschaft, was auslegende Rede des Daseins von ihm selbst und der Welt damit, dass das Dasein »da« sein kann, auch wenn es nicht (mehr) existiert. Dies stellt Auffassungen über die Zeitlichkeit in der Forschungsliteratur in Frage, wie diejenige von Margot Fleischer, nach der die Endlichkeit des Daseins schlichtweg die Frage nach der Ewigkeit ersetzt. Margot Fleischer schreibt in ihrer Ausführung zu Heideggers Zeitanalyse in Sein und Zeit: »Menschliche Endlichkeit kann kaum radikaler gedacht werden, als es in Sein und Zeit geschehen ist. […] Nicht, daß nicht seit langem schon Endlichkeit und Zeitlichkeit des Menschen zusammengebracht worden wären. Aber die Tradition hat zumeist ein Partizipieren des Menschen am Ewigen hinzugedacht […]. »Sein und Zeit« hat solch metaphysische Perspektive verabschiedet.« (Margot Fleischer: Die Zeitanalysen in Heideggers »Sein und Zeit«. Aporien, Probleme und ein Ausblick. Würzburg 1991, 7). Es zeigt sich hier, dass diese Auslegung der Endlichkeit in Sein und Zeit, zumindest einen Kontrapunkt in Heideggers früher Auseinandersetzung mit der Zeit hat. 164 Vgl. GA 64, 107. 165 Vgl. GA 64, S. 107.
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sagt, am Ende gemeint sein könnte.« 166 Es ist hier also zunächst angezeigt, dass für Heidegger Philosophie und Wissenschaft in ihrem Grunde und wenn sie sich auf ihre eigentliche Frage besinnen, mit der auslegenden Rede des Daseins und dem, was diese über das Dasein und die Welt sagt, gleichbedeutend ist. Diesem, was auslegende Rede des Daseins von ihm selbst und der Welt sagt, und damit zugleich dem, worauf die Philosophie eigentlich hinaus ist, ist nun näher zu kommen, indem wir nach der Zeit fragen und mit ihr nach der Ewigkeit. Heidegger schreibt: »Wenn die Zeit ihren Sinn findet in der Ewigkeit, dann muss sie von daher verstanden werden. Damit sind Ausgang und Weg dieser Nachforschung vorgezeichnet: von der Zeit zur Ewigkeit.« 167 Nun ist hiermit die erste Schwierigkeit bereits ausgesprochen: wir verstehen die Zeit aus der Ewigkeit, aber ein Wissen über die Ewigkeit haben wir nicht. Diese Lage bringt uns näher daran zu verstehen, in welchem Verhältnis die Zeit in dieser frühen Phase Heideggers zur Philosophie steht und was die Auseinandersetzung mit der Zeit für Heidegger bedeutet. Heidegger sagt gleich zu Beginn des Vortrags: »Sollte die Ewigkeit etwas anderes sein als das leere Immersein, das ἀεί, sollte Gott die Ewigkeit sein dann müßte die zuerst nahegelegte Art der Zeitbetrachtung so lange in Verlegenheit bleiben, als sie nicht von Gott weiß, nicht versteht die Nachfrage nach ihm. Wenn der Zugang zu Gott der Glaube ist und das Sich-einlassen mit der Ewigkeit nichts anderes als dieser Glaube, dann wird die Philosophie die Ewigkeit nie haben und diese sonach nie als mögliche Hinsicht für die Diskussion der Zeit in methodischen Gebrauch genommen werden können. Diese Verlegenheit ist für die Philosophie nie zu beheben.« 168
Es ist also nicht so, dass die Philosophie schlichtweg unter einem neuen Prinzip verstanden werden muss, wie es in jedem der großen Denker der Philosophiegeschichte geschehen ist, sondern das Selbstverständnis des Nachdenkens, welches in dem Vortrag als ›Vorwissenschaft‹, als nicht der Philosophie zugeordnet, bezeichnet wird, ist vielmehr ernst zu nehmen, insofern sich der Philosophie eine grundlegende Problematik stellt. Und zwar ist hier von Heidegger darauf hingewiesen, dass die Philosophie das, was eigentlich fraglich ist, nicht fragen kann, da sie keinen Zugang zur Ewigkeit hat. Dies 166 167 168
GA 64, 108. GA 64, 107. GA 64, 107.
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wiederholt sich auf der folgenden Seite, wenn Heidegger schreibt: »Der Philosoph glaubt nicht. Fragt der Philosoph nach der Zeit, dann ist er entschlossen, die Zeit aus der Zeit zu verstehen bzw. aus dem ἀεί, was so aussieht wie Ewigkeit, was sich aber herausstellt als ein bloßes Derivat des Zeitlichseins.« 169 Es ist also der mangelnde Zugang zur Ewigkeit, die der Philosophie im Wege steht, um die Zeit und damit das, was eigentlich mit Philosophie gemeint sein sollte, zu verstehen. Die Theologie ihrerseits hat Heidegger zufolge zwar einen Zugang zur Ewigkeit über den Glauben und damit zur Zeit, jedoch nur auf solche Weise, dass sie die Frage nach der Ewigkeit schwieriger macht und versucht auf eigentliche Art zu stellen, nicht so, dass sie sie jeweils eigentlich beantwortet. Wir können aus dem bisherigen schließen, dass es Heidegger erstens um ein Verständnis der Zeit geht, die ihren Sinn in der Ewigkeit findet, zweitens um ein Verständnis von Ewigkeit, das weder ein leeres Immersein noch ein bloßes Derivat des Zeitlichseins ist und drittens eben dadurch ein neues Verständnis der Philosophie und dessen, was auslegende Rede des Daseins von sich und der Welt sagt, zu gewinnen.
8.2 Die Gründe der Phänomene der Zeit Heidegger beginnt nun die Nachforschung nach der Zeit, die dies leisten soll, mit verschiedenen unsystematischen Ansatzpunkten, namentlich erstens einem Hinweis auf die begegnende Zeit in der Alltäglichkeit, die er auch Natur- oder Weltzeit nennt, zweitens der Zeit für den Physiker und drittens dem, was die Uhr uns über die Zeit sagt. In ersterer Zeitauffassung ist nach Heidegger die Zeit hauptsächlich als das, worin sich Ereignisse abspielen verstanden, in der Physik hat die Zeit den Charakter der Messung und als Uhrzeit ist die Zeit eine Fixierung von Jetztpunkten. 170 Heidegger kennzeichnet diese verschiedenen Ansatzpunkte als Phänomene des Zeitverständnisses, d. h. er beginnt damit, dass wir Zeit als solche verstehen können und verstehen. All diese Zeitverständnisse sind Phänomene der Zeit, d. h. Weisen der Zeit, von denen wir sagen können, dass sie uns so begegnet, aber es stellt sich für Heidegger die Frage, ob die Zeit in 169 170
GA 64, 107. Vgl. GA 64, 109–112.
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ihnen sich als das zeigt, was sie ist, bzw., wie Heidegger formuliert, ob sie als solche die fundamentalen Phänomene hergibt, die sie bestimmen. 171 Und an dieser Stelle macht Heidegger eine aufschlussreiche Bemerkung über sein eigenes Vorgehen in seinem Vortrag. Er stellt die Frage: »Oder wird man beim Aufsuchen der Gründe der Phänomene auf etwas anderes [als auf die Zeit als das Worin des Veränderlichen, als welche Heidegger die Zeit nicht wesentlich erfasst sieht] verwiesen?« 172 Heidegger impliziert hier, dass das Aufsuchen der Gründe der Phänomene sein Vorgehen ist, um die Zeit als das, was sie eigentlich ist, zu begreifen und eben als solche Phänomene spielen die verschiedenen Ansatzpunkte des Zeitverständnisses für ihn eine Rolle. Aus der Uhrzeit heraus, führt Heidegger auf das hin, dem das Jetzt der Uhrzeit etwas ist – das Dasein – indem er fragt: »Die Zeit ist jetzt, da ich auf die Uhr sehe: Was ist dieses Jetzt? Jetzt, da ich es tue; jetzt, da etwa hier das Licht ausgeht. Was ist dieses Jetzt? Verfüge ich über das Jetzt? Bin ich das Jetzt? Ist jeder andere das Jetzt? Dann wäre die Zeit ja ich selbst, und jeder andere wäre die Zeit. Und in unserem Miteinander wären wir die Zeit – keiner und jeder. Bin ich das jetzt, oder nur der, der es sagt?« 173
Diese Fragen, die Heidegger hier offen einführt und als solche stehen lässt, zeigen, dass das Dasein und Zeit in ihrem Verständnis für Heidegger miteinander verbunden sind und zwar so, dass die Zeit das Dasein in seiner Jeweiligkeit fassen lässt, als das »Ich bin«, das wir je selbst sind. 174 Heidegger weist nun darauf hin, dass wir auch durch die seelischen Vorgänge, die in der Zeit sind (unabhängig davon, ob ihr Inhalt etwas ist, das durch die Zeit bestimmt ist oder nicht), von der Zeit Vgl. GA 64, 109. GA 64, 109, Hervorhebung hinzugefügt. 173 GA 64, 110 f. Darauf folgend fragt er weiter: »Welche Bewandtnis hat es damit, daß menschliches Dasein sich eine Uhr angeschafft hat schon vor allen Taschen- und Sonnenuhren? Verfüge ich über das Sein der Zeit und meine ich im Jetzt mich mit? Bin ich selbst das Jetzt und mein Dasein die Zeit? Oder ist es am Ende die Zeit selbst, die sich in uns eine Uhr anschafft?« (GA 64, 111). 174 Heidegger schreibt: »Die Frage nach dem, was die Zeit sei, hat unsere Betrachtung auf das Dasein verwiesen, wenn mit Dasein gemeint ist das Seiende in seinem Sein, das wir als menschliches Leben kennen; dieses Seiende in der Jeweiligkeit seines Seins, das Seiende, das wir jeder selbst sind, das jeder von uns in der Grundaussage trifft: Ich bin. Die Aussage ›Ich bin‹ ist eigentliche Aussage vom Sein vom Charakter des Daseins des Menschen. Dieses Seiende ist in der Jeweiligkeit als meiniges.« (GA 64, 111). 171 172
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auf das Dasein verwiesen werden. Hier macht Heidegger erneut deutlich, warum er sich über die Phänomene des Zeitverständnisses der Frage nach der Zeit annähert. Anders als es der Fall ist, wenn die Zeit im Sinne der seelischen Vorgänge auf das menschliche Dasein verweist, eröffnet die Annäherung über die Zeitphänomene für Heidegger die Möglichkeit, die Zeit selbst in den Blick zu bekommen und mit ihr die verschiedenen Weisen des Zeitlichseins. Durch diese Weisen des Zeitlichseins wird, Heidegger zufolge, das Dasein eigentlich verstanden werden können. 175 Heidegger stellt dabei das, was in der Zeit ist, der eigentlichen Zeitlichkeit gegenüber. Wenn wir uns erinnern, dass der Vortrag den Sinn der Zeit in der Ewigkeit sucht, so liegt es hier nahe, dass die eigentliche Zeitlichkeit in ihrer Gegenüberstellung zu dem, was in der Zeit ist, mit der Ewigkeit in Verbindung zu verstehen ist oder diese sogar ausmacht. Wenn Heidegger also von Zeitlichkeit in diesem eigentlichen Sinne spricht, ist es in jedem Fall nicht so, dass die Frage nach der Ewigkeit darin verloren ist. Wie aber ist Ewigkeit als Zeitlichkeit zu verstehen? Dies, was die Zeit in diesem Sinne ist, soll nach Heidegger am Dasein erkannt werden. Er sagt: »Sollte das menschliche Dasein in einem ausgezeichneten Sinne in der Zeit sein, so daß an ihm, was die Zeit ist, ablesbar werden kann, so muß dieses Dasein charakterisiert werden in den Grundbestimmungen seines Seins. Es müßte dann gerade sein, daß Zeitlichkeit – recht verstanden – die fundamentale Aussage des Daseins hinsichtlich seines Seins sei.« 176
Am Menschen in seiner Zeitlichkeit und hinsichtlich seiner Zeitlichkeit soll also die Zeit, und zwar im Sinne der Ewigkeit, erkannt werden können. Dies soll erfolgen, indem die Grundstrukturen des Daseins untersucht werden.
Vgl.: GA 64, 112: »Aber bedurfte es dieser umständlichen Überlegung, um auf das Dasein zu stoßen? Genügte nicht der Hinweis, daß die Akte des Bewußtseins, die seelischen Vorgänge, in der Zeit sind, – auch dann, wenn diese Akte sich auf etwas richten, was selbst nicht durch die Zeit bestimmt ist? Es ist ein Umweg. Aber der Frage nach der Zeit liegt daran, eine solche Antwort zu gewinnen, daß aus ihr die verschiedenen Weisen des Zeitlichseins verständlich werden; und daran, einen möglichen Zusammenhang dessen, was in der Zeit ist, mit dem, was die eigentliche Zeitlichkeit ist, von allem Anfang an sichtbar werden zu lassen.« 176 GA 64, 112. 175
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8.3 Die Grundstrukturen des Daseins als Aufschluss über die Zeit Heidegger bricht in der Folge diese Grundstrukturen auf das Bedeutsamste herunter. Zunächst bestimmt er das Dasein als In-der-Weltsein. Er sagt hierzu: »Das menschliche Leben ist nicht irgendein Subjekt, das irgendein Kunststück machen muß, um in die Welt zu kommen.« 177 In-der-Welt-sein charakterisiert demnach, dass das Sein des Daseins schon ein Umgehen mit der Welt bedeutet (Verrichten, Bewerkstelligen, Erledigen, Betrachten, Befragen, betrachtendes und befragendes Bestimmen). Dies alles, das In-der-Welt-sein, nennt Heidegger hier Besorgen. Heidegger will damit darauf hinaus, dass wir immer schon einen vielseitigen Bezug zum Gegenstand haben und die Trennung zwischen Objekt und Subjekt nicht ursprünglich ist, sondern der vielseitige Bezug zum Objekt, der nicht auf ein Betrachten oder Erkennen beschränkt ist, gleichursprünglich ist mit dem Dasein. 178 Eine weitere Grundbestimmung des Daseins für Heidegger ist seine Jeweiligkeit. Als solche Jeweiligkeit, so legt hier Heidegger aus, weiß das Dasein von seinem Tod, von seinem »Vorbei«. Es ist hierbei bedeutsam, dass dieses »Vorbei« nicht etwas ist, das dem Dasein geschieht, sondern ein »Wie« des Daseins insgesamt ausmacht. Es ist also nicht so, dass der Tod ein Ereignis neben anderen im Dasein ist, welches für das Dasein unabhängig von diesem Ereignis unbedeutend ist. Vielmehr ist der Tod als das »Vorbei« der eigenen Existenz etwas, das das Dasein insgesamt charakterisiert. Dieses »Vorbei« ist Heidegger zufolge nun nichts, dem es sich abzuwenden gilt. Es ist eben die Zuwendung zum Tod, das ›Vorlaufen‹ in den Tod, das uns uns selbst verstehen lässt und in dem wir die eigentliche Zeit finden. Erinnern wir uns an den Beginn des Vortrags, dann wird hier deutlich, dass wir Heidegger zufolge in der Zuwendung zum »Vorbei« der eigenen Existenz die Ewigkeit finden. Heidegger schreibt in diesem Sinne: »Das Vorbei jagt alle Heimlichkeiten und BetriebsamGA 64, 112. Vgl. hierzu auch GA 21, 212: »Man ist also ganz falsch beraten worden, wenn man meint: Philosophische Aussagen handeln vom Menschen und seinem Verhältnis zur Welt; es wäre ein von Grund aus verkehrter Ansatz, wollte man diese phänomenologische Sachlage so verstehen, als sei der Mensch zunächst ein Seiendes für sich, das dann auch noch überdies ein Verhältnis zur Welt habe. Das In-der-Welt-sein – in einem freilich näher zu bestimmenden Sinne – ›ist‹ schon der Mensch selbst.«
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keiten auseinander, das Vorbei nimmt alles mit sich in das Nichts.« 179 Das Vorlaufen, welches wir als eine Antizipation des Todes verstehen können, gibt uns also eine Seinsweise, in der die Betriebsamkeiten und die Alltäglichkeit unbedeutend sind. Darin nun finden wir uns eigentlich selbst, oder in Heideggers Worten: es ist der Grundvollzug der Daseinsauslegung. Wir finden unsere Zeit demzufolge gerade darin, dass wir uns darauf besinnen, ein »Vorbei« zu haben, denn diese Besinnung lässt das, was in der Zeit ist, d. h. uns selbst als alltäglich Besorgende und das, womit man sich in dieser Alltäglichkeit beschäftigt, die Pläne, die Betriebsamkeit etc., in Unbedeutsamkeit verschwinden. Dieses Vorlaufen in den Tod bezeichnet Heidegger auch als Zukünftigsein. Er schreibt: »Das Dasein, begriffen in seiner äußersten Seinsmöglichkeit, ist die Zeit selbst, nicht in der Zeit. Das so charakterisierte Zukünftigsein ist als das eigentliche Wie des Zeitlichseins die Seinsart des Daseins, in der und aus der es sich seine Zeit gibt. Im Vorlaufen mich haltend bei meinem Vorbei habe ich Zeit. Alles Gerede, das, worin es sich hält, alle Unrast, alle Geschäftigkeit, aller Lärm und alles Gerenne bricht zusammen. Keine Zeit haben heißt, die Zeit in die schlechte Gegenwart des Alltags werfen. Zukünftigkeit gibt Zeit, bildet die Gegenwart aus und läßt die Vergangenheit im Wie ihres Gelebtseins wiederholen.« 180
Heidegger spricht hier zwei Möglichkeiten des Daseins an, nämlich zukünftig zu sein und alltäglich zu sein, wobei dies nicht bedeutet, dass ein Leben entweder in dem einen oder in dem anderen gelebt wird. Beide Möglichkeiten sind als Grundstrukturen des Daseins verstanden. In der Alltäglichkeit erfasst sich das Dasein nicht in seiner Jeweiligkeit, sondern ist die Zeit, in der »man« miteinander ist. 181 Es ist dabei nach Heideggers Auslegung so, dass das Dasein zunächst und hauptsächlich ein »Man« ist und dabei bestimmt durch die anderen und die Alltäglichkeit. Dem Dasein geht es jedoch um sein eigenes Sein und damit um seine Jeweiligkeit. Indem ich nun von meinem
GA 64, 117. GA 64, 118. Das Keine-Zeit-haben auf Grundlage der »Umgangswelt« und das Zeit haben als Bedingung für die Eigentlichkeit kommt in der frühen Aristotelesinterpretation bereits in den Blick (Vgl. GA 62, 67). 181 Heidegger schreibt: »Das Dasein ist in der Alltäglichkeit nicht das Sein, das ich bin, vielmehr ist die Alltäglichkeit des Daseins dasjenige Sein, das man ist. Und demnach ist das Dasein die Zeit, in der man miteinander ist: die ›Man‹-Zeit. Die Uhr, die man hat, jede Uhr zeigt die Zeit des Miteinander-in-der-Welt-seins.« (GA 64, 120). 179 180
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Tod und daher von dem »Vorbei« der Alltäglichkeit des Daseins weiß, mehr noch, von dem »Vorbei« meiner Jemeinigkeit, kann ich mich diesem stellen. Mir wird dabei deutlich, dass das Dasein der Anderen nichts an diesem »Vorbei« meiner eigenen Existenz zu ändern vermag. Wenn ich in der Antizipation dieses Vorbeiseins mein eigenes Sein erfasse, dann verliert, Heidegger zufolge, das Alltägliche seine Bedeutung. Worauf Heidegger hinaus ist, ist, dass die Besinnung auf unsere Endlichkeit uns erfassen lässt, was und wie wir eigentlich sind und worauf es ankommt. Heidegger bietet nun keinen Inhalt dafür an, was dieses, worauf wir uns besinnen, wenn wir uns unserer Endlichkeit besinnen, ausmacht, sondern bereitet den Weg dafür, die Frage danach zu stellen. In diesem Sinne schreibt Heidegger: »Das Dasein ist das meinige in seiner Eigentlichkeit nur als mögliches.« 182 Wir können schließen, dass Heidegger das ›Was‹, den Inhalt, dieses Etwas, dem wir uns besinnen, wenn wir aus der Besinnung auf unseren Tod Zeit finden, nicht näher bestimmen will. Er lässt die Eigentlichkeit offen als ein »Wie«, mit dem impliziten Hinweis, dass wir, sobald wir dieses »Etwas« bestimmen wollen, eine Frage nach einem »Was« stellen, die die Frage des »Wie« zerstört. 183 Es ist damit hier angedeutet, dass es nach Heidegger keine allgemeine Antwort gibt auf die Frage danach, was in dieser Besinnung erkannt wird. Wie nun ist das »Wie« der Zukünftigkeit, des Vorlaufens in den Tod, im Gegensatz zu einem »Was« zu denken? Heidegger schreibt: »Im Zusammensein mit dem Tode wird jeder in das Wie gebracht, das jeder gleichmäßig sein kann; in eine Möglichkeit, bezüglich der keiner ausgezeichnet ist; in das Wie, in dem alles Was zerstäubt.« 184 Die Zeit, die durch das Vorlaufen in den Tod, das Zukünftigsein, gewonnen wird, bringt uns demnach auf das »Wie«, auf das, was die eigentliche Jemeinigkeit ausmacht und sie ist als solche individuell: »Inwiefern aber ist die Zeit das Individuationsprinzip, d. h. das, von wo aus das Dasein in der Jeweiligkeit ist? Im Zukünftigsein des Vorlaufens wird das Dasein, das im Durchschnittlichen ist, es selbst; […].« 185 Können wir hieraus deuten, dass Heidegger bei einer reinen Individualität stehen bleibt? Dass es eben auf das einzelne Leben ankommt, was das »Wie« ist? Dies würde zu weit gehen. Die Jemeinigkeit ist 182 183 184 185
GA 64, 122. Vgl. GA 64, 122 ff. GA 64, 124. GA 64, 124.
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nirgendwo eindeutig auf Individualität im Sinne von spezifischen Erlebnissen oder Naturanlagen beschränkt. 186 Die Tatsache, dass Heidegger von ›Jemeinigkeit‹ und nicht von ›Individualität‹ spricht, ist ein weiterer Hinweis darauf, dass er mit dem ›Wie‹ und der ›Eigentlichkeit‹ nicht auf eine individuelle Lebenshaltung hinaus ist, sondern ursprünglich darin schon einen eigentlichen Zugang zur Philosophie grundlegen will. Zudem behandelt Heidegger ganz zum Ende seines Vortrags eine weitere Grundstruktur des Daseins und gibt dabei eine Bestimmung des »Wie« ab, nämlich das Fraglichsein. Heidegger schreibt: »Die Zeit ist das Wie. Wenn nachgefragt wird, was die Zeit sei, dann darf man sich nicht voreilig an eine Antwort hängen (das und das ist die Zeit), die immer ein Was besagt. Sehen wir nicht auf die Antwort, sondern wiederholen wir die Frage. Was geschah mit der Frage? Sie hat sich gewandelt. Was ist die Zeit? Wurde zur Frage: Wer ist die Zeit? Näher: sind wir selbst die Zeit? Oder noch näher: bin ich meine Zeit? Damit komme ich ihr am nächsten, und wenn ich die Frage recht verstehe, dann ist mit ihr alles ernst geworden. Also ist solches Fragen die angemessenste Zugangs- und Umgangsart mit der Zeit als mit der je meinigen. Dann wäre Dasein Fraglichsein.« 187
Wir können hieraus schließen: Heidegger will gezielt bei der Fraglichkeit, die sich aus dem Vorlaufen in den Tod ergibt, stehen bleiben, ohne eine Antwort zu geben – weder in dem Sinne, dass er der Frage einen allgemeinen erkenntnistheoretischen Inhalt gibt, noch insofern er sie auf eine individuelle Frage im Sinne der Person einschränkt. Die Fraglichkeit bringt uns, wie wir in obigem Zitat, mit dem Heidegger den Vortrag schließt, sehen können, zur Zeit zurück. Indem wir uns darauf besinnen, dass wir zeitlich sind, also auf unseren Tod, kommen wir Heidegger zufolge, zum Ich und der Alltag, das man, tritt zurück. Wir kommen in unsere Möglichkeit. Heidegger hält damit abschließend fest, dass das Dasein die Zeit ist, und zwar das Dasein in seiner Jemeinigkeit: ich bin die Zeit. Zugleich bleibt die Frage offen – sowohl die Frage nach dem Dasein, als auch die Frage
Heidegger behandelt die Prämissen der Frage nach der Fassbarkeit des Erlebens in der Wissenschaft zu Beginn seines Schaffens in der Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung im Sommersemester 1920 und führt eine Destruktion dieses Problems durch. Vgl. GA 59, insbesondere 23–28 sowie 87–148. 187 GA 64, 124 f. 186
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nach der Zeit. Was können wir damit aus dem Vortrag über Heideggers Zeitbegriff mitnehmen? Die Bedeutung des Todes und des eigenen Vorbeis wird offensichtlich sowie ein eigentümlicher Zusammenhang zwischen der Zeitlichkeit unseres Daseins und der Frage nach der Ewigkeit. Die Frage nach dem, was die Zeit ist, wurde zur Frage, wer die Zeit ist und ist als solche in den Umkreis der Jemeinigkeit gelangt. Dies ist nun Heidegger zufolge die angemessenste Zugangs- und Umgangsart mit der Zeit. Doch wenn die Zeit letztlich die Frage nach meinem eigenen »Wie« ist, nach meinem eigenen Daseinsvollzug, wie kann sie hiernach noch selbst in Frage stehen? Wie verhält sich Heideggers auf diesem Verständnis der Zeit basierende Konklusion, dass das Dasein Fraglichkeit ist, die Zeit also somit als die Fraglichkeit meines »Wies«, der Erfüllung meiner Zeit, verstanden wird, zu der Seinsfrage? Das Eigentümliche ist hier, dass Heidegger in seinem Vortrag so vorgeht, dass ein Zeitverständnis erst aus der Anzeige oder der Auslegung der Daseinsstrukturen hervorgeht. Es ist also nicht so, wie sich aus der Thematik des Vorlaufens in den Tod vermuten ließe, dass die Zeitlichkeit des menschlichen Daseins im Sinne der Gewissheit des eigenen Todes die Zeit ist und die Zeit daher von Interesse ist. Die Zeit steht von Beginn des Vortrags an bereits in Frage und es ist nicht das Dasein, das durch die Zeit besser verstanden werden soll, sondern umgekehrt, die Zeit soll aus dem Dasein besser oder eigentlich verstanden werden. Aber inwiefern ist nun die Zeit als Zeit der Jemeinigkeit, als Frage nach dem eigenen »Wie«, selbst bedeutsam? Es bleibt im Sinne dieser Frage rätselhaft, woher das Thema des Vortrages 1924 stammt – warum es die Zeit ist, die in Frage steht, insofern der Begriff der Zeit die primäre Frage ist und nicht das Dasein, obwohl die Konklusion desselben Vortrags auf eine umgekehrte Primordalität des Interesses schließen lassen könnte, nämlich einer Anzeige der Zeit für das Dasein. Machen wir uns auf die Suche einer Antwort in Heideggers gleichnamiger Abhandlung aus demselben Jahre.
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9. Die Abhandlung Der Begriff der Zeit
Wenden wir uns der mit dem behandelten Vortrag gleichnamigen Abhandlung Der Begriff der Zeit aus dem Jahre 1924 zu und sehen, ob sie uns weitere Hinweise auf den Ursprung von Heideggers Interesse an der Zeit zu geben vermag. Den Anlass für die betreffende Untersuchung der Zeit bildet, Heideggers eigener Aussage zufolge, die erstmalige Veröffentlichung des Briefwechsels zwischen Dilthey und Yorck im Jahre 1923. Was wir aus diesem Anstoß zu Heideggers erster Veröffentlichung, die im Titel bereits eine Auseinandersetzung mit dem Thema der Zeit ankündigt, für die der Zeitbegriff also gleichsam zentral wird, entnehmen können, ist zweierlei: Erstens, ein Zusammenhang von Heideggers Idee der bedeutenden Rolle der Zeit mit Dilthey und zweitens, die Verbindung des Zeitbegriffs mit dem der Geschichtlichkeit. Warum dies? Heidegger offenbart uns auf der ersten Seite der Abhandlung, welche Frage er als das Herzstück des Briefwechsels liest. Es handelt sich um einige Worte, die Yorck am 04. Juni 1985 an Dilthey richtet. Diese lauten: »das uns gemeinsame Interesse, Geschichtlichkeit zu verstehen …« 188 Heidegger widmet die Abhandlung nach eigener Aussage eben demselben Interesse Geschichtlichkeit zu verstehen; erfolgen tut dies jedoch unter dem Titel der Zeit. Die Abhandlung verspricht in diesem Zusammenhang von Zeit und Geschichtlichkeit, den Ursprung der Idee der Bedeutung der Zeit zu erhellen. Was die Geschichtlichkeit ist, so erläutert Heidegger gleich zu Beginn, verstehen wir falsch, wenn wir sie als Geschichte im Sinne der Weltgeschichte verstehen. Vielmehr geht es um die »radikalere
Zitiert nach GA 64, 3; die Originalstelle ist nachschlagbar in Wilhelm Dilthey/ Paul Yorck von Wartenburg: Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und dem Grafen Paul Yorck von Wartenburg. Hg. von E. Rothacker, Halle 1923, S. 185. Heidegger wird nachweislich bereits 1920 durch Diltheys Philosophie auf die Geschichtlichkeit aufmerksam; vgl. GA 59, 17.
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Frage nach dem Sinn des Geschichtlichseins.« 189 Wie soll diese Frage gestellt werden und was hat sie mit der Zeit zu tun? Das Geschichtlichsein soll in der Abhandlung in seinem Sinn aufgeklärt werden, indem das Seiende, das geschichtlich ist, in seiner Seinsstruktur aufgezeigt wird. Was dieses Seiende für Heidegger mit der Zeit zu tun hat, verrät Heideggers handschriftliche Bemerkung zu derselben Stelle, die den Angaben des Herausgebers Friedrich-Wilhelm von Herrmann nach vermutlich in den Jahren 1924–26 entstanden sind. Die Bemerkung ist in Parenthesen verfasst und lautet: »Darin liegt die Frage welches Seiende ist eigentlich als Geschichte – das zur Beantwortung aus Sein von Geschichtlichkeit aus dem was darin primär liegt – Zeitlichkeit welches Seiende ›ist‹ eigentlich zeitlich – so – daß es die Zeit selbst ist – dieses Seiende dann auch eigentlich geschichtlich.« 190
Das Seiende, das geschichtlich ist, ist also zeitlich; zeitlich aber nicht insofern es lediglich alltäglich verstanden ›in der Zeit‹ ist oder ›in der Zeit vergeht‹, sondern zeitlich insofern es die Zeit selbst ist. Es ist hier angezeigt, dass Geschichtlichsein und ›zeitlich sein‹ für Heidegger in einer Übereinstimmung steht, jedoch nicht so, dass sie identifiziert werden können, ohne auf ein besonderes Verständnis der Zeit einzugehen. Wie nun soll das Geschichtlichsein in seinem Sinn in den Blick kommen? Das Geschichtlichsein wurde durch Heidegger bereits auf ein Seiendes, das Geschichte ist, zurückgeführt. Dieses Seiende, das geschichtliche, auf sein Sein zu untersuchen ist Heidegger zufolge eine ontologische Untersuchung – die durch diese Untersuchung herausgehobenen Seinscharaktere dieses Seienden sollen in Kategorien zu Begriff gebracht werden und dies bedeutet im Grunde genommen: abgehoben und verwahrt werden. 191 Um dieses Seiende auf sein Sein hin zu befragen, muss es sich Heidegger zufolge allererst zeigen, d. h. zum Phänomen werden und dies ist es, was die Untersuchung für Heidegger notwendig zu einer phänomenologischen macht. Was dieses Seiende ist, dessen Seinscharakter Geschichtlichkeit ist, wird dabei nicht aus der Frage erschlossen, sondern von Heidegger gleich zu Beginn vorausgesetzt: es ist das menschliche Dasein. Ähnlich wird die
189 190 191
GA 64, 3, Hervorhebung im Original. GA 64, 3 Fn. Vgl. GA 64, 4.
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Die Abhandlung Der Begriff der Zeit
Zeit in der Zielführung der Abhandlung eingeführt. Heidegger schreibt: »Die Aufgabe liegt also darin, dieses Seiende selbst freizulegen, um es in seinem Sein zu bestimmen. Die seinsmäßige Grundverfassung des Daseins, aus der Geschichtlichkeit ontologisch ablesbar wird, ist die Zeitlichkeit. So wird die Aufgabe, Geschichtlichkeit zu verstehen, auf die phänomenologische Explikation der Zeit geführt.« 192
Auf den ersten Seiten der Abhandlung wird also ein Zusammenhang von Geschichtlichsein, menschlichem Dasein und Zeit behauptet und zwar so, dass dieser Zusammenhang das Vorhaben der Abhandlung etabliert. Das Geschichtlichsein ist dabei das, was in seinem Sinn verstanden werden soll – dies soll anhand des menschlichen Daseins geschehen und zwar im besonderen durch eine Grundverfassung dieses Daseins, aus der die Geschichtlichkeit ontologisch zum Phänomen werden soll, namentlich die der Zeitlichkeit. Im Hinblick auf die Zeitlichkeit als Grundverfassung des Daseins, soll die phänomenologische Explikation der Zeit zu einem Verständnis des Sinns des Geschichtlichseins führen. Es wird also über die Geschichtlichkeit deutlich, dass für Heidegger auch in dieser Abhandlung Dasein und Zeit gemeinsam in Frage stehen und dabei ein eng geführter Zusammenhang zwischen dem Dasein und der Zeit besteht.
9.1 Das Geschichtlichsein im Horizont der Geschichtlichkeit bei Dilthey und Yorck Den Ausgang für die Frage nach dem Geschichtlichsein in der Abhandlung nimmt die Geschichtlichkeit für Dilthey und Yorck. Wir können aus Heideggers Interpretation und Kritik der Geschichtlichkeit für diese beiden Autoren entnehmen, was er in ihnen positiv für seine eigene Untersuchung hervorhebt und wovon sich seine eigene Untersuchung abgrenzt. Wir können dabei näher erschließen, inwiefern das Geschichtlichsein, das Dasein und die Zeitlichkeit für Heidegger hier in Frage stehen. Heidegger beginnt die Auslegung der Geschichtlichkeit mit einer Interpretation des Diltheyschen Œuvres:
192
GA 64, 4; Hervorhebung im Original.
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»Alle Arbeiten Diltheys haben ihren Antrieb aus dem Streben, die geistige, gesellschaftlich-geschichtliche Wirklichkeit des Menschen, ›das Leben‹, zu einem wissenschaftlichen Verständnis zu bringen und der Wissenschaftlichkeit dieses Verstehens die echten Fundamente zu geben.« 193
Das Leben wird dabei Heidegger zufolge auf zwei Wegen wissenschaftlich erschlossen, zum einen durch die Philosophie und zum anderen durch die historische Geisteswissenschaft, welche beide letztlich auf einer Analyse des »seelischen Zusammenhangs« fußen, der in seinen Strukturen durchforscht werden soll. 194 Die Philosophie hat nun in Dilthey, so Heidegger, die Aufgabe »›die ganze Tatsache: Mensch‹, dieses denkende, wollende, fühlende Wesen, hinsichtlich des ›Strukturzusammenhangs‹ seiner Erlebnisse sichtbar werden« 195 zu lassen und so die Grundmöglichkeiten des Menschen in einer Theorie desselben zu erarbeiten. Insofern dieser Zusammenhang für Heidegger eine konkrete Geschichte des Lebens ist, muss dem Menschen »seine eigene Geschichte zum Organon des Verstehens werden.« 196 Die Fragestellung Diltheys ist dementsprechend Heidegger zufolge in drei Teile gegliedert, die allesamt mit der Geschichtlichkeit verknüpft sind, namentlich die Theorie des Menschen, die konkrete Geschichte seines Geistes und die Theorie der Wissenschaften vom Menschen und seiner Geschichte. Alle drei sind sie Heidegger zufolge bei Dilthey auf die »Psychologie« des Lebens hinaus. Mit Psychologie ist hier der seelische Zusammenhang als solcher gemeint, der primär als Einheit gegeben ist und in Hinblick auf seine Ganzheit in seiner Struktur untersucht wird. Methodisch merkt Heidegger zwei Abgrenzungspunkte dieses Ansatzes an: das Seelische kann nicht als Naturobjekt verstanden und untersucht werden, da es sich aus sich selbst heraus erschließen lassen muss, um sich als ursprüngliche eigenständige Wirklichkeit zu behaupten. Und: die Beschreibung des seelischen Zusammenhangs muss sicher und allgemein gültig sein, um als Wissenschaft etabliert werden zu können. 197 Heideggers Kritik an dieser Grundlegung des Diltheyschen Werkes bleibt beschreibend, doch ist eindeutig und insgesamt in Sperrschrift hervorgehoben: »Das methodische Fundament seiner Grundlegungsarbeit aber bleibt 193 194 195 196 197
GA 64, 7; Hervorhebungen im Original. Vgl. GA, 7. GA 64, 8. GA 64, 8. Vgl. GA, 8 f.
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die Zugangsart zu den cogitationes (res cogitans) und deren thematische Ansetzung, wie sie Descartes in seinen Meditationen begründet und ausgebildet hat.« 198 Heideggers Kritik bezieht sich hier, so viel ist festzuhalten, nicht auf Diltheys Fragestellung nach dem Leben als geschichtliche Wirklichkeit des Menschen, sondern auf seine methodische Fokussierung auf einen Bewusstseinsinhalt. Die zahlreichen Zitationen Yorcks, die Heidegger hieraufhin anführt, führen diese methodische Kritik aus und zwar dahingehend, dass zunächst die Frage der Methode in einer den einzelnen Wissenschaften vorangehenden Logik oder Erkenntnistheorie geklärt werden müsse. Darin liegt Heidegger zufolge nun »die Aufgabe beschlossen, positiv und radikal die verschiedene kategoriale Struktur des Seienden, das Natur, und des Seienden, das Geschichte ist (des Lebens), herauszuarbeiten.« 199 Aus den wenigen kurzen Kommentaren Heideggers, die sich zwischen der Aufreihung von 19 Zitaten Yorcks finden, geht im wesentlichen hervor, dass Yorck an Dilthey die mangelnde »generische Differenz zwischen Ontischem und Historischem« 200 kritisiert und dass diese Differenz die Möglichkeit eröffnen würde, im Eigentlichen nach einer Ontologie der Geschichte zu fragen. In dieser Ontologie muss Heidegger zufolge (im Anschluss an Yorcks Kritik) nach dem gefragt werden, das eigentlich geschichtlich ist – dem menschlichen Leben. Dadurch wird die Geschichte aus dem Bezug auf das Körperliche oder Gestalthafte herausgehoben und findet ihren Grundcharakter in einer Lebendigkeit oder »Vitualität«. 201 Heidegger sieht nun Yorcks Anmerkungen in Diltheys Fragestellung gespiegelt. Er schreibt: »In der grundsätzlichen Fragestellung Diltheys liegt also die Aufgabe einer Ontologie des ›Historischen‹ beschlossen. Nur in ihr kann die Tendenz ›Geschichtlichkeit zu verstehen‹ zur Erfüllung kommen.« 202 Aus Yorcks Briefen sieht Heidegger hervorgehen, dass diese Ontologie der Geschichtlichkeit nicht über das Objekt der Geschichtswissenschaft, wie sie gegeben ist, erfolgen kann, sondern über das, was geschichtlich ist, das menschliche Dasein, erarbeitet werden muss. Heidegger schreibt: »Yorcks Verständnis für die Geschichte macht zugleich deutlich, daß eine solche Onto-
198 199 200 201 202
GA 64, 9; Hervorhebung im Original. GA 64, 10; Hervorhebung im Original. GA 64, 10; Hervorhebung im Original hier fallen gelassen. Vgl. GA 64, 10–14. GA 64, 14 f.
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logie nicht den Weg über die Geschichtswissenschaft und ihr Objekt nehmen kann. Der phaenomenale Boden für sie ist vielmehr im menschlichen Dasein gegeben.« 203 Heidegger will also, soviel wird in seiner Auslegung deutlich, die Geschichtlichkeit als Geschichtlichsein verstehen und dies indem der Boden für die Geschichtswissenschaft und ihr Objekt im Dasein aufgefunden und untersucht wird. Auch hier führt Heidegger nun auf die Zeit hin. Die unmittelbar auf die angeführten Zitate Yorcks folgende Konklusion des Kapitels, mit dem die Auseinandersetzung der Fragestellung bei Dilthey und Yorck endet, muss uns an den unaufgeklärten Übergang zur Zeitproblematik in Logik: Die Frage nach der Wahrheit erinnern. Heidegger schreibt: »Vor der kritischen Frage, wie weit und ob überhaupt die ontologische Position der beiden Freunde für die Aufgabe, Geschichtlichkeit zu verstehen, zureichend ist, soll durch positive Aufweisung des Zeitphaenomens die Seinsverfassung des Daseins freigelegt werden.« (GA 64, 15).
Auch in Der Begriff der Zeit soll die Zeit also der Schlüssel für das eigentliche Verständnis des Infragestehenden sein; aber dieses Mal ist das Infragestehende nicht wie in Logik: Die Frage nach der Wahrheit die Auslegung der Wahrheit und Falschheit, sondern das Geschichtlichsein. Und auch hier finden wir weder aus dem Verlauf der Argumentation noch aus einem erklärenden Hinweis Heideggers einen Anhaltspunkt für die Frage, warum es die Zeit ist, die den Schlüssel für einen Zugang zu der Fragestellung enthalten soll. Das einzige Vereinende, das wir in der Frage nach der Wahrheit bzw. Falschheit und der Frage nach dem Geschichtlichsein in ihrem Zusammenhang zur Zeit ausmachen können, ist das Dasein. Jeweils machen also das Dasein und die Zeit gemeinsam das aus, worauf die Untersuchung (der Wahrheit, der Geschichtlichkeit) letztlich zurückgeführt wird. Das Dasein und die Zeit bilden damit das Fundament in diesen Werken. Dasein und Zeit werden dabei jeweils als miteinander verbunden oder sogar als miteinander identifiziert eingeführt, aber es ist soweit nicht klar, worin der Zusammenhang von Dasein und Zeit für Heidegger genau besteht. Im Vergleich zu Logik: Die Frage nach der Wahrheit und dem Vortrag Der Begriff der Zeit stellen wir in der Abhandlung Der Begriff der Zeit eine Umkehrung der Fragestellung fest: Soll in der Abhandlung Der Begriff der Zeit die Seinsverfassung 203
GA, 64, 15.
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des Daseins durch eine Aufweisung des Zeitphänomens in den Blick kommen, ist es in dem gleichnamigen Vortrag und in Logik: die Frage nach der Wahrheit die Zeit, die durch eine Anzeige der Grundstrukturen des Daseins verständlich werden soll. Was hat diese Umkehrung der Ausrichtung zu bedeuten? Ist hier eine Umkehrung dessen, wovon wir in der Philosophie ausgehen und worauf wir hinaus sind impliziert? Oder ist es so, dass die Frage nach der Seinsverfassung des Daseins, wenn ich die Zeit auslege, um das Dasein in den Blick zu bekommen, dieselbe Bedeutung trägt wie die Frage nach der Zeit, wenn ich das Dasein auslege, um die Zeit in den Blick zu bekommen? Dass Heidegger den Vortrag und die Abhandlung zeitgleich verfasste, ohne auf die Umkehrung der Fragestellung Bezug zu nehmen, scheint zunächst rein werkhistorisch gesehen für diese letztere Möglichkeit zu sprechen. Die inhaltliche Erörterung dieser Frage wird uns einigen Aufschluss über die Grundlegung von Heideggers eigenem philosophischen Ansatz geben.
9.2 Das Verhältnis der Frage nach der Zeit und der Frage nach dem Dasein Das nächste Kapitel beginnt nun mit einer offensichtlichen Zusammenführung der beiden Ausrichtungen der Fragestellung. Das Kapitel ist übertitelt Die ursprünglichen Seinscharaktere des Daseins, der erste Satz beginnt: »Die Vorzeichnung des Weges, auf dem die Zeit für die Untersuchung zugänglich gemacht werden soll […]« 204 und wenig später auf der nächsten Seite schreibt Heidegger: »Die Zeit wird demnach umso mehr in den Blick gebracht werden können, je ursprünglicher das menschliche Dasein selbst hinsichtlich seiner Seinscharaktere sichtbar gemacht ist.« 205 Es ist damit offensichtlich, dass die Seinsverfassung des Daseins durch eine Aufweisung des Zeitphänomens erfasst und zugleich die Zeit durch eine Aufweisung der Seinscharaktere des Daseins in den Blick gebracht werden soll. Aber mehr noch: Das unmittelbare Aufeinanderfolgen dieser expliziten Aussagen über das Vorhaben machen deutlich, dass Heidegger diese paradoxal anmutende Konstellation der Untersuchung durchaus
204 205
GA 64, 17. GA 64, 18.
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klar ist. Dies lässt sich auch an Heideggers Eingrenzung der Abhandlung ablesen. Heidegger schreibt: Die folgende ontologische Interpretation des Daseins beansprucht nicht, die Daseinsauslegung zu sein. Ihr Absehen geht auf die Fundamentalstrukturen des Daseins, an denen die Zeit sichtbar werden soll. Jeder so gerichtete Versuch wird früher oder später auf das Zeitphänomen stoßen. 206
Bemerkenswert ist hier der letzte Satz. Ließen wir ihn aus, so könnte sich die Passage so lesen, dass die Fundamentalstrukturen des Daseins willkürlich auf die für die Zeit relevanten eingegrenzt würden. Der letzte Satz jedoch weist darauf hin, dass für Heidegger eine ontologische Interpretation der Fundamentalstrukturen des Daseins uns aus der Sache selbst heraus auf die Zeit führt – Zeit und Dasein sind für Heidegger auf solche Weise miteinander verbunden, dass sie, insofern beide wesentlich verstanden werden, aus dem Phänomen selbst her aufeinander verweisen. Doch Heideggers unausgesprochene Verschränkung der Ausrichtung der Fragestellung, einmal auf das Dasein, einmal auf die Zeit, geht noch weiter. Und zwar ist das in den Blick bringen des Daseins über eine phänomenologische Interpretation der Zeit zu leisten und das Aufzeigen der Zeit in ihrem phänomenologischen Gehalt über eine Analyse des Grundcharakters des Daseins – d. h. das Dasein bringt das Phänomen der Zeit ans Licht, die Zeit das Phänomen des Daseins. Dass Heidegger diese Verschränkung der Ausrichtung der Fragestellung implizit vollzieht, aber nicht thematisch werden lässt, weist darauf hin, dass keiner der beiden Begriffe allein das Prinzip der Fragestellung ausmachen soll. Es ist nicht so, dass hier bereits ausgemacht ist, dass es sich in der Philosophie prinzipiell um die (Beantwortung der) Frage nach der Zeit dreht oder um die nach dem Dasein. Festzuhalten ist hier, dass Dasein und Zeit das sind, worauf Heidegger seine Auslegungen in dieser Zeit letztlich zurückführt und dass sich das Phänomen der Zeit mit dem des Daseins, insofern beide phänomenologisch auf ihre Seinscharaktere zurückgeführt werden, verschränkt. Jedoch wie?
206
GA 64, 19; Hervorhebung im Original.
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9.3 Die Verschränkung des Phänomens des Daseins und des Phänomens der Zeit Heidegger leitet das nachfolgende Kapitel Die ursprünglichen Seinscharaktere des Daseins mit zwei »Erinnerungen« daran ein, wie die Zeit im menschlichen Leben vorkommt. Die erste Erinnerung ist, dass sich »das menschliche Leben in seinem alltäglichsten Tun und Lassen an der Zeit orientiert.« 207 Es geht dabei darum, dass das Leben einer zeitlichen Regelung unterworfen ist: einer Zeit der Arbeit, der Erholung, des Schlafens, einem Stundenplan, einem Kalender u. s. w. Die diesbezügliche Feststellung lautet: »Die Ereignisse der Umwelt und die Vorgänge der Natur sind ›in der Zeit‹.« 208 Die zweite Erinnerung geht auf die Erforschung des Phänomens der Zeit im menschlichen Leben. Fragt man sich, was die Zeit sei, sei man auf die Seele und den Geist verwiesen und frage letztlich, ob diese die Zeit selbst sind. Bezüglich dieser Forschung bezieht sich Heidegger auf Aristoteles’ Physik Δ 11, 218 b29–219a 1; 1. α 14, 223 a 25 – 28 und Augustinus’ Confessiones Buch XI. Kap. 27. n. 36. zurück. 209 Doch woran »erinnert« Heidegger hier? In der Abhandlung wurde zuvor an keiner Stelle auf diese beiden Inhalte verwiesen. Die »Erinnerung« ist insofern als eine phänomenologische Erinnerung zu deuten; eine Erinnerung daran, dass diese Phänomene uns begegnen. Es ist ein Appell an die eigene phänomenale Erfahrung des Lesers und ein Aufrufen einer »Sache«. Wie verschränken sich also die Phänomene des Daseins und der Zeit Heidegger zufolge? Heidegger folgert aus den beiden ›Erinnerungen‹, dass die Zeit im menschlichen Leben vorkommt und zwar so, dass »›Seele‹ und ›Geist‹, worauf die ›klassischen‹ Untersuchungen über die Zeit sich verwiesen sehen, […] die ›Substanz‹ des menschlichen Daseins aus[machen].« 210 Wenn wir also, so setzt Heidegger fort, das menschliche Dasein hinsichtlich seiner Seinscharaktere urGA 64, 17. GA 64, 17. 209 Vgl. GA 64, 17 f.; zitiert nach GA 64, 18. Dass Heidegger hier unter den »grundlegenden Abhandlungen über die Zeit« Kant nicht nennt, wobei er ihn später als den einzigen bezeichnet, der in das »dunkle Gebiet« des Zeitproblems vortastete (vgl. GA 21, 200), weist darauf hin, dass sich Heidegger zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingehend mit der Kritik der reinen Vernunft auseinandergesetzt hat, oder zumindest nicht in Bezug auf die Zeit. 210 GA 64, 18. 207 208
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sprünglich sichtbar machen, kommt damit auch die Zeit in den Blick – und zwar als Substanz des Daseins. Der anschließende Satz lässt schließen, dass dieses Verhältnis für Heidegger auch umkehrbar ist, so, dass das menschliche Dasein zum Verständnis der Zeit dient. Heidegger schreibt: »Die Analyse der Zeit schafft sich das Fundament in einer ontologischen Charakteristik des menschlichen Daseins.« 211 Was nun in der Abhandlung folgt, ist eine Abhebung der ursprünglichen Seinscharaktere des Daseins, dem In-der-Welt-sein und dem Miteinander-sein, welche auf die Zeit keinen näheren Bezug nehmen, uns aber in der Folge helfen werden, die Verschränkung von Dasein und Zeit für Heidegger aufzuhellen. Wenden wir uns in diesem Sinne dieser Ausführung zu. Was Heidegger hier auslegt, kann als Interpretation des erfahrenden Lebens bezeichnet werden, in der er darauf hinaus ist, wie das Daseins sich selbst begegnen kann und warum es dies zumeist nicht kann, sondern sich im man, in der Öffentlichkeit, verliert. Die Auslegung bereitet als solche seine spätere Daseinsanalyse vor. Methodisch gesehen grenzt er sich hierbei und hiermit von der philosophischen Tradition ab, indem er die »abgeschliffene Selbstverständlichkeit der vorliegenden Besorgungswelt« 212 nicht, wie er es in der philosophischen Tradition diagnostiziert, überspringt. In der hier vorliegenden Auslegung des »Geredes« durch Heidegger hebt er die Bedeutung einer ursprünglichen Aneignung des »Worüber« in der Rede hervor, durch deren Fehlen sich das Gerede und mit ihm die hartnäckige Herrschaft des »Man« begründet. 213 Es lässt sich in der Folge der Passage deuten, dass Heidegger die Möglichkeit einer eigentlichen Fragestellung, die sich ihr eigenes »Worüber« aneignet, in den Wissenschaften gegen die Herrschaft eines »Wortdenkens«, das sich der Dominanz bestimmter Wortbegriffe ausliefert und so die Problemstellungen sanktioniert, entwickeln möchte. 214 Ein solches »Worüber« kann Heidegger zufolge jedoch nicht wie ein Besitz dem Dasein zukommen, sondern muss jeweilig errungen werden, da das Verfallen und das Verdecken mit dem Insein zu einem Seinscharakter des Daseins gehört. 215 In Heideggers Auslegung ist es gerade das, was GA 64, 18 f. GA 64, 21. 213 GA 64, 29. 214 Vgl. GA 64, 29. 215 Heidegger schreibt: »Wird so das wissenschaftliche Erkennen primär als eine Seinsmöglichkeit des Daseins selbst verstanden, dann kann es – soll seine Eigentlich211 212
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einmal ursprünglich entdeckt wurde, was in festen Sätzen und Begriffen der Wissenschaft festgehalten wird und in dieser Allgemeingültigkeit zu dem wird, das den Boden für ein Zurückfragen in die ursprünglichen Seinszusammenhänge, für ein ursprüngliches Entdecken, entzieht. 216 Diese Verdeckungstendenz, die sich in der traditionellen Ausgelegtheit zeigt und in der Philosophiegeschichte offenbar wird, verstehen wir Heidegger zufolge falsch, wenn wir sie als zufälliges Vorkommnis der Geschichte oder als subjektiven Fehler verstehen. Vielmehr gründet diese Tendenz nach Heidegger in der Seinsweise des Daseins selbst – da es gerade das ursprüngliche Erfahren ist, das in seiner weiteren Entwicklung in der Forschung dem ursprünglichen Erfahren den Weg versperrt und die ursprünglichen Seinszusammenhänge verdeckt, ist es gerade diese Seinsweise des Daseins, das Forschende, das der Verdeckung ausgeliefert ist. Heideggers methodischer Ansatz wird in dieser Auslegung deutlich als ein Ringen um die Möglichkeit einer eigentlichen Fraglichkeit, die jedem wissenschaftlichen Erkennen innewohnen muss. Die Kritik der Philosophiegeschichte ist dabei für Heidegger keine Einfache. Es ist nicht so, dass die gewonnenen Theorien kritisiert werden in ihrem Gehalt, sondern vielmehr in ihrem Status als allgemeingültige und unfraglich gewordene Theorie. Es geht für Heidegger um eine Destruktion in dem Sinne, dass der Weg zu einer eigentlichen Fraglichkeit, zu den ursprünglichen Seinszusammenhängen, die vielleicht in der Entstehung des etwaigen Werkes gegeben war, wiedergewonnen werden soll, durch die Aneignung des eigentlichen »Worüber« und ein Hinausgehen über festgelegte Begriffe und Worte. 217 Es wird hier ein impliziter Anspruch Heideggers deutlich: es geht ihm darum zu erfassen, was eigentlich in Frage steht. Die Philosophie und die Geistesgeschichte sind nun Heidegger zufolge Forschungsweisen, die das Dasein in ihr Thema gestellt hakeit gewonnen werden – nie als selbstverständlicher Besitz dem Dasein zufallen. Es muß sich vielmehr gegen die Verdeckungsgefahr der Öffentlichkeit und die Herrschaft der üblichen Ausgelegtheit die rechten Möglichkeiten ursprünglichen Erfahrens immer erst und jeweilig wieder durch die Kritik aneignen.« (GA 64, 38 f.). 216 Das Stillstellen der Lebendigkeit der Phänomenologie in ihrem Vollzug durch begriffliche Konstruktionen problematisiert Heidegger bereits 1919/20 in seiner Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie, vgl. GA 58, 2. 217 Die grundsätzliche oder eigentliche Fraglichkeit steht bereits 1923 in der Freiburger Vorlesung Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) für das unausgesprochene Prinzip der Philosophie ein. Vgl. GA 63, 17.
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ben, möge dies implizit oder explizit geschehen sein. Das was da im eigentlichen zur Abhebung kommen soll, ist Heidegger zufolge die »Erfahrung des Daseins in seinem Sein und die Abhebung dieses Seins.« 218 Dies ist jedoch, »durch die versteckte Herrschaft der veräußerlichten und durch traditionelle Auslegungen hindurchgegangenen griechischen Ontologie, eben so sehr aber durch den Fragezwang festgewordener Disciplinen niedergehalten.« 219 Es ist damit in oben ausgelegtem Sinne die eigentliche Fragewürdigkeit durch Kritik der Geschichte – und das heißt Überwinden der festgelegten Allgemeingültigkeiten und Begriffe – zu gewinnen. Es bedeutet aber auch, sich das eigentliche »Worüber« der Rede anzueignen – das Dasein. In diesem Sinne will Heidegger eine Ontologie dieses Seienden, des Daseins, entwickeln, die sich am Leitfaden des »aus dem Sein der Welt, bzw. Weltnatur geschöpften Sinnes von Sein« 220 orientiert. Wir haben also ein näheres Verständnis davon gewonnen, warum Heidegger vom Dasein spricht. Aber was hat dies und die Auslegung der ursprünglichen Seinscharaktere des Daseins mit der Zeit zu tun? Darüber vermag uns das anschließende Kapitel der Abhandlung mit dem Titel Dasein und Zeitlichkeit Aufschluss zu geben.
9.4 Die Verlegenheit der Seinsinterpretation Heidegger beginnt das genannte Kapitel mit der Frage, ob die vorgenommene Seinsinterpretation in der Abhebung der ursprünglichen Seinscharaktere des Daseins hinreichend ist. Der Zweifel tut sich dabei anhand des Erforschten selbst auf, dem Sein des Seienden bzw. dem Dasein hinsichtlich seiner Seiendheit. In der Aufweisung des In-der-Welt-seins des Daseins legt Heidegger aus, dass das Dasein als Sorgen beständig »unterwegs zu« ist. Heidegger schreibt: »Das Sein des Daseins kennzeichnet sich als Aus=sein auf das, was es noch nicht ist, aber sein kann.« 221 Von der Ganzheit des Daseins kann Heidegger zufolge demnach erst in seinem Ende, in seinem Tode gesprochen werden. Dieses Seiende, das Dasein, gibt Heidegger zufolge keinen »hinreichenden Boden der Analyse […] im Sinne der abhebbaren 218 219 220 221
GA 64, 40. GA 64, 40. GA 64, 40. GA 64, 46.
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leitenden Ganzheit, solange es nicht zu seinem Ende gekommen ist […].« 222 Heidegger schreibt in diesem Sinne: »Erst wenn es [das Dasein] das ist, was es sein kann, wird es als Ganzes erfaßbar.« 223 Das Ganze würden wir hier Heidegger zufolge falsch verstehen, wenn wir es als die Aufzählung oder abschließende Abhebung der Seinscharaktere, was selbst nur eine Auslegung sein kann, verstehen würden. Vielmehr ist das existenziale Ganze des Daseins gemeint, welches Heidegger auch als das »Wie« seines Seins bezeichnet. Dieses existenziale Ganze des Daseins ist die ursprüngliche Seinsstruktur, auf welchem Boden eine Auslegung des Daseins überhaupt vollzogen werden kann. Nun zeigt sich Heidegger zufolge also, dass in der existenzialen Ganzheit des Daseins, das Dasein eben an sein Ende gekommen ist; es also erst ist, wenn es nicht mehr ist. Es ist daher auch keine Abhebung der Ganzheit möglich – die Ganzheit ist erst, wenn das Dasein nicht mehr ist und keine Möglichkeit zur Abhebung mehr besteht. Der Seinsinterpretation ist damit in Heidegger eine grundsätzliche Verlegenheit auferlegt, die sich aus dem Sein des Daseins selbst ergibt. Heidegger schreibt: »Die Verlegenheit der Seinsinterpretation gründet also nicht in einer ›Irrationalität der Erlebnisse‹, noch weniger in einer Begrenztheit und Unsicherheit des Erkennens, sondern im Sein des thematischen Seienden selbst.« 224 Es wird hier sehr deutlich, dass die Seinsinterpretation für Heidegger das Dasein zum Gegenstand hat und nicht etwa z. B. auf dessen Erkennen eingeschränkt ist. 225 Das oben ausgelegte »Worüber«, welches Heideggers impliziten Anspruch einer eigentlichen Frage offenbarte, ist für Heidegger und seine Seinsinterpretation hier auf eine Auslegung des Seins des Daseins festgelegt, d. h. Heidegger glaubt in dieser AusGA 64, 46. GA 64, 46. 224 GA 64, 47. 225 Eine sehr pointierte Ausführung zum Problem und der Frage nach dem Sein des Seienden findet sich in der Freiburger Vorlesung Ontologie (Hermeneutik der Faktizität). Heidegger macht hier anhand des Seins des Daseins selbst deutlich, inwiefern das Sein des Daseins in Betrachtung steht und, vielleicht noch wichtiger, wie es nicht in Betrachtung steht. Er schreibt: »Das Dasein ist keine Sache wie ein Stück Holz; nicht so etwas wie eine Pflanze; es besteht auch nicht aus Erlebnissen, noch weniger ist es das Subjekt (Ich) gegenüber dem Objekt (nicht Ich). Es ist ein ausgezeichnetes Seiendes, das gerade, sofern es eigentlich ›da ist‹ nicht Gegenstand ist – im formalen Sinne: das Worauf eines meinenden Gerichtetseins. Als Thema einer Betrachtung ist es Gegenstand; das besagt aber nichts darüber, ob es das auch sein muß für die Erfahrungsart, in der es da ist und in der eigentlich die Analyse sich vollzieht.« (GA 63, 47). 222 223
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legung die eigentliche Fraglichkeit zu verfolgen. Wir können also festhalten, dass die Seinsinterpretation bei Heidegger das Dasein, bzw. dessen Sein, zu betrachten hat, aber aufgrund des Todes mit dem Problem konfrontiert ist, wie das Dasein überhaupt ›ganz‹ in den Blick gebracht werden kann. Wie stellt sich die Seinsinterpretation für Heidegger nun der Verlegenheit, dass das in Betrachtung stehende, das Dasein, nicht als Ganzes gegeben ist? Heidegger diskutiert zunächst den Ansatz, einen Ausweg aus der Verlegenheit zu suchen. Dieser Ausweg könnte seiner Auslegung nach sein, das Dasein der anderen, die bereits tot sind und als solches »ganz« vorliegen, für die Seinsinterpretation heranzuziehen. Dieser Ausweg jedoch erweist sich Heidegger zufolge als unmöglich, da das Dasein der anderen, sind diese tot, nicht mehr »da« ist. Darüber hinausgehend betont Heidegger, dass das Dasein der anderen nicht das eigentlich verstandene Dasein ist – das Dasein ist für Heidegger jeweils meins – das Dasein ist Jemeinigkeit und kann nicht durch den anderen ersetzt werden. Heidegger weist hierbei darauf hin, dass niemand anderes einem »Selbst« begegnen kann, geschweige denn mich in meinem Tod vertreten kann. Über die Unmöglichkeit des Auswegs hinaus offenbart dieser Ansatz gegenüber der Seinsverlegenheit für Heidegger eine Problematik in der Fragestellung, die uns überhaupt zu dem Versuch einen Ausweg zu finden führte: Soll das Dasein als Ganzes verstanden werden, so wird es verstanden als etwas, »das weltlich begegnet und ›fertig‹ sein soll.« 226 Im Kontext des Ganzen wird das Ende, so Heidegger, entweder als Moment verstanden, das die Gestaltung des Ganzen vollendet oder als ein bloßes Abbrechen der Erlebnisse, Vorgänge und Tätigkeiten, die ausmachen, dass derjenige eben nicht mehr ist. Beide Weisen das Ende im Sinne des Ganzen zu verstehen sind Heidegger zufolge dem thematisch infrage stehenden Seienden, dem Dasein, unangemessen, insofern sie es im vorhinein als Weltliches verstehen, als etwas, das entweder vorhanden oder nicht-vorhanden ist. Die Frage der Vorhandenheit trifft jedoch, so Heidegger, das Dasein nicht. Heidegger schreibt: »Diese Art zu fragen prallt also am Seinsbestand dieses Seienden, das nie Vorhandensein ist, als ihm unangemessen ab.« 227 Heidegger behauptet hier also, dass das Dasein kein Weltliches oder Vorhandenes/ GA 64, 47. GA 64, 48. Wir sind hiermit an die Frage nach der Zeit im Sinne der Ewigkeit erinnert, insofern thematisch wird, dass das Dasein nicht als entweder vorhandenes
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Nicht-Vorhandenes ist, sondern sein Sein anders ist. In Bezug auf den Tod ist damit impliziert, dass das das Sein des Daseins nicht als lebendiges (in der Welt vorhanden) oder totes (in der Welt nicht vorhanden) eigentlich verstanden wird. Wir können hieraus bereits schließen, dass die Seinsinterpretation, die sich angesichts der Ganzheit ihres thematischen Seienden in Verlegenheit fand, ihrer Verlegenheit Heidegger zufolge nicht auszuweichen hat, sondern sich vielmehr dieser stellen und das Seiende in seinem Sein ursprünglicher fassen muss. Für Heidegger bedeutet dies nicht, die Ganzheit oder die Seinsinterpretation aufzugeben, sondern das Ende des Daseins, in dem es seine äußerste Möglichkeit ist, den Tod, einzuholen. Dies ist Heidegger zufolge nur möglich, indem das Dasein selbst in den Tod vorläuft und dabei seine äußerste Möglichkeit ist. Wie wir sehen werden, ist das Vorlaufen jedoch Heidegger zufolge nur eine Seinsweise des Daseins neben der auch die Möglichkeit besteht, nicht Vorzulaufen, was uns anzeigt, dass die Seinsinterpretation ihrerseits in der Auslegung des Ganzen des Seienden auf eine bestimmte Seinsweise des Daseins angewiesen ist. Aber gehen wir noch einmal einen Schritt zurück und fragen, wie der Tod also verstanden werden muss, um mit ihm das Dasein Heidegger zufolge angemessen (d. h. nicht im Sinne eines weltlich Vorhandenen oder Nicht-Vorhandenen) in den Blick bekommen zu können. Dabei werden wir zugleich feststellen können, wie Heidegger über den Tod die Zeitlichkeit des Daseins näher versteht.
9.5 Der Tod als äußerste Möglichkeit des Daseins Der Tod darf, wenn das Dasein kein Weltliches, kein Vorhandenes ist, Heidegger zufolge nicht als etwas, das mir geschieht, verstanden werden. Der Tod ist dieser Auslegung nach nicht ein Ereignis neben anderen, das irgendwann eintritt und als solches nur ein Vorkommnis ist. Der Tod ist für Heidegger ein Seinscharakter des Daseins und muss als solcher bestimmt werden. Das Dasein wiederum, muss für Heidegger ebenso in seinem Sein in Hinblick auf seinen Tod verstanden werden. Heidegger schreibt: »Aus seinem ›dem Dasein Bevorstehen‹ muß der je eigene Tod als Seinscharakter des Daseins aus dessen oder nicht-vorhandenes verstanden werden kann; dass sein »Da-sein« gleichsam nicht von seiner Existenz »in der Zeit«, seiner Vorhandenheit, abhängt.
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Seinsart bestimmt werden.« 228 Daraus geht hervor, dass der Tod als mein Tod verstanden werden muss. Wenn Heidegger zuvor das Dasein als Möglichsein verstanden hat, so versteht er den Tod als seine äußerste Möglichkeit. 229 Diese äußerste Möglichkeit ist für Heidegger nicht als etwas in der Zukunft Liegendes, das das Dasein nichts angeht, zu verstehen. Vielmehr ist das Dasein in den zuvor explizierten Seinsweisen jeweils seine äußerste Möglichkeit, sein Tod. Als solches muss der Tod in den bereits ausgearbeiteten Seinsweisen abhebbar sein und dies ist es, dem Heidegger sich nun zuwendet, wenn er den Tod in Bezug auf das besorgende In-der-Welt-sein auslegt. Mit dieser Auslegung kommt die Seinsweise, die später als Uneigentlichkeit fassbar wird, näher in den Blick, d. h. nicht die Seinsweise, die oben als das Vorlaufen die Seinsinterpretation ermöglichen sollte. Der Tod ist Heidegger zufolge »völlig unbestimmt, obzwar gewiß.« 230 In der Seinsweise des Verfallens ist das Dasein in Heideggers Auslegung alltäglich sein Tod, jedoch auf solche Weise, dass »man« ihm gegenüber gleichgültig ist, man schiebt ihn von sich weg. Es ist Heidegger zufolge nicht so, dass der Tod in dieser Gleichgültigkeit keine Bedeutung für das Dasein trägt, vielmehr besorgt das Wegschieben des Todes »einen Seinscharakter dieser äußersten Möglichkeit im Sinne des besorgenden Verfallens.« 231 Die Unbestimmtheit ist im Sein des Todes in der Alltäglichkeit des »Man« Heidegger zufolge als »vorläufig noch nicht« bestimmt, sodass dabei die Beunruhigung, die der Tod mit sich bringt oder mit sich bringen könnte, unterdrückt wird. Dieses beruhigende Verfallen in der Seinsweise des Daseins im »Man« geht Heidegger zufolge noch weiter, indem sie auch die zweite Seinsweise des Todes verstellt, nämlich seine Gewissheit. Heidegger schreibt: »In der Selbstberuhigung des Daseins vermag sich die Unerbittlichkeit des gewissen Todes nicht unverdeckt zu zeigen.« 232 Das Wegschieben des Todes wird von Heidegger als ein Aufgeben der Fraglichkeit verstanden. Dies wird unter anderem an der Emphase deutlich, mit der er das Wegreden des Todes in der durchschnittlichen Selbstauslegung beschreibt: »im Miteinandersein [reden] die anderen dem Sterbenden noch ein […], er werde bald wieder aufkommen« 233, 228 229 230 231 232 233
GA 64, 48. Vgl. GA 64, 49. GA 64, 50. GA 64, 50. GA 64, 50. GA 64, 50.
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Die Abhandlung Der Begriff der Zeit
»Dieselbe öffentliche Ausgelegtheit zieht das ›Denken an den Tod‹ als feige Angst, als finstere Weltflucht herab« 234 und »Dieses Ausweichen vor der Möglichkeit des bevorstehenden gewissen Todes legt sich als ergreifen des Lebens, als Selbstsicherheit aus.« 235 Das Dasein ist mit der Flucht vor dem Tod demnach auf einer Flucht vor sich selbst, um sich im besorgenden Aufgehen in der Welt zu beruhigen, es sich leicht zu machen und sich zu Hause zu fühlen. Indem Heidegger so ausgelegt hat, dass der Tod auch für die bisher ausgeführten Seinscharaktere des Man, Mitseins und In-derWelt-Seins eine Seinsart ist, ist der Tod für ihn als äußerste Möglichkeit des Daseins, als Grundverfassung des Daseins, etabliert. Eine Grundverfassung kann demnach nur sein, was eine eigentliche und uneigentliche Seinsweise des Daseins gleichermaßen ermöglicht. Aus dieser Grundverfassung des Todes heraus, möchte Heidegger nun das Dasein ontologisch interpretieren. In diesem Sinne schreibt er: »Daher wird die ontologische Interpretation des Daseins dann ihre aus der Sache selbst geschöpfte und dazu ursprünglichste Zugangsart zu ihrem Gegenstand ausbilden, wenn sie das Dasein grundsätzlich aus der äußersten Möglichkeit seines Seins her versteht.« 236 Die Art und Weise, wie die Seinsinterpretation einen Zugang zu den Grundverfassungen des Seins gewinnen kann, ist damit aus ihrer Verlegenheit heraus gewonnen: Insofern die »ständige Unfertigkeit und das Fertigsein« des Daseins über den Tod in den Blick kam, kann dieses als das »Nichts in dem Sinne von Sein« 237 verstanden werden, so Heidegger. Heidegger schreibt in diesem Sinne: »Wird die scheinbar nächste Seinserfahrung und Auslegung des Daseins als eines weltlichen Vorhandenseins und Geschehens vermieden, dann offenbart sich der Tod als die ursprünglichste Seinsverfassung des Daseins.« 238 Auf dem Boden dieses Verständnisses des Seins des Daseins im Sinne seiner äußersten Möglichkeit, dem Tod, als eine Seinsweise des Daseins selbst, kann nun Heidegger zufolge die Zeit interpretiert werden und zwar insofern die Zeit im Dasein ist. Die Zeit ist aber Heidegger zufolge auf diese Weise nur im Dasein, insofern das Dasein in seiner
234 235 236 237 238
GA 64, 50. GA 64, 50. GA 64, 51. GA 64, 51. GA 64, 51.
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Eigentlichkeit ist. Heidegger wendet sich daher der Herausstellung der Fakticität des Daseins in ihrer möglichen Eigentlichkeit zu, um das Zeitphänomen in den Blick zu bringen. Wie wird die Zeit hier eingeführt? Es ist abermals augenscheinlich eine Schlüsselstelle in Heideggers Auslegung, die die Thematisierung der Zeit provoziert – es geht Heidegger um eine neuartige Seinsinterpretation, die die Ganzheit des Seienden, dessen Sein sie auslegen soll (Dasein), gänzlich anders in den Blick bringt, als es eine traditionelle Auffassung des Seins des Daseins vermochte. Das Ganze des Daseins konnte sich einer Ontologie, die das Dasein als Vorhandenheit, als Weltliches, auffasste, Heidegger zufolge nicht zeigen. Symptomatisch war dieser Ontologie es nach Heidegger auch, dass sie den Tod als einen vorkommenden Vorgang verstand. Die Zeit wird nun von Heidegger im Hinblick auf ein eigentliches Verständnis des Todes und in Hinblick auf die Möglichkeit der Eigentlichkeit des Daseins thematisiert. Durch das Verständnis des Todes als äußerste Möglichkeit des Daseins, welche für Heidegger eine Seinsverfassung des Daseins ausmacht und zwar seine ursprünglichste, wird ihm zufolge das Ganze des Daseins allererst in den Blick gebracht, nämlich nicht im Modus einer Vorhandenheit (oder Nichtvorhandenheit), sondern hinsichtlich, so Heidegger, seines »Wies«. Auf dem Boden dieser Seinsinterpretation, genauer, auf dem Boden der Herausstellung derjenigen Seinsweise des Daseins, die in seine Möglichkeit vorläuft und sich so als Ganzes auslegt, soll sich Heidegger zufolge nun das Zeitphänomen zeigen. Es ist hierbei festzuhalten, dass das Ganze des Daseins über den Tod in seiner Eigentlichkeit, welcher sich lediglich in der Eigentlichkeit des Daseins zeigt, ontologisch interpretiert werden soll. Allerdings ist die Uneigentlichkeit auch etwas, das zum Ganzen des Daseins gehören soll. Wie soll also das Ganze des Daseins über eine Seinsweise erschlossen werden, die nicht das Ganze des Daseins ausmacht? Diese Frage ist auch für das Zeitverständnis interessant, da auch das Zeitverständnis hier über die Möglichkeit der Eigentlichkeit eingeführt wird, zuvor aber die Zeit mit dem Dasein insgesamt in Zusammenhang stehen sollte. Wir werden auf diese Problematik zurückkommen.
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9.6 Die Fakticität in ihrer möglichen Eigentlichkeit Obwohl Heidegger nun angekündigt hatte, dass die Zeit in der Fakticität in ihrer möglichen Eigentlichkeit deutlich werden sollte, finden wir in der nachfolgenden Analyse der Fakticität des Daseins in seiner möglichen Eigentlichkeit keinen weiteren expliziten Hinweis auf die Zeit. Wir müssen demnach selbst erschließen, was die Ausführung mit der Zeit zu tun hat und wir wenden uns in diesem Sinne dem Nachfolgenden zu. Wenn der Tod als äußerste Möglichkeit des Daseins verstanden wird, so muss er Heidegger zufolge Eingang in den Vollzug des Daseins finden, sollte das Dasein zu seiner Eigentlichkeit kommen. Insofern muss der Tod nach Heidegger in seinem Bevorstehen ergriffen werden. Heidegger schreibt: »Das Dasein als Möglichsein muß dessen [der äußersten Möglichkeit] Bevorstehen fest- und aushalten.« 239 Von »aushalten« ist hier gesprochen, weil es dem Dasein leicht fällt, so Heideggers Auslegung, sich in der Alltäglichkeit durch ein Wegreden des Todes zu beruhigen. Heidegger nennt die Seinsweise, in der das Dasein seine äußerste Möglichkeit eigentlich ist, auch ein Vorlaufen zu seinem bevorstehenden Möglichsein. Heidegger bestimmt nun weiter diese Seinsart des Daseins in ihrem Sein als Befindlichkeit und Auslegung. Sie mündet letztlich in dem, was Heidegger als Eigentlichkeit bezeichnet. Wie ist das Vorlaufen zu verstehen? Es geht hierbei Heideggers Idee nach darum, den Tod als Möglichkeit in seiner Gewissheit für das eigene Dasein und in der Unbestimmtheit dieser Gewissheit aufzudecken. In dieser Weise bringt das Dasein den Tod in das Dasein, in die Entdecktheit. Es offenbart sich dadurch, so Heidegger, dass das In-derWelt-sein seinem »Vorbei« ausgeliefert ist. Das Insein in der Welt ist damit nicht länger als das alltägliche Besorgen bestimmbar. Dies bedeutet gleichsam ein Zurückgeworfensein auf sich selbst: Die Mitwelt und Öffentlichkeit zieht sich zurück und die Welt hört auf, von sich her dem Dasein sein Sein zu geben, das Dasein auszumachen. Die Bedeutsamkeit, die zuvor das Insein in der Welt ausmachte, zieht sich auf ein bloßes Vorhandensein zurück, wodurch das Insein vor einem Nichts steht, vor etwas, das es nichts mehr angeht. Das Dasein findet durch dieses Nichts der Bedeutung der Welt, die sich im Entdecken des Todes im Dasein auflöste, sein Sein auf sich selbst verwiesen. Ver239
GA 64, 52.
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stehe ich, dass ich im Sterben ich selbst sein muss, so Heidegger, wird mir das Besorgen in der Welt bedeutungslos und ich muss mein Sein sonach aus meinem eigenen Dasein her auslegen. Ich entdecke, anders ausgedrückt, dass ich nur mich selbst entdecke, entdecken will und zu entdecken habe. Heidegger formuliert dies so aus: »Das Dasein wird in seiner äußersten Möglichkeit ihm selbst überantwortet, d. h. es wird als das Sein offenbar, das von selbst her sein muß, wenn es eigentlich sein will, was es ist.« 240 Hier wird deutlich, wohin die Seinsinterpretation durch das Verständnis der möglichen Eigentlichkeit des Daseins im Entdecken der gewissen Unbestimmtheit des Todes geführt wurde: Das Sein muss Heidegger zufolge jeweilig vom Dasein her sein, insofern es eigentlich Sein ist. Wenn wir diese Auslegung auf die Seinsfrage selbst zurückführen, so können wir deuten, dass das Dasein durch das Vorlaufen in seinen Tod die Frage nach dem Sein (seinem eigenen Sein?) als einzig wesentliche begreifen muss, um diese Frage überhaupt stellen und beantworten zu können. Da die Uneigentlichkeit aber zum Dasein gehört, muss diese Seinsweise, die die Frage nach dem Sein erst ermöglicht, jeweils errungen werden. In Bezug auf die Seinsinterpretation ergibt sich die Problematik, dass die Frage nach einem eigentlichen »Worüber« (nach dem, was eigentlich in Frage steht), Heidegger auf das Sein des Daseins als Gegenstand der Betrachtung führte, diese Betrachtung aber zu ihrem Ausgangspunkt, d. h. der Notwendigkeit einer eigentlichen Infragestellung des Seins des Daseins führte, ohne diesem Sein des Daseins einen Inhalt über die Abgrenzung zur Uneigentlichkeit hinaus zu geben. Die Problematik hebt sich nicht auf, aber Heidegger gibt nähere Hinweise, wie das Sein des Daseins in Eigentlichkeit zu erfassen oder zu erfragen ist. Wie versteht Heidegger also dieses von selbst her sein? Heidegger legt dies in der Jeweiligkeit des Daseins als ›Wählenkönnen‹ aus. Heidegger schreibt: »Das Vorlaufen bringt – das eigene Vorbei aufdeckend – das Dasein vor die Wahl, die als Möglichkeit die Eigentlichkeit seines Seins ausmacht.« 241 Diese Wahl ist nun nicht einfach eine individuelle Wahl, sondern wird von Heidegger näher bestimmt als Wahl »entweder es selbst zu sein im Wie der ergriffenen Selbstverantwortung oder zu sein in der Weise des Gelebtwerdens von dem, was es jeweils besorgt.« Es fällt hier erneut auf, dass das von selbst her 240 241
GA 64, 53; Hervorhebung im Original. GA 64, 54.
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sein nicht näher bestimmt wird als dadurch, dass es gewählt wird gegenüber einem »Gelebtwerden«. Doch wie kann die Selbstverantwortung gewählt werden? Was ist der Inhalt dieser Wahl über die Entdeckung der gewissen Ungewissheit des Todes, die erst zur Möglichkeit dieser Wahl führte, hinaus? Ist der Inhalt, der über diese Möglichkeit der Wahl hinausgeht, einfach ein individueller Lebensweg geführt im Modus der Entdecktheit des Todes? Doch aus der Zurückgeworfenheit auf das Dasein und das Entdecken des Nichts der Bedeutsamkeit der Welt scheint sich nicht zu ergeben, was vom Dasein selbst her überhaupt in seinem eigenen Sein entdeckt werden kann. Heidegger lässt offen, was das »Wie des Sich=selbst=verantwortlich=sein=wollens« ist, d. h. wie dieses »Wie« vom Dasein selbst her kommend sein kann. Heidegger entgeht dieser Verlegenheit, indem er das »Wie« des Sich=selbst=verantwortlich=sein=wollens nicht inhaltlich näher fasst, sondern auf das »Was« des Besorgens bezieht. Er schreibt: »Das Sichaufhalten im jeweiligen Besorgen des ›Was‹ ist dann von diesem gewählten Wie her bestimmt.« Wenig später heißt es dann: »Dieses Wie bildet sich als Gewöhnung, Routine immer im Hinsehen auf das ›Was‹ des Besorgens aus.« 242 Heidegger muss aufgefallen sein, dass der Bezug auf das »Was« des Besorgens nicht erklären kann, wie das Dasein sein Sein aus sich selbst her entdeckt, anstelle es sich von der Welt her im besorgenden Bedeuten geben zu lassen, auch wenn diese eigentliche Möglichkeit des Daseins als Möglichkeit von der inhaltlich bestimmten Uneigentlichkeit abgegrenzt wurde. Es zeichnet sich hier ein Problem ab: Die Leere, die inhaltliche Unbestimmtheit des »Wies« oder der »Eigentlichkeit«. Wir bleiben damit stehen bei der Feststellung einer eigentlichen Möglichkeit des Daseins, sein Sein aus sich selbst her zu entdecken, anstatt sein Sein der Welt ungefragt anzuvertrauen. Wie diese Möglichkeit der Eigentlichkeit des Daseins selbst konstitutiv zu denken ist, ist offen gelassen.
9.7 Das »Wie« als Horizont der Wahl des Daseins Heidegger gibt uns einige weitere Hinweise, wie das »Wie« zu verstehen und wie es nicht zu verstehen ist. Diese Hinweise klären, um deutlich zu sein, nicht die eigentliche Konstitution des »Wie«, d. h. 242
GA 64, 54.
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beantworten nicht die Frage, wie das Dasein sich selbst sein Sein gibt, wie das Sein des Daseins von ihm selbst her ist. Die einzige Stelle, an der das »Wie« selbst von Heidegger näher bestimmt wird, findet sich in seiner terminologischen Festlegung des »Wie« als bestimmt durch das »Gewissen=haben=wollen«. 243 Diese Festlegung wird jedoch nicht weiter kommentiert. Das Fehlen der Antwort auf die Frage nach der Konstitution des »Wie« erklärt Heidegger mit seiner Auffassung, dass dieses Wie nicht allgemein bestimmbar ist. Verstünden wir das »Wie« nicht als Seinsweise auf dem Boden des bestimmten Seienden (des Daseins), sondern einfach als ein »Wie« gegenüber einem »Was« in der Wahlmöglichkeit, so nähmen wir Heidegger zufolge an »es gäbe so etwas wie das Wie überhaupt.« 244 Heidegger weist hiermit darauf hin, dass das »Wie« keine Allgemeinheit ist, die als solches bestimmbar ist, sondern eine Seinsweise, die das Dasein in seiner Jeweiligkeit ausmacht und daher nur vom Dasein in seiner Jeweiligkeit her verstanden werden kann. Obwohl das »Wie« demnach nicht als ein »Wie überhaupt« angenommen werden kann, sucht Heidegger doch, es in seiner Bestimmtheit als Seinscharakter des Daseins zu offenbaren, wie hier deutlich wird: »In diesem eigentlich ergriffenen Vorbei wird der Horizont der Wahl erst offenbar und damit das Wie in seiner Bestimmtheit als Seinscharakter des Daseins.« 245 Heidegger hat hier also das Problem, dass er die Eigentlichkeit über das »Wie« fassen will und zugleich sagt, dass die Eigentlichkeit nicht allgemein fassbar ist. Doch wie ist aus etwas, das nicht allgemein fassbar ist, eine Wissenschaft möglich? Wie soll es eine ontologische Auslegung des Daseins ermöglichen? Und wie lässt sich ein Inhalt dieser Eigentlichkeit fassen, die über die Negation der Uneigentlichkeit hinausgeht? Heidegger fragt bezüglich des Wies nicht, wie das Sein vom Dasein her in Jeweiligkeit gefasst werden kann. Vielmehr fährt er fort zu fragen, auf welche Weise das Dasein ist, sodass das »Wie« seine Seinsweise ausmacht, d. h. in Abgrenzung einer uneigentlichen Seinsweise. 246 Insofern Heidegger also die zweite Frage stellt, wendet er sich Vgl. GA 64, 54. GA 64, 55. 245 GA 64, 55. 246 Heideggers Hinweis auf die Fehlinterpretation eines Wie überhaupt lässt darauf schließen, dass er die erste Frage für unbeantwortbar hält. Doch auch wenn sich das Wie letztlich durch einen jemeinigen Vollzug konstituierte, so ließe sich doch dieser Vollzug, der das Wie zu einem Wie macht, darlegen. 243 244
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der Aufzeigung des Vorlaufens in die äußerste Möglichkeit in seiner Gestaltung und näheren Beschreibung zu. Hierbei schreibt Heidegger: »Der Gewißheit des Vorbei muß das vorlaufende Dasein in seinem eigensten Sein gewiß sein.« 247 Das Dasein erlangt diese Gewissheit nun im Wählen und Gewählthaben des auslegend entdeckenden »Wie«. Heidegger schreibt: »Das Wie ist, was es ist, als das in jedem Ergriffene. Dieses Gewählthaben des Wie stempelt das Vorlaufen zum Entschlossensein. Das Vorlaufen erschließt nicht ein Was der Welt für den besorgenden Umgang, sondern bildet das Dasein in seiner eigentlichen Entdecktheit – der Entschlossenheit – aus.« 248
Das Wählen in Entschlossenheit ist demnach für Heidegger mit dem »Wie« als Seinsweise verbunden. Doch wie ist diese Entschlossenheit vorzustellen? Heidegger schreibt: »Die Entschlossenheit hält sich als Entdecktheit in der entsprechenden Befindlichkeit der nüchternen Angst. Diese ist das Aushalten vor der Unheimlichkeit des eigensten Seins als Möglichsein.« 249 Die Entschlossenheit führt demnach als Befindlichkeit der Angst Heidegger zufolge auf das Aushalten der Möglichkeit des eigensten Seins zurück. Es geht in dieser Analyse Heideggers um die Frage, wie es möglich ist, in der eigentlichen Seinsweise, dem »Wie«, zu sein, zu leben, und nicht durch Ausbleiben der Entscheidung zum »Wie« in einer Seinsweise des verfallenden Angewiesenseins auf die Welt zu sein. Die Antwort ist für Heidegger Entschlossenheit, ein Wählen und Gewählthaben des »Wie«, trotz und im Aushalten der Angst, die dieses »Wie« mit sich bringt. Es muss sich hierbei erneut die Frage stellen, was dieses »Wie« beinhaltet und damit, was die Entschlossenheit über eine Erkenntnis der Insignifikanz des ›In-der-Welt-Seins‹ hinaus überhaupt inhaltlich zu bedeuten hat. Auch hier bleibt Heidegger bei einer Beschreibung der Eigentlichkeit, des Wies, im Verhältnis zur Uneigentlichkeit stehen, anstatt das Wie oder die Eigentlichkeit und die Möglichkeit der Seinsfrage darin inhaltlich näher zu fassen. Aber was hat, die inhaltliche Bestimmung der Eigentlichkeit dahingestellt, diese Auslegung des Seins des entdeckenden Vorlaufens nun mit der Zeit zu tun, welche durch die Auslegung der Fakticität in ihrer möglichen Eigentlichkeit deutlich werden sollte? Heidegger schreibt: 247 248 249
GA 64, 55. GA 64, 55. GA 64, 57.
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Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit
»Und welcher Weg führt von dem in der Eigentlichkeit seines Möglichseins explizierten Dasein zu der Zeit? Es bedarf keines Weges mehr. Die Untersuchung hatte die Zeit schon ständig im Thema. Die ontologische Charakteristik des Seins des entdeckenden Vorlaufens war schon das Freilegen des Phänomens der Zeit in ihrem eigentlichen Sein. Das jeweilige Dasein selbst ist (die) ›Zeit‹.« 250
9.8 Das jeweilige Dasein in Eigentlichkeit und die Zeit Mit obiger Konklusion können wir die zu Eingang des Kapitels behandelte Frage danach, ob das Dasein die Zeit erschließen lässt oder die Zeit das Dasein, sowie inwiefern sich die beiden Phänomene verschränken, erneut aufgreifen. Es wurde deutlich, dass die Zeit bis hierher über das Dasein erschlossen wurde und zwar insofern, dass die Zeit letztlich mit dem jeweiligen Dasein identifiziert wurde. Hierdurch gilt wiederum alles, was über das jeweilige Dasein offenbart wurde, ebenfalls für die Zeit. Doch was ist der Grund für die Identifikation des Daseins mit der Zeit selbst? Dieser Grund muss über eine schlichte Einerleiheit des Daseins und der Zeit hinausgehen, wenn er eine tieferliegende Bedeutung haben soll. Was sagt es über die Zeit, dass sie als Dasein verstanden, was über das Dasein, dass es als Zeit verstanden wird? Und können wir nun unter diesen Phänomenen eines bestimmen, welches letztlich das ausmacht, was wir wissen wollen, worauf wir hinaus sind? Gehen wir zunächst dem Grund der Identifikation von Dasein und Zeit nach. Heidegger schreibt diese Identifikation betreffend: »Wenn es damit eine echte, in dem Phänomen gegründete Bewandtnis hat, dann ist die vorstehende Analyse des Seinscharakters des Daseins zugleich die Abhebung der Weisen, nach denen ›die Zeit‹ ist.« 251 Wenn die Zeit das Dasein ist, ist unmittelbar einleuchtend warum die Analyse des Seinscharakters des Daseins zugleich die Zeit offenbart. Doch die Abhebung der Zeit durch die Analyse des Seinscharakters des Daseins setzt bereits voraus, dass das jeweilige Dasein die Zeit ist. Wir finden an dieser Stelle, an der Heidegger die Zeit einführt, keine ausgesprochene Erklärung hierfür. Die Zeit wird an dieser Stelle, wie im letzten Zitat des vorangehenden Kapitels deut-
250 251
GA 64, 57. GA 64, 57.
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Die Abhandlung Der Begriff der Zeit
lich wird, über das Sein des entdeckenden Vorlaufens eingeführt – die ontologische Charakteristik des Seins des Vorlaufens in die äußerste Möglichkeit offenbart zugleich das eigentliche Sein des Phänomens der Zeit. Blicken wir nun zurück, so erinnern wir uns, dass das Vorlaufen ein Einholen der eigenen Sterblichkeit, des Todes, in das Leben bedeutet und dieses Einholen wiederum das besorgende Bedeuten der Welt vernichtet. Wir können anders ausdrücken: Indem wir unseren Tod als etwas Gewisses und Unbestimmtes entdecken, ist uns das, was in der Zeit ist, was uns alltäglich besorgt, umtreibt, beschäftigt etc. nichts. Ich entdecke in meinem Entdecken des Vorbeis meines eigenen Daseins, dass kein Pläne machen, keine Einrichtung in dieser Welt, nichts, dass sich auf ein in der Zeit Seiendes in der Welt bezieht, bleibend ist. Es geht mich dadurch nichts mehr an, es interessiert mich nicht mehr. Dieses Sein des Vorlaufens in den Tod hat nun mit der Zeit zu tun. Inwiefern? Da wir von Heidegger keine Begründung erfahren, können wir lediglich eine Vermutung anstellen. Wir können vermuten, dass mir durch das Entdecken meines In-der-Zeitseins und der Vergänglichkeit desselben mein In-der-Zeit-sein und das, was dieses ausmacht, der Bezug zu Seiendem, das in der Zeit ist, nichts mehr gilt. Daran entdecke ich aber auch, dass das Dasein, das dies entdeckt, nicht nur In-der-Zeit-sein ist. Da das, was nicht In-derZeit-sein ist, aber nur entdeckt wird, insofern es sich als In-der-Zeitsein entdeckt, muss das Dasein In-der-Zeit-sein und Nicht-in-derZeit-sein zugleich sein. Dies würde vielleicht erklären, warum das Dasein für Heidegger (die) Zeit selbst ist, bzw. warum die Zeit das Dasein fassbar werden lässt. Aber kehren wir zurück und wenden wir uns der zweiten oben eingeführten Frage, was es über das Dasein sagt, dass es Zeit ist, was es über die Zeit sagt, dass sie jeweiliges Dasein ist, zu und mit ihr Heideggers weiterer Ausführung. In der Analyse des Seinscharakters des Daseins sollen die Weisen, nach denen die Zeit ist, offenbar werden. Heidegger legt in diesem Sinne das bereits Erarbeitete in Hinblick auf die Zeit aus und thematisiert dabei Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart. Es geht Heidegger hier insgesamt darum, nicht nur die eigentliche sondern auch die uneigentliche Seinsart des Daseins in Bezug auf die Zeit deutlich zu machen. Obwohl das Ganze des Daseins also nur aus der Eigentlichkeit im Vorlaufen in den Tod in den Blick kam, soll nun das Uneigentliche diesem Ganzen zugehören. Bezüglich dieser Thematisierung der Zeit schreibt Heidegger: »Das Vorlaufen besagt: im ›Vor‹ der eigensten, äußersten Möglichkeit 143 https://doi.org/10.5771/9783495997796
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sein. Dieses Vor=sein enthüllt sich als Zukünftig=sein.« 252 Diese Zukunft, die das Dasein im Vorlaufen ist, verstehen wir Heidegger zufolge falsch, wenn wir sie als Plan, als Vorhaben, als ein »Was«, das uns weltlich begegnet oder begegnen kann, deuten. Das Zukünftigsein ist vielmehr ein Erwarten und in diesem Erwarten das »Zukunftsein sein, was es ist.« 253 Heidegger schreibt diesbezüglich über das Zukünftigsein: »Aus der Gegenwart weg hält es sich im Bevorstehen als dem rein bei ihm selbst Seinwerden des Daseins auf. Das verwahrende Aushalten dieses Möglichseins des Daseins ist das Zukünftig=sein.« 254 Wir können hiermit deuten, dass das Sein des »Wie« nie ist, sondern immer eine Möglichkeit bleibt. Darauf verweist auch Heideggers nachfolgende Abhebung des Zukünftigseins: »es ›ist‹ die Zukunft des Seins, das es selbst ist.« 255 Dieses Zukünftigsein soll nun nicht ›in der Zukunft sein‹ bedeuten, so Heidegger, sondern soll bedeuten zeitlich zu sein und zwar so, dass dieses zeitlich sein nicht in der Zeit sein ist, sondern Zeit selbst sein ist und damit Gegenwart und Vergangenheit einschließt. Die Vergangenheit legt Heidegger als das nicht eigentlich gewählt haben in der Verfallenheit, die das Dasein charakterisiert, aus. Dies ist die Vergangenheit des Daseins, die es war und ist und als solche ein Schuldigwerden, das sich nur durch das Zukünftig-sein, durch die Entschlossenheit, als Schuldigwerden und Vergangenheit bestimmt, so Heidegger. Und hier macht Heidegger eine Anmerkung, die uns etwas Aufschluss über unsere Frage nach dem, was es über das Dasein sagt, dass es Zeit ist, zu geben vermag und gleichzeitig Licht auf die Identifikation des Daseins mit der Zeit gibt. Heidegger schreibt: »Das zugleich ›vergangen‹ und auch ›gegenwärtig‹ darf nicht dazu verleiten, das ›Ganze‹ der Zeit im Sinne der Sinne der Summation auf ein weltlich vorhandenes Seiendes zu sehen. Das ›zugleich‹ und ›auch‹ meinen den Seinscharakter des Daseins selbst und daß es ›die Zeit‹ ist.« 256
Heidegger sagt hier aus: Das Dasein ist Zeit, weil es kein weltlich Vorhandenes ist. Und da dieses, was das Sein des Daseins ausmacht, nur in den Blick kommt durch sein Zeitlich-sein, welches es als Inder-Zeit-sein eben nicht ist, so ist Heideggers Konklusion: »Das Da252 253 254 255 256
GA 64, 57. GA 64, 58. GA 64, 58. GA 64, 58. GA 64, 61.
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Die Abhandlung Der Begriff der Zeit
sein ist ja ›die Zeit‹, die ist in der Weise des Zeitlichseins; das Sein des Daseins ist als Zeitlichkeit bestimmt. Inwiefern ›die‹ Zeit ist und wie sie als solche zeitlich ist, kann nur aus dem eigentlichen Sein ›der Zeit‹ her verstanden werden.« 257 Die Analyse des Daseins hat Heidegger hiermit auf eine Untersuchung des Seins der Zeit verwiesen. Wollen wir wissen, was das Sein des Daseins, insofern es nicht in dem in der Zeit Seienden, zu Besorgenden aufgeht, ist, so müssen wir Heidegger zufolge nach dem Sein der Zeit fragen. 258 Dies ist nun also die Prämisse, unter der die Zeit in den Blick kommt. Es erschließt sich in diesem Sinne rückblickend, warum das Dasein über die Zeit Aufschluss geben soll. Die Zeit, wie Heidegger sie hier versteht, als etwas, das sich über das Zeitlich-sein in Abgrenzung zu einem In-der-Zeit-sein (In-der-WeltSein), ergibt, offenbart sich erst durch die Analyse des Daseins. Das Phänomen der Zeit, wie Heidegger es versteht, konnte daher nicht anders in den Blick kommen als durch eine Daseinsanalyse. Es erschließt sich gleichzeitig auch, warum die Zeit Heidegger zufolge über das Dasein Aufschluss gibt. Denn es wird anhand der Zeit thematisiert, wie das Dasein Zeitlichkeit sein kann, ohne schlicht ein Inder-Zeit-Seiendes, ein weltlich vorhandenes Seiendes zu sein. Und auch auf die Frage, welches der beiden Phänomene das primäre Interesse ausmacht, können wir eine Antwort vorschlagen: Die Frage nach dem Sein des Daseins führte zur Frage nach dem Sein der Zeit, aber nur insofern bereits behauptet wurde, dass das Dasein in Eigentlichkeit die Zeit ist. Man könnte demnach mit Recht behaupten, das Dasein mache das primäre Interesse, den primären Gegenstand der Frage und das Prinzip oder die Grundfrage der Philosophie aus, denn es scheint das Dasein zu sein, welches den Boden für die Fragestellung liefert. Wir könnten aber auch mit legitimen Gründen die Zeit in eben dieser Rolle behaupten, denn es ist die Eigentlichkeit des Daseins, die letztlich offenbar werden soll und das Sein dieser Eigentlichkeit ist für Heidegger das Sein der Zeit. Dies erklärt also, warum Heidegger einmal von der Zeit seinen Ausgang nimmt, einmal von dem Dasein, warum er die Abhandlung Der Begriff der Zeit und sein Hauptwerk Sein und Zeit tauft, obwohl es zunächst um eine DaseinsGA 64, 61. Diese Frage bewegt sich immer noch innerhalb der Festlegung der Fragestellung nach dem, wie das Dasein sein muss, damit sich sein Sein von ihm selbst her gibt und nicht in der Frage, wie sich das Sein des Daseins von ihm selbst her gibt.
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analyse zu gehen scheint und warum er wiederholt die paradoxal anmutende Aussage macht, dass sich das Dasein über eine Anzeige des Phänomens der Zeit offenbart, die Zeit aber über die des Daseins.
9.9 Das Sein der Uneigentlichkeit als Zeitlichsein Das Dasein wurde nun für Heidegger im Kontext der Eigentlichkeit als Zeitlichkeit offenbar und in dieser Zeitlichkeit ausgelegt. Doch das Sein des Daseins ist für Heidegger nicht nur eigentlich, sondern auch uneigentlich, wie oben bereits thematisiert wurde. Ist das Dasein zeitlich, so muss es daher eine uneigentliche Zeitlichkeit geben, so Heidegger. Diese nun wird uns über Heideggers Verständnis der Seinsmöglichkeit der Uneigentlichkeit weiteren Aufschluss geben. Heidegger schreibt: »Die verschiedenen Weisen des Zeitlichseins zeigen als konstitutive Seinsmöglichkeiten die Fakticität als die Zeitlichkeit.« 259 Die Ausarbeitung des Phänomens der Zeitlichkeit auf dem Boden der erarbeiteten Seinscharaktere der Uneigentlichkeit gibt uns demgemäß Aufschluss, sowohl über diese Seinsmöglichkeit des Daseins als auch über die Zeit als uneigentliche. Im besorgenden Miteinander im In-der-Welt-sein unter der Herrschaft des Man »hat« das Dasein Heidegger zufolge die Zeit und als solche rechnet es mit ihr. Dieses Haben der Zeit soll nun, so Heidegger, am Insein verständlich gemacht werden. Insofern das besorgende Dasein immer auf ein »Noch nicht« hinaus ist, erklärt Heidegger, ist das Zukünftigsein auch hier der Grundcharakter des Zeitlichseins. Doch das Zukünftigsein ist hier ein »sich aufhalten bei einem Zukünftigen.« 260 Als solches zieht das Zeitlichsein des Inseins das zu Besorgende, das Zukünftige, in die Gegenwart. Heidegger schreibt: »Alle Seinsmomente des Besorgens zeigen dieselbe Weise des Zeitlichseins: das Ziehen des Besorgten in das Gegenwärtige des Besorgens.« 261 Dieses Gegenwärtige ist das Anwesendsein der Welt und der weltlich begegnenden Sachen. Das besorgende Dasein ist somit gegenwärtigend – es sucht für jedes zu Besorgende eine Zeit, ein Jetzt und zwar insofern dieses Jetzt in der Welt vorkommt. 262 Heidegger schreibt in diesem Sinne in Sperr259 260 261 262
GA 64, 62. GA 64, 63; Hervorhebung im Original. GA 64, 64; Hervorhebungen im Original. In Michael Inwoods Artikel Heidegger on Time findet sich eine Zusammenstel-
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Die Abhandlung Der Begriff der Zeit
schrift: »Das Gegenwärtigen ist demnach als Insein ein solches Zeitlichsein, dem in seiner Umsicht ›die Zeit‹ im Charakter der Bedeutsamkeit weltlich begegnet. Für das besorgende aufgehenden Zeitlichsein gibt es in seiner Welt ›die Zeit‹.« 263 Die Zeit ist also hier etwas, das in der Welt ist. Das besorgende Dasein rechnet mit dieser Zeit, dem Jetzt, insofern jedem Ding seine Zeit gegeben werden muss; es fragt, so Heidegger, nach dem »Wann« und bestimmt ein »dann«. Das Besorgen weist so jedem Jetzt ein zu Besorgendes zu, es geht in der verfügbaren Zeit auf und hat als solches in Heideggers Diagnose »keine Zeit«. 264 Die Zeit ist dem besorgenden Dasein kostbar und als solches zeigt sich, dass die Zeit »da« ist, in der Welt ist. 265 Im Besorgen des In-der-Welt-Begegnenden, des In-der-Zeit-Seienden zu diesem und jedem »Jetzt« legt sich das Dasein aus, ohne sich eigentlich auszulegen, denn ihm wird seine Auslegung von diesem weltlich Begegnenden gegeben. Heidegger schreibt: Etwas ist ›in der Zeit‹ sagt: sein Vorhandensein begegnet einem gewärtigenden Gegenwärtigen. Anwesendes begegnet in die Gegenwart, d. h. dem sagenden Erschließen und Auslegen der Welt. Das Wort ›Gegenwart‹ hat in seiner Bedeutung eine eigentümliche Indifferenz; es besagt einmal: Anwesenheit in der Umwelt (die Praesenz) und dann das ›Jetzt‹ (das Praesens). Die Indifferenz ist der Ausdruck des phänomenalen Tatbestandes im Dasein, daß das ›jetzt‹ sagende sich aussprechende Ansprechen der Welt als aufgehendes Besorgen in dieser, sich von der Welt her als dem verfügbar Anwesenden auslegt. 266
In der Auslegung der Indifferenz in der Bedeutung des Wortes Gegenwart wird deutlich, was das Zeitlichsein in der Alltäglichkeit für Heidegger zeigt: Das zu besorgende Begegnende, das Weltliche, und mein »Jetzt«, meine Existenz, sind einerlei und genau darin ist das Dasein an die Welt verfallen. Heidegger führt aus: Das Jetzt wird im lung und Deutung der verschiedenen Bestimmungen der Jetzt-Zeit in Heidegger. (Vgl. Michael Inwood: Heidegger on Time. In: Roxana Baiasu/Graham Bird/A. M. Moore (Hg.): Contemporary Kantian Metaphysics. New Essays on Space and Time. New York 2012, 233–252, 245 f.). 263 GA 64, 69. 264 Heidegger schreibt: »Je mehr das Besorgen in der Welt aufgeht (jetzt das, dann das und dann erst noch das), umso weniger hat es ›Zeit‹.« (GA 64, 71; Hervorhebung im Original.) 265 In diesem Sinne ist auch die Uhr und ihre Zeit erklärbar: »Die Uhr gibt es, weil für das Jetzt sagende Insein ›die Zeit‹ weltlich begegnet.« (GA 64, 73.) 266 GA 64, 74; Hervorhebung im Original.
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Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit
Besorgen als ein Dann festgelegt, welches Dann sich im und für das Miteinander findet. Insofern hält Heidegger fest, dass die Zeit, wie sie im täglichen Dasein besorgt wird, das Miteinander-Sein ist, in dem sich das Dasein an die Welt verliert. In Bezug auf die Zeit bedeutet dies, dass das so bestimmte Sein der Zeit das Sein des »Man« ist, in welchem die Sorge um das Sein übernommen und verfallend ist. 267 Die uneigentliche Zeit in der Uneigentlichkeit des Daseins versteht Heidegger hiermit als das Man und das Miteinandersein, welche in Form eines »Niemand« die Zeit in geschilderter Art und Weise als in der Welt begegnende und als solche bereits an das Weltliche weggegebene Zeit sind.
9.10 Die Auslegung der Zeit in der uneigentlichen Zeitlichkeit Heidegger zufolge hat das Dasein die Zeit, wie sie ihm begegnet, nicht nur in geschilderter uneigentlicher Art und Weise, sondern es hat sie auch auf diese Art und Weise ausgelegt. Diese Auslegung hält sich an die alltägliche Zeiterfahrung. Heidegger erläutert diese Zeiterfahrung so: »Die Zeit ist der Himmel, bzw. dessen Umschwung; die Zeit ist Bewegung. Beide Aussagen machen deutlich, daß die Zeit dort gesucht wird, wohin das tägliche Bestimmen des ›Dann‹ des Besorgens verweist: Himmel und Umlauf der Sonne.« 268 Auch Aristotles’ Physik als erste Abhandlung über die Zeit versteht die Zeit Heidegger zufolge anhand dieser Begebnisart der Zeit auf Grundlage der Bewegung, welche wiederum auf die Vorhandenheit verweist. 269 Heidegger weist das Zählen als Gegenwärtigen in Bezug auf Vorhandenes in dem aus Aristoteles hervorgehenden Zeitbegriff, der Suksession, folgenderweise auf: »Das besorgend mitgehende Hinsehen auf den wandernden Schatten sagt: jetzt da, jetzt da … Das Jetzt=sagen trägt in sich das Hinsehen auf das Vor und Nach der Orte der Ortsfolge. Das Jetzt=sagen spricht den wandernden Vgl.: GA 64, 76; Hervorhebung im Original: »Das besagt: ›die Zeit‹ (wie sie im täglichen Dasein besorgt wird) ist das sich an die Welt verlierende Miteinandersein, das in seinem Sein als gewärtigend sich aussprechendes Zeitlichsein bestimmt ist. Das Sein der ›Zeit‹ ist das Sein des ›Man‹, das als eigentümliches ›Subjekt‹, das die Sorge um das Sein im nächst verfallenden Miteinandersein übernommen hat.« 268 GA 64, 79. 269 Vgl. GA 64, 77 f. 267
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Schatten auf seine Anwesenheit hin an und macht diese ausdrücklich zugänglich.« 270
Es ist in diesem Zeitbegriff der Sukzession für Heidegger nicht wesentlich, ob die gezählten Jetzt an physischen oder psychischen Vorgängen gezählt werden – immer wird die Zeit gerechnet und als solches ist das Sein der Zeit notwendig das, welches sich im gegenwärtigenden Besorgen offenbart. Für Heidegger und seine Interpretation der ontologischen Geschichte des Zeitbegriffs heißt dies, dass »das Dasein auch da, wo es ausdrücklich nach dem Wesen der Zeit fragt, im Sinn des gegenwärtigenden Besorgens fragt und antwortet.« 271 Der Zeitbegriff, der in Heideggers Ontologie erarbeitet wird, orientiert sich, so geht hieraus hervor, mit der eigentlichen Zeitlichkeit an einem anderen Phänomen der Zeit, dessen Ontologie jedoch Heidegger zufolge die uneigentliche Zeitlichkeit ebenfalls erst als solche in den Blick zu bringen vermag. Was können wir in diesem Sinne rückblickend über den Unterschied und das Verhältnis des eigentlichen und des uneigentlichen Zeitlichseins sagen? Und was bedeutet es für das Dasein, zeitlich zu sein?
9.11 Das Verhältnis des eigentlichen und des uneigentlichen Zeitlichseins Wir haben herausgearbeitet, dass sowohl das eigentliche als auch das uneigentliche Zeitlichsein bei Heidegger seinen Grundcharakter im Zukünftigsein hat. An diesem Zukünftigsein soll bei Heidegger der Unterschied zwischen dem eigentlichen Zeitlichsein im Sinne des Vorlaufens und dem uneigentlichen Zeitlichsein im Sinne des Verfallens deutlich werden und dies bringt uns auf das Entdecken des Todes zurück. Das gegenwärtige Besorgen will, so Heidegger, dem Tod eine Zeit zusprechen, d. h. es fragt nach dem Wann des Todes und gibt seine Antwort als »noch nicht«. Es rechnet damit im Grunde genommen, wie lange noch zu leben ist und ist eben nicht bei seinem »Vorbei«. Heidegger erläutert: »Es bringt sich nicht in die Zukunft des Seins, das es selbst eigentlich ist, sondern besorgt zwar Zukünftiges, aber nur um darin als Gegenwärtigem aufzugehen und so gegen die 270 271
GA 64, 78 f. GA 64, 79.
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eigentliche Zeitlichkeit sicher zu sein.« 272 Was ist nun das eigentliche Zeitlichsein dagegen? Wie können wir den Inhalt des eigentlichen Zeitlichseins verstehen? An dieser Stelle spricht Heidegger aus, was wir bereits oben festgestellt hatten: Dass die Konstitution des »Wie«, das ›Wie das Sein des Daseins vom Dasein her sein kann‹, seiner Auffassung nach nicht beantwortet werden kann. Die Frage nach diesem »Wie« muss für ihn bei der Explikation der Möglichkeit, dass das Sein des Daseins vom Dasein her ist, stehen bleiben. Doch was ist Heideggers Begründung? Heidegger schreibt: »Das eigentliche Sein des Daseins ist, was es ist, nur so, daß es das uneigentliche eigentlich ist, d. h. in sich ›aufhebt‹. Es ist selbst nichts, was gleichsam für sich neben dem uneigentlichen bestehen sollte und könnte; denn das in der Entschlossenheit des Vorlaufens ergriffene Wie ist eigentliches immer nur als Bestimmtheit eines zugreifenden Handelns im Jetzt der Zeit des Miteinanderseins. Der Entschlossene hat aber seine Zeit und verfällt nicht der Zeit, nach der er sich als Besorgender richten muß.« 273
Das eigentliche Sein ist demnach Heidegger zufolge nichts, das für sich etwas ist. Aber da es nun doch irgendetwas sein muss, erfahren wir, was es im Gegensatz zum uneigentlichen Sein ist. Es ist eine »Bestimmtheit eines zugreifenden Handelns im Jetzt der Zeit des Miteinanderseins«, 274 eine Entschlossenheit, die das Uneigentliche eigentlich macht. Das Dasein ›hat‹ im eigentlichen Dasein die Zeit, so Heidegger, im uneigentlichen Dasein ›hat‹ die Zeit das Dasein. Dem Dasein kommt durch ein bestimmt zugreifendes Handeln sein Sein von ihm her, anstatt dass es ihm, ist es nicht entschlossen, weltlich gegeben wird. Doch auch hier bleibt dieser Hinweis in Bezug auf das, was die Bestimmtheit (des zugreifenden Handelns) und damit die Entschlossenheit ausmacht, offen. Auch für Heidegger scheint sich die Leere im inhaltlichen Verständnis der Entschlossenheit (und damit der Eigentlichkeit und dem (eigentlichen) Sein des Daseins) aufzudrängen, wenn er das Kapitel mit folgenden Worten abschließt: »Das eigentliche Zeitlichsein liegt in der Entschlossenheit. Die Zeit ist demnach in einer theoretischen Betrachtung dann erst eigentlich verstanden, wenn dieses Verständnis in eine Überlegung ausläuft, die am ehesten geeignet ist, das Dasein vor das Zeitlichsein zu bringen. Das Verständnis der 272 273 274
GA 64, 81. GA 64, 81; Hervorhebungen im Original. GA 64, 81.
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Zeit und der Untersuchung darüber liegt im echten Fragen: ›bin ich die Zeit?‹.« 275
Dieses Ende des Kapitels mit dem Thema Dasein und Zeitlichkeit verspricht in der weiteren Erörterung der Zeit unter dieser neuen leitenden Frage also weiteren Aufschluss über die Konstitution des »Wies«, der Entschlossenheit, zu geben. Wenden wir uns in diesem Sinne dem letzten Kapitel Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit zu, welches uns zugleich an den Anfang der Abhandlung zurückführen wird.
9.12 Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit An der Struktur der Factizität konnte Heidegger zufolge die Gleichursprünglichkeit der Seinscharaktere und der Zeitlichkeit offenbart und so der volle Sinn des Seins in den Blick gebracht werden. 276 Auf der Grundlage dieses Seinsverständisses auf dem Boden der Gleichursprünglichkeit der Zeitlichkeit und der herausgestellten Seinscharaktere des Daseins soll nun, so Heidegger, der Begriff der Geschichtlichkeit herausgestellt werden. Die Geschichtlichkeit soll dabei als Seinsverfassung sichtbar und am Phänomen der Zeitlichkeit aufgezeigt werden. 277 Die Geschichtlichkeit muss, wie zuvor das Phänomen der Zeit und das des Daseins, Heidegger zufolge phänomenal verstanden werden und so ist sie nicht, was wir zunächst ungefragt annehmen könnten: sie ist kein »Vorkommen […] des Daseins im Zusammenhang
GA 64, 83. Für den Begriff der Faktizität vergleiche Hans-Helmuth Ganders Aufsatz Sich selbst auf der Spur. Zur phänomenologischen Hermeneutik der Faktizität. Gander schreibt hier: »Faktizität ist für Heidegger nicht ›das bloße Dasein‹, keine nackte Unbestimmtheit oder pure Tatsächlichkeit. Als das vortheoretische Leben in seiner Zufälligkeit, seiner Kontingenz und Individualität bestimmt Heidegger von Beginn an Faktizität als die existenzielle Situation des je Einzelnen, den eigenen konkreten Lebenszusammenhang also, den er vor 1922 auch zumeist als ›Leben‹ und ›faktisches Leben‹ anspricht.« (Gander, Hans-Helmuth: Sich selbst auf der Spur. Zur phänomenologischen Hermeneutik der Faktizität. In: Ingeborg Schüßler et al. (Hg.): Phénoménologie et Herméneutique I. Lausanne 2000, 129–148, hier 130 f.) 277 Hans-Helmuth Gander weist darauf hin, hier im Kontext von Sein und Zeit, dass die Geschichtlichkeit die Untersuchung der Zeitlichkeit erst ins Ziel führt. Vgl. Gander, Hans-Helmuth: Existentialontologie und Geschichtlichkeit (§§ 72–83). In: Thomas Rentsch (Hg.): Martin Heidegger, Sein und Zeit. Berlin 2001, 229–251, hier 229. 275 276
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weltlicher Geschehnisse […].« 278 Das Geschichtlichsein ist für Heidegger vielmehr das Zeitlichsein der Entdecktheit bzw. der Auslegung. Aus der phänomenalen Bedeutung der Geschichtlichkeit stellt Heidegger heraus, dass das Geschichtlichsein zunächst darauf hinweist, dass etwas von dem früher Gewesenen abhängig ist. Heidegger schreibt: »Der Ausdruck ›geschichtlich‹ meint das Zeitlichsein eines Seienden, sofern es durch den Charakter ›vergangen‹ bestimmt und als dieses Vergangene ausdrücklich oder unausdrücklich einer Gegenwart zugehört, in sie herein ragt – als erinnert – bewahrt – bzw. vergessen.« 279 Hiermit kommt Heidegger nun zu demjenigen Seinscharakter, der in der bisherigen Interpretation des Daseins als Zeitlichkeit noch nicht thematisch wurde – das Auslegen. In der Anzeige der Seinscharaktere des Daseins haben wir bereits gesehen, dass auch das uneigentliche Dasein, Heidegger zufolge, sein Dasein auslegt und diese Auslegung eine seinsmäßige Grundverfassung des Daseins ausmacht, aber so, dass sie der Verdeckung der Öffentlichkeit und dem Gerede anheimfällt. Wie ist nun das Auslegen in Hinblick auf das Phänomen der Zeitlichkeit bei Heidegger zu verstehen? Fragen wir zunächst, wie sich der Seinscharakter des Auslegens als uneigentliche Zeitlichkeit zeigt. Wir haben in der Anzeige der Seinscharaktere gesehen, dass das Begegnende durch das Dasein »als etwas« ausgelegt wird. Heidegger schreibt nun in Bezug auf die Zeitlichkeit dieser Struktur, dass dem auslegenden Ansprechen des Begegnenden als etwas, dieses »als etwas« mehr oder minder bereits ausdrücklich bekannt ist. 280 Insofern das Dasein als uneigentliches Miteinandersein ist, ist es nicht es selbst, das ursprünglich das »als was« entdeckt, so Heidegger. Das Dasein entwickelt sich vielmehr in diese Bedeutungen hinein und ist nie ohne sie. Das heißt, wenn wir uns dies verdeutlichen wollen, dass ich den Pochierer, sehe ich ihn zum ersten Mal, nicht zugleich ursprünglich entdecke, sondern ich erschließe das »als was«, das er ist, durch den Gebrauch des Dinges durch andere, den Aufbewahrungsort in der Küche etc., sodass das »als was« durch das Miteinandersein gegeben wird. Diese GA 64, 86. GA 64, 86 f. 280 Vgl.: GA 64, 87 f.: »Das auslegende Ansprechen von etwas als etwas spricht das Begegnende aus einer mehr oder minder ausdrücklichen Bekanntheit her an: als Werkzeug, als geeignet zu und dgl. Diese ›als was‹, von denen her die Umwelt und das in ihr aufgehende Besorgen ausgelegt werden, sind zumeist von dem jeweiligen Dasein nicht erst neu entdeckt.« 278 279
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Festlegung des »als was« durch das Miteinandersein bezeichnet Heidegger als »öffentliche Ausgelegtheit«. 281 Heidegger schreibt diese Ausgelegtheit betreffend: »Die öffentliche Ausgelegtheit ist ja die ›einer Zeit‹« 282 und meint damit die Zeit einer Generation, in der ›man‹ so und so denkt über etwas, das und das erwartet etc. Was diese Ausgelegtheit des Miteinanderseins bei Heidegger ausmacht ist, dass sie aus einer Vergangenheit lebt, die jedoch als Vergangenheit vergessen ist. Dem Dasein geht eine bestimmte Ausgelegtheit vorweg, die im Heute wirksam ist, jedoch auf solche Art und Weise, dass sie in ihrem Gewordensein vergessen ist. Die Ausgelegtheit ist als solche selbstverständlich und kommt nicht in den Blick. So kann sie Heidegger zufolge ihre Herrschaft entfalten und im vorhinein bestimmen, was das besorgende Dasein behandelt. Heidegger schreibt: Diese Ausgelegtheit hat schon jeweils darüber entschieden, was in den einzelnen Besorgungsmöglichkeiten vor allem gepflegt und behandelt wird (die Stoffe der Dichtung, die Vorwürfe der bildenden Kunst, die Arbeitsgebiete der wissenschaftlichen Disciplinen.) 283
Das gegenwärtige Besorgen lebt durch die Ausgelegtheit im Miteinandersein seine Vergangenheit ohne dass diese ausdrücklich wird. Heidegger schreibt: »Das Dasein ist so gerade im nächsten Miteinanderbesorgen sein Gewesensein. 284 Dieses Gewesensein im »man« ist nun was Heidegger als das elementare Geschichtlichsein des Daseins ausmacht. Insofern das Gegenwärtigen als Seinsweise des Daseins im »man« selbst jedoch uneigentlich ist, ist auch dieses Geschichtlichsein bei Heidegger als das uneigentliche bezeichnet. Das uneigentliche Geschichtlichsein kann nun für das Dasein in unterschiedlichem Maß ausdrücklich werden, da das Vergangensein des Miteinander in der gegenwärtigen Ausgelegtheit liegt und so für das besorgende Dasein zugänglich ist. 285 Was besorgt wird ist hierbei das Nichtvergessen der Vergangenheit; der Begriff hierfür ist bei Hei-
Vgl. GA 64, 87. GA 64, 87. 283 GA 64, 88. 284 GA 64, 89. 285 Die Vergangenheit findet sich für das besorgende Dasein in der Welt vor, d. h. die Ausdrücklichkeit dieser Vergangenheit ist auch aus der uneigentlichen Geschichtlichkeit heraus möglich. 281 282
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degger die Tradition. 286 Die Vergangenheit wird durch das gegenwärtigende Dasein als vorbeigegangene Gegenwart und somit als etwas Unwiederbringliches verstanden. Wichtig ist hierbei der Ausgangspunkt des besorgenden Daseins für sein Auslegen der Vergangenheit: es sieht sie im Horizont der Gegenwart, aus seiner besorgten Welt. Die Vergangenheit wird durch diesen Ausgangspunkt auf eine bestimmte Weise befragt: man fragt nach der Welt des vergangenen Daseins. Das historische Erkennen kann so Heidegger zufolge ein weiteres Verfallen ausmachen, indem restlos verglichen wird, wobei die Gegenwart zu einer unter vielen Kulturen herabgesetzt wird. Diese »Objektivität« der Weltgeschichte »verrät sich damit als ein Gegenwärtigen, d. h. Austilgen des Vergangenheitscharakters der Vergangenheit.« 287 Wie zeigt sich nun, im Gegensatz dazu, Heidegger zufolge, eigentliche Geschichtlichkeit? Die eigentliche Geschichtlichkeit muss, insofern das elementare Geschichtlichsein bereits eine Seinsweise des Daseins ausmacht, neben oder mit dieser bestehen können. Sie wird daher letztlich über eine Art und Weise der Auslegung, des Ausdrücklichseins der Geschichtlichkeit, behauptet. 288 Was wir oben als Heidegger behandelt den Begriff der Tradition bereits in der Marburger Vorlesung Einführung in die Phänomenologie aus dem Wintersemester 1923/24 im Kontext der Verstellung der Seinsfrage durch die Philosophiegeschichte seit Descartes. Verstellend wird die Tradition dann, wenn sie als Tradition nicht in den Blick kommt, legt Heidegger hier aus. Es wird dabei deutlicher als in unserer vorliegenden Abhandlung ausgesprochen, dass es sich um die Fundierung der jeweiligen Tradition (des Textes, der wissenschaftlichen Methode und Begrifflichkeit etc.) dreht, die nicht schlichtweg ausgelassen werden darf. Er schreibt: »Wenn das, was von einer Tradition befallen wird und wie es befallen wird, im Blick steht, dann ist die Tradition ausdrücklich. Insofern das nicht der Fall ist, wenn das Traditionelle so übernommen wird, daß die ganze Fundierungsarbeit übernommen wird, so zeigt sich, daß die Tradition nicht im Blick steht. Sofern die Tradition aus der Vergangenheit kommt, sofern die Sichtigkeit der Vergangenheit der Gegenwart fehlt und nicht lebendig wird, geschieht es, daß in den verschiedenen Charakteren die Zeitlichkeit des Daseins ausbleibt.« (GA 17, 182 f.) Es zeigt sich desweiteren an dieser Stelle, dass Heidegger zum Zeitpunkt dieser Vorlesung die Zeitlichkeit des Daseins noch für die Eigentlichkeit desselben reservierte. Dies deckt sich mit der Tendenz in der Abhandlung Der Begriff der Zeit, die Zeitlichkeit in Hinblick auf die Darlegung der Eigentlichkeit einzuführen, nämlich über das Vorlaufen in den Tod. Hier wird jedoch, wie wir gesehen haben, die Zeitlichkeit auch als Sein des Daseins in der Uneigentlichkeit und Verfallenheit an die Welt verstanden. 287 GA 64, 91. 288 Die Auslegung der Vergangenheit bestimmt das Zeitlichsein des Daseins selbst, d. h. wie es zu sich selbst steht, ob eigentlich oder uneigentlich. Einen deutlichen Hinweis hierauf finden wir ebenfalls in der ein Jahr früheren Freiburger Vorlesung On286
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Ausgangspunkt für das historische Erkennen angesprochen haben, bezeichnet Heidegger als hermeneutische Situation. Diese kann nun selbst für das Dasein mehr oder weniger in den Blick kommen. Tut sie dies, offenbart sich Heidegger zufolge, als was das vergangene Dasein überhaupt aufgefasst werden soll, in welcher Hinsicht es aufgefasst werden soll und welche Begrifflichkeit für die Aneignung verfügbar ist. Insofern und wenn aber die öffentliche Ausgelegtheit selbstverständlich ist, wird die hermeneutische Situation gleich »von Beginn der Untersuchung an durch die erste Interpretation vom ›Stoffe‹ her festlegt« 289 und kommt dementsprechend nicht in den Blick. Dies ist, so Heidegger, vor allem der Fall, je mehr selbstverständlich ist, was man in der öffentlichen Ausgelegtheit unter Begriffen wie »Kunst, Religion, Leben, Tod, Schicksal, Freiheit, Schuld« 290 versteht. Wie muss nun die Vergangenheit in den Blick kommen, sodass die Seinsweise der eigentlichen Geschichtlichkeit begründet werden kann? Heidegger schreibt: »Sofern Geschichtlichsein die Zeitlichkeit des Daseins ausmacht, in der es seine Vergangenheit ist, wird eigentliche Geschichtlichkeit im entsprechenden Zeitlichsein gründen müssen.« 291 Auch das eigentliche historische Erkennen gründet damit auf dem Vergangensein des Daseins, in dem die Vergangenheit gerade nicht als vorübergegangene Gegenwart verstanden wird. Für das eigentliche historische Erkennen muss in diesem Sinne für Heidegger die hermeneutische Situation in den Blick kommen. Möglich ist dies ihm zufolge nur aus dem eigentlichen Zukünftigsein, dem Vorlaufen, heraus. Heidegger schreibt: »In solchem Zukünftigsein kommt das historische Erkennen in die Gegenwart, es wird Kritik der Gegenwart.« 292 Das eigentliche Geschichtlichsein fängt somit von vorne an und wird zuerst eigentlich gegenwärtig, so Heidegger. 293 Doch wie ist tologie (Hermeneutik der Faktizität). Hier macht Heidegger deutlich: »Die Weise, wie eine Zeit (das jeweilige Heute) die Vergangenheit (ein oder sein vergangenes Dasein) sieht und anspricht, behält und aufgibt, ist das Anzeichen dafür, wie eine Gegenwart zu ihr selbst steht, wie sie als Dasein in ihrem ›Da‹ ist.« (GA 63, 36). 289 GA 64, 93. 290 GA 64, 93 291 GA 64, 93. 292 GA 64, 94. 293 Das »Von-vorne-anfangen« ist ein neues Verständnis des historischen Erkennens und der dadurch zu vollziehenden Kritik der Gegenwart für Heidegger. In der Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung aus dem Sommersemester 1920 legt Heidegger die Idee, von vorne anzufangen noch als Illusion des »eigenen gesunden Menschenverstandes« aus,
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solches eigentliches Geschichtlichsein und von vorne anfangen zu verstehen? Wie kommt es zustande? Heidegger führt das eigentliche Geschichtlichsein, wie wir oben bereits angedeutet sahen, auf die hermeneutische Situation zurück. Er schreibt: Historisches Erkennen muß sich als Selbstauslegung des Daseins durchsichtig werden in dem, wie es die Vergangenheit zum Kampf stellt, d. h. die Ausarbeitung der hermeneutischen Situation gehört zum eigentlichen Vollzug der Interpretation selbst. In ihr entscheidet sich Ausmaß und Ursprünglichkeit des Erschließens der Vergangenheit. 294
Wir haben also einen entscheidenden Hinweis auf das, was das eigentliche Geschichtlichsein ausmacht: Wir müssen in den Blick bekommen, als was wir das Dasein auffassen, in welcher Hinsicht wir es auffassen und welche Begrifflichkeiten uns zur Verfügung stehen, um uns dieses vergangene Dasein verstehend anzueignen. Von vorne anzufangen kann dabei auf der Grundlage des bisher bearbeiten für Heidegger gerade nicht bedeuten, ohne Vergangenheit anzufangen. Vielmehr ist das »Von-vorne-anfangen« eine Kritik der Gegenwart, indem die Vergangenheit als Vergangenheit und nicht als vorbeigegangene Gegenwart verstanden wird. Die hermeneutische Situation ist dabei keine allgemein bestimmbare, sondern eine jeweilige Situation, die von der Frage des Daseins nach seinem Sein in Jeweiligkeit abhängt. Heidegger schreibt: »Und weil die Ausbildung der hermeneutischen Situation darin gründet, wie weit das forschende Dasein sich selbst durchsichtig geworden ist (in der Entschlossenheit), kann sie gerade nicht allgemein vorgeschrieben werden.« 295 Heidegger gibt also hier in der Beschreibung des eigentlichen Geschichtlichseins einen weiteren Hinweis auf die Entschlossenheit, die im vorhergehenden mit dem Wie und der eigentlichen Seinsweise des Daseins durch Heidegger in Identität gesetzt worden ist: es geht um das sich selbst durchsichtig werden des Daseins. In diesem Kontext des Geschichtlichseins kommt Heidegger nun auf die Philosophie zu sprechen. welcher nur ein zufälliger, rationalistisch verwässerter seiner Zeit sein kann und so von der Philosophie argwöhnisch betrachtet werden muss. Hier wie dort steht jedoch fest, dass eine Kritik der Gegenwart und mit ihr eine eigentliche Gegenwart nur durch das historische Erkennen und mit ihm die Destruktion der Philosophiegeschichte erlangt werden kann. Vgl. hierzu GA 59, 29 f. 294 GA 64, 94. 295 GA 64, 94.
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9.13 Das eigentliche Geschichtlichsein und die Philosophie Das Grundthema der Philosophie ist nach Heidegger das »Sein des Menschen.« 296 Hinsichtlich ihrer Aufgabe schreibt Heidegger zunächst: »Wenn aber Geschichtlichsein das Sein des Daseins mitbestimmt, dann muß ein Erkennen, das dieses Seiende erschließen will, historisch sein, wenn anders die Angemessenheit der Forschung an dem phänomenalen Bestand ihres Themas gewahrt bleiben soll.« 297 Philosophie muss damit in herausgearbeitetem Sinne geschichtlich sein, d. h. ihre hermeneutische Situation in den Blick bringen und die Geschichte des Seins des Daseins untersuchen. Und Heidegger fordert weiter: »Die Abhebung und Interpretation der Seinscharaktere des Daseins muß das Dasein als solches in die Vorhabe stellen, muß das so festgehaltene auf sein Sein hin befragen und soll die dabei in Sicht kommenden Seinscharaktere in die angemessene Begrifflichkeit bringen.« 298 Die Philosophie muss sich, anders ausgedrückt, auf ihre Frage besinnen und zunächst fragen, was sie überhaupt fragt. Heidegger zufolge muss sie dafür das Sein des Daseins in den Blick bringen. Heidegger erläutert nun, warum und inwiefern diese Grundbedingungen für die Forschung in der Philosophie nicht erfüllt sind. Diese Erläuterung bricht die neuzeitliche Anthropologie (Philosophie) auf drei Bestandteile hinunter, die letztlich den Weg zu ihrer Eigentlichkeit versperren. 299 Zunächst nennt Heidegger das Verständnis des Menschen als animal rationale, als vernunftbegabtes Lebewesen. Den zweiten Bestandteil macht aus, dass dieses Verständnis des Menschen, welches einst »einem echten phänomenalen Befund« 300 entsprang, d. h. eigentlich entdeckt wurde, sich zum festen (und daher als selbstverständlich genommenen) und fundamentalen Satz der christlichen Selbstauslegung des Daseins entwickelt habe, GA 64, 96. GA 64, 95. 298 GA 64, 95 f. 299 Heidegger legt die ersten beiden Punkte, die sich auf das Verständnis des Menschen als animal rationale und den Personbegriff beziehen, im Kontext der Verstellung der Seinsfrage bereits 1923 in der Vorlesung Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) aus. Vgl. GA 63, 22–29. Unsere vorliegende Erläuterung ist jedoch deutlicher und, abgesehen von Heideggers Verweisen auf weitere Autoren an ebenjener Stelle, ausführlicher. 300 GA 64, 96. 296 297
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auf dessen Boden die Personidee entsprungen sei. Dieser Leitsatz, so diagnostiziert Heidegger, ist beständig von Kant bis in die Gegenwart und drückt sich in Genesis I, 26 aus, wo der Mensch als Kreatur im Ebenbilde Gottes ausgelegt wird. Diese Ebenbildlichkeit ist nun, so Heidegger, durch ein Gefallensein gekennzeichnet, eine Seinsweise, die ihren Ursprung nicht in Gott haben kann, sondern im Menschen selbst durch eigene Wahl liegt. Heidegger fasst diesbezüglich zusammen: »In der säkularisierten philosophischen Idee des Personseins ist das Gottesverhältnis auf ein Norm- und Wertbewußtsein neutralisiert.« 301 Den dritten Grundbestandteil der neuzeitlichen Anthropologie fasst Heidegger in der Betrachtungsweise des »ganzen Menschen«, der nun aus Leib, Seele und Geist bestehe, auf dem Boden einer Analyse der cogitationes, der Bewusstseinstatsachen, von denen ausgehend zur Leiblichkeit sowie zu personalen Akten und Erlebnissen vorgedrungen wird. 302 Hinsichtlich dieser Interpretation des Seins des Menschen ist Heidegger zufolge allererst kein methodischer Einwand zu erbringen, sondern die Frage nach seiner hermeneutischen Situation zu stellen, d. h., und diesen Satz hebt Heidegger hervor, »ob überhaupt die Frage nach dem Sein dieses Seienden grundsätzlich gestellt ist oder ob sie ausbleibt.« 303 Heidegger weist hier darauf hin, dass er glaubt, dass das was in der Philosophie eigentlich in Frage steht, das Sein des Daseins, in der Philosophie als Wissenschaft nicht eigentlich gestellt ist. Aus Heideggers hermeneutischer Situation heraus muss dementsprechend gefragt werden, worin dieses Versäumnis wurzelt. Diese Auslegung ist es nun, mit der Heidegger seine Abhandlung abschließt. »Die methodische Grundhaltung der neuzeitlichen Philosophie geht«, Heidegger zufolge »auf Descartes zurück.« 304 Aus Descartes heraus, der am Anfang der Bewusstseinsanalyse steht, muss und kann dementsprechend deutlich gemacht werden, warum die Seinsfrage, die Frage nach dem Sein des Daseins, in ihm und der nachfolgenden Philosophie nicht gestellt wird, bzw. nicht gestellt werden kann. 305 Heidegger erklärt dies aus Descartes’ Zugangsart zur res GA 64, 96. Vgl. GA 64, 96 f. 303 GA 64, 97; im Original hervorgehoben. 304 GA 64, 97. 305 Eine weitaus ausführlichere, aber für unsere Thematik daher weniger zielführende Auslegung des Problems der Bewusstseinsanalyse in Descartes findet sich im zweiten Teil der im Wintersemester 1923/24 in Marburg gehaltenen Vorlesung Einführung in 301 302
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Die Abhandlung Der Begriff der Zeit
cogitans. Entgegen der zunächst naheliegenden Annahme, dass in Descartes’ Fundamentalsatz des »cogito, sum« das Sein des Ich oder des Daseins in Frage stehe, ist es gerade hier, so Heidegger, dass ebendiese Frage verstellt wird. Dies ist Heidegger zufolge der Fall, da Descartes abermals aus einer selbstverständlichen und daher uneigentlichen Übernahme aus der mittelalterlichen Ontologie heraus, die Aufgabe der Wissenschaft im Auffinden eines sicheren Kriteriums für das Wissen sieht. Er ist Heidegger zufolge dementsprechend »geleitet von der Sorge um Gewissheit und Allverbindlichkeit.« 306 Heidegger schreibt: »Als fundamentum absolutum muß also ein ens certum et inconcussum gefunden werden; nichts anderes besagt die Selbstauslegung des Erkennens, das sich unter die regula generalis stellt.« 307 Letztlich, so Heidegger, genügte jedoch nichts dieser Regel der Unanzweifelbarkeit und so ist das Zweifeln auf sich selbst zurückgeführt. Da Descartes nun aber Heidegger zufolge auf der Suche nach einem sicheren Kriterium, nicht nach dem phänomenalen Gehalt der Sache, der Wahrheit, war, ist es fortan nicht der Zweifel, der den Grundsatz für das Wissen ausmacht, sondern das ego – das sichere Kriterium dabei ist aber lediglich eine Satzgültigkeit, keine inhaltlich phänomenal gegründete Wahrheit. Heideggers Konklusion lautet dementsprechend: »Descartes will nicht ein bestimmtes Seiendes, das Bewußtsein, hinsichtlich seines Seins erschließen und dieses Sein kategorial bestimmen. Er sucht einzig ein Fundament der Gewißheit.« 308 Die Möglichkeit dieser Auslegung Descartes’ gründet jedoch selbst, so Heidegger, auf dem Seinsbegriff der griechischen Ontologie und zwar insofern auch hier das Dasein sich zunächst aus dem Insein auslegt und dem, was es besorgt. Dies bedeutet für Heidegger nicht, dass der Seinsbegriff in der griechischen Ontologie nicht ursprünglich angeeignet gewesen ist, sondern vielmehr, dass die Auslegungsgeschichte, die ihn zur Selbstverständlichkeit werden lässt, ein verfallendes Geschichtlichsein verhärteter Begriffe und Sätze ausmacht. Diese Auslegungsgeschichte seit Descartes bzw. der mittelalterlichen Ontologie, die sich im methodischen Ansatz der Bedie Phänomenologie, die in der Gesamtausgabe als Band 17 erschienen ist. Insbesondere das fünfte Kapitel mit dem Titel Die Sorge der Erkenntnis bei Descartes bereitet das hier Ausgelegte vor. Vgl. GA 17, 109–246, insbesondere 195–228; vgl. außerdem das erste Kapitel des dritten Teils GA 17, 247–253. 306 GA 64, 98. 307 GA 64, 98. 308 GA 64, 98 f.
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Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit
wusstseinsanalyse bewegt, verpasst in diesem Sinne »den leitenden Sinn von Sein aus der ›Sache selbst‹, dem Dasein, zu schöpfen.« 309 Heideggers Abhandlung will die Notwendigkeit dieser Aufgabe darlegen und deutlich machen, wie diese Frage nicht gestellt werden kann, was sie verstellt, und so die Möglichkeit bereiten, sie eigentlich zu stellen. Wir haben in diesem letzten Kapitel damit einen Einblick in Heideggers Ansatzpunkt für seine Philosophie gewonnen – es geht darum, die hermeneutische Situation in den Blick zu bekommen, um wissenschaftliches Erkennen in seiner Eigentlichkeit zu ermöglichen. Dies ist für ihn nur durch eine Kritik möglich, die jeweilig erkämpft werden muss, für die wir jeweils von vorne anfangen müssen. Wieso? Weil wir zunächst ergreifen müssen, was für das Dasein überhaupt bedeutsam zu fragen ist, was uns in unserem Sein wesentlich angeht. In diesem Sinne stellt Heidegger die Frage nach dem Sein des Daseins. 310 Er setzt jedoch zugleich das Sein des Daseins als Betrachtungsgegenstand der Seinsinterpretation fest und lässt damit die Frage nach dem, was eigentlich bedeutsam ist zu fragen, obwohl es zunächst so erscheint, nicht offen. Es fehlt in dieser Seinsinterpretation des Daseins darüber hinaus eine Antwort auf die Konstitution des »Wie« und ein inhaltliches Verständnis dessen, was die Entschlossenheit ist, d. h. was sie über ihre Abgrenzung zur Uneigentlichkeit hinaus selbst ausmacht. Uns wurde eine Abgrenzung der Eigentlichkeit von der Uneigentlichkeit deutlich, aber wir stellen uns die Frage, wie das »Wie« im eigentlichen Dasein selbst ist, wir fragen uns nach dem Sein der Entschlossenheit und ob dieser Inhalt in Heideggers Ansatz für die Philosophie überhaupt verstanden werden kann.
GA 64, 102. Das wissenschaftliche Erkennen und die Eigentlichkeit des Daseins wird damit implizit, zumindest in Teilen, zusammengeführt. Dies deckt sich mit der Suche nach einer eigentlichen und grundsätzlichen Fraglichkeit, die sowohl für das eigentliche Dasein als auch für das eigentliche wissenschaftliche Erkennen maßgeblich ist. Werkhistorisch ist die Zusammenführung des eigentlichen wissenschaftlichen Erkennens (insbesondere das der Philosophie, welche das Dasein zum Thema hat) und einer eigentlichen Zugangsweise zum Dasein (oder hier zum Leben) ebenfalls zu belegen, insofern Heidegger noch 1923 das »Wie« als ein Wie der Forschung und zwar das der Phänomenologie behandelt (vgl. GA 63, 74).
309 310
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10. Vorläufiger Überblick über die Idee der Bedeutung der Zeit in Heideggers Werk
Was sagt uns die Abhandlung Der Begriff der Zeit über Heideggers Zeitbegriff und was können wir nun über die Bedeutung der Zeit in Heideggers Schaffen vor seiner detaillierten Kantauseinandersetzung in Logik: Die Frage nach der Wahrheit ausmachen? Die Zeit wird von Heidegger phänomenal verstanden, als das wie uns die Zeit in unserem Leben bedeutsam begegnet. Die Zeit macht dabei den Unterschied zwischen einem eigentlichen und einem uneigentlichen Dasein offenbar: Ich kann entweder zukünftig sein, indem ich in die unbestimmte Gewissheit, die gewisse Unbestimmtheit meines Todes vorlaufe, mir dadurch über meine Sterblichkeit im Klaren bin, mich die weltlichen alltäglichen Planungen, Besorgungen etc. nichts mehr angehen und ich mich frage, wie ich mich (mein Sein) von mir selbst her ausmache. Oder ich kann zukünftig sein, indem ich das weltlich Begegnende, nach seinem Wann befrage, ihm ein »Jetzt« zuspreche, welches als »Dann« vom Miteinandersein, einem Niemand (welches jedoch nicht nichts ist) immer vorgegeben ist – die Zeit um zu schlafen, zu essen, zu studieren, zu arbeiten, zu erholen, in die Ferien zu fahren etc. Ich verfalle dabei an die Welt, von der her mir mein Sein gegeben wird. Ich kann entweder geschichtlich sein, indem ich mir das »als was« durch mein Miteinandersein geben lasse und ich diese meine Vergangenheit nicht in meiner Gegenwart offenbare, ich damit auch nicht das Fundament meiner eigenen Gegenwart entdecken kann, diese nicht selbst auslegen und fraglich werden lassen kann. Ich kann mir meine Begriffe, meine Fragestellungen, meine Sätze, das zu Erforschende von der öffentlichen Ausgelegtheit geben lassen und so über die Vergangenheit an die Welt verfallen. Oder ich kann eigentlich geschichtlich sein, die Vergangenheit als Vergangenheit in den Blick bringen, das historische Erkennen als eine Kritik der Gegenwart verstehen, die hermeneutische Situation in den Blick bringen und so fragen, was überhaupt für das, was ich bin, das Dasein, wesentlich in Frage steht. 161 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit
Diese Phänomene der Zeitlichkeit, der uneigentlichen und der eigentlichen, machen also Heideggers Zeitbegriff aus und erklären die Idee der Bedeutung der Zeit in Heidegger. Der Zeitbegriff soll dabei das Dasein in seinem Sein als eigentliches und uneigentliches offenbar machen. Gleichzeitig wurde der Zeitbegriff bei Heidegger nur auf der Grundlage der Seinscharaktere des Daseins in seinem phänomenalen Gehalt gefasst. Wir haben insofern gesehen, dass Dasein und Zeit beide das Sein (des Daseins) in seinem Gegensatz von Eigentlichkeit und Uneigentlichkein in den Blick bringen sollen. Dieser Gegensatz ist zugleich der Endpunkt der Abhandlung, d. h. es wird von Heidegger aufgezeigt, dass es eine Eigentlichkeit gibt, dass dies eine Möglichkeit des Daseins ist, dass es eine Möglichkeit neben der Möglichkeit uneigentlich zu sein ist und wir haben gesehen, was das Eigentliche nicht ist, was Uneigentlich ist und was den Weg zur Eigentlichkeit verbaut und in der Geschichte verbaut hat. Doch weshalb wählt Heidegger zwei Begriffe, das Dasein und die Zeit, um »das Sein« auf diese Weise fraglich werden zu lassen? Es geht Heidegger darum, die Möglichkeit eines Eigentlichen und eines Uneigentlichen, dies mag das Leben, das Sein, die Auslegung des Seins sein, aus dem Sein des Daseins zu erklären und die Uneigentlichkeit nicht einfach als subjektiven Fehler abzutun. In diesem Sinne muss Heidegger etwas einführen, das die Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit erlaubt. Denn: Wie ist es überhaupt möglich, dass, der Mensch eigentlich und uneigentlich sein kann? Und dies zugleich die Bedingung für die Wahrheit und die Falschheit ist, d. h. dass dies nicht aus der Wahrheit und der Falschheit als solche heraus erklärt werden kann? Gibt das Uneigentliche die Möglichkeit für das Eigentliche her? Aber wie? Und dann muss das Eigentliche ja im Uneigentlichen stecken. Aber woher kommt in diesem Fall die Uneigentlichkeit? Heidegger versucht die verschiendenen Seinsweisen des Daseins an der Zeit zu verdeutlichen, da er in ihr einen Begriff hat, der das Dasein ist und nicht ist, der also deutlich machen kann, dass wir das Sein unterschiedlich ›verstehen‹ können und dieses, unser Sein, dann unterschiedlich ist. Er kann so andeuten, dass dieses ›Verstehen‹ also nicht auf ein (rationales) Verstehen reduziert werden kann, sondern auch ein Handeln, ein Fühlen, ein Zweifeln etc. ist, eine Seinsweise ist. 311 311
Heidegger selbst thematisiert das Verstehen in einem solchen Sinne, identifiziert
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Vorläufiger Überblick über die Idee der Bedeutung der Zeit in Heideggers
Heidegger hat den Tod nun zu einem Ausgangspunkt für das Verständnis der Eigentlichkeit im Gegensatz zur Uneigentlichkeit gemacht. Die Frage nach der Ewigkeit wird jedoch mit der Zentralisierung des Todes nicht einfach ausgelöscht. Sie wird vielmehr transformiert, wie wir in Heideggers Vortrag Der Begriff der Zeit gesehen haben, und fortan neu gestellt, nämlich im Sinne der Eigentlichkeit. Heideggers Auslegung fokussierte dabei in allen untersuchen Werken auf die Unterscheidung der Eigentlichkeit und der Uneigentlichkeit. An jenen Stellen, wo die Konstitution der Eigentlichkeit selbst eine nähere Bestimmung fand – namentlich 1. als »Wie«, 2. als Sein des Daseins, welches vom Dasein her ist, 3. als Entschlossenheit und 4. als Wählenkönnen – wurde diese in Beziehung auf das Uneigentliche vorgenommen und erklärt, dass eine allgemeine Bestimmung nicht möglich sei. Heidegger ist in diesem Sinne darauf hinaus, die Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Seins des Daseins zu offenbaren und so eine eigentliche Fraglichkeit zu ermöglichen. Dass dies jedoch als Aufgabe begriffen wird, die Fraglichkeit somit eine Fraglichkeit bleibt, weist daraufhin, dass das Fehlen der Frage nach der Konstitution der Eigentlichkeit selbst nicht abschließend zu verstehen ist. Auch wenn Heidegger sich den Weg zu einer inhaltlichen Bestimmung der Eigentlichkeit mit einer voreiligen Antwort verbaut haben mag 312 (denn weshalb sollte die Unmöglichkeit einer Allgemeinheit des »Wies« in seiner Jemeinigkeit es unmöglich machen, nach dem Wie des »Wies« zu fragen? Und hat Heidegger seine Behauptung, dass es das »Wie überhaupt« nicht gäbe, überhaupt hinreichend geklärt? Und hat Heidegger überhaupt begründet, warum das Sein des Daseins in Frage steht?), so währt die Frage nach der Ewigkeit, nach dem »Wie« der Eigentlichkeit bei Heidegger in dem Versuch, die eigentliche Fraglichkeit durch das Sein des Daseins zu erfassen, weiter und beschäftigt ihn. 313 es mit dem »Wie« und bezeichnet es als »Wachsein des Daseins für sich selbst.« GA 63, 15. 312 Vgl. GA 64, 55. 313 Dass diese Frage für Heidegger nicht thematisch wurde, mag zu den Schwierigkeiten, die er in seiner eigenen Auslegung sah, beigetragen haben. Die eigentliche Fraglichkeit ist mit dem Eigentlichen als Seinsweise verknüpft. In den behandelten Schriften kommt das Eigentliche nicht vor oder über das Uneigentliche hinaus in den Blick. Es deutet sich jedoch überall implizit an, dass die Eigentlichkeit ein primäres Interesse, vor der Uneigentlichkeit, ausmacht. Wie denn ließe sich sagen, dass wir als Menschen kein größeres Interesse an der Möglichkeit eigentlich zu sein hätten als an der uneigentlich zu sein? Und wie könnte eine Aus-
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Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit
Wir können nun aus dieser Tendenz, das Dasein in seinem Sein in Frage zu stellen, einen Primat unter den Begriffen der Zeit und des Daseins vermuten. Hierbei ist jedoch aus werkhistorischer Perspektive anzumerken, dass sich der Begriff des Daseins zeitgleich mit der Entwicklung der Rolle der Zeit zu formen scheint. Wenden wir uns in diesem Sinne zuletzt Heideggers frühesten Schriften zu, in denen die Auseinandersetzung mit der Zeit noch in den Anfängen steckt.
legung, die sich an die Phänomene halten will, diesem nicht gerecht werden? In Heideggers früheren Schriften ist der Primat der Eigentlichkeit explizit. So schreibt Heidegger im Sommersemester 1923 in der in Band 63 der Gesamtausgabe erschienenen Vorlesung Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) über die Aufgabe der Hermeneutik: »Die Hermeneutik hat die Aufgabe das eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen.« GA 63, 15.
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11. Heideggers frühe Freiburger Schaffensperiode 1919–1924
Insofern Heideggers Zeitbegriff mit dem des Daseins verwoben ist, lohnt es sich, wollen wir Heideggers Weg zu seinem Zeitbegriff nachgehen, einen Blick auf seine frühesten Schriften zu werfen, in denen der Begriff des Lebens den des Daseins dominiert und das phänomenale in den Griff bringen der Zeit, welches in den bereits behandelten Schriften vorausgesetzt wird, in Entwicklung begriffen ist. Wir werden uns dabei auf die für die Zeit relevanten Textstellen beschränken, mit dem Ziel zu entziffern, inwiefern sich Heideggers Zeitbegriff aus den später herausgearbeiteten Phänomenen der Zeit selbst entwickelt und inwiefern er sich aus einer Kritik des Begriffes der Zeit, wie er in der Philosophiegeschichte oder in den Wissenschaften verstanden und vorgegeben ist, entwickelt. Dies betrifft insbesondere die erste Freiburger Schaffensperiode. 314 Hans-Helmuth Gander hat diese Schaffensperiode in seinem Werk Selbstverständnis und Lebenswelt erstmals in ihrem Status als eigenständige Position, die durch eine phänomenologische Hermeneutik des faktisch-historischen Lebens geprägt ist, untersucht und in ihrer Transformation der Husserlschen Phänomenologie ausgearbeitet. Siehe: Hans Helmuth Gander: Selbstverständnis und Lebenswelt. Grundzüge einer phänomenologischen Hermeneutik im Ausgang von Husserl und Heidegger. Frankfurt a. M. 2006. Die Marburger Vorlesung aus dem Sommersemester 1924 mit dem Titel Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie thematisiert die Zeit, dies im wesentlichen im dritten Kapitel Die Auslegung des Daseins des Menschen. Die Darstellung des Phänomens der Zeit hier deckt sich jedoch weitestgehend mit der Abhandlung Der Begriff der Zeit, wogegen die in der Vorlesung vorliegende Ausführung verkürzt erscheint. Vgl. hierzu GA 18, insbesondere 103–265. Band 18 der Gesamtausgabe wird daher hier kein eigenes Unterkapitel gewidmet. Ausführungen und Anmerkungen, die über diese Bände 64 und 21 hinausgehen, haben in den entsprechenden Kapiteln dieser Arbeit in Form von Verweisen Eingang gefunden. In der Freiburger Vorlesung Ontologie (Hermeneutik der Faktizität) aus dem Sommersemester 1923 findet sich keine vergleichbare Ausführung über den Zeitbegriff, obwohl sich hier zahlreiche verstreute Kommentare und Anmerkungen finden, die den Zeitbegriff bzw. die Zeitphänomene betreffen. Auf diese ist ebenfalls im jeweils relevanten Kontext hingewie-
314
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Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit
Darunter ist zunächst, indem wir in der Chronologie weiter zurückschreiten, die Freiburger Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung für uns von besonderem Interesse, da hier deutlich wird, dass die Bedeutung der Zeit sich in einer Abgrenzung und Kritik der A priori-Tendenz und des Erlebnisproblems in der Philosophiegeschichte entwickelt. Dies wird für die nachfolgende Kantinterpretation besonders relevant. Desweiteren ist die Freiburger Vorlesung aus dem Jahre 1919/20 Grundprobleme der Phänomenologie, die als Band 58 in der Gesamtausgabe erschienen ist, hervorzuheben. Diese Vorlesung ist von besonderer Bedeutung, da wir hier nachvollziehen können, dass und wie Heidegger tatsächlich über die zeitlichen Phänomene, welche er in seinen späteren Schriften ausarbeitet, auf die Bedeutung der Zeit stößt. Zuletzt werden wir uns dem 1916 erschienenen Aufsatz Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft zuwenden, da dies die erste Schrift ist, in der Heidegger sich der Zeit widmet und wir hier nachvollziehen können, aus welchen Wurzeln die Idee der Bedeutung der Zeit erwächst.
sen worden. In letzterer Vorlesung finden sich außerdem einige eingängige und pointierte Darlegung über Gegenstand und Methode der Philosophie, welche der Auffassung der Autorin nach, einige Aspekte im späteren Werk, die sich nun komplexer lesen und durch zahlreiche Verweise getragen sind, zu erhellen vermögen. Jene Stellen ermöglichen in Form von Fußnoten zu den betreffenden Themenkomplexen (dies betrifft u. a. das Sein des Daseins, Methode und Aufgabe der Phänomenologie oder die Geschichtlichkeit des Daseins) einen orientierenden Vergleichspunkt. Die beiden frühen Aristotelesinterpretationen in den Vorlesungen Phänomenologische Interpretation ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zu Ontologie und Logik (Sommersemester 1922) und Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles. Einführung in die phänomenologische Forschung aus dem vorangehenden Wintersemester 1921/ 22, welche als Band 62 und 61 in der Gesamtausgabe erschienen sind, bereiten die Zusammenführung der Kritik der Aristotelischen Philosophie mit der Kritik der Kantischen Philosophie auf Grundlage Heideggers eigener hermeneutischer Situation und seiner Frage in der Marburger Vorlesung im Wintersemester 1925/26 Logik. Die Frage nach der Wahrheit vor. Sie sind als solche durch die Autorin inhaltlich berücksichtigt worden und in Teilen in die Auslegung des ersten Hauptteils von Logik. Die Frage nach der Wahrheit eingeflossen. In Bezug auf die Zeitphänomene ist die spätere Vorlesung jedoch weitaus ergiebiger, was sich damit deckt, dass in ihr der Übergang zur Entwicklung der Chronologie geleistet wird, was in den beiden vorherigen Vorlesungen keinen Anhalt gefunden hätte. In diesem Sinne beschränkt sich die vorliegende Arbeit auf die ausführliche Auslegung von Band 21 der Gesamtausgabe, deren erster Teil in Kapitel 6 behandelt worden ist.
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Heideggers frühe Freiburger Schaffensperiode 1919–1924
11.1 Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung In dieser dritten Vorlesung, die Heidegger zu Beginn seiner Schaffenszeit in Freiburg hält, werden im besonderen zwei Problemstellungen, die sich Heidegger zufolge in der philosophischen Wissenschaft auf der Grundlage der Hinwendung der Gegenwartsphilosophie zum Leben ergeben, thematisch. Diese Hinwendung zum Leben kennzeichnet er zunächst so: Die heute stark betonte, aber nicht eindeutige Einstellungsrichtung auf die Lebenswirklichkeit, Lebensförderung und Lebenssteigerung sowie die üblich gewordene und viel gepflegte Rede von Leben, Lebensgefühl, Erlebnis und Erleben sind die vielfältig motivierten Merkzeichen unserer geistigen Lage. 315
Aus dieser Hinwendung zum Leben macht Heidegger nun zwei Hauptbedeutungen des »Lebens« aus, anhand derer sich die beiden Problemstellungen der Gegenwartsphilosophie in Bezug auf die philosophische Tradition ergeben. Diese beiden Hauptbedeutungen fasst Heidegger folgendermaßen: I. Leben als Objektivieren, (etwas) Gestalten, Aus-sich-heraussetzen (und damit dunkel verbunden so etwas wie in diesem Leben und als solches Leben Sein, Existieren und es steigern). II. Leben als Erleben, (es) Er-fahren, Einholen, Erfassen, und zwar sowohl das Objektivierte als auch das Schaffen selbst (und damit dunkel verbunden so etwas wie in solchem Leben Sein und Existieren und es steigern). 316
Anhand der ersten Bedeutung des Lebens ergibt sich für Heidegger das Problem der A-priori-Geltung, anhand der zweiten das Erlebnisproblem. Diese beiden Probleme sind nun von großer Bedeutung, insofern sie Heideggers hermeneutische Situation, wie er es bezeichnet, bestimmen und so seinen philosophischen Ansatz bilden, d. h. nicht ihn ausmachen, sondern ihn erwachsen lassen. Für uns spielen sie überdies eine tragende Rolle, insofern sie die Kantinterpretation leitend mitbestimmen und für ein Verständnis dieser in ihrer Genese unabdinglich sind. Wenden wir uns zunächst dem Problem der A priori-Geltung zu. Fragen wir uns nach einem Vernunftzusammenhang der Wissen315 316
GA 59, 12 f. GA 59, 18; Hervorhebungen im Original.
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schaft, der Kunst, der Moral etc. so bewegen wir uns, so Heidegger, in einer Fragerichtung, die das faktisch-geschichtliche übersteigen will. Die Frage selbst ist eine übergeschichtliche Frage und ist auf letzte Ideen und ihre Beziehungen, ein System der Werte oder eine a priorische Systematik der Vernunft hinaus; kurz: die Frage hat zur Gegenständlichkeit ein an sich Seiendes. 317 Dieses Seiende soll in diesem Gehalt bestehen und frei von jeder Bezogenheit auf etwas anderes sein – es ist ein Absolutes. Aus dieser Gegenständlichkeit eines an sich Seienden ergibt sich in Heidegger in Bezug auf die Zuwendung zum Leben in seiner ersten Bedeutung, nämlich dass es selbst objektivierend und gestaltend ist, die erste Gegenüberstellung. Heidegger schreibt: »Von diesem Absoluten aus gesehen erscheint das geschichtliche Werden relativ.« 318 Es entsteht ein Kontrast: Die Relativität und Einzigkeit der geschichtlichen Gestaltung der Kultur steht der Absolutheit und allgemeinen Idee des Vernunftprinzips oder des Wertes gegenüber. 319 Diese Gegenüberstellung ist für Heidegger eine, die eine Problemstellung aufwirft, insofern sie infragestellt, wie »sich in den Objektivationen des Lebens Ideen verwirklichen, das Absolute im Relativen Gestalt gewinnt und das Relative Gestalt eines Absoluten wird?« 320 Hierauf aufbauend wird Heideggers Erklärung zufolge das Absolute selbst in Frage und in den Verdacht, eine Illusion zu sein gestellt. Heidegger schreibt: Erweist nicht gerade der eigentlich lebendige Aspekt des Lebens – Leben als geschichtliche Gestaltung, Umbildung, Neubildung, Zerstörung, Blüte und Verfall – die Annahme von Absolutem und Geltendem als verkehrt und gänzlich überflüssig? Ist absolute Geltung, ›Allgemeingültigkeit‹ nicht einfach eine unberechtigte naive Übersteigerung der eigenen zufälligen historischen Position, ›ein Fehlschluß von sich auf andere‹ (Spengler)? 321
Diese Problemkonstellation der gegenwärtigen Philosophie bezeichnet Heidegger als Problem der absoluten Geltung – des A priori. In Vgl. GA 59, 20. GA 59, 20. 319 Vgl.: GA 59, 20: »Der Relativität und einmaligen Einzigkeit jeder historischen Kulturgestaltung steht gegenüber die Absolutheit und überzeitliche ›Allgemeinheit‹ der Idee, des Wertes und des Vernunftprinzips; der faktischen Zufälligkeit des Historischen steht gegenüber die übergeschichtliche Notwendigkeit des Geltenden.« 320 GA 59, 20. 321 GA 59, 20. Es ist anzumerken, dass diese Fragen nicht Heideggers eigene Position kennzeichnen, sondern eine Herausarbeitung der Problemstellungen der Gegenwartsphilosophie bedeuten. 317 318
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Heideggers frühe Freiburger Schaffensperiode 1919–1924
dieser Problemkonstellation sind nun einige Fragen enthalten, die für Heideggers Schaffensweg maßgeblich werden, unter ihnen »das Problem der Geschichte (Zeitlichkeit und Überzeitlichkeit)«. 322 Dieses Problem greift Heidegger wenig später erneut auf und erläutert es näher. Er schreibt: Wo man sich aber zugleich mit der Ansetzung dieser a priorischen Gegenständlichkeit dem Aspekt der Geschichte, dem lebendigen Leben nicht verschließt, entsteht notwendig eine Spannung: das Apriori bzw. die Geltung auf der einen Seite und die historische Relativität des Anerkanntseins und der Bestreitung sowie die zufällige Einmaligkeit des Vertrauens und Mißtrauens auf der anderen Seite. 323
Aus diesem Gegensatz ergibt sich nun zugleich die Frage nach seiner Auflösung und dies ist Heidegger zufolge ein Motiv für die Dialektik. Heidegger begreift die Aufgabe für die Philosophie auf dieser Grundlage jedoch entgegen der so verstandenen Dialektik darin, soviel wird hier bereits deutlich, die gewonnene Problemstellung voll zu explizieren und ans Licht zu bringen. Zunächst wenden wir uns jedoch dem zweiten Problem zu, das sich für Heidegger auf der zweiten Bedeutung des Lebensbegriffs gründet – das Erlebnisproblem. Dieses Problem konstituiert sich insofern, als dass trotz des Anspruchs auf das Apriori sich »alle Grundfragen der neuzeitlichen Philosophie auf das Ich, das Subjekt, das Bewußtsein, den Geist irgendwie zurückleiten, hinsichtlich der Weise letzter Begründung ebenso wie bezüglich der Vorbestimmung der Systematik.« 324 Die theoretische Einstellung und die Voraussetzungen erweisen sich damit als unzureichend – letztlich kam man doch auf das Erleben, das Leben, in dieser oder jener Hinsicht zurück. Insofern nun die Philosophie »irgendwie« rationale Erkenntnis sein soll »stellt sich für sie in Frage, ob überhaupt eine Betrachtung des Erlebens möglich ist, die es nicht sofort und notwendig theoretisch verunstaltet.« 325 Ein Motiv für diesen Einwand ergibt sich Heidegger zufolge aus dem kantischen Erkenntnisbegriff. Heidegger erfasst diesen hier folgendermaßen: »Formal roh läßt sich in diesem Sinne Erkenntnis bestimmen als die formende Gestaltung eine durch die Reziptivität (Passivität) der
322 323 324 325
GA 59, 21. GA 59, 22 f. GA 59, 25. GA 59, 25.
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Sinnlichkeit vorgegebenen (Empfindungs-)Materials durch die Spontanität des Verstandes.« 326 Das Erkannte ist dabei »kategorial geformtes Material«, während die Formung selbst es ist, die »›Regeln‹ des reinen nichtempirischen Bewußtseins untersteht und Objektivität und Gültigkeit verleiht.« 327 Das Erlebte ist darin das kategorial Ungeformte, über das keine Aussage gemacht werden kann, außer in theoretischer Formung, in der es jedoch keine Unmittelbarkeit mehr ist, sondern eben durch den Verstand geformt. Das Erleben wird in der Folge, so Heidegger, doppelt bestimmt. Zum einen wird das Erleben als das bestimmt, was selbst logisch unbetroffen ist und »abläuft«. Das Ich in diesem Ablaufen lässt sich los aus der Gesetzlichkeit des reinen Bewusstseins. Andererseits wird die Formung selbst als eigentliches Erleben gefasst. 328 Auf der Grundlage dieses Erkenntnisbegriffs wird nun eine wissenschaftliche, eine theoretisch philosophische Erfassung des Erlebens ausgeschlossen, indem zuvor das sinnliche und passive »Erleben« bereits als irrational bestimmt wurde. Die Erkenntnis als Formung dieses Erlebens jedoch fasst das Erleben qua Erleben und führt gerade dadurch »zu einer Zerstörung oder Stillstellung des Lebens im Schema der Begriffe als der Mittel und Ergebnisse des Formens selbst […].« 329 In dieser Konstellation stellt sich, Heideggers Auslegung zufolge, für die Gegenwartsphilosophie das Problem, die Spannung zwischen Irrationalem und Rationalem zu lösen. Auch hier macht Heidegger deutlich, dass es nicht um eine einfache Aufstellung und nachfolgende Auflösung dieser Gegensätze gehen kann. Er schreibt: Diese im Anwachsen begriffene Tendenz auf eine dialektische Philosophie (historisch gesprochen: die Annäherung an Hegel), die in beiden Problemgruppen vorwiegend motiviert ist, bleibt dadurch charakteristisch, daß sie die Glieder der Gegensätze – also einmal ›absolut‹ und ›relativ‹ bzw. das Apriori und die Geschichte, dann ›rational‹ und ›irrational‹ – in verschiedenen, aber unwesentlichen Bedeutungsmodifikationen wie feste SpielGA 59, 25. GA 59, 25. 328 Vgl. GA 59, 25 f.: »Das Erleben wird einmal bestimmt als Ablauf dieses logisch Unbetroffenen, das in diesem Ablaufen Auf- und Mitgehen des Ich, sein Sichloslassen gleichsam aus der Regelhaftigkeit und Gesetzlichkeit des reinen Bewußtseins. Dann wird andererseits gerade die Formung selbst nach ihrem Sinngehalt gefaßt als Prozeß und Bewegung, in allen dialektischen Fortbildungen des Transzendentalismus gern als die eigentliche Aktivität des Erlebens und Lebens gefaßt.« 329 GA 59, 26. 326 327
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marken ansetzt und nun mit Hilfe der Dialektik auf eine würdige Einigung und Aufhebung der Gegensätze ausgeht. 330
Diese Problematik einer roh gefassten Gegensätzlichkeit und dem anschließenden Versuch ihrer Vermittlung zieht sich fortan durch die Philosophie, sodass die beiden Fragegruppen auf ein Problem der Philosophie selbst in ihrer Idee, Grundstruktur und Methode hinauslaufen. Für Heidegger geht es daher »nicht darum, die Problemlage einfachhin aufzunehmen und durch neue Kombination oder Umbildung oder durch eine lediglich strengere Fassung oder Abänderung des Sinnes einiger Grundbegriffe des Problemschemas eine neue Lösung vorzuschlagen, sondern es soll versucht werden, das Schema selbst und als solches aufzulockern, um erneut zur Idee der Philosophie vorzudringen.« 331 Was sich hier in Heidegger zeigt ist die Idee eines ganz neuartigen Ansatzes für die Philosophie, welcher sich jedoch aus einer Hinwendung zur und Destruktion der Philosophiegeschichte ergibt. Die Grundlage hierfür ist die Diagnose Heideggers, dass sich die Philosophiegeschichte bildlich gesprochen in eine Sackgasse bewegt hat, aus der nur zu finden ist, indem wir den Weg zurückschreiten. Dies jedoch können wir nur wagen, indem wir nicht die Fragestellungen aus der Problemstellung heraus übernehmen, sondern indem wir die Fragestellung jeweils abermals in Frage stellen. Als eine ausgezeichnete Station auf diesem Weg ist Kants Erkenntnisbegriff bereits genannt worden und es zeichnete sich ab, dass diese Thematik mit der Frage der Geschichtlichkeit (der Zeit) in einem Verhältnis steht. Mit dem so durch eine Destruktion der Philosophiegeschichte zu erzielenden neuen Ansatz ist nun kein neues philosophisches System intendiert, vielmehr geht es Heidegger darum, »die Philosophie zu sich selbst aus der Entäußerung zurückzuführen […].« 332 Es klingt also hier an, dass Heidegger keine neue philosophische Grundlegung anstrebt, sondern diese ermöglichen will, indem er auf Probleme in der Philosophiegeschichte als Wissenschaftsgeschichte aufmerksam macht und auf die Suche nach ihrer Eigentlichkeit geht. In der nachfolgenden Diskussion der Phänomenologie als philosophischer Methode (Haltung) wird der Vorgriff, der sich mit einer philosophischen Grunderfahrung abhebt, als zielführend für die De330 331 332
GA 59, 27. GA 59, 28. GA 58, 29.
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struktion bestimmt. Die philosophische Grunderfahrung ist dabei selbst als eine Erfahrungswelt verstanden. 333 Die Phänomenologie wird damit als ein Element der faktischen Lebenserfahrung verstanden und so wird »die faktische Lebenserfahrung in einem ganz ursprünglichen Sinne der Problematik der Philosophie zugehör[en].« 334 Von diesem Leitfaden ausgehend wendet Heidegger sich nun der phänomenologischen Destruktion der beiden vorgestellten Problemgruppen zu, aber so, dass dabei nicht innerhalb des angezeigten Gegensatzes eine Seite bevorzugt oder beide Seiten miteinander vermittelt werden, sondern so, dass die Problemgruppe selbst, insofern in ihr die Philosophie selbst in Frage steht, Gegenstand werden soll. Das Aprioriproblem ist dabei von zentraler Bedeutung für Heideggers nachfolgende Kantinterpretation. Wie also steht hier die Philosophie selbst in Frage? Es geht Heidegger zufolge mit dem Gegensatz zwischen einer absoluten Geltung des A priori und der Relativität und Zufälligkeit des Historischen um die Frage nach dem eigentlichen Gegenstand der Philosophie, darum, »was ›A priori der Vernunft‹, was ›Vernunft‹ und ›Vernunftbewußtsein‹ besage, welches die inhaltliche Struktur des Aprioribereiches sei, wie sein Verhältnis zum Einmaligen und Relativen der Geschichte, überhaupt der empirischen Tatsächlichkeit zu denken sei, und schließlich, in welcher Weise – sofern die Philosophie transzendental orientiert sein soll – all diese Fragen in das Bewußtseinsproblem einzubauen oder von ihm aus zu entwickeln seien; kurz: wie es um das steht, womit Philosophie sich beschäftigt.« 335 Mit diesem Hinweis auf die Bedeutung des Aprioriproblems wendet Heidegger sich nun seiner Destruktion zu, wobei er zunächst sechs Bedeutungen der Geschichte phänomenologisch abhebt und sie in ihren Sinnstrukturen auslegt. Diese Bedeutungen der Geschichte und ihrer Sinnstrukturen werden zentral für die Destruktion des Aprioriproblems, insofern hier Geschichte nur einseitig verstanden wird. Wie gestaltet sich diese Rolle des Geschichtlichen innerhalb der Aprioritendenz der Philosophie Heidegger zufolge? Die Aprioritendenz ergibt sich, so Heidegger, auf der Basis des Historischen, insofern das Apriori ein Seiendes sichern will, welches das Geschichtliche über-gelten und
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Vgl. GA 59, 29–35. GA 59, 38. GA 59, 39 f.
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Heideggers frühe Freiburger Schaffensperiode 1919–1924
zugleich auf es hin-gelten soll. 336 Das Geschichtliche selbst ist demnach innerhalb der Aprioritendenz angesetzt – Heidegger zielt nun darauf ab zu zeigen, wie das Geschichtliche in der Aprioritendenz bestimmt wird. Das Apriori wurde Heidegger zufolge, obwohl es sich auf Werte und Normen ausdehnt, im Theoretischen, d. h. in der Erkenntnistheorie, am klarsten und reinsten entwickelt und begründet von hier aus die Philosophie notwendig als Aprioribetrachtung. 337 Das Apriori hat dabei »die Stelle des Prinzipiellen in ihr, so zwar, daß sich in diesem leitenden Vorgriff auf das Apriori – wofür Plato in verschiedenen Modifikationen und Ausdeutungen immer richtunggebend geblieben ist – auch Bedeutung und Rolle des Geschichtlichen bestimmt.« 338 Das Apriori wird, so Heideggers Auslegung, dem Veränderlichen gegenübergestellt. Das Veränderliche wiederum ist verstanden als geschichtlicher Prozess des Werdens und Vergehens in der Zeit. Die Menschen selbst stehen, insofern sie geschichtliche Individuen sind, in diesem Prozess und sind hierdurch zu vergänglichen Vorkommnissen reduziert. Aus diesem »ständig fortflutende[n] Leben [heraus] haben sich in ihm – als einem sich ständig selbsttranszendierenden – Ideen und ideale Formen herausgesetzt.« 339 Das Leben und der Prozess, so Heidegger, sind verstanden als ein Geschehen in der Zeit, welches damit der Unzeitlichkeit des Apriori gegenüber gestellt wird. Diese Gegenüberstellung wird Heidegger zufolge aus der Erkenntnistheorie abgeleitet, indem man sagt: »Das Urteilen ist empirisch tatsächlich, der geurteilte Satz dagegen gilt; d. h. steht jenseits von Werden und Veränderung.« 340 Dies nun beurteilt Heidegger als nichtssagend. Fest steht für Heidegger, dass sich der Gegensatz des Vgl. GA 59, 67: »Die Tendenz zum A priori will nicht nur dieses in seinem Eigenbestand sicherstellen, der alles Historische transzendiert, sondern mit der Gewinnung des A priori soll das gewonnen sein, das dem Historischen und Empirischen seinen Sinn gibt, es normiert, und dem das Historische selbst untersteht, dem es dient und zu dem es aufstrebt.« 337 Béatrice Han-Pile setzt sich mit der Bedeutung des Apriori bei Heidegger und Kant im Vergleich auseinander. Sie schreibt: »Heidegger agrees with Kant on the object of the investigation (the determination of entities) […] What remains unclear, however, is the extent to which Heidegger modifies the Kantian definition of the a priori […].« (Vgl. Béatrice Han-Pile: Early Heidegger’s Appropriation of Kant. In: Hubert L. Dreyfus and Mark A. Wrathall (Hg.): A Companion to Heidegger. Oxford 2007, 80). 338 GA 59, 71. 339 GA 59, 71. 340 GA 59, 72. 336
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Apriorischen und des Vergänglichen aus der Zeit ergibt und somit auf die Zeit hinführt. Heidegger schreibt: »Die Überzeitlichkeit des Idealen ist also gegengesetzt gegen die ›Zeitlichkeit‹ des objektiven Geschehens, in das auch das Geschichtliche sich einfügt.« 341 Auf diese Art und Weise werden, so Heidegger, zwei Bereiche scharf gegeneinander abgegrenzt – das Sein und das Gelten, das Sinnliche und das Nichtsinnliche, Inhalt und Form – nur um dann das Problem aufzuwerfen, wie sie miteinander zusammenhängen. Die so aus dem Gegensatz konstruierte Frage, die in der Wissenschaft Heidegger zufolge gestellt wird, lautet sodann, wie »die Teilnahme des Empirischen, Vergänglichen und Historischen am ideal Apriorischen aufzufassen sei.« 342 Diese Teilnahme ist dann jedoch Heidegger zufolge ebenso leer wie die Gegensätze selbst. Was ist es jedoch, dem das Apriorische entgegengesetzt wird? Es ist, so haben wir herausgearbeitet, Heidegger zufolge das Geschichtliche. Aber das Geschichtliche inwiefern? Heidegger macht deutlich, dass es sich hier um ein bestimmtes Verständnis der Geschichte handelt und kommt so auf seine vorangehende phänomenologische Hebung der Bedeutungen der Geschichte zurück. Die Geschichte ist im Gegensatz zum Apriorischen in der Aprioritendenz demnach Heidegger zufolge allein verstanden in der Bedeutung, die wir ansprechen, wenn wir sagen »›Von der Philosophie selbst versteht er nicht viel, aber er ist ein ausgezeichneter Kenner der Geschichte, er weiß in der Geschichte überall Bescheid.‹« 343 Was wir hier ansprechen, ist das »was«, das so und so gewesen ist, das »was«, das da vorkam und damit ein direktes Tatsachenfeld ohne Hinblick auf die Vergegenwärtigung desselben, d. h. ohne Hinblick auf seine Erkenntnis. Die Bedeutung der Geschichte ist in diesem Fall das was faktisch einmal war, und versteht unter diesem »was« Menschen, Kulturen, Tatsachen, Ereignisse etc. Dieses »was« ist nicht von einer theoretischen Geschichtserfassung abhängig (ich muss kein Historiker sein, um ein Verständnis dieser Geschichte zu haben), aber ich muss sie dennoch auf irgendeine Weise erkennen, d. h. all diese Dinge, das »was« der Vergangenheit, müssen einen Zugang haben, um als solche erlebt werden zu können. Dieser Zugang ist Heidegger zufolge nur möglich durch ein Sachgebiet, eine Ganzheit dieser Dinge, die als »was« verstanden 341 342 343
GA 59, 72. GA 59, 72. GA 59, 45.
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werden. Heidegger fasst diese Ganzheit nun folgendermaßen: »Fragen wir, was diese Seinsganzheit inhaltlich zentral bestimmt, worauf die Fülle des Vergangenen zurückläuft, dann lautet die Antwort: Der Mensch – Individuen und Gemeinschaften, stehend in bestimmten Wirkungssystemen, sind Träger der Hervorbringungen.« 344 Der Mensch ist also die Seinsganzheit, auf die die Bedeutung der Geschichte im Sinne des »was« des faktisch Gewesenen zurückläuft. Heidegger betrachtet dieses Geschichtsverständnis genauer und schließt, dass es sich aus der Idee des gewesenen Seins ergibt und als solches keinen Bezug zum Dasein hat. Dass Geschichte auf diese Weise überhaupt vorstellbar ist, ohne Bezug zum Dasein, ist nur möglich, aufgrund seiner Ansetzung als Idee. Gegenüber dieser Bedeutung von Geschichte also »hat in III, IV und V [der Bedeutungen der Geschichte] der genuine Bezug das Eigentümliche, daß in ihm und durch ihn das mit Geschichte Gemeinte erst seinen konkreten Sinn erhält, d. h. daß der Bezug seinerseits auf ein konkretes Dasein zurückweist und in diesem durch den Bezug faktisch das besteht, was mit Geschichte gemeint ist.« 345 Es zeigt sich hierdurch, dass für Heidegger der Bezug zum Dasein nun eben gerade in der Bedeutung der Geschichte als faktisch geschehenes »Was« nicht ursprünglich ist und das mit Geschichte Gemeinte darin daher eine sehr lose Beziehung zum Dasein hat. Die Art und Weise, wie in der Aprioritendenz Geschichte verstanden wird, ist damit ganz in ihrem vorausgesetzten Sinne: »das da mit Geschichte Gemeinte ist bezüglich seines Gegenstand-seins Korrelat einer theoretisch idealisierenden und abstrakten, von jeder konkreten Gegenwart abseilenden Bestimmung.« 346 Der Sinn der Geschichte, wie er in der Aprioritendenz angesetzt und dem A priori entgegengesetzt wird, ist damit einer, der keine Beziehung zu konkretem Dasein hat. Nun ist es so, dass obwohl die Aprioritendenz sich von der Geschichte also losmachen will, sie doch »ihre Normen und Ziele mit Rücksicht auf das menschliche Leben« 347 gewinnen will und hierdurch wiederum auf die Geschichte zugetrieben wird, so Heidegger. Er hält daher fest: »So zeigt sich, daß diese Aprioriproblematik in ihrer eigensten Tendenz sich selbst zuwider-
344 345 346 347
GA 59, 51. GA 59, 65 f. GA 59, 72. GA 59, 73.
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läuft.« 348 Insofern die philosophische Systematik sich immer aus dem Apriorischen bestimmt, ist jeweils das gesamte System von diesem Aprioriproblem betroffen. Das Problem, so verdeutlicht Heidegger hier noch einmal, liegt in einer Betrachtung der Geschichte, die nicht philosophisch ursprünglich ist, sondern in einer Theoretisierung und Objektivierung den Bezug zum konkreten Dasein verloren hat. 349 Im Gang der Destruktion des Aprioriproblems ist hiermit ein zentrales Motiv für die Bedeutung der Geschichte und mit ihr der Zeit für Heidegger gewonnen, insofern nur die Zurückführung auf die echten Sinnzusammenhänge der Geschichte (welche in der Aprioritendenz verloren gegangen sind) für ihn die Philosophie zu sich selbst zurückzuführen vermag und dies daher zum »Endgültigen der phänomenologischen Aufgabe« 350 erklärt wird.
11.2 Grundprobleme der Phänomenologie Was Heidegger im Wintersemester 1919/20 in seiner Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie unter dem Titel der Phänomenologie entwickelt, bezeichnet er selbst als Ursprungswissenschaft vom Leben an und für sich. 351 Es wird damit in der Voranzeige bereits deutlich, dass unsere Vermutung über den Primat des Daseins vor der Zeit in Heidegger sich in seiner früher Schaffensperiode bestätigt, insofern es das Leben ist, welches wissenschaftlich gefasst werden soll. Doch erinnern wir uns, dass wir in Heideggers Schriften ab 1924 die Identifikation der Zeit mit dem Dasein aufweisen konnten, die Zeitphänomene dabei das Dasein und das Dasein die Zeitphänomene offenlegte, so stellt sich die Frage, ob die wissenschaftliche Erfassung des Lebens und der Zeitbegriff sich gemeinsam entwickelten. Aber lässt sich die Idee der Bedeutung der Zeit bereits in der Ausarbeitung der Phänomenologie als Ursprungswissenschaft des Lebens an und für sich nachvollziehen? Können wir hier das Leben bereits wissenGA 59, 73. Vgl. GA 59, 73 ff. Heidegger schreibt: »Der im A prioriproblem angesetzte Sinn von Geschichte besteht gerade auf Kosten der ausdrücklichen Abdrängung dessen, worauf das Problem selbst hinzielt. Das, worauf das Problem tendiert, läßt die Problemstellung gerade überhaupt nicht aufkommen. Das ist: der Mensch in seinem konkreten, individuellen historischen Dasein.« (Vgl. Ga 59, 86). 350 GA 59, 74. 351 Vgl. GA 58, 1. 348 349
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schaftlich fassen, insofern es zeitlich ist? Spielen die Phänomene der Zeit eine Rolle für die wissenschaftliche Erfassung des Lebens? Und offenbart das Leben hier bereits eine phänomenale Weise, die Zeit in den Blick zu bringen? Was Heidegger in dieser frühen Vorlesung entwickelt, betrifft die Frage nach Sinn, Gegenstand und Methode der Phänomenologie und mit ihr der Philosophie selbst. 352 »[I]rgendwie vorgegeben« 353 ist dabei das Leben und zugleich, dass die Ursprungswissenschaft, soll es so etwas überhaupt geben, eine Ursprungswissenschaft vom Leben sein muss, so Heidegger. Die erste Problematik, der Heidegger sich in Bezug auf die Phänomenologie als Ursprungswissenschaft widmet, ist das zu tun haben der Phänomenologie mit sich selbst, insofern ihre erste Frage ist, was die Idee einer Ursprungswissenschaft überhaupt ist. 354 Dies offenbart zugleich den ersten Charakter der Phänomenologie für Heidegger: Insofern sie ihre Motive allererst aufsuchen und ihre Aufgabe so generieren muss, dies aber zugleich Teil ihrer Aufgabe ist, ist die Phänomenologie als ein Vollzug zu verstehen. Im Mittelpunkt der Phänomenologie und mit ihr der Philosophie steht »die Forderung des absoluten Radikalismus des Fragens und der Kritik.« 355 Die Fraglichkeit (ihrer selbst) muss sich durchsetzen gegen ihre Festlegung in abgezogenen Begrifflichkeiten; kurz: die Phänomenologie selbst muss lebendig sein, muss im Vollzug sein, so Heidegger. Der geforderte Vollzugscharakter der Phänomenologie im Gegensatz zum Ordnungsdenken muss uns an das später zum Zeitphänomen ausgearbeitete eigentliche Geschichtlichsein in der Abhandlung Der Begriff der Zeit erinnern. Die sich daraus ergebende Problematik, die Heidegger für die Phänomenologie aufzeigt, ist die Frage nach der Gegebenheit des Ursprungsgebietes, d. h. des Lebens an und für sich. Insofern das Gegenstandsgebiet der wissenschaftlichen Philosophie nicht einfach feststeht, muss es Heidegger zufolge immer neu aufgesucht und in Frage gestellt werden. Es stellt sich in diesem Sinne für die PhänoDie Aufgabe der Phänomenologie als Ursprungswissenschaft vom Leben ist es, »[d]iese innerste, lebendige Berufung, das Schicksal der Philosophie, ihre Idee, deren größte Manifestationen wir kennen unter den Namen: Plato, Kant, Hegel, […] ursprünglich und radikal aus einer neuen Grundsituation heraus zum ›Leben‹ zu bringen.« (GA 58, 1). 353 GA 58, 80. 354 Vgl. GA 58, 1 ff. 355 GA 58, 5. 352
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menologie die Frage, was das Leben »an und für sich« ist, wie ein wissenschaftlicher Zugang zu ihm gewonnen werden kann und wozu dies geschehen soll, so Heidegger. Die Frage nach dem Leben an und für sich muss sich Heidegger zufolge nun aus der phänomenalen Betrachtung des Lebens selbst ergeben, wenn die Wissenschaft, insofern sie sich selbst fraglich ist, ihr Gebiet nicht aus sich selbst hernehmen kann. 356 Das Leben an und für sich muss sich so Heidegger zufolge aus der faktisch erfahrbaren Lebenswelt heraus zum Gebiet einer Wissenschaft hergeben, wenn die Ursprungswissenschaft überhaupt möglich sein soll. Heidegger zeigt in der Folge das Leben in seiner Mannigfaltigkeit von Tendenzen auf und macht deutlich, dass sich das Leben »an und für sich« nicht einfach als Gegenstandsgebiet vorgibt, zum einen da uns das Leben »selbstverständlich ist« insofern wir es je selbst sind und uns so jegliche Distanz, es zu betrachten, fehlt, zum anderen da das Leben in einer ständig flutenden Fülle, in einer Mannigfaltigkeit an Lebenstendenzen, aufgeht. Es stellt sich insofern für Heidegger die Frage, wie überhaupt eine Wissenschaft vom Leben »an sich« möglich sein soll. Zugespitzt ist dieses Problem für Heidegger darin, dass im Leben selbst immer neue Zielansetzungen und Motive erwachsen. Heidegger schreibt: »Der Fraglichkeitscharakter allen Lebens, der mit seinem Tendenzcharakter im Innersten verwachsen ist [phänomenologisches Grundproblem], löst immer neue Zielansetzungen, davon in Wirkung gebrachte Motiv- und Motivationsmannigfaltigkeiten aus.« 357 Diese Ausführung der Problematik, wie das Leben wissenschaftlich fassbar ist, muss uns an die Verlegenheit der Seinsfrage in der Abhandlung Der Begriff der Zeit erinnern, welche das Dasein als vorhandene Ganzheit nicht in den Blick bringen kann, insofern dieses nie abgeschlossen ist. Das Phänomen der Zeitlichkeit und der Zukünftigkeit in der Antizipation oder Wegdrängung des Todes ist hier so bereits vorgezeichnet, ohne jedoch bereits als Zeitphänomen gefasst zu sein. In der Konfrontation dieser Problematik, wie das Leben wissenschaftlich erfassbar sein soll, geht es nun für Heidegger darum, eine Grunderfahrung auszumachen, die das Leben in seinem Ursprung Vgl. GA 58, 23: »Ich gebe nur den einen Hinweis auf die Gefahr, die auch die Entwicklung der Phänomenologie bedroht: die Einschränkung der transzendentalen Probleme auf die Konstitutionsform ›Wissenschaft‹ und das Sehen aller Lebensgebiete durch dieses Transparent. Ständig gefördert ist diese gefährliche Art des Sehens durch das Nachwirken Kants und des deutschen Idealismus.« 357 GA 58, 41. 356
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(nicht das faktische Leben selbst und der Fülle der in ihm gelebten Welten) wissenschaftlich zugänglich machen kann, d. h. eine Grunderfahrung, die das Leben an und für sich kennzeichnet. Hier hebt Heidegger nun bereits auf das »Wie« ab: Alle nichttheoretischen Lebensgehalte und auch die Wasgehalte einer Sachbetrachtung stellen sich in einer bestimmten Weise dar, in einem »Wie«. 358 Das »Wie« welches in der Abhandlung der Begriff der Zeit als eigentliche Zeitlichkeit bestimmt werden wird, spielt hier damit in Bezug auf das Gebiet der Ursprungswissenschaft vom Leben bereits eine tragende Rolle, ohne als Zeitphänomen gefasst zu sein. In der weiteren Gewinnung der Grunderfahrung der Selbstwelt stellt Heidegger die Bedeutsamkeit als Wirklichkeitscharakter des faktischen Lebens heraus. Heidegger legt hierzu zunächst aus, dass in der faktisch unabgehobenen Lebenserfahrung uns jeweils eine wirkliche Existenz begegnet – »der Herr hinterm Ladentisch ist wirklich begeistert; der Straßenjunge macht wirklich diesen Hund wütend, benimmt sich wirklich ungezogen; der zaghafte und verzweifelte Anfänger in der Phänomenologie, dem ich Mut mache, ist wirklich zaghaft und mit sich selbst unzufrieden.« 359 Wir können nun nach dem Sinn dieser Existenz insgesamt fragen. Insofern das Leben in diesen so gefassten Existenzen lebt, so Heidegger, hat die Existenz insgesamt, unabhängig der inhaltlichen Erfahrung, »denselben Sinn von Existenz.« 360 Diesen Sinn der Existenz fasst Heidegger nun als ›Bedeutsamkeit‹, insofern wir faktisch bedeutsamkeitsgefangen leben. Innerhalb der Bedeutsamkeit hebt Heidegger die ›Kenntnisnahme‹ als eine Modifikation ihrer ab, insofern die Kenntnisnahme (das Erzählen eines Erlebnisses, mein Aufschreiben in einem Tagebuch) auf dasselbe »was« Bezug nimmt, d. h. in der faktischen Erfahrung sich hält, aber im »Wie« sich die Weise des Erfahrens ändert. Indem Heidegger davor schützt, die Kenntnisnahme im Sinne einer begrifflichen oder generellen Charakterisierung zu verstehen (da es ihr nur darum geht, das Erlebte zu wiederholen), spricht er ihr ein »›Als‹ der Bedeutsamkeit« zu, »das notwendig immer situationsentwachsenes, historisches ist.« 361 Das Historische weist hier damit bereits darauf
358 359 360 361
Vgl. GA 58, 84 f. GA 58, 104. GA 58, 104. GA 58, 114.
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hin, dass die so abgehobene Kenntnisnahme meiner selbst sich aus dem faktischen Lebenszusammenhang heraus ergibt. Die Zeit selbst wird nun zum ersten Mal am Ende des zweiten Kapitels thematisch benannt, in welchem Kapitel Heidegger die phänomenologische Bereitung des Erfahrungsbodens für die Ursprungswissenschaft vom Leben entwickelt und die Kenntnisnahme als Grundphänomen ausgearbeitet wird. Hier wird die Zeit für Heidegger als ›umweltzeitlich‹ bedeutsam für die Charakterisierung einer Ganzheit des Erlebniszusammenhanges, in der sich die Kenntnisnahme vollzieht. Heidegger schreibt: Diese phänomenalen Charaktere, in denen das faktisch erfahrene Was erlebnismäßig sich gibt, sind in der Kenntnisnahme modifiziert. In der Kenntnisnahme ist der Erfahrungszusammenhang von vornherein als relativ Ganzes in Tendenz genommen, ohne daß explizit jede seiner Phasen zunächst präsent wäre. Das Erfahrene ist umweltzeitlich (›gestern nachmittag‹) oder sonst bedeutsamkeitsmäßig als Ganzheit charakterisiert, abgegrenzt und als etwas, dem ich, mich einstellend in die unscharf und doch bestimmte und zeitlich fixierte Dauer, nachgehen kann und im Vollzug der Kenntnisnahme nachgehe. 362
Das Ganze, das den Erlebniszusammenhang konstituiert, wird hier explizit als durch die Zeit entstehend angesprochen. In der Folge wird deutlich, dass dieser Erlebniszusammenhang in der Kenntnisnahme vergegenwärtigt wird. Die Erlebniszusammenhänge öffnen sich dadurch auf die Zukunft und die Vergangenheit und hängen selbst ›irgendwie‹ zusammen, so Heidegger. Als zeitliche sind es die Erlebniszusammenhänge, die eine Lebensganzheit bilden. Heidegger schreibt: »Die Momentanphasen sind jetzt auch vergangenheits- und zukunftsgeöffnet und sie werden als irgendwie zusammenhängend eine bestimmte Lebensganzheit bildend durchlaufen.« 363 Die Zeit ist hier also bereits in der Konstitution einer bedeutsamkeitsmäßigen Ganzheit angesprochen. Die Eingrenzung der Zeit durch das Adjektiv »umweltzeitlich« und der hier gegebene Kontext der Bedeutsamkeit, bereitet die Abgrenzung der Zeit des Miteinander in der uneigentlichen Zeitlichkeit gegenüber der eigentlichen Zeitlichkeit vor. Es zeigt sich hier bereits die Verbindung der Bedeutsamkeit mit der Zeit, wie sie in der Ausarbeitung der Zeit in der Alltäglichkeit in der Abhandlung Der Begriff der Zeit zu Tragen kommt. 362 363
GA 58, 118. GA 58, 118.
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Im Verlauf der Vorlesung entwickelt Heidegger eine »Philosophie der Situation«, 364 in der das Selbst in seinen verschiedenen Schichten und Ausdrucksformen deutlich werden soll und zwar nicht als Objektivierung, sondern hinsichtlich seiner phänomenalen Gehalte. 365 Heidegger bringt nun die Situation mit der Zeit in Zusammenhang. Er schreibt: »Raum und Zeit haben in ihrer ursprünglichen Form in der Sphäre des Lebens, als Bedeutsamkeiten, ihre Funktion in der Situation. (Von der ›objektiven‹ Raum-Zeit-Form aus gesehen ist das die ins volle Leben (zurück-)transponierte Form.) Das Problem der Zeit ist mit dem der Situation verbunden.« 366 Heidegger führt diesen Hinweis und den Zusammenhang von Zeit und Situation nicht weiter aus, was mitunter der Tatsache geschuldet sein mag, dass Heidegger die ausgearbeitete Vorlesungshandschrift abbricht und den weiteren Vorlesungsverlauf anhand von Skizzen und Notizen gehalten zu haben scheint. 367 Auch ohne die inhaltliche Explikation des Zusammenhanges von Zeit und Situation können wir in der Vorlesung feststellen, dass die Zeit bereits in ihrer zentralen Bedeutung für die Ausarbeitung eines Lebens- oder Daseinsverständnisses vorbereitet ist. Dies zeigt sich darin, dass sich die später herausgearbeiteten Zeitphänomene bereits in dem Versuch, das Leben wissenschaftlich zu fassen, ankündigen. Gleichzeitig sind die Phänomene selbst nicht unter dem Begriff der Zeit gefasst, was uns darauf hinweist, dass die (Zeit)phänomene, die sich in der Untersuchung des Lebens zeigen, den Ursprung des Zeitbegriffs für Heidegger bilden.
Vgl. zu der Bestimmung und Auslegung der Philosophie der Situation in Heideggers Frühwerk Hans-Helmuth Gander: Phänomenologie der Lebenswelt: Husserl und Heidegger. In: Ders. (Hg.): Heidegger und Husserl. Neue Perspektiven. Frankfurt/M. 2009, 137–158. 365 GA 58, 258 ff. 366 GA 58, 259. 367 Vgl. zur editorischen Genese des Bandes, welche die Einteilung im Nachlass zwischen Vorlesungsmanuskript und Beilagen korrigiert, indem sie durch Vergleich mit den vorliegenden Mitschriften den Abbruch des Vorlesungsmanuskripts auf Seite 66 ermittelt und einen Großteil der als Beilage klassifizierten Texte als Schlussteil der Vorlesung identifiziert, das Nachwort des Herausgebers Hans-Helmuth Gander in eben demselben Band GA 58. 364
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11.3 Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft Ein weiteres Werk, das wir in der Genealogie von Heideggers Zeitbegriff nicht vergessen haben möchten, ist die kurze Schrift Der Zeitbegriff in der Geschichtswissenschaft, welche 1916 erstmalig erschien und nun Teil des Bandes 1 Frühe Schriften in der Gesamtausgabe ist. Heidegger schreibt, dass dieser Aufsatz inhaltlich mit der Probevorlesung vom 27. Juli 1915, die Heidegger zum Erhalt der venia legendi in Freiburg hielt, zusammenfällt. Heidegger beginnt den Aufsatz mit einem Zitat Meister Eckharts: »Zeit ist das, was sich wandelt und mannigfaltigt, Ewigkeit hält sich einfach.« 368 Wir können demnach hier bereits die inhaltliche Verbindung zur Frage nach der Ewigkeit, die im Vortrag Der Begriff der Zeit aus dem Jahre 1924 erneut thematisch wird und dort eine Wendung auf die Zeit selbst hin erfährt, feststellen. Der Begriff der Zeit ist in diesem frühen Aufsatz bereits in Bezug auf das Prinzip der Wissenschaft thematisiert, indem er eine Kategorie innerhalb der Logik als Theorie der Wissenschaften ausmacht. Indem Heidegger hier aber den Zeitbegriff, wie er in den verschiedenen Wissenschaften verstanden wird, thematisch werden lässt, wird deutlich, dass Heideggers Zeitbegriff sich nicht nur aus seinem später erarbeiteten phänomenologischen Gehalt (als Zukünftigsein, Gegenwärtigen, Geschichtlichsein etc.) ergibt, sondern auch aus einer Kritik des Begriffs der Zeit, wie er in den Wissenschaften behandelt wird. Dabei ist Heideggers Idee, dass der Zeitbegriff grundsätzlich neu verstanden werden muss, selbstverständlich bereits virulent. Heidegger macht nun in betreffendem Aufsatz zunächst aus, dass es eine neue metaphysische Bewegung in der philosophischen Wissenschaft gäbe, nach der man nicht länger mit einer bloßen Erkenntnistheorie zufrieden sei. Dies bedeutet für Heidegger, dass man sich mit einem kritischen Bewusstsein auf die Grundlagen der Erkenntnistheorie und die logische Struktur der Kultur- und Naturwissenschaften besinnt. Trotz großer Fortschritte sind wir jedoch, Heideggers Diagnose nach, noch nicht an einem Punkt, an dem wir versuchen können, eine allgemeine Theorie der Wissenschaften aufzustellen. Was es demgemäß zu tun gilt ist, sich auf einzelne Probleme zu konzentrieren, unter denen Heidegger nun das Problem der Zeit als besonders bedeutsam hervorhebt. Er führt den Zeitbegriff 368
GA 1, 357.
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über die Logik ein: Die Logik als Theorie der Wissenschaft soll die logischen Grundlagen der Methoden, die in den einzelnen Wissenschaften angewendet werden, bestimmen. Der Begriff der Zeit, so Heidegger, ist eine Kategorie innerhalb dieser Logik. 369 Heidegger unterscheidet nun zwischen dem Begriff der Zeit in der Physik und dem Begriff der Zeit in der Geschichtswissenschaft. Er sucht den Begriff der Zeit in diesen beiden Wissenschaften zu gewinnen, indem er die Wissenschaften, wie sie in ihrem Zweck und ihrem Objekt gegeben sind, betrachtet und die Rolle, die die Zeit in ihnen spielt, untersucht. Zunächst wendet er sich dabei der Physik zu. Heidegger schreibt, dass alle Objekte der Physik Messungen im Sinne der Zeit sind. Die Hauptfunktion der Zeit ist es demnach, Messung zu ermöglichen. Die Zeit ist ein Momentum in der Definition der Bewegung. 370 In allen Bewegungsgleichungen ist die Zeit als unabhängige Konstante gegeben, jedoch auf solche Art und Weise, dass die Zeit selbst sich nie verändert, so Heidegger. Ein Punkt ist nur anders als der andere, weil er der nachfolgende Punkt ist. Auf diese Weise ist es möglich, die Zeit zu messen und mit ihr die Bewegung. Sobald wir aber Zeit messen, definieren wir ein ›Soviel‹. 371 Mit dieser Betrachtung der Zeit in der Physik kommt demnach für Heidegger bereits das Messen der Zeit ins Spiel, welches sich in der Abhandlung Der Begriff der Zeit in der phänomenalen Ausgestaltung des gegenwärtigenden Gegenwärtigens und des Rechnens mit der Zeit wiederfindet und phänomenal gedeutet wird. Im Anschluss an die Auslegung des Zeitbegriffs in der Physik, wendet sich Heidegger der Geschichtswissenschaft zu. Er schreibt: »Die Geschichtswissenschaft hat zum Gegenstand den Menschen, nicht als biologisches Objekt, sondern insofern durch seine geistigkörperlichen Leistungen die Idee der Kultur verwirklicht wird.« 372 Heidegger arbeitet hier heraus, dass die Vergangenheit nicht nur nicht mehr ist, sondern sie auch etwas anderes als unser Lebenskontext heute war. 373 Der Imperativ an den Historiker ist somit, dass er die Zeit überkommen muss und die vergangene Zeit aus sich selbst heraus erschließen muss. Heidegger schreibt in diesem Sinne: »Die
369 370 371 372 373
Vgl. GA 1, 357 ff. Vgl. GA 1, 365. Vgl. GA 1, 365 f. GA 1, 368. GA 1, 369.
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Zeiten der Geschichte unterscheiden sich qualitativ.« 374 Die Zeit in der Geschichte ist hiermit eine Kristallisierung einer Objektivierung eines Lebenszusammenhanges zu einer bestimmten Zeit. Was sich hier bereits andeutet ist Heideggers Verständnis des Geschichtlichseins und das aus ihm gewonnene eigentliche historische Erkennen, welches auch für die Philosophie in der Herausarbeitung ihrer hermeneutischen Situation grundlegend werden wird.
374
GA 1, 373.
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12. Zusammenfassender Überblick über den Zeitbegriff vor 1926
Mit der Untersuchung des auf die Kantinterpretation vorbereitenden ersten Hauptteils von Logik. Die Frage nach der Wahrheit haben wir festgestellt, dass das, was Kant und was Heidegger unter dem Begriff Zeit verstehen, etwas grundsätzlich Unterschiedliches ist. Darüber hinaus wurde klar, dass Heideggers Verständnis der Zeit nicht erschlossen werden kann, wenn wir den Begriff »Zeit« vornehmen und uns fragen, wie Heidegger ihn interpretiert, da sich bereits zeigte, dass Heidegger unter der »Zeit« etwas grundsätzlich anderes versteht als wir in der Wissenschaft oder der alltäglichen Verwendung des Wortes »Zeit« annehmen. Wir haben uns daraufhin Heideggers frühen Werken gewidmet, um seinem eigenen Zeitverständnis und der Idee der Bedeutung der Zeit auf die Spur zu kommen. In Logik: Die Frage nach der Wahrheit sollte die Zeit es ermöglichen, die Frage nach der Wahrheit eigentlich zu stellen. Insofern aber Wahrheit und Falschheit in Heideggers Auslegung in einem Seienden gründen und zwar so, dass das Seiende sowohl Wahrheit als auch Falschheit ermöglichen können muss, wurde die Untersuchung auf das Sein des Seienden verwiesen. Hier wurde deutlich, dass es, Heidegger zufolge, ein Seiendes gibt, welches schlechthin vorhanden ist und eine Weise dieses zu Entdecken, welches keine Falschheit als ihren Gegensatz ermöglicht. Dieses Seiende wurde als Anwesenheit bestimmt, sein Entdecken als Gegenwärtigen. Die Zeit wurde auf diese Weise mit der Frage nach dem Sein des Seienden verknüpft. Als eine Seinsweise wurde das Bedeuten bestimmt und in der Als-Struktur als primäres Entdecken ausgearbeitet. Die Als-Struktur stellte die Prämissen der kantischen Erkenntnistheorie in Frage, insofern durch Sinnlichkeit und Verstandesbegriffe nie erklärt werden könne, »wie es dazu kommt, daß ich schlicht eine Kreide sehe.« 375 Die Als-Struktur wiederum wurde mit der Zeit identifiziert. Am Ende der Unter375
GA 21, 148.
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suchung der Vorlesung standen wir vor dem Ergebnis, dass Heidegger die Zeit an allen bedeutenden Stellen ins Spiel brachte, sich die Bedeutung der Zeit selbst aus ihnen jedoch nicht erschließen ließ. Desweiteren hatte es sich gezeigt, dass der Heideggersche Zeitbegriff vielmehr eine Voraussetzung für seine Kantinterpretation darstellt, als dass er sich aus ihr schlechthin ergeben würde. Wir wendeten uns daher Heideggers vorangehenden Schriften auf der Suche nach der Entwicklung von Heideggers Zeitverständnis und der Bedeutung der Zeit zu. Der nächste Text, den wir untersuchten, die Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs, war lediglich hinsichtlich seiner Einleitung für uns relevant, da Heidegger zur eigentlichen Thematik, der Geschichte des Zeitbegriffs, in betreffender Vorlesung nicht gelangte. Dies ergab sich, so zeigte sich, aus der Bedeutung des Zeitbegriffs selbst, da dessen Geschichte mit der Geschichte der Philosophie identifiziert wurde. Die Zeit kam hier in den Blick als Index der Trennung verschiedener Seinsgebiete in zeitliche, überzeitliche und unzeitliche, wie sie in der Philosophiegeschichte vorgenommen wurden, ohne die Zeit selbst eigens in den Blick zu bekommen. Als solcher Index ist in diesem Sinne lediglich implizit auf die bedeutende Rolle der Zeit für das Seinsverständnis hingewiesen. Wir stießen in diesem Sinne nicht auf eine positive Auslegung der Zeit durch Heidegger und wendeten uns daher den beiden 1924 entstandenen Texten Der Begriff der Zeit zu. Im Vortrag Der Begriff der Zeit, den Heidegger vor der Marburger Theologenschaft hielt, kam die Zeit im Sinne der Ewigkeit in den Blick. Zu der Ewigkeit jedoch hat die Philosophie keinen Zugang, insofern sie versucht, die Zeit aus der Zeit zu verstehen, die hieraus gewonnene Ewigkeit jedoch nur ein Derivat des Zeitlichseins sein kann, so Heidegger. Als solche zeigte die Zeit im Sinne der Ewigkeit, dass mit der Zeit der Sinn der Philosophie selbst in Frage steht und die Untersuchung der Zeit sich gleichsam als eine Vorwissenschaft verstehen muss. Dieser Vorwissenschaft widmete Heidegger sich, indem er verschiedene Zeitphänomene erschloss, die ihn auf das Dasein führten. Anhand einer Anzeige der Seinscharaktere des Daseins sollte sodann die Zeit im Sinne der Ewigkeit erschlossen werden. Mit dem Vorlaufen in den Tod und der Antizipation des eigenen »Vorbeis« wurde die Bedeutung des Besorgens, des In-der-Welt-seins, in ein Nichts geführt, welches es dem Dasein ermöglicht, eigentlich zu sein. Das Eigentlichsein selbst wurde dabei als »Wie« bestimmt und in der 186 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Zusammenfassender Überblick über den Zeitbegriff vor 1926
Fraglichkeit offen gelassen. Der Vortrag endete mit einer Identifikation der Zeit mit dem »Ich bin« auf solche Weise, dass beide (miteinander verbunden) in Frage stehen. Für uns ergab sich daraufhin die Frage, was es an der Zeit ist, die sie selbst von Interesse werden ließ, besonders hinsichtlich der Tatsache, dass das Dasein in dem Vortrag den Boden für die Frage nach der Zeit bot und nicht, wie sich inhaltlich aus dem Vorlaufen in den Tod hätte vermuten lassen, die Zeit im Interesse einer Einsicht in das Dasein behandelt wurde. Mit dieser Frage wendeten wir uns an die gleichnamige Abhandlung aus demselben Jahr. Zu Beginn der Abhandlung wurde deutlich, dass Heidegger das Dasein über die Zeit offenbar machen will und zugleich umgekehrt die Zeit über das Dasein. Uns stellte sich daraufhin die Frage, wie sich die Begriffe des Daseins und der Zeit zueinander verhalten. In der nachfolgenden Anzeige der Seinscharaktere des Daseins stellte sich heraus, dass die Seinsinterpretation für Heidegger vor einer grundsätzlichen Verlegenheit steht: das Ganze des Daseins ist erst in seinem Tod »da«, kann nun jedoch nicht mehr ausgelegt werden. Die Frage nach dem Umgang mit dieser Verlegenheit führte uns auf das Vorlaufen in den Tod, welches die äußerste Möglichkeit des Daseins einholt. Eine Betrachtung des Todes selbst zeigte, dass wir das Sein des Daseins nicht erfassen können, wenn wir es in einer Vorhandenheit oder Nicht-Vorhandenheit verstehen, was der Fall ist, wenn wir den Tod als ein Vorkommnis oder Ereignis, welches nicht das Leben durchzieht, sondern es lediglich beendet, begreifen. In der Analyse der Seinsweisen des Daseins, entweder eigentlich in den Tod vorzulaufen oder uneigentlich den Tod von sich weg zu schieben, wurde deutlich, dass für Heidegger das Vorlaufen in den Tod die Bedeutung des zu Besorgenden in ein Nichts führt und so die Möglichkeit öffnet, dass das Sein des Daseins von ihm selbst her ist (anstatt von der Welt her gegeben zu werden). In diesem eigentlichen Zukünftigsein wurde das Dasein mit der Zeit identifiziert: im Vorlaufen in den Tod »hat« das Dasein Zeit, welche im Besorgen im Miteinander-sein immer bereits durch ein »dann« bestimmt und weggegeben ist. Es erschloss sich damit, warum das Dasein über die Zeit Aufschluss gibt: Die Zeit als Phänomen des Zeitlich-seins in Abgrenzung eines Verfallens an die Welt, offenbart sich erst durch die Analyse des Daseins. Die Zeit, so wie Heidegger die Zeit als Zeitlich-sein versteht, konnte nicht anders in den Blick kommen. Es erschloss sich außerdem, warum die Zeit über das Dasein Aufschluss gibt, insofern durch die phänomenale 187 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Auf der Spur nach den Gründen von Heideggers Interesse an der Zeit
Explikation der Zeitlichkeit sich zeigte, wie das Dasein Zeitlichkeit sein kann, ohne schlicht ein In-der-Zeit-seiendes, ein weltlich vorhandenes Seiendes, zu sein. Das Dasein ist Zeit, muss Zeit sein, so Heidegger, weil es kein Vorhandenes ist, aber da das, was das Sein des Daseins ist, nur über das Vorhandensein/das In-der-Zeit-sein in den Blick kommen kann – so bleibt keine andere Möglichkeit als dass das Dasein die Zeit selbst ist. In Bezug auf Heideggers Auslegung konnten wir hiermit feststellen, dass die Zeit als phänomenale, wie Heidegger sie versteht, das Sein des Daseins offenbart und zugleich das Dasein in seiner Phänomenalität das Sein der Zeit in den Blick bringt. In der Philosophiegeschichte jedoch wurde die Zeit Heidegger zufolge nur im Sinne des gegenwärtigen Besorgens als vorhandene Zeit offenbar. Aus der eigentlichen Zeitlichkeit als Geschichtlichkeit ergibt sich so die eigentliche hermeneutische Situation für die Philosophie Heideggers: Der Ausgangspunkt der Frage und wie wir auf die Philosophie als Wissenschaft blicken müssen, ergibt sich für ihn aus dem »Worüber«, dem Sein des Daseins in Hinblick auf ein eigentliches Verständnis der Zeit. Auf Grundlage dieser Analyse wandten wir uns der frühen Freiburger Schaffensperiode zu, um dem Verständnis der Zeit, wie es sich vor 1924 entwickelt, auf den Grund zu gehen. Unser Leitfaden war es dabei herauszufinden, inwiefern Heidegger den Zeitbegriff selbst über die Zeitphänomene, in denen er die Zeit erkennt und offenbart, entwickelt und inwiefern er den Zeitbegriff aus einer Kritik desselben Begriffs in der Philosophiegeschichte ausbildet. In der ersten hierfür relevanten Vorlesung Phänomenologie der Anschauung und des Ausdrucks. Theorie der philosophischen Begriffsbildung konnte aufgezeigt werden, dass Heidegger in der Destruktion des Aprioriproblems ein uneigentliches und unvollkommenes Geschichtsverständnis am Grunde einer Verirrung der Philosophiegeschichte in einer festgesetzten Problemstellung ausmacht. Das Geschichtsverständnis ist hier aus einer Kritik der philosophischen Tradition und zugleich dem Phänomen dessen, was wir meinen, wenn wir »Geschichte« sagen, entwickelt. Durch eine Kritik der philosophischen Tradition ergab sich die Forderung der Ausarbeitung der Sinnzusammenhänge der eigentlichen Geschichtlichkeit als Aufgabe der Philosophie für Heidegger. In der zweiten relevanten Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie konnten wir feststellen, dass sich in der Auslegung der Urwissenschaft vom Leben an und für sich die Zeitphänomene bereits ankündigen, ohne zugleich unter dem Zeitbegriff gefasst zu 188 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Zusammenfassender Überblick über den Zeitbegriff vor 1926
sein. Es konnte so aufgewiesen werden, dass der Identifikation der Zeit mit dem Dasein eine wissenschaftliche Fragestellung nach dem Leben vorhergeht, wobei die wissenschaftliche Erfassung des Lebens auf Phänomene zurückgreift, die später als Zeitphänomene ausgearbeitet werden. Zuletzt wandten wir uns Heideggers erster Publikation, die die Zeit im Titel trägt, zu, dem Aufsatz Die Zeit in der Geschichtswissenschaft, in dem deutlich wurde, dass Heidegger bereits zu Beginn seines Schaffens die Zeit als maßgeblichen Begriff in der Struktur der Wissenschaften fasste und sich in der Kritik des Zeitbegriffs in den Wissenschaft Heideggers phänomenaler Zeitbegriff im Geschichtlichsein bereits ankündigt.
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III. Hauptteil: Heideggers Kantinterpretation
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Heideggers Kantinterpretation
Wir wenden uns Heideggers Auslegung der Zeit in Kant auf der Grundlage einer ausführlichen Interpretation des Zeitverständnisses, wie er es vor seiner intensiven und expliziten Kantauseinandersetzung entwickelte, zu. Es war die Kantauslegung, die zu diesem Vorgehen führte, insofern zu Beginn der ersten Kantauslegung in Logik. Die Frage nach der Wahrheit der Zeitbegriff Heideggers bereits vorausgesetzt wird, mehr noch: die Auslegung Kants sollte dazu dienen ein bereits vorausgesetztes Zeitverständnis zu verdeutlichen. Es stellte sich dabei die Frage, die an dieser Stelle wieder aufgegriffen werden soll, warum sich Heidegger Kant zuwendet, um sein eigenes Zeitverständnis, um die Temporalität, zu bestimmen? Aus Hauptteil II wissen wir, dass mit der Zeit zugleich die Grundstrukturen des Seins des Daseins in Frage stehen und entwickelt werden – offen blieb hierbei für uns besonders die Frage nach der Konstitution der Eigentlichkeit, dem Wesen der Eigentlichkeit und damit dem (eigentlichen) Sein des Daseins. Dass Heidegger sich nun mit der Kantauslegung einer weiteren Bestimmung der Zeit zuwendet, deutet an, dass die Zeit und mit ihr das Dasein zuvor nicht abschließend bestimmt werden konnte. Wir wenden uns auf dieser Grundlage mit einer bestimmten Frage an Heideggers Kantauslegung und sie betrifft direkt Heideggers explizite Intention: Was sucht Heidegger für sein eigenes Zeitverständnis, wie es in Hauptteil II erarbeitet wurde, in der Zeit in Kant? Wenden wir uns in diesem Sinne Heideggers Kantauslegung chronologisch zu.
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13. Heideggers Versuch einer Bestimmung der Zeit im Erkennen im zweiten Hauptstück von Logik. Die Frage nach der Wahrheit
13.1 Die Aufgabe Heideggers erste intensive Auseinandersetzung mit Kant und zugleich die einzige, die sich explizit auf die Zeit konzentriert, finden wir in seiner im Wintersemester 1925/26 gehaltenen Vorlesung Logik. Die Frage nach der Wahrheit. Wie in Kapitel II.6.1. erläutert, bettet sich die Kantauslegung in die Rückbeziehung der im vorangegangenen Hauptstück der Vorlesung ausgelegten Phänomene Aussage, Wahrheit, Falschheit und Synthesis, welche im Zusammenhang der antiken Philosophie erarbeitet wurden, auf die Zeit ein. Was Heidegger hier entwickeln will, ist kein philosophisches System. Vielmehr geht es ihm darum, die Selbstverständlichkeiten, die dem alltäglichen Verhalten des Daseins zugrunde liegen, aus ihrer Unausgesprochenheit, Ungekanntheit und Unverstandenheit zu führen. 376 In dieser Aufgabe sieht Heidegger sich durch Kant verstanden: Die Bedeutung der Analytik in Kant ist es, so Heidegger, zumindest neben ihrer Bedeutung etwas Vorgegebenes in seine Elemente zu zergliedern, »etwas auf seinen ›Geburtsort‹ zurückleiten.« 377 So geht es Kant Heidegger zufolge darum, »die Genesis des eigentlichen Sinnes eines Phänomens an den Tag zu bringen« 378 und so die letzten Bedingungen der Möglichkeit eines Vorgegebenen zu erschließen. Eine solche Aufgabe die »genetischen Bedingungen eines Phänomens und seiner Möglichkeiten« 379 zu erschließen, bedarf nun jedoch Heidegger zufolge einer richtungsweisenden These, insofern die Analytik von vornherein auf etwas aus ist, d. h. einen Horizont haben muss, in dem sie statthat. 376 377 378 379
Vgl. GA 21, 197. GA 21, 198. GA 21, 198. GA 21, 198.
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Heideggers Versuch einer Bestimmung der Zeit
In diesem Horizont nun, so deutet sich hier bereits an, sieht sich Heidegger von Kant unterschieden. Für Heidegger ist das, was für die Analytik vorausgesetzt ist, ihr Horizont, das Ergebnis mit dem er am Ende des ersten Hauptstücks stehenblieb – es ist die These, dass Wahrheit und Sein und mit ihnen Falschheit, Synthesis und Aussage in irgendeinem Sinne mit dem Phänomen der Zeit zusammenhängen. 380 Wie sie das tun, soll in der Phänomenologischen Chronologie analysiert werden. 381 Ob die Untersuchung eine eigentlich philosophische ist, kann sich dabei Heidegger zufolge, insofern wir diesen zunächst leeren Satz voraussetzen, nur dadurch aufweisen, indem sie tatsächlich auf die letzten Bedingungen und Möglichkeiten eines Phänomens stößt. In diesem Sinne schließt sich hier Heidegger Kants Philosophie explizit an – es ist die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen eines Phänomens, die Frage nach dem Selbstverständlichen, welche Heidegger in Kant sieht. Es geht für Heidegger darum – und er sieht dabei in Kant einen Ansatz dazu – das Selbstverständliche zu ›Un-selbstverständlichen‹. Dies ist nun Heidegger zufolge nicht nur die Aufgabe der Abhandlung, es ist eine Aufgabe der Philosophie schlechthin – mehr noch: es ist die Philosophie selbst, insofern es die ›philosophische Vernunft‹ ist, welche die ›gemeine Vernunft‹ austreiben und ersetzen soll. 382 Blicken wir zurück auf unseren zweiten Hauptteil, so zeigt sich hier eine doppelte Aufgabenstellung, welche als solche nicht thematisch wird und die sich in den behandelten Texten bereits ankündigte: Zum einen geht es Heidegger um die »Verhaltungen, die unausgesprochen, ungekannt und unverstanden allem alltäglichen Verhalten des Daseins zugrunde liegen«, 383 zum anderen geht es darum, eine philosophische Vernunft zu entwickeln, die die SelbstverständAlle diese Phänomene stehen in Bezug zu Heideggers Ausarbeitung der Grundstrukturen des Daseins, wodurch die Zeit hier ebenfalls direkt mit dem Dasein korreliert. 381 Die phänomenologische Chronologie wird in ihrem Kern hier durch eine Kantauseinandersetzung entwickelt, was darauf hinweist, dass die konkrete Ausarbeitung der eigentlichen Zeit mit der Kantauslegung untrennbar verbunden ist. 382 Heidegger schreibt: »Und vielleicht zeigt sich, daß unsere bisherige Philosophie noch in sehr wenig Bezirken und in einem geringen Ausmaß philosophische Vernunft ist, sondern noch weithin von der gemeinen Vernunft durchherrscht wird, und daß nur, sofern die gemeine Vernunft von der philosophischen ausgetrieben wird, sie Anspruch darauf machen kann, Wissenschaft und die Grundwissenschaft zu sein.« (GA 21, 199). 383 GA 21, 197. 380
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Heideggers Kantinterpretation
lichkeiten in Frage stellt. Aber in beidem liegt zugleich unausgesprochen: die Frage nach der Eigentlichkeit. Wir können diese Frage auch, um Heideggers Terminologie näher zu kommen, als Frage nach dem Wie des »Wie« stellen oder nach dem, was die Entschlossenheit ausmacht. Die Differenz zwischen der Frage nach dem alltäglichen Verhalten des Daseins und der Eigentlichkeit wird nicht thematisch, was uns darauf hinweist, dass Heidegger sie für gleichbedeutend hält: die Aufdeckung der Möglichkeitsbedingungen des alltäglichen Verhaltens führt uns zugleich zum Wie des »Wies«, zu dem, was eigentlich eigentlich ist. Ob dies tatsächlich der Fall ist, werden wir erst im Verlauf unserer weiteren Untersuchung diskutieren können, hier sei zur Orientierung unserer Analyse die von Heidegger vorausgesetzte Identität dieser beiden Fragen lediglich offengelegt und in Frage gestellt. Kommen wir zu Heideggers Vorhaben zurück: das Resultat des ersten Hauptstückes der Vorlesung soll am Leitfaden der Zeit analysiert werden. Damit steht auch oben genannte Aufgabe im Sinne der Bestimmung der Zeit. Worauf Heidegger dabei zunächst hinweist, wurde im zweiten Hauptteil dieser Arbeit bereits eingehend behandelt: Die Zeit ist nicht dasselbe wie das, was wir in unserer »natürlichen, vorphilosophischen Rede« als Zeit bezeichnen. 384 Um zu vermeiden, dass wir »zeitlich« nun im Sinne der weltlich begegnenden Zeit als Ablaufen in der Zeit, als etwas in der Zeit verstehen, bezeichnet Heidegger die zeitlichen Phänomene, um die es hier gehen soll, als temporal. Insofern es darum gehen soll zu untersuchen, inwiefern die besagten Phänomene strukturell durch die Zeit charakterisiert sind, steht demnach die Erforschung ihrer Temporalität zur Aufgabe. Die »philosophische Fundamentalbetrachtung« 385, in der nun das Sein als Anwesenheit und die Wahrheit als Gegenwart in ihrer Zeitlichkeit und als Zeit untersucht werden sollen, bezeichnet Heidegger als phänomenologische Chronologie. Hier ist zu bemerken, dass wie in der Abhandlung Der Begriff der Zeit dieselbe Konstellation in Bezug auf (das Sein des) Dasein(s) und Zeit gegeben war, auch hier die Wahrheit und das Sein durch die Zeit eigentlich erfasst werden sollen, dies jedoch zugleich die Zeit selbst offenbaren soll. 386 Die phänomenologische Chronologie, d. h. die Erforschung der 384 385 386
Vgl. GA 21, 199. Vgl. GA 21, 199. Vgl. GA 21, 200: »Die Aufgabe einer phänomenologischen Chronologie ist die
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Heideggers Versuch einer Bestimmung der Zeit
Phänomene hinsichtlich ihrer Zeitlichkeit, ist Heidegger zufolge eine neue Idee in der Philosophiegeschichte und öffnet einen neuen Zugang zu ihr in solcher Weise, dass sie sich zunächst überhaupt nicht in philosophische Disziplinen eingliedern lässt und sie darüber hinaus dieselbe Klassifizierung philosophischer Disziplinen infrage zu stellen vermag. 387 Der einzige, der Heidegger zufolge überhaupt in dieses Gebiet vordrang, ist Kant.
13.2 Die Idee der phänomenologischen Chronologie und ihr Bezug zu Kant Es lässt sich bereits erahnen, dass Heidegger in Kant keine Auflösung seiner Aufgabe sieht. Darüber hinaus hat sich im ersten und zweiten Hauptteil dieser Arbeit bereits abgezeichnet, dass selbst das Zeitverständnis der beiden Autoren ein grundsätzlich anderes ist – so anders, dass wir nicht einmal ohne Vorkehrungen von einem unterschiedlichen »Zeitbegriff« sprechen können, würde dies doch in der ein oder anderen Weise dasselbe Phänomen voraussetzen. Was Heidegger mit der Zeit in den Blick zu bringen versucht jedoch, scheint etwas vollkommen anderes zu sein als der Begriff der Zeit, wie er im kantischen System als Form der Anschauung und Vermittlung der Kategorien als etwas der Sinnlichkeit (oder Einbildungskraft) Zugehöriges erscheint. 388 Was also sieht Heidegger in der Kritik der reinen Vernunft für die phänomenologische Chronologie vorbereitet? Zugleich mit dem Hinweis, dass Kant der einzige sei, der in den Bezirk der Chronologie vorgedrungen sei, wendet Heidegger ein, dass Kant die Bedeutung »seines Versuchs« nicht erkannt habe. Was können wir hieraus schließen? Es wird in dieser Behauptung ein Doppeltes deutlich: Zum einen ist Heidegger zufolge seine Absicht eine Chronologie zu entwerfen, die Phänomene in ihrer Zeitlichkeit in Erforschung der Zeitbestimmtheit der Phänomene – d. h. ihrer Temporalität – und damit die Erforschung der Zeit selbst.« 387 Vgl. GA 21, 200. 388 Heidegger selbst versteht die Weltzeit, wie er das herrschende Zeitverständnis in Kant bezeichnet, als ein Derivat seines Zeitverständnisses. Das Zeitverständnis der Welt- oder Jetzt-Zeit ist zugleich dasjenige Zeitverständnis, das sich in der Erfahrung zunächst aufdrängt. Heidegger würde in diesem Sinne nicht von zwei unterschiedlichen Zeitbegriffen sprechen, insofern sein Zeitbegriff das Zeitverständnis der Weltzeit umfassen und erklären können soll.
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Heideggers Kantinterpretation
den Blick zu bringen, nicht die Absicht Kants – zumindest nicht primär. Zum anderen zeigt die Rede von Kants Versuch, dass doch eine gewisse Absicht auf Seiten Kants mit dem verbunden ist, was Heidegger in ihm für die phänomenologische Chronologie vorbereitet sieht. Wir können damit bereits einige Prämissen der Interpretation aus Heideggers Perspektive festhalten: Erstens ist es nicht die erklärte und durch Kant erfasste Absicht der Kritik der reinen Vernunft, die Phänomene in ihrer Temporalität zu offenbaren und so den Zeitbegriff in den Blick zu bringen, zweitens gibt es etwas in der Kritik der reinen Vernunft, das absichtlich und erklärterweise durch Kant angegangen worden ist und dabei das Gebiet der Chronologie trifft und drittens hat Kant, das was er da absichtlicherweise im Bereich der phänomenologischen Chronologie geleistet hat, Heidegger zufolge, nicht in seiner Rolle für diese erkannt. In Bezug auf Heideggers Absicht können wir festhalten, dass das, was er in der Kritik der reinen Vernunft für die phänomenologische Chronologie offenbaren kann, eine konstitutive Bedeutung für dieselbe haben muss, wenn anders er nicht dreiviertel seines zweiten Hauptstückes der Vorlesung dieser gewidmet hätte. Für uns stellen sich in diesem Sinne die Fragen 1) was es ist, das Heidegger zufolge in Kant in das Gebiet der phänomenologischen Chronologie vordringt; 2) unter welcher Absicht Kant diesen »Versuch« unternimmt; 3) was es ist, das Heidegger in demselben für die phänomenologische Chronologie erkennt und 4) wie sich dies in die phänomenologische Chronologie im Ganzen einbindet. Kehren wir hierzu zum Text zurück und sehen, welche Stellen Heidegger für besagte Thematik ausmacht. Die »eigentümliche Zeitproblematik wie sie bei Kant auftaucht« 389 sieht Heidegger im Schematismus entwickelt. 390 Heidegger zitiert an dieser Stelle Kant B180/81, in dem Kant den Schematismus unseres Verstandes in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form als »verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele« 391 bezeichnet. Während Kant bezweifelt, dass wir dieses Geheimnis unserer Natur aufdecken können, macht Heidegger sich genau dies zur Aufgabe. 392 Der Schematismus ist der Punkt im kantischen System, an dem Heidegger Kants Versuch, die Temporalität der Phänomene 389 390 391 392
GA 21, 201. Vgl. GA 21, 201. KrV, B180/81. Vgl. GA 21, 201.
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Heideggers Versuch einer Bestimmung der Zeit
zu fassen, verankert sieht. Dies bezieht Heidegger zugleich auf eine Stelle, die Kant explizit offenlässt – die Absicht des kantischen Versuches muss demnach in der vorhergehenden Systematik aufgesucht werden. 393 Heidegger fasst das Problem, das Kant im Schematismus behandelt, pointiert für seine Studierenden zusammen: Im Schematismus handelt es sich darum, zu zeigen, in welcher Weise der Verstand d. h. die Spontaneität der Vernunft die Eignung haben kann, die Anschauung, die Formen der Anschauung als die Formen der Rezeptivität zu bestimmen, genauer, inwiefern sich die Kategorien als apriorische Bestimmungen der Einheit der Vernunft auf Gegenstände als Objekte beziehen können. Die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Verstand und Sinnlichkeit führt Kant dazu, nach einer Vermittlung zu suchen, und er findet sie in der Zeit. 394
Die zentrale Problematik der Zeit in Kant sieht Heidegger, wie dargelegt, hierin verankert. Es gibt nun Heidegger zufolge zwei Probleme im kantischen Denken, welche ihn daran hindern, die Idee der Chronologie zu fassen – und das bedeutet Heidegger zufolge gleichsam, dass Kant nicht gänzlich inhaltlich fasst, was er selbst im Schematismus und der Analytik der Grundsätze faktisch durchführt. Die erste Problematik ist die »schroffe Scheidung, die Kant durchführt zwischen Sinnlichkeit und Verstand«, 395 welche es von vorneherein verbietet alles, was dem Verstande zukommt, d. h. unter anderem die transzendentale Apperzeption, die Kategorien, ja, alle Verstandeshandlungen, mit der Sinnlichkeit in Zusammenhang zu bringen und so alles, »was der Sinnlichkeit als Rezeptivität zukommt, […] dem Verstand als Spontanität versagt werden« 396 muss. Für Heidegger wird nun relevant, dass hierdurch die Zeit vollständig auf Seiten der Heidegger bezieht sich positiv auf dieses Offenlassen der Problematik, insofern die Fraglichkeit hierdurch nicht durch eine vorschnelle »Antwort« verstellt wird. Er schreibt: »Kant hat in diesem Bezirk des Zeitproblems, hier sowohl wie überall, wo er mit seinen Untersuchungen wirklich zugreift, offene Horizonte, d. h. es zeigt sich in seiner Forschungsart die eigentümlich ergriffene Zurückhaltung vor den Phänomenen und Problemen, die überlegene Vorsicht gegen jede vorschnelle Vergewaltigung eines Phänomens; wenn er an Grenzen kommt, läßt er die Probleme stehen, was immer für die nachkommende Forschung positiver ist als eine gewaltsame Aufteilung von halb klaren Einsichten in imponierende Systeme.« (GA 21, 201). 394 GA 21, 202. 395 GA 21, 203. 396 GA 21, 203. 393
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Heideggers Kantinterpretation
Sinnlichkeit geschlagen wird, während die transzendentale Apperzeption und mit ihr die letzte Einheit des Bewusstseins vor-zeitig ist. 397 Dies verhindert Heidegger zufolge, temporale Phänomene innerhalb der Verstandeshandlungen zuzulassen. Im ersten Hauptteil dieser Arbeit wurde dargelegt, dass in Kant die Zeit, um ihre vermittelnde Rolle zwischen Kategorien und Erscheinungen erfüllen zu können, durch die Kategorien bestimmt wird. Die Zeit, so wurde deutlich, soll eine vermittelnde Rolle zwischen Sinnlichkeit und Verstand übernehmen, welche jedoch nur denkbar ist, insofern eine solche Verbindung auch phänomenal vorliegt, d. h. insofern es z. B. eine Folge gibt, die gegeben wird und als solche kategorial gedacht werden kann. 398 Für Heidegger wird nun dieselbe Problematik der Scheidung zwischen Sinnlichkeit und Verstand nicht in Bezug auf Kants Versuch, die objektive Erfahrungserkenntnis zu begründen, relevant, sondern hinsichtlich seines eigenen Zeitbegriffs, genauer: hinsichtlich der Temporalität der Einheit des Bewusstseins. Wie sich diese Frage zu der Problematik der Verbindung von Kategorien und Erscheinung anhand des Zeitbegriffs, die im ersten Hauptteil aus einer Kritik des kantischen Systems selbst heraus entwickelt wurde, verhält, werden wir erst nach der Ausführung der heideggerschen Kantinterpretation in den Blick bringen können. Wenden wir uns hiermit der zweiten Problematik zu, die Kant Heidegger zufolge im Wege steht, die Konsequenz des Schematismus und der darauf aufbauenden Grundsätze zu sehen, nämlich die Temporalität der transzendentalen Apperzeption und des Verstandes. Diese Problematik ist Heidegger zufolge nichts anderes als der kantische Zeitbegriff selbst. Kant hat, so Heidegger, seinen Zeitbegriff aus der philosophischen Tradition, namentlich von Leibniz und Newton, übernommen, in der die Zeit nichts als »das Schema der Ordnung und des ordnenden Bestimmens der Mannigfaltigkeit des in der Rezeptivität der Sinnlichkeit Gegebenen« 399 sei. Dabei ist die Zeit auf die Natur eingegrenzt: die Zeit wird gefasst als Ordnungsschema der Natur. Dies schlägt sich in Kant, Heidegger zufolge, in der Fassung der Zeit als Form der Anschauung nieder, in welcher sie als Sukzession verstanden wird. Dieses Verständnis der Zeit haben wir bereits im zweiten Hauptteil dieser Arbeit als in der Welt vorfindliche Zeit, wel397 398 399
Vgl. GA 21, 203. Vgl. Kapitel 4.6. GA 21, 203.
200 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Heideggers Versuch einer Bestimmung der Zeit
che im Blick auf erfahrene objektive Welt gewonnen wird, kennengelernt. 400 Es wird uns in diesem Sinne nicht verwundern, dass Heidegger in Frage stellt, »ob aber dieser Zugang zur Zeit, nämlich durch den Hinblick auf die objektive Welt und ihre Vorgänge, der einzige ist und gar, falls noch andere möglich wären, unter diesen der primäre und maßgebende« sei. 401 Heidegger zufolge konnte die Temporalität des Daseins demgemäß für Kant erstens aufgrund seiner groben Scheidung zwischen Sinnlichkeit und Verstand, welche es nicht erlaubt, den Verstand in seiner Temporalität zu sehen, und zweitens aufgrund seines Zeitbegriffs, der auf ein Ordnungsschema der Natur eingeschränkt ist, nicht in den Blick kommen. 402 Gleichzeitig ergibt sich aus Heideggers Auslegung, dass es gerade die Temporalität des Daseins ist, welche sich im Schematismus nicht nur zeigt, sondern sogar in einem Versuch erarbeitet wird. 403 Um dies in der phänomenologischen Chronologie offenbar zu machen, muss Heidegger nun demgemäß zunächst einen anderen Zeitbegriff vorlegen. 404
13.3 Die Freilegung des Seinszusammenhangs des Daseins durch die Sorge Indem Heidegger dieses Unternehmen einleitet, weist er darauf hin, dass eine solche Erarbeitung des ursprünglichen Zeitbegriffs entweder erfolgen könnte, indem dem Zeitphänomen selbst phänomenologisch nachgegangen werden würde und so deutlich werden würde, wo Vgl. Kapitel 9 dieser Arbeit. GA 21, 204. 402 In der Folge wird sich eine weitere Problematik Kants herausstellen, die jedoch hier keinen Eingang findet, da sie ihren Ursprung nicht in Kant selbst trägt, sondern eine übernommene ist und zwar der cartesianische Ansatzpunkt, den Kant Heidegger zufolge übernimmt. Diese Problematik für Kant ist Heidegger zufolge grundlegender, da sie für ihn selbst nicht in gleicher Hinsicht in den Blick kommt und ist mit beiden oben genannten Problemen verbunden. 403 Vgl. hierzu auch GA 21 206 f. 404 Insofern es der Zeitbegriff selbst ist, der zur Auslegung kommen soll, kann es dabei zunächst nur um eine Anzeige dessen gehen, wie überhaupt nach der Zeit zu fragen ist. Aus Hauptteil II wissen wir darüber hinaus, dass Heidegger bereits eine weitgreifende Auslegung der Zeit im Rücken hat. Wenn Heidegger hier also die Frage nach der Zeit stellt, wissen wir, dass damit eine prinzipielle philosophische Fragestellung eingeführt wird, nicht die Frage nach einem isolierten Begriff. 400 401
201 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Heideggers Kantinterpretation
Gegenwart ein Modus der Zeit ist oder dadurch, dass wir uns an das dogmatische Resultat des ersten Hauptstückes der Vorlesung als Leitfaden halten und diesbezüglich die temporalen Charakter von Aussage und Synthesis deutlich machen. Heidegger entschließt sich an dieser Stelle aufgrund des praktischen Rahmens der Vorlesung für den zweiten Weg, auch wenn er den ersten für den phänomenologisch tiefgehenderen hält. 405 Auf diesem Wege arbeitet Heidegger nun zunächst, wie in seinen vorherigen Werken – und dies macht abermals den Hauptteil der Untersuchung aus – Grundstrukturen des Daseins, namentlich hier primär die Sorge als Sein des Daseins, aus, um nachfolgend an ihnen die Temporalität dieser Strukturen deutlich zu machen. Wir haben an dieser Stelle den Vorteil, Heideggers bis zu diesem Punkt erarbeitetes Zeitverständnis in Bezug auf die bis hierin ausgelegten Grundstrukturen des Daseins aus dem zweiten Hauptteil im Rücken zu haben. 406 Wir werden in diesem Sinne in der nachfolgenden Auslegung der Grundstrukturen des Daseins und des Zeitphänomens nur auf diejenigen Stellen Bezug nehmen, die explizit über das in Hauptteil II erarbeitete Daseins- und Zeitverständnis Heideggers hinausgehen. Inhaltlich bezieht sich dies im hauptsächlichen, wie erwähnt, auf die Grundart des Daseins als Sorge, welche in den bereits behandelten Werken nur peripher zur Sprache kam, hier jedoch im Sinne des Seins des Daseins eine ausgezeichnete Rolle einnimmt. Es geht Heidegger an dieser Stelle der Vorlesung und der Erarbeitung der phänomenologischen Chronologie insgesamt, wie bereits eingeleitet, darum, die Einheitlichkeit der Bedingungen der Möglichkeit der Falschheit, wie sie im ersten Hauptstück der Vorlesung erarbeitet wurden, aufzuzeigen und die These dabei ist, dass diese in der Temporalität liegt. Was dabei aber deutlich werden soll, ist »der ganze durch sie umgrenzte Seinszusammenhang« 407 und dieser ist nichts anderes als »Verhaltung – Dasein.« 408 Die ausgearbeiteten Bedingungen der Möglichkeit der Falschheit führt Heidegger nun gemäß der in Hauptteil II dieser Arbeit ausgeführten Beispiele des Vgl. GA 21, 205 ff. Ohne das Zeitverständnis Heideggers, wie es bis zu diesem Punkt bereits entwickelt ist, untersucht zu haben, könnte das Nachfolgende nicht verstanden werden, insofern Heidegger hier nicht inhaltlich durchblicken lässt, warum und inwiefern er überhaupt darauf kommt, dass das Dasein selbst mit dem Phänomen der Zeit. 407 GA 21, 208. 408 GA 21, 208. 405 406
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Heideggers Versuch einer Bestimmung der Zeit
Rehs und der Kreide auf die Phänomene des Begegnenlassens von etwas und das Schon-haben von etwas zurück. 409 Diese legt Heidegger als »Schonsein-bei« und »Aussein-auf«, als Seinsphänomene des Daseins, aus. 410 Heidegger geht es nun darum, die Einheitlichkeit dieser Phänomene aufzudecken. Diese Einheitlichkeit ist nicht so zu verstehen, dass ein Phänomen aus dem anderen hervorgeht oder aus diesem ableitbar ist, sondern so, dass erklärt werden soll, wie sie mitund nebeneinander sind und sein können. Heidegger macht in diesem Sinne abermals anhand des Beispiels der Kreide deutlich, dass es nicht etwa so ist, dass ich erst mit der Kreide umgehe und dann nach dem Wesen der Wahrheit frage, vielmehr ist es so, »daß die Seinszusammenhänge gerade umgekehrt ›gelagert‹ sind.« 411 Heidegger erläutert, dass erst aus dem Absehen auf »die Gewinnung und Bereitung des Verständnisses von Wahrheit her« 412 das Dasein auf die Kreide kommt und sich das Sein zur Welt in ein Besorgen dieses Umweltdinges legt. Heidegger fasst folglich die Grundart des Daseins darin, dass es ihm in seinem Sein um das Sein selbst geht. Diese Grundart des Daseins nennt Heidegger »Sorge«. 413 Heidegger bringt den Begriff der Sorge zugleich mit seiner Einführung in Zusammenhang mit der Möglichkeit. Er schreibt in Bezug darauf, dass das Dasein auf sein eigenstes Sein aus ist: »Der Verhaltungszusammenhang ist – letztlich, aber nicht einzig – in seinem Um-zu darauf orientiert, daß das Dasein in der Möglichkeit sei, als welche es sich gewählt und in die es sich vorgelegt hat.« 414 Die Möglichkeit, so erinnern wir uns, kam in der Abhandlung Der Begriff der Zeit als inhaltliche Bestimmung des Seinsmodus der Eigentlichkeit ins Spiel. 415 Hier wird er in Zusammenhang mit der Sorge als Grundart des Daseins gebracht. Die Eigentlichkeit wurde an jener Stelle mit der Uneigentlichkeit in Verbindung gebracht und gesagt, dass »[d]as eigentliche Sein des Daseins ist, was es ist, nur so, daß es das uneigentliche eigentlich ist, d. h. in sich ›aufhebt‹. Es ist selbst nichts, was gleichsam für sich neben dem uneigentlichen bestehen sollte
409 410 411 412 413 414 415
Vgl. GA 21, 209. Vgl. GA 21, 210. GA 21, 219. GA 21, 219. Vgl. GA 21, 220. GA 21, 119 f. Vgl. Kapitel 9.
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und könnte.« 416 Insofern die Sorge nun als das Phänomen eingeführt wird, welches das Mit- und Nebeneinander der Seinsphänomene und der Seinsmodi der Uneigentlichkeit und Eigentlichkeit erklären soll, fragen wir uns, ob der Begriff der Möglichkeit uns mehr sagen kann über die Konstitution der Eigentlichkeit selbst. Heidegger kommt erst an späterer Stelle auf den Begriff der Möglichkeit zurück. Demnach ist hier der Zusammenhang von Eigentlichkeit und Sorge in ihrem Bezug zum Begriff der Möglichkeit lediglich festgehalten. Der Tatbestand als solches, dass es dem Dasein um sein Sein geht, ist Heidegger zufolge weder etwas grundsätzlich Neues in der Philosophiegeschichte noch das, worum es letztlich dabei geht. Kant hat, so Heidegger, dasselbe im Auge gehabt, wenn er in der Grundlegung der Metaphysik der Sitten den Menschen als ein Wesen bestimmt, das als Zweck an sich selbst existiert. 417 Nicht jedoch hat Kant Heidegger zufolge diesen Tatbestand hinsichtlich eines primären Seinsverständnisses interpretiert, was Heidegger nun als die eigentliche Aufgabe begreift: dass es dem Dasein um sein Sein geht hinsichtlich eines primären Seinsverständnisses zu interpretieren bedeutet, diese Seinsart (das Dasein) in ihrem Sein zu erfassen. 418 Das Dasein ist, wir erinnern uns, Heidegger zufolge das Gebiet, was die Philosophie befragt. Wie also ist die Sorge in diesem Sinne näher zu verstehen? Zunächst hält Heidegger fest, dass zur Sorge die volle bereits ausgearbeitete Daseinsstruktur gehört, diese demnach nicht aus der Sorge abgeleitet vorgestellt werden darf. Sorge ist damit zugleich und immer schon ein Besorgen, da sie eine Bestimmung des Daseins als In-der-Welt-sein ist. Auch die Für-sorge ist eine gleichursprüngliche Möglichkeit des Daseins wie das Besorgen. Wie ist nun die Einheit dieser Grundstrukturen, die Modi der Uneigentlichkeit und der Eigentlichkeit inbegriffen, d. h. die Einheit des Daseins, vorzustellen? 419 GA 64, 81. Zitiert nach GA 21, 220; nachzulesen in: Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Akademieausgabe Bd. IV, S. 428. 418 Vgl. GA 21, 220 f. 419 Heidegger merkt hier an, dass diese Frage in der Philosophiegeschichte zumeist unter dem Titel des Ich und der Einheit des Ichs behandelt wurde. Er weist dabei auf Kants Satz, dass das »Ich denke« alle meine Vorstellungen muss begleiten können, hin (zitiert nach GA 21, 227; nachzulesen in KrV, B 131). Es geht dabei, so Heidegger, um nichts anderes als darum, »daß die jeweilige Verhaltungsmannigfaltigkeit des Daseins von ihm selbst als seine einheitlich erfaßbar ist.« (GA 21, 227). Dies gibt uns einen 416 417
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Heidegger kommt in diesem Zusammenhang zunächst auf den Begriff der Möglichkeit und mit ihm auf den Modus der Eigentlichkeit des Daseins zurück. Er weist hierbei darauf hin, dass der Modus jeweils eine mögliche Verhaltungsweise ist und meint damit, dass sich das Dasein grundsätzlich in eine andere Verhaltungsweise legen kann. Die Möglichkeit bleibt dem Modus erhalten, auch wenn eine Verhaltungsweise faktisch gewählt wird, insofern das Dasein diesen Modus grundsätzlich aufgeben kann. Es wird hierbei deutlich, dass die Möglichkeit substanziell zum Modus der Eigentlichkeit (und Uneigentlichkeit) gehört. Was dies jedoch über die Konstitution der Eigentlichkeit selbst sagt, muss uns auch hier verschlossen bleiben, denn Heidegger weist nun darauf hin, dass »[D]er Sinn von Möglichkeit und die Art der Möglichkeitsstrukturen, die dem Dasein als solchem zugehören, […] uns […] bis heute [gänzlich verschlossen sind].« 420 Die folgende Ausführung Heideggers legt jedoch weiter aus, wie die Eigentlichkeit als Faktizität (d. h. nicht in dem, wie sie selbst ist, sondern in dem, dass sie ist) neben der Uneigentlichkeit in einer Einheit des Daseins vorgestellt werden kann. Dies führt uns zugleich auf die Grundart der Sorge zurück. Heidegger beginnt diese Ausführung damit, dass er darauf hinweist, dass das Dasein jeweils als mein Dasein verstanden werden muss. Diese Aussage, dass »Dasein wesenhaft je meines« 421 ist, ist nicht allgemein zu verstehen, sondern dahingehend, dass es so oder so, in dieser oder jener bestimmten Weise, meines ist. 422 Dass das Anhaltspunkt über den Zusammenhang, in dem Heidegger die Einheit der Apperzeption sieht. 420 GA 21, 228. Diese Problematik liegt Heidegger zufolge in der Bestimmung des Begriffs der Möglichkeit in der Philosophiegeschichte im Sinne der Modalität und mit ihr der Aussage und ihrer Gewissheit verwurzelt. Diese Bestimmung fasse die Modalität neben Wirklichkeit und Notwendigkeit lediglich als Bestimmungen des Seins der Natur (vgl. GA 21, 228). 421 GA 21, 229. 422 Heidegger schreibt hier: »[…] sofern es sich immer schon entschieden hat, in welcher Weise es meines ist, – sich entschieden hat in dem Sinne, daß es nicht notwendig selbst die Entscheidung gefällt hat, sondern daß über das Dasein schon entschieden wurde.« (GA 21, 229). Die paradoxe Formulierung zwischen »sich immer schon entschieden« und »daß über das Dasein schon entschieden wurde«, dass also das Dasein passiv und aktiv bezüglich seines Seins zu sein scheint, erinnert an die Freiheitsproblematik in Schellings Freiheitsschrift, mit der sich Heidegger im Sommersemester 1936 erstmals in einer Vorlesung auseinandersetzt. Lore Hühn weist auf Heideggers in der Forschung oft übersehene frühe Schellingauseinandersetzung in ihrer Einleitung zu dem Band Heideggers Schelling-Seminar, das sie herausgibt, hin. Vgl. hierzu:
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Dasein je meines ist, bedeutet so zugleich, dass es mehr oder weniger zu eigen ist, mehr oder weniger als eigenes verstanden und ergriffen, bzw. defizient und verloren ist. Diese Defizienz würden wir jedoch falsch verstehen, so Heidegger, wenn wir sie als ein Mangel an Sein interpretieren würden, so, als wäre sie ein Nichts. Vielmehr kann die so ausgedrückte Uneigentlichkeit das »Dasein in seiner vollen Konkretion bezeichnen […].« 423 Beide Möglichkeiten des Daseins, die Eigentlichkeit wie die Uneigentlichkeit, gründen Heidegger zufolge darin, dass das Sein meines ist, insofern das Dasein sich nur verloren haben kann oder noch nicht gefunden haben kann »sofern es seinem Sein nach meines ist, d. h. mögliches eigentliches.« 424 Wie ist nun die Uneigentlichkeit neben der Eigentlichkeit möglich? Wie kann ich in der Welt aufgehen und mich an sie verlieren, wenn es mir (eigentlich) um mein Sein selbst geht? Heidegger erklärt, dass dies nur vorstellbar ist, indem das Aufgehen in der Welt im Sinne des Besorgens und des Sichverlierens eine Modifikation des Seins selbst ist. Diese Modifikation besteht nun Heidegger zufolge darin, dass »in diesem in der Welt aufgehenden Besorgen das Dasein sich einzig in dieser Verhaltung versteht.« 425 Dies bedeutet, dass das Dasein in diesem Modus sich nur kennt und versteht, sofern es sich zu seiner besorgten Welt verhält und es so die Welt und die Dinge sind, die über das Sein des Daseins bestimmen. 426 Es ist nun auch in diesem Modus der Uneigentlichkeit so, dass die primäre Struktur der Hühn, Lore: Heidegger – Schelling im philosophischen Zwiegespräch – Der Versuch einer Einleitung. In: Lore Hühn/Jörg Jantzen (Hg.): Heideggers Schelling-Seminar (1927/28). Schellingiana 22. Stuttgart-Bad Cannstatt 2010, 3–44. Insbesondere folgende Bemerkung: »Es ist das erkenntnisleitende Interesse meines Beitrags, darauf aufmerksam zu machen, dass entscheidende Impulse für die zentralen Gedanken von Heideggers Spätphilosophie, besonders der Kehre und Gelassenheit, von der Auseinandersetzung mit Schelling ausgegangen sind. Und dies nicht erst etwa mit Heideggers Ausarbeitung des seinsgeschichtlichen Denkens, sondern weitaus früher, noch in der Phase der Fundamentalontologie von Sein und Zeit, wie dies die in diesem Band veröffentlichten Protokolle eindringlich belegen.« 423 GA 21, 229. 424 GA 21, 229. Die Eigentlichkeit und Uneigentlich ist ebenfalls nicht im Sinne eines mehr oder weniger an Lebendigkeit zu verstehen, wie Heidegger an ebendieser Stelle betont. 425 GA 21, 231. 426 Heidegger erläutert hier: »[D]ie besorgte Welt also, die Dinge, mit denen ich zu tun habe, sind es, die dann letztlich über mich und mein Sein bestimmen, von denen her – ihrer Bewandtnis – ich mich verstehe und meine Seinsmöglichkeiten primär oder mitgängig regle.« (Vgl. GA 21, 231.)
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Sorge, dass es dem Dasein um sich selbst geht, erhalten bleibt. 427 Heidegger fasst in diesem Sinne zusammen, dass die Zusammenhänge zwischen der Sorge als eigentlichem Sein und dem verfallenden Besorgen so sind, dass sie »in der Idee der Sorge selbst als im Sinn des Seins des Daseins liegen.« 428 Hiermit kommt Heidegger nun darauf zu sprechen, wie dieser Seinszusammenhang im Sinne eines ursprünglichen Zeitverständnisses eigentlicher verstanden werden kann.
13.4 Die Vorbereitung der Temporalität der Sorge In der Auslegung der bisher erarbeiteten Strukturen der Sorge als Sein des Daseins in Hinblick auf die Temporalität fasst Heidegger nun die Sorge zunächst als »dem Dasein geht es um etwas.« 429 Dass es dem Dasein um sein Sein geht, wurde bereits erläutert, hier jedoch soll das »es geht um« hervorgehoben werden, nämlich in Hinblick darauf, dass diese Seinsstruktur keine »feste Habe« ist. Die nachfolgende Aufklärung dieses »Aussein-aufs« macht eine weitere Problematik für die inhaltliche Bestimmung der Eigentlichkeit deutlich: Heidegger schreibt, dass dieses »Sein-zu« seinem eigensten Sinn nach nie feste Habe werden kann. Heidegger erklärt weiter, dass dieses »Sein-zu« nichts anderes ist als das »Sein des Daseins, nämlich je das Sein, das es noch nicht ist, aber sein kann; in dem ›es geht um‹ liegt demnach ein Aussein-auf das eigene Sein qua Sein-können.« 430 Es wird hier demnach deutlich, dass die Eigentlichkeit des Seins im Grunde so bestimmt wird, dass sie nie als »erreicht« gefasst werden kann. Als solches ließe dies die Möglichkeit offen, dass die Eigentlichkeit ein Vollzug ist, welcher sich jeweils vollziehen muss, um eben dieser Vollzug zu sein. Auch in diesem Fall aber müsste der Vollzug Es ist Heidegger zufolge so, dass die Eigentlichkeit in einer bestimmten Weise doch von der Uneigentlichkeit abhängt. Er schreibt: »Während es dagegen [gegen den Erwerb], soll das Dasein sich selbst in seiner Eigentlichkeit gewinnen, also nicht ausschließlich und primär an seine Welt verfallen sein, notwendig ist, daß das Dasein, um sich zu gewinnen, zuvor schon sich verloren haben muß; es muss sich verloren haben nämlich in dem Sinne, daß es in der Möglichkeit steht aufgeben zu können allen weltlichen Erwerb und Besitz.« (GA 21, 232.) 428 GA 21, 233. 429 GA 21, 234. 430 GA 21, 235. 427
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selbst irgendetwas sein, etwas, das nicht allein in Abgrenzung gegen ein »Was« in seinem »Wie« positiv bestimmt werden kann. Auch in diesem Kontext geht Heidegger nicht auf das ein, was das »Sein-können« ausmacht und wie dieses in Eigentlichkeit gedacht werden kann. Wir erhalten jedoch auch hier eine weitere Auslegung dessen, wie sich die Grundart des Daseins in Bezug auf den Modus der Uneigentlichkeit vorstellen lässt. Heidegger legt in diesem Sinne die Temporalität der Struktur weiter aus, indem er die besorgende Sorge als »Sich-selbst-vorwegschon-bei-seiner-Welt-sein« fasst. 431 Indem Heidegger sich zuvor für den zweiten Weg entschieden hat, die Temporalität zum Ausdruck zu bringen, hangelt er sich nun am Zeitphänomen, wie es zunächst erfahren ist, entlang. Als solche ist die Zeit, Heidegger zufolge, als »Jetzt-Zeit« verstanden. 432 Dass etwas zeitbestimmt ist, bedeutet in diesem Sinne, dass etwas als jetzt Vorhandenes erfahren wird. Heidegger schreibt: »So Begegnendes ist ›in‹ der Zeit, oder wie wir auch sagen, es ›fällt‹ in die Zeit […].« 433 Heidegger fragt nun, ob das »schon« in dem erarbeiteten »Schon-sein-bei« im Sinne dieses Zeitverständnisses als »früher« verstanden werden kann. Dies ist jedoch Heidegger zufolge nicht sinnvoll, da das Seiende nicht früher oder später sein kann als es selbst. Auch das »Sich-vor-weg-sein« kann daher nicht in diesem Zeitverständnis, d. h. als ein früher gefasst werden. Heidegger schließt daher, dass »schon« und »vor« als Zeitcharaktere kein Seiendes betreffen können, welches »in die Zeit fällt«. Die Sorge, indem sie als »schon« und »vor« zwar durch Zeitcharaktere bestimmt ist, jedoch nicht im Sinne eines »in der Zeit Seienden«, muss Heidegger zufolge daher einen anderen zeithaften Sinn haben. Was hier demnach Heidegger zufolge herausgestellt werden muss, ist ein anderer Sinn von Zeit. Vorerst hält Heidegger aber erneut fest, wie die Sorge nicht zeitlich gefasst werden kann: sie ist »nicht bezogen auf ein Jetzt, in welches ein Vorhandenes fällt und fallen kann […].« 434 Insofern die Sorge das Sein des Daseins ausmacht, sind »vor« und »schon« damit auch keine Zeitbestimmtheiten eines Seienden, sondern die eines Seins. Den zeithaften Sinn dieser CharakVgl. GA 21, 235. Heidegger schreibt: »Sofern das Besorgen der Zeit Rechnung tragen und mit ihr rechnen und im Hinblick auf sie etwas berechnen soll, muß sie als Jetzt-Zeit verstanden werden.« (GA 21, 240). 433 GA 21, 241. 434 GA 21, 242. 431 432
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tere bezeichnet Heidegger als »Temporalien«. 435 Um diese nun eigentlich in den Blick zu bringen und dadurch die ursprüngliche Zeit zu erfassen, ist es Heidegger zufolge nun auf dem Weg, den er nach eigener Angabe aus praktischen Gründen der Vorlesungsökonomie einschlug, nötig, uns das alltägliche Zeitverständnis als Leitfaden der Abhebung näher zu bringen. 436 Im Sinne dieser Absicht wendet Heidegger sich der Geschichte der philosophischen Interpretation des Zeitbegriffs zu, wobei er Aristoteles’ Zeitbegriff, Hegels, Bersons sowie Kants näher untersucht. Kants Zeitbegriff wird dabei jedoch eine besondere Rolle einnehmen.
13.5 Die Einbettung der Kantinterpretation mit Blick auf den Zeitbegriff in der Philosophiegeschichte Das Zeitverständnis, wie es sich aus dem Jetzt her und aus der alltäglichen Zeiterfahrung zunächst ergibt, bezeichnet Heidegger in der Vorlesung als »vulgären Zeitbegriff«. 437 In der Philosophiegeschichte wurde, so Heidegger, allein dieses Zeitverständnis begrifflich ausgearbeitet. Es kennzeichnet sich Heidegger zufolge insofern, dass die Vergangenheit und die Zukunft jeweils aus dem Jetzt heraus als Nicht-mehr-jetzt und Noch-nicht-jetzt verstanden werden. Aus der so verstandenen Zeit heraus kann jedoch Heidegger zufolge nur etwas als zeitlich bestimmt werden, wenn es die Seinsart der Vorhandenheit hat oder zumindest so verstanden wird, als ob es sie hätte – denn nur solches Seiende kann ablaufen und durchgehen durch ein Jetzt. Diese Seinsart des Vorhandenen kommt, so Heidegger, primär der Natur und der Welt zu. 438 In diesem Sinne deutet Heidegger voraus, dass es einen inneren Zusammenhang zwischen der Vorherrschaft der Anschauungswahrheit und dem herrschenden Zeitverständnis der Zeit als Jetzt-Zeit in der Philosophiegeschichte gibt. 439 Das vulgäre Zeitverständnis dominiert nun nicht zufällig die Philosophiegeschichte und ist nicht einfach eine leere Erfindung, so Heidegger, sondern ergibt sich daraus, dass sich dieses Zeitverständnis in der Vgl. GA 21, 243. Vgl. GA 21, 243. 437 Vgl. GA 21, 244. Meiner Kenntnis nach benutzt Heidegger diese Terminologie hier zum ersten Mal. 438 Vgl. GA 21, 244. 439 Vgl. GA 21, 251. 435 436
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alltäglichen Erfahrung aufdrängt. In diesem Sinne vermag die Interpretation der Geschichte des Zeitbegriffs uns nach Heidegger jedoch eine ontologische Bedeutung, die mit diesem verbunden ist, offenzulegen. 440 Das besorgende Sein nimmt Heidegger zufolge die Zeit als etwas, mit dem sie im Besorgen der Weltvorkommnisse rechnet. In diesem Sinne ist die Zeit auch in der theoretischen Entdeckung und Bestimmung der Natur verstanden, da auch in ihr die Vorgänge als »in der Zeit« bemessen und berechnet werden. 441 Indem nun die Idee der Natur auf alle Vorgänge des Vorhandenen ausgeweitet wird und so die psychischen wie die physischen Vorgänge umfasst, so werden auch diese in denselben Sinne als »in der Zeit« verstanden. 442 Kant hat Heidegger zufolge dies in der Folge von Aristoteles damit hervorgehoben, dass bei ihm »die Zeitbestimmung nicht nur die Gegebenheit des äußeren, sondern des inneren Sinnes, ja des äußeren wie des inneren sei.« 443 Heidegger führt das an dieser Stelle so ein, als ob Kant dies explizit behaupten würde. Wie jedoch im ersten Hauptteil aufgewiesen wurde, lässt sich diese Interpretation nur implizit aus dem Zusammenziehen mehrerer Zusammenhänge schließen. So schreibt Kant in der transzendentalen Ästhetik, dass der innere Sinn sowohl die inneren als auch die äußeren Erscheinungen umfasse (insofern die äußeren Erscheinungen auch innerliche sind). 444 Wenn Kant nun im Schematismus die transzendentalen Zeitbestimmungen für die Verbindung der Kategorien mit den Erscheinungen verantwortlich macht, so lässt sich daraus folgern, dass die Zeit die Erscheinung insgesamt umfasst. Es zeigt sich hier an, dass Heidegger in der Interpretation der Zeit in Kant das kantische System vor und im Auge hat. Diese Zeit, in die die Weltbegebenheiten wie die Naturvorgänge fallen, bezeichnet Heidegger nun als Weltzeit. Sie ist als solche nicht vom vulgären Zeitverständnis unterschieden, insofern auch hier die Jetzt-Zeit gemeint ist, in der Vorhandenes begegnet. Der systematiVgl. GA 21, 246. Vgl. GA 21, 247: »Die Wissenschaft von der Natur behält grundsätzlich den Boden und den Horizont des Besorgens der Welt, d. h. sie rechnet im Bestimmen der reinen Naturvorgänge mit der Zeit; in grundsätzlich demselben Sinn wie vorwissenschaftliches Sichorientieren und Rechnungtragen; z. B. hinsichtlich des weltlichen Grundvorkommnisses des Wechsels von Tag und Nacht.« 442 Vgl. GA 21, 247. 443 GA 21, 248. 444 KrV, B50. 440 441
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sche Ort der Behandlung der Zeit ist Heidegger zufolge, wie bereits in Hauptteil II ausgearbeitet wurde, der Index für das jeweilige Zeitverständnis. Ist die Zeit in Zusammenhang mit Natur, Welt oder geschaffenem Seienden behandelt, so handelt es sich um ein Verständnis der Weltzeit, d. h. des In-der-Zeit-seins oder In-der-Zeit-Ablaufens. 445 Dies ist Heidegger zufolge auch in Kant der Fall, wenn er die Frage »nach der möglichen wissenschaftlichen Erkenntnis der Natur« 446 stellt. Hiermit wendet sich Heidegger nun der Deutung der Zeit in Hegel zu und behauptet, dass dieser die Zeit im Sinne der Weltzeit aus dem Jetzt heraus und damit als ein Ablaufen versteht. 447 An dieser Stelle sollen nur einige für das Zeitverständnis relevanten Hinweise aus dieser kurzen Auslegung zu Tragen kommen. Zum einen weist Heidegger darauf hin, dass Hegel die Zeit, wie auch Aristoteles, als ein Werden versteht, sie jedoch überall als ein Verschwinden und Vergehen fasst, konsequent daraus, wie es in der alltäglichen Erfahrung vorgegeben ist (wir sagen die Zeit vergeht, nicht die Zeit entsteht; die Zeit verfließt etc.). Warum die Zeit als ein Vergehen und nicht als ein Entstehen gefasst wird, kann Hegel Heidegger zufolge nicht erklären. Weiterhin weist Heidegger darauf hin, dass insofern Hegels Interpretation der Zeit in der Jetzt-Zeit verhaftet bleibt, er die Vergangenheit und Zukunft als Nichtsein fasst. 448 Insofern diese jedoch überhaupt etwas seien, seien sie als subjektive Vorstellungen wie Furcht und Hoffnung abgetan. Aus Heideggers Auslegung an dieser Stelle wird deutlich, dass er weder mit der Charakterisierung von Furcht und Hoffnung als subjektive Vorstellungen, noch mit dem Nichtsein von Vergangenheit und Zukunft einverstanden sein wird. 449 Nach dieser Interpretation wendet sich Heidegger nun der Auslegung der Zeit in Kant zu.
Heidegger weist damit implizit zugleich darauf hin, dass das, was er mit der Zeit ontologisch im Blick hat, nicht dieselben Dinge betrifft, d. h. nicht auf Vorhandenes hinaus ist. Diese Bestimmung ist selbstverständlich allein eine negative. 446 GA 21, 248. 447 Die Zeit und das Werden sieht Hegel Heidegger zufolge als aus der Zukunft über die Gegenwart in die Vergangenheit ablaufend. Vgl. GA 21, 264. 448 Vgl. GA 21, 261; vgl. außerdem: Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften. Bd. 2, § 259. Ie B. 449 Vgl. GA 21, 262. 445
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13.6 Kant und die Problematik der Temporalität Heidegger hält gleich zu Beginn seiner Kantauslegung für seine Studierenden fest, dass auch dieser in einem Zeitverständnis als Weltoder Naturzeit verhaftet bleibt. Gleichzeitig ist es Kant, so Heidegger, der am weitesten zur Problematik der Temporalität vorgedrungen ist. Die Problematik der Temporalität, so erinnern wir uns, bedeutet zugleich die ausgezeichnete Rolle der Zeit für die Entwicklung eines eigentlichen Seinsverständnisses zu erkennen und den Zeitbegriff eigentlich zu erfassen. Wie nun ist Kant Heidegger zufolge zu dieser Problematik vorgedrungen, wenn er doch in einem Verständnis der Weltzeit verhaftet bleibt – ein Zeitverständnis, welches Heidegger zufolge, wie dargelegt wurde, beide oben genannten Aufgaben, ein eigentliches Seinsverständnis und einen eigentlichen Zeitbegriff zu entwickeln, unmöglich macht? Heidegger gibt uns gleich zu Beginn einen Hinweis für die Beantwortung dieser Frage: während der psychische Ablaufzusammenhang in die Zeit fällt, fällt das »Ich denke« und mit ihm die Einheit des Bewusstseins in Kant gerade aus der Zeit heraus. 450 Insofern das Indie-Zeit-Fallende zuvor von Heidegger im Sinne des Vorhandenen verstanden wurde, weist dies in diesem Kontext darauf hin, dass Kant die Einheit des Bewusstseins nicht als vorhanden versteht; insofern Heidegger kritisierte, dass die Zeit lediglich im Sinne der Weltzeit verstanden wird darauf, dass Kant die Zeitlichkeit (Temporalität) der Einheit des Bewusstseins nicht gefasst habe. Wenn Heidegger in der Folge erwähnt, dass die Zeit in Kant im weitesten Sinne auf die Natur orientiert bleibt, 451 so können wir eines bereits festhalten: zugleich mit seinem Zeitverständnis hebt Heidegger darauf ab, dass das Sein in der Philosophiegeschichte im Sinne des Seins der Natur verstanden wurde, dass es so auch von Kant im Grunde genommen gefasst ist und dass dies, wenn überhaupt ein angemessenes Verständnis von Heidegger schreibt: »Es ist aber wohl zu bedenken, wenn wir sagen, die psychische Natur, der psychische Ablaufzusammenhang der Vorstellungen im weitesten Sinne sei durch die Zeit bestimmt, so ist hier eine wesentliche Ausnahme zu machen, die dann die ganze Problematik bei Kant bestimmt, nämlich daß gerade die eigentliche Bestimmung der Subjektivität, also das Ich denke, das alle meine Vorstellungen muß begleiten können, damit das Psychische überhaupt ein Zusammenhang ist im Sinne eines einheitlichen, daß dieses Ich denke oder die transzendentale Apperzeption, die Einheit des Bewußtseins gerade aus der Zeit herausfällt.« (GA21, 269). 451 Vgl. GA 21, 269 f. 450
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Sein, so in jedem Fall kein ursprüngliches Seinsverständnis konstituiert. Wenn Heidegger wiederholt darauf hinweist, dass das Zeitverständnis eine Indexrolle für das übernimmt, was ontologisch jeweils behandelt wird, so weist er darauf hin, dass mit dem Zeitverständnis im Sinne der »Jetzt-Zeit« immer nur das weltlich Vorhandene, das Seiende, in den Blick kommt und kommen kann. Dabei jedoch ist die Seinsfrage jeweils bereits übersprungen, insofern wir nicht mehr in den Blick bekommen können, um welches Sein es dem Dasein überhaupt geht – was überhaupt die Fraglichkeit des Daseins ist – und dies ist in Heideggers Sinne, wir wissen es bereits: sein eigenes Sein. Erst insofern das Dasein sich aus der besorgten Welt heraus kennt, sich sein Sein von ihr geben lässt, kommt die Welt und mit ihr die Natur als Seiende in Frage. Dies jedoch ist, obwohl bedeutend für das weitere Verständnis der Interpretation, hier ein Vorgriff. Heidegger macht im Anschluss an seine Kritik der Marburger Kantauslegung in der Vorlesung deutlich, was es ist, das durch Kants Zeitverständnis im Sinne der Weltzeit unaufgeklärt und ungelöst bleiben muss: es ist das Problem der Einheit von Anschauung und Denken. Dieses Problem wurde, so zweifelt Heidegger, unter Umständen nicht einmal in seinem eigentlichen Sinn erfasst. Erst wenn wir, so Heidegger, durch ein ursprüngliches Zeitverständnis die transzendentale Apperzeption in ihrer ursprünglichen Zeitlichkeit fassen können, können wir zugleich die Verbindung zur transzendentalen Ästhetik schließen und somit die Einheit von Denken und Anschauung eigentlich in den Blick bringen. Blicken wir zurück auf den ersten Hauptteil so wird deutlich, dass Heidegger hier das Problem, wie die Zeit in der transzendentalen Ästhetik als der Sinnlichkeit angehörig mit der Zeit in ihrer direkten Verbindung zu den Kategorien und ihrer vermittelnden Rolle in der transzendentalen Analytik in einem Zeitverständnis zusammen gebracht werden können, im Auge hat. Dies jedoch ist, wenn wir uns die Darlegung aus dem ersten Hauptteil systematisch ins Gedächtnis rufen, gleichbedeutend mit der Frage, wie das Denken überhaupt die Erscheinungen denken kann, angesichts ihrer Ungleichartigkeit. Über die ontologische Frage, ob die Erscheinungen nicht hierfür so beschaffen sein müssen, dass sie denkbar sind hinaus, 452 stellt sich hiermit die Frage nach dem Sinn der Heidegger deutet diese Frage an, wenn er aufzeigt, dass die Analytik von Verstand und Sinnlichkeit nicht erklären kann, wie ich »so etwas wie eine Kreide sehe«, d. h. der Zweck des Gegenstandes der Kreide wie in der Als-Struktur ausgelegt ist konstitutiv
452
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Erkenntnistheorie selbst. Wollen wir auf eine Erkenntnis der Möglichkeit der Naturerkenntnis überhaupt hinaus? Oder geht es uns nicht eigentlich und primär um eine Erkenntnis unserer selbst, oder in Kants Sinn, unseres Denkens? Ob Heidegger diese Fragen im Ausgang von Kant aufgreift, wird die nachfolgende Untersuchung aufzeigen. Auf die Problematik der Einheit von Anschauung und Denken und ihre Verbindung zur Temporalität kann Heidegger nun nach eigener Aussage im Kontext der Vorlesung nicht eingehen – wir finden in dieser zentralen Bemerkung jedoch einen Hinweis darauf und Beweis dafür, dass die Grundlage auf der Heidegger im Wintersemester 1927/28 und im Kantbuch das vorgängige (vorontologische) Seinsverständnis auslegt und mit ihm die Frage nach dem Sinn von Sein entwickelt, bereits 1925/26, vor der Fertigstellung von Sein und Zeit, erkannt und zentral thematisiert ist. 453
13.7 Heideggers Auseinandersetzung mit der transzendentalen Ästhetik Wenden wir uns dem weiteren Verlauf der Vorlesung und nun der konkreten Kantauslegung zu. Unsere Orientierung auf die Zeit bleibt dabei zunächst unthematisch, insofern Heideggers Interpretation selbst uns die Thematik der Zeit hergeben wird. Die Zeit wird demnach mit der Kantauslegung zugleich in den Blick kommen. Insofern die Zeit, wie wir in Hauptteil II dieser Arbeit ersehen konnten, für Heidegger kein isolierter Begriff ist, der neben anderen Begriffen erörtert werden kann, sondern der Sinn der Philosophie und des für meine Erkenntnis desselben. Der Zweck aber ist weder rein sinnlich noch rein verständig (im Sinne des kantischen Verstandesbegriffs), weder rein objektiv noch rein subjektiv. 453 Die Vorlesung Logik. Die Frage nach der Wahrheit hält Heidegger im Wintersemester 1925/26. Den ursprünglichen Plan der Vorlesung, wie er noch in der Einleitung dargelegt ist, ändert Heidegger während der Vorlesungszeit ab, sodass nun die radikalisierte Frage nach der Wahrheit (welche auch in der ursprünglichen Fassung gestellt werden sollte) im Sinne der Temporalität gestellt wird und dies in Zusammenhang mit Kant, dessen Werk im ursprünglichen Vorlesungsplan gar nicht vorkam. Hieraus lässt sich schließen, dass Heidegger zu Beginn des Wintersemesters im Jahre 1925 Kants Kritik der reinen Vernunft liest und im Zusammenhang des Problems von Anschauung und Denken die Zeit nun mit der Wahrheitsfrage korreliert. Was dies inhaltlich bedeutet, wird sich im Verlauf der vorliegenden Untersuchung an der Textauslegung darstellen lassen.
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menschlichen Daseins mit der Zeit gemeinsam in Frage stehen, dürfen wir, um Heideggers Kantinterpretation an der Zeit zu orientieren, sie eben nicht auf die Behandlung des Zeitbegriffs reduzieren. 454 Heidegger beginnt seine Auseinandersetzung bei der Transzendentalen Ästhetik und hierbei zeigt sich sogleich die eigentümliche Lesart der Kritik der reinen Vernunft durch Heidegger. Heidegger fasst das »zunächst begegnende Mannigfaltige«, das in der Anschauung Gegebene, in Kant als etwas, an dem ich mich in der natürlichen Umwelt orientiere und das als solches geordnet ist in Abgrenzung von einem wissenschaftlichen Denken. Die Unterscheidung von einem natürlichen Denken und einem wissenschaftlichen Denken mit der Unterscheidung zwischen Mannigfaltigem und Verstandesordnung zu identifizieren, wie Heidegger es hier tut, ist in Bezug auf Kant problematisch, insofern in der Grundlegung der Erfahrungserkenntnis gerade nicht erst das wissenschaftliche Denken, sondern das, was Heidegger hier als »natürliche Umwelt« bezeichnet, nämlich das Erkennen von Gegenständen überhaupt, begründet werden soll. Die Problematik erstreckt sich in diesem Sinne weiter, da Heidegger das, was insgesamt in der transzendentalen Ästhetik behandelt wird, dem natürlichen Orientieren zuordnet und die Erkenntnis durch den Verstand der wissenschaftlichen Erkenntnis. In seiner Interpretation sagt Heidegger nicht, dass er die Kritik der reinen Vernunft so auslegt, sondern lässt es so erscheinen als ob Kant dies so selbst dargelegt hätte. Dies ist in Bezug auf Kant problematisch, insofern diese Interpretation davon ausgeht, dass das Mannigfaltige bereits ein natürliches Orientieren ist – ein Ausdruck, den Heidegger im Zusammenhang des Besorgens im Kontext unserer Alltagserfahrungen verwendet. Der Ausdruck des natürlichen Orientierens deutet so an, dass das Mannigfaltige in Kant schon irgendeine Erkenntnis sei, im Sinne z. B. einer Erfahrungserkenntnis. Das Mannigfaltige in der Anschauung ist jedoch nicht allein unthematisch, wie Heidegger hervorhebt, sondern im Sinne der Erkenntnis ohne Verstand für Kant nichts. Es liegt hierin für Kant keine Abgrenzung von wissenschaftlichem und natürlichen Denken, sondern eine Analyse unserer Erkenntnis – das Mannigfaltige in der Anschauung ist nicht schon eine unthematische Erkenntnis, an der wir uns orientieren können, es ist lediglich ein Element der Erkenntnis, welches in der Diese Vorgehensweise ist eine zentrale Problematik in der Forschungsliteratur, wie in der Einleitung dargelegt.
454
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Analyse derselben erst bestimmt wird und nicht selbst etwas außerhalb der Erkenntnis für sich Bestehendes. Was Heidegger in Kants Mannigfaltigem in der Anschauung für sein Interesse herausliest, ist, dass es ein unthematisch schon Gegebenes gibt, d. h. dass etwas vorgegeben ist, »als die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens eines Mannigfaltigen überhaupt«, 455 was Heidegger an sein eigenes In-der-Welt-sein erinnern muss. Auf dieser Grundlage hebt Heidegger nun ein »Worüber« ab, auf dessen weitere Erörterung hier nicht weiter eingegangen werden soll, da es im Grunde genommen seine Daseinsanalyse wiedergibt, wie wir sie bereits kennengelernt haben, nur dass sie hier von kantischen Versatzstücken geleitet ist, welche jedoch nicht aus Kant herstammen. Wenden wir uns also anstatt diese Interpretation weiter zu verfolgen einem weiteren interessanten Hinweis aus Heideggers Auslegung der Anschauungsformen in Kant zu, welcher uns, auch wenn zweifelhaft in Bezug auf Kant, über Heideggers eigenes Zeitverständnis aufklärt. Heidegger schreibt: »[W]as Kant richtig phänomenologisch aufgewiesen hat von Raum und Zeit, [ist] daß sie vor jedem bestimmten Räumlichen und vor jedem bestimmten Zeitlichen gegeben sind.« 456 Wir können hier und wenn Heidegger in der Folge in Bezug auf diese Aussage Raum und Zeit als ursprünglich bezeichnet, ersehen, dass Heidegger Raum und Zeit als ursprünglicher versteht als die räumlichen und zeitlichen Dinge. Es deutet sich hier an, dass wir nach Heidegger ein Verständnis von den räumlichen und zeitlichen Dingen haben, weil wir ein Verständnis von Raum und Zeit haben, vielmehr als dass wir aus den räumlichen und zeitlichen Dingen Raum und Zeit erst gewinnen.
GA 21, 274. GA 21, 278. Sean Kelly schreibt die Anschauungsformen betreffend im Vergleich zum vorgängigen (vorontologischen) Seinsverständnis: »Heidegger’s leading idea here, though he never states it explicitly so far as I know, is that space and time considered as forms of intuition are analogous to the understanding of being as he articulates it in Being and Time. Like the understanding of being, space and time are not themselves objects, but they are nevertheless those already given background features of experience in terms of which we can understand any object to be the thing it is.« (Sean D. Kelly: Heidegger, Kant and Conceptualism, Talk given 3rd December 2015, Berkeley, CA, work in progress, 8.)
455 456
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Heideggers Versuch einer Bestimmung der Zeit
13.8 Die gegenseitige Angewiesenheit von Gegebensein und Gedachtwerden und das Fundament der Kritik der reinen Vernunft In Heideggers weiterer Interpretation thematisiert er nun den Bezug des Mannigfaltigen zum Verstand. Er interpretiert dabei, dass der wesensmäßige Bezug von Gegebenem (in der Sinnlichkeit) und Verstand in Kant offensichtlich und klar ist. Er schreibt: »In der Idee von Ordnung [durch den Verstand] liegt konstitutiv Hinblicknahme auf etwas, zu dieser gehört ein Worauf; aus diesem Worauf her ist Gegebenes als mögliches Ordenbares einer Ordnung artikuliert.« 457 Heidegger bringt das Gegebene in direkten Zusammenhang mit dem Mannigfaltigen der Sinnlichkeit. Er achtet hierbei nicht darauf, dass das, was das Gegebene in der Sinnlichkeit bei Kant ist (Erscheinung), nicht das Mannigfaltige der Sinnlichkeit a priori ist. Wenn Heidegger in der Folge das Mannigfaltige in der Sinnlichkeit thematisiert, so hat er dies direkt davor mit dem »Gegebenen« identifiziert. Er schreibt sodann: »Daß nun überhaupt das Mannigfaltige der Sinne [für Heidegger gleichbedeutend mit dem Gegebenen] Wesensbezug hat auf Ordnung (d. h. Bestimmung durch den Verstand), das steht für Kant von vorneherein fest.« 458 In unserer Auslegung Kants aus Kants System selbst heraus in Hauptteil I wurde deutlich, dass ein Wesensbezug zwischen dem Gegebenen (in der Sinnlichkeit) und dem Verstand gerade nicht deutlich ist. Beim Mannigfaltigen der Sinnlichkeit liegt die Sache anders – es ist also hier ein Problem, dass Heidegger nicht zwischen dem Gegebenen und dem Mannigfaltigen der Sinnlichkeit unterscheidet. Heideggers Urteil, dass das Gegebene in Kant Wesensbezug zum ordnenden Verstand hätte, ist problematisch. Denn obwohl nur Sinnlichkeit und Verstand gemeinsam die Erkenntnis ausmachen, ist Kant doch darauf hinaus, die Erkenntnis grundzulegen und dadurch erst auf die Möglichkeit synthetischer Sätze a priori aufmerksam zu machen – Erkenntnisse, die geradezu dadurch gekennzeichnet sind, dass die Sinnlichkeit in dem, was sie wesentlich bestimmt, d. h. die Empfindung, daraus ausgesondert ist. Gerade in Bezug auf die Zeit ist es in Kant relevant, dass das, was in der Sinnlichkeit Gegeben ist (z. B. das wirklich aufeinander Folgende), selbst nicht diesen »Wesensbezug« zum Ordnenden. Obwohl Heidegger in 457 458
GA 21, 282. GA 21, 282.
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Heideggers Kantinterpretation
der Verbindung von Sinnlichkeit und Verstand als solches in Kant also kein Problem sieht, kritisiert er, dass die Frage, wie Anschauung und Denken ihrem Sinn nach aufeinander bezogen sind, von Kant übersprungen wird. Es geht ihm dabei um ein Drittes, welches die Verbindung von Sinnlichkeit und Verstand in einem Seinszusammenhang erst ermöglicht. Er schreibt: Ich sage, Kant geht einfach von diesem Faktum der beiden Stämme aus, er hat nicht gezeigt in einer vorgängigen, radikaleren Untersuchung, inwiefern Anschauung und Denken, Gegebensein und Gedachtwerden, ihrem Sinne nach aufeinander angewiesen sind, er hat nicht gezeigt, welcher ursprünglichere Seinszusammenhang des Daseins selbst dieses Ineinander vielleicht fordern könnte […]. 459
Was hier thematisiert wird ist nicht, dass Kant auf seiner Grundlage tiefer in das Verhältnis von Verstand und Sinnlichkeit hätte eingehen sollen: es geht vielmehr um die Frage nach der Fundierung seines Systems und die Frage weist dabei auf eine tiefer liegende Frage hin: sollen Anschauung und Denken, Gegebensein und Gedachtwerden, in ihrer ursprünglichen Konstitution und ihrem Bezug verstanden werden, so muss zugleich eine andere Frage gestellt werden, als die, die die kantische Systematik aufbaut – wir müssen eine Frage stellen, die Anschauung und Denken, Gegebensein und Gedachtwerden gleichermaßen in den Blick bringen kann und positiv zu bestimmen vermag. Wenn Heidegger hier schreibt, dass ein »ursprünglichere[r] Seinszusammenhang des Daseins« dies fordern könnte, so legt er den Horizont der Frage in die Untersuchung des Seins des Daseins. 460 Heidegger erläutert, dass sich gerade in dem Aufstellen zweier Stämme der Erkenntnis wesenhafte Unzuträglichkeiten ergeben. Denn gerade hierdurch ist Kant nun mit dem Problem konfrontiert, wie sie sich in der Erkenntnis vereinheitlichen lassen und welches der eigentlich tragende Grund der Erkenntnis ist. Zudem ergibt sich das Problem des Vermögens der Einbildungskraft, welches in der ›Mitte‹ zwischen beiden Vermögen steht, aber durch die Aufteilung in zwei Teile der Erkenntnis selbst nicht in den Blick kommen kann. Auch die Bezüge der Einbildungskraft zu Verstand und Sinnlichkeit bleiben der Methode geschuldet Heidegger zufolge im Dunkeln. 461 Insofern wir GA 21, 282 f. Auf Grundlage unserer Untersuchung in Hauptteil II, wissen wir um das inhärente Verhältnis dieser Frage zur Zeit. 461 Françoise Dastur macht auf Heideggers Hervorhebung der Problematik der zwei 459 460
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Heideggers Versuch einer Bestimmung der Zeit
wissen, dass die Zeit auch zum Teil dem Vermögen der Einbildungskraft zugeordnet wird, ist diese Bemerkung bedeutsam. Was Kant versäumt hat, um diese »Unzuträglichkeiten« 462 zu vermeiden, ist Heidegger zufolge »die phänomenologische und kategoriale Durchackerung des Bodens, dem diese beiden Stämme und erst recht das, was sie vermitteln soll, allererst entwachsen können.« 463 Heidegger deutet hier in dem Fundament der Kritik der reinen Vernunft eine Aufgabenstellung für die Philosophie an, eine Aufgabe, die ihn selbst anspricht, jedoch aus einer anderen Ausgangslage heraus. 464 Die Frage nach der Einheit von »Gedachtwerden« und »Gegebensein« bewegt in diesem Sinne Heideggers Interpretation und es ist diese Frage, mit der er schließlich das verbinden will, was er aus Kants Zeitbegriff für das Problem der Temporalität gewinnen will.
13.9 Das Cartesianische Dogma Wenn Heidegger Kants Zeitbegriff zum Thema macht, um die Temporalität zu erfassen, Kant jedoch gerade die Temporalität nicht in den Blick bringen konnte, so muss Heidegger einen anderen Ausgangspunkt für seine Frage nach der Zeit in Kant wählen als es der kantische selbst ist. Dieser Ansatzpunkt ergibt sich, wie dargelegt, aus Heideggers Zeitverständnis, jedoch zugleich aus einer Übernahme Kants, die Heidegger nicht mitgeht: das Cartesianische Dogma. Heidegger geht es nun darum, dieses offenzulegen, um die Argumentationen Stämme der Erkenntnis und der Rolle der Einbildungskraft aufmerksam. Sie schreibt: »For Heidegger, all the problems encountered by Kant in the first Critique come precisely from the far too abrupt separation that he makes between the two roots of knowledge, understanding and sensibility. He will thus be forced to look for a mediation between them and to find it in another faculty, the imagination, the hybrid character of which will remain largely unquestioned, so that he will finally give to the understanding the priority over sensibility.« Françoise Dastur: Time and Subjectivity: Heidegger’s Interpretation of the Kantian Notion of Time. In: Rosanna Baiasu et al. (Hg.): Contemporary Kantian Metaphysics. New Essays on Space and Time. New York 2012, 253–269, hier 253 f.). 462 Vgl. GA 21, 283. Den Begriff »Unzuträglichkeiten« benutzt Heidegger anstelle von Schwierigkeiten oder Problemen, um deutlich zu machen, dass sie für die philosophische Fragestellung nicht zuträglich sind. 463 GA 21, 283. 464 Heidegger merkt in der der Folge an, dass der erste, der diese Aufgabe gesehen und überhaupt bearbeitet habe, Husserl sei (vgl. GA 21, 283 f.).
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und Vorurteile, die aus ihm hervorgehen, zu vermeiden. An Heideggers Auslegung wird deutlich, wie er die Cartesianische Position sich durch die Kritik der reinen Vernunft ziehen sieht, auch gerade da, wo Kant versucht sie zu überkommen: in der Widerlegung des Idealismus. 465 Obwohl Heidegger genau in jener Stelle die Zeitproblematik durch Kant am wesentlichsten ausgesprochen sieht, ist diese durch die cartesianische Position geprägt, so Heidegger, insofern es Kant überhaupt darum geht, die Außenwelt zu beweisen. Die Außenwelt muss nach Heidegger nicht bewiesen werden und auf die Idee, dass ein solcher Beweis nötig sei, kommt man nur durch Annahme der Cartesischen Position eines ego cogito, woraus dann weitere Grundannahmen entspringen, die Heidegger als Dogmen bezeichnet. Die Cartesianischen Dogmen sind nun Heidegger zufolge in Kant nicht zuletzt dahingehend problematisch, dass Raum und Zeit hierdurch als a priori dem Subjekt zugesprochen werden. Auf dieser Grundlage kann letztlich nicht gesehen werden, so Heidegger, inwiefern das »Ich denke« und die Zeit zusammengehören. Wir wissen nun also für Heideggers Ausgangslage: 1) die Zeit kommt in den Blick im Sinne der phänomenologischen Chronologie, d. h. der Temporalität, 2) infrage steht mit der Zeit die Fundierung der Kritik der reinen Vernunft – hierdurch soll ihre wahre Problematik eigentlich erst gefasst werden und 3) Heidegger geht die cartesianische Position der Zuschreibung des Apriorischen zum Subjekt nicht mit. Auf dieser Grundlage können wir uns nun erneut fragen: was sieht Heidegger in Kants Zeitbegriff?
13.10 Die Zeit als Erkenntnisquelle Heidegger verfolgt seine Herausarbeitung der Zeit in Kant und die parallele Aufzeigung der Temporalität hinsichtlich drei hervorzuhebenden Themenbereichen, die alle bereits ihre Erwähnung gefunden haben und die alle drei hinsichtlich der Herausstellung dessen, was Heidegger in Kant für die Temporalität aufdecken will, aufeinander zulaufen: 1) Das Selbstverständliche, das Unthematische, in der Erkenntnis, d. h. das, was sich in dem was wir immer schon wissen und als Selbstverständliches nehmen, liegt. So sieht Heidegger in
465
Vgl. GA 21, 294; vgl. außerdem KrV, B274.
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Kant die Frage, nach dem was »am vorgängig Gegebenen in all dem was empirisch gegeben ist, und was […] an vorgängig Gedachtem, in all dem, was als gedachtes, Gegebenes verstanden ist liegt.« 466 2) Die Aufdeckung des Geheimnisses des Schematismus, das nach Kant als Kunst unserer Seelen in unserer Natur verborgen liegt und 3) die Erkenntnis ihrer Möglichkeit nach aus der Einheit der Stämme Verstand und Sinnlichkeit zu erschließen. Letztere Aufgabe erfasst Heidegger wie folgt: Nur wenn die Bedingung der Möglichkeit des Zusammenhangs der Bedingungen aufgezeigt ist, ist Erkenntnis nach ihrer Möglichkeit aus der Einheit der Stämme philosophisch begriffen; womit gesagt ist, dass die Interpretation des Seins dieser Einheit selbst Fundamentalaufgabe ist, die wiederum nur mit Sinn gefragt und beantwortet werden kann, wenn Sein überhaupt zum Verständnis gelangt ist. 467
Alle drei oben genannten Ansatzpunkte laufen nun in Heideggers Auslegung der Zeit in Kant im Hinblick auf die Temporalität zusammen. Heidegger baut die gesamte Auslegung der Kritik der reinen Vernunft auf die Zusammenführung mit seinem eigenen Zeitbegriff auf. Dabei betont er zunächst die herausgehobene Rolle der Zeit für die Interpretation der Erkenntnis in Kant. Heidegger schreibt: Das Eigentliche und Vorwärtstreibende der Kantischen Zeitinterpretation liegt nun darin, daß sie die Zeit nicht nur dem Subjekt als Weise anzuschauen zuweist, sondern überdies dieses Phänomen, das nichts anderes ist als Gegenwärtigen, zum Grunde legt für die Interpretation der Erkenntnis. 468
Heidegger legt hiermit das Schematimuskapitel so aus, dass darin die Zeit das eigentlich grundlegende für die Interpretation der Erkenntnis ist und so zugleich den Zusammenhang in der Bedingung der beiden Stämme ausmachen kann. In Hinblick auf die Herausstellung der Rolle der Zeit im kantischen System in Hauptteil I erfolgt dieses Urteil mit einigem Recht, insofern die Zeit die verbindende Rolle zwischen Sinnlichkeit und Kategorien einnimmt und daher in Frage gestellt werden kann, welche Rolle sie als solche für die Einheit von Gedachtem und Gegebenem hat. Heideggers Betonung der Rolle der Zeit für die Interpretation der Erkenntnis thematisiert diese jedoch nicht, oder jedenfalls nicht allein, im Sinne der Problematik, wie sie 466 467 468
GA 21, 308. GA 21, 307. GA 21, 404.
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sich für die Konstitution der Erkenntnis 469 im Ausgang von Kant stellt. Die Problematik der Einheit des Verstandes mit der Erscheinung, die in Hauptteil I ausgeführt wurde, wendet Heidegger auf die Frage nach der Einheit von Zeit und »Ich denke«. Diese Wendung erfolgt im letzten Teil der Auslegung im Hinblick auf Heideggers eigene Sache – die Herausstellung der Vorbereitung der Temporalität in Kant. Erweisen lässt sich das daran, dass Heidegger das Problem der Verbindung des Mannigfaltigen mit der transzendentalen Apperzeption in Kant auf die Frage umlegt, welches »die Bedingung der Möglichkeit eines Zusammen von Zeit überhaupt und ich denke überhaupt« 470 ist. Heidegger gibt an ebendieser Stelle zu, die kantische Fragestellung auf diese Frage hin »radikalisiert« zu haben, wodurch aber »allererst die ganze Problematik verständlich« 471 werden soll. Die Frage, die Heidegger hier formuliert, geht jedoch an der kantischen Fragestellung vorbei, insofern es gerade die Erscheinung ist, deren Heterogenität mit dem Verstand das Problem der Verbindung markiert. Es ist also für Kant hier gar nicht die Frage, wie wie sich Zeit als a priori Form mit dem Verstand oder dem ›Ich denke‹ verbinden lässt. Auch wenn man das Problem auf die ursprüngliche Apperzeption und den Akt des »Ich denke« in Hinblick auf die Synthese des Mannigfaltigen bezieht, betrifft die Frage hier nicht die Zeit als reine Form, sondern geradezu die Vorstellungen als inhaltliche. Es gibt in diesem Sinne auch keine Möglichkeit die hier gestellte Frage auf Kant zu beziehen. 472 Heidegger orientiert sich also gerade nicht an der kantischen Fragestellung. Vielmehr baut Heidegger die Problematik in Kant auf die Herausstellung seines eigenen Zeitverständnisses auf und schreibt insofern: »Für Kant ist […] unmöglich, das Ich denke gar auf die Zeit zurückzuführen. So bleibt im Selbst als solchem diese Aporie des Zusammenhanges bzw. Unzusammenhangs von unzeitlicher Spontanität des Ich denke und der Spontanität der SelbstaffektiDie Unterscheidung zwischen Erkenntnis und Ontologie, die Heidegger vollzieht, wird durch ihn nicht inhaltlich begründet. 470 GA 21, 309. 471 GA 21, 309. 472 Heidegger gibt später zu, Kant eine fremde Fragestellung (seine eigene) unterlegt zu haben und bezieht sich in diesem Kontext auf genau die hier behandelte Vorlesung. Auch in dieser Rücknahme der Unterstellung der Frage wendet Heidegger jedoch ein, dass diese von ihm gestellte Frage Kants Fragestellung bedingen würde. Vgl. GA 3, XIV. Auf die Frage, warum Heidegger schreibt, dass diese seine radikalisierte Fragestellung die eigentliche Problematik zum Ausdruck bringt, wird zurückzukommen sein. 469
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on, die die Zeit selbst ist.« 473 Es zeigt sich hier in Heideggers Zuspitzung die Problematik dessen, dass er auf die kantische Konstellation selbst nicht eingeht: er übernimmt die Idee der reinen Zeit (reinen Anschauung) in der Auslegung der Spontanität der Selbstaffektion in seine Fragestellung und Zuspitzung, ohne dass ihm deutlich wird, dass die Zeit als reine Anschauung gar nicht vorgestellt werden kann und dabei die Rolle, die ihr in der Konstitution der Erkenntnis zugeteilt wird, nicht übernehmen kann, wie in Hauptteil I deutlich wurde. Dass Heidegger dies nicht auffällt, hat jedoch seinen tieferliegenden Grund darin, dass ihn, wie er selbst schreibt, die zentrale Rolle der Zeit im Schematismuskapitel von Anfang fasziniert, da sie einen Anknüpfungspunkt für seine Idee der Temporalität, d. h. der Zeitlichkeit des Daseins herzugeben scheint. Heidegger stößt in Kants Schematismuskapitel auf eine Darlegung der Rolle der Zeit in der Konstitution der Erkenntnis, wobei die Zeit nicht lediglich als Nacheinander verstanden wird, sondern im Kontext der transzendentalen Grundsätze eine (in Kant implizite) mitbestimmende Funktion für die Erkenntnis ausmacht. Heidegger untersucht nun nicht die Zeit selbst, wie sie durch Kant bestimmt wird und wie es in Hauptteil I geschehen ist, sondern greift die Tatsache, dass die Zeit eine konstitutive Rolle für die Erkenntnis spielt, ungefragt aus dem Schematimuskapitel heraus, um diese Zeit, wie sie in Kant behandelt wird, in Zusammenhang mit seinem eigenen Zeitbegriff zu bringen. Die inhaltliche Legitimation die Zeit in Kant an die Problematik der Temporalität anzuschließen, erfolgt lediglich auf der Grundlage der Tatsache, dass die Zeit in Kant eine zentrale Rolle für die Grundlegung der Erkenntnis einnimmt, wie sich daran erweist, dass Heidegger selbst Kants Zeitverständnis als in der Weltzeit verhaftet sieht. Diese Rolle, die die Zeit in Kant in der Erkenntnis spielt, hat jedoch gar keine innere Verbindung zum Verständnis der Zeit im Sinne der Temporalität,
GA 21, 405. Rachel Zuckert schreibt in Bezug auf die Zeitlichkeit der Synthesis und des transzendentalen Subjekts: »Thus, Heidegger argues, we must ›temporalize‹ Kant’s account of the transcendental subject and of its characteristic cognitive activity, synthesis.« (Vgl. Rachel Zuckert: Projection and Purposiveness: Heidegger’s Kant and the Temporalization of Judgment. In: Steven Crowell und Jeff Malpas (Hg.): Transcendental Heidegger. Stanford 2007, 215). Was Heidegger jedoch behauptet ist nicht, dass das tranzendentale Subjekt verzeitlicht [wobei ein weltzeitlicher Zeitbegriff von ihr vorausgesetzt wird] werden muss, sondern dass es in sich durch die Zeit charakterisiert ist.
473
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Heideggers Kantinterpretation
d. h. als Zeitlichkeit des Daseins, wie Heidegger es bis hierin entwickelt hat. Heidegger geht nun daher den umgekehrten Weg und behauptet nicht, dass in Kant etwas für die Temporalität gegeben ist, sondern, dass sein (Heideggers) Verständnis der Temporalität die Problematik des kantischen Systems aufhebt. Damit wäre nun impliziert, dass das was in Kant vorliegt ›eigentlich‹ Temporalität im Sinne Heideggers ist, aber nicht als solche erkannt wurde. In diesem Sinne sieht Heidegger die durch ihn aufgebaute Problematik Kants (die jedoch, wie sich in Vergleich zum ersten Hauptteil zeigt, nicht die Problematik Kants ist) in der Identifikation von Zeit und »Ich denke« durch ein eigentliches Zeitverständnis, welches Kant nicht zukam, aufgelöst. Heidegger schreibt: Die Schwierigkeit löst sich mit einem Schlag, wenn ernst gemacht wird mit der Zeit als Gegenwärtigen. Das Ich denke ist nicht in der Zeit (in dieser Abwehr ist Kant vollständig im Recht), sondern ist die Zeit selbst, genauer: ein Modus ihrer und zwar der Modus des reinen Gegenwärtigens. 474
Wir müssen uns nun den Weg, den Heidegger hier einschlägt, um seinen Zeitbegriff (und mit ihm die Grundstrukturen des Daseins sowie die Wahrheit) näher zu bestimmen, verdeutlichen.
13.11 Das Ergebnis der Kantauslegung in Logik. Die Frage nach der Wahrheit für die Temporalität Heidegger schreibt im letzten Paragraphen seiner Vorlesung: »Die Interpretation der Kantischen Zeitauffassung und Zeitauslegung sollte konkret deutlich machen, daß die Zeit im Sein des Daseins – hier zunächst im Erkennen – strukturmäßig und nicht rahmenmäßig fungiert.« 475 Die Aussage offenbart nun nachträglich Heideggers Intention, sich Kants Zeitbegriff zuzuwenden: es geht um die Frage der Rolle der Zeit im Erkennen. Mit der Auslegung der Rolle der Zeit im Erkennen in Kant soll die Ausgangsfrage der Vorlesung, die »Frage nach dem Zeitcharakter der Aussage über ›Welt‹; Aussage verstanden aber als Sein zur Welt« 476 aufklärbar sein. Diese Frage, die durch die
474 475 476
GA 21, 405. GA 21, 409. Hervorhebung von ›im Erkennen‹ hinzugefügt. GA 21, 409.
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Auslegung der Rolle der Zeit im Erkennen geklärt werden können soll, wendet Heidegger nun und führt sie auf seine eigene Frage hin: »die nach der Temporalität des Daseins qua Sein zur Welt selbst.« 477 Heidegger nutzt Kant also, um die Rolle der Zeit im Erkennen zu verdeutlichen, ein Erkennen, das er selbst in die Frage nach dem Dasein qua Sein zur Welt eingebettet sieht, für die das Dasein qua Sein zur Welt das Prinzip hergeben muss. Die Frage drängt sich nun auf, warum Heidegger die Zeitlichkeit für das Erkennen an Kant herausstellt, obwohl Kant seiner eigenen Angabe nach in einem Verständnis der Zeit als »Weltzeit« verhaftet bleibt? Ist der Grund hierfür tatsächlich die »Vorlesungsökonomie«, wie er selbst äußert, um zu erklären, warum die Zeit in diesem Sinne nicht phänomenologisch, sondern an dem Zeitbegriff der Weltzeit in der Philosophiegeschichte erarbeitet wird? Doch warum sollte die phänomenologische Darlegung der Zeit in Bezug auf das Erkennen so viel umfangreicher sein als seine detaillierte Analyse der Kritik der reinen Vernunft? Und wichtiger: warum lässt sich an Kant, trotz seines Zeitbegriffes im Sinne der Weltzeit, die Temporalität des Erkennens verdeutlichen? Heidegger legt nun das Resultat seiner Kantinterpretation auf die Sorge als Seinsstruktur des Daseins aus. Er schreibt: »In welchem Sinne ist die Seinsstruktur des Daseins – Sorge – durch die Zeit charakterisiert? Diese Strukturen sind nicht außer dem, was sie selbst sind, noch in der Zeit, noch in irgendeiner Beziehung zur Zeit, sondern die Sorge ist in der Weise ›durch‹ die Zeit bestimmt, daß sie selbst Zeit, die Faktizität der Zeit selbst ist.« 478 Heidegger hat in der Zuspitzung seiner Kantauslegung auf seine Frage der Temporalität (für die er in Kant freilich eine Vorlage fand, indem es eine Nähe zwischen der Zeit und dem »Ich denke« gibt) die Zeit mit dem »Ich denke« identifiziert und dies in Kants Auslegung der Konstitution der Erkenntnis eingebettet. Heidegger gibt sich so eine ›wissenschaftliche‹ Untermauerung der Identifikation von Zeit mit den Grundstrukturen des Daseins. Diese Untermauerung betrifft nun nicht irgendeinen Kontext, sondern den des Erkennens. Heidegger ›überspringt‹ also die phänomenologische Auslegung der Zeitlichkeit des Erkennens im Sinne seines eigenen Zeitbegriffs und ersetzt diese mit seiner Kantauslegung. Die Kantauslegung geschieht dabei nicht im Sinne Kants, sondern dient dazu, die Temporalität des Erkennens auf477 478
GA 21, 409. GA 21, 409.
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Heideggers Kantinterpretation
zuweisen und diese sodann, indem in Kant »Ich denke« und Zeit identifiziert werden (eingeschränkt auf den Kant zugänglichen Modus des Gegenwärtigens), auf das Dasein zu übertragen. Woraus erklärt sich dieses Vorgehen? Heidegger ist offensichtlich auf der Suche nach einer weiteren Bestimmung seines Zeitbegriffs und mit ihm der Grundstrukturen des Daseins. Warum? Was ist es, das an der bisherigen Auslegung des Seins des Daseins und der Zeit offen bleibt?
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14. Die Gründe Heideggers für das Aufsuchen einer Bestimmung der Zeit im Sinne des Erkennens in Kant
Wir können anhand der Untersuchung von Heideggers Zeitverständnis im Ausgang des zweiten Hauptteils zwei Grundfragen ausmachen, um die sich Heideggers Werk bewegt und die er als das Ursprünglichste fasst, das es überhaupt zu fassen gibt: 1) die Fraglichkeit (im besonderen die Frage nach der Frage der Philosophie) und 2) das Dasein. Wir gehen nun der Frage nach, die wir eingangs aufwarfen: Wie verhalten sich diese beiden Fragen zueinander? Wie bedingen sie einander? Und sind sie am Ende nicht nur verbunden, sondern stehen sich auch im Wege? Zu Beginn seiner wissenschaftlichen Entwicklung, stellt sich für Heidegger die Frage, was für die Philosophie als ursprünglichste Wissenschaft überhaupt in Frage steht. 479 Von hier aus wird er auf das Dasein verwiesen: Um die Fraglichkeit der Philosophie als ursprünglichste Wissenschaft zu ergreifen, müssen wir uns erst einmal fragen, was mir, aber mir als irgendjemandem, nicht als ›Person‹, überhaupt das Fragliche ist. Worauf ist das Dasein aus? So lässt sich erklären, wie Heidegger zu einer Weiterführung und zugleich Modifikation der Frage nach der Fraglichkeit kommen konnte: Was ist das Sein des Daseins? Aber hier ist für uns in der Interpretation Heideggers zugleich die Frage: Ist dies wirklich dieselbe Frage wie die erste? Die Frage ist zugleich eine Weiterführung der Frage nach der Fraglichkeit und eine Antwort auf sie – eine Antwort, die die Fraglichkeit auf etwas festlegt. In der Frage nach der Fraglichkeit deutet sich auch eine andere Auslegungsmöglichkeit als die Ausrichtung auf das Dasein an, die bei Heidegger selbst durchscheint: die Frage nach der Eigentlichkeit. Heidegger macht nun nirgendwo explizit, dass er tatsächlich auf diese Weise über die Frage nach der Fraglichkeit zur Frage nach dem Sein des Daseins gelangt. In der Freiburger Vorlesung Grundprobleme 479
Vgl. Kapitel 11.1 dieser Arbeit.
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Heideggers Kantinterpretation
der Phänomenologie, die am Beginn von Heideggers wissenschaftlichem Schreiben steht, zeigt sich, dass er die Phänomenologie als Urwissenschaft und als solche als Wissenschaft vom Leben an und für sich versteht. Heidegger widmet sich in der Vorlesung im Detail der Frage, wie diese Frage nach dem Leben an und für sich überhaupt gestellt werden kann – ob und wie das Leben an und für sich Gebiet der Wissenschaft sein kann. Er erläutert jedoch nicht, warum die Fraglichkeit überhaupt am Leben an und für sich als Gebiet der Wissenschaft in den Blick kommt, d. h. warum das Leben Frage der Philosophie ist. Nun ließe sich sagen, das ist selbstverständlich: derjenige, dem überhaupt etwas fraglich ist, bin ich, ist der Mensch und so muss ich, um zu wissen, was eigentlich fraglich ist, nach dem Menschen fragen und zwar hinsichtlich seinem »in Fraglichkeit sein«. Nun lassen sich zwei Einwände anbringen: 1) geht Heidegger so nicht vor – in Frage steht das Leben an und für sich; warum wird im Grunde genommen nicht geklärt, jedenfalls nicht im Sinne der ursprünglichen Fraglichkeit. 2) Könnte die Fraglichkeit, obwohl sie von dem Menschen in gewisser Hinsicht ausgeht, auf etwas Bestimmtes ausgerichtet sein, das nicht selbst das Sein des Menschen ist, etwas das eigentlich in Frage steht. Die Frage wäre dann zu verstehen als: ›was ist das Eigentliche?‹ Diese Frage ist nun eine, die überall, wo Heidegger die Fraglichkeit aufwirft auch tatsächlich mitschwingt. Gehen wir den umgekehrten Weg: Das Dasein steht für die Philosophie (oder für das Dasein) in Frage. Von hier aus stellt sich die Frage: was ist dieses Dasein, das wir je selbst sind? Und die Antwort ist: es ist ein Dasein, dem es um sein Sein geht. Insofern das Dasein nun so im Sinne der Sorge bestimmt ist, zeigt sich, dass das Dasein eben nicht jederzeit nach seinem Sein fragt. Das Aufgehen-in-derWelt, das Verfallen-an-die-Welt, muss eine Modifikation des Seins des Daseins sein, insofern es zum Sein des Daseins gehörig ist, aber nicht ausdrücklich nach seinem Sein fragt. Diese Modifikation besteht in der Uneigentlichkeit: Im Besorgen geht es dem Dasein immernoch um sein Sein, aber so, dass ihm dieses Sein von der Welt her gegeben wird oder besser: sich das Dasein sein Sein von der Welt her geben lässt. Das Dasein hat jedoch immer die Möglichkeit nach seinem eigenen Sein zu fragen und dies bedeutet nun Eigentlichkeit. Insofern aber diese Frage nach dem eigenen Sein die Frage nach dem Dasein ist, ist die Eigentlichkeit Philosophie (als Frage nach dem Dasein). Die Philosophie hat nun aber wieder das Dasein zum Gegenstand und die Frage ist dann daher, was die Eigentlichkeit positiv ist – 228 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Die Gründe Heideggers für das Aufsuchen einer Bestimmung der Zeit
die Frage nach dem Dasein konnte dies ja gerade nicht hergeben, denn wenn Heidegger die Eigentlichkeit als Möglichkeit bestimmt, dann ist somit wieder auf das Sein des Daseins selbst verwiesen, dieses jedoch schließt wiederum die Uneigentlichkeit ein und die Frage nach der Eigentlichkeit wird so gerade nicht positiv beantwortet. Die Frage nach der Eigentlichkeit ist damit offen und das ist die Frage, die augenscheinlich über das Dasein hinausführt oder zumindest in der Analyse des Daseins nicht beantwortet werden kann. Damit sind wir wieder auf die Fraglichkeit zurückgeworfen. Die Frage ist hierbei, ob uns die Frage nach dem Sein des Daseins wirklich zu unserer ursprünglichen Fraglichkeit führt. Oder ob die Fraglichkeit nicht schon auf etwas Bestimmtes hinaus ist – ein Wissen – ohne das sie nicht das wäre, was sie als Fraglichkeit ist. Es ergibt sich damit die Möglichkeit, dass die Frage nach dem Sein des Daseins uns nicht zu unserer ursprünglichen Fraglichkeit führt, weil die Fraglichkeit selbst das Dasein als das, wovon sie in einer Hinsicht ausgeht, in bestimmter Hinsicht gerade nicht zum Gegenstand hat. Wir bringen hiermit die Spannung zwischen der Frage nach der Eigentlichkeit und der schlichten Untersuchung des Seins des Daseins in den Blick. Ist nicht Heidegger ›von den Phänomenen getrieben‹ doch auf die Eigentlichkeit des Daseins hinaus? Und ist es am Ende sein Verständnis der Philosophie als Frage nach dem Sein des Daseins, das ihm dafür im Wege steht? Heidegger bestimmt das Sein darin, dass es dem Dasein um sein Sein geht, dass es Möglichkeit ist, aber es wird deutlich, dass das Sein doch mit der Eigentlichkeit identifiziert wird, insofern die Uneigentlichkeit eine Modifikation des ›um das eigene Sein gehen‹ ist. Heidegger setzt darin voraus, dass die Eigentlichkeit nicht »gehabt« werden kann, aber die Frage nach der Eigentlichkeit wurde nicht selbst positiv gestellt. Nun ergibt sich, wie dargelegt, auf dieser Basis eine wesentliche Lücke für Heidegger – etwas Unzufriedenstellendes in der Ausarbeitung der Grundstrukturen des Daseins. Anstatt einen Schritt zurückzugehen und sich über das Fundament seiner Frage nach dem Dasein klar zu werden, treibt die Frage nach der Eigentlichkeit, das Unzufriedenstellende an der Bestimmung der Daseinsstrukturen, zu einer weiteren Bestimmung der Zeitlichkeit. Heidegger ist hier auf der Suche nach etwas, das die Lücke der Frage nach der »Eigentlichkeit« zu schließen vermag. Hiermit wendet Heidegger sich Kant zu, um durch die Rolle der Zeit im Erkennen einen Ersatz für eine phäno229 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Heideggers Kantinterpretation
menologische Auslegung des Wissens und damit zugleich für einen möglichen Inhalt der Eigentlichkeit zu finden, die in der Analyse der Daseinsstrukturen und ihrer Zeitlichkeit keinen Platz finden konnte. Heidegger zeigt in seiner Kantinterpretation auf, dass die Zeit in Kant eine Erkenntnisquelle ist, dass die Zeit für die Erkenntnis konstitutiv ist. 480 Die Zeit kann im Schematismus nur konstitutiv werden, weil Kant die Zeit nicht nur als ein Nacheinander fasst, sondern es in der Zeit eine ontologische Dimension gibt (indem sie die Erscheinung mit den reinen Begriffen verbindet). Die Zeit ist damit selbst etwas, das verstehen lässt, so Heidegger. Heidegger will nun, wie gezeigt, die Zeit in Kant in Zusammenhang mit dem »Ich denke« bringen, mit der ursprünglichen Apperzeption – auf der Grundlage seines eigenen Zeitverständnisses, nicht aus der kantischen Problematik heraus. Aus Kant heraus lässt sich eine andere erkenntnistheoretische Problemstellung aufzeigen – wie in Hauptteil I geschehen ist. Für Heidegger dient die Zeit in Kant dazu, sein eigenes Zeitverständnis in der Philosophiegeschichte zu bestimmen. Weil Kant nun nicht das Zeitverständnis Heideggers teilt, kann Heidegger aus Kant für die Temporalität im Grunde genommen nur entnehmen, dass die Zeit konstitutiv für die Erkenntnis ist und dass sie dabei nicht allein als Nacheinander verstanden wird, sondern eine ontologische Funktion innehat. Heidegger streift dabei Dinge, die auf Kant bezogen eine Relevanz tragen, wie die Frage nach der Einheit von Gedachtwerden und Gegebensein. Heidegger behandelt diese Frage jedoch nur in Bezug darauf, die Temporalität darzustellen, die in ihrer Bedeutung bereits vorausgesetzt ist. 481 Trotz eines überaus detaillierten Lesens bleibt so die Kantauslegung in Logik. Die Frage nach der Wahrheit überall getragen von einer Vorinterpretation der Kritik der reinen Vernunft, von einer Suche nach etwas: der Vorbereitung der Zeit im Sinne der Temporalität in der Geschichte der Philosophie. Insofern Heidegger die kantische Interpretation selbst nicht aufgreift, kann er zu der Frage- und Problemstellung, wie sie sich im Ausgang von Kant
»Zeit ist Erkenntnisquelle – dass ist die fundamentale und alles Weitere, was Kant von ihr sagt, tragende Interpretation der Zeit.« (GA 21, 304). 481 Nachdem Heidegger durch seine Kantauslegung seinem eigenem Zeitbegriff eine Bedeutung im Sinne des Erkennens gibt, bringt er dann auch das Seinsproblem, welches jedoch in Bezug auf diese Frage von Gedachtwerden und Gegebensein auf Grundlage von Kants Frage nach der Wissenschaft entwickelt wird und nicht unter dem Vorhaben, die Temporalität zu bestimmen, in Verbindung mit der Zeit. 480
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Die Gründe Heideggers für das Aufsuchen einer Bestimmung der Zeit
ergibt, nichts beitragen. 482 Heidegger stellt von Anfang an die Frage an Kant im Sinne seiner eigenen, indem er auf der Suche nach einem Ansatz der Temporalität in der Philosophiegeschichte ist, die er für eine Bestimmung der Zeit in der Erkenntnis für sein eigenes Zeitverständnis übernehmen kann. In Kant hat Heidegger diesen Ansatz gefunden, insofern die Zeit hier eine Bedeutung trägt, die über ein bloßes Nacheinander hinaus geht – wie wir feststellten: im Sinne einer Erkenntnisquelle und zwar eine, die sich auf die Grundlegung der Erkenntnis überhaupt bezieht. Heidegger bringt dabei aber Kant nicht in den Blick, insofern er die Problemstellung nicht aus Kant herausarbeitet, sondern an ihn heranträgt. Dies wird selbstverständlich bereits in seiner Aufgabenstellung und der Art und Weise wie er seine Auslegung einführt deutlich. 483 Wir können es außerdem daran ersehen, dass es Heideggers eigene Frage der Urtemporalität ist, deren erste Vorzeichnung er in Kant auffindet, die ihn an dem Werk begeistert. So schreibt er: Aber innerhalb der konkreten Untersuchung in diesem Zusammenhang [Zeit und Ich denke] – einer Untersuchung, die wohl das Aufregenste ist, was es überhaupt in der Wissenschaftlich-philosophischen Literatur – kommt Kant an die Grenzen von möglichen Aussagen über die Zeit; Grenzen, die ihm durch seine ganze Frage Position gestellt sind. 484
Auf dieser Grundlage muss es implausibel sein, wenn Heidegger schreibt, dass die eigentliche Problematik der Kritik der reinen Vernunft durch seine Interpretation in den Blick kommt. So sehr die Frage nach einer ursprünglichen Einheit von Gedachtwerden und Gegebensein tatsächlich auf der Grundlage des kantischen Systems und Roxana Baiasu schreibt diesbezüglich: »Contrary to Heidegger’s suggestions, his reading of Kant does not offer a Kantian solution to the problems of time’s objectification and of the constitution of objectivity. Heidegger’s »original« interpretation moves the problem within the framework of his temporal ontology, which involves the subordination of the spatial to temporality. As a result of such relocation, the Kantian problem of the objectification of time becomes part of another issue: the problem of the derivation from primordial temporality of the public world-time, and of the ordinary conception of time, a problem which, as it is often pointed out, raises serious difficulties.« (Roxana Baiasu: Heidegger and Kant. Space, Time and the Problem of Objectivity. In: Stefano Bacin et al.: Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht Bd. 2, Nr. 196. Berlin 2013, 541–552, 549 f.). 483 Vgl. Kapitel 6.7 dieser Arbeit. Heidegger will erklärterweise an Kant anhand eines negativen Vorbildes die Temporalität in den Blick bringen. Vgl. hierzu außerdem: GA 21, 312. 484 GA 21, 311. 482
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Heideggers Kantinterpretation
über es hinaus gefragt werden kann, so sehr der Schematismus dunkel bleibt und so sehr Kants Cartesianische Position Probleme in die Systematik trägt, sind doch alle diese Einsichten Heideggers nicht aus dem kantischen System heraus nachverfolgt, sondern lediglich auf die Frage der Temporalität hin untersucht. 485 So fällt die Frage nach der Verbindung des Verstandes mit der Erscheinung in einem Urteil schlichtweg zugunsten der Frage nach der Verbindung des »Ich denke« mit der Zeit weg und die Frage, wie die ursprüngliche Apperzeption sich zur Erscheinung verhält, wird durch eine Interpretation der Zeitlichkeit ihrer verdrängt. Auf dieser Grundlage lassen sich die zum Teil tiefgehenden Auslegungen der Kritik der reinen Vernunft nicht systematisch an sie anbringen. Es wäre vergebens aus Heideggers Anmerkungen, die sich insgesamt am Leitfaden dessen ergeben, was er selbst im Blick hat, eine Entwicklung der erkenntnistheoretischen Problemstellung 486 im Ausgang von Kant in Angriff nehmen zu wollen. Diese Vorbemerkung ist wissenschaftlich relevant, um zu vermeiden, letztlich ähnlich wie Heidegger, eine Interpretation auf Grundlage einer auf anderen Prämissen entwickelten Fragestellung in den Text hineinzuschieben, auf der Grundlage der Tatsache, dass Elemente dieses Textes für eine andere Fragestellung relevant sind. Wenden wir uns mit dieser Vorsicht noch einmal Heideggers Kantauslegung in Logik. Die Frage nach der Wahrheit zu und betrachten sie nicht als Ganzes, sondern in ihren Teilen. Heidegger, so wird auf den letzten Seiten der Vorlesung deutlich, wendet sich Kant zu, um die Temporalität (Zeitlichkeit) des Erkennens (als Verhalten des Daseins) zu erschließen. Was Heidegger hier aus Kant nimmt, ist nicht lediglich eine Interpretation der Zeit, sondern zugleich ein erkenntKarl Mertens bezeichnet Heideggers Vorgehen in der Kantinterpretation [in seinem Fall in Bezug auf Heideggers spätere Auslegung der Endlichkeit des Erkennens in Kant] in diesem Sinne als ›hermeneutische Vereinnahmung‹. (Vgl. Karl Mertens: Widerstände gegen die hermeneutische Vereinnahmung. Das Problem der Endlichkeit des Daseins in Heideggers Auslegung von Kants »Kritik der reinen Vernunft«. In: Andreas Speer (Hg.): Anachronismen. Würzburg 2003, 117–139, hier 122 f.). 486 In »erkenntnistheoretisch« ist hier und in der Folge im Gegensatz zu Heideggers eigener Interpretation der »Erkenntnistheorie« die ontologische Erkenntnis miteingeschlossen (vgl. GA 3, 17 zur Abgrenzung). Klaus Düsing legt in seinem Aufsatz Zeit und Substanz in Kants »Kritik der reinen Vernunft« in Bezug auf Kant dar, warum sich Heideggers Deutung im Sinne der Ontologie und die Deutung einer kritischen Erkenntnistheorie nicht ausschließen. (Vgl. Klaus Düsing: Zeit und Substanz in Kants »Kritik der reinen Vernunft«. In: Crítica y Metafísica, s. Nr. 55, 140–163, 140). 485
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Die Gründe Heideggers für das Aufsuchen einer Bestimmung der Zeit
nistheoretischer Ansatz, 487 den er aus der Untersuchung der Daseinsstrukturen heraus nicht in den Blick bringen kann. Heidegger ist bei der Untersuchung der Daseinsstrukturen in Bezug auf das Erkennen bis zu dem Punkt gekommen, dass das Dasein zugleich mit seinem Dasein ein In-der-Welt-sein ist. Heidegger erklärt dabei in der AlsStruktur, dass die Dinge, die uns begegnen, das Vorhandene, schon immer verstanden sind und zwar so, dass ihr »Wozu« konstitutiv ist – es ist nicht so, dass es zunächst ein bedeutungsloses Ding gibt, dem dann sein »Wozu« angeklebt wird. Wenn Heidegger nun sagt, dass wir mit dieser Als-Struktur immer schon dem eigentlich Begegnenden vorweg sind, so ist er auf etwas hinaus, das in der Als-Struktur, im weltlichen Begenenlassen und Besorgen nicht schon ›gehabt‹ ist. Und zwar ist Heidegger auf so eine Weise darauf hinaus, wie in seinem Vortrag Der Begriff der Zeit sehr deutlich wird, dass dabei das ›Verfallensein‹, welches das Dasein im dem Hingeben an die Welt, im »Wozu« ist, die Uneigentlichkeit, dabei überkommen ist. Es gibt nun verschiedene Ansatzpunkte, um dieses, das in der unthematischen Als-Struktur noch nicht gehabt wird, zu erschließen. Ein Weg ist die Als-Struktur zu heben, wie Heidegger selbst es tut. Ein anderer Weg ist, dass es gar nicht um dieses weltlich Begegnende, gar nicht um Vorhandenes geht, sondern um das Sein des Daseins. Auf beiden Wegen stellt sich die Frage nach dem, was dieses, das nicht in der Als-Struktur gehabt ist, was das (eigentliche) Sein des Daseins ist, für Heidegger nur impliziert. Er gewinnt auf der Grundlage des Seins des Daseins als Gebiet der Philosophie keinen Boden für eine weitere Infragestellung des Erkennens als eben die Beschreibung des Erkennens, welches aber nur als alltägliches inhaltlich für die Beschreibung verfügbar ist. Das Erkennen, welches nicht in der unthematischen Als-Struktur aufgeht, kann nur äußerlich beschrieben werden und nicht inhaltlich konstituiert, insofern dieses gerade einer Spontanität des Daseins bedarf, welche nicht in der Beschreibung des Daseins schon enthalten ist. Was Heidegger in seiner Kantinterpretation daher sucht, ist ein Zugang zu einer inhaltlichen Konstitution des (eigentlichen) Erkennens. Die Interpretation wird jedoch auf der Grundlage eines Prinzips geführt, das diese weitere inhaltliche Bestimmung des Erkennens nicht erlaubt – die Untersuchung des Daseins in seinem Sein zur Welt (nicht die Untersuchung der Erkenntnis). Damit Dieser kommt in Heideggers nachfolgender Kantauslegung durch die Frage nach der Wissenschaft in den Blick und wird in der Folge dargestellt.
487
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Heideggers Kantinterpretation
ist nicht gesagt, das das In-der-Welt-sein, die Als-Struktur etc. nicht für die Erkenntnis selbst relevant sein könnten, sondern dass sie nicht unter diesem Prinzip in den Blick kommen und daher auch nicht auf eine Frage nach der Erkenntnis übertragen werden können. Denn um zur Frage nach der Konstitution der Erkenntnis im Ausgang von Kant etwas beitragen zu können, müsste das Prinzip der Erkenntnis selbst (neu) gefasst werden oder neu gefasst werden, worum es (in) der Erkenntnis eigentlich geht. Wir können damit aus Heideggers Kantauslegung in Logik. Die Frage nach der Wahrheit lediglich einige Elemente fassen, die darauf hinweisen, dass Heidegger trotz seiner Verhaftung in der Frage nach dem Sein des Daseins einigen erkenntnistheoretischen Problemen auf der Spur war: der Orientierung der Philosophiegeschichte am Vorhandenen, die Kritik einer Subjekt-Objekt-Trennung, die Heidegger durch das In-der-Welt-sein überkommen will, die Frage nach der Einheit von Gegebensein und Gedachtwerden im Erkennen, das Verhältnis des In-der-Zeit-Seienden zur Ewigkeit, die Frage, was das Ewige inhaltlich ist und vielleicht mehr. All diese Ansatzpunkte sind jedoch, wie gesagt, nicht als Prinzip der Erkenntnis, des Denkens oder des Wissens entwickelt, sondern Aspekte einer Frage nach dem Sein des Daseins, welche die Frage nach der Konstitution der Erkenntnis (zumindest über die alltägliche Erkenntnis der Dinge, die uns begegnen, hinaus) nicht stellen oder einschließen kann, weil sie das Dasein nur deskiptiv als uneigentliches und eigentliches, wie es erlebt wird, fasst. Wenden wir uns hiermit zurück zu Heideggers Unternehmen, so zeigt sich in Logik. Die Frage nach der Wahrheit, dass die Interpretation der Zeit in Kant im Sinne des Erkennens eine Stelle in Heidegger einnehmen soll, die sie vom Ausgangspunkt her gar nicht einnehmen kann: die Kantauslegung tritt an die Stelle der phänomenologischen Bestimmung der Zeit im Sinne des Erkennens in Heideggers eigenem Zeitverständnis. Heidegger legt die Grundstrukturen des Daseins im Sinne der Zeitlichkeit aus und fragt in diesem Sinne nach der eigentlichen (weiteren) Bestimmung des Zeitbegriffs. Es geht dabei darum, dass Sein des Daseins eigentlich(er) zu erfassen. Heidegger wendet sich der Philosophiegeschichte zu, um seinen eigenen Zeitbegriff in diesem Sinne der Temporalität zu verdeutlichen und daher das Sein des Daseins (und mit ihm Phänomene wie Wahrheit, Aussage, Synthesis etc.) besser in den Blick zu bekommen. Heidegger kann jedoch aus der Philosophiegeschichte diese nähere Bestimmung der Zeit nicht gewinnen, da er sein Zeitverständnis aus der Auslegung dessen, 234 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Die Gründe Heideggers für das Aufsuchen einer Bestimmung der Zeit
was das Leben an und für sich ist, aus den Grundstrukturen des Daseins, gewonnen hat. Er geht in der Philosophiegeschichte auf die Suche nach Anhaltspunkten für die Temporalität, für sein Zeitverständnis, aber dieses ließe sich nur auf der Grundlage der Untersuchung der Daseinsstrukturen selbst näher bestimmen, dabei aber eben nicht im Sinne des Erkennens. Warum macht sich Heidegger auf die Suche nach einer Bestimmung der Zeit über die Untersuchung und Darlegung der Daseinsstrukturen in ihrer Zeitlichkeit hinaus? Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Frage nach dem Dasein, wie dargelegt, Heidegger eine Schranke auferlegt, um das Eigentliche überhaupt bestimmen zu können. Er kann nicht mehr fragen, wonach die Philosophie prinzipiell fragt, weil er diese Frage schon auf das Dasein festgelegt hat. Er kann auch nicht fragen, wonach er als Mensch eigentlich fragt, weil er diese Frage auch schon auf das Sein des Daseins festgelegt hat. Die Untersuchung der Daseinsstrukturen führt ihn in eine Leere, wenn es um die Bestimmung der Eigentlichkeit geht, genauso wie wenn es um die inhaltliche Bestimmung des Erkennens über das alltägliche Erkennen im Besorgen hinausgeht. Was ist die Eigentlichkeit für das Leben an und für sich? Was ist die Eigentlichkeit für das Dasein? Hätte Heidegger die Frage nach dem, was die Philosophie eigentlich fragt nicht auf das Dasein hin ausgelegt, hätte er nach dem gefragt, was in Eigentlichkeit gewusst werden will und sein kann, so wäre er vielleicht auf Bestimmungen für die Eigentlichkeit gestoßen – die Untersuchung des menschlichen Lebens, des Daseins, jedoch, führt ihn in Kreisen: dem Dasein geht es um sein Sein (d. h. das Dasein stellt die Frage nach dem Sein, das Dasein will wissen), dem Dasein geht es nicht immer um sein Sein (ist der Welt verfallen, uneigentlich, das ist eine Möglichkeit des menschlichen Lebens), dass es dem Dasein nicht immer um sein Sein geht, sondern es sich dieses von der Welt her geben lässt, ist eine Modifikation dessen, dass es dem Dasein um sein Sein geht (deshalb ist es dem Dasein immer möglich, nach seinem Sein zu fragen und diese Möglichkeit liegt darin, dass die Welt dem Dasein schon zugehörig ist) und nun sind wir auf die Krux verwiesen: dem Dasein geht es um sein Sein heißt auch: dem Dasein geht es uneigentlich um sein Sein. Wie unterscheidet sich nun: dem Dasein geht es um sein Sein (als das Uneigentliche umfassend) von dem Dasein geht es (eigentlich) um sein Sein (das Uneigentliche eben nicht umfassend)? Dabei wird deutlich, dass es dem Dasein eben um ein bestimmtes Sein geht, wenn es ihm um sein Sein geht und das ist eben nicht das Sein, 235 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Heideggers Kantinterpretation
welches es im Besorgen ist. Daraus folgt aber auch: es geht dem Dasein nicht um das Dasein schlichtweg, nicht um das Sein des Daseins, sondern nur um das Sein des Daseins in einer bestimmten Hinsicht. In welcher Hinsicht? Und zeigt sich hier nicht, dass das Dasein eben nicht die »Urwissenschaft« ausmacht? Und dass das Leben an und für sich eben nicht das ist, das die prinzipielle Frage (wenn sie auch von ihm ausgehend gestellt ist) ausmacht? Dass das Leben, das wir sind, in einer Hinsicht für das, was wir auch sind, Wissenwollende, eben gerade das ist, das ist, aber einem anderen Prinzip unterliegt? Zeigt sich nicht in Heideggers Zirkel bei dem Versuch der Bestimmung des Seins des Daseins, bei dem Fehlen der Eigentlichkeit darin, dass das Wissenwollen und das Leben nicht dasselbe sind? Dass das Dasein prinzipiell zweierlei ist oder sein kann: Leben und Wissenwollen? Dass die Frage des Umgangs damit sich dem Wissenwollenden stellt, dass sich die Frage dem Wissenwollenden stellt, was dem Wissen und was dem Leben zugehört, dass es eine Instanz gibt, unsere Existenz, die beides ist, Leben und Wissenwollen und sich mit diesen beiden Prinzipien, die es ist, ›herumschlagen‹ muss, aber dass das Wissenwollen eben gerade nicht dasselbe wie das Leben ist? Für die Untersuchung von Heideggers nachfolgenden Werken ist festzuhalten, dass er sich in seiner ersten Kantauslegung in Logik. Die Frage nach der Wahrheit Kants Zeitbegriff nicht zuwendet, um rein negativ an ihm die Temporalität zu verdeutlichen, wie er selbst es andeutet, denn alle Ergebnisse, die direkt an Kant erarbeitet werden, z. B. die Zeit als Erkenntnisquelle und die Identifikation von Zeit und »Ich denke« im Sinne des Gegenwärtigens, werden positiv eingebunden. Wenn Heidegger die aus der Kantauslegung gewonnene Identifikation von Zeit und »Ich denke« als Gegenwärtigen direkt mit der Sorge identifiziert, wird seine Intention, mit der er an die Auslegung der Zeit in Kant tritt deutlich: es geht Heidegger darum, die Zeit im Sinne des Erkennens seinem eigenen Zeitverständnis nach durch Kant zu bestimmen. Dieses Vorhaben muss jedoch scheitern, da 1) Kant die Zeit nach Heideggers eigener Aussage nicht in seinem Sinne verstanden hat, die Herausstellung der Zeit als Erkennen bei ihm daher nicht Heideggers Zeitverständnis zugeordnet werden kann und 2) der Idee der weiteren Bestimmung der Zeit in Heideggers Sinne die Unzureichendheit der Auslegung des Seins des Daseins zugrunde liegt, welche Unzureichendheit jedoch in der Festlegung der Philosophie auf das Dasein selbst begründet liegt und daher über eine weitere Zeitbestimmung nicht aufgehoben werden kann. Die Aus236 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Die Gründe Heideggers für das Aufsuchen einer Bestimmung der Zeit
legung der Zeit in Kant in Heideggers Versuch, seinem Zeitbegriff eine Bestimmung innerhalb des Erkennens zu geben in Logik. Die Frage nach der Wahrheit, führt somit philosophiegeschichtlich in eine Sackgasse, insofern auf der einen Seite in ihr die Grenzen von Heideggers Ansatz der Frage nach dem Sein des Daseins verwischt werden (obwohl sie sich darin zugleich offenbaren, wie hier gezeigt wurde), indem der Frage ein ihr fremder erkenntnistheoretischer Ansatz eingeschoben wird, der jedoch die weitere Bestimmung der Zeit von vornherein und prinzipiell nicht leisten kann und auf der anderen Seite die philosophische Problematik im Ausgang von Kant, wie sie in Hauptteil I erarbeitet wurde, aufzulösen scheint, dies jedoch keineswegs tut. Wir sind damit den wichtigsten Schritt in Heideggers Kantauslegung bereits gegangen: wir haben ihre Intention und ihre Grenzen in ihrem ersten Erscheinen 1925/26 offengelegt. Nun stellt sich die Frage, ob und wie sich dieselbe problematische und zum Scheitern verurteilte Intention, durch Kant innerhalb der Daseinsanalyse das Erkennen in den Blick bringen zu wollen, in Heideggers weitere Werk hineinträgt. Mit dieser Indenblicknahme von Heideggers Werken bis zur Kehre im Zusammenhang der Kantauslegung im Ausgang ihrer Entstehung in Logik. Die Frage nach der Wahrheit – und das heißt nun im Lichte der vorliegenden Untersuchung zugleich im Ausgang von Heideggers Intention einer Bestimmung seines Zeitbegriffs hinsichtlich des Erkennens, die sich als unwissenschaftlich und in Bezug auf die philosophiegeschichtliche Entwicklung sowohl in Bezug auf Heidegger als auch im Ausgang von Kant als eine Sackgasse erwies – lässt sich Heideggers Schaffen um Sein und Zeit, dieses mitinbegriffen, in einem neuen Licht untersuchen. Es lässt sich hier bereits ersehen, dass Heideggers Bestimmung der Grundstrukturen des Daseins, des Seins des Daseins und des Zeitbegriffs an ihre Grenzen gekommen sind und Heidegger versucht, diese Grenzen durch ein erkenntnistheoretisches Prinzip, das er von Kant borgt, zu überkommen. Mit anderen Worten: Heidegger sucht nach einer Möglichkeit das Erkennen inhaltlich zu bestimmen, der Eigentlichkeit einen Inhalt zu geben, das (eigentliche) Sein des Daseins inhaltlich zu bestimmen – wie immer man es ausdrücken mag – einen Weg aus seiner eigenen Voraussetzung zu finden: dass das (Sein des) Dasein(s) das Gebiet der Philosophie ausmacht. In diesem Sinne stellt sich an die nachfolgenden Werke zugleich die Frage, ob sich durch Heideggers erste Kantauslegung ein Wandel in der leitenden Frage und Prämisse seiner Werke ergibt. 237 https://doi.org/10.5771/9783495997796
15. Die Problematik der leitenden Frage der Philosophie in Heidegger in Bezug auf die Kantauseinandersetzung
15.1 Sein und Zeit Heideggers nächste Kantauslegung nach Logik. Die Frage nach der Wahrheit findet sich in seinem Hauptwerk Sein und Zeit, welches zeitgleich mit der Ausarbeitung der Vorlesung Logik. Die Frage nach der Wahrheit erarbeitet wird und im Frühjahr 1926 in die Drucklegung eingereicht wird. Neben der Kantauslegung steht im Lichte unserer vorangehenden Untersuchung auch die leitende Fragestellung von Sein und Zeit vor dem Hintergrund von Heideggers vorausgehenden Schriften in Frage. Die Absicht von Sein und Zeit ist es, so leitet Heidegger ein, die Frage nach dem Sinn von Sein auszuarbeiten (und damit neu zu stellen), welche Frage er zugleich als das, was »das antike Philosophieren in die Unruhe trieb und in ihr erhielt« 488 versteht. Wenn Heidegger die Frage nach dem Sinn von Sein ausarbeiten will, d. h. nicht den Sinn von Sein selbst, so liegt die Betonung dessen, was in Frage steht, auf der Frage selbst. Dementsprechend wendet sich Heidegger nun auch in § 2 zunächst der Frage zu, d. h. dem, was überhaupt zu einer Frage gehört. 489 Wir können hiermit eine Bewegung in Heideggers Philosophie zur Fraglichkeit zurück feststellen – zu der Frage danach, was die Philosophie überhaupt fragt. Doch wie bestimmt Heidegger nun diese Fraglichkeit? Heidegger schreibt: »Jedes Fragen ist ein Suchen. Jedes Suchen hat sein vorgängiges Geleit aus dem Gesuchten her.« 490 Heidegger ist sich also im klaren darüber, dass die Frage bereits auf etwas hinaus ist, um überhaupt als Frage gestellt werden zu können. Heidegger geht nun zwei Schritte weiter: erstens fasst er die theoretische Frage darin, dass in ihr »das Gefragte bestimmt und zu 488 489 490
SZ, 2. Vgl. SZ, 3. SZ, 3.
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Die Problematik der leitenden Frage der Philosophie in Heidegger
Begriff gebracht werden [soll].« 491 Zweitens fasst er das Fragen selbst darin, dass es »als Verhalten eines Seienden, des Fragers, einen eigenen Charakter des Seins [hat].« 492 Heidegger versucht in der Folge die Seinsfrage (zunächst) aus der Untersuchung des Fragens selbst zu erschließen. In der Erörterung dessen, was das »Befragte« für die Seinsfrage ist, stößt Heidegger auf das Seiende – das Seiende soll auf sein Sein hin befragt werden. Dabei fragt er nun: »An welchem Seienden soll die Erschließung des Seins ihren Ausgang nehmen?« 493 Heideggers Antwort, so können wir bereits erahnen, läuft darauf hinaus, dass das ich selbst, das Dasein, dieses Seiende ist. Heidegger schreibt: Wenn die Frage nach dem Sinn von Sein ausdrücklich gestellt und in voller Durchsichtigkeit ihrer selbst vollzogen werden soll, dann verlangt eine Ausarbeitung dieser Frage nach den bisherigen Erläuterungen die Explikation der Weise des Hinsehens auf Sein, des Verstehens und begrifflichen Fassens des Sinnes, die Bereitung der Möglichkeit der rechten Wahl des exemplarischen Seienden, die Herausarbeitung der genuinen Zugangsart zu diesem Seienden. Hinsehen auf, Verstehen und Begreifen von, Wählen, Zugang zu sind konstitutive Verhaltungen des Fragens und so selbst Modi eines bestimmten Seienden, des Seienden, das wir, die Fragenden, je selbst sind. 494
Wir können in Bezug auf unsere Frage, wie sich das Erörterte in Heideggers nachfolgenden Werken fortsetzt, in Hinblick auf die Fragestellung von Sein und Zeit feststellen, dass Heideggers Fragestellung nach dem (Sein des) Daseins ein Gewand im Sinne der Grundfrage der Philosophie bekommen hat. An die Stelle des einfachen Setzens des Lebens an und für sich oder an anderer Stelle des Daseins als Thema der Philosophie, soll nun die Frage der Philosophie selbst in Frage gestellt werden. Diese Grundfrage der Philosophie, die allererst ausgearbeitet werden soll, ist jedoch bereits vorausgesetzt: es ist die Frage nach dem Sinn von Sein. Heidegger fragt also nicht, was die Grundfrage der Philosophie ist, sondern was und wie die Frage nach dem Sinn von Sein gestellt werden kann, welche Frage er als Grundfrage der Philosophie voraussetzt. Heidegger will die eigentliche Frage der Philosophie erfassen, fängt dabei aber mit einer bestimmten 491 492 493 494
SZ, 5. SZ, 5. SZ, 7. SZ, 7.
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Heideggers Kantinterpretation
Frage an, als welche er nun die eigentliche Frage der Philosophie fassen will – die Frage nach der Frage der Philosophie wird nicht explizit. Die Art und Weise wie im Anschluss hieran die Frage selbst in den Blick kommt verrät, dass auch die Weise der Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein bereits feststeht. Heidegger überspringt bei der Erläuterung der Frage selbst in § 2, dass jede Frage auf ein Wissen hinaus will. Die Frage selbst wird entsprechend der Voraussetzung der Frage nach dem Sinn von Sein nur in Hinblick auf ein Fragen zum Gegenstand von Heideggers Untersuchung. Es ist sodann dieses Fragen nach dem Sinn von Sein, welches das Seiende festlegt, an dem »der Sinn von Sein abgelesen werden« 495 soll und das »exemplarische Seiende« 496 bestimmt, welches in der Ausarbeitung der Seinsfrage einen Vorrang hat: das Dasein. Und so wird, wie in Kapitel 14 inhaltlich ausgelegt, das Sein des Daseins nun über die Fraglichkeit, d. h. als das, was sich die Seinsfrage stellt, zum Gegenstand der Untersuchung: »Die ausdrückliche und durchsichtige Fragestellung nach dem Sinn von Sein verlangt eine vorgängige angemessene Explikation eines Seienden (Dasein) hinsichtlich seines Seins.« 497 Heidegger ist also aus der Problematik getrieben, die sich in der Untersuchung des Daseins auftrat, dass das »Wie«, die Eigentlichkeit, das Erkennen und mit all dem die Zeitlichkeit nicht zufriedenstellend bestimmt werden konnten, einen Schritt vor die Daseinsauslegung getreten: das Gebiet der Philosophie ist nicht mehr das Dasein, sondern das Sein, aber nicht festgelegterweise sondern: das Gebiet der Philosophie steht nicht fest, sondern muss über die Frage nach dem Sinn von Sein eigentlich erst ausgearbeitet werden. Doch wie bereits in der Festlegung des Lebens oder Daseins als Gebiet der Philosophie, ist auch hier die leitende Frage bereits vorausgesetzt als Frage nach dem Sein, ohne dass dabei die Frage nach der Philosophie oder dem Wissen hinsichtlich des Leitfadens der Untersuchung (und damit ihres Zieles) explizit wird. Es wird eingangs nicht erklärt, warum Heidegger die Frage nach dem Sinn von Sein für die Frage hält »die das Forschen von Plato und Aristoteles in Atem« 498 hielt und die »ehemals in der höchsten Anstrengung des Denkens den Phänomenen 495 496 497 498
SZ, 7. SZ, 7. SZ, 7. SZ, 2.
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Die Problematik der leitenden Frage der Philosophie in Heidegger
abgerungen wurde.« 499 Insofern es nun um die Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein gehen soll, zeigt sich, dass sich auch Heidegger nicht im klaren darüber ist, warum die Frage nach dem Sinn von Sein diese grundlegende Rolle für die Philosophie spielen soll. Die Frage ist demnach durch Heidegger nicht vorausgesetzt in dem Sinne, dass er weiß, warum es gerade diese Frage ist, die die Philosophie bewegen soll. Was also bringt Heidegger dazu, die Frage nach dem Sein als Frage der Philosophie vorauszusetzen? Insofern die Frage nach dem Sinn von Sein noch gar nicht gestellt ist, sondern erst ausgearbeitet werden soll, kann sie als noch nicht bestimmte Frage gestellt werden – sie geht nicht auf etwas hinaus, unter dem wir uns bereits etwas vorstellen. Die Betonung liegt so auf der Frage selbst – was ist die Frage der Philosophie? Wonach soll eigentlich gefragt werden? Und hier geht Heidegger erneut nicht auf die Fraglichkeit selbst ein, sondern geht denselben Weg, den er bereits zuvor einschlug: über das, was fragt – der Mensch, das Dasein. Es ist hiermit aus der leitenden Frage heraus angezeigt, dass sich für Sein und Zeit dieselbe Problematik auftun wird wie die, die sich Heidegger in seinem vorangehenden Schaffen auftut: weder das Sein noch die Zeit noch das Erkennen des Daseins werden sich (im Sinne der Erkenntnis) bestimmen lassen, insofern sie auf dem Boden der Frage nach dem Sein des Daseins prinzipiell nicht in ihrer Konstitution erschlossen werden können. Heidegger übersieht hier, dass er mit der Verlegung der Frage auf die Untersuchung des Fragenden, insofern der Fragende ein Dasein ist, ein Leben ist, das nicht nur fragend ist, die Frage (nach) der Philosophie, die er stellen will, aus dem Blick verliert. Anstatt die Frage nach dem Wissen auszuarbeiten, worauf der Fragende hinaus ist, insofern die Frage auf das Wissen hinaus ist, fragt Heidegger nach dem Sein des Fragenden und damit dann nach dem Sein des Daseins. Die nächste Untersuchung unter § 3 widmet Heidegger dem ontologischen Vorrang der Seinsfrage und dieser Paragraph gibt nun, der Form nach, eine Begründung dafür, dass Heidegger die Seinsfrage als »prinzipiellste und konkreteste Frage zugleich« 500 als Frage der Philosophie setzt. »Sein ist jeweils das Sein eines Seienden«, 501 schreibt Heidegger und das All des Seienden kann nach seinen Be499 500 501
SZ, 2. SZ, 9. SZ, 9.
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Heideggers Kantinterpretation
zirken das Feld bestimmter Sachgebiete werden. In den Grundbegriffen kommt nun, Heidegger zufolge, das Sachgebiet einer Wissenschaft zum Ausdruck, indem diese Grundbegriffe durch »Auslegung dieses Seienden auf die Grundverfassung seines Seins« 502 gewonnen werden. Diese Auslegung bezeichnet Heidegger als produktive Logik, durch welche ein Seinsgebiet in seiner Seinsverfassung allererst erschlossen und gewonnen wird. Heidegger legt nun das Primäre für die Philosophie in diesem Zusammenhang auf die »Interpretation des eigentlich geschichtlich Seienden auf seine Geschichtlichkeit« 503 fest. Dieses ontologische Fragen (das geschichtlich Seiende in seiner Geschichtlichkeit ist bereits als ontologische Frage der Philosophie bestimmt) nach dem Sein des Seienden bedarf nun Heidegger zufolge eines Leitfadens durch die Frage nach dem Sinn von Sein. Wonach Heidegger mit der Seinsfrage also fragt, ist die Bedingung der Möglichkeit der Ontologien (der Philosophie eingeschlossen), was wiederum verstanden werden kann als Bedingung der Möglichkeit der Wissenschaft und der Philosophie überhaupt. Wie kommt Heidegger also auf den Begriff des Seins? In Logik. Die Frage nach der Wahrheit legte Heidegger aus, dass die Sorge als Grundstruktur des Daseins bedeutet, dass das Dasein ein Seiendes ist, dem es um sein Sein geht. In unserer nachfolgenden Untersuchung wurde deutlich, warum die Konstitution dieses Seins, um das es dem Dasein (eigentlich) geht, auf Heideggers Grundlage der Frage nach dem Sein des Daseins nicht beantwortet werden kann. Es verwundert in diesem Sinne nicht, dass aus Heideggers Frage nach dem Sein des Daseins daher nun die Frage nach dem Sinn von Sein wird. 504 In § 4 der Einleitung von Sein und Zeit widmet sich Heidegger nun der Darlegung des ontischen Vorranges der Frage nach dem Sinn von Sein und versteht hier die Frage der oder nach der Wissenschaft als einer Verhaltung des Menschen. In diesem Zusammenhang verSZ, 10. SZ, 10. 504 Vgl. hierzu auch SZ, 13: »Und so hängt auch die Möglichkeit einer Durchführung der Analytik des Daseins an der vorgängigen Ausarbeitung der Frage nach dem Sinn von Sein überhaupt.« Wie und warum sich die Seinsfrage auf der Grundlage der Kantinterpretation vor 1926 ausbildet, wird sich erst an dem nachfolgenden Werk Phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft darstellen lassen, insofern uns dieses Aufschluss über den Verlauf von Heideggers Kantauslegung und ihrer Folgen für sein eigenes Schaffen, welcher vor es selbst zurückreicht, zu geben vermag. 502 503
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Die Problematik der leitenden Frage der Philosophie in Heidegger
ortet Heidegger die Bestimmtheit des vorontologischen Seinsverständnisses, welches die Wissenschaften fundiert, in der ontischen Struktur des Daseins. 505 Die Ausarbeitung der Seinsfrage ist hiermit auf das Dasein verwiesen. Heidegger schreibt: »Daher muss die Fundamentalontologie, aus der alle anderen erst entspringen können, in der existenzialen Analytik des Daseins gesucht werden.« 506 Die Seinsfrage ist demnach keine andere Frage als die Frage nach dem Sein des Daseins, mit zwei Modifikationen: 1) sie hat nun das Gewandt der Frage der Philosophie selbst als welche sie sich jedoch nicht begründet hat und 2) sie wird explizit als solche Frage erst ausgearbeitet, d. h. es zeigt sich an, dass ihre Bestimmung für den Autor auf Grenzen gestoßen ist. Welche Grenzen dies sein mögen, wurde in Kapitel 14 erarbeitet. Fragen wir auf dieser Grundlage weiter, ob die Zeit gleichermaßen wie zuvor mit dem Dasein identifiziert wird und ob Kant erneut für die Bestimmung der Zeit und mit ihr des Daseins im Sinne der Erkenntnis eintritt. Heidegger schreibt diesbezüglich: »Als der Sinn des Seins desjenigen Seienden, das wir Dasein nennen, wird die Zeitlichkeit aufgewiesen.« 507 Und auch hier bedarf es nun einer »ursprünglichen Explikation der Zeit als Horizont des Seinsverständnisses aus der Zeitlichkeit als Sein des seinsverstehenden Daseins.« 508 Die Zeitlichkeit des Daseins ermöglicht nun die Geschichtlichkeit als Seinsart des Daseins. Insofern die Geschichtlichkeit vom Dasein als Möglichkeit ergriffen werden kann und es so wesentlich geschichtlich wird, macht es sich seine Existenz und den Sinn seiner Existenzialität, so Heidegger, durchsichtig. Die Seinsfrage ist damit für Heidegger selbst durch die Geschichtlichkeit charakterisiert. 509 Heidegger schreibt: »Die Ausarbeitung der Seinsfrage muß so aus dem eigensten Seinssinn des Fragens selbst als eines geschichtlichen die Anweisung vernehmen, seiner eigenen Geschichte nachzufragen […].« 510 Innerhalb der Destruktion der Geschichte fragt Heidegger demgemäß, wie bereits in Logik. Die Frage nach der Wahrheit, wo bereits in der Geschichte der Ontologie die Interpretation des Seins mit dem Phänomen der Zeit zusammengebracht worden sei und kommt dabei 505 506 507 508 509 510
Vgl. SZ, 11–13. SZ, 13; Hervorhebungen im Original. SZ, 17. SZ, 17. Vgl. SZ, 20. SZ, 20 f.
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Heideggers Kantinterpretation
auch hier zu Kant. 511 Abermals wird nun der Inhalt der Bestimmung der Temporalität durch Kant gefüllt. Heidegger schreibt: Im Verfolg der Aufgabe der Destruktion am Leitfaden der Problematik der Temporalität versucht die folgende Abhandlung [Sein und Zeit] das Schematismuskapitel und von da aus die Kantische Lehre von der Zeit zu interpretieren. Zugleich wird gezeigt, warum Kant die Einsicht in die Temporalität versagt bleiben mußte. 512
Der Inhalt der Bestimmung der Zeit im Sinne der Temporalität, an dem die Temporalität dann deutlich gemacht werden soll, soll also auch hier aus Kant heraus erfolgen. Heidegger gelangt nun nicht zu dieser Erörterung, die im zweiten Teil von Sein und Zeit statthaben sollte. Dass mit der Auslegung von Kants Zeitbegriff zugleich die ausführliche Erörterung zur Zeitlichkeit der Sorge mit dem zweiten nie veröffentlichten Hauptteil von Sein und Zeit wegfällt, spricht für sich. Der nie fertiggestellte zweite Teil von Sein und Zeit sollte mit dem Abschnitt »Kants Lehre vom Schematismus und der Zeit als Vorstufe einer Problematik der Temporalität« beginnen. 513 Es zeigt sich also, dass auch in Sein und Zeit die Kantauslegung für die Lücke in der Bestimmung der Zeit im Erkennen und damit die Bestimmung des Erkennens selbst (über das alltägliche Besorgen und die AlsStruktur, wie es anhand der Daseinsauslegung beschrieben werden kann, hinaus) einstehen sollte. Sein und Zeit kommt damit weder in Bezug auf die grundlegende Fragestellung Heideggers (da auch hier die Seinsfrage über das Dasein vorbereitet werden soll und damit letztlich erneut das Dasein in Frage steht) noch in Bezug auf das Problem, dass die Eigentlichkeit (und die Temporalität) nicht inhaltlich entwickelt werden kann, über Heideggers vorhergehende Werke hinaus.
Vgl. SZ, 23: »Der Erste und Einzige, der sich eine Strecke untersuchenden Weges in der Richtung auf die Dimension der Temporalität bewegte, bzw. sich durch den Zwang der Phänomene selbst dahin drängen ließ, ist Kant.« 512 SZ, 23; Hervorhebung im Original. 513 SuZ, S. 40. 511
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Die Problematik der leitenden Frage der Philosophie in Heidegger
15.2 Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft Schreiten wir von Sein und Zeit aus in der Chronologie von Heideggers Werken weiter, findet sich in der Marburger Vorlesung Grundprobleme der Phänomenologie aus dem Sommersemester 1927 eine Kantinterpretation, die sich jedoch auf seine These, dass das Sein kein reales Prädikat ist, bezieht und nur von hier aus das Verständnis dieser These als aus der Gegenwart interpretiert auslegt. 514 Die Zeit in Kant kommt dabei nicht zum Tragen und die leitende Fragestellung der Vorlesung schließt sich an die Fragestellung in Sein und Zeit an, welche oben bereits behandelt worden ist. 515 Wir wenden uns daher nun der Marburger Vorlesung Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft aus dem Wintersemester 1927/28 zu, in der Heidegger eine ausführliche Interpretation der Kritik der reinen Vernunft vorlegt.
15.2.1 Das Vorhaben der Vorlesung Der erste Satz der Vorbetrachtung der Vorlesung weist darauf hin, dass Heideggers Ansatzpunkt einer genaueren Untersuchung bedarf: Heidegger kündigt das Thema der Vorlesung rein auf Kants Kritik der reinen Vernunft bezogen an. Er schreibt: »Die Absicht der Vorlesung geht dahin, ein philosophisches Verständnis von Kants Kritik der reinen Vernunft zu gewinnen, und das heißt philosophieren zu lernen.« 516 Heidegger erläutert nun, was es heißt, ein Verständnis von der Kritik der reinen Vernunft zu gewinnen und zwar nennt er hierfür zwei Erfordernisse. Das eine ist, dass es ein Wissen darum geben muss, »was es heißt, eine überlieferte Philosophie zu verstehen.« 517 Das zweite Erfordernis ist die Kenntnis der »Mittel und Wege« 518, oder anders gesagt, der Methode, mit der dieses Verständnis gewonnen werden kann. Heidegger erläutert nun diese beiden Erfordernisse Vgl. GA 24, 35–107; 199–218; 445–451. Heidegger ordnet die Vorlesung in einer Randbemerkung als dritten Abschnitt des ersten Teiles von Sein und Zeit ein. Vgl. GA 2, 581 f. (Nachwort des Herausgebers Friedrich-Wilhelm von Herrmann). 516 GA 25, 1. 517 GA 25, 1. 518 GA 25, 1. 514 515
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Heideggers Kantinterpretation
erschließend, dass »[g]erade die ursprünglichen menschlichen Bemühungen [ihre Beständigkeit darin haben], daß sie ihre Fraglichkeit nie ablegen, daß sie auf denselben Punkt deshalb zurückkommen und einzig darin ihre Kraftquelle finden.« 519 Was sich hier ausdrückt ist Heideggers Idee der Fraglichkeit: die Fraglichkeit ist das, was die ursprünglichen menschlichen Bemühungen ausmacht. In der nachfolgenden Auslegung der Fraglichkeit können wir ersehen, dass Heidegger die Fraglichkeit nicht im Sinne eines sicheren Wissenkönnens versteht. Er schreibt in Bezug auf die Fraglichkeit: Die Philosophie entwickelt sich nicht im Sinne eines Fortschritts, sondern ist die Bemühung um Auswicklung und Erhellung derselben wenigen Probleme, sie ist der selbstständige, freie, grundsätzliche Kampf der menschlichen Existenz mit der in ihr jederzeit ausbrechenden Dunkelheit. Und alle Aufhellung eröffnet nur neue Abgründe. 520
Es wird hier deutlich, dass Heidegger die Fraglichkeit bereits im Sinne der Frage nach der menschlichen Existenz stellt. Insofern die Fraglichkeit nicht im Sinne des Wissens in den Blick kommt, ist auch die Konklusion, dass »alle Aufhellung […] nur neue Abgründe [eröffnet]« 521 allein im Sinne des Lebens vorweggenommen. Gleichzeitig scheint in der Thematisierung der Fraglichkeit etwas anderes durch: es gibt etwas, worauf menschliche Vernunft immer und jederzeit zurückkommt, etwas, das dasselbe bleibt. Nur aus dieser Auslegung heraus macht es Sinn, wenn Heidegger angelehnt an ein Zitat Kants schreibt: Wir dürfen uns nicht an die bloße wörtliche Beschreibung halten, die er als Urheber der Transzendentalphilosophie von dieser gibt, sondern müssen diese Idee, das heißt ihre Bestimmungsstücke in ihrer Ganzheit, verstehen aus dem, worin die Idee gegründet ist, wir müssen in den sachlichen Grund zurückgehen über das hinaus, was die erste Beschreibung sichtbar gemacht hat. 522
Die Frage stellt sich nun für uns: was ist dieser sachliche Grund und wie gewinnt Heidegger ihn? Aus unserer vorhergehenden Auseinandersetzung drängen sich zwei Möglichkeiten auf. 1) Entweder der sachliche Grund wird als Frage nach der Erkenntnis oder dem Wissen 519 520 521 522
GA 25,1. GA 25, 2. GA 25, 2. GA 25, 2 f.
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Die Problematik der leitenden Frage der Philosophie in Heidegger
entwickelt und so die Möglichkeit eröffnet in der Erkenntnistheorie Kants Problemstellung aufzulösen bzw. einen Ansatz zu entwickeln, der das Wissen in den Blick bringt ohne auf dieselbe Problematik zu stoßen oder 2) die Frage nach dem Wissen wird nicht gestellt und es ist ein anderer »sachlicher Grund«, der zu der Auseinandersetzung führt. In diesem Fall muss über den sachlichen Grund und ob er aus Kants Idee etwas ziehen kann, entschieden werden, insofern es dann gerade nicht Kants Idee ist, die darin entwickelt wird. Für Heidegger geht es nun in der Auseinandersetzung in diesem Sinne darum, »Kant besser [zu] verstehen, als er sich selbst verstand« 523 und dies bedeutet, das in den Blick zu bringen »was Kant meint.« 524 Dafür nun geht es um ein Lebendigmachen philosophischer Probleme. Heidegger erhebt hier also den Anspruch, dass seine Auslegung dasselbe in den Blick bringt wie das, was Kant in den Blick bringen wollte – dass die zugrundeliegende Idee dieselbe ist. Die Frage ist lediglich, wie sie zum Ausdruck kommt und ob sie eigentlich begriffen wurde, in dem was letztlich nun tatsächlich geschrieben wurde. Die Hauptprobleme Kants sind auch die Hauptprobleme der Philosophie, schließt Heidegger implizit, wenn er sagt: »Wir wollen die Hauptprobleme seiner philosophischen Arbeit verstehen, und das heißt: philosophieren lernen.« 525 Nun kündigt Heidegger zugleich an, dass die Interpretation als phänomenologische die Auseinandersetzung mit Kant sich »unmittelbar aus der heute lebendigen philosophischen Problematik vollzieht.« 526 Doch wie ist dies möglich, muss sich doch der sachliche Grund aus einer Idee hergeben, einer Idee, die für Kant genauso gilt wie für das Heute? Heidegger geht auf diese Problematik nicht ein und es zeigt sich hierin erneut die Doppeldeutigkeit der Fraglichkeit: Die Fraglichkeit wird auf der einen Seite im Sinne des Lebens als geschichtliche Entwicklung beschrieben, die begrenzt und immer in neue Abgründe verweisend sei. Auf der anderen Seite soll die Fraglichkeit auf die wenigen gleichen Probleme der Philosophie und auf eine Idee, um die sich die Kritik der reinen Vernunft genauso wie Heideggers Auslegung dreht, hinweisen, d. h. auf etwas Gleichbleibendes.
523 524 525 526
GA 25, 3. GA 25, 5. GA 25, 6. GA 25, 6.
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Heideggers Kantinterpretation
Heidegger gibt nun in seiner Auslegung einen ersten Hinweis auf diese Idee, um die es gehen soll. Er nennt das Problem, um das der Kampf der Auslegung gehen wird: »die Metaphysik, ihr Sein, ihr Grund und ihre Form als Wissenschaft. Zugleich liegt darin die Frage: Inwiefern macht die Metaphysik das Zentrum der Philosophie aus, und in welcher Form kann sie Zentrum sein?« 527 Heidegger widmet sich nun in diesem Sinne zunächst der Erläuterung der Wortbedeutung der Metaphysik »vom buchtechnischen Titel zur Bezeichnung der zentralen Wissenschaft der Philosophie.« 528
15.2.2 Die Metaphysik als Ausgangslage für Kants Grundlegung derselben Was Aristoteles in der Philosophie und der Theologie untersucht, fasst Heidegger zunächst darin, dass sie eigentümlich und gemeinsam haben, »daß sie über das erfahrbare Seiende hinausgehen, insofern sie einmal die Weltganzheit und ihren Grund zum Problem machen und sodann das Sein des Seienden, das jedem Seienden als Seienden als Verfassung zukommt.« 529 Das was in dieser Wissenschaft untersucht wird ist so nach Heidegger das, was das Physische überschreitet und das Physische setzt er hier gleich mit dem erfahrbar Vorhandenen und dem Sinnlichen. Metaphysik ist nun in diesem Sinne verstanden als die Wissenschaft »vom übersinnlichen Seienden, von dem der Erfahrung nicht Zugänglichen.« 530 Diese Bestimmung ist selbstverständlich zunächst eine rein negative – das, was nicht sinnlich ist – und muss uns an das Resultat des ersten Hauptteils erinnern. Heidegger gibt nun eine weitere Bestimmung dessen, was als Gebiet in das so nicht sinnlich Erfahrbare fällt: »die Welt als Totalität, da das Ganze in seiner Ganzheit nicht erfahrbar ist; der Weltgrund Gott; ferner das Seiende innerhalb der Welt, das für alles Fragen im Zentrum steht, der Mensch selbst, und zwar das an ihm Unerfahrbare: das, was jenseits des Todes liegt, die Unsterblichkeit der Seele; die Seele überhaupt und ihre Freiheit.« 531
527 528 529 530 531
GA 25, 10 f. GA 25, 11. GA 25, 12. GA 25, 13. GA 25, 13.
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Diese Aufzählung ist, wie wir gesehen haben, aus der negativen Bestimmung der Metaphysik entsprungen. Aus dieser Aufzählung macht Heidegger drei Disziplinen der Metaphysik aus, wie sie bei Aristoteles behandelt werden und zwar die von Gott (Theologie), die von der Welttotalität (Kosmologie) und die von der Seele (Psychologie) sowie eine Wissenschaft, die vom Seienden im Allgemeinen handelt, insofern es jedem Seienden, ob Gott, Naturding oder Seelischem, zukommt und die die metaphysica generalis bildet. 532 Heidegger weist nun darauf hin, dass Kant die so beschriebene Bedeutung der Metaphysik übernimmt und dabei in seiner Vorlesung über Metaphysik darauf hinweist, dass diese die Wissenschaft von den Prinzipien des Seienden sei, nicht die der Prinzipien der Erkenntnis. 533 In diesem Sinne fasst Heidegger nun in Bezug auf Kant zusammen: »›Das Übersinnliche‹ ist nach ihm der ›Endzweck der Metaphysik‹, und zwar das Übersinnliche in uns, über uns und nach uns, Freiheit, Gott und Unsterblichkeit.« 534 Wie Kant die Metaphysik genauer versteht, können wir Heidegger zufolge erst aus seiner Grundlegung derselben selbst näher verstehen. Hier merkt Heidegger zunächst über Kants Verständnis unter Hinweis auf die Fortschritte lediglich weiter an, dass die metaphysische Erkenntnis keine Erkenntnis durch Erfahrung ist, sondern durch Vernunft und zweitens dass die Metaphysik einen Überschritt über das Sinnliche hinaus bedeutet. Heidegger weist dabei darauf hin, dass es bei diesem Überschritt nicht um das Übersinnliche geht, sondern um das Nichtsinnliche, welches weiter gefasst sei als das Übersinnliche. Heidegger bestimmt nun die Ausgangslage für Kant wie folgt: Was Kant also traditionell als Metaphysik vorlag und worin er sich selbst lange Zeit bewegte, ist eine Wissenschaft, die aus bloßen Vernunftbegriffen – Gott, Seele – etwas über das damit gemeinte Seiende ausmachen will, und zwar auf dem Wege einer logischen Zergliederung dieser Begriffe am Leitfaden bestimmter Prinzipen wie dem Satz des Widerspruchs. 535
Die Frage, die sich Kant nun Heidegger zufolge stellt, ist, ob »diese theoretische metaphysische Erkenntnis« 536 einen Boden hat. Die Vgl. GA 25, 12 ff. Vgl. GA 25, 14. 534 GA 25, 15; vgl. für den Hinweis auf Kant: Über die Fortschritte der Metaphysik, Cass. VIII, S. 235. 535 GA 25, 15. 536 GA 25, 15. 532 533
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Frage dabei ist, woran sich diese Sätze der Metaphysik belegen lassen, da es keine anschauliche Erfahrung dieses übersinnlichen Seienden gibt, diese sich folglich auch nicht durch Erfahrung widerlegen lassen. In diesem Sinne nimmt nun Kant, so Heidegger, die Kritik in Angriff: im Sinne der Frage nach der Möglichkeit solcher übersinnlichen Erkenntnis. Heidegger fasst daraus hervorgehend Kants Kernfrage als Frage nach dem wo und wie des Überschritts vom Sinnlichen zum Übersinnlichen der Metaphysik. Er schreibt: »Kant leugnet nicht die Möglichkeit der Metaphysik, sondern hält sogar an der traditionellen Metaphysik in ihrem Endzweck als eigentliche Metaphysik fest. Die Frage ist nur: Von wo aus und wie ist der Überschritt zum Übersinnlichen zu wagen?« 537 Um nun Kants Grundlegung der Metaphysik als Wissenschaft verstehen zu können, müssen wir Heidegger zufolge zunächst verstehen, was Grundlegung einer Wissenschaft überhaupt bedeuten kann. Hierzu schiebt Heidegger nun eine phänomenologische Betrachtung der Grundlegung einer Wissenschaft und dem, was Wissenschaft überhaupt bezeichnet, ein. Diese soll sich nicht an Kant orientieren, sondern die weitere Interpretation der Kritik der reinen Vernunft und mit ihr der Philosophie überhaupt erst ermöglichen.
15.2.3 Heideggers Begriff der Wissenschaft Um eine phänomenologische Betrachtung der Wissenschaft vornehmen zu können, braucht die Betrachtung eine vorläufige Kennzeichnung, was soviel heißen muss als dass von einem Phänomen ausgegangen werden muss, das sodann in der phänomenologischen Methode oder Haltung erst betrachtet werden kann, so Heidegger. Diese vorläufige Kennzeichnung wählt Heidegger als »Art der Erkenntnis«. 538 Nun geht Heidegger aber einen weiteren Schritt: »Erkenntnis aber nehmen wir nicht im Sinne des Erkannten, sondern als erkennendes Verhalten.« 539 Heidegger beansprucht hier aus dem menschlichen Verhalten heraus (auf wissenschaftliche Art zu erkennen), das Wesen des Erkennens, das Wesen der Wissenschaft, erschließen zu können. Wie aber soll wissenschaftliches Erkennen als menschliches Verhalten in den Blick kommen, wenn nicht klar ist, 537 538 539
GA 25, 16 f. Vgl. GA 25, 18. GA 25, 18.
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Die Problematik der leitenden Frage der Philosophie in Heidegger
was Wissenschaft überhaupt ist? Wir könnten Heideggers Frage aber auch so stellen: Worauf ist der Mensch in der Wissenschaft hinaus? Gehen wir also dieser Frage Heideggers weiter nach und sehen, wohin sie uns führt. Heidegger gibt nun eine erste Bestimmung des Wesens des Erkennens als Art des Menschen zu sein: »Im Wesen dieser Art zu sein, im Wesen des Erkennens, liegt es, daß es sich zu erkennbarem beziehungsweise erkanntem Seienden wie Natur, Geschichte, Raum oder Zeit verhält.« 540 Heidegger bestimmt nun das enthüllende Verhalten des Daseins als eine freie Möglichkeit des menschlichen Daseins und damit als Existenzmöglichkeit. Um das Wesen der Wissenschaft als solche Existenzmöglichkeit vorläufig zu kennzeichnen, bedarf es Heidegger zufolge vor allem zweier wesentlicher Bestimmtheiten, die zur Existenz des Daseins gehören: das In-der-Welt-Sein und die Freiheit. 541 Das In-der-Welt-Sein kennzeichnet Heidegger wie in den vorangegangenen Werken dadurch, dass das »Sein des Selbst […] wesentlich dadurch bestimmt [ist], daß es sich zu dieser Welt verhält.« 542 Das Dasein zeichnet sich hierdurch vor einem Stein oder Stuhl aus, deren Seinsart »bar jeden Verhaltens zu einer Welt« 543 ist und von Heidegger als Vorhandenes bezeichnet wird. Auch die Natur bezeichnet Heidegger als »vorhanden« und weist dabei darauf hin, dass sie von sich aus vorhanden ist und nicht etwa von der Existenz des Daseins abhängig ist. Nur als solches von sich aus Vorhandenes kann die Natur dem Dasein innerhalb seiner Welt begegnen. 544 Diese Kennzeichnung des In-der-Welt-Seins und der Vorhandenheit ist nun interessant, insofern wir nach der Erkenntnis fragen, es geht jedoch hier, wir erinnern uns, um die Bestimmung dessen, was Wissenschaft ist, um das Wesen der Wissenschaft und die Untersuchung menschlich erkennenden Verhaltens soll uns dieses Wesen erschlieGA 25, 18. Vgl. GA 25, 18 f. Heidegger weist hierbei darauf hin, dass für die eigentlich befriedigende Ausarbeitung des existenzialen Begriffs der Wissenschaft, d. h. der Interpretation des Wesens der Wissenschaft als Existenzmöglichkeit des Daseins, eine allgemeine Wesensbestimmung des menschlichen Daseins vorgenommen werden müsste. Insofern Heidegger es hier jedoch verantwortet, den Studierenden eine vorläufige Kennzeichnung des Wesens der Wissenschaft zu unterbreiten, muss davon ausgegangen werden, dass es hinreichend dafür ist, den Versuch, die Wissenschaft durch das menschliche Verhalten (wissenschaftlich) zu erkennen zu bestimmen, zu beurteilen. 542 GA 25, 19. 543 GA 25, 19. 544 GA 25, 19. 540 541
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ßen. In diesem Sinne sind wir mit dem In-der-Welt-Sein noch nicht über das »Verhalten zu«, welches oben in seiner Unbestimmtheit aufgezeigt wurde, hinausgekommen. 545 Auf der Grundlage des In-der-Welt-Seins gibt Heidegger nun eine Kennzeichnung der zweiten Bestimmtheit des menschlichen Daseins, die die Kennzeichnung des Wesens der Wissenschaft leisten soll: die Freiheit. Heidegger schreibt hierzu allein das folgende: Das menschliche Dasein, das eine Welt hat, ist ein Seiendes, dem es um seine eigene Existenz geht, so zwar, daß es sich selbst wählt oder sich der Wahl begibt. Die Existenz, die je unser Sein mitausmacht, nicht aber allein bestimmt, ist Sache unserer Freiheit, und nur Seiendes, das sich entschließen kann und zu sich so oder so entschlossen hat, kann eine Welt haben. Welt und Freiheit stehen als Grundbestimmungen menschlicher Existenz im engsten Zusammenhang. 546
Heidegger hält nun auf der Grundlage dieser beiden Bestimmtheiten des Daseins fest, dass das »innerweltlich Seiende, dazu Dasein sich verhält, […] in und durch und für dieses Verhalten enthüllt [ist].« 547 Zugleich mit dem innerweltlich Seienden ist aber auch das Existierende sich selbst offenbar. Hier gibt uns Heidegger nun weiteren Aufschluss über das erkennende Verhalten und zwar ist es nicht das »vorherrschende Verhalten, durch das wir überhaupt das innerweltlich Heidegger weist hier darauf hin, dass Kant das Phänomen der Welt in diesem Sinne verkannt habe. 546 GA 25, 20. Die hier vorgelegte Kennzeichnung der Freiheit muss uns an die Bestimmung des Seins des Daseins selbst und die Sorge als Sinn des Seins des Daseins in Logik. Die Frage nach der Wahrheit erinnern. Hier sollte erklärt werden, wie die Sorge als Grundstruktur die Möglichkeit der Sorge als eigentliches Sein und die Möglichkeit der Sorge als verfallendes Besorgen umfassen kann. Die Erklärung war hier, dass es dem Dasein um sein Sein selbst geht und Sorge im Besorgen eine Modifikation desselben ist, insofern sich das Dasein sein Sein von der Welt her geben lässt, es dem Dasein dabei jedoch immer noch um sein Sein geht. (Vgl. GA 21, 220 ff., sowie Kapitel 13.3 f. dieser Arbeit.) Die Uneigentlichkeit (das Besorgen) und die Eigentlichkeit wurden nun beide als Möglichkeiten des Daseins bestimmt, die in seinem Sein wurzeln. Der Eigentlichkeit wurde mit der Entschlossenheit jedoch im Grunde genommen das Wählen zugesprochen. Es blieb letztlich die Frage offen, wie die Eigentlichkeit des Seins des Daseins positiv bestimmt werden kann, wenn auch die Uneigentlichkeit eine Möglichkeit ist und Teil des Seins des Daseins. Dieselbe Problematik ist hier in Bezug auf die Freiheit lediglich verschoben nicht aufgelöst: Denn es stellt sich in Bezug auf Heideggers oben zitierte Kennzeichnung der Freiheit die Frage, wie »sich der Wahl begeben« als Freiheit verstanden werden soll, ohne zugleich den Sinn der Freiheit, der in »sich selbst wählen« liegt, aufzuheben. 547 GA 25, 21; Hervorhebung im Original. 545
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Seiende entdecken, […] das Verwenden, das Gebrauchen von Gebrauchsdingen, das Umgehen mit Fahrzeug, Nähzeug, Schreibzeug, Werkzeug zu …, Zeug im weitesten Sinn.« 548 Heidegger hat nun also die Tasse, insofern ich morgens aus ihr Kaffee trinke, aus dem erkennenden Verhalten herausgenommen. Insofern er die Wissenschaft nicht über das Wissen sondern über das erkennende Verhalten des Menschen bestimmt, setzt er so, dass das bloße Fassen der Tasse als etwas aus dem ich trinke, der Wissenschaft nicht zugehört. Insofern die Wissenschaft nur über das erkennende Verhalten des Menschen bestimmt wird, gibt es nun auch keinen Weg mehr zu fragen, wie ich zu dem Fassen der Tasse als etwas, aus dem zu trinken ist, komme und wie sich diese Erkenntnis von der Erkenntnis der Erkenntnis unterscheidet. Ich kann damit in der Wissenschaft auch nicht mehr fragen, wie ich überhaupt ein Verständnis der Dinge, die ich gebrauche, habe. Was tut Heidegger hier aber, wenn er festhält: »Im Umgang mit Zeug lernen wir dieses allererst kennen. Nicht etwa haben wir zuvor ein Wissen von diesen Dingen, um sie dann in Gebrauch zu nehmen, sondern umgekehrt: das Gebrauchen als solches ist die Art des primären und angemessenen Kennenlernens, eine primäre und eigene Weise der Entdeckung des innerweltlich Seienden.« 549? Er bestimmt das Entdecken der innerweltlich Begegnenden Dinge im Verhältnis zum Wissen um sie. Wenn aber Wissenschaft aus der Frage nach dem menschlichem Verhalten zu erkennen heraus bestimmt wird, so musste, wie Heidegger es tut, das erkennende Verhalten [Wissenschaft] vom entdeckenden Verhalten [Verwenden, Gebrauchen] unterschieden werden. Wenn wir nun die Wissenschaft nicht über ihren Inhalt, das Wissen, sondern allein über das erkennende Verhalten bestimmen, so kann das andere Verhalten, das entdeckende, nie Gegenstand der Wissenschaft werden – es sei denn das entdeckende Verhalten ist von vornherein Teil des wissenschaftlich erkennenden Verhaltens. Und dies ist nun, was Heidegger tatsächlich andeutet. In der weiteren Beschreibung des Umgangs mit den Dingen, stößt Heidegger darauf, dass es schon ein Verständnis von »Zeug« geben muss, welches erst den Horizont eröffnet, dass wir uns zu einem bestimmten Zeug gebrauchend verhalten können [ein vorontologisches Seinsverständnis]. 550 Dieses vorgängige Verständnis 548 549 550
GA 25, 21. GA 25, 21. Vgl. hierzu Peter Gordons eingängige Erläuterung: »Heidegger distinguishes be-
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der Zeughaftigkeit ist uns als solches verborgen und nicht ausdrücklicher Gegenstand im Gebrauchen. Heidegger schreibt in diesem Sinne: »Zu Seiendem, etwa zu Vorhandenem als Vorhandenem, können wir uns nur verhalten, wenn wir im vorhinein verstehen, was Vorhandensein besagt.« 551 Heidegger schließt daraus, dass »alles Verhalten zu Seiendem ein Verstehen der Seinsart und Seinsverfassung des betreffenden Seienden in sich birgt.« 552 Heidegger pointiert: »Wir verstehen dergleichen wie Sein von Seiendem, aber weder begreifen wir dieses Sein, noch wissen wir, daß wir vorbegrifflich verstehen oder gar, daß gerade dieses Verstehen von Sein all unser Verhalten zu Seiendem primär ermöglicht.« 553 Erinnern wir uns an dieser Stelle: um das Wesen der Wissenschaft aus wissenschaftlich erkennendem Verhalten kennzeichnen zu können, muss das gebrauchende Verhalten (welches nun ein vorgängiges vorontologische Seinsverständnis einschließt) Teil des wissenschaftlichen Verhaltens sein, wenn eben jene gesamte Betrachtung des Entdeckens im Gebrauchen und des vorontologischen Seinsverständnisses überhaupt in der Wissenschaft behandelt werden können soll. Heidegger hält hier zunächst fest, dass das wissenschaftliche Verhalten positiv gefasst werden muss und damit nicht aus dem Fehlen der Praxis schon erklärt ist. Heidegger fragt nun: »Was charakterisiert die Umstellung des Verhaltens aus dem vorwissenschaftlichen zum wissenschaftlichen?« 554 Beide Verhalten sind ein Enthüllen, ein Verhalten zu Seiendem im weitesten Sinne. Heidegger bestimmt nun: »Das wissenschaftliche Erkennen aber ist dadurch bestimmt, daß sich das existierende Dasein als frei gewählte Aufgabe die Enttween ontic knowledge, which concerns our knowledge of a given entity’s facts or properties, from ontological knowledge (after the Greek word for being, on), which characterizes our understanding of an entity’s manner of Being. In Heidegger’s view, this ontological understanding is prerequisite for and indeed essential to ontic experience because, without some rudimentary sense of a given entity’s manner of being, that entity would not show up within our experience at all. And this rule applies to experience as a whole: without some understanding of the world’s manner of being, the world itself simply could not be given to us as a phenomenon.« (Peter E. Gordon: German Existentialism and the Persistence of Metaphysics. Weber, Jaspers, Heidegger. In: Jonathan Judaken und Robert Bernasconi (Hg.): Situating Existentialism. Key Texts in Context. New York 2012, 65–88, hier 72 f.). 551 GA 25, 23. 552 GA 25, 23. 553 GA 25, 23. 554 GA 25, 26.
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Die Problematik der leitenden Frage der Philosophie in Heidegger
hüllung des schon irgendwie zugänglichen Seienden um seines Enthülltseins willen vorsetzt.« 555 Der Gegensatz zum vorwissenschaftlichen Verhalten ist dadurch gekennzeichnet, dass alle Abzweckungen des Verhaltens fort [fallen], die auf Verwendung des Enthüllten und Erkannten zielen, es fallen all jene Grenzen, die das Untersuchen in geplanter technischer Absicht beschränken – der Kampf ist einzig auf das Seiende selbst gerichtet und einzig darauf, es seiner Verborgenheit zu entreißen und gerade dadurch ihm zu seinem Recht zu verhelfen, d. h. es als das Seiende sein zu lassen, das es an sich ist. 556
Es zeigt sich nun aber doch hier, dass das wissenschaftliche Verhalten eben ein anderes ist als das vorwissenschaftliche Verhalten – dass das wissenschaftliche Verhalten auf das Seiende selbst aus ist und dem, was es an sich ist, während das vorwissenschaftliche Verhalten auf die Abzweckungen hinaus ist. Das, was beide verbindet, das vorontologische Seinsverständnis ist nicht schon selbst wissenschaftliches Verhalten, insofern es ja auch gerade in den Abzweckungen, im Gebrauchen, in ›vorwissenschaftlichem‹ Verhalten konstitutiv ist. Das was Heidegger hier als ›vorwissenschaftliches Verhalten‹ bezeichnet, kann daher nicht zum Gegenstand der Wissenschaft werden, wenn sie allein über das wissenschaftlich erkennende Verhalten (d. h. das Seiende selbst erfassen um seines Enthülltsein willens) bestimmt sein soll. Gelöst werden kann diese Problematik, wenn wir uns die Ausgangsfrage ins Gedächtnis rufen – was ist Wissenschaft? Auch wenn wir über das menschliche Verhalten, wissenschaftlich zu erkennen gehen, um Wissenschaft zu bestimmen, so gehört das, was das so wissenschaftlich Erkennende erkennt, zur Wissenschaft dazu. Insofern die Wissenschaft über das erkennende Verhalten bestimmt wurde und dieses wiederum darin, dass es sich die Enthüllung des Seienden um seiner Enthülltheit wegen vorsetzt, so gehört das Seiende zur Wissenschaft und zum wissenschaftlichen Verhalten. Insofern das vorwissenschaftliche Verhalten selbst seiend ist, ist es so Teil des wissenschaftlichen Verhaltens. Heidegger bestimmt in diesem Sinne: »In den Wissenschaften soll nun Seiendes eigens Gegenstand der Enthüllung und enthüllenden Bestimmung werden.« 557 Die Wissenschaft bestimmt sich nun darin, dass Seiendes als Seiendes zum Gegenstand gemacht wird. Insofern sich nun das Seiende im vorwissenschaft555 556 557
GA 25, 26. GA 25, 26. GA 25, 28.
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Heideggers Kantinterpretation
lichen Entdecken des Vorhandenen aus einem vorontologischen Seinsverständnis ergibt, führt die Frage des Seienden als Seienden auf dieses vorontologische Seinsverständnis, welches das Verständnis des Seienden im Besorgen erst ermöglichte. In den Wissenschaften, die nach dem Seienden als solches fragen, bedarf es daher der Ausbildung eines ausdrücklichen Seinsverständnisses, so Heidegger. Heidegger legt nun dar, dass die einzelnen Wissenschaften in ihrer Selbstbegründung an Grenzen stoßen, indem sie das Seiende in seinem seienden Zusammenhang untersuchen (wie es auch ihre Aufgabe ist), nicht aber das Sein dieses Seienden. Was in einer solchen Betrachtung vergegenständlicht wird [die Vergegenständlichung ist der Grundakt des wissenschaftlichen Verhaltens], ist nicht das Seiende, sondern die »Seinsverfassung« des jeweiligen Seienden (der Natur z. B.). Die Begründung der Wissenschaften bedarf damit einer »Umbildung des vorontologischen Seinsverständnisses zu einem ausdrücklichen ontologischen.« 558 Jeder Wissenschaft liegt, so Heidegger, so die Ontologie zugrunde (d. h. die thematische Frage nach dem Begriff des Seins und der Seinsverfassung als solcher) und insofern jede Wissenschaft eine Region von Seiendem zum Gegenstand hat bezieht sich »die ontologische Besinnung je auf die eine Region bestimmende regionale Seinsverfassung.« 559 Die ontologische Fragestellung selbst bedarf so ihrer eigenen Begründung und diese fasst Heidegger nun als »Fundamentalontologie« oder »das Wesen der Philosophie.« 560
15.2.4 Das Prinzip der Interpretation in der Vorlesung Phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft In Bezug auf die Kantauslegung in Logik. Die Frage nach der Wahrheit wurde das Prinzip von Heideggers Kantinterpretation in seiner Problematik herausgestellt: Über eine Interpretation der Kritik der reinen Vernunft sollte ein Zeitbegriff im Sinne des Erkennens gewonnen werden, der sich in Heideggers Zeitverständnis im Sinne der Temporalität eingliedern sollte. In unserer Untersuchung der Vor558 559 560
GA 25, 36. GA 25, 36. GA 25, 37.
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Die Problematik der leitenden Frage der Philosophie in Heidegger
lesung Phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft stellte sich nun heraus, dass die Auslegung unter anderen Prämissen erfolgt: Zweck der Untersuchung ist es, das Ganze der Kritik der reinen Vernunft vor Augen zu führen und leiten lässt sich Heidegger dabei von ihrer Aufgabe, die Wissenschaft der Metaphysik grundzulegen. Auf dem Boden von Kants Vorhaben fragt Heidegger daher: »Was besagt überhaupt Wissenschaft?« 561 Um diese Frage zu beantworten, wendet er sich den Bestimmtheiten des Daseins zu. Die leitende Frage dabei bleibt die nach der Wissenschaft und ihrer Grundlegung. Am Ende seiner Auslegung dessen, wie Wissenschaft zu verstehen ist, kommt Heidegger auf das Dasein zurück und bestimmt, was die Wissenschaft der Philosophie nun für das menschliche Dasein ist. Er schreibt: Gerade weil aber das Seinsverständnis überhaupt, sei es vorontologisch oder ontologisch, die ursprünglichste und notwendigste Bedingung der Möglichkeit der menschlichen Existenz ist, gerade deshalb ist das Ergreifen der Aufgabe seiner Erhellung, d. h. die Philosophie, die freiste Möglichkeit der menschlichen Existenz. 562
Heidegger kommt aber hier, anders als in Logik. Die Frage nach der Wahrheit, von der Frage nach der Wissenschaft aus auf das Dasein zu sprechen. Es könnte eingewendet werden: wenn die Frage nach der Wissenschaft über das menschliche erkennende Verhalten bestimmt wird, dann muss zunächst das menschliche erkennende Verhalten als Verhalten und mit ihm das Dasein in Frage gestellt werden. Aber wir sind gerade von der Frage nach der Wissenschaft ausgehend auf das menschliche erkennende Verhalten geführt worden und nur so konnte überhaupt durch die Untersuchung des menschlichen Daseins etwas über das erkennende Verhalten gewonnen werden. Es ist also ein prinzipieller Unterschied zwischen der Prämisse der Kantauslegung in Logik. Die Frage nach der Wahrheit und der Vorlesung Phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft festzustellen: Jene stellte die Frage nach der Zeitlichkeit und mit ihr nach den Grundstrukturen des Daseins und suchte einen Inhalt der Erkennens in diese Frage zu integrieren, der auf ihrer Grundlage nicht erfragt werden konnte; diese stellt die Frage nach der Wissenschaft und beantwortet diese unter Rückgriff auf das menschliche 561 562
GA 25, 15. GA 25, 38.
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Heideggers Kantinterpretation
Dasein und sein erkennendes Verhalten. Das Prinzip der Fragestellung, die Wissenschaft, lässt sich Heidegger in der vorliegenden Vorlesung jedoch durch Kant vorgeben. Können wir hieraus – vor allem in Verbindung mit Heideggers Einleitung, dass das Gewinnen eines Verständnisses der Kritik der reinen Vernunft bedeute, philosophieren zu lernen – schließen, dass Heidegger eine neue Frage seinem Schaffen grundlegt? Dass aus der Frage nach dem Dasein und der Zeit, die Frage nach der Wissenschaft wurde? Und wenn dem so sei, dass diese Wendung aus der Kantinterpretation selbst hervorgeht? Oder legt Heidegger mit der Frage nach der Wissenschaft lediglich Kants Frage aus und das Problem seiner eigenen Philosophie bleibt bestehen, die vorliegende Vorlesung eine Ausnahme im Schaffen Heideggers, indem er sich von Kants Fragestellung leiten lässt? Oder haben wir es mit einer Mischung aus alledem zu tun, die Heidegger selbst nicht klar ist? Im weiteren Verlauf der Vorlesung findet sich ein bedeutender Hinweis darauf, was Heidegger auf die Idee eines vorgängigen Seinsverständnisses und mit ihm der Frage nach dem Sein bringt. 563 Das Problem Kants pointiert er nämlich wie folgt: Wie kann der Verstand reale Grundsätze über die Möglichkeit der Sachen entwerfen, d. h. wie kann das Subjekt von vornherein ein Verständnis dessen haben, was die Seinsverfassung eines Seienden ausmacht? Kant sieht den Zusammenhang, den wir grundsätzlicher und radikaler so formulieren: Seiendes ist in keiner Weise zugänglich ohne vorgängiges Seinsverständnis, d. h. das Seiende, das uns begegnet, muß zuvor schon in seiner Seinsverfassung verstanden worden sein. 564
Was Heidegger als Frage hier aus Kant heraus bewegt, ist eine Frage die auf dem Prinzip der Frage nach dem Wesen der Wissenschaft entDie Idee des vorgängigen (vorontologischen) Seinsverständnisses wird bereits in Sein und Zeit auseinandergesetzt und ist dort tragend. Doch Heidegger beschäftigt sich gerade zur Zeit der Ausarbeitung von Sein und Zeit intensiv mit Kant, wie an der Vorlesung Logik. Die Frage nach der Wahrheit und den Kant betreffenden Stellen in Sein und Zeit deutlich wird. Vor der Auseinandersetzung mit Kant ist im Kontext des In-der-Welt-Seins von einer unthematischen Als-Struktur die Rede und von einem Verstehen im Besorgen, welches dem Begegnenden immer schon voraus ist, aber nicht von einem vorgängigen Seinsverständnis. Es ist daher anzunehmen, dass die Idee auf dem Boden der Kantauseinandersetzung entwickelt wurde, zumal die Frage nach dem Dasein und seiner Grundstrukturen selbst diese Idee nicht hergibt, sondern die Frage nach der Wissenschaft für diese Idee gestellt werden muss und leitend ist. 564 GA 25, 55. 563
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Die Problematik der leitenden Frage der Philosophie in Heidegger
wickelt wurde, nicht der Frage nach dem Dasein – das Dasein kam nur innerhalb der Frage nach der Wissenschaft ins Spiel. Heidegger formuliert das Grundproblem im Sinne Kants auch so: Wie sind synthetische, aber gleichwohl apriorische Erkenntnisse möglich? Das heißt zugleich: Wo liegt der vorangehende Grund dafür, daß reine Verstandesbegriffe und Grundsätze a priori etwas über die Sachen selbst ausmachen können, obwohl die Begriffe der Sachen doch nicht aus der Erfahrung selbst geschöpft sind? 565
In dieser Frage, die Heidegger so in Kants Kritik der reinen Vernunft deutlich wird, sieht Heidegger die transzendentale Grundlegung der Ontologie überhaupt. 566 Es ist nun durchaus möglich, dass Heidegger diese Frage als seine eigene Frage erkennt, insofern, wie in Hauptteil I deutlich wurde, Kant diese Frage, obwohl Heidegger richtig darin liegt, dass sie das System der Kritik der reinen Vernunft im Kern betrifft, nicht explizit als solche stellt oder beantwortet. Die Frage stellt sich sodann, ob Heidegger deutlich ist, dass er diese Frage auf der Grundlage von Kants Frage nach der Wissenschaft stellen konnte und somit ob ihm deutlich ist, dass die Ausarbeitung der Seinsfrage im Sinne des vorgängigen Seinsverständnisses auf dem Prinzip der Frage nach der Wissenschaft fußt, auch wenn diese über eine Untersuchung des Daseins beantwortet wird. Heidegger ist dies (d. h. dass seine Untersuchung auf Grundlage der Frage nach der Wissenschaft ermöglicht wurde) nicht klar, wie sich nun in einem Abschnitt zeigt, in dem er den Horizont der Kritik der reinen Vernunft nach seiner eigenen Interpretation auf das menschliche Dasein hinsichtlich seines Seinsverständnisses einschränkt. Heidegger schreibt: Die Vernunft der reinen Erkenntnis a priori, die das Problem und Thema ausmacht, ist unsere, die menschliche Vernunft. Im Blickfeld der Untersuchung steht das erkennende Verhalten des menschlichen Daseins, und zwar nicht primär und eigentlich das erkennende Verhalten zum Seienden, sondern das diesem zugrundeliegende Verstehen der Seinsverfassung des Seienden. Der allgemeine Horizont der Problematik der Kritik ist danach gemäß unserer Interpretation das menschliche Dasein hinsichtlich seines Seinsverständnisses. Von diesem sagten wir, es sei die fundamentalste Bedingung der Möglichkeit menschlicher Existenz überhaupt. 567 GA 25, 57. Vgl. GA 25, 59. Die Grundlegung der Ontologie überhaupt bezeichnete Heidegger zuvor als Fundamentalontologie. 567 GA 25, 69 f. 565 566
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Heideggers Kantinterpretation
Das Problem für Heideggers Schaffen wird hier explizit: Heidegger verliert das Prinzip, auf dem er das erkennende Verhalten des Daseins und das diesem zugrundeliegende Verstehen der Seinsverfassung des Seienden überhaupt fassen und erarbeiten konnte – die Frage nach der Wissenschaft (eine Frage, die aus der Interpretation Kants herstammte und die Heidegger nicht als Prinzip seiner eigenen Untersuchung erkennt). Zum Prinzip, zur leitenden Frage, erklärt er nun: das menschliche Dasein hinsichtlich seines Seinsverständnisses. Diese prinzipielle Frage erlaubt es nun gerade nicht, das Wissen auf die Art und Weise in den Blick zu bringen, wie Heidegger selbst bis zu diesem Punkt der Vorlesung auf der Grundlage Kants vollzieht – denn das menschliche Dasein hinsichtlich seines Seinsverständnisses hat und stellt die Frage nach diesem Seinsverständnis nicht unbedingt, wie Heidegger selbst erkennt – die Frage nach dem menschlichen Dasein hinsichtlich seines Seinsverständnisses als erste Frage der Wissenschaft, ohne die Frage nach der Wissenschaft, bringt so die Wissenschaft und sich selbst (die Eigentlichkeit, die Philosophie) gerade nicht in den Blick. Dass die Problematik in Heideggers Vermischung der Frage nach dem Dasein und der Zeit mit seinen Einsichten über die Wissenschaft der Philosophie nicht als solches erkannt wurde, auch nicht durch ihn selbst, hat einige Gründe: 1) Ist Heideggers Beschreibung des Verhaltens des wissenschaftlichen Erkennens gegenüber dem Besorgen, seine Beschreibung der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit triftig. Die Beschreibung des menschlichen Daseins in seiner Möglichkeit, sein eigenes Sein zu ergreifen (letztlich indem es philosophiert) oder sich sein Sein im Besorgen von der Welt geben zu lassen, betrifft den Menschen. Heidegger hielt daher an dem Grundansatz fest, das Dasein zu analysieren und kreiert eine Leserschaft. 568 2) Sind Heideggers Einsichten in der Auslegung der Grundstrukturen des Daseins aus der Sicht der Frage nach der Wissenschaft (welche Heidegger bewegte, obwohl er sie nicht als Prinzip erfasste) zum Teil interessant (z. B. das vorgängige Seinsverständnis). Diese wurden aufgegriffen ohne ihren Kontext und ihr Prinzip zu untersuchen. 3) Stellt Heidegger die Frage nach der Wissenschaft, bzw. der Grundfrage der Philosophie, dem Gebiet der Philosophie, ohne dass er diese Frage zum Leitfaden dessen macht, was er darin erörtert. Es gibt daher einen Auch zu dem Zeitpunkt, zu dem er die Daseisanalyse aufgibt, wir der Grund ihrer Problematik nicht erkannt.
568
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Die Problematik der leitenden Frage der Philosophie in Heidegger
Schein einer prinzipiellen Infragestellung des Prinzips der Philosophie. Zur weiteren Verwirrung trägt Heideggers eigene Unklarheit in Bezug auf das Erörterte bei, wodurch ihm deutlich wird, dass er z. B. Kant seine eigene Frage unterstellt hat, 569 dabei aber sowohl die Frage nach der Möglichkeit der Anwendung der synthetischen Urteile a priori auf Sachen, aus denen diese Begriffe gar nicht stammen und die Idee des vorgängigen Seinsverständnisses meint (worin er wissenschaftlich etwas entwickelt), als auch die Unterordnung der gesamten Untersuchung unter die Frage »Was ist der Mensch?« (was wissenschaftlich ein Fehler ist) meint. In beidem sieht Heidegger aber nun etwas, auf das er »eigentlich« hinaus war, insofern er für die Idee des vorgängigen Seinsverständnisses auf das Dasein zurückgreifen musste. Heidegger hält nun die Auslegung des Daseins als prinzipielle Frage der Auseinandersetzung daher für das, worauf er eigentlich hinaus wollte (insofern sie ihn auf die Idee des Seinsverständnisses führte), ohne dabei zu beachten, dass er die Einsicht in das vorgängige Seinsverständnis nur auf Grundlage der Frage nach der Wissenschaft vollzog. 570 Heideggers Einsichten in die Konstitution des Wissens durch die Auslegung des Daseins auf der Grundlage einer anderen unausgesprochenen und unbewussten Frage, nämlich die nach dem Wissen oder der Wissenschaft, können nun aber eben nicht auf der Grundlage von Heideggers Prinzip, welches ein anderes ist, behandelt werden und dürfen daher lediglich zu Anstößen dienen, aber nicht als solche in eine wissenschaftliche Systematik übernommen werden. Wie in Logik. Die Frage nach der Wahrheit ›borgt‹ sich Heidegger also auch in der Vorlesung Phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft die Frage nach der Wissenschaft von Kant, ohne dass er sich selbst darüber im Klaren ist. Anders als in Logik. Die Frage nach der Wahrheit setzt Heidegger es sich hier jedoch nicht zum Ziel, durch Kant seinen eigenen Begriff aufzuzeigen (den der Zeit) und sein eigenes Zeitverständnis zu entwickeln. Vielmehr geht Vgl. GA 3, XIV. Auch die weiteren Einsichten, die er selbst über Kant hinausgehend macht, schreibt Heidegger so der Auslegung des Daseins zu, ohne die Fragestellung unter der das Dasein hier (anders als an anderer Stelle) für ihn in den Blick kommt, die Frage nach der Wissenschaft, zu beachten. Zu diesen Einsichten gehört die Einschränkung der Transzendentalphilosophie Kants auf Gegenstände des äußeren und des inneren Sinnes und damit auf Vorhandenes (vgl. GA 25, 65 f.).
569 570
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Heideggers Kantinterpretation
es explizit um das Gewinnen eines Verständnisses der Kritik der reinen Vernunft selbst. Indem Heidegger so die Frage nach der Wissenschaft nicht ganz als leitende Frage aufhebt, hat er durch sie einen Boden, auf dem er durch die Daseinsauslegung Einsichten innerhalb der Wissenschaft der Philosophie formulieren kann. Gleichzeitig verschiebt er nun innerhalb der Auslegung selbst den Boden auf die Frage nach dem Dasein in seinem Seinsverständnis als leitende Grundfrage. In der nachfolgenden Kantauslegung muss damit eine Verwirrung des Prinzips der ursprünglichen Frage nach der Wissenschaft und der durch Heidegger als primär verstandenen Frage des Daseins hinsichtlich seines Seinsverständnisses statthaben. Wenden wir uns in diesem Sinne Heideggers letzter ausführlicher Kantauslegung in seiner frühen Schaffensperiode bis 1936 in Kant und das Problem der Metaphysik zu.
15.3 Kant und das Problem der Metaphysik Die Ausarbeitung von Kant und das Problem der Metaphysik, welches Heidegger selbst als »das Kantbuch« bezeichnet und in der Folge hier auch so bezeichnet werden wird, erfolgt im Anschluss an die Davoser Hochschulkurse, welche vom 17. März bis zum 06. April 1929 von Heidegger gehalten wurden, auf Grundlage der Vorarbeiten dieses und des vorangehenden Kurses. 571 Im Vorwort zur ersten Auflage weist Heidegger außerdem darauf hin, dass das Wesentliche des Kantbuches in diesen Kursen und der oben behandelten Vorlesung aus dem Wintersemester 1927/28 vorgetragen wurde. 572 Dieses schließt sich also inhaltlich an die behandelte Vorlesung an. Wie sich dies auf die leitende Fragestellung auswirkt, soll im Folgenden untersucht werden. Im Kantbuch soll die Idee der Fundamentalontologie sich an der Auslegung der Kritik der reinen Vernunft als Grundlegung der Metaphysik darlegen. Heidegger erfasst hiermit die Idee, die sich im Wintersemester 1927/28 in und an der Interpretation der Kritik der reinen Vernunft vollzieht, als seine eigene und kehrt damit die dort vorgetragene Interpretation gleichsam um: nicht mehr wird die Idee der Fundamentalontologie vorgetragen, um die Kritik der reinen Ver571 572
Vgl. GA 3, XV. Vgl. GA 3, XVI.
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Die Problematik der leitenden Frage der Philosophie in Heidegger
nunft zu verstehen und besser zu verstehen, sondern die Kritik der reinen Vernunft wird als Grundlegung der Metaphysik ausgelegt, »um so das Problem der Metaphysik als das einer Fundamentalontologie vor Augen zu stellen.« 573 Es wird nun dabei gleich zu Beginn deutlich, dass die Fundamentalontologie die Frage stellen soll: »was ist der Mensch?« 574, dass jedoch zugleich die »ontologische Analytik des Daseins« 575 als ein notwendiges Erfordernis der Fundamentalontologie verstanden wird. Für uns stellt sich angesichts der oben herausgestellten Problematik der leitenden Grundfrage nach dem Dasein (oder hier dem Menschen) die Frage, ob 1) die Fundamentalontologie als Wissenschaft in Frage steht und um die Frage nach der Wissenschaft zu beantworten die Frage nach dem Menschen hinsichtlich des (wissenschaftlichen) Erkennens gestellt wird oder ob 2) die Frage nach dem Menschen selbst Prinzip der Untersuchung ist und von hier aus daher kein eigentlicher Weg zu einer positiven Bestimmung des Erkennens gegeben ist und die Untersuchung gleichsam nicht über die Beschreibung der Möglichkeit eigentlichen Erkennens für das menschliche Dasein hinauskommen kann oder ob 3) wie in der Vorlesung Phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft eine Vermischung der leitenden Frage, des Prinzips, stattfindet, indem die Frage nach der Wissenschaft und die Frage nach dem Menschen als dieselbe Frage gedeutet wird, um so einen Boden für die inhaltliche Ausführung über die Konstitution der Erkenntnis (oder das erkennende Verhalten), der Wissenschaft, der Philosophie und der Fundamentalontologie zu schaffen, der sich aus der Untersuchung des Daseins (des Menschen) nicht hergibt. Heidegger widmet sich nun zunächst, wie bereits in der Vorlesung aus dem Wintersemester 1927/28, der Grundlegung der Metaphysik in Kant. Er geht dabei gleichermaßen vor, indem er zunächst den Begriff der Metaphysik, wie Kant ihn vorfindet, darlegt, anschließend den Ansatz der Grundlegung dieser überlieferten Metaphysik diskutiert und zuletzt zeigt, warum diese Grundlegung eine Kritik der reinen Vernunft ist. 576 In diesem Sinne sollen an dieser Stelle nur jene Aspekte der Darlegung Eingang finden, die oben nicht bereits behandelt wurden. Heidegger fasst begrifflicher als in der Vor573 574 575 576
GA 3, 1. GA 3, 1. GA 3, 1. Vgl. GA 3, 5.
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Heideggers Kantinterpretation
lesung, wie die Frage nach der Grundlegung der einzelnen Wissenschaften auf eine Ontologie hindrängt. Er schreibt: Der Entwurf der inneren Möglichkeit der Metaphysica specialis wird über die Frage nach der Möglichkeit der ontischen Erkenntnis zurückgeführt zur Frage nach der Möglichkeit dessen, was ontische Erkenntnis ermöglicht. Das ist aber das Problem des Wesens des vorgängigen Seinsverständnisses, d. h. der ontologischen Erkenntnis im weitesten Sinne. Das Problem der inneren Möglichkeit der Ontologie enthält jedoch die Frage nach der Möglichkeit der Metaphysica generalis. 577
Heidegger drückt hier aus, dass sich die Frage nach dem Wesen des vorgängigen Seinsverständnisses und mit ihm die Frage nach dem Sein, welches dieses ermöglicht, Kant bereits zeigt. Die Möglichkeit der Ontologie, der Metaphysik, wird so zum Problem. Inwiefern? Heidegger fasst hier: »Die Grundlegungsfrage verlangt erstmal Klarheit über die Art von Verallgemeinerung und damit über den Charakter des Überschrittes, der in der Erkenntnis der Seinsverfassung liegt.« 578 Kant hat nun, so Heidegger, dieses Problem erkannt und dargelegt. Mit der Frage nach der Möglichkeit einer allgemeinen Ontologie ist diese selbst nicht primär auf die Grundlegung der Einzelwissenschaften bezogen. Ihre Notwendigkeit begründet sich vielmehr aus der Vernunft selbst. Das Problem der Möglichkeit der Ontologie sieht Heidegger in Kant nun in der Formel »Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?« ausgesprochen. 579 Kant, so Heidegger, fasst dabei die Erkenntnis, der Überlieferung entsprechend, als Urteil. In den Urteilen wird Seiendes erkannt. Heidegger legt nun dar, warum er in Kants Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori die Frage nach der Möglichkeit der Ontologie sieht: Dieses erkannte Wassein des Seienden wird in der ontologischen Erkenntnis vor aller ontischen Erfahrung, obzwar gerade für diese, a priori beigebracht. Eine den Wasgehalt des Seienden beibringende bzw. das Seiende selbst enthüllende Erkenntnis nennt Kant »synthetische«. So wird die Frage nach der Möglichkeit der ontologischen Erkenntnis zum Problem des Wesens der synthetischen Urteile a priori. 580
577 578 579 580
GA 3, 11. GA 3, 12. Vgl. GA 3, 13. GA 3, 14.
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Die Problematik der leitenden Frage der Philosophie in Heidegger
In Bezug auf diese Fragestellung insgesamt wird deutlich, warum Heidegger 1973 im Vorwort zur vierten Auflage des Kantbuches schreibt, dass durch ihn selbst der Frage Kants »eine ihr fremde, wenngleich sie bedingende Fragestellung unterlegt wurde.« 581 Die nachfolgende Interpretation der Kritik der reinen Vernunft durch Heidegger ist durch dieselbe Frage, die nunmehr eher als an die Kritik der reinen Vernunft gestellt als in der Kritik der reinen Vernunft gestellt verstanden werden muss, nämlich der Frage nach der Möglichkeit der Ontologie, welche Heidegger auch als Frage nach der apriorischen Synthesis fasst, geleitet. Diese Frage wendet Heidegger nun auf den Menschen, insofern das Sein des Menschen das Problem der Möglichkeit der Ontologie aufklären soll. Heidegger fragt [in Bezug auf die eigentliche Frage der Kritik der reinen Vernunft]: »wie kann endliches menschliches Dasein im vorhinein das Seiende überschreiten (transzendieren), welches Seiende es nicht nur nicht selbst geschaffen hat, auf das es sogar, um selbst als Dasein existieren zu können, angewiesen ist.« 582 Die Frage ist so gestellt, insofern wir ein Verständnis von »Tisch« nur haben, insofern wir bereits ein Verständnis von Bedeutung überhaupt haben, von Zeug in diesem Fall, dieses vorontologische Seinsverständnis meinem Verstehen von Tisch also vorausgeht. Frage ich nun nach diesem vorontologischen Seinsverständnis so gibt sich das Problem auf, dass das, wodurch ich es erkenne, nicht von mir geschaffen ist. Heidegger setzt diese Frage nun mit einer anderen Frage gleich, um sie an die kantische Interpretation anschließen zu können: »wie muß das endliche Seiende, das wir Mensch nennen, seinem innersten Wesen nach sein, damit es überhaupt offen sein kann zu Seiendem, das es nicht selbst ist, das sich daher von sich aus muss zeigen können?« 583 Im vierten Abschnitt des Kantbuches schreibt Heidegger dieser Umlegung auf die Untersuchung des Menschens entsprechend: »Die Frage nach dem Wesen der Metaphysik ist die Frage nach der Einheit der Grundvermögen GA 3, XIV. Heidegger sieht diese seine Fragestellung, welche er der Kritik der reinen Vernunft unterlegt, durch die Fragestellung von Sein und Zeit entwickelt. Er schreibt: »Die dergestalt bestimmte Zuflucht [vor dem Missverstehen der Seinsfrage] führte dazu, daß die »Kritik der reinen Vernunft« im Gesichtskreis der Fragestellung von »Sein und Zeit« ausgelegt […] wurde.« (GA 3, XIV). Warum diese Darstellung Heideggers nicht plausibel ist, soll im abschließenden Teil dieses Kapitels deutlich werden. 582 GA 3, 42. 583 GA 3, 43. 581
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Heideggers Kantinterpretation
des menschlichen Gemüts. Die Kantische Grundlegung ergibt: Begründung der Metaphysik ist ein Fragen nach dem Menschen, d. h. der Anthropologie.« 584 In den folgenden Absätzen versucht Heidegger zu begründen, dass auch für Kant die Anthropologie (die reine, nicht die empirische) die Grundlegung der Philosophie übernehmen kann. Dieses Mal übersieht Heidegger jedoch nicht, dass er selbst die Frage nach dem Menschen auf der Frage nach der Metaphysik aufbaut, dass nur auf diesem Boden seine Frage der Möglichkeit der Ontologie und mit ihr die Frage nach dem Sein des Menschen in Anbetracht des Problems des vorgängigen Seinsverständnisses überhaupt gestellt werden konnte. In diesem Sinne fragt Heidegger jetzt danach, warum und inwiefern zur Grundlegung der Metaphysik überhaupt nach dem Menschen gefragt werden soll. Es ist damit jedoch nicht gesagt, dass die Frage der Philosophie, die Frage Heideggers, somit nicht länger die Frage nach dem Menschen, sondern von nun an die Frage nach der Metaphysik ist. Vielmehr versucht Heidegger in der Folge zu zeigen, dass die Frage nach der Metaphysik (oder ihrem Wesen, ihrer Grundlegung) gleichbedeutend mit der Frage nach dem Menschen (in einer bestimmten Hinsicht) ist – in welcher Hinsicht kann er dabei jedoch abermals nicht beantworten, ohne eben auf die leitende Frage nach der Metaphysik zurückzukommen. 585 Die Frage nach dem Menschen wird auf eine Frage nach dem Menschen in einer bestimmten Hinsicht umgelegt – diese Hinsicht ergibt sich aus der Metaphysik. Heidegger sieht in dieser Einschränkung nicht, dass die Frage nach dem Menschen oder Dasein per se und die Frage nach dem Menschen in Ausrichtung auf die Metaphysik eben nicht dieselbe Frage ist. Unsere Eingangs gestellte Frage, was das Prinzip oder die leitende Frage des Kantbuches ausmacht, ist also beantwortet: auch hier findet eine Verwirrung der Frage nach dem (Sein des) Daseins GA 3, 205. Heidegger spitzt seine Interpretation Kants auf die Endlichkeit des Menschen hin zu. Im Detail setzt sich damit Joseph Schear auseinander. Er schreibt: »Heidegger disagrees with Kant about the best starting point for bringing the receptive character of dependent human understanding into view. The Heideggerian successor to the Kantian exposition of the structural forms of our sensibility is the description of the structure of our everyday being-in-the-world (which includes spatiality and a form of time). The latter, Heidegger submits, serve as the more faithful and fruitful point of entry for capturing the modes of givenness of entities, and thereby discerning the concrete shape of finite human understanding.« (Joseph K. Schear: Historical Finitude. In: Mark Wrathall (Hg.): The Cambridge Companion to Heidegger’s Being and Time. Cambridge 2013, 360–380, hier 370).
584 585
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Die Problematik der leitenden Frage der Philosophie in Heidegger
und der Frage nach der Metaphysik statt. Anders als zuvor wird die Identifizierung der Fragestellung nach dem Menschen und der Fragestellung Kants nach der Metaphysik aber offen thematisch. Nun stellt sich in diesem Sinne die Frage, ob das Fundament, das sich Heidegger durch die Hinzuziehung der Kantauslegung und mit ihr der Frage nach der Metaphysik für die Untersuchung des Daseins, die er bereits vollzogen hatte, geschaffen hat, hilfreich ist, um die Grenzen, die dieser Ansatz ihm auferlegt, aufzuheben und nun Aussagen hinsichtlich der Eigentlichkeit machen zu können und hinsichtlich der Erkenntnis in Bezug auf die Metaphysik. Die Antwort ist zweifach: Zum einen ist Heideggers Daseinsanalytik bereits vorausgesetzt, die Endlichkeit des Menschen bereits seit 1924 ein Thema, das ihn aus anderen Gründen als hier beschäftigt und die Kritik der reinen Vernunft ist daher auf bereits vollzogene Auslegungen hin interpretiert. 586 In diesem Sinne ändert das Kantbuch nichts an der Unauswegbarkeit der Grundfrage nach dem Dasein und den Folgen einer leeren Eigentlichkeit und einer letztlich leeren Seinsfrage. In Bezug auf Heideggers Auslegung der Kritik der reinen Vernunft eröffnet die offene Identifikation der Frage nach dem Menschen und der Frage nach der Metaphysik und das fremde Prinzip, das Heidegger so mit der Daseinsauslegung und der in ihr mitVgl. zu Heideggers Interpretation Kants auf die Endlichkeit des Mensch hin auch Roxana Baiasu: »In Part Four of the Kant book, Heidegger reconstructs the conclusion of the original interpretation of the Kantian project. This reconstruction or, as he calls it, the »retrieval« of the Kantian laying of the ground of metaphysics is presented in terms of the problematic of finite subjectivity and by reference to the temporal meaning of its Being, in other words, in terms of the existential analytic of Dasein which is developed in Being and Time. In connection to the reconfiguration of the schematism within Heidegger’s own ontological project, the indication of time’s self-affection arguably makes possible the move towards the thinking of the self temporalising of temporality without a philosophy of the ›subject.‹« (Baiasu, Roxana: Heidegger and Kant. Space, Time and the Problem of Objectivity. In: Stefano Bacin et al.: Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht Bd. 2, Nr. 196. Berlin 2013, 541–552, hier 544 f.). Stephen Käufer betont die Fruchtbarkeit der »gewaltsamen« Kantdeutung für die Kantauslegung als auch für Heideggers Denken. Er schreibt (letztlich mit positive Konnotation): »It is perhaps especially crass that Heidegger ends his Kantbook with Division IV, the »retrieval« or »revival« (Wiederholung) of the problem of metaphysics, which is entirely devoted to the fundamental ontology of Being and Time, as if this were the upshot of Kant’s critical philosophy.« (Vgl. Stephan Käufer: Heidegger’s Interpretation of Kant. In: Daniel O. Dahlstrom (Hg.): Interpreting Heidegger: Critical Essays. Cambridge 2011, 178).
586
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Heideggers Kantinterpretation
schwingenden Frage nach der eigentlichen Frage der Philosophie an die Kritik der reinen Vernunft als Grundlegung der Metaphysik heranträgt, Anstöße zu geben, das Prinzip der Erkenntnistheorie innerhalb der Frage nach der Erkenntnis zu hinterfragen. Diese Ansätze jedoch, so ist zu betonen, sind nicht systematisch und nicht wissenschaftlich begründet, insofern sie letztlich Anfragen an das kantische System auf kantischem Boden sind und kein eigenes Prinzip entwickeln.
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IV. Schluss
In diesem Buch wurde im ersten Hauptteil Kants Zeitbegriff in Unabhängigkeit von Heideggers Interpretation desselben untersucht. Es hat sich eigens bei der Auseinandersetzung mit Kants Zeitbegriff die Frage gestellt, wie die Zeit im Sinne der Apriorizität genau zu verstehen ist und inwiefern die Objektivität rein von der Kategorie, in diesem Fall der Kausalität, her gedacht werden soll. Es wurde neben dieser kritischen Betrachtung Kants dem Leser das kantische System im Sinne der Zeit vorgelegt, damit für diesen der zweite und dritte Teil dieses Buches beurteilbar werden konnte und der Leser eigens schließen kann, ob Heidegger mit seinem Zeitverständnis eine philosophiegeschichtliche Frage im Ausgang von Kant aufgreift und diese wissenschaftlich behandelt und löst oder nicht. Auf dieser Grundlage wurde dem Leser, vom Zeitverständnis Heideggers ausgehend, ermöglicht, seine oder ihre Schlüsse über die Grundlagen des Heideggerschen Werkes zu ziehen. An dieser Stelle sollen diese Resultate der Untersuchung der Heideggerschen Auslegung Kants zusammengefasst werden. Zu Beginn dieser Arbeit vor Heideggers erster Kantinterpretation in Logik. Die Frage nach der Wahrheit stehend stellte die Autorin fest, dass Heideggers Zeitverständnis, mit dem er sich explizit hier an Kant wendet, um es zu klarifizieren und zum Ausdruck zu bringen, bereits eine Geschichte in anderen vorhergehenden Werken hat. Zugleich wurde deutlich, dass »die Zeit« in der Kritik der reinen Vernunft und in Heideggers Werk gänzlich verschieden verstanden ist. Es stellte sich die Frage: Wie lässt sich Heideggers Kantinterpretation in ihrem Wesen fassen? Lässt sich seine Kantauslegung überhaupt kritisch beurteilen, ohne selbst ein Verständnis der systematischen Rolle der Zeit in der Kritik der reinen Vernunft gewonnen zu haben? Sind wir ohne dieses nicht ganz in den Händen von Heideggers Auslegung? Und können wir diese sodann überhaupt philosophiegeschichtlich beurteilen? Oder verstellen wir dabei nicht unter Um269 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Schluss
ständen eine fruchtbare philosophische Problematik im Ausgang von Kant? Im Sinne der wissenschaftlichen Notwendigkeit dieser Fragen widmete sich diese Arbeit also einer eigenen kritischen und systematischen Untersuchung der Zeit in der Kritik der reinen Vernunft und versuchte zugleich, Heideggers eigenem Vorgehen nach, das System als Ganzes in den Blick zu bringen. Die Kritik hielt sich dabei ganz an die Fragestellung und Entwicklung der kantischen Systematik. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sind am Ende des ersten Hauptteils festgehalten und bildeten den notwendigen kritischen Boden für die Auseinandersetzung mit Heideggers Kantauslegung. Die erste Frage, die sich in Bezug auf Heideggers erste Kantauslegung stellte, war: Was ist die Zeit für Heidegger, mit der er an Kant herantritt? Um die Zielsetzung und damit das Prinzip der ersten Kantauslegung Heideggers in den Blick bringen zu können, bedurfte es einer Untersuchung der Genese seines Zeitverständnisses. Hierbei wurde deutlich: mit der Zeit steht zugleich das Dasein als Grundbegriff und leitende Idee Heideggers in Frage. Im zweiten Hauptteil konnte die Genese des Zeitverständnisses Heideggers in der Chronologie seiner Werke als Zeitlichkeit des Daseins in dessen Grundstrukturen aufgewiesen werden. Die Zeitlichkeit in ihrer Identität mit dem Dasein konnte in ihrer Entwicklung zur leitenden Frage Heideggers in der Zeit vor der Kantauslegung aufgewiesen werden. Zugleich ergab sich als Ergebnis des zweiten Hauptteils, dass die Zeitlichkeit des Daseins, wie auch das Seins des Daseins selbst, insbesondere in seiner Eigentlichkeit von Heidegger, nicht inhaltlich bestimmt werden konnte. Neben der expliziten Frage nach dem Sein des Daseins und der Zeitlichkeit, konnte die Fraglichkeit selbst, die Frage nach der eigentlichen Frage des Daseins oder der Philosophie, als leitendes Interesse Heideggers herausgestellt werden. Indem der Boden für die Beurteilung von Heideggers Kantauslegung auf diese Weise geschaffen wurde, konnten wir uns im dritten Hauptteil der Untersuchung von Heideggers erster Kantauseinandersetzung in Logik. Die Frage nach der Wahrheit stellen. Es zeigte sich hier, dass Heidegger die Zeit im Sinne der Zeitlichkeit des Daseins voraussetzt, welches Zeitverständnis durch die Kantauslegung einen Inhalt im Sinne des Erkennens bekommt. Zugleich offenbarte sich, dass die von Heidegger so gewonnene Zeitlichkeit des Erkennens (des Daseins) in Kant nicht inhaltlich mit der Zeitlichkeit des Daseins, wie Heidegger sein Zeitverständnis entworfen hatte, verbunden ist. Heidegger integriert mit der Zeitinterpretation in Kant eine Dimension 270 https://doi.org/10.5771/9783495997796
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des Erkennens in seinen eigenen Zeitbegriff. Die Legitimation Heideggers, dass die Zeit in Kant im Sinne der (Heideggerschen) Temporalität ausgelegt werden kann, kommt dabei nicht dadurch zustande, dass die Zeit in Kant Zeitlichkeit im Sinne des Daseins sei (wie Heidegger sein Zeitverständnis zuvor erarbeitet hatte), sondern dadurch, dass sie eine Erkenntnisquelle sei. Es zeigte sich also, dass Heidegger durch die Kantauslegung die Zeit im Sinne des Erkennens in seinen Zeitbegriff hineinträgt, welches Erkennen auf der Grundlage seiner eigenen Fragestellung nach dem Dasein und der Zeit gar nicht selbst erarbeitet und bestimmt werden konnte. Dies ist nun gleichsam der Grund, warum sich Heidegger für die Bestimmung der Zeitlichkeit im Sinne des Erkennens jederzeit an Kant zurückwendet, indem er sie auf der eigenen Grundlage phänomenologisch nicht erarbeiten kann. Die Gründe und die Folgen der so in ihrem Prinzip aufgedeckten ersten Kantinterpretation Heideggers sind nun weitreichender als nur auf das Werk Logik. Die Frage nach der Wahrheit oder den Zeitbegriff beschränkt. Hinsichtlich der Gründe konnte ausgemacht werden, dass Heidegger sich mit einer Frage nach der eigentlichen Fraglichkeit (der Philosophie oder des Daseins) beschäftigt, welche zugleich in der Frage nach dem (eigentlichen) Sein des Daseins und der Eigentlichkeit ihren Ausdruck findet und die auf der Grundlage der leitenden Frage nach dem Sein des Daseins nicht beantwortet werden kann. Es zeigte sich, dass die Konstitution der Erkenntnis über die Beschreibung der Erkenntnis im Besorgen hinaus auf der Grundlage der leitenden Frage nach dem Dasein nicht beantwortet werden konnte, indem die Darlegung dessen, was Erkenntnis ist, gerade einer spontanen prinzipiellen Frage nach der Erkenntnis selbst bedarf. Aus dieser Ermangelung getrieben und in gleichzeitigem Festhalten an der leitenden Frage nach dem Dasein suchte Heidegger einen Boden für die Bestimmung der Erkenntnis, der weiteren Bestimmung der Eigentlichkeit des Daseins und mit ihm der Zeitlichkeit in Kant. Hinsichtlich der Folgen zeigte sich zunächst, dass Heideggers erste Kantauslegung keinen wissenschaftlichen Fuß fassen konnte, indem die gesamte Auslegung darauf zugeschnitten ist und darauf aus ist, Heideggers vorausgesetztem Zeitbegriff unausgesprochen ein ihm fremdes Prinzip (der Frage nach der Wissenschaft) einzuschieben, um so hinten herum eine inhaltliche Auslegung der Erkenntnis und Eigentlichkeit zu ermöglichen, die auf Grundlage von Heideggers Ausgangsfrage nach dem Dasein und seinem Zeitver271 https://doi.org/10.5771/9783495997796
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ständnis gar nicht möglich war. Gleichzeitig wurde hier bereits deutlich, dass Heideggers Kantauslegung mehr ist als bloß eine randständige Interpretation eines Abschnittes der Philosophiegeschichte – mit dem Ausfüllen der ›Lücke‹ des Erkennens hinsichtlich der Zeit und mit ihr der Daseinsstrukturen zeigte sich, dass das Lesen Kants für Heidegger ans Prinzip seines Werkes reicht. Wir können in der Folge Heideggers Werk nicht ohne seine Kantauseinandersetzung verstehen, auf deren erkenntnistheoretischer Basis Heidegger, ohne dass er sich darüber im Klaren ist, seine leitende Frage reformiert, mit dem vorontologischen Seinsverständnis eine Einsicht in die Konstitution der Erkenntnis (die in der Als-Struktur bereits angelegt war, aber als solche keinen Bezug zur Seinsfrage gewinnen konnte) macht, welche zur Frage der Möglichkeit einer Ontologie führen sollte und die Zeit mit dem Sein in Verbindung bringen sollte. Um diese Folgen der ersten Kantauslegung für Heideggers Schaffen auszuweisen, wendeten wir uns Sein und Zeit, der Vorlesung Phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft und Kant und das Problem der Metaphysik zu. In der Untersuchung der Vorlesung Phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft aus dem Wintersemester 1927/28 zeigte sich, dass Heidegger diese Auslegung, anders als in Logik. Die Frage nach der Wahrheit von Kants System ausgehend in Angriff nimmt. Ziel ist nun, die Kritik der reinen Vernunft im Ganzen vor Augen zu bringen und besser zu verstehen als es Kant selbst tat. Heidegger legt die Kritik der reinen Vernunft als Grundlegung der Metaphysik aus und macht dabei die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft zum Leitfaden seiner Untersuchung. Ohne dass Heidegger sich darüber im Klaren ist, unterordnet sich die Frage nach dem Dasein so der Frage nach der Wissenschaft und bekommt dadurch eine Richtung, auf die hin das Dasein ausgelegt wird, nämlich im Interesse der Frage nach der Wissenschaft. Durch das durch Kant geborgte Prinzip, auf der Grundlage seiner Fragestellung, kann Heidegger nun erst die Frage nach dem Erkennen über die Beschreibung des Daseins hinaus in den Blick bekommen. Indem die Frage nach dem Sein des Daseins durch Kant von Heidegger in Hinblick auf die Frage nach dem Wesen der Wissenschaft gestellt werden kann und gestellt wird, kann die Als-Struktur des In-der-Welt-Seins als vorontologisches Seinsverständnis gefasst werden und auf die Frage nach der Verfasstheit dieses Seins hinführen. Erst auf der Grundlage der von Kant geborgten leitenden Frage nach der Wissenschaft, kann die 272 https://doi.org/10.5771/9783495997796
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Seinsfrage damit überhaupt gestellt werden, ganz abgesehen von der Problemkonstellation, die in Kant Anlass für diese gibt, wie sich in der Vorlesung 1927/28 und dem Kantbuch zeigt. 587 Nun deckt sich diese Auslegung nicht mit der Tatsache, dass Heidegger die Seinsfrage bereits mit der Drucklegung von Sein und Zeit im Frühjahr 1926 stellt, die Vorlesung Phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft jedoch erst im Wintersemester 1927/28 gehalten wird, sowie der Entstehungsgeschichte der Werke, wie Heidegger selbst sie vorlegt. Heidegger schreibt im Vorwort zur vierten Auflage des Kantbuches: Während der Ausarbeitung der im WS 1927/28 gehaltenen Vorlesung über »Kants Kritik der reinen Vernunft« wurde ich auf das Schematismuskapitel aufmerksam und erblickte darin einen Zusammenhang zwischen dem Kategorienproblem, d. h. dem Seinsproblem der überlieferten Metaphysik und dem Phänomen der Zeit. So kam die Fragestellung von »Sein und Zeit« als Vorgriff für die versuchte Kantauslegung ins Spiel. Kants Text wurde eine Zuflucht, bei Kant einen Fürsprecher für die von mir gesuchte Seinsfrage zu suchen. Die dergestalt bestimmte Zuflucht führte dazu, daß die »Kritik der reinen Vernunft« im Gesichtskreis der Fragestellung von »Sein und Zeit« ausgelegt, in Wahrheit jedoch der Fragestellung eine ihr fremde, wenngleich sie bedingende Fragestellung unterlegt wurde. 588
Nun macht Heidegger hier auf das Schematismuskapitel aufmerksam, in dem er den entscheidenden Zusammenhang des SeinsproDiese Feststellung wurde in den Auslegungen Heideggers als Transzendentalphilosoph bereits angedeutet. Emerich Coreth schreibt bereits in den 50iger Jahren: »Das eigentliche, in der Tiefe des Heideggerschen Denkens sich durchhaltende Problem muß wesentlich von Kant her verstanden werden als Fortbildung der transzendentalen Frage.« Emerich Coreth: Heidegger und Kant. In: Johannes Lotz (Hg.): Kant und Scholastik heute. Pullach bei München 1955, 207–256, hier 207. Kurt Jürgen Huch schreibt die Seinsfrage betreffend: »Der heideggerische Versuch, zum Fundament des Seienden und damit zu dem von Ontologie überhaupt vorzudringen, folgt ausdrücklich der Kantischen Transzendentalphilosophie.« (Vgl. Kurt Jürgen Huch: Philosophiegeschichtliche Voraussetzungen der Heideggerschen Ontologie. Frankfurt a. M. 1967, 6 f.). Auch Christian Steffen begründet in einer eingehenden Analyse, warum Heidegger in der Folge von Kant als Transzendentalphilosoph zu verstehen ist. (Vgl. Christian Steffen: Heidegger als Transzendentalphilosoph: seine Fundamentalontologie im Vergleich zu Kants Kritik der reinen Vernunft. Heidelberg 2005). Allein die inhaltliche Aufzeigung der Prämissen dessen, dass Heidegger in der Seinsfrage auf Kant zurückgeht, die hier erstmals geleistet wurde, lässt die Tragweite dieser Feststellung erkennen. 588 GA 3, XIV. 587
273 https://doi.org/10.5771/9783495997796
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blems mit der Zeit vorfindet. Das Schematismuskapitel wurde jedoch nicht erst im Rahmen der Vorlesung Phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft im Wintersemester 1927/28 Gegenstand einer intensiven Auseinandersetzung Heideggers, sondern bereits in Logik. Die Frage nach der Wahrheit im Wintersemester 1925/26. Bereits hier macht Heidegger auch die entscheidende Frage nach der Einheit von Denken und Anschauung auf, wovon er sagt, dass er sie im Rahmen der Vorlesung nicht erörtern kann. Die Vorlesung Logik. Die Frage nach der Wahrheit wurde während der Vorlesungszeit zu Beginn des Wintersemesters 1925/26 umgeschrieben, sodass nun die Frage nach der Wahrheit in Hinblick auf die Temporalität und unter Einbezug der Kantauslegung behandelt wird, was darauf hinweist, dass Heidegger zu Beginn des Wintersemesters im Jahre 1925 eine entscheidende Einsicht gemacht hat über den möglichen Zusammenhang der Zeit und der Frage nach der Wahrheit (welche er mit der Frage nach dem Sein des Daseins in Zusammenhang bringt). Nun steht, wie dem auch sei, fest, dass Heidegger in Zusammenhang der Vorlesung Phänomenologische Interpretation der Kritik der reinen Vernunft und dem Kantbuch mit der Frage nach der Möglichkeit der Einheit von Denken und Anschauung, mit der Frage nach der inneren Möglichkeit der Ontologie auf Grundlage des vorgängigen (vorontologischen) Seinsverständnisses, tatsächlich eine Fragestellung entwickelt, die der Kants fremd ist, diese aber bedingt und tatsächlich in die Möglichkeitsgründe der Kritik der reinen Vernunft vordringt. Warum also sollte sich Heidegger aufgrund der Eigenständigkeit seiner Fragestellung überhaupt davor erwehren, ihre Grundlegung auf der Auseinandersetzung mit der Kritik der reinen Vernunft zuzugeben? Ein Grund hierfür ist, dass Heidegger sich selbst nicht im Klaren darüber ist, insofern er selbst die Frage nach dem Sein des Daseins jederzeit implizit oder explizit zur leitenden Fragestellung macht und die Tragweite der durch Kant geborgten Fragestellung nach der Wissenschaft für die Entwicklung seiner Einsichten nicht ergreift. Ein weiterer Grund ist der eigentlich fehlende Zusammenhang zwischen dem Begriff der Zeit und dem des Seins der hierin verborgen liegt. Erinnern wir uns an die Kantauslegung in Logik. Die Frage nach der Wahrheit so wurde deutlich, dass der Anschluss der Rolle der Zeit in Kant an Heideggers Zeitverständnis nur darin lag, dass die Zeit eine konstitutive Rolle in der Erkenntnis einnimmt und nicht in Heideggers Zeitverständnis im Sinne der Zeitlichkeit des Daseins und seiner Grundstrukturen selbst (d. h. der 274 https://doi.org/10.5771/9783495997796
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Zukünftigkeit, dem Geschichtlichsein in ihrer jeweiligen Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit etc.). Wenn die Zeit im Schematismuskapitel einen Zusammenhang zum Seinsproblem hat, wie Heidegger aus Kant heraus auszulegen versucht, ist damit Heideggers Zeitverständnis gar nicht impliziert. Dies mag auch der Grund dafür sein, warum Heidegger sein Zeitverständnis im Sinne des Erkennens und der Konstitution der Eigentlichkeit nicht zu bestimmen vermag und die zweite Hälfte von Sein und Zeit nie entsteht. Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zeit dennoch eine entscheidende Frage für die Konstitution der Erkenntnis, wie sie in Hauptteil I in Kant untersucht wurde, aufwirft, jedoch nicht im Sinne der Temporalität wie Heidegger sie im Zusammenhang der Auslegung des Seins des Daseins versteht. Der letzte Grund, warum sich Heidegger seinen erkenntnistheoretischen Ansätzen auf der Grundlage Kants nicht weiter zuwenden konnte, ist, dass Heidegger an der Frage nach dem Dasein in verschiedener Ausgestaltung (die Frage nach dem Sein fällt darunter) als grundlegende Frage für die Philosophie festhält und damit die Eigenständigkeit und Originalität seines Schaffens verknüpft sieht. Abgesehen von den Auswirkungen auf die Seinsfrage konnten mit der hier vorliegenden Untersuchung der Kantauslegung Heideggers anhand der Zeit, die Grenzen seines Ansatzes der Frage nach dem Sein des Daseins aufgezeigt werden. Es offenbarte sich hierbei, dass Heideggers Grundfrage nach dem (Sein des) Daseins und der damit verbundenen Zeitlichkeit in eine Sackgasse führt und er auf Grundlage dieses Prinzips den Fragen, die ihn außerdem umtreiben, namentlich 1) der eigentlichen Fraglichkeit für den Menschen und daher der Philosophie, 2) der inhaltlichen Bestimmung der Eigentlichkeit und 3) der Frage nach dem erkenntnistheoretischen Problem des vorontologischen Seinsverständnisses, gar nicht nachgehen kann. Anstatt eine neue Grundfrage zu stellen, versucht Heidegger 1) ungesehen das Prinzip aus Kant zu borgen, um sich so z. B. der Frage nach dem vorontologischen Seinsverständnis widmen zu können und auf dieser Grundlage dann 2) seine Grundfrage nach dem Dasein hin und her zu wenden, einmal auf die Zeit, einmal auf das Sein. Die Kantauslegung wird so der Schlüssel für das Verständnis von Heideggers Werk. Zugleich mit Heideggers eigenem Werk, konnten in dieser Untersuchung seine Beiträge zur Philosophiegeschichte in ihrem Prinzip und ihrer Tragweite erfasst werden. Dabei offenbarte sich, dass Heidegger, obwohl es in seiner Kantauslegung interessante An275 https://doi.org/10.5771/9783495997796
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merkungen gibt, die philosophiegeschichtlich fruchtbare Problematik im Ausgang von Kants Systematik nicht prinzipiell aufzugreifen vermag.
276 https://doi.org/10.5771/9783495997796
V. Abkürzungsverzeichnis
Immanuel Kants Werke werden nach der in Berlin erschienen Akademieausgabe und folgenden Siglen zitiert: KrV AA
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Berlin 1970. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Berlin 1968.
Martin Heideggers Schriften werden nach der Gesamtausgabe (Sigle GA), die in Frankfurt am Main im Verlag Vittorio Klostermann erscheint, nach Band und Seitenzahl zitiert. GA 1 GA 2 GA 3 GA 17 GA 18 GA 20 GA 21 GA 23 GA 24 GA 25
GA 58
Heidegger, Martin: Frühe Schriften. Hg. von F.-W. v. Herrmann. Frankfurt/M. 1978. Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Hg. von F.-W. v. Herrmann. Frankfurt/M. 1977. Heidegger, Martin: Kant und das Problem der Metaphysik. Hg. von F.-W. v. Herrmann. Frankfurt/M. 1998. Heidegger, Martin: Einführung in die phänomenologische Forschung. Hg. von F.-W. v. Herrmann. Frankfurt/M. 2006. Heidegger, Martin: Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie. Hg. von M. Michalski. Frankfurt/M. 2002. Heidegger, Martin: Prolegomena zur Geschichte des Zeitbegriffs. Hg. von P. Jaeger. Frankfurt/M. 1994. Heidegger, Martin: Logik. Die Frage nach der Wahrheit. Hg. W. Biemel. Frankfurt/M. 1995. Heidegger, Martin: Geschichte der Philosophie von Thomas von Aquin bis Kant. Hg. von H. Vetter. Frankfurt/M. 2006. Heidegger, Martin: Die Grundprobleme der Phänomenologie. Hg. von F.-W. v. Herrmann. Frankfurt/M. 1997. Heidegger, Martin: Phänomenologische Interpretation von Kants Kritik der reinen Vernunft. Hg. von Ingtaud Görland. Frankfurt/ M. 1977. Heidegger, Martin: Grundprobleme der Phänomenologie. Hg. H.-H. Gander. Frankfurt/M. 1993.
277 https://doi.org/10.5771/9783495997796
Abkürzungsverzeichnis
GA 59
GA 61
GA 62
GA 63 GA 64 GA 84.1
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